Der »Zwischenstadt«-Diskurs: Eine Analyse zwischen Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt [1. Aufl.] 9783839418291

Das Konzept der »Zwischenstadt«, wie Thomas Sieverts die verstädterte Landschaft oder verlandschaftete Stadt genannt hat

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German Pages 390 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Formale Vorbemerkungen
Vorwort
1. Einleitung
1.1 Thema und Problemaufriss – der unübersichtliche Diskurs über die Zwischenstadt
1.2 Ansatz und Ziel der Arbeit – Neuordnung des Diskurses als weltanschauliche Analyse der Lesarten und Grundhaltungen
1.3 Aufbau und Inhalt der Arbeit
2. Methode und Material – zum Aufbau der Arbeit und zur Auswahl des Analysematerials
2.1 Diskursanalyse – die ideenimmanente Untersuchung von Entwurfsstrategien und planerischen Positionen
2.2 Idealtypen – das heuristische Werkzeug, um die unendliche Vielfalt der Realität begrifflich zu fassen
2.3 Weltanschauungen – die Grundlage zur Strukturierung des Interpretationsrepertoires des Diskurses
2.4 Ideengeschichte – das Mittel, um die Bedeutungsvielfalt der Lesarten synchron darzustellen und um diachron diskursive Kontinuitäten und Brüche aufzuspüren
2.5 Bedeutungs- und Bewertungsabhängigkeit der Lesarten – ein mehrdimensionaler Analyse- und Interpretationsansatz
3. Ausführlicher Problemaufriss – eine erste Ordnung des Diskurses nach Grundhaltungen und Lesarten
3.1 Lesarten der Zwischenstadt – „Wildnis“, „Kulturlandschaft“ und „Stadt“
3.2 Grundhaltungen zur Zwischenstadt – Gegner, Euphoriker und Qualifizierer
3.3 Diskurspositionen – Kombinationen von Lesarten und Grundhaltungen
3.4 Zwischenfazit – Erklärungsbedarf für ungewohnte Nachbarschaften
4. Das Interpretationsrepertoire – Vorstellungen von Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt aus der Perspektive unterschiedlicher Weltanschauungen
4.1 Liberale Vorstellungen von Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt
4.2 Konservative Vorstellungen von Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt
4.3 Demokratische Vorstellungen von Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt
4.4 Romantische Vorstellungen von Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt
5. Die Ordnung des Diskurses nach Weltanschauungen – das Beispiel der Qualifizierer der Zwischenstadt-Wildnis
5.1 Die „anästhetische Wüste“ – zur Ästhetik der Zwischenstadt
5.2 Die „Entfesselung“ der Zwischenstadt – zur moralischen Dimension des Wildnisbegriffs
6. Fazit und Ausblick
6.1 Zu den weltanschaulichen Kombinationen, zur Vieldeutigkeit der Lesart „Wildnis“ und zur Methode der Arbeit
6.2 Zur Aktualität des Interpretationsrepertoires und zum Verhältnis von Entwurf und Diskursanalyse
7. Zusammenfassung
8. Verzeichnisse
8.1 Abbildungsverzeichnis
8.2 Tabellenverzeichnis
8.3 Literaturverzeichnis
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Der »Zwischenstadt«-Diskurs: Eine Analyse zwischen Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt [1. Aufl.]
 9783839418291

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Vera Vicenzotti Der »Zwischenstadt«-Diskurs

Urban Studies

Vera Vicenzotti (Dr.-Ing.) ist wissenschaftliche Angestellte an der Technischen Universität München. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Theorie und Ideengeschichte von Zwischenstadt, Landschaft und Wildnis sowie Theorie und Geschichte der Landschaftsarchitektur und Landschaftsplanung.

Vera Vicenzotti

Der »Zwischenstadt«-Diskurs Eine Analyse zwischen Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Vera Vicenzotti Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1829-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Danksagung | 7 Formale Vorbemerkungen | 9 Vorwort | 11 1.

Einleitung | 15

1.1 Thema und Problemaufriss – der unübersichtliche Diskurs über die Zwischenstadt | 15 1.2 Ansatz und Ziel der Arbeit – Neuordnung des Diskurses als weltanschauliche Analyse der Lesarten und Grundhaltungen | 19 1.3 Aufbau und Inhalt der Arbeit | 26 2.

Methode und Material – zum Aufbau der Arbeit und zur Auswahl des Analysematerials | 29

2.1 Diskursanalyse – die ideenimmanente Untersuchung von Entwurfsstrategien und planerischen Positionen | 29 2.2 Idealtypen – das heuristische Werkzeug, um die unendliche Vielfalt der Realität begrifflich zu fassen | 40 2.3 Weltanschauungen – die Grundlage zur Strukturierung des Interpretationsrepertoires des Diskurses | 54 2.4 Ideengeschichte – das Mittel, um die Bedeutungsvielfalt der Lesarten synchron darzustellen und um diachron diskursive Kontinuitäten und Brüche aufzuspüren | 67 2.5 Bedeutungs- und Bewertungsabhängigkeit der Lesarten – ein mehrdimensionaler Analyse- und Interpretationsansatz | 70

3.

Ausführlicher Problemaufriss – eine erste Ordnung des Diskurses nach Grundhaltungen und Lesarten | 73

3.1 Lesarten der Zwischenstadt – „Wildnis“, „Kulturlandschaft“ und „Stadt“ | 75 3.2 Grundhaltungen zur Zwischenstadt – Gegner, Euphoriker und Qualifizierer | 82 3.3 Diskurspositionen – Kombinationen von Lesarten und Grundhaltungen | 90 3.4 Zwischenfazit – Erklärungsbedarf für ungewohnte Nachbarschaften | 97 4.

Das Interpretationsrepertoire – Vorstellungen von Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt aus der Perspektive unterschiedlicher Weltanschauungen | 99

4.1 Liberale Vorstellungen von Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt 4.2 Konservative Vorstellungen von Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt 4.3 Demokratische Vorstellungen von Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt 4.4 Romantische Vorstellungen von Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt 5.

| 101 | 131 | 172 | 210

Die Ordnung des Diskurses nach Weltanschauungen – das Beispiel der Qualifizierer der Zwischenstadt-Wildnis | 247

5.1 Die „anästhetische Wüste“ – zur Ästhetik der Zwischenstadt | 250 5.2 Die „Entfesselung“ der Zwischenstadt – zur moralischen Dimension des Wildnisbegriffs | 280 6.

Fazit und Ausblick | 325

6.1 Zu den weltanschaulichen Kombinationen, zur Vieldeutigkeit der Lesart „Wildnis“ und zur Methode der Arbeit | 325 6.2 Zur Aktualität des Interpretationsrepertoires und zum Verhältnis von Entwurf und Diskursanalyse | 333 7.

Zusammenfassung | 339

8.

Verzeichnisse | 347

8.1 Abbildungsverzeichnis | 347 8.2 Tabellenverzeichnis | 348 8.3 Literaturverzeichnis | 348

Danksagung

Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung der Dissertation „Zwischenstadt: Stadt, Kulturlandschaft oder Wildnis? Eine Analyse verschiedener Lesarten“, die am 02. März 2010 bei der Technischen Universität München eingereicht und am 02. August 2010 durch die Fakultät Wissenschaftszentrum Weihenstephan für Ernährung, Landnutzung und Umwelt zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktor-Ingenieurs angenommen wurde. Prüfer der Dissertation waren Prof. Dr. Ludwig Trepl (Technische Universität München), Prof. em. Dr. e.h. Thomas Sieverts (Technische Universität Darmstadt) und Prof. Dr. Bernhard Gill (Ludwig-Maximilians-Universität München). Die Dissertation entstand am Lehrstuhl für Landschaftsökologie der Technischen Universität München. Bei allen, die mich in dieser Zeit unterstützt haben, möchte ich mich bedanken. Mein besonderer Dank gilt Ludwig Trepl für seine unermüdliche und intensive Betreuung sowie seine ansteckende Freude am anspruchsvollen Denken. Thomas Sieverts danke ich herzlich für seine freundliche und kritischkonstruktive Unterstützung sowie sein großes Interesse. Mein herzlicher Dank geht auch an die Kolleginnen und Kollegen des Lehrstuhls für Landschaftsökologie, den Arbeitskreis „Kulturlandschaft“ und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Diplomanden-DoktorandenSeminars am Lehrstuhl. Für Diskussionen, Ratschläge und Kritik danke ich besonders Tobias Cheung, Gisela Kangler und Annette Voigt sowie Fridolin Brand, Dóra Drexler, Alexis Dworsky, Wolfgang Haber, Sylvia Haider, Anne Haß, Tina Heger, Deborah Hoheisel, Thomas Kirchhoff, Matthias Lampert, Ursula Schuster, Markus Schwarzer, Andrea Siegmund, Angela WeilJung und Wolfgang Zehlius-Eckert. Für zahlreiche Anregungen möchte ich mich auch bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Forums „Geschichte“ der Studienstiftung des deutschen Volkes und beim DoktorandenKolloquium „Urbane Landschaften“ des Studio Urbane Landschaften der Leibniz Universität Hannover bedanken. Mein Dank geht auch an Peter Bosselmann für seine Unterstützung und Anregungen während meiner Zeit an der University of California in Berkeley.

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Zu großem Dank bin ich der Studienstiftung des deutschen Volkes für die finanzielle und ideelle Förderung verpflichtet. Der Abschluss der Arbeit wurde mir durch ein Stipendium der Technischen Universität München ermöglicht. Ich danke auch der Dr.-Ing.-Leonhard-Lorenz-Stiftung, die meinen Aufenthalt in Berkeley mitfinanziert hat. Abschließend ein herzliches Dankeschön an meine Freunde und meine Familie für ihre Geduld und Unterstützung.

Formale Vorbemerkungen

Quellenangabe: Die Quellen von Zitaten weise ich in Fußnoten durch Angabe des Autors, des Erscheinungsjahres und der Seite nach. Wenn ich nicht aus der Erstausgabe zitiere, gebe ich außerdem deren Jahr an. Damit sich Zitate aus historischen Schriften auch in anderen Ausgaben als den von mir verwendeten wiederfinden lassen, gebe ich zusätzlich das Buch, das Kapitel und/oder den Paragraphen an. Steht bei sinngemäßen Zitaten die Quellenangabe, d. h. das Fußnotenzeichen, hinter dem Satzendzeichen, bezieht sie sich nicht nur auf den letzten Satz, sondern auf den letzten Abschnitt. Bei der Arbeit mit Quellentexten habe ich, wenn eine deutsche Übersetzung vorliegt, aus dieser zitiert; zum Teil habe ich einzelne Begriffe aus dem Originaltext ergänzt. Zitierweise: Bei wörtlichen Zitaten sind, soweit nicht anders angegeben, alle im Original hervorgehobenen Zeichen kursiv wiedergegeben. Werden Hervorhebungen nicht übernommen, vermerke ich dies durch „i. O. hervorg.“. Meine Hervorhebungen sind durch „Hervorh. V. V“ gekennzeichnet. Ergänzungen in wörtlichen Zitaten, die in runden Klammern (…) stehen, stammen aus dem Original, eckige Klammern […] kennzeichnen Auslassungen oder Ergänzungen von mir. Auslassungen von End- oder Fußnoten sind nicht vermerkt, ebenso wenig Auslassungen von Satzteilen vor oder nach der zitierten Passage. Fußnoten in Zitaten stammen stets von mir und nicht vom zitierten Autor. Anführungszeichen: Doppelte Anführungszeichen („…“) kennzeichnen wörtliche Zitate bzw. zeigen an, dass ich einen Begriff wiedergebe, der von anderen benutzt wird. Daher schreibe ich auch „Wildnis“, „Kulturlandschaft“ und „Stadt“, wenn ich verdeutlichen möchte, dass ich mich auf die Begriffe als Lesarten der Zwischenstadt beziehe. Stehen Wörter in einfachen Anführungszeichen (‚…‘), dann hebe ich hervor, dass ich die Idee oder den Begriff meine. ‚Wildnis‘ oder ‚Freiheit‘ stehen also beispielsweise für die Idee der Wildnis bzw. für den Begriff der Freiheit. Sprachgebrauch: Ich folge der Konvention, das maskuline Genus in solchen Kontexten stellvertretend für Maskulinum und Femininum zu verwenden, in denen das Geschlecht der benannten Personen keine Rolle spielt oder männliche und weibliche Personen in gleicher Weise gemeint sind. Dies ge-

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schieht lediglich aus Gründen der besseren Lesbarkeit. Wenn ich also beispielsweise von „Architekten“ und „Planern“, „Autoren“ und „Lesern“ etc. spreche, sind immer „Architektinnen“ und „Planerinnen“, „Autorinnen“ und „Leserinnen“ mitgemeint.

Vorwort

Es scheint außer Frage zu stehen, dass eine Beschäftigung mit der „Zwischenstadt“, dem peri-urbanen Raum, dem urban sprawl oder wie auch immer die verstädterte, hybride und fragmentierte Landschaft bezeichnet wird, in höchstem Maß relevant ist. In kaum einer wissenschaftlichen Arbeit, die sich diesem Thema widmet, fehlt der Hinweis darauf, dass schon heute der überwiegende Teil der Menschen in Deutschland, Europa, Nordamerika, Asien, ja weltweit, in verstädterten Räumen und Ballungsgebieten lebt und dass dieser Anteil in den nächsten Jahren noch ansteigen wird. Die meisten Arbeiten, die zu diesem Thema in Disziplinen wie Landschaftsarchitektur, Städtebau, Stadt- und Landschaftsplanung oder Raumordnung und Regionalentwicklung entstehen, widmen sich vor dem Hintergrund dieser Situationsanalyse und Prognose der Entwicklung planerischer und entwerferischer Ansätze und Strategien, wie den komplexen räumlichen, ökonomischen, sozialen, natur- und umweltschützerischen, kulturellen und ästhetischen Problemen der Zwischenstadt begegnet werden kann. Auch diese Arbeit leistet einen Beitrag dazu, lebenswerte Zwischenstädte zu entwickeln. Das Vorgehen unterscheidet sich jedoch grundlegend von dem vieler anderer Arbeiten in den genannten Disziplinen. Der Vielzahl der Planungs- und Entwurfsstrategien wird nicht noch eine weitere hinzugefügt. Vielmehr wird der mittlerweile unübersichtlich gewordene Fachdiskurs in jenen Disziplinen analysiert und neu geordnet, indem Ordnungsmuster identifiziert und beschrieben werden, die den Diskurs strukturieren. Die Vertiefung und Präzisierung dieser Ordnungsprinzipien erfolgt über ein Aufdecken ihrer ideengeschichtlichen und weltanschaulichen Hintergründe. Das Phänomen der Zwischenstadt ist für eine solches Unterfangen besonders geeignet, weil sie sowohl als Begriff als auch in der Realität so komplex ist, dass sie unterschiedliche Deutungen geradezu herausfordert. Hinter der gewählten Herangehensweise steht die Überzeugung, dass ein reflektierender Ansatz eine notwendige und sinnvolle Ergänzung anwendungsbezogener planerischer Arbeiten darstellt. Ein solches Vorgehen ist nicht rein akademische Nabelschau oder intellektuelle Selbstbespiegelung, sondern auch von praktischer Relevanz – wenn auch nicht so unmittelbar, wie man es in den anwendungsorientierten Disziplinen wie Landschaftsar-

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chitektur und Städtebau gewohnt ist. Die Arbeit befasst sich mit ganz grundsätzlichen Fragen nach im Kern unüberbrückbaren fachlichen Differenzen, die ihre Wurzeln in unterschiedlichen Weltsichten haben. Unterschiedliche und unvereinbare Bewertungen der Zwischenstadt und darauf aufbauende Vorschläge, wie sie zu entwickeln sei, werden also auf unterschiedliche politische Überzeugungen, auf verschiedene Weltanschauungen zurückgeführt. Der politische und ideologische Gehalt von Entwürfen und Planungen, auch der eigenen, ist den Planern und Architekten meist nicht bewusst. In der täglichen Praxis würde das ständige Nachdenken über die handlungsleitenden Motive wohl auch lähmen. Es gibt aber Situationen, in denen eine Reflexion der (eigenen) Praxis hilfreich oder sogar unverzichtbar ist, beispielsweise in der Ausbildung oder in einer als Krise empfundenen Zeit – also dann, wenn man Orientierung sucht und es gilt, die eigene Entwurfshaltung entweder zu entdecken oder zu schärfen, anzupassen und zu ändern. Angesichts von Herausforderungen, wie sie durch Globalisierung, demographischen Wandel, Klimaveränderung etc. gestellt sind und der damit einhergehenden eingeforderten oder freiwilligen biographischen Flexibilität, in wechselnden Konstellationen und Kulturen zu arbeiten, ist es unerlässlich zu wissen, auf welchen Wertentscheidungen das eigene professionelle Handeln beruht und welche impliziten Konsequenzen es hat. Die vorliegende Arbeit versteht sich daher nicht nur als Beitrag zur akademischen Diskussion über die Zwischenstadt, sondern auch als eine Einladung und ein Angebot an praktisch tätige Planer und Architekten, den Fragen nach den handlungsleitenden Wertentscheidungen und politischen Implikationen ihres professionellen Handelns nachzugehen und sei es durch Übereinstimmung mit, sei es durch Widerspruch zu den hier aufgestellten Thesen die eigene Entwurfs- und Planungshaltung zu reflektieren. Hinter dem, wie man mir versicherte, stilistisch eleganten Titel Der „Zwischenstadt“-Diskurs. Eine Analyse zwischen Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt verbirgt sich das Programm der vorliegenden Arbeit: Der Diskurs um die Zwischenstadt wird analysiert, indem drei Lesarten der Zwischenstadt, nämlich „Stadt“, „Kulturlandschaft“ und vor allem „Wildnis“ analysiert werden. Kapitel 1 dient als Einführung in das Thema und entwickelt die Fragestellung der Arbeit; Ansatz und Ziele sowie der Aufbau der Arbeit werden beschrieben. In Kapitel 2 werden Methode und Material dargestellt. Ausführlicher als man es von vergleichbaren Arbeiten erwarten mag, wird dort insbesondere das zugrundeliegende Verständnis von Diskurs und Diskursanalyse erklärt, außerdem wird detailliert auf Idealtypen als heuristisches Werkzeug eingegangen. Kapitel 3 ist als ausführlicher Problemaufriss konzipiert. Hier wird eine erste Ordnung des Diskurses über die Zwischenstadt unternommen, indem verschiedenen Lesarten und Grundhaltungen, die der verstädterten Landschaft gegenüber eingenommen werden können, zu sogenannten Diskurspositionen verschränkt werden. Als Zwischenergebnis wird

V ORWORT | 13

festgehalten, dass man auf diese Weise Besonderheiten des Diskurses – dass nämlich die verschiedenen Lesarten von Vertretern aller Grundhaltungen verwendet werden, um ganz unterschiedliche Positionen gegenüber der Zwischenstadt zum Ausdruck zu bringen – zwar bemerken, aber nicht erklären kann. Verständlich werden diese Besonderheiten erst, wenn man die unterschiedlichen Bedeutungen und Bewertungen von „Wildnis“, „Kulturlandschaft“ und „Stadt“ untersucht. Das geschieht in Kapitel 4, dem ersten Hauptteil. Dort wird das sogenannte Interpretationsrepertoire des Diskurses über die Zwischenstadt entfaltet. Dazu werden verschiedene Bedeutungen, die ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ annehmen können, systematisch, d. h. aus der Perspektive von vier verschiedenen Weltanschauungen, dargestellt. Damit ist dieses Kapitel auch für Leser interessant, die sich nicht in erster Linie für den Diskurs um die Zwischenstadt interessieren, sondern die an den Themen ‚Wildnis‘ und ‚Kulturlandschaft‘, besonders der Vieldeutigkeit dieser Begriffe, interessiert sind. Tabellen am Ende der vier Unterkapitel geben dem eiligen Leser einen Überblick über die verschiedenen untersuchten Bedeutungen. Kapitel 5, der zweite Hauptteil, ist die eigentliche Analyse des Fachdiskurses über die Zwischenstadt. Hier wird beispielhaft die Diskursposition der sogenannten Qualifizierer, die die Zwischenstadt als „Wildnis“ interpretieren, analysiert. Besonderes Augenmerk wird im ersten Teil auf die sogenannte Strategie der gezielten Ästhetik gelegt, die die Qualifizierer der (An-)Ästhetik der Zwischenstadt entgegenhalten. Im zweiten Teil werden Aussagen der Qualifizierer, also beispielsweise Passagen aus ihren Entwurfsbeschreibungen, primär daraufhin analysiert, welche der im Interpretationsrepertoire identifizierten Bedeutungen von „Wildnis“ auftreten und wie sie sich kombinieren. Hier geschieht also die eigentliche weltanschauliche Verortung der Aussagen der Planer und Architekten. In Kapitel 6, das als Fazit und Ausblick konzipiert ist, wird diskutiert, welche Bedeutung die Ergebnisse der Arbeit haben und welche Fragen sie eröffnen. Unter anderem wird auf die weltanschauliche Heterogenität der Qualifizierer eingegangen, auf die Vieldeutigkeit der Lesart „Wildnis“ und auf die Aktualität des Interpretationsrepertoires.

1. Einleitung

1.1 T HEMA UND P ROBLEMAUFRISS – DER UNÜBERSICHTLICHE D ISKURS ÜBER DIE Z WISCHENSTADT Seit etwa 15 Jahren wird in Deutschland unter Städtebauern, Landschaftsarchitekten, Architekten und Landschaftsplanern sehr kontrovers über die sogenannte Zwischenstadt diskutiert. Mit diesem Begriff, den Thomas Sieverts 19971 geprägt hat, werden Siedlungsformen charakterisiert, die aus der Auflösung kompakter Städte und ihrer Ausbreitung in die freie Landschaft entstanden sind. ‚Zwischenstadt‘ meint die Verstädterung der Landschaft und ebenso die „Verlandschaftlichung“ der Stadt. Mit jenem Begriff werden Gebiete bezeichnet, in denen Einfamilienhaussiedlungen direkt an landwirtschaftliche Flächen angrenzen, wo Autohäuser, Shoppingcenter und Reiterhöfe in unmittelbarer Nachbarschaft von kleinen Wäldchen liegen, durchschnitten von Autobahnen und Bahntrassen, die von Schallschutzwänden gesäumt sind, und wo man nicht sagen kann, wo die eine Stadt oder Ortschaft aufhört und die andere anfängt. Als typische Zwischenstädte gelten beispielsweise das Ruhrgebiet, die Regionen um Frankfurt am Main und Stuttgart sowie der Großraum München. Die Präposition „Zwischen“ bezieht sich nicht nur auf die Lage im Raum, sondern auch und vor allem auf die ökonomischen, soziologischen und kulturellen Eigenschaften dieser Gebiete. Sie haben keinen rein urbanen Charakter, sondern hier verschmelzen städtische und ländliche Lebensweisen.

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Sieverts’ Buch, dessen erste Auflage 1997 erscheint, trägt den Titel „Zwischenstadt. Zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land“. Mittlerweile liegt es in der dritten Auflage vor. Es wurde sowohl ins Englische („Cities Without Cities. An Interpretation of the Zwischenstadt“, 2003; gekürzte Neuübersetzung „Where We Live Now“, 2008) als auch ins Französische („Entre-ville: Une lecture de la Zwischenstadt“, 2004) und Japanische (2006) übersetzt.

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„Sie breiten sich in großen Feldern aus, sie haben sowohl städtische wie landschaftliche Eigenschaften. Diese Zwischenstadt steht zwischen dem einzelnen, besonderen Ort als geographisch-historischem Ereignis und den überall ähnlichen Anlagen der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung, zwischen dem Raum als unmittelbarem Lebensfeld und der abstrakten, nur in Zeitverbrauch gemessenen Raumüberwindung, zwischen der auch als Mythos noch sehr wirksamen Alten Stadt und der ebenfalls noch tief in unseren Träumen verankerten Alten Kulturlandschaft.“2

Neben der Bezeichnung „Zwischenstadt“ gibt es eine Vielzahl weiterer Begriffe, die dieses Phänomen bzw. verwandte urbane Erscheinungen zu fassen versuchen. Diese Begriffe – wie „suburbaner Raum“, „urbane Landschaft“, „Peripherie“, „Siedlungsbrei“ und, aus den USA übernommen, „sprawl“ – sind allerdings nicht ganz synonym; sie heben jeweils andere Aspekte hervor und implizieren unterschiedliche Bewertungen.3 Ich verwende ‚Zwischenstadt‘ als Sammelbegriff für alle diese Begriffe, sofern ich nicht explizit sage, dass es genau um die ‚Zwischenstadt‘ in der Definition von Sieverts geht. Thematisch deckt also meine Analyse des Diskurses um die Zwischenstadt nicht nur den Diskurs ab, in dem explizit von der „Zwischenstadt“ die Rede ist, sondern auch andere, in denen es um ähnliche Themen geht, wie den „suburbanen Raum“, die „peri-urbane Landschaft“ oder auch die „Peripherie“, oder doch um dasselbe Thema, nur unter anderer Bezeichnung. Der Diskurs über die Zwischenstadt ist unübersichtlich, weil er vielschichtig und innerhalb dieser Schichten verworren ist. Zwei Punkte machen diese Unübersichtlichkeit im Kern aus: (1) Die Zwischenstadt ist ein unter Architekten, Landschaftsarchitekten, Städtebauern, Stadt- und Landschaftsplanern kontrovers diskutiertes Phänomen, weil sie Veränderungen mit sich bringt, die ganz unterschiedlich bewertet werden. Es gibt daher eine schier unüberschaubare Vielzahl an Haltungen zur Zwischenstadt. Auf der einen Seite wird behauptet, dass sie aus ökonomischer, sozialer, planerisch-politischer, umweltschützerischer, kultureller und ästhetischer Sicht, also in so gut wie jeder Hinsicht, problematisch sei.4 Zentrale Kritikpunkte sind die Suburbanisierung, also die Abwanderung der städtischen Bevölkerung und die Verlagerung städtischer Funktionen aus der Kernstadt in ihr Umland, und ihre Folgen wie verstärkte Segregation, Flächeninanspruchnahme und Verkehrszunahme. Weiter wird die Zwischenstadt als „anästhetisch“ kritisiert, womit gemeint ist, dass sie sich einer bewussten Wahrnehmung als Wohn- und Arbeitsort entzieht. Auf politischer Ebene

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Sieverts 1997: 14. Zu weiteren Bezeichnungen siehe Kapitel 3. Eine Darstellung unterschiedlicher „Defizite urbaner Landschaften“ findet man in Boczek 2007: 16 ff.; siehe beispielsweise auch Clemens 2001: 53-64; Hesse 2004; Mäding 2001; 2004; Zibell 2004.

E INLEITUNG | 17

wird häufig die wenig koordinierte Eigenentwicklung der einzelnen Kommunen kritisiert.5 Solche Kritik mündet meist in die Forderung, zum Leitbild der kompakten Städte zurückzukehren. Auf der anderen Seite stehen Positionen, die der Zwischenstadt gegenüber wohlwollend eingestellt sind. Dabei reicht die Spannweite von aufgeschlossener Akzeptanz bis zu überschwänglicher Begeisterung. Man argumentiert, dass ein großer Teil der gesamten Bevölkerung nun einmal in der Zwischenstadt lebe, dass man sie als Faktum akzeptieren und sich ihr mit einem neuen, aufgeschlossenen Blick zuwenden solle. Wenn man ihr vorurteilsfrei begegne, dann entdecke man neue, ästhetisch reizvolle Aspekte, neue Formen des nachbarschaftlichen Miteinanders und neue Spielarten von Urbanität mit Freiheiten von eingefahrenen, rein städtischen oder rein dörflichen Verhaltensmustern, Denk- und Lebenszwängen. (2) Bei dem Versuch, das Phänomen der Zwischenstadt begrifflich zu fassen, zu analysieren und zu bewerten bedienen sich die Städtebauer, Landschaftsarchitekten, Architekten und Landschaftsplaner einer Vielzahl von Lesarten, Beschreibungen, Interpretationen und Metaphern. Man beklagt beispielsweise die „Zersiedlung“, spricht von „Flächenfraß“ und manchmal sogar von „Krebsgeschwür“ oder „Wucherung“; die Struktur der Zwischenstadt sei ein „Flickenteppich“ oder „Patchwork“. Einige Berühmtheit hat die Küchenmetapher von Cedric Price erlangt, in der die Zwischenstadt als „Rührei“ der kompakten Stadt als „hartgekochtes Ei“ und der Stadt des 17. bis 19. Jahrhunderts als „Spiegelei“ gegenübergestellt wird.6 Man fragt auch, ob die Zwischenstadt eigentlich (schon) „Stadt“ sei oder ob sie (noch) landschaftliche Qualitäten aufweise, ob sie als eine Form von „Kulturlandschaft“ zu gelten habe, oder ob man sie, bzw. die gesellschaftlichen Zustände, denen sich ihr unkontrolliertes Wachstum verdanke, nicht doch besser metaphorisch als eine Form von „Wildnis“ charakterisieren müsse. Es gibt eine Reihe diskursinterner Versuche, die gerade genannten Unübersichtlichkeiten zu überwinden. Das heißt, dass die den Diskurs führenden Landschaftsarchitekten usw. Systematisierungen vorschlagen, mit denen die Vielzahl der Haltungen zur Zwischenstadt und ihrer Lesarten, Interpretationen und Metaphern geordnet werden soll. Allerdings reicht, wie sich zeigen wird, die Erklärungskraft dieser Ordnungsversuche meist nicht sehr tief, so dass die Unübersichtlichkeit des Diskurses bestehen bleibt. Sie stellt den Ausgangspunkt meiner Arbeit dar. Ich möchte sie mit einer Neuordnung des Diskurses überwinden. Das bedeutet, dass sowohl die Vielzahl an Haltungen zur Zwischenstadt als auch die Vielzahl ihrer Lesarten, Beschreibungen, Interpretationen und Metaphern verständlich gemacht und erklärt werden soll. Mein Erkenntnisinteresse richtet sich also darauf zu begreifen, worin und

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Zu diesem Problem beispielsweise Clemens 2001: 10; Einacker & Mäding 2005: 95-97. Price in Price & Oswalt 1991: 52.

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warum sich die verschiedenen Haltungen unterscheiden und wie es zu der Vielzahl an Deutungen der Zwischenstadt kommt. Bevor ich die Ziele und den Ansatz der Arbeit näher beschreibe, möchte ich eingrenzend erwähnen, dass ich nur auf einen Teil des Diskurses eingehe, nämlich auf den Fach- oder Spezialdiskurs7, der unter Städtebauern, Architekten, Landschaftsarchitekten sowie Stadt- und Landschaftsplanern geführt wird. (Ich werde im Folgenden nur noch von „Planern und Architekten“ sprechen; Landschaftsarchitekten, Städtebauer, Landschafts- und Stadtplaner sind immer mitgemeint.) Am Rande berücksichtige ich Positionen aus der Raumentwicklung und Regionalplanung. Unberücksichtigt bleibt die Diskussion dieses Themas in der breiteren Öffentlichkeit, in der Politik und in den Medien, also der sogenannte „Interdiskurs“8, weil dieser sich, besonders hinsichtlich der Bewertung der Zwischenstadt, stark vom Spezialdiskurs unterscheidet und deshalb mit anderen Mitteln gedeutet und geordnet werden müsste. Neben der Debatte unter Planern und Architekten gibt es noch eine Reihe weiterer Fachdiskurse, die sich mit diesem Thema befassen und die sich sogar mit jenen in bestimmten Bereichen überlappen. Warum beziehe ich nicht auch die ökonomischen, juristischen, ökologisch-naturschützerischen oder soziologischen Fachdiskurse ein, die für die Deutung des Phänomens der Zwischenstadt und für die Reaktion auf dieses wichtig sind? Die Konzentration auf Architekten und Planer rührt, neben dem Bestreben, den Umfang des zu analysierenden Materials einzugrenzen, aus dem Interesse an den Gestaltungsstrategien und Planungsauffassungen. Mich interessiert weniger das physisch-materielle Phänomen der Zwischenstadt – dann wäre es in der Tat unerlässlich, sich mit wirtschaftlichen, rechtlichen, soziologischen oder ökologisch-naturschützerischen Aspekten zu befassen. Mich interessiert vielmehr, wie in den Disziplinen, die versuchen, dieses Phänomen zu planen und zu gestalten, reagiert und wie es diskutiert wird. Argumente aus jenen anderen Fachdebatten behandle ich nur dann, wenn sie von den Planern und Architekten vorgetragen und als relevant für ihre Gestaltungsentscheidungen und „Entwurfsphilosophien“ benannt werden. Dabei interessiert mich allerdings weniger, ob diese Argumente richtig und die Theorien wahr sind, sondern mehr, mit welcher argumentativen Absicht auf andere Diskurse verwiesen wird.

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Zum Begriff des Spezialdiskurses Jäger 2001/2006: 98, siehe auch Kapitel 2.1. Link 2001/2006.

E INLEITUNG | 19

1.2 ANSATZ UND Z IEL DER ARBEIT – N EUORDNUNG DES D ISKURSES ALS WELTANSCHAULICHE ANALYSE DER L ESARTEN UND G RUNDHALTUNGEN Die gerade skizzierte Unübersichtlichkeit soll in dieser Arbeit mit einer Neuordnung des Diskurses überwunden werden. Mein Ansatz zu dieser Neuordnung besteht im Wesentlichen darin, unterschiedliche Grundhaltungen, die Architekten und Planer zur Zwischenstadt einnehmen, zu formulieren und diese Haltungen zu analysieren. Dazu untersuche ich, welche Lesarten dieses Phänomens in ihnen jeweils mit welchen spezifischen Bedeutungen verwendet werden. Eine solche Neuordnung ist sinnvoll, weil die Erklärungskraft bisheriger Ordnungsversuche – wie oben schon angedeutet und gleich noch näher ausgeführt wird – meist nicht sehr tief reicht und die bestehenden Ordnungssysteme darum alle wenig überzeugend sind. Was bedeutet es nun, eine Neuordnung vorzunehmen? Mit diesem Begriff wird berücksichtigt, dass es bereits eine Reihe von Ordnungsvorschlägen gibt. Diesen füge ich nicht einfach einen neuen Versuch hinzu, sondern baue auf den bereits vorhandenen Vorschlägen auf, indem ich sie analysiere und die dadurch gewonnenen Elemente neu verbinde. Welche Ordnungen bzw. Kriterien zur Systematisierung sind innerhalb des Diskurses bereits vorgeschlagen worden? Eine erste Gruppe von Vorschlägen liegt auf der Ebene der moralischpraktischen Beurteilung. Sie sortiert nach der grundlegenden Haltung, die der Zwischenstadt gegenüber eingenommen wird. Man fragt also danach, wie diese bewertet wird. Unterschieden werden Positionen, die sich mehr oder minder vehement gegen die Verstädterung der Landschaften aussprechen, von solchen, die diese Entwicklung wohlwollend oder begeistert betrachten. Zwischen diesen Polen spannt sich ein großes, heterogenes Mittelfeld auf: Man sieht, mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Gewichtungen, die Potentiale der Zwischenstadt, aber auch ihre Schwächen. Eine solche Form der Ordnung wird von den Diskursteilnehmern keineswegs selten vorgenommen. Allerdings reichen die Begründungen für die Zuordnung der Repräsentanten zu den entsprechenden Positionen bis auf wenige Ausnahmen nicht sehr tief, sondern begnügen sich mit der Identifizierung und Benennung der Haltungen, ohne die Kriterien der Aufteilung oder der Zuordnung genauer zu erläutern. Eine zweite Ordnung ist die nach verschiedenen Deutungen der Zwischenstadt. Dass ich die Vielzahl der Interpretationen, Lesarten und Metaphern oben noch als einen Aspekt der Unübersichtlichkeit des Diskurses angeführt habe, liegt daran, dass sie diskursintern zumeist als Argumente zur Begründung der eigenen Haltung zur Zwischenstadt und nicht als Vorschläge zur Ordnung des Diskurses vorgebracht werden. Zuweilen reflektieren die Planer und Architekten aber auch das Verhältnis der verschiedenen Lesarten, Deutungen und Metaphern zueinander und versuchen dadurch, den

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Diskurs zu ordnen. So schreibt beispielsweise Sieverts: „Die Lesart der Peripherie als Wildnis ist das Gegenstück zur Lesart der Peripherie als Landschaft. Beide Lesarten sind berechtigt, sowohl als Interpretationshilfen als auch durch das konkrete Erleben städtischer Peripherien.“9 In diesem Zitat bleibt allerdings unklar, ob die Lesarten Interpretationshilfen für die Wahrnehmung der realen Zwischenstadt oder für die Interpretation des Diskurses über sie oder für beides sein sollen. Aus ähnlichen Gründen reicht die Erklärungskraft anderer Ordnungsversuche nicht sehr weit; es wird meist nicht unterschieden, ob die angeführten Lesarten usw. der Bewertung des Phänomens oder der Ordnung des Diskurses über dieses dienen sollen. Ein drittes Ordnungsmuster, auf das man allerdings seltener stößt, verweist auf politische oder weltanschauliche Hintergründe der Positionen: So werden beispielsweise bestimmte Ansätze, zumeist abwertend, als „konservativ“ oder „romantisch“ charakterisiert; ihnen werden dann „progressive“ oder „linke“ Haltungen gegenübergestellt.10 Auch bei dieser Diskursordnung wird nur sehr selten genauer beschrieben, was denn eigentlich eine Theorie der Zwischenstadt „konservativ“, „romantisch“, „progressiv“ oder „links“ erscheinen lässt. Ich greife alle drei gerade genannten Ebenen auf. Auch ich untersuche also den Diskurs nach (1) Grundhaltungen, (2) Lesarten und (3) Weltanschauungen. Ohne dass hier, in der Einleitung, die Auswahl dieser Ordnungsebenen begründet werden kann, sollen sie kurz eingeführt werden.11 Zu (1): Ich formuliere drei Grundhaltungen, also drei grundlegend verschiedene Weisen, die Zwischenstadt zu bewerten. Die Vertreter dieser Haltungen nenne ich die „Gegner“, die „Euphoriker“ und die „Qualifizierer“ der Zwischenstadt. Erstere weisen die Verstädterung der freien Landschaft harsch zurück und orientieren sich am Ideal der kompakten europäischen Stadt. Die Repräsentanten des zweiten Lagers hingegen sehen in der Dynamik, Unbestimmtheit und Fragmentiertheit der Zwischenstadt das Versprechen einer neuen Freiheit, weshalb sie die neue Stadtform euphorisch bejahen. Die Vertreter des dritten Typs nehmen eine Mittelstellung ein: Sie akzeptieren die Realität der Zwischenstadt als unhintergehbares Faktum, erkennen aber auch deren Defizite, die sie besonders im Hinblick auf die in ihr gegebene Lebensqualität sehen. Diese wollen sie verbessern, die Zwischenstadt soll ihren Bewohnern zu einer lebenswerten Heimat werden; sie soll deshalb umfassend „qualifiziert“ werden. Zu (2): Unter der Vielzahl an Lesarten, die zur Charakterisierung der Zwischenstadt herangezogen werden, wähle ich drei aus: „Stadt“, „Kultur-

9 Sieverts 1997/2001: 56. 10 Siehe z. B. Hauser & Kamleithner 2006: 173; Bormann et al. 2003: 32; Bormann et al. 2005: 100, 134. 11 Genauer zu den Grundhaltungen siehe Kapitel 3.2, zur Auswahl der Lesarten siehe Kapitel 3.1, auf die Weltanschauung gehe ich genauer in Kapitel 4 ein; ihre Auswahl begründe ich in Kapitel 2.3.

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landschaft“ und „Wildnis“. Unter einer „Lesart“ verstehe ich eine Perspektive, die für denjenigen, der sie einnimmt, den Blick auf ausgewählte Charakteristika am Objekt lenkt. Wenn die Zwischenstadt beispielsweise als „Stadt“ gedeutet wird, so werden an ihr vor allem Eigenschaften wahrgenommen, die sie als städtische Siedlungsform und das Leben in ihr als urbane Lebensweise charakterisiert. Darüber hinaus sind „Lesarten“ Perspektiven, die Bewertungen implizieren. Das, was man beispielsweise an einer Kulturlandschaft reizvoll findet, wird, wenn man die Zwischenstadt so liest, auf diese übertragen. Die gewählten Lesarten, also „Wildnis“, „Kulturlandschaft“ und „Stadt“, liegen alle in bestimmter Hinsicht auf einer Ebene, nämlich insofern sie Bezeichnungen für Formen der Landnutzung (bzw. Nichtnutzung) sind. Sie unterscheiden sich aber nicht nur semantisch, sondern sind auch Lesarten von unterschiedlichem Charakter: Während „Wildnis“ als Beschreibung der Zwischenstadt einen metaphorischen Charakter aufweist, sind „Kulturlandschaft“ und „Stadt“ nicht als Metaphern gemeint. Wird die Zwischenstadt als „Stadt“ bezeichnet, so soll damit beispielsweise ausgesagt werden, dass sie sich durch ein solches Maß an Urbanität auszeichnet, wie man es von der kompakten Stadt kennt, oder auch, dass die Bauweise oder die dominante Ökonomie dort städtisch ist. Wird sie als „Kulturlandschaft“ bezeichnet, so ist auch das nicht (oder doch wenigstens meistens nicht) in einem übertragenen Sinne gemeint, sondern so, dass die zwischenstädtische Landschaft eben die heutige Kulturlandschaft sei. „Wildnis“ hingegen ist immer metaphorisch gemeint. Denn die Zwischenstadt gilt gemeinhin als das genaue Gegenteil von Wildnis: Wo die Landschaft verstädtert ist, gilt Natur gerade nicht mehr als unkontrolliert und unkultiviert, ursprünglich und frei, sondern wird als verbaut angesehen, als von Infrastrukturtrassen durchzogen und als Bauerwartungsland ausgewiesen. Wird die Zwischenstadt als „Wildnis“ bezeichnet, so soll damit also nicht gesagt werden, dass sie unkontrollierbare Natur ist, sondern beispielsweise dass sie sich der planerischen Kontrolle genauso entzieht wie wilde Natur und dass die Gesellschaftsprozesse, die die Zwischenstadt hervorbringen, „wild“, also unkontrolliert und unkontrollierbar, sind. Dass die gewählten Lesarten sich in ihrem Charakter unterscheiden, dass also „Wildnis“ im Gegensatz zu „Stadt“ und „Kulturlandschaft“ stets metaphorisch gemeint ist, erzwingt allerdings im Rahmen dieser Arbeit keine unterschiedliche Behandlung. Denn das, was mich an den Lesarten interessiert, ihre Bedeutungen, Vorstellungen und Assoziationen sowie die Bewertungen, die sie implizieren, ist ganz unabhängig davon, ob sie als Metaphern verwendet werden oder nicht. „Wildnis“ wird, genau wie „Kulturlandschaft“ und „Stadt“, als ein kulturell konstituierter Gegenstand betrachtet. Damit soll nicht im Sinne einer radikalen konstruktivistischen Auffassung behauptet werden, dass die physische Welt um uns lediglich ein Produkt unseres Geistes ist. Es ist vielmehr gemeint, dass das, was die Dinge für uns bedeuten, kulturabhängig ist – mehr noch, dass wir sie ohne diese kulturelle Be-

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deutung gar nicht als Objekte wahrnehmen würden. Dass also Wildnis – und analog Kulturlandschaft und Stadt – in dieser Arbeit als kulturell konstituiertes Objekt betrachtet wird, meint also, dass ihr ganz unterschiedliche Bedeutungen zukommen können und dass sich diese von Kultur zu Kultur und in Abhängigkeit von der Zeit ändern können und geändert haben. Zu (3): Auf der Ordnungsebene der Weltanschauung gehe ich von vier präzise formulierten Positionen aus: Ich unterscheide eine liberale, eine konservative, eine demokratische und eine romantische Weltanschauung. Mit diesen Bezeichnungen verbinde ich keine Bewertungen; es geht mir nicht darum, politisch korrekte von verwerflichen Auffassungen zu trennen. Die Begriffe sind vielmehr theoretisch gemeint; sie dienen der Charakterisierung eines spezifischen Zusammenspiels von Theoriestruktur und Werthaltung, das ich beschreibe, nicht bewerte. Im Unterschied zu den bisherigen diskursinternen Ordnungsversuchen formuliere ich (a) explizit und präzise die Kriterien, nach denen ich die Grundhaltungen, die Lesarten und die Weltanschauungen aufteile und Zuordnungen vornehme. (b) Ich verbinde die drei Ordnungsebenen miteinander, so dass sie nicht, wie diskursintern zumeist der Fall, beziehungslos nebeneinander stehen. Durch diese Präzisierung der Ordnungsprinzipien und ihre Kombination, die wesentlich darin besteht, dass die ersten beiden Ebenen (Grundhaltungen und Lesarten) mithilfe der dritten (Weltanschauungen) analysiert werden, kommt es zu einer tatsächlichen Neuordnung des Diskurses. Da nicht nur solche Ordnungsmuster berücksichtigt werden, die sich an der Diskursoberfläche als vermeintlich kohärente Einheiten abzeichnen, können unbemerkte Zusammenhänge offengelegt werden. Beispielsweise wird sich herausstellen, dass die Grundhaltungen, die aus der Vielzahl der Bewertungen der Zwischenstadt als mehr oder minder einheitliche Typen herausgefiltert wurden, in sich gar nicht so homogen sind, wie man vermuten könnte. Die Präzisierung der bestehenden Ordnungsprinzipien geschieht, indem ihre ideengeschichtlichen Hintergründe berücksichtigt werden. Wenn man die Ideengeschichte idealtypisch rekonstruiert, bzw. sie in die Bildung von Idealtypen des zu ordnenden Materials einfließen lässt, erfährt man, welche der verschiedenen Ideen, die im Diskurs auftreten, zusammengehören. Man begreift außerdem, warum die Ideen eines Protagonisten manchmal nicht so recht schlüssig erscheinen. Daher ist eine historische Perspektive sinnvoll, wenn man Gleichzeitiges ordnen will. Ich formuliere also ideengeschichtlich fundierte Idealtypen sowohl der Grundhaltungen (Gegner, Euphoriker und Qualifizierer) als auch der Lesarten („Wildnis“, „Kulturlandschaft“ und „Stadt“) und der Weltanschauungen (Liberalismus, Konservatismus, Demokratismus und Romantik). Idealtypen stellen ein begriffliches Instrumentarium zur Ordnung des Diskurses dar; sie dürfen aber keinesfalls als starres, klassifizierendes Schubladendenken missverstanden werden, sie dienen genau dem Gegenteil: Typen sind keine Klassen. Idealtypen beschreiben immer nur Pole, denen sich reale Positionen nur mehr oder weniger annähern,

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ohne sie erreichen zu können. Genauer werde ich auf den Status von Idealtypen im Methodenkapitel eingehen (Kapitel 2.2). Ich möchte hier aber schon einige Punkte andeuten, um Missverständnissen vorzubeugen: Die Idealtypen ordnen den Diskurs, indem sie widerspruchsfrei und in einer begrifflichen Reinheit, wie sie in der Realität nicht gefunden werden kann, ein Spektrum möglicher Positionen aufspannen. Die realen Theorien, Aussagen und Begriffe schweben dann wie Punktwolken um diese Idealtypen oder auch zwischen ihnen; einige kommen ihnen sehr nahe, andere sind weit entfernt von ihnen. Mithilfe der Idealtypen als präzise bestimmten Begriffen lässt sich, umgekehrt betrachtet, erst zeigen, inwiefern die Realität unendlich viel komplexer ist als das, was von ihnen abgebildet werden kann. Denn nur mit genau bestimmten begrifflichen Polen ist auszumachen, ob und in welcher Hinsicht sich die Positionen eigentlich unterscheiden. Wie aber vollzieht sich die Kombination der drei Ordnungsebenen, also der Ebene der Grundhaltungen, der Lesarten und der Weltanschauungen? Bei der folgenden Entwicklung der diese Arbeit leitenden Fragen und Thesen wird die Frage nach der Kombination der Ebenen beantworten werden. Mein Ansatz besteht zunächst darin, die unterschiedlichen Lesarten mit den unterschiedlichen Grundhaltungen zur Zwischenstadt zu verschränken. Dies ist nötig, weil in allen drei Grundhaltungen, also bei den Gegnern, den Euphorikern und den Qualifizierern, alle drei Lesarten, also „Wildnis“, „Kulturlandschaft“ und „Stadt“, geläufig sind (siehe Abbildung 1). Abbildung 1: Der Diskus über die Zwischenstadt – Lesarten und Grundhaltungen. Der Diskurs über die Zwischenstadt Lesarten

Grundhaltungen

Wildnis

Gegner

Kulturlandschaft

Euphoriker

Stadt

Qualifizierer

Das mag verwundern, denn es wäre ja durchaus plausibel anzunehmen, dass bestimmte Lesarten ausschließlich oder zumindest stark bevorzugt in be-

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stimmten Grundhaltungen vorgebracht werden, dass also beispielsweise vor allem die Gegner der Zwischenstadt diese als „Wildnis“ brandmarken. Ich formuliere daher folgende Leitfrage: Wieso können die Lesarten „Wildnis“, „Kulturlandschaft“ und „Stadt“ gleichermaßen von Vertretern der unterschiedlichen Grundhaltungen, also von Gegnern, Euphorikern und Qualifizierern der Zwischenstadt, verwendet werden? Meine Antwort auf diese Frage basiert auf folgender These, die für die Arbeit grundlegend ist: Die Vieldeutigkeiten und die unterschiedlichen Bewertungen der Begriffe ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ ermöglichen es, dass sowohl Gegner als auch Euphoriker und Qualifizierer der Zwischenstadt auf diese Begriffe als Lesarten Bezug nehmen können, um ihre unterschiedlichen Haltungen auszudrücken. Eine Lesart hat also nicht nur eine Bedeutung, sondern es handelt sich bei den Lesarten um vieldeutige Begriffe. Wenn ein Gegner die Zwischenstadt als „Wildnis“ bezeichnet, so kann man annehmen, dass er auf andere Vorstellungen, die sich mit ‚Wildnis‘ verbinden, rekurriert als ein Euphoriker. Herauszufinden, auf welche Bedeutungsmuster jeweils zurückgegriffen wird, ist das Forschungsprogramm dieser Arbeit und wurde mit der obigen Leitfrage formuliert. Was die Begriffe ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ jeweils bedeuten und wie sie bewertet werden, ist wiederum nicht beliebig, sondern folgt bestimmten kulturellen Mustern. Diese, so meine Annahme, sind Bestandteile von grundlegend verschiedenen Deutungen der Welt: von unterschiedlichen Weltanschauungen. Jede Weltanschauung formuliert einen eigenen Begriff von ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘. Die unterschiedlichen Bedeutungen und Bewertungen lassen sich systematisch darstellen, wenn man sie aus der Perspektive von begrifflich präzise gefassten Weltanschauungen (re-)konstruiert. Als weitere These formuliere ich daher: Dass die drei Lesarten vieldeutig sind, erklärt sich daraus, dass in jeder Weltanschauung jeweils ein eigener Begriff von ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ formuliert wird. Das Schaubild (siehe Abbildung 2) verdeutlicht, dass jede Weltanschauung einen eigenen Begriff von ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ hat. Jede der drei Lesarten hat also vier verschiedene Bedeutungen: eine liberale, eine konservative, eine demokratische und eine romantische. Die Gesamtheit dieser Vorstellungen stellt das Interpretationsrepertoire dar, aus dem die Planer und Architekten schöpfen, um ihre Vorstellungen über die Zwischenstadt zu artikulieren.12 Es zeigt sich also, dass die in dieser Arbeit vorgenommene Analyse der Lesarten in den unterschiedlichen Grundhaltungen letztlich eine weltanschauliche Analyse dieser Grundhaltungen bedeutet. Denn zu fragen, in welcher Bedeutung eine Lesart in einer Grundhaltung verwendet wird, bedeutet danach zu fragen, ob ein liberaler, ein konservati-

12 Das Interpretationsrepertoire wird in Kapitel 4 entwickelt.

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ver, ein demokratischer oder ein romantischer Begriff oder eine Kombination von ihnen auftritt. Abbildung 2: Der Diskurs über die Zwischenstadt und die Weltanschauungen. Weltanschauungen Wildnis

Liberalismus

Der Diskurs über die Zwischenstadt Lesarten

Grundhaltungen

Kulturlandschaft Stadt

Wildnis

Gegner

Kulturlandschaft

Euphoriker

Stadt

Qualifizierer

Wildnis

Konservatismus

Kulturlandschaft Stadt Wildnis

Demokratismus

Kulturlandschaft Stadt Wildnis

Romantik

Kulturlandschaft Stadt

Die entwickelten Leitfragen bzw. -thesen sind sehr breit angelegt. Sie müssen eingegrenzt werden, damit die Gratwanderung zwischen notwendiger Fokussierung auf ausgewählte Aspekte einerseits und der Vermeidung von Unterkomplexität, also der unangemessen engen und verkürzten Behandlung der diskursiven Vielschichtigkeit andererseits gelingen kann. Anstatt alle drei Lesarten für alle drei Grundhaltungen zu untersuchen, was den Rahmen der Arbeit sprengen würde, konzentriere ich mich auf die eingehende Analyse einer Lesart, nämlich die der Wildnis, und einer Grundhaltung, nämlich die der Qualifizierung. Die Forschungsfrage lautet: In welchen Bedeutungen verwenden die Qualifizierer die Lesart „Wildnis“ zur Charakterisierung der Zwischenstadt? Hinter dieser Frage steht folgende These: Die unterschiedlichen Vorstellungen, die sich mit ‚Wildnis‘ verbinden, machen diese zu einer geeigneten Lesart, um die ambivalente Haltung der Qualifizierer zur Zwischenstadt abzubilden. Wird diese Schwerpunktsetzung dem Ziel der Arbeit gerecht, den Diskurs neu zu ordnen? Leistet sie die eingeforderte Gratwanderung? Ich gehe erstens davon aus, dass bei der Untersuchung einer Grundhaltung auch die anderen Auffassungen bedacht werden müssen. Bei der Analyse der Qualifizierer erfährt man implizit immer auch etwas über die Gegner und die Euphoriker, weil die Haltung der Qualifizierer als zwischen den Extremen vermittelnde Position zu begreifen ist. Als Folie zur präzisen Darstellung der Qualifizierer kann es darüber hinaus bei bestimmten Gesichtspunkten sinnvoll sein, explizit auf die beiden anderen Grundhaltungen zu verweisen.

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Es findet trotzdem eine Fokussierung statt, weil auf die internen Differenzierungen der Extreme nicht eingegangen werden muss. Analog lässt sich zweitens für die Fokussierung auf die Lesart „Wildnis“ argumentieren: Die Bedeutungen, die sie hat, kommen ihr, wie man sehen wird, nicht unabhängig von den Bedeutungen der Lesarten „Stadt“ und „Kulturlandschaft“ zu. Meine Forschungsfrage, in welchen Bedeutungen die Qualifizierer die Lesart „Wildnis“ zur Charakterisierung der Zwischenstadt verwenden, ermöglicht es mir also einerseits, mich auf wenige ausgewählte Aspekte zu konzentrieren, um für diese eine gewisse analytische Tiefe zu erreichen. Andererseits erlaubt mir dieses Vorgehen, ja erzwingt es, das Diskursfeld in seiner Gesamtheit im Auge zu behalten. Die Beantwortung der Frage, in welchen Bedeutungen die Lesart „Wildnis“ von den Qualifizierern zur Charakterisierung der Zwischenstadt verwendet wird, impliziert – in Verbindung mit der oben aufgestellten These, dass die Bedeutung der Lesarten weltanschauungsabhängig ist – die weltanschauliche Analyse der Grundhaltung der Qualifizierer. Danach zu fragen, in welchen Bedeutungen die Qualifizierer die Zwischenstadt als ‚Wildnis‘ deuten, bedeutet also, danach zu fragen, ob es sich um liberale, konservative, demokratische oder romantische Wildnisideen handelt, die, entweder in Reinform oder auch in bestimmten Kombinationen, zur Beschreibung der Zwischenstadt verwendet werden.

1.3 AUFBAU

UND I NHALT DER

ARBEIT

Zunächst stelle ich die in der Arbeit verwendeten Methoden vor (Kapitel 2). Ich erläutere, dass sie als eine Diskursanalyse angelegt ist (Kapitel 2.1). Dazu stelle ich den Diskursbegriff Michel Foucaults, wie er ihn in seinen früheren Arbeiten entwickelt hat, dar und erweitere seinen Ansatz zu einer ideenimmanenten Untersuchung von Entwurfsstrategien und planerischen Positionen. Ich füge einige Anmerkungen zur Auswahl des Analysematerials an, bevor ich, in Kapitel 2.2, Idealtypen als das heuristische Werkzeug einführe, mit dem es gelingt, die große Vielfalt an Lesarten und Grundhaltungen der Realität begrifflich zu fassen. Als Grundlage zur Strukturierung der im Diskurs auftretenden Aussagen führe ich, in Kapitel 2.3, vier unterschiedliche Weltanschauungen ein: Liberalismus, Konservatismus, Demokratismus und Romantik. Ich erläutere die Auswahl der Weltanschauungen und wie im Rahmen dieser Arbeit ihre Ausdifferenzierung gedacht wird. Anschließend charakterisiere ich die Ideengeschichte als Mittel, um erstens die Bedeutungsvielfalt der Lesarten synchron darzustellen und um zweitens in diachroner Perspektive die auftretenden diskursiven Kontinuitäten und Brüche aufspüren zu können (Kapitel 2.4). In der Vorstellung eines mehrdimensionalen Analyse- und Interpretationsansatz in Kapitel 2.5 zeige ich, wie die unterschiedlichen methodischen Bausteine zusammengeführt und im Rahmen der Arbeit konkretisiert werden.

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Das dritte Kapitel ist als ausführlicher Problemaufriss konzipiert. Es gibt einen Überblick über das Diskursfeld. Dazu werden in einem ersten Schritt die drei zu untersuchenden Lesarten der Zwischenstadt, d. h. „Wildnis“, „Kulturlandschaft“ und „Stadt“, analysiert (Kapitel 3.1). Anschließend werden idealtypisch drei Grundhaltungen formuliert, deren Repräsentanten ich als Gegner, Euphoriker und Qualifizierer der Zwischenstadt bezeichne (Kapitel 3.2). Als Kombination aus den Lesarten und Grundhaltungen ergeben sich die von mir als Diskurspositionen bezeichneten Auffassungen. Ich unterscheide also die Gegner, die die Zwischenstadt als „Wildnis“ deuten, von den Gegnern, die sie als „Kulturlandschaft“ oder als „Stadt“ deuten; entsprechend untergliedere ich auch die Euphoriker und die Qualifizierer. So ergeben sich neun Diskurspositionen, die in Kapitel 3.3 kurz charakterisiert werden. Als Zwischenfazit (Kapitel 3.4) halte ich erstens fest, dass mit den Grundhaltungen nicht eine bestimmte Lesart vorgegeben ist (und andere ausgeschlossen sind), ebenso wie eine Lesart nicht eine Grundhaltung zur Zwischenstadt bestimmt. Zweitens ist festzuhalten, dass in den Grundhaltungen jeweils Lesarten zusammen vorkommen, die semantisch als unvereinbar gelten. Diese Zwischenergebnisse bilden den Ausgangspunkt der weiteren Untersuchung. In Kapitel 4 erarbeite ich das Interpretationsrepertoire für die Analyse des Diskurses um die Zwischenstadt. Dazu differenziere ich unterschiedliche Vorstellungen von ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘, indem ich jeweils frage, was sie in den unterschiedlichen weltanschaulichen Kontexten, also im Liberalismus, im Konservatismus, im Demokratismus und in der Romantik, für Bedeutungen haben. In je einem der vier Unterkapitel (Kapitel 4.1 bis 4.4) stelle ich also aus der Perspektive einer Weltanschauung dar, mit welchen Vorstellungen jede der drei Lesarten verbunden sein kann. Mit diesem Interpretationsrepertoire analysiere ich im fünften Kapitel Aussagen von Architekten und Planern zur Zwischenstadt. Exemplarisch untersuche ich hier die Diskursposition derjenigen Qualifizierer, die die Zwischenstadt als „Wildnis“ deuten. Zunächst befasse ich mich mit der Diskussion um die Ästhetik der Zwischenstadt (Kapitel 5.1), im zweiten Unterkapitel liegt der Fokus auf der Analyse von Auffassungen über den seinsollenden Zustand der Zwischenstadt (Kapitel 5.2). Dabei interessiert mich, welche im Interpretationsrepertoire formulierten Vorstellungen in den Aussagen zur Zwischenstadt auftauchen. Es wird also die weltanschauliche Herkunft und Kombination bestimmter aktueller Topoi analysiert. Im Fazit (Kapitel 6) behandle ich, was die weltanschauliche Heterogenität der Aussagen von Planern und Architekten bedeutet und gehe auf die Vieldeutigkeit und Wirkmächtigkeit der Lesart „Wildnis“ ein. Außerdem schlage ich eine Unterscheidung von Varianten, zu denen sich Vorstellungen aus unterschiedlichen Weltanschauungen in den Aussagen kombinieren, vor und reflektiere den in der Arbeit entwickelten und erprobten methodi-

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schen Ansatz. Ich ende mit einem Ausblick, in dem ich auf weiterführende Forschungsfragen eingehe, die sich aus dieser Arbeit ergeben haben. In Kapitel 7 wird die Arbeit zusammengefasst.

2. Methode und Material – zum Aufbau der Arbeit und zur Auswahl des Analysematerials

Dieses Kapitel kann keine vollständige Darlegung einer in sich geschlossenen Methode bieten, da sich die Arbeit erstens durch einen gewissen methodischen Eklektizismus auszeichnet (was angesichts der Zielsetzung unvermeidbar scheint) und zweitens, weil es sich bei der „Methode“, die hier dargestellt wird, eher um methodische Einstellungen oder Forschungsperspektiven als um eine klar benennbare Methode handelt. Die Aufgabe dieses Kapitels besteht daher vielmehr darin, mein Vorgehen darzustellen und es nachvollziehbar zu machen. Dazu werde ich in den folgenden Unterkapiteln auf einzelne methodische Bausteine eingehen, die für die Arbeit wichtig sind. Dass dieses Kapitel umfangreicher geraten ist, als man es von methodischen Ausführungen in Arbeiten dieses Typs erwartet und dass es stellenweise lehrbuchartig erscheinen mag, liegt daran, dass eines der Anliegen der Arbeit in der Erprobung der eingesetzten Methode besteht; daher möchte ich sie in angemessener Ausführlichkeit darstellen. Auf das Material und die Kriterien seiner Auswahl werde ich am Ende des Kapitels 2.1 eingehen.

2.1 D ISKURSANALYSE – DIE IDEENIMMANENTE U NTERSUCHUNG VON E NTWURFSSTRATEGIEN UND PLANERISCHEN P OSITIONEN Vom „Diskurs“ bzw. der Analyse des „Diskurses“ zu sprechen bedeutet zunächst, so hatte ich in der Einleitung gesagt, dass es mir auf die „Diskussion“ der Planer und Architekten um die Zwischenstadt ankommt, und nicht auf das physisch-materielle Phänomen selbst, über das diskutiert wird. Dass „Diskurs“ darüber hinaus noch mehr impliziert, wird im Folgenden deutlich werden. Es handelt sich um einen Begriff mit einem weiten Bedeutungs-

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spektrum.1 In verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen haben sich unterschiedliche Diskursverständnisse entwickelt, aber auch innerhalb einer Disziplin konkurrieren verschiedene Vorstellungen davon, was ein Diskurs sei.2 Angesichts dieser Vieldeutigkeit ist es notwendig, das hier zugrundeliegende Verständnis zu erläutern. Es orientiert sich im Wesentlichen am Diskursbegriff, wie ihn Michel Foucault geprägt hat. In dessen Arbeiten lassen sich allerdings, grob gesprochen, zwei Begriffe unterscheiden:3 derjenige, der seinen frühen Arbeiten, wie Die Ordnung der Dinge4 und Archäologie des Wissens5, zugrundeliegt, und derjenige, den er in seinen späteren Texten ausgearbeitet hat. „In Die Ordnung des Diskurses […] kommt es zu einer entscheidenden Wende in der Konzeptualisierung des Diskursbegriffs“.6 Von da an macht er verstärkt auf die Verknüpfung von Diskurs und Macht und damit auf die soziale Einbettung von Diskursen aufmerksam. Ich lehne mich eher an den früheren Diskursbegriff an, den ich daher im Folgenden skizzieren werde. Anschließend werde ich erläutern, worin mein Ansatz von demjenigen Foucaults abweicht. Der Diskursbegriff in Foucaults Die Ordnung der Dinge und in Archäologie des Wissens Foucault widmet sich in Die Ordnung der Dinge dem Problem, dass empirisches Wissen zu einer gegebenen Zeit und innerhalb einer gegebenen Kultur eine „wohldefinierte Regelmäßigkeit“7 besitzt. Mit der von ihm so genannten Archäologie versucht er, „ein positives Unbewußtes des Wissens“8 zu enthüllen – „eine Ebene, die zwar dem Bewusstsein des Wissenschaftlers nicht gegenwärtig, die aber dennoch Teil des wissenschaftlichen Diskurses ist“.9 Foucault will wissenschaftliche Entwicklungen nicht mehr als durch Genies und Zufälle oder durch das sich entfaltende Wesen irgendwelcher Ursprünge (etwa des „Geistes“ einer Epoche) determiniert betrachten, son-

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Landwehr (2008: 15) listet folgende unterschiedliche Verwendungsweisen von ‚Diskurs‘ auf: „Gespräch“, „Rede“, „Abhandlung über einen Gegenstand in Rede oder Schrift“, „Kommunikationsgemeinschaft“, „textuelle Einheiten, die größer sind als ein Satz“, „Diskussion/Debatte“ oder „komplexe Systeme zur Herstellung von Wissen und Wirklichkeit“. Für eine Darstellung unterschiedlicher Diskursverständnisse in unterschiedlichen Disziplinen Keller et al. 2001/2006: 9-13; Landwehr 2008: 60-65. Landwehr 2008: 66. Foucault 1966/1974. Foucault 1969/1981. Landwehr 2008: 72. Foucault 1966/1974: 9. Ebd.: 11. Landwehr 2008: 67.

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dern durch die Gesetze eines bestimmten „Codes“, wie er sich zunächst vorsichtig ausdrückt.10 In der Einleitung zu Die Ordnung der Dinge beschreibt er sein Programm: „[D]ie Naturgeschichtler, die Ökonomen und die Grammatiker [der ‚klassischen‘ Zeit, mit denen er sich in Die Ordnung der Dinge beschäftigt] benutzten – was ihnen selbst unbekannt blieb – die gleichen Regeln zur Definition der ihren Untersuchungen eigenen Objekte, zur Ausformung ihrer Begriffe, zum Bau ihrer Theorien. Diese Gesetze des Aufbaus, die für sich selbst nie formuliert worden sind, sondern nur in weit auseinanderklaffenden Theorien, Begriffen und Untersuchungsobjekten zu finden sind, habe ich zu enthüllen versucht“.11

Als Diskurs lässt sich demnach in einem ersten Schritt „eine Ordnung begreifen, die den mit diesem Diskurs vertrauten Subjekten das gemeinsame Denken, Sprechen und Handeln erlaubt“12. Intensiver setzt sich Foucault in der Archäologie des Wissens mit dem Konzept des Diskurses auseinander – einem Buch, das er als methodische Grundlage seiner bis dahin veröffentlichten Arbeiten gewissermaßen nachgereicht hat. In klarer Abgrenzung zur klassischen Geistes- und Ideengeschichte lehnt er deren übliche Schemata ab. Was die Einheit des Diskurses gewährleiste, sei weder die „Tradition“, noch der „Einfluss[..]“, es sei nicht die „Entwicklung“ oder die „Mentalität“. Auch durch die Kategorien des „Werks“ oder des „Buchs“ sieht er den Zusammenhalt des Diskurses nicht gegeben.13 Von einer „diskursiven Formation“ redet er vielmehr dann, wenn eine bestimmte Anzahl von Äußerungen in einem ähnlichen „System der Streuung“14 beschrieben werden kann, und wenn sich für die Gegenstände des Diskurses eine gewisse Regelmäßigkeit feststellen lässt: „Eine Ordnung in ihrer sukzessiven Erscheinung, Korrelationen in ihrer Gleichzeitigkeit, bestimmbare Positionen in einem gemeinsamen Raum, ein reziprokes Funktionieren, verbundene und hierarchisierte Transformationen.“15 Foucault will allerdings, in einer deutlich antihermeneutischen Wendung, nicht wissen, was mit dem Geäußerten „eigentlich“ gemeint ist. Die Archäologie „versucht nicht die sprachlichen Performanzen zu umgehen, um hinter ihnen oder unter ihrer offenbaren Oberfläche ein verborgenes Element, einen heimlichen Sinn, der sich in ihnen vergräbt oder durch sie hindurch, ohne es zu sagen, an den Tag kommt, zu entdecken“16. Was ihn inte-

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Ebd. Foucault 1966/1974: 12. Landwehr 2008: 67. Alle Zitate Foucault 1969/1981: 33-35. Beide Zitate ebd.: 58. Ebd.: 57. Ebd.: 158. – Das Zitat geht folgendermaßen weiter und enthüllt dadurch, wie Foucault selbst sagt, ein „Paradox“: „und dennoch ist die Aussage nicht unmittel-

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ressiert ist die „Positivität des dictum“17, also die Tatsache der Existenz von Aussagen und ihr „Existenzgesetz […], das, was sie möglich gemacht hat – sie und keine anderen an ihrer Stelle“18. Konstitutive Bestandteile des Diskurses sind die „Aussagen“ (énoncés). Aussagen, so Foucaults knappste Bestimmung, sind „eine Fülle von Ereignissen im Raum des Diskurses im allgemeinen“19. Sie sind keineswegs immer nur sprachlicher Natur; vielmehr können auch Zeichen, Bilder und Handlungen Aussagecharakter annehmen.20 Aussagen lassen sich durch zwei maßgebliche Merkmale charakterisieren: Sie sind erstens immer eingebettet in bestimmte Zusammenhänge, die ihre soziale und institutionelle Umgebung, das sprechende Subjekt, die weitere Organisation von Aussagen sowie die diskursiven Strategien betreffen. Zweitens zeichnen sie sich durch ihr regelmäßiges und wiederholtes Auftauchen aus.21 Bei ihrer Analyse kommt es darauf an, „Formen der Regelmäßigkeit“ und „Typen der Beziehung“22 zwischen ihnen zu erfassen: „Beziehungen der Aussagen untereinander (selbst wenn diese Beziehungen dem Bewußtsein des Autors entgehen; selbst wenn es sich um Aussagen handelt, die nicht den gleichen Autor haben; selbst wenn diese Autoren einander nicht kennen); Beziehungen zwischen so aufgestellten Gruppen von Aussagen (selbst wenn diese Gruppen nicht die gleichen Gebiete oder benachbarte Gebiete treffen; selbst wenn sie nicht das gleiche formale Niveau haben; selbst wenn sie nicht der Ort bestimmbaren Austausches sind); Beziehungen zwischen Aussagen oder Gruppen von Aussagen oder Ereignissen einer ganz anderen (technischen, ökonomischen, sozialen, politischen) Ordnung.“23

Die Positivität des Diskurses, d. h. das So-und-nicht-anders-Gegebensein der Aussagen, „definiert ein Feld, wo sich möglicherweise formale Identitäten, thematische Kontinuitäten, Begriffsübertragungen und polemische Spiele entfalten können. Daher spielt die Positivität die Rolle dessen, was man ein historisches Apriori nennen könnte.“24 Mit diesem Begriff will Foucault nicht „Gültigkeitsbedingungen für Urteile, sondern Realitätsbedingungen für Aussagen“ fassen. Er soll die „Bedingungen des Auftauchens von Aus-

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bar sichtbar, sie gibt sich nicht auf eine ebenso manifeste Weise wie eine grammatische Aussage oder logische Struktur […]. Die Aussage ist gleichzeitig nicht sichtbar und nicht verborgen.“ (Ebd.: 158; dazu Deleuze 1986/1992: 27 ff.) Deleuze 1986/1992: 28. Foucault 2001: 869; siehe auch Foucault 1969/1981: 183 ff. Foucault 1969/1981: 41. Siehe beispielsweise ebd.: 119 f., 128. Landwehr 2008: 71. Beide Zitate Foucault 1969/1981: 44. Ebd.: 44 f. – Hier wird deutlich, was das Verborgene an den Aussagen ist und was es in der Archäologie ans Licht zu fördern gilt. Foucault 1969/1981: 184.

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sagen, das Gesetz ihrer Koexistenz mit anderen, die spezifische Form ihrer Seinsweise und die Prinzipien“ freilegen, „nach denen sie fortbestehen, sich transformieren und verschwinden“25. Es gibt also diskursive Gesetzmäßigkeiten, die regeln, ob bestimmte Aussagen möglich sind. Das heißt, Diskurse sind einerseits repressiv, insofern es zu einer Verknappung von Aussagemöglichkeiten kommt. Sie sind aber zugleich immer auch produktiv, weil sie „systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“26. „Diskurse regeln also das Sagbare, Denkbare und Machbare. Sie organisieren Wirklichkeit. Offensichtlich geht diese diskursive Produktion von Wirklichkeit jedoch nicht willkürlich vonstatten, sondern unterliegt gewissen Regeln, die es den Beteiligten ermöglichen, im Rahmen eines Diskurses korrekt zu sprechen, zu denken und zu handeln.“27

Dieser wirklichkeitskonstitutive Charakter von Diskursen wird in der Literatur immer wieder als einer der wichtigsten Aspekte an Foucaults Diskurstheorie betont:28 Es gehe ihm um die „gesellschaftliche Konstruktion und Regulation von Bedeutungszuweisungen, die damit verknüpften Wahrheitsund Wirklichkeitsansprüche sowie [in seinen späteren Werken] die ihnen zugrunde liegenden Machtverhältnisse“29. Mit den Diskursen erfasse er die „Möglichkeitsbedingungen bzw. ‚kulturelle Rahmungen‘“30, die das Denken und Handeln der Subjekte bestimmen. Foucault behandelt Diskurse dabei nicht nur im engeren, unmittelbar sprachlichen Sinne, sondern „als Praktiken“31.

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Alle Zitate ebd.: 184. Ebd.: 74. Landwehr 2008: 21. Vgl. beispielsweise Belina & Dzudzek 2009: 133; Hirseland & Schneider 2006: 378; Jäger 2001/2006: 87; Keller 2001/2006: 115, 125; Landwehr 2008: 78; Strüver 2009: 62. 29 Strüver 2009: 62, Hervorh. V. V. 30 Ebd.: 66, Hervorh. V. V.; mit Bezug auf Bublitz 2003; Frank 1984. 31 Foucault 1969/1981: 74; vgl. Jäger 2001/2006: 90; Keller 2001/2006: 131; Landwehr 2008: 77; Strüver 2009: 64. – Um diesem Umstand, dass Wissensordnungen nicht nur auf die sprachliche Ebene beschränkt bleiben müssen, sondern sämtliche Bereiche menschlicher Aktivität umfassen, auch terminologisch Rechnung zu tragen, führt er später den Begriff des Dispositivs ein. „Was ich unter diesem Titel festzumachen versuche, ist erstens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philantropische Lehrstätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft wer-

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Der diskursanalytische Ansatz im Rahmen dieser Arbeit In dieser Arbeit wird der Ansatz Foucaults auf Fälle und Aspekte ausgeweitet, die dieser nicht beachtet hat und nicht beachten musste; sei es, weil ihn andere Diskurse mit anderen Eigenheiten interessiert haben, sei es aufgrund eines leicht verschobenen Erkenntnisinteresses. Diese Ausweitung zeigt sich in drei, teilweise eng miteinander verknüpften Punkten. (1) Foucaults Erkenntnisinteresse richtet sich auf „institutionelle Orte und Formen der Bedeutungskonstruktion“32, d. h. vor allem auf wissenschaftliche oder spezialisierte gesellschaftliche Felder der Problembearbeitung (wie etwa das Recht). Der institutionelle Ort, der im Rahmen dieser Arbeit untersucht wird, ist der Diskurs der Landschaftsarchitektur und des Städtebaus.33 Zwischen den von Foucault untersuchten (wie der Medizin, der Grammatik und der Naturgeschichte) und den von mir untersuchten Disziplinen bestehen allerdings Unterschiede: Während jene etablierte Wissenschaften mit einer langen Tradition sind, handelt es sich bei der Landschaftsarchitektur und dem Städtebau um vergleichsweise junge Disziplinen, die als „diffus“ und „polyparadigmatisch“ bezeichnet worden sind.34 Der wichtigste Unterschied scheint aber darin zu bestehen, dass mit dem Entwurf und der Planung von Stadt und Landschaft Aussageformen vorliegen, die spezifisch für den Diskurs stadt- und landschaftsgestaltender Disziplinen sind. Sie gilt es bei einer Diskursanalyse entsprechend zu berücksichtigen. Mir sind allerdings keine methodischen Vorüberlegungen dazu bekannt, wie Entwürfe und Planungen bzw. ihre Darstellung in Plänen, Entwurfszeichnungen, Zeichnungen, Fotomontagen, Perspektiven, Modellen bzw. Modellabbildungen etc. systematisch in eine Diskursanalyse einbezogen

den kann“ (Foucault 2003: 392 f., zit. n. Landwehr 2008: 77; vgl. Jäger 2001/ 2006: 89-97). 32 Keller 2001/2006: 130. 33 Ich analysiere damit einen „Spezialdiskurs“, keinen „Interdiskurs“. „Grundsätzlich ist zwischen Spezialdiskursen (der Wissenschaft(en)) und dem Interdiskurs zu unterscheiden, wobei alle nicht-wissenschaftlichen Diskurse als Bestandteile des Interdiskurses aufgefaßt werden. Zugleich fließen ständig Elemente der wissenschaftlichen Diskurse (Spezialdiskurse) in den Interdiskurs ein.“ (Jäger 2001/2006: 98; zum Begriff des ‚Interdiskurses‘ Link 2001/2006) 34 „Polyparadigmatische“ Disziplinen befinden sich laut Kuhn (1962/1976) ständig in einem Zustand, der in „kompakten“ Disziplinen nur selten und phasenweise auftritt, in Zeiten der „Krise“, im Zustand vor der „wissenschaftlichen Revolution“. Toulmin hat „kompakte“ Disziplinen den „diffusen“ gegenübergestellt. In diesen seien die „Erklärungsideale weniger deutlich oder allgemein anerkannt [...], so daß die theoretische Entwicklung ‚diffuser‘ ist“ (Toulmin 1978: 420). Siehe auch Hard (1982/2003) über die Geographie als diffuse Disziplin, sowie Voigt (2009: 58) über die Ökologie.

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werden können.35 In der Diskursanalyse und ihrer Theorie dominiert die Beschäftigung mit sprachlichen Zeichen und textlichem Material. Ausnahmen stellen vereinzelte Untersuchungen zu Bildern36 und kartographischem Material37 dar. Obwohl Entwürfe und Planungen bzw. ihre bildlichen Darstellungen sich von Bildern anderer Art und Karten unterscheiden, können doch einige Überlegungen zu diesen auf jene übertragen werden. (Dabei gilt es zu beachten, dass im Rahmen dieser Arbeit die Entwürfe und Planungen nicht als solche interessieren, sondern dass es um den kulturellen Hintergrund der Entwurfsproduktion geht.) Es lässt sich erstens festhalten, dass die bildlichen Entwurfsdarstellungen gegenüber schriftlichen Beschreibungen ihre „Eigenständigkeit“ haben. Sie sind „nicht nur als illustrierendes und kommentierendes und letztlich abhängiges Beiwerk“ zu betrachten, „sondern als eigenständige Äußerungsform“38. Landwehr weist aber darauf hin, dass die Betonung der Relevanz von Bildern nicht bedeuten kann, ein neues Primat gegenüber dem Text zu proklamieren. Vielmehr gilt es zweitens, die „vielfältigen Verschränkungen zwischen Bildern und Texten, zwischen dem Sichtbaren und dem Sagbaren in den Blick zu nehmen“39. In diesem Sinne werde ich sowohl textliche als auch bildliche Entwurfsbeschreibungen und -strategien analysieren. Dass dennoch ein Schwerpunkt auf der Analyse von Texten besteht, liegt an der größeren Eindeutigkeit sprachlicher Aussagen.40 (2) Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit liegt, wie bereits die gewählte Orientierung an den frühen Arbeiten Foucaults zum Ausdruck bringt, weniger auf dem Aspekt der Macht und der Verankerung des Diskurses in den gesellschaftlichen Verhältnissen, als vielmehr auf der ideenimmanenten Ebene. Damit rücken (a) die Konstruktionslogik verschiedener Diskurspositionen und (b) die Bedeutungen, die den Phänomenen im Diskurs zugeschrieben werden, in den Fokus. Zu (a): Es interessiert, um mit Eisel zu sprechen, der „Erzeugungsmechanismus“41 bestimmter Aussagen. Das heißt, es geht um die Frage nach dem „kulturellen Apriori“42, also um das, was als Denkmuster in einer Kul-

35 Leider können diese Überlegungen hier auch nicht ausgeführt, sondern nur angedeutet werden. 36 Beispielsweise Maasen et al. 2006; Miggelbrink & Schlottmann 2009; Renggli 2005. 37 Harley 2002; Mose & Strüver 2009; Pickles 1992; für eine Beschäftigung mit Karten/Kartographie in der Landschaftsarchitektur siehe Langner & Schmidt 2008; Langner 2009. 38 Alle Zitate Miggelbrink & Schlottmann 2009: 182. 39 Landwehr 2008: 59, mit Bezug auf Foucault 2001: 794-797. 40 Vgl. Boehm 2004; Miggelbrink & Schlottmann 2009: 186. 41 Eisel 2004d: 39. 42 Ebd.

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tur bereitliegt; es geht darum, welche Diskurspositionen43 eingenommen werden können. Margret Jäger gibt folgende Definition dieses Begriffs, der ich mich anschließe: „Unter einer Diskursposition verstehe ich den [ideologischen] Ort, von dem aus eine Beteiligung am Diskurs und seine Bewertung für den Einzelnen und die Einzelne bzw. für Gruppen und Institutionen erfolgt [sic!]. Sie produziert und reproduziert die besonderen diskursiven Verstrickungen, die sich aus den bisher durchlebten und aktuellen Lebenslagen der Diskursbeteiligten speisen. Die Diskursposition ist also das Resultat der Verstricktheiten in diverse Diskurse, denen das Individuum ausgesetzt war und die es im Verlauf seines Lebens zu einer bestimmten ideologischen bzw. weltanschaulichen Position (mehr oder minder stringent) verarbeitet hat.“44

Das „kulturelle Apriori“ Eisels entspricht in wesentlichen Punkten dem, was Foucault als „historisches Apriori“ bezeichnet: Es geht um die Bestimmung von Realitätsbedingungen für Aussagen, jedoch nicht um die Gesamtheit aller dieser Bedingungen, sondern nur, um wiederum mit Eisel zu sprechen, um ihre theoretische Seite: „Sie [die theoretische Seite] besteht in der Beantwortung der Frage: Was sind die Bedingungen der Möglichkeit der gesellschaftlichen Objektivität dieser Position? Das heißt: Wie formiert sich eine Position nach immanenten Gesetzen ideengeschichtlicher und aktueller philosophischer Typenbildung so, dass sie einen anerkannten (wenn auch oft nur marginalen) Ort im Gravitationsfeld der möglichen Argumentationsschwerpunkte einnehmen kann?“45

Dieses Erkenntnisinteresse ist streng zu unterscheiden von dem der klassischen Diskursanalyse im Gefolge Foucaults, die sich immer auch die Frage stellt, nach welchen Prinzipien diese Positionen faktisch besetzt werden. Diese Frage, die Eisel als die nach dem „Handlungsapriori“46 bezeichnet und bei der empirisch wirksame Machtkonstellationen wirksam sind, soll hier sorgsam ausgeklammert werden.47

43 Ich verwende in anderen Teilen der Arbeit den Begriff der ‚Diskursposition‘ allerdings in einem anderen Sinn, nämlich zur Kennzeichnung von spezifischen Kombinationen von Lesarten der Zwischenstadt mit bestimmten Grundhaltungen, die ihr gegenüber im Diskurs eingenommen werden (siehe Kapitel 3.3). 44 Jäger 1996: 47. 45 Eisel 2004d: 39. 46 Ebd. 47 Ausgeklammert wird das nicht etwa, weil es nicht für relevant gehalten wird, sondern aus rein praktischen Gründen: Beides zu machen würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen und über die Kompetenzen der Autorin hinausgehen. Um die Fragen nach dem Handlungsapriori überhaupt sinnvoll stellen zu können, muss man wissen, wie bestimmte Theorien und Positionen als solche funktionie-

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Zu (b): Keller nennt das, was ich als „ideenimmanent“ bezeichne, die Ebene der „inhaltlichen Strukturierung“ des Diskurses. Auf dieser Ebene interessieren die Bedeutungen, die den Phänomenen zugeschrieben und durch die diese als Objekte der Kulturwelt überhaupt erst konstituiert werden: „Bedeutungen liegen in den Diskursen nicht als lose Zeichenpartikel, sondern in strukturierten Formen, als typisierte und typisierbare Schemata vor. Diese werden in der diskursspezifischen Textproduktion, im Deuten und Handeln der in den Diskurs eingebundenen Akteure aktualisiert.“48 Diese Bedeutungen erschließen sich hermeneutisch. Aufgabe der Diskursanalyse, so wie sie in dieser Arbeit verstanden wird, ist aber nicht nur, diese Bedeutungen zu erfassen und zu typisieren. Es geht vielmehr darum, zu den Bedingungen und Regeln ihres Auftretens vorzustoßen: „Der in vielen hermeneutischen Ansätzen benutzte Begriff des Deutungsmusters bezeichnet grundlegende bedeutungsgenerierende Regulationsmuster (hier: innerhalb der Diskurse), die nahe legen, worum es sich bei einem Phänomen handelt.“ 49 Diese Deutungsmuster bilden das diskursspezifische „Interpretationsrepertoire“50. Es bezeichnet „das Gesamt der typisierten Grundannahmen eines Diskurses“51. Ohne Kenntnis dieses Interpretationsrepertoires erscheinen die Aussagen, die von den Diskursteilnehmern geäußert werden, dem Interpreten bedeutungslos. (Für die Diskursteilnehmer bzw. objektiv sind sie nicht bedeutungslos oder müssen es zumindest nicht sein.) Das ist der Grund, warum der Darstellung des Interpretationsrepertoires in Kapitel 4 so großes Gewicht beigemessen wird. Die hermeneutische Entschlüsselung der Deutungsmuster scheint unvereinbar mit Foucaults dezidiert antihermeneutischer Haltung. Keller schreibt jedoch, dass es einer auf die Bedeutungen abhebenden Diskursanalyse „auf die unhintergehbar interpretativen Vorgehensweisen bei der […] Analyse von sinnhaft strukturierter Welt [ankommt]; ihr geht es mithin nicht um die Ontologisierung von ‚text-untergründigen‘ Tiefenstrukturen, sondern um die Reflexion und Kontrolle des wissenschaftlichen Interpretationsprozesses“52. (3) Der hermeneutische Ansatz rückt das dieser Arbeit zugrundeliegende Diskursverständnis in die Nähe der wissenssoziologischen53 und kulturalisti-

48 49 50 51 52 53

ren, was ein Wissen darüber voraussetzt, wie sie zusammengesetzt sind. Die hier verfolgte Herangehensweise versteht sich also prinzipiell als eine fundierende Vorbereitung zu weiteren Untersuchungen. Keller 2001/2006: 133. Ebd. Ebd.: 134. Ebd. Ebd.: 126. Keller 2001/2006.

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schen Diskursanalyse54. Keller et al. schreiben, dass sich diese Perspektive „von den Foucaultschen Vorschlägen durch ihre stärker handlungstheoretische und hermeneutisch-interpretative Grundlegung“ unterscheidet und dass sie mehr „den Prozeß der sozialen Konstruktion und Typik sowie die relative Autonomie kultureller Sinnzusammenhänge“55 betont. Was leistet die Diskursanalyse als Forschungsperspektive? Warum ist es sinnvoll, sich dem Thema der Zwischenstadt auf diesem Weg zuzuwenden? Die Diskursanalyse problematisiert „unhinterfragte Denk-, Wahrnehmungsund Beurteilungsschemata“56. Deren Problematisierung ist kein Selbstzweck, sondern soll Handlungsfreiheiten eröffnen. Die Diskursanalyse kann zeigen, dass und inwieweit unsere Wirklichkeit und unser Sprechen über sie historisch und kulturell konstituiert ist. Sie deckt Selbstverständlichkeiten auf, stellt allzu bereitwillig hingenommene Evidenzen in Frage und weist dadurch auf alternative Handlungsmöglichkeiten hin.57 Mit Bourdieu lässt sich formulieren: „Ein unerkanntes Gesetz ist wie Natur, ist Schicksal […]; ein erkanntes Gesetz erscheint als Möglichkeit von Freiheit“58. Die Diskursanalyse birgt also „emanzipatorisches und aufklärerisches Potential, insofern sie selbstverständlich gewordene Machtverhältnisse ebenso aufzeigt wie alternative Handlungsmöglichkeiten“59. Diese bestehen im Feld der Landschaftsarchitektur und des Städtebaus darin, neue Entwurfs- und Planungsstrategien zu entwickeln bzw. den scheinbar vertrauten und bekannten neue Facetten abzugewinnen. Die Auswahl des Analysematerials Der Diskurs um die Zwischenstadt ist viel zu verästelt, als dass er auch nur auf der Materialebene in dieser Arbeit vollständig erfasst werden könnte.

54 Ebd.: 123, Fußnote 13; Keller et al. 2001/2006: 13. 55 Beide Zitate Keller et al. 2001/2006: 13. – Ausführlicher auf die Theorien und Methoden der wissenssoziologischen und kulturalistischen Diskursanalyse einzugehen, würde den Rahmen der Arbeit sprengen. Zur wissenssoziologischen Diskursanalyse: Keller 2001/2006; 2005; sowie Beiträge in Keller et al. 2005; zur kulturalistischen Diskursanalyse siehe die weiterführenden Literaturverweise bei Keller et al. 2001/2006: 13, Fußnote 11. 56 Landwehr 2008: 81. 57 Ebd.: 168, unter Bezug auf Scott 1997. – Die Handlungsfreiheiten werden auch dadurch erkennbar, dass die Analyse gerade die Restriktionen des Diskurses erkennbar macht: Sie zeigt, was sich nicht verbinden lässt und was verbunden werden muss. Damit zeigt sie aber auch, wie man (neu und anders als bisher) verbinden kann, welche tatsächlichen (und nicht nur vermeintlichen) Freiheiten man also hat. 58 Bourdieu 1980/1993: 44. 59 Landwehr 2008: 164, unter Bezug auf Fairclough 1995: 208 f.

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Aus forschungspraktischen Gründen konzentriere ich mich daher, wie in der Einleitung (Kapitel 1) bereits dargelegt, auf den wissenschaftlichen Diskurs und klammere die Interdiskurse aus. Doch selbst der Spezialdiskurs aller mit dem Thema Zwischenstadt befassten Disziplinen wäre zu umfangreich, als dass er hier bearbeitet werden könnte: Alle Aussagen zu berücksichtigen, die im Städtebau, der Landschaftsarchitektur, der Stadt- und Landschaftsplanung, der Raumordnung und Regionalentwicklung, aber auch beispielsweise in der Stadt- und Urbanisierungsforschung jemals zur Zwischenstadt sowie zu verwandten Begriffen, wie suburbaner Raum, Peripherie, Stadtregion etc. geäußert wurden, ist im Rahmen einer Doktorarbeit unmöglich. Selbst die Entscheidung, sich auf den deutschsprachigen Diskurs zu beschränken, ließe noch zu viele Diskursstränge übrig. Daher ist eine weitere Begrenzung des Untersuchungsmaterials notwendig gewesen, auf die ich im Folgenden kurz eingehen werde. Den Schwerpunkt meiner Analyse bilden Texte und Entwürfe von Architekten und Planern, die Mitglieder des sogenannten Ladenburger Kollegs gewesen sind.60 Das Kolleg hatte sich, unter der Leitung von Thomas Sieverts, explizit als Ziel gesetzt, Wege zur Qualifizierung der Zwischenstadt aufzuzeigen. Da sich diese Arbeit auf die Grundhaltung der Qualifizierer konzentriert (siehe Kapitel 1), ist der gewählte Fokus auf Architekten und Planer des Kollegs legitim, ja sinnvoll. Die Mitglieder des Kollegs formulieren, trotz gleicher Grundhaltung, keineswegs in allen Punkten übereinstimmende Auffassungen: Ihre Entwurfsstrategien und planerischen Positionen sowie deren Begründungen offenbaren teilweise erhebliche Unterschiede. Das Kolleg stellt zwar den Schwerpunkt dar, aber von diesem Ausgangspunkt aus bin ich auch diskursiven Verflechtungen, etwa als in den Texten erwähnten Referenzen, nachgegangen.61 Dadurch kann es als hinreichend gewährleistet angesehen werden, dass der mit dem Kolleg gewählte Ausgangspunkt zu keiner Einengung oder Verzerrung des Feldes möglicher Diskurspositionen innerhalb der zu untersuchenden Grundhaltung geführt hat. Diese Form der Kontextualisierung hat einen Komplex weiterführender Fragen eröffnet: Wovon grenzt sich die untersuchte Diskursposition explizit oder implizit ab? Worauf beruft sie sich? Wodurch unterscheidet sie sich,

60 Das sogenannte Ladenburger Kolleg ist ein von der Gottlieb-Daimler-und-KarlBenz-Stiftung gefördertes Forschungskolleg unter der Leitung von Thomas Sieverts gewesen, in dem zwölf Forscher mit insgesamt zwölf Mitarbeitern für drei Jahre (von April 2002 bis April 2005) zusammenarbeiteten. Ziel des Kollegs war es, Handlungskonzepte zur „Qualifizierung der Zwischenstadt“ zu entwickeln. 61 Dass dies geboten ist, macht Landwehr deutlich, wenn er schreibt, dass es „nur insofern sinnvoll und gerechtfertigt“ ist, „[e]inzelne Medien, Institutionen und Personengruppen zu untersuchen“, als sich dort „einzelne Diskursfäden finden“ (alle Zitate Landwehr 2008: 101), die man von dort aus weiterverfolgen kann und soll.

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bewusst oder nicht, von der Position, auf die sie rekurriert? Welche Allianzen, welche Konkurrenzen ergeben sich? Trotz der vom Ladenburger Kolleg aus weiterverfolgten Diskursstränge ist das Analysematerial, insbesondere angesichts der tatsächlich vorhandenen Menge an Diskursfragmenten – d. h. Entwürfe und Entwurfsbeschreibungen, Bücher, Zeitschriften- und Buchbeiträge, Vorträge, Kommentare, Ausstellungen etc. – überschaubar. Dass ein kleiner, gut ausgewählter Korpus jedoch kein systematisch-methodischer Hinderungsgrund einer repräsentativen Diskursanalyse sein muss, wird in der Literatur immer wieder betont.62 Das hängt mit dem Ziel der Diskursanalyse zusammen: Wenn es ihr, wie das hier der Fall ist, primär um „die Erfassung jeweiliger Sagbarkeitsfelder“63 geht, und nur sekundär darum, welche Diskurspositionen sich empirisch durchsetzen, was letztlich wieder auf Machtfragen hinausläuft und hier ausgeklammert wird, ist die Häufigkeit, mit der bestimmte Diskurspositionen auftreten, nicht von Interesse. Außerdem spricht ein weiterer, forschungspraktischer Grund dafür, das analysierte Material nicht zu umfangreich werden zu lassen: Das Herausarbeiten der Deutungsmuster, also die Analyse der Texte und Entwürfe, erfordert einen erheblichen interpretativen Aufwand. Um den einzelnen Architekten und Planern mit ihren Aussagen gerecht zu werden, verbietet sich daher ein zu umfangreicher Korpus.64 Eingedenk all der genannten Eingrenzungen kann die Arbeit also keineswegs den Anspruch erheben, „den“ Diskus um „die“ Zwischenstadt vollständig analysiert zu haben. Sie kann aber sehr wohl beanspruchen, wesentliche und relevante Aspekte der Lesart „Wildnis“ bei den Qualifizierern im deutschsprachigen Spezialdiskus der Landschaftsarchitektur und des Städtebau aufgespürt und dargestellt zu haben.

2.2 I DEALTYPEN – DAS HEURISTISCHE W ERKZEUG , UM DIE UNENDLICHE V IELFALT DER BEGRIFFLICH ZU FASSEN

R EALITÄT

Typenbildung ist in den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Arbeiten ein so geläufiges Vorgehen, dass es verwundern mag, ihr ein eigenes Unterkapitel zu widmen. Dass es hier geschieht, liegt zum einen an der herausragen-

62 Jäger (2001/2006: 103) schreibt beispielsweise, dass sich eine „Vollständigkeit der Analyse […] meist erstaunlich bald“ ergibt. Und auch Keller (2001/2006: 141) bemerkt, dass es bei der Analyse „vergleichsweise zügig zu Sättigungseffekten [kommt], bei denen aus weiteren Texten nicht Neues mehr geschlossen werden kann“. 63 Jäger 2001/2006: 103. 64 Vgl. Eisel 1980: 79 f.

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den Stellung der idealtypischen Begriffsbildung in dieser Arbeit: Ich formuliere (1) Idealtypen der Grundhaltungen, die Planer und Architekten zur Zwischenstadt einnehmen, sowie der Lesarten und der Diskurspositionen (Kapitel 3). (2) Die Deutungsmuster, die das Interpretationsrepertoire darstellen, werden ebenfalls idealtypisch dargestellt (Kapitel 4).65 Denn, wir erinnern uns, Bedeutungen liegen in den Diskursen nicht als lose Zeichenpartikel, sondern in strukturierten Formen als typisierte und typisierbare Schemata vor. Dazu gehe ich von (a) idealtypischen Weltanschauungen aus, die ich benutze, um (b) idealtypische Vorstellungen von ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ als Deutungsmuster zu formulieren. Die intensive Auseinandersetzung mit der verwendeten Methode erlaubt zum anderen, sich über die Möglichkeiten und Grenzen der Idealtypik bewusst zu werden. Es wird deutlich werden, dass sie vor allem heuristischen Wert hat, dass sie aber keinesfalls eine Darstellung der Realität sein kann und dies auch nicht will. Das heißt: Reale Auffassungen, die in realen Diskussionen von realen Menschen vertreten werden, fallen definitionsgemäß niemals mit den idealtypisch formulierten Begriffen zusammen. Das wollen die Idealtypen aber auch gar nicht, denn ihre heuristische Fruchtbarkeit besteht, wie zu zeigen sein wird, gerade in ihrer idealen Form, ihrer zugespitzten, überspitzten, darin von der Realität abweichenden und dadurch gleichsam hyperrealen oder realitätskondensierenden Form. In diesem Kapitel wird sich also zeigen, was der Idealtypus, eingesetzt als kulturwissenschaftliche Methode, leisten kann. Es wird insbesondere deutlich werden, wieso er es ermöglicht, historische Phänomene begrifflich eindeutig zu fassen und in ihrer Bedeutung verständlich zu machen. Er setzt „einen Rahmen, innerhalb dessen analytisches und historisches Vorgehen systematisch möglich sind“66. Er eignet sich also als Methode für diese Arbeit, da hier eine aktuelle Diskussion in Kenntnis ihres ideengeschichtlichen Hintergrunds geordnet werden soll. Es gibt allerdings zwei nicht irrelevante Unterschiede zwischen den Weberschen und den von mir entwickelten Idealtypen: Während sich Weber vor allem auf ökonomische und soziologische Phänomene bezieht – seine Wissenschaftslehre ist in der Auseinandersetzung mit Gegenständen wie „Handwerk“, „kapitalistische Gewerbeverfassung“, „mittelalterliche Stadtwirtschaft“ etc. entstanden – verwende ich die Idealtypenmethode zur Analyse und Darstellung verschiedener Vorstellungen, von Weltanschauungen und von Haltungen. Pointiert gesagt, sind Webers Idealtypen also Gedankenbilder einer (Lebens-)Wirklichkeit, während meine Idealtypen Gedankenbilder von Gedankenbildern sind.67 Dieser Unterschied im Material der Typen führt beispielsweise dazu, dass ich andere Wege als Weber wählen

65 Das bedeutet umgekehrt, dass ich in Kapitel 5 die Aussagen von Planern und Architekten unter Benutzung von Idealtypen analysiere. 66 Gerhardt 2001: 483, Hervorh. V. V. 67 In ähnlicher Weise, d. h. ebenfalls für die Darstellung geistiger Gebilde, benutzen Kirchhoff 2007, Voigt 2009 und Gill 2003 die Idealtypenmethode.

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muss, um die Typen als in sich widerspruchsfreie Gebilde zu formulieren. Der zweite Unterschied, der sich aus diesem ersten ergibt, ist, dass das Erkenntnisinteresse, aus dem ich die Idealtypen einsetze, gegenüber dem bei Weber leicht verschoben ist:68 Er fragt, wie wir sehen werden, vor allem nach dem logischen Zusammenhang eines individuellen Kulturphänomens, nach seiner kulturellen Bedeutung und ob und inwieweit ein historisches Ereignis eine unterstellte Wirkung tatsächlich hatte. Mein Erkenntnisinteresse ist die Ordnung des Diskurses um die Zwischenstadt, und die Idealtypik hilft, verschiedene Diskurspositionen eindeutig und begründet voneinander abzugrenzen. Hauptaspekte der idealtypischen Methode Max Weber prägte den Begriff des Idealtypus als Methode kulturwissenschaftlichen Arbeitens in seinem Objektivitätsaufsatz von 1904.69 Für ihn war der Idealtypus ein „Spezialfall einer Form der Begriffsbildung“70, der eine Analyse der Kulturbedeutungen individueller Erscheinungen zum Ziel hat: „Je schärfer aber die Bedeutsamkeit einer Kulturerscheinung zum klaren Bewußtsein gebracht werden soll, desto unabweislicher wird das Bedürfnis, mit klaren und nicht nur partikulär, sondern allseitig bestimmten Begriffen zu arbeiten.“71 Diese Begriffe seien „regelmäßig nur in Idealtypen scharf und eindeutig bestimmbar“72. Es wird ausdrücklich nicht behauptet, dass diese Idealtypen die Wirklichkeit abbilden. Ein Idealtypus „i s t nicht eine D a r s t e l l u n g des Wirklichen, aber er will der Darstellung eindeutige Ausdrucksmittel verleihen“73. Erkenntnisziel idealtypischen Vorgehens ist das Verständnis von Phänomenen in ihrer historischen Einzigartigkeit, in ihrem So-und-nicht-anders-Gewordensein. Weber führt seine idealtypische Methode ein, indem er sie erstens abgrenzt von dem, was man normalerweise mit dem Durchschnitt erfasst, und indem er zweitens grundlegende Prinzipien der idealtypischen Begriffsbildung andeutet:

68 Vgl. Voigt 2009: 40 f. 69 Ich zitiere diesen 1904 verfassten Aufsatz „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ nach der von Johannes Winckelmann herausgegebenen Wissenschaftslehre in der 7. Auflage von 1988. Gesperrt gedruckt sind Hervorhebungen im Original, meine Hervorhebungen in den WeberZitaten sind – ohne dass ich dies jedes Mal erneut vermerke – kursiv gekennzeichnet. 70 Weber 1904/1988: 189 f. 71 Ebd.: 194. 72 Ebd.: 193. 73 Ebd.: 190.

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„Es ist also die ‚Idee‘ der h i s t o r i s c h gegebenen modernen verkehrswirtschaftlichen Organisation der Gesellschaft, die uns da nach ganz denselben logischen Prinzipien entwickelt wird, wie man z. B. die Idee der ‚Stadtwirtschaft‘ des Mittelalters als ‚genetischen‘ Begriff konstruiert hat. Tut man dies, so bildet man den Begriff ‚Stadtwirtschaft‘ n i c h t etwa als einen D u r c h s c h n i t t der in sämtlichen beobachteten Städten tatsächlich bestehenden Wirtschaftsprinzipien, sondern ebenfalls als einen I d e a l t y p u s . Er wird gewonnen durch einseitige S t e i g e r u n g e i n e s oder e i n i g e r Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen E i n z e l erscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen G e d a n k e n bilde.“74

Vier Aspekte, das wird aus obigem Zitat deutlich, betont Weber als Hauptcharakteristika des Idealtypus: (1) Idealtypische Begriffe unterscheiden sich von dem, was man mit dem Durchschnitt zu erfassen sucht, ebenso von Gattungs- oder Klassenbegriffen. (2) Der Idealtypus ist ein Gedankenbild, d. h. er ist nicht die Wirklichkeit, sondern ein konstruiertes Bild, mit Hilfe dessen diese beschrieben wird. (3) In die Bildung des Idealtypus fließen nur bestimmte Elemente der Wirklichkeit ein. Durch diese Auswahl erfahren diese Elemente eine Steigerung ihrer Bedeutung. (4) Der idealtypische Begriff wird so konstruiert, dass er die Zusammenhänge der einzelnen Elemente der Wirklichkeit widerspruchsfrei zusammenführt und illustriert. Zu (1): Klassen, Gattungen oder das, was mit dem Durchschnitt erfasst wird, unterscheiden sich nach Weber grundlegend von (Ideal-)Typen.75 Klassen können zu einer vollständigen Einteilung dienen. Einer Klasse gehört ein Objekt aufgrund festgelegter Merkmale an oder nicht. Die Zuordnung zu einer Klasse oder Gattung erfolgt also durch Subsumption unter ein definiertes Klassen- oder Gattungsmerkmal. Wenn ein Element einer Klasse bzw. Gattung angehört, dann nicht mehr und nicht weniger als irgendein anderes Element. Typen hingegen können niemals zu einer vollständigen Einteilung von Objekten oder Phänomenen dienen.76 Sie haben ein Zentrum (eben den Typ). Diesem Zentrum stehen die dem Typ zugeordneten Phänomene unterschiedlich nahe; sie sind mehr oder weniger typisch. Bloß Zufälliges kann und muss ausgeklammert werden.77 Nur so kann das eigentlich

74 Ebd.: 190 f. 75 Ebd.: 201. – „Klasse“ bezeichnet den Allgemeinbegriff, und eine „Gattung“ ist eine bestimmte Klasse. Zum Begriff der „Klasse“ übersichtsartig Lorenz 1995/ 2004. 76 Zu den verschiedenen Bedeutungen, die dem Begriff des „Typs“ in der Geschichte der Philosophie, der Natur-, Sozial- und Geschichtswissenschaften gegeben wurden, siehe Lessing 1998 mit weiteren Literaturhinweisen und Strenge 1998. 77 Weber 1904/1988: 201.

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Markante unverfälscht hervortreten. Dies ist es, was die Eigenart des Typs ausmacht, ihn in seiner Individualität kennzeichnet. Obwohl Weber scharf zwischen Gattungsbegriffen und Idealtypen unterscheidet, erachtet er jene forschungspraktisch nicht als irrelevant für die Idealtypenbildung. Die meisten Idealtypen würden aus und mittels Gattungsbegriffen durch Abstraktion und Steigerung gebildet: „Nun aber können natürlich auch diejenigen G a t t u n g s begriffe, die wir fortwährend als Bestandteile historischer Darstellungen und konkreter historischer Begriffe finden, durch Abstraktion und Steigerung bestimmter ihnen begriffswesentlicher Elemente als Idealtypen geformt werden. Dies ist sogar ein praktisch besonders häufiger und wichtiger Anwendungsfall der idealtypischen Begriffe, und jeder i n d i v i d u e l l e Idealtypus setzt sich aus begrifflichen E l e m e n t e n zusammen, die gattungsmäßig sind und als Idealtypen geformt worden sind.“78

Weber lässt zwar einen graduellen Übergang von Gattungsbegriffen zu Idealtypen zu. Er trennt aber die Pole dieser Skala – Gattung bzw. Klasse einerseits, Idealtypus andererseits – scharf voneinander: „Der Gegensatz zwischen einfachen Gattungsbegriffen, welche lediglich das e m p i r i s c h e n Erscheinungen Gemeinsame zusammenfassen, und gattungsmäßigen I d e a l typen – wie etwa einem idealtypischen Begriff des ‚Wesens‘ des Handwerks – ist natürlich im einzelnen flüssig. Aber k e i n Gattungsbegriff hat als solcher ‚typischen‘ Charakter und einen reinen gattungsmäßigen ‚Durchschnitts‘Typus gibt es nicht.“79

Zu (2): Ein Idealtypus ist ein konstruiertes „Gedankenbild“80. „Inhaltlich trägt diese Konstruktion den Charakter einer U t o p i e an sich“81, wobei „Utopie“ in der Bedeutung rein logischer Vollkommenheit zu verstehen ist.82 Denn sie wird durch „g e d a n k l i c h e Steigerung“83 bestimmter Elemente der Wirklichkeit gewonnen, so dass ihr die Wirklichkeit nie völlig entsprechen kann. Nach welchen Kriterien die Elemente ausgewählt werden, wird im nächsten Abschnitt behandelt. Hier ist zunächst bedeutsam, dass es sich um eine rein in Gedanken vollzogene Überzeichnung bestimmter Gesichtspunkte zu einem „Kosmos g e d a c h t e r Zusammenhänge“84 handelt. Das Verhältnis der überzeichneten Elemente der Wirklichkeit

78 79 80 81 82 83 84

Ebd. Ebd.: 202. Ebd.: 190, Hervorh. V. V. Ebd. Girndt 1976: 47. Weber 1904/1988: 190. Ebd.

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„zu den empirisch gegebenen Tatsachen des Lebens besteht lediglich darin, daß da, wo Zusammenhänge der in jener Konstruktion abstrakt dargestellten Art […] in der Wirklichkeit als in irgend einem Grade wirksam f e s t g e s t e l l t sind oder v e r m u t e t werden, wir uns die E i g e n a r t dieses Zusammenhangs an einem I d e a l t y p u s pragmatisch v e r a n s c h a u l i c h e n und verständlich machen können. Diese Möglichkeit kann sowohl heuristisch wie für die Darstellung von Wert, ja unentbehrlich sein. Für die F o r s c h u n g will der idealtypische Begriff das Zurechnungsurteil schulen: er i s t keine ‚Hypothese‘, aber er will der Hypothesenbildung die Richtung weisen. Er i s t nicht eine D a r s t e l l u n g des Wirklichen, aber er will der Darstellung eindeutige Ausdrucksmittel verleihen.“85

Die im Idealtypus dargestellten Elemente der Wirklichkeit und ihre Zusammenhänge bilden die Wirklichkeit also nicht eins zu eins ab. Bestimmte Phänomene der Realität werden überzeichnet, andere (nur zufällige und somit für die untersuchte Frage unwesentliche) bleiben unberücksichtigt. Gerade durch diese Auswahl und Überzeichnung ist es aber möglich, bestimmte Zusammenhänge in ihrer Eigenart und Individualität zu veranschaulichen und verständlich zu machen. Zu (3): Nach welchen Kriterien dürfen bestimmte Gesichtspunkte ausgesondert werden? Was ist der Ansatzpunkt der Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit? Wie begegnet Weber dem Vorwurf, dass die Auswahl beliebig sei; wie wird der Forderung nach Objektivität genüge getan?86 Hirsch Hadorn weist darauf hin, dass die einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte die „Entscheidung dafür [beinhalte], unter welcher Perspektive (Wertidee) die Wirklichkeit analysiert werden soll“87. Aus Gründen der Nachvollziehbarkeit gilt es, diese Wertidee bei der Idealtypenbildung immer anzugeben. Wenn Weber von Idealtypen und Werten als leitende Wertideen spricht, so sind damit nicht Werte im Sinne eines praktischen Ideals gemeint: „Ein ‚Idealtypus‘ in unserem Sinne ist […] etwas gegenüber der w e r t e n d e n Beurteilung völlig indifferentes, er hat mit irgend einer anderen als einer rein l o g i s c h e n ‚Vollkommenheit‘ nichts zu tun. Es gibt Idealtypen von Bordellen so gut wie von Religionen“.88

85 Ebd. 86 Diese Fragen werde ich hier auf einer formalen Ebene beantworten. Dass sich die Auswahl der in den idealtypischen Begriff einfließenden Elemente der Wirklichkeit nach ihrer Kulturbedeutung richtet, wird unten eingehender behandelt. 87 Hirsch Hadorn 1997: 287. 88 Weber 1904/1988: 200.

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Der Gedanke „des Sein s o l l e n d e n , ‚Vorbildlichen‘ [ist] von diesen in rein l o g i s c h e m Sinn ‚idealen‘ Gedankengebilden […] zunächst sorgsam fernzuhalten“89. Weber unterscheidet, so Hirsch Hadorn, „die Beziehung der Wirklichkeit auf Werte im Idealtypus als ‚theoretische‘ Wertbeziehung von der Parteinahme für einen Wert im praktischen Leben, dem Werturteil. In der Terminologie der heutigen Geschichtstheorie unterscheidet Weber also zwischen Standpunktgebundenheit und Parteilichkeit, um nur ersteres für kulturwissenschaftliche Erkenntnis zu fordern“.90

Webers Hauptargument, warum die Kulturwissenschaft Wertideen nicht als Normen legitimieren kann, ist vor dem Hintergrund des naturalistischen Fehlschlusses formuliert, wie Hirsch Hadorn festhält: Die Tatsache, dass die den Idealtypus konstituierende, die Auswahl der Merkmale leitende Wertidee Element des faktischen Handelns in einer Kultur sei, könne nicht als ihr normativer Geltungsnachweis dienen.91 Zu (4): Der Idealtypus, so wurde angedeutet, ist ein einheitliches und widerspruchsfreies Gedankenbild. Bei Weber heißt es dazu, dass der Idealtypus „bestimmte Beziehungen und Vorgänge des historischen Lebens zu einem in sich widerspruchslosen Kosmos gedachter Zusammenhänge“92 vereinigt. Durch was wird diese Einheitlichkeit gestiftet, und was bedeutet sie? Sie wird durch die vom Forscher anfänglich unterstellte Kausalität bzw. (Zweck-)Rationalität von Handlungen auch im Bereich der Kulturphänomene gewährleistet. Im Idealtypus werden Beziehungen und Vorgänge, d. h. letztlich menschliche Handlungen, als rationale, mit Kausal- und ZweckMittel-Beziehungen erfassbare beschrieben.93 In der Terminologie Webers heißen sie „objektiv mögliche“ Handlungen. Ringer hebt „Weber’s persistent emphasis upon ‚purposively rational‘ (zweckrational) action as the most understandable type of behavior“94 hervor. Idealtypen sind also logisch konsistente Gebilde. Je nach Frage kann ein anderer Idealtypus konstruiert werden, der andere Aspekte der Realität hervorhebt, wie Weber am Beispiel der kapitalistischen Kultur zeigt: „Nun ist es möglich, oder vielmehr es muß als sicher angesehen werden, daß mehrere, ja sicherlich jeweils sehr zahlreiche Utopien dieser Art sich entwerfen lassen, von denen k e i n e der anderen gleicht, von denen erst recht k e i n e in der empirischen Wirklichkeit als tatsächlich geltende Ordnung der gesellschaftlichen Zustän-

89 90 91 92 93

Ebd.: 192. Hirsch Hadorn 1997: 287. Ebd. Weber 1904/1988: 190. Ausführlicher zum Aspekt der (unterstellten) Zweckrationalität der Handlungen durch die Akteure z. B. Ringer 1997: 92-121. 94 Ebd.: 94.

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de zu beobachten ist, von denen aber doch j e d e den Anspruch erhebt, eine Darstellung der ‚Idee‘ der kapitalistischen Kultur zu sein, und von denen auch j e d e diesen Anspruch insofern erheben k a n n , als jede tatsächlich gewisse, in ihrer E i g e n a r t b e d e u t u n g s v o l l e Züge unserer Kultur der Wirklichkeit entnommen und in ein einheitliches Idealbild gebracht hat.“95

Trotzdem dürfen Idealtypen nicht beliebig konstruiert werden. Denn erstens ist als Untersuchungsperspektive ein Gesichtspunkt von allgemeiner Kulturbedeutung anzulegen (darauf wird unten noch einzugehen sein). Als zweite Prüfinstanz der Realitätstauglichkeit bzw. -nähe der Idealtypen dient, wie gerade angesprochen, das Wissen des Forschers über gesetzmäßige Zusammenhänge in der Welt, das „nomologische Wissen“. Dieses stellt sicher, dass in den Idealtypen „objektiv mögliche“ Zusammenhänge konstruiert werden. „Objektiv möglich“ wird ein Idealtypus dadurch, dass sich bei seiner Bildung die an der Wirklichkeit geschulte Phantasie und das Gesetzeswissen ergänzen: Idealtypen „sind Gebilde, in welchen wir Zusammenhänge unter Verwendung der Kategorie der objektiven Möglichkeit konstruieren, die unsere, an der Wirklichkeit orientierte und geschulte P h a n t a s i e als adäquat beurteilt“96. Sie sollen „unserer P h a n t a s i e als zulänglich motiviert und also ‚objektiv möglich‘, unserem nomologischen Wissen als a d ä q u a t erscheinen“97. Gegen die Engführung auf die kausale und zweckrationale Zuschreibung als alleiniges Erklärungsmuster historischer Phänomene werden in der Literatur Einwände erhoben. Es sei, so argumentiert beispielsweise Kedar, unnötig „to limit ourselves, as Weber did, to causal analysis in the explanation of historical phenomena“98. Kedar begründet dies, Sprinzak99 folgend, damit, dass der Idealtypus und die kausale Erklärung zwei unterschiedliche Rollen in Webers Wissenschaftslehre übernähmen: Demnach komme dem Idealtypus eine orientierende Funktion zu. Er habe darzustellen, was eigentlich erklärt werden solle, während die kausale Analyse lediglich eine operationale Funktion habe, d. h. sie liefere die eigentliche historische Erklärung. Aus dieser funktionalen Trennung folgert Kedar, „that causal explanation may in principle be substituted by other operational elements, with the ideal type remaining intact in its orientational position”100. Sein Vorschlag für ein anderes, die kausale Erklärung ergänzendes „operatives Element“ ist die methodologische Hermeneutik („methodological hermeneutics“). Diese sei als reflektiert eingesetzte Methode nicht weniger rational und wissenschaftlich als kausale Zurechnungen. Der Unterschied liegt also nicht im Grad der

95 96 97 98 99 100

Weber 1904/1988: 192. Ebd.: 194. Ebd.: 192. Kedar 2004: 12. Sprinzak 1972. Kedar 2004: 12.

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Objektivität beider Verfahren, sondern darin, dass es der Hermeneutik um die Bedeutung der Handlungen und ihrer Motive geht, der kausalen Zurechnung hingegen um die Frage nach den Ursachen einer Handlung.101 Kulturbedeutung, Wirklichkeitswissenschaft und die Individualität von Kulturerscheinungen Nachdem ich im vorangegangenen Kapitel auf Hauptaspekte der idealtypischen Begriffsbildung eingegangen bin, möchte ich im Folgenden drei Punkte vertiefen. Ich werde mich (1) mit der Rolle der Kulturbedeutung für die Auswahl der Untersuchungsperspektive beschäftigen; (2) werde ich Webers Konzeption der Wirklichkeitswissenschaften, zu der er die Lehre vom Idealtypus ausgebaut hat, umreißen; (3) gehe ich auf die Erfassung der Individualität von Kulturerscheinungen durch Idealtypen ein. Zu (1): Die empirische Wirklichkeit ist dem erkennenden Subjekt zunächst als zusammenhangslose Mannigfaltigkeit gegeben. Bei dem Versuch, individuelle Tatsachen kausal zu erklären, bzw. sie in einen widerspruchslosen Zusammenhang zu stellen, ergibt sich das Problem der Selektion der – für die Forschung – relevanten Ursachen dieser Tatsachen. Denn, so schreibt Weber: „Die Zahl und Art der Ursachen, die irgend ein individuelles Ereignis bestimmt haben, ist ja stets u n e n d l i c h , und es gibt keinerlei in den Dingen selbst liegendes Merkmal, einen Teil von ihnen als allein in Betracht kommend auszusondern.“102 Weber teilt, wie hier deutlich wird, die erkenntnistheoretische Position des Neukantianismus103, dass Begriffe die Wirklichkeit nicht abbilden, sondern nur jene Aspekte daraus erfassen, die uns in irgendeiner Weise wichtig sind. Die empirische Wirklichkeit, und diese umfasst auch Erscheinungen des Kulturlebens, ist aber nicht völlig bestimmungslos, sondern lediglich ungeordnet. Es ist die Kulturbedeutung von Erscheinungen, die Ordnung bringt in die Ungeordnetheit der empirischen Einzelerscheinungen. (Dass diese Kulturbedeutung im Diskurs erst entsteht, haben wir oben gesehen.) Diejenigen Erscheinungen der Wirklichkeit, die in Beziehung stehen zu Kulturwertideen, konstituieren die Kulturwirklichkeit. Und nur diese Phänomene der Kulturwirklichkeit erscheinen uns überhaupt als wissenswert und Gegenstand der Kulturwissenschaften. „In dieses Chaos [der zusammenhanglosen Mannigfaltigkeit der empirischen Wirklichkeit] bringt n u r der Umstand Ordnung, daß in jedem Fall nur ein T e i l der individuellen Wirklichkeit für uns Interesse und B e d e u t u n g hat, weil

101 Weber selbst hatte interpretative Methoden aus seiner Analyse auch gar nicht ausgeschlossen, siehe Ringer 1997: 8. 102 Weber 1904/1988: 177. 103 Dazu Rickert 1899: 8.

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nur er in Beziehung steht zu den K u l t u r w e r t i d e e n , mit welchen wir an die Wirklichkeit herantreten. Nur bestimmte S e i t e n der stets unendlich mannigfaltigen Einzelerscheinungen: diejenigen, welchen wir eine allgemeine K u l t u r b e d e u t u n g beimessen, sind daher wissenswert, sie allein sind Gegenstand der kausalen Erklärung.“104

Die Kulturwirklichkeit lässt sich also überhaupt nur deshalb ordnen, weil Kultur selbst schon ein unter Wertbegriffen konstituierter Gegenstand ist. Der Kulturwirklichkeit gehören nur die Vorgänge an, die durch ihre Beziehung auf Wertideen Bedeutung haben. „Der Begriff der Kultur ist ein W e r t b e g r i f f . Die empirische Wirklichkeit i s t für uns ‚Kultur‘, weil und sofern wir sie mit Wertideen in Beziehung setzen, sie umfaßt diejenigen Bestandteile der Wirklichkeit, welche durch jene Beziehung für uns b e d e u t s a m werden, und n u r diese.“105 Kulturwissenschaft untersucht demnach die Beziehung der Wirklichkeit auf eine Wertidee und die Ordnung des relativ zu dieser Idee Bedeutsamen.106 Sie strebt nicht – wie es das Wissenschaftsideal der Natur- bzw. in der Terminologie Webers, „Gesetzeswissenschaften“ ist – die Produktion nomologischen Wissens an. Für die Kulturwissenschaft gilt vielmehr, dass „eine ‚objektive‘ Behandlung der Kulturvorgänge in dem Sinne, daß als idealer Zweck der wissenschaftlichen Arbeit die Reduktion des Empirischen auf ‚Gesetze‘ zu gelten hätte, sinnlos ist. Sie ist dies n i c h t etwa, wie oft behauptet worden ist, deshalb[,] weil die Kulturvorgänge oder etwa die geistigen Vorgänge ‚objektiv‘ weniger gesetzlich abliefen, sondern weil 1) Erkenntnis von sozialen Gesetzen keine Erkenntnis des sozial Wirklichen ist, sondern nur eins von den verschiedenen Hilfsmitteln, die unser Denken zu diesem Behufe braucht, und weil 2) keine Erkenntnis von K u l t u r vorgängen anders denkbar ist, als auf der Grundlage der B e d e u t u n g , welche die stets individuell geartete Wirklichkeit des Lebens in bestimmten e i n z e l n e n Beziehungen für uns hat.“107

Zu (2): Das Forschungsinteresse richtet sich also immer nur auf kulturbedeutsame Gegenstände, deren Auswahl in gewissem Sinne subjektiv ist. Mit der Charakterisierung als „subjektiv“ ist keineswegs gemeint, dass diese Auswahl irrational und nicht nachvollziehbar sei. Weber meint damit vielmehr, dass sie sich nicht aus dem Untersuchungsmaterial ergebe, sondern von der Kultur abhänge. Sie kann mithin von Kultur zu Kultur variieren und sich auch innerhalb eines Kulturkreises mit der Zeit ändern. Mit der Subjektivität der Auswahl ist also nicht gemeint, dass jedes Subjekt eine andere trifft. Das Subjekt gehört vielmehr einer Kultur an und bestimmte kulturelle

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Weber 1904/1988: 177 f. Ebd.: 175; Weber bezieht sich hier auf Heinrich Rickert. Hirsch Hadorn 1997: 278. Weber 1904/1988: 180.

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Phänomene erscheinen ihm daher als objektiv gegeben. Was kulturwissenschaftlich relevant ist ausgewählt zu werden, muss sich also bezüglich dieser Kultur verallgemeinern lassen108 (wenn auch nur, weil es z. B. in dieser Kultur für alle gilt oder jedenfalls mit dem Anspruch auf allgemeine Geltung postuliert worden ist). Die Subjektivität der Auswahl der Perspektive bezieht sich also auf die Kulturabhängigkeit. Das impliziert, dass sich begründen, und das heißt: verobjektivieren lassen muss, ob die Auswahl eines Gesichtspunktes für die Konstruktion eines Idealtypus gut oder schlecht ist. „Gut“ ist die angelegte Perspektive beispielsweise dann, wenn es sich tatsächlich um einen in der Kultur relevanten Wert handelt (und nicht nur um eine Marotte des Forschers). Die Güte der angelegten Perspektive und mithin der gesamten idealtypischen Konstruktion lässt sich immer nur im Nachhinein bestimmen, über den Erklärungserfolg. Fruchtbar ist ein ausgewählter Gesichtspunkt immer dann, wenn der durch ihn konstituierte Idealtypus erklärungsmächtig ist, wenn durch ihn historische Phänomene in ihrer Eigenart verständlich werden: „Und in der Tat: o b es sich um reines Gedankenspiel oder um eine wissenschaftlich fruchtbare Begriffsbildung handelt, kann a priori niemals entschieden werden; es gibt auch hier nur einen Maßstab: den des Erfolges für die Erkenntnis konkreter Kulturerscheinungen in ihrem Zusammenhang, ihrer ursächlichen Bedingtheit und ihrer B e d e u t u n g .“109

Tenbruck zeigt, dass zwei Aspekte zentral sind für Webers Lehre vom Idealtypus: die subjektive Wahl der Fragestellung und die Objektivität des Nachweises der behaupteten Zusammenhänge.110 Er macht deutlich, dass der Idealtypus-Ansatz im Kern der Weberschen „Wirklichkeitswissenschaft“ steht, zu der Weber die Lehre des Idealtypus ausbaut. Der Ausdruck „Wirklichkeitswissenschaft“ signalisiert Webers eigene Lösung des „Methodenstreits“, in dem, grob gesprochen, Positivismus und Historismus über die Grundfragen der Erkenntnis auf dem Gebiet der Kultur- und Sozialwissenschaften stritten. Ohne der differenzierten Antwort Webers in diesem Methodenstreit auch nur im Entferntesten gerecht werden zu können, möchte ich seine Position hier ganz kurz umreißen. Denn vor diesem Hintergrund wird die Bedeutung des Idealtypus als Methode, durch die historische Phänomene in ihrer Individualität unter Berücksichtigung realer historischer Ereignisse erfasst werden können, deutlich. Gegen den Positivismus wandte Weber ein, dass es unsinnig sei, als Ziel der Kulturwissenschaften zu setzen, „ein geschlossenes System von Begriffen zu bilden, in dem die Wirklichkeit in einer in irgendeinem Sinne e n d g ü l t i g e n Gliederung zusammengefaßt und aus dem heraus sie

108 Dazu Rickert 1899: 21. 109 Weber 1904/1988: 193; vgl. Girndt 1976: 47; Kirchhoff 2007: 59 f. 110 Tenbruck 1999.

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dann wieder deduziert werden könnte“111. Die Art von Wissenschaft, die es sich zum Ziel setze, die Gesetzmäßigkeiten ihres Gegenstandes zu erfassen, die Prognosen und technische Beherrschung ermöglichen, bezeichnet Weber als „Gesetzeswissenschaft“. Dieser stellt er seinen Entwurf einer „Wirklichkeitswissenschaft“ entgegen. Die Bezeichnung „Wirklichkeitswissenschaft“ deutet an, dass es Weber um die (soziale und kulturelle) Realität geht, die mit allgemeinen Gesetzen nicht erfasst werden kann. Denn, und das wird im nächsten Unterkapitel herausgearbeitet werden: Die Wirklichkeit ist immer individuell. Sie ist in ihrer Einzigartigkeit nicht zu verstehen, indem man Einzelereignisse als (reale) „Fälle“ unter allgemeine (abstrakte) Gesetze subsumiert. Gegen den Historismus wendet Weber andererseits ein, dass dieser nicht berücksichtige, dass alle gültige Zurechnung (die im Gegensatz zur Subsumption unter allgemeine Gesetze steht) konkreter Erscheinungen zu konkreten Ursachen die Kenntnis erweiterbarer Regelmäßigkeiten voraussetzt.112 „Also unbedingter Kampf gegen den Positivismus, und bedingter Kampf gegen den Historismus […]. Somit Webers eigene Lösung: die Wirklichkeitswissenschaft bedient sich der Regelmäßigkeiten als unerläßlicher Mittel, um an der Wirklichkeit jeweils gerade jene Besonderheiten ermitteln zu können, die in den Regelmäßigkeiten nicht aufgehen.“113

Zu (3): Es klang mehrfach an, dass Weber mit seinen Idealtypen die Individualität von Kulturerscheinungen der historischen Wirklichkeit erfassen möchte. Das zeigt sich besonders an zwei Punkten: Zum einen ist, wie schon angesprochen, seine Wirklichkeitswissenschaft keine Gesetzeswissenschaft. Zum anderen offenbart sich Webers Interesse an der Einzigartigkeit der historischen Erscheinungen am genetischen Charakter der idealtypischen Begriffe. Zunächst noch einige Ergänzungen zum ersten Punkt: Bei der Abgrenzung des Idealtypus vom Gattungsbegriff sowie vom Durchschnitt wurde angedeutet, dass die Erfassung des Individuellen und der Eigenart einer historischen Erscheinung das für den Idealtypus Entscheidende ist. Wie ebenfalls bereits deutlich wurde, hält Weber eine Beschreibung der Kulturvorgänge, die diese auf allgemeine Gesetze reduziert, für sinnlos. Wertideen lassen sich demnach nicht mit allgemeinen Gesetzen, sondern nur in der Erfassung individueller Zusammenhänge darstellen. Wie ist nun der Zusammenhang der Individualität von Kulturerscheinungen mit dem genetischen Charakter des Idealtypus-Begriffs zu denken? Dazu ist zunächst zu klären, was Weber unter dem „genetischen“ Charakter versteht. Er führt die Charakterisierung des Idealtypus als genetisch ein, wenn er diesen gegen die Begriffe des Durchschnitts und des Gattungsmäßigen abgrenzt. Im Unter-

111 Weber 1904/1988: 184. 112 Tenbruck 1999: 164. 113 Tenbruck 1999: 164.

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schied zum einfachen Gattungsbegriff nehme ein Urteil über typische Bedingungen eines historischen Phänomens immer „g e n e t i s c h e n Charakter“114 an. Dadurch werde es „zugleich im logischen Sinn idealtypisch“115. Im Gegensatz zum Gattungsbegriff würden mit dem Begriff des Idealtyps oder einem darauf aufbauenden Begriffssystem „komplizierte historische Zusammenhänge in denjenigen ihrer Bestandteile, auf welchen ihre spezifische K u l t u r b e d e u t u n g ruht, begrifflich geformt“116. Im Idealtypus werden also „diejenigen Bestandteile der Wirklichkeit, die uns h i s t o r i s c h , d. h. in der Art ihres So-und-nicht-anders-Gewordenseins interessieren“117 erfasst. Wenn Weber den idealtypischen Begriff als genetischen bezeichnet, so scheint er damit zu meinen, dass in ihm die Einzigartigkeit der historischen Entwicklungen berücksichtigt wird. Idealtypen sind also in Begriffe oder Begriffssysteme gebrachte „historische Individuen“, d. h. Phänomene, deren einzigartige historische Entwicklung bei ihrer Formulierung als Idealtyp berücksichtigt wird. Mit der Charakterisierung des Idealtypus als genetischen Begriff ist noch ein Zweites gemeint, nämlich dass der Gegenstand des Idealtypus selbst eine historische Entwicklung sein kann. Im Idealtypus wird dann diese nicht nur bei der Verbindung der historischen Einzelerscheinungen zur Beschreibung eines bestimmten historischen Phänomens einbezogen, sondern die Entwicklung wird selbst zum Gegenstand der idealtypischen Beschreibung.118 Weber warnt allerdings davor, dass gerade dann, wenn Entwicklungen idealtypisch beschrieben werden, die Verlockung besonders groß sei, Idealtypus und Geschichte ineinander zu schieben:119 „Der Vorgang bietet keinerlei methodologische Bedenken, s o l a n g e man sich stets gegenwärtig hält, daß idealtypische Entwicklungsk o n s t r u k t i o n und G e s c h i c h t e zwei streng zu scheidende Dinge sind“.120

114 115 116 117 118

Weber 1904/1988: 202. Ebd. Ebd. Weber 1904/1988: 186. Weber erläutert dies am Beispiel der Umbildung einer handwerksmäßigen zu einer kapitalistisch strukturierten Gesellschaft. Man könnte einen Idealtypus dieser Entwicklung konstruieren, der von einer streng „handwerksmäßig“ organisierten Gesellschaft ausgehe und bestimmte einfache Faktoren einbeziehe. Aus dem Vergleich der tatsächlichen Entwicklung mit derjenigen, die sich gemäß der idealtypischen Umbildung hätte ergeben müssen, kann man dann feststellen, wenn sich beispielsweise eine Abweichung ergeben hat, der Idealtypus aber „richtig“, d. h. logisch konsistent, konstruiert ist, dass die mittelalterliche Gesellschaft eben keine streng „handwerksmäßige“ war. (Weber 1904/ 1988: 203) 119 Ebd. 120 Ebd.: 203 f.

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Gegen die idealtypische Methode sind eine Reihe von Einwänden formuliert worden, von denen ich die zwei häufigsten kurz darlegen und umgehend entkräften werde: (1) Der häufigste Vorwurf zielt auf die vermeintliche Rigidität des idealtypischen Schemas, die der vielfältigen, nuancenreichen Wirklichkeit nicht gerecht werden könne.121 Dem ist erstens entgegenzuhalten, dass nichts gegen eine Differenzierung der Idealtypik spricht, wenn sich im analysierten Material Differenzen finden, die von der gebildeten Typik nicht erfasst werden. Zweitens werden in der Regel solche Unterschiede überhaupt erst vor dem Hintergrund einer Idealtypik erkennbar.122 Ohne Typenbildung erkennt man nicht mehr „als ein Chaos von Bedeutungen, die in unbestimmter Weise ineinander übergehen; tun sie es nicht, hat man unausgesprochen doch Idealtypen gebildet“123. (2) Es wird des Weiteren moniert, dass die idealtypischen Begriffe fast immer vom üblichen Sprachgebrauch abweichen – das tun sie auch in dieser Arbeit: Die alltagssprachlichen Begriffe „liberal“ oder „romantisch“ entsprechen nur in einigen, wenn auch wesentlichen Aspekten den von mir als „liberal“ oder „romantisch“ bezeichneten Weltanschauungen. Auch dazu ist Zweierlei zu sagen: Erstens ist der übliche Sprachgebrauch interdisziplinär und sogar innerhalb der meisten Disziplinen nicht einstimmig. Hält man sich an ihn, bleibt man in der allgemeinen Sprachverwirrung gefangen.124 Zweitens bestehen trotz dieser Abweichungen auch Gemeinsamkeiten zwischen den alltagssprachlichen Begriffen und den Idealtypen, so dass die Verwendung der Begriffe „liberal“ und „romantisch“ sofort eine Reihe zutreffender Assoziationen hervorruft, die sich bei einer alternativen Bezeichnung der Idealtypen nicht einstellen würde.125

121 Er wurde beispielsweise von Meyer in Hinblick auf die Gegenüberstellung von mechanischer und organischer Metaphorik politischer Philosophie, wie sie etwa Tönnies verwendet, vorgebracht. Meyer hat diesbezüglich vom „Preis ihrer Erstarrung zur Idealtypik“ (Meyer 1969: 128) gesprochen und kritisiert, dass Tönnies „die politischen Theorien und deren Gegenstände […] mit einem groben Dualismus überzieht“ (Ebd.). 122 Diese beiden Erwiderungen formuliert Kirchhoff 2007: 62. 123 Kirchhoff & Trepl 2009: 17; siehe auch Eisel 2004d: 35 ff.; Gill 2003: 98 f.; Voigt 2009: 41. 124 Kirchhoff & Trepl 2009: 17. – Kirchhoff und Trepl stellen richtigerweise dar, dass die Entwicklung idealtypischer Begriffsbestimmungen keinesfalls bedeute, dass man den Sprachgebrauch mit einer idealen Universalsprache normieren möchte, wie dies den Logischen Positivisten vorschwebte (ebd.). 125 Den Weg einer alternativen Benennung hat beispielsweise Gill (2003) gewählt: Er spricht von einer „identitätsorientierten“, einer „utilitätsorientierten“ und einer „alteritätsorientierten“ Naturauffassung, und nicht von einer konservativen, einer liberalen und einer romantischen.

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2.3 W ELTANSCHAUUNGEN – DIE G RUNDLAGE ZUR S TRUKTURIERUNG DES I NTERPRETATIONSREPERTOIRES DES D ISKURSES Wie bereits in der Einleitung angedeutet, wird der aktuelle Diskurs um die Zwischenstadt mithilfe verschiedener idealtypischer Vorstellungen von ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ geordnet. Diese Vorstellungen, deren weltanschaulich strukturierte Gesamtheit als Interpretationsrepertoire des Diskurses verstanden wird, werden differenziert, d. h. ihre Deutungsmuster werden dargestellt, indem jeweils aus der Perspektive einer Weltanschauung gefragt wird, welche Bedeutung jede der drei Ideen im respektiven gedanklichen Kosmos hat. In diesem Teil des Methodenkapitels werde ich deshalb, nach einer einleitenden Erklärung des Begriffs ‚Weltanschauung‘, erstens die Auswahl der vier Weltanschauungen erklären. Das heißt, ich werde darstellen, dass die Wahl nicht zufällig auf sie gefallen ist, und ich werde die hinter dieser Auswahl stehenden Annahmen transparent machen. Daraus wird zweitens ersichtlich werden, wieso ich annehme, dass und wie sich die heutigen weltanschaulich heterogenen Auffassungen zur Zwischenstadt ausgehend von nur wenigen Weltanschauungen in einer fruchtbaren Weise ordnen lassen. Die im Folgenden angestellten Überlegungen, besonders die des zweiten Teils, in dem es um die Ausdifferenzierung der Weltanschauungen geht, lehnen sich an bestimmte wissenschaftstheoretische und -historische Arbeiten an, besonders an Thomas S. Kuhns Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen sowie an Imre Lakatos’ Die Methodologie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme.126 Denn in gewisser, für uns hier entscheidender Hinsicht gleichen die Weltanschauungen dem, was Kuhn als „Paradigma“ und Lakatos als „Forschungsprogramm“ bezeichnet: Diese enthalten, ähnlich den Weltanschauungen, die oft unbewussten theoretischen Grundannahmen, die die allgemeine Beschaffenheit der zu untersuchenden Gegenstände betreffen und die bestimmen, welche Art von Fragen überhaupt gestellt und wie sie gelöst werden sollen.127 Daher lassen sich Aussagen zum Verhältnis

126 Kuhn 1962/1976; Lakatos 1974; Lakatos 1978/1982. – Zwischen den Theorien Kuhns und Lakatos’ gibt es allerdings Unterschiede: „Lakatos versucht die Theorien von Popper und Kuhn zu verbinden: Er entwickelt den Falsifikationismus von Popper zu einem ‚raffinierten Falsifikationismus‘, um Kuhns Theorie wissenschaftlicher Revolutionen zu berücksichtigen, aber gegen Kuhn an Poppers Annahme eines rationalen Fortschritts in der Wissenschaft festzuhalten.“ (Kirchhoff 2007: 32, Fußnote 42) Trotz dieser Differenzen ist eine gleichzeitige Bezugnahme auf Kuhn und Lakatos möglich, da sich ihre Begriffe des „Paradigmas“ und des „Forschungsprogramms“ ähneln. 127 Kirchhoff 2007: 33.

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verschiedener Paradigmen zueinander oder zur Weiterentwicklung von Forschungsprogrammen auf den Bereich des hier Verhandelten, auf das Zusammenspiel verschiedener Weltanschauungen, übertragen.128 Der Begriff ‚Weltanschauung‘ beschreibt die „Gesamtauffassung der Welt und der Stellung des Menschen in der Welt“129. Er ist nicht unproblematisch – er war seit dem 19. Jahrhundert politisches Schlagwort und Kampfbegriff, wurde vor allem im Schrifttum des Nationalsozialismus exzessiv verwendet130 –, eignet sich aber im Rahmen dieser Arbeit sehr gut, um konkurrierende Auffassungen der idealen Gesellschaftsordnung und des Mensch-Natur-Verhältnisses darzustellen. Mit ihm ist nicht nur eine bloß private, individualisierte Weltsicht gemeint, sondern er bezeichnet den von Mitgliedern einer kulturellen Gruppe geteilten Weltbezug. Er ist aber auch nicht so weit gefasst, dass er das umgreift, was Habermas als „Weltbild“ oder „Weltverständnis“ bezeichnet: das kulturelle Deutungssystem oder Hintergrundwissen einer sozialen Gruppe, wie es beispielsweise in den Begriffen „mythisches Weltbild“ oder „modernes Weltverständnis“131 zum Ausdruck kommt. ‚Weltanschauung‘ meint hier vielmehr verschiedene Weltbezüge innerhalb des (in unserem Fall) modernen Weltverständnisses. Eine Weltanschauung umfasst „nicht allein eine theoretische Erkenntnis der Welt im ganzen“, „sondern begründet zugleich eine (Be)Wertung, damit eine Handlungsorientierung und Umsetzung von Überzeugungen in die Realität“132. Für eine Weltanschauung gilt analog, was Foucault für das „positive Unbewusste“ der Wissenschaft schreibt: Sie konstituiert „eine Ebene, die dem Bewußtsein des Wissenschaftlers entgleitet und dennoch Teil des wissenschaftlichen Diskurses ist“133. Man kann, mit Dilthey, von einer Pluralität subjektiver Weltanschauungen ausgehen. Er führt sie auf die Entstehung des geschichtlichen Bewusstseins zurück.134 Das bringt ihn zu einem Verständnis von Weltanschauungen als Systeme, die „in bunter Mannigfaltigkeit einander ablösen, ohne einander widerlegen zu können“135. Konsequenz dieser

128 Angesichts des teilweise spekulativen und tastenden Charakters besonders des zweiten Teils dieses Unterkapitels möchte ich hier daran erinnern, dass es mir lediglich darum geht, die meinem Denken impliziten Prämissen zu explizieren und so die Nachvollziehbarkeit meiner Überlegungen zu verbessern. 129 Gethmann-Seifert 1995/2004: 652. 130 Thomé 2004: 457. 131 Beide Zitate Habermas 1981/1995a: 73 ff. 132 Gethmann-Seifert 1995/2004: 652. 133 Foucault 1966/1974: 11 f. 134 Dilthey 1977: 3-7. – Der Annahme der Pluralität der Weltanschauungen entspricht bei Lakatos, auf den noch zurückzukommen sein wird, auf dem Gebiet der Wissenschaftstheorie und -geschichte die gleichzeitige Existenz mehrer, konkurrierender Forschungsprogramme (Lakatos 1978/1982: 68; vgl. Poser 2001: 163 f.). 135 Thomé 2004: 457.

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Einsicht ist aber nicht Skeptizismus, sondern die Wendung zur Analyse der Weltanschauungen, mit der die Philosophie sich selbst zum Gegenstand wird. Die Weltanschauungslehre ist von Max Scheler und Karl Mannheim zur Wissenssoziologie weiterentwickelt worden,136 an deren Weltanschauungsbegriff sich der in dieser Arbeit verwendete anlehnt: Scheler expliziert ‚Weltanschauung‘ als „Name für die organisch und geschichtlich gewordene Art und Weise großer zusammenhängender Gruppen, Welt, Seele und Leben tatsächlich anzuschauen und zu werten“137. Seine Definition der „natürlichen Weltanschauung“, die er der „Bildungsweltanschauung“ gegenüberstellt, beschreibt, was auch in dieser Arbeit unter dem Begriff der ‚Weltanschauung‘ verstanden wird: Zu ihr gehört als nicht bewusstes kulturelles Muster das, was einer „Gruppe als keines Beweises bedürftig […] geglaubt und gefühlt wird“138. Mannheim betont mit seinem Diktum der Seinsverbundenheit des Wissens die soziale Bedingtheit jeglicher Wissens- und Denkformen.139 Sein Begriff der „totalen Ideologie“ bezeichnet die unausweichliche und notwendige Perspektivität von Denken, Wissen und den darauf beruhenden Aussagen und Handlungen: „Jegliche Weltanschauung von Menschen sowie ihre Denkkategorien insgesamt müssen demzufolge als ‚ideologisch‘ verstanden werden. Und folglich kann es hier [… nur] um die Erforschung der standortabhängigen ‚Bewußtseinsstrukturen‘ von Menschen als Angehörige von Gruppen, Schichten, Klassen oder Generationen und den damit einhergehenden, zu beobachtenden Handlungsmustern [gehen].“140

Drei wesentliche Gründe sprechen dafür, Weltanschauungen als Mittel zur Systematisierung des Diskurses einzusetzen. Mit ihrer Hilfe lassen sich (1) die Deutungsmuster des Diskurses strukturieren. Mit ihrer Hilfe Vorstellungen von ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘, d. h. möglicher Lesarten der Zwischenstadt, zu differenzieren, ermöglicht eine systematische Erfassung des Interpretationsrepertoires dieses Diskurses. Da Weltanschauungen, wie wir gesehen haben, nicht bloß individuelle Weisen der Wahrnehmung der Welt, sondern den von einer kulturellen Gruppe geteilten Weltbezug beschreiben, stellt der Rekurs auf sie in der Diskursanalyse (2) sicher, nicht bloß privaten Grillen aufzusitzen, sondern sich auf tatsächlich kulturell relevante Bedeutungen zu beziehen. Da ich davon ausgehe, dass es mehrere, nebeneinander existierende und miteinander konkurrierende Weltanschau-

136 Zu einer knappen Darstellung der Wissenssoziologie, Kritik an ihr und ihren Weiterentwicklungen Hirseland & Schneider 2006: 382 f.; Keller 2001/2006. 137 Scheler 2008: 7. 138 Ebd.: 16. – Thomé weist darauf hin, dass die Weltanschauungslehre bzw. Wissenssoziologie hier die cultural studies neuerer und neuester Prägung vorwegnimmt (Thomé 2004: 458); siehe auch Chiapello 2003. 139 Mannheim 1929/1965: 229 ff. 140 Hirseland & Schneider 2006: 382 über Mannheims Ansatz.

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ungen gibt,141 bilde ich sie durch eine Typologie ab, in der sie als gleichberechtigt erscheinen. Durch diese Gleichberechtigung wird (3) deutlich, dass die gewählten politischen Bezeichnungen für die Weltanschauungen nicht ausgesucht werden, um bestimmte Haltungen als politisch verwerflich zu brandmarken. Ich schließe mich Eisel an, der schreibt: „Politische Klassifikationen […] zielen für mich nicht auf political correctness ab, sondern sind theoretisch gemeint. Natürlich haben sie unausweichlich so etwas wie moralischen Orientierungs- oder auch Aufforderungscharakter, sobald sie ausgesprochen werden, und man kann sich dessen bedienen, wenn man will; aber epistemologisch ist das ganz uninteressant.“142

Gill macht darauf aufmerksam, dass sich durch die Gleichstellung der Typen das Problem ergibt, dass man „die Vielheit gegenüber der Einheit privilegiert und damit auch offen lässt, wie in der Praxis im Konfliktfall entschieden werden soll“. Er fügt aber auch hinzu, dass man so „dem Eigensinn der Diskurse und Handlungsintentionen eher gerecht [wird], als wenn man sie nur anhand des einzelnen und in letzter Konsequenz leeren Kriteriums der Zweckrationalität beurteilt.“143 Zur Auswahl der Weltanschauungen und zu ihrer idealtypischen Formulierung Die Formulierung verschiedener Vorstellungen von ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ erfolgt aus der Perspektive einer liberalen, einer konservativen, einer demokratischen und einer romantischen Weltanschauung. Diese Weltanschauungen werden in den ersten drei Fällen im Rückgriff auf politische Philosophien des (englischen) Liberalismus144, des (deutschen) Konservatismus145 und des (hauptsächlich französischen) Demokratismus146,

141 142 143 144

Vgl. Keller 2001/2006: 121. Eisel 2004d: 29. Gill 2003: 102. Gemeint ist die Grundfigur des Liberalismus, wie sie im 17. und frühen 18. Jahrhundert vornehmlich in England entstanden ist. Später „liberal“ genannte politische Richtungen weichen davon oft erheblich ab. Siehe Göhler 2002b; Kötzle 1999/2002; Kühnl 1974; vgl. Voigt 2009. Zum Liberalismus siehe Kapitel 4.1. 145 Gemeint ist die Grundfigur des Konservatismus, wie sie, vornehmlich in Deutschland, im Zuge der Gegenaufklärung vor allem im späten 18. und 19. Jahrhundert entstanden ist. Später „konservativ“ genannte politische Richtungen weichen oft erheblich davon ab. Siehe Göhler 2002a; Greiffenhagen 1986; Lenk 1989. Zum Konservatismus siehe Kapitel 4.2.

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wie sie sich zu Beginn der Moderne, d. h. um die Zeit der Französischen Revolution, herausgebildet haben, formuliert. Die romantische Weltanschauung wird im Rekurs auf Theorien der deutschen Romantik formuliert; auf die Sonderstellung, die sie einnimmt, wird unten noch einzugehen sein. Zwei Fragen drängen sich auf: (1) Wie ist das Verhältnis von Weltanschauungen und politischen Philosophien? (2) Warum werden Weltanschauungen nach den politischen Philosophien, die ihnen zugrunde liegen, behandelt, wenn es doch letzten Endes um eine Ordnung gestalterischer und planerischer Strategien für urbane Landschaften geht? Zu (1): „Politische Philosophie“ bezeichnet hier die philosophische Theoriebildung über die Prinzipien des Zusammenlebens von Menschen im Staat als einer wohldefinierten politischen Ordnung.147 Liberalismus, Konservatismus und Demokratismus (weniger die Theorien der Romantik) sind verschiedene Möglichkeiten, diese Prinzipien zu formulieren. Dass, wie oben angedeutet, die politischen Philosophien Grundlage für die Formulierung der Weltanschauungen sind, bedeutet, dass aus den Prinzipien der politischen Ordnung Aussagen zur Gesamtauffassung der Welt und der Stellung des Individuums in ihr abgeleitet werden.148 Wenn im Rahmen dieser Arbeit von „Liberalismus“, „Konservatismus“ und „Demokratismus“ gesprochen wird, so sind damit immer die auf den entsprechenden politischen Philosophien basierenden Weltanschauungen gemeint. Der Rückgriff auf jene Philosophien erlaubt, die Weltanschauungen als begrifflich präzise bestimmte theoretische Gebilde zu formulieren. Denn die politischen Philosophien stellen ausdifferenzierte und dem Anspruch nach widerspruchsfrei formulierte Theorien dar, in denen die relevanten Unterschiede zu den gegnerischen politischen Philosophien bereits theoretisch erfasst und verarbeitet sind. Zu (2): Zur Ordnung des stadt- und landschaftsplanerischen Diskurses um die Zwischenstadt kann auf politische Philosophien zurückgegriffen werden, weil die Planungen und Gestaltungen selbst Ausdruck bestimmter Haltungen zur Welt, bestimmter Mensch-Natur-Verhältnisse (oder Vorstel-

146 Gemeint ist hier in erster Linie die Philosophie, die in der vornehmlich französischen Aufklärung entwickelt wurde; ich beziehe mich nicht auf die demokratischen Philosophien der Antike. Was im heutigen Sprachgebrauch „demokratisch“ genannt wird, unterscheidet sich vom hier formulierten „Demokratismus“, siehe Kapitel 4.3. 147 Schleichert 1995/2004: 211. 148 Dieses Vorgehen ist weniger unüblich, als es den Anschein haben mag. Vergleichbare Ansätze finden sich in Arbeiten mit ganz unterschiedlichen Hintergründen und Erkenntnisinteressen, z. B. bei Boltanski & Thévenot (1991/ 2007), die unterschiedliche „Welten“ aus den „Grammatiken“ kanonischer Texte der politischen Philosophie ableiten, oder bei Gill (2003), der verschiedene Naturvorstellungen rekonstruiert, um Weltbilder in Natur- und Technikkonflikten darzustellen, oder bei Voigt (2009), die Analogien zwischen politischen Philosophien und synökologischen Theorien aufzeigt.

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lungen von diesen), bestimmter Gesellschaftsauffassungen sind. Stadtentwürfe implizieren immer Gesellschaftsentwürfe und Ideen für ein gutes menschliches Zusammenleben – ebenso wie Landschaft Projektionsfläche gesellschaftlicher Ideen (meist als Gegenentwürfe zur bestehenden Ordnung) ist. Die Haltungen der Architekten und Planer sind also selbst immer schon politisch, und jede Designstrategie und jeder Entwurf kann als politisches Statement gelesen werden – unabhängig davon, ob den Akteuren dies beim Entwerfen bewusst ist oder nicht. Zur idealtypischen Konstruktion der Weltanschauungen gehe ich von der empirischen Gestalt aus, die die entsprechenden politischen Philosophien etwa um die Wende zum 19. Jahrhundert hatten, im Fall des Liberalismus um die zum 18. Jahrhundert. Zwei Fragen stellen sich: (1) Wieso habe ich gerade diese Weltanschauungen als Ausgangsidealtypen gewählt? (2) Warum habe ich hauptsächlich politische Philosophien dieser Zeit, die als „Sattelzeit“ 149 charakterisiert wurde, ausgesucht? Zu (1): Die Auswahl der Weltanschauungen ergibt sich aus einer zu heuristischen und methodischen Zwecken eingesetzten These über den Gang der Moderne:150 Alle modernen Weltanschauungen beziehen Stellung zum Faktum und / oder zur Idee des Fortschritts. Als die zwei Extrempositionen lassen sich daher eine den Fortschritt bejahende (progressive) und eine ihn ablehnende (fortschrittskritische) Haltung bestimmen. Als Modell für die Konstruktion dieser zwei Extrempole dienen mir die politischen Philosophien des klassischen Liberalismus sowie des klassischen Konservatismus in der Form, in der sie sich im 17. bzw. 18. Jahrhundert herausgebildet haben.151 Neben diesen Extrempositionen gibt es immer auch (in sich sehr verschiedenartige) Dritte Wege in der Moderne.152 Sie lassen sich als Reaktionen auf die Unzulänglichkeiten, die in den beiden extremen Positionen enthalten sind, bestimmen und integrieren auf spezifische Weise Theorieelemente beider. Ich konstruiere in dieser Arbeit zwei Varianten eines solchen

149 Koselleck 1972: XV. 150 Vgl. Eisel 1999; Eisel 2004d. 151 Hier könnte eingewandt werden, dass sich historisch und systematisch betrachtet der Konservatismus zwar auf den Liberalismus bezieht (Gleichursprünglichkeitsthese von Greiffenhagen), dass sich aber der Liberalismus nicht gegen den Konservatismus wandte, ihm jedenfalls nicht seine Entstehung verdankt, sondern in Opposition gegen vormoderne Zustände entstanden ist. Dieser Einwand ist berechtigt. Er beeinträchtigt allerdings nicht die Struktur meines Modells, die auf Gegenpolen basiert. Denn der Liberalismus entstand in Opposition zu einem Gegenpol (vormoderne Zustände), der zwar nicht derjenige war, der ihm später entgegentritt (Konservatismus), der aber von diesem zum Ideal erhoben wurde. 152 Zum Begriff des Dritten Wegs Gallus & Jesse 2001; Sturm 2001; Vorländer 2001; eine prominente inhaltliche Bestimmung eines Dritten Wegs bei Giddens 1998/1999.

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Dritten Weges: eine demokratische und eine romantische Weltanschauung. Dabei steht der Demokratismus insofern dem Liberalismus nahe, als beide als fortschrittliche, aufklärerische Positionen gelten können, während die Romantik wie der Konservatismus der Aufklärungskritik zuzurechnen sind.153 Wie begründet sich die Entscheidung für die gewählten Varianten des Dritten Weges? Zwei Gründe sprechen dafür, den Demokratismus als einen solchen darzustellen: Erstens ist die fortschrittliche Position nur unzureichend in ihrer Differenziertheit zu erfassen, wenn man versucht, ihr Denken einzig aus dem (vornehmlich im angelsächsischen Raum geprägten) Liberalismus zu verstehen.154 Zweitens bietet es sich an, den Demokratismus (mit dem Sozialismus in seinem Gefolge) nicht zu vernachlässigen, weil er eine historisch wirkmächtige Weltanschauung war und ist. Ebenfalls zwei Gründe (außer, dass man die eben genannten ganz entsprechend auch für die Seite der Aufklärungskritik geltend machen kann) sprechen dafür, die Romantik als eine weitere Variante des Dritten Weges zu konstruieren. Erstens ist sie für das Thema Wildnis von ganz besonderer Relevanz: Im Gegensatz zu den anderen drei explizit politischen Positionen wird in der Romantik Wildnis selbst Gegenstand positiver Wertzuschreibungen. Zweitens ist sie von all denjenigen Dritten Wegen, in denen Wildnis relevant ist, historisch der erste (so ist zwar beispielsweise Wildnis als Urlandschaft auch im Nationalsozialismus bedeutsam, dies aber erst etwa 150 Jahre nach der romantischen Epoche); und sie kam ziemlich zeitgleich mit Liberalismus, Konservatismus und Demokratismus auf. Zwar scheint die Romantik auf den ersten Blick von den anderen Ausgangspositionen kategorial verschieden zu sein, insofern sie offenbar keine politische Haltung beschreibt. Ich verstehe aber unter Romantik nicht (nur) die Künstlerepoche bzw. Stilrichtung, sondern konstruiere sie primär als Lebenseinstellung, als Weise, die Welt zu sehen: als Weltanschauung eben, aber auch als Weise, ihr gemäß zu leben. Ihr politischer Gehalt liegt dann in ihrer apolitischen Einstellung, in ihrem negativen Bezug auf Politik, d. h. im Politikverzicht.155

153 Allerdings wird die Romantik hier nicht, wie es oft geschieht, als eine Form des Konservatismus aufgefasst. Mit diesem ist ihr zwar die Ablehnung des aufklärerischen Welt- und Geschichtsmodells gemeinsam. Sie unterscheidet sich von diesem aber nicht nur inhaltlich, sondern auch in der Struktur des Gegenmodells: Während der Konservatismus ein Gegenmodell auf gesellschaftlicher Ebene formuliert, verlässt die Romantik mit der Betonung des persönlichen Erlebens diese Ebene. Gemeinsam mit der progressiven Position ist der Romantik die Vorstellung einer offenen Zukunft und die Überzeugung, dass alle Menschen gleich sind. Während die prinzipielle Gleichheit in der progressiven Position in der Vernunftfähigkeit liegt, gründet sie in der Romantik allerdings im Gefühl. (Vgl. Siegmund 2010: insb. 323-238.) 154 Zu den Unterschieden zwischen Liberalismus und Demokratismus siehe Kapitel 4.1. 155 Siehe ausführlicher zur Sonderstellung der Romantik Kapitel 4.4.

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Zu (2): Es wurden Weltanschauungen, wie sie sich in und um die „Sattelzeit“ herausgebildet haben, ausgewählt – jener Zeit von 1750 bis 1850, in der sich „ein tiefgreifender Bedeutungswandel klassischer topoi vollzogen“156 hat und in der „neue Sachverhalte, ein sich änderndes Verhältnis zu Natur und Geschichte, zur Welt und zur Zeit“ den Beginn der Moderne bezeugen.157 Diese Auswahl stützt sich auf die Annahme, dass in den frühen Ausformulierungen der politischen Philosophien ihr Strukturkern besonders markant zum Vorschein kommt bzw. sich leichter als in späteren Varianten identifizieren und idealtypisch zugespitzt formulieren lässt. Was ist mit „Strukturkern“ gemeint? Er markiert in der Vielfalt realer politischer Theorien, in ihren Varianten und Veränderungen, denen sie unterliegen, ein in seinen Grundzügen gleichbleibendes, für die jeweilige politische Philosophie spezifisches Verhältnis bestimmter theoretischer Aussagen und Werte. Man kann ihn mit dem „harten Kern“ eines Forschungsprogramms in der Theorie von Imre Lakatos vergleichen.158 Dieser Kern ist, übertragen auf weltanschauliche Positionen, das Wesentliche des jeweiligen „Paradigmas“: Er besteht aus den spezifischen Denkzusammenhängen der jeweiligen Position und enthält die unhinterfragten und von innen unhinterfragbaren Selbstverständlichkeiten. Er wird als unverzichtbar angesehen und deswegen mit einem „Schutzgürtel“ aus „Hilfshypothesen“ („negative Heuristik“) gegen Falsifizierungen immunisiert, d. h. gegen Angriffe weltanschaulicher Gegner verteidigt.159 Wie gehe ich vor, um den Strukturkern zu erfassen? Das empirische Material zur Konstruktion der idealtypischen Vorstellungen von ‚Wildnis‘,

156 Koselleck 1972: XV. 157 Ebd. – Koselleck spricht, das sei hier erwähnt, von „Neuzeit“, meint damit aber das, was ich (wie eher üblich) als Moderne bezeichne. Das geht beispielsweise auch aus den Kriterien hervor, anhand derer er die „neue Zeit“ charakterisiert (ebd.: XVII-XIX). 158 Lakatos 1974: 129 ff.; i. O. hervorg.; vgl. aber Wirth (2008: 48 f.), der die Tendenzen der neueren und neuesten kulturwissenschaftlichen Forschung analysiert und beschreibt, dass sich in ihnen eine „grundsätzliche Modulation“ des von Lakatos entworfenen Modells abzeichnet: „Es gibt keinen schützenswerten ‚harten Kern‘ mehr, sondern nur noch gleichwertige, als kontingent zu betrachtende Knotenpunkte. Aus einer Logik der Kernforschung wird eine Logik der Netzforschung.“ Dieser Weiterentwicklung der Kulturwissenschaft wird meine Arbeit insofern gerecht, als sie in Kapitel 5 ja gerade die Verbindungen und Kombinationen der Weltanschauungen aufspürt und darstellt. Im entsprechenden kulturwissenschaftlichen Vokabular heißt das, dass sich mein Interesse gerade auf diese Kombinationen als „Gewebe von Spuren“ (Derrida, zit. n. Wirth 2008: 48), als „Knoten in einem Netz“ (Foucault 1969/1981: 36), als „Netz von Interpretanten“ (Eco 1984/2008: 266, im Original kursiv) oder als „Rhizom“ (Deleuze & Guattari 2002; 1976/1977) richtet. 159 Lakatos 1974: 129 ff., vgl. Kirchhoff 2007: 32 ff.

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‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ aus der Perspektive der unterschiedlichen Weltanschauungen besteht aus Primär- und Sekundärliteratur: Alle Weltanschauungen werden unter Rekurs auf Repräsentanten oder Protagonisten – mit Bezug auf Boltanski und Thévenot könnte man auch von Grammatikern der politischen Philosophien sprechen – formuliert.160 Auch wenn zur Darstellung der „Grammatiken“161 der Weltanschauungen auf bestimmte Protagonisten bzw. ihre Werke zurückgegriffen wird, so steht dahinter nicht die Vorstellung, man könne die real existierenden politischen Theorien und die aus ihnen abgeleiteten Weltanschauungen wirklichkeitsgetreu abbilden – Idealtypen sind, wie wir oben gesehen haben, immer „Utopien“ (Weber). Der Verweis auf einzelne Autoren dient daher, wie auch Voigt herausstellt, der „Veranschaulichung des Idealtyps“162. Die Primärtexte sind zugleich „das Material, aus dem die Idealtypen entwickelt werden und die Realität, an der die Tauglichkeit der Typen geprüft werden kann – kein Autor allein aber ist der ‚Realtyp‘“163. Der Bezug auf Sekundärliteratur, in der die Gemeinsamkeiten und Unterschiede verschiedener Protagonisten bereits analysiert sind, ist aus drei Gründen sinnvoll: Erstens können in der Theorie eines Protagonisten oftmals Aspekte verschiedener Weltanschauungen in Kombination auftreten. Zweitens kann sich eine Weltanschauung aus Bausteinen zusammensetzen, die nicht alle von einem Autor formuliert worden sind. Drittens ist dadurch eher gewährleistet, bei der Formulierung der Vorstellungen von ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ tatsächlich eine historisch wirkmächtige und heuristisch fruchtbare Variante des Liberalismus, des Konservatismus, des Demokratismus und der Romantik erfasst zu haben. Die Ausdifferenzierung der Weltanschauungen Im Folgenden werde ich kurz modellhaft erläutern, in welchem Verhältnis die einzelnen Weltanschauungen als zueinander stehend gedacht werden können und wie sie sich transformieren. Das vertieft zum einen die oben gegebene Erklärung für ihre Auswahl, zum anderen wird nachvollziehbar, wieso die vier Weltanschauungen als Analysewerkzeug von aktuellen Positionen betrachtet werden. Für deren Untersuchung ist gerade die Transformation und Kombination der Weltanschauungen wichtig, da – so viel sei vorweggenommen – die heutigen Positionen immer als Varianten und Mischformen der vier in idealtypischer Reinform formulierten Weltanschauungen verstanden werden können. Entsprechend den beiden wissenschaftstheoretischen und -geschichtlichen Modellen, an denen ich meine Überle-

160 161 162 163

Boltanski & Thévenot 1991/2007: 29; vgl. Albertsen 2005: 71 f. Boltanski & Thévenot 1991/2007: 29. Voigt 2009: 43. Ebd.: 43 f.

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gungen ausrichte, werde ich, nachdem ich allgemeiner das Spannungsverhältnis zwischen den Weltanschauungen beschrieben habe, zwischen ihren Modifikationen (mit Lakatos) und echten Revolutionen bzw. Neuentstehungen (mit Kuhn) unterscheiden. In dem Modell, das meiner Arbeit zugrunde liegt, gibt es zwei grundlegende weltanschauliche Positionen, die als extreme Idealtypen konstruiert sind, und zwei Varianten eines dritten, vermittelnden Weges. Sie können alle als „Paradigmen“ (Kuhn) beschrieben werden. Die beiden Extreme, also der Liberalismus und der Konservatismus, stehen zueinander in einem Verhältnis, das man als dialektisch beschreiben könnte. Es entspricht in struktureller Hinsicht, nämlich mit Blick auf das Verhältnis der Weltanschauungen zueinander, der Konstruktion, die Martin Seel der „ästhetischen Interdependenz“ der verschiedenen Formen des Naturschönen zuschreibt.164 Die Logik dieses Schemas, die er an einem ganz anderen Gegenstand entwickelt, wird hier entlehnt, da es sich im Kontext dieser Arbeit zu heuristischen Zwecken anbietet. Mit Verweisen auf Seel beziehe ich mich also nicht auf den Inhalt, sondern auf die Form der von ihm beschriebenen Dialektik: Es gibt ihm zufolge eine systematische Nichterfüllbarkeit der Gesamtheit dessen, was jede der beiden Extrempositionen wollen muss. Es muss ein dritter Weg eingeschlagen werden, wenn man die Mängel der eigenen Position, also Mängel der Extrempositionen, beheben bzw. vermeiden möchte. Denn es ist unmöglich, zum gegnerischen weltanschaulichen Lager zu wechseln, wenn und weil der Kern der eigenen Position konsistent und widerspruchsfrei bewahrt bleiben soll. Dieser dritte Weg kombiniert Theorieelemente der beiden Extrempositionen auf spezifische Weise. Das Dilemma löst sich, indem diese dritte Position eingenommen wird, aber nur scheinbar. Denn diese steht, sobald sie hervorgebracht ist, in einem vergleichbaren Verhältnis zu jedem der beiden ersten wie diese zueinander. So wird zwar das Problem gelöst, das Ausgangspunkt der Abwendung von einem der beiden Extremtypen war, dafür werden aber andere, strukturell gleiche Probleme aufgeworfen, die wieder nach neuen Lösungen in Form neuer Kombinationen verlangen. „Auch hier also […] ist die im Vergleich zur dritten Größe gegebene Parallelität mit einer deutlichen gegenseitigen Abstoßung verbunden“.165 Jede der drei Positionen „lebt von ihrer Distanz zu den anderen“166 und dennoch trägt jede Position jeweils die anderen in sich: „Jede dieser [… Positionen] ist erst im Gegensatz zu den anderen, was sie ist.“167 Allerdings beschreibt Seel das Verhältnis der drei Grundformen der Naturwahrnehmung zwar als ein dialektisches, aber dennoch insofern als ein

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Seel 1996. Ebd.: 192. Ebd.; i. O. hervorg. Seel 1996: 192.

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statisches Verhältnis, als es kein Entwicklungsmoment impliziert.168 Demgegenüber wird in dieser Arbeit das Verhältnis der drei Idealtypen in einen geschichtlichen Zusammenhang gestellt – daher der Rückgriff auf die wissenschaftsgeschichtlichen und -theoretischen Überlegungen bei Lakatos und Kuhn. Betont werden dadurch die Veränderungen der Weltanschauungen und ihrer Konstellation im Laufe der Geschichte, die Struktur der gegenseitigen Einflussnahme und das Hervorgehen neuer Positionen. Wie und wieso vollziehen sich die Veränderungen der Weltanschauungen? Der Entstehungsmechanismus neuer Weltanschauungen ist, als Synthese aus dem Seelschen Modell mit dem Modell wissenschaftlicher Revolutionen von Kuhn, als dialektisch zu charakterisieren: Die neue Weltanschauung ist als Synthese aus den beiden Extrempolen als etwas völlig Neues entstanden. Diese ändern sich, ihr Verhältnis zueinander und zur neu entstandenen Position dadurch, dass jene als neues Paradigma entstanden ist. Denn jede Position ist erst in Abgrenzung zu den anderen das, was sie ist. Ein Zurück zu den alten Positionen und zu alten Konstellationen ist unmöglich geworden, da mit der neuen Weltanschauung ein neuer Gegner entstanden ist. Auf diesen gilt es ebenfalls zu reagieren und sich abzugrenzen. Zum Paradigmenwechsel bzw. zur Neuentstehung von Weltanschauungen kommt es allerdings selten; viel häufiger sind Modifikationen oder Variantenbildungen bestehender Weltanschauungen. Kuhn beschreibt für den wissenschaftlichen Forschungsbetrieb, dass und warum lange und zäh an alten Paradigmen festgehalten wird.169 Was er zur Funktionsweise des Phänomens und zu den Gründen sagt, lässt sich auf den Wechsel von weltanschauungsprägenden Theorien übertragen. Demnach tritt das Neue „nur mit einer sich durch Widerstand manifestierenden Schwierigkeit zutage“170. In Zeiten der „Krise“ versuchten die Wissenschaftler daher zunächst, „sich zahlreiche Artikulierungen und ad hoc-Modifizierungen ihrer Theorie aus[zu]denken, um jeden scheinbaren Konflikt zu eliminieren“171. Die meisten Positionen, die neu entstehen, sind daher nicht als neue Paradigmen, sondern als Ausdifferenzierungen der alten Weltanschauung aufzufassen. Die Differenzen zum reinen Idealtypus rühren im Allgemeinen daher, dass andere bereitliegende Gedanken, und das sind Gedanken aus dem Umkreis der

168 Es ist auch gar nicht Seels Ziel, eine geschichtliche Entwicklung zu erklären. Sein Modell ist eine Beschreibung des modernen Naturverhältnisses. 169 Kuhn 1962/1976. 170 Ebd.: 76. 171 Ebd.: 91. – „Solange die von einem Paradigma gelieferten Hilfsmittel sich als fähig erweisen, die von ihm definierten Probleme zu lösen, schreitet die Wissenschaft dann am schnellsten voran und dringt am tiefsten ein, wenn diese Hilfsmittel voll Überzeugung gebraucht werden. Der Grund ist klar. Wie bei der Fabrikation, so auch in der Wissenschaft – ein Wechsel der Ausrüstung ist eine Extravaganz, die auf die unbedingt notwendigen Fälle beschränkt bleiben soll.“ (Kuhn 1962/1976: 89)

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anderen beiden Paradigmen, in das eigene Denkgebäude integriert werden. Dieser Variantenbildung lässt sich mit Lakatos die Funktion zuschreiben, einen „Schutzgürtel von Hilfshypothesen“172 zu konstruieren. Dieser dient dazu, den „harten Kern“, d. h. die „negative Heuristik“173 des Forschungsprogramms gegen Falsifizierung, d. h. gegen Angriffe weltanschaulicher Gegner, zu schützen. Durch die „positive Heuristik“174 wird dieser Schutzgürtel fortwährend verändert, wohingegen der harte Kern, bis zur Revolution des Paradigmas, unangetastet bleibt.175 Diese Veränderungen im Schutzgürtel sind das, was die Modifikationen und Varianten einer Weltanschauung ausmachen. Bei der Analyse der planerischen Positionen und Entwurfsstrategien (Kapitel 5) wird sich zeigen, dass die meisten Modifikationen darauf zurückzuführen sind, dass sich verschiedene Weltanschauungen, unter der Dominanz einer Weltanschauung, auf unterschiedliche Weise kombinieren.176

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Lakatos 1974: 130. Ebd.: 129. Ebd.: 131. „Die negative Heuristik spezifiziert den ‚harten Kern‘ des Programms, der, infolge der methodologischen Entscheidung seiner Protagonisten, ‚unwiderlegbar‘ ist; die positive Heuristik besteht aus einer partiell artikulierten Reihe von Vorschlägen oder Hinweisen, wie man die ‚widerlegbaren Fassungen‘ des Forschungsprogramms verändern und entwickeln soll und wie der ‚widerlegbare‘ Schutzgürtel modifiziert und raffinierter gestaltet werden kann.“ (Lakatos 1974: 131) 176 Zu den verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten der Weltanschauungen siehe Kapitel 6.1. – Wo allerdings der systematische Unterschied zwischen einer neuen Weltanschauung und einer Variante innerhalb einer alten liegt, was also ein sicheres Merkmal der Unterscheidung ist, ist eine Frage, die hier nur aufgeworfen, aber nicht gelöst werden kann. Es ließe sich sicher mit Kuhn und Lakatos zeigen, dass und was es mit den Mechanismen des Wechsels von Paradigmen zu tun hat. Diese Überlegungen wird man auf die Weltanschauungen übertragen können. Doch das eigentliche Problem liegt in der Vereinbarkeit mit dem Nominalismus von Weber. Danach können ja beliebige Idealtypen gebildet werden (solange sie nur heuristisch fruchtbar sind). Wenn man die Theorien Kuhns und Lakatos’ auf einen Idealtyp (beispielsweise einer Weltanschauung) anwenden will, dann muss man aber davon ausgehen, dass das mit dem Idealtyp Beschriebene ein reales System ist, das nach bestimmten Gesetzen funktioniert. Das würde heißen, dass sich die Güte eines Idealtyps nicht nur an dessen Fruchtbarkeit bemisst, sondern daran, ob man ein solches reales System trifft. Ich kann in dieser Arbeit nicht nachweisen, dass die von mir gewählten Idealtypen solche realen Funktionssysteme treffen, ich kann dies lediglich unterstellen und die Durchführung der Analysen kann allenfalls zeigen, dass diese Unterstellung nicht falsch sein muss.

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Weil es hier eigentlich nicht um die Frage geht, wann und warum es überhaupt zu Veränderungen an den Weltanschauungen kommt, möchte ich dazu nur eine Bemerkung anschließen. Theoretisch möglich, d. h. denkbar, wird eine neue Position immer dann, wenn sie aus Kombinationen bestehender, bereitliegender Bausteine hervorgehen kann. Die Zahl des logisch Möglichen bzw. die Entstehungsmöglichkeit überhaupt wird weiter dadurch begrenzt, dass positive Anknüpfungspunkte und abgrenzungswürdige Gegner entstanden sein müssen. Das heißt, eine Weltanschauung kann immer nur auf die Denkfiguren und Theorieelemente zurückgreifen, die schon bereitliegen, und diese neu kombinieren. Gesellschaftlich möglich sind Positionen, die als theoretische Optionen bereitliegen und in der gesellschaftlichen Praxis eingenommen oder besetzt werden können.177 Begrenzt wird die faktische Einnahme von Positionen erstens dadurch, dass ihre Entstehung und vor allem auch ihre Ausbreitung im Diskurs Zeit braucht. Je umfassender eine Weltanschauung ist und je mehr Hindernisse beiseite geräumt werden müssen, die einem Überwechseln von einer anderen im Wege stehen, desto mehr Zeit vergeht im Allgemeinen, ehe sie sich etablieren kann. Damit hängt zweitens zusammen, was Kuhn für die Überzeugungskraft neuer Paradigmen formuliert.178 Eine Weltanschauung bzw. eine ihrer Varianten verfügt demnach erst dann, wenn sie eine gewisse Reife erlangt hat, auch über Anziehungskraft für weitere Kreise. Eine junge Position kommt gegen etablierte Weltanschauungen schwer an. Kleine und unbedeutende gesellschaftliche Gruppen mögen diese neue Theorievariante oder das neue Paradigma vertreten, doch sie stellt noch keine gesellschaftliche Kraft dar. Drittens muss es für die neue Weltanschauung bzw. ihre Variante einen Bedarf geben, sie muss als Lösung existierender Probleme erscheinen. Es müssen sich also, um in der Terminologie Kuhns zu bleiben, „Anomalien“ angehäuft haben. Die Erklärungskraft der alten Weltanschauung oder ihrer Varianten muss schwach geworden sein, sie müssen sich abgenutzt haben. Der letzte Punkt leitet über zu der Frage nach den Ursachen für die Transformation oder Neuentstehung von Weltanschauungen und ihren Varianten. Das können entweder äußere Zufälle wie neue gesetzliche Regelungen, die steuerliche Anreize für bestimmte Verhaltensweisen setzen, oder technische Neuerungen sein. Auf einer formal-inneren Ebene wird erfasst, wie Änderungen der materiellen oder intellektuellen Umstände im Inneren der Denkgebilde verarbeitet werden. Diese Verarbeitungen geschehen in der Logik der Weltanschauung idealerweise als widerspruchsfreie Anknüpfungen an bestehende Theorieelemente. Sowohl Veränderungen der materiellen als auch der geistigen Welt stellen demnach aus der Perspektive der betrachteten Position eine neue Realität dar, an die sie sich anpassen muss. Die Transformation, die sich aus der inneren Logik der Positionen selbst bzw.

177 Letztlich handelt es sich dabei um Fragen gesellschaftlicher Machtverhältnisse, die hier, wie bereits angesprochen, nicht behandelt werden (siehe Kapitel 2.1). 178 Kuhn 1962/1976.

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aus der Logik ihrer Beziehungen zueinander ableitet, stellt also eine Anpassungsleistung der Positionen an die veränderte Realität dar.179

2.4 I DEENGESCHICHTE – DAS M ITTEL , UM DIE B EDEUTUNGSVIELFALT DER L ESARTEN SYNCHRON DARZUSTELLEN UND UM DIACHRON DISKURSIVE K ONTINUITÄTEN UND B RÜCHE AUFZUSPÜREN Meiner Arbeit liegt die Annahme zugrunde, dass sich der aktuelle Diskurs um Zwischenstadt mithilfe der Ideengeschichte von ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘, die als aktuelle Lesarten in der Debatte relevant sind, verstehen lässt. Denn in der gegenwärtigen Diskussion um urbane Landschaften finden sich Ideen mit einer langen, diskursprägenden Tradition. So ist beispielsweise die Interpretation der Stadt als Wildnis keinesfalls eine neue Lesart der Stadt, und auch die Klage darüber, dass Städte ihre Individualität verlieren und überall auf der Welt gleich aussehen, ist ein Topos, der in der Stadtkritik seit der Mitte des 19. Jahrhunderts geläufig ist. Solche Kontinuitäten werden in dieser Arbeit nachgezeichnet: Sie werden von ihren früheren Stadien oder ideengeschichtlichen Ursprüngen aus verfolgt, ihre Veränderungen und Anpassungen an sich wandelnde Bedingungen werden beschrieben, und ich werde zeigen, ob und in welcher Form sie sich in welchen zeitgenössischen planerischen Positionen und Entwurfsstrategien wiederfinden. Dazu werde ich in diesem Unterkapitel das der Arbeit zugrundeliegende Verständnis von Ideengeschichte skizzieren.180 Ich grenze es zunächst in groben Zügen von den Vorstellungen Arthur O. Lovejoys ab, der als Begründer der Ideengeschichte gilt,181 und erläutere die Bedeutung, die der Ideengeschichte im Rahmen dieser Arbeit zugewiesen wird. Das klassische Verständnis von Ideengeschichte Lovejoy hat Mitte der 1930er Jahre in seinem Buch Die große Kette der Wesen als Erster versucht, die Ideengeschichte als eigene Disziplin aufzu-

179 „Das heißt, das, was im folgenden als logische Implikation von philosophischpolitischen Weltbildkonstruktionen dargestellt wird, ist ‚logisch‘ hinsichtlich der Weiterentwicklung der Konstruktion, die aus der notwendigen Auseinandersetzung der Weltbilder mit den Modalitäten der modernen Gesellschaft folgt.“ (Komorowski 1995: 649) 180 Zu einem Überblick über die Ideengeschichte Geldsetzer 1976; Lottes 2002; Mittelstraß 1995/2004. Siehe auch Literaturhinweise in Eibach & Lottes 2002: 318-325. 181 Geldsetzer 1976: 136; Mittelstraß 1995/2004: 184.

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bauen.182 Sein Ideenbegriff umfasst ‚Natur‘, ‚Christentum‘, ‚Rationalismus‘ und ‚Romantik‘ ebenso wie ‚die große Kette der Wesen‘. Er geht davon aus, dass sich grundlegende Theorieelemente oder Denkfiguren durch die Geschichte ziehen, die er als „Elementarideen“ bezeichnet. Neue Gedanken gehen seiner Vorstellung gemäß meist aus Kombinationen dieser Elementarideen hervor: „Die scheinbare Originalität vieler Systeme beruht allein auf der neuartigen Verarbeitung oder Anordnung der bereits bekannten Bestandteile, aus denen sie hervorgehen.“183 Entsprechend definiert Lovejoy als Aufgabe der Ideengeschichte, „zu diesen gemeinsamen begrifflichen, begriffsähnlichen oder gefühlshaften Grundbestandteilen unter der Oberfläche scheinbarer Verschiedenheit vorzudringen“184. Um dies zu erreichen, muss „die Wirkung eines bestimmten Entwurfs, einer ausdrücklichen oder stillschweigenden Voraussetzung, einer Denkgewohnheit, eines bestimmten Arguments oder einer bestimmten These fortlaufend durch alle Phasen des geistigen Lebens, in denen sie sich bemerkbar macht, […] verfolgt werden, wenn ihr Wesen und ihre historische Rolle vollständig erfaßt werden sollen“185. Auch wenn verschiedene Einwände gegen das von Lovejoy erarbeitete Verständnis von Ideengeschichte gemacht wurden (die unten noch angedeutet werden), gehe ich in dieser Arbeit von seiner Annahme aus, dass „verschiedene[..] Bereiche viel mehr miteinander gemeinsam haben, als für gewöhnlich erkannt wird, und daß ein und derselbe Gedanke oft, und in stark veränderter Form, an den verschiedensten Punkten der geistigen Welt auftaucht“186. Ein Vorwurf, der gegen Lovejoy erhoben wurde, ist, dass seine Betrachtungsweise dazu verführt, auch dort Zusammenhänge kausaler Art zwischen Gedankenmotiven zu konstruieren, wo sie tatsächlich nicht gegeben sind.187 Foucault hat unter anderem auf dieses Problem der traditionellen Ideengeschichte reagiert.188 Er kritisiert an ihr, dass sie in ihrem Suchen nach kausalen Zusammenhängen und Ursprungsrelationen einen „Kohärenzkredit“189 gewähre, der, wie Lottes formuliert, „interpretationsverzerrende[..] Wirkungen“190 habe. Dieser Kredit sei lediglich „die Illusion einer Einheit“191. Ein zweiter Einwand richtet sich gegen Lovejoys atomistisches Verständnis der Elementarideen, also gegen die Annahme, dass sie wie un-

182 Die methodischen Überlegungen finden sich vor allem in der Einleitung zu Lovejoy 1933/1993: 11-36. 183 Ebd.: 12. 184 Ebd.: 13. 185 Ebd.: 26. 186 Ebd. 187 Geldsetzer 1976: 136. 188 Foucault 1969/1981. 189 Ebd.: 213. 190 Lottes 2002: 265. 191 Foucault 1969/1981: 215.

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veränderliche Bausteine kombiniert werden können. Wie diesen Fallstricken der Ideengeschichte in dieser Arbeit begegnet wird, werde ich noch zeigen. Der ideengeschichtliche Ansatz im Rahmen dieser Arbeit In dieser Arbeit wird allerdings keine erschöpfende Ideengeschichte betrieben, das heißt, die Ideen ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ werden nicht in einer diachronen Betrachtungsweise von ihren begrifflichen Anfängen bis zu ihrer heutigen Verwendung in all ihren Bedeutungsverschiebungen nachgezeichnet. Das würde nichts zum eigentlichen Ziel der Arbeit beitragen. Stattdessen formuliere ich in Kapitel 4 als Interpretationsrepertoire des aktuellen Diskurses ideengeschichtlich fundierte, idealtypische Vorstellungen der drei Lesarten, wie sie sich um die Sattelzeit herausgebildet haben. Ich nutze also die Gedankenwelt der frühen Moderne und das ideengeschichtliche Wissen, um in einer synchronen Perspektive die Bedeutungsvielfalt der Ideen ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ in idealtypischer Form darzustellen.192 Dahinter steht, wie oben bereits angesprochen, erstens die Annahme, dass Begriffe in der Sattelzeit ihre moderne Bedeutung erlangt haben und nicht mehr übersetzt werden müssen.193 Zweitens gehe ich davon aus, dass in diesen frühen begrifflichen Fassungen die Kernideen der drei Lesarten schärfer zutage treten und sich klarer zuspitzen lassen als in späteren, komplexeren Varianten. Mit Mittelstraß lässt sich der Sinn des Rückgriffs auf die Ideengeschichte kurz als „genetische Aufklärung“194 fassen. Diese „Aufklärung“ ist allerdings kein Selbstzweck, sondern wird als heuristisches Prinzip eingesetzt: Ich nutze also die Ideengeschichte, um historisch informiert die Vielfalt aktueller Bedeutungen der Lesarten darstellen zu können.195 Hinter dem ideengeschichtlichen Rekurs steht also die Annahme, dass man auf bestimmte kulturrelevante Aspekte der aktuellen planerischen Positionen und Entwurfsstrategien nur aufmerksam wird, wenn man die Genese der in ihnen verarbeiteten Ideen kennt. Man wird so allerdings nicht nur auf Kontinuitäten aufmerksam, sondern es fallen auch Differenzen zwischen den heutigen

192 Jäger (2001/2006: 105) verweist darauf, dass jeder synchrone Schnitt durch einen Diskursstrang auch diachron-historisch ist, da der Diskurs „geworden“ ist. Landwehr (2008: 97) schreibt in diesem Sinne: „Will man jedoch den diskursiven Fundamenten sozial konstruierter Wirklichkeiten auf den Grund gehen, bleibt kein anderer Weg als der historische – einfach deswegen, weil Diskurse keinen anderen ‚Grund‘ haben als ihre eigene Geschichte.“ 193 Vgl. auch Landwehr 2008: 32 f. 194 Mittelstraß 1995/2004: 184, Hervorh. V. V. 195 Das Vorgehen kann also doch als diachron bezeichnet werden, nämlich insofern, als die am historischen Material entwickelten Vorstellungen genutzt werden, um die heutigen Begriffe darzustellen und zu verstehen.

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und den historischen Begriffsbedeutungen auf, dann nämlich, wenn eine der Lesarten mit einer Vorstellung verknüpft wird, die aus der Ideengeschichte nicht bekannt ist. Der ideengeschichtliche Rückgriff hat also nicht bloß den Zweck zu zeigen, dass alles schon einmal da war. Es sollen vielmehr strukturelle sowie inhaltliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufgezeigt werden, so dass nicht nur die Kontinuitäten, sondern auch das spezifisch Neue am Diskursphänomen der Zwischenstadt verständlich wird.

2.5 B EDEUTUNGS - UND B EWERTUNGSABHÄNGIGKEIT DER L ESARTEN – EIN MEHRDIMENSIONALER ANALYSE UND I NTERPRETATIONSANSATZ Die Arbeit untersucht Entwurfsstrategien und planerische Positionen mit einem mehrdimensionalen Analyse- und Interpretationsansatz. Er unterscheidet drei verschiedene Ebenen: (1) Es gibt verschiedene Lesarten der Zwischenstadt: Sie kann als „Wildnis“, „Kulturlandschaft“ oder „Stadt“ interpretiert werden.196 In dieser Arbeit werden sie einzeln und in ihrem Verhältnis zueinander betrachtet, um das Phänomen der Zwischenstadt in seinen verschiedenen Facetten zu verstehen. (2) Dabei wird beachtet, dass die Bedeutungen der Lesarten nicht feststehen. Was jeweils unter einer der möglichen Interpretationen verstanden wird, variiert. Das spezifische Verständnis hängt vom jeweiligen Kontext ab, d. h. auch davon, gegen welche anderen möglichen Interpretationen die jeweilige Lesart ins Feld geführt wird. (3) Mit der jeweiligen Bedeutung einer Lesart alleine ist die Bewertung noch nicht vorgegeben. Sie ist abhängig von zugrunde liegenden Wertannahmen, und damit von der jeweiligen, die Position bestimmenden Weltanschauung. Die Unterscheidung dieser drei Ebenen bietet im Wesentlichen zwei Vorteile: Sie ermöglicht erstens einen kontrollierten Wechsel der Analyseebenen bzw. Interpretationsdimensionen. Dadurch ist es möglich, dem Diskursphänomen der Zwischenstadt als kulturelle Idee gerecht zu werden. Unterschiede und Verschiebungen der Bedeutungen und Bewertungen der Lesarten werden beschreibbar. Sie erscheinen nicht als Widersprüche, wie dies

196 Spätestens an dieser Stelle könnte die Frage auftreten, ob nicht metapherntheoretische Überlegungen eine sinnvolle oder sogar notwendige Ergänzung der hier angestellten methodischen Reflexionen wären. Dieser Einwand ist nicht unberechtigt. Dass die Metaphernanalyse hier keine Rolle spielt, liegt erstens daran, dass das den Rahmen gesprengt hätte. Zweitens wird bei den anderen methodischen Bausteinen bereits deutlich, dass mich die Lesarten nicht als Metaphern, sondern als Signalideen interessieren, auf deren Deutungsmuster als bedeutungsgenerierende Regulationsmuster es mir ankommt.

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in einem weniger komplexen Ansatz geschehen muss. Eindimensionalen Ansätzen ist es nämlich immer nur möglich, Begriffe zu definieren.197 Grundsätzlich unbeschreibbar bleibt für diese Ansätze die Angabe der Perspektive, aus der die Definitionen vorgenommen werden. Perspektivisierung setzt immer eine reflexive Betrachtung auf einer höheren Ebene voraus. Genau diese Metaebene198 werde ich in meiner Arbeit einnehmen. Dadurch wird die prinzipielle Abhängigkeit der Bedeutungen und Bewertungen von zugrundeliegenden politisch-kulturellen Mustern beschreibbar. Durch die dreifache Differenzierung ist es zweitens möglich, den bereits erwähnten Fallstricken der Ideengeschichte zu begegnen: Indem nämlich beachtet wird, dass die Bedeutung und Bewertung der Begriffe von kulturellen Variablen abhängt und sich mit diesen ändert, wird kein konstantes Wesen einer Idee angenommen. Es wird auch nicht vernachlässigt, dass sich eine Idee aus ganz unterschiedlichen Quellen speisen kann. So vermeide ich den der Ideengeschichte unterstellten Fehler, von einer Linearität und Zielgerichtetheit geschichtlicher Entwicklungen sowie von Ursprungsdenken („Kohärenzkredit“) auszugehen. Wie findet der mehrdimensionale Analyse- und Interpretationsansatz in der Arbeit Berücksichtigung? Im dritten Kapitel werden die Lesarten eingeführt (erste Ebene). In einer systematischen Analyse werden unterschiedliche Bedeutungen, die die drei Begriffe ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ jeweils annehmen können, herausgearbeitet, indem diese Begriffe einander in unterschiedlichen Kombinationen gegenübergestellt werden (zweite Ebene). Im vierten Kapitel, in dem ich das Interpretationsrepertoire auffächere, wird die Ebene der Bewertungen systematisch integriert, indem unterschiedliche Vorstellungen, die sich mit ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ verbinden, aus der Perspektive von vier Weltanschauungen dargestellt werden (dritte Ebene). Es wird deutlich werden, dass die Methode, die ich entwickle und anwende, geeignet ist, um mit der Komplexität des Diskurses angemessen umgehen zu können. „Angemessen umgehen“ bedeutet, ihn zu ordnen, und das heißt

197 Ein Beispiel, wie dies zu Widersprüchen führt: Eine gängige Definition von Kulturlandschaft ist, sie als „Raum“ zu begreifen, der „anthropogen beeinflusst“ ist. Das führt zu einer Auffassung, die davon ausgeht, dass „das gesamte Territorium der Bundesrepublik als Kulturlandschaft interpretiert werden“ muss, da „es in Deutschland keinen Raum gibt, der frei von anthropogenem Einfluss ist“ (Einig & Dosch 2008: I). Diese Position ist unvereinbar mit Auffassungen, die die Zersiedlung als Landschaftsverlust beschreiben (vgl. Lenz 1999) – denn wie könnte Landschaft verloren gehen, wenn jede menschliche Tätigkeit im Raum Kulturlandschaft hervorbringt? 198 Dass dieses „Meta“ nicht „im Sinne eines überlegenen Standpunktes ‚Darüber‘, sondern nur mehr ein ‚Meta‘ als ‚Dazwischen‘“ sein kann, zeigt Wirth (2008: 66).

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immer auch Vereinfachungen als Komplexitätsreduzierungen vorzunehmen, ihn aber dennoch nicht über Gebühr zu vereinfachen, im Gegenteil: Die entwickelte Methode ist nicht eine Reduktion in dem Sinne, dass sie die Vielfalt der realen Positionen verschwinden lässt, indem sie sie in wenige theoretische Schubladen zu pressen versucht. Sie erlaubt es vielmehr, diese Vielfalt präzise zu fassen, ja sogar eine noch größere Vielfalt erkennen zu lassen, als man auf den ersten Blick, an der Diskursoberfläche sieht, weil sie Differenzen zwischen zunächst gleich oder ähnlich scheinenden Auffassungen und Aussagen erkennen lässt. Mit dem angemessenen Umgang ist also auch nicht gemeint, sich angesichts der überwältigend scheinenden Komplexität auf eine reine Beschreibung zurückzuziehen oder den Anspruch auf jegliche Systematik fallen zu lassen. Insofern ist meine Methode eine Reaktion auf die in der Einleitung angesprochene Unübersichtlichkeit des Zwischenstadt-Diskurses und ein Beitrag dazu, ihn wenigstens in bestimmten Hinsichten überschaubar zu machen.

3. Ausführlicher Problemaufriss – eine erste Ordnung des Diskurses nach Grundhaltungen und Lesarten

In diesem Kapitel, das als ausführlicher Problemaufriss konzipiert ist, nehme ich eine erste Ordnung des Diskurses vor. Ich greife zu diesem Zweck auf diskursinterne Ordnungsmuster zurück, die ich präzisiere und kombiniere. Damit erfüllt das Kapitel eine doppelte Funktion: Es führt erstens in den stadt- und landschaftsplanerischen Diskurs um die Zwischenstadt ein. Dazu spanne ich ein Feld sogenannter Diskurspositionen auf. Darunter verstehe ich diejenigen Auffassungen, die sich aus der Kombination möglicher Grundhaltungen zur Zwischenstadt mit ihren verschiedenen Lesarten ergeben. Eine „Grundhaltung“ beschreibt, wie die Zwischenstadt bewertet und welche grundlegende Einstellung ihr gegenüber eingenommen wird, d. h. ob man ihr feindlich oder euphorisch gegenübersteht oder eine vermittelnde Position vertritt. Unter einer „Lesart“ verstehe ich eine ganz bestimmte Weise der Interpretation der Zwischenstadt, nämlich ob man sie als „Wildnis“, als „Kulturlandschaft“ oder als „Stadt“ deutet. Die zweite Funktion des Kapitels ist zu zeigen, dass die diskursintern vorgenommene Sortierung anhand der Grundhaltungen und Lesarten den Diskurs nur auf einer oberflächlichen Ebene ordnet. Für eine tiefergehende Analyse werden daher die weltanschaulichen und ideengeschichtlichen Hintergründe, auf denen die Diskurspositionen jeweils basieren, in den Blick genommen. Warum verwende ich den Begriff der ‚Zwischenstadt‘? Er ist vielfach kritisiert worden. So wird vor allem eingewendet, dass der Begriff unpräzise sei. Mit ihm könne gar nicht genau definiert werden, was eine Zwischenstadt sei und welche Siedlungs- und Landschaftsformen zu ihr zählen. Diese Ungenauigkeit rühre zum Großteil daher, dass er das, was er eigentlich bezeichne, nur negativ fasse. In eine andere Richtung laufen Einwände, die in Frage stellen, ob der Begriff nicht ein Phänomen bezeichne, das in den stadt- und landschaftsplanenden Disziplinen altbekannt sei und keiner neuen Betrachtungsweise bedürfe. Außerdem gibt es neben „Zwischenstadt“ eine

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Vielzahl von Begriffen,1 die dasselbe Phänomen oder ähnliche Erscheinungen präziser zu fassen scheinen. Aus einer Reihe von Gründen habe ich mich dennoch dafür entschieden, den Begriff der ‚Zwischenstadt‘ als Sammelbegriff für alle anderen Bezeichnungen zu verwenden. (1) Ein historischer Grund spricht dafür. Der Diskurs ist in Deutschland nach dem Erscheinen von Sieverts’ Buch mit neuer Intensität geführt worden. Da ich mich auf den Diskurs ab diesem Zeitpunkt konzentriere, ist es sinnvoll, sich auch auf den Begriff, der den Ausgangspunkt der Debatte markiert, zu beziehen. (2) Im Gegensatz zu Bezeichnungen wie „Zersiedlung“ oder „Wucherung“ enthält sich ‚Zwischenstadt‘ einer Wertung. (Dies allein wäre freilich keine ausreichende Begründung, da z. B. „suburbaner Raum“ oder „städtische Agglomeration“ ebenfalls keine Bewertung implizieren.) (3) Die große Mehrzahl der Begriffsalternativen wie ‚urbane Landschaft‘ oder ‚Suburbia‘ ist nicht präziser als die Bezeichnung „Zwischenstadt“, und es ist bei vielen von ihnen ebenfalls umstritten, ob sie tatsächlich neue Phänomene beschreiben oder ob bestenfalls neue Facetten an Bekanntem betont werden („Exurbia“). (4) Die unterstellte mangelnde Genauigkeit der Definition ist für meine Arbeit unproblematisch. Denn ihr Gegenstand ist ja nicht das physisch-materielle Phänomen, sondern der Diskurs über dieses. Es ist daher kein Problem, dass sich nicht genau bestimmen lässt, welche Siedlungsformen eigentlich zur Zwischenstadt zählen und welche nicht. Selbst wenn sich herausstellte, dass der Begriff gar kein neues Phänomen bezeichnet oder dass es die Zwischenstadt gar nicht als physisch-materielles Phänomen gibt, so gäbe es doch nach wie vor den Diskurs über sie. (5) Man könnte sogar sagen, dass es gerade die Unschärfe des Begriffs ist, die ‚Zwischenstadt‘ für mich zu einem geeigneten Sammelbegriff macht. Denn präzisere Begriffe können sich nur auf be-

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In der Literatur wird häufig auf die Vielzahl an Bezeichnungen für das Phänomen hingewiesen, z. B. Borsdorf & Mayer 2003; Kaltenbrunner 2004: 55; Mutschler 2007: 329; Wolfrum 2008. – Die folgende Liste kann keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, gibt aber einen Eindruck der Begriffsvielfalt: „Netzstadt“ (Baccini & Oswald 1999; Oswald & Baccini 2003), „urbane Landschaft“ (z. B. Seggern et al. 2008), „Peripherie“ (z. B. Caminda 2004; Hatzfeld & Roters 1998; Hubeli 1988; Kaltenbrunner 1998; Mönninger 1996; Neumeyer 1995; Prigge 1998; Westphalen 2004), „städtische Agglomeration“, „Metropolregion“, „Suburbia“ (besonders im nordamerikanischen Diskurs Archer 2005; Beuka 2004; Blauvelt 2008; Duany et al. 2000; Fishman 1987; Fogelson 2005; Hayden 2004; Jackson 1985; Nicolaides & Wiese 2006; Stilgoe 1988; in Deutschland spricht man eher vom „suburbanen Raum“, z. B. Breuste 2001; Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung 2004; Clemens 2001; Kunzmann 2001; Matthiesen 2004; Priebs 2006), „Exurbia“ (z. B. Clark et al. 2009; Nelson & Sanchez 1999; Spectorsky 1955); „Tussenland“ (Johann 2008), und viele mehr.

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stimmte Aspekte dessen beziehen, was mit ‚Zwischenstadt‘ immer auch gemeint ist. 2 Um in den Diskurs über die Zwischenstadt einzuführen und eine erste Ordnung zu erstellen, erläutere ich zunächst die verschiedenen Lesarten (Kapitel 3.1) und gehe dann auf die unterschiedlichen Grundhaltungen ein (Kapitel 3.2), um abschließend durch Kombination beider die Diskurspositionen zu formulieren (Kapitel 3.3). Im letzten Unterkapitel (3.4) ziehe ich ein Zwischenfazit.

3.1 L ESARTEN DER Z WISCHENSTADT – „W ILDNIS “, „K ULTURLANDSCHAFT “ UND „S TADT “ Neben vielen anderen Lesarten werden „Wildnis“, „Kulturlandschaft“ und „Stadt“ als Interpretationshilfen zum Begreifen der hybriden Landschaften herangezogen. Sieverts schreibt beispielsweise bei der Einführung des Begriffs „Zwischenstadt“, dass sie „sowohl städtische wie landschaftliche Eigenschaften“3 besitze. Ähnliche Überlegungen stellt auch Koll-Schretzenmeyer an: „Die Lesarten der ‚Zwischenstadt‘ sind vielfältig: Je nach Ausprägung und je nach Blickwinkel kann man sie mehr als Landschaft oder mehr als Siedlung begreifen. Stadt im Sinne der ‚Alten Stadt‘ ist sie nicht, und Land im traditionellen Sinne ist sie auch nicht.“4 Die Zwischenstadt wird aber nicht nur mithilfe der Kategorien bzw. zwischen ‚Stadt‘, ‚Land‘ und ‚Landschaft‘ verortet, sondern auch zwischen letzterer und ‚Wildnis‘. Wie schon in der Einleitung zitiert, heißt es beispielsweise bei Sieverts: „Die Lesart der Peripherie als Wildnis ist das Gegenstück zur Lesart der Peripherie als Landschaft. Beide Lesarten sind be-

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3 4

Beispielsweise bezeichnet ‚Zwischenstadt‘ nicht nur einfach den Rand der Stadt (also den ‚suburbanen Raum‘ oder die ‚Peripherie‘), sondern das, was zwischen den Städten liegt und doch nicht einfach wie bisher Landschaft ist, sondern selbst eine Art Stadt, aber doch nicht einfach Stadt ist, wie andere Begriffe dies suggerieren. Ähnlich kann man gegen die Verwendung anderer Bezeichnungen argumentieren: Beispielsweise kann man gegen ‚Netzstadt‘ anführen, dass dieser Begriff den Aspekt der Fragmentiertheit vergessen macht, und auch „Metropolregion“ scheint unangemessen, weil man zwischenstädtische Situationen auch fernab von Metropolregionen antreffen kann. Insofern gibt es auch in semantischer Hinsicht gute Gründe, die als „Suchbegriff“ eingeführte Bezeichnung ‚Zwischenstadt‘ nicht vorschnell aufzugeben. Sieverts 1997: 14. Koll-Schretzenmeyer 2007: 6.

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rechtigt, sowohl als Interpretationshilfen als auch durch das konkrete Erleben städtischer Peripherien.“5 In diesem Unterkapitel werde ich begründen, warum ich aus der Vielzahl kursierender Lesarten „Wildnis“, „Kulturlandschaft“ und „Stadt“ zur Analyse ausgewählt habe. Dabei werden implizit auch Kernbedeutungen der drei Ideen erkennbar. Vier Gründe haben für die Analyse dieser drei Lesarten gesprochen: (1) Ich habe sie häufiger im Diskurs gefunden als andere, was darauf hindeutet, dass sie hier eine größere Bedeutung haben als andere. (2) Sie werden zur Diskursordnung bereits herangezogen; es handelt sich bei den drei Lesarten also um ein zumindest im Ansatz untersuchtes Ordnungsmuster, auf dem aufzubauen sich anbietet. (3) Eine intensive und systematische Auseinandersetzung besonders mit der metaphorischen Lesart „Wildnis“ steht noch aus.6 (4) ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ sind heuristisch äußerst fruchtbare Begriffe zur Ordnung des Diskurses. Ein Grund für diese Fruchtbarkeit kann darin gesehen werden, dass unter einer bestimmten Perspektive die ausgewählten Lesarten zusammen als eine vollständige Typisierung von Landnutzungsformen gelten, d. h. dass es keine Form der

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Sieverts 1997/2001: 56. Verwendet wird die Lesart „Wildnis“ für die Zwischenstadt zwar recht häufig, reflektiert wird sie allerdings bestenfalls in Ansätzen (Vöckler 1998: 277 sowie in eigenen Arbeiten, siehe Vicenzotti 2006; 2008; Vicenzotti & Trepl 2009). Häufiger trifft man auf Analysen der Wildnismetapher für die (Groß-)Stadt (z. B. Fischer 1990; 1997; Frank 2003; Light 1996; Lindner 2004; Trepl 1998: 84). Zahlreich sind Analysen des Verhältnisses von Stadt und Wildnis hingegen im Kontext von Architektur und Planung als Überlegungen zu Natur in der Stadt, in der Zwischenstadt oder auf Industriebrachen (z. B. Becker & Giseke 2004; Dettmar 2005; Diemer et al. 2003; 2004; Held & Sinner 2002; Henne 2004; Hofmeister & Meyer 2002; Jessel 2002; Kowarik 2004; Kowarik et al. 2004; Lohrberg 2009; Pütz 2004; Rink 2004; Rösler 2004). – Auch auf die Interpretation der Zwischenstadt als „Kulturlandschaft“ trifft man wiederholt, auf Reflexionen über die Implikationen hingegen seltener (z. B. Hokema 2009; Matthiesen 2006); einige für diese Frage relevante Aspekte werden auch in der Dauerdebatte um die „Landschaft Drei“ thematisiert (Eisel 2007; 2008; Körner 2006; Lorberg 2008; Prominski 2004b; 2004a; 2006; Rekittke 2007; Schöbel-Rutschmann 2007; Trepl 2009 sowie weitere Beiträge in Eisel & Körner 2009.) – Die Lesart der Zwischenstadt als „Stadt“ ist beispielsweise im Umkreis des „Ladenburger Kollegs“ thematisiert worden (z. B. Beiträge in Bölling & Sieverts 2004 und in Sieverts et al. 2005; Bormann et al. 2003; in gewisser Hinsicht, dass nämlich Urbanität alle Winkel der Welt bzw. der Schweiz ergriffen habe, auch bei Diener et al. 2006a; 2006b; 2006c; Eisinger 2003; vgl. auch Koolhaas et al. 2001). Allerdings wird auch hier die Lesart der „Stadt“ eher argumentativ für die Begründung der eigenen Planungshaltung eingesetzt; es wird weniger über die Bedeutungen dieser Lesart reflektiert.

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Landnutzung gibt, die sich nicht einer der drei Typen zuordnen ließe. Einflussreiche Theorien über den Prozess der Zivilisation beschreiben, dass aus der ursprünglichen Wildnis zunächst Kulturlandschaft hervorging, in der sich dann Städte als kulturelle Zentren herausbildeten. Dieses Argument soll hier aber nicht weiter verfolgt werden. Wenn man die drei Lesarten nicht nur einzeln, sondern auch in ihrem Verhältnis zueinander analysiert, kann man eine Vielzahl verschiedener Vorstellungen, die sich mit ihnen verbinden, differenzieren. Und je differenzierter das Verständnis der Lesarten ausfällt, desto differenzierter können die Diskurspositionen analysiert werden, die sich dieser Lesarten bedienen. Warum eine Untersuchung von Lesarten in Diskursen stadt- und landschaftsgestaltender Disziplinen aufschlussreich ist, kann ich hier nur andeuten.7 Man sieht den Wert von Analysen von (metaphorischen) Lesarten in der Reflexion handlungsleitender Ideen: Diese Analysen können aufdecken, auf welche Vorstellungen und Denkmuster Entwürfe und Planungen rekurrieren, und sie können dazu anregen, über die oft nicht bewussten Implikationen der verwendeten Lesarten nachzudenken. In unserem Zusammenhang erscheint besonders wichtig, dass jede Lesart bestimmte Facetten an der Zwischenstadt hervorhebt und das Augenmerk auf solche Aspekte lenkt, die unter einer anderen Perspektive vielleicht ausgeblendet bleiben würden. Durch eine Akzentverschiebung offenbart sich die andere Seite der Medaille: Jede Lesart öffnet nicht nur neue Blickwinkel, sondern verschließt auch andere. Nach einer Anmerkung zum metaphorischen bzw. eigentlichen Charakter der Lesarten werde ich genauer darauf eingehen, dass die Bedeutungen der drei Begriffe keineswegs unveränderlich gegeben sind. Ihr spezifisches Verständnis hängt vielmehr vom jeweiligen Kontext ab, d. h. auch davon, gegen welche anderen möglichen Interpretationen die jeweilige Lesart ins Feld geführt wird. Dadurch wird deutlich, dass das Ordnungsprinzip der Lesarten gut geeignet ist, das Diskursfeld zu analysieren, weil es der Komplexität und Vielschichtigkeit der Diskussion angemessen ist. Es wird sich aber auch zeigen, dass durch die hier getroffene Differenzierungen die Vieldeutigkeiten der Zwischenstadt-Interpretationen zwar abgebildet, aber (noch) nicht erklärt werden können.

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Verwiesen sei auf Oswald & Baccini (2003: 37), die Metaphern unter anderem einen heuristischen Wert für das Verständnis der Funktionen und Zusammenhänge in komplexen räumlichen Situationen zuschreiben. Zu einer Analyse von Metaphern und Lesarten im Kontext räumlicher Planung z. B. Baeten 2001; Forster 2003; Forsyth 1999; Light 1996; Marcuse 1989; Qviström 2008; Spiegel 1997; Smith 1996. Zu Metaphern und ihrer Analyse allgemein z. B. Blumenberg 1960/2010; Coenen 2002; Lakoff & Johnson 1980/2000; Maasen & Weingart 2000; Weinrich 1980; Willer 2004.

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‚Wildnis‘ als metaphorische Lesart für die Zwischenstadt Alle drei Begriffe, ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘, finden zwar im Diskurs als Lesarten Verwendung. Sie unterscheiden sich aber, wie in der Einleitung angesprochen, nicht nur semantisch, sondern auch in ihrem Charakter: „Stadt“ und „Kulturlandschaft“ sind Lesarten in einem eigentlichen Sinn, „Wildnis“ hingegen ist eine metaphorische Lesart. Wenn man also die Zwischenstadt als „Stadt“ deutet, so soll ausgedrückt werden, dass sie sich in dieser oder jener wesentlichen Hinsicht nicht von den kompakten Kernstädten unterscheide. Wenn die Zwischenstadt als „Kulturlandschaft“ interpretiert wird, so ist gemeint, dass sich die Kulturlandschaft selbst gewandelt hat und nun nicht mehr nur aus Feldern, Hecken und Hutewäldern besteht, sondern eben auch Elemente des zeitgenössischen Lebens umfasse: Gewerbegebiete, Einfamilienhaussiedlungen, Infrastrukturen etc. Redet man jedoch über die Zwischenstadt als „Wildnis“, so ist damit immer gemeint, dass sie in bestimmter Hinsicht wie eine Wildnis sei, also beispielsweise unkontrollierbar oder unübersichtlich. Um verständlich zu machen, in welchem Sinne die metaphorische Lesart „Wildnis“ zur Charakterisierung der Zwischenstadt verwendet wird, werde ich im Folgenden einige ihrer Facetten erläutern. Teils geht es im Diskurs explizit um Wildnis, wie bei Vöckler, wenn er schreibt, dass die Peripherie „zumeist als Wucherung, Wildwuchs oder Wildnis“8 charakterisiert werde, oder auch bei Sieverts: „In den hochindustrialisierten Ländern Mitteleuropas gibt es kaum ein Milieu, auf das der Begriff Wildnis so zutrifft wie auf die Zwischenstadt.“9 Teils werden der Zwischenstadt Eigenschaften zugeschrieben, die sie implizit als Wildnis charakterisieren. Wildnis gilt vor allem als bedrohliche Natur. Dies ist sie primär deshalb, weil sie unkontrollierbar ist. So auch die Zwischenstadt, sie erscheint als ungeplant und mehr noch: als nicht planbar. Bei Sieverts heißt es, dass die „Zwischenstadt […] – viel stärker noch als die Alte Stadt – Produkt evolutionärer, nicht ganzheitlich planbarer Kräfte“10 sei. Obwohl sie durch jeweils für sich genommen rationale Einzelentscheidungen zustande komme, wirke die „diffuse Stadt […] insgesamt ‚planlos‘“11. Wie die Natur-Wildnis kann auch die „wilde“ Zwischenstadt die Rolle des Anderen als Gegensatz zur Kultur übernehmen. Bittner bezeichnet die

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Vöckler 1998: 277. – „Wildwuchs“ wird beispielsweise verwendet bei Scheller 2007: 21; vgl. Clemens 2001: 60, 121; Körner 2004: 203; Lootsma 2004: 8; Schubert 2001: 284; Stein & Schultz 2005: 1. Zu „Wucherung“ vgl. Borsdorf & Mayer 2003; Kaltenbrunner 2004: 56; Kühn 2004: 69; Mutschler 2007: 329; Priebs 2006. 9 Sieverts 1997: 56. 10 Sieverts 2004: 19. 11 Sieverts 1997: 15.

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wuchernde Stadt als „das Ausgegrenzte, Unbewußte, das Andere, das dem Zugriff des Zentrums entzogen“12 scheine. Die Parallele lässt sich weiter spinnen: In archaischen Gesellschaften war mit dem Gang in die Wildnis zu Initiationszwecken eine zeitweilige Aufgabe der eigenen Identität verbunden.13 Zeitgenössische Architekten und Planer sprechen von einer Auflösung von Ich-Idenität, die in der wuchernden Stadt zu erfahren sei. So plädiert Vöckler für eine Lesart der Peripherie, die „zur Nichtidentität befreien“14 würde. Häufig wird mit „Wildnis“ hervorgehoben, dass die Zwischenstadt chaotisch und ohne jede erkennbare Ordnung sei. Das wird an Beschreibungen deutlich, bei denen die in ihr vorkommenden Elemente einfach nacheinander aufgezählt werden. Da kein Ordnungsprinzip zu erkennen ist, können auch die Elemente nur unsystematisch und gleichsam willkürlich gereiht wiedergegeben werden – so beispielsweise bei Böhringer, der die Zwischenstadt als „ein Durcheinander“ beschreibt: „neugebaute, oft schon verwahrloste Vorstädte, Trabantenstädte, Villengegenden, Siedlungen mit Doppelhausreihen, Betriebshöfe, Großmärkte, Einkaufszentren, Industriegebiete, Müllkippen, Flughäfen, von der Stadt eingeholte Dörfer, freistehende Bauernhöfe, mit Wohngemeinschaften von Hochschulprofessoren und Designern, oder auch Reiterhöfe“.15

Sieverts bezeichnet die Zwischenstadt als „anaesthetische Wüste“16, womit er meint, dass sie einer ästhetischen Wahrnehmung unzugänglich sei. Hauser deutet diese Charakterisierung als „verallgemeinerten Verzicht auf die Erzeugung vermittelbarer und zustimmungsfähiger Formen der räumlichen Gestaltung“17. Die Zwischenstadt wird also auch als identitäts- und zeichenloser Ort beschrieben, eine Eigenschaft, die auch der landschaftlichen Wildnis zugeschrieben wurde.18

12 Bittner 1998: 369. 13 Siehe zur Identitätsaufgabe in archaischen Gesellschaften beim Gang in die Wildnis beispielsweise Bataille 1984 und Duerr 1978. 14 Vöckler 1998: 286. 15 Beide Zitate Böhringer 1998: 360. 16 Sieverts 1998: 468. – Ausführlich dazu siehe Kapitel 5.1. 17 Hauser 2004: 209. 18 Diesen Aspekt vertieft Kangler (2006: 240) unter dem Stichwort der „unbekannten Wildnis“. Dieser sei „gerade wesentlich, dass ihr Ort nicht konkret ist, ihre Lage unbekannt bleibt.“

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‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ als kulturell konstituierte Objekte Unterschiedliche Bedeutungen von ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ als Lesarten zu beschreiben, impliziert, sie als kulturelle und historische Phänomene zu behandeln.19 Das mag besonders im Fall von ‚Wildnis‘ Irritationen hervorrufen. Denn Wildnis gilt im Alltagsverständnis, aber auch in vielen wissenschaftlichen Veröffentlichungen beispielsweise aus dem Naturschutz und der Landschaftsplanung als ein Raum, der sich so charakterisieren lässt: Wildnis sei „vom Menschen unberührte Natur“, zeichne sich durch „Dynamik von Naturprozessen“ aus, die Flächen müssten eine bestimmte Größe aufweisen, damit sie sich „ungestört“ entwickeln können usw.20 Vor dem Hintergrund dieses Wildnisverständnisses wäre es in der Tat absurd, Zwischenstadt als „Wildnis“ zu bezeichnen. Der Raum, in den sich die Zwischenstadt ausgebreitet hat, kann niemals „Wildnis“ in diesem Sinne sein. Im Gegenteil: Zwischenstadt ist dann das, was die Wildnis zerstört. In dieser Arbeit wird aber Wildnis nicht als ein Raum mit bestimmten Eigenschaften aufgefasst, sondern sie interessiert als ein kulturelles und ein historisches Phänomen, als ein kulturell konstituiertes Objekt.21 Damit ist nicht in einem radikal-konstruktivistischen Sinne gemeint, dass Wildnis nur ein Produkt des menschlichen Geistes sei. Nur die Bedeutung von Wildnis ist, wie die aller anderen Dinge, kulturabhängig, und es ist erst diese Bedeutung, die uns die Dinge überhaupt als bestimmte Objekte aus der unendlichen Vielfalt der Wirklichkeit auswählen und erkennen lässt (siehe Kapitel 2.2). Diese Perspektive lenkt den Blick darauf, dass ‚Wildnis‘, ebenso wie ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘, in verschiedenen kulturellen Zusammenhängen unterschiedliche Bedeutungen haben und mit unterschiedlichen Bewertungen verknüpft sein kann. In einem ersten Schritt sollen hier daher verschiedene Bedeutungen dieser drei Begriffe differenziert werden. (Der zweite Schritt

19 Wildnis in diesem Sinn als kulturelle Idee zu betrachten hat in den Geistes- und Geschichtswissenschaften Tradition, siehe z. B. Dirlinger 2000; Duerr 1978; Groh & Groh 1991: 92-149; Lewis 2007; Nash 1967/2001; Schama 1996; Stremlow & Sidler 2002; Wozniakowski 1987; für die Diskussion in Naturschutz, Landschaftsplanung und Landschaftsarchitektur siehe Cronon 1995; Elitzer et al. 2005; Hoheisel et al. 2005; Hoheisel et al. 2010; Kangler 2006; Kangler & Vicenzotti 2007; Kangler 2008; Kangler 2009; Schwarzer 2007; Trepl 1998; Vicenzotti 2007. 20 Stellvertretend für viele ähnliche Definitionen sei auf Broggi (1999: 4) verwiesen. 21 Davon ist freilich unberührt, dass Gegenden, um als „Wildnis“ wahrgenommen zu werden, bestimmte Eigenschaften wie die oben genannten aufweisen müssen. Aber man verkennt den Charakter von Wildnis, wenn man versucht, sie allein über die Raumeigenschaften zu definieren (vgl. Vicenzotti 2007: 19 f.).

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zur Differenzierung unterschiedlicher Vorstellungen der Lesarten erfolgt in Kapitel 4.) Bedeutungen der drei Lesarten Was jeweils unter der Idee, die als Lesart benutzt wird, verstanden wird, ist keineswegs so fest umrissen, wie man vielleicht glauben mag. Die Bedeutungen, die die drei Lesarten annehmen können, ist durch das Verhältnis bestimmt, in dem die Begriffe zueinander stehen: Je nach Allianzbildung in der Begriffstriade werden unterschiedliche Momente der einzelnen Ideen betont.22 ‚Wildnis‘ wird zunächst und zumeist als Gegenpol zu ‚Kulturlandschaft‘ begriffen: Sie wird als eine von Menschen unberührte (oder wenigstens unkultivierte), gefährliche, unberechenbare und freie Natur gesehen. Kulturlandschaft hingegen ist bearbeitete, nutzbringende und genutzte, eben kultivierte Natur. Stadt kann nun einerseits als Ort geordneter und zivilisierter Lebensverhältnisse gelten, oder aber als neue und eigentliche Wildnis bzw. Verwilderung verstanden werden. Auch die Bedeutungen von ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Wildnis‘ können von den gerade genannten abweichen. Um mögliche Bedeutungsfacetten der drei Begriffe systematisch zu analysieren, gruppiere ich jeweils zwei Begriffe und stelle sie gegen den dritten, verbleibenden. Man kann dann erstens das Gemeinsame von ‚Stadt‘ und ‚Wildnis‘ betonen und es gegen ‚Kulturlandschaft‘ stellen. Stadt und Wildnis sind dann Orte der Unordnung, der Gefahr und der Unkontrolliertheit, an ‚Kulturlandschaft‘ werden die Aspekte Ordnung, Harmonie und Kontrolliertheit betont. Zweitens gibt es die Möglichkeit, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ gemeinsam ‚Wildnis‘ gegenüberzustellen. Dadurch wird an ‚Wildnis‘ hervorgehoben, dass sie von Menschen unkultivierte, ja unberührte Natur ist. Stadt und Kulturlandschaft hingegen erscheinen als künstliche23, d. h. menschengemachte Produkte, als Kulturprodukte. Natur ist hier im Gegensatz zur dritten Gegenüberstellung nicht prinzipiell unkontrollierbar: Kulturlandschaft als kulturell angeeignete Natur hat den Schrecken der Wildnis verloren. Die dritte und letzte Kombinationsmöglichkeit betont das Gemeinsame von ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Wildnis‘ und stellt beide gegen ‚Stadt‘. An die-

22 Die Konstellation in der Begriffstriade ist – das wird ein Ergebnis dieses Kapitels sein – nicht der eigentliche Grund für die unterschiedlichen Bedeutungen der Ideen. Die Bedeutungen sind, wie in Kapitel 4 dargestellt wird, durch weltanschauliche Hintergründe bestimmt. Auf die hier getroffenen Differenzierungen kann man jedoch zunächst auch kommen, ohne diesen Aspekt zu berücksichtigen. 23 „Künstlich“ wird hier (neutral) im genetischen Sinne gebraucht und bezeichnet, dass etwas von Menschen absichtlich hergestellt ist. Im normativen Gebrauch ist der Begriff „künstlich“ heute eher pejorativ (vgl. Spaemann 1991: 152 f.).

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ser wird hervorgehoben, dass sie künstliches Produkt menschlicher Tätigkeiten, kulturelle Leistung ist. An ‚Wildnis‘ und ‚Kulturlandschaft‘ wird deren natürliche Seite hervorgehoben. Auch Kulturlandschaft erscheint dann als (landschaftliche) Natur, die zwar gestaltet, aber in erster Linie etwas Natürliches ist und als solches nicht vollkommen beherrscht oder beherrschbar und technisiert. Sie ist vielmehr auch – als naturwüchsig Entstandenes – unverfügbar. „Naturwüchsig“ meint in diesem Zusammenhang nicht nur natürlich in dem Sinn, dass sie nicht von Menschen beeinflusst ist, sondern auch und vor allem, dass die Kultur nichts rational Geplantes ist; vielmehr ist sie „historisch gewachsen“. Insofern ist ihr mit ‚Wildnis‘ durchaus eine im Vergleich zum kulturellen Wesen der Stadt gegebene Fremdheit, Unberechenbarkeit und Unverfügbarkeit gemeinsam. Anders als in der zweiten Konstellation, bei der nur Wildnis als bedrohliche und unkontrollierbare Natur erscheint, kann hier Kulturlandschaft, weil und insofern sie Natur ist, nie vollkommen beherrscht werden. Eine weitere Gemeinsamkeit von ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Wildnis‘, die in dieser Kombination hervorgehoben wird, ist die Idee der Harmonie. Wildnis kann dann als harmonisch gedacht werden, wenn sie, was durchaus geschieht, als Paradies gesehen wird. – Je nach Konstellation in der Begriffstriade schiebt sich also ein anderes Bedeutungsmoment eines jeden Begriffs in den Vordergrund. Es zeigt sich also, dass jeweils sehr Verschiedenes gemeint sein kann, wenn die Zwischenstadt als „Wildnis“, als „Kulturlandschaft“ oder als „Stadt“ gedeutet wird. Im Folgenden werden die Grundhaltungen zur Zwischenstadt, nämlich die ablehnende, die euphorische und die vermittelnde Position, vorgestellt. Dabei ist die Frage nach einer möglichen Verbindung bestimmter Lesarten mit bestimmten Grundhaltungen im Kopf zu behalten: Wie kombinieren sie sich? Sind bestimmte Lesarten nur vor dem Hintergrund bestimmter Grundhaltungen möglich, bzw. legen bestimmte Lesarten fest, wie man die Zwischenstadt bewertet?

3.2 G RUNDHALTUNGEN ZUR Z WISCHENSTADT – G EGNER , E UPHORIKER UND Q UALIFIZIERER „Die Stadt […] wandelt sich zu etwas Neuem, das wir je nach Vorerfahrung und innerer Einstellung unterschiedlich wahrnehmen und bewerten. War seit etwa einer Generation der Bewertungsmaßstab die idealisierte Alte Stadt, so ist die Einstellung gegenüber der Zwischenstadt zur Zeit im Wandel begriffen: Nach einer grundsätzlichen Verdammung der ‚krebsartigen Wucherungen des Landschaftsfraßes‘ ist das Urteilspendel bei einer bestimmten ‚Schule‘ von Architekten und Stadtplanern – anknüpfend an Venturis Learning from Las Vegas, und gegenwärtig festgemacht an einer etwas modischen Tokio-Begeisterung – inzwischen schon zum Teil umgeschlagen in eine unkritische Begeisterung über den ‚fraktalen Reichtum‘ und die ‚anarchische Dynamik‘ der Zwischenstadt. Wir wollen beide Sichtweisen vermeiden, indem wir einerseits möglichst nüchtern die Potentiale der Zwischenstadt aufspüren, ande-

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rerseits die aufgelöste Stadt auch mit sozialen und kulturellen Problemen konfrontieren“.24

In diesem Zitat verortet Sieverts seine Haltung zu den urbanisierten Landschaften, die er in seinem Buch Zwischenstadt erarbeitet, im Feld verschiedener Auffassungen. Er positioniert sich in der Mitte zweier Pole: Als einen identifiziert er die Auffassung, die sich an der traditionellen europäischen Stadt als Leitbild orientiert und die vor diesem Hintergrund die urbanisierten Landschaften nur verdammen kann. Am entgegengesetzten Pol verortet er die, wie er meint, unkritische Begeisterung für die urbanisierten Landschaften. Wie in der Einleitung bereits angedeutet, ist eine solche Differenzierung verschiedener Auffassungen zur Zwischenstadt auf einer moralischpraktischen Ebene, auf der danach gefragt wird, wie die Zwischenstadt zu bewerten sei, nicht ungewöhnlich (siehe Kapitel 1). Manchmal werden bei diesen bestehenden diskursinternen Ordnungsvorschlägen zwei, manchmal drei Haltungen formuliert; unterschiedlich sind auch die Kriterien, nach denen die Einteilung erfolgt.25 Ich greife dieses bestehende Ordnungsprinzip auf und formuliere drei Grundhaltungen zur Zwischenstadt, deren Vertreter ich als „Gegner“, „Euphoriker“ und „Qualifizierer“ der Zwischenstadt bezeichne.26 Jede dieser Auffassungen entwickelt spezifische Strategien zur Gestaltung und Planung der Zwischenstadt, da auf ihre jeweils unterschiedlich wahrgenommenen und bewerteten Stärken und Schwächen verschieden reagiert wird. Ich for-

24 Sieverts 1997: 65. 25 Siehe neben ebd. auch Schultheiß 2007; Zenghelis 1995: 62-64. – In der Diskussionsdokumentation zum Buch Zwischen Stadt Entwerfen verortet auch Schröder das Entwurfskonzept des Autorenteams um Bormann als dritten Weg zwischen zwei Extremen: „Und dieses Verfahren [das der Autoren] ist eine Art dritter Weg. Der erste wäre die Ablehnung [der Zwischenstadt] als klassische Antihaltung, bei der man dem Gegegebenen ein anderes Modell, eine neue Realität gegenüberstellen will. Der zweite Weg wäre rein affirmativ: ‚Wir finden alles gut, so wie es ist.‘ Ich glaube, beide Wege führen nicht weiter. Der dritte Weg wäre: Wie können wir mitnehmen, was wir vorfinden? Können wir damit arbeiten? Kann es eingespeist werden in den Entwurfsprozess?“ (Martin Schröder in Bormann et al. 2005: 180). Zwei Typen formuliert z. B. Otto 2006: 7, 29-31. 26 Mein Vorschlag baut wesentlich auf einer Arbeit von Gabriele Schultheiß (2007) auf, konstruiert die Typen jedoch anders. Schultheiß entwickelt sie als Grundlage einer kritischen Analyse der den Gestaltungsstrategien zugrunde liegenden ästhetischen Paradigmen. Sie stellt dar, dass und in welche Aporien sie sich jeweils verstricken müssen, so dass sie letztlich in der Praxis scheitern müssen und, aufgrund der in ihren Augen prekären politisch-ideologischen Implikationen, auch scheitern sollen. Ich folge ihr zwar weitgehend in der Aufteilung der Typen und der Anlage der Kriterien zu dieser Typisierung, nicht jedoch in dieser letzten Schlussfolgerung.

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muliere die Grundhaltung als Idealtypen. Das bedeutet, darauf sei hier nochmals explizit verwiesen, dass es in der Realität keinen Planer oder Architekten gibt, der ganz einem der drei beschriebenen Pole entspricht. Wenn ich dennoch einzelne Protagonisten anführe und zitiere, dann geschieht das nur, um den Idealtyp zu illustrieren (siehe dazu ausführlich Kapitel 2.2).27 Zur Entwicklung der Typen bin ich streng systematisch vorgegangen. Als Kriterien der Typenbildung haben mir vier Kriterien gedient, die sich diskursintern als zentrale Begriffe bzw. Themenkomplexe erweisen: (1) Identität, (2) Geschichte, (3) Ganzheit, Fragmentierung, Heterogenität und (4) Urbanität. Gegner der Zwischenstadt Die erste Grundhaltung wendet sich vehement gegen die Ausbreitung der Stadt in ihr Umland. Sie „interpretiert räumliche Simultaneität heterogener Fragmente, Diskontinuität und Unbestimmtheit unter identitätstheoretischen Aspekten und kommt zu dem Schluss, dass diese Struktur [d. h. die der Zwischenstadt] destruktiv und dem Wohlbefinden der Menschen nicht zuträglich sei“28. Ihr Leitbild ist die zentrumsorientierte und kompakte, traditionelle europäische Stadt. Zu dieser Richtung zählen beispielsweise Vertreter des New Urbanism; in der gestalterischen Praxis wird sie unter anderem durch das Büro von Rob Krier und Christoph Kohl29 vertreten. Ähnliche Ansichten haben im deutschsprachigen Raum beispielsweise Michael Mönninger und Dieter Hoffmann-Axthelm formuliert.30 (1) Identität: Räumliche Identität ist den Gegnern sehr wichtig; sie sei unerlässlich für die Lebensqualität in einer Region. Nur ein Ort mit Identität könne ihren Bewohnern Heimat sein. Der Zwischenstadt sprechen die Gegner, im Gegensatz zu gewachsenen Kulturlandschaften und historischen Stadtstrukturen, ab, Identifikationsmöglichkeiten zu bieten. (2) Geschichte: Identität ist in dieser Position untrennbar mit einer bestimmten Vorstellung von Geschichte verbunden. Das Typische einer Stadt oder (Kultur-)Landschaft wird als Ausdruck ihrer Geschichte gedeutet. Neues wird nicht per se abgelehnt, es muss sich aber in den bestehenden Cha-

27 Das bedeutet umgekehrt auch, dass es ausreichend ist, einige wenige Protagonisten zu zitieren, da es hier nicht darum geht, möglichst viele Architekten und Planer den Idealtypen zuzuordnen. Es geht lediglich um die Veranschaulichung der sonst etwas spröde wirkenden Typen. 28 Schultheiß 2007: 88. 29 1993 verlegte Rob Krier sein 1976 in Wien gegründetes Büro für Städtebau und Architektur nach Berlin; seitdem besteht auch die Büropartnerschaft mit Christoph Kohl. 30 Siehe zu einer entsprechenden Einschätzung Hoffmann-Axthelms Hennecke 2003, Sieverts 1997: 165.

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rakter des Ortes einfügen und ihn bereichern. Entwicklung ist demnach nicht überhaupt unmöglich, es werden aber Bedingungen formuliert: Maßstab guter – und das heißt immer auch organischer – Entwicklung ist die individuelle Geschichte einer Landschaft oder einer Stadt; das Neue muss sich an die vorhandene Eigenart anpassen und diese bereichern. Historische Kulturlandschaften und Städte bzw. Stadtkerne erfahren also besondere Wertschätzung. Junge Stadt- und Landschaftsstrukturen hätten hingegen noch keine eigene Geschichte, sie erscheinen mithin geschichts- und gesichtslos, also ohne (ausgeprägte) eigene Identität. (3) Ganzheit, Fragmentierung, Heterogenität: Einer der Haupteinwände gegen die Zwischenstadt ist ihre Fragmentiertheit und damit Heterogenität. Statt lesbarer Einheiten biete sie einen ungegliederten Siedlungsbrei. Die an der Zwischenstadt bemängelte Heterogenität ist das genaue Gegenteil der geschätzten regionalen Vielfalt. Denn erstere zeichne sich durch Beliebigkeit aus, gehorche allein den Marktgesetzen (Bodenpreise) und nivelliere die lokalen Besonderheiten, so dass sich alle verstädterten Landschaften in ihrem Potpourri an Elementen glichen. (4) Urbanität: Die dem Ort angemessene Vielfalt an Raumelementen und -funktionen auf überschaubarem Raum wird als Bedingung von Urbanität angesehen. Dabei ist für die Gegner klar, dass die Städte Träger und Ort von Urbanität und dass das Land davon deutlich abgrenzbar sein soll, sowohl was die Raumstrukturen als auch die Lebensstile betrifft. „Mischung“ und „Dichte“ sind die Schlagworte, die im Zusammenhang mit Urbanität fallen. „Dichte“ wird aber nicht als ausschließlich bauliche Dichte verstanden – man will schließlich nicht die Fehler der 60er Jahre wiederholen –, sondern meint immer auch soziale und kulturelle Dichte. Euphoriker der Zwischenstadt Die zweite Grundhaltung beschreibt das andere Extrem im Spektrum möglicher Auffassungen zur Zwischenstadt. Sie unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt von den Gegnern und, wie ich unten zeige werde, auch von den Qualifizierern: Sie weist Ortsidentität als Ideal zurück, zumindest dann, wenn Identität auf Geschichte rekurriert. Die Euphoriker befassen sich also programmatisch mit den Vorteilen von und der Befreiung zur Nicht-Identität. Sie sehen die Urbanität der Zwischenstadt gerade in ihrer Fragmentiertheit und Brüchigkeit. Schultheiß charakterisiert die Auffassung der Euphoriker daher folgendermaßen: „Ihre Strategie zielt […] darauf ab, das urbane Potenzial der Diskontinuität durch einen (städte)baulichen Eingriff ästhetisch zu steigern im Sinne seiner Transformation in die Offenheit und Unbestimmtheit einer (stadt)räumlichen Konstellation, die als potenzieller Raum aufnahmefähig ist für alle in der Region wirksamen Kräfte, offen

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für unvorhersehbare Begegnungen und Entwicklungen mit unbestimmtem Ausgang. Ihnen geht [es] um die Herstellung der Bedingungen von Möglichkeiten.“31

Diese urbanistische Strategie sei eine hauptsächlich niederländische Erfindung der 1980er Jahre. Sie werde prominent vertreten durch Theoretiker wie Bart Lootsma, Büros wie „MVRDV“, natürlich durch „OMA“, das Büro von Rem Koolhaas. Sie spiegle sich aber auch, bei aller Unterschiedlichkeit in der theoretischen Begründung, in den dekonstruktivistischen Ansätzen von Bernard Tschumi oder Peter Eisenman.32 (1) Identität: Die Euphoriker wollen nicht eine bestimmte Ortsidentität wahren, wiederherstellen oder stärken. Ihr Ziel ist vielmehr, Unbestimmtheit und Offenheit herzustellen und zu steigern. Identität verhindere dies, da sie immer Unterordnung unter eine bestimmte Eigenart bedeute. (2) Geschichte: Orientierung an Geschichte ist für die Euphoriker unerwünscht. Entsprechend kritisieren sie auch Identitätsstiftung durch Rückgriff auf Geschichte. Identität als eine „Form von Teilhabe an der Vergangenheit“ sei eine „überlebte, unhaltbare Vorstellung“33. Geschichte werde zudem missbraucht, meist zu Vermarktungszwecken, was ihren Bedeutungsverlust vorantreibe und sie zu einem ungeeigneten Maßstab und Referenzpunkt mache.34 (3) Ganzheit, Fragmentierung, Heterogenität: In der Fragmentiertheit, Offenheit und Unbestimmtheit der Stadtstruktur sehen die Euphoriker das eigentlich urbane Potential. Nach ihrer Auffassung „sind diese Momente der Unbestimmtheit und Offenheit mit ihrem Versprechen unbegrenzter Freiheit und unbegrenzter Möglichkeiten an der Brüchigkeit, Überdeterminiertheit und Dynamik der neuen räumlichen Matrix gesetzt“35. Die Euphoriker dürfen also nicht, wollen sie konsequent bleiben, an den Brüchen zwischen den Fragmenten gestalten, um die Offenheit der räumlichen Struktur der Zwischenstadt nicht gestalterisch zu prägen und damit einzuengen. „Im Unterschied zur Strategie der Qualifizierung allerdings zielt die Strategie [… der Euphoriker] darauf, Unbestimmtheit und Offenheit als solche zu ästhetischer Evidenz zu bringen, statt sie in ihr Gegenteil, in Gestalt, zu transfor-

31 Schultheiß 2007: 89. 32 Ebd. – Das „OMA“ (Office for Metropolitan Architecture) ist ein 1975 von Rem Koolhaas, Elia und Zoe Zenghelis sowie Madelon Vriesendorp gegründetes Büro für Architektur und Städtebau. „MVRDV“ ist ein 1991 in Rotterdam von Winny Maas, Jacob van Rijs und Natalie de Vries gegründetes Büro für Architektur, Städtebau und Landschaftsarchitektur. 33 Beide Zitate Koolhaas 1996: 18. – Koolhaas lehnt aber nicht nur die Orientierung an Geschichte ab, sondern die an jeder Art von äußeren, natürlichen, architektonischen und gesellschaftlichen Bedingungen: „fuck context!“ (Koolhaas & Mau 1995: 502) 34 Vgl. Koolhaas 1996: 18. 35 Schultheiß 2007: 89.

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mieren.“36 Gestaltung kann sich infolge dessen nur auf die Fragmente selbst, deren Kombination oder ihre Erschließungsstruktur beziehen.37 (4) Urbanität: Die Euphoriker haben einen emphatischen Urbanitätsbegriff. Urbanität bedeutet für sie unbegrenzte Freiheit und unbegrenzte Möglichkeiten, die Durchmischung und Überlagerung aller gesellschaftlich denkbaren Interessen, Bedürfnisse und Erwartungen.38 Dieses Versprechen sehen sie realisiert und symbolisiert in der Offenheit und Unbestimmtheit der räumlichen Struktur der Zwischenstadt. Qualifizierer der Zwischenstadt Die Grundhaltung der Qualifizierer bewertet die Suburbanisierungsprozesse und die Realität der verstädterten Landschaften positiv. Sie stellt aber, trotz dieser grundsätzlichen Anerkennung, Defizite fest, besonders bezogen auf Möglichkeiten und Bedingungen von Urbanität und Lebensqualität: Die Zwischenstadt zerfalle in große, monofunktionale, gleichsam autistische Bereiche. Diese fragmentierte räumliche Struktur wird als Ausdruck massiver intra- und interkommunaler Konflikte gewertet. Die Bewohner und Nutzer der zwischenstädtischen Landschaft erlebten diese Fragmentierung in Sichthindernissen und als physisch unüberwindbare Barrieren, das heißt als Brüche. Diese machten die ganzheitliche, Orientierung und heimatliche Geborgenheit stiftende Wahrnehmung des Raumes unmöglich. Die Stadtregion solle daher „in Wert gesetzt“ oder „qualifiziert“ werden und zwar unter Berücksichtigung ihrer z. T. als Qualitäten verstandenen Eigenheiten. Die Leitvorstellung dieser Position „ist die Idee einer Neuen Stadt, deren räumliche Matrix den sozio-ökonomischen Reproduktionsbedingungen der Dienstleistungsgesellschaft entsprechen solle, so wie die traditionelle Stadt den sozioökonomischen Reproduktionsbedingungen der Industriegesellschaft entsprochen hat“39. Diese Grundhaltung wird, mit einigen Varianten, von einer Vielzahl von Planern und Architekten vertreten, weil sie als vermittelnde Position der beiden Pole größere Realitätstauglichkeit verspricht, ohne jegliche normative Setzungen und Planungsideale aufgeben zu müssen. Zu den Protagonisten zählen beispielsweise die Teilnehmer und Autoren des Ladenburger Kollegs, trotz oder gerade in ihrer Unterschiedlichkeit, aber auch viele Planer aus der Raumordnung und Regionalentwicklung.40

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Ebd.: 91. Siehe zu dieser Darstellung der Gestaltungsstrategie ebd. Siehe zu diesem Urbanitätsbegriff ebd.: 89. Ebd.: 88. Die einzelnen Positionen innerhalb dieser Grundhaltung unterscheiden sich stark voneinander, beispielsweise in Hinblick auf die Frage, ob die Stadtregion als ein ganzheitliches Bild wahrgenommen werden kann und soll. An anderer Stelle ha-

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(1) Identität: Für die Qualifizierer ist, wie für die Gegner, die Identität der Stadtregionen von entscheidender Bedeutung. Die Qualifizierer gestehen allerdings, und darin unterscheiden sie sich von den Gegnern, auch der Zwischenstadt zu, ein charaktervoller Ort mit Identität zu sein. Diese grundsätzliche Anerkennung führt jedoch nicht zum Verzicht auf Gestaltung, wie dies bei den Euphorikern der Fall ist. Die Qualifizierer konzentrieren gestalterische Eingriffe auf die Ränder der „Raumpatches“, auf die Bruchstellen in der räumlichen Struktur der Zwischenstadt. Dabei können zwei unterschiedliche Strategien verfolgt werden, denen eine jeweils unterschiedliche Vorstellung von der Identität der Zwischenstadt zugrundeliegt: Entweder sollen die Brüche aufgehoben und die „Raumpatches“ miteinander verbunden werden oder die gestalterischen Eingriffe haben zum Ziel, die Brüche zu überhöhen und zu inszenieren, wodurch gerade das Unzusammenhängende als das Charakteristische der „Zwischenstadt“ betont werden soll. Beide Strategien verfolgen jedoch letztlich ein gemeinsames Ziel: Neben der Verbesserung der sozio-ökonomischen sowie natur- und umweltschützerischen Verhältnisse sollen aus den gesichtslosen Orten charaktervolle Stadtregionen werden, wobei das Charaktervolle einmal in der geglückten Überbrückung der Brüche, das andere Mal in der Inszenierung der Fragmentiertheit und Heterogenität gesehen wird. Authentizität wird zum wesentlichen Wert und Maßstab der Gestaltung und zum Gradmesser von Ortsidentität. Was jedoch eine Gestaltung authentisch wirken lässt bzw. einen Ort authentisch macht und ihm somit eine gewisse Typik verleiht, kann sehr Unterschiedliches sein. Das Spektrum reicht von Spuren historischer Raumstrukturen (beispielsweise alte Wegverläufe oder Kapellen) bis hin zu aktuellen Raumnutzungen (wie Gewerbegebiete und Kreisverkehrsinseln). (2) Geschichte: Sie ist für die Qualifizierer eine weitere wichtige Bedingung von Ortsidentität. Als Ansatzpunkte zur Betonung oder Schaffung von Identität dienen ihnen daher Orte und Elemente „mit Geschichte“, wie alte Dorfkerne oder historische Wegeverbindungen. Identitätsbildung findet also – wie bei den Gegnern – unter Rückgriff auf Geschichte statt. Die Qualifizierer stellen allerdings für eine gelungene Identitätsbildung durch Ge-

be ich daher zwei Lager innerhalb der Qualifizierer unterschieden, deren Vertreter ich die „Versöhner der Brüche“ und die „Inszenierer der Brüche“ genannt habe (Vicenzotti 2008). Ich stelle die Qualifizierer hier aber aus drei Gründen trotzdem zusammengefasst dar. Erstens verfolgen sie alle ein gemeinsames Ziel: Die verstädterte Region soll Charakter, Eigenart und Identität aufweisen; deswegen gilt es, sie zu „qualifizieren“. Zweitens sprechen textstrategische Gründe für die gemeinsame Darstellung: Eine Differenzierung in vier statt drei Grundhaltungen würde die Analyse der Diskurspositionen, die ja als Kombination der Grundhaltungen mit den Lesarten formuliert sind, unnötig kompliziert werden lassen. Drittens wird die Grundhaltung der Qualifizierer in Kapitel 5 ausführlich analysiert, ihre internen Differenzen fallen also nicht unter den Tisch, sondern werden explizit thematisiert.

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schichte die Bedingung, dass die Integration historischer Elemente in die Gestaltung nicht unzeitgemäß und kitschig, sondern authentisch ist. Das führt dazu, dass diejenige Geschichte, auf die sich die Qualifizierer als „Identitätsanker“41beziehen, nicht die klassische Geschichte sein muss; es kann sich auch um die jüngere und jüngste, die Geschichte der Suburbanisierung selbst handeln. Trotzdem gibt es bei den Qualifizierern keinen Zwang zur Geschichtsverneinung, wie dies bei den Euphorikern der Fall ist. (3) Ganzheit, Fragmentierung, Heterogenität: Der Fragmentiertheit der Zwischenstadt widmen die Qualifizierer ihre ganze Aufmerksamkeit. Als Problem werten sie, dass die Zwischenstadt durch ihre Heterogenität und Fragmentiertheit nicht als heimatlicher Ort mit einer bestimmten Charakteristik, sondern als identitätslos wahrgenommen wird. Denn die Zwischenstadt sei in der inneren Wahrnehmung der Bewohner nicht als Bild verfügbar, in ihr sei keine Orientierung möglich. Um Heterogenität und Fragmentiertheit zu überwinden und der Zwischenstadt heimatliche Züge zu verleihen, kommen zwei unterschiedliche Strategien zum Einsatz: Entweder sollen physisch die Brüche in der Stadtregion überwunden werden, so dass bei der Bewegung im Raum die Zwischenstadt als zusammenhängende Ganzheit erlebbar wird. Die Heterogenität werde aufgehoben oder doch gemildert, weil und indem die unzusammenhängenden „Raumpatches“ miteinander in Beziehung gesetzt werden. Die zweite Strategie setzt darauf, die Identität der Zwischenstadt gerade durch die Inszenierung ihrer Fragmentiertheit und Heterogenität zu betonen. Denn, so wird argumentiert, das Typische der „Zwischenstadt“ liege gerade in ihrem fragmentierten und heterogenen Charakter. (4) Urbanität: Man gesteht der Zwischenstadt zu, Ort und Träger von Urbanität zu sein. Urbanität wird als gelungener Ausgleich widerstrebender Interessen verstanden. Zwischen verschiedenen Nutzungsansprüchen, die sich im Raum als Brüche manifestierten, gelte es, im Sinne des Allgemeinwohls zu vermitteln. Im Prozess der Vermittlung zwischen unterschiedlichen Interessen entstünden „Synergieeffekte“, die der „Landschaft wieder einen kulturellen Mehrwert verleihen“42. Dieser wird als Urbanität interpretiert. Dabei legen die Qualifizierer Wert auf die Möglichkeit individueller Selbstbestimmung und Mitsprache als Grundvoraussetzung von Urbanität. Das impliziert auch das Aushalten von Spannungen und die Anerkennung von Pluralität.

41 Bölling 2004: 112; 2007: 200, 217, 289, 363. 42 Boczek 2004: 151; siehe auch 2007: 186 ff.

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3.3 D ISKURSPOSITIONEN – K OMBINATIONEN VON L ESARTEN UND G RUNDHALTUNGEN Unter einer Diskursposition verstehe ich eine ganz bestimmte Kombination einer Grundhaltung zur Zwischenstadt mit einer Lesart. Da ich oben jeweils drei Lesarten („Wildnis“, „Kulturlandschaft“ und „Stadt“) und drei Grundhaltungen (Gegner, Euphoriker und Qualifizierer) formuliert habe, ergeben sich insgesamt neun Diskurspositionen (siehe Tabelle 1). Diese Differenzierung unterschiedlicher Diskurspositionen stellt eine erste Ordnung des Diskurses dar. Sie zeichnet sich durch zwei Eigenheiten aus. Tabelle 1: Die Diskurspositionen.

„Wildnis“ Gegner der Zwischenstadt

Euphoriker der Zwischenstadt Qualifizierer der Zwischenstadt

Gegner der Zwischenstadt, die diese als „Wildnis“ sehen

„Kulturlandschaft“ Gegner der Zwischenstadt, die diese als „Kulturlandschaft“ sehen Euphoriker der Zwischenstadt, die diese als „Kulturlandschaft“ sehen Qualifizierer der Zwischenstadt, die diese als „Kulturlandschaft“ sehen

„Stadt“ Gegner der Zwischenstadt, die diese als „Stadt“ sehen

1a 1b 1c 2a 2b 2c 3a 3b 3c Euphoriker der Zwischenstadt, die diese als „Wildnis“ sehen

Qualifizierer der Zwischenstadt, die diese als „Wildnis“ sehen

Euphoriker der Zwischenstadt, die diese als „Stadt“ sehen

Qualifizierer der Zwischenstadt, die diese als „Stadt“ sehen

(1) Es handelt bei ihr um eine Ordnung, die allein auf diskursinternen Kriterien basiert. Das bedeutet, dass die Kriterien der Typisierung (also die Grundhaltungen und Lesarten) von den Diskursteilnehmern selbst zur Ordnung des Diskurses vorgeschlagen wurden. Es ist also ein Ordnungsmuster, das – um in der Foucaultschen Terminologie zu sprechen – an der Diskursoberfläche bleibt und das nicht oder doch nicht explizit auf eine tieferliegende Ordnungsebene verweist. (2) Diese erste Ordnung folgt einer strengen Schematik, der man vorwerfen kann, eine starre und dadurch dem tatsächlichen Diskurs unangemessene Typisierung zu erzeugen. Dieser Einwand beruht allerdings auf einem Missverständnis der Idealtypenmethode. Es wird nicht behauptet, dass mit den beschriebenen neun Typen alle realen Fälle erfasst sind, und es wird auch nicht behauptet, dass ein Planer oder Architekt

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immer genau einem der Typen zugeordnet werden kann. Die Typen sind lediglich die Heuristik, um die realen Positionen begrifflich präzise voneinander abgrenzen zu können. Denn nur gegen die Folie einer strengen Systematik fällt an den realen Äußerungen der Planer und Architekten Neues und Ungewöhnliches überhaupt auf.43 In diesem Sinne ist die hier erarbeitete Typisierung also kein endgültiger Ordnungsvorschlag, sondern vielmehr der Ausgangspunkt für eine differenziertere Analyse, die in Kapitel 5 erfolgen wird. In der Skizze der Diskurspositionen mischen sich, wie schon bei der Darstellung der Grundhaltungen, theoretische Formulierung der Typen und die Veranschaulichung mit Beispielaussagen von Planern und Architekten. Dies dient der Illustration der Typen. Ich gehe darauf ein, welche Bedeutungen der Lesarten es jeweils sind, die die mit den Grundhaltungen gegebenen Bewertungen der Zwischenstadt untermauern. Ich frage also beispielsweise, welche der Bedeutungen von ‚Wildnis‘ es ist, die sie den Gegnern als geeignete Metapher für die Zwischenstadt erscheinen lässt. Es kommt mir hier nicht darauf an, die Relevanz der Diskurspositionen darzustellen, d. h. etwa zu zeigen, dass eine Position von vielen oder nur einigen Protagonisten tatsächlich eingenommen wird und wie stark sie den Diskurs beeinflusst. Dennoch ist es systematisch relevant, dass manchen Diskurspositionen keine passenden Aussagen zugeordnet werden konnten. Diese Positionen können also zwar theoretisch konstruiert werden, bleiben aber faktisch unbesetzt. Es gibt beispielsweise keinen Euphoriker der Zwischenstadt, der diese als „Kulturlandschaft“ interpretiert (Diskursposition 2b). Solche unbesetzten Stellen sind nicht zufällig, sondern weisen darauf hin, dass immer nur ganz bestimmte Kombinationsmöglichkeiten von Bedeutungen sinnvoll sind. Gegner der Zwischenstadt, die diese als „Wildnis“ sehen (Diskursposition 1a) Die Vertreter der ersten Diskursposition missbilligen die Zwischenstadt, weil und insofern sie ihnen als eine Form von Wildnis erscheint. Als „wild“ gilt dabei entweder die verstädterte Landschaft selbst oder die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Prozesse, die sie hervorbringen. Die Zwischenstadt wird als „Wucherung“, „Wildwuchs“ oder „Wildnis“ bezeichnet. Gängig ist in diesem Zusammenhang auch die Rede von „wildwachsender Urbanisierung“44. An ‚Wildnis‘ werden Bedeutungen der Unkontrolliertheit und Unkontrollierbarkeit betont. Sie erscheint als das Fremde, das Andere, dem Zugriff und der Kontrolle der Menschen Entzogene. Vöckler erklärt, dass trotz „ihrer evidenten Künstlichkeit, ihrer weitgehend von Menschenhand geschaf-

43 Zu den Möglichkeiten und Grenzen der Idealtypen siehe Kapitel 2.2. 44 Neumeyer 1995: 36.

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fenen Materialität, […] die Peripherie mit Metaphern der Natürlichkeit belegt [wird], die offensichtlich Fremdartigkeit, Unbeherrschbarkeit und Unkontrollierbarkeit suggerieren sollen“45. Gegner der Zwischenstadt, die diese als „Kulturlandschaft“ sehen (Diskursposition 1b) Auch wenn der Idee der (Kultur-)Landschaft hauptsächlich positive Assoziationen anhaften,46 ist in dieser zweiten Diskursposition die Interpretation als (Kultur-)Landschaft Grund oder Ausdruck der Ablehnung der Zwischenstadt. Das lässt sich auf zwei Ebenen erklären, einer semantischen und einer historischen: (1) Da die Gegner eine klare Stadt-Land-Trennung vehement befürworten, ist ihnen die Gleichsetzung von (Zwischen-)Stadt mit (Kultur-)Landschaft zuwider. Städte sollen einen städtischen, Landschaften einen landschaftlich-ländlichen Charakter haben. Die Zwischenstadt gilt ihnen aufgrund ihres hybriden, eindeutige Kategorien auflösenden und missachtenden Charakters als untragbar. (2) Die Verherrlichung von Stadt als Landschaft sei das Leitbild des Nachkriegsstädtebaus gewesen, das den Weg für die Suburbanisierung und die Zwischenstadt überhaupt erst eröffnet habe. Unter dem Banner der Landschaft habe also historisch das städtebauliche Übel begonnen. Argumente beider Ebenen verbindet Neumeyer in seinem Plädoyer gegen die Zwischenstadt als (Kultur-)Landschaft: „Der Urbanismus dieses Jahrhunderts rüstete ‚Landschaft‘ zu einer Metapher für eine Unschuld des Werdens um, mit der er auf dem geschichtsneutralen Boden der ‚tabula rasa‘ seine Auffassung von Freiheit, sozialem Fortschritt, Mobilität und Wachstum, sowie individueller Selbstverwirklichung mit dem Verschwinden des Städtischen inszenierte. […] Die Kampfansage an städtische Raumformen hat zu den Ungeheuerlichkeiten suburbaner Expansionen, restlos zersiedelten Landstrichen, unleserlichen Straßengrundrissen und Raumbildungen geführt, denen jeder architektonische Zusammenhang und die Dialektik von Haus und Straße fehlt. Was einst mit ‚urban sprawl‘, neuerdings als ‚middle landscape‘ bezeichnet wird, betrifft den Flächenfraß und das Zubauen der Welt zu einem inkohärenten Mittelding, dem die historische Unterscheidung zwischen den alten Gegensätzen ‚Stadt‘ und ‚Land‘ vollständig abhanden gekommen ist.“47

45 Vöckler 1998: 277. 46 Hard 1970. 47 Neumeyer 1995: 36.

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Gegner der Zwischenstadt, die diese als „Stadt“ sehen (Diskursposition 1c) In der dritten Diskursposition, die in der Tradition der klassischen Stadtkritik steht, wird Zwischenstadt kritisiert, weil und insofern sie als „Stadt“ interpretiert wird. Drei Aspekte der Stadtkritik aus der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden auf die Zwischenstadt übertragen, dass sie sich unaufhörlich ausbreite, dass sie naturwidrig sei und Natur zerstöre und dass in ihr unmoralische gesellschaftliche Zustände herrschten. Die Zwischenstadt wird also als die Form von Stadt angesehen, die sich, einem Krebsgeschwür gleich, in ihr Umland frisst. Die Gegner lehnen dieses unbändige Wachstum der Stadt nicht nur deswegen ab, weil es die freie Landschaft zerstört, sondern auch, weil sie die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Zustände und Rahmenbedingungen, die sie für dieses unaufhaltsam wuchernde Wachstum verantwortlich machen, kritisieren. Im Brennpunkt der Kritik stehen unter anderem die mangelnde Wirksamkeit von Planungsinstrumenten, die Übermacht wirtschaftlicher Interessen sowie die Konkurrenz unter den Kommunen. Euphoriker der Zwischenstadt, die diese als „Wildnis“ sehen (Diskursposition 2a) Die Lesart der Zwischenstadt als „Wildnis“ kann nicht nur Grund bzw. Ausdruck ihrer Ablehnung sein, wie in der ersten Diskursposition, sondern auch der euphorischen Begeisterung. Drei Bedeutungen treten an ‚Wildnis‘ besonders hervor, wenn sie von den Euphorikern als Metapher für die Zwischenstadt eingesetzt wird. Erstens fasziniert Wildnis als das Fremde, das Neue, das Andere, das Unverfügbare. Vöckler schreibt: „In einem veränderten Verhältnis zur Welt der Objekte, die sich der Beherrschung entwinden, ihre Andersheit, Fremdheit, Unverfügbarkeit ausspielen und so einen neuen Erfahrungsraum entstehen lassen, sehe ich eine Chance.“48 In ihrer Unverfügbarkeit symbolisiert Wildnis zweitens Freiheit – Freiheit von überkommenen Planungsidealen und Freiheit zur Selbstverwirklichung der Bewohner, die jenseits aller geschmacksgeschulter Vorgaben ihren eigenen Vorstellungen gemäß leben und wohnen können. Drittens plädieren die Euphoriker für ein anderes ästhetisches Ideal – eines, das nicht harmonische Ganzheit und Geschlossenheit favorisiert, sondern offene und brüchige, eben „wilde“ Heterogenität. Das wird beispielsweise bei Wilson deutlich: „Gemeinsam mit Momenten der Bedeutsamkeit fließt alles, das Banale, das Wiederkehrende, das Historische, die Geschäftszone, das Überflüssige, das Neue, Grünanlagen und das Hinterland für Transportsysteme zusammen in diese molekulare Wolke

48 Vöckler 1998: 286.

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aus vereinzelten Ereignissen und vorherrschender Leere. Im horizontalen Licht der Wintersonne wird die erhabene Schönheit der Eurolandschaft […] der nicht bildhaften und nicht pittoresken Wahrnehmung deutlich offenbart.“49

Selbst wenn Wilson die „Zwischenstadt“ hier mit dem Begriff der „Eurolandschaft“ belegt, so wird aus seiner Beschreibung dieser Landschaft doch deutlich, dass damit nicht die (traditionelle Kultur-)Landschaft gemeint ist. Es stellt sich vielmehr die Assoziation einer nicht gewöhnlichen Schönheitskriterien entsprechenden, vielleicht sogar wild anmutenden Gegend ein – schließlich charakterisiert er diese Eurolandschaft als „erhaben“. Euphoriker der Zwischenstadt, die diese als „Kulturlandschaft“ sehen (Diskursposition 2b) Diese theoretisch konstruierte Diskursposition bleibt empirisch unbesetzt: In den Debatten um die Zwischenstadt gibt es unter ihren euphorischen Befürwortern niemanden, der seine Begeisterung für die Zwischenstadt damit begründet oder ausdrückt, dass sie Eigenschaften von Kulturlandschaften aufwiese. Das ist kein Zufall. Es scheint darin begründet zu sein, dass den Euphorikern die Zwischenstadt als Ideal einer progressiven Landschaftsentwicklung gilt, ‚Kulturlandschaft‘ hingegen gar nicht anders gedacht werden kann denn als Inbegriff realitätsfremder Rückständigkeit. Mit ‚Kulturlandschaft‘ assoziieren die Euphoriker (wenn sie sie als Gegenpol zur Zwischenstadt und nicht als Eurolandschaft konzipieren) immer historische Kulturlandschaft, harmonisch-arkadische Idylle, miefige Heimat – also das genaue Gegenteil dessen, was sie in der Zwischenstadt real und symbolisch gegeben sehen. Euphoriker der Zwischenstadt, die diese als „Stadt“ sehen (Diskursposition 2c) Die Begeisterung für die Zwischenstadt wird durch ihre Lesart als „Stadt“ erklärt bzw. ausgedrückt. Das bedeutet, dass die Zwischenstadt von den Euphorikern, anders als von den Gegnern, als eine Form von Stadt anerkannt und deswegen wertgeschätzt wird, und zwar als eine der modernen Gesellschaft gemäße Stadt. Die Eigenschaften, die für die Gegner Gründe sind, die Zwischenstadt abzulehnen, sind für die Euphoriker gerade die Aspekte, die die Zwischenstadt so faszinierend machen: ihre Fragmentiertheit und Heterogenität, ihre Unkontrollierbarkeit und die ständigen Überraschungen, die sie bereithält sowie die hohe Geschwindigkeit, mit der sie sich ändert und Änderungen notwendig macht. Koolhaas definiert in diesem Sinne die zeitgenössische Stadtlandschaft als „all that remains of what used to be the city.

49 Wilson 1995: 21.

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The Generic City is the post-city being prepared on the site of the ex-city.“50 Durch welche Eigenschaften sich die neue Stadt auch immer auszeichnet, es steht für Koolhaas außer Frage, dass es sich um eine Form von Stadt handelt. Gleiches gilt für Wilson, der am Beispiel der heterogenen Randstadt erläutert, dass sich die Bewohner aus den Stadtfragmenten „ihre eigene persönliche Stadt“51 formen. Qualifizierer der Zwischenstadt, die diese als „Wildnis“ sehen (Diskursposition 3a) Die Zwischenstadt wird als „Wildnis“ interpretiert, und diese Interpretation ist Ausdruck der ambivalenten Einstellung der Qualifizierer: Auf der einen Seite steht die grundsätzliche Anerkennung der urbanisierten Landschaften, auf der anderen Seite das Bedürfnis, sie in Wert zu setzen. Die WildnisMetaphorik greift in dieser Position in verschiedener Hinsicht: Sie bezieht sich erstens auf die Raumstruktur. So erläutert Sieverts die Lesart der Zwischenstadt als Wildnis mit folgenden Worten: „Peripherie ist Wildnis, eine Makrostruktur ohne vorgedachte Gestalt und Aneignung, in die zahlreiche, jedoch vereinzelte, in ihrer Gestalt vorgedachte und angeeignete Mikrostrukturen eingestreut sind.“52 Sie greift zweitens hinsichtlich der Kontrollierbarkeit und den sich daraus ergebenden Qualifizierungspotentialen. Man müsse zunächst die Zwischenstadt studieren, ihre Regeln kennenlernen und den Blick für ihre Eigenheiten schärfen, erst dann könne man erfolgreich und einfühlsam gestaltend tätig werden. In der Wildnis-Metaphorik liest sich diese Gestaltungshaltung dann so, dass „zu allererst das Monster zu erkennen und dann zu versuchen [ist], Strategien zu entwickeln, welche die der wildwachsenden Stadt innewohnenden Kräfte in andere Bahnen lenken, um so eine bewohnbare Eurolandschaft zu erzeugen“53. Drittens kann man die Wildnis-Interpretation auf die ästhetische Ebene beziehen. Die Schönheit der Wildnis konnte man erst dann sehen, als man mit dem Erhabenen einen neuen ästhetischen Blick erlernt hatte. Gleiches gelte für die „Zwischenstadt“. Diese dürfe man auch nicht mit dem an der traditionellen Stadt oder Kulturlandschaft geschulten Blick beurteilen, sondern es gelte, eine neue Blickweise zu finden. Sieverts überlegt in diesem Sinne, ob nicht ein „Begriff von Paraästhetik“, seine Bezeichnung für den neuen Blick auf die Zwischenstadt, „den Blick öffnen [könnte] auf den – landläufig und gemessen an normierten Schönheitsidealen als häßlich betrachteten – chaotischen Formenreichtum der Zwischenstadt“54.

50 51 52 53 54

Koolhaas & Mau 1995: 1252. Wilson 1995: 19. Sieverts 1997/2001: 56. Wilson 1995: 18. Beide Zitate Sieverts 1997: 107.

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Qualifizierer der Zwischenstadt, die diese als „Kulturlandschaft“ sehen (Diskursposition 3b) Vertreter dieser Diskursposition sehen „Ansätze für eine Deutung und für eine Gestaltung […] in Kategorien einer Auffassung der Zwischenstadt als einer heterogenen Landschaft“55. Diese Interpretation nimmt Bezug auf die Bedeutung der Kulturlandschaft als komplexer und vielgestaltiger Raum, der aber dennoch eine ganzheitliche und individuelle Raumeinheit ist. Die Kulturlandschaft bildet einen Rahmen, der die vielen unterschiedlichen Raumnutzungen und -strukturen vereint und ihnen einen Zusammenhang verleiht. Sieverts erläutert in diesem Sinne: „Peripherie ist eine komplexe Kulturlandschaft, in der einzelne Bereiche, in denen vorgedachte Gestalt und Aneignung abwesend sind, wie etwa Brachflächen und Parkplätze, Wildnisse bilden.“56 Die Zwischenstadt als Kulturlandschaft zu deuten impliziert, die positiven Assoziationen, die sich mit dieser verbinden, auch auf jene zu übertragen. Das wird oft flankiert von der Argumentation, dass sich die Zwischenstadt nicht kategorial von der Kulturlandschaft unterscheide; man argumentiert, dass „alle Raumausschnitte als Kulturlandschaft angesprochen werden“57 könnten. Daher sei auch die Zwischenstadt Teil der modernen Kulturlandschaft, denn sie sei das Nebenprodukt aktueller Nutzungen der zeitgenössischen Gesellschaft. Qualifizierer der Zwischenstadt, die diese als „Stadt“ sehen (Diskursposition 3c) Für die Vertreter der neunten und letzten Diskursposition ist die Lesart der Zwischenstadt als „Stadt“ Grund bzw. Ausdruck ihrer wohlwollenden Grundhaltung. Um einen vorurteilsfreien Blick auf die Zwischenstadt richten zu können, schlägt Sieverts in diesem Sinne vor, sie „als einen eigenartigen ‚Stadt-Archipel‘ mit eigenen Qualitäten“ wahrzunehmen.58 Die ambivalente „ja, aber“-Haltung der Qualifizierer gründet darin, dass der Zwischenstadt zwar städtische Eigenschaften zugeschrieben werden, dass diese aber noch weiterzuentwickeln sind. Um die Zwischenstadt zu qualifizieren, wollen die Vertreter dieser Diskursposition mit ihren Entwürfen und Maßnahmen an der Zwischenstadt typisch städtische Charakteristika betonen, beispielsweise die Stärkung des öffentlichen Raums: „Der öffentliche Raum bleibt aber trotz des Verlustes an unmittelbarer sozialer Bedeutung, trotz Nutzungsverdünnung und überörtlicher Orientierung das strukturelle

55 56 57 58

Ebd.: 106. Sieverts 1997/2001: 56. Gailing et al. 2008: 261. Sieverts 1997: 66.

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Gerüst der Zwischenstadt: Nur über den öffentlichen Raum kann sie wahrgenommen und begriffen werden, als Erlebnisgerüst und Zeichen der Identität ist der öffentliche Raum für die Begreifbarkeit und Lesbarkeit der Zwischenstadt wichtiger denn je.“59

3.4 Z WISCHENFAZIT – E RKLÄRUNGSBEDARF FÜR UNGEWOHNTE N ACHBARSCHAFTEN Die Formulierung und kurze Charakterisierung der Diskurspositionen wirft Licht auf einige Zusammenhänge, die mir wert erscheinen, besonders betont zu werden. (1) Mit den Grundhaltungen ist nicht eine bestimmte Lesart vorgegeben (und andere ausgeschlossen), ebenso wie eine Lesart nicht eine Grundhaltung zur Zwischenstadt bestimmt. Das ist insofern bemerkenswert, als man ja auch hätte annehmen können, dass bestimmte Grundhaltungen immer mit ganz bestimmten Lesarten einhergehen, dass also beispielsweise das Reden über die Zwischenstadt als „Wildnis“ immer nur Abneigung zum Ausdruck bringen kann. Dass die Zuordnung von Grundhaltungen und Lesarten nicht eindeutig ist, liegt an der Vieldeutigkeit der Begriffe ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ und daran, dass sie offensichtlich auch ganz unterschiedlich bewertet werden. (2) In den Gruppen der Grundhaltungen kommen jeweils Lesarten zusammen vor, die semantisch als unvereinbar gelten. So gibt es beispielsweise bei der Gruppe der Qualifizierer Interpretationen der Zwischenstadt sowohl als „Wildnis“ als auch als „Stadt“. Würde man die verschiedenen Diskurspositionen zuerst nach den Lesarten gruppieren (und nicht, wie ich es hier getan habe, nach den Grundhaltungen), so würden Protagonisten der unterschiedlichen Grundhaltungen in unerwartete Nähe rücken. Ein Gegner und ein Euphoriker würden – ungeachtet aller Unterschiede ihrer Grundhaltung zur Zwischenstadt – doch darin übereinstimmen, dass die urbanisierten Landschaften als eine Form von Wildnis zu interpretieren sind. Diese zwei Punkte lassen zwei gegensätzliche Schlussfolgerungen zu: Man kann entweder anzweifeln, dass die hier vorgenommene Ordnung nach Grundhaltungen und Lesarten sinnvoll ist, oder man kann es gerade als weiterführend ansehen, dass durch die hier vorgenommene Ordnung Lesarten und Grundhaltungen in ungewöhnliche und unerwartete Nähe rücken. Beide Hinweise formulieren ein richtiges und wichtiges Argument, und die Schlussfolgerung, die sich aus ihnen jeweils ziehen lässt, verweist in dieselbe Richtung: Die hier vorgenommene erste Ordnung des Diskurses bringt Lesarten und Grundhaltungen tatsächlich in ungewohnte Nachbarschaft; sie darf dabei aber nicht stehen bleiben, da sonst in der Tat nichts erklärt, son-

59 Ebd.: 36.

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dern bestenfalls bemerkt wäre. Um die auf den ersten Blick überraschende Nähe gegensätzlicher Lesarten in den drei Grundhaltungen und die auffallende Übereinstimmung verschiedener Grundhaltungen in Hinblick auf die in ihnen jeweils gleichen Lesarten verständlich zu machen, ist eine weiterführende, tieferliegende Diskursschichten aufdeckende Untersuchung notwendig. Diese hat die unterschiedlichen Bedeutungen und Bewertungen der Begriffe ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ zu erklären. Ich werde darum im Folgenden (Kapitel 4) die Bedeutungsunterschiede erfassen und eine Begründung für die Vieldeutigkeiten und die verschiedenen Wertzuschreibungen liefern. Dann kann man klären, ob sich die unterschiedlichen Grundhaltungen, wenn sie dieselbe Lesart anlegen, tatsächlich auf dieselben Vorstellungen des jeweiligen Begriffs beziehen, oder ob beispielsweise mit dem Bezug auf ‚Wildnis‘ bei den Euphorikern etwas anderes gemeint ist als bei den Gegnern. Mein Ansatz zur Darstellung und Erklärung der Bedeutungs- und Bewertungsvielfalt und damit der Schlüssel zu einem differenzierten Verständnis des Diskurses um die Zwischenstadt besteht in einer ideengeschichtlichen und weltanschaulichen Analyse der Lesarten ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘. Dahinter steht die Annahme, dass verschiedene Bedeutungen und Bewertungszuweisungen der drei Begriffe letztlich auf unterschiedliche Weltanschauungen verweisen bzw. durch diese erklärbar sind.

4. Das Interpretationsrepertoire – Vorstellungen von Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt aus der Perspektive unterschiedlicher Weltanschauungen

In diesem Kapitel analysiere ich verschiedene Vorstellungen von ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘. Dazu stelle ich dar, welche Bedeutungen sich mit den Lesarten jeweils im Liberalismus, im Konservatismus, im Demokratismus und in der Romantik verbinden. Die Vorstellungen sind, wie sich zeigen wird, komplexe gedankliche Gebilde, in denen verschiedene, teilweise widersprüchliche Ideen auf für die jeweilige Weltanschauung spezifische Weise widerspruchsfrei miteinander verbunden sind. Diese systematische Darstellung idealtypischer Vorstellungen bildet das Interpretationsrepertoire für die Analyse der Entwurfs- und Planungsstrategien, die in Kapitel 5 unternommen wird und in der diese Strategien als Ausdifferenzierungen und Kombinationen der hier analysierten Vorstellungen beschrieben werden.

Z UR ANALYSE DER V ORSTELLUNGEN ‚W ILDNIS ‘, ‚K ULTURLANDSCHAFT ‘ UND ‚S TADT ‘ Als Kriterien zur Darstellung der Vorstellungen dienen die Ideen ‚Freiheit‘, ‚Ordnung‘ und ‚Vernunft‘. Ich gehe systematisch vor, indem ich eine Matrix aufspanne und für jede der drei Lesarten frage, wie ihr Verhältnis zu den Ideen ‚Freiheit‘, ‚Ordnung‘ und ‚Vernunft‘ aus der Perspektive der vier Weltanschauungen ist. Warum habe ich diese drei Ideen als Kriterien ausgewählt, und warum stelle ich alle Weltanschauungen anhand der gleichen Ideen dar? Drei Gründe sprechen für dieses Vorgehen. (1) Die Darstellung von ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ nach den gleichen Kriterien erlaubt die bessere Vergleichbarkeit ihrer Bedeutun-

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gen aus der Perspektive der unterschiedlichen Weltanschauungen. (2) Trotzdem sind die Kriterien so gewählt, dass sie es erlauben, das jeweils Spezifische der Weltanschauungen darzustellen. Dazu ist zu beachten, dass die Ideen im Kontext der unterschiedlichen Weltanschauungen Unterschiedliches bedeuten. So bezieht sich beispielsweise ‚Vernunft‘ im Liberalismus (in der idealtypischen Zuspitzung, in der ich diesen Begriff benutze) immer nur, als theoretische Vernunft (im Kantischen Sinne), letztlich auf den Aspekt der Nutzbarkeit, während im Demokratismus wesentlich auch die praktische Vernunft gemeint ist. Und die Idee der Ordnung meint in der Romantik im Gegensatz zu den anderen drei Weltanschauungen nicht die Ordnung der Gesellschaft bzw. Gemeinschaft, sondern bezieht sich auf ein individuelles Weltverhältnis; sie ist den Ordnungsvorstellungen der anderen Weltanschauungen in wesentlichen Punkten entgegengesetzt. (3) Dass die gewählten Kriterien erlauben, das Spezifische der Weltanschauungen darzustellen impliziert auch, dass es sich bei ihnen um weltbildrelevante Kriterien handelt, die es ermöglichen, den Strukturkern jener Anschauungen zu erfassen und darzustellen. Sie zielen nicht auf Nebensächlichkeiten, sondern auf die zentralen Werte und Theoriestrukturen, was sich daran zeigt, dass es in den Auseinandersetzungen zwischen den Weltanschauungen vor allem um diese Kriterien, also um ‚Freiheit‘, ‚Ordnung‘ und ‚Vernunft‘ geht. ‚Wildnis‘ und ‚Kulturlandschaft‘ werden als Formen von Natur betrachtet, und auch ‚Stadt‘ kann in diesem Sinne als eine Form von (kontrollierter) Natur unter den Bedingungen der Vergesellschaftung gelesen werden. ‚Natur‘ kann dabei, und darauf kommt es mir hier an, grundsätzlich sowohl die äußere als auch die innere Natur bezeichnen. Diese Unterscheidung berücksichtige ich bei der Darstellung der verschiedenen Sinngehalte allerdings nicht systematisch. Denn bei einigen Bedeutungsdifferenzierungen ist es fruchtbar, diesen Unterschied durchzuspielen, bei anderen weniger. Ich werde allerdings jeweils kenntlich machen, ob die behandelte Bedeutung von ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ oder ‚Stadt‘ auf der Ebene der inneren oder der äußeren Natur angesiedelt ist. Etwas anders gelagert ist eine weitere Differenzierung, die bei der Darstellung der Bedeutungen der drei Begriffe relevant ist: Über Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt kann entweder als Stadien in der Geschichte gesprochen werden oder als konkrete aktuelle oder vergangene Landnutzungsformen. Im ersten Fall stehen die Begriffe in einem eher metaphorischen Sinn beispielsweise für – um die Terminologie der klassischen politischen Philosophie zu bemühen – den Natur- bzw. Kriegszustand oder den Gesellschaftszustand. Im zweiten Fall sind mit den Begriffen die konkreten Formen der Landnutzung gemeint, die unter den Bedingungen des jeweiligen Gesellschaftszustandes herrschen. Mit dieser Ebenendoppelung verfahre ich wie im zuvor genannten Fall: Ich berücksichtige beide Ebenen, jedoch nicht systematisch, mache aber jeweils deutlich, auf welcher Ebene die analysierte Vorstellung verortet ist.

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4.1 L IBERALE V ORSTELLUNGEN VON W ILDNIS , K ULTURLANDSCHAFT

UND

S TADT

Der Liberalismus stellt eine Lösung des modernen Ordnungsproblems dar, d. h. des mit dem Zerbrechen der überkommenen, hierarchisch gestuften Ordnung der Wirklichkeit, wie sie erlebt und verstanden wird, gestellten Problems.1 Er wird hier nicht zufällig an erster Stelle dargestellt: Ich konstruiere die liberale Position so, dass sie logisch die erste Antwort auf den Zerfall der alten Gesellschaftsordnungen ist (als dessen Ursache sie vor allem von der gegenaufklärerischen Position angesehen wird).2 Alle weiteren Weltanschauungen werden als Reaktion auf den Liberalismus verstanden und dabei so formuliert, dass sie ihn entweder an entscheidenden Stellen modifizieren (Demokratie) oder zurückweisen (Konservatismus und Romantik).3 Ich werde zunächst auf den Liberalismus als Bewegung der Aufklärung eingehen, um später aus liberaler Perspektive verschiedene Lesarten von ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ analysieren zu können. Das macht einige Vorgriffe auf die demokratische und die konservative Weltanschauung notwendig, weil nur in Abgrenzung zu diesen der Liberalismus begrifflich genau bestimmt werden kann. Anschließend gehe ich auf den Empirismus als epistemologische Basis der liberalen Weltanschauung ein und charakterisiere in einer Vorbemerkung die wichtigsten Aspekte des modernen Naturbegriffs in Beziehung zum Liberalismus. Nach diesen vorbereitenden Ausführungen stelle ich dann, im Hauptteil des Kapitels, differenziert verschiedene Lesarten von ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ dar (siehe Tabelle 2, S. 131). Um das liberale Denken zu erläutern, werde ich mich nicht nur auf Sekundärliteratur4, sondern auch auf einen Protagonisten, nämlich auf Thomas

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3 4

Zur Auflösung der alten Ordnung kurz Coreth & Schöndorf 1983, ausführlich Mittelstraß 1970. Historisch wird zumeist die These vertreten, dass Liberalismus und Demokratie zunächst eine gemeinsame Bewegung im Geiste der Aufklärung waren, die sich erst später, mit dem Aufkommen der „sozialen Frage“ ausdifferenzierte, dazu z. B. Göhler 2002b. Zur Begründung dieser Vorgehensweise siehe Kapitel 2.3. Ich beziehe mich vor allem auf folgende der zahlreichen Veröffentlichungen zur Staatsphilosophie von Hobbes: Adam 1999/2002: 22-77; Dennert 1970: 167-199; Freudenthal 1982; Habermas 1963a; Kersting 1992; Kersting 1994: 59-108; Kötzle 1999/2002: 97-119, 134-158; Macpherson 1962/1973: 21-125; Meyer 1969: 135-139; Nonnenmacher 1989: 13-69; Paeschke 1989; Schmitt 1938/ 1995; Voigt 2009: 68 ff.

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Hobbes5 (1588-1679), beziehen. Vier Gründe sprechen dafür, sich auf ihn als „Grammatiker“6 des Liberalismus zu berufen. (1) Die Einordnung von Hobbes als liberal ist, wenn sie auch umstritten ist, weder unüblich noch unbegründet. So ist für Habermas „Hobbes der eigentliche Begründer des Liberalismus“7; auch Freudenthal bestimmt Hobbes’ Auffassung als „bürgerlich“8, weil es unbestreitbar scheint, dass er wesentliche Elemente der liberalen Theorie als erster entwickelt hat. (2) Hobbes’ extreme Position, besonders seine Deutung des Naturzustands, bringt die Eigenheiten der liberalen Weltanschauung besonders markant zum Ausdruck.9 Seine Philosophie eignet sich daher eher als die von John Locke oder Adam Smith, die zumeist als Gründungsfiguren und Repräsentanten des Liberalismus genannt werden und atmosphärisch auch eher zu passen scheinen, für die idealtypische Formulierung der hier relevanten Ideen, vor allem von ‚Wildnis‘, aber auch, in Abhängigkeit und Abgrenzung dazu, von ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘. (3) Schließlich kann Hobbes als Begründer des modernen Naturrechts10 und sein Werk als das „erste systematische Werk neuzeitlichen politischen Denkens“11 verstanden werden. Da der Liberalismus in dieser Arbeit so konstruiert wird, dass er logisch die erste moderne Antwort auf das neuzeitliche Ordnungsproblem ist, ist es sinnvoll, ja notwendig, Hobbes’ Sozialphilosophie in die Überlegungen einzubeziehen und ihr einen besonders wichtigen Platz zuzuweisen. Die Wirkmächtigkeit seiner Theorien und deren innere

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Hobbes zitiere ich aus der deutschen Übersetzung von Jacob Peter Mayer unter Angabe der Seite, sowie des Teils und des Kapitels, damit die Stellen auch in anderen Ausgaben gefunden werden können (Hobbes 1651/2005); wo es mir für das Verständnis notwendig erscheint, ergänze ich die Originalbegriffe des englischen Textes (Hobbes 1651/1959). 6 Boltanski & Thévenot 1991/2007: 29 7 Habermas 1963a: 38. 8 Freudenthal 1982: 256. 9 Bernhard Gill bezieht sich in seiner Konstruktion eines „utilitätsorientierten“ Idealtypus, der meinem Typ der liberalen Weltanschauung entspricht, ebenfalls auf Hobbes. Er begründet seine Wahl für ihn damit, dass dessen extreme Position (er bezieht sich hier besonders auf Hobbes’ Naturverdammung) „für die Konstruktion des Idealtyps eines utilitätsorientierten Denkens instruktiv ist: Idealtypisch zugespitzt geht es dem utilitätsorientierten Denken um normativ zwingende Begründungen auf der Basis unbedingter materieller Notlagen“ (Gill 2003: 69). Gerade Protagonisten, die extreme Theorien vertreten, eignen sich also besonders als Material für die Konstruktion von Idealtypen, die dadurch ihrer Funktion als ideale Grenzbegriffe gerecht werden können; denn die Eigenheiten eines bestimmten Denkstils treten bei ihnen besonders markant in Erscheinung. 10 Kühl 1984: 585 ff.; vgl. Gill 2003: 69; Habermas 1963a. 11 Nonnenmacher 1989: 13. – Zwar lebt und wirkt Hobbes lange vor der eigentlichen „Sattelzeit“, er kann jedoch als ihr Wegbereiter und Vordenker aufgefasst werden.

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Konsistenz können (4) als weitere Gründe, sich bei der Konstruktion der liberalen Weltanschauung auf ihn zu beziehen, angeführt werden. „Aufklärung“: Zum Verhältnis von Liberalismus und Demokratismus „Liberalismus ist nicht gleich Demokratie.“12 – Vor dem Hintergrund dieser Feststellung wird sich ein Bild des Liberalismus (und auch des Demokratismus) ergeben, das in einigen Aspekten von gängigen Interpretationen dieser politischen Philosophie abweicht.13 Beide politischen Philosophien werden hier als Varianten der Aufklärung verstanden. Unter letzterer fasse ich die Gesellschaftstheorien des englischen Liberalismus, der französischen Aufklärung und der Position innerhalb der deutschen Aufklärung, die vor allem von Kant vertreten wurde, zusammen. Während ich die Position des englischen Liberalismus in die Darstellung des Idealtypus der liberalen Weltanschauung integriere, erfasse ich die Positionen der französischen Aufklärung und die Kants in der Konstruktion der demokratischen Weltanschauung. Gemeinsam ist den drei bzw. zwei genannten Positionen, dass sie von einer allgemeinen Bestimmung des Menschen ausgehen und die Auffassung vertreten, Grundlage gesellschaftlicher Ordnung und Entwicklung müsse der freie Wille des Einzelnen sein.14 Auf der politischen Ebene besteht die Gemeinsamkeit darin, dass beide Positionen als im engeren Sinne fortschrittlich, als „Agenturen“15 des Fortschritts, bezeichnet werden können. Neben den hier nur angedeuteten Gemeinsamkeiten gibt es aber auch eine Reihe erheblicher Unterschiede. Auf der politischen Ebene wird der Unterschied beispielsweise daran deutlich, dass der (klassische) Liberalismus eine Einschränkung im Wahlrecht propagiert. Bürger – und damit wahlberechtigt – ist nur, wer frei ist, und das heißt faktisch: durch Besitz und Bildung ausgewiesen ist,16 während Demokraten für ein uneingeschränktes Wahlrecht plädieren.17 Auf der erkenntnistheoretischen Ebene macht sich

12 Göhler 2002b: 224. 13 Die Unterscheidung zwischen liberalen und demokratischen progressiven Theorien wird auf unterschiedlicher Basis mit unterschiedlichen Begriffen beispielsweise auch von Habermas 1963b; Macpherson 1967; Nonnenmacher 1989; Radbruch 1950/1963: 160-164; Voigt 2009 getroffen. 14 Jonas 1968: 122 f. 15 Eisel 1999: 28. 16 Zur Weiterentwicklung dieser Position, die – unter Anerkennung des allgemeinen Wahlrechts – zur Idee der repräsentativen Demokratie führte, siehe Habermas 1971. 17 Göhler 2002b: 224. – Dieser Unterschied gründet in differierenden Grundüberzeugungen und Zielen der beiden politischen Philosophien: „Liberalismus ist die

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der Unterschied daran fest, dass der Liberalismus den Annahmen des Empirismus folgt, während sich die Demokratie an denen des Rationalismus orientiert (siehe dazu unten S. 133). Ganz knapp möchte ich im Folgenden auf epistemologische Fundierungen der liberalen Weltanschauung eingehen, um erstens die Gründe für die getroffene Unterscheidung zwischen den Weltanschauungen und zweitens bestimmte theoretische Annahmen des Liberalismus nachvollziehbar zu machen. Empirismus als erkenntnistheoretische Basis des Liberalismus Der Empirismus geht davon aus, dass es keine höhere, d. h. absolute Vernunft oder Wahrheit gibt, bzw. sie gilt als unerkennbar, weshalb es sinnlos erscheint, ihre Existenz anzunehmen.18 Vernunfterkenntnisse können also nicht intuitiv gewonnen werden (wie im Rationalismus), sondern sie können allein „aus der Erfahrung“19 abgeleitet werden. Es sind keine Gesamtzusammenhänge, sondern immer nur einzelne Ereignisse beobachtbar. Diese sind kontingent und verweisen auf keine absolute Wahrheit oder Vernunft. „Die empirischen Einzeldinge gelten nicht als Ausdruck ‚höherer‘ Allgemeinheit, sondern als beliebige Möglichkeiten von Existenz“20. Entsprechend ist auch „Individualität als empirisches, einzelnes Vorkommnis für sich ein belangloses Ereignis“21. Ohne den Bezug auf ein Absolutes bleibt als Maßstab der Ordnung nur der Nutzen für den Menschen: „Alle Ordnung wird durch den Verstand aus Gründen der Nützlichkeit nachträglich formal erstellt“22. Am Einzelnen interessiert also nicht seine Besonderheit, da es das bloß Zufällige und daher zu Vernachlässigende ist. Relevant ist an ihm vielmehr nur das, was die allgemeine Regel bestätigt. Dieser vom Individuellen und Einzigartigen absehende Blick, der sich allein auf das richtet, was das allgemeine Gesetz bestätigt, ist das nomothetische, d. h. das gesetzgebende Moment des Empirismus.23

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Theorie der Entfaltung des autonomen Individuums; entscheidend ist sein Schutz durch den Rechtsstaat. Demokratie ist die Theorie der gleichberechtigten Teilnahme an der Herrschaft durch alle; und zwar möglichst unmittelbar; Vorbilder sind das klassische Athen und die volonté générale bei Rousseau.“ (Ebd.) Kötzle 1999: 29. Kant 1781/1995: 710, A 854, B 882; siehe auch Kant 1781/1995: 442 f., A. 465 f., B 493 f. Kötzle 1999: 29. Eisel 1999: 30. Ebd.: 29. Zum Begriff des Nomothetischen siehe unten, Fußnote 112.

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Vorbemerkung: Der moderne Naturbegriff Mit dem Beginn der Neuzeit wandelt sich die Auffassung von Natur grundlegend. Naturvorstellungen der liberalen Weltanschauung können als paradigmatisch für das moderne Naturverständnis überhaupt und in Teilen, wenn auch in mancher Hinsicht eher als das, wogegen man seine Position aufbaut, für das der anderen drei Weltanschauungen angesehen werden. Daher sollen sie im Folgenden in ihren wichtigsten Zügen dargestellt werden: Das Rationalitätsmodell der mathematischen Naturwissenschaften löst um die Mitte des 17. Jahrhunderts das Bild einer eigenständigen teleologischen Naturordnung ab.24 Krohn hält das Zusammentreten dreier bis dato kaum verbundener Reflexionsformen für konstitutiv für das neue Wissenschaftsverständnis: die Überzeugung, dass wissenschaftliche Erkenntnis die von Naturgesetzen sei, die Arbeitsweise des Experiments und die Idee des wissenschaftlichen Fortschritts.25 „Die Überzeugung, daß die Natur das ‚Dasein der Dinge (sei), sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist‘ (Kant), hatte sich durchzusetzen gegen die Auffassung von Natur als Inbegriff gerade des Unbestimmbaren, Spontanen, gegen die antike Natur als ‚physis‘ (das Blühende, Aufgehende).“26 In dem sich langsam etablierenden „wissenschaftlichen Weltbild“ hatten die Naturgesetze keine unmittelbaren normativen Konnotationen mehr. „Sie geben nunmehr lediglich an, unter welchen Bedingungen sich die Natur selbst verändert und wie sie dementsprechend auch durch technischen Eingriff umgeformt werden kann. Die Zielsetzung ist dabei, anders als in der teleologischen Auffassung, völlig ins menschliche Belieben gesetzt.“27 Natur wird Ressource; die Naturgesetze sind Transformationsre-

24 Allerdings war diese „‚Revolution der Denkungsart‘ (Kant) […] ein Prozeß, der sich über mehrere Jahrhunderte hinzog. Er begann im Spätmittelalter und endete in der frühen Neuzeit mit der sozio-kulturellen Dominanz und Stabilisierung der neuen ‚Denkungsart‘. Diese letzte Phase ist mit Namen wie Harvey, Galilei, Bacon und Descartes verbunden; sie wird gemeinhin ‚wissenschaftliche Revolution‘ genannt.“ (Trepl 1994: 33; vgl. Blumenberg 1983; Coreth & Schöndorf 1983: 15; Dijksterhuis 1956; Habermas 1981/1995a: 210 ff.; Krohn 1977; 1981). 25 Krohn 1977: 32. 26 Trepl 1994: 33; vgl. Daele 1991; Gill 2003: 66. 27 Gill 2003: 67. – Die Naturgesetze „zu beachten ist ein Gebot utilitärer Klugheit und kein moralisches Gebot“ (ebd.), und zwar in dreierlei Hinsicht: erstens im oben schon erwähnten Sinne, dass – dem empiristischen Paradigma gemäß – alle Ordnung in der Natur nur durch die Menschen aus Gründen der Nützlichkeit erstellt wird, zweitens, „weil ein Naturgesetz im neuzeitlichen Sinn eben nur missachtet, aber nicht übertreten werden kann“ (ebd.) und drittens, weil nicht beherrschte, unkultivierte Natur als schädlich (und nicht mehr als böse) aufgefasst wird.

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geln, anhand derer die Veränderungen von Naturphänomenen zu prognostizieren sind und Natur mittels Technik instrumentell nutzbar zu machen ist.28 Ebenso bedeutsam für die Struktur liberalen Denkens sind die Veränderungen in der Konzeption der inneren Natur des Menschen. Hobbes geht in seiner Staatstheorie und Naturrechtslehre nicht mehr von „gottgefälliger, sondern von gefallener Natur“29 aus. Im Naturzustand ist der Mensch unersättlich und aggressiv. Dass er das natürliche Recht auf Selbsterhaltung befolgt, führt zum unerträglichen Zustand des Krieges aller gegen alle. Dem Staat, den Hobbes als Leviathan bezeichnet, fällt die Aufgabe der Friedenssicherung zu. Der Ausgang der Menschen aus dem kriegerischen Natur- in den Gesellschaftszustand ist an die erfolgreiche Unterdrückung der äußeren wilden Natur sowie an die Kontrolle der inneren wilden Natur, der menschlichen Leidenschaften, gebunden. 4.1.1 Wildnis in liberaler Perspektive – Chaos, Fortschritt und das Nicht-Verwertbare Im Liberalismus ist Wildnis überwiegend negativ konnotiert, wie im ersten und dritten Teil dieses Unterkapitels ausgeführt wird. Sie wird als kriegerischer Naturzustand bzw. als Chaos, also als Ort der Unordnung, sowie als das Nicht-Verwertbare, als Sphäre, die sich der Vernunft widersetzt, beschrieben. Dass sie darüber hinaus auch positiv, als Sphäre der Freiheit, wahrgenommen werden kann, ist Gegenstand des zweiten Unterkapitels (siehe Tabelle 2, S. 131). Wildnis als Kriegszustand bzw. als chaotische Natur (Vorstellung 1) Aus liberaler Perspektive steht Wildnis (1) für den gefahrvollen vorgesellschaftlichen und vorstaatlichen Naturzustand des Krieges eines jeden gegen einen jeden. Dieser Zustand soll überwunden werden. Wildnis muss also verdrängt, kultiviert und beherrscht werden. Wenn nicht die Natur der Gesellschaft, die innere Natur des Individuums oder die Natur der bürgerlichen Individuen in den Blick genommen wird, dann kann Wildnis (2) die Bedeutung chaotischer äußerer Natur annehmen.

28 Krohn 1981. – Bei Francis Bacon (1620/1990: 80 f.) findet sich dieser Gedanke paradigmatisch formuliert: „Scientia et potentia humana in idem coincidunt, quia ignoratio causae destituit effectum. Natura enim non nisi parendo vincitur; et quod in contemplatione instar causae est, id in operatione instar regulae est.“ „Wissen und menschliches Können ergänzen sich insofern, als ja Unkenntnis der Ursache die Wirkung verfehlen läßt. Die Natur nämlich läßt sich nur durch Gehorsam bändigen; was bei der Betrachtung als Ursache erfaßt ist, dient bei der Ausführung als Regel.“ 29 Gill 2003: 68.

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Zu (1): Was kennzeichnet den Naturzustand als Wildnis?30 Er ist der Zustand vor aller Gesellschaft. Zwar liegt er am Ursprung, ist aber nicht das Paradies. Er ist vielmehr ein gefahrvoller Kriegszustand, zu dem das Streben der egoistischen Einzelnen nach Selbsterhaltung und die Konkurrenz um die dazu benötigten knappen Güter führen.31 Der Selbsterhaltungstrieb gilt als natürlich und daher rechtmäßig. Um seiner Selbsterhaltung willen hat also jedes Individuum das Recht, alles, was ihm zur Befriedigung nötig erscheint, in Besitz zu nehmen.32 In ihrem Streben nach Selbsterhaltung und der Möglichkeit, dabei zu scheitern, gleichen sich alle Menschen.33 Diese

30 Der Status des Hobbesschen „Naturzustands“ ist umstritten. Für meine idealtypische Formulierung des Liberalismus ist es allerdings irrelevant, ob dieser Zustand eine Beschreibung eines empirischen, in der Geschichte verifizierbaren Sachverhalts ist, z. B. des Bürgerkriegs im England des 17. Jahrhunderts (Koselleck 1959/1976: 18 ff.) oder ein „Modell der frühkapitalistischen Konkurrenzgesellschaft“ (Nonnenmacher 1989: 35 über Macphersons Hobbes-Interpreation), ein „Gesellschaftszustand abzüglich der souveränen Macht“ (Münkler 1993: 110), ein „fiktive[r] Lebensraum des natürlichen Menschen“ (Kersting 1994: 64), eine „logische Hypothese“ (Macpherson 1962/1973: 30 ff.) oder eine „methodisch geleitete Überhöhung der Realität […] im Sinne von Max Webers Konzept des Idealtypus“ (Nonnenmacher 1989: 15); vgl. Voigt 2009: 68, Fußnote 134. 31 „Sooft daher zwei ein und dasselbe wünschen, dessen sie aber beide nicht zugleich teilhaftig werden können, so wird einer des anderen Feind, und um das gesetzte Ziel, welches mit der Selbsterhaltung [their owne conservation] immer verbunden ist, zu erreichen, werden beide danach trachten, sich den andern entweder unterwürfig zu machen oder ihn zu töten.“ (Hobbes 1651/2005: 113 f.; I, XIII) – Es gibt eine äußere Knappheit (also eine mangelhafte Ausstattung der Welt) und eine innere, anthropologisch bestimmte, die durch das prinzipiell unersättliche Streben nach Befriedigung entsteht. (Nonnenmacher 1989: 24 ff.) Dazu tritt „eine sozial gemachte“ Knappheit durch einen „systemimmanenten Zwang zu allgemeiner Akkumulation“ (beide Zitate ebd.: 25). 32 „Deshalb muß jedem auch die gewaltsame Vermehrung seiner Besitzungen [such augmentation of dominion over men] um der nötigen Selbsterhaltung zugestanden werden.“ (Hobbes 1651/2005: 114; I, XIII) „Bei dem Kriege aller gegen alle kann auch nichts ungerecht genannt werden [nothing can be Unjust]. In einem solchen Zustande haben selbst die Namen gerecht und ungerecht keinen Platz. Im Kriege sind Gewalt und List Haupttugenden [Force, and Fraud, are in warre the two Cardinall vertues]“ (ebd.: 117; I, XIII). 33 Zwar gibt es Unterschiede in der körperlichen Stärke, diese sind jedoch irrelevant, denn selbst „der Schwächste ist stark genug, um den Stärksten zu töten; sei es durch List oder im Bündnis mit den anderen“ (Freudenthal 1982: 147). Bei Hobbes heißt es: „Bezüglich der körperlichen Kraft wird man gewiß selten einen so schwachen Menschen finden, der nicht durch List oder in Verbindung mit andern, die mit ihm in gleicher Gefahr sind, auch den stärksten töten könnte [the

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Gleichheit ihrer Selbsterhaltungswillen ist es auch, die die Menschen gegeneinandersetzt: Der Selbsterhaltungstrieb des einen wird zur existenziellen Bedrohung des anderen. Zur Befriedigung des fundamentalen und letzten Ziels der Selbsterhaltung ist jedes Mittel, sei es Gewalt, List, Betrug, Unterwerfung, Versklavung oder Tötung, erlaubt. Jeder unterstellt dem anderen, dass dieser ihn im Kampf um Mittel zur Selbsterhaltung, also gleichsam aus Notwehr, töten oder unterwerfen wird. Keiner kann dem anderen trauen. Der Naturzustand ist „ein System des kollektiven Verdachts“34. Er ist also durch Konkurrenz um knappe Güter und Misstrauen geprägt, aber auch durch Ruhmsucht.35 Diese äußert sich im Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung. Die Verbindung aus Misstrauen und Ruhmsucht sorgt dafür, dass die Befriedigung von Bedürfnissen prinzipiell unmöglich ist; es lässt sich kein Punkt finden, an dem der Einzelne je genug hätte.36 Der Naturzustand ist also ein „Krieg aller gegen alle“37, in dem der Mensch des Menschen Wolf ist, homo homini lupus (Hobbes). Damit ist im Rahmen des Liberalismus das Wesen des Menschen als natürlicher Trieb der Selbsterhaltung bestimmt. Diese Bestimmung impliziert die Gleichheit der Menschen: Sie haben ihn alle von Natur aus und sie haben alle gleichermaßen das Recht, ihn zu befriedigen. Als Ausweg aus diesem Kriegszustand, als Gegenkonzept zum Naturzustand, konstruiert der Liberalismus – der Hobbessche, der hier, wie ich meine, gut begründet, als idealtypisch für den Liberalismus genommen wird – den Staat. Dieser nimmt auf die Bedingungen des menschlichen Zusammenlebens dergestalt Einfluss, dass ein Nebeneinander ohne Gefahr für Leib und Leben, Besitz und Status möglich wird. An den natürlichen Eigenschaften

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weakest has strength enough to kill the strongest].“ (Hobbes 1651/2005: 113; I, XIII) Adam 1999/2002: 51. „Miterwerbung [Competition], Verteidigung [Diffidence] und Ruhm [Glory] sind die drei hauptsächlichsten Anlässe, daß die Menschen miteinander uneins werden. Miterwerbung zielt auf Herrschaft und veranlaßt Streit über Gewinn; Verteidigung hat Sicherheit zur Absicht und streitet für Wohlfahrt; Ruhm strebt nach einem guten Namen und bewirkt oft über geringfügige Dinge Uneinigkeiten wie z. B. über ein Wort, ein Lächeln, eine Äußerung und über jeden Beweis der Geringschätzung entweder unserer selbst oder unserer Freunde und Anverwandten oder unseres Vaterlandes, Gewerbes und Namens.“ (Hobbes 1651/2005: 115; I, XIII) „Wenn diejenigen, welche mit mäßigem Besitz zufrieden sind, nur sich und das ihrige zu verteidigen, nicht aber ihre Macht dadurch zu vermehren suchten, daß sie andere selbst angreifen, so würden sie nicht lange bestehen können, weil es Menschen gibt, die sich entweder aus Machtgefühl oder aus Ruhmsucht die ganze Erde gern untertan machen möchten.“ (Ebd.: 114; I, XIII) Ebd.: 115; I, XIII („a warre, as is of every man, against every man“, Hobbes 1651/ 1959: 64; I, XIII).

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des Menschen und den natürlichen Beziehungen zwischen den Individuen (Konkurrenz) verändert er jedoch nichts. Dieser knappe Vorgriff38 auf die Funktion und Funktionsweise der staatlichen Ordnung erschließt eine weitere Bedeutung von Wildnis: Sie wird als ständige latente Bedrohung des Gesellschaftszustandes wahrgenommen. Denn der Staat bändigt und kanalisiert die Wildnis nur, er beseitigt sie nicht (das kann und das will er nicht, wie sich unten zeigen wird). Das bedeutet, dass sie „in die Gesellschaft hineinragt und durch die politische Technizität, durch die Kunst des Menschen, in Latenz gehalten werden muß“39. Der friedliche, d. h. gebändigte Gesellschaftszustand ist ständig durch das Hereinbrechen von Wildnis bedroht. Oder, um genauer zu formulieren, da Wildnis hier nicht in ihrer Bedeutung als äußere Bedrohung, die hereinbrechen kann, sondern vielmehr als in der Gesellschaft wirkendes Prinzip (Konkurrenzkampf) betrachtet wird: Die Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft schreitet zwar einerseits durch das sie von innen treibende Prinzip voran, andererseits wird es aber auch dadurch bedroht. Durch das Versagen der Kräfte, die eben dieses Prinzip kontrollieren, droht die Gesellschaft von innen destabilisiert zu werden und im Chaos zu versinken, zu einem erneuten Kriegszustand zu verwildern. Zu (2): Wenn nicht die innere Natur des Menschen oder die Natur der Gesellschaft gemeint ist, sondern Bezug auf die äußere Natur genommen wird, kann Wildnis die Bedeutung von schädlichem Chaos annehmen.40 Sie muss daher kontrolliert werden; und sie kann kontrolliert werden.41 Als Wildnis ist Natur immer die (noch) nicht beherrschte. Sie ist unberechenbar, katastrophenträchtig und unzweckmäßig; sie entzieht sich der wissenschaftlich-technischen Kontrolle und bedroht die Gesellschaft durch ihre ungebändigte zerstörerische Kraft: Naturkatastrophen, Hungersnöte, Krankheit, Seuchen und Tod42.

38 Auf den Staat gehe ich ausführlicher erst im Zusammenhang mit Stadt näher ein, siehe dazu unten Kapitel 4.1.3. 39 Nonnenmacher 1989: 41. 40 Vgl. Gill 2003: 74. 41 Auf eine subtile Weise, darauf macht die konservative Kritik am liberalen „Kontrolloptimismus“ (ebd.: 67) aufmerksam, ist die Bedrohlichkeit der chaotischen Natur größer, je technisierter die Gesellschaft ist: Denn je mehr sich eine Gesellschaft in Sicherheit wiegt und je fester sie an die Unbesiegbarkeit ihrer die Natur kontrollierenden Errungenschaften glaubt, umso tiefergehend wird die Erschütterung und der finanzielle Schaden nach Ereignissen sein, in denen die chaotische Natur ihre Bedrohlichkeit unter Beweis gestellt hat. Anschließend werden umso größere Verdrängungsleistungen erforderlich sein, um die Illusion totaler Naturkontrolle, den Kontrolloptimismus, wieder aufzurichten und aufrecht zu halten. 42 Gill weist darauf hin, dass die „grundlegende Selbstverständlichkeit der Moderne, den Tod als das größte Übel anzusehen, […] erst einmal hergestellt werden“ musste (ebd.: 70). Im Mittelalter sei der Tod zwar ständig präsent gewesen in Gestalt von Gewalttätigkeit, Hungersnot, Krankheit und Seuchen. Selbstver-

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Wildnis als Ort des Naturzwangs und zugleich der Freiheit und des Fortschritts (Vorstellung 2) Wildnis gilt aber nicht nur als das zu überwindende und zu kontrollierende Übel, sondern sie kann aus der Perspektive des Liberalismus auch als Ort der Freiheit und des Fortschritts erscheinen.43 Dafür ist wesentlich, dass die Wildnis des kriegerischen Naturzustandes in der bürgerlichen Gesellschaft kanalisiert und als (ökonomische) Konkurrenz das die Gesellschaft antreibende Prinzip wird. Im Folgenden differenziere ich drei Bedeutungen von Wildnis als Sphäre der Freiheit und des Fortschritts, die in ihrer Logik aufeinander aufbauen: So kann Wildnis (1) mit Freiheit der Einzelnen im Selbsterhaltungskampf konnotiert sein; sie kann (2) als Mittel ihrer eigenen Überwindung geschätzt werden und sie kann (3) den Motor des Fortschritts symbolisieren. Zu (1): In der Wildnis ist der Mensch frei, weil er dort unreglementiert seiner inneren Natur folgen und sich nach eigenem Gutdünken die Mittel zur Selbsterhaltung und Nutzenmaximierung beschaffen kann. Keine Beschränkungen halten ihn davon ab, sich ungehemmt mit dem zu versorgen, was er zum Überleben und zum guten Leben braucht.44 Wie denkt nun der Liberalismus die Natur des Menschen, der er folgt, um in der Wildnis frei von gesellschaftlichen Reglementierungen handeln zu können? Da es im empiristischen Liberalismus keine inhaltlich vom Absoluten bestimmte Vernunft gibt bzw. diese nichts Absolutes ist, ist das Wesen des Einzelnen durch etwas anderes als durch höhere Prinzipien bestimmt – durch Natur: „[Die] Person [ist] an nichts Höherem als dem eigenen Nutzen orientiert. Ihr Handeln bemißt sich nicht an vorgängigen Zielen und gilt deshalb auch nicht als Repräsentati-

ständlich habe man ihn zu meiden gesucht, aber „er war im herrschenden Diskurs keineswegs das größte aller denkbaren Übel. Für die Ritter war der Krieg ein Vergnügen und im heldenhaften Kampf umzukommen allemal ehrbarer als ‚im Bett‘ zu sterben. Für die Mönche und Priester war die Erde ein Jammertal, sterben musste der Mensch seit dem Sündenfall sowieso, und nur der Tod bot letztlich Aussicht auf Erlösung.“ (Ebd.: 69 f.) 43 Mit dem, was ich hier „Ort“ nenne, scheint etwas Ähnliches angesprochen zu sein wie Foucaults „Heterotopien“ (Foucault 1984/2006), insofern beispielsweise ‚Wildnis‘ als ein konkreter Ort begriffen werden kann, der gleichsam einen Gegenort zur etablierten Kultur darstellt. 44 Gill macht allerdings darauf aufmerksam, dass die Freiheit, die darin besteht, dem Selbsterhaltungstrieb folgen zu können, in der Fesselung an das utilitätsorientierte Denken „auf der Stelle wieder zum Verschwinden“ gebracht wird: „Negativer Utilitarismus – Leidvermeidung, Kampf gegen sozialen Abstieg – kassiert die Freiheit bei der Wahl der Ziele.“ (Beide Zitate Gill 2003: 73) – Diese Kritik ist, wie sich in Kapitel 4.2 zeigen wird, von konservativer und demokratischer Seite erhoben worden.

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on einer ‚höheren‘ Allgemeinheit, sondern folgt allein ihrem eigenen, in rein mechanischer Weise am Kriterium der Selbsterhaltung orientierten ‚Willen‘.“45

Wille ist nichts anderes als die bewusste natürliche und damit zwangsläufige Orientierung am Begehren nach Selbsterhaltung. Dieses natürliche Begehren ist „ein ‚Streben‘ im Sinne eines prinzipiell unendlichen, ziellosen Selbstantriebes“ und es ist „‚äußerlich‘, d. h. rein […] mechanischer Art“46. Es wirkt aber nicht völlig mechanisch: man muss es sich zu Eigen machen, d. h. bewusst als Regel des Handelns setzen – sonst ist man nicht frei, sondern ein Tier. Man kann wählen zwischen dem, was natürlich, mithin vernünftig ist (den Begierden zu folgen), und dem Unnatürlichen, mithin Unvernünftigen (Askese).47 Zu (2): Die Überwindung der Wildnis des Naturzustandes vollzieht sich in der Gründung eines Staates durch instrumentelle Vernunft48. Diese wird jedoch ihrerseits selbst wieder als natürlich gedacht, so dass der Naturzustand als durch Natur überwunden imaginiert wird. Sie kommt den Menschen bereits im Naturzustand zu, sie haben Einsicht in die Unerträglichkeit ihrer Situation. Daher ist das „‚erste und grundlegende Gesetz der Natur‘, das fundamentale ‚Gebot der rechten Vernunft‘ […], den Frieden zu suchen“49. Das, was die wilde Seite der Natur beherrschen soll, ist also „ein

45 Kötzle 1999/2002: 145. 46 Beide Zitate Kötzle 1999: 30. 47 Aber indirekt (das wäre die Kritik demokratischer und fortschrittskritischer Richtungen) ist man genau dann, wenn man derart „vernünftig“ seinem Begehren folgt, der Natur unterworfen: Man tut dann ja immer genau das, was die Natur (Begehren, Neigung, Triebe) fordert, d. h. sie beherrscht einen mechanisch. 48 „Instrumentelle Vernunft“ bezeichnet eine zweckrational bestimmte Vernunft, die die Welt ausschließlich als Gegenstand technischer Manipulation, die Natur (auch die menschliche) allein als subjektiven Zwecken und Interessen verfügbares Objekt betrachtet. Bei Kant ist diese Art von Vernunft manchmal als theoretische, manchmal als technisch praktische Vernunft bezeichnet. Zum Begriff der instrumentellen Vernunft siehe Habermas 1981/1995a: 28, 489 ff.; Horkheimer 1947/2007; Horkheimer & Adorno 1947/2008. 49 Nonnenmacher 1989: 39 mit Zitaten von Hobbes. – „Allein: dieses Gebot oder Gesetz der rechten Vernunft reicht nicht aus, um den Naturzustand zu beenden. Denn aus der Vernunft resultierte bereits das Naturrecht auf alles“ (ebd.). Zwei Aspekte von Vernunft widerstreiten also einander: Einerseits ist es vernünftig, zur Sicherung des eigenen Überlebens in den Kampf um knappe Güter und Chancen einzutreten und ihn mit allen Mitteln zu führen (vernünftiges Naturrecht), andererseits ist es auch vernünftig, diese für alle unerträgliche Situation zu beenden, also dem Gebot der rechten Vernunft nachzugeben. „Die Vernunft ist mit sich selbst uneins, sie verstrickt sich in eine Antinomie.“ (Ebd.; vgl. zur Antinomie der Vernunft im „Naturgesetz“ auch Habermas 1963a: 36 ff.) Vernunft alleine reicht also nicht aus, damit sich die Menschen aus der unerträglichen Situa-

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Artefakt, der aus dem natürlichen Chaos gegen das natürliche Chaos konstruiert wird“50. Wildnis ist demnach als scheinbar widersprüchlich bestimmt: Sie ist zugleich das zu Unterwerfende und die Bedingung ihrer Unterwerfung. Sie ist einerseits der unmenschliche Kriegszustand, und sie ist andererseits das Mittel ihrer eigenen Überwindung, und zwar in dreierlei Hinsicht: erstens ist die Vernunft, die die Einsicht in die Notwendigkeit einer Staatsgründung gibt, selbst etwas Natürliches, also im Zustand der Wildnis Vorfindliches. Zweitens ist die Wildnis des kriegerischen Naturzustandes das, was notwendig ist, um den Menschen hinreichend Angst zu machen, so dass sie ihre Vernunft einsetzen. Und drittens wird, wie sich gleich ausführlicher zeigen wird, nur weil und wenn die Individuen (weiterhin) ihren Trieben folgen (also eine Seite des kriegerischen Naturzustandes im Gesellschaftszustand präsent bleibt), gesellschaftlicher Fortschritt möglich, durch den der ursprüngliche Naturzustand überwunden werden kann. Wildnis steht dann für die Triebe bzw. das Konkurrenzprinzip, das in den zivilisierten Zustand hinüber gerettet werden muss, damit es Fortschritt gibt. Zu (3): Wenn also der Naturzustand überwunden ist, dann wird Wildnis als Bedingung und Motor des gesellschaftlichen Fortschritts verstanden.51 Als Konkurrenzkampf der Individuen um Güter ist sie diejenige Seite der Natur, die nicht nur im Kriegs-, sondern weiterhin auch im Gesellschaftszustand präsent und prägend ist und sein soll, wenn auch in kanalisierter Form (wie unten, im Stadtkapitel, deutlich werden wird, vgl. S. 121 ff.).52 Wäh-

tion im Naturzustand befreien können. Die Angst vor dem gewaltsamen Tod muss hinzutreten, damit dem natürlichen Gesetz, Frieden zu suchen, Gehör verschafft wird. (Nonnenmacher 1989: 40) 50 Ebd.: 29, Hervorh. V. V. 51 Die Idee des (wissenschaftlichen) Fortschritts hat zwei Quellen: „Die eine bestand in der historischen Unabhängigkeit, welche die Humanisten beim Vergleich mit dem antiken Ideal ihrer eigenen Zeit auf dem Gebiet der Technik einräumen mußten. Die andere war das […] Entstehen dynamischer, sich dem Traditionalismus der Zünfte entziehender Gruppierungen unter den Handwerkern.“ (Trepl 1994: 35 unter Bezug auf Krohn 1977: 39 ff.) War noch im 15. Jahrhundert „der Fortschrittsbegriff eine Idee unter anderen“, so gewann er „zu Beginn des 17. Jahrhunderts […] die Dominanz eines die Zeitverhältnisse organisierenden kognitiven Schemas“ (Krohn 1977: 45). 52 Voigt verdeutlicht, dass der Zusammenhang von Kapitalismus und Liberalismus schon in der Philosophie von Hobbes sichtbar ist, sich stärker noch bei John Locke zeigt, jedoch bei Adam Smith am deutlichsten wird. „An Smiths Variante des Liberalismus wird zudem ein weiterer für die idealtypische Konstruktion wichtiger Aspekt deutlich: Die Konkurrenz der Individualinteressen führt ‚naturwüchsig‘ zu gesellschaftlichem und politischem Fortschritt der kapitalistischen Gesellschaft.“ (Voigt 2009: 79) Die oben im Folgenden angestellten Überlegungen beziehen sich daher eher auf eine Smithsche Variante des Liberalismus denn auf

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rend der Konkurrenzkampf im Kriegszustand dazu führt, dass die Situation für alle unerträglich wird, wird er unter den Bedingungen des Gesellschaftszustandes, in einer kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, als ein gebändigtes und produktives, den Fortschritt beförderndes Prinzip verstanden. Dem „prinzipiell segensreichen Mechanismus der Konkurrenz“ werden durch die staatliche Gesetzgebung „seine ‚mörderischen‘ Implikationen“ genommen.53 Die „natürliche Vernunft [weist] den Weg einer durch Regeln des Zusammenlebens vermittelten, und insofern gehemmten, aber ungefährdeten Befriedigung der Bedürfnisse“.54 Die kapitalistisch organisierte Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ist von der Auffassung geprägt, dass sich die Wirtschaft gemäß dem natürlichen Gesetz zum Wohle Aller entfalten würde, wenn man sie sich selbst überließe. Wenn jeder nach seinem eigenen Gewinn strebe, ohne darüber mit den anderen Absprachen zu treffen, d. h. unter der Bedingung der freien Konkurrenz, sei zugleich dem Wohl aller am besten gedient.55 Die „Warenproduktion ist subjektiv anarchisch, objektiv harmonisch“56. Ein Ausgleich von Angebot und Nachfrage, d. h. ein krisenfreies Funktionieren der Wirtschaft ergebe sich notwendig und von selbst unter den Bedingungen der freien Konkurrenz. „Der Idee zufolge, die die bürgerliche Gesellschaft von sich hat, kann das System der freien Konkurrenz sich selbst regulieren; ja, nur unter der Voraussetzung, daß keine außerökonomische Instanz in den Tauschverkehr eingreift, verspricht es, im Sinne der Wohlfahrt aller und der Gerechtigkeit nach dem Maßstab individueller Leistungsfähigkeit zu funktionieren.“57

Konkurrenz ist also das Prinzip, das als wilde Seite der Menschennatur unter den Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft gleichzeitig auch Motor und Mittel der Überwindung des Naturzustands ist.58

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eine Hobbessche, wenngleich auch Hobbes’ Theorien Bezüge zum Kapitalismus zulassen (Macpherson 1962/1973: 15; 62 ff., 68 ff.). Beide Zitate Kötzle 1999/2002: 144. Habermas 1963a: 37. Kühnl 1974: 75. – Dieses Prinzip ist von Smith formuliert worden: Der Motor des gesamtgesellschaftlichen Fortschritts sei die freie Konkurrenz auf dem Markt (Voigt 2009: 80 unter Bezug auf Smith 1776/2005). Habermas 1971: 108. Ebd.: 101. Diese widersprüchliche Bestimmung von Wildnis findet sich wieder in Hobbes’ Begriff des Naturgesetzes. Denn als naturnotwendig erscheint ihm beides: der kausale „Zusammenhang der asozialen Triebnaturen vor, und die normative Regelung ihres sozialen Zusammenlebens nach der vertraglichen Konstituierung von Gesellschaft und Staat. Die Schwierigkeit liegt auf der Hand: Hobbes muß aus der Kausalität der menschlichen Triebnatur die Normen einer Ordnung ablei-

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Wildnis symbolisiert also für den Liberalismus Freiheit und Fortschritt: Sie kann erstens „Freiheit von den nützlichen Konventionen der bürgerlichen Gesellschaft“59 symbolisieren. Sie kann zweitens als Sinnbild einer Herausforderung für zivilisatorische Leistungen angesehen werden. Sie ist dann der zu überwindende Kriegszustand oder die zu unterwerfende chaotische, äußere und innere Natur. Der Liberalismus sieht in ihr drittens die Antriebskraft für gesellschaftlichen Fortschritt (der Antrieb im und zum Konkurrenzkampf als eine Form von gesellschaftlicher oder individueller innerer Wildnis). Im Hinblick auf die Rolle, die Wildnis in der Romantik annimmt (siehe unten S. 220 ff.), möchte ich hier darauf hinweisen, dass Wildnis in der liberalen Weltanschauung also zwar durchaus positive Bedeutung haben kann, dass sie aber nur, wie deutlich geworden ist, als Mittel zum Zweck und nicht um ihrer selbst willen wertgeschätzt wird. Wildnis als das Nicht-Verwertbare (Vorstellung 3) Wildnis kann auch als nicht verwertbare Natur begriffen werden. Das scheint im Widerspruch zur gerade beschriebenen Bedeutung von Wildnis als Antrieb im Konkurrenzkampf zu stehen. Dort trägt sie, wie wir gesehen haben, als kanalisierte Leidenschaft im kapitalistischen Wirtschaftssystem gerade zum ökonomischen Fortschritt bei. Der Widerspruch ist aber nur Schein, denn diejenige Wildnis, die als nicht-verwertbar imaginiert wird, ist eine andere als die der kanalisierten Leidenschaften: Sie ist (1) entweder diejenige Seite der inneren Wildnis, die nicht kontrolliert und produktiv gewendet werden kann oder (2) die äußere Wildnis. Wildnis erscheint als nicht verwertbar, weil und insofern sie vernunftwidrig ist. Verwertbarkeit und Nutzen hängen im Liberalismus eng mit Vernunft zusammen, weil Nutzen der einzige Maßstab menschlichen Vernunftgebrauchs ist. Eine solchermaßen verstandene instrumentelle Vernunft ist abstrakt: Sie„subsumiert, analysiert und konstruiert und orientiert sich hierbei am überall gültigen Naturgesetz der Selbsterhaltung; sie nimmt also keine Rücksicht auf die Besonderheiten ihres Gegenstandes, sondern abstrahiert davon“60, soweit es unter dem Gesichtspunkt des Nutzens erfolgver-

ten, deren Funktion doch gerade die Erzwingung eines Verzichts auf die primäre Befriedigung dieser Triebe ist.“ (Habermas 1963: 36) Um diesem Widerspruch zu begegnen, differenziert Hobbes „zwischen dem Zwang der natürlichen Begierden und den Geboten der natürlichen Vernunft“ (ebd.) und „vermeidet die Schwierigkeit nur durch fast methodische Äquivokation im Gebrauch des Terminus ‚Naturgesetz‘“ (ebd: 37; vgl. auch Meyer 1969: 136). Allerdings bricht diese „beim Übergang vom Natur- zum Gesellschaftszustand mühsam verdrängte Problematik […] im Begriff der naturrechtlich entworfenen Herrschaftsordnung selbst wieder auf“ (Habermas 1963: 37). Daher wird auch Stadt als Symbol des Staates und Sphäre der Vernunft widersprüchlich bestimmt werden. 59 Kirchhoff & Trepl 2009: 48. 60 Kötzle 1999: 31.

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sprechend ist.61 Nützlich und vernünftig ist Natur also immer dann, wenn das Individuum sie sich als Mittel zur Selbsterhaltung aneignen kann. „Natur“ meint hierbei gleichermaßen die äußeren und die inneren Naturanlagen. Wilde Natur entzieht sich dieser Verwertbarkeit, und zwar, wie angedeutet, auf zwei Ebenen: Zu (1): Die nicht kanalisierte Seite der inneren Wildnis, wird, weil und insofern sie als unkontrollierte Leidenschaft der Selbsterhaltung nicht nützt, als unvernünftige, mithin nicht verwertbare Natur angesehen. Nur wenn es dem Menschen gelingt, seine eigene Triebnatur zu kontrollieren und er „seine Leidenschaften zweckrational betreibt“62, bewährt er sich auf der Ebene seiner vernünftigen gesellschaftlichen, seiner zweiten Natur, d. h. als Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft. Als vernünftig gilt also unter den Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft die strategische Beherrschung der eigenen Triebe und ihre Kanalisierung und Umsetzung in ökonomisch produktive Handlungen. Das unkontrollierte Ausleben der wilden Triebnatur hingegen ist unvernünftig. Diese Form der inneren Wildnis ist nicht verwertete Natur; sie gilt darüber hinaus auch als nicht verwertbar, weil sie erfolgreiches Wirtschaften (als Selbsterhaltung im Gesellschaftszustand) verhindert, unökonomisch ist und gesellschaftlichen Fortschritt unterbindet. Zu (2): Äußere Wildnis ist augenfällig nicht verwertete Natur.63 Sie wird nicht genutzt und beherrscht, ist nicht vernünftiger Nutzenmaximierung un-

61 Diese abstrakte und instrumentelle Vorgehensweise der Vernunft resultiert aus den oben erläuterten erkenntnistheoretischen Prämissen, die mit der empiristischen Basis des Liberalismus gegeben sind. In ihr zeigt sich das nomothetische Moment liberalen Denkens, das im Gegensatz zur „konkreten Vernunft“ des Konservatismus steht. Dieses abstrahierende Moment – von den konservativen politischen Gegnern als „zersetzend“ kritisiert – ist kennzeichnend für die Methode der Erfahrungswissenschaften überhaupt. Nonnenmacher (1989: 13) hält fest, dass „Hobbes’ entscheidende Innovation […] die Verbindung neuer politischer Inhalte mit einer neuen wissenschaftlichen Methode“ ist. Hobbes wendet also auf die Gesellschaft die analytisch-synthetische Methode der Naturwissenschaften an. Er macht „aus dem Naturrecht eine Wissenschaft – hat diese doch ihre Aufgabe dann erfüllt, wenn sie ‚aus den erzeugenden Ursachen die Wirkungen oder umgekehrt aus den erkannten Wirkungen die erzeugenden Ursachen … erforscht‘“ (Habermas 1963a: 34 mit Zitat von Hobbes). Auch Freudenthal (1982: 148) zeigt überzeugend, dass Hobbes für seine Gesellschaftstheorie die gleiche Methode anwendet wie in seiner Physik: „Die aus den Erscheinungen des Systems erschlossenen Gesetzmäßigkeiten werden als Eigenschaften den Elementen zugesprochen, als gälten sie unabhängig vom System, in dem sich die Elemente befinden.“ 62 Kötzle 1999/2002: 113. 63 Wenn Wildnis einer Nutzung zugeführt wird, dann ist sie keine Wildnis im eigentlichen Sinne mehr, sondern wird als Ressource behandelt, was sie in der hier

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terworfen. Zwei gegensätzliche Deutungen sind möglich, wobei die zweite Deutung nicht dem Selbstverständnis des Liberalismus entspricht, und hier deshalb nur kursorisch erwähnt wird: In der optimistischen Interpretation ist unkultiviertes Land immer nur noch nicht genutztes Land; es erscheint als Ressource künftiger Nutzungen, als Expansions- und Fortschrittsversprechen. (Diese Interpretation überschneidet sich mit der oben vorgestellten Deutung von Wildnis als Sinnbild für Herausforderungen zivilisatorischer Leistungen.) Die pessimistische Lesart, dass Natur prinzipiell nicht verwertbar sei, liegt dem kontrolloptimistischen Liberalismus selbst fern.64 4.1.2 Kulturlandschaft in liberaler Perspektive – Überwindung des Kriegszustands, Rückständigkeit und Ressource Kulturlandschaft steht symbolisch für das Landleben. Sie stellt in der Kulturentwicklung eine fortgeschrittene Stufe im Vergleich zur Wildnis dar, steht aber immer noch unterhalb der Entwicklungsstufe der Stadt. Sie symbolisiert einerseits die Überwindung des kriegerischen Naturzustands und kann als verwertbare Ressource wahrgenommen werden, andererseits wird sie aber wesentlich mit politischer und technischer Rückständigkeit in Verbindung gebracht (siehe Tabelle 2, S. 131). Kulturlandschaft als Überwindung des Kriegszustands der Wildnis und als Symbol des Fortschritts schlechthin (Vorstellung 4) Kulturlandschaft wird als Etappensieg über die chaotische innere und äußere Natur interpretiert. In diesem Sinne ist sie Sinnbild der Ordnung der Gesellschaft und des gesellschaftlichen Fortschritts weg vom Ursprung. Es wird sich allerdings zeigen, dass es wesentlich ist, wie die Überwindung der Wildnis in Gestalt der Kulturlandschaft gedacht wird: Sie kann entweder, als falsche Überwindung der Wildnis, für Unfreiheit und Rückständigkeit stehen (Vorstellung 5) oder, wenn die Überwindung der Wildnis auf die richtige Weise vollzogen wird, als Ressource positiv bewertet werden (Vorstellung 6). Wenn über Kulturlandschaft jedoch im anerkennenden Sinn ge-

angelegten Logik zu einer Form von „Kulturlandschaft“ werden lässt, wie im folgenden Kapitel (4.1.2) deutlich werden wird. 64 Sie wird aber von seinen weltanschaulichen Gegnern als Kritik aufgegriffen und schließt von der faktischen Nicht-Verwertetheit auf die prinzipielle Unmöglichkeit der totalen Verwertbarkeit: Wildnis symbolisiert dann Natur, die sich der Logik der Verwertbarkeit schlechthin entzieht und ist als solche ein Eingeständnis in die prinzipielle Unterlegenheit der menschlichen Vernunft unter die Macht der Natur – was als Scheitern der liberalen Idee der umfassenden Kontrolle über die Natur gedeutet wird.

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sprochen wird, ohne dass diese Differenzierung beachtet wird, dann symbolisiert sie einen der Kernwerte des Liberalismus, nämlich Fortschritt als solchen, der sich allein dadurch definiert, dass es eine Weiterentwicklung vom Ursprung gibt. Kulturlandschaft als Sphäre der Unfreiheit (Vorstellung 5) Wenn am Landleben die politische und technische Rückständigkeit betont wird, dann wird Kulturlandschaft als Symbol der falschen Überwindung des kriegerischen Naturzustandes gesehen. Sie steht dann für die Abhängigkeitsverhältnisse des Feudalismus oder für konservative Gesellschaftsideale. Deren Prinzip ist das einer Bindung der Einzelnen an die hierarchisch gegliederte Gemeinschaft. Dadurch wird zwar die Gesellschaft auch aus dem kriegerischen Naturzustand geführt. Es handelt sich aber aus liberaler Perspektive um die falsche Überwindung der Wildnis, weil die wahre Natur des Menschen verkannt bzw. unterdrückt wird. Die richtige bestünde in der Regelung des Kampfes der Einzelnen um Mittel zur Selbsterhaltung. Kulturlandschaft ist somit Ort der Unfreiheit, die sich direkt (1) als politische Unfreiheit, (2) als Missachtung der individuellen Autarkie sowie (3) indirekt als technische Rückständigkeit äußert. Zu (1): Das Landleben erscheint in der liberalen Vorstellung als durch Reste feudaler Strukturen geprägt, wie beispielsweise die Abhängigkeitsbeziehungen in einem gottgewollten hierarchischen Gesellschaftssystem, das tradierte Recht der Fürsten oder Religion. Diese Relikte sind in der Kulturlandschaft sichtbar oder doch unausweichlich mit Sichtbarem assoziiert, beispielsweise als Burgen, Kirchen und kleine Dörfer in einer Landschaft, die auf traditionelle bäuerliche Formen der Landbewirtschaftung schließen lassen. Man könnte sogar so weit gehen, sie als konstitutiv für das liberale Verständnis von Kulturlandschaft anzusehen: Nur wenn Zeichen feudaler Reste in der Kulturlandschaft sichtbar sind, kann überhaupt von ‚Kulturlandschaft‘ gesprochen werden. Wenn diese Relikte nicht (mehr) vorhanden sind, dann gilt die Kulturlandschaft als zerstört – das wird aber keinesfalls bedauert. Denn die Kulturlandschaft, die mit Burgen, Kirchen und kleinen Dörfern dem konservativen Ideal entspricht (siehe dazu unten, S. 147 ff.), ist Ausdruck derjenigen Gesellschaftsform, gegen die der Liberalismus antritt. In bestimmter Hinsicht, nämlich insofern, als sie mit Irrationalität verbunden sind, können die Relikte voraufklärerischer Gesellschaftszustände auch als Wildnis-Reste interpretiert werden. Gerade das, was aus fortschrittskritischer Perspektive als Inbegriff oder Krönung der Kulturlandschaft gilt (nämlich eben jene Burgen, Kirchen oder kleinen Ortschaften), wird dann als nicht völlig überwundene Wildnis gedeutet, insofern diese Relikte als Ausdruck des unvernünftigen, „wild gewachsenen“ feudalen Beziehungsge-

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flechts gedeutet werden.65 Kulturlandschaft ist also Ausdruck und Symbol politischer Rückständigkeit. Gegen einen Feudalismus, der in falschen Vorstellungen von der Natur des Menschen und von der gesellschaftlichen Ordnung wurzelt, und für die Realisierung von Freiheit argumentieren die Liberalen mit dem Naturrecht. Das heißt, sie argumentieren mit dem Bezug auf die wahre Natur – und das ist die wilde Natur – gegen den Bezug auf Kultur als Tradition. Zu (2): In diesem Sinne weist auch Hobbes alle feudalen Begründungen des Staates zurück.66 Grundlage dieser Zurückweisung ist die natürliche Autarkie des Menschen. Autarkie bedeutet, dass jedes Individuum über alle für das Überleben notwendigen menschlichen Eigenschaften von Natur aus verfügt. Zu diesen Eigenschaften gehören neben den physischen auch die mentalen, die Vernunft und das Sprachvermögen, ohne die kein Gesellschaftsvertrag geschlossen werden kann. Dass diese Autarkie „natürlich“ ist, meint, dass sie den Individuen von Natur aus zukommt, dass sie ihnen also unabhängig vom Systemganzen der Gesellschaft zugeschrieben werden kann.67 Freudenthal zeigt, dass bei Hobbes der Abschluss des Gesellschaftsvertrags neben der Freiheit wesentlich die Autarkie des Menschen voraussetzt.68 Der Mensch ist also nicht von Natur aus ein Gesellschaftswesen – das ist ein Seitenhieb gegen die feudale Vorstellung von der Ursprungsgemeinschaft, auf die später der Konservatismus rekurriert. Vielmehr vergesellschafte sich der autarke Einzelne auf Grund willentlicher, bewusster und vernünftiger, d. h. nutzenorientierter Handlungen im Vertragsschluss. Der Liberalismus weist damit den feudalen Grundsatz, ein Staat stelle einen naturgegebenen, hierarchischen Organismus dar, radikal zurück. „Die theoretischen Konsequenzen aus Hobbes’ Begründung des Staates liegen darin, daß Gleichheit statt Hierarchie, Eigeninteresse statt Allgemeinwohl (bonum comune), Fähigkeit statt erbliches Recht, Vernunft statt Tradition, Macht statt göttliches Recht zum Ausgangspunkt der politischen Theorie werden.“69

65 Dieses Geflecht kann also einerseits als Natur wahrgenommen werden, als Rest unvernünftiger Wildnis, die als beengend empfunden wird, wenn der Fortschritt, der auf dem richtigen Einsatz der Wildnis-Prinzipien – Konkurrenz in der bürgerlichen Gesellschaft – beruht, einmal in Gang gekommen ist. Andererseits ist das feudale Beziehungsgeflecht auch Nicht-Natur, nämlich die falsche Weise der Kulturentwicklung. Diese beruft sich auf Natur, aber nicht auf die wahre Natur. Der würde nur mit dem Naturrecht entsprochen, auf dem aber die Gesellschaft, die durch die Kulturlandschaft symbolisiert wird, gerade nicht beruht. Diese beruht vielmehr auf Tradition als Konvention, die fälschlicherweise für natürlich erklärt wird. 66 Freudenthal 1982: 195 f. 67 Ebd.: 204. 68 Ebd.: 202 ff. 69 Ebd.: 209.

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In der Kulturlandschaft mit ihren sichtbaren Resten feudaler Beziehungsgeflechte spiegeln sich also Hierarchie, Primat des Allgemeinwohls, Tradition, erbliches und göttliches Recht. Sie steht daher für die Missachtung der Autarkie des Einzelnen und die Unterdrückung seiner naturrechtlichen Freiheit in den feudalen Abhängigkeitsverhältnissen. Zu (3): Kulturlandschaft kann noch in einem weiteren Sinne für Unfreiheit stehen: als Symbol technischer Rückständigkeit. Das Landleben, so ein geläufiger Topos, verschließt sich technischen Neuerungen, steht ihnen skeptisch gegenüber, so dass sie sich entweder gar nicht oder nur zu zögerlich durchsetzen können. Dadurch können nicht alle Möglichkeiten ausgenutzt werden, die Natur als Ressource zu verwerten und sich so von ihren Zwängen zu befreien. Kulturlandschaft als verwertbare Ressource (Vorstellung 6) Kulturlandschaft kann auch als ökonomisch verwertbare Ressource wahrgenommen und behandelt werden. Sie entspricht dann nicht mehr der traditionellen, sondern einer rationell bewirtschafteten und gestalteten Kulturlandschaft. Als solche ist sie diejenige Form von Natur, in der deren Ressourcen optimal genutzt werden; sie ist die nach menschlichen Bedürfnissen gestaltete Natur.70 Diese Art der Naturausbeutung gilt als vernünftig und damit als natürlich (und nicht etwa als naturwidrig), denn in der rationell gestalteten Kulturlandschaft eignet sich der Mensch dem natürlichen Gesetz der Selbsterhaltung entsprechend und auf seinen Nutzen bedacht die äußere Natur durch seine Vernunft an und unterwirft sie sich. Eine solchermaßen genutzte Kulturlandschaft gilt als „Inkarnation der zweckmäßigen Schlichtheit“71. Diese wurde in der Aufklärung mit Vernunft gleichgesetzt und gegen die verschwenderische Unvernunft des Hofes gesetzt, so dass das Land als vernünftig gegen diese Unvernunft gestellt werden konnte. „Das Motiv dieser Wendung zur Natur im politischen Kampf gegen die Feudalordnung ist die Abwendung vom absolutistischen Staat und von der Un-Natur des höfischen Lebens.“72 Im Gegensatz zur traditionellen Variante stellt die rationell gestaltete Kulturlandschaft die richtige Überwindung des Kriegszustands dar. Ihre Bedeutung ist in allen Punkten derjenigen von Kulturlandschaft als Symbol der

70 Auch die traditionelle Kulturlandschaft, so könnte man einwenden, wird optimal genutzt, insofern dort alles Land sorgfältig bestellt oder beweidet wird, man überall das Bemühen um Nutzung sieht. Aber diese Form der Bewirtschaftung geschieht mit den prinzipiell falschen Mitteln, nämlich traditionell bäuerlichen, wohingegen die rationell gestaltete Kulturlandschaft das Ergebnis einer Modernisierung der Landwirtschaft ist; der gegenüber erscheint die traditionelle Kulturlandschaft dann als rückständig. 71 Eisel 1982: 159. 72 Ebd.; siehe auch Eisel 1981: 129.

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Unfreiheit und Rückständigkeit entgegengesetzt. Sie gehorcht, so ließe sich sagen, eigentlich dem „Paradigma Stadt“, d. h. denselben Prinzipien, die die moderne Großstadt hervorbringen. Das bedeutet, Kulturlandschaft wird in ihrer Bedeutung als Ressource so wahrgenommen, wie auch die Stadt imaginiert wird: als Sphäre der Freiheit von Wildnis durch Vernunft und als richtige Überwindung des Kriegszustands. Sie ist, wie die Stadt, technisiert; nur ist ihr Material, ihr Inhalt, im Gegensatz zur Stadt „Natur“. Anders formuliert: Aus liberaler Perspektive hat Kulturlandschaft immer nur dann positive Bedeutung, wenn es gelingt, sie als Ressource zu sehen, wenn sie Gegenstand umfassender Beherrschung und Ausbeutung ist und nicht einer Pflege, die ja auch in gewissem Sinn umfassend sein kann. Unter dieser Perspektive ist es vollkommen irrelevant, ob die einzelne Landschaft einen typischen Charakter aufweist, vielfältig ist, oder sich durch Geschichtlichkeit auszeichnet, wie dies für die konservative Bestimmung der Idee der ‚Kulturlandschaft‘ wesentlich ist (siehe unten S. 147 ff.). In einer raffinierteren Lesart können Eigenart, Vielfalt und Geschichte jedoch auch in liberaler Perspektive relevant werden, nämlich wenn Menschen ein Bedürfnis danach haben, wenn diesen Aspekten also ein bestimmter Nutzen zugeschrieben werden kann. Allerdings liegen sie dann auf derselben Ebene wie beispielsweise ‚Bodenfruchtbarkeit‘ oder ‚Erreichbarkeit‘.73 In ihrer Bedeutung als verwertbare Ressource wird ‚Kulturlandschaft‘ an die Grenzen ihres Begriffs geführt, d. h. die spontanen Assoziationen, die sich angesichts dieses Begriffs einstellen mögen, treffen kaum mehr zu, weil sie nicht traditionelle Kulturlandschaft ist, sondern als Ressource benutzt und in eine „Agrarlandschaft“ oder „Erholungslandschaft“ transformiert wird. Eine im liberalen Sinn (produktive) Kulturlandschaft ist also, das wird an dieser Stelle deutlich, dann gerade nicht mehr das, was aus der Perspektive der anderen Weltanschauungen als Kulturlandschaft gilt.74

73 Der Irrelevanz der landschaftlichen Eigenart im ökonomischen Verwertungsprozess entspricht die Beschränkung der Gesetzgebung im liberalen Staat auf den formalen Verkehr der Individuen untereinander, denn die Persönlichkeit der Individuen ist nur in den Aspekten von Bedeutung, in denen sie zur Steigerung der Leistungsfähigkeit im Konkurrenzkampf eingesetzt werden kann. 74 Das zeigt sich beispielsweise in der Suche nach Begriffen, die das Ergebnis von Bewirtschaftungsweisen nach liberaler Auffassung zutreffend beschreiben. Man spricht von „Agrarlandschaften“, „Flächen der industriellen Landwirtschaft“ etc. Es zeigt sich auch in zeitgenössischen Debatten, in denen um ein modernes Kulturlandschaftsverständnis gerungen wird. Grob gesprochen, stehen sich zwei Positionen gegenüber: Während die eine versucht, den Begriff „wertneutral“ neu zu bestimmen und jede vom Menschen veränderte Landschaft als „Kulturlandschaft“ verstanden wissen möchte (z. B. Breuste & Keidel 2008; Breuste 2001; Bundesministerium für Verkehr & Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung 2006; Einig & Dosch 2008; Gailing et al. 2008), hält die andere Richtung, mit unterschiedlichen Begründungen und Absichten, an einem engeren Kulturland-

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Die Verwilderung einer Kulturlandschaft, die als verwertbare Ressource wahrgenommen wird, ist prekär. Die Vorstellung, dass sie von Wildnis zurückerobert, dass also die Überwindung der wilden Natur durch ihre Nutzung als Kulturlandschaft aufgehoben wird, ist aus zwei miteinander eng verwobenen Gründen unerträglich: Ihre Verwilderung darf erstens nicht zugelassen werden, weil und wenn Kulturlandschaft als Symbol des überwundenen Naturzustands für Naturbeherrschung steht. Eine verwilderte Kulturlandschaft stellt die Grundlage der Kultur, die Beherrschung von Natur, in Frage. Der zweite Grund ist darin zu suchen, dass die verwilderte Kulturlandschaft offensichtlich nicht mehr genutzt wird und damit nicht mehr als Ressource oder Produktionsmittel zur Verfügung steht.75 Sie ist Ausdruck einer mangelnden Fähigkeit oder Bereitschaft, Natur zu kontrollieren und ökonomisch zu verwerten. Dies ist intolerabel, weil es die Grundsätze der liberalen Weltanschauung in Frage stellt. Verwilderte Kulturlandschaft ist also ein Hinweis darauf, dass unvernünftige gesellschaftliche Zustände herrschen. Diese gelten sogar als noch unvernünftiger als diejenigen, auf die die ursprüngliche Wildnis verweist. Denn während diese Zustände versinnbildlicht, in denen noch Hoffnung besteht, das Land in Zukunft der Verwertbarkeit zuzuführen, hat sich bei einer verwilderten Kulturlandschaft diese Hoffnung bereits als trügerisch herausgestellt. 4.1.3 Stadt in liberaler Perspektive – Kanalisierung der Leidenschaften, Freiheit und vernünftige Verwertung der Naturressourcen Die Stadt ist aus liberaler Perspektive der symbolische Ort des Gesellschaftszustands, der Ort also, an dem der Naturzustand überwunden und der Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft vollzogen ist. Als solcher kommen ihr, wie sich im Folgenden zeigen wird, ausschließlich positive Bedeutungen zu: Erstens überwindet sie auf die richtige Weise die Wildnis: Sie schafft gesellschaftliche Ordnung, indem die Leidenschaften als Wesensmerkmal der menschlichen Natur nicht geleugnet, sondern kanalisiert und in die richtige (produktive) Richtung gelenkt werden. Das führt zweitens zu gesellschaftlicher Freiheit, da die Stadt auch die Überwindung des in der schaftsverständnis fest (z. B. Kühn 2001; Schenk 2008). Zu dieser Diskussion Hokema 2009. 75 In der neueren Naturschutzforschung zum Thema Wildnis gibt es Versuche zu zeigen, dass Wildnis aus verschiedenen Gründen sehr wohl ökonomischen Wert habe und daher im Interesse der Wirtschaft zu erhalten sei. Es wird also versucht, Wildnis in das System (Wirtschaft) zu integrieren, durch dessen Ausgrenzung sie sich doch überhaupt erst definiert (Wildnis als das Nicht-Verwertbare). Vgl. beispielsweise die Beiträge von Günther 1999 und Rademacher 1999 in Bayerische Akademie für Naturschutz und Landschaftspflege 1999; im selben Heft kritisch dazu Hampicke 1999.

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Kulturlandschaft symbolisierten und gegebenen organischen Abhängigkeitsgeflechts des Feudalismus ist. Drittens steht sie für technischen und ökonomischen Fortschritt, indem Natur als verwertbar gedacht und verwertbar gemacht wird (siehe Tabelle 2, S.131). Stadt als Sphäre von Fortschritt und Ordnung durch die produktive Kanalisierung der Leidenschaften (Vorstellung 7) Wesentlich für das Verständnis der Stadt als die richtige Weise, die Wildnis (kriegerischer Naturzustand) und die Kulturlandschaft (feudales Abhängigkeitsgeflecht) zu überwinden, ist, dass sie als Ort der produktiven Kanalisierung der Leidenschaften wahrgenommen wird. Sie ist die Sphäre des entschärften, weil Regeln unterworfenen und ins Reich des Ökonomischen übertragenen Überlebenskampfes. Der Staatsvertrag regelt (1) durch die Machtfülle des Souveräns das Zusammenleben der Individuen, jedoch auf nur formale Weise. Dadurch können die natürlichen Leidenschaften weiterhin ausgelebt werden. Sie werden allerdings im Rahmen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung produktiv gewendet, so dass es (2) zu ökonomischem, technischem und gesellschaftlichem Fortschritt kommt, der auf eine verborgen wirkende Ordnung verweist. Zu (1): Der Staatsvertrag lässt Raum zur Entfaltung der inneren wilden, aber kanalisierten Natur, zügelt jedoch das todbringende Misstrauen der Einzelnen, wie es im Naturzustand unvermeidlich war. Der Staat ändert also die menschliche Natur nicht,76 er nimmt nur auf die Bedingungen des menschlichen Zusammenlebens dergestalt Einfluss, dass ein Nebeneinanderleben ohne Gefahr für Leib und Leben möglich wird.77 Diese Zurückhaltung gegenüber inhaltlichen Vorgaben zur Lebensführung ist charakteristisch für die liberale Weltanschauung überhaupt. Maxime staatlicher Gesetze ist, dem Einzelnen die Möglichkeit zu geben, sich frei entfalten zu können, sofern er dabei nicht mit dem gleichen Freiheitsgebrauch aller anderen in Konflikt gerät. Um diese Entfaltung der Persönlichkeit zu ermöglichen, müssen sich die Gesetze auf Regelungen des formalen Verkehrs der Individuen untereinander beschränken und dürfen nicht versuchen, die private

76 Der Mensch kann nicht von Grund auf geändert, d. h. verbessert, werden, „weil alle Laster entweder unausrottbar in der menschlichen Natur wurzeln oder unvermeidlich aus der menschlichen Befindlichkeit in der Welt resultieren“ (Nonnenmacher 1989: 27 f.). Hierin liegt ein entscheidender Unterschied zur Aufgabe, die die demokratische Weltanschauung dem Staat gibt (siehe unten Kapitel 4.3). 77 Einen Mitbürger zu töten ist nicht erlaubt (da durch das Gesetz verboten). Aber es können, als in den Bereich des freien Marktes transponiertes Äquivalent zur Tötung, ökonomische Existenzen vernichtet werden. Wer sich des Marktgesetzes nicht richtig zu bedienen weiß, kommt um, d. h. ist wirtschaftlich vollkommen erfolglos. Gill (2003: 71) weist darauf hin, dass sich die Furcht vor dem Hungertod nahtlos in der Angst vor dem „sozialen Tod“ fortsetzen kann.

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Sphäre, zu der auch der Bereich der Produktion und der Verteilung der Güter zählt, inhaltlich in bestimmter Weise zu gestalten.78 Die gesetzlichen Regelungen haben also den Charakter formaler Gesetze: Sie stellen lediglich allgemeine Regeln über den Umgang der Menschen untereinander auf; dem Inhalt der jeweiligen Vereinbarungen der Privatleute gegenüber soll der Staat jedoch neutral bleiben („Nachtwächterstaat“).79 Die formale Gesetzgebung stellt also gleichsam den Rahmen dar, innerhalb dessen Spielraum für die innere wilde Natur besteht. Dass die liberale Gesetzgebung rein formal ist, darf nicht zu dem Schluss verleiten, der Liberalismus der Hobbesschen Variante konstruiere prinzipiell einen schwachen Staat.80 Er muss schließlich der Aufgabe gewachsen sein, die wilden Leidenschaften zu kontrollieren und den aus ihnen erwachsenden Kriegszustand zu beenden. Hobbes tritt daher im Leviathan für unumschränkte Staatsgewalt ein. Deren Notwendigkeit begründet er damit, dass der Krieg aller gegen alle um der Selbsterhaltung eines jeden willen zu verhindern sei.81 Die Menschen vergesellschaften sich also, um die „faktische Rechtlosigkeit eines jeder positiven Regelung und rationalen Vereinbarung entbehrenden Naturmilieus“82 zu fliehen. Ohne den Leviathan würde die Gesellschaft in den kriegerischen Naturzustand zurückfallen. Damit der Staat diesen beenden kann, muss er mit absoluter Macht ausge-

78 Kühnl 1974: 72. – In seinem Privatleben besitzt der Einzelne also Individualität, nicht aber als Rechtsperson; als solche ist er „individualitätsloses Individuum“ (Radbruch 1950/1963: 159, im Original kursiv). 79 Zur Sicherung der Privatsphäre und zum Schutz der individuellen Entfaltung gegen alle Eingriffe und Behinderungen von außen, d. h. sowohl gegenüber der Gesellschaft wie auch einzelnen Mitmenschen, nehmen die Grundrechte einen besonderen Rang ein (Göhler 2002b: 212; Kühnl 1974: 72). Kühnl (1974: 72) weist darauf hin, dass die Menschenrechte zwar als allgemein-menschliche ausgegeben werden. „Soziologisch aber sind sie ganz konkret auf die Bedürfnisse des Bürgertums zugeschnitten, das freilich im Kampf gegen den Absolutismus seine Interessen mit denen aller Menschen identifizierte.“ 80 Dies ist in den Lockeschen und Smithschen Varianten des Liberalismus allerdings in der Tat der Fall. Da sie die menschliche Natur nicht als Wolfsnatur bestimmen, sondern als produzierende betrachten, reicht ein schwacher Staat zur Regelung der gesellschaftlichen Ordnung aus. 81 „Die Absicht und Ursache, warum die Menschen bei all ihrem natürlichen Hang zur Freiheit und Herrschaft sich dennoch entschließen konnten, sich gewissen Anordnungen, welche die bürgerliche Gesellschaft trifft, zu unterwerfen, lag in dem Verlangen, sich selbst zu erhalten und ein bequemeres Leben zu führen; oder mit anderen Worten, aus dem elenden Zustande eines Krieges aller gegen alle gerettet zu werden.“ (Hobbes 1651/2005: 151; II, XVII) 82 Habermas 1963a: 35.

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stattet werden.83 Alle Untertanen werden so weit entmachtet, dass sie dem Staat gegenüber als gleich gelten können – sie sind gleich in ihrer Ohmacht ihm gegenüber. Der Souverän „bewältigt […] das Sicherheitsproblem, indem er die Macht und die Rechte der Individuen bei sich monopolisiert“84. Recht- und Machtlosigkeit der Untertanen sind also Vorbedingungen der Aktionsfähigkeit des mit absoluter Machtfülle ausgestatteten Souveräns.85 Der Staat muss gerade deshalb mit absoluter Machtfülle ausgestattet sein, weil er es nur so den Einzelnen ermöglichen kann, auch im Gesellschaftszustand ihrer Natur zu folgen. Wäre er weniger stark, dürfte der (wenn auch kanalisierten) Triebbefolgung gar nicht stattgegeben werden aus Angst, sogleich die Kontrolle zu verlieren. Zu (2): Die Stadt befreit also die Bürger zur Wildnis auf einer, im Vergleich zum kriegerischen Naturzustand, höheren Stufe. In ihr darf nach den Regeln, die der wilden Natur des Menschen entsprechen, gelebt werden. Diesen Leidenschaften zu folgen hat aber nicht die unvernünftigen und mörderischen Konsequenzen wie im Kriegszustand, weil erstens das Zusammenleben durch den Staat geregelt ist und zweitens der Kampf um Selbsterhaltung und den eigenen Vorteil ins Reich des Ökonomischen transponiert ist. Der Kampf vollzieht sich also im Rahmen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, er wird zur legitimen und produktiven ökonomischen Konkurrenz. „Die den Menschen bestimmende Verhaltensstruktur bleibt dabei in ihren wesentlichen Implikationen erhalten und bildet im befriedeten Zustand der bürgerlichen Gesellschaft dasjenige Moment des kapitalistischen Marktgeschehens, das die legitime

83 Hobbes 1651/2005: II, XVIII und XXX. – Hobbes legitimiert also absolutistische Herrschaft, er verändert allerdings die Legitimität dieser Herrschaft grundlegend: „Als Inhaber der Staatsgewalt steht der Fürst nicht mehr als Beauftragter Gottes, sondern der Gesellschaft gegenüber dem Staat, und er ist auf die liberalen Intentionen des Naturrechts prinzipiell verpflichtet.“ (Voigt 2009: 70; vgl. Gill 2003: 69; Schmitt 1938/1995: 50). Hobbes fordert zwar die unbeschränkte Macht des Souveräns, „aber gerade nicht für den Herrscher als Subjekt, sondern als Prinzip, dem auch der Herrscher selbst zu folgen hat“ (Paeschke 1989: 66). 84 Nonnenmacher 1989: 41. 85 Die Menschen, „stimmen aus Furcht und Vernunft dem an sich (und für sie) widernatürlichen Zustand zu, beherrscht zu werden“ (ebd.: 43). Die Vernunft alleine kann die Menschen nicht aus dem kriegerischen Naturzustand befreien. Die Angst der „asozialen Triebnaturen“ (Habermas 1963a: 36), getötet zu werden, gibt also letztendlich den Ausschlag, um der Friedenssicherung willen die eigene Macht auf den Leviathan als eine „Institution der Furcht“ (Adam 1999/2002: 52) zu übertragen. Zur Furcht vor dem gewaltsamen Tod bei einem Rückfall in den Naturzustand tritt die Furcht vor den Sanktionen des Staates.

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und konstitutive Handlungsweise der bürgerlichen Privatexistenz ist: das Phänomen der Konkurrenz.“86

Diese führt, wie oben bereits ausgeführt, „naturwüchsig“ zu gesellschaftlichem und politischem Fortschritt der kapitalistischen Gesellschaft. Die Existenz des Fortschritts gilt im Liberalismus also als Verweis darauf, dass die Gesellschaft als Ganze dennoch nicht im Chaos versinkt, mithin ohne jede Ordnung ist, obwohl sich der Fortschritt grade dem Wirken der inneren Wildnis verdankt. Man unterstellt also, weil es Fortschritt gibt, die Existenz einer die Gesellschaft ordnenden Macht, für die Adam Smith den Begriff der „invisible hand“87 prägte: Die Volkwirtschaft entwickle sich, indem jeder Einzelne nach seinem eigenen Vorteil strebe, wie von einer „unsichtbaren Hand“ gelenkt, nämlich durch die Ordnungskraft des Marktes geleitet, zum Wohle aller. Stadt als Sphäre der Freiheit durch Bindungslosigkeit (Vorstellung 8) Die Freiheit, die in der Stadt erfahren werden kann, ist das wichtigste Resultat der angemessenen Art der Überwindung der Wildnis. Sie besteht – das folgt aus der Bestimmung des menschlichen Wesens als natürlicher Trieb der Selbsterhaltung – „in der Möglichkeit zur ungehinderten Entfaltung der eigenen Natur, d. h. des Selbstinteresses“88. Diese Freiheit wird in der Stadt auf ganz unterschiedlichen Ebenen erfahrbar: (1) Auf politischer Ebene ist

86 Kötzle 1999/2002: 144. 87 „As every individual […] endeavours as much as he can both employ his capital in the support of domestic industry, and so to direct that industry that its produce may be of the greatest value; every individual necessarily labours to render the annual revenue of the society as great as he can. He generally, indeed, neither intends to promote the public interest, nor knows how much he is promoting it. By preferring the support of domestic to that of foreign industry, he intends only his own security; and by directing that industry in such a manner as its produce may be of the greatest value, he intends only his own gain, and he is in this, as in many other cases, led by an invisible hand to promote an end which was no part of his intention. Nor is it always the worse for the society that it was no part of it. By pursuing his own interest he frequently promotes that of the society more effectually than when he really intends to promote it.” (Smith 1776/199X: 187; vgl. Voigt 2009: 81 f.) 88 Kötzle 1999: 31. – Andere Beschreibungen des Liberalismus formulieren dieses Anliegen als „Entfaltung des Individuums“ (Göhler 2002b: 212), das ist aber insofern problematisch, als man das für den Konservativismus auch sagen könnte, allerdings ist dessen Begriff von Individuum gänzlich anders konzipiert, so dass die „Entfaltung“ dort eine in der Bindung ist, und die liberale freie „Entfaltung“ gerade als Triebgebundenheit erscheint (siehe dazu unten Kapitel 4.2).

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sie als Befreiung vom feudalen, organisch-hierarchischen Abhängigkeitsund Verpflichtungsgeflecht zu erleben. Sie bedeutet (2) auch Freiheit von der äußeren Natur, d. h. Freiheit von den physischen Naturzwängen. Die in der Stadt gegebene Freiheit ist außerdem nicht nur eine zum sublimierten Ausleben der Leidenschaften, sondern sie besteht (3), auf einer sozialpsychologischen Ebene, auch in der Freiheit von den mörderischen Implikationen der inneren Wildnis. Zu (1): Die Liberalen kämpfen an zwei Fronten für die Befreiung aus politischer Rückständigkeit: erstens gegen feudale Restriktionen und zweitens gegen den absolutistischen Staat. Entsprechend setzen sie gegen die alte Reichsstadt89 und die Residenzstadt90, die ihnen als städtische Repräsentationen der beiden Formen politischer Rückständigkeit gelten, die moderne Großstadt. Diese gilt ihnen als Sinnbild der Überwindung der Rückständigkeit, da in ihr die liberale bürgerliche Gesellschaftsordnung realisiert ist. Das Ziel des Bürgertums war es zunächst, die Gesetzgebung selber in die Hand zu bekommen. Schließlich führten die „innere Logik der liberalen Idee wie die gesellschaftliche Notwendigkeit […] zur Unterwerfung der Exekutive unter die Volksvertretung und damit zur Beseitigung der Monarchie“ und leiteten den Machtstaat „in eine tendenziell von Gewalt freie Rechtsgemeinschaft“ über.91 Die Großstadt erscheint also als der Ort, an dem die Individuen ihre Autonomie und Freiheit voll ausleben können – was auch an der in der Großstadt gegebenen Anonymität liegt. Bahrdt umschreibt diese als „unvollständige Integration“. Mit diesem für seine Theorie der städtischen Öffentlichkeit zentralen Begriff charakteristisiert er „eine Offenheit der sozialen Inten-

89 Der Typus der alten Reichsstadt gehört zur Kulturlandschaft: Sie ist typischerweise irrational verwinkelt, malerisch wie ein Kuhdorf und sozial vor allem von mittelalterlichen Zunftzwängen geprägt, die die freie Wirtschaftsentfaltung behindern. 90 Als Symbol für den Absolutismus kann aus liberaler Perspektive die Residenzstadt gelten. Welche Bedeutungen diesem ganz anderen Typ von Stadt zukommen, wird hier allerdings – um die Sache nicht zu kompliziert zu machen – ausgeblendet. Als Andeutung soll genügen, dass sie als Ausdruck einer ausschweifenden, unvernünftigen, weil naturfernen Lebensweise negativ besetzt wird. 91 Beide Zitate Kühnl 1974: 64. – In dieser Rechtsgemeinschaft galt als wahlberechtigter Bürger „nur, wer durch Besitz und Bildung ausgewiesen ist“ (Göhler 2002b: 224), weil nur er frei ist (vgl. Macpherson 1962/1973). Damit waren vor allem unfreie Bauern, Lohnarbeiter, Dienstboten und Frauen vom Urnengang ausgeschlossen. Der Idee nach konnte aber jeder (männliche) Bürger mit Fleiß und Tüchtigkeit die Zulassungsvoraussetzungen zur aktiven, öffentlichen politischen Teilnahme erlangen. In der Realität war diese Bedingung, dass „die freie Wettbewerbswirtschaft wirklich jedem Tüchtigen die Chance gab, den Status eines Eigentümers zu erwerben […] niemals – auch nicht in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – erfüllt“ (Kühnl 1974: 80).

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tionalität der einzelnen, deren Willkür es überlassen bleibt, mit wem, auf welche Weise und wie lange sie Kontakt aufnehmen, um zu handeln. Diese unvollständige Integration ist die negative Voraussetzung der Öffentlichkeit“92. Sie besteht im „Wegfall der vermittelnden Leitfäden vorgegebener vertrauter Bindungen“ und ist da gegeben, „wo es kein durchgehendes, lückenloses Geflecht vermittelnder und mittelbarmachender Bindungen gibt, d. h. wo sich ständig Menschen begegnen, miteinander in Kommunikation treten und sich arrangieren, ohne daß der eine für den anderen in einer gemeinsamen Ordnung ausreichend verortet ist. Das ist […] auf dem Markt der Fall und überhaupt charakteristisch für das Leben in einer Stadt.“93 Der liberale Urbanitätsbegriff impliziert also autonome Freiheit, die sowohl auf der politisch-gesellschaftlichen, der ökonomischen als auch auf der persönlichen Ebene erfahrbar wird: Als anonymer Ort bietet die Großstadt eine Vielzahl an Möglichkeiten, unverbindlich Kontakt zu Anderen aufzunehmen, sich in der Konkurrenz durchzusetzen, Neuanfänge zu wagen – eben seine Freiheit in verschiedenen Bereichen auszuleben. Zu (2): Die Entfaltung des Individuums setzt die Freiheit von der äußeren Natur voraus: Diese muss beherrscht werden, um ihr die Mittel für gegenwärtige und zukünftige Befriedigung von Bedürfnissen abzuringen. Die Stadt gilt als der Ort, an dem sich Wissenschaft und Technik entwickeln, sie ist also die Sphäre der Freiheit von den äußeren Naturgewalten. Dass sich die Wissenschaft in der Stadt entwickelt hat, liegt wesentlich an der unmittelbaren Verbindung beider mit dem Handel. Erstens war in der Stadt eine bestimmte soziale Konstellation gegeben, in der die Sphären von Handel, Herrschaft und Produktion auf eine engere Weise in Beziehung zueinander traten. Diese Konstellation, die historisch wahrscheinlich in den spätmittelalterlichen oberitalienischen Städten gegeben war, ermöglichte, dass „die Kompetenzen bislang getrennter Schichten von Intellektuellen: der zunftfreien Künstler, Ärzte, Ingenieure, der Humanisten, der traditionellen Gelehrten verschmolzen werden konnten“94. Zweitens wurde in der spätmittelalterlichen europäischen Stadt für den Markt (Handel) produziert, nicht, wie auf dem Land, unmittelbar die eigenen Lebensmittel, von denen dann ein zufälliger Überschuss, meist auf den Weg über den Tribut an den Grundherren, in den Handel gelangt. Der städtische Handwerker produzierte um zu verkaufen.95 Er produzierte sozusagen Geld. Weil die Stadt der Umschlag-

92 93 94 95

Bahrdt 1961: 40. Beide Zitate ebd.: 41. Daele 1977: 131. „Wir wollen von ‚Stadt‘ im ökonomischen Sinn erst da sprechen, wo die ortsansässige Bevölkerung einen ökonomisch wesentlichen Teil ihres Alltagsbedarfs auf dem örtlichen Markt befriedigt, und zwar zu einem wesentlichen Teil durch Erzeugnisse, welche die ortsansässige und die Bevölkerung des nächsten Umlandes für den Absatz auf dem Markt erzeugt oder sonst erworben hat.“ (Weber 1922/1985: 728; vgl. Bahrdt 1961: 36 ff.)

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platz für Waren ist, ist sie drittens auch die Sphäre, in der sich rationale Denkweisen, Technik und Wissenschaft entwickeln können. Dies ist nicht nur so zu verstehen, dass sich in den Städten die intellektuelle Elite versammelte und daher diese Orte des Wissens und der Wissenschaft wurden, sondern auch in einem viel fundamentaleren Sinne: Sohn-Rethel hält die „Denkform“ des „reinen Verstandes“ für ein „geschichtliches Entwicklungsprodukt und gesellschaftlichen Ursprungs“ und führt sie auf die im Warentausch angelegte Abstraktion zurück.96 Ein Satz Galileis illustriert den Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher Abstraktion und der Warenabstraktion des Alltagslebens: „Der Rechner, der Kalkulationen für Zucker, Seide, Wolle macht, muß die Kisten, die Säcke und anderes Packmaterial abziehen; genauso muß der Mathematiker, wenn er im Konkreten die Wirkung erkennen will, die er im Abstrakten bewiesen hat, die materiellen Hindernisse ausschalten“97. Die Stadt als Sphäre von Wissenschaft und Technik ist damit das Gegenteil von wilder, chaotischer Natur: Sie ist deren Überwindung, der Ort, an dem die Grundlagen der ständig fortschreitenden Naturbeherrschung und -ausbeutung entwickelt werden. Zu (3): In der Stadt wird der Einzelne nicht nur zum gelenkten Ausleben seiner Leidenschaften, sondern auch von den nachteiligen Folgen seiner inneren Wildnis befreit. Stadt ist in diesem Sinne deutbar als Ort der Freiheit von der inneren Wildnis, die durch deren Kontrolle erreicht wird. „Die Geschichte der Urbanisierung ist […] die Geschichte der Aufrichtung von Kontrolle und Selbstdisziplin.“98 Sich in der Stadt zurechtzufinden „gelingt nur dem, der sich Selbstdisziplin, Kontrolle spontaner Reaktionen und sehr viel Wissen in einem langen Lernprozeß angeeignet hat“99 Die Stadt ist also der Ort, der zivilisierte Umgangsformen hervorbringt, indem der barbarische Naturzustand aus Vernunft (und Furcht) überwunden wird.100 Stadt als Sphäre der vernünftigen, weil konkurrenzgeförderten Verwertung der Natur (Vorstellung 9) Die dritte positive Vorstellung, die mit der Stadt aus liberaler Perspektive assoziiert ist, ist die einer vernünftigen Naturnutzung. Die von der Stadt aus-

96

Sohn-Rethel 1978 ; siehe auch Müller 1977, zu Sohn-Rethels Thesen Dudek 1979; vgl. Eisel 1981: 131 f. 97 Galilei, zit. n. Crombie 1964: 374; vgl. Trepl 1994: 35. 98 Häußermann & Siebel 1987: 248, vgl. dazu auch Elias 1976, 1997. 99 Häußermann & Siebel 1987: 248. – Bahrdt (1961: 43 ff.) spricht davon, dass sich in der Stadt eine besondere Art der Kommunikation, ein „darstellendes Verhalten“ entwickelt hat. 100 Der von unvernünftiger Wildnis befreiende Bezug auf Vernunft kann jedoch durch eine geringe Akzentverschiebung schnell als Zwang zur und durch die Vernunft wahrgenommen werden – und wird dann zu einem Kritikpunkt weltanschaulicher Gegner des Liberalismus.

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gehende Verwertung der Natur als Ressource ist (1) deshalb vernünftig, weil sie zu technischem Fortschritt führt. Das ihr zugrunde liegende gesellschaftliche Prinzip der Konkurrenz ist darüber hinaus (2) Garant dafür, dass der Fortschritt niemals erlahmt und nie zu einem Ende kommt, weil Vollkommenheit erreicht wäre. Zu (1): Die Stadt ist, wie erwähnt, als Ort der Wissenschaft und Technik auch der Ort, von dem die ständig fortschreitende Beherrschung der äußeren Natur ausgeht. Die technisch beherrschte äußere Natur kann, und darauf liegt der Fokus dieses Unterkapitels, als (ökonomische) Ressource verwertet werden. Die Natur und die aus ihr gewonnenen Produkte werden dem ökonomischen Verwertungsprozess zugeführt. Sie werden ihr sogar ausschließlich zu dieser Form der Verwertung abgerungen. Um die natürlichen Ressourcen immer effizienter nutzen zu können, wird die Technik der Naturnutzung ständig verbessert. Technischer und ökonomischer Fortschritt sind also, unter dem Primat von letzterem, gekoppelt. Da Wissenschaft und Technik als unbegrenzt fortschreitend imaginiert werden, wird auch der ökonomische und gesamtgesellschaftliche Fortschritt als end- und bedingungslos gedacht – und nicht, wie in der Gegenaufklärung, als organischteleologisches und damit gebundenes Wachstum. Die Endlosigkeit des technisch-wirtschaftlichen Fortschritts hat ihren Antrieb darin, dass das ökonomische Wachstum kein Ende kennen kann (etwa in einem Zustand, in dem alle Bedürfnisse befriedigt sind). Er wird als zeitlich offener Prozess ohne natürliches Ende vorgestellt: Liberaler Fortschritt ist offener Fortschritt.101 Zu (2): Nicht nur die äußere, sondern auch die innere Natur wird als verwertbar gedacht. Das Konkurrenzprinzip, das aus dem natürlichen Selbsterhaltungstrieb aller Einzelnen hervorgeht, hat seinen Ort zunächst in der Ökonomie, also in einer dem Individuum äußerlichen gesellschaftlichen Sphäre. Es wird jedoch verinnerlicht: Um den eigenen Nutzen zu maximieren und sich selbst (als wirtschaftliche Existenz) zu erhalten, ist jeder Bürger auf seinen Konkurrenzvorteil bedacht. So ist sichergestellt, dass der Fortschritt durch die Mechanismen der Konkurrenz nie erliegt. Denn das Konkurrenzprinzip ist Garant für ständige Innovation, für das ständige und unaufhaltsame Fortschreiten der technischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung. Die Verwertung der inneren Natur umfasst einen direkten und einen indirekten Aspekt: Direkt ist sie, wenn die innere Natur als Produktivkraft eingesetzt wird (also beispielsweise Kreativität in die Be-

101 Habermas interpretiert Condorcets Begriff der Perfektion, wie dieser ihn 1794 in Esquisse d’un Tableau Historique des Progrès de L’Esprit Humain dargelegt hat, ganz in diesem Sinne: „Condorcet deutet […] den Begriff der Perfektion nach dem Muster wissenschaftlichen Fortschritts um. Perfektion bedeutet nicht länger, wie in der aristotelischen Tradition, die Verwirklichung eines in der Natur der Sache angelegten Telos, sondern einen zwar gerichteten, aber nicht im voraus teleologisch begrenzten Vorgang der Vervollkommnung. Die Perfektion wird als Fortschritt interpretiert.“ (Habermas 1981/1995a: 211)

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rufsausübung eingeht). Indirekt ist sie, wenn durch Reproduktion sichergestellt wird, dass die innere Natur nicht restlos ausgebeutet wird, sondern wieterhin ihre Produktivität garantiert ist. Stadt kann somit als der Ort wahrgenommen werden, an dem auch die innere Natur dem Prinzip der Verwertbarkeit unterstellt wird, indem sie als Motor ständigen Fortschritts begriffen wird. Es wird aber nicht nur die eigene innere Natur der Logik der Verwertbarkeit unterworfen, sondern die utilitaristische Perspektive ist ein Kriterium, nach dem auch äußere Verhältnisse und Personen bewertet werden. So wird das Fremde – fremde Waren und fremde Menschen, mit dem in der Stadt als Ort des weltweiten Handels notwendigerweise Kontakt aufgenommen wird – nicht wie im Konservatismus mit dem Hinweis auf eine zu wahrende Eigenart zurückgewiesen. Es wird vielmehr als Bereicherung und Motor der Innovation begrüßt. Neues entsteht also sowohl durch das innere Veränderungspotential der Stadt, d. h. durch Konkurrenz als Motor des Fortschritts, als auch durch fremde Einflüsse. Voraussetzung dafür, dass die neuen Elemente in die Ordnung des prinzipiell offenen Systems passen, ist allerdings ihre vernunftgemäße Form. Sonst stellen sie eine Gefahr für die auf Vernunft basierende Ordnung des Zusammenlebens dar. Aus der Möglichkeit des Kontakts mit dem Fremden entsteht, „was als besondere Qualität des Städtischen gilt: die Chance, Neues, Unvorhergesehenes zu erleben, unwillkürlich Erfahrungen machen zu können“102. Diese besondere städtische Qualität ist es, die im Begriff der Urbanität fassbar wird. Der Kontakt mit dem Neuen und Fremden ist also neben Autonomie und Anonymität der zweite für den liberalen Urbanitätsbegriff charakteristische Zug.103

102 Häußermann & Siebel 1987: 209 f. 103 Die Literatur zu „Urbanität“ ist zu umfassend, als dass ich sie angemessen berücksichtigen könnte; ich verweise daher auf einige Klassiker der Diskussion sowie Texte, die einen guten Überblick über die Breite des Themas vermitteln: Dirksmeier 2009; Häußermann & Siebel 1987; Hennecke 2003; Manderscheid 2007; Salin 1960; Wüst 2004.

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Tabelle 2: Vorstellungen von Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt aus der Perspektive der liberalen Weltanschauung.

Freiheit

Wildnis

Kulturlandschaft

Stadt

Sphäre des Naturzwangs und zugleich der Freiheit und des Fortschritts: (1) Freiheit im Kampf um Mittel zur Selbsterhaltung, (2) Wildnis als das aus sich selbst heraus zu Überwindende, (3) Wildnis als Konkurrenzkampf ist Bedingung und Motor des Fortschritts.

Sphäre der Unfreiheit: (1) Symbol politischer Rückständigkeit, (2) Symbol der Missachtung individueller Autarkie, (3) Unfreiheit als technische Rückständigkeit.

Sphäre der Freiheit durch Bindungslosigkeit: (1) Freiheit vom organischen Beziehungsgeflecht durch bürgerliche Gesellschaftsordnung, (2) Freiheit von der äußeren Natur, (3) Freiheit von innerer Wildnis, die durch Kontrolle errichtet wird.

Kriegszustand bzw. chaotische Natur: (1) Wildnis als ständige, latente Bedrohung des Gesellschaftszustandes, (2) Wildnis als chaotische und schädliche äußere Natur.

Überwindung des Kriegszustands der Wildnis und als Symbol des Fortschritts schlechthin: Entscheidend ist, wie sich die Überwindung vollzieht: (1) falsche Überwindung führt zu Unfreiheit und Rückständigkeit (Vorstellung 5), (2) richtige Überwindung (Ressource, Nr. 6).

Sphäre von Fortschritt und Ordnung durch die produktive Kanalisierung der Leidenschaften: (1) Formale Gesetzgebung lässt Spielraum für die Entfaltung der wilden, aber kanalisierten Natur, (2) Fortschritt und Ordnung durch Triebbefolgung im Rahmen kapitalistischer Spielregeln.

Sphäre des NichtVerwertbaren: (1) unkanalisierte Leidenschaft ist nicht verwertbar, (2): äußere wilde Natur ist nicht verwertbar.

(1) traditionelle Kulturlandschaft, (2) rationell gestaltete Kulturlandschaft; für (2) gilt: Kulturlandschaft als Ressource und als Symbol der Naturbeherrschung. Gehorcht eigentlich dem „Paradigma Stadt“.

Sphäre der vernünftigen, weil konkurrenzgeförderten Verwertung der Natur: (1) rationelle Nutzung der Natur führt zu unendlichem Fortschritt, (2) Verwertung der inneren Natur (Konkurrenzprinzip) als Innovationsmotor.

2 5

Ordnung

1 4

Vernunft

3 6

8 7

4.2 K ONSERVATIVE V ORSTELLUNGEN VON W ILDNIS , K ULTURLANDSCHAFT

9

UND

S TADT

Im folgenden Kapitel analysiere ich Vorstellungen von ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ aus der Perspektive der konservativen Weltanschauung. Damit stelle ich den unmittelbaren weltanschaulichen Gegner des Liberalismus dar. Zunächst werde ich skizzenhaft einige allgemeine Charakterisierungen der konservativen Weltanschauung vornehmen, damit die Ausführungen zu ‚Wildnis‘, ‚Stadt‘ und ‚Kulturlandschaft‘ nachvollziehbar einzuordnen sind. Dazu werde ich zunächst auf den Begriff der Aufklärungskritik eingehen und eine bestimmte Form des Rationalismus als erkenntnistheoretische Basis konservativen Denkens charakterisieren. Das macht einige Vorgriffe auf die demokratische Weltanschauung notwendig, da sich diese ebenfalls auf den Rationalismus, wenn auch in einer anderen Variante, be-

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zieht. Nachdem ich mit der Idee der Eigenart einen zentralen Begriff der konservativen Weltanschauung umrissen habe, wende ich mich im Hauptteil des Kapitels der Darstellung der unterschiedlichen Vorstellungen zu, die mit Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt verbunden sind (siehe Tabelle 3, S. 172). Aufklärungskritik: Zum Verhältnis von Konservatismus und Romantik Gegen die Aufklärung, zu der in dieser Arbeit die Weltanschauungen des Liberalismus und des Demokratismus gezählt werden, formierten sich geistige Bewegungen, die sich mit dem Begriff der Gegenaufklärung, oder, präziser, mit dem der Aufklärungskritik104 fassen lassen. Als aufklärungskritische Idealtypen formuliere ich zwei voneinander zu unterscheidende Positionen: den Konservatismus und die Romantik. Letztere gilt hier also nicht bloß als eine Variante konservativen Denkens; sie wird als eigenständiger Idealtypus konstruiert. Durch diese Unterscheidung wird zwar der in der Literatur häufige Begriff der „Politischen Romantik“ problematisch, definiere ich doch die Romantik gerade durch ihre apolitische Haltung.105 Das nehme ich aber in Kauf, weil nur so diejenigen Unterschiede zwischen Konserva-

104 Der Begriff „Aufklärungskritik“ bringt zum Ausdruck, dass hier „Aufklärung über die Aufklärung“ praktiziert wird (Schnädelbach 1983/1999: 54, i. O. hervorg.; siehe auch Schnädelbach 1979). Die Kritik an der Aufklärung wirkt selbst aufklärend und ist insofern nicht einfach nur Gegenaufklärung. Zur Problematik der Begriffe „Aufklärung“ und „Gegenaufklärung“ Brummack 1989; Gaier 1989; Ludwig 1989: 421; Schmidt 1989; vgl. Kirchhoff & Trepl 2009: 33, Fußnote 52. 105 Lenk (1989: 84) spricht von einer unpolitischen Romantik, die später allerdings politisiert worden sei: „Die Romantik im Deutschland des beginnenden 19. Jahrhunderts ist ursprünglich keine explizit politische Bewegung. Ihre Themen bleiben primär literarisch und naturphilosophisch, zum Teil gehören sie in die Kunstphilosophie. Die bewusste Politisierung der romantischen Philosophie ergab sich im Zuge der Kritik am Staat als einer Maschine, wie sie besonders in den Schriften von Adam Müller, Novalis und Fichte vorliegt.“ – Ich möchte die Romantik nicht in einer historischen Abfolge (zuerst unpolitisch, dann politisiert) fassen (und wenn, dann wäre sie wohl richtiger als zuerst politisiert und dann unpolitisch erfasst), sondern idealtypisch. Das heißt, sobald die romantische Bewegung politisiert wird, ist sie im Sinne des hier angelegten Begriffsverständnisses keine Romantik mehr. Sie würde dann eher als Mischform aus romantischer und konservativer Weltanschauung zu begreifen sein. Dem hier zugrunde liegenden Modell folgend wird, abweichend von einer historischen Darstellung, außerdem angenommen, dass der Konservatismus logisch gesehen vor der Romantik anzusiedeln ist.

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tismus und Romantik greifbar werden, die es ermöglichen, die fundamental unterschiedlichen Vorstellungen von Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt in diesen beiden aufklärungskritischen Positionen herauszuarbeiten. Rationalismus als erkenntnistheoretische Basis des Konservatismus Der Rationalismus wird, wie oben angedeutet, als erkenntnistheoretische Grundlage des Konservatismus angenommen. Das dürfte zunächst irritieren, weil die konservative Weltanschauung zumeist als Gegenbewegung zum „Rationalismus“ betrachtet wird.106 Darunter wird aber zumeist einfach „Aufklärung“ verstanden. Dagegen möchte ich als Rationalismus, wie in der Philosophiegeschichte üblich, diejenige epistemologische Denkweise bezeichnen, die – im Gegensatz zum Empirismus – davon ausgeht, dass es eine absolute Vernunft und Wahrheit gibt.107 Dem Rationalismus erscheint die Welt als „erkennbarer, durch höhere Prinzipien vernünftig strukturierter Gesamtzusammenhang“108. Diese Vernunftordnung ist vom Menschen mittels seiner Vernunft erkennbar. Vernunfterkenntnisse sind nicht, wie im Empirismus, aus der Erfahrung abzuleiten. Die Vernunft wird vielmehr als intuitives Vermögen gedacht, durch das die höhere Ordnung der Welt erfasst werden kann. Ideengeschichtlich resultiert diese Auffassung aus der universalienrealistischen Annahme, der Kosmos sei die „vernünftig nachvollziehbare[..] Gestalt Gottes“109. Das einzelne empirische Ereignis gilt als eine Repräsentation der Allgemeinheit, und die bestehende Ordnung der Welt als ein Spiegel des göttlichen Verstandes. Der Rationalismus ist nicht nur die erkenntnistheoretische Basis der konservativen, sondern auch der demokratischen Weltanschauung. Während

106 Zum Beispiel Greiffenhagen 1986. 107 Damit unterscheidet sich mein Begriffsverständnis von der in der Literatur auch geläufigen, weiter gefassten Begriffsverwendung, nach der „Rationalismus“ die fortschrittliche Denkweise im Allgemeinen kennzeichnet. Sie bezeichnet dann nicht nur den erkenntnistheoretischen Rationalismus, sondern schließt den Empirismus ein, der nach der hier angelegten Definition die epistemologische Gegenposition des letzteren darstellt. So auch bei Greiffenhagen (1986), dessen Interpretation des Konservatismus ich trotz dieses Unterschieds in der Begriffsverwendung im Wesentlichen folge. Ich weise im Folgenden nicht mehr gesondert darauf hin, dass Greiffenhagen von „Rationalismus“ im Sinne von „Aufklärung“ spricht. 108 Kötzle 1999: 27. 109 Ebd.

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sich aber jene auf die „idiographische“110 Variante (Leibniz) bezieht, beruft sich diese auf die „nomothetische“111 Variante (Descartes) des Rationalismus (siehe dazu unten S. 175).112 Darüber hinaus unterscheiden sich die beiden Weltanschauungen deutlich in ihrer politischen Stoßrichtung. So betont der Konservatismus am Rationalismus vor allem, dass sich Objektivität nicht allein vom Subjekt her ergibt und Resultat seines autonomen geistigen Vermögens ist, wie fortschrittliche Auffassungen dies postulieren. Vielmehr ergibt sich objektive Erkenntnis „im vernünftigen – und insofern objektivierenden – Nachvollzug der bestehenden Objektivität“113. Durch diese epistemologische Prämisse begründet der Konservatismus „für die Gesellschaftstheorie und für die Theorie kultureller Entwicklung den Primat des Prinzips nachvollziehbarer Ausgestaltung und vernünftiger Anpassung an die natürlichen Bedingungen gegenüber dem aufklärerischen Primat autonomer Konstruktion und Selbstbindung der Freiheit“114. Konservatismus als moderne politische Philosophie Das Wesen der konservativen Weltanschauung liegt in ihrer Gegnerschaft zur Aufklärung. Der Konservativismus „fußt seinem eigenen Selbstverständnis zufolge im Unterschied zum Rationalismus auf Anschauung und Erfahrung statt auf Spekulation und Theorie“115. Das „Dilemma des Konser-

110 Griechisch ídios: eigen, eigentümlich, persönlich, gráphein: schreiben, beschreiben. – Eisel 1980: 246 ff.; 1992; 1999: 31; 2002: 137; 2004b: 203; 2004f: 141; 2004c: 95; 2005: 45 f.; Kirchhoff 2005: 93. 111 Griechisch nomothein: ein Gesetz (nómos) geben, vorschreiben, feststellen, bestimmen. – Eisel 1999: 30; 2002: 137; 2004b: 203. 112 Windelband hat 1894 den Begriff ‚idiographisch‘ gebildet, um die Methode der Geisteswissenschaften zu beschreiben, die „in der Erkenntnis des Wirklichen […] das Einzelne in der geschichtlich bestimmten Gestalt“ (Windelband 1894/ 1982: 167) suchen. Mit dem Begriff ‚nomothetisch‘ hat er die Methode der Naturwissenschaften bezeichnet, die „in der Erkenntnis des Wirklichen […] das Allgemeine in der Form des Naturgesetzes“ (ebd.) suchen. Heinrich Rickert hat diese Charakterisierung kritisch weiterentwickelt (Rickert 1899: 38 f.; vgl. Kirchhoff 2007: 312 ff.; Schnädelbach 1983/1999: 77-79). 113 Kirchhoff 2005: 75. 114 Ebd. 115 Greiffenhagen 1986: 62. – „Anschauung“ und „Erfahrung“ werden im Konservatismus nicht im gleichen Sinn gebraucht wie im Liberalismus bzw Empirismus: Dieser geht davon aus, dass nur einzelne Ereignisse in der Erfahrung, durch Anschauung zu beobachten sind; alle Ordnung wird nachträglich durch den gesetzgebenden Verstand erstellt. Darin besteht genau das, was der Konservative als „Spekulation“ und „Theorie“ zurückweist. Konservativ verstandene Anschauung ermöglicht es vielmehr, Einsicht in die gegebene höhere

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vatismus“116 besteht darin, dass er immer nur zusammen mit fortschrittlichem, aufklärerischem Denken auftreten kann. Denn die Werte, die er als ewige oder natürliche gegen den Fortschritt verteidigt – typischerweise werden in erster Linie Religion, Familie und Volk genannt –, sind für ihn erst im Augenblick ihres Verschwindens überhaupt zu Werten geworden. Das fortschrittliche Denken zwingt „den Konservatismus gegen seinen Willen zu einer rational-verteidigenden Selbstauslegung und also dazu, die Waffen des Gegners im Kampf gegen ihn zu gebrauchen“117. Die Waffe ist die reflektierende Vernunft. Erst durch deren Gebrauch wird auch dem Konservatismus die überkommene gesellschaftliche Ordnung von einer Selbstverständlichkeit zu einem Wert, den es zu verteidigen gilt. Der Konservatismus benutzt die Waffen des Gegners mit einem doppelt schlechten Gewissen – einmal, weil es die Waffen des Gegners sind, zum anderen, weil sie das Charakteristikum des Gegners ausmachen. Trotzdem muss der Konservatismus versuchen, seine Ablehnung des Rationalismus rational auszulegen: Es ist für ihn notwendig zu argumentieren, denn die gesellschaftliche Ordnung ist nicht mehr selbstverständlich. Es ist ihm aber auch möglich zu argumentieren, d. h. er denkt sich seine Adressaten als rationale Individuen, die sich einzeln und vernünftig entscheiden. Er hat demnach von Anfang an ein „reflektiertes und gebrochenes Verhältnis zur überlieferten und von ihm bejahten Ordnung; er lebt die Tradition, die er liebt, nicht mehr unmittelbar.“118 Das „Gesetz der Reflexion“119 bestimmt sein Denken von Anfang an. Daher ist er seinem Gegner nicht nur im Nachhinein durch die Übernahme der Waffen des Angreifers ähnlich, sondern von Anbeginn; er stammt aus derselben Wurzel. So spricht Greiffenhagen von einer „Gleichursprünglichkeit“120 von Konservatismus und Aufklärung. Ich schließe mich der Verfahrensweise Greiffenhagens darin an, „den Konservatismus an seinem definitorischen Gegner und nicht aus sich selbst heraus zu bestimmen“121. Letzteres geschieht häufig unter Angabe vermeintlich durchgängig geltender Prinzipien „des“ Konservatismus.122 Dagegen sprechen jedoch zwei Gründe: Erstens ergibt sich die Einheit konservativen Denkens nicht aus der inneren Konsistenz seiner Theorie, sondern vielmehr

116 117 118 119 120 121

122

Ordnung zu erlangen. Zum konservativen Begriff von Erfahrung siehe unten, Kapitel 4.2.1. Greiffenhagen 1986, vgl. auch Lenk 1989: 22. Greiffenhagen 1986: 63. Lenk 1989: 23. Greiffenhagen 1986: 65. Ebd.: 62. Ebd.: 67. – Damit „begeben wir uns in deutlichen Gegensatz zu den meisten konservativen Theoretikern. Sie bestreiten nämlich, daß erst durch die rationalistische Kritik die Werte, für die sie eintreten, allererst entstehen, und behaupten stattdessen ihre Ewigkeit.“ (Ebd.) Ebd.: 25; Kafka 1959: 1239; Viereck 1949.

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aus der Einheit des von ihm Kritisierten.123 Solange „konservative“ Merkmale nur additiv aufgelistet sind, ermöglichen sie keine Erkenntnis der Struktur dieses Denkens. Denn viele „der aufgeführten Merkmale wären ebenso für den Liberalismus oder den Sozialismus anzuführen oder lassen völlig ambivalente Lösungen zu“124. Zweitens bleibt bei einer bloßen Auflistung unberücksichtigt, dass sich die Inhalte konservativen Denkens historisch gewandelt haben. Er hat sich unter veränderten historischen Bedingungen in Abhängigkeit mit den Veränderungen seiner Gegner transformiert.125 Unverändert bleibt bei all diesen inhaltlichen Wandlungen aber die Struktur konservativen Denkens, die von mir im Idealtypus der konservativen Weltanschauung erfasst wird und die Grundlage für die Konstruktion der Vorstellungen von ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ darstellt. Zur Verdeutlichung der Struktur konservativen Denkens werde ich auf die Kulturtheorie und Geschichtsphilosophie von Johann Gottfried Herder (1744-1803) eingehen. Seine Philosophie sehe ich als paradigmatisch für den Strukturkern der konservativen Weltanschauung an. Herder gilt zwar in der Philosophiegeschichte zumeist als Vertreter der deutschen Aufklärung. Ich folge jedoch einer nicht selten und besonders deutlich von Eisel vorgenommenen Differenzierung, nach der sich Herders Theorien „in der Aufklärung gegen die […] Aufklärung“126 richten. Herder versuche, eine konkrete,

123 Vgl. Lenk 1989: 57. 124 Greiffenhagen 1986: 36, Fußnote 30. 125 Der Konservatismus wird hier als „eine historische Kategorie“ (ebd.: 50), „eine durchwegs historische Größe“ (Lenk 1989: 22) verstanden. Das heißt, dass sowohl der Vorstellung widersprochen wird, er sei eine strukturell-anthropologische Kategorie, als auch der Ansicht, man habe zwischen einem unreflektierten Urkonservatismus und einem reflektierten Konservatismus zu unterscheiden. Diese letztgenannte Differenzierung stammt von Karl Mannheim (1927/ 1984). Zu ihrer Zurückweisung sowie den Ablehnungsbegründungen der anderen Annahmen schließe ich mich Greiffenhagen an (dazu Greiffenhagen 1986, in Teil 1 die Kapitel I und II). „Der Konservatismus ist wie der Liberalismus, der Sozialismus und andere Ismen eine historische Bewegung, und seine Ursprünge sind wie die aller politischen Richtungen historisch bedingt.“ (Ebd. 1986: 61) 126 Eisel 1980: 277, Fortsetzung der Fußnote 1. – „Im Sinne der konventionellen Philosophiegeschichte gilt Herder als Vertreter der deutschen Aufklärung. Diese Klassifikation vergröbert bereits die Differenzierungen, die in der traditionellen Literaturwissenschaft gemacht wurden, so daß es kein brauchbares Äquivalent für ‚Sturm und Drang‘ als Unterscheidung zur Aufklärung, Romantik und Klassik, gibt. […] Es scheint mir plausibel, von der gemeinsamen Basis im ‚Humanismus‘, Rationalismus und der frühen Aufklärung aus, die Herdersche ‚Aufklärung‘ als ‚idiographische‘ Philosophie zu unterscheiden, und diese ursprünglich in einer gemeinsamen Naturutopie und einem gemeinsamen Subjektivismus verwurzelte Richtung einer Kritik der politisch radikalen, mecha-

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anti-spekulative Geschichtsphilosophie gegen den abstrakten Vernunftglauben der Aufklärung zu wenden. Sein konkretistischer Naturbegriff entspreche zwar dem der Aufklärung, er verbinde ihn aber mit dem teleologischen und theologischen Aspekt des (Leibniz-Wolffschen) Rationalismus.127 Er behalte die Kritik der Aufklärung an der Abstraktheit und Un-Natur absolutistischer Herrschaft bei, kritisiere aber die Annahme einer universellen, abstrakten Natur des Menschen bzw. einer formalen Vernunftidee als Abstraktion vom konkreten Dasein.128 Ich werde aus Herders Philosophie den Idealtyp eines frühen Konservatismus konstruieren, weil sich daran die Grundstruktur konservativen Denkens in besonderer Klarheit zeigt. Ergänzend werde ich mich auf die Kulturtheorie von Wilhelm Heinrich Riehl (1823-1897) beziehen, um eine spätere Variante der konservativen Weltanschauung zu berücksichtigen. Nur durch die Berücksichtigung dieser Variante lassen sich bestimmte Vorstellungen von Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt formulieren.129 Die Wahl fällt nicht zufällig auf Riehl: Er gilt (1) Vielen als der erste, der eine systematische konservative Kulturkritik entworfen hat.130 Er ist (2) für mein Thema von besonderer Relevanz, weil er sich mit der Rolle sowohl von Stadt als auch von Kulturlandschaft und Wildnis auseinandersetzt. So ist nicht nur Riehls „Kontrastierung von Großstadt und Land, von Proletariat und Bürgertum […] zweifellos in dieser Form neuartig“131. Sondern Riehl übernimmt (3) auch eine Vorreiterrolle im Kampf um ein „Recht der Wildniß“132. Seine Theorien sind unter anderem für die Formulierung einer konservativen Zivilisations- und Stadtkritik (4) sehr einflussreich gewesen.133 Riehls Groß-

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nisch-materialistischen und kantianischen Aufklärung als neuzeitliche philosophische Ausformulierung des ‚konservativen‘ Weltbildes (im Verfolg des ‚christlichen Humanismus‘ der Grundherrengesellschaft) in der Aufklärung gegen die ‚scientistische‘ (atheistische) Aufklärung zu bewerten.“ (Ebd.: 276 f.) Ebd.: 282. Kirchhoff 2005: 68; vgl. Eisel 1981; 1982. Vorstellungen, die die Stadt aus konservativer Perspektive annehmen kann, werde ich außerdem mit Zitaten von Oswald Spengler veranschaulichen. Sein Denken stellt zwar wiederum eine Weiterentwicklung der Riehlschen konservativen Weltanschauung dar, es kommt mir aber nicht auf die Unterschiede an, sondern ich wähle die Zitate gerade so, dass sie den von mir konstruierten Strukturkern veranschaulichen. Bergmann (1970: 47 f.) stellt die Leistung Riehls in Abgrenzung von dessen Lehrer Ernst Moritz Arndt treffend dar, wenn er schreibt, dass „doch erst Wilhelm Heinrich Riehl die bei seinem Lehrer Arndt angelegten, aber noch kaum ausgeführten Ideen ausgewertet und in eine umfassende sozialpolitische Konzeption eingearbeitet“ hat. Ebd.: 48. Riehl 1854: 40. Bahrdt 1961: 14; Bergmann 1970: 38.

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stadtkritik weist (5) bereits alle wesentlichen Inhalte konservativer Großstadtfeindschaft auf. „Spätere Kritiker und Ideologen haben neue Akzente gesetzt und neue Formulierungen gesucht, wesentlich Neues aber haben sie selten hinzugefügt.“134 Er war (6) „der erste, der das konzipierte, was dann ein späterer und viel bekannterer Soziologe, Ferdinand Tönnies, als den Gegensatz zwischen Gemeinschaft (als einer organisch verbundenen Einheit) und Gesellschaft (als Aggregat von Individuen, die nur durch materielle Interessen verbunden sind) definiert hat“135. Es gibt Unterschiede zwischen der früheren und der späteren Variante der konservativen Weltanschauung. Von besonderer Bedeutung im Zusammenhang dieser Arbeit ist, dass Herders Denken zwar aufklärungskritisch, aber dennoch politisch Teil der Aufklärung und von ihrem optimistischen Geist geprägt ist, wenn er beschreibt, wie Kulturentwicklung verläuft und wie sie idealerweise verlaufen soll. Riehl hingegen ist pessimistischer und in seinem Pessimisus gegenaufklärerisch. Er räumt – in dem Bewusstsein, dass bestimmte fortschrittliche Entwicklungen, die er als Folgen der Aufklärung wertet, eine Abwendung von der alten, vorgegebenen, natürlichen und guten Ordnung bewirken – kulturellen Fehlentwicklungen eine systematisch wichtige Rolle ein. Diese Fehlentwicklungen entstehen für ihn als Folge einer Überzivilisiertheit, die eines Gegenpols bedarf, um die kulturelle Entwicklung wieder in ein gesundes Gleichgewicht zu bringen. Die Idee der Notwendigkeit einer Kompensation der kulturellen Entwicklung ist Herder noch fremd. Sie ist aber, wie sich zeigen wird, wesentlich für die hier erarbeiteten Bedeutungen von Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt.136 – Trotz dieser Unterschiede in den beiden Varianten der konservativen Weltanschauung lässt sich die Variante Riehls als Weiterentwicklung der Herderschen auffassen, zu der sie in keinem Widerspruch steht, so dass beide problemlos und sinnvoll zu einer idealtypischen Ausgangsposition zusammengefasst werden können.

134 Bergmann 1970: 38. – Auch Bahrdt (1961: 14) schreibt: „Bei Riehl finden wir nun bereits die gesamte Großstadtkritik unserer Tage. Es ist seit jener Zeit kaum noch etwas Neues hinzugekommen“. 135 Schama 1996: 131. 136 Vicenzotti & Trepl 2009: 385 ff.

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Vorbemerkung: ‚Eigenart‘ als zentraler Begriff der konservativen Weltanschauung Im Kern der konservativen Weltanschauung steht die Idee der Eigenart, der Identität von Individuen.137 Mit dieser Idee ist verbunden, was man mit der konservativen Weltanschauung assoziiert, nämlich die Orientierung an Autoritäten: an Gott, Religion, Geschichte oder Natur. Die Verknüpfung beider Vorstellungen, derjenigen der ‚Eigenart‘ mit derjenigen der ‚Individualität‘, gründet in der Idee einer allgemeinen und vorgegebenen Ordnung, die jedem Individuum einen bestimmten Platz zuweist, an dem es sich gemäß seinen natürlichen Gaben entfalten kann und soll. Ideengeschichtlich ist diese Ordnung die alles durchwaltende Schöpfungsordnung Gottes. In späteren Varianten der konservativen Weltanschauung wird die Stelle Gottes bzw. der Religion zunächst durch „Geschichte“ bzw. „Tradition“, dann durch „Natur“ eingenommen.138 Die gegebene Ordnung ist, das bedingt die Fundierung in der konservativen idiographischen Variante des Rationalismus, für die Individuen zu erkennen – und zwar als eindeutige und selbstverständliche. Sie wird daher im Konservatismus auch nicht in Zweifel gezogen, sondern fraglos angenommen.139

137 Eisel verwendet den Begriff der „Eigenart“, Gill spricht von „Identität“; in der Sache meinen beide dasselbe. Sie konstruieren den Zusammenhang zwischen der allgemeinen Ordnung und der Eigenart/Individualität der Individuen auf gleiche Weise (siehe beispielsweise Eisel 1997a; 1999; 2004d sowie Gill 2008; 2003). 138 „Der Idealtyp einer identitätsorientierten Kosmologie leitet sich von vormodernen Weltbildern her, die von einer alles durchwaltenden Schöpfungsordnung ausgehen. In ihr hat jede Person und jedes Ding seinen vorgesehenen Platz, an dem sie und es sich gemäß seiner natürlichen Gaben entfalten kann und soll. Ob man diese Ordnung, aus der sich die Identität der Individuen und Kollektive ergibt, in ‚Gott‘, ‚der Tradition‘, oder ‚der Natur‘ repräsentiert bzw. verkörpert sieht, ist dabei ziemlich gleichgültig. In jedem Fall gilt es, sie der Kontingenz zu entziehen und sakrosankt zu stellen.“ (Gill 2003: 64) 139 Dieses fraglose Akzeptieren muss im Rahmen des konservativen Denkens verlangt werden. „Denn im Moment der Begründung steht das Gegebene – auch bei noch so überzeugenden Gründen – jedenfalls gedanklich schon zur Disposition: es könnte auch anders sein; andernfalls müsste es nämlich nicht begründet werden.“ (Ebd.: 56) Aber, wie oben mit Greiffenhagen gezeigt wurde, offenbart sich gerade in dieser Forderung nach unbedingtem und unhinterfragtem Anerkennen die Erfahrung, dass die Autoritäten zur Disposition stehen.

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4.2.1 Wildnis in konservativer Perspektive – Triebhaftigkeit, Hindernis der kulturellen Vervollkommnung und Jungbrunnen Mit ‚Wildnis‘ sind aus der Perspektive der konservativen Weltanschauung überwiegend negative Vorstellungen verbunden, die in den zwei folgenden Unterkapiteln beschrieben werden. Dass sie aber auch positiv konnotiert sein kann, mache ich im dritten Unterkapitel deutlich (siehe Tabelle 3, S. 172). Wildnis als Sphäre der Triebgebundenheit (Vorstellung 10) Wildnis, innere wie äußere, gilt im konservativen Denkzusammenhang als Sphäre der Triebgebundenheit. Sie ist die Versuchung, der es zu widerstehen, das, was es zu zügeln und hinter sich zu lassen gilt. Es bedarf eines kultivierenden Einflusses, der ihre Überwindung lenkt, ihre triebhaft böse Seite niederkämpft und zu wahrer Freiheit führt. Man muss sich von ihr befreien, um der guten und damit auch wahrhaft freien Seite der Natur zur Existenz zu verhelfen. Was Lenk für die Natur des Menschen formuliert, gilt analog für die äußere Natur: „Das ‚Gute‘ am Menschen ist für den Konservatismus die mögliche Beherrschung des subjektiv ‚Bösen‘. Nur durch die permanente Kontrolle und Niederhaltung der ungezügelten Triebwelt läßt sich der […] Mensch [bzw. die wilde Natur] befrieden.“140 Eine nähere Betrachtung der Bestimmung der menschlichen Natur gibt Aufschluss über die Vorstellungen, die Wildnis als Symbol der Triebhaftigkeit und Unfreiheit anhaften. Die konservative Bestimmung des menschlichen Wesens geht auf die Annahme der Existenz einer höheren, zugleich aber vernünftigen Ordnung, die für den Menschen erkennbar ist, zurück. Mit dieser Erkennbarkeit verbindet sich der Auftrag, die eigene individuelle Entwicklung an dieser Ordnung zu orientieren. Diese ist die von Gott vorherbestimmte Harmonie, die beste aller möglichen Welten.141 An ihrer Erfüllung mitzuwirken, ist die Pflicht des Menschen. Sie kann nur dadurch realisiert werden, „daß jeder Einzelne auf seine eigene, ganz besondere Art im Geist dieser höheren Ordnung handelt. Das einzelne Individuum realisiert durch seine konkrete Besonderheit, d. h.

140 Lenk 1989: 38. 141 Herder transformiert die Philosophie Leibniz’, an dessen Terminologie von der besten aller möglichen Welten und der prästabilierten Harmonie sich die oben verwendeten Begriffe anlehnen und die sich auf den abstrakten Kosmos bezog, in das idiographische Weltbild, indem er sie auf die Geschichte der Menschheit und die Erde als konkretes räumliches System anwendet. Ausführlicher zu Leibniz Kirchhoff 2007: 390-466, zur Transformation der Konstruktion der Leibnizschen Philosophie in Herders Geschichtsphilosophie Kirchhoff 1995.

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durch seine Eigenart, das Allgemeine.“142 Mit dem Begriff der Eigenart ist der zentrale Wesenszug des Menschen (und einer jeden Kultur) benannt. Er bezeichnet das Entwicklungsprinzip, demzufolge eine existierende, absolute Ordnung des Ganzen durch die einzelnen Individuen realisiert wird. Indem sich diese selbstverantwortlich und auf je eigene Weise konkret ausgestalten und vervollkommnen, verwirklichen sie das allgemeine, transzendente Prinzip. Mit der Idee der Eigenart hängt, wie oben bereits angedeutet, die der Individualität eng zusammen.143 Eigenart bezeichnet die wesentliche Eigenschaft von Individualität und umgekehrt ist Eigenart nur individuell denkbar.144 Die Konzeption der individuellen Eigenart impliziert die Ungleichheit der Menschen: Dass jeder sich nach seiner eigenen Art entwickeln soll, bedeutet nämlich auch, dass sich alle Individuen voneinander unterscheiden – die Menschen sind ungleich und sollen dies auch sein.145 Der Einzelne ist also dazu aufgerufen, eigenverantwortlich seinen Weg zu gehen. In christlicher Lesart heißt das, dass er selbstverantwortlich den Willen Gottes verwirklichen muss. Dem Menschen ist also die Freiheit auferlegt, sich für das Gute oder das Böse zu entscheiden. Es wird angenommen, dass Gott die Menschen nach seinem Ebenbild, und d. h. frei, geschaffen hat. Da es unmöglich ist, jemandem einen moralisch signifikanten Freiheitsraum zu geben ohne die Möglichkeit, moralisch Falsches zu wählen, trägt der Mensch die Anlage sowohl zum Guten als auch zum Bösen in sich:146 Einerseits ist die Natur des Menschen böse, schlecht und hässlich.

142 Kötzle 1999: 32. 143 Individualität haben nur lebendige Wesen; sie drückt die Entwicklungskraft einer Seele aus. Solche lebenden Entwicklungseinheiten heißen Organismen. (Eisel 2004d: 31) Man denkt sich die Entwicklung der individuellen Einheiten also als organisch. Die lebendige Entwicklungskraft findet ihren Ausdruck in einer spezifischen Gestalt. Denn wenn „Organismen sich entwickeln, gewinnt eine besondere Spezies Gestalt“ (ebd.). 144 Ebd. 145 „‚Gleich‘ sind die Menschen nur vor Gott; als Bürger dieser Welt jedoch notwendig ungleich, eingebunden in eine soziale Hierarchie von Ständen, Berufen und Lokalitäten.“ (Lenk 1989: 62) Zwar sind die Menschen vor Gott alle gleich (viel wert), aber sie sind mit unterschiedlichen Begabungen ausgestattet, so dass sie alle verschiedene Plätze in der Ordnung der Gesellschaft einnehmen und ausfüllen und auch ausfüllen sollen. 146 Gill (2003: 61 f.) zeigt, dass es prinzipiell zwei Möglichkeiten gibt, wie das Problem gelöst werden kann, dass Natur nicht nur gut ist, sondern dass auch der Gedanke möglich sein muss, dass das, was von Natur aus ist, schädlich, böse und hässlich sein kann: Entweder dürfe die Natur nicht zu sehr idealisiert werden. Diese Lösung stehe in der Denktradition Aristoteles’. Die Tugend habe zwar natürliche Voraussetzungen, aber im eigentlichen Sinne tugendhaft (oder verwerflich) sei nur, was vom Menschen gewollt und verantwortet werde (Hager 1984: 432). Die Aristoteles-Interpretation habe das Mittelalter aller-

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Sie führe den Menschen in jeder Gesellschaft notwendig zu Bosheit und Aggressivität. Andererseits hat der Mensch aber die Möglichkeit (und den Auftrag), sich für das Gute zu entscheiden; das Böse muss und kann also bekämpft werden. Wildnis muss also ständig überwunden und niedergehalten werden, um der guten Seite der Natur gegen deren böse, mit Triebhaftigkeit assoziierte Seite zur Existenz zu verhelfen. Weil Wildnis dergestalt mit der Vorstellung ungezügelter Begierde verbunden ist, ist sie auch mit Unfreiheit assoziiert. Denn wer sich seinen Neigungen hingibt, ist lediglich der Sklave seiner Triebe. Zwar konnte Wildnis auch in der liberalen Weltanschauung als Unfreiheit wahrgenommen werden; bedroht war aber der Einzelne und seine Freiheit dort gerade in dem, was für den Konservativen Unfreiheit bedeutet: im Ausleben seiner Triebnatur als Mittel der Selbsterhaltung. Während also Freiheit in der liberalen Weltanschauung gerade in der freien Entfaltung der eigenen Bedürfnis- und Triebnatur besteht, kann der Konservatismus darin nur ein Ausleben der inneren wilden Triebnatur, der bösen Seite der Natur, sehen, die den Menschen versklavt.147 Der konservative Weg aus der Triebgesteuertheit besteht nicht in der Unterordnung unter einen selbst gesetzten (inneren oder äußeren) Souverän. Für die konservative Weltanschauung ist das liberale Staatsziel, dass jeder innerhalb eines geregelten Rahmens weiterhin seine Triebe befriedigen kann und soll, wenn auch dergestalt, dass niemandem mehr nach dem Leben getrachtet wird, lediglich eine Fortführung, ja sogar eine Steigerung, eines unfreien, bösen und menschenunwür-

dings erst relativ spät erfasst. Die christliche Religion und Naturauffassung hingegen habe stark in der Tradition von Platons Ideenlehre gestanden (MayerTasch 1991: 123 ff.). Entsprechend sei die Natur zu einem rein geistigen Idealbild verklärt, das sich ganz von der verdorbenen Sinnenwelt abhebe. „Die irdische Natur ist also seit dem Sündenfall gefallene Natur. Sie sehnt sich nach Gott und nach Vervollkommnung, gerät dabei aber immer wieder auf Abwege.“ (Gill 2003: 62) 147 „Im Konservatismus bedeutet Freiheit des Einzelnen das Gegenteil wie im Liberalismus, nämlich nicht die Orientierung an Bedürfnissen, sondern gerade die Unabhängigkeit von ihnen. Bedürfnisse sind schnöde, partikular und gefährlich. Wer frei ist, der erhebt sich über banale materielle Abhängigkeiten. […] Wenn nicht die einzelnen Bedürfnisse Freiheit begründen, dann tun es – auf der Gegenseite – die allgemeinen, höheren Werte. Das klingt paradox. Aber vernünftig wird es unter der Voraussetzung, dass Bedürfnisse auf Triebe zurückgehen, Triebe tierisch sind und Freiheit den Menschen über seine tierische Existenzweise erhebt.“ (Eisel 2004d: 33 f.) – Herder schreibt in diesem Sinne beispielsweise: „Wenn der Mensch zur Freiheit erschaffen ist und auf der Erde kein Gesetz hat, als das er sich selbst auferlegt, so muß er das verwilldertste Geschöpf werden, wenn er nicht bald das Gesetz Gottes in der Natur erkennet und der Vollkommenheit des Vaters als Kind nachstrebet.“ (Herder 1784-1791/1985: 128 f.)

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digen Zustandes. Stattdessen sucht sie die Befreiung aus der triebgesteuerten Wildheit in der freiwilligen Bindung an vorgegebene Autoritäten. Nur in dieser Unterordnung, die der guten Seite der Natur entspricht, kann die innere Wildnis überwunden werden. Die Pointe des konservativen Freiheitsverständnisses liegt darin, dass die richtige Entscheidung für ein rechtschaffenes und sinnvolles Leben in der freiwilligen Bindung besteht. Man kann sich zwar frei entscheiden, aber es gibt nur einen richtigen Weg. Dieser besteht darin, in der Bindung an vorgegebene absolute Werte durch die individuelle Ausgestaltung des zugewiesenen Platzes das Allgemeine zu realisieren.148 „Freiheit bedeutet gemäß diesem Konzept […] die vernünftige und selbstverantwortliche Entwicklung der eigenen Besonderheit durch die Anpassung an die höhere Ordnung des Ganzen“149. Mit dieser Idee der „Freiheit in der Bindung“150 wendet sich der Konservatismus gegen die Beliebigkeit der Lebensführung, die der liberale Freiheitsbegriff eröffnet. Wahre Freiheit besteht für ihn nicht in der Zubilligung von beliebigen Wahlmöglichkeiten, sondern in der individuellen Entfaltung in der vorgegebenen Ordnung des Ganzen. Dem Konservativen ist Freiheit „nicht die für alle gleiche Freiheit, die abstrakte Möglichkeit zu allem und jedem, sondern die Freiheit, sich nach seiner begrenzten Eigenart zum Nutzen der Gesamtheit auszuwirken, nicht Freiheit von allem, sondern Freiheit zu etwas“151 – nämlich zur Ausgestaltung des eigenen Charakters, durch die sich erst die allgemeine, von Gott, Geschichte oder Natur bestimmte Ordnung verwirklicht und der Mensch zu seiner eigentlichen (zweiten) Natur findet. Der Konservatismus bestimmt also die Gemeinschaft als den Einzelnen vorgängig – schließlich muss sich der Einzelne in die bereits gegebene Ordnung fügen. Die Gemeinschaft und die in und für sie notwendige Unterordnung ist der eigentlich natürliche Zustand der Menschheit.152

148 In Herders Geschichtsphilosophie und Kulturtheorie wird dieser paradoxe Freiheitsbegriff auf die Kulturentwicklung der Völker und ihres Lebensraums als Land-und-Leute-Einheit (Riehl) übertragen (mehr dazu unten, Kapitel 4.2.2). Die Bindung an die Bedingungen des Lebensraumes bewertet er positiv und sieht sie als notwendig an für die Selbstverwirklichung und Vervollkommnung einer Kultur. Den Freiraum von den Zwängen der Natur, den eine Kultur durch Anpassung an sie erreicht, soll sie nicht zur Realisierung unbedingter Freiheit (Emanzipation) nutzen, sondern zur Entfaltung des genuinen Charakters des Volkes (Selbstvervollkommnung). 149 Kötzle 1999: 32. 150 Lenk 1989: 33. 151 Radbruch 1950/1963: 166. 152 Der Liberalismus versucht, durch die staatliche Ordnung die negativen, das Leben der Einzelnen bedrohenden Folgen des Kampfes zu mildern. Es bleibt bewusst, dass im vergesellschafteten Zustand das Wesen der Menschen nicht grundlegend geändert wird. Der Mensch ist nun einmal (zumindest in der Hobbesschen Variante) von Natur aus kein soziales Wesen. Der Konservatismus

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Wildnis verhindert die Vervollkommnung der wahren Natur (Vorstellung 11) Als Sphäre der Triebhaftigkeit ist Wildnis nicht nur der symbolische Ort der persönlichen Unfreiheit, sondern sie verhindert auch die Entwicklung und Vervollkommnung der zweiten Natur des Menschen, die als Wesen in einer natürlichen Gemeinschaft. Der Liberalismus mit seiner Vorstellung von der guten egoistischen Triebnatur führt zu einer falschen Form der Vergesellschaftung (auf einer falschen Basis: Gesellschaftsvertrag) und vereitelt so deren gute Form: die hierarchische und organische Gemeinschaft, in der jeder seinen Platz findet, indem er an der Ausgestaltung der vorgegebenen und natürlichen Ordnung nach seinen Fähigkeiten mitarbeitet und dabei sich und die Gemeinschaft vervollkommnet. Diese natürliche Ordnung ist als Ursprungsgemeinschaft entworfen (nicht, wie im Liberalismus als Vertragsgesellschaft). Das impliziert, dass sich „bereits der Naturzustand […], entgegen zum Beispiel Hobbes’ Auffassung, nicht durch Chaos, sondern durch Ordnungen“153 auszeichnet. Bereits im Ursprung gibt es also eine natürliche und gute Ordnung. Entsprechend ist das wahre Wesen der Natur nicht die kulturlose Wildnis, sondern die kultivierte Landschaft. Da die Gemeinschaft, d. h. die Kultur, der triebgesteuerten Vereinzelung, d. h. der Wildnis, vorgängig ist, muss Wildnis immer als Rückfall gedeutet werden, als Abkommen vom richtigen Weg, als Verirrung, als Ver-wilderung. Wildnis lässt sich somit zunächst als Verwilderung bestimmen. Sie ist ein Abweichen, ein Verlassen des einen richtigen, in der guten Seite der inneren Natur angelegten und von der höheren Ordnung vorgesehenen Entwicklungspfades. Trotzdem ist der Ursprung nicht (nur) paradiesisch und rein, sondern ambivalent, oder, wie Lenk schreibt: „Im Anfang aller Zeiten steht die unreine Natur, in der alles noch ungeschieden in harmonischer Einheit schlummert.“154 „Unrein“ ist die Natur nicht, weil sie schon gefallene Natur ist, sondern weil in ihr Gut und Böse noch ungeschieden nebeneinanderstehen, weil sie die Versuchung und die Sünde noch gar nicht kennt. Weil die Entscheidung für oder gegen das Gute noch nicht gefallen ist, kann Natur noch gar nicht „rein gut“ oder „rein böse“ sein. Es gibt also sowohl eine böse und schlechte Seite der Wildnis, die als Verwilderung zu charakterisieren ist und die ich bislang dargestellt habe, als auch eine ursprünglich gute Seite der Wildnis, die ich im Folgenden beschreiben werde. hingegen nimmt eine wahrhaftige Änderung der menschlichen Natur in der Gemeinschaft an. In der Vorstellung dieser Möglichkeit gleicht er der demokratischen Weltanschauung (siehe unten Kapitel 4.3). Dass eine solche Umwälzung der menschlichen Natur als möglich angenommen wird, liegt an der rationalistischen Basis beider Weltanschauungen: Einsicht in höhere Wahrheiten ist möglich, und diese kann wesentliche Veränderung bewirken. 153 Kirchhoff 2005: 67. 154 Lenk 1989: 83, Hervorh. V. V.

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Wildnis als Paradies und Jungbrunnen (Vorstellung 12) Die positiven Seiten der Wildnis werden vornehmlich in historisch späteren Varianten konservativen Denkens bedeutsam, die sich aber widerspruchsfrei in das Theoriegerüst der früheren Variante einfügen: (1) Paradies und (2) Jungbrunnen. Beide Ideen finden ihren Zusammenhang in der Vorstellung der unverdorbenen Seite des Ursprungs; in ihrem Kern steht die Unschuld eines Zustandes vor aller Kultur, die das Böse noch nicht kennt. Zu (1): Der Vorstellung triebhafter Wildnis als böse und schlechte Seite des Ursprungs, die sich vor allem in der Verwilderung fehlgeleiteter Kultur zeigt (nicht in ihrem Anfang), steht die des paradiesischen Ursprungs gegenüber. In dieser Bedeutung treten die Bedrohlichkeit und Unkontrollierbarkeit, die eigentlich konstitutive Momente der Wildnisidee sind, in den Hintergrund. Trotzdem ist die Vorstellung von Wildnis als Paradies eine Facette dieser ambivalenten Naturvorstellung.155 Es ist allerdings nicht unproblematisch, das Paradies als gute Seite des Ursprungs zu betrachten; zwei Schwierigkeiten treten auf: Erstens bezieht sich die Vorstellung des guten Ursprungs auf das paradiesische Leben in noch unreflektierter Ungeschiedenheit von Gut und Böse, auf das Leben vor dem Sündenfall. Erst durch den Genuss der Frucht vom Baum der Erkenntnis scheidet sich aber das Gute vom Bösen.156 Das Gute, als Folge bewussten und freien Handelns, gibt es also erst in dem Augenblick, in dem das Paradies verlassen werden muss. Zweitens kann das Paradies selbst als ambivalent verstanden werden, da es in ihm und als zu ihm gehörend ja die Versuchung in Gestalt der Schlange gibt.157

155 In der Naturschutzliteratur ist die Gleichsetzung von ‚Wildnis‘ und ‚Paradies‘ ein gängiger Topos: Wildnis wird hier häufig als paradiesischer und idyllischer Ort charakterisiert, vgl. Jessel 2005: 40; Kühne 2008: 182; Mann 2004: 165; Praxenthaler 1996: 55, 92. 156 Kulturgeschichtlich wird diese Trennung durch das Christentum vollzogen; dadurch wird es überhaupt erst möglich, nur noch gut zu sein. In der vorchristlichen Zeit war, nach Bataille (1984: 117 ff.), im „Heiligen“, dem man in der Wildnis begegnete, noch nicht zwischen Gut und Böse unterschieden. Das Christentum kann freilich das Unreine als das Böse nicht ganz beseitigen, aber es zieht neue Grenzen. „In dieser neuen Definition wurden Unreinheit, Beschmutzung, Schuldhaftigkeit aus ihrem Bereich [dem der heiligen Welt] entfernt. Das unreine Heilige war seitdem in die profane Welt verwiesen.“ (Ebd.: 118) „Eine Seite des Profanen verband sich mit der reinen Hälfte, eine andere mit der unreinen Hälfte des Heiligen. Das Böse, das es in der profanen Welt gibt, vereinigte sich mit dem diabolischen Teil des Heiligen, und das Gute vereinigte sich mit dem göttlichen Teil.“ (Ebd.: 119) 157 Diesen Schwierigkeiten scheint mit der Vorstellung begegnet zu werden, dass die Natur erst einmal „die Augen aufschlagen“ muss, um von einem bösen, chaotischen Zustand in einen guten, paradiesischen Zustand zu gelangen, der

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Zu (2): Mit „Jungbrunnen“158 sind Ideen von ‚Ursprünglichkeit‘, ‚unschuldiger Jugend‘ und ‚lebendiger Zukunft‘ assoziiert. Die Wertschätzung dieser Ideen und der damit verbundene Vorbehalt gegenüber dem Alter und der Vergangenheit scheinen im Widerspruch zum konservativen Wertverständnis zu stehen. Dieser löst sich aber auf, wenn man sich vor Augen führt, dass die hier zurückgewiesene Vergangenheit die einer falschen Kulturentwicklung ist, und wenn man mit Greiffenhagen annimmt, dass „Alter“ nicht im Sinne des Bejahrten und Greisenhaften, sondern als das dem Ursprung Nahe, das Frühe und Anfängliche zu verstehen ist.159 „Geschichte ist Vergegenwärtigung des Ewigen, Repräsentation der Dauer in menschlicher Zeit. Vergangenheit ist somit nicht als das bloß Gewesene von Interesse, sondern als die dem Ursprung nahe Repräsentation ewiger Ordnung.“160 Im selben Sinne wird auch an der Erfahrung, wie Gadamer zeigt, nicht das erworbene Wissen, sondern die undogmatische Offenheit für neue Erfahrungen geschätzt.161 Wildnis steht also für unverdorbene Erfahrenheit, für die unverfälschte Einsicht in die wahre Natur der Dinge. Als große sündhafte Verfälschung gilt in der konservativen Weltanschauung die Aufklärung, die als Entfremdung von einem lebendigen und instinktiven Wissen verstanden wird. Dagegen dient Wildnis als Jungbrunnen, weil sie den Volksgeist erfrischt, indem sie zu einer Orientierung an ursprünglichem, instinktivem Wissen verhilft, eine lebendige und unentfremdete Einsicht in die wahre Natur der Dinge ermöglicht. In der Wildnis verpflichtet man sich also dem Ursprung und bindet sich an ihn. Dadurch erhalten und erneuern sich die natür-

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aber immer noch als vor der Erkenntnis von Gut und Böse liegend imaginiert wird. Dieser Zustand wäre noch nicht Kultivierung, sondern deren Analogie in der Natur. Schmoll 2004: 111. Greiffenhagen 1986: 145. Ebd.: 146. „Erfahrung selber kann nie Wissenschaft sein. Sie steht in einem unaufhebbaren Gegensatz zum Wissen und zu derjenigen Belehrung, die aus theoretischem oder technischem Allgemeinwissen fließt. Die Wahrheit der Erfahrung enthält stets den Bezug auf neue Erfahrung. Daher ist derjenige, den man erfahren nennt, nicht nur durch Erfahrungen zu einem solchen geworden, sondern auch für Erfahrungen offen. Die Vollendung seiner Erfahrung, das vollendete Sein dessen, den wir ‚erfahren‘ nennen, besteht nicht darin, daß einer schon alles kennt und alles schon besser weiß. Vielmehr zeigt sich der Erfahrene im Gegenteil als der radikal Undogmatische, der, weil er so viele Erfahrungen gemacht und aus Erfahrungen gelernt hat, gerade besonders befähigt ist, aufs neue Erfahrungen zu machen und aus Erfahrungen zu lernen. Die Dialektik der Erfahrung hat ihre eigene Vollendung nicht in einem abschließenden Wissen, sondern in jener Offenheit für Erfahrung, die durch die Erfahrung selbst freigespielt wird.“ (Gadamer 1960/ 1990: 361)

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lich-ursprünglichen Eigenschaften eines Volkes:162 Gesundheit und physische Kraft einerseits, Tugenden andererseits.163 Im Jungbrunnen der Wildnis kann man sich von den Sünden, die mit der Aufklärung in die Welt gekommen sind, reinwaschen und wieder kindlich-unschuldig werden. 4.2.2 Kulturlandschaft in konservativer Perspektive – Eigenart, Vielfalt und Schönheit, kulturelle Vervollkommnung und Freiheit Kulturlandschaft ist, in konservativer Perspektive, Ausdruck, Ideal und Symbol gelingender kultureller Entwicklung. Sie ist erstens der Ort und die Lebensweise, die kulturelle Vervollkommnung fördert und hervorbringt und dabei ein Höchstmaß an Eigenart realisiert. Sie ist zweitens der Ort der gelungenen, damit immer auch maßvollen, Kulturentwicklung, der Orientierung an Natur, Geschichte und Tradition. Sie wird drittens mit Freiheit verbunden, weil sie Ort der Befreiung von den Zwängen triebhafter Wildnis ist (siehe Tabelle 3, S. 172). Eigenart, Vielfalt und Vervollkommnung: die schöne Kulturlandschaft als Symbol eines gelungenen Mensch-Natur-Verhältnisses (Vorstellung 13) Das wahre Wesen der Natur, ihre eigentliche Bestimmung, erfüllt sich in der Kulturlandschaft – nicht in der Wildnis. Das Landleben gilt dem Konservatismus als die paradigmatische Lebensweise, die im Zusammenwirken von Natur und Kultur individuelle Vollkommenheit erzeugt. So entstehen unverwechselbare Einheiten aus „Land und Leuten“,164 die sich durch Eigenart

162 Vgl. Körner 2003a, Riehl interpretierend. 163 So rühmt Wilhelm Heinrich Riehl die Wildnis als Garantin für ein gesundes und langes Leben: Das „Leben in der Wildniß, das unverkünstelte, rohe Naturleben erhält den Körper zäh bei allem Elend und die meisten der so verrufenen Bezirke […] zeigen ein günstigeres Sterblichkeitsverhältniß als die Großstadt London“ (Riehl 1854: 202). Die ursprünglichen Tugenden, die sich in der Wildnis erhalten, beschreibt er folgendermaßen: „In unsern Walddörfern […] sind unserem Volksleben noch die Reste uranfänglicher Gesittung bewahrt, nicht bloß in ihrer Schattenseite sondern auch in ihrem naturfrischen Glanze.“ (Ebd.: 31) 164 Dem Studium dieser Einheiten widmet sich Riehl in seinem Buch „Land und Leute“. In dessen Einleitung heißt es programmatisch: „Will man die naturgeschichtliche Methode der Wissenschaft vom Volke in ihrer ganzen Breite und Tiefe nachweisen, dann muß man auch in das Wesen dieser örtlichen Besonderungen des Volksthumes eindringen. […] [H]ier sollen diese Gruppen nach den örtlichen Bedingungen des Landes, in welchem das Volksleben wurzelt, dargestellt werden. Erst aus den individuellen Beziehungen von Land und Leuten

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auszeichnen und auf globaler Ebene zu einer Vielfalt charakteristischer Kulturlandschaften führen. Wie sich dieses Zusammenwirken vollziehen muss, damit es zur Ausgestaltung von Eigenart und Vielfalt kommt, ist paradigmatisch in der Geschichtsphilosophie Herders beschrieben. Wie Kirchhoff zeigt, bestimmt Herder „die Ausbildung von Einzigartigkeit als Ziel aller natürlichen und kulturellen Entwicklungen und etabliert so die regionale und epochale Verschiedenheit von Kulturen als Wert“165. Die Entwicklung von Kulturen ist gemäß der Herderschen Theorie doppelt determiniert, durch das „Klima“166 und den „Volkscharakter“: „Ein Volk entwickelt seine Vernunft und Kultur, indem es die besonderen Nutzungsmöglichkeiten seines Lebensraumes erkennt, gemäß dem eigenen Charakter realisiert und so seinen Lebensraum entsprechend den eigenen Bedürfnissen gestaltet. Folglich entsteht bei jedem Volk eine charakteristische Form der Vernunft und eine Kultur, die sich durch ein einzigartiges Mensch-Natur-Verhältnis auszeichnet. Dieses verdankt seine einzigartige, individuelle Form dem organischen Entwicklungsprozess, bei dem sich der besondere Volkscharakter und die besonderen Bedingungen des Lebensraums wechselseitig beeinflussen.“167

Die Geschichte einer Kultur erreicht ihr Ziel, wenn ihr in einer vernunftgeleiteten Form die Anpassung an die Bedingungen des konkreten Ortes gelingt.168 Damit unterscheidet sich jede Kultur immer stärker von allen anderen Kulturen, sie bildet Eigenart aus. Weltweit entsteht dadurch Vielfalt der

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entwickelt sich die kulturgeschichtliche Abstraction der bürgerlichen Gesellschaft.“ (Ebd.: IX) Kirchhoff 2005: 63; siehe auch Eisel 1980; Kirchhoff & Trepl 2001. „Hiermit bezieht er sich auf die seit der Antike bekannte und im 18. Jahrhundert in Frankreich und Deutschland populäre Klimatheorie.“ (Gelinsky 2008: 72). Im Gegensatz zu Montesquieu, dem es um das Auffinden allgemeiner Klimagesetze gehe, wirke für Herder das Klima an jedem Ort auf besondere und individuelle Weise (ebd.: 73): „Wie auch das Klima wirke, jeder Mensch, jedes Tier, jede Pflanze hat ihr eigenes Klima, denn alle äußern Einwirkungen nimmt jedes nach seiner Weise auf und verarbeitet sie organisch.“ (Herder 1784-1791/ 1985: 190) Zum Begriff des Klimas bei Herder Hard 1988; 1993; Kirchhoff 2005: 80 f. Kirchhoff 2005: 82. Soll kulturelle Entwicklung gelingen, darf die Loslösung von den Naturbedingungen allerdings nicht durch universelle technische Mittel erfolgen, durch die die besonderen „klimatischen“ Gegebenheiten negiert werden. Vielmehr soll „die Art der Mittel zur Loslösung immer noch die besonderen Bedingungen, von denen die Loslösung erfolgte“ (ebd.: 86), repräsentieren. Die Loslösung werde also erreicht, indem die innere Organisation so gestaltet wird, dass die äußeren Bedingungen in dieser ‚enthalten‘ sind. (Ebd.)

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Kulturen. Die Begriffe Eigenart und Vielfalt sind daher im konservativen Denkzusammenhang untrennbar miteinander verknüpft.169 „Wenngleich kulturelle Entwicklung nur durch Bindung an die Bedingungen des Lebensraumes erfolgt, so führt sie dennoch – das betont Herder – zu einer Loslösung vom unmittelbaren Zwang der Natur. Je besser sich ein Volk mit seiner Kultur an die besonderen Bedingungen seines Lebensraumes anpasst, desto mehr löst es sich vom direkten Einfluss seins Lebensraumes“.170

Diese Loslösung von den Zwängen der Natur ist nicht durch Naturbeherrschung definiert, wie dies im Liberalismus der Fall ist, sondern durch konkrete Bindung an Naturvorgaben. „Freiheit von Naturzwang besteht in der konkret sinnvollen Bindung an die allgemeinen Gesetze der Natur.“171 Ihr Sinn besteht nicht in der Realisierung unbedingter Freiheit (Emanzipation), sondern in der Entfaltung des genuinen Charakters des Volkes (Selbstvervollkommnung). Indem ein Volk seine Eigenart ausbildet, vervollkommnet es zugleich die göttliche Schöpfung, arbeitet also an der Erfüllung des göttlichen Planes mit.172 In späteren, säkularisierten Varianten der konservativen Weltanschauung erfüllt es seine Rolle in der Geschichte bzw. folgt seiner Natur. Ein Volk, das den Auftrag zur Ausgestaltung der individuellen Besonderheit ignoriert, versündigt sich daher an Gott bzw. der Geschichte oder der Natur. „Ein gelungenes Mensch-Natur-Verhältnis [kommt] für Herder in einer schönen Landschaft zum Ausdruck bzw. die Schönheit einer Kulturlandschaft ist Indiz für die Vollkommenheit einer historisch gewachsenen Verbindung eines Volkes mit seinem Lebensraum.“173 Der Grad und Erfolg kultureller Vollkommenheit zeigt sich für ihn also auf einer kategorial vollkommen anderen Ebene als der, auf der die Anpassung an den Lebensraum verhandelt wird. Die Schönheit einer Kulturlandschaft ist aber „nicht subjektiv und auf Lust gegründet wie bei Kant, sondern gilt als ein objektiver

169 „Die Idee der Vielfalt […] hat nur Sinn mit Bezug auf die Idee der Eigenart. Vielfalt ist Ausdrucksform und Funktionsweise eines ‚Charakters‘, vorgestellt als Reichtum der Welt. Diese Welt entfaltet sich in unzähligen Besonderheiten. Durch ‚Entfaltung‘ öffnet sich ein einzelnes Wesen der Welt und damit diese insgesamt. Es folgt dabei seinem inneren Wesenskern, seinen individuellen inneren Möglichkeiten. Das ist die Eigenart dieses Wesens.“ (Eisel 2004a: 24) 170 Kirchhoff 2005: 86, unter Bezug auf Herder 1784-1791/1985: 404. 171 Eisel 2004b: 201. – Dieses „Anpassungs-Loslösungs-Paradox“ (Eisel 1980; 1982; 2004b) ist strukturanalog zum oben behandelten paradoxen Freiheitsbegriff des Individuums in der Gesellschaft. 172 Kirchhoff 2005: 87. – „Herder überträgt in seiner Geschichtsphilosophie das christliche Prinzip der Selbstvervollkommnung in der Nachfolge Jesu auf die Entwicklung von Kulturen.“ (Ebd.: 89) 173 Ebd.: 87.

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Tatbestand und bemisst sich an einem Endzweck“174. Sie ist im konservativen Denkzusammenhang Ausdruck für die Vollkommenheit einer historisch gewachsenen Verbindung eines Volkes mit seinem Lebensraum: „Eine schöne Landschaft ist diejenige, die mittels kultureller, also künstlicher Praktiken nach dem Maß der natürlichen Vorgaben des Lebensraumes auf die einfachste Weise zweckmäßig gestaltet ist; sie ist vollkommen, insofern die ihr innewohnenden besonderen Möglichkeiten realisiert sind.“175 Die Kulturlandschaft ist also aus der Perspektive der konservativen Weltanschauung immer schön, wenn sich in ihr die Kultur vernünftig, d. h. ihrem Wesen gemäß, entwickelt, sich dabei an den natürlichen und historischen Potentialen des Ortes und ihrer Bewohner orientiert und Eigenart entfaltet hat. Die per definitionem schöne Kulturlandschaft ist also Ausdruck eines gelungenen Mensch-Natur-Verhältnisses. Dass dieses Verhältnis besonders auf dem Land glückt (und nicht in der Stadt), und mithin Kulturlandschaft als Symbol dieses gelingenden Mensch-Natur-Verhältnisses gilt, liegt an den das Land bewirtschaftenden Bauern. „Weil der Bauer in und mit der Natur arbeitet, weil er Gottes Wort in der Natur vernimmt, verkörpert er die gute Ordnung. Denn im Gegensatz zum Städter, der längst von der Natur entfremdet ist, (nur deshalb sei er ‚anfällig‘ für den ‚Zeitgeist‘), orientiert sich der Bauer weiterhin an Gottes Wort, lässt sich von diesem in seinem Leben und bei seiner Arbeit leiten.“176

Gelinsky zeigt anhand des Werkes von Jeremias Gotthelf (1797-1854), dass dem Bauern eine besondere Nähe zur Natur zugeschrieben wird, die dazu führt, dass er sich eher als der Städter an beiden „Büchern“, also dem der Natur und der Heiligen Schrift, orientieren kann.

174 Eisel 2004e: 30. – In seiner Ästhetiktheorie führt Herder also das ästhetische und das teleologische Urteil zusammen und widerspricht damit Kant, nach dem beide Urteile zu trennen sind. 175 Kirchhoff 2005: 87; vgl. Gelinsky 2008: 153. – Herder deutet die Schönheit einer Landschaft also als „das materielle Ergebnis und den Ort eines gelungenen, organischen Mensch-Natur-Verhältnisses“ (Kirchhoff 2005: 88). Hierin liegt ein Unterschied zum aufklärerischen Paradigma, gemäß dem Landschaft primär eine ästhetische Ganzheit ist, die sich dem wahrnehmenden Subjekt verdankt (siehe Kapitel 4.3). Die konservative ontologisierte Landschaftsauffassung markiert außerdem den Unterschied zur Position der Romantik (siehe Kapitel 4.4). Diese geht von der Nicht-Wiederherstellbarkeit der Einheit von Mensch und Natur aus und interpretiert Landschaft als Symbol, „durch das sich Sinn […] ästhetisch vermittelt, während Herder Landschaft als materielle Ganzheit interpretiert, welcher der Mensch als Teil zugehört“ (ebd.). 176 Gelinsky 2008: 143, Gotthelf interpretierend.

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„Eine vermittelnde Funktion erhält auch die bäuerliche Arbeit selbst. In dieser ist das Land, der Boden, von Gotthelf als ‚Mutter‘ bezeichnet, mit dem väterlichen Prinzip des göttlichen Wortes verbunden. Da erst die Gemeinschaft von Vater und Mutter die Familie konstituiert, realisiert sich die gottgewollte Ordnung nicht nur in der inneren Verfassung des Hofes (als christlichem Haus), sondern auch in und durch die bäuerliche Arbeit.“177

Die Leistung der Bauern bestehe darin, dass sie das von Gott in die Natur hineingelegte Ziel verstehen, und dieses Ziel gelte es beim Lesen im Buch der Natur zu erkennen, um es zu vervollkommnen. „Sich selbst überlassen wird die Natur nicht das, was sie unter dem gestaltenden Zugriff des Menschen werden kann. Was der Mensch aus der freien Natur macht, ist schon in ihr angelegt und zugleich doch freie Tat des Menschen.“178 Die Bauern erkennen also die von Gott gegebenen Möglichkeiten und realisieren sie. Sie vervollkommnen so die in der Natur angelegten Möglichkeiten, indem sie sie in eine individuelle kulturelle Ordnung umsetzen. Dadurch entstehen unverwechselbare Kulturlandschaften, die immer auch schön sind, weil sie auf eine gelungene Kulturentwicklung verweisen. Kulturlandschaft als geschichtsbewusste und (darum) maßvolle Kulturentwicklung (Vorstellung 14) Die zweite positive Bedeutung von Kulturlandschaft ist, dass sie als Ort einer vernünftigen Kulturentwicklung gilt. Das Augenmerk liegt hier weniger auf dem Ergebnis der Entwicklung – dass also ein Höchstmaß an Eigenart in der Kulturlandschaft realisiert ist – als vielmehr darauf, auf welchem Weg es erreicht wird. Welcher Vernunftbegriff liegt einer solchen Auffassung zugrunde? Der Konservatismus sei, so wird in der Literatur mit einem gewissen Recht behauptet, durch ein irrationales Selbstverständnis charakterisiert. 179 Trotzdem ist er, wie ich oben gezeigt habe, als von Beginn an rationale Position zu verstehen (siehe S. 134 f.). Dieser Widerspruch löst sich, wenn man bedenkt, dass der Konservatismus die allgemeine und abstrakte Vernunft der Aufklärung nicht mit der menschlichen Vernunft schlechthin identifiziert. Sein Vernunftbegriff ist dem der progressiven Weltanschauungen entgegengesetzt.180 Darum ist er nicht schlechthin irrational. So erscheint er nur vor dem Hintergrund der Vernunftbegriffe seiner weltanschaulichen Gegner. Vernunft zeichnet sich für ihn durch ihren monadologischen Charakter aus.

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Ebd.: 145. Ostermann 1968: 37, auf Herder bezogen. Greiffenhagen 1986: 62. Er ist nicht nur dem liberalen Verständnis von Vernunft als allgemeine, theoretisch-instrumentelle (=Verstand) entgegengesetzt, sondern auch der allgemeinpraktischen Vernunft des Demokratismus, siehe Kapitel 4.3.

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Man kann das monadologische Denken als philosophische Basis des Konservatismus ansehen. Wird es in den Rahmen geschichtsphilosophischer Überlegungen gestellt, hat man von einer idiographischen Position gesprochen.181 Im Gegensatz zum liberalen, nomothetischen Vernunftverständnis, das als Aufgabe der Vernunft bestimmt, am Einzelnen das zu betrachten, was sich unter allgemeine Gesetze subsumieren lässt, interessiert sich die Vernunft nach konservativem Verständnis am Einzelnen gerade für dessen Besonderheit.182 „Das Allgemeine wird gewissermaßen erst aus der sich selbst verwirklichenden Individualität heraus geboren. Auf deren Entwicklung kommt es an.“183 Der Konservatismus kritisiert an der Vernunft im progressiven Verständnis, dass ihre zersetzende Analyse die immer individuelle und damit „ganzheitliche“ Wirklichkeit verfehle und abstrakte, starre und damit tote Begriffe erzeuge.184 Stattdessen solle sich die Vernunft „vernehmend“ dem Konkreten, Gegebenen und Lebendigen185 zuwenden. Denn die Prinzipien der gesellschaftlichen Ordnung müssen und sollen „von der menschlichen Vernunft nur mehr entdeckt, nicht etwa konstruiert“186 wer-

181 Vgl. Eisel 1980: 246 ff.; 1999: 31; 2003a; Kirchhoff 2005. 182 „Das idiographische Denken begreift das Individuelle als konstitutive Kraft für das Allgemeine und das Allgemeine als vernünftigen Maßstab für diese Kraft. Das Organ des Allgemeinen im Individuum ist die Vernunft; das Organ des Individuellen im Universum ist die ‚Seele‘, die jedes Individuum besitzt und von der es innerlich bewegt wird.“ (Eisel 1999: 31) 183 Eisel 2003a: 412. – Deswegen kann auch Gottes Plan (als das Allgemeine) nur im Tätigwerden der Völker bei der Ausgestaltung ihrer Eigenart (als sich selbst verwirklichende Individualität) realisiert werden. 184 „Der Vorwurf gegen die Aufklärung geht dahin, daß sie durch ihre Abstraktionen die Wirklichkeit vergewaltige und hierdurch das gesunde Empfinden der Menschen irritiere. Wer reflektiert, entferne sich vom Lebensganzen und lande bei ‚toten‘ Begriffen, die sich gegen das Leben selbst wenden. In diesem Unterfangen komme die Hybris des Subjekts zum Vorschein, der Sündenfall der Menschheit“ (Lenk 1989: 47). Ganz in diesem Geiste heißt es bei Riehl über das öffentliche Recht seiner Zeit: „Es wird aber doch eine todte, unpraktische Abstraction bleiben, wenn es nicht zugleich auf das berechtigte Wesen dieser Besonderungen [den natürlichen Besonderungen von Land und Leuten] selbst gegründet ist.“ (Riehl 1854: 16) 185 Der Begriff des Lebendigen hat sich in der Geschichte des Konservatismus von einem christlichen zu einem lebensphilosophischen (und damit oft auch biologistischem) geändert (Schnädelbach 1983/1999: 172 ff.; siehe auch Gelinsky 2008: 172 ff.). In der hier vorgenommenen idealtypischen Rekonstruktion gehe ich auf diese Entwicklung allerdings nicht ein. 186 Lenk 1989: 78. – Kirchhoff (2005: 72) zeigt, dass die theoretische Vernunft, also der Verstand, für Herder nicht, wie für Kant, „ein nach eigenen Prinzipien Gegenstände konstruierendes oder bestimmendes Vermögen, sondern ein anerkennendes Vermögen“ ist. Den unmittelbaren Bezug der Vernunft zur konkret

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den. Vernunft gilt dem Konservatismus also als ein „vernehmendes Organ“187, das sich den Offenbarungen Gottes, der Geschichte oder der Natur lediglich zu öffnen habe. Damit geht die „konservative Verachtung der Technik“188 einher. Technik wird zwar nicht (anders als in der Sekundärliteratur oft behauptet) pauschal abgelehnt; technische Eingriffe beschränkten sich aber tendenziell auf das, was man unter „erziehen“, „pflegen“ oder „kultivieren“ versteht.189 Bedingung für einen im konservativen Sinn vernünftigen Technikgebrauch ist, dass Technik auf der vernehmenden, konkreten Vernunft des Menschen basiert. „Da diese natürlicherweise an Sinnlichkeit und Bedürfnisse gebunden ist, ist auch die Technik an konkrete Zwecke gebunden und damit natürlicherweise maßvoll.“190 Der abstrakten, analysierenden und konstruierenden progressiven Vernunft stellt der Konservatismus also eine konkrete, vernehmende und gestaltende Vernunft gegenüber.191 Diese Vernunft muss der Mensch einsetzen, damit er „die der Natur als Schöpfung innewohnende Zweckmäßigkeit in teleologischen Ur-

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gegebenen Welt stellt Herder her, indem er die Vernunft nicht als ein von der Erfahrung unabhängiges Vermögen definiert, sondern Verstand und Vernunft als von der Sinnlichkeit nur graduell unterschiedene, aktive Vermögen bestimmt (ebd.: 70 ff.). Lenk 1989: 78. Greiffenhagen 1986: 129. – „Die konservative Organologie lebt von dem Unterschied zwischen Wachsen und Machen. Das Machen als das planerische Verfertigen eines Kunstproduktes steht gleich zu Beginn des Konservatismus im Brennpunkt der Kritik. Dem Techniker, der sich etwas völlig Neues, nie Dagewesenes ausdenkt und zu verfertigen unternimmt, stellt der Konservative den Schöpfer entgegen, der sein Werk ‚zeugt‘ oder ‚gebiert‘, auf nicht systematisch-planende, sondern eher naturhaft-unbewußte Weise.“ (Ebd.: 213 f.) Technikkritisch äußern sich beispielsweise Jünger 1946, Klages 1913/1973. Gelinsky 2008: 76 f.; Gill 2003: 61. Kirchhoff 2005: 84 über Herder. Die Theorie der kommunikativen Vernunft (Habermas 1981/1995a; 1981/ 1995b) kann man als Versuch von progressiver Seite werten, auf die oben dargestellte Vernunftkritik zu reagieren. Sie gesteht erstens zu, dass das, was gemeinhin für die aufklärerische Vernunftvorstellung gilt, auf das Instrumentelle verkürzt ist; sie betont aber zweitens, dass diese Lesart der aufklärerischen Vernunftvorstellung gar nicht der wahren aufklärerischen Vernunftidee entspricht (so verweist Habermas beispielsweise beständig auf das Wirken der kommunikativen Vernunft in den Bereichen des Rechts und der Moral); drittens wird eingeräumt, dass die progressive Philosophie darüber, was Vernunft sei, in Gestalt der „Bewusstseinsphilosophie“ doch defizitär gewesen sei, weil sie keine an Sprache und Kommunikation orientierte Philosophie gewesen sei – ein Defizit, das durch die Theorie des kommunikativen Handelns aufgehoben werde.

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teilen konkret erkennt und ausschöpft“192, was ja für Herder, wie wir oben gesehen haben, die Bedingung der Entwicklung kultureller Vollkommenheit ist und was von den Bauern auf ideale Weise umgesetzt wird. Damit eine Kulturentwicklung vernünftig ist und als gelungen anzusehen ist, muss sie sich (1) an ihrer Geschichte und Tradition orientieren, und sie muss (2) behutsam und maßvoll erfolgen. Zu (1): Das Land wird unter Berücksichtigung des traditionellen Wissens darüber, wie die umgebende Natur gepflegt und bearbeitet werden muss, behutsam kultiviert. „In der Tradition oder Sitte verschmelzen die konkrete Natur – das Land oder der Boden einer bestimmten Region – und die konkrete Geschichte – die aufeinanderfolgenden Bauerngenerationen, die in dieser Region leben und arbeiten.“193 Kulturlandschaften sind daher immer historisch gewachsene Produkte überlieferter Erfahrung. Sie sind Spiegel der Kulturgeschichte und Ort des kulturellen Gedächtnisses.194 Das erste Charakteristikum einer gelungenen Kulturentwicklung ist also deren Orientierung an Geschichte und dem überlieferten Wissen, wie die Kulturlandschaft unter den gegebenen natürlichen Bedingungen weiterzuentwickeln ist. Der Begriff der Tradition oder Sitte markiert den „Angelpunkt des konservativen Selbstverständnisses“195. Mit diesem Begriff ist die Idee der Dauer verbunden: Tradition gewährleistet Dauer in der Zeit. Die Vorstellung der Dauer vereint sich mit der von Tradition zum Begriff der Kontinuität. Da Grund von Dauer nur Dauerndes selbst sein kann, der Mensch aber zeitlich und sterblich sei, muss das Traditum als Grund der Tradition dem sterbli-

192 Eisel 1992: 120. 193 Gelinsky 2008: 151. 194 Der Begriff des kulturellen Gedächtnisses wurde von Jan und Aleida Assmann unter engem Bezug auf Maurice Halbwachs geprägt, siehe dazu Assmann 1992/ 2002. 195 Greiffenhagen 1986: 142. – Auch am Phänomen der Tradition zeigt sich das bereits angesprochene Dilemma des Konservatismus: „Der Traditionsbruch ist die Voraussetzung konservativen Traditionsverständnisses, wie Tradition überhaupt erst da in den Blick rückt, wo sie radikal verneint wird. Die Reflexion auf Tradition schafft gewissermaßen das Traditionsbewusstsein erst.“ (Ebd.: 162) In dem Moment, in dem sie Gegenstand der Reflexion wird, ändert sich der Sinn der Tradition: Es steht nicht mehr ihr Ursprung, das Traditum, im Zielpunkt des Interesses, „sondern der Prozeß des Tradierens selber. In dieser Umwandlung des Traditionsverständnisses liegt die dialektische Verbindung des modernen Fortschrittsdenkens mit dem konservativen Traditionsbegriff als der ‚schöpferischen Kraft allen Geschehens‘. Nicht mehr der Grund der Tradition ist Gegenstand konservativen Bewahrungswillens, sondern die Tradition, der Überlieferungsvorgang als solcher. Der Traditionsprozeß wird selber heilig und abstrakte Dauer ein Wert an sich selbst.“ (Ebd.: 164.)

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chen Menschen vorausliegen.196 Es muss ihn und seine Endlichkeit transzendieren. Er übermittelt also in der Tradition nichts Selbstgefundenes, Selbsterdachtes, sondern beruft sich auf das Dauernde einer ihm prinzipiell überlegenen Macht. Als Grund des Dauernden und Begründung von Tradition kommt daher nur Göttliches, in späteren Varianten der konservativen Weltanschauung auch Natur oder Geschichte in Frage.197 Das, was in der Kulturlandschaft als Kulturleistung sichtbar ist und tradiert wird, muss den Charakter des Ursprungs für die jetzige Kultur haben. Die historische Kulturlandschaft verweist auf eine als „klassisch“198 wahrgenommene Zeit. Deswegen hat sie nicht nur als Zeichen einer unwiederbringlich vergangenen Epoche Bedeutung, sondern sie ist auch als sinnvolles und aussagekräftiges Zeichen der Herkunft der eigenen Kultur in der Gegenwart bedeutsam. Bei Gotthelf gilt die „bäuerliche Hofgemeinschaft als Hort und Vermittlungsinstanz der Sitte“199. „Alle von Gotthelf beschriebenen Höfe, deren Besitzer über die vier bäuerlichen Kardinaltugenden – Arbeitsamkeit, Häuslichkeit, Ehrbarkeit und Frömmigkeit […] – verfügen, befinden sich in ‚mehrhundertjährigem Besitz der Familie‘“200. Die Wertschätzung des von mehreren Generationen bearbeiteten Bodens erschließe sich über den Begriff der Familie: „Diese ‚wurzelt‘ nicht einfach in ihrem ‚mütterlichen‘ Heimatboden; in ihr bilden sich – ebenfalls über Generationen hinweg – im Umgang mit jenem Boden die Sitten, die den christlichen, ‚väterlichen‘ Sinn enthalten. Auf diese Weise vereinigen sich in einem alteingesessenen Hof das Natürliche (die mütterliche Natur) und das Sittlich-

196 Ebd.: 143 f; vgl. Gelinsky 2008: 152. 197 Während vorher Natur und Geschichte nur orientierend waren, wenn und weil sie den Menschen von Gott vorgegeben und als Aufgabe aufgegeben worden waren, nicht weil sie für sich Maßstab hätten sein können. 198 Siehe zum Begriff des Klassischen Gadamer 1960/1990: 290 ff. – In einer der Schlüsselpassagen zum Klassischen heißt es bei Gadamer: „Klassisch aber ist, wie Hegel sagt: ‚das sich selbst Bedeutende und damit auch das sich selber Deutende‘. – Das heißt aber letzten Endes: Klassisch ist, was sich bewahrt, weil es sich selber bedeutet und sich selber deutet; was also derart sagend ist, daß es nicht eine Aussage über ein Verschollenes ist, ein bloßes, selbst noch zu deutendes Zeugnis von etwas, sondern das der jeweiligen Gegenwart etwas so sagt, als sei es eigens ihr gesagt. Was ‚klassisch‘ heißt, ist nicht erst der Überwindung des historischen Abstandes bedürftig – denn es vollzieht selber in beständiger Vermittlung diese Überwindung. Was klassisch ist, ist daher gewiß ‚zeitlos‘, aber diese Zeitlosigkeit ist eine Weise geschichtlichen Seins.“ (Ebd.: 294 f.) 199 Gelinsky 2008: 152. 200 Ebd., mit Zitat von Gotthelf.

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Geistige (das Wort des göttlichen Vaters), wobei in dieser Vereinigung wiederum auch der Wert der Familie gegründet liegt.“201

Die Familie ist nicht nur die Instanz, die die Sitten bewahrt und weitergibt, sondern sie stellt die „‚Wurzel des sozialen Ganzen‘ dar, da sie dem einzelnen Mitglied seinen ihm bestimmten Platz sowohl innerhalb der Familie als auch in der Gesellschaft zuweist“202. Bei Gotthelf ist die „Familie“ die ganze Hofgemeinschaft: „Bauer und Bäuerin, die Meisterleute, verkörpern auf dem Hof die Eltern, während die Dienstboten, die ‚Kinder‘, ermahnt werden, den ‚elterlichen‘ Rat zu befolgen.“203 Das bäuerliche Leben wird also zum Symbol eines gelingenden (Familien-)Lebens stilisiert. Die bäuerliche Hofgemeinschaft, bzw. die Kulturlandschaft als ihr Symbol, gilt als Hort der Sitte und des Traditionsbewusstseins.204 Kulturlandschaften haben im konservativen Denkzusammenhang nicht nur Bedeutung als Speicher von Tradition und Geschichte, sondern sie werden zugleich als dem Ursprung nahe Landschaft gedacht. Eine Kulturlandschaft kann also in bestimmter Hinsicht, nämlich in der Repräsentation des Ursprungs, dieselbe Funktion übernehmen, wie die Wildnis in ihrer Bedeutung als Jungbrunnen. Diese Gemeinsamkeit darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass aus der Perspektive des Konservatismus einzig in der Kulturlandschaft die Vervollkommnung der Landschaft als Mensch-NaturEinheit realisiert ist. Wildnis erscheint unter dieser Perspektive als Mittel zum Zweck der Kulturlandschaft, denn in jener erhält und erneuert sich die besondere Einfühlungsgabe für den angemessenen Umgang mit der Natur – eine Fähigkeit, aus der die Kulturlandschaft schließlich hervorgeht. Durch eine nur geringe Akzentverschiebung kann man aber das Abhängigkeitsverhältnis von Kulturlandschaft und Wildnis auch genau umgekehrt deuten: Dann erscheint Wildnis als notwendige Voraussetzung von Kulturlandschaft. Letztere Lesart setzt sich in späteren Varianten des Konservatismus mit der Jungbrunnen-Bedeutung durch: Wildnis wird das die Überzivilisation kompensierende Prinzip, das die maßvolle Kultur der Kulturlandschaft korrumpiert. Zu (2): In der Literatur wird vielfach die Orientierung an der Tradition, die der Bewahrung überkommener Zustände dienen soll, als Hauptcharakteristikum des Konservatismus genannt.205 In diesem Sinne schreibt beispiels-

201 Ebd.: 153. 202 Ebd.: 141; zum konservativen Familienbegriff Greiffenhagen 1986: 157-159. – Auch für Riehl ist die Familie die Keimzelle der Gesellschaft und die Vermittlerin der Sitten (Riehl 1854/1861). 203 Gelinsky 2008: 140. 204 Dieses bäuerliche Traditionsbewusstsein veranlasst Riehl, die Bauern den „Mächten der Beharrung“ zuzuordnen (Riehl 1851: 33 ff.). 205 Vergleiche für viele die Darstellung im Wörterbuch der philosophischen Begriffe (Meyer & Regenbogen 1998: 355, Hervorh. V. V.; Stichwort „Konserva-

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weise Göhler, dass es „dem Konservatismus um die Bewahrung des Bewahrenswerten in einem vorgegebenen Ordnungsgefüge“206 geht. Der Inhalt dessen, was es zu bewahren gilt, ändert sich aber mit der Zeit – eine Bewegung, an deren Ende sich das Augenmerk auf den Prozess des Tradierens selbst richtet und Bewahren zum Selbstzweck wird. Daher ist das konservative Selbstverständnis eher „als Theorie des kontinuierlichen Wandels“207 zu beschreiben. Man wird dem Konservatismus also nicht gerecht, wenn man ihn als Position denkt, die jegliche Veränderung ablehnt. „Der Konservatismus ist beileibe nicht gegen die Befreiung vom Naturzwang durch technischen Fortschritt“208. Er wendet sich aber entschieden gegen die Bedingungslosigkeit und Beliebigkeit von Entwicklungen und formuliert Voraussetzungen für die kulturelle Einflussnahme auf Natur. Als Maßstab dient ihr Beitrag für die Ausgestaltung von Möglichkeiten, die einer Landschaft, immer verstanden als Einheit von Natur und Kultur, innewohnen. Nur solche Einflussnahme ist erlaubt (und sogar gefordert), die der Landschaft hilft, die in ihr angelegten Möglichkeiten zu entfalten und zum Ausdruck zu bringen. Zwar wird auch in der demokratischen Weltanschauung die Ausrichtung des Handelns an einem allgemeinen Maßstab gefordert, doch während dieser ein von den autonomen Individuen selbst gesetzter ist (wenn er auch nicht nach Belieben gesetzt werden kann, sondern mit dem übereinstimmen muss, was „die“ Vernunft, eine „höhere Ordnung“, fordert), ist er dem konservativen Verständnis nach vorgegeben. Entwicklung bedeutet also nicht Fortschritt als bedenkenlose Neuerung, sondern „Vervollkommnung ursprünglicher innerer Möglichkeiten angesichts gegebener höherer Maßstäbe“209. Sinnvolle Veränderung wird also begriffen als „Selbstausgestaltung durch Selbstverantwortung ohne Emanzipation“210. Das zweite Merkmal einer gelingenden Kulturentwicklung ist also, dass Kultur zum einen als etwas Gewachsenes, nicht als etwas Hergestelltes, Konstruiertes gedacht wird, und dass sie zum anderen behutsam behandelt wird: Die natürlichen und geschichtlichen Vorgaben werden berücksichtigt mit dem Ziel, die in der Natur angelegte Eigenart zu vervollkommnen. In der Idee der Kulturlandschaft als Organismus fallen diese Charakteristika zusammen:

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tismus“). Dort wird Konservatismus charakterisiert als „diejenige Staats- und Gesellschaftsauffassung, die auf die Bewahrung des geschichtlichen Zusammenhangs der historisch ‚gewachsenen‘ Lebensformen, der überlieferten Einrichtungen des nationalen Lebens, der Religion und der Sitte und der aus vorbürgerlichen Zeiten stammenden Ordnungsprinzipien von Ehe, Familie, Eigentum bedacht ist.“ Göhler 2002a: 19. Greiffenhagen 1986: 169, Hervorh. V. V. Eisel 2004d: 34. Eisel 1999: 42. Eisel 2004d: 35.

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„Jede Kulturlandschaft als Einheit von ‚Land und Leuten‘ (W. H. Riehl) ist ein individueller Organismus: In ihm sind Natur (die besondere, konkrete Natur des Ortes) und Geist (Kultur) eine untrennbare Einheit. Als Organismus kann die Kulturlandschaft sich nur als ein Individuum entwickeln, sie kann nicht geplant und konstruiert werden. Entwicklung heißt Realisierung des im Ursprung angelegten, Differenzierung der Anlagen zu größtmöglicher, doch nicht beliebiger, sondern der Eigenart des Ortes angemessener Vielfalt.“211

Eine organische Kulturentwicklung ist immer maßvoll. Im Maßhalten, in der freiwilligen Bindung und Selbstbeschränkung liegt die wahre Größe der idealen Kultur. Kulturlandschaft ist also Symbol einer weder primitiv-unterentwickelten noch einer überzivilisierten, sondern einer guten, weil das harmonisch-mittlere Maß haltenden Kultur.212 Die Idee der Kulturlandschaft als Organismus impliziert außerdem eine Frontstellung gegen den Konstruktivismus der Progressiven. Denn ein „Organismus kann nicht hergestellt werden. Man kann ihn hegen und pflegen, aber er muss von sich aus wachsen.“213 Die Vorstellung, dass sich die Natur ihrem wahren Wesen gemäß durch den kultivierenden Eingriff vollendet, gibt es zwar auch in der progressiven Landschaftsgartenbewegung. Dort herrscht jedoch die Überzeugung, dass das menschliche Subjekt die Natur besser und schöner machen könne als sie es jemals von selber schaffen könnte. Davon unterscheidet sich das konservative Naturverständnis deutlich, wenn auch dieser Unterschied nur in einer scheinbar geringen Akzentverschiebung gründet: Der Mensch macht die Natur nicht besser, als es ihre natürliche Bestimmung ist, denn zu dieser gehört gerade, dass er die Entwicklung der Natur verantwortlich in die Hand nimmt. „Der werksetzende und handelnde Mensch stellt sich in die Konsequenz der physischen Teleologie. Er vollbringt, was die Natur vollbringen würde, ihr – nicht sein – immanentes Sollen.“214 Die Organismusmetapher impliziert außerdem eine Hierarchievorstellung, die besonders dann greift, wenn sie auf die Organisation von Gesellschaft angewendet wird.215

211 Trepl & Voigt 2005: 29. – Die Manipulation der genetischen Ausstattung von Organismen ist zwar mittlerweile gentechnisch möglich, aber wachsen musste sogar das Klonschaf Dolly ganz alleine. 212 Ohne Kultur, so hatten wir oben gesehen, kann die Herausbildung der Eigenart einer Landschaft nicht geschehen, sie bliebe ewig Wildnis und damit auch weniger differenziert als den Anlagen nach möglich. Verwerflicher jedoch als das Beharren in der ursprünglichen Kulturlosigkeit ist, wie sich noch zeigen wird (siehe Kapitel 4.2.3), die Überzivilisiertheit als mutwillige Überschreitung des richtigen Maßes an Kultur. 213 Trepl & Voigt 2005: 29. 214 Blumenberg 1957: 274 f.; vgl. Zimmermann 1982: 121. 215 Voigt (2009: 88 ff.) formuliert eine „Denkfigur der organismischen Gemeinschaft“, die sie aus der Gesellschaftsphilosophie des Konservatismus ableitet.

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„Das Bild des Organismus, der Herrschaft des Hauptes über die Glieder, dient dem Konservatismus zur Veranschaulichung seiner Lehre, daß […] nicht das Volk sich einen Herrscher setzt, sondern der Herrscher über das Volk gesetzt ist, daß er im Namen des Ganzen, nicht im Auftrage der Einzelnen herrscht, daß er eine Sanktion nicht von unten, durch den Volkswillen erhält, sondern von oben, durch Geschichte und Religion, durch Legitimität und Gottesgnadentum“.216

„Der Wille, der zu entscheiden hat, ist nicht ‚unten‘, sondern ‚oben‘ angesetzt.“217 Das markiert die antidemokratische Stoßrichtung der organischhierarchischen Gesellschafts- und Staatstheorien. Der hierarchisch gedachte Organismus bzw. die organisch gedachte Hierarchie weist jedem Individuum seine Stellung in der Welt zu. Wird die Kulturlandschaft als Organismus gedacht, so bedeutet das also auch, dass sich der Einzelne in diese Einheit aus Natur und Kultur einzuordnen hat. Durch diese Einordnung trägt der Einzelne zum Funktionieren des Organismusganzen bei, ohne das auch er nicht leben kann. Denn in einem Organismus sind alle Teile füreinander und für das Ganze zweckmäßig.218 Kulturlandschaft ist in diesem Sinne also auch notwendige Bedingung einer guten Lebensentfaltung. Kulturlandschaft als Sphäre der Freiheit (Vorstellung 15) Kulturlandschaft ist Symbol der Überwindung der triebgesteuerten Wildnis und darum mit Freiheit assoziiert. Mit dieser Zuschreibung steht sie in deutlicher Opposition zur Wildnis. Es zeigt sich die klare Frontstellung gegen die liberale Weltanschauung, bei der sich Kulturlandschaft mit Unfreiheit, Wildnis hingegen mit Freiheit verbindet. In der konservativen Weltanschauung repräsentiert die Kulturlandschaft die Befreiung des Menschen zu seiner zweiten Natur, d. h. seiner Gemeinschaftsnatur: Wie oben bereits ausgeführt, kann erst in der Einordnung in einen vorgegebenen Zusammenhang, beispielsweise in staatliche Institutionen, das Individuum seine Eigenart voll entfalten und dadurch wahre Freiheit erfahren. „Da ‚der Mensch‘ von seiner Konstitution her labil und gefährdet erscheint, ist das, was der Domestizierung seiner Triebe nottut, einzig die Kontrolle und Sicherung durch von außen auferlegte Ordnungen und Gesetze. Dies eben ist das Werk der Institutionen: von der Familie bis zum Staat.“219 Die Institutionen ermöglichen es dem Menschen, von seinen Trieben befreit den ihm in der Gesellschaftsordnung zugewiesenen Platz anzu-

216 Radbruch 1950/1963: 165. 217 Göhler 2002a: 28. 218 Kant formuliert, dass ein Organismus als Naturzweck in mehrfacher Hinsicht „von sich selbst […] Ursache und Wirkung ist“ (Kant 1790/1996: 318, A 282, B 286, i. O. hervorg.). Zur Idee des Organismus bei Kant auch Cheung 2000; Weil 2005. 219 Lenk 1989: 37 f.

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nehmen, die ihm zugewiesenen Aufgaben auf je eigene Art zu erfüllen und sich zu einer individuellen Persönlichkeit zu entwickeln. „Erst in und durch Institutionen realisiert sich die eigentliche, zweite Natur des Menschen“220. Analog lässt sich formulieren: Erst in und durch die Anpassung an die natürlichen Gegebenheiten (das „Klima“) realisiert sich die eigentliche Natur der Kultur in der Kulturlandschaft. Denn die Kultur gestaltet in der Anpassung und Bindung an die natürlichen Gegebenheiten und unter Beibehaltung und Ausgestaltung ihres Charakters die Landschaft zu größtmöglicher Eigenart aus. Außerdem bedeutet Kulturlandschaft Freiheit, weil das Leben in ihr als unverfälschte und ungekünstelte, dem Ursprung nahe und damit naturgemäße und gerade deshalb vernünftige Lebensweise imaginiert wird. Diese Bedeutung erhält Kulturlandschaft besonders in späteren Varianten des Konservatismus, in Frontstellung gegen das Leben in der modernen Großstadt. Das Leben und Arbeiten in der Kulturlandschaft ist Abwendung von und Gegenbewegung zu einer überzivilisierten und künstlichen Lebensweise (wie sie paradigmatisch in der Großstadt um sich greift). Das Leben in der Kulturlandschaft ist die Hinwendung zu einem schlichten, reinen und ursprünglichen Leben, zu konkreter Arbeit in konkreter Natur.221 Es bedeutet Freiheit, weil die in ihm erfahrbare Ursprünglichkeit von der naturentfremdeten, abstrakten, letztlich triebgesteuerten Hybris befreit. Diese kommt für den Konservatismus in der Bewegung der Aufklärung zum Ausdruck und zur Wirkung. In der Vorstellung von Kulturlandschaft als Sphäre der Freiheit wird allerdings die Grenze zur ‚Wildnis‘ undeutlich: Kulturlandschaft scheint dann, wie Wildnis, die Funktion eines Jungbrunnens zu übernehmen. Bei Riehl beispielsweise zerfällt in der modernen Zeit das Landleben in zwei Pole. Auf der einen Seite steht der „feiste Bauer des reichen Getreidelandes“222, dessen Leben sich, gleich dem des Städters, an den falschen, modernen, naturentfremdeten Prinzipien orientiert. Auf der anderen Seite stehen die armen Gebirgsbauern; ihre Lebensweise wird von Riehl als so naturverbunden und ursprünglich gesehen, dass hier die Kulturlandschaft Züge der Wildnis trägt, wie an seinen Schilderungen des Fichtelgebirges, der Rhön und des Vogelbergs, besonders aber des Westerwalds deutlich wird.223

220 Ebd.: 38. 221 Der Topos, das Landleben mit seiner schlichten Zweckmäßigkeit gegen dekadente und unmoralische Überzivilisiertheit zu stellen, ist auch im Liberalismus, und – wie sich noch zeigen wird – auch im Demokratismus geläufig. Eisel (1982) zeigt, dass diese gleichzeitige Bezugnahme progressiver und konservativer Weltanschauungen auf konkrete Natur, auf „Landschaft“ „in der inneren Widersprüchlichkeit der Aufklärung, sowie in der Ambivalenz des Bürgertums gegenüber seinen eigenen Errungenschaften Industrie und Stadt“ (ebd.: 158) angelegt ist. 222 Riehl 1854: 31. 223 Ebd.: 191 ff.

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4.2.3 Stadt in konservativer Perspektive – Verwilderung von Sitten und Moral, universelle Gleichheit und Unfreiheit „Die kulturkritische Wendung gegen Luxus, Dekadenz und Verfeinerung der Sitten schließt stets eine Frontstellung gegenüber rationaler Wissenschaft und Technik ein und mündet häufig in eine Kritik an der Stadt als dem Ort solcher zivilisatorischer Errungenschaften.“224 Dennoch wird nicht die Stadt schlechthin verurteilt. Die konservative Stadtkritik richtet sich gegen die moderne Großstadt, die als realer und symbolischer Ort bedingungslosen Fortschritts angesehen wird. Positiv hingegen bezieht sich der Konservatismus auf die mittelalterliche, ihrem Wesen nach kleinere und bescheidenere, ständisch organisierte Stadt mit einem intakten Zunftwesen, die sich durch eine maßvolle, harmonische Entwicklung und Gestalt auszeichnet.225 Damit der positive Bezug auf diesen Stadttypus gelingen kann, muss er als sich naturwüchsig entwickelnd gedacht werden. Er muss aufgefasst werden als eine Variante kultureller Einflussnahme auf Natur, die sich kategorial nicht von anderen, vornehmlich ländlichen Varianten unterscheidet. Naturwüchsige Städte unterliegen also dem Entwicklungsparadigma der Kulturlandschaft: Die Stadt ist ein Organ im Organismus der Kulturlandschaft, das wie alle Organe besondere Aufgaben erfüllt, dadurch zwar eine besondere Stellung hat, dabei aber vom Ganzen genauso abhängt wie von allen anderen Organen.226 Das Naturwüchsige einer Stadtentwicklung meint auch, dass sich Städte individuell entwickeln müssen. Das bedeutet, dass sie sowohl eine einzigartige Gestalt als auch eine diese hervorbringende einzig-

224 Greiffenhagen 1986: 125. 225 Oswald Spengler unterscheidet explizit zwischen Großstadt und Kleinstadt; letztere rechnet er der (Kultur-)Landschaft zu: „Es entsteht der tiefe, vor allem seelische Unterschied von Großstadt und Kleinstadt, welch letztere unter dem sehr bezeichnenden Namen Landschaft ein Teil des aktiv nicht mehr mitzählenden Landes wird.“ (Spengler 1922/2003: 670) 226 Die Stadt kann auch als Organ mit leitender Funktion verstanden werden; sie ist dann zwar ein Teil des Organismus der Kulturlandschaft, aber eben ein besonderer: Sie ist die krönende Bestätigung der Landschaft, weil sie deren Charakter oder das Wesen ihrer Bewohner markant zum Ausdruck bringt (etwa durch einen bestimmten Baustil, durch Verwendung von in der Region auffindbarer Baumaterialien) – ganz anders die Großstadt, die sich nicht mehr in die Landschaft einfügen will: „Das Dorf mit seinen stillen, hügelartigen Dächern, dem Rauch am Abend, den Brunnen, Zäunen und Tieren liegt ganz in die Landschaft verloren und eingebettet. Die Landschaft bestätigt das Land, sie ist die Steigerung seines Bildes; erst die späte Stadt trotzt ihm. Mit ihrer Silhouette widerspricht sie den Linien der Natur. Sie verneint alle Natur.“ (Ebd.: 666)

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artige Entwicklungsgeschichte aufweisen müssen. In ihrem Wachstum gilt einer Stadt ihre eigene Geschichte als Maßstab, d. h. sie soll sich an den im Laufe ihrer Geschichte gesammelten Erfahrungen mit sich, ihren Bewohnern und der sie umgebenden Natur orientieren und die durch die Natur und die Geschichte gesetzten Grenzen akzeptieren. Wenn sich eine Stadt solchermaßen organisch-individuell entwickelt, handelt sie ihrer inneren Natur gemäß. Die konservative Stadtkritik richtet sich also gegen die moderne Großstadt. Die Darstellung anhand der drei Kriterien ‚Vernunft‘, ‚Ordnung‘ und ‚Freiheit‘ zeigt, dass sie mit ausschließlich negativen Vorstellungen verbunden wird: Erstens ist die moderne Großstadt der Ort unvernünftiger, maßloser Kulturentwicklung, was zu einer Verwilderung von Sitten und Moral führt, zweitens entwickelt sie keine Eigenart, sie ist vielmehr Ort universeller Gleichförmigkeit, und drittens wird sie mit Unfreiheit assoziiert (siehe Tabelle 3, S. 172). Die moderne Großstadt als Ort maßloser Kulturentwicklung (Vorstellung 16) Die unvernünftige Maßlosigkeit der modernen Großstadt ist Ausdruck und Ursache ihrer Widernatürlichkeit und Künstlichkeit.227 Die Widernatürlichkeit führen die konservativen Stadtkritiker vor allem auf die abstrakten, im Geiste der Aufklärung durchgeführten Verwaltungsmaßnahmen zurück. Diese ignorierten die natürlichen und historischen Besonderheiten einer Region und unterstützten nach abstrakten, lebensfernen Prinzipien das unbändige Wachstum bestimmter Städte zu modernen Großstädten. Riehl schreibt in diesem Sinne: „Mit den ruinirten Dörfern stehen in den süd- und mitteldeutschen Kleinstaaten zusammen die künstlichen Städte. Nirgends gibt es so viele ‚künstliche Städte‘, die man, der Natur und Geschichte trotzend, dem Lande zu Stapelplätzen des geistigen und materiellen Verkehrs octrohirt hat, als in Deutschland, nirgends so viele Städte, welche eine Bedeutung usurpiren, zu der sie nicht berechtigt sind, welche durch die Launen Einzelner oder auch auf Grund verkehrter Staatsmaximen zu einer reinen Treibhausblüthe entwickelt wurden und werden.“228

Die Künstlichkeit der Maßnahmen, beispielsweise der staatlichen Verkehrspolitik, führe zu einer Krankheit der Städte und des Landes: Die alten, mittelalterlichen Städte würden kränkeln, abmagern und sterben, die neuen Großstädte hingegen wüchsen sich zu unförmlicher Korpulenz aus.

227 Die Zirkularität von Ausdruck und Ursache ist, wie sich zeigen wird, typisch für die konservative Stadtkritik, siehe Vicenzotti 2005: 37 ff.; Vicenzotti & Trepl 2009: 386; vgl. Gelinsky 2008: 161. 228 Riehl 1854: 67 f.

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„Es werden [durch das Verlegen von alten Straßen] freilich nicht, wie bei der Veränderung der Handelswege am Ausgange des Mittelalters, einzelne große Städte ruinirt werden, wohl aber sind zahllose kleine Städte, volkreiche Flecken und Dörfer dem allmählichen Kränkeln, Abmagern und Absterben eben so sicher geweiht, als sich den großen Städten eine immer unförmlichere Corpulenz ansetzen wird.“ 229

Diese Gestaltlosigkeit wird als Missgestalt, als Unform, als „Monstrosität“230 wahrgenommen. Sie gilt als Ausdruck von und Hinweis auf die widernatürlichen, krankhaften Zustände, die sie hervorbringen. Die Widernatürlichkeit bewirkt auch bzw. äußert sich darin, dass die Stadtentwicklung ihr natürliches Maß vergisst und ihre organische Ordnung, die ihr individuelles Maß in sich hat, ignoriert.231 Bergmann betont, dass „der unbedingte Glaube an die Notwendigkeit einer ‚organischen‘ Entwicklung, des langsamen Wachsens und Reifens einer jeden Entwicklung aus ‚natürlichen Bedingungen‘ heraus“232 ein prägender Zug konservativer Großstadtfeindschaft ist. Dabei wird nicht Größe schlechthin verurteilt, sondern die Übergröße, die aus dem Drang entsteht, alles Machbare auch tatsächlich zu realisieren. „Es beruht aber die in Rede stehende Naturwidrigkeit und Verschrobenheit bei diesen künstlichen Städten nicht etwa darin, daß sie überhaupt als Städte existieren – denn viele derselben sind uralt – auch nicht darin, daß sie zufällig Residenzen sind, was sich meinetwegen auch auf lange Jahrhunderte zurück datiren mag, sondern einzig und allein darin, daß man diese Städte künstlich zu Verkehsmittelpunkten, zu Industriesitzen, zu großen Städten hat hinaufschrauben wollen.“233

229 Ebd.: 46. 230 Ebd.: 75. – „Bei den in’s Ungeheuerliche und Formlose ausgereckten Großstädten hört der besondere Charakter der Stadt als einer originellen Gesammtpersönlichkeit von selber auf.“ (Ebd.: 77 f.) 231 Riehl ist überzeugt: „Das gesunde Gedeihen der bürgerlichen Gesellschaft […] begehrt das mittlere harmonische Maß auch in der Ausdehnung der menschlichen Siedlungen“ (ebd.: 78). Auch Spengler ist der Ansicht, dass die Künstlichkeit der Stadt aus der Verneinung der Natur kommt und der Hybris, diese zu überbieten: „Sie [die Stadt] will etwas anderes und Höheres sein [als die Natur]. Diese scharfen Giebel, diese barocken Kuppeln, Spitzen und Zinnen haben in der Natur nichts Verwandtes und wollen es nicht haben, und zuletzt beginnt die riesenhafte Weltstadt, die Stadt als Welt, neben der es keine andere geben soll, die Vernichtungsarbeit am Landschaftsbilde. Einst hatte die Stadt sich ihm hingegeben, jetzt will sie es ihm gleich machen. […] [E]ine künstliche Natur wird in der Stadt selbst erfunden, Fontänen statt der Quellen, Blumenbeete, Wasserstreifen, beschnittene Hecken statt der Wiesen, Teiche und Büsche.“ (Spengler 1922/2003: 666 f.) 232 Bergmann 1970: 41. 233 Riehl 1854: 69.

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Das gilt dem Konservatismus als aufklärerische Hybris des Subjektes, das sich anmaßt, Herr und Konstrukteur der Welt zu sein. Das Scheitern der aufklärerischen Vernunft zeigt sich in den gesellschaftlichen Missständen, wie der materiellen Not, die in den modernen Großstädten herrscht. Deren Widernatürlichkeit und Krankhaftigkeit führt dazu, dass sie bestimmte Funktionen wie die Versorgung und Beheimatung all ihrer Bewohner nicht mehr erfüllen können – denn nur ein gesunder Organismus ist funktionsfähig.234 Die Maßlosigkeit der Kulturentwicklung äußert sich, und das ist ein zentraler Punkt der konservativen Stadtkritik, in der Verwilderung von Sitten und Moral. Der Zusammenhang zwischen Unmoral, Sittenlosigkeit und dem modernen Großstadtleben ist in der konservativen Stadtkritik ebenfalls zirkulär gedacht: Das Großstadtleben entsteht einerseits erst durch Sittenlosigkeit, andererseits übt die Stadt selbst einen verderbenden Einfluss auf ihre Bewohner aus: Sie bietet zu viele Verlockungen. Denen erliegen die Bewohner, weil sie sich nicht mehr an der Sitte orientieren (können), da sie vereinzelt, ohne Familie und der natürlichen Gemeinschaft in der ständischen Ordnung entrissen sind. In den Darstellungen der konservativen Kritiker erscheint die Verwilderung der Sitten bei den großstädtischen Klassen oder Schichten auf unterschiedliche Weise: im Bürgertum als Überzivilisiertheit (1) und im Proletariat als zügellose Grobheit (2). Zu (1): Obwohl seine Lebensweise auf den ersten Blick als das genaue Gegenteil eines wilden Lebens erscheint, gilt das Bürgertum, weil überzivilisiert, als verwildert. Riehl spricht von der „Geißel der Uebercivilisation“, die zu einer „Entartung und Erkrankung des Volkslebens“235 führe. Diese Charakterisierung impliziert, dass typische Phänomene der modernen großstädtischen Gesellschaft nicht mehr als Ergebnis einer Kulturentwicklung gelten, weil in der überzivilisierten Großstadt jedes Maß verloren ist.236

234 Riehl kritisiert die Wohnsituation in den Städten: „In der Architektur hat das Kasernensystem des modernen großstädtischen Häuserbaues den entschiedensten Schaden gestiftet. […] In Berlin droht diese Miethfrage bereits zur ‚sozialen Frage‘ zu werden“ (ebd.: 79 f.). „In den Proletarierquartieren der Großstädte wohnt das sieche, hektische, absterbende Volksleben.“ (Ebd.: 222) 235 Beide Zitate ebd. 236 Die Differenzierung von „Kultur“ und „Zivilisation“ geht auf Kant zurück: „Es scheint Kant gewesen zu sein, der einer bestimmten Erfahrung und Antithese seiner Gesellschaft zuerst in verwandten Begriffen Ausdruck gab.“ (Elias 1976: 8). Systematisch ist diese Trennung erst nach Riehl ausgearbeitet worden; sie spielt z. B. in Tönnies „Gemeinschaft und Gesellschaft“, dessen erste Auflage 1887 erschein, eine wichtige Rolle (Tönnies 1887/1935/1972). Die Unterscheidung von „Kultur“ und „Zivilisation“ findet sich aber auch schon bei Riehl. Er verwendet zwar diese Worte nicht, faktisch dreht sich aber seine gesamte Gesellschaftskritik um sie. Bei Spengler wird das Verhältnis von Kultur und Zivilisation als notwendige Abfolge gesehen. „Die Zivilisation ist das

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Die überzivilisierten Großstädter sind Menschen ohne Seelentiefe, die sich in oberflächliche Ablenkungen stürzen, was sich daran zeigt, dass sie keinen Geschmack haben. Kunstausstellungen, so urteilt beispielsweise Riehl, legen „Zeugniß genug ab von dem auf die Blasirtheit und Frivolität des großstädtischen Publikums berechneten Geschmack, der vor allen Dingen die Kunst der Ostentation verlangt“237. Die Blasiertheit bringt die Langeweile und Übersättigung des verwöhnten und verweichlichten Bürgertums zum Ausdruck, das die schlichte Volkskunst verachtet, die Riehl als die wahre Kunst gilt.238 Weil der moderne großstädtische Geschmack keinen Bezug auf das Wesen der Dinge nehme, fehle ihm Inhalt. Darüber müsse die moderne Kunst mit Effekthascherei hinwegtäuschen. Sie ziele auf Ostentation, um mit Prunk und Prahlerei von ihrer Gehaltlosigkeit abzulenken. „Das Theater von ganz Europa ist für Generationen ruinirt worden durch die unersättlichen Ansprüche des höchst großstädtischen pariser Publikums auf Prunk und Spektakel.“239 Doch während die Ostentation noch als eine Vor-

unausweichliche Schicksal einer Kultur. […] Zivilisationen sind die äußersten und künstlichsten Zustände, deren eine höhere Art von Menschen fähig ist. Sie sind ein Abschluß; sie folgen dem Werden als das Gewordene, dem Leben als der Tod, der Entwicklung als die Starrheit, dem Lande und der seelischen Kindheit … als das geistige Greisentum und die steinerne, versteinernde Weltstadt.“ (Spengler 1922/2003: 43) Thomas Mann hingegen begreift Kultur und Zivilisation als ewigen Weltgegensatz, vor allem aber sieht er die „Zivilisation“ positiver als Spengler und Riehl: „Zivilisation und Kultur sind nicht nur nicht ein und dasselbe, sondern sie sind Gegensätze […] Kultur ist Geschlossenheit, Stil, Form, Haltung, Geschmack, ist irgendeine gewisse geistige Organisation der Welt und sei das alles noch so abenteuerlich, skurril, wild blutig und furchtbar. Kultur kann Orakel, Magie, Päderastie, Vitzliputzli, Menschenopfer, orgiastische Kultformen, Inquisition, Autodafés, Veitstanz, Hexenprozesse, Blüte des Giftmordes und die buntesten Greuel umfassen. Zivilisation aber ist Vernunft, Aufklärung, Sänftigung, Sittigung, Skeptisierung, Auflösung, – Geist“ (Mann 1916, 7 f., zit. n. Greiffenhagen 1986: 126). 237 Riehl 1854: 80. 238 Wodurch sich wahre Kunst auszeichnet, erläutert er an der Darstellung des „Volk[es] als Kunstobject“ in „bildender Kunst“ und „Poesie“. Er äußert sich anerkennend über die Tendenzen derjenigen Strömung der zeitgenössischen Kunst, die „das Volk als Gesammtpersönlichkeit“ darstellt: „Die Gegenwart sucht in ganz anderer Weise wie irgend eine frühere Periode das Volk als Kunstobject zu fassen.“ Es ist jetzt nicht mehr „nur leicht angedeutete Staffage“ oder „Decoration“ (alle Zitate ebd.: 3), sondern wird in „seiner ungebrochenen, unverhüllten Natürlichkeit als Kunstobject“ (ebd.: 6) dargestellt. 239 Ebd.: 79. – Riehl greift hier der Kritik an der sog. Konsumgesellschaft vor. In dieser wird ein „unersättlicher“ Kreislauf aus Scheinbedürfnis, kurzfristiger Befriedigung durch Konsum und erneutem Bedürfnis beschrieben (Marcuse 1970: besonders 24 ff.).

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stufe zur Verwilderung erscheint, ist diese mit der Frivolität bereits erreicht. Denn frivol sind solche Handlungen, die das Maß des Erlaubten überschreiten und Vernunft, Anstand, Gewissen und Sitten ignorieren. Die oberflächlichen Zerstreuungen und Geschmacksverirrungen können auch, wie Gelinsky am Beispiel von Gotthelfs Stadtkritik zeigt, kulinarischer Art sein: „Während das Volk auf dem Land ‚das Einförmige, Bekannte und Bleibende‘ liebe […], wollten die Städter und die oberen Stände ‚immer was Neues, Verflüchteres‘ auf dem Tisch haben“240. „‚[I]n den sogenannten höhern Ständen‘ mag man ‚vom Gewohnten‘ nichts mehr, ‚weil man eigentlich keinen Appetit mehr hat, und immer etwas Neues, Verfluchteres herbei muss ums schwerste Geld, um sich einen künstlichen Hunger zu verschaffen, das heißt Gwunder, wie das sei, und sich dann einzubilden, es sei gut, und sich zu zwingen, davon zu essen, wenn es schon abscheulich schmeckt.‘“241

Zu (2): Die Verwilderung des Proletariats hingegen offenbart sich in zügelloser Grobheit. Riehl bezeichnet das „künstlich erzeugte Proletariat der künstlichen Städte [als] das gesunkenste und zügelloseste“242 von allen Arten von Proletariat. Diese Grobheit ist die Kehrseite der bürgerlichen Verfeinerung und wird, wie diese, als ein Produkt der modernen, von der Aufklärung geprägten Welt angesehen. Das wird besonders deutlich an Charakterisierungen der Großstadt als „Sammelbecken des geschichts- und traditionslosen Proletariats […], das in allen Spielarten dem Gedanken der Revolution anhänge“243. Die proletarische Zügellosigkeit ist nicht die ursprünglich-unschuldige Ungezwungenheit oder eine Rückkehr zu einer ursprünglichen Reinheit, sondern eine Rückkehr zu mit der Kultur bereits überwunden geglaubter bestialischer Brutalität und Grobheit. Das Proletariat kann nur ein sittenlos-verwildertes Leben führen, da bereits die Gründe seines Entstehens unmoralisch sind: Die Regierung ködert die Menschen in die Städte, nicht aber, um ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen, obwohl sie dies beteuert. Vielmehr lockt sie die Landbevölkerung mit Versprechungen, um ihre eigenen Ziele durchzusetzen: Statt weise den Staat zu führen, befriedigt sie lediglich ihre selbstsüchtigen Neigungen: „Die Regierungen lockten in manchen Staaten besitzlose Massen durch allerlei Vergünstigungen in die künstlichen Hauptstädte, um die kleinliche Eitelkeit einer möglichst hohen Einwohnerziffer zu befriedigen.“244 Die „besitzlosen Massen“ handeln, indem sie den materiellen Verlockungen nachgeben, ebenfalls unmoralisch. Sie sind unzufrieden mit ihrem bisherigen bäuerlichen Dasein und glauben, ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen zu können und ihr Glück zu ma-

240 241 242 243 244

Gelinsky 2008: 165 f. Ebd.: 166, mit Zitat von Gotthelf. Riehl 1854: 70. Bergmann 1970: 41. Riehl 1854: 70.

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chen. So ist es „nicht die absolute Noth, welche sie hierzu trieb“, vielmehr war es „unsinnige[..] Vermessenheit“245. „Durch den möglichen großen Gewinn verlockt“ ziehen sie in die Städte, und darin „liegt ein ungeheurer moralischer Ruin“246. Die unmoralische Wildheit des Proletariats wird im psychologischen Massendiskurs thematisiert.247 Es wird beschrieben, wie elend das Leben der Massen ist, und es wird betont, dass die Masse Brutstätte verschiedener Übel ist. So finden „die ‚socialen Phantastereien‘ […] insbesondere im Proletariat eine massenhafte Anhängerschaft“248. Die Masse stellt vor allem deshalb eine Gefahr dar, weil sich in ihr alle individuellen und sozialen Grenzen, Abstände und Unterschiede auflösen. Le Bon behauptet: „Die Massen haben nur Kraft zur Zerstörung. Ihre Herrschaft bedeutet stets eine Stufe der Auflösung.“249 Der Verlust von Grenzen bewirke den Abbau von Hemmungen. Die anfängliche Berührungsfurcht kann in den rauschhaften Wunsch nach Berührung in und von der Masse umschlagen.250 Der Masse wohne eine inhärente Tendenz zur Zerstörung jeglicher Ordnung inne, was auf deren „tiefe und geheimnisvolle Macht, die unterdrückten Leidenschaften des Menschen wachzurufen“251, zurückgeführt wird. Darin klingt das bestimmende Element des bürgerlichen Massendiskurses im 19. Jahrhundert an: „die Behauptung, die Masse sei der Triumph der Triebnatur des Menschen über die Errungenschaften der Zivilisation“252. Die Gefühlsregungen der Masse rufen „den verderbten Rest der Instinkte des Urmenschen herauf“253, so dass sich „der Einzelne, der einer Masse angehört, den primitiven Wesen“254 annähert. In der und durch die Masse fällt der Einzelne zurück in ein vorzivilisatorisches Stadium der Existenz: „Allein durch die Tatsache, Glied einer Masse zu sein, steigt der Mensch also mehrere Stufen von der Leiter der Kultur hinab. Als Einzelner war er vielleicht ein gebilde-

245 Beide Zitate ebd.: 215. 246 Ebd.: 216. 247 Der massenpsychologische Diskurs entsteht – als nicht ausschließlich konservativ geprägte Debatte – im letzten Drittel des 19. Jahrhundert, vor allem in Frankreich. Bedeutende Vertreter sind Hippolyte Taine, Gabriel Tarde, Scipio Sighele und Gustave Le Bon, der wohl am einflussreichsten ist (Frank 2003: 59, Fußnote 45). Dass der Diskurs über den Begriff der Massen auch im 20. Jahrhundert nicht abgeschlossen ist, zeigt sich beispielsweise an Riesmann 1950/ 1958. 248 Bergmann 1970: 43, mit Zitat aus Riehl 1851: 54. 249 Le Bon 1895/1938: 5. 250 Cannetti 1960: 11 f. 251 König 1992: 145. 252 Ebd. 253 Le Bon 1895/1938: 36. 254 Ebd.: 35.

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tes Individuum, in der Masse ist er ein Triebwesen, also ein Barbar. Er hat die Unberechenbarkeit, die Wildheit, aber auch die Begeisterung und den Heldenmut ursprünglicher Wesen“.255

Mit der Masse kehrt also die Wildnis in die Stadt zurück, diese verwildert und fällt damit gleichsam zurück auf die Stufe der ursprünglichen Wildheit. In der proletarischen Grobheit drückt sich also die Überzivilisiertheit paradoxerweise im Fehlen jeglicher Kultur aus. Sie ist in gewisser Weise als Rückkehr zur kulturlosen Wildnis zu verstehen, jedoch nicht zu ihrer ursprünglich-unschuldigen, sondern zu ihrer bösen und schlechten Seite, zu mit der Kultur bereits überwunden geglaubter bestialischer Brutalität. Die moderne Großstadt als Ort universeller Gleichheit (Vorstellung 17) Das zweite Merkmal der modernen Großstadt ist, dass sie keine Eigenart (mehr) hat. Sie gilt als Ort der Gleichmacherei, wodurch sie jeglicher Ordnung entbehrt. Je mehr eine Stadt zu einer Großstadt wird, umso mehr schwindet ihre Individualität. Denn jede „Großstadt will eine Weltstadt werden, d. h. uniform allen anderen Großstädten, selbst das unterscheidende Gepräge der Nationalität abstreifend. In den Großstädten wohnt der ausgleichende Kosmopolitismus.“256 Dass die modernen Städte alle gleich werden, impliziert, dass es keine Vielfalt der Städte mehr geben kann; möglich ist dann nur noch eine Vielzahl an überall gleichen Städten. Außerdem sieht der Konservative die Gefahr gegeben, dass die Unterschiede von Stadt und Land nivelliert werden. Demgegenüber betont er die Vielfalt an Siedlungstypen: In die regional typischen Landschaften sollen neben den Städten, gegen die der Konservative nichts einzuwenden hat, solange sie keine modernen Metropolen sind, immer auch Dörfer und Kleinstädte eingebettet sein. Bei allen Siedlungsformen soll sich „der individuelle Charakter lebendig erhalten“257. Schon die Entstehungsumstände der Großstädte machen die Ausbildung von Eigenart unmöglich, denn sie verdanken ihre künstliche Existenz und ihr monströses Wachstum dem massenhaften Zuzug bestimmter Teile der ländlichen Bevölkerung. In die Stadt ziehen vereinzelte, familienlose Landbewohner, die wurzellos und ohne Beruf in der Stadt ihr unverdientes Glück zu finden hoffen. „Das fabelhaft rasche Anwachsen unserer größeren Städte geschieht nicht durch einen Ueberschuß an Geburten, sondern durch einen Ueberschuß der Einwanderungen. Das Land und die kleine Stadt wandert aus nach der Großstadt. Die überwiegende

255 Ebd.: 19. 256 Riehl 1854: 78. 257 Ebd.: 66.

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Masse dieser Einwanderer besteht aber aus einzelnen Leuten, die noch keinen festen Beruf, kein eigenes Hauswesen haben, die in der großen Stadt erst ihr Glück machen wollen. Es ist ihnen daheim zu langsam vorwärts gegangen, in der großen Stadt aber hoffen sie ernten zu können, ohne gesäet zu haben.“258

Als Problem wird der Zuzug der „Luxusarbeiter, Spekulanten, Lehrlinge, Gehülfen, Dienstleute, Tagelöhner“259 vor allem deshalb gesehen, weil sie nicht dauerhaft an einem Ort, in einer Stadt wohnen, sondern unverbindlich umherreisen, so dass niemals eine Land-und-Leute-Einheit entstehen kann. „Nicht durch die seßhafte, sondern durch die fluctuirende Bevölkerung werden unsere Großstädte so monströs.“260 Für das Fehlen jeglicher Besonderheit wird die kapitalistische Wirtschaftsordnung verantwortlich gemacht. Diese habe durch ihre Dynamik „jenen Prozeß allgemeiner Mobilität in Gang gebracht, in dessen Strom der Konservative nach Orientierung sucht und diese nur im Rückgang auf die ständische Gesellschaftsordnung und die vorkapitalistische, an traditioneller Bedarfsdeckung orientierte Wirtschaftsweise zu finden meint“261. Die Stadt gilt als Ort des Geldes, des abstrakten, kapitalistischen Handels, das dem konkreten Tauschgeschäft auf dem ländlichen Markt gegenübergestellt wird.262 Der mit der Industrialisierung auftretende Kapitalismus wird als die große, alle Besonderheiten einebnende, gleichmacherische Kraft angesehen. Wie Eisel zeigt, wird für den Konservativen das Besondere von zwei Seiten bedroht: erstens durch „das Universelle, immer und überall Gleiche; zweitens durch das Individuelle, ganz und gar andersartig Besondere, wenn es zahlreich ist“263. Beide Einflüsse, die auf das gemeinsame Prinzip der Ablehnung der Gleichheit zurückzuführen sind, treten in der modernen Großstadt auf: Erstens ist die Funktionsweise von Kapitalismus und Industrialisierung prinzipiell universell – durch die immergleichen Gesetze des Marktes und durch die universell eingesetzten Produktionsweisen. Zweitens kommen mit der modernen Marktwirtschaft viele fremde Einflüsse, Men-

258 259 260 261 262

Ebd.: 75. Ebd.: 76. Ebd. Greiffenhagen 1986: 127. „Die Stadt übernimmt die Leitung der Wirtschaftsgeschichte, indem sie an die Stelle der Urwerte des Landes, wie sie vom bäuerlichen Leben und Denken nie zu trennen sind, den von den Gütern abgelösten Begriff des Geldes setzt. Das uralte ländliche Wort für den Güterverkehr ist Tausch.“ (Spengler 1922/2003: 670). – „Die Stadt bedeutet nicht nur Geist, sondern auch Geld.“ (Ebd.) Die Stadt als Ort des Geldes ist die Sphäre der Abstraktheit, die dem konkreten Leben auf dem Land gegenübergestellt wird: „Damit hat auch der Begriff Geld seine volle Abstraktheit erlangt. […] Seine Beziehung zum Boden und den damit verwachsenen Menschen ist so vollständig verschwunden“ (Ebd.: 671). 263 Eisel 2003a: 410.

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schen und Güter in die Stadt, so dass deren besonderer Charakter untergeht. Die Wirtschaftsweise des Kapitalismus und die Produktionsweise der Industrialisierung in der modernen Großstadt identifiziert der Konservatismus also als große Gleichmacher. Gegen die kapitalistische Markt- und Konkurrenzgesellschaft stellt der Konservatismus das Handwerk, den Handel und den Landbau nach ständischem Verständnis. „Damit kann auch ein schärferer Blick für die negativen Begleiterscheinungen der Industrialisierung und der Durchsetzung kapitalistischen Wirtschaftens verbunden sein“264. Verarmung, Verelendung und Entfremdung werden nicht als vorübergehende und zu behebende, unvermeidliche Begleiterscheinungen der Modernisierung angesehen, sondern zunehmend als Krisensymptome gedeutet, welche den Bestand der sittlichen Ordnung grundsätzlich in Frage stellen. In der Kritik an den sozialen Folgen des Kapitalismus liegt eine Gemeinsamkeit der konservativen Weltanschauung und der demokratischen mit ihren sozialistischen (und später marxistischen) Weiterentwicklungen. Die Lösungsvorschläge beider Positionen unterscheiden sich jedoch deutlich: Dem Konservatismus ist der sozialistische Ausweg genauso verhasst wie das Problem, für das doch beide eine Lösung suchen. Der Sozialismus missachte und nivelliere als internationale Bewegung die nationalen Besonderheiten genauso wie die individuellen, lautet der konservative Einwand. Der für die Großstadt typische sozialistisch-revolutionäre Geist ist „nicht ureigener deutscher Geist […], sondern vornehmlich Importware aus Frankreich. Aber dieses internationale Gedankengut falle eben nur in der Großstadt auf fruchtbaren Boden“265. Dabei ist nicht nur das Proletariat anfällig für internationales, das Vaterland verratende Gedankengut. Durch seinen auf internationale Moden schielenden, mondänen Lebensstil streift auch das Bürgertum willentlich jegliches nationale Gepräge ab. „Der Bürgerstand ist seit alten Tagen der oberste Träger der berechtigten socialen Bewegung gewesen, der sozialen Reform. Er ist darum – namentlich in seiner modernen Erscheinung – das Gegentheil des Bauern. Das Bürgerthum strebt dem Allgemeinen, das Bauernthum dem Besondern zu. Die Besonderungen sind aber in der Gesellschaft das alte Vorhandene, die Allgemeinheit wird erst geschaffen. Dem Bauern sieht man‘s gleich am Rock und an der Nase an, aus welchem Winkel des Landes

264 Göhler 2002a: 29. 265 Bergmann 1970: 43. – In diesem Geiste schreibt Riehl (1854: 9) gegen Frankreich: „[D]ie Franzosen haben bis jetzt stets nur eine verneinende, nivellirende, nicht aber eine positive, conservative sociale Politik gewinnen können“. In der frühen Großstadtkritik, wie sie Riehl entwirft, bedeutet Großstadtfeindschaft „immer Rückgriff auf einschlägige Erfahrungen der westlichen Nachbarn Deutschlands, deren sozialökonomischer Strukturwandel weiter vorgeschritten war als der Deutschlands“ (Bergmann 1970: 42).

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er stammt, das Bürgerthum hat eine gleichmäßige äußere Physiognomie der ‚gebildeten Gesellschaft‘ bereits über ganz Europa ausgebreitet.“266

Stadt als Sphäre der Unfreiheit durch Bindungs- und Maßlosigkeit (Vorstellung 18) Das Versprechen, dass Stadtluft frei mache, glauben die Konservativen als falsches Versprechen zu enttarnen. Für sie ist die moderne Großstadt im Gegenteil Ort der Unfreiheit. Denn die Maßlosigkeit, die das Leben in ihr bestimme, verweise nicht auf Freiheit, sondern sei Ausdruck davon, dass die Stadtbewohner einzig ihren Begierden unterworfen sind. Im Zustand verwilderter Sitten und Moral sind sie sowohl anfällig für sinnliche (Trinkerei und Unzucht) als auch intellektuelle (revolutionäre) Verlockungen. Als unfrei gelten sie außerdem, weil sie den Eigengesetzen des Marktes unterworfen sind. Die von der Aufklärung postulierte Freiheit und Autonomie sind nur Schimären, aus konservativer Perspektive bedeuten sie Versklavung durch die Geldwirtschaft. Der Begriff des Geldes „dient nicht mehr dem Verstehen des wirtschaftlichen Verkehrs; er unterwirft den Warenumlauf seiner eigenen Entwicklung.“ „Das Geld ist jetzt eine Macht, […] welche die mit ihm beschäftigten Menschen ebenso von ihm abhängig macht, wie früher die Erde den Bauern.“267 Doch während die Bindung des Bauern an den Boden wahre Freiheit bedeutet, macht die Bindung an das Geld unfrei, weil es ein abstrakter Begriff ist, der „keinerlei Wurzeln im Dasein“ mehr besitzt. Darin liegt seine „ungeheure Macht über jede beginnende Zivilisation“, die zu einer „Diktatur dieses ‚Geldes‘“ führt. Dadurch erleidet eine Kultur, ein Volk einen „Mangel an Halt, durch den es zuletzt seine Macht und seinen Sinn verliert“268. Wie bei seinem weltanschaulichen Gegner, dem Liberalismus, kann auch beim Konservatismus die Beziehung der Vorstellungen von Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt in bestimmter Hinsicht als dialektisch beschrieben werden: Die kulturlose Wildnis kann zu einer Kulturlandschaft entwickelt werden, die zur überzivilisierten modernen Großstadt degenerieren kann. Diese muss dann in bestimmter Hinsicht wieder als wild gelten: Sie ist Verwilderung, ein sündhafter Rückfall. Die dialektische Bewegung von Wildnis zu Stadt beschreibt eine Abwärtsspirale – und darin liegt der Unterschied zur liberalen Weltanschauung, bei der die dialektische Bewegung gerade als Fortschritt, als Aufwärtsspirale verstanden wird. Aus konservativer Perspektive haften der modernen Großstadt nur negative Bedeutungen an: Als Ort maßloser Kulturentwicklung, als Sphäre universeller Gleichförmigkeit und Unfreiheit ist sie schlecht, böse und hässlich. Die konservative Kritik an ihr lässt sich auf zwei Aspekte zuspitzen: Betonwüste und Asphalt-

266 Riehl 1851: 187. 267 Beide Zitate Spengler 1922/2003: 671. 268 Alle Zitate ebd.: 672.

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dschungel. Zu diesen Bildern gerinnt sie in der späteren Stadtkritik auch explizit: Die verwaltete, künstliche, erstarrte und tote Großstadt wird mit der Metapher der Betonwüste erfasst, wohingegen die Stadt als chaotischer, wilder, unübersichtlicher und sittenverwahrloster Ort als Asphaltdschungel beschrieben wird. Tabelle 3: Vorstellungen von Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt aus der Perspektive der konservativen Weltanschauung. Wildnis

Kulturlandschaft

Stadt

Freiheit

Sphäre der Triebgebundenheit: Wildnis steht für die zu überwindenden Triebe; sich ihnen hinzugeben (wild zu sein), bedeutet Unfreiheit.

Sphäre der Freiheit durch Bindung: (1) Gelungene Überwindung der triebhaft-wilden Unfreiheit, (2) Freiheit durch Ursprungsnähe.

Sphäre der Unfreiheit durch Bindungs- und Maßlosigkeit: (1) Stadtbewohner geben sich sinnlichen und intellektuellen Begierden hin, (2) sie sind den (Eigen-)Gesetzen des Marktes unterworfen.

Ordnung

Wildnis verhindert die Vervollkommnung der wahren Natur: Hingabe an die Triebnatur, statt Ausgestaltung der Eigenart. Verwilderung als Hindernis der kulturellen Vervollkommnung (eines Menschen, einer Kultur).

Eigenart, Vielfalt und Vervollkommnung – die schöne Kulturlandschaft als Symbol eines gelungenen Mensch-NaturVerhältnisses: Kulturlandschaft ist die paradigmatische Lebensweise, die im Zusammenwirken von Land und Leuten, von Natur und Kultur individuelle Vollkommenheit erzeugt.

Gleichheit und (damit) der Unordnung: (1) keine Eigenart der modernen Großstädte, daher auch keine (regionale) Vielfalt, (2) Kapitalismus als großer Gleichmacher, (3) Uniformität und Internationalisierung (Sozialismus).

Paradies und Jungbrunnen: (1) Wildnis als paradiesischer Ursprung, (2) Wildnis als Jungbrunnen verhilft zu einer lebendigen und unverfälschten Einsicht in die wahre Natur der Dinge.

Geschichtsbewusste und (darum) maßvolle Kulturentwicklung stützt sich auf die wahre, d.h. vernehmende Vernunft; (1) an Geschichte und Tradition orientiert, (2) organisch-maßvolle Entwicklung.

Ort maßloser Kulturund Vernunftentwicklung: Künstlichkeit und Widernatürlichkeit der modernen Großstädte sowie Verwilderung von Sitten und Moral, (1) Überzivilisation im Bürgertum, (2) Barbarei im Proletariat.

10 15 18

11 13 17

Vernunft

12 14 16 4.3 D EMOKRATISCHE V ORSTELLUNGEN VON W ILDNIS , K ULTURLANDSCHAFT

UND

S TADT

Unter den Begriff des Demokratismus fasse ich diejenige progressive politische Philosophie, wie sie vor allem in der französischen Aufklärung formuliert und zu verschiedenen Varianten des Sozialismus weiterentwickelt wur-

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de. Diese werden hier allerdings weniger berücksichtigt.269 Vertrauter als der Begriff des Demokratismus mag „Demokratie“ klingen, doch während diese die Herrschaftsform bezeichnet und sich auf die institutionelle Ebene ihrer Durchsetzung bezieht, erfasst „Demokratismus“ die weltanschauliche Ebene, die den Demokratietheorien zugrunde liegt und auf die es hier ankommt.270 Bevor ich im Hauptteil des Kapitels die Vorstellungen präsentiere, die mit Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt assoziiert sind, erläutere ich zunächst kurz, auf welche Protagonisten ich zur Formulierung der demokratischen Weltanschauung rekurriere und charakterisiere den Demokratismus als progressive, rationalistisch geprägte Philosophie. Wie schon in den vorangegangenen Kapiteln, greife ich auf Sekundärliteratur zum Demokratismus zurück271 und beziehe mich zur Veranschaulichung auf Jean-Jacques Rousseaus Gesellschaftstheorie, wie er sie in seinem Buch Der Gesellschaftsvertrag (1762) dargelegt hat.272 Um Wildnis als Ort der Selbstvergewisserung der Vernunft darzustellen, werde ich auch auf Immanuel Kant verweisen, vor allem auf seine Theorie des Naturerhabenen in der Kritik der Urteilskraft (1790). Warum ist Rousseau ein geeigneter „Grammatiker“ für die Konstruktion einer demokratischen Position?273 Er

269 Die hier getroffene Differenzierung in der „Aufklärung“ in eine empiristische (Liberalismus) und eine rationalistische (Demokratismus) Variante orientiert sich an Habermas (1963b; siehe auch Freudenthal 1982: 150 ff.; Jonas 1968: 49-72; Kersting 1994; Nonnenmacher 1989; Schmidt & Zintl 2006; vgl. Eisel 1999; Kirchhoff & Trepl 2009: 35; Voigt 2009), der das, was ich „demokratisch“ nenne, als „Aufklärung“ dem Liberalismus gegenüberstellt; vgl. auch Müller 1978: 9. Auch bei Greiffenhagen findet sich diese Unterscheidung. Er nennt allerdings das neben dem Liberalismus andere fortschrittliche Lager die „sozialistische Position“ (Greiffenhagen 1986: 30), benennt sie also nach dem End- statt nach dem Ausgangspunkt. 270 Zum Begriff des Demokratismus als Weltanschauung Truhlar 2006: 34 ff. 271 Ich beziehe mich vor allem auf Fetscher (1975/1999) und Nonnenmacher (1989: 193-265), sowie auf folgende Veröffentlichungen zur Philosophie Rousseaus: Adam 1999/2002: 78-140; Althusser 1966/19; Cassirer 1975; Jonas 1968: 49-59; Kersting 1994; Meyer 1969; Spaemann 1992; Talmon 1961; Voigt 2009; Winkel 1992; Zippelius 1971/2003. 272 Rousseau zitiere ich aus der verbesserten deutschen Übersetzung von H. Denhardt unter Angabe der Seite sowie des Buches und des Kapitels (Rousseau 1762/1975; die Sigle CS steht für Contrat Social), ergänze jedoch zum Teil die Originalbegriffe des französischen Textes mit modernisierter Orthographie. 273 Die Frage ist angesichts der Vielzahl von Autoren, die man intuitiv als „demokratisch“ oder „sozialistisch“ einstufen würde, berechtigt, und wenn man bedenkt, dass sowohl Rousseau (als auch Kant) Zweifel an der Realisierbarkeit der Volksherrschaft außerhalb kleinster politischer Ordnungen geäußert haben, stellt sie sich mit besonderer Schärfe. Zum zweiten Einwand – meine Argumentation gegen den ersten Einwand erfolgt im Haupttext – sei hier nur knapp

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bietet sich aus mehreren Gründen gut für eine Darstellung dieser politischen Philosophie an – trotz seiner besonderen Stellung unter den französischen Aufklärern, trotz seines Fortschrittspessimismus und trotz der einander widersprechenden Interpretationen seines Werkes.274 Rousseau veröffentlicht seine Thesen (1) in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und somit in der sogenannten Sattelzeit, auf die ich bei meiner Idealtypenkonstruktion einen Schwerpunkt lege. Seine Theorien waren (2) sehr wirkmächtig, nicht nur in theoretischer, sondern auch in praktischer Hinsicht: Sein Denken hatte größten Einfluss auf die Französische Revolution und alle progressiven sozialen Regierungen in Europa zu dieser Zeit.275 Wichtig ist (3) vor allem, dass er eine politische Philosophie der idealen Demokratie entwirft, aus der sich ein Strukturkern des Demokratismus herausarbeiten lässt, der „ohne jede liberale Korrektur“276 auskommt. Mit Rousseau lässt sich also das Typische des Demokratismus in bestimmten Punkten, und zwar den hier wesentlichen, sehr gut zum Ausdruck bringen. Darüber hinaus eignet er sich deshalb zur Darstellung der politischen Philosophie des Demokratismus, weil er (4) „diese konsistent entwickeln konnte“277. Es lässt sich ebenfalls gut begründen, dass ich zur Veranschaulichung besonders eines Vorstellungskomplexes von Wildnis, der sich auf das Vernunftkriterium bezieht, im demokratischen Zusammenhang auf Kant zurückgreife: (1) Auch er formuliert seine Theorien in der Sattelzeit. (2) Er hat

274

275

276 277

das Folgende erwähnt: Rousseau (und Kant) mögen der Demokratie als Regierungsform gegenüber skeptisch sein, was aber die Staatsform betrifft, so können beide als Befürworter republikanisch-demokratischer Ideen gelten, insofern es beiden um eine Ordnung des Gemeinwohls nach allgemeinen Prinzipien geht, die jeder Einzelne mit seiner Vernunft erkennen kann. Zum Unterschied von Staats- und Regierungsform siehe beispielsweise Nonnenmacher (1989: 260) zu Rousseau und Horn (2003: 67) zu Kant. Rousseau ist sehr unterschiedlich interpretiert worden. Er ist „zum Vater aller modernen Modernismen und Antimodernismen geworden: der Revolution und der Restauration, des liberalen Rechtsstaates und der populistischen Diktatur, der antiautoritären Pädagogik und des Totalitarismus, des romantischen Christentums und der strukturalistischen Ethnologie. Aller Streit um den ‚wahren Rousseau‘ ist vergeblich. Für jede rousseauistische Verirrung gibt es auch eine rousseauistische Kritik.“ (Spaemann 1992: 14) – Zu den Besonderheiten unter den französischen Aufklärern, den widersprüchlichen Interpretationen und weiteren Literaturangaben siehe Nonnenmacher 1989: 194. Ob die Revolutionäre sich zu Recht auf Rousseau berufen haben, soll hier nicht erläutert werden. Siehe ausführlich zur Rezeption Rousseaus durch die Revolutionäre, insbesondere Jakobiner und Sansculotten, und die Konterrevolutionäre in der vorrevolutionären und revolutionären Phase Fetscher 1975/1999: 258304. Fetscher 1975/1999: 144. Voigt 2009: 115.

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das Denken der Moderne maßgeblich geprägt. Seinen Einfluss auf dessen Entwicklung kann man kaum überschätzen. Seine Theorien sind (3) in einem Höchstmaß als konsistent zu bezeichnen. (4) In seinem Denken treten, wenigstens in bestimmten Aspekten, typische Elemente des Demokratismus besonders markant hervor. Zwar hat er mit seiner Transzendentalphilosophie bekanntlich die Frontstellung von Rationalismus und Empirismus vermittelnd überwunden, aber in seinen rationalistischen Aspekten, und ganz besonders hinsichtlich seiner Ethik und dem darin scharf zur Geltung kommenden Gegensatz zum empiristischen Liberalismus, erscheint er gut geeignet, um bestimmte Aspekte der demokratischen Weltanschauung herauszuarbeiten. Außerdem kann er (5) relativ unumstritten als ein Denker gelten, der das progressive Denken in all seinen Verästelungen und Konsequenzen herausgearbeitet hat.278 Demokratismus als ein dritter Weg: die progressive Variante des Rationalismus Der Demokratismus wird von mir als progressive rationalistische Weltanschauung konstruiert. Er beruht, wie schon angedeutet (siehe oben S. 133), nicht auf der konservativen, idiographischen, sondern auf der zweiten, nämlich der nomothetischen Variante des Rationalismus. Ich verstehe den Demokratismus als einen Dritten Weg im Spektrum moderner politischer Philosophien. Da der „Dritte Weg […] vielfach als Form verstanden [wird], die

278 Obwohl ich beide, Rousseau und Kant, zur Veranschaulichung meines demokratischen Idealtypus heranziehe, stelle ich keine weitergehenden Analysen zur Übereinstimmung dieser beiden Theorien an. Herauszuarbeiten, in welchen Aspekten sich die Weltanschauung beider gleicht bzw. unterscheidet, wäre Gegenstand einer eigenen Untersuchung. (Zu einer Einschätzung und Beeinflussung Kants durch die Französische Revolution beispielsweise Burg 1974.) Einige Punkte möchte ich trotzdem andeuten: Kersting arbeitet als eine Gemeinsamkeit zwischen Rousseau und Kant den Vertragsgedanken heraus: „Weiterhin charakterisiert Kant die republikanische Verfassung als ‚die einzige, welche aus der Idee des ursprünglichen Vertrags hervorgeht, auf der alle rechtliche Gesetzgebung eines Volkes gegründet sein muß‘. Diesem Argument liegt eine vertragstheoretische Legitimationskonzeption zugrunde, die an den Contrat social erinnert. Kant hat im ‚Bürgerbund‘ Rousseaus das ‚Ideal des Staatsrechts‘ erblickt und den Gesellschaftsvertrag als allgemein verbindliche Rechtsform für jede bestehende gesellschaftlich-politische Vereinigung angesehen“ (Kersting 1995: 92, mit Zitaten von Kant). Eine weitere Gemeinsamkeit kann darin gesehen werden, dass beide von apriorisch gegebenen (Tugend-)Ideen ausgehen. In der politischen Umsetzung der Vertragsgemeinschaft unterscheiden sich jedoch beide (ebd.: 102).

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sich von zwei weiteren Positionen absetzt“279, skizziere ich im folgenden Abschnitt die Hauptunterschiede (1) zum Liberalismus und (2) zum Konservatismus als denjenigen Weltanschauungen, gegen die der Demokratismus antritt bzw. als deren Vermittlung er verstanden werden kann. Zu (1): Die Prinzipien der höheren Ordnung, von deren Geltung – unabhängig von ihrer Erkenntnis und Realisierung – die demokratische Weltanschauung als rationalistische Position ausgeht, gilt es, im individuellen und gemeinschaftlichen Handeln zu verwirklichen. Rousseaus Gesellschaftsvertrag erstellt in diesem Sinn „einen ahistorischen, formalen Rahmen aus Universalien, den es auszufüllen und zu konkretisieren gilt“280. Während also für den Liberalismus jede Ordnung nur nominalistisch zu verstehen ist, also nach Interessen- und Nutzenserwägungen der Einzelnen konstruiert ist, kommen die Gesetze für den Demokratismus nicht „auf der Grundlage der Übereinkunft der Mehrheit als nützliches Instrument zur Begrenzung der für die Einzelnen negativen Effekte ihrer einander entgegengesetzten Einzelinteressen“281 zustande. Die Prinzipien des gesetzgebenden Allgemeinwillens sind vielmehr unabhängig von Individualität, von Meinungen und Interessen.282 Sie haben unbedingte apriorische Allgemeingültigkeit, weil sie auf allgemeinen Tugenden, damit auf Vernunftgesetzen basieren. „Diese apriorischen allgemeinen Prinzipien müssen von allen erkannt und anerkannt werden. Erkennen kann sie die Vernunft. Diese wird nicht als instrumentell, d. h. als an Zweck-Mittel-Relationen orientiert, sondern rationalistisch gedacht.“283 Vor diesem Hintergrund „gewinnt der Begriff der Tugend […] wieder an Bedeutung und damit auch der klassische Gedanke der auf Tugend gegründeten bürgerlichen Gemeinschaft“284. Zu (2): „Die demokratische Gemeinschaft wird nicht durch Individualitäten (also eine Vielfalt ungleicher Einzelner, die ihre spezifischen Aufgaben erfüllen) begründet, sondern durch gleiche und freie Staatsbürger.“285 Vernunft zielt also nicht darauf, am Einzelnen das Besondere zu erkennen und den individuellen Beitrag der Einzelnen in und für die Gemeinschaft zu erkennen und zu realisieren, sondern sie ist auf das Allgemeine gerichtet. Sie ist also nicht, wie im Konservatismus, als ein monadologisch auf das Individuelle ausgerichtetes Vermögen bestimmt, sondern sie ermöglicht es, die für alle gleichermaßen geltenden, allgemeinen Prinzipien zu erkennen und danach zu handeln. Die demokratische Vernunft ist also als nomothe-

279 280 281 282

Gallus & Jesse 2001: 6. Nonnenmacher 1989: 250. Voigt 2009: 122. „Das an sich Gute und Ordnungsmäßige besteht lediglich durch die Natur der Sache und ist unabhängig von menschlichen Verträgen.“ (Rousseau 1762/ 1975: 41, CS II, 7) 283 Voigt 2009: 123; vgl. Talmon 1961: 37. 284 Lübbe 1989: 89. 285 Voigt 2009: 123.

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tisch zu charakterisieren. Politisch bedeutet das, dass Herrschaft in der demokratischen Weltanschauung nicht, wie im Konservatismus, als immer schon konkret gegebene gedacht wird, in deren Ordnung es sich anerkennend zu stellen gilt. Herrschaft muss vielmehr auf der Basis erkennbarer Prinzipien erst hergestellt werden. Diese Prinzipien aber werden – und darin besteht der Gegensatz zum Liberalismus – als immer schon gegebene Ideen imaginiert, die es zu erkennen und politisch umzusetzen gilt.286 4.3.1 Wildnis in demokratischer Perspektive – Unfreiheit und Emanzipation, egoistische Interessenorientierung und Selbstvergewisserung der Vernunft Zur Zeit der Aufklärung scheint Wildnis erstmals als Landschaft wertgeschätzt zu werden: Erhabene Gegenden werden gezielt aufgesucht – man denke an die englischen Reisenden in den Schweizer Alpen auf ihrer Grand Tour.287 Wir werden aber sehen, dass die Faszination, die die Wildnis auf jene Reisenden ausübte, nicht gleichzusetzen ist mit ihrer Wertschätzung. Im Gegenteil, auch aus der Perspektive der demokratischen Weltanschauung überwiegen bei ihrer Wahrnehmung negative Vorstellungen: Sie wird zwar in der Erhabenheitserfahrung als Medium gewürdigt, das der Bestätigung der Überlegenheit des autonomen Subjekts gegenüber der Natur dient, jedoch ist sie hier eben nur Mittel zum Zweck. Außerdem ist sie nach wie vor mit Vorstellungen von Unfreiheit und Unordnung assoziiert. Vor der Beschreibung der mit Wildnis verbundenen Ideen scheint es notwendig darzustellen, was überhaupt in den Theorien Rousseaus Wildnis ist. Dazu werden die Phasen, die er in seinen geschichtsphilosophischen und staatstheoretischen Theorien unterscheidet, skizziert. Als wild erscheinen dabei einige Aspekte (1) sowohl des Naturzustands als auch (2) bestimmter Ausprägungen von Vergesellschaftung (siehe Tabelle 4, S. 210). Zu (1): Wildnis ist Sinnbild des Naturzustandes. Rousseau unterscheidet zwei Phasen oder „Grade der Natürlichkeit“288: (a) den reinen Naturzustand und (b) den Naturzustand, in dem erste, lockere Vergesellschaftungsformen entstehen.

286 Vgl. Nonnenmacher 1989: 227 sowie Eisel 1999: 31. 287 Zum Wandel der Wahrnehmung des Gebirges, besonders der Alpen Dirlinger 2000; Groh & Groh 1991: 92-149; Nicolson 1959; Schama 1996481-550; Speich 2004; Wozniakowski 1987; zur Geschichte historischer Wildnisvorstellungen Kangler & Vicenzotti 2007; Kirchhoff & Trepl 2009: 43-52; Schwarzer 2007. 288 Fetscher 1975/1999: 35.

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Zu (a): Der sauvage des reinen Naturzustands ist „Natur beziehungsweise geht reflexionslos in Natur auf“289. Er definiert sich nicht wie der Mensch im Naturzustand bei Hobbes und Locke durch Vernunft, Autonomie, Selbstbewusstsein und Eigentum. Er ist ungesellig, hat keinen Bedarf an und keinen Wunsch nach sozialen Kontakten, da er materiell völlig autark ist. Er führt das isolierte Leben eines „Solitärs“290. Da die sauvages ihre einfachen Bedürfnisse befriedigen können – sie finden jagend und sammelnd alles, was sie zur unmittelbaren Selbsterhaltung brauchen –, ohne auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein, sind sie frei. Diese Freiheit nennt Rousseau vorzugsweise „indépendance“ im Gegensatz zur kategorial anders gearteten Freiheit im Gesellschaftszustand. Auch seelisch ruht der autarke Naturmensch vollkommen in sich.291 Er ist ohne Sprache und demzufolge auch ohne Vernunft und Bewusstsein seiner selbst. Der sauvage steht also dem Tier näher als dem in Gesellschaft lebenden Menschen. Menschlich sei an ihm jedoch, dass er im Unterschied zu den Tieren lernfähig ist: Er besitzt Vervollkommnungsfähigkeit (perfectibilité), die allerdings im reinen Naturzustand ohne Relevanz bleibt – er verfügt über sie nur als potentielle Eigenschaft.292 Außerdem kommen ihm die beiden Grundantriebe Selbstliebe (amour de soi) und Mitleid (commisération) zu. Diese Antriebe sind beim sauvage allerdings „vormoralisch und sittlich indifferent“293. Der sauvage ist also vernunftlos und nicht menschlich – wenn auch in einem ganz anderen Sinne als der Mensch im Hobbesschen Krieg aller gegen alle. Der Rousseausche Naturzustand ist daher präziser als vormenschlich zu charakterisieren, denn der sauvage weist noch keine der Fähigkeiten auf, die den Menschen als Menschen definieren: Selbstbewusstsein, Sprache und Vernunft. Zu (b): Die Menschen verlassen den Naturzustand der sauvages, weil starkes Bevölkerungswachstum und die Notwendigkeit der gemeinsamen Bewältigung von Naturkatastrophen sie kooperieren lassen.294 Die als barbares bezeichneten Naturmenschen schließen sich, als Hirten lebend, zu ersten, lockeren Gruppen und Familienverbänden zusammen. Dabei entwickeln sie Vernunft und Sprache und erlangen Selbstbewusstsein – Voraussetzungen, um Glück zu empfinden und Schönheit wahrzunehmen. Rousseau charakterisiert diese Phase als „goldenes Zeitalter“, als paradiesische Wildnis. „Der Vorzug dieser Epoche gegenüber den ersten Zeiten besteht darin, daß die Menschen bereits angefangen haben, sich ihres Glückes bewußt zu sein, daß sie für Schönheiten eindrucksfähig geworden sind (in dieser Annahme zeigt sich die ganze Zeitbedingtheit und Romantisierungstendenz Rousseaus, der hier dem Hirten die

289 290 291 292 293 294

Nonnenmacher 1989: 209. Buck 1976: 272. Fetscher 1975/1999: 33. Ebd.: 33; Nonnenmacher 1989: 204. Fetscher 1975/1999: 33. Ebd.: 35-43.

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Sensibilität des Literaten der Hirtenidylle unterstellt), auf der anderen Seite aber noch nicht weit genug vom Ausgangspunkt sich entfernt haben, um die Leiden der Zivilisation: Ungleichheit und Unfreiheit, Unsicherheit und Selbstwiderspruch zu kennen.“295

Zu (2): Auch im Zustand der Vergesellschaftung gibt es Phänomene, die als wild, oder, um präziser zu sein: als Verwilderungserscheinungen zu charakterisieren sind. Es liegt an Rousseaus geschichtspessimistischer Auffassung, dass er die Entwicklung der Menschheit als Niedergang auffasst.296 Mir scheint, dass sich in Rousseaus Theorien drei Phasen dieses Verfallsprozesses unterscheiden lassen, in dessen Verlauf die natürlichen Tugenden depravieren, das Menschengeschlecht also verwildert: (a) eine Phase, die mit dem Ackerbau einsetzt, (b) diejenige, die durch den falschen Gesellschaftsvertrag konstituiert wird und (c) diejenige, die als vorläufiger Tiefpunkt der Entwicklung in der zeitgenössischen, „kommerziellen“ Gesellschaft gipfelt. Dieser Begriff bezeichnet die absolutistisch verfasste Gesellschaft frühindustrieller und frühkapitalistischer Prägung um die Mitte des 18. Jahrhunderts in Europa. Zu (a): „Der von Rousseau beklagte Verfall setzt – äußerlich gesehen – mit der Arbeitsteilung ein“297. Historisch siedelt er sie, das goldene Zeitalter ein für allemal beendend, mit dem Ackerbau an, da dieser eine Trennung in Ackerbauern und Metallbearbeiter bedingt habe.298 Fetscher stellt dar, dass mit dieser Arbeitsteilung Ungleichheit und Ungerechtigkeit entsteht, so dass sich schließlich riches und pauvres, oder, genauer gesagt: Grundbesitzer und Besitzlose, gegenüberstehen. „Während die einen (die Besitzer) auf das Naturrecht des ‚ersten Besitzergreifers‘ (durch ihre Bearbeitung) sich berufen konnten, versuchten die Besitzlosen das ‚Recht des Stärkeren‘ ins Feld zu führen. Das Ergebnis war der ‚Kampf aller gegen alle‘, wie ihn Thomas Hobbes beschrieben hat.“299 Weil die Vergesellschaftung auch das Wesen des Menschen geändert hat – seine in sich ruhende Selbstliebe ist zur egoistischen Selbstsucht (amour-propre) depraviert – wird das Miteinander der Einzelnen nun, unter den Bedingungen der Ungleichheit, durch Neid, Habsucht und Konkurrenz bestimmt. Zu (b): In diesem Zustand gesellschaftlichen Verfalls und individueller „Entfremdung“300 überreden die Reichen und Mächtigen die Armen, einen scheinbar gerechten Vertrag abzuschließen. Rousseau bezeichnet ihn als den „ausgeklügeltsten Plan, den der menschliche Geist je entworfen hat“301.

295 296 297 298 299 300 301

Ebd.: 40. Ebd.: 26; Nonnenmacher 1989: 254-256. Fetscher 1975/1999: 43. Ebd.: 43-45. Ebd.: 46. Althusser 1966: 140. Rousseau, zit. n. Fetscher 1975/1999: 49.

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„Formal gesehen führt Rousseau die Vertragsidee an derselben Stelle ein wie seine Vorläufer; inhaltlich jedoch erweist sich seine Darstellung als eine grundsätzliche Kritik des Vertragsgedankens. Hobbes wie Locke gehen davon aus, daß der Vertrag als freiwillige Übereinkunft zwischen gleichberechtigten und vernünftigen Partnern vorzustellen sei. Rousseau dagegen hebt hervor, daß der Gesellschaftsvertrag zwischen ungleichen Konkurrenten geschlossen wird, die von unterschiedlichen Interessen motiviert sind.“302

Dieser Vertrag legitimiert und verewigt die herrschende Ungerechtigkeit. Mit seiner Hilfe ist es den Reichen gelungen, ihre Position und ihren Besitz zu sichern und damit der Unterdrückung und Abhängigkeit der Armen und Schwachen den Schein der Rechtmäßigkeit zu geben.303 Zu (c): Als vorläufigen Tiefpunkt dieser Entwicklung sieht Rousseau seine zeitgenössische, auf Geld und Handel beruhende Gesellschaft an, deren Basis der illegitime Gesellschaftsvertrag ist. Sie „erweist sich als Unordnung, als ein Chaos, in dem kein auskömmliches Miteinander mehr möglich ist“304. In der Geschichtsphilosophie und Gesellschaftstheorie Rousseaus ist der reine Naturzustand als Wildnis und der gesellschaftliche Naturzustand als Verwilderung zu beschreiben. Die Vorstellungen, die sich mit der Idee der wilden Natur verbinden, sind also ambivalent: Die ursprüngliche Wildnis, besonders die Phase der Hirtengesellschaft, gilt als paradiesisch, die gesellschaftliche Verwilderung hingegen als Verfallsprozess.305 Die Ambivalenz der Wildnisidee spiegelt sich auch in zwei verschiedenen Varianten des „Wilden“ wieder, die sich seit der Aufklärung herausbilden: Es gibt einerseits den Topos des edlen Wilden, den man vor allem auf Tahiti lokalisiert; er ist gut, feinsinnig und friedliebend. Auf der anderen Seite gibt es den Topos des rohen, dumpfen und gefährlichen Wilden, der – später – beispielsweise in Feuerland oder Lappland verortet wurde.306

302 Nonnenmacher 1989: 224. 303 Fetscher 1975/1999: 49 ff.; Kersting 1994: 141-144; Nonnenmacher 1989: 224. 304 Nonnenmacher 1989: 224. – Zu Rousseaus Kritik der zeitgenössischen Gesellschaft Fetscher 1975/1999: 20-61. 305 Katharina Lübbe (1989: 116) sieht diese Ambivalenz des Wildnisbegriffes in dem Paradoxon begründet, dass Natur einerseits gleichgesetzt wird mit „der Bedürfnisstruktur des Menschen, daß andererseits aber auch die Beschränkung der natürlichen Triebhaftigkeit, das Heraustreten aus dem Naturzustand, für den Menschen ‚natürlich‘ sein soll“. Fetscher (1975/1999: 37) legt eine „Analogie zur Position der Theologie“, zur christlichen Lehre vom notwendigen und doch freien Sündenfall nahe. 306 Tahiti wurde den Zeitgenossen durch Louis-Antoine de Bougainvilles Beschreibung seiner Weltreise (1766-1769) Voyage autour du monde (1771) bekannt gemacht. Im Anschluss an Bougainville beschreibt Diderot im Supplé-

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Wildnis als Sphäre der Unfreiheit und Abhängigkeit, aber auch der Emanzipation (Vorstellung 19) Die Ambivalenz drückt sich auch in den Vorstellungen aus, die mit Wildnis als Ort der Freiheit oder Unfreiheit verbunden werden: Sie ist (1) der Ort, an dem der Mensch äußeren Naturzwängen unterworfen ist, und sie ist (2) die Sphäre, in der er gesellschaftlich bedingte Unfreiheit erfährt. Andererseits versinnbildlicht Wildnis nicht nur Unfreiheit und Abhängigkeit, sondern (3) auch Emanzipation von natürlichen und gesellschaftlichen Zwängen. Zu (1): In der Aufklärung setzt sich, wie wir oben bereits gesehen haben, das Naturbild der Naturwissenschaften durch (siehe oben S. 105): Natur ist Gegenstand der exakten Naturwissenschaften, die mit gezielter, geplanter Beobachtung, mit Experiment und Mathematik versuchen, Natur zu kontrollieren, d. h. voraussagbar und manipulierbar zu machen. Der Mensch tritt damit aus der Einheit mit der Natur heraus, die ihm nun als Objekt gegenübersteht. „So legitimiert gleichsam die jetzt nicht mehr den Menschen umschließende, sondern von ihm radikal, als Objekt, getrennte Natur negativ die Idee der Freiheit“307. Er versteht seine Freiheit daher wesentlich als Freiheit von der Natur. Kant rühmt den „Ausgang des Menschen aus dem […] Paradiese“ als einen „Übergang […] aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit“308. Derjenige Teil der äußeren Natur, der noch nicht beherrscht und kontrolliert ist und den Menschen in seiner Freiheit von der Natur bedroht, ist Wildnis. Wilde Natur versinnbildlicht also die Unfreiheit des Menschen von der äußeren Natur. Zwar ist die wilde Natur prinzipiell keine andere Natur als die schon beherrschte, d. h. auch sie funktioniert nach den Naturgesetzen und ist immer nur noch nicht unterworfene Natur. Sie stellt aber trotzdem – oder gerade – als noch nicht kontrollierte, eine Gefahr dar. Zu (2): Wildnis kann auch Sinnbild gesellschaftlicher Abhängigkeit sein, wenn der gesellschaftliche Verfall der kommerziellen Gesellschaft als Vermant au voyage de Bougainville ou dialogue entre A et B Tahiti als Ort eines harmonischen, natürlichen Zusammenlebens. Es handelt sich bei diesem Text um eine berühmte literarische Utopie des 18. Jahrhunderts, die von den Sitten und dem Leben der Bewohner dieser Insel berichtet. „Den Höhepunkt der Erzählung bildet die Anklage eines alten Tahitianers anläßlich des Abschieds von Bougainville und seiner mitreisenden Gefährten, in der er […] die ‚natürliche‘ Lebensform der Tahitianer gegenüber dem schlechten Einfluß der Fremden verherrlicht“ (Lübbe 1989: 40). Über die Lappländer hingegen dichtet Heinrich Heine 1837: „In Lappland sind schmutzige Leute, | Plattköpfig, breitmäulig und klein; | Sie kauern ums Feuer, und backen | Sich Fische, und quäken und schrein.“ (Die Heimkehr, VII) Zu den „Wilden“ in und nach der Aufklärung Koebner 1993a; 1993b; Kohl 1986; 1996; zum Bild der Wilden speziell in der Archäologie Ickerodt 2004. 307 Siegmund 2002: 64. 308 Kant 1786: 115.

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wilderung beschrieben wird. Folgende begriffliche Unterscheidung ist dabei bedeutsam: Im Naturzustand erfahren die sauvages zwar Unabhängigkeit, aber keine Freiheit; und in der kommerziellen Gesellschaft ist zwar Freiheit von der äußeren Natur gegeben, aber der Mensch ist in Abhängigkeitsverhältnissen zu seinen Mitmenschen verfangen.309 Es sind also (a) die sauvages zwar unabhängig von ihren Mitmenschen – schließlich sind sie als solitär lebende vollkommen autark, aber unfrei, weil, wie Nonnenmacher zeigt, „Begriffe wie Freiheit und Gleichheit an den Existenzbedingungen des ‚ursprünglichen‘ Naturwesens Mensch schlicht vorbeigehen“310. Gleichheit und Freiheit würden als moralische und politische Norm erst dann sinnvoll, wenn Ungleichheit und Unfreiheit als Fakten oder zumindest als Denkmöglichkeiten bestehen. Ungleichheit und Unfreiheit seien aber Produkte der Gesellschaft. Statt von „Freiheit“ sollte also in Bezug auf den reinen Naturzustand besser von „Unabhängigkeit“ gesprochen werden. Rousseau selbst spricht in der Tat von indépendance naturelle. Der homme civilisé des gesellschaftlichen Naturzustands und besonders der kommerziellen Gesellschaft ist (b) zwar zunehmend unabhängig von der Natur (der äußeren und seiner inneren Natur), er ist aber unfrei, weil der gesellschaftliche Fortschritt die Menschen in Abhängigkeitsverhältnisse treibt. Das Selbstbewusstsein, das sich beim homme civilisé in der Gemeinschaft mit anderen entwickelt, bedingt eine Reflexion der eigenen Situation, die daraufhin als gefährdet wahrgenommen wird. Es kommt eine prinzipielle und ständige Sorge um das Überleben auf. Die Vorstellung entsteht, „die zukünftigen Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung müßten gewährleistet werden – ganz nach der hobbesschen Einsicht, der Mensch sei dasjenige Lebewesen, das schon der zukünftige Hunger hungrig mache“311. Ein Be-

309 Rousseau gilt überhaupt nur die Abhängigkeit von anderen Menschen als wahre Unfreiheit. „Die Abhängigkeit von der Natur, die auf dem Wilden viel schwerer lastet als auf dem modernen Menschen, der sich mit Hilfe von Naturwissenschaft und Technik zu ihrem Herren zu machen weiß, erscheint Rousseau nicht als Unfreiheit. Denn ‚es gibt zwei Arten von Abhängigkeit: diejenige von Dingen, die natürlich ist; diejenige von Menschen, die der Gesellschaft angehört. Die Abhängigkeit von den Dingen schadet der Freiheit nicht und bringt keine Laster hervor, weil sie keine sittliche Bedeutung hat: die Abhängigkeit von Menschen erzeugt sämtliche (Laster), weil sie ungeordnet ist, und durch sie depravieren sich Herr und Knecht wechselseitig.‘“ (Fetscher 1975/ 1999: 33 f. mit Zitat von Rousseau; vgl. auch Jonas 1968: 52) – In der Darstellung der Bedeutungen, die Wildnis aus demokratischer Perspektive haben kann, fasse ich aber auch die Abhängigkeit von Naturdingen als Unfreiheit auf, weil der Kampf gegen die wilde Natur für diese Perspektive durchaus relevant ist. 310 Nonnenmacher 1989: 207. 311 Ebd.: 220. – Dabei lässt nicht die Notwendigkeit, sondern der Vergleich mit dem, was die anderen besitzen, die Bedürfnisse ins Unendliche expandieren.

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dürfnis ziehe das nächste nach sich. Um die wachsenden Ansprüche zu befriedigen, müssen die Individuen in einer Gesellschaft, deren Zusammenhänge ständig komplexer werden, immer enger kooperieren. Aus der freiwilligen solidarischen Hilfe, die noch das Zusammenleben der barbares in der Hirtengesellschaft bestimmt, wird die wechselseitige physische und seelische, d. h. durch eine Sehnsucht nach Anerkennung geprägte Abhängigkeit eines jeden von einem jedem. Die Menschen sind unfrei, weil sie „voneinander abhängig und zum Zusammenleben gezwungen [sind], weil kein Einzelner mehr den stets wachsenden materiellen Bedarf eines Menschen decken kann und jeder zur Bestätigung seiner selbst auf alle anderen angewiesen ist“312. Es herrscht also eine „wildwuchernde Abhängigkeit, eine Art allgemeiner Sklaverei, der sich jeder zu entziehen versucht, ohne ihr je entkommen zu können“313. Die kommerzielle Gesellschaft wird als Sphäre sich selbst verstärkender Abhängigkeitsverhältnisse gedeutet, was sie als eine Form von Verwilderung erscheinen lässt. Zu (3): Wilde Natur kann im Demokratismus auch – im Gegensatz zu den beiden bisher ausgeführten Vorstellungen – mit emanzipatorischen Bedeutungen aufgeladen und zum Referenzpunkt für den Kampf und die Befreiung aus natürlichen und gesellschaftlichen Abhängigkeitsverhältnissen werden.314 (Es wird sich unten, siehe S. 190 ff., zeigen, dass ‚Wildnis‘ damit in die Nähe von ‚Kulturlandschaft‘ rückt, weil beide als ‚Natur‘ gegen die

„Aus diesem ständigen Vergleich ergibt sich die soziale komparative Knappheit, die einerseits vom Neid auf fremden Besitz, andererseits von der Diskrepanz zwischen den (im Vergleich entstehenden) Wünschen und den Dingen, die die Natur unmittelbar zur Verfügung stellt, generiert und reproduziert wird.“ (Ebd.: 221) Vgl. Kant, der über „die abscheuliche Familie des Neides“ schreibt: „Der Neid (livor), als Hang, das Wohl anderer mit Schmerz wahrzunehmen, ob zwar dem seinigen dadurch kein Abbruch geschieht, der, wenn er zur Tat (jenes Wohl zu schmälern) ausschlägt, qualifizierter Neid, sonst aber nur Missgunst (invidentia) heißt, ist doch nur eine indirekte bösartige Gesinnung, nämlich ein Unwille, unser eigen Wohl durch das Wohl anderer in den Schatten gestellt zu sehen“ (Kant 1797/2005: 596; § 36 der Tugendlehre). 312 Fetscher 1975/1999: 48. 313 Nonnenmacher 1989: 228. 314 Lübbe (1989: 41 f.) sieht in dieser emanzipatorischen Bedeutung einen Unterschied zur Bedeutung von Natur aus liberaler Perspektive, wie sie etwa für Hobbes charakteristisch ist. Was die demokratische Perspektive des 18. Jahrhunderts von der liberalen unterscheide, „ist die Art und Weise, in der – ausgehend vom Begriff Natur – die Legitimität der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung in Frage gestellt wird. Das 18. Jahrhundert macht zum ersten Male die revolutionären Implikationen der Antithese von Natur und Gesellschaft deutlich, es macht ‚Natur‘ zu einem Emanzipationsbegriff. Als Inbegriff des Richtigen und Vernünftigen tritt sie in Gegensatz zur Unvernunft des Bestehenden, das ‚verändert‘, das heißt zur Natur zurückgeführt werden muß.“

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Unvernunft und Künstlichkeit des Hofes gestellt werden.) Freiheit ist in der Aufklärung nicht nur Freiheit von der Natur, sondern auch Freiheit aus der Natur: Natur als das eigentliche und wahre Wesen des Menschen, d. h. als Freiheit und Vernunft. Die Legitimation des Subjekts aus der Natur lässt sich aus der Idee des Fortschritts ableiten:315 Die Möglichkeit dazu setzt eine politische Freiheit voraus, und „die besondere Bedeutung der Aufklärung [liegt] darin, daß die Idee der Freiheit politisch wird“316. Diese kann nicht mehr aus Gottes Gnade abgeleitet werden, denn diese Art von Freiheit ist mit geistiger und politischer Unfreiheit gegenüber kirchlichen und weltlichen Herrschern verbunden. Freiheit muss also aus der Vernunft abgeleitet werden, so dass „letztlich auch die Vernunft anders, nämlich aus der Natur heraus, definiert werden [muss]. Die auf Freiheit und Vernunft beruhende Autonomie des aufgeklärten Subjekts ist somit aus der Natur abgeleitet“317. Wildnis als Sphäre der Unordnung: wild wuchernde Interessenorientierung (Vorstellung 20) Der Demokratismus bemisst die geordnete Entwicklung der Gesellschaft am Grad der vernünftigen, d. h. tugendgemäßen Orientierung am Gemeinwohl. Gesellschaften, die sich nicht daran orientieren, gelten als ungeordnet. Wildnis kann als Symbol dieser gesellschaftlichen Unordnung interpretiert werden. Sie versinnbildlicht individuelle Interessenorientierung und egoistische Triebbefolgung. Als ungeordnet und mithin wild erscheint unter dieser Perspektive der Orientierung der gesellschaftliche Naturzustand, vor allem die wildwüchsige kommerzielle Gesellschaft.318 Rousseau übt auf zwei Ebenen Kritik an der zeitgenössischen Gesellschaft: auf der politischen Ebene wendet er sich gegen den Absolutismus, auf der anderen Ebene gegen die sich entwickelnde liberale kapitalistische Wirtschaftsordnung. Obwohl sich beide Systeme auf den ersten Blick durch ein Höchstmaß an Ordnung und Reglement auszeichnen, seien sie in Wahrheit choatisch. Denn in ihnen ist nicht der Gedanke des Gemeinwohls leitend, sondern die Herrscher bzw. Marktbeherrscher (die riches) folgen allein ihren Interessen. So verbirgt sich „unter dem Mantel einer scheinbaren äu-

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Pütz 1995/2002: 39-49; Siegmund 2002: 64-66. Pütz 1995/2002: 39. Ebd.: 40, vgl. Siegmund 2002: 64. Der reine Naturzustand kann nicht als „gesellschaftliche Wildnis“, als durch chaotische gesellschaftliche Verhältnisse bestimmt gekennzeichnet werden, weil es definitionsgemäß im reinen Naturzustand noch keine Formen dauerhafter und reglementierter Vergesellschaftung gibt. Es kann daher keine Orientierung am Gemeinwohl erfolgen. „Naturzustand bedeutet für Rousseau keine ideale Form menschlicher Vergesellschaftung, sondern gerade das Gegenteil von Vergesellschaftung, das Absehen von Werten, Institutionen, überhaupt zwischenmenschlichen Beziehungen.“ (Jonas 1968: 51)

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ßeren Ordnung ein Zustand innerer Desintegration“319, wahrer Unordnung: Wildnis. Der Absolutismus erscheint nicht einfach als ungerechte Ordnung, sondern als ein Zustand ohne jede Ordnung, als Anarchie, Gewalt und Unterdrückung. Die fehlende Orientierung macht sich „im Absolutismus in der Form subjektiver Leidenschaft geltend; es ist das nackte, unverhüllte Interesse [der Herrschenden], der Egoismus der Selbstbehauptung, der zugleich die Gewalt des Starken gegenüber den Schwachen bedeutet“320. Der scheinbar so geordnete absolutistische Staat ist also in Wirklichkeit Unordnung. Diese stellt eine Form von Wildnis dar, weil die Herrscher in ihrem Streben nach Macht vollkommen ungehemmt ihrer tugendlosen Selbstsucht nachund sich dabei ihrer blanken Gier nach Anerkennung und Ansehen ergeben. Das frühindustrielle und frühkapitalistische Wirtschaftssystem kritisiert Rousseau wegen der Vormachtstellung des Konkurrenzprinzips sowie dessen Legitimierung durch die Auffassung, das egoistische Gewinnstreben führe zu größtmöglichem Glück und Wohlstand aller:321 „Seinen Zeitgenossen wirft Rousseau weniger vor, daß sie sich feindselig und unsittlich verhalten, als daß sie dieses Verhalten unter Hinweis auf das durch ihren Egoismus geförderte Gemeinwohl auch noch zu rechtfertigen suchen. Er glaubt nicht an die ‚invisible hand‘, die, ohne durchs Bewußtsein der Bürger vermittelt zu sein, das Wohl der Gesellschaft besorgt. So sehr Rousseau an die Harmonie der Natur glaubt, so wenig hält er von der Harmonie der wildwuchernden natürlichen Interessen der Menschen in der zeitgenössischen europäischen Gesellschaft. Diese Gesellschaft hat ihr Prinzip in dem allgemeinen Konkurrenzkampf nicht nur der Einzelnen, sondern auch der sozialen Gruppen […]. Der Konkurrenzkampf aber zerstört sowohl das natürliche Wohlwollen des Menschen wie die auf ihm beruhende menschliche Gemeinschaft.“322

Es gibt in dieser Wirtschaftsordnung also nicht einmal die Idee eines Gemeinwohls, sondern es herrscht die Vorstellung, dass dem Wohl aller am besten gedient sei, wenn jeder egoistisch sein Ziel verfolge. Die volonté generale entspricht aber nicht der volonté de tous, die lediglich die Summe der einzelnen Willensmeinungen ist und daher gebündelte Privatinteressen vertritt.323 Es ist daher einsichtig, dass eine solche Wirtschaftsordnung aus der

319 Ebd.: 52. 320 Lübbe 1989: 92. 321 So wehrt er sich entschieden gegen die Auffassung: „private vices made public benefits“, wie es im Titel eines Lehrgedichts von Bernard de Mandeville 1714 hieß (Fetscher 1975/1999: 23 f.). 322 Ebd.: 26. 323 „Oft ist ein großer Unterschied zwischen dem Willen aller und dem allgemeinen Willen; letzterer geht nur auf das allgemein Beste aus, ersterer auf das Pri-

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Perspektive des Demokratismus niemals zu einer wahren und gerechten Ordnung führen kann, sondern prinzipiell und unweigerlich im Chaos einer wildwuchernden Interessenorientierung enden muss. Wildnis als Ort der Selbstvergewisserung der Vernunft (Vorstellung 21) Im späten 18. Jahrhundert entsteht eine breite alltagskulturelle Bewegung, in deren Gefolge nicht mehr nur die schönen Gefildelandschaften ästhetisch wertgeschätzt und darum aufgesucht werden, sondern gerade die bis dahin gemiedenen, wilden Regionen.324 Die lustvolle Furcht, der erregende Schauer angesichts wilder Naturszenen wird zur wirkmächtigen ästhetischen Erfahrung des gefühlvollen bürgerlichen Subjekts. Wildnis wird Gegenstand erhabener Naturerfahrung.325 Bei der als erhaben bezeichneten Natur handelt es sich niemals, wie bei der schönen, um harmonische, liebliche, begrenzte und regelhafte, sondern diese Kategorie der ästhetischen Erfahrung erfasst das Gewaltige, Unermessliche, Grenz- und Formlose der Natur. „Bei den zuständigen Theoretikern wird das auf die Formel gebracht, daß die Erhabenheit über die sinnliche Harmonie des Schönen hinausgehe. Das Schöne besteht im Ausschluß des Häßlichen, also all dessen, was chaotisch und schreckenerregend hinter den festen Grenzen der Ordnung liegt. Das Erhabene dagegen schließt bis zu einem gewissen Grad diese Komponente der Auflösung mit ein.“326

Anhand der Idee der Erhabenheit, wie sie in den Ästhetiktheorien bei Kant und Schiller ausformuliert wurde, lässt sich darstellen, dass Wildnis aus der Perspektive der demokratischen Weltanschauung auch als Sinnbild des Sieges des Intellekts über die sinnlich überwältigende Herausforderung der Natur wahrgenommen werden kann.327 Wildnis fungiert also als Mittel zur Bestätigung der Überlegenheit des autonomen, aufgeklärten Subjekts über jede Natur. In dieser Bedeutung wird jedoch nicht Wildnis um ihrer selbst Willen wertgeschätzt. Die Begeisterung jener Zeit für die wilde Natur steht vielmehr im Dienst der Selbstvergewisserung der menschlichen Vernunft. Um Gefallen an der schrecklichen Natur finden zu können, darf sie nicht jedes Verhältnis zum Sehvermögen des Menschen übersteigen. Sonst käme sie einer „reinen, noch mythischen Schicksalsgewalt gleich, die allein Entsetzen oder religiöse Furcht vor den sich darin manifestierenden Kräften“328,

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vatinteresse und ist nur eine Summe einzelner Willensmeinungen.“ (Rousseau 1762/ 1975: 32, CS II, 3) Dirlinger 2000; Groh & Groh 1991: 92-149; Wozniakowski 1987. Für Kirchhoff & Trepl (2009: 23) ist das „Empfinden von Erhabenheit […] konstitutiv für ästhetische Auffassungen von Wildnis“. Koschorke 1990: 126. Vgl. Kirchhoff & Trepl 2009: 47; Siegmund 2009b: 65; 2010: 102 f. Koschorke 1990: 128.

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nicht aber jenen lustvollen Schauer auslösen könnte, der charakteristisch für die Erhabenheitserfahrung ist. Eine der frühesten Formen kognitiver Bewältigung wilder Natur liegt in einem „Verfahren der Segmentierung, das den Erkenntnisfaktor Zeit zu Hilfe nimmt“329. Nach dem Durchgang durch „dieses perzeptorische Training […] ist auf einer neuen Stufe der Machtbalance zwischen Mensch und Natur jenes visuelle Aushalten der Überwältigung möglich, das die Erhabenheitserfahrung in ihrem emphatischen Sinn charakterisiert“330. Diese Erfahrung ist daher als „ästhetisches Komplement“331 zu den Kontrollbemühungen und Anstrengungen, Wildnis zurückzudrängen und die Grenze der beherrschten Natur vor sich herzuschieben, zu verstehen. Albrecht Koschorke sieht in der Konjunktur des Erhabenen im 18. Jahrhundert einen Beleg für die These, dass die ästhetische Aneignung der Natur parallel zur ökonomischen Aneignung verläuft oder sie sogar mit einer geringen Verschiebung vorwegnimmt, „gemäß dem allgemeinen Stand der gesellschaftlichen Produktivität, von dem beide abhängig sind“332. So, wie die industrielle Ökonomie in wachsendem Maße die vormals unbeherrschbaren Naturkräfte in die Systematik ihrer Arbeitsprozesse zwinge, so verwandle die Erhabenheitserfahrung das vordem Unfassliche in ästhetisches Bildmaterial.333 In der idealistischen Ästhetik Kants und Schillers wird das Erhabene nicht auf der Objektseite, sondern im Subjekt verortet.334 Nicht das Objekt ist erhaben, sondern bestimmte Ideen der Vernunft. Durch „eine gewisse Subreption (Verwechslung einer Achtung für das Objekt statt der für die Idee der Menschheit in unserm Subjekte)“335 projiziert das Subjekt die Erhabenheit auf die äußere Natur, die in Wahrheit seine eigene ist. Von den Theoretikern des 18. Jahrhunderts wurden zumeist zwei Formen des Erhabenen gesehen, die in Kants Differenzierung des Mathematisch- und Dynamisch-Erhabenen ihre prägnanteste Unterscheidung finden. Während sich das Mathematisch-Erhabene auf die unermessliche Größe,

329 Ebd. 330 Ebd. – Der Erhabenheitserfahrung eignet zwar, „wie alle[n] am Modell einer vorwandernden Grenze orientierten Erfahrungen“ (ebd.: 129) die Tendenz, die Schwellenzone der Machtbalance zu überschreiten und so die eigentliche Erhabenheitserfahrung zu vergleichgültigen und zu vermindern. Aber für die hier als typisch für die demokratische Perspektive charakterisierte Erhabenheitserfahrung ist die erwähnte Machtbalance konstitutiv. 331 Ebd. 332 Ebd. 333 Sie überführe, darin einem Grundgesetz des Prozesses der Zivilisation folgend, die sich in den schreckenerregenden Anblicken manifestierende instante Gewalt in strukturelle Gewalt ihrer Zeichen (ebd.: 130). 334 Eine systematische Übersicht subjektivistischer und objektivistischer Landschaftsbegriffe liefern Kirchhoff & Trepl 2009: 25-42. 335 Kant 1790/1996: 180, A 96, B 97.

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d. h. die Ausdehnung in der Horizontalen oder Vertikalen, z. B. des Weltalls, der Meere oder eines Gebirges, bezieht, wird beim Dynamisch-Erhabenen die gewaltige Kraft der Natur beispielsweise in einem Gewitter, einem reißenden Fluss oder einer Lawine thematisiert. Als bedrohliche Wildnis erscheint vor allem die dynamisch-erhabene Landschaftsnatur, weshalb sich die folgenden Überlegungen allein darauf beziehen werden. Um eine Naturszene als dynamisch-erhaben zu beurteilen, muss sie als furchterregend nur vorgestellt werden, denn wer „sich fürchtet, kann über das Erhabene der Natur gar nicht urteilen“336. „Man kann aber einen Gegenstand als furchtbar betrachten, ohne sich vor ihm zu fürchten, wenn wir ihn nämlich so beurteilen, daß wir uns bloß den Fall denken, da wir ihm etwa Widerstand tun wollten, und daß alsdann aller Widerstand bei weitem vergeblich sein würde.“337

Die Bedeutung des Dynamisch-Erhabenen liegt nun darin, dass wir Menschen uns bewusst werden, nicht nur Naturwesen, sondern Vernunftwesen zu sein. Der Mensch entdeckt angesichts der übermächtigen Natur „ein Vermögen zu widerstehen von ganz anderer Art“338. Als vernunftbegabte Wesen sind wir Menschen in der Lage, zu unserem instinkthaften Selbsterhaltungstrieb Distanz zu gewinnen und unsere Vernichtung als Naturwesen zwar als furchtbar uns vorzustellen, sie aber nicht als absolute Vernichtung zu denken. Als Naturwesen sind wir zwar physisch unterlegen, als Vernunftwesen aber aller Natur überlegen: „[S]o gibt auch die Unwiderstehlichkeit ihrer [der Natur] Macht uns, als Naturwesen betrachtet, zwar unsere physische Ohnmacht zu erkennen, aber entdeckt zugleich ein Vermögen, uns als von ihr unabhängig zu beurteilen, und eine Überlegenheit über die Natur, worauf sich eine Selbsterhaltung von ganz anderer Art gründet, als diejenige ist, die von der Natur außer uns angefochten und in Gefahr gebracht werden kann, wobei die Menschheit in unserer Person unerniedrigt bleibt, obgleich der Mensch jener Gewalt unterliegen müßte“.339

Die Vernunft, und gemeint ist hier die praktische Vernunft, gibt uns Menschen eine Perspektive, in der „das Gemüt die eigene Erhabenheit seiner Be-

336 Ebd. 185, A 101 f., B 102 f. 337 Ebd.: 184, A 101 f., B 103. – Ob der sichere Standpunkt heutzutage immer noch notwendig ist, um sich erhaben zu fühlen, oder ob sich die Erhabenheitserfahrung nur noch angesichts realer Gefahren einstellt, wird in der Literatur z. B. bei Praxenthaler in der Auseinandersetzung mit dem Extrembergsteiger Reinhold Messner diskutiert (Praxenthaler 1996: 99-108); siehe auch Hoheisel et al. 2005. 338 Kant 1790/1996: 185, A 103, B 104. 339 Ebd.: 185 f., A 103 f., B 103 f.

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stimmung, selbst über die Natur, sich fühlbar machen kann“.340 Schiller begreift das Erhabenheitsphänomen ähnlich wie Kant, fundiert seine Ästhetik allerdings geschichtsphilosophisch im Gegensatz zu Kants transzendentaler Analyse: „Solange der Mensch bloß Sklave der physischen Notwendigkeit war, aus dem engen Kreis der Bedürfnisse noch keinen Ausgang gefunden hatte und die hohe dämonische Freiheit in seiner Brust noch nicht ahndete, so konnte ihn die unfaßbare Natur nur an die Schranken seiner Vorstellungskraft, und die verderbende Natur nur an seine physische Ohnmacht erinnern. […] Kaum aber macht ihm die freie Betrachtung gegen den blinden Andrang der Naturkräfte Raum, und kaum entdeckt er in dieser Flut von Erscheinungen etwas Bleibendes in seinem eigenen Wesen, so fangen die wilden Naturmassen um ihn herum an, eine ganz andere Sprache zu seinem Herzen zu reden […]. Der Anblick unbegrenzter Fernen und unabsehbarer Höhen, der weite Ozean zu seinen Füßen und der größere Ozean über ihm entreißen seinen Geist den engen Sphären des Wirklichen und der drückenden Gefangenschaft des physischen Lebens.“341

Er „begreift die erhabene Erfahrung im Kontext gesellschaftlicher Naturbeherrschung als einen Weg, physische Unterlegenheit […] durch die zu entwickelnde Kraft freier und vernünftiger Reflexion in geistige Unangreifbarkeit des Menschen umzukehren: ‚eine Gewalt, die er der Tat nach erleiden muß, dem Begriff nach zu vernichten‘“342. Der Mensch, der durch praktische Vernunft und damit moralische Grundsätze bestimmt ist, weiß sich prinzipiell frei von Natur. Die wilde Natur dient also der Selbstvergewisserung der (praktischen) Vernunft, das autonome Subjekt erfährt eine Bestätigung seiner prinzipiellen intellektuellen Überlegenheit trotz seiner physischen Unterlegenheit. Im Dynamisch-Erhabenen erfährt der Mensch seine übersinnliche Bestimmung, seine Überlegenheit als Vernunftwesen der Natur gegenüber. Er hat die Möglichkeit frei zu sein, wenn er moralisch handelt, also sein Tun am kategorischen Imperativ ausrichtet.343 Wildnis ist also Mittel zum Zweck der Bestätigung der Vernunft. Mit einer nur geringen Akzentverschiebung wird sie daher deutbar als gute, ja einzige Form von Natur, in der sich der Mensch als moralisches Wesen erfahren kann. Wildnis steht in diesem Sinnzusammenhang der „Kontrollnatur“344, an der sich zwar die theoretische, nicht aber die praktische Vernunft

340 Ebd.: 186, A 104, B 105. 341 Schiller 1984: 800 f. 342 Koschorke 1990: 130 f. mit Zitat von Schiller 1984: 794; zu Schillers Ästhetik zusammenfassend Schneider 1997: 57 ff. 343 Mit diesem Verweis auf die Vernunft des Menschen ist ein Kernpunkt der Aufklärung berührt: der emanzipatorische Selbstbezug des autonomen Subjekts; dazu Eisel 1987. 344 Marquard 1987: 56.

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abarbeitet, kategorial gegenüber: Sie ist nicht nur, wie oben angeführt, noch nicht angeeignete Natur. Sondern sie ist die Natur, die sich kategorial als jenseits der Kontrollnatur stehende der Aneignung durch den Verstand prinzipiell entzieht. Die Welt der Naturgesetze ist nicht die Welt, in der sich der Mensch als moralisches Subjekt erleben kann.345 Kant unterscheidet in diesem Sinne zwischen Natur und Welt, zwischen dem Reich der Notwendigkeit und dem der Freiheit. Der aus Freiheit handelnde Mensch kommt in der als Kontrollnatur verstandenen Natur nicht vor, er ist aber in der Welt. „Naturbeherrschung zieht den Kreis, in den Kritik der reinen Vernunft das Denken bannte. Kant hat die Lehre von dessen rastlos mühseligem Fortschritt ins Unendliche mit dem Beharren auf seiner Unzulänglichkeit und ewigen Begrenztheit vereint. Der Bescheid, den er erteile, ist ein Orakelspruch. Kein Sein ist in der Welt, das Wissenschaft nicht durchdringen könnte, aber was von Wissenschaft durchdrungen werden kann, ist nicht das Sein.“346

Diese Bedeutung von Wildnis, die der Kontrollnatur gegenübersteht, markiert einen Übergang zu romantischen Wildnisinterpretationen:347 „Die Natur der Naturwissenschaften, die berechenbare und manipulierbare Kontrollnatur ist die ‚richtige‘ Natur, aber niemand weiß mehr, ob sie auch die ‚wahre‘ Natur ist. Damit ruft sie die Sehnsucht nach einer anderen Natur hervor, die dann in der Romantik thematisiert wird.“348 4.3.2 Kulturlandschaft in demokratischer Perspektive – natürliche Vernunft, Orientierung am Gemeinwohl sowie Rückständigkeit und Emanzipation In der Aufklärung sind die ländlichen Verhältnisse und ihr Sinnbild, die Kulturlandschaft, idealisiert worden. Um das Ideal einer vernünftigen Natur zum Ausdruck zu bringen, bezieht sich daher auch der Demokratismus auf

345 Diese Wendung in der Bedeutung von Wildnis zeichnet Praxenthaler 1996: 18 ff. nach. 346 Horkheimer & Adorno 1947/2008: 32. 347 Dieser Übergang ist nicht charakteristisch für die demokratische Weltanschauung. Sie zeichnet sich typischerweise durch ihre Wissenschaftsgläubigkeit aus. Kant hat aber die Möglichkeit dieses Paradigmas bis ins letzte ausgelotet und da stellt sich jene Begrenzung der Vernunft heraus, durch die der Übergang zur Romantik überhaupt erst denkmöglich wird. Das Typische des Demokratismus, das kollektive Weltbeherrschungsprogramm, muss sich wohl nicht romantisch irritieren lassen; das ist nur von einer Position möglich, die alle Einwände aus der anderen Richtung konsequent aufnimmt und, durchaus im Sinne des demokratischen Paradigmas, zu Ende denkt. 348 Praxenthaler 1996: 21.

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die Kulturlandschaft – und nicht auf die rohe, wilde Natur. Denn jene ist die Natur der barbares, die bereits Vernunft erlangt und zu Selbstbewusstsein gekommen sind, während diese die Natur der zwar natürlich-friedlichen, aber vernunftlosen sauvages ist. Es ist somit die Kulturlandschaft, die zum Sinnbild des goldenen Zeitalters wird und zum „Ausdruck für die angestrebte Relation von Mensch und Natur entsprechend der klassischen Vorstellung einer natürlichen Gesellschaft, die in Einklang mit der Harmonie des Naturhaushalts unkompliziert und selbstgenügsam in ländlicher Idylle ihr Leben gestaltet“349. Wir werden allerdings sehen, dass trotz dieser Idealisierung des Landlebens ‚Kulturlandschaft‘ auch mit Vorstellungen von Rückständigkeit und Unfreiheit assoziiert ist (siehe Tabelle 4, S. 210). Das liegt daran, dass Interpretationen von ‚Kulturlandschaft‘ in aufklärungskritische Deutungen umschlagen können:350 „Mit der Idealisierung der ländlichen Verhältnisse war, weil diese zugleich die der vergangenen, feudalen Zeiten sind, […] ein rückwärtsgewandter Zug in das Verhältnis der Aufklärung zur Landschaft geraten und damit ein Widerspruch: Die gesamte Existenzweise der die Aufklärung tragenden Bürger lief ja gerade darauf hinaus, diese ländlichen Verhältnisse, die sozialen wie die natürlichen, zu zerstören und andere, nämlich ‚vernünftige‘ an ihre Stelle zu setzen.“351

Kulturlandschaft als Ort der natürlichen Vernunft (Vorstellung 22) Von großer Wirkmächtigkeit ist die Vorstellung von Kulturlandschaft als Sphäre der natürlichen Vernunft. Im Folgenden werde ich darstellen, dass Kulturlandschaft (1) als Sinnbild tugendhafter und gerechter Verhältnisse gegen die Despotie der Fürstenhöfe gestellt wird und dass sie (2) als Sphäre der Versöhnung mit der Natur imaginiert wird. Zu (1): Der Demokratismus formuliert – und darin liegt seine gemeinsame politische Stoßrichtung mit liberalen Strömungen der Aufklärung – Kritik an der Despotie der Fürstenhöfe. Das Leben am Hof wird als unvernünftig und unnatürlich, als verschwenderisch und damit auch als unmoralisch und ungerecht wahrgenommen. Im Unterschied zum Liberalismus, der den absolutistischen Despotismus kritisiert, weil er verschwenderisch und damit unproduktiv ist, richtet sich die demokratische Kritik, wie sich noch zeigen wird, primär gegen die Untugend und Ungerechtigkeit des Hofes. Gegen die bornierten (Produktions-)Verhältnisse der absolutistischen Gesellschaft beruft man sich auf „Natur als Maßstab vernünftiger Organisation“352. ‚Vernünftig‘ bedeutet jedoch nicht ‚rational‘ im Sinne abstrakter

349 350 351 352

Siegmund 2002: 80. Dazu ausführlicher Eisel 1980: 277 f.; 1981; 1982. Trepl 1998: 82. Eisel 1982: 158.

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Verallgemeinerung oder logisch-empiristischer, instrumenteller Vernunft, sondern im Sinne eines maßvollen, die Gesetze konkreter Naturbedingungen achtenden Lebens in Einfachheit und zweckmäßiger Schlichtheit, wie man sie im Leben auf dem Lande verwirklicht sieht.353 „Dort existieren Menschen, denen ihre Arbeitskraft noch als natürliche Eigenschaft gehört, in konkreter Auseinandersetzung mit der Natur, indem sie sich ihren Zyklen und Prozessen einordnen.“354 Lange zeigt, dass dieses aufklärerische Interesse an Natur nicht nur philosophisch begründet ist: „Natur ist nicht nur ein spekulativer Begriff, der Konzentrationspunkt aller gegen den Feudalabsolutismus gerichteten Argumente, sondern sie ist zugleich, als landwirtschaftlich bearbeitete, Produktionsstätte und Wohnsitz der Majorität der Bevölkerung und die territoriale Grundlage von Herrschaft und Reichtum des Adels. Daß in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts das Land, der Landmann, das Landleben zunehmend wichtige, ja zeitweise dominierende Themen von Kunst und Literatur werden, hat seine Ursache sowohl in der Umstrukturierung der Landwirtschaft und dem Interesse des Bürgertums daran, wie auch darin, daß (nicht zuletzt dadurch) das bäuerliche Leben in seinem Kontrast zum städtischen ins Blickfeld des bürgerlichen Beobachters rückte.“355

Die „antitraditionelle, aufklärerische, bürgerliche Bewegung schafft sich ihr moralisches Menschenideal im vernünftigen, freien Landeigentümer, in Gestalt des ‚philosophischen‘ Musterbauern“356. Der Bauer wird um die Mitte des 18. Jahrhunderts also zum Idealbild eines Menschen stilisiert, der „nur durch die Kraft seines eigenen Genie[s]“, durch „gesunden, natürlichen Verstand“357 Vollkommenheit erlangt. „Der Musterbauer […] wird als bürgerliches Menschenideal dargestellt: er ist zugleich der Natur näher als der Städter, wie er auch dem Ideal bürgerlicher Moral eher als der städtische Bürger entspricht. Er erfüllt die Forderungen von Fleiß, Sparsamkeit und asketischer Lebensweise vollkommen“358, lebt also ein vorbildhaftes Leben in zweckmäßiger Schlichtheit. Die Stilisierung des Bauern zum Vorbild tugendhafter Lebensführung erinnert an die Idealisierung des konkreten bäuerlichen Daseins in der kon-

353 354 355 356

Dazu Eisel 1980: 277 ff.; 1982; Trepl 1994: 86 f.; 1998. Eisel 1982: 159. Lange 1976: 68. Ebd.: 70 f. – Der Züricher Arzt und Ratsherr Hans Casper Hirzel (1725-1803) prägte den Begriff des „philosophischen Bauern“ oder, wie er in der französischen Übersetzung genannt wurde, „Socrate rustique“, in einer zuerst 1761 erschienenen, viel übersetzten und mit immer neuen Zusätzen oft aufgelegten Schrift Die Wirthschaft eines philosophischen Bauern (Lange 1976: 77 f. und 133). 357 Hirzel 1761/1774 zit. n. Lange 1976: 78. 358 Lange 1976: 78.

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servativen Weltanschauung. Wie ist es möglich, dass zwei Weltanschauungen, die diametrale Enden des politischen Spektrums besetzen, in ihrer Utopie ‚Kulturlandschaft‘ übereinstimmen? Eisel zeigt, dass der „Kontext, aus dem überhaupt die Bindung an gegensätzliche politische Philosophien folgt, […] bereits […] in der inneren Widersprüchlichkeit der Aufklärung, sowie in der Ambivalenz des Bürgertums gegenüber seinen Errungenschaften Industrie und Stadt“359 angelegt ist. In der aufklärerischen Idee der (Kultur-)Landschaft fallen, wie bei der Betrachtung des Landschaftsgartens besonders deutlich wird, zwei gegensätzliche Naturideale zusammen: das konstruktivistische und das konkrete. Zunächst ein Fachterminus der Malerei, diffundiert der Begriff ‚Landschaft‘ in die Lebenswelt und in die Wissenschaft. „Das heißt, Landschaft ist etwas Hergestelltes, und zunächst nennt man eine Gegend ‚Landschaft‘, wenn sie wie ein gemaltes Bild anmutet.“360 Diese Kunstwerke werden dann im Landschaftsgarten361 als Wirklichkeit hergestellt. „Das kompromißlose Ideal der Machbarkeit der Welt durch das freie Subjekt und der Herstellbarkeit gerechter gesellschaftlicher Verhältnisse durch die Einigung zwischen gleichberechtigten Individuen im Gesellschaftsvertrag, hat auch von [sic!] der Herstellbarkeit der schönen, harmonischen Natur als Landschaftsgarten nicht halt gemacht.“362

Die Pointe liegt nun darin, dass die Natur, die hergestellt werden soll, nicht die abstrakte, mechanische sein soll, sondern es geht gerade um „die Erstellung der konkreten Natur nach gestalthaften Harmonieprinzipien“363. „Die Kunst der Aufklärung beginnt dort, wo die Aufklärung beginnt: bei der unmittelbaren Natur; das subjektivistische Ideal bezieht den Konstruktivismus der Renaissance, der zunächst nur als Abstraktion von konkreter Natur verständlich ist, als ‚Konstruierbarkeit‘ nun gerade auch auf die ‚konkrete Natur‘ im Kontext ihrer allgemeinen Aufwertung in der Aufklärung.“364

Eisel weist darauf hin, dass sich durch diese Verbindung der Sinn des ursprünglich aus einem Autonomie-Ideal entstandenen, konstruktivistischästhetischen Prinzips der realen harmonischen Landschaft als konkrete Natur vollständig ändert. „Was als Folge einer Autonomie gedacht worden war,

359 Eisel 1982: 158. 360 Ebd. 361 Aus der umfangreichen Literatur zum Landschaftsgarten sei hier nur auf einige Standardwerke und für meine Interpretation wichtige Arbeiten verwiesen: Buttlar 1989; Hunt 1992; 2003/2004; Siegmund 2002; 2009a; 2010. 362 Eisel 1982: 158. 363 Ebd. 364 Ebd.

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die zu konstruierende harmonische Landschaft als menschliches Kunstprodukt, wird zur Repräsentation vorbestimmter, harmonischer Evolutionsautomatismen unter der Determination der konkreten Natur.“365 Aus demokratischer Perspektive bleibt also stets bewusst, dass die Kulturlandschaft konstruierte Landschaft, Produkt menschlicher Schaffenskraft ist, und nicht, wie in der konservativen Weltanschauung angenommen, durch Anpassung an bestehende, von einer höheren Macht gesetzte Gegebenheiten entsteht bzw. naturgleich erwächst. Zu (2): Mit dem Topos von Kulturlandschaft als Raum einer gelebten natürlichen Vernunft geht die Vorstellung einher, dass sie die Sphäre der Versöhnung mit Natur ist – schließlich gilt eine vernünftige Lebensführung als der Natur gemäß. Der Mensch versöhnt sich in der Kulturlandschaft sowohl mit der äußeren als auch mit seiner inneren Natur, weil er durch die konkrete Arbeit in der konkreten Natur dem Teufelskreis der kommerziellen Gesellschaft entkommt. Er findet also seinen inneren Frieden und kann in sich ruhen – wieder, so ließe sich hinzufügen, wenn man die Kulturlandschaft und das Leben auf dem Land als Renaissance der idealisierten Hirtengesellschaft Rousseaus deutet. Allerdings ist diese Versöhnung, nachdem die Menschheit den Naturzustand verlassen hat und im kommerziellen Kriegszustand verharrt, nur in der demokratischen Gesellschaft möglich. Sie ist also kein „Zurück zur Natur“, wie Rousseau gern vereinfachend zitiert wird, sondern ein „Vorwärts zur zweiten Natur“. Kulturlandschaft hat daher – unter den Bedingungen der kommerziellen Gesellschaft – den Charakter einer Vorstufe zu dieser wahren Versöhnung. In der demokratischen Gesellschaft ist sie diese wahre Versöhnung. Sie wird erstens als Versöhnung mit der objektiven äußeren Natur verstanden. Der vernünftige, und das heißt, wie sich im folgenden Unterkapitel noch deutlicher zeigen wird, immer auch am Gemeinwohl orientierte Kontakt zur Natur, führt zu einem Gefühl der Verantwortung für die Natur der Kulturlandschaft.366 Zweitens wird sie auch, und sogar primär, als Versöhnung mit der inneren Natur, als „Übereinstimmung – nicht mit einer objektiven Norm, sondern mit sich selbst“367 angesehen.

365 Ebd.: 162. 366 Die Gesellschaft soll sich also die Natur zwar nach ihren Bedürfnissen einrichten, aber ohne dass diese zerstört wird. „Letzteres bedeutet aber, daß durch Anpassung Rücksicht auf Natur genommen werden muß, so daß auch hier das klassische [d. h. Herdersch-konservative] Schema von Anpassung und Loslösung vorliegt“ (Körner 2001: 246). 367 Spaemann 1992: 23.

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Kulturlandschaft als Sphäre der gerechten Ordnung durch Orientierung am Gemeinwohl (Vorstellung 23) Kulturlandschaft gilt als Sphäre der Ordnung, weil und insofern sich in ihrer Gestaltung eine Orientierung am Allgemeinwohl und -willen ausdrückt. Kulturlandschaft kann dann (1), in materieller Hinsicht, als Sinnbild gerecht verteilten Wohlstands gelten, oder ihr kann (2), in ideeller Hinsicht, als Ausdruck zweckmäßiger Schlichtheit erzieherische, sittenverbessernde Wirkung zugeschrieben werden. Zu (1): Ähnlich wie im Liberalismus, der die Kulturlandschaft als rationell auszubeutende Ressource ansieht, schätzt sie auch der Demokratismus als Produktionslandschaft. Denn die produzierten Güter (Nahrungsmittel und Rohstoffe) garantieren mittelbar oder unmittelbar eine gewisse Versorgungssicherheit und den Wohlstand einer Nation. Im Gegensatz zur liberalen Weltanschauung sind aber Nutzen, Verwertbarkeit und Wohlstand kein Selbstzweck, sondern in den Dienst der gesellschaftlichen Gerechtigkeit gestellt. Angestrebt wird Wohlstand nicht um des Wohlstands willen (der immer weiter wachsen soll), sondern Wohlstand für das Proletariat, die Arbeiter, die pauvres. Weil also im Demokratismus das Wesen des Menschen nicht nur als purer Selbsterhaltungstrieb bestimmt ist, sondern er als „‚existence double‘, als Wesen aus Natur und Gesellschaft, das zwischen Natur und Gesellschaft steht“368, gedacht wird, ist an Kulturlandschaft nicht primär relevant, dass ihre Nutzung den Wohlstand Einzelner (oder der Nation im Konkurrenzkampf mit anderen Ländern) mehrt. Sie wird vielmehr als Ausdruck einer guten gesellschaftlichen Ordnung gedeutet, die ihren gemeinsam erarbeiteten Wohlstand gerecht verteilt. Zu (2): Die Bestimmung des Menschen als existence double bedingt, dass die Bedürfnisse, die die Menschen an Landschaft stellen, sich nicht im Materiellen erschöpfen, sondern auch ästhetische und kulturelle Interessen umfassen. Das impliziert (a), dass im Unterschied zur Wahrnehmung von Kulturlandschaften aus liberaler Perspektive der Charakter der einzelnen Landschaft relevant sein kann.369 Damit hängt eng zusammen, dass (b) der zweckmäßigen Schlichtheit einer Landschaft eine erzieherische, sittenverbessernde Wirkung zugeschrieben wird, weil und insofern diese Schlichtheit als äußeres, ästhetisches Formprinzip Ausdruck der vernünftigen, tugendhaften Gesellschaftsordnung

368 Nonnenmacher 1989: 209. 369 Siehe oben Kapitel 4.1.2. – Im Unterschied zur konservativen Weltanschauung wird in der demokratischen das Ziel der Gesellschaft durch die autonomen, mündigen Bürger selbst gesetzt, es ist nicht vorgegeben. Für den Charakter einer Landschaft bedeutet das, dass aus demokratischer Perspektive auch solche Landschaften charakteristisch sind, die, das konstruktivistische Paradigma auf die Spitze treibend, auf unverkennbare Weise menschlich vollkommen überformt wurden.

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ist. Ein Musterbeispiel des erzieherischen Potentials der Landschaft gibt Rousseau in seinem Briefroman Julie oder Die neue Héloise (1760).370 Inhalt ist eine Liebesgeschichte zwischen dem bürgerlichen Hauslehrer St. Preux und der Landadligen Julie, die aus Rücksicht auf die gesellschaftlichen Vorstellungen aufeinander verzichten. Julie heiratet einen Baron, an dessen Seite sie zur tugendhaften Frau und Mutter reift, allerdings ohne die Leidenschaft für St. Preux ganz vergessen zu können. Im 11. Brief des vierten Teils wird ein Spaziergang durch Julies Obstgarten, genannt „Elysium“, geschildert. St. Preux beschreibt darin den Garten als den „wildesten, einsamsten Ort der Natur“, wobei ihm scheint, als wäre er „der erste Sterbliche, der jemals in diese Einöde vorgedrungen sei“371. Julie und St. Preux thematisieren in ihrem Gespräch die Idee der Nachahmung der Natur als Maxime der Gartenkunst. „Julie bemerkt, die Natur gäbe das Vorbild dafür, was gut ist: keine Symmetrie und kein Richtmaß. Angenehm würde ein Werk dann, wenn ein Ausdruck einer gewissen Einfachheit und Unbeschwertheit von ihm ausginge, so daß es wie ein ‚Natur-Werk‘ wirke.“372 Entscheidend ist in unserem Zusammenhang, dass der natürlich wirkende Garten im Romanzusammenhang als Hinweis auf die Läuterung Julies, auf ihren Durchbruch zur Tugend zu sehen ist. Bei einem Gang durch den Garten wird auch St. Preux geläutert: Er versteht die Bedeutung einer Bemerkung Julies über den Garten – „lernen Sie den Ort, an dem Sie sich befinden, achten; ihn hat die Hand der Tugend gepflanzt“373 – als Hinweis darauf, dass „Julie Abstand von ihm gewonnen hat und gewillt ist, eine treue Ehefrau und Mutter zu sein. Die Ausstrahlung des ‚tugendhaften Ortes‘ wird so stark, daß die Erkenntnis dieser inneren Trennung St. Preux nicht nur berührt, sondern er sie überwinden und akzeptieren kann.“374 Zu den ideellen Interessen, die sich mit Kulturlandschaft verbinden können, zählt (c) ihre Eignung als Erholungslandschaft. Da sich diese Vorstellung erst in historisch späteren, sozialistischen Varianten des Demokratismus durchsetzt, soll auf sie hier nicht weiter eingegangen werden.375 Wegen

370 Obwohl es hier ein Garten ist, der die sittenverbessernde Wirkung ausübt, kann das Beispiel in unserem Zusammenhang aufgeführt werden, weil sowohl dem ‚Garten‘ als auch der ‚Kulturlandschaft‘ dasselbe Landschaftsideal zugrunde liegt (vgl. Siegmund 2002: 62-90). 371 Beide Zitate Rousseau 1761/1978: 492. 372 Siegmund 2002: 72. 373 Rousseau 1761/1978: 506. 374 Siegmund 2002: 73 mit Zitat von Rousseau. 375 Historisch führt der Weg zu den Erholungslandschaften im Demokratismus über die Berücksichtigung der Bedürfnisse der arbeitenden Klasse: Zu den ersten Erholungslandschaften kann man die von der Sozialdemokratie geförderten Volksparks zählen, die in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden (die zuvor geschaffenen und ebenfalls als „Volksparke“ bezeichneten Gartenanlagen dienten häufig noch bürgerlichen Repräsentationszwecken, so je-

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ihrer systematischen Relevanz möchte ich lediglich zwei Gedanken aufgreifen: Die Idee der Erholungslandschaft als Reproduktionslandschaft läuft erstens ständig Gefahr, in die Logik des weltanschaulichen Gegners, des Liberalismus, abzugleiten, insofern Erholung in den Dienst der Aufrechterhaltung der Produktion gestellt ist.376 ‚Reproduktion‘ wird erst in der demokratischen Gesellschaft, d. h. im Sozialismus, akzeptabel, weil sie dann im eigenen Interesse (des volkseigenen Betriebs) geschieht. Zweitens ist ‚Erholung‘ aus demokratischer Perspektive raffinierter als sie unter liberaler Perspektive erscheinen mag; sie ist um die Bedeutungsebene der praktischen Vernunft reicher. So können Kulturlandschaften Bedeutung erlangen als emanzipatorisches Betätigungsfeld, worauf ich im Laufe des nächsten Unterkapitels eingehen werde. Außerdem kann sich der Mensch in der schönen Kulturlandschaft, d. h. in der kultivierten Landschaft, die sich durch zweckmäßige Schlichtheit auszeichnet wie in der erhabenen Wildnis seiner moralischen Bestimmung bewusst werden. „Das Wohlgefallen an der ästhetischen ‚Landschaft‘ beinhaltet somit ein Wohlgefallen des Menschen an seinem Subjektstatus, wofür Kant den Terminus der Selbstschätzung des Subjekts verwendet.“377

denfalls die Kritik der Reformer in der Zeit um 1900). So entstand vor dem 1. Weltkrieg beispielsweise der Schillerpark in Berlin und der Stadtpark Hamburg und nach dem Krieg der Volkspark Raderthal in Köln und der Volkspark Rehberge in Berlin (siehe z. B. Lesser 1927; Maaß 1913; Schumacher 1928; dazu Goecke 1981: 95-158; Gothein 1926/1997: 442 ff.; Grunert 2001; 2002; Maas 1983). Die Tourismuslandschaften des 19. Jahrhunderts hatten nichts mit Erholung der Arbeiterklasse zu tun, sondern dienten der Erholung der bürgerlichen Schichten (Hachtmann 2007: 48-65; siehe aber Schmoll 2004: 184-190). 376 Auf dieses Problem reagiert die „Sozialwissenschaftliche Freiraumplanung“, die sich Anfang der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts herausbildete, mit dem Begriff des „Gebrauchswerts“ von Freiräumen. „Im Gebrauchswert vereinen sich Nutzen und gesellschaftliche Emanzipation, wenn davon ausgegangen wird, daß die Erholungssuchenden durch die Aneignung der Freiraumrequisiten kreativ und selbstbestimmt sein können.“ (Körner 2001: 244) 377 Dinnebier 1996: 107. – Dinnebier (ebd.: 104 f.) zeigt, dass die Gemeinsamkeit des Schönen der Landschaft mit der Vernunft (Landschaft als Symbol des Sittlich-Guten) eine symbolische ist und den Charakter einer Analogie aufweist. Diese bezeichnet Kant als „Übertragung der Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung auf einen ganz anderen Begriff, dem vielleicht nie eine Anschauung direkt korrespondieren kann“ (Kant 1790/1996: 296, A 254, B 257). Die Gemeinsamkeit besteht hier „bloß der Form der Reflexion, nicht dem Inhalte nach“ (ebd.: 295, A 252, B 255), d. h. sie liegt in der „Regel der Reflexion“ (ebd.: 296, A 253, B 256). „Kant umreißt die Strukturanalogie zwischen dem Schönen und dem Guten folgendermaßen: 1) Beide gefallen unmittelbar. 2) Beide gefallen ohne alles Interesse. 3) Die Freiheit der beiden Gemütsvermögen wird in der jeweiligen Beurteilung als mit einer Gesetzmäßigkeit ein-

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Kulturlandschaft als Sphäre der Rückständigkeit und der Emanzipation (Vorstellung 24) Der widersprüchliche Bezug auf Natur, der uns bereits bei der Wildnis – als Sphäre sowohl der Unfreiheit als auch der Emanzipation – begegnet ist (siehe oben S. 181 ff.), spiegelt sich auch in den Vorstellungen wider, die Kulturlandschaft annehmen kann, wenn man sie unter dem Aspekt der Freiheit betrachtet. In der Kulturlandschaft hat sich die Gesellschaft zwar schon mehr Freiheit von den Zwängen der äußeren Natur erarbeitet, dennoch kann (1) das Leben auf dem Land auch als Sinnbild für Rückständigkeit verstanden werden. Sie kann aber (2) auch Sinnbild gesellschaftlicher Emanzipation sein. Zu (1): Kulturlandschaft kann in demokratischer Lesart nicht nur gegen die absolutistisch-despotische Unvernunft ins Feld geführt werden, sondern sie kann selber Schauplatz ländlich-dumpfer, unemanzipierter Unvernunft sein. Sie gilt dann, wie in der liberalen Weltanschauung, als Sphäre der Rückständigkeit (siehe dazu oben S. 117 f.). Kulturlandschaft wird als Rest des vor-kommerziellen, feudalen Zustands in der kommerziellen, frühindustriellen Gesellschaft gedeutet. Sie symbolisiert das dieser gegenüber Rückständigere: Denn erstens sind beim Landleben immer noch die ländlich-feudalen Herrschaftsverhältnisse wirksam und zweitens ist der Naturzwang stärker als in der Stadt der kommerziellen Gesellschaft, wo es nur den Zwang des falschen Fortschritts gibt. Das Landleben kennt zwar das Böse der kommerziellen Gesellschaft noch nicht, aber gerade darum ist es der demokratischen Gesellschaft noch ferner – denn die Menschen müssen erst durch jene hindurch, um die Demokratie errichten zu können.378 Zu (2): In der kommerziellen Gesellschaft kann Kulturlandschaft als Sphäre der Emanzipation der Bürger von den sie unterdrückenden und bevormundenden natürlichen, vor allem aber gesellschaftlichen Bedingungen einen Beitrag zur Erziehung zu einer wahrhaft demokratischen Gesinnung stimmig vorgestellt. 4) Die Prinzipien ihrer Beurteilung werden als allgemein (d. h. für jedermann gültig) vorgestellt. (A 255, 256/ B 259)“ (Dinnebier 1996: 106, Fußnote 27) 378 Zumindest, wenn sie den schlechten Weg der Vergesellschaftung gehen, den Rousseau aber für seine zeitgenössische Gesellschaft diagnostiziert hat. Prinzipiell unterscheidet er zwei Wege der Vergesellschaftung und Staatsgründung: „Der gute Weg führt über die Erkenntnis der gemeinsamen natürlichen Notlage zur Bildung einer homogenen politischen Gemeinschaft“ (Fetscher 1975/ 1999: 116). Der schlechte Weg führt über das Stadium der kommerziellen Gesellschaft, „über das Wachstum der individuellen Bedürfnisse, die hiermit zusammenhängende Arbeitsteilung und die Abhängigkeit des einzelnen […] von jedem, die notwendig zu einem Herrschenwollen eines jeden über einen jeden führen muß, und die im Kriege aller gegen alle endet, der endlich die Stiftung der politischen Ordnung im Interesse der Erhaltung der Gattung notwendig macht“ (ebd.: 117).

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leisten. Unter den Bedingungen dieser Gesellschaft vollzieht sich Emanzipation379 bei der konkreten Tätigkeit in konkreter Natur, also als tätige Aneignung380 bestimmter Elemente in der (kultur-)landschaftlichen Umgebung. Aneignung ist jedoch kein Selbstzweck: Kulturlandschaft ist nicht das Ideal der geschichtlichen Entwicklung, wie in der konservativen Weltanschauung. Aneignung wird vielmehr als unbedingte Emanzipation von der Natur verstanden und ist immer auf die Stärkung der demokratischen Gesinnung und die Verwirklichung der demokratischen Gesellschaft, in der die Differenz von Politik und Leben, von Privatheit und Öffentlichkeit, also die „menschliche Selbstentfremdung“381 aufgehoben ist, gerichtet.382 Erst aus der vollen-

379 Emanzipation bezieht sich, und daran wird der Unterschied zur liberalen Weltanschauung deutlich, nicht nur auf die Sphäre des Politischen und Rechtlichen im engeren Sinne, sondern sie ist – vor dem Hintergrund der Bestimmung des Menschen als Vernunftwesen – eine umfassende menschliche Emanzipation. Was damit gemeint ist, zeigt sich beispielsweise in der Theorie Werner Nohls, die in der demokratischen Tradition steht (Nohl 1980, siehe zu dessen Interpretation v. a. Körner 2001: 293-353). Seine Theorie hat „die Emanzipation des ‚ganzen‘ Menschen als schöpferisches und gemeinschaftliches Wesen zum Ziel […]. Die Emanzipation im Sinne einer allein politischen, d. h. als die im bürgerlichen Recht gegebene Möglichkeit, seine Interessen in einem demokratischen System zu verfolgen, wird als reduziert abgelehnt. ‚Gemeinschaft‘ wird hier aber nicht im konservativen Sinne als organisch definiert, sondern mit dem demokratischen Egalitätsprinzip verbunden und als Kooperation und Solidarität zwischen freien und gleichen Individuen verstanden. Die allgemeine Emanzipation ergibt sich dann im Gegensatz zur politischen, wenn die Menschen ihre individuellen Fähigkeiten produktiv ausleben können.“ (Körner 2001: 293) 380 Der Begriff der Aneignung kommt erst später auf, er findet sich noch nicht bei Rousseau. Er hat Hegels Entfremdungs-Theorie zur Voraussetzung. Die Aneignung von Natur bzw. von Freiraumelementen wird in der Garten- und Landschaftsarchitektur beispielsweise von Leberecht Migge thematisiert und später bei Vertretern der Kasseler Schule sowie bei Nohl zu einem zentralen Begriff. Insofern Aneignung die Bezugnahme auf konkrete Natur impliziert, kann auch sie als Übergangsmöglichkeit zu konservativen Denkmustern gesehen werden, oder umgekehrt: Aneignungstheorien können als demokratische Variante der Land-Idylle interpretiert werden (siehe oben). In diesem Sinne zeigt auch Körner (ebd.: 245), dass mit dem Begriff der Aneignung zwar der Konservatismus abgelehnt wird, aber das idiographisch-gestaltende Element von Planung weiter (unterschwellig) vertreten wird. 381 Spaemann 1992: 30. 382 In der Aneignung von Freiräumen beispielsweise kann, wie es in der Theorie der Sozialwissenschaftlichen Freiraumplanung formuliert wird, gewissermaßen symbolisch die Aufhebung des Privateigentums erfahren werden, indem mit der die bürgerliche Gesellschaft kennzeichnenden Dichotomie von Privatheit und Öffentlichkeit gespielt wird (vgl. Körner 2001: 255 f.).

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deten Emanzipation könne, so interpretiert Spaemann Rousseau, wenn überhaupt, eine neue Integration hervorgehen. Dieses Problem des Verhältnisses von Emanzipation und Integration sei von Marx aufgenommen worden; bei ihm würden totale Emanzipation und gesellschaftliche Integration identisch:383 „Erst wenn der wirklich individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine ‚forces propres‘ als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht“.384

Was genau das Ziel der im Zitat angesprochenen „wirklichen Emanzipation“ ist, wird im folgenden Kapitel deutlich, wenn die Stadt als Symbol der demokratischen Gesellschaft beschrieben wird. 4.3.3 Stadt in demokratischer Perspektive – Natürlichkeit und Künstlichkeit, Tugend sowie Öffentlichkeit und Freiheit Die Stadt kann aus der Perspektive der demokratischen Weltanschauung für die ideale Lebensweise der Gesellschaft stehen – nicht nur, weil sie Ort des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts ist, sondern auch, weil sie der Ort ist, an dem sich der Mensch als Bürger, als sittlich-politisches Wesen bewährt und entfaltet. Ein „Bürger“ ist historisch zunächst ein Städter. Mit ‚Stadt‘ ist also im Folgenden nicht die empirische Stadt gemeint, sondern der Inbegriff, das Sinnbild, die Verkörperung der Cité, der Polis als Ort der Republik, der demokratisch verfassten Gemeinschaft (wenn auch diese symbolischen Bedeutungen die Wahrnehmung realer Städte wesentlich prägt).385 Das impliziert auch, dass das ganze Land eine Republik von Bürgern, also städtisch, werden soll (siehe Tabelle 4, S. 210).

383 Spaemann 1992: 31. 384 Marx 1944/1964: 199. 385 Diese Gleichsetzung ist möglich, weil die empirische Stadt im Verhältnis zu Kulturlandschaft und Wildnis tatsächlich dem demokratischen Gesellschaftsideal nahe ist, man dessen Prinzipien in ihr schon beobachten kann, wenn auch noch so eingeschränkt, und weil es Klassiker gibt, die als Beispiele des Ideals dienen können (die antike Polis).

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Stadt als Sphäre der Ordnung zwischen Künstlichkeit und Natürlichkeit (Vorstellung 25) Die Stadt ist der Ort einer demokratischen Ordnung, die als Produkt vernünftiger Planung und nicht – wie im Konservatismus – als Produkt von Besinnung auf Tradition und Geschichte imaginiert wird. Diese Ordnung kann entweder (1) als künstlich oder (2) als natürlich angesehen werden – je nachdem, auf welchen Aspekt der demokratischen Staatstheorie sich das Augenmerk richtet. Um dieses Changieren nachvollziehen zu können, werde ich zunächst skizzieren, wie der Gesellschaftsvertrag den allgemeinen Kriegszustand beendet. In der demokratischen Gesellschaft wird aus dem einzelnen Menschen der Staatsbürger. Das bedeutet, dass er sowohl Untertan und Teil des Staates als auch Souverän bzw. Teil der gesetzgebenden Körperschaft ist – so wie es historisch der „Bürger“, d. h. der mit Bürgerrechten ausgestattete Stadtbewohner (in der antiken Polis wie in der mittelalterlichen freien Stadt) gegenüber dem städtischen Gemeinwesen erstmals war: Zwar gibt jeder Einzelne sein egoistisch-anarchisches Wollen auf, um sich dem einheitlichen Willen des Staates zu unterwerfen. Da er aber selbst Mitglied der souveränen Körperschaft ist, gibt er sich selber die Gesetze, denen gegenüber er sich zum Gehorsam verpflichtet hat.386 Der Souverän, an den jedes Individuum seine natürlichen Rechte abtritt, ist also kein Dritter, kein Einzelner und keine beliebige Körperschaft, „sondern die Gesamtheit der einzelnen als Gemeinschaft der Bürger. Der legitime Gesellschaftsvertrag wird also zwischen formal verschiedenen, aber personal identischen Parteien geschlossen: Jedes Individuum als Untertan paktiert mit der Gemeinschaft, das heißt mit sich selbst, da es als Bürger Teil dieser Gesamtheit, des Souveräns, ist.“387

386 Adam 1999/2002: 111 ff.; Fetscher 1975/1999: 105; Nonnenmacher 1989: 248; Zippelius 1971/2003: 107. 387 Nonnenmacher 1989: 248. – Rousseau selbst formuliert: „Damit ein im Entstehen begriffenes Volk Gefallen an den gesunden Grundsätzen der Staatskunst [raison d’état] finden und die Grundregeln des Staatsrechts befolgen könnte, wäre es nötig, daß die Wirkung zur Ursache würde, daß der gesellschaftliche Geist [l’esprit social], der das Werk der Verfassung sein soll, selbst den Vorsitz in der Verfassung führen sollte, und daß die Menschen schon vor dem Bestehen der Gesetze das wären, was sie erst durch dieselben werden sollen.“ (Rousseau 1762/1975: 48, CS II, 7) Althusser zeigt, dass es sich bei Rousseaus Vertrag um einen „außergewöhnlichen Vertrag paradoxer Struktur“ (Althusser 1966: 143) handelt. Die einzige Vertragsklausel sei die innere totale Entäußerung der einen Vertragspartner an die Gemeinschaft. Der zweite Vertragspartner ist die Vereinigung der Individuen zu der Gemeinschaft, die durch den Vertrag erst entsteht. „Das Paradox des Gesellschaftsvertrags besteht also darin, daß er zwei Vertragspartner einander gegenüberstellt, von denen einer dem Vertrag zuvor und ihm äußerlich existiert, während der andere ihm weder vor-

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Jeder Staatsbürger verpflichtet sich als Teil des Souveräns, die Interessen aller Untertanen zu wahren und zu schützen, mithin bei der Gesetzgebung immer das Gemeinwohl zu befolgen.388 Die einheitliche Gemeinschaft, die durch den Staatsvertrag entsteht, wird gestiftet durch die den Individuen innewohnende allgemeine Vernunft: den allgemeinen Willen (nicht wie im idealtypischen Liberalismus von Hobbes durch eine absolute äußere, wenn auch von den Einzelnen eingesetzte Macht). Dieser allgemeine Wille verkörpert sich im Staat und seinen Gesetzen.389 Er ist nicht identisch mit dem Willen aller, er ist also nicht bloß die Summe der Einzelwillen und Privatinteressen. Der allgemeine Wille, die volonté générale, ist vielmehr ein (qualitativer) Gemeinwille, der sich als vernünftiger Wille prinzipiell aller auf das Wohl des Ganzen richtet. In der Stadt als Ort einer guten demokratischen Ordnung ist also die Wildnis der wuchernden Partikularinteressen (seien es die der feudalen Grundherren, der absolutistischen Fürsten oder die der Besitzenden in der kommerziellen Gesellschaft) durch die Orientierung am Allgemeinwillen überwunden. Zu (1): Der Allgemeinwille läuft allerdings weiterhin ständig Gefahr, von den privaten Sonderwillen überwuchert zu werden. Die Stadt ist permanent durch Verwilderung bedroht. Die wildwuchernden Eigeninteressen sind der natürlichen Ordnung der Dinge entsprechend stärker als der Allgemeinwille. Sie müssen durch gesetzgeberische Maßnahmen zurückgedrängt werden: „Es gilt, diese ‚natürliche Ordnung‘ umzukehren, um dem gemeinsamen Nutzen (utilité commune), also dem Gesamtinteresse an kollektiver Selbsterhaltung […] Dominanz vor den Sonderinteressen zu verschaffen.“390 Das Gemeinwohl soll sich in der demokratisch geordneten Gesellschaft nicht mehr vom Privatwohl unterscheiden. Das kommt einer „Aufhebung eines Naturgesetzes“391 gleich. Die Gesellschaftsordnung, die dieses erreicht, ist als in höchstem Maße künstlich anzusehen. Diese Künstlichkeit bedeutet für den einzelnen Stadt- bzw. Staatsbürger die Veränderung seines

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hergeht, noch ihm äußerlich ist, weil er selber Produkt, besser: Gegenstand, Zweck des Vertrages ist“. (Ebd.: 146 f.) Meyer verweist darauf, dass die Rechtfertigung der totalen Entäußerung in der Teilhabe an der souveränen Autonomie liegt: „Rousseau will diese Spannung [zwischen allgemeinem und besonderem Willen] überwinden; das gelingt in einer dialektischen Fassung: die Unterwerfung geschieht vorbehaltlos, ist eine vollständige Veräußerung (aliénation totale) jedes vergesellschafteten Menschen mit all seinen Rechten an die Gemeinschaft. Jedoch kann dieser Anspruch nur gestellt werden, weil Rousseaus Gesellschaftsvertrag eine Form der Vergesellschaftung heraufführt, in der der Einzelne nicht allein Schutz, sondern noch in der Vereinigung die Autonomie des vorgesellschaftlichen Menschen findet.“ (Meyer 1969: 139 f.) Nonnenmacher 1989: 248. Adam 1999/2002: 111 ff. Nonnenmacher 1989: 247 f. Ebd.: 241.

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Wesens: seine De-naturierung.392 Die demokratische Gemeinschaft verdankt nämlich ihre Einheit nur dem inneren Zusammenhalt der zu Staatsbürgern gewordenen Menschen. Nur der zum Staatsbürger denaturierte Mensch ist für ein friedliches Zusammenleben geeignet, der Naturmensch hingegen für das isolierte Leben: „Entweder Primat der natürlichen Gefühle – dann aber auch isolierte und primitive Lebensweise – oder Denaturierung, Ver-geistigung und Versittlichung und friedliche Vergemeinschaftung.“393 Die Denaturierung ist der Preis, den die Menschen als Bürger zu zahlen haben, um aus dem depravierten Zustand des gesellschaftlichen Naturzustands herauszukommen.394 Der Staat muss eine „kollektive moralische Umwälzung“395 zustande bringen, die in das Gewissen und in die Seele der Bürger hineinreicht.396 Diese denaturierende Umwälzung ist das Ergebnis mühevoller und langwieriger Erziehungsarbeit durch den legislateur. Die demokratische gesellschaftliche Ordnung entsteht also nicht spontan und natürlich, sondern sie muss ganz bewusst ins Werk gesetzt werden. Sie

392 Rousseau formuliert im Contrat Social im Kapitel über den Gesetzgeber: „Wer den Mut besitzt, einem Volk Einrichtungen zu geben, muß sich imstande fühlen, gleichsam die menschliche Natur umzuwandeln, jedes Individuum, das für sich sein vollendetes und einzeln bestehendes Ganzes ist, zu einem Teile eines größeren Ganzen umzuschaffen, aus dem dieses Individuum gewissermaßen erst Leben und Wesen erhält; die Beschaffenheit des Menschen zu seiner eigenen Kräftigung zu verändern und an die Stelle des leiblichen und unabhängigen Daseins, das wir alle von der Natur empfangen haben, ein nur teilweises und geistiges Dasein zu setzen.“ (Rousseau 1762/1975: 46, CS II, 7) „Damit hat der Gesetzgeber eine Aufgabe, die Hobbes dem Leviathan wohlweislich nicht aufgebürdet hatte: er muß letztlich, wie Rousseau in aller Klarheit schreibt (CS II, 7, S. 43), ‚sozusagen die menschliche Natur ändern‘.“ (Nonnenmacher 1989: 237 mit Zitat von Rousseau; zur Umwälzung des menschlichen Wesens auch Fetscher 1975/1999: 109 f.) Auch Meyer (1969: 139) deutet die Rousseausche Konstruktion so, dass der Vertragsschluss eine Wesensänderung des Menschen voraussetzt: „Die Frage nach der Natürlichkeit oder Künstlichkeit politischer Institutionen ist dort bereits entschieden, wo eine Gesellschaftstheorie voraussetzt, daß das Verhalten jedes einzelnen Menschen radikal verändert werden muß, damit es allererst gesellschaftlich werde.“ 393 Fetscher 1975/1999: 111. 394 Vgl. Meyer 1969: 142. 395 Nonnenmacher 1989: 237. 396 „Die Beispiele, die Rousseau für die völlige ‚Denaturierung‘ des guten Staatsbürgers gibt, sind aufschlußreich genug: Ein Spartaner, dessen Aufnahme in den Rat der Dreihundert abgelehnt wird, kehrt in dem Gedanken fröhlich nach Hause, daß es in Sparta 300 Menschen gibt, die besser sind als er. Eine Spartanerin, deren fünf Söhne in der Schlacht gefallen sind, denkt nicht an ihren Schmerz, sondern an das Glück des Sieges der Polis und bringt den Göttern Dankopfer.“ (Fetscher 1975/1999: 111 f.)

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ist eine künstlich geschaffene Ordnung, als deren symbolischer Ort die Stadt gilt. Zu (2): Die Künstlichkeit der Ordnung ist andererseits aber doch wieder als natürlich zu betrachten. Diese Ambivalenz geht auf eine Paradoxie des Naturbegriffs zurück, die darin besteht, „daß einerseits ‚Natur‘ gleichgesetzt wird mit der Bedürfnisstruktur des Menschen, daß andererseits aber auch die Beschränkung der natürlichen Triebhaftigkeit, das Heraustreten aus dem Naturzustand, für den Menschen ‚natürlich‘ sein soll“397. Die Natürlichkeit der künstlichen Ordnung zeigt sich (a) daran, dass die Denaturierung als eine zur zweiten Natur, zur Natur des Menschen als Vernunft- und Gemeinschaftswesen zu verstehen ist. Sie wird (b) in der Interpretation des Allgemeinwillens als Naturgesetzäquivalent deutlich. Zu (a): Die Ordnung der Gesellschaft ist zwar künstlich, sie darf aber nicht willkürlich sein, sondern muss ihr Vorbild in der natürlichen Ordnung haben. Die De-Naturierung des Menschen ist also zwar ein Akt der Künstlichkeit, der Inhalt der Erziehung zur demokratischen Gesinnung ist aber wiederum Natur: Die Staatsbürger finden in der Stadt zu ihrer zweiten Natur als Gemeinschaftswesen. Diese Auffassung steht in der Tradition der französischen Materialisten. Sie betonen „den Zusammenhang von Tugend und Wohlergehen; wie Platon und Aristoteles sehen sie […] im bürgerlichen Leben die Bedingung eines erfüllten Daseins im Einklang mit der Natur. Erst in der bürgerlichen Gesellschaft, in tugendgemäßer bürgerlicher Praxis, verwirklicht der Mensch sein wahres Wesen. In Übereinstimmung mit der Natur zu leben, bedeutet für ihn, in Gesellschaft zu leben. Die Gesellschaft, das ist nichts ‚Widernatürliches‘, ein der Natur des Menschen auferlegter Zwang, sondern der Ort vernünftiger Entfaltung dessen, was er ‚von Natur her‘ ist und sein kann.“398

Einerseits ist also der „wahre Bürger […] eigentlich kein Mensch mehr“399, denn die Erziehungsmaßnahmen greifen tief in seinen Seelenhaushalt ein und denaturieren seine spontane Menschennatur. Dadurch wird ihm andererseits aber erst zur Entfaltung seiner wahren Menschennatur verholfen. Er ist kein natürlicher Mensch mehr, insofern für ihn nicht mehr bloß seine individuellen Interessen maßgeblich sind. Weil er aber als Mensch als moralisches Vernunftwesen definiert ist, gewinnt gerade durch die Absage an das instinkthaft-tierische Verfolgen egoistischer Interessen die, wie Kant es nennt, Idee der „Menschheit in uns“ Gestalt. Die Stadt erscheint daher einerseits als Sphäre einer künstlichen und naturfernen Lebensweise, anderer-

397 Lübbe 1989: 116. 398 Ebd.: 9. – „Die Reflexion, dies ist ihr Negativum, trennt den Menschen für immer von der unmittelbaren ‚Natürlichkeit‘. Aber […]: der Gebrauch der Vernunft macht den Menschen erst zum Menschen“ (Nonnenmacher 1989: 206). 399 Ebd.: 242.

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seits ist sie aber gerade dadurch der Ort, an dem der Mensch als sozial denkendes und handelndes Gemeinschaftswesen zu seiner wahren Natur findet. Zu (b): Als Realisierung der zweiten Natur erfährt der Stadtbewohner als Staatsbürger seine Vergemeinschaftung, weil er dem allgemeinen Willen wieder wie einem Naturgesetz gegenübersteht. Diesem quasi-natürlichen und naturgesetzhaften Allgemeinwillen ist er allerdings nicht hilflos ausgeliefert, sondern er gestaltet ihn bewusst und Kraft seiner Vernunft mit. Wenn die gesellschaftlichen Gesetze, denen die Menschen unterworfen sind, den unwiderstehlichen Charakter von Naturgesetzen haben, dann steht der Mensch nicht dem Menschen, sondern einer Naturgewalt gegenüber. „Der Mensch muß nicht mehr sich selbst, sondern das fait social, den allgemeinen Willen wollen. Er muß das Gesellschaftsverhältnis als ein Naturverhältnis begründen, in dem er als einzelner untergeht“400, so wie er im Naturzustand dem einen Willen der Natur gehorchte. Indem der Mensch sich dem naturgleichen Allgemeinwillen unterordnet, wird er zum Bürger, der seine Individualität aufgibt.401 Damit hat er seine Existenzweise tatsächlich wieder der des reinen Naturzustandes angenähert. Denn an die Stelle der vorreflexiven Einheit mit Natur ist die Identifizierung mit der Gemeinschaft getreten. Dieser Identifizierung ist aber gerade das Moment der vernünftigen Reflexion wesentlich, denn der Allgemeinwille ist im Demokratismus definitionsgemäß Produkt der allgemeinen Menschenvernunft. Die Identifizierung mit dem Allgemeinwillen ist also vernünftig und daher auch, wie unten (siehe S. 207 ff.) noch deutlich werden wird, ein Akt der Freiheit. Stadt als Sphäre tugendhafter und gerechter Vernunft (Vorstellung 26) Wenn die Stadt der Ort ist, an dem der Allgemeinwille waltet, dann gehört sie zur Sphäre der Vernunft. Genauer gesagt ist sie (1) eine Herausforderung oder Bewährungsprobe für die Vernunft, (2) ist sie der Ort der Tugend und Gerechtigkeit und als solcher (3) Grund und Bedingung des wahren Menschseins. Zu (1): Zur Sphäre der Vernunft gehört die Stadt, weil sie der Ort einer gesellschaftlichen Ordnung ist, die sich am vernünftigen Allgemeinwillen orientiert. Dass Vernunft, und nicht wie im Liberalismus Verstand, das Zusammenleben ermöglicht, wird beispielsweise bei Kant deutlich. „Bei ihm wird die Gewaltdynamik des Naturzustands nicht durch ein Arrangement der Klugheit gebändigt, sondern durch eine ‚bürgerliche Verfassung‘ […] beendet, die einzurichten und nach reinen Rechtsprinzipien zu formen die Vernunft kategorisch von den Menschen und Staaten verlangt.“402 Die Vernunft hat sich der Herausforderung zu stellen, den isolierten und ungeselli-

400 Jonas 1968: 55. 401 Brandt 1973: 97. 402 Kersting 1995: 90.

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gen Menschen in einen friedlich vergesellschafteten Staatsbürger zu transformieren. Sie ist es, die von jedem Menschen fordert, die eigene Willkür so zu modifizieren und zu kontrollieren, dass sie sich dem Allgemeinwillen einordnet bzw. ihn konstituiert und mit der Freiheit aller anderen Menschen zusammen bestehen kann. Zu (2): Als Ort der Vernunft ist die Stadt auch der Ort, an dem Tugend und Gerechtigkeit herrschen. Der vernünftige Allgemeinwille bändigt die wildwuchernden Partikularinteressen; außerdem ist er definitionsgemäß auf das Allgemeinwohl ausgerichtet: Er hat stets das Wohl aller im Blick, strebt also die Durchsetzung gerechter Verhältnisse an. Als Sphäre gerechter Lebensverhältnisse hebt sich also die Stadt sowohl von der Wildnis, in der sich der Kampfstärkere durchsetzt, als auch von der Kulturlandschaft ab, in der den feudalen Grundherren und den sei es despotischen, sei es patriarchalisch-fürsorglichen Fürsten alle Macht zukommt. Zu (3): Als Sphäre einer vernünftigen, tugendhaften und gerechten Ordnung lässt sich die Stadt in der Tradition der antiken Polis auch als Grund und Bedingung des Menschseins deuten. Dieser Gedanke ist schon bei Aristoteles formuliert, er scheint wieder auf bei den französischen Materialisten sowie bei Rousseau und kann als für die demokratische Weltanschauung überhaupt wesentlich gelten. „Die Bedingung der Möglichkeit kontinuierlich vernünftigen Handelns [… ist…] die Polis. Die Polis als eine allumfassende Lebensordnung stellt mit ihren Institutionen, Sitten und Gewohnheiten die Formen bereit, in denen das Handeln des einzelnen sich entfaltet und aktualisiert.“403 Nur im demokratischen Staat kann sich also eine bestimmte Praxis, die durch erworbene Haltungen und Fähigkeiten, also eine staatsbürgerliche Erziehung, bestimmt wird, entwickeln. Außerhalb der Polis gibt es keine gelungene Praxis, „weil dort, wo sie nicht ist, auch die Strukturen für ein kontinuierlich vernünftiges Handeln fehlen. Da der Mensch seine Natur aber als Praxis verwirklicht, ist die Polis zugleich der Grund und die Bedingung seines Menschseins“404. Nur in der Stadt kann der Mensch also wahrhaft Mensch sein.

403 Lübbe 1989: 60. 404 Ebd. – „In diesem Sinne schreibt Aristoteles, daß die Polis selber ‚von Natur‘ ist und daß sie ‚früher‘ ist als der einzelne. Die Polis setzt nicht den einzelnen Menschen voraus, sondern umgekehrt braucht der Mensch, um in einem menschlichen, seiner Natur gemäßen Leben Mensch zu sein, die Polis.“ (Ebd.)

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Stadt als Sphäre der Emanzipation und der Öffentlichkeit (Vorstellung 27) Aus demokratischer Perspektive gilt einzig die Stadt als Ort wahrer Freiheit,405 ein „Reich vernünftiger Freiheit wohlgemerkt.“406 Diese ist das Ziel aller emanzipatorischen Bestrebungen, da sie die Verwirklichung der demokratischen Gemeinschaft ist und ihren Staatsbürgern ein gutes Leben in gerechten und freien Verhältnissen gemäß einer vernünftigen und natürlichen Ordnung ermöglicht. Während der liberale Staat seinen Bürgern Sicherheit verspricht, damit diese in Ruhe ihren Privatangelegenheiten nachkommen können, ist eines der primären Anliegen der demokratischen Weltanschauung die Wiederherstellung der Freiheit der Menschen,407 d. h. die Wiederherstellung der Freiheit der barbares. So sieht der Demokratismus die Stadt nicht nur als Sphäre der Freiheit von den Zwängen der Natur, sondern darüber hinaus (1) als Ort der Befreiung aus den ungerechten gesellschaftlichen Abhängigkeitsverhältnissen des gesellschaftlichen Kriegszustands. Als typisch für das demokratische Verständnis von Stadt gilt (2) die Idee der Öffentlichkeit als Ausdruck und Mittel von Freiheit. Zu (1): Der Demokratismus entwirft sein Ideal der Stadt als Sphäre der Freiheit in doppelter Frontstellung: Er wendet sich sowohl gegen die Unfreiheit, die die Bindungen der Feudalgesellschaft bedeuten, als auch gegen die Unfreiheit, die die Einzelnen im triebgesteuerten Konkurrenzkampf der kommerziellen Gesellschaft erfahren.408 Wir hatten bereits gesehen, dass – weil der Gesetzgeber als Gemeinschaft der Bürger mit den Gesetzunterworfenen, als Gesamtheit der Untertanen, identisch ist – jeder Einzelne in der Demokratie nur sich selbst gehorcht, und „Gehorsam gegen das Gesetz, das man sich selber vorgeschrieben hat, ist Freiheit“409. Gerade weil sich alle

405 Zwar wird auch im Gefühl des Erhabenen in der Wildnis auf die Freiheit verwiesen, doch der Ort dieser Freiheit ist eben die Stadt. 406 Adam 1999/2002: 113. 407 Fetscher 1975/1999: 103. 408 Das demokratische Stadtideal wendet sich dezidiert gegen das Kommerzielle, mit dem die Stadt ja (bislang wenigstens) wesensgemäß verbunden worden ist – so auch in den bisher behandelten Weltanschauungen, dem Liberalismus und dem Konservatismus, wenn dort auch freilich mit völlig konträren Wertzuschreibungen. 409 Rousseau 1762/1975: 24, CS I, 8. – Höffe (1983/2007: 201; unter Bezug auf Kant 1785/1996: §§ 4-8) weist darauf hin, dass die Idee der Selbstgesetzgebung zwar auf Rousseau zurückgeht, dass aber erst Kant „in dem von Rousseau mehr beiläufig erwähnten Gedanken das Grundprinzip der gesamten Ethik“ entdeckt. Kersting hebt in der Rechtsphilosophie Kants eine entsprechende Einstellung hervor: „Die Freiheit der Menschen in einem republikanisch verfaßten Staat besteht in dem Recht, nur allgemein anerkennungsfähigen Gesetzen unterworfen zu sein oder, wie Kant formuliert: ‚meine äußere (rechtliche)

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Bürger dem Allgemeinwillen unterwerfen, ist keiner von einzelnen Anderen abhängig. „Da das Ganze in Wirklichkeit […] alle sind (vgl. CS I, 6 […]), wird keiner von einem anderen abhängig, was wiederum heißt, daß alle unabhängig bleiben.“410 Die in der demokratischen Gemeinschaft erfahrbare Freiheit bedeutet also „Unabhängigkeit von der individuellen Willkür von Einzelmenschen“411. Einerseits soll also jeder nur sich selbst gehorchen, andererseits soll durch den Vertrag eine politische Gemeinschaft entstehen und die Anarchie, die zum Kampf aller gegen alle geführt hatte, bezwungen werden. Die Stadt ist ein Ort der Gemeinschaft, aber die demokratische Gesellschaftsordnung ermöglicht, die Gemeinschaft nicht als Abhängigkeitsverhältnis zu erleben. Vielmehr ist sie der privilegierte Ort oder – als Polis, aber auch als die mittelalterliche freie Stadt – der historisch erste Ort, unter den (notwendigen, gewordenen und historisch unhintergehbaren) Bedingungen der Vergesellschaftung als Staatsbürger Freiheit zu erfahren: „Bürger zu sein, bedeutet frei zu sein und in einer bürgerlichen Gemeinschaft als Freier unter Freien zu leben.“412 Die Stadt gilt daher als Ort der gelungenen Emanzipation von den in der Feudalgesellschaft gegebenen Bindungen und von der in der kommerziellen Gesellschaft herrschenden Abhängigkeiten aufgrund der ungezügelten Triebe der Einzelnen. Mit dieser Emanzipation geht auch eine Befreiung von der Ungerechtigkeit der feudalen und der kommerziellen Gesellschaft einher. Stadt als der Ort dieser Freiheit steht also zum einen gegen die Kulturlandschaft als Sinnbild ungerechter feudaler gesellschaftlicher Verhältnisse (und gegen deren Idealisierung im Konservatismus), zum anderen gegen Wildnis, verstanden als Prinzip des Siegs des Stärkeren im Konkurrenzkampf der kommerziellen Gesellschaft (und dessen Idealisierung im Liberalismus). Gerechtigkeit ist Inhalt der im Allgemeinwillen zum Ausdruck kommenden praktischen Vernunft und als solche Ziel und Bestimmung der Freiheit. Freiheit ist also kein Selbstzweck, sondern notwendige Bedingung tugendhaften Handelns, und der Mensch als Vernunftwesen ist dazu aufgefordert, in den sich auftuenden Freiräumen tugendhaft zu handeln.413

410 411 412 413

Freiheit … ist die Befugniß, keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Beistimmung habe geben können‘“ (Kersting 1995: 93). Nonnenmacher 1989: 241. Fetscher 1975/1999: 106. Lübbe 1989: 74 f. „Die Freiheit ist […] die Voraussetzung für die Moralität der menschlichen Handlungen. Wer daher seinen freien Willen aufgibt, der macht sich schuldhaft zum Werkzeug fremder Willkür.“ (Fetscher 1975/1999: 104) Dahinter verbirgt sich ein Seitenhieb geht gegen den Liberalismus, wo sich die Einzelnen ja aus freien Stücken, aus verstandesmäßiger Einsicht und eben nicht aus Vernunftgründen dem Leviathan vollständig unterworfen hatten, d. h. ihre Freiheit und damit sich selbst als autonome Subjekte aufgegeben haben.

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Zu (2): Die Idee der Freiheit ist im Demokratismus eng mit der der Öffentlichkeit verbunden:414 Öffentlichkeit ist zugleich Ausdruck und Maßstab der Freiheit. Die Freiheit, die die demokratische Gemeinschaft ihren Bürgern eröffnet, enthält, wie wir gerade gesehen haben, die Aufforderung zu tugendhaftem Handeln, das stets auf das Allgemeinwohl gerichtet ist.415 Das Moralische im Handeln der Einzelnen erhält also eine neue, nämlich öffentliche Qualität. Es tritt aus dem Raum privater Gesinnung, den der Liberalismus ihm reserviert hatte.416 Einerseits wird nur in der Sphäre der Öffentlichkeit die Freiheit, verstanden als Befähigung und Pflicht zum moralischen Handeln, relevant.417 Andererseits ist ohne Öffentlichkeit Freiheit nicht denkbar, da nur in der öffentlichen Sphäre die Mitbildung und Aushandlung des Allgemeinwillens sich vollzieht. In diesem Sinne bezeichnet Kant die Öffentlichkeit als „transcendentales und bejahendes Princip“418 der Politik. An diesem Punkt wird der Unterschied zur liberalen Urbanitätskonzeption deutlich. Das Wesen der Stadt wird nicht mehr im Kommerziellen gesehen; sie ist nicht mehr nur der Ort, der Sicherheit bietet für das Bestehen im kommerziellen Kampf. Vielmehr wird der Wesenskern der Stadt in den Bereich der Politik, der politischen Öffentlichkeit verlagert. Das demokratische Urbanitätsideal entwirft die Stadt, im Sinne der antiken Polis, als Ort der öffentlichen Auseinandersetzung um Freiheit und Gerechtigkeit.

414 Zur Bedeutung der Öffentlichkeit für die Demokratie Habermas 1971. 415 Lübbe (1989: 62) führt diesen Gedanken ideengeschichtlich auf Aristoteles zurück: „Die These von der Polis als dem Ort gelungenen Lebens mündet bei Aristoteles in den Gedanken der Identität des politischen und individuellen Glücks. […] Weil Glück jedoch in gelungener Praxis besteht, läuft die gegenseitige Durchdrungenheit von individuellem und allgemeinem Glück immer schon auf eine Praxis hinaus, die das Allgemeine im Blick hat. ‚Gelungene Praxis‘ ist in erster Linie ‚öffentliche‘ Praxis, ausgerichtet auf die Polis im Ganzen, die als dauerhafte intensive Gemeinschaft erlebt wird.“ 416 Ebd.: 90. 417 So ist für Habermas et al. (1961: 14) das Wesen der Demokratie vorrangig durch den Begriff der politischen Beteiligung (Partizipation) gekennzeichnet. „Zu den Gleichgewichtsbedingungen einer funktionierenden Demokratie gehört auch die Beteiligung der Staatsbürger an der Politik.“ 418 Kant 1795: 103; vgl. Rohrauer 2004: 26.

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Tabelle 4: Vorstellungen von Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt aus der Perspektive der demokratischen Weltanschauung.

Freiheit

Wildnis

Kulturlandschaft

Stadt

Sphäre der Unfreiheit und Abhängigkeit, aber auch der Emanzipation: (1) Unfreiheit von äußerer wilder Natur, (2) Verwilderung der kommerziellen Gesellschaft als Sinnbild gesellschaftlicher Abhängigkeit, (3) wilde Natur als Emanzipationsbegriff.

Sphäre der Rückständigkeit und der Emanzipation: (1) Schauplatz der Rückständigkeit: ländlichdumpfe Unvernunft, (2) emanzipatorisches Betätigungsfeld und Erziehungsmittel.

Stadt als Sphäre der Emanzipation und Öffentlichkeit: (1) Emanzipation von im Kriegszustand gegebener Abhängigkeit und Ungerechtigkeit, (2) Öffentlichkeit als Ausdruck und Maßstab der Freiheit

Sphäre der Unordnung durch wildwuchernde Interessenorientierung: Maßstab der Ordnung ist die Orientierung am Gemeinwohl und Allgemeinwillen; Wildnis bedeutet individuelle Interessenorientierung und egoistische Triebbefolgung.

Sphäre der gerechten Ordnung durch Orientierung am Gemeinwohl: (1) materielle Hinsicht (Produktionslandschaften, Versorgungsgerechtigkeit, geteilter Wohlstand), (2) ideelle Hinsicht (Ideal der zweckmäßigen Schlichtheit).

Sphäre der Ordnung zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit: (1) Die Gesellschaftsordnung ist künstlich, weil sie die Menschen zu Staatsbürgern denaturiert, (2) sie ist andererseits natürlich, weil sie die Staatsbürger zu ihrer zweiten Natur führt und der Allgemeinwillen naturgesetzäquivalent ist.

Ort der Selbstvergewisserung der Vernunft in der Erhabenheitserfahrung: Das autonome Subjekt erfährt eine Bestätigung seiner prinzipiellen intellektuellen Überlegenheit gegenüber der äußeren (wilden) Natur.

Ort der natürlichen Vernunft: (1) vernünftiges und natürliches Landleben in zweckmäßiger Schlichtheit gegen das unvernünftige Leben an despotischen Fürstenhäusern, (2) Sphäre der Versöhnung mit der Natur durch konkrete Arbeit in konkreter Natur.

Sphäre tugendhafter und gerechter Vernunft: (1) Stadt als Herausforderung der Vernunft, (2) Stadt als Ort der Tugend und Gerechtigkeit, (3) Stadt als Grund und Bedingung des Menschseins.

19 24 27

Ordnung

20 23 25

Vernunft

21 22 26

4.4 R OMANTISCHE V ORSTELLUNGEN VON W ILDNIS , K ULTURLANDSCHAFT

UND

S TADT

„Romantik“ bezeichnet hier, so wie auch die Begriffe Liberalismus, Konservatismus und Demokratismus, eine idealtypische Konstruktion einer bestimmten Weltanschauung. Mit diesem Begriff meine ich nicht die Zeit, also die „Epoche der Romantik“419, aber auch nicht einen abstrakten Begriff, so dass Romantik etwas wäre, was überall und zu allen Zeiten gefunden werden kann, wenn nur die definierten Merkmale vorhanden sind; sondern mit

419 Zur Schwierigkeit bei Epochenbildungen Schmoll 1977; Siegmund 2010: 5 f.

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„Romantik“ meine ich den Idealtyp eines individuellen Phänomens, das zu einer bestimmten Zeit und in einer bestimmten Kultur historisch aufgetreten ist.420 Obwohl ich die Romantik mit den anderen Weltanschauungen auf einer Ebene ansiedele, kommt ihr eine Sonderrolle zu, die in der Struktur ihres Gesellschaftsmodells liegt: Ihr Weltentwurf ist dezidiert apolitisch, wohingegen die drei anderen Weltanschauungen bei allen inhaltlichen Differenzen doch die Lösungen der Probleme der modernen Welt im Feld des Politischen sehen. Die romantische Weltanschauung kann allenfalls eine politische genannt werden, die Absistenz von der Politik und stattdessen die Erneuerung des allgemeinen Lebensgefühls propagiert.421 Diese Sonderrolle wirkt sich auch auf die Vorstellungen vom Verhältnis der Gesellschaft oder vielmehr des Individuums zu Freiheit, Ordnung und Vernunft, zu Natur und Landschaft aus. Daher unterscheiden sich auch die romantischen Vorstellungen von Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt deutlich von den bisher dargestellten. Die Romantik ist ebenso schwer zu fassen wie der Liberalismus, der Konservatismus oder der Demokratismus: Sie bietet sich dar als ein Geflecht von theologischen, ästhetischen, poetologischen und naturphilosophischen Überlegungen, die teilweise übereinstimmend, teilweise aber auch widersprüchlich sind. Diese Widersprüchlichkeit liegt – und darin gleicht das Problem, den Kern der romantischen Weltanschauung zu zeichnen, dem, das auch bei den anderen Weltanschauungen aufgetreten ist – (1) darin begründet, dass ihr Programm von unterschiedlichen Protagonisten zu unterschiedlichen Zeiten formuliert wurde. Zwischen Früh- und Spätromantik liegen mehrere Dekaden (die Zeit der literarischen Romantik in Deutschland wird zumeist in Zeit zwischen den 1790er und den 1830/40er Jahren angesiedelt)422, was zu teils erheblichen programmatischen Unterschieden geführt hat. Sie bestehen beispielsweise darin, dass (a) die Frühromantik durchaus eine reflektierte und insofern rationale Bewegung ist, während an der Spätromantik ein irrationales Moment stärker hervortritt.423 Sie zeigen sich (b) auch darin, dass die Frühromantik, im Sog einer Begeisterung für die Französische Revolution, eher mit liberalen und republikanischen Ideen sympathisiert hat, während die Spätromantik eher von restaurativen, konservativen Staatsideen geprägt ist.424

420 Zur Formulierung des Idealtyps der romantischen Weltanschauung beziehe ich mich vor allem auf Siegmund 2002; 2010; Koschorke 1990; darüber hinaus auch auf Apel 2000b; Bohrer 1989; Gill 2003; Kremer 2007; Ottmann 2002; Pesch 1966; Piepmeier 1980; Pikulik 2000; Praz 1930/1981; Praz 1930/1981; Safranksi 2007, Thalmann 1965. – Zur Idealtypenmethode siehe Kapitel 2.2. 421 Zur apolitischen Haltung der Romantik Bohrer 1989; Kremer 2007: 25; Siegmund 2010: 210 f; Uerlings 2000: 38-42. 422 Kremer 2007: 47; Uerlings 2000: 17. 423 Zu dieser Auffassung kritisch Bohrer 1989; Kremer 2007: 45 f. 424 Kremer 2007: 8-27; Safranksi 2007: 29-40, 172-192.

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„Auf die Gefahr einer plakativen Vereinfachung hin wird man sagen dürfen, daß die Frühromantik stärker durch [… ein] (theoriefreudige[s]) Bewußtsein […] der sich öffnenden Zukunft geprägt ist, während sich in der späteren Romantik der Blick häufiger auf die Kehrseiten der neuen Zeit, die mit ihr verbundenen Verluste und die Notwendigkeit einer durch die Rückwendung auf Vergangenes gestützten Erneuerung richtet.“425

Bei der idealtypischen Formulierung der romantischen Weltanschauung rekurriere ich zwar primär auf die Gedankenwelt der Frühromantik, dennoch werden bestimmte Elemente integriert, die eher für die Spätromantik charakteristisch sind, wie die Betonung des Phantastischen und Wunderbaren. Denn man kann von einem „spannungsvollen Gesamtzusammenhang der Romantik“426 ausgehen, der sich nur dann darstellen lässt, wenn man sich nicht ausschließlich auf eine ihrer Phasen stützt: „Die Besonderheit der Frühromantik und ihren theoretischen Impetus herauszustreichen, bedeutet freilich nicht, die Einheit einer – wenn auch schwer abzugrenzenden – Epoche der Romantik (oder einer romantischen Gruppe) zu bestreiten.“427 Man kann die internen Widersprüche dieses Gesamtzusammenhangs (2) auch als Teil der romantischen Programmatik deuten.428 (Ich schließe mich dieser Interpretation der Romantik an; daher konstruiere ich sie mit all ihren Widersprüchen als einen Idealtyp.) Pesch bezeichnet in diesem Sinne die „Vermischung des Unvermischbaren“ als eine „für das romantische Denken typische“429 Denkform. Dass die Romantik Widersprüchliches zu vereinen sucht, wird vor dem Hintergrund der hier angelegten Prämisse schnell einsichtig: Als eine Variante des Dritten Weges versucht sie das definitionsgemäß. Doch während die „Vermischung des Unvermischbaren“ dem Demokratismus, einer anderen Variante des Dritten Weges, (weitgehend) widerspruchsfrei gelingt, stilisiert sich die Romantik als Ausdruck der Zerrissenheit ihrer Epoche ganz bewusst als voller Widersprüche.

425 426 427 428

Uerlings 2000: 21. Kremer 2007: 45. Uerlings 2000: 12. Diese Ambivalenzen erkennt Siegmund (2010: 222) in der romantischen Ideallandschaft wieder. Diese vereine die Gegensätze zwischen (1) der schönen und der erhabenen Landschaft, (2) der Stimmungslandschaft und der symbolischen Landschaft und (3) zwischen der Landschaft als Ausdruck eines Verlusts und der Sehnsucht. 429 Beide Zitate Pesch 1966: 305.

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Romantik als apolitische Aufklärungskritik Die Romantik wird, wie der Konservatismus, von dem Bewusstsein getragen, dass die Aufklärung eine gute, Sinn stiftende Ordnung beseitigt habe, selbst aber mit ihrem Gegenentwurf, insbesondere im Hinblick auf einen Ersatz der religiös gewährleisteten Sinngebung durch die Vernunft, gescheitert sei, so dass ein Sinndefizit entstanden sei.430 Die Erfahrung dieses Sinnverlusts thematisiert Novalis in seinem Fragment Die Christenheit oder Europa. Er beschreibt darin die Zeit des mittelalterlich-christlichen Europa als eine, in der jeder Mensch seinen ihm zugedachten Platz im großen, vom „weise[n] Oberhaupt der Kirche“431 geführten Ganzen einnahm, was ihm ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und Halt in der Welt ermöglichte. „Es waren schöne, glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Weltteil bewohnte; Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs. – Ohne große weltliche Besitztümer lenkte und vereinigte Ein Oberhaupt die großen politischen Kräfte. – Eine zahlreiche Zunft, zu der jedermann den Zutritt hatte, stand unmittelbar unter demselben und vollführte seine Winke und strebte mit Eifer seine wohltätige Macht zu befestigen. Jedes Glied dieser Gesellschaft wurde allenthalben geehrt, und wenn die gemeinen Leute Trost oder Hülfe, Schutz oder Rat bei ihm suchten und gerne dafür seine mannichfaltigen Bedürfnisse reichlich versorgten, so fand es auch bei den Mächtigeren Schutz, Ansehn und Gehör, und alle pflegten diese auserwählten, mit wunderbaren Kräften ausgerüsteten Männer, wie Kinder des Himmels, deren Gegenwart und Zuneigung mannichfachen Segen verbreitete. Kindliches Zutrauen knüpfte die Menschen an ihre Verkündigungen.“432

Als Ursache des Sinndefizits identifiziert die Romantik die mit der Subjektermächtigung einhergehende Entzauberung sowohl der irdischen Welt als auch der höheren göttlichen Ordnung. Zu den „frechen Ausbildungen menschlicher Anlagen auf Kosten des heiligen Sinns“433 zählt Novalis die Reformation und – als noch schwerwiegender – die Aufklärung, die in Opposition zur Religion trat und ihre „herrlichen, großen Erscheinungen des Überirdischen“434 entwertete: „[D]ie Gelehrten gewannen desto mehr Feld, je mehr sich die Geschichte der europäischen Menschheit dem Zeitraum der triumphierenden Gelehrsamkeit näherte, und

430 431 432 433 434

Vgl. Siegmund 2010: 209. Novalis 1799/1996: 24. Ebd.: 23. Ebd.: 24. Ebd.: 29.

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Wissen und Glauben in eine entschiedenere Opposition traten. Im Glauben suchte man den Grund der allgemeinen Stockung, und durch das durchdringende Wissen hoffte man sie zu heben. Überall litt der heilige Sinn unter den mannichfachen Verfolgungen seiner bisherigen Art [...]. Das Resultat der modernen Denkungsart nannte man Philosophie, und rechnete alles dazu, was dem Alten entgegen war, vorzüglich also jeden Einfall gegen die Religion.“435

Zwar kennt auch die demokratische Aufklärung die Idee einer höheren Ordnung. Aber die Bedingungen dafür, dass man diese erkennen kann, sind gerade das autonome Subjekt, Freiheit und Vernunft, wodurch die Vorstellung einer höhere Ordnung entsteht, die für die Romantiker keinen Zauber mehr haben kann. Die Beziehung zu ihr wird zum nüchternen moralischen Geschäft. Sie ist zwar nicht frei von Gefühlen – so kennt Kants Philosophie durchaus das „moralische[..] Gefühl“436 – das ist aber „praktisch-gewirkt“437, d. h. vernunftgewirkt. Der Romantiker Friedrich Schleiermacher setzt daher gegen ein Verständnis von Religion als, wie Kant es formuliert, „Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote“438, die Definition als „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“439, als „Anschauen des Universums“440. Die Religion steht für die Romantik somit in einem „schneidenden Gegensatz“441 zur Metaphysik und zur Moral. „Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüssen will sie sich in kindlicher Passivität ergreifen und erfüllen lassen.“442

Religion als diese Anschauung des Universums bedeutet ein Eintauchen in das Ganze der unendlichen Natur: „Die Religion lebt ihr ganzes Leben auch in der Natur, aber in der unendlichen Natur des Ganzen, des Einen und Allen“443. So kann der Einzelne wieder „Anteil am Handeln der Weltseele“444 erlangen. Um die mit der Aufklärung verlorene Einheit mit der Seele des Universums (wieder-)herzustellen, soll sich der Mensch erneut, aber auf ganz andere Weise in das übergreifende Ganze der Natur einordnen. In dieser Ganzheitserfahrung gelingt dem Romantiker die (Wieder-)Verzauberung

435 436 437 438 439 440 441 442 443 444

Ebd.: 32. Kant 1785/1996: 195, A 133. Ebd.: 196, A 134, i. O. hervorg. Ebd.: 261, A 233. Schleiermacher 1799/2000: 59. Ebd.: 60. Ebd.: 57. Ebd. Ebd.: 58. Apel 2000a: 60.

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der Welt und der höheren Ordnung. Wir werden noch sehen, dass – da Religion von den Romantikern wesentlich als Kunstreligion, in der Natur und Landschaft eine entscheidende Rolle zukommt, bestimmt wird – die Verzauberung durch die Ganzheitserfahrung in der Natur sehr eng auf die in der Kunst bezogen ist. Die Romantik bekämpft also wie der Konservatismus die Aufklärung und ihre Konsequenzen. Sie unterscheidet sich von ihm aber (a), weil sie – als Dritter Weg – progressive Theorieelemente in ihr aufklärungskritisches Denken auf spezifische Weise integriert sowie (b) dadurch, dass sie nicht politisch ist. Auch wenn ihr mit dem Konservatismus die Ablehnung des aufklärerischen Welt- und Geschichtsmodells gemeinsam ist, so entwirft sie doch ein Gegenmodell, das sich inhaltlich und strukturell grundlegend von dem des Konservatismus unterscheidet: Die Romantik verlässt die gesellschaftlich-politische Ebene ganz zugunsten des persönlichen und ästhetischen Erlebens.445 Sie unterscheidet sich vom Konservativismus ferner dadurch, dass sie, wenigstens in der Form, die im Rahmen dieser Arbeit als Kern rekonstruiert wird und die man am ehesten in der Frühromantik antrifft, mit der Aufklärung die Überzeugungen teilt, dass alle Menschen gleich seien und Zukunft offen sei. Sie entwickelt selbst eine in gewissem Sinne progressive Zukunftsutopie: Der Entzauberung der Welt durch die Aufklärung hält sie eine neue Ganzheit, eine in der Kunst und durch die Kunst entgegen. Die Ganzheitserfahrung kann dem Verständnis der Romantik nach jedoch nicht die Vernunft – wie es den anderen drei Positionen gemeinsam war, selbst wenn „Vernunft“ dort jeweils unterschiedlich bestimmt wurde –, sondern nur, wie sich gleich zeigen wird, das Gefühl in der Kunst gewährleisten. Nach einigen Vorbemerkungen zur Bedeutung von Kunst, Natur und Landschaft in der romantischen Weltanschauung, aus denen die Sonderstellung der Romantik im Vergleich zu den anderen Weltanschauungen deutlich wird, differenziere ich im Hauptteil des Kapitels verschiedene Vorstellungen, die sich mit Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt verbinden. Vorbemerkungen: Zur Bedeutung von Kunst, Natur und Landschaft in der Romantik Die Romantik denkt, darin dem Liberalismus und der Demokratie nicht unähnlich, das Subjekt wesentlich als schöpferisches. Sie greift die aufkläreri-

445 Vgl. Siegmund 2010: 211, 212 ff. – Der Frühromantik werden zwar, im Gegensatz zur Spätromantik, progressive Züge, Kremer (2007: 27, i. O. hervorg.) spricht sogar von „revolutionäre[n] Neuerungen“, zugeschrieben, aber die Formulierungen eines romantischen Staatsbegriffes erweisen sich letztlich als Beitrag zu einer ästhetischen Theorie; sie enthalten keine praktikable Politik, wie Kremer (ebd.: 24 f.) für Novalis’ staatspolitischen Entwurf zeigt.

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sche Idee auf, dass es sich seine Welt selbst schafft. Ganz deutlich wird dies in dem philosophisch-ästhetischen Fragment aus dem Kreis des „Tübinger Stifts“ um Hegel, Schelling und Hölderlin, das als Ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus bekannt wurde. Dieses Fragment versteht sich als „Ethik“, die aus Fichtes Vorstellung des absoluten Ich ein „vollständiges System aller Ideen“ entwickelt: „Die erste Idee ist natürlich die Vorstellung von mir selbst, als einem absolut freien Wesen. Mit dem freien selbstbewußten Wesen tritt zugleich eine ganze Welt – aus dem Nichts hervor – die einzig wahre und gedenkbare Schöpfung aus dem Nichts“.446 Deutlich wird die Idee des schöpferischen Subjekts, wenn Caspar David Friedrich „frei und offen“ gesteht, dass er „nimmer und nie“ der Meinung beipflichten werde, dass es „Aufgabe und Forderung unserer Zeit, der Kunst“ sei, nur das wiederzugeben, „was man mit leiblichen Augen gesehen und strenge und getreu nachgeäfft“447 habe. Es ist ihm kein „töricht Ding“, dass die Kunst aus dem „Innern des Menschen hervorgehen muß“448. Die Romantik integriert aber den Gedanken des schöpferischen, autonomen Subjekts durch eine grundlegende Uminterpretation in ein Weltbild, das der Aufklärung in wesentlichen Punkten entgegengesetzt ist:449 Die Vorherrschaft der Vernunft soll abgelöst werden durch das poetische Gefühl als höheres Vermögen des Subjekts. Vor diesem Hintergrund erscheint Friedrichs Äußerung, ein „Bild muß nicht erfunden, sondern empfunden werden“450, nicht mehr als Widerspruch zu seinem Vorgehen, seine Landschaftsgemälde aus verschiednen Skizzen an verschiedenen Örtlichkeiten zu „KompositLandschaften“451 zusammenzusetzen. Wenn Naturszenen nicht einfach kopiert werden sollen, das Richtmaß ihrer Komposition aber auch keine mechanisch-vernünftige Regel sein soll, so bleibt nur das Gefühl, die ästhetische Einbildungskraft als kompositorisches Prinzip. Romantische „Weltbemächtigung“ bzw. „Welterkennen“, wie Novalis es nennt, ist daher vom vernunftbestimmten Erkennen zu unterscheiden. „Das romantische Welterkennen ist nicht Sache der rationalen Reflexion, sondern des Lebens, des Erlebens im ganz und gar emotionellen Bereich. Es geht nicht um objektive Erkenntnis einer objektiven Welt, sondern um ihr subjektives Innewerden, um das Einströmen des Ich in die Grenzenlosigkeit der Welt, um Weltbemächtigung durch Verschmelzung mit der Weltseele.“452

446 Hegel et al. 1797/1917/2000: 54. 447 Alle Zitate Friedrich, in Hinz 1974: 116 f. 448 Friedrich in Hinz 1974: 91. – Ähnlich auch bei Philipp Otto Runge, vgl. Piepmeier 1980: 20 f. 449 Siegmund 2010: 217. 450 Friedrich in Hinz 1974: 92, Hervorh. V. V. 451 Hofmann zit. n. Piepmeier 1980: 18. 452 Pesch 1966: 306.

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Grundlage für diese Verschmelzungs-Vorstellung ist die als Problem empfundene Idee von einer „Trennung der Welt in Ich und Nicht-Ich, Subjekt und Objekt, Freiheit und Unfreiheit, Denken und Sein, ideal und real“453 und die Lösung dieses Problems in der Idee einer „Aufhebung oder Einheit dieser Gegensätze als Vollendung des Ichs“ bzw. als „Erhebung des Ichs zu sich selbst“454. Diese Verschmelzungsvorstellung wurde in der idealistischfrühromantischen Philosophie, z. B. bei Schelling, Novalis und Hölderlin, aus der Idee einer letztgründigen Identität von Natur und Geist abgeleitet. In ihr wiederholt sich die Aufhebung der Trennung von Subjekt und Objekt. Sie „postuliert ein jeder Reflexion vorausliegendes Sein als noch ungeschiedene Subjekt-Objekt-Einheit. Dieses kann, darin liegt die Fichte-Kritik, nicht die Struktur des Selbstbewusstseins haben.“455 Pointiert formuliert Hölderlin in einem Brief an Hegel die Schwäche der Philosophie Fichtes: „(Fichtes) absolutes Ich enthält alle Realität; es ist alles, u. außer ihm ist nichts; es gibt also für dieses abs. Ich kein Objekt, denn sonst wäre nicht alle Realität in ihm; ein Bewußtsein ohne Objekt ist aber nicht denkbar, und wenn ich selbst dieses Objekt bin, so bin ich als solches notwendig beschränkt, sollte es auch nur in der Zeit sein, also nicht absolut; also ist in dem absoluten Ich kein Bewußtsein denkbar, als absolutes ich habe ich kein Bewußtsein, und insofern ich kein Bewußtsein habe, insofern bin ich (für mich) nichts, also das absolute Ich ist (für mich) Nichts.“456

Die romantischen Philosophen führen gegen Fichtes „absolutes Ich“ den Begriff des „absoluten Seins“ als die einer der Subjektivität vorausliegenden Einheit von Subjekt und Objekt ein. Kenntnis von diesem absoluten, aller Reflexion vorausliegendem Sein hat das Subjekt „nicht begrifflich, sondern durch unmittelbare Anschauung. Da sie sich auf Nicht-Sinnliches richtet, nennt Hölderlin sie, ähnlich wie Schelling, ‚intellektuale Anschauung‘, Novalis und andere sprechen von ‚Gefühl‘.“457 Der Romantiker erkennt die Welt und bemächtigt sich ihrer, indem er mit ihr, mit der „Weltseele“ ver-

453 Siegmund 2010: 213. 454 Beide Zitate Beierwaltes 1982/2004: 12. 455 Uerlings 2000: 23 f. – Zur Weiterentwicklung Kants bei Fichte und zur Kritik der Romantik an Fichte Kremer 2007: 90 f.; Siegmund 2010: 213; Uerlings 2000: 21-27. 456 Hölderlin in Brief an Hegel am 26.1.1795; zit. n. Tang 2007: 184 f. 457 Uerlings 2000: 24. – Uerlings (ebd.: 25) bemerkt, dass die Kritik der Selbstbewusstseins-Philosophie zu „einem gründlich veränderten Verständnis des Verhältnisses von Subjekt und Objekt“ geführt hat: „Während bei Fichte durchgängig von ‚Kampf‘, ‚Krieg‘ und ‚Unterwerfung‘ des Nicht-Ich durch das Ich die Rede ist, heißt es bei Novalis pointiert: ‚Statt N(icht)-I(ch) – Du‘ (N III, 430: 820). An die Stelle der Herrschaftsmetaphorik tritt eine auf die Gleichursprünglichkeit von Ich und Nicht-Ich, Geist und Natur, Subjekt und Objekt gegründete Liebesphilsophie und -religion.“

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schmilzt: Welt, Natur, Gott und Ich vereinigen sich. „Das romantische Ich ist Gott und Welt in einem. Es ist alles zugleich, mit allem identisch.“458 Diese „völlige Verschmelzung […] geschieht, indem das Ich aus der Sphäre des Bewußtseins dorthin übertritt, wo es kein Bewußtsein von sich hat, wo es ohne zu reflektieren einfach ist, also im Unbewußten, im Traum, Rausch, Ekstase, wo das Ich ganz Gefühl, Emotion, Leidenschaft ist, in der Liebe vor allem, oder aber im Tod.“459 Sie kann einzig durch den künstlerischen Subjektbezug geleistet werden. Die Romantik traut also der Kunst zu, was dem rationalen Selbstbezug der Aufklärung in ihren Augen versagt bleibt, nämlich die Aufhebung der Entzweiung und ein Erfassen des Absoluten.460 Die romantische Kunst erhebt den Anspruch, „mit einer ‚neuen Mythologie‘ zum Schöpfer, Medium und Bewahrer eines neuen umfassenden Deutungssystems zu werden, einer neuen Religion als ‚Kunstreligion‘, die ‚künstliche‘, d. h. mit dem Bewusstsein geschaffene Religion wäre, wie auch Kunst als Religion und Religion als Kunst“461. Der Kunst wird also zugemutet, das Sinnvakuum, das durch den Verlust der Religion als Sinninstanz entstanden ist, zu füllen. „Im Kunstwerk – und nur dort – manifestiert sich ein unendlicher Gehalt, der als Wiederbeschaffung des Ursprungs (vor allen Trennungen) eine höhere Wirklichkeit darstellt.“462 Dadurch verschieben sich die Gewichtungen zwischen Religion und Kunst: Es ist nicht mehr der religiöse Diskurs, der den künstlerischen und poetischen umgreift, sondern es umgreift „der poetische den religiösen, in einer unmerklichen Verschiebung, die gleichwohl einen grundlegenden Bedeutungswandel zur Folge hat“463. Im Stichwort der neuen Mythologie laufen die Ideen des schöpferischen Subjekts, der Kunst, der Religion und der Kritik an der aufklärerischen Vernunft zusammen. Das Ziel einer neuen Mythologie besteht darin, die der Antike zugeschriebene und in der Moderne verloren geglaubte, in sich ruhende Totalität durch einen neuen Bezugspunkt zu erneuern. „Es fehlt“, so schreibt Friedrich Schlegel „unsrer Poesie an einem Mittelpunkt, wie es die Mythologie für die der Alten war“, nur um gleich hinzuzusetzen: „wir sind nahe daran eine zu erhalten, oder vielmehr es wird Zeit, daß wir ernsthaft dazu mitwirken sollen, eine hervorzubringen.“464 Den Kern der neuen My-

458 Pesch 1966: 307. – In der Identifikation von Gott und Welt im romantischen Ich wird der Endzweck des Subjekts gesehen. Schelling formuliert: „Man kann also auch sagen, der letzte Endzweck des Ichs sei, die Freiheitsgesetze zu Naturgesetzen, und die Naturgesetze zu Freiheitsgesetzen zu machen, im Ich Natur, in der Natur Ich hervorzubringen.“ (Schelling 1795/1911: 50, Fußnote 2) 459 Pesch 1966: 305. 460 Siegmund 2010: 213. 461 Piepmeier 1980: 17. 462 Siegmund 2010: 215. 463 Koschorke 1990: 188. 464 Alle Zitate Schlegel 1800/2000b: 82.

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thologie macht jedoch nicht die Zitation älterer Mythen aus. Daher kritisiert auch Caspar David Friedrich die Nazarener scharf, denn die frühere, „wenngleich schöne Kunstzeit“ ist nicht nachzuahmen. „Was unsere Vorfahren in kindlicher Einfalt taten, das dürfen wir bei besserer Erkenntnis nicht mehr tun.“465 Statt das Alte naiv zu reproduzieren, muss die individuelle und autonome Schaffenskraft des schöpferischen Subjekts aus der Tiefe des Inneren die neue Mythologie mit hervorbringen: „Die neue Mythologie muß im Gegenteil aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden; es muß das künstlichste aller Kunstwerke sein, denn es soll alle andern umfassen, ein neues Bette und Gefäß für den alten ewigen Urquell der Poesie und selbst das unendliche Gedicht, welches die Keime aller andern Gedichte verhüllt.“466

Die aufklärungskritische Stoßrichtung zeigt sich hier zum einen in der Hinwendung zum Mythos selbst. Während aus aufklärerischer Sicht die Mythen der verschiedenen Kulturen als „prärationale Frühformen der Weltauslegung“467 erscheinen und Mythenforschung daher immer Mythenkritik bedeutet, sehen die Romantiker die Mythen gerade als „festen Halt“ und „mütterlichen Boden“468. Der ausklärungskritische Impetus zeigt sich zum anderen in der Bestimmung als „Mythologie der Vernunft“469, wie Hegel, Schelling und Hölderlin formulieren. Mythos, Vernunft und Ästhetik werden zusammengezogen, indem Mythologie und Ästhetik gleichgesetzt werden und „der höchste Akt der Vernunft, der, indem sie alle Ideen umfaßt“, als „ästhetischer Akt“470 definiert wird. So kann die Mythologie, oder die „Poesie“ wieder zu dem werden, „was sie am Anfang war – Lehrerin der Menschheit“471. Welche Funktionen kommen in diesem Zusammenhang Natur und Landschaft als Thema der Kunst zu? „An die Landschaft heftet sich […] die Hoffnung einer neuen Mythologie und die Verheißung des Paradieses“ 472. In der Landschaft sollen die durch die Abstraktionen verursachten Trennungen zwischen Ich und Natur bzw. Gott aufgehoben werden. „Landschaft soll die Form sein, die unter der Bedingung der Abstraktion den alten Gedanken anschaulich gegenwärtig hält. Landschaft ist die Überwindung der Abstraktion unter der Bedingung der Abstraktion.“473

465 Beide Zitate Friedrich in Hinz 1974: 111. 466 Schlegel 1800/2000b: 83. 467 Kremer 2007: 108, i. O. hervorg.; vgl. dazu auch Habermas 1981/1995a: 72113, insb. 74, Fußnote 73. 468 Beide Zitate Schlegel 1800/2000b: 82. 469 Hegel et al. 1797/1917/2000: 56. 470 Beide Zitate Hegel et al. 1797/1917/2000: 55. 471 Ebd. 472 Piepmeier 1980: 19. 473 Ebd.: 20.

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„In diesem Zusammenhang wird – auf den ersten Blick paradox – beides gestärkt: der Natur- und der Kunstcharakter der Landschaft, denn eine menschlich umgeformte Natur stellt zwar das Ideal dar, aber nur eine im Sinne der Poesie umgeformte. Das heißt: Einerseits wünscht sich die Romantik eine Natur, die sich der wissenschaftlichen oder technischen Aneignung und damit Banalisierung entzieht. […] Natur muß dem Menschen vorgängig sein bzw. so betrachtet werden können. Andererseits muß die Natur künstlich sein, in dem Sinne, daß sie poetisch neu geschaffen wurde, d. h. daß sie möglichst viele geheimnisvolle Spuren aufweist, die für die poetische Einbildungskraft zum Ausgangspunkt eines offenen ‚Vorträumens‘ werden können.“474

Dass Landschaft künstlerisch geschaffen sein muss, um Ausgangspunkte für die poetische Einbildungskraft zu bieten, bedeutet, dass im künstlerischen Schaffen weniger der Natur als vielmehr, wenn auch an diese gebunden, dem eigenen Inneren Ausdruck zu verleihen ist. So ist zwar die Landschaftserfahrung der Romantik auf der einen Seite allumfassend – sucht sie doch die Einheit mit der ganzen Natur, um die Weltseele zu ergründen. Auf der anderen Seite ist sie aber auch zutiefst individuell – insofern es ihr um die Darstellung der Innenwelt des Künstlers geht.475 4.4.1 Wildnis in romantischer Perspektive – poetisches Gefühl, schöne Verwirrung und Freiheit von den Zwängen der Vernunft Wildnis kommt in der Romantik eine einzigartige Stellung zu: Sie wird um ihrer selbst willen aufs Höchste geschätzt und nicht mehr nur, wie in den anderen Weltanschauungen, als Mittel zum Zweck geduldet oder gar als Sphäre der Unordnung und Triebhaftigkeit verdammt. In diesem Kapitel möchte ich darlegen, dass Wildnis erstens als Sphäre der Unabhängigkeit von einer entfremdenden Vernunft, zweitens als Ort einer angenehmen Verwirrung und drittens als Sphäre der Freiheit begriffen wird (siehe Tabelle 5, S. 245). Gegenpol der Vernunft und Sphäre des poetischen Gefühls (Vorstellung 28) „Denn das ist der Anfang aller Poesie, den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft aufzuheben und uns wieder in die schöne Verwirrung der Fantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen“.476 An diesen Worten Friedrich Schlegels zeigt sich zum einen die romantische Abneigung gegen die Vernunft. Die Romantik formuliert eine forschrittsskeptische Kritik an den Ideen und Folgen der Aufklärung.

474 Siegmund 2010: 221. 475 Ebd.: 222 f. 476 Schlegel 1800/2000b: 88.

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So spricht Novalis von der „Schädlichkeit der Kultur einer gewissen Stufe“477. Zu den Schritten, die die Kultur auf diesem Weg nahm, rechnet er die Reformation und vor allem die Aufklärung, die die Vernichtung des „heiligen Sinns“478 zu verantworten hätten. Die Vernunft der Aufklärung und ihr Religionshass haben die Entzauberung der Welt vorangetrieben und „die unendliche schöpferische Musik des Weltalls“ umgewandelt „zum einförmigen Klappern einer ungeheuren Mühle, die vom Strom des Zufalls getrieben und auf ihm schwimmend, eine Mühle an sich, ohne Baumeister und Müller, und eigentlich ein echtes Perpetuum mobile, eine sich selbst mahlende Mühle“479 ist. Zum anderen zeigt das eingangs gebrachte Zitat sehr deutlich, was der Vernunft positiv entgegengesetzt wird: „Verwirrung“ und „Chaos“, deutbar als eine Form von Wildnis, denen die Attribute „schön“ und „ursprünglich“ beigelegt werden. ‚Wildnis‘ wird also positiv besetzt und der Vernunft entgegengesetzt. Wilde Natur als Gegenpol der Vernunft zu etablieren ist keine exklusiv romantische Idee, wie wir in den vorangegangenen Kapiteln gesehen haben. Es ist aber ein ausschließlich romantischer Wesenszug, die Vernunftwidrigkeit der Wildnis wertzuschätzen.480 In drei Punkten kann sie den Romantikern als der Vernunft entgegengesetzt erscheinen: Wildnis versinnbildlicht (1) die dunkle Seite der Natur, auch der eigenen, ihre Bedrohlichkeit kann (2) zum Medium der Verzauberung werden und sie macht (3) die Vergeblichkeit einer jeden Sinnsuche augenscheinlich. Zu (1): Das in der Aufklärung aus der vernünftigen Seite der Natur Ausgegrenzte, d. h. für nicht rational und nicht real erklärte, taucht in der romantischen Weltanschauung als eine höhere Art von Wirklichkeit wieder auf. Die aufklärerische Vorstellung einer rein vernünftigen Natur erscheint nicht allein als Ausdruck eines (verwerflichen) Emanzipationsaktes, sondern vor allem als Ergebnis einer Verdrängungsleistung. In der romantischen Kunst wird die dunkle, sich der Vernunft entziehende Seite der Natur nicht verdrängt und aus der Ästhetik ausgegrenzt, sondern künstlerisch verarbeitet und dargestellt: Das Unbewusste hat Konjunktur, die Grenzen zwischen Vernunft und Wahn geraten in Fluss, Traum und Wirklichkeit werden ununterscheidbar. Dem aufklärerischen Primat des Verstands wird ein „komplexes, in sich widersprüchliches Triebbündel“ gegenübergestellt, „in dem den irrationalen, gefühlsbetonten und unbewussten Komponenten ein erheblich stärkerer Stellenwert zukommt“481. Die Romantik fördert die verdrängten

477 478 479 480

Novalis 1799/1996: 26. Ebd.: 24. Beide Zitate Novalis 1799/1996: 32. Zwar kann auch im Konservatismus Wildnis gegen die Vernunft der Aufklärung gesetzt werden, es geht dann aber darum, sich im Jungbrunnen der Wildnis der rechten Vernunft zu besinnen. Das romantische Misstrauen der Vernunft insgesamt gegenüber reicht jedoch weit tiefer. 481 Beide Zitate Kremer 2007: 81.

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Nachtseiten des Ich zutage. „Der Metapher des ‚Förderns‘ korrespondiert die Rekurrenz von Höhlen und Bergwerken, in denen keine Kohlen, sondern die gewalttätigen, sexuellen, jedenfalls verdrängten Wünsche des eigenen Innern und der eigenen Kindheit gefunden werden.“482 Die literarischen Texte sind also auch psychologische Reflexionen, wobei die Romantiker weniger an psychologisch durchgebildeten Charakterhelden interessiert sind, sondern vielmehr der Text insgesamt ein, wie Hartmut Böhme es genannt hat, „strukturales Feld“ ist, „welches man als protopsychoanalytisch ansehen kann“483. Mario Praz hat für diese Auseinandersetzung mit dem dunklen Unbewussten den Begriff der „schwarzen Romantik“484 geprägt. Die wilde, schauerliche oder bedrohliche Landschaft spiegelt gemäß der romantischen Kunsttheorie die Abgründe der eigenen Seele. Sie fungiert „als Projektionsfläche untergründiger Leidenschaft und Bedrohlichkeit“485 und korrespondiert dem Seelenzustand des Romantikers, der, aus der göttlichen Ordnung gerissen, unter der Empfindung des Sinnverlusts von unheimlichen Gedanken heimgesucht und sich seiner Zerrissenheit und seines Scheiterns bewusst wird. Die Romantik wirft einen „andere[n] Blick auf die Landschaft“, dieser „verwandelt sich im Scheitern der künstlerischen Bewältigung zur Entfremdung […] in jenen Schauerblick, der die verdrängte Bedrohlichkeit der Natur wieder zutage fördert“486. Zu (2): Die Bedrohlichkeit und Unheimlichkeit der chaotischen Wildnis kann zum Mittel der Verzauberung der Welt werden: Im Schrecklich-Schauerlichen ist eine dynamische Grenzüberschreitung der alltäglichen und beherrschbaren, also der vernunftadäquaten Natur angelegt. Von der wilden Natur geht „eine mit Gefahren verbundene Lockung und Verzauberung aus“487. Sie ruft den heiligen Schauer hervor als einzige Modalität, in der unter den Bedingungen der wissenschaftlichen und philosophischen Durchdringung der Natur diese noch als unendlich, unfassbar und geheimnisvoll erfahren werden kann. Gleichzeitig offenbart sich hier das wahre Wesen der Natur, das hinter ihren Erscheinungen verborgen liegt, und ihre unendliche Größe, die sie dem Menschen übergeordnet erscheinen lässt, wird erlebbar.488

482 Ebd.: 83. – Kremer verweist auf Novalis’ Heinrich von Ofterdingen, Hoffmanns Die Bergwerke zu Falun oder Tiecks Die Elfen und Der Runenberg. 483 Beide Zitate Böhme 1981: 136. 484 Praz 1930/1981. 485 Apel 2000a:113. 486 Ebd.: 115 f. 487 Ottmann 2002: 360. 488 Ein solcher Schauer ergreift beispielsweise den Titelhelden in Tiecks Briefroman William Lovell, als er in Rom das mondbeschienene Pantheon betritt. Zwar ist das Pantheon wahrlich keine Wildnis, aber was es verzaubert und was den heiligen Schauer hervorruft, ist der nächtliche Mond, der alles in ein unheimliches Licht taucht: „So gerieth ich an das Pantheon, ich ging hinein und

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Zu (3): Als Gegenpol zur Vernunft erscheint Wildnis auch, weil ihre Botschaft „angsterregendes Ausgeliefertsein des unbeschützten Individuums“489 an die wilde Natur als sinnentleerte ist. Das Subjekt wird sich der Vergeblichkeit der Sinnsuche in ihr bewusst. Dies und die Ahnung des Scheiterns zählen zu den Grundzügen des romantischen Lebensgefühls. Pointiert beschreibt Korff die prinzipielle Unerfüllbarkeit der romantischen Sehnsucht, die aber gerade darum in ein Lebensgefühl der Verklärung der Welt umschlägt, von dem die Romantiker glauben, dass es als tragfähige Basis für das nach-aufklärerische Zeitalter dienen könne: „Das Wesen der romantischen Sehnsucht ist ihre Unerfüllbarkeit. […] Woher diese Unerfüllbarkeit? Weil der Romantiker – das muß man begreifen –, obgleich seine Sehnsucht im Grunde genommen auf etwas Überirdisches geht – das ist letztlich ihre Christlichkeit –, die Erfüllung seiner Sehnsucht dennoch im Irdischen zu suchen scheint. Der Christ sucht das Himmlische im Himmel, der Romantiker sucht es paradoxerweise schon auf Erden. Und mit der Konsequenz: er findet es dort nicht. Aber indem er es dort sucht, verklärt sich ihm trotzdem die ganze Welt – und wird dadurch zu einem Vorgeschmacke des Himmels.“490

Sowohl der heilige Schauer, der erst zum Vorschein bringt, was hinter der Realität verborgen liegt und was damit die eigentliche Realität ist, als auch die sehnsüchtige und vergebliche Sinnsuche, die in die Verklärung der Wirklichkeit umschlägt, enthalten ein Moment der Neuschaffung einer höheren, absoluten und entgrenzenden Wirklichkeit. Novalis charakterisiert dieses in seinen Fragmenten als „Romantisieren“: „Die Welt muß romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisieren ist nichts, als eine qualitative Potenzierung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identifiziert. […] Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe[,] so romantisiere ich es“.491

Das Romantisieren, das „vom Hier auf das Jenseits hinleiten sollte, wird zum einzigen Modus, in dem die Überwindung der profanen Wirklichkeit stattfinden kann“492. Die Wildnis bietet sich, weil sie als sinnfälliger Gegen-

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ein heiliger Schauer umfing mich, ich wartete bis der volle Mond über der Oeffnung der Kuppel stand und sah nun das herrliche Rund vom wunderbarsten Glanze erleuchtet.“ (Tieck 1795-96/1828: 133; 3. Buch, 8. Brief) Apel 2000a: 116. Korff 1953/1962: 242. Novalis 1798: 51 f. Koschorke 1990:187.

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pol zur Vernunft interpretiert wird, für ein „Vagieren der Empfindung“493 an, also für das Romantisieren. Schöne Verwirrung und ursprüngliches Chaos (Vorstellung 29) Die Sonderstellung, die der Romantik im Verhältnis zu den anderen drei Weltanschauungen zukommt, tritt auch hinsichtlich des Kriteriums ‚Ordnung‘ deutlich zutage. Denn während für die anderen Weltanschauungen Ordnung, bei aller Unterschiedlichkeit der inhaltlichen Bestimmung, unumstrittenes Ziel in Gesellschaft und Staat ist, widerstrebt sie der Romantik: So, wie sie der Vernunft misstraut, misstraut sie auch den gesellschaftlichen und staatspolitischen Ordnungen, die auf sie zurückgehen. Man hat daher von ihr, in kunsttheoretischer Perspektive, als einer „gegen die klassische Ordnung rebellierenden Theorie“494 gesprochen. In der bereits zitierten Passage aus Friedrich Schlegels Rede über die Mythologie werden „die schöne Verwirrung der Fantasie“ und das „ursprüngliche Chaos“ gegen die „Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft“495 gestellt. Unordnung wird also als Wert etabliert, was bedeutet, dass Wildnis, insofern sie Sinnbild der phantastischen Verwirrung und des ursprünglichen Chaos ist, geschätzt wird. Das soll im Folgenden an zwei unterschiedlichen Momenten verdeutlicht werden: Wildnis kann (1) als Ort des Ursprungs vor allen Trennungen und Vorschein einer besseren Welt zum Ort bzw. Medium der Verzauberung werden und sie kann (2) als heilig gelten. Zu (1): Gegen die entzauberte Gegenwart stellen die Romantiker eine idealisierte Frühzeit. Es ist vornehmlich die des christlich geprägten Mittelalters, seltener auch die einer mythischen griechischen Antike. Die Verklärung der vergangenen Epoche mischt sich mit einem Gefühl des Verlusts, ähnlich, wie dies auch im Konservatismus der Fall ist. Der Romantik gilt jedoch das Goldene Zeitalter (und das ist ein Unterschied zum Konservatismus oder doch zu manchen seiner Varianten) als endgültig vergangener, also nicht wiederherstellbarer Zustand der Einheit des Menschen mit der Natur und mit dem Göttlichen. Darin liegt der Unterschied zum Vergangenheitsbezug der Aufklärung: Während diese optimistisch von der Wiederherstellbarkeit z. B. der politischen Verhältnisse oder der Kunstform der Griechen und Römer in der Gegenwart ausging, geht die Romantik zwar auch von einer „projektierten idealen Zukunft“ aus, aber die „politische und gesellschaftliche Gegenwart verflüchtigt sich dabei, eingeklemmt zwischen zwei ideale Werte“, der heilen Vergangenheit und der hoffnungsfrohen Zu-

493 Ebd.: 183. 494 Pesch 1966: 302. 495 Alle Zitate Schlegel 1800/2000b: 88.

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kunft, „notwendig zu einem Unwert“496. Diese Entwertung, zusammen mit dem Bewusstsein der für immer verlorenen Vergangenheit, lässt den Romantiker alle Hoffnung auf eine positiv-utopische Zukunft richten: Das Alte soll in gänzlich neuer Form (wieder-)hergestellt werden (statt Religion Kunst bzw. Kunst als Religion). Darin liegt ein weiterer Unterschied zum Konservatismus, der das unveränderbare Derzeitige bewahren oder das Alte als Zukunft herstellen will.497 Ein Sinnbild der verlorenen Ganzheit ist die Wildnis: Sie erscheint als der Ort der ursprünglichen Einheit vor allen Trennungen. In ihrer ewigen Einsamkeit und Unberührtheit scheint ein heiler Zustand der Welt greifbar. Denn zwischen Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart besteht ein Spannungsfeld, und diese Spannung ist die Bedingung für die Verzauberung der alten Zeit, und deren Vergegenwärtigung als endgültig vergangene Epoche ermöglicht die sehnsüchtige Bewegung der Einbildungskraft. Die wehmütige Erinnerung erscheint so zugleich als Ahnung eines kommenden poetisch verklärten Zeitalters. Die für die Zukunft erwartete und erhoffte Aufhebung der Gegensätze erscheint gleichzeitig als Rückkehr zu einem Ursprung vor allen Trennungen.498 Wildnis ist also nicht nur Sinnbild der heilen Vergangenheit, sondern auch Vorschein einer besseren Welt, gerade weil sie als Symbol der unwiederbringlichen Vergangenheit ein Gefühl unendlicher Sehnsucht auslöst, das in der Gegenwart Zeichen einer besseren Zukunft erahnen lässt. Wildnis verweist auf eine weitere Spannung, die charakteristisch für die Romantik ist: diejenige, die aus der Selbstreflexion der Dichtung entsteht. Friedrich Schlegel prägt dafür in den Fragmenten, die 1800 in der Zeitschrift Athenaeum erschienen, den Begriff der Transzendentalpoesie: „Es gibt eine Poesie, deren eins und alles das Verhältnis des Idealen und des Realen ist, und die also nach der Analogie der philosophischen Kunstsprache Transzendentalpoesie heißen müßte.“499 Dieser Begriff ist eine Analogiebildung zu Kants „Transzendentalphilosophie“. So wie diese eine Philosophie meint, die sich auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis richtet, bezeichnet jene eine Poesie, die „zugleich Poesie und Poesie der Poesie“500 ist. Poesie solle gleichzeitig künstlerische Komposition und theoretische Selbstreflexion sein, die Vereini-

496 Alle drei Zitate Kremer 2007: 75 unter Bezug auf Koselleck 1959/1976: 110f; vgl. Uerlings 2000: 16. 497 Zwar kennen auch späte Varianten des Konservatismus den schöpferischen Zukunftsbezug, man denke an die sog. konservative Revolution; doch ist dies ein Salto mortale, ein „revolutionäre[r] Kopfsprung[..]“ (Greiffenhagen 1986: 244; vgl. auch Breuer 1995). Diesen kann man als Ende des Konservatismus (Greiffenhagen 1986: 244) deuten; er entspricht auf alle Fälle nicht mehr dem hier konstruierten Idealtypus der konservativen Weltanschauung. 498 Siegmund 2010: 213. 499 Schlegel 1800/2000a: 81. 500 Ebd.

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gung „einer poetischen Theorie des Dichtungsvermögens mit der künstlerischen Reflexion und schönen Selbstbespiegelung“501. Im transzendentalpoetischen Text verbindet sich also eine Reflexion über die Bedingungen der Möglichkeit von Poesie mit derjenigen der Welt und des Ich. Schlegel schreibt somit der Dichtung die Aufgabe zu, immer auch ihre eigenen Voraussetzungen mitzugestalten. Dabei zeigt sich, dass die Dichtung der Moderne sich als „progressive Universalpoesie“ in ständiger Veränderung befindet. Ständige Variationen und der Fortschritt zu immer neuen formalen Möglichkeiten stehen im Vordergrund („progressiv“), und die traditionellen Grenzen zwischen den herkömmlichen literarischen Gattungen sollen aufgelöst und in einer vermischt werden („Universalpoesie“).502 Weil Schlegel sein Konzept nicht auf die Literatur beschränkt wissen möchte, soll auch die Differenz von Kunst und Leben aufgehoben werden. Die Kunst transzendiert die Grenze zum Leben und ästhetisiert, d. h. romantisiert, die Wirklichkeit: „Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennte [sic!] Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren, und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen, und durch die Schwingungen des Humors beseelen. Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehre [sic!] Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst, bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosen Gesang.“503

Kremer interpretiert diese Bestimmung der progressiven Universalpoesie als Ausdruck der Spannung der „romantischen Doppelreflexion“, also der „Re-

501 Ebd. – So lässt beispielsweise Tieck im Lustspiel Der gestiefelte Kater die Figur des Dichters auf die Bühne kommen: Der Autor des Spiels setzt sich im Spiel mit dem Publikum im Spiel auseinander. 502 Der Roman gilt als diejenige Gattung, der die umfassende Vermischung der Formen, Gattungen und Stile gelingt. „Nicht als einzelne Gattung empfiehlt sich der Roman, sondern als unendliche, offene poetische Summenbildung, die prinzipiell alle diskursiven und poetischen Formen integrieren kann.“ (Kremer 2007: 97; vgl. Uerlings 2000: 17 f.) So sind in die romantischen Romane vielfach Lieder, Novellen und Märchen aufgenommen, integriert werden auch Briefe und fiktive autobiographische Fragmente; er zeichnet sich darüber hinaus durch eine Neigung zur dramatischen Vergegenwärtigung in dialogischen Sequenzen aus und enthält philosophische, ästhetiktheoretische und poetologische Passagen (Kremer 2007: 99). 503 Schlegel 1800/2000a: 79.

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flexion von Welt“ einerseits und der „Selbstreflexion“504 andererseits. Schlegel führe jene Bestimmung im transzendentalen Sinne bildhaft aus, wenn er schreibt: „Und doch kann auch sie am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen.“505 Damit verpflichtet Schlegel die romantische Poesie auf die „Paradoxie einer unabschließbaren Universalität“506: Einerseits wird der Anspruch einer universalen Dichtkunst erhoben, andererseits ist ihre prinzipielle Unabschließbarkeit von Anfang an bewusst – schließlich ist das „ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann“507. In dieser Schwebe wiederholt sich die in der Wildnis erfahrbare spannungsvolle Zeitstruktur zwischen heiler Ursprünglichkeit und verheißungsvoller Zukunft. Durch die Suche in der gegenwärtigen Welt nach Zeichen einer heilen Vergangenheit und heilsversprechenden Zukunft poetisiert der Romantiker die Wildnis. Das Herbeisehnen ist dabei bedeutsamer als die Erfüllung. „Die Vorlust hat mehr libidinöse Energie gebunden als der wie immer geartete Vollzug des Genusses. Die Schwärmerei gehorcht deshalb dem Zwang zu ‚endloser Iteration‘.“508 Hält das Ich in der Suchbewegung inne, oder erfüllt sich gar der Wunsch, so fällt es in „ein affektives Nichts, weil Affektivität nur noch in der Mangelform eines stets über das Gegenwärtige hinausweisenden Verlangens existieren kann“509. Der Genuss des Gesuchten ist damit gleichbedeutend mit seiner Zerstörung. Für Sternbald hat Alfred Anger den treffenden Ausdruck geprägt, dass „eine ahnungsvolle Angst vor dem Finden“510 sein Verhalten bestimmt. Das Sehnen selbst hat Übergewicht gegenüber dem Bedürfnis gewonnen, das hinter dem Sehnen steht. „Die Sehnsucht ist reflexiv geworden“511. Das bedeutet, dass wahre Wildnis immer unerreichbar ist – so, wie das Projekt der progressiven Universalpoesie als prinzipiell unabschließbar gedacht werden muss. Sobald sie gefunden, betreten, ihr Genuss vollzogen ist, kollabiert die fragile Sehnsuchtsarchitektur und die Vergeblichkeit aller Sinnsuche wird offenbar.512

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Alle Zitate Kremer 2007: 91. Schlegel 1800/2000a: 79 f. Kremer 2007: 92. Schlegel 1800/2000a: 80. Koschorke 1990: 202. Ebd. Anger 1966/2007: 582. Koschorke 1990: 215. Dasselbe Dilemma stellt sich auch den Menschen, die heute die Wildnis wegen ihrer Unberührtheit aufsuchen, weil sie diese in dem Moment zerstören, in dem sie sie betreten (vgl. Hoheisel et al. 2005; Hoheisel et al. 2010; ähnlich auch Enzensberger 1964). Das Ziel ihrer Sehnsucht treiben sie so immer vor sich

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Zu (2): In der romantischen Kunst wird das überwältigende Erlebnis der verklärten Natur (als Verheißung) mit dem nicht weniger überwältigenden Erlebnis der wilden Natur verbunden, die im poetisierenden Blick zur heiligen Wildnis erhoben werden kann. Das Unterlegenheitsgefühl, das der Romantiker angesichts der bedrohlichen Natur empfindet, lässt ihn die Wildnis mit heiligem Schauer erleben: Natur erscheint ihm als übermächtig und ihm übergeordnet. Das stellt auch Rauh bei einer Interpretation von Hölderlins Elegie Herkunft (1801) heraus: „Die große Natur rückt hier in neues Licht: als Garant einer den Menschen stets übersteigenden Ordnung, die sich elementar aus Gegensätzen bildet.“513 Es ist jedoch nicht das Gefühl der Unterlegenheit allein, das Wildnis als heilig erscheinen lässt. Das wird sie erst, weil und insofern sie als über der Menschenwelt stehende, absolute und schreckliche Macht vorgestellt wird, in deren Gewalt es liegt, die Seele des Individuums aufzulösen und sie mit ihr zu verschmelzen. Wenn Hölderlin dichtet „Süß ists, zu irren _ In heiliger Wildnis“514, dann erscheinen die „sonst pejorativ eingesetzten Zeichen ‚Irre‘ und ‚Irrsal‘, zum ‚irren‘ aktiviert“, als Chiffre „verführerischen Richtungs- und Selbstverlusts. Hier in der heiligen Wildnis wird das Irren zur Hingabe an die ungezähmten, doch schöpferischen Mächte chaotischen Ursprungs“515. Das Wilde führt nur wenn und „weil es die Seele erschüttert, zum Heiligen hin“516. Diese Idee des Heiligen entspricht weniger der christlichen Vorstellung als vielmehr dem archaisch Heiligen im Sinne Georges Batailles.517 Denn es ist mit der Vorstellung der gewaltsamen Auflösung der Identität, oder „Diskontinuität“, wie es bei ihm heißt, verbunden.518 Allerdings wird diese Art der Verbindung zwischen Mensch und Natur in der Romantik nicht kollektiv-kulturell durch Verbot und Übertretung, sondern subjektiv-ästhetisch hergestellt. Heilige Wildnis ist also das Individuum in seiner Individualität zutiefst verunsichernde, schreckliche Wildnis, in der es von einem Gefühl von Auflösung und Verschmelzung („Kontinuität“ bei Bataille) mit der Natur und der Welt überwältigt wird. „Zum Prozeß der romantischen Selbstfindung gehört das vorübergehende Eintreten in dieses Grenzreich der Wildnis, in ein ‚Drau-

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her, genauso, wie sich der Horizont als mitwandernde Grenze mit dem Subjekt mitbewegt und für dieses stets unerreichbar bleibt (vgl. Koschorke 1990: 186). Rauh 1998: 115 f. Hölderlin, zit. n. Rauh 1998: 100. Rauh 1998: 100 f. Ebd.: 114. Bataille 1984. Die Verbindung, die Bataille (1984) zwischen dem Wunsch nach Kontinuität, der Erotik und dem Tod zieht, kann man, in einer vielleicht etwas zu kühnen Deutung, in den Wunsch Novalis’ hineinlesen, seiner jung gestorbenen Braut Sophie von Kühn „nachzusterben“, um im Tod wieder mit ihr in Liebe vereint zu sein. (Eventuell kann man das umgekehrt aber auch so deuten, dass Bataille die archaischen Gesellschaften mit einem romantischen Blick betrachtet hat.)

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ßen‘, das nicht einfach ausgesperrt, sondern auf eine bestimmte Weise poetisch erkundet werden soll.“519 Das christliche Heilige, d. h. das absolut und rein Gute, das keine Versuchung kennt, ist nicht völlig ausgeschlossen aus dieser romantischen Idee, sondern dort prägend, wo Wildnis als paradiesisch gedeutet, wo ihre Unverdorbenheit betont oder wo deutlich wird, dass die Auflösung des Ich und die Verschmelzung mit der Natur nicht nur in der Gewalt, sondern auch in der Liebe geschieht. Ort der Freiheit von den Zwängen der Vernunft (Vorstellung 30) Der romantische Freiheitsbegriff bedeutet, das ergibt sich aus einer Umakzentuierung des von mir bereits Geschriebenen, erstens Freiheit von den Zwängen der Vernunft, die, wenn sie als absolut behauptet wird, alles in der Welt erstickt und entzaubert. Freiheit meint zweitens auch diejenige Befreiung, die sich in der künstlerischen All-Verschmelzung ereignet.520 Sie wird erlebt als Aufhebung der Trennung von Subjekt und Objekt, von Mensch und Welt. Freiheit im Sinne der Romantik bedeutet Freiheit vom Bestimmtsein durch die Eindimensionalität der Vernunft. Erfahren wird sie im und als Gefühl der Verschmelzung mit der ganzen Welt, und zwar im Kunstwerk. Nur in der Bindung an die Natur, also in einer Bindung an etwas dem Menschen Vorgängiges, kann der Romantiker wahre Freiheit erleben. Sie entsteht „[d]urch das freiwillige Entsagen des Absoluten“521, durch die freiwillige Absage an die vernunftgemäße, philosophische Suche nach einem letzten Grund und dessen Ersatz durch den unendlichen Gehalt der poetischen Natur des Kunstwerks. Der romantische Freiheitsbegriff ist also gerade durch die Absage an den Versuch geprägt, sich dem Absoluten durch Vernunft zu nähern, wie in den anderen drei Weltanschauungen. Freiheit kann erfahren bzw. dargestellt werden in der wilden Natur. Umgekehrt nehmen Landschaften, die Freiheit spürbar machen oder thematisieren, dadurch Bedeutungen von Wildnis an. So kann Freiheit (1) erfahren werden in einer fernen, entrückten und unerreichbaren Landschaft und (2) in einer bedrohlichen Nahlandschaft. Zu (1): Die ferne Landschaft kann die Verheißung von Freiheit sein, weil sie als unberührte, als noch ursprüngliche Einheit aller Dinge, als frei von den Trennungen, die erst die Vernunft mit sich bringt, imaginiert werden kann.522 So, wie in der Ferne die Gegenstände entkonturiert scheinen, scheinen auch alle Bestimmtheiten aufgelöst. Die an und hinter den Horizont entrückte Landschaft nimmt so die romantische Sehnsucht nach der Auflösung aller Trennungen im Absoluten auf. Ferne steht immer auch für

519 520 521 522

Koschorke 1990: 246 f. Siegmund 2010: 217. Novalis ~1797: 48. In diesem Abschnitt folge ich der Argumentation in Siegmund 2010: 228.

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das Nicht-Erreichbare, Nicht-Alltägliche, das der Welt des Machens, dem instrumentell-naturwissenschaftlichen Zugriff entzogen ist. Obwohl die romantische Sehnsucht auf etwas Transzendentes gerichtet ist, vollzieht sich die Sinnvermittlung in der Immanenz, innerhalb der Natur. Hillmann bezeichnet daher die romantische „Fernsehnsucht“ als die „sozusagen in die Horizontale umgekippte Vertikale der Höhensehnsucht“523. Die Höhensehnsucht war bis ins 18. Jahrhundert Ausdruck der Sehnsucht nach Gottesnähe. „Daß die landschaftliche Ferne die Ferne Gottes in sich aufnimmt und schließlich substituiert, macht sie zur räumlichen Repräsentanz einer untrennbar gewordenen, alles positiv Identifizierbare übersteigenden Verheißung. Sie ist in der Anlage der unendlichen Landschaften eine Art vager poetischer Nachhall der aufgelösten Transzendenz.“524

Das romantische Motiv der Wanderung erhält erst angesichts des magischen Assoziationsfeldes der Ferne, das „als Speicher der aufgelösten Transzendenz“ 525 figuriert, seine volle Bedeutung. So wie das Göttliche Ursprung und Ziel der Welt ist und die wilde Natur sich in der Bewegung der Sehnsucht zwischen Herkunft und Zukunft romantisiert, so entspricht auch die Struktur des romantischen Motivs der Fernwanderung der auf Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen gerichteten Bewegung der Einbildungskraft. Denn das (unerreichbare) Ziel, auf das sich die romantischen Wanderer zubewegen, steht zugleich für ihren verlorenen Ursprung. „‚Wo gehn wir denn hin?‘ ‚Immer nach Hause‘“526, heißt es im zweiten Teil von Novalis’ Heinrich von Ofterdingen. So wie sich die Kunst als Medium an die Stelle ihrer Inhalte setzt und die reflexiv gewordene Sehnsucht der eigentlichen Erfüllung der Wünsche übergeordnet ist, so tritt auch die Wanderschaft an die Stelle des Ankommens: „Das romantische Schweifen in die Ferne trägt einen chiliastischen Impuls räumlich aus. Doch indem die Dichtung der Romantiker die Transzendenzflucht in räumliche Motorik übersetzt, übereignet sie die Attribute des transzendenten Ziels in wachsendem Maß der Raumbewegung selbst, als der Modalität poetischen Empfindens.“527 Raumbewegung wird zu immerwährendem Aufbruch. Die Wanderschaft kennt den Moment ihrer logischen Erfüllung, ihrer Ankunft nicht, „weil eben der Ort der Ankunft in den Endpunkt einer vom menschlichen Subjekt her gedachten Perspektive gerückt ist und weil sich so die Ferne immerfort erneuert, der es sich zu nähern scheint“528.

523 524 525 526 527 528

Hillmann 1971: 77. Koschorke 1990: 181. Ebd.: 188. Novalis 1802/1982: 161. Koschorke 1990: 186. Ebd.

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Man könnte einwenden, dass die ferne Landschaft keine Wildnis im eigentlichen Sinne ist, weil sie dadurch, dass sie in unerreichbare Ferne gerückt ist, ihre gegenwärtige Bedrohlichkeit verloren hat. Dem kann zweierlei entgegnet werden: Erstens kann die ferne Landschaft tatsächlich Wildnis sein bzw. als Wildnis gelten. Die Gleichsetzung von fernen Ländern mit Wildnis ist ein gängiger Topos. Zweitens gibt es eine Verbindung zwischen ‚Wildnis‘ und ‚Fernlandschaft‘, die in der Bedeutung als Grenze liegt: Beide Ideen von Natur thematisieren die Grenzen harmonischer Landschaft. Das Wesen der romantischen Kunst liegt in der Thematisierung der Unerfüllbarkeit der Sehnsucht, der Vergeblichkeit der Sinnsuche. Für die Landschaftskunst bedeutet das, dass die Landschaft als ganze Natur gerade als nicht mehr ganz, d. h. nicht mehr harmonisch dargestellt wird. Vielmehr darf und kann die ästhetische Sinnsuche nicht ans Ende gelangen. Zu (2): Die harmonischen Landschaftsdarstellungen weichen also in der Romantik der Darstellung der Grenzen der harmonischen Landschaft – entweder, wie wir gerade gesehen haben, direkt als Ferne oder indirekt in der schrecklichen, bedrohlichen und unheimlichen Nähe: Die wilde Landschaft vor dem Horizont kann Freiheitsgefühle vermitteln, weil sie in ihrer Unbeherrschbarkeit als vernunftfreier Raum gedacht wird. Der Romantiker kann auch die Todesnähe, die er in der gefährlichen Wildnis erfährt, als Befreiung empfinden, insofern er, voller Todessehnsucht, den Tod als eine Befreiung aus der Isolierung des Ichs hin zu einer ekstatischen Auflösung im Ganzen der Natur, eine Verschmelzung mit der Weltseele begreift. 4.4.2 Kulturlandschaft in romantischer Perspektive – Vernunft, beengender Stillstand und banale Ordnung versus Poetologie In der gegenwärtigen Debatte um die Erhaltung historischer Kulturlandschaften wird häufig und zumeist kursorisch davon gesprochen, dass diese Erhaltung „romantisierend“ sei.529 Das ist zumeist pejorativ gemeint. Die Ursache für dieses abwertende Urteil liegt in einer verkürzten und in dieser Verkürzung falschen Vorstellung von dem, was „Romantik“ sei: nämlich eine die Vergangenheit verklärende Geisteshaltung. Wir haben bereits gesehen, dass der sehnsuchtsvolle Vergangenheitsbezug nur eine Seite der Romantik ist; nicht weniger weist sie auch eine zukunftsgerichtete, utopische Seite auf. Außerdem ist das Verhältnis der Romantiker zu Kulturlandschaft weder eindeutig noch uneingeschränkt positiv. Die Vorstellungen, die mit ihr verbunden sind, entwickle ich im Folgenden vor allem antithetisch zu Bedeutungen, die Wildnis zugeschrieben werden. Dabei zeigt sich, dass

529 Häufig liegt dem eine vereinfachende Gleichsetzung von Romantik und Konservatismus zugrunde, beispielsweise bei Apolinarski et al. 2004: 7; Konold 2004; Overmeyer 2004; Sieferle 1985.

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Kulturlandschaft Wildnis in fast allen Punkten entgegengesetzt ist und daher aus romantischer Perspektive – entgegen der landläufigen Meinung – weitgehend, wenn auch nicht ausschließlich, negativ besetzt ist. Denn, wie ich zeigen werde, gilt sie erstens als der Vernunft unterworfene Sphäre; sie wird zweitens als Ort eines beengenden Stillstands wahrgenommen, und drittens erscheint sie als Sphäre eines ebenso vernünftigen wie banalen Alltags nicht als Gegenstand, der zum Romantisieren einlädt (siehe Tabelle 5, S. 245). Man darf nicht ignorieren, dass es Schilderungen schöner, harmonischer und idyllischer Kulturlandschaften in der romantischen Kunst gibt und dass diese charakteristisch für viele literarische Texte der Romantik sind. Es wird sich zeigen, dass es eine Vorstellung von Kulturlandschaft gibt, in der diese als Ort erscheint, in der die Trennung von Mensch und Welt, Kultur und Natur aufgehoben und mithin als romantisches Paradies auf Erden erscheint. Diesen Kulturlandschaften gilt die romantische Sehnsucht.530 Die Romantiker wissen aber – und hier wird der widersprüchliche Charakter der Romantik evident –, dass sie für das Leben in diesen Landschaften, für das solide, bodenständige Leben, das diese versinnbildlichen, nicht gemacht sind. Es würde sie anfänglich langweilen, später erdrücken. Sie fühlen sich zum Phantastischen und Unerreichbaren hingezogen, weil nur das in der Lage ist, die in ihrer Alltäglichkeit für sie unerträgliche Welt zu transzendieren. Daher sind die Kulturlandschaften, die sie beschreiben, häufig Panoramen, die sie auf ihren Wanderungen überblicken, die sie also zwar durchqueren, in denen sie aber nicht heimisch werden können.531 Außerdem misstrauen sie der ländlichen Idylle, weil sie um die Kulissenhaftigkeit scheinbar heiler Welten wissen.532 Das führt dazu, dass sich in romantischen Landschaftsschilderungen – die, wie Marianne Thalmann hervorhebt, prinzipiell allegorische „Routine-Chiffrierung“533 sind, die also die landschaftliche Topographie, die mit semiotischen Funktionswert ausgestattet ist, auf eine Handvoll bedeutsamer Kunst-Orte in „Traumlandschaften“534 reduzieren – immer Elemente oder Aspekte mischen, die die Grenzen schöner, harmonischer und idyllischer Landschaft thematisieren. „Der Abgrund ist als Ort der Gefährdung integral in das Gesamtszenario der romantischen Landschaft einbezogen.“535 Sie enthält bzw. ist somit immer auch Wildnis.536

530 Vgl. Siegmund 2010: 228. 531 Vgl. Kremer 2007: 104 f. 532 Kremer (2007: 85) zeigt, dass den Romantikern in diesem Sinne die Kleinfamilie als ein „Treibhaus, in dem Konflikte und Katastrophen weit besser gedeihen als Glück und Identität“, gilt. 533 Thalmann 1967: 49. 534 Garmann 1989. 535 Koschorke 1990: 247. 536 Vgl. Kirchhoff & Trepl 2009: 42; Nash 1967/2001: 47.

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Kulturlandschaft als der Vernunft unterworfene Sphäre (Vorstellung 31) Wenn und insofern die wilde Natur vernunftwidrig ist, gilt die kultivierte Natur als Inbegriff einer nach vernünftigen Kriterien gestalteten Natur. Kulturlandschaft ist gezähmte Natur, der jedes Moment von Überraschung, Phantasie und Fremdheit genommen ist: Sie ist harmlose, berechenbare und bis zur Reizlosigkeit vertraute Natur. Das Landleben mit seinen Routinen und seiner bäuerlich-kleinbürgerlichen Spießigkeit gilt dem romantischen Schwärmer als der Ort, an dem die Vernunft jegliches poetische Gefühl unterdrückt. Dabei deutet er die Vernunft, die der Konservatismus hochhält und die in der Tätigkeit des Bauern oder auch des traditionellen Handwerkers versinnbildlicht ist, als Vorläufer der Aufklärungsvernunft: Kulturlandschaft ist das Ergebnis stetiger Arbeit, die in ihren zwar noch nicht rational konstruierten, sondern traditionell vorgeschriebenen, aber doch immer zweckrationalen Arbeitsabläufen keinen Raum für Träumerei, Schwärmerei und Phantasien lässt. In der Epoche der Aufklärung kommt die Vernunft auch auf dem Land endgültig zur Vorherrschaft: Paradigmatisch zeigt sie sich in den Meliorationsmaßnahmen der Land- und Forstwirtschaft, die im Zuge der sogenannten Landesverschönerung im 19. Jahrhundert durchgeführt wurden. Diese hatte das Ziel, „ganz im Geiste der Aufklärung“ das Land „nach Maßgabe vernünftiger Zwecke zu gestalten“537. Es gibt jedoch auch eine positive Sicht auf das Landleben, die die Romantik mit der Aufklärung teilt: Beide formulieren eine Stadtkritik, die sich gegen die Unmoral (der absolutistischen Residenzstädte) und die Spießigkeit (der Klein- und Reichsstädte) wendet und empfehlen das Landleben als kompensierendes Prinzip. Ottmann zufolge schließt beispielsweise Eichendorff „an die traditionelle Stadt- und Hofkritik der Landlebendichtung an, die Entfremdungsvorgänge in urbanen Zusammenhängen diagnostiziert hat“538. Das laus ruris539 hat sich „gegen die Fremdbestimmtheit in den kritisierten Bereichen gerichtet – gegen die moralische Defizienz des Städters, gegen die wirtschaftliche Abhängigkeit des Höflings – und die ländliche Existenz als autarkes Dasein gepriesen“540. Im Gegensatz zur Stadt sei es auf dem Land möglich, selbstbestimmt zu leben. Bei Eichendorff wird das „‚Ideal des Sich-Selber-Lebens‘ auf dem Lande“ 541 formuliert. (Wir werden noch sehen, dass die moderne Großstadt aus romantischer Perspektive auch ganz anders wahrgenommen und bewertet werden kann.)

537 Körner 2003b: 78; zur Landesverschönerung Däumel 1961; Rosenstein 1991. 538 Ottmann 2002: 387. 539 Inwieweit es sich dabei nicht auch oder sogar eigentlich um ein „Lob der Wildnis“ handelt, wäre zu untersuchen. 540 Gamper 1998: 253. 541 Ottmann 2002: 388.

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Ort des beengenden Stillstands (Vorstellung 32) Romantische Freiheit hatte ich oben als Freiheit von den Zwängen der Vernunft der Aufklärung und als Befreiung zur Verschmelzung mit dem Weltganzen, als Aufhebung der Trennung von Mensch, Gott und Welt beschrieben. In der Kulturlandschaft ist für den Romantiker diese Freiheit nicht gegeben, da sie als der Vernunft unterworfene Sphäre begriffen wird. Die Zwänge und Regeln des täglichen Lebens lassen keinen Freiraum zum Träumen, bieten der Einbildungskraft keine Anreize, auf Reisen zu gehen und das Alltägliche zu romantisieren – dazu ist das Leben in der ländlichen Landschaft zu banal, zu beengt, zu sehr gefangen in den kleinlichen Zwängen des Alltags. Kulturlandschaft kann daher in doppelter Hinsicht als das Gegenteil der Wildnis aufgefasst werden: (1) Ihre heimelige Enge steht der schauererregenden Wildnis diametral entgegen, so wie (2) die statische Beengtheit des Landlebens dem Aufbruch in die verheißungsvolle Ferne entgegengesetzt ist. Zu (1): Das Landleben wird zur Chiffre des Philistertums, in dem eine heimelige Enge kultiviert wird. Das Leben auf dem Land bedeutet für den Romantiker Eingebundenheit „in die beschränkte Lebensweise des Landadels, in das Hausvatermodell mit Schlafmütze, in Philistertum und institutionelles Eingeengtsein in Form der Ehe als ‚langweiliges Glück‘, in Pedanterie und Sonderbarkeit, in Steifheit, Konversationsunfähigkeit und Weltabgewandtheit. Die regressiven Momente des Landlebens werden vom Einzelnen als Bedrückung erfahren“.542

Was hier der selbstgefälligen Landbevölkerung zugeschrieben wird, galt vorher als charakteristisch für bestimmte Städter (nicht die Bewohner der Residenzstädte, sondern die der Klein- und Reichsstädte). Kulturlandschaft steht für eine Lebensweise, die sich angstvoll an das Bekannte klammert und dem Alltäglich-Unaufgeregten zugeneigt ist. Das Exotische halten die Spießbürger für Grillen der romantischen Schwärmer, im abenteuerlich Wilden sehen sie einzig die Bedrohung ihrer friedlich-gleichförmigen Existenz. Das macht das Landleben für die Romantiker so beklemmend. Thalmann geht sogar soweit, den Ursprung romantischer Sehnsucht und Schwermut in „dem Unbehagen an der Wald- und Wiesenlandschaft“543 zu verorten. Zu (2): Das Gefühl der Unfreiheit wird für das romantisch gestimmte Gemüt so groß, dass es der Enge der Kulturlandschaft den Rücken kehren

542 Ebd.: 381. – Diese Bedrückung durch die Zwänge des Landlebens wird auch von der Aufklärung kritisiert, auf der anderen Seite gilt ihr aber gerade das als Ideal der zweckmäßigen Schlichtheit, siehe Kapitel 4.1.2 und 4.3.2. 543 Thalmann 1965: 18.

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muss, um in die Ferne oder in die Wildnis aufzubrechen, so wie Leontin in Ahnung und Gegenwart: „Am folgenden Morgen, da die Gesellschaft zur Jagd aufbrach, war Leontin schon lange draußen im Walde. Er hatte sich von den Jägern im allgemeinen die Gegend bezeichnen lassen, wo die Jagd gehalten werden sollte, und war noch vor Tagesanbruch allein herausgeritten. Denn ihm waren alle die weitläufigen und schulgerechten Zurüstungen, die einer solchen allgemeinen Jagd immer vorherzugehen pflegen, in den Tod verhaßt. Er durchstrich daher an dem frischen Morgen allein die einsame Heide, wo ihn oft plötzlich durch eine Lichtung des Waldes die herrlichsten Aussichten überraschten und stundenlang festbannten.“544

Damit ist der zweite Gegensatz zwischen ‚Wildnis‘ und ‚Kulturlandschaft‘ benannt. Während jene für den Ausbruch aus dem Alltäglichen steht, herrscht auf dem Land erdrückender Stillstand: „Es geschieht nichts, und es soll auch nichts geschehen. Die Männer nehmen […] einen altklugen Ton an, reden unaufhörlich in Sentenzen, wenn sie Väter werden, schreiben in ihren Briefen ‚wir‘, überzeugt, immer im Namen von tausend anderen zu schreiben.“545 Kein Sehnen, kein unerfülltes Bedürfnis treibt die ländlichen Spießer um; sie sind blind gegen die Verheißungen der Ferne und scheuen den Schauer der Wildnis. Sie sind immun gegen die Zerrissenheit, die die Romantiker antreibt zur Suche nach dem Ursprung in der Zukunft, als deren Ort ihnen die Wildnis und die Ferne gilt. Kulturlandschaft als Sinnbild banaler Ordnung und Poetologie der Kulturlandschaft (Vorstellung 33) Weil die Romantiker die Kulturlandschaft primär als eine der Vernunft unterworfene Sphäre ansehen, in der beengender Stillstand herrscht, gilt sie ihnen auch als Ausdruck herkömmlicher Ordnungsbemühungen; diese sind ihnen, wie wir bereits gesehen haben (siehe oben S. 224 f.), zuwider. Das Leben in der Kulturlandschaft ist das genaue Gegenteil von „schöner Verwirrung“ und „ursprünglichem Chaos“, weshalb sich der romantischen Einbildungskraft kein Ansatzpunkt für ein Vagieren bietet. Als Sphäre der bäuerlichen Arbeit und des traditionellen Handwerks ist sie zu alltäglich, zu gewöhnlich, als dass sie das Verlangen nach poetischer Transzendenz auch nur ansatzweise stillen könnte. Evident wird das auch in der romantischen Theorie des Landschaftsgartens:546 Es ist ein gängiges gartenkünstlerisches Mittel, Architekturstaffagen beispielsweise im antiken oder exotischen Stil oder schauerlich-pittoreske Szenen in den Landschaftsgarten zu integrieren.

544 Eichendorff 1815/1984/2006: 82 f. 545 Thalmann 1965: 13. 546 Ich orientiere mich hier vor allem an Siegmund 2002; 2009a; 2010.

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Der Sinn liegt in der durch das Fremde hervorgerufenen Poetisierung, der Entrückung aus dem Bereich des Alltäglichen. „Der einzige Stil, der in den Augen der Romantiker keine poetische Überhöhung der Landschaftsszene bewirken kann, ist der ländliche, zumindest soweit er nicht auch Elemente anderer Architekturstile aufweist.“547 Bloß ländliche Szenen böten keine Assoziationsvariante, die den Besucher ins Zwischenreich der Einbildungskraft führen könnte.548 Eine vollkommen andere Vorstellung von Kulturlandschaft arbeitet Tang bei Alexander von Humboldt und Hölderlin heraus. Er sieht sie auch bei Novalis, besonders in dessen Fragment gebliebenen Die Lehrlinge zu Sais, angelegt, wenngleich dieser sie nicht systematisch ausformuliert hat: „[Novalis] erblickt in der Kultivierung [der Natur und in dem Produkt dieser Kultivierung, der Kulturlandschaft] offenbar eine Möglichkeit, die in der Kantischen und Fichteschen Philosophie unentrinnbare Entgegensetzung von Subjekt und Objekt zu überwinden. Er lässt einfach die vollständig kultivierte Natur für das dieser Entgegensetzung zugrunde liegende und darüber hinaus gehende absolute Sein einstehen. Damit wird sie in die unmittelbare Nähe der Poesie gerückt, der dem romantischen Dichtungsprogramm nach die ungewöhnliche Fähigkeit innewohnt, das Absolute darzustellen.“549

Kulturlandschaft wird wie der romantischen Poesie die Fähigkeit zugeschrieben, die Trennung von Kultur und Natur, von Mensch und Welt aufzuheben. Auch bei Hölderlin repräsentiert sie das absolute Sein, das „der Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt vorausgehende ursprüngliche Ganze“550. In ihr erfüllt sich also die romantische Sehnsucht nach der Überwindung dieser Trennungen. Kulturlandschaft ist Raum gewordene Poesie. 4.4.3 Stadt in romantischer Perspektive – wunderbare Nischen, Stadteinsamkeit und angenehme Befremdung Das Verhältnis der Romantiker zur Stadt ist zwiespältig. Einerseits kann sie, in ihrer Lebendigkeit, ihrer Ungeordnetheit und ihrem phantasmagorischen Charakter durchaus als Ort wahrgenommen werden, an dem die Zukunftsphantasien verwirklicht sind. Wir werden sehen, dass besonders in diesen Bedeutungen eine Funktionsentsprechung zwischen Stadt und Wildnis besteht. Andererseits fühlen sich die Romantiker in der Stadt beengt und entfremdet (siehe Tabelle 5, S. 245). Von Graevenitz beschreibt diese Ambiva-

547 548 549 550

Siegmund 2010: 276. Ebd. Tang 2007: 170. Ebd.: 185, vgl. Jamme 1994.

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lenz als Charakteristikum des romantischen Verhältnisses zur Stadt. Sie „wird zum Grenzort paradoxer Doppelcodierungen“551. Das Urteil der Romantiker über die Stadt fällt also, wie ich im Folgenden zeigen werde, viel differenzierter aus, als gemeinhin angenommen wird. Daher kann Thalmann schreiben, dass die städtische Wirklichkeit den Romantikern nicht nur „zweideutig, wie es im subalternen Sprachgebrauch so oft geheißen hat, sondern mehrdeutig und mehrschichtig“552 vorkommt. Die Städte im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert waren noch nicht jene florierenden und prosperierenden Zentren expandierender Wirtschaftstätigkeit, in die sie sich im Laufe des 19. Jahrhunderts verändern sollten.553 Vielmehr hielten gewerblich-zünftische Restriktionen die Expansionsmöglichkeiten in engen Grenzen, und auch mit dem Bürgerrecht wurde sehr zurückhaltend umgegangen. Dennoch bildete sich rund um die „höhern Bürgerclassen“554, die der Breslauer Schriftsteller Christian Garve 1792 als innovatives Element der städtischen Gesellschaft identifizierte, ein sich stetig erweiterndes Netz von Arbeitsplätzen, die nicht nur der ansässigen Bevölkerung, sondern auch Zuwanderern von außen offenstanden und die damit ein Kristallisationskeim der Entwicklungen im Zuge der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts waren. Von Nischen des Wunderbaren in der „aufgeklärten Stadt“ zum „Märchenteppich“ (Vorstellung 34) Die Ablehnung aufklärerischer Rationalität bestimmt auch die Einstellung zur Stadt: Die Romantiker deuten sie (1) als Ausdruck von Vernunft. Literarisch kann sie gerade deshalb zum Gegenpol fantastischer Ereignisse werden, die sich dennoch in ihr ereignen. Sie bietet also, obwohl sie einerseits als Ausdruck der Vernunft abgelehnt wird, andererseits auch Rückzugsräume von der Banalität des Alttags und der Entzauberung. Sie kann also auch in einem positiven Licht erscheinen. Dann sind entweder (2) bestimmte, nämlich periphere Bereiche in der Stadt Nischen für ein romantisches Da-

551 Graevenitz 2000: 15; vgl. auch Stierle 2000: 189 f. für Victor Hugos ambivalentes Parisbild. 552 Thalmann 1967: 15. 553 „Auf deutschem Boden gab es im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert lediglich drei Großstädte mit jeweils mehr als 100.000 Einwohnern: Wien zählte um 1800 247.000, Berlin 172.000 und Hamburg 130.000 Menschen. Mit weitem Abstand folgten Breslau und Dresden mit je 60.000, Königsberg mit 55.000, Köln mit 50.000, Frankfurt mit 48.000 und München mit 40.000 Einwohnern. Die ‚Hauptstädte der literarischen Bildung‘, Weimar und Jena, blieben demgegenüber deutlich unter 10.000 Einwohnern. Es waren Kleinstädte, wie die meisten Städte dieser Zeit.“ (Frevert 2000: 61) 554 Garve 1792: 306.

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sein, oder (3) die ganze Großstadt erscheint als Raum des Wunderbaren und Abenteuerlichen. Zu (1): Steigerwald zeigt bei seiner Analyse der literarischen Fantastik, dass sich die „aufgeklärte Stadt“555 für die Romantiker durch ihre rationalistische Planung sowie Sicherungs- und Ordnungsmechanismen auszeichnet.556 Damit meint er, unter Bezug auf Silvio Vietta,557 Merkmale wie die zunehmende Dezentralisierung der Städte und die damit einhergehende wachsende Bürokratisierung. Dazu zählen polizeiliche und Verwaltungsmaßnahmen, die sich in einer immer „stärker werdenden Überwachung und Registrierung der Bürger“558 ausdrückt. Als Beispiele nennt er, neben der Reglementierung von Lustbarkeiten aller Art, die Einführung der Hausnummern und die Veränderungen in der Straßenbeleuchtung, die beide als Garanten für Sicherheit und Ordnung dienen. Letztlich sei das „System von ‚Überwachen und Strafen‘, das Foucault für die Geburt des Gefängnisses an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert festmacht, […] auf die ganze Stadt übertragen“559 worden. Zu (2): Dennoch beobachten die Romantiker das Auftreten des Fantastischen und Wunderbaren in der Stadt, die ihnen dadurch zur „romantischen Stadt“ wird, und es ruft erst vor dem geordneten Hintergrund der „aufgeklärten Stadt“ überhaupt ein „Erklärungsproblem“ hervor: „Denn wie kann in einem geordneten und überwachten Sozialsystem etwas Fremdes auftreten“560? Daher gäbe es sogar eine merkliche Bevorzugung der Stadt als Handlungsort für die Fantastik, wenngleich, so fügt Steigerwald einschränkend hinzu, fantastische Literatur keineswegs als Stadtliteratur zu verstehen sei und auch nicht als Beschreibung einer Stadt gelesen werden könne.561 Die Gegenpole (die aufgeklärte Stadt und die romantische Stadt der Fantastik) finden ihre Entsprechung im geographischen Raum der Stadt, d. h. es gibt Orte in ihr, die als Symbole dieser Pole fungieren. Die Mitte der modernen Stadt symbolisiert den ersten Pol. Sie gilt als der Ort der Bourgeoisie. Der Besitzbürger verkörpert einen Lebensstil, der dem Romantiker wie kein anderer zuwider ist. Er strebt zwar auch ins Unendliche, nämlich nach der grenzenlosen Vermehrung seines Reichtums, aber gerade in dieser Fixierung besteht für die Romantiker die Enge der besitzbürgerlichen Welt. Symbolischer Gegenort der Mitte ist die Peripherie. Sich selber definieren die Romantiker als Außenseiter (im doppelten Wortsinn). Sie gehören nicht zum Stadtbürgertum – und umgekehrt: „Mit der Stadt entsteht der exzentrische Raum des unbehausten Menschen. Und hier haben wir zu trennen. Der

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Steigerwald 2001: 55. Ebd.: 57. Vietta 1992. Steigerwald 2001: 58. Ebd.: 60. Beide Zitate ebd.: 63. Ebd.: 54.

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behauste Städter gehört nicht zu ihnen. Er ist ihr Gegenspieler – der Bourgeois, der auf eine gesicherte Mitte hin ausgerichtet ist.“562 Dem entspricht auf der Ebene der historischen Tatsachen, dass beispielsweise in Paris viele der kleineren Theater nicht im Zentrum, sondern an dessen Rand lagen. Steigerwald stellt die Parallele her, dass „das Schauspiel“ von den phantasielosen Besitzbürgern „vom Mittelpunkt des Lebens an die Peripherie gedrängt“563 wird. Selbst wenn das Treiben in der Stadtmitte nicht abwertend beschrieben wird, wie in E. T. A. Hoffmanns Erzählung Des Vetters Eckfenster von 1822, so bleibt der Romantiker doch davon ausgeschlossen; er ist der ewige Außenseiter, der nicht zu diesem lebendigen Treiben gehört, auf das sich aber doch seine ganze Sehnsucht richtet. Während die Großstadt dem Romantiker Nischen bietet, in denen er der alles Lebendige und Wunderbare erdrückenden Verwaltungswut entkommen kann, sind in der provinziellen Kleinstadt und der spießigen alten Reichsstadt solche Verstecke nicht gegeben.564 Zwar sind auch sie Städte, allerdings solche, die eher dem Paradigma der Kulturlandschaft zugerechnet werden müssen als dem der modernen Großstadt, weil sie „den Kultursignalen der Metropolen noch fernstehen“565. Zu (3): Wenn in der romantischen Stadtvorstellung die Bedeutung dieser Nischen vorherrschend wird, dann kann – totum pro parte – die Großstadt als Ganze zum Ort des Wunderbaren und Abenteuerlichen werden: „Sie [die Stadt] wird das Gebiet exzentrischer Gefühle, die an die Grenzen alles Empfindbaren reichen. Noch vor Baudelaire und Quincey entwerfen die deutschen Romantiker den Märchenteppich der Stadt, die von der unmittelbaren Gegenwärtigkeit dieser Menschen, die in den redlichen Stuben ihrer Väter nicht mehr zu Hause sind, gespeist wird.“566

562 Thalmann 1965:23. – Frevert weist in diesem Zusammenhang auf die soziologisch interessante Tatsache hin, dass die Romantiker selbst zumeist keine Bürger im eigentlichen Sinne waren. Bürgerrechte und Bürgerpflichten kamen nur einem kleinen Teil der städtischen Bevölkerung zu: eingesessenen Handwerkern, Gastwirten, Händlern. Die „freischwebende Intelligenz der Schriftsteller, Journalisten, Dichter, Musiker, die die Stadt als Lebens- und Wirkungsraum wählten, gehörte weder sozial noch kulturell zum Kosmos der städtischen Bürgergesellschaft, die sich in den politischen Gremien – Rat, Stadtverordnetenversammlung – repräsentiert fand“ (Frevert 2000: 63). 563 Beide Zitate Steigerwald 2001: 61. 564 Vgl. Frevert 2000: 61 f. – Die Autorin schildert, wie Wilhelm von Kügelen in der kleinen Residenzstadt Ballenstedt, in der er von 1833-1867 Hofmaler war, klagt: „Es ist kein einziger Mensch hier oder in der Umgebung, mit welchem ich von dem reden könnte, was mich interessirt.“ (Kügelen, zit. n. ebd.: 62) 565 Thalmann 1965:13 f. 566 Ebd.: 25.

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Thalmann geht sogar so weit zu behaupten, dass die Romantiker nicht nur von der Großstadt fasziniert gewesen seien, weil sie in ihr das Potential zur Romantisierung der Wirklichkeit erkannten, sondern dass sogar sie es gewesen seien, die das spezifisch urbane Lebensgefühl erst hervorgebracht hätten: „Der Geist der Großstadt, das Essen vom ‚Baume der Erkenntnis‘, das Kleist in seinem Aufsatz über das Marionettentheater ‚das letzte Kapitel in der Geschichte der Welt‘ nennt, zieht mit den Romantikern ein.“567 Ob Thalmann tatsächlich Recht hat damit, dass Urbanität nur oder auch nur vor allem auf die romantischen Künstler zurückgeht, darf allerdings bezweifelt werden. Es dürften vor allem die von ihnen verachteten Geschäftsleute als prototypische Vertreter des Liberalismus gewesen sein, die primär für die Betriebsamkeit, die Weltoffenheit und das Gewimmel der modernen Großstadt verantwortlich zeichnen. Man kann jedoch annehmen, dass die Romantiker das spezifisch urbane Lebensgefühl maßgeblich mitgeprägt haben, und dass sie Argumente für diese Form von Urbanität geliefert haben. Zwischen Stadteinsamkeit und klaustrophobischer Enge (Vorstellung 35) Der „Märchenteppich der Stadt“ kann dem Romantiker Freiheit verheißen. Viele der städtischen Erfahrungen können als Freiheitserlebnisse beschrieben werden, die denen gleichen, die in der wilden Natur zu machen sind: (1) Der Romantiker erschließt sich den Stadtraum so wie die Landschaft, als Wandernder, und er kann sich (2) in der Großstadt wie in der freien Natur einsam fühlen. Es gibt aber (3) auch eine völlig konträre romantische Vorstellung von der großen Stadt, in der sie als Ort der Beengtheit und des Verhängnisses erscheint. Zu (1): Der Romantiker durchwandert nicht nur die freie Landschaft, auch die Stadtlandschaft erschließt sich ihm in Bewegung: „Man wohnt nirgends, man reist, sagt Chamissos Schlemihl.“568 Dabei kann das Motiv der romantischen Wanderung die Stadt als Station auf der Wanderschaft umgreifen, oder auch das Leben, Wohnen und Arbeiten selbst in der Stadt als in Bewegung auffassen: Romantiker sind „[e]her Wandernde als Wohnende“569. Der Romantiker darf sich niemals irgendwo zuhause fühlen, er darf

567 Ebd.: 11. 568 Ebd.: 21. 569 Ebd.: 20. – Das trifft sowohl auf die romantischen Figuren als auch auf die romantischen Künstler selbst zu: „Tatsächlich waren (nicht) nur romantische Intellektuelle mobil. Sie verharrten nicht an dem Ort, an dem sie geboren worden waren. Schon ihre Ausbildung legte ihnen meistens einen Ortswechsel nahe. Als Studenten hatten sie die Wahl zwischen zahlreichen Universitätsstädten, großen oder weniger großen, berühmten oder weniger berühmten. Darüber hinaus reisten sie: um Freunde und Verwandte zu besuchen, berufliche Kontakte anzuknüpfen, Sehenswürdigkeiten zu besichtigen. Manche zog es sogar ins

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niemals irgendwo angekommen sein, weil er im Moment der Ankunft, wie wir gesehen haben, in ein affektives Nichts fallen würde. Nun ist aber die Stadt selbst ständig in Bewegung, sie verändert sich fortwährend, bietet täglich Neues.570 Sie vermittelt dem in ihr wohnenden Romantiker das Gefühl, an der Bewegung teilzuhaben, also unterwegs zu sein. Im romantischen Gedanken von Urbanität verbindet sich also die Vorstellung der Dynamik der Stadt mit der spezifisch städtischen, weltoffenen Freiheit: „Die Stadt reicht in ihrer Beweglichkeit und Weltoffenheit über die territorialen Grenzen hinaus.“571 Die Romantiker hören auf, Europa in der Zerstückelung von Nationen und Raumabschnitten zu sehen. Die Stadt gilt ihnen als der Ort, an dem sie Neues und Fremdes erfahren können, wobei diese Erfahrung ganz anders konzipiert ist als die liberale Weltoffenheit: Während diese ganz im Zeichen des Handels und der Innovation der Produktionsmittel steht, ist jene mit einem genuinen Interesse an Exotik und Abenteuer verbunden, durch die der Romantiker sich die Verfremdung und Wiederverzauberung der in ihrer Vertrautheit banalen Umgebung erhofft.572 Zu (2): Die Größe und Dynamik der Großstadt lassen sie zum Ort der Anonymität werden, die als Freiheit erfahren werden kann. Die Stadt wurde zur „Metapher für Zusammenhanglosigkeit, Masse und Anonymität. In einer Stadt konnte man, wenn man wollte, Einsamkeit finden und Individuierung suchen. Man konnte, wenn man wollte, ein Fremder bleiben und sich der Aufmerksamkeit Dritter entziehen.“573 Obwohl oder gerade weil er von

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fremdsprachige Ausland, häufiger auf der Flucht vor Gläubigern, manchmal auch um politischer Verfolgung zu entgehen. Viele wechselten noch als Erwachsene mehrfach den Wohnort, sei es, daß ihnen andernorts lukrativere Einkommensmöglichkeiten winkten, sei es auf der Suche nach einem Mäzen oder einem dauerhaften Arbeitsverhältnis.“ (Frevert 2000: 56) Frevert betont auch, dass die Intellektuellen damit deutlich von den üblichen Gepflogenheiten ihrer Zeitgenossen abwichen (ebd.: 56). Zur Dynamik der Stadt Zimmermann 2000. Thalmann 1965: 20. Von Graevenitz (2000: 12) schreibt, dass die romantischen Stadttexte ein „europäisches intertextuelles Geflecht“ bilden, dass also romantische Erfahrung von Stadt immer auch „internationale Erfahrung“ ist. Hinzu kommt, dass es in den deutschen Einzelstaaten auf dem Gebiet des ehemaligen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und späteren Deutschen Bundes keine Großstadt gab, die mit London oder Paris mithalten konnte. Großstadterfahrungen waren so notwendig Erfahrungen ausländischer Metropolen, entweder aus direkter Anschauung, oder aus zweiter oder dritter Hand, also aus Briefen oder Reiseberichten. Frevert 2000: 73. – Frevert gibt die Überlegungen Caroline Michaelis-BöhmerSchlegel-Schellings wieder, die, als sie nach dem frühen Tod ihres ersten Mannes schwanger wurde, überlegt, wo sie inkognito ein Kind zur Welt bringen könne. Zunächst dachte sie daran, sich aufs Land zurückzuziehen, überlegt

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zahllosen Menschen umgeben ist, kann der Romantiker in der Einsamkeit der Großstadt Freiheit erfahren. Tiecks „Waldeinsamkeit“ kann sich in eine Art Stadteinsamkeit verwandeln. So läuft in Brentanos Godwi Römer, der Freund des Helden, durch die Menge in der Stadt und meint: „es ward mir nicht schwer, mich allein zu denken; denn wir sind nie mehr allein als bey einer Menge von Umständen, die ganz und gar verschieden von uns sind“574. Das Abstandnehmen vom Glück der Vergesellschaftung, das alle Außenseiter und Einzelgänger, und das sind die Romantiker, gekannt hätten, sei ein „paradoxer Reiz, den das Getriebe der Stadt doppelt und dreifach auslöst“575. Zu (3): Es gibt allerdings auch Vorstellungen, die diesen euphorischen Charakterisierungen der Stadt diametral gegenüberstehen. Sie kann nämlich auch als Ort der Beengtheit und Entfremdung wahrgenommen werden. „Wie so oft ist es Eichendorff, der mit seinen Bilderformeln das romantische Klischee festzunageln scheint: ‚Stadtluft erdrückt‘.“576 In seinem Roman Ahnung und Gegenwart kränkelt Erwin, Mignons Vetter, weil ihn die Stadtluft von der „wunderbare[n] Freundschaft zwischen ihm und der Natur mit ihren Wäldern, Strömen und Felsen“577 entfremdet. Und der Held des Romans blickt trostlos „aus dem Fenster in das verwirrende Treiben der mühselig drängenden, schwankenden Menge, und es war ihm, als könnte er hier nicht beten“578. Dieses Treiben weckt klaustrophobische Zustände. Aber auch von außen betrachtet wirkt die Stadt nicht minder bedrückend: ihre Türme wirken in der Silhouette „wie Leichensteine des versunkenen Tages“579 oder

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aber dann, ob nicht Berlin in Frage kommt: „Ist denn Berlin nicht groß genug um ein Weib zu verbergen? […] Läßt sich denn nicht ein Zimmer haben, wo sich eine Frau mit einem Kinde einmietet, etwas Aufwartung von den Leuten im Haus hat, und übrigens unbemerkt wie tausend andre existirt!“ (Ebd.: 74) Überhaupt scheinen Frauen die Stadt mehr und das Land weniger geschätzt zu haben als die romantischen Männer. „Sie waren, mehr noch als ihre Ehemänner, auf den städtischen Raum angewiesen, weil er sie mit Menschen zusammenbrachte und kommunizieren ließ. War diese Kommunikation männlichen Kollegen gleichsam automatisch zugänglich, mußten sich Frauen stärker persönlich darum bemühen.“ (Ebd.: 70) Brentano 1801/2007: 63. Thalmann 1965: 18. – Einsamkeit wird vom Romantiker ambivalent bewertet: Einerseits fühlt er sich als Außenseiter der Gesellschaft und leidet unter ihr. Andererseits weiß er um die Vorteile der „Einsamkeit des Denkens, die die Dinge intensiviert und deformiert, um zu ihrer Wahrheit zu gelangen“ (ebd.: 19). Graevenitz 2000: 7. Eichendorff 1815/1984/2006: 188. Ebd.: 132. Ebd.: 62.

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„wie Riesen, [die] sich aus der Finsternis aufrichteten“580. Geschöpfe, die in der Stadtluft nicht kränkeln, sondern gedeihen, haben, wie Gräfin Romana, ein „reiches, verwildertes Gemüt“, ein „rasches, Leben[,] einer Rakete [zu] vergleichen, die sich mit schimmerndem Geprassel zum Himmel aufreißt und oben unter dem Beifallsklatschen der staunenden Menge in tausend funkelnde Sterne ohne Licht und Wärme prächtig zerplatzt“581. Auch in Arnims Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores, dessen Lektüre in Ahnung und Gegenwart eine große Rolle spielt, ist die Stadt der Ort des Verhängnisses: die Gräfin erschießt nach einem irritiert-irritierendem Wechseln der Schauplätze zwischen Stadt und Land beim städtischen Schützenfest aus Versehen ihren Mann. Im Fall Arnims wächst diese stadtkritische Haltung ins Leben hinein (oder aus seinem Leben in die Bücher), wie ein Briefwechsel zwischen ihm und seiner Frau Bettina bezeugt. Achim zog sich aufs Land zur Bewirtschaftung seiner Güter zurück, während Bettina mit der wachsenden Kinderschar in der Stadt bleiben wollte. 1821 verteidigt er seine Entscheidung mit den folgenden Worten: „Ich wiederhole Dir noch einmal, was ich Dir neulich schrieb, daß ich lieber die Einsamkeit hier ertragen will als Dich oder die Kinder in ihrer Existenz stören. Ich fühle in Berlin physisch und geistig meinen Untergang, ich bedarf körperlicher Tätigkeit, um mich auch geistig tätig zu erhalten. Ein Unwohlsein, das mich in Berlin einen Tag umdüstert, ist mit etwas Graben oder einem Ritt über Feld verscheucht, mein landwirtschaftliches Geschäft hat das Gute, mich zu so etwas zu zwingen.“582

Angenehme Befremdung im Labyrinth der Großstadt (Vorstellung 36) Die tiefe Skepsis gegenüber jeder Form von Ordnung, die die Romantiker hegen, weil sie hinter ihr das Wirken aufklärerischer Vernunft wähnen, bestimmt auch ihre Einstellung zur Stadt. Die „aufgeklärte Stadt“, Inbegriff einer Planung und Regulierung nach vernünftigen Maßstäben, ist ihnen daher zutiefst zuwider. Wenn aber an der ‚Stadt‘ ihre unüberschaubare Dynamik in den Vordergrund gestellt wird, wenn sie als „labyrinthische[r] Raum“583 erfahren wird, dann imaginiert sie der Romantiker als Ort des Scheiterns der Ordnungsbemühungen, und sie wird ihm gerade wegen der in ihr herrschenden Unordnung zur fantastischen Gegenwelt. So trägt (1) die Unüberschaubarkeit und Dynamik dazu bei, die Stadt als Ort einer idealen romantischen Lebensführung und Welteinstellung zu betrachten; dies gelingt (2) durch das Gefühl des Fremdseins und der Befremdung, die ein Um-

580 Ebd.: 117. 581 Ebd.: 201 f. 582 Brief von Arnim an Bettina vom 31. Mai 1821 in Vordtriede 1981: 285, vgl. Frevert 2000: 72. 583 Thalmann 1965: 23.

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herschweifen der Einbildungskraft, ein Romantisieren des Stadtraums zur Folge haben können. Zu (1): Die Dynamik und Unüberschaubarkeit der Stadt kann im Romantiker, wenn er durch die Menschenmengen läuft, einen rauschhaften Taumel hervorrufen, der wenigstens momenthaft Gefühle der All-Verschmelzung, der Aufhebung der Trennungen der Menschen untereinander (denn jede dauerhafte Bindung an bestimmte Menschen trennt von anderen) und von Mensch und Welt bewirken kann.584 Diese Art, Stadt zu erleben, setzt deren naturgleiche Wahrnehmung voraus. Denn es stellt sich auf dieselbe Weise wie in der (wilden) Natur das ersehnte Gefühl der Einheit von Welt und Subjekt ein. An diesem Punkt zeigt sich sehr deutlich, dass die meisten Topoi, derer sich die Romantik bedient, weder exklusiv noch originär romantisch sind, sondern dass es sich um eine „Wiederbelebung des uralten Phantasmas ‚Stadt‘, erzeugt in den topischen Entgegensetzungen von Stadt und Land“585 handelt. Diese alten Topoi stoßen aber „auf eine neue, auf eine im emphatischen Sinne ‚moderne‘ Wirklichkeit der europäischen Städte. Und diese neue Wirklichkeit verändert die Bedeutung der Topoi.“586 So wird hier der rauschhafte Taumel (der später in den massenpsychologischen Diskurs eingehen wird, nicht als bedrohlich, entfremdend und überfordernd bewertet. Vielmehr wird dem Gefühl des Aufgehens in der Menge etwas Positives abgewonnen, und es wird überdies geschickt in die romantischen Überlegungen integriert, indem es mit dem Gefühl der All-Verschmelzung identifiziert wird. Zu (2): Eine Entrückung aus dem Bereich des Alltäglichen kann das Gefühl des Fremdseins und der Befremdung hervorrufen. „Sternbald fühlt sich fremd in den Stadtstraßen, aber doch auch festgehalten. Und Heinrich von Ofterdingen ist von dem lebhaften Getümmel und den großen steinernen Häusern ‚angenehm befremdet‘.“587 Befremdung ist nun nicht als unerwünschter Gegensatz zum Vertrauten zu verstehen. In „Befremdung“ – im Gegensatz zum bloßen „Fremdsein“ – kommt eine Faszination für das Unbekannte zum Vorschein. „Das Fremde lockt und erschüttert, es befremdet und wird im Verfremden, das heißt im Abstandnehmen, ein ästhetisches

584 Die These, dass die Stadt poetisierendes Potenzial habe, findet auch Unterstützung in der romantischen Landschaftsgartentheorie: Im Gegensatz zum ländlichen Stil, der als einziger keine Romantisierung bei einer Integration in den Landschaftsgarten erfährt, kann der Reichtum der städtischen Architektur die Landschaft im Landschaftsgarten poetisch überhöhen. Die Gebäude der Stadt können durch ihren Formen- und Anspielungsreichtum als Teil der romantischen Fernlandschaft, auf die sich vom Garten aus immer wieder Ausblicke eröffnen, inszeniert werden. (Siegmund 2010: 276.) 585 Graevenitz 2000: 8. 586 Ebd.: 11. 587 Thalmann 1965: 22.

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Phänomen.“588 So, wie die Wildnis nicht nur erschreckend ist, sondern auch verlockend, so kann auch die Stadt eine befremdend-faszinierende Anziehungskraft ausüben. Das Befremden schärft einerseits das Bewusstsein, und so nehmen die Romantiker die Stadt als Ort wahr, in der „Bewußtsein bis in alle Falten“ herrscht. Andererseits regt es die Einbildungskraft zur sehnsuchtsvollen Bewegung an, und der Status dessen, was wirklich ist oder als wirklich erscheint, wird in Zweifel gezogen: „Was ist wirklich? Man fragt, prüft, zweifelt.“589 Wie die Wildnis verunsichert die große Stadt die alltägliche Erfahrungswelt und erweitert das romantische Bewusstsein. Diese Verunsicherung wird aber nicht als Verwilderung gedeutet und bekämpft, wie im Konservatismus. Vielmehr nimmt in der romantischen Lesart die Stadt als Wildnis alle positiven Bedeutungen der landschaftlichen Wildnis in sich auf: Sie wird zum Mittel und Gegenstand der Verzauberung der Welt. Tabelle 5: Vorstellungen von Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt aus der Perspektive der romantischen Weltanschauung.

Freiheit

Wildnis

Kulturlandschaft

Stadt

Ort der Freiheit von den Zwängen der Vernunft: (1) Freiheit durch Unerreichbarkeit, AllVerschmelzung durch Entkonturierung der Fernlandschaft, (2) Freiheit als Vernunftfreiheit der schrecklichen Nahlandschaft.

Ort des beengenden Stillstands: (1) heimelige Enge statt verheißungsvolle Ferne oder schauererregende Wildnis, (2) Stillstand statt Wanderschaft.

Stadteinsamkeit und Ort klaustrophobischer Enge: (1) Ort der romantischen Wanderung, Mobilität und Internationalität, (2) Einsamkeit in den Massen der Großstadt, (3) Stadtluft erdrückt.

Schöne Verwirrung und ursprüngliches Chaos: (1) Wildnis als Ort des Ursprungs vor allen Trennungen und als Vorschein einer besseren Welt, (2) Wildnis als das Heilige.

Sinnbild entzauberter, banaler Ordnung und Poetologie der Kulturlandschaft: (1) entzauberte Ordnung der banalen Kulturlandschaft, (2) poetische Aufhebung der Subjekt-Objekt-Trennung.

Angenehme Befremdung im Labyrinth der Großstadt: (1) Unüberschaubarkeit und Dynamik der Stadt, (2) Befremdung und Verzauberung.

Gegenpol der Vernunft und Sphäre des poetischen Gefühls: (1) dunkle Seite der Natur drückt Abgründe der eigenen Seele aus („schwarze Romantik“), (2) Bedrohlichkeit als Mittel der Verzauberung (heiliger Schauer), (3) Vergeblichkeit der Sinnsuche schlägt in Verklärung um.

Kulturlandschaft als der Vernunft unterworfene Sphäre ist idyllische, nicht gefährliche Natur: (1) der Vernunft der Aufklärung unterworfene Sphäre, (2) Landleben gegen unmoralisches Leben am Hofe und in der Stadt.

Nischen des Wunderbaren in der „aufgeklärten Stadt“ und der „Märchenteppich“ der Stadt: (1) aufgeklärte Stadt als Folie des Fantastischen, (2) Stadtrand als romantische Nische versus Stadtzentrum und Kleinstadt, (3) die ganze Stadt als „Märchenteppich“.

30 32 35

Ordnung

29 33 36

Vernunft

28 31 34

588 Ebd. 589 Beide Zitate Ebd: 11.

5. Die Ordnung des Diskurses nach Weltanschauungen – das Beispiel der Qualifizierer der Zwischenstadt-Wildnis

In Kapitel 3 wurde eine erste Ordnung des Diskurses erarbeitet. Sie hat gezeigt, dass innerhalb einer Grundhaltung, wie etwa derjenigen der Qualifizierer, verschiedene Lesarten der Zwischenstadt als „Wildnis“, „Kulturlandschaft“ oder „Stadt“ auftreten können – Lesarten, deren Bedeutungen eigentlich unvereinbar sind. Umgekehrt ist eine gemeinsame Lesart nicht gleichbedeutend mit einer gemeinsamen Grundhaltung. Dieses Zwischenergebnis ließ uns weiterfragen, ob nicht in den unterschiedlichen Grundhaltungen dann, wenn die gleichen Lesarten verwendet werden, auf jeweils andere Vorstellungen von ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ rekurriert wird. Bedeutet also beispielsweise ‚Wildnis‘ für einen Gegner etwas ganz anderes als für einen Euphoriker der Zwischenstadt? Und wenn: worin genau bestehen dann diese Bedeutungsunterschiede und auf welche Deutungsmuster wird jeweils Bezug genommen? Im vorangegangenen Kapitel 4 haben wir dann gesehen, dass sich in der Tat mit den Begriffen ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ ganz unterschiedliche Vorstellungen verbinden – je nach dem, in welchem weltanschaulichen Zusammenhang sie stehen. Aufgabe des vorliegenden Kapitels ist es, die erste Ordnung des Diskurses, also die Formulierung der Diskurspositionen, zu differenzieren, und zwar mithilfe der Ergebnisse des vierten Kapitels, der Analyse des Interpretationsrepertoires, also der Differenzierung verschiedener Vorstellungen von ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ aus der Perspektive unterschiedlicher Weltanschauungen. Das müsste geschehen, indem ich für jede Diskursposition frage, wie ‚Wildnis‘ etc. gedacht wird, d. h. ob der jeweils auftretende Begriff eher dem liberalen, konservativen, demokratischen oder romantischen Denken entspricht. Für jede einzelne der neun Diskurspositionen die gerade formulierten Leitfragen zu untersuchen, würde nicht nur den Rahmen der Arbeit sprengen, sondern wäre auch ermüdend zu lesen. Denn nicht alle Analysen sind gleichermaßen relevant, um die Leitfragen der Ar-

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beit zu klären. Es ist daher sinnvoll, Schwerpunkte zu setzen. Als Kriterium dafür dient das Hauptanliegen der Arbeit,1 die Frage, wieso die Wildnismetapher für die Zwischenstadt gleichermaßen von den Gegnern, den Euphorikern und den Qualifizierern verwendet wird. Der Fokus der Untersuchung wird also, als methodisch beispielhafte Erläuterung, auf der Analyse der Position von Qualifizierern liegen, in denen die Zwischenstadt als „Wildnis“ interpretiert wird (Diskursposition 3a). Die anderen Positionen werden nicht völlig vernachlässigt, sie werden aber gleichsam von diesem Fokus aus und als Beitrag zum Verständnis dessen, worum es in ihm geht, analysiert. Dieser Analyseschritt leistet zweierlei: (1) Die weltanschaulichen Hintergründe und ideengeschichtlichen Traditionen heutiger, in der Diskussion um die Zwischenstadt relevanter Positionen werden dargestellt. (2) Es wird gezeigt, dass die Grundhaltungen zur Zwischenstadt keineswegs weltanschaulich homogen sind. Selbst die Diskurspositionen sind weltanschaulich nicht einheitlich. Man kann beispielsweise bemerken, dass sich in der Diskursposition derjenigen Euphoriker, die die Zwischenstadt als „Wildnis“ sehen (Diskursposition 2a), liberale und romantische Wildnisbegriffe kombinieren, d. h. auf je spezifische Weise miteinander verbinden. Hieran wird deutlich, dass der gewählte typisierende Ansatz nicht dazu dient, bestimmte weltanschauliche Zuordnungen zu zementieren. Vielmehr bildet er die Folie, vor der die möglichen und realen Kombinationen von (Elementen von) Weltanschauungen überhaupt erst sichtbar und präzise bestimmbar werden, statt nur als diffuse Mischung zu erscheinen. Es gilt also, das Augenmerk auf die in jeder Grundhaltung und jeder Diskursposition spezifische Kombination von Begriffen und Denkstrukturen unterschiedlicher weltanschaulicher Hintergründe zu richten. Drei Fragenkomplexe leiten diesen Teil der Diskursanalyse: (1) Welche Ideen von ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ oder ‚Stadt‘ kommen jeweils in den Grundhaltungen und in den Diskurspositionen vor? Entsprechen diese Ideen, und wenn ja, in welcher Hinsicht entsprechen sie einem liberalen, einem konservativen, einem demokratischen oder einem romantischen Verständnis? Elemente welcher Weltanschauungen kann man also in der Wildnis-Vorstellung der Qualifizierer finden? (2) Wie kombinieren sich in den Diskurspositionen und in den Grundhaltungen weltanschaulich unterschiedliche Vorstellungen von ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ zu neuen Deutungsmustern? Zu welchen Ausdifferenzierungen oder Neukombinationen der klassischen, d. h. weltanschaulich reinen Bedeutungen der Lesarten kommt es? (3) Dominieren bestimmte Weltanschauungen oder bestimmte Kombinationen den Diskurs? Zwar sind fast alle Lesarten in allen Grundhaltungen und Diskurspositionen denkbar und auch empirisch anzutreffen, es ist aber plausibel, davon auszugehen, dass bestimmte Weltanschauungen oder be-

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Siehe zur Herleitung und Begründung der Schwerpunktsetzung Kapitel 1.

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stimmte Kombination ihrer Elemente charakteristisch sind. „Dominieren“ ist hier allerdings nicht quantitativ gemeint; es geht nicht darum, welche Weltanschauung besonders häufig auftritt. Es handelt sich vielmehr zum einen um ein ohne quantitative Analyse feststellbares besonderes Gewicht – feststellbar etwa dadurch, dass etwas mit besonderem Nachdruck gesagt wird, anderes dagegen vielleicht häufiger, aber eher beiläufig (siehe auch Kapitel 2.1). Die Frage nach der Dominanz bezieht sich vor allem auf die strukturelle Ebene der weltanschaulichen Kombination: Es interessieren Inklusionshierarchien, Kausalitäten von Aussagen und Verhältnisse der logischen Implikationen und des gegenseitigen Ausschlusses. Es wird also gefragt, ob zwei oder mehr gleichberechtigte Weltanschauungen kombiniert werden, oder ob Weltanschauungen in andere, dominierende integriert werden. Ich habe dazu in einem ersten Schritt Entwürfe, Entwurfsbeschreibungen und andere Texte von Planern und Architekten dahingehend untersucht, ob sie der Grundhaltung der Qualifizierung zugeschrieben werden können. War das der Fall, dann habe ich darin in einem zweiten Schritt Passagen2 gesucht, in denen die Zwischenstadt als ‚Wildnis‘ charakterisiert wird – explizit, indem beispielsweise von „Wildnis“, „Wildwuchs“ oder auch „Wucherung“ die Rede ist, oder implizit, indem der Zwischenstadt Eigenschaften zugeschrieben werden, die auch der Wildnis als wesentliche Merkmale zugeschrieben werden können. In solchen Fällen ist dann beispielsweise von „Unkontrollierbarkeit“ oder von „Freiheit“ die Rede. In einem dritten Schritt frage ich jeweils, welcher der in Kapitel 4 identifizierten Vorstellung von ‚Wildnis‘ die untersuchten Aussagen entsprechen. In diesem Schritt ordne ich also die Aussagen der liberalen, konservativen, demokratischen oder romantischen Weltanschauung zu. Es wird sich zeigen, dass die ausgewählte Diskursposition, aber auch bereits die Äußerungen einzelner Protagonisten zumindest in der Regel nicht weltanschaulich homogen sind, sondern Anteile unterschiedlicher Weltanschauungen kombinieren. Wie sich diese Kombination oder Integration vollzieht, wird in einem vierten Schritt untersucht. Da die Qualifizierer ihren ersten Zugang zu ihrem Planungsobjekt, der Zwischenstadt, als einen ästhetischen bestimmen, werde ich mich im ersten Unterkapitel (5.1) mit der (An-)Ästhetik der als „Wildnis“ wahrgenommenen Zwischenstadt beschäftigen. Weil Wildnis aber nicht nur ein ästhetischer, sondern auch (und vielleicht sogar in ihrem Kern)3 ein moralischer

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Sie können auch als „Lexien“ bezeichnet werden. Der Begriff geht auf Roland Barthes zurück und bezeichnet eine Lektüreeinheit, die „entweder einige wenige Wörter oder einige Sätze enthält“ und die definiert ist als „der bestmögliche Raum zur Beobachtung von Bedeutungen“ (Roland Barthes zit. n. Todorov & Ducrot 1972/1975: 245; vgl. Hauser 1990: 37 f.). Diese These stellen Kirchhoff & Trepl (2009: 22; siehe auch 24) auf: „Wildnis ist eine Gegend, die als Gegenwelt zur moralisch (als gut oder böse/schlecht) beurteilten kulturellen Ordnung angesehen wird.“ Ihre These ist eingebettet in ei-

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Begriff ist, wird im zweiten Unterkapitel (5.2) auf die Zwischenstadt als Wildnis, diese als moralische Kategorie verstanden, eingegangen.4

5.1 D IE „ ANÄSTHETISCHE W ÜSTE “ – ZUR ÄSTHETIK DER Z WISCHENSTADT Der unmittelbarste Zugang zur Zwischenstadt liegt (jedenfalls für Architekten und Planer) in ihrer bildlichen Realität. „Die Bildwirklichkeit der Zwischenstadt eröffnet den ersten Zugang zu diesem aktuellen städtebaulich-urbanistischen Phänomen. Von ihrem anästhetisch-ästhetischen Doppelcharakter geht ein ambivalenter Reiz aus.“5 Um diesen Reiz zu untersuchen, werde ich im ersten Unterkapitel (5.1.1) auf die Vorstellungen der Qualifizierer zur Ästhetik der Zwischenstadt eingehen. Man wird sehen, dass dies eine Ästhetik der ‚Wildnis‘ ist, die bei ihnen unter dem Begriff der „Anästhetik“ gefasst wird. Unterschiedliche Auffassungen dieser Anästhetik werden im Hinblick auf mögliche weltanschauliche Zuordnungen analysiert. Dabei wird sich herausstellen, dass bei den Qualifizierern eine romantische Auffassung überwiegt, doch mit bestimmten Abweichungen. Die ästhetischen Taktiken, die die Qualifizierer aus ihren Auffassungen ableiten, werden anschließend, im zweiten Unterkapitel (5.1.2) untersucht. 5.1.1 Die Anästhetik der Zwischenstadt Sieverts bezeichnet die Zwischenstadt als „anaesthetische Wüste“6. Er definiert das Anästhetische unter Bezug auf Wolfgang Welsch7 als „das norma-

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nen Argumentationszusammenhang, in dem jeweils eine Naturauffassung einer der drei in der modernen Philosophie geläufigen Urteilsformen zugeordnet wird: „Wir gehen davon aus, dass Auffassungen von Natur als Landschaft auf einem ästhetischen, von Natur als Wildnis auf einem moralisch-praktischen und von Natur als Ökosystem auf einem theoretischen Urteil beruhen, wobei die primäre Urteilform die jeweilige Naturauffassung nicht unbedingt vollständig bestimmt. Mit anderen Worten: Primär ist Landschaft ein ästhetischer, Wildnis ein moralischer und Ökosystem ein theoretischer Gegenstand bzw. Begriff von Natur.“ (Ebd.: 18). Dass ich die theoretische Dimension, die ja neben der ästhetischen und der moralischen die dritte im Bunde ist, nicht behandle, hat keinen systematischen Grund, sondern erklärt sich aus dem Erkenntnisinteresse der Arbeit, das auf den beiden anderen Dimensionen liegt. Bölling & Christ 2005: 11. Sieverts 1998: 468. Welsch 1990/2003.

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lerweise nicht bewußt Wahrgenommene“8: „Wir erleben diesen Teil unserer realen Lebenswelt [gemeint ist die Zwischenstadt] quasi ‚anaesthesiert‘, also trotz Verletzung unserer Sinne schmerzfrei oder gar bewußtlos.“9 Die Qualifizierer gehen dabei nicht von einem Ästhetikbegriff aus, der sich auf das „interesselose Wohlgefallen“ angesichts des betrachteten Objektes bezieht (wie man das ästhetische Urteil in Anlehnung an Kant bestimmen könnte). Sie thematisieren vielmehr eine Vorbedingung der ästhetischen Wahrnehmung, nämlich dass das Objekt überhaupt bewusst sinnlich wahrgenommen und nicht einfach ausgeblendet wird. Ihr „ästhetisches“ Urteil ist stark durch eine entschiedene Anteilnahme an der Zwischenstadt und ihrer Entwicklung geprägt, mithin keineswegs „interesselos“. Einige Qualifizierer legen ihren Überlegungen zur Anästhetik einen Begriff von Ästhetik zugrunde, der diese mit Aneignung und Kommunikation verbindet: „Wahrnehmung (aisthesis) in dem hier verstandenen Sinne ist eine Form der sinnlichen Zuwendung, die die Kommunikation des Wahrgenommenen einschließt und zur Folge hat und mit gesellschaftlichen Praktiken verbunden ist, die als materiale, symbolische oder imaginäre Aneignungen von Arealen verstanden werden können.“10

Dahinter steht die These, dass das, was nicht bewusst wahrgenommen wird, auch „kein Thema öffentlicher Verhandlungen, kein Gegenstand einer sozialisierten ‚Sorge‘ und Sorgfalt, die sich auf die Ausgestaltung der Qualitäten der Umgebung richtet“11, sei. Sieverts charakterisiert die Anästhetik der Zwischenstadt als „Vordringen von Bereichen in unsere alltägliche Lebenswelt, die wir in ihrer Belanglosigkeit häufig schon gar nicht mehr wahrnehmen“12. „Anästhetische Wüsten begegnen uns in Einfamilienhausgebieten genau so wie in den Gewerbegebieten, an Einfallstraßen ebenso wie in Shopping-Centern.“13 Hauser vermutet, dass sie als anästhetisch erschienen, weil es nicht gelinge, die einzelnen Elemente mit (kulturellen) Bedeutungen und zu einem Bildganzen zu verbinden: „Es will nicht einfach gelingen, das Ganze zum Bild zu schließen, irgendeinen Ausschnitt als bedeutsam zu erachten, irgendeine Form oder auch irgendeine bekannte ästhetische, mit Bildkonzepten vereinbare Strategie, die eventuell verfolgt worden wäre, bei der Gestaltung zu entdecken.“14

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Sieverts 1997: 108. Sieverts 1998: 469. Hauser 2004: 209; vgl. Hauser & Kamleithner 2006: 23. Hauser 2004: 209. Sieverts 1998: 468. Ebd.: 469. Hauser 2003: 107; vgl. Hauser & Kamleithner 2006: 37. – Hier wäre allerdings zu überlegen, ob Hauser nicht einen Kurzschluss zwischen dem Begriff des Anästhetischen (als der bloßen Vorbedingung des Ästhetischen und anderer Arten

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Die Bildsprache der Zwischenstadt ist fremd und ohne Anknüpfungspunkte – ja es sind vielfach nicht einmal Bilder, die wahrgenommen werden. Diese Art der Beurteilung erinnert an die Wahrnehmung wilder Natur in der Vormoderne: Dass Wildnis überhaupt mit einem ästhetischen Blick erfasst und als erhaben oder schön beurteilt werden kann, ist eine kulturgeschichtliche Errungenschaft, die sich erst herausbilden musste. Das geschah im England des frühen 18. Jahrhunderts und hat sich etwas später auch in Kontinentaleuropa durchgesetzt. Die Alpen, die als mitteleuropäische Wildnis par excellence galten, wandelten sich in diesem Prozess von Warzen im Angesicht der Erde zur erhabenen Gebirgslandschaft.15 Die ästhetische Beurteilung der verstädterten Landschaft scheint einen ähnlichen Wandel zu durchlaufen: Lange Zeit wurde sie überhaupt nicht ästhetisch, sondern allein unter ökonomischen Kriterien betrachtet, und erst etwa seit der Mitte der 1990er Jahre gibt es, wie sich noch zeigen wird, unter Architekten und Planern Beschreibungen der Zwischenstadt als ästhetisch reizvoll, sogar als erhaben und schön – wenn auch darauf hingewiesen wird, dass es sich um ein anderes, ein neues Ideal handelt, nach dem geurteilt werde. Die Fremdheit der Eindrücke, die sich in der Zwischenstadt bieten, und die Unmöglichkeit, sie zu einem Bildganzen zu synthetisieren, führten dazu, dass man diese Gebiete unbewusst, ja geradezu betäubt, wahrnehme. Dadurch stellten sich Gefühle der Öde und Befremdung ein: „Die Fähigkeit, Eindrücke, also ‚wilde‘ (im Gegensatz zu bereits erschlossenen, zu einem Bild gefügten und interpretierten) Informationen selbst zu erschließen, innerlich zu einem Bild zu fügen und zu interpretieren, und die Fähigkeit, leere Stellen mittels Assoziationen, Erinnerungen und Projektionen selbst zu füllen, nenne ich die produktive und sentimentale Wahrnehmung. Aus der Welt der erschlossenen Informationen, also im weitesten Sinn aus der Kulturlandschaft kommend, stellt sich am namenlosen, unprominenten, wilden Ort

der Beschäftigung mit dem, was man bewusst wahrnimmt) und der Ästhetik macht. Das heißt, die Anästhetik ist einfach Nicht-Wahrnehmung und hat zunächst nicht mehr mit Ästhetik zu tun als auch mit Wissenschaft und Moral. Etwas wahrnehmen zu können ist auch Voraussetzung dafür, sich mit dem Objekt wissenschaftlich oder moralisch-praktisch zu befassen. Es wäre zu unterscheiden zwischen der Anästhetik im Allgemeinen, wo gar nichts bewusst wahrgenommen wird, und einer Anästhetik im engeren Sinne (die Hauser zu meinen scheint), wo etwas durchaus wahrgenommen wird, z. B. als ökonomisch wichtig, aber eben nicht als etwas ästhetisch zu Betrachtendes, als Bild, zu dem man dann beispielsweise sagen könnte: schön oder hässlich. 15 Diese Entwicklung wird in der Literatur umfassend behandelt, vgl. Dirlinger 2000; Groh & Groh 1991; Hoheisel et al. 2005; Koschorke 1990; Schama 1996: insb. Teil 3; Schwarzer 2007; Speich 2004; Wozniakowski 1987.

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erstmal Langeweile ein. Das, was auf uns zukommt, können wir nicht lesen. So tritt zur Langeweile Irritation.“16

Das Misslingen bzw. die Unmöglichkeit einer bewussten Wahrnehmung deutet Hauser als Nicht-Beachtung bestimmter gesellschaftlicher Zustände. „Meine Annahme ist […], dass eines der Probleme mit der Bildlosigkeit, der (An-)Ästhetik der Zwischenstadt, in der Prolongierung und Pflege lang gehegter (stadt-)bürgerlicher Träume liegt, die eine Nicht-Anerkennung gesellschaftlicher Entwicklungen und der ihnen entsprechenden Raumkonstrukte bedeuten“.17 Sieverts formuliert eine ähnliche Vermutung: „Die Weigerung, die Realität der heutigen Stadt zur Kenntnis zu nehmen, beherrscht im alten Europa seit etwa einer Generation und auch nach wie vor die politische und kulturelle Diskussion.“18 Der ästhetischen, und in deren Folge: planerisch-gestalterischen, Zuwendung zur Zwischenstadt stehe das Idealbild der Alten Stadt im Wege: „Diese innerliche Fixierung auf die Alte Stadt fördert zuerst einmal Vorurteile bei der Betrachtung und Bewertung der Vorstädte, der Peripherie.“19 Ohne dass dieser Haltung eindeutig bestimmte Bedeutungen von Wildnis (bzw. Kulturlandschaft und Stadt) zugeordnet werden können, geht aus ihr doch klar eine antikonservative Einstellung hervor.20 Deutlich wird dies an der Verurteilung der fortschrittskritischen Haltung, die das Überkommene (die alte „Europäische Stadt“) dem Neuen (der Zwischenstadt) als prinzipiell überlegen ansieht. Sie wird als ideologisches Interesse eines (konservativen) Stadtbürgertums demaskiert, das vor allem deswegen bedenklich sei, weil es die gesellschaftlichen Realitäten systematisch verkenne. Dem konservativen Reflex halten die Qualifizierer entgegen, dass die Zwischenstadt besser sei als ihr Ruf und dass die heutige Realität der Stadtkerne keineswegs so rosig sei, wie es die Verfechter der Europäischen Stadt glauben machen wollen oder tatsächlich glauben: „Dieser Wust von Vorurteilen, die sich ausnahmslos an der historischen Stadt orientieren, verstellt uns aber den Blick nicht nur auf den Bereich des suburbanen Raums

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Sieverts 1997/2001: 57. Hauser 2003: 107. Sieverts 1998: 455. Sieverts 1997: 30, siehe auch Sieverts 1998: 455. Sieverts selbst charakterisiert seine „politische Grundhaltung“ in diesem Zusammenhang mit den Worten Peter Neitzkes: „Politisch werden heißt zunächst, sich verändernde, durch noch so große Anstrengung nicht mehr umkehrbare Prozesse nicht als Bedrohung zu sehen, sondern als Chance, den Horizont des eigenen Denkens und der eigenen Aktivitäten neu zu denken.“ (Peter Neitzke: Nachgefragt: Wann werden Architekten politisch? In: Baumeister, Oktober 1997, zit. n. Sieverts 1998: 455)

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der Zwischenstadt, sondern auch auf die gegenwärtige Realität der historischen Stadtkerne selber. Wenn sich der Blick nicht nur an der Hülle der alten historischen Fassaden festmacht, sondern […] etwas genauer dahinter schaut, dann stellt man fest, daß sich auch die Alte Stadt immer mehr den Einkaufszentren der Peripherie angleicht.“21

Die Anästhetik der Zwischenstadt mache blind für die Schattenseiten moderner Entwicklungen. Deutlich wird diese Einschätzung, wenn die Qualifizierer begründen, warum man für die anästhetische Seite der Zwischenstadt sensibilisieren müsse: „Erst die Kultivierung der Wahrnehmungsfähigkeit gerade auch für die anästhetischen Kehrseiten unserer rational-technisierten Welt sensibilisiert für die dunklen Kehrseiten ökonomischer und technischer Prozesse, die ‚normalerweise‘ der anästhetischen Welt angehören und deswegen nicht mit emotionaler Betroffenheit wahrgenommen werden“.22

Die Anästhetik der Zwischenstadt wird also insbesondere als Begleiterscheinung wirtschaftlicher, technischer und sozialpolitischer Entwicklungen der „Zweiten Moderne“ verstanden. Diese blieben „ohne emotionale Zuwendung und ohne bildhaftes Erkennen […] letztlich ‚kalt‘“23. Unter den Qualifizierern gibt es zwei verschiedene Erklärungsvarianten für diese „Kälte“: (1) Wenn man so argumentiert, wie Sieverts es tut, dann erscheint die Welt „kalt“, weil man sie nicht mit „emotionaler Betroffenheit“ wahrnimmt. Das könnte man aber durchaus, man muss nur „sensibilisiert“ werden. Solange man das nicht ist, sieht man sie nur mit dem Blick des Ökonomen oder Technikers, und dann ist sie kalt. Es ist also eine Frage des Blicks; er kann die Dinge „warm“ machen. Mit dieser Argumentation wird ein fortschrittskritischer Topos (die Kritik an der Kälte der modernen Welt) aufgegriffen, aber völlig in sein Gegenteil gewendet. Die Moderne habe ein enormes Potential an Emotionen; es liege nur an uns selbst, ob sie uns als kalt erscheint. Die so argumentierenden Qualifizierer sympathisieren also mit der Moderne und wollen sie gegen Kritik verteidigen. (2) Von dieser Auffassung ist eine andere zu unterscheiden, die davon ausgeht, dass die moderne Gesellschaft und das, was sie hervorbringt, kalt sind, weil sie selbst technisch-ökonomisch ist. Die Kälte ist in dieser Begründungsvariante also keine Frage der Wahrnehmung, sondern objektive Eigenschaft der Welt bzw. der modernen Gesellschaft. Bei Welsch wird diese Argumentation sehr deutlich.

21 Sieverts 1997: 30 f.; siehe auch Sieverts 1998: 455. 22 Sieverts 1997: 109. 23 Sieverts 1998: 470.

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„Dem reinen Rationalisten käme die Anästhesierung allenfalls zupaß, und er würde weiterhin (nur jetzt mit dem endgültig guten Gewissen, nichts übersehen zu haben) das betreiben, womit er uns blindlings von einer Katastrophe zur anderen treibt. Der ästhetisch Sensibilisierte hingegen erkennt die Kehrseite des Prozesses und bahnt einem anderen, auf die Anästhetik reagierenden, nicht ihr verfallenden Handeln den Weg. Gerade dort, wo die Dynamik der Technowissenschaften und einer durch sie geprägten Zivilisation wahrnehmungslos und fühllos geworden ist und wo diese Abkoppelung katastrophische Effekte heraufgeführt hat, wurde solche Wahrnehmung vordringlich. Gegen systematische Anästhetik hilft nur gezielte Ästhetik.“24

Die Moderne („Rationalisten“) ist systematisch anästhetisch, sorgt also dafür, dass es der Einbildungskraft beim Blicken in die Gegend nicht mehr gelingt, etwas hervorzubringen, woran der ästhetische Blick überhaupt ansetzen könnte. Der Griff zur „gezielten Ästhetik“ bekämpft dann in der Tat das, was die rationale Moderne beabsichtigt. Diese Argumentation offenbart die Kontinuität eines Topos der klassisch-konservativen Fortschrittskritik: Auf die anästhetische Zwischenstadt wird eine Bedeutung übertragen, die in der konservativen Stadtkritik der ‚Großstadt‘ zugeschrieben wurde: Wie diese wird nun jene als Ort universeller Gleichheit (Vorstellung 17) angesehen. Die großstädtische Gleichmacherei bedeutet aber nicht die große Freiheit, wie von den weltanschaulichen Gegnern versprochen. Sie macht vielmehr die Welt kalt und lebensfeindlich. Denn das herrschende mechanische Prinzip („Technowissenschaften“), das auch die Gesellschaft regiert, ignoriert, weil es „wahrnehmungslos“ und „fühllos“ ist, die lebendige Eigenart der Individuen. Wir sehen, dass obwohl sich Sieverts bei der Entwicklung seiner Gedanken zur Anästhetik wesentlich auf Welsch bezieht, zwischen beiden Auffassungen bezüglich der Dominanz weltanschaulicher Figuren ein großer Unterschied besteht: Während Welsch klassische konservative Argumente reformuliert, gibt Sieverts ihnen eine Wendung, die sie in ihr Gegenteil umschlagen lassen. 5.1.2 Anästhetik und die Strategie der Qualifizierung Welsch weist die instrumentelle Vernunft und ihre gesellschaftlichen Folgen zurück und einen Ausweg aus der durch Anästhetik betäubten Gesellschaft, den Sieverts aufgreift und der charakteristisch ist für die Strategie der Qualifizierer im Allgemeinen: gezielte Ästhetik. Vier Momente, die sich auch als aufeinander folgende Stufen begreifen lassen, zeichnen diese Strategie aus.

24 Welsch 1990/2003: 68.

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(1) Sensibilisierung für die Anästhetik „Erst die Sensibilisierung für ihre große anästhetische Seite, die ja das Ergebnis unzähliger ‚gefühlloser‘ rationaler Entscheidungen darstellt, kann den Weg bahnen zu einem anderen Umgang mit der Zwischenstadt.“25 Es komme also zunächst darauf an, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass große Teile unserer alltäglichen Lebenswelt von uns nicht bewusst wahrgenommen würden.26 Dabei sei es wichtig, auch darauf aufmerksam zu machen, dass die Anästhetik Ausdruck einer Auffassung ist, die sich der gesellschaftlichen Realität verweigere und dass sie sich kalten, emotionslosen gesellschaftspolitischen, ökonomischen und technischen Entwicklungen verdanke. Die Sensibilisierung soll den Bereich des ästhetisch Wahrgenommenen ausweiten, weil dann auch das Reizvolle an der Zwischenstadt sinnfällig werde. Dazu aber muss man „sich auf eine andere Ästhetik als die herkömmliche Architekturästhetik beziehen“27. Sieverts verweist auf Überlegungen zur „Paraästhetik“: „Dieser Begriff von Paraästhetik könnte den Blick öffnen auf den – landläufig und gemessen an normierten Schönheitsidealen als häßlich betrachteten – chaotischen Formenreichtum der Zwischenstadt, der ja auch längst von der zeitgenössischen Kunst entdeckt worden ist. ‚Eine paraästhetische Position würde sensibilisieren für Übergänge vielfältiger Art in räumlicher, zeitlicher und materieller Hinsicht zwischen ‚schön‘ und ‚häßlich‘, ‚nützlich‘ und ‚nutzlos‘, ‚moralisch‘ und ‚verwerflich‘ und damit für ein Verständnis, das die Ränder und Grenzen des Ästhetischen, verstanden in einem weiten Sinn – als gesellschaftlich und kulturell Wahrnehmbares und mit Sinn und Bedeutung Belegtes – beständig ausweitet.‘ (Hauser)“28

(2) Intensive und offene Auseinandersetzung mit dem Ort Was setzen die Qualifizierer der Anästhetik entgegen? Sie fordern eine intensive und vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit dem Ort, die zu einer intimen Ortskenntnis führt. Vor jeder gestalterischen oder planerischen Maßnahme müsse man sich auf die Zwischenstadt einlassen, offen und mit allen Sinnen. Das soll Sehgewohnheiten so ändern und die Grenzen der Ästhetik so erweitern, dass auch ein zunächst unattraktives Gebiet als eines erscheint,

25 Sieverts 1997: 109. 26 Die Schaffung dieses Bewusstseins ist in den beiden oben skizzierten Auffassungen darüber, wie die „Kälte“ der Zwischenstadt zu erklären und zu bekämpfen sei, der erste notwendige Schritt. 27 Sieverts 1997: 106. 28 Ebd.: 107 mit Zitat von Hauser. – Der hier entwickelte Begriff des „Paraästhetischen“ schließt die Dimension des Guten (Sinn- und Bedeutungsvollen) mit ein. Er ist also ein anderer Begriff von „Ästhetik im weiteren Sinne“ als der oben dargestellte, der die Ebene des Angenehmen integrierte.

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das eine bewusste Zuwendung sowohl auf individueller als auch gesellschaftlicher Ebene wert ist:29 „Vor jedem aktiven gestalterischen Ordnen und Eingreifen muß man nicht nur die Augen öffnen, sondern auch alle anderen Sinne benutzen, um die Zwischenstadt erfassen zu können. Bewußtes Sich-Einlassen, Wahrnehmen, Erkennen und Interpretieren mit dem Ziel der kritischen, möglichst vorurteilsfreien und der jeweiligen Situation gerecht werdenden […] Aneignung der eigenen Umwelt stehen am Anfang jeden Gestaltungsversuchs der Zwischenstadt: Wieder geht es um eine Erweiterung der ästhetischen Welt, um ein Verschieben der Grenzen zwischen Anästhetischem und Ästhetischem.“30

(3) Der neue Blick Es ist vor allem die intime Ortskenntnis, die jenen anderen Blick öffnet. Das zunächst nicht oder nur unbewusst Wahrgenommene verändert sich dadurch; unvermutete Seiten des Alltäglichen werden enthüllt. Meine These ist, dass diese urbanistische Strategie, die charakteristisch für die qualifizierenden Zugänge überhaupt ist, im Kern dem romantischen Programm gleicht: So wie in diesem die Wirklichkeit romantisiert und (damit) verzaubert werden soll (siehe Kapitel 4.4), so streben auch die Qualifizierer danach, der Realität der Zwischenstadt durch geänderte Sehgewohnheiten eine andere Qualität zu verleihen. Allerdings – und das ist nur die erste einer ganzen Reihe von Abweichungen vom klassisch romantischen Anliegen – ist hier in die romantische Programmatik ein konservativer Topos integriert: die Ortskenntnis. Nur in der Heimat kenne man sich wirklich aus. Nur, wenn man sich mit seinem ganzen Leben auf den Ort, zu dem man gehöre, eingelassen habe, sei man wirklich mit ihm vertraut. Wie verbinden sich die romantische Verzauberung durch Ästhetisierung und die Idee der Ortskenntnis in der Strategie der Qualifizierung? Diese Kombination scheint zunächst abwegig, da der Romantiker ein Wanderer ist, der sich nirgends auskennt und auch nicht auskennen darf, weil sonst der Zauber des Neuen verschwindet; er träumt immer vom Fremden. Dazu muss er aber auf der Suche (nach Ortskenntnis) sein und doch darf nie Vertrautheit entstehen. Die Qualifizierer integrieren in ihre Romantik das konservative Element der Ortskenntnis so, dass es der

29 Aus einer vergleichbaren Motivation heraus betonen einige Landschaftsarchitekten die immense Bedeutung der Analyse des Projektgebiets und seines Kontextes. Dabei betonen sie, dass die Analyse keine objektive Bestandserfassung sei und sein solle, sondern dass Analyse und Entwurf in einem sich wechselseitig beeinflussenden Verhältnis ständen. Weilacher spricht mit Lassus von „erfinderischen Analysen“ (Weilacher 2003 unter Bezug auf Lassus 1998; siehe auch Lassus in Weilacher 1996: 109; Werner 2008.) 30 Sieverts 1997: 111.

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Verzauberung dient (was die Romantiker selbst noch nicht taten oder konnten). Wie funktioniert diese Verzauberung durch Ortskenntnis? Es ist die endlose Erkundung des Ortes (Zwischenstadt), die ihn verzaubert. Die Beziehung zum Ort ist nicht in erster Linie die eines behaglich drin Wohnens, sondern die eines ständigen Suchens und Entdeckens. Der romantische Qualifizierer wandert nicht ziellos durch die Welt, sondern am Ort der Zwischenstadt ins immer Genauere. Es gibt an ihr immer Neues zu entdecken – nicht nur, weil sie sich tatsächlich ständig und schnell verändert, sondern weil sich durch immer genaueres Hinsehen immer neue Ebenen der Wirklichkeit offenbaren.31 An vier Punkten zeigen sich weitere Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede der romantischen Weltsicht und der Strategie der Qualifizierung: (a) Die Blickveränderung verfolgt sowohl bei den Qualifizierern als auch bei den Romantikern das Ziel der „qualitativen Potenzierung“ (Novalis) der alltäglichen Wirklichkeit. Das heißt, im Alltäglichen soll das Außergewöhnliche, im scheinbar Banalen das Besondere und im heimatlich Wohlbekannten das Exotische gesucht und gefunden werden: „Die wilden Peripherien der großen Städte sind […] eines der letzten großen Abenteuer, sie sind das Unerforschte, vom Erhabenen bis zum Unscheinbaren und voll von Überraschungen und Geheimnissen: Fragmente können immer wieder zu neuen Zusammenhängen gefügt werden.“32 Bis in die Metaphorik hinein gibt es Übereinstimmungen zwischen den Romantikern und den Qualifizierern: Die ersteren hoffen, durch das Romantisieren der „Wüste der Langeweile“, der „Wüste der Entzauberung“33 zu entrinnen, die letzteren setzen darauf, der „anaesthetischen Wüste“ (Sieverts) zu entkommen. Doch während die Romantiker die immanente Welt transzendieren wollen, um gegen die Sinnentleerung und den modernen Nihilismus das geheimnisvoll Göttliche zu stellen, nimmt die Argumentation der Qualifizierer ausschließlich Bezug auf Diesseitiges. Andererseits hielten die Romantiker das Jenseitige für auf immer verloren; es ging ihnen um die Verzauberung der irdischen Dinge, und die Qualifizierer wollen ihre Umgebung insofern doch verzaubern, als sie nicht banal-alltäglich und vor allem

31 Boris Sieverts schreibt in diesem Sinne auf der Homepage seines „Büro für Städtereisen“, das Wanderungen und Radtouren durch die unbekannten Landschaften der Ballungsgebiete anbietet: „Ein gelungener Weg führt einen unmerklich aus dem eigenen Kulturkreis hinaus. Das Image der Stadt wird bis zur Unkenntlichkeit relativiert. Die alte Orientierung an Bauwerken und Verkehrswegen löst sich auf.“ (Sieverts o. J.b; siehe auch Sieverts 2008). Die Spaziergangsforschung oder -wissenschaft verfolgt ähnliche Ziele, siehe beispielsweise Burckhardt 2006: insb. 251-352, oder die Projekte des „Atelier Latent“ von Bertram Weisshaar). Unmittelbarer planungsorientiert ist der Ansatz von Stein und Schultz, siehe Stein & Schultz 2007. 32 Sieverts 2003b: 55. 33 Beide Zitate Safranksi 2007: 207.

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nicht formlos sein soll. Deren „Verzauberung“ verläuft aber nicht über Mythen und Märchen, selbst wenn „Geschichten der Region“ erzählt werden. Diese haben nicht die Funktion, die Zuhörer direkt in eine andere, poetische Welt zu führen, sondern sie sollen das Wissen über die Gegend vertiefen. Erst über diesen Umweg, die akribische Erkundung der zwischenstädtischen historischen und lebensweltlichen Realität, soll sich schließlich ein anderes Verhältnis zur Welt einstellen. (b) Die Ebene, auf der sowohl das Romantisieren als auch die Blickveränderung der urbanistischen Qualifizierung sich ereignet, ist die einer veränderten Einstellung zur Welt. Sofern, wie oben als eine Variante diskutiert, davon ausgegangen wird, dass der Anästhetik der Zwischenstadt durch eine Veränderung des Blicks die „Kälte“ genommen werden kann, gilt die veränderte Haltung zur Welt als notwendige Vorbedingung gelingender Planung: Man muss sich zunächst der Zwischenstadt mit dem „neuen Blick“ zuwenden, um neue Ideen für sie entwickeln zu können. Wie und ob diese neue Einstellung praktisch wirksam wird, ist allerdings keine einfach zu beantwortende Frage. Die Frühromantiker verfolgen mit ihrer Idee der progressiven Universalphilosophie einerseits ein alle Lebensbereiche einschließendes, revolutionäres Programm; ihr Denken sollte also durchaus in die Gesellschaft eingreifen und in ihr praktisch wirksam werden. Andererseits sind die romantischen Vorstellungen vom Bewusstsein der Vergeblichkeit geprägt – wodurch jedes Eingreifen in die Welt von vorne herein als sinnlos erscheint. Die Qualifizierer hingegen haben den Glauben an die Wirksamkeit ihrer Eingriffe nicht aufgegeben. Sie zweifeln zwar die Durchschlagkraft von Planungen an, die einem „linearen“ Paradigma anhängen, gehen aber davon aus, dass ihre eigenen Planungs- und Gestaltungsstrategien erfolgreich sein können. Ich möchte in diesem Zusammenhang den Argumentationsgang kurz unterbrechen und auf eine bestimmte, häufig geäußerte Kritik am „neuen Blick“ eingehen, weil ihre Diskussion Aufschlüsse für die weltanschauliche Einordnung der Qualifizierer gibt. Als vielleicht schwerwiegendster Vorwurf ist formuliert worden, dass sie sich zu sehr auf die Veränderungskraft des neuen Blicks ver- und dabei außer Acht ließen, wie desolat die städtebauliche, architektonische und allgemeine Lebensqualität der Zwischenstadt tatsächlich sei. Pointiert ist dieser Einwand von Tessin vorgebracht worden. Er kritisiert die „ästhetisch-ideologische Inwertsetzung“ der Zwischenstadt als „bloße ‚Blickveränderung‘“34: „So wie die städtische Brachfläche vor gut 20 Jahren ästhetisch-ideologisch valorisiert wurde (sie selbst blieb, was sie immer war), so versucht Sieverts die allseits als eher hässlich empfundene Siedlungsstruktur der Ballungsräume nicht mehr […] planerisch-real aufzuwerten (das hatte man über 50 Jahre lang vergeblich versucht), sondern vielmehr sie bloß anders oder neu ideologisch in Wert zu setzen, indem er

34 Tessin 2002: 36.

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sie zur ‚Stadtlandschaft‘ deklariert und sie semantisch auf eine Ebene bringt mit anderen, etwa Gebirgs-, Fluss- oder Heidelandschaften.“35

Tessin argumentiert, dass der Versuch der „ästhetisch-ideologischen Inwertsetzung“ scheitern müsse, weil es nicht gelänge, Distanz zur Zwischenstadt aufzubauen, die für ihre ästhetische Wahrnehmung nötig sei: „Der zentrale Grund [dafür, warum wir die real existierende Stadtlandschaft (noch) nicht primär ästhetisch wahrnehmen können] liegt möglicherweise […] darin, dass wir – wie seinerzeit die Bauern der Agrarlandschaft – unsererseits der Stadtlandschaft in einem durchaus vergleichbaren Sinne des ‚bäuerlichen Kampfes ums Überleben‘ ausgeliefert sind. Wir haben (noch) keine Herrschaft über oder Unabhängigkeit von der Stadtlandschaft erreicht, keine innere Distanz, um sie in einem ‚anderen Licht‘ als vorrangig ästhetisches Objekt sehen zu können“.36

Der Kern der Strategie des neuen Blicks sei zum Scheitern verurteilt, weil die Zwischenstadt noch nicht einer abgeschlossenen Epoche angehöre, zu der man sich – etwa durch mythische Verklärung – in ein distanziertes Verhältnis setzen könne. In unserem Zusammenhang ist diese Argumentation Tessins vor allem deshalb relevant, weil ihre Begründungsstruktur einem typisch konservativen Muster folgt: dass nämlich der „Moment des Verlustes […] der Moment der Entdeckung, der Erkenntnis konservativer Werte und Forderungen“37 ist. Würde seine These zutreffen, dass das Scheitern unvermeidlich ist, weil das Leben in der Zwischenstadt noch nicht einer vergangenen Epoche angehört, so wäre den Qualifizierern ein konservativer Weg der Ästhetisierung der Zwischenstadt verbaut. Der Tessinsche Einwand (ästhetisch-ideologische Inwertsetzung des Profanen) und seine Begründung (erforderliche Distanz nicht möglich) kann allerdings mit drei, auf unterschiedlichen Ebenen liegenden Argumenten geschwächt, vielleicht sogar entkräftet werden. Es ließe sich (1) vorbringen, dass die Qualifizierer nicht auf der Stufe der Blickveränderung, der bloß „ideologisch-ästhetischen Valorisierung“ stehenbleiben, sondern durchaus urbanistische Interventionen vorsehen. Der neue Blick ist lediglich der unhintergehbare Ausgangspunkt der qualifizierenden Projekte, die durchaus materielle Eingriffe in die „real existierende Stadtlandschaft“ vorsehen können. Ganz anders als bei den Euphorikern, die ja tatsächlich vor dem Problem stehen, nicht in die Dynamik und Unbestimmtheit der Zwischenstadt eingreifen zu können,38 verbietet sich in der Logik der Strategie der Qualifizierung die städtebauliche Intervention kei-

35 36 37 38

Ebd.: 38. Ebd.: 39. Greiffenhagen 1986: 67. Schultheiß 2007: 102.

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nesfalls. Das wird bei Sieverts sehr deutlich, wenn er das, was Tessin als reine Blickveränderung geißelt, ebenfalls als Marotte ausschlägt. „Eine nicht abschließend zu beantwortende Frage, vielmehr eine in jedem Fall neu zu lösende Gestaltungsaufgabe in der Zwischenstadt besteht in dem Austarieren des Verhältnisses zwischen der Ästhetik der Unordnung und dem Maß an ‚klassischer‘ Ordnung und gewohnter Harmonie, das wir brauchen, um uns in einer anarchischen Ordnung der Dinge zurechtzufinden und wohlzufühlen. Das Verhältnis ist prekär. Das ‚Umkippen‘ von Ästhetik in Anästhetik ist genauso heikel wie die modische Verherrlichung anarchischer Unordnung. Die Beschäftigung mit diesem Thema ist eine klassische Aufgabe von Architekten und Städtebauern.“39

Es ließe sich gegen Tessin (2) einwenden, dass Sieverts nicht, oder doch nicht primär, mit den positiven Assoziationen des Begriffs ‚Landschaft‘ arbeitet – bezeichnenderweise hat er die Siedlungsform der verstädterten Region „Zwischenstadt“ genannt.40 Dass Sieverts die Landschaft zum „eigentlichen Bindeelement der Zwischenstadt“41 machen möchte, ist nicht so zu verstehen, dass er die Werte, die Landschaft assoziativ umgeben, auf die besiedelten Bereiche übertragen wissen möchte. Er argumentiert an dieser Stelle sehr viel formaler und führt Landschaft als „unverzichtbare[n] komplementäre[n] Bestandteil jeglicher Art von Stadt“42 ein – er etabliert also die Landschaft als Gegenpol zum besiedelten Bereich. An Tessins Einwand ließe sich (3) kritisieren, dass er eine Möglichkeit der Ästhetisierung von Objekten des alltäglichen Gebrauchs, die er selber anführt, im Gang seiner Argumentation nicht weiterverfolgt (und freilich auch nicht weiterverfolgen kann, weil er sonst seine Kritik an der Unmöglichkeit der Zwischenstadt-Ästhetisierung nicht aufrechterhalten könnte). Gemeint ist der Weg der Ästhetisierung durch die Kunst: „Die heutige Stadtagglomeration ist profanes Gebrauchsgut und nicht als künstlerisch-ästhetisches Objekt entstanden. Daher scheint sie – wie alles Profane – einer künstlerisch-gestalterischen Überformung und Überführung in die als ‚rein ästhe-

39 Sieverts 1997: 112. 40 Die Tessinsche Kritik trifft eher auf die Rede über die verstädterte Region als „urbane Landschaft“ zu, ein Begriff, der sich, als Reaktion auf andere Einwände gegen den Begriff der Zwischenstadt, mittlerweile etabliert hat (z. B. in Seggern et al. 2008 oder anderen Texten aus dem Umfeld des „Studio urbane Landschaften“ der Universität in Hannover), und seit einigen Jahren tatsächlich auch von Thomas Sieverts verwendet wird (z. B. in Sieverts 2007: 7; siehe beispielsweise auch Boczek 2007; Giseke 2004; Ipsen 2006: 67) 41 Sieverts 1997: 20. 42 Ebd.: 21.

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tisch‘ konventionalisierte Kunstsphäre von Film, Foto oder Gedicht zu bedürfen, um ästhetisch genossen werden zu können.“43

Dieser Weg wird von den Qualifizierern durchaus eingeschlagen. Sie kooperieren mit Künstlern, und in ihren Projekten werden, wie im nächsten Kapitel deutlich wird, gelegentlich die Grenzen zwischen Kunst, Architektur und Städtebau überschritten. Diese Möglichkeit der Ästhetisierung (urbaner) Landschaften ist von Seel als „imaginative Naturwahrnehmung“ beschrieben worden. Er entwirft allerdings zwei weitere Typen ästhetischer Naturwahrnehmung, die ohne eine künstlerische Überformung auskommen, um Natur zu ästhetisieren, die „kontemplative“ und die „korresponsive“ Wahrnehmung.44 Man könnte daher einwenden, dass es nicht der Überführung in die konventionalisierte Kunstsphäre bedarf, um Landschaft ästhetisch zu genießen. Man könnte außerdem argumentieren, dass immer dann, wenn wir unsere Umgebung mit dem ästhetischen Blick erfassen, eine solche künstlerische Überformung schon stattgefunden hat – so, wie Simmel von der Erzeugung eines Gemäldes im Geist spricht, wenn man Landschaft nur sieht, nicht erst dann, wenn man sie malt.45 Tessin ist aber doch insoweit Recht zu geben, als der dezidiert konservative Weg der Ästhetisierung der Zwischenstadt über die Mythologisierung ihrer abgeschlossenen Vergangenheit nicht gangbar ist. Das bedeutet aber nicht, dass ihre Ästhetisierung schlechterdings unmöglich ist, es bedeutet nicht mal, wie wir sehen werden, dass der Rückgriff auf Geschichte unmöglich ist. Welche Taktiken der Ästhetisierung die Qualifizierer einschlagen und welche weltanschaulichen Implikationen diese haben, wird sich im Folgenden zeigen. (c) Romantiker wie Qualifizierer entwerfen eine Ästhetik des Unendlichen. Die romantische Sehnsucht nach der Fremde, die „Hingabe ans unendlich aufgeschobene Reiseziel“, das ziellose Vagieren der Phantasie, all das lässt sich deuten als „Einverständnis mit der unendlich aufgeschobenen Sinnerfüllung“46, das sich ästhetisch in der Inszenierung einer unendlichen Ferne, in der Bewegung auf den immerfort unerreichbaren Horizont zu, ausdrückt.47 Diesem Topos entspricht bei den Qualifizierern die Idee der „ästhetische[n] Nachhaltigkeit“48, die nach demselben Prinzip funktioniert wie

43 Tessin 2002: 39. 44 Seel 1996. – Ob jedoch Seel bei dieser Argumentation als Gewährsmann dienen kann, wäre zu überprüfen, weil für ihn jene Attraktivität der Natur, die er ästhetisch nennt, erst im Zusammenspiel aller drei Formen der Naturwahrnehmung entsteht (ebd.: 185 ff.). 45 Simmel 1913/1957. 46 Beide Zitate Safranksi 2007: 214. 47 Koschorke 1990: 173 ff. 48 Sieverts 2003b: 55, Sieverts 1997/2001: 57. – Man kann Sonne (2009: 190) nur zustimmen, wenn er über den Begriff der „ästhetischen Nachhaltigkeit“ schreibt: „Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Modebegriff der Nachhaltigkeit auch den

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die der Verzauberung durch Ortskenntnis. „Ästhetisch nachhaltig“ sind Orte dann, wenn sie sich eindeutigen Sinnzuweisungen entziehen, wenn an ihnen und durch sie die Einbildungskraft angeregt wird, immer neue Bedeutungen zu entdecken und zu ersinnen: „Eine auf Dauer bedeutungsvolle Umgebung sollte sich niemals zu einem Bild fügen. Sie sollte bei jedem Hinaustreten neue, vage und unscharfe Ahnungen von Bildern erzeugen.“49 Ganz in diesem Sinne erklärt auch Boris Sieverts, dass eine Landschaft dann „ästhetisch nachhaltig“ sei, wenn „deren Fügung, Lektüre, Erkenntnis niemals abgeschlossen ist, sei es, weil für ihre vollständige Erfassung ein Menschenleben nicht ausreicht, weil sie sich ständig wandelt, weil sie verbotene oder unzugängliche Bereiche enthält, weil ihre Kontraste zu groß sind, um sie gemeinsam denken zu können oder weil ihre Brüche, Schichten und die in ihr enthaltenen Erzählungen zu zahlreich sind, um sie in einem Gedankengang zu erfassen“.50

Diese Charakterisierung „ästhetisch nachhaltiger“ Landschaften der Zwischenstadt ruft Assoziationen mit wilden Gegenden, die mit uneingeschränkt positiven Bedeutungen belegt sind, herauf, was, wie wir in Kapitel 4 gesehen haben, einzig in der romantischen Weltanschauung der Fall ist (Vorstellungen 28, 29 und 30).51 (d) Die Romantik weiß um den illusorischen Charakter des Romantisierens, und sie setzt ihn als künstlerisches Mittel bewusst ein: „Das Romantisieren ist eine Verzauberung durch den Irrealis. Und darum deckt die Romantik dort, wo sie am meisten romantisch ist, auch ihr Betriebsgeheimnis auf – dieses ironische ‚Als ob‘.“52 Die Qualifizierer hingegen können sich auf dieses „Als ob“ nicht einlassen: Als Planer und Architekten müssen sie in die materielle Wirklichkeit

49 50 51

52

ästhetischen Diskurs erreichen würde. Wenn statt von der Schönheit der Stadt von einer ästhetischen Nachhaltigkeit der Stadt gesprochen wird, mag manch einen ein kulturpessimistischer Schauder angesichts des sprachlichen Stilverfalls oder eine ideologiekritische Skepsis angesichts des euphemistischen Newspeech überkommen – berechtigt ist das Nachdenken darüber, was ein umfassendes Konzept von Nachhaltigkeit für die Ästhetik der gebauten Umwelt bedeutet, allemal.“ Sieverts 1997/2001: 57. Sieverts 2003b: 55. Gleichzeitig lesen sich die Beschreibungen der Eigenschaften ästhetisch nachhaltiger Landschaften wie Charakterisierungen erhabener Landschaften: Der Betrachter wird überwältigt, weil die Bedeutungsschichten, die ihm begegnen, zu heterogen sind, als dass er sie auf einmal erfassen kann. Allerdings scheint die Überwältigung keine der Sinne zu sein, wie dies beim Kantschen Erhabenen der Fall ist, sondern eine der Vernunft. Safranksi 2007: 208.

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eingreifen. Man könnte argumentieren, dass sie sich auf dieses „Als ob“ auch gar nicht einlassen müssen, weil ihr Programm, trotz des sozialpolitischen und ästhetischen Anspruchs, wesentlich bescheidener ist als die weltund zeitrevolutionäre Programmatik der progressiven Universalpoesie. Während die Romantik nach einem unmöglichen und in seiner Vergeblichkeit auch bewusstem „Zurück in die Zukunft“ strebt, steht am Anfang der Grundhaltung der Qualifizierung ein rückhaltloses Bekenntnis zur gegebenen Realität, in der es zu handeln gilt. Das bedeutet nicht, dass den Qualifizierern jegliche Ironie fern liegt – im Gegenteil, viele ihrer Projekte arbeiten mit ironischen Anspielungen und Namen als Interpretationshilfen (wie die „Hafensafari“ oder die Bezeichnungen „Labyrinth“ und „Prärie“).53 Ihre Ironie nimmt aber nie existenziellen Charakter wie bei den Romantikern an. Sie bleibt Spiel mit den Assoziationen. Würde sie zum Eingeständnis des bloß illusorischen Charakters ihrer Planungsprojekte, dann würden diese einen menschenverachtenden Zug annehmen. Die romantische Ironie funktioniert als poetisches Programm, als Planung würde sie jedoch zynisch. (4) Der Gestaltungsvorschlag Die Qualifizierer können hinsichtlich ihrer konkreten Gestaltungsvorschläge für die Zwischenstadt verschiedenen Untertypen zugeordnet werden. Einmal, wie im nächsten Unterkapitel gezeigt wird, hinsichtlich der ästhetischen Taktik, die sie anwenden, aber auch schon auf einer vorgelagerten Ebene, nämlich ob sie überhaupt materiell in die Zwischenstadt eingreifen. Diejenigen, für die die Kälte der Zwischenstadt objektiv und eine Eigenschaft der sie hervorbringenden Gesellschaft ist, setzen alle Hoffnung darauf, durch konkrete, bauliche Veränderungen die Realität der Zwischenstadt lebenswerter zu machen (Welsch-Variante). Diejenigen hingegen, die der Macht des neuen Blicks vertrauen (Sieverts-Variante), sind entweder der Auffassung, dass sich die Lebensqualität der Zwischenstadt auch ohne materielle Eingriffe erhöhen lässt; sie arbeiten dann an der Sensibilisierung des Blicks, beispielsweise durch Spaziergänge oder durch temporäre Installationen, unter dem die Kälte weicht. Sie können aber auch die neue Art der Wahrnehmung bzw. die Wahrnehmung neuer Aspekte an den urbanen Landschaften zur Grundlage von Gestaltungskonzepten machen, mit denen sie die Zwischenstadt baulich verändern wollen. 5.1.3 Drei Taktiken der Ästhetisierung: Geschichte(n), Exotik und Aneignung Bei aller Verschiedenheit in den verfolgten Ansätzen: Gemeinsam ist allen Qualifizierern, dass die Zwischenstadt aus dem Bereich der anästhetischen

53 Zu den Projekten, die mit diesen Bezeichnungen spielen, siehe unten Kapitel 5.1.3.

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Wahrnehmung in den der Ästhetik geholt werden soll. Sie soll ein Ort werden, dem sich der Einzelne und die Gesellschaft mit wachem ästhetischen Sinn zuwenden. Gemeinsam ist allen Ansätzen darüber hinaus, dass in ästhetischer Hinsicht die romantische Weltanschauung dominiert, oder, anders gesagt: Alle Qualifizierer haben eine romantische Vorentscheidung getroffen, nämlich die, sich mit dem neuen Blick den urbanen Landschaften zuzuwenden und eine „qualitative Potenzierung“ zum Ausgangspunkt ihres Handelns zu machen. Unterschiedlich sind jedoch die Wege, die sie dazu einschlagen. Im Folgenden unterscheide ich drei idealtypische Taktiken, die ich als die Taktik der Geschichte, die der Exotik und die der Aneignung bezeichne.54 Diese unterschiedlichen ästhetischen Taktiken sind Ausdruck unterschiedlicher weltanschaulicher Kombinationen: die dominierende romantische Basis verknüpft sich bei der Ästhetik des geschichtlichen Bezugs primär mit konservativen Elementen, bei derjenigen der Aneignung in erster Linie mit demokratischen Ideen, während die Ästhetik der Exotik idealiter eine rein romantische Taktik ist. Taktik des geschichtlichen Bezugs Ein möglicher Weg aus dem „suburbanen Einerlei“, wie die Anästhetik der Zwischenstadt bei Bölling und Christ paraphrasiert wird, liegt in der Rückbesinnung auf die Geschichte des Ortes, sei es die Natur- oder die Kulturgeschichte, sei es die jüngere oder die ältere Vergangenheit. Die Taktik des geschichtlichen Bezugs schafft Identität durch Geschichte, deren Zeugnisse in der Zwischenstadt aufgespürt werden. Dieser sei ein „Subtext historischer Bedeutungen“ eingeschrieben, überall „leuchten historische Fragmente durch“55. (In Abbildung 3, die das Gebiet rund um das Bad Homburger Autobahnkreuz im Taunus darstellt, weist Bölling auf historische Straßen und Bahnlinien sowie historische Orte hin.) Dass historische Orte als Gegensatz zur monotonen und geschichtslosen urbanen Landschaft gesehen werden, wird an der Beschreibung der Siedlungsgeschichte des Ballungsraums um Frankfurt am Main deutlich: „Vor allem die im Meer des suburbanen Wachstums der letzten Jahrzehnte aufgegangenen historischen Dörfer werden als ‚Identitätskerne‘ im suburbanen Einerlei erkannt und sind […] schon seit Ende der 70er-Jahre Gegenstand einer ganzen Reihe mehr oder weniger liebevoller Verschönerungsmaßnahmen geworden.“56

54 Jeweils ein Unterkapitel ist der Beschreibung eines Weges gewidmet. Die Projekte, die zur Illustration der jeweiligen Taktik herangezogen werden, enthalten jedoch immer auch Elemente der anderen Wege. Das ist dem utopischen Charakter des Idealtypus geschuldet. 55 Bölling 2007: 242. 56 Bölling & Christ 2005: 143; siehe auch Bölling & Christ 2005: 159.

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Abbildung 3: Historische Orte in der Zwischenstadt.

Die alten, restaurierten und inszenierten Dorfkerne werden zur „Bühne der identifikatorischen Sehnsüchte der Kommunen und ihrer Bewohner“57. Dass auch die jüngere Geschichte das Potential hat, den Ort der Monotonie und Identitätslosigkeit zu entreißen, wird daran deutlich, dass die Autoren Siedlungen von „der Gartenstadt über Trabantenstädte der 60er- bis zur postmodernen Anlage der 80er-Jahre“ die Eigenschaft zuschreiben, als „Zeugen […] zur Inszenierung einer eigenen Raumgeschichte der Zwischenstadt“ beizutragen (siehe Abbildung 4).58 Abbildung 4: Historische Orte als „Identitätskerne“. Historische Orte und Wege Der alte Flughafen ȱ Ehemals Nabel der Region

1900 ȱ 1963

Eine Kreuzung verändert sich ȱ Vom Pilgerweg zur A66

1900 ȱ 1963

57 Ebd. 58 Beide Zitate ebd.

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Diese Art des Rückgriffs auf Geschichte ist typisch konservativ. Auch, dass Eigenart überhaupt eine ästhetisch relevante Kategorie ist, ist charakteristisch für konservative Ästhetiktheorien (zum Zusammenhang von Eigenart und Schönheit siehe Kapitel 4.2.2). Das suburbane Einerlei erscheint als Ort universeller Gleichheit und entspricht damit der Wahrnehmung der modernen Großstadt in der klassischen konservativen Kulturkritik (Vorstellung 17). Wie damals die Großstadt, wird heute die Zwischenstadt als eine Form von Wildnis („Meer des suburbanen Wachstums“) wahrgenommen, und diese verhindert die Ausgestaltung des natürlichen Charakters in einem Prozess zunehmender Vervollkommnung (Vorstellung 11). Abbildung 5: „Landschaft entsteht neu – durch Stadt“. urbane Topographie

Plateau

Leere

Landschaft durch Stadt

Außer der Siedlungsgeschichte nutzen die Qualifizierer auch die Landschaftsgeschichte, um die Eigenart eines Ortes im Entwurf herauszuarbeiten. Im Projekt Olten Südwest von „Büro Z“, „process yellow“ und „lad+“59 sieht der städtebauliche Entwurf auf dem Gelände eines aufgelassenen Kieswerks ein neues Quartier vor, das sukzessive entstehen soll. Der Entwurf arbeitet „mit einem einfachen morphologischen Leitbild: Das [durch den

59 Das „Büro Z“ wurde 1985 in Zürich gegründet und zuletzt von Michael Koch und Maresa Schumacher gemeinsam geführt, „process yellow“ wurde 2002 von Martin Schröder und Oliver Bormann in Berlin gegründet. (Mittlerweile haben sich die beiden Büros zu „yellow z“ zusammengeschlossen). „lad+“ ist ein Büro für Landschaftsarchitektur, das 1991 von Martin Diekmann in Hannover gegründet wurde.

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Kiesabbau] verschwundene natürliche Geländerelief wird wieder aufgefüllt – nicht durch Kies, sondern mit den Gebäuden des neuen Stadtteils“ (siehe Abbildung 5). Dass also Landschaft durch Stadt entsteht, ist einer der Kerngedanken des Projektes. Das Gelände, das in der Wahrnehmung der Bewohner lange Zeit ausgeblendet war, soll in einen „zusammenhängenden neuen Stadtteil für Olten“ verwandelt werden.60 Das Projektgebiet soll also (1) aus dem blinden Fleck geholt und Gegenstand bewusster Wahrnehmung und Gestaltung werden. Dies geschieht, indem die konkrete Landschaftsgeschichte des Ortes, der Kiesabbau, zu einem zentralen Entwurfsmotiv und identitätsstiftend für den neuen Ortsteil wird. Dieser Teil der Entwurfsstrategie zeigt eine konservative Sichtweise der Zwischenstadt als ‚Kulturlandschaft‘: Jene soll wie diese Ort mit unverwechselbarer Eigenart sein, die aus der Orientierung an der Geschichte hervorgeht (Vorstellungen 13 und 14). Natur und Kultur gehen in dem Entwurf, wenn mit den Gebäuden die Landschaft geprägt werden soll, eine innige Verbindung ein, ganz so, wie sich im klassisch konservativen Paradigma Eigenart durch das Zusammenspiel von „Klima“ und „Volkscharakter“ herstellt. Der Entwurf stellt allerdings (2) auch konservative Ideen in Frage, da er ganz bewusst die in der konservativen Stadtkritik verfochtene klare StadtLand-Trennung unterläuft und Landschaft „durch Stadt“ entstehen lassen will: „Nicht die Stadt dehnt sich in den Landschaftsraum aus, sondern Landschaft entsteht neu – durch Stadt.“61 Abbildung 6: Landschaft wird hergestellt.

Die Idee, durch den Entwurf Landschaft entstehen zu lassen, also herzustellen, offenbart ein konstruktivistisches Planungsideal, das im Gegensatz zur konservativen Vorstellung des langsamen Heranwachsens steht (siehe Abbildung 6). Allerdings wird die sich darin zeigende progressive Haltung sogleich gemildert, indem die Entwerfer betonen, dass nicht das fertige Endbild des Quartiers im Mittelpunkt stehe, sondern dessen (allerdings als Ab-

60 Beide Zitate Bormann et al. 2005: 144. 61 Ebd.

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bildung 7).62 Die Verbindung solch unterschiedlicher weltanschaulicher Einflüsse wird in dem Entwurf für Olten dadurch möglich, dass für verschiedene Phasen des Projekts unterschiedliche Ziele formuliert werden: Abbildung 7: Prozesshaftes Siedlungswachstum.

„Im Vordergrund steht bei diesem Projekt also vor allem die zeitliche Komponente von Landschaft, die eine bildhafte Vorstellung beinahe vollständig ersetzt. […]. Zwar wird eine räumliche und zeitliche Hybridisierung erreicht, die Entfaltung wirklich eigenständiger Landschaftsinhalte findet jedoch fast ausschließlich in den Zwischenstufen der Entwicklung statt. Das fertige Quartier orientiert sich an eher klassischen Vorstellungen von städtischer Dichte und Geschlossenheit.“63

Die Entwicklung des neuen Stadtteils spiegelt im Kleinen die Entwicklung der Zwischenstadt: Von einem undefinierten „hybriden“ Zustand entwickelt sich das Gebiet zu einem Ort mit eindeutigen, und zwar städtischen Qualitäten. Doch es scheint, als würde das Herz der Entwerfer vor allem für die uneindeutigen Zwischenstadien schlagen, die sich aus dem Spiel mit den landschaftlichen Gegebenheiten, der Geschichte der Kulturlandschaft ergeben. Der neue Blick richtet sich nicht einfach auf die Geschichte, sei es die Siedlungs-, sei es die Naturgeschichte. Die Qualifizierer, die die Taktik des geschichtlichen Bezugs verfolgen, betonen die Pluralität der Geschichten, auf die sie sich berufen. „Diese Pluralisierung bedeutet einen Mix an Stilen, Formen und Programmen. Die Räume sind ambivalent, beugen sich keiner einheitlichen Sicht, sind verschieden lesbar und anzueignen. […] In dieser Aneignung wird von globalen und lokalen Produkten und Räumen gleichermaßen Gebrauch gemacht: Eigenart oder Charakter entsteht dabei durch spezifischen Zugriff.“64

62 Bormann et al. 2005: 145. 63 Ebd. 64 Ebd.: 61.

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Die Verbindung des geschichtlichen Bezugs mit dem Pluralitätsgedanken ist als Versuch zu deuten, die konservative Idee, dass Identität primär durch Bezug auf die Geschichte des Ortes entstehe, mit einem fortschrittlich-demokratischen Element zu verknüpfen. Es gibt nicht mehr nur die Deutungsmacht der einen Geschichte. Ein Raum erhält sein einzigartiges Gepräge (das nach wie vor geschätzt wird) vielmehr dadurch, dass sich viele unterschiedliche Geschichten in ihm spiegeln, auf die jeweils auf unterschiedliche, aber dennoch nicht beliebige Art Bezug genommen wird. Er bedeutet für unterschiedliche Menschen ganz Verschiedenes (und soll es auch), weil ihnen jeweils ganz unterschiedliche Elemente und Geschichten im Raum wichtig sind, sie also individuelle Zugänge zum Raum haben. Auf der Objektebene entspricht diesem pluralistischen subjektiven Zugang zum Charakter eines Raums das Nebeneinander bzw. die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher „Raumgeschichten“ oder „Siedlungsgeschichten“, wie es bei Böling und Christ heißt.65 Die Bedeutung der Pluralität der Geschichten wird auch von Bormann et al. betont: „Als angenommenen Ort guten Lebens bietet die Zwischenstadt inzwischen der 3. Generation von Bewohnern Raum. Ein Indiz für den Reifeprozess vorstädtischen Daseins, das seine eigenen Traditionen (jenseits der Kernstädte) auszubilden beginnt, ist das Vorhandensein von ‚Geschichte(n)‘.“66 Das in Klammern stehende „n“ gibt zu erkennen, dass die Autoren sich nicht einfach auf eine monolithische Geschichte beziehen wollen. Der Rückgriff auf „Geschichten“ impliziert vielmehr zweierlei: erstens den Bezug auf die Geschichten der kleinen Leute. Es geht um andere Geschichten als die Geschichte, oder das, was gemäß konservativer Wertvorstellungen zu achten ist. Zweitens ist impliziert, dass das Gebaute der Zwischenstadt viele Geschichten ermöglicht, gerade weil sie nicht aus einem Guss ist – weder im Sinne einer geplanten Stadt (wie etwa Karlsruhe oder Haussmanns Paris), noch im Sinne einer Altstadt. Letztere ist zwar auch ungeplant gewachsen, aber eben gewachsen, d. h. entweder im Nachhinein als organische Einheit gedacht oder von den traditionsbewussten Generationen immer schon tatsächlich in einem Geist (dem des Vorhergehenden, der Tradition) gebaut. Trotz der pluralistischen Wende des geschichtlichen Bezugs – ganz ohne historische Rückbindung kommen diejenigen Qualifizierer, die diese Taktik verfolgen, nicht aus. Zwar verweisen sie auf andere Geschichten als die klassische Geschichte, aber dennoch sind Vorstellungen von Dauer und

65 Bölling & Christ verwenden die Begriffe häufig, siehe z. Β. Bölling & Christ 2005: 15, 111, 144; siehe auch Bölling 2007: 13, 98, 104, 143, 249, 251, 284, 363, 365, 427, 428,430; 2004: 107. – Die Faszination über den Charakter eines „Territoriums“ als „Palimpsest“ scheint auf eine ganz ähnliche Wertstruktur zu verweisen, siehe Corboz 2001. 66 Bormann et al. 2005: 52.

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Kontinuität relevante Kriterien für die Konstitution von Identität, mithin dafür, die Zwischenstadt aus dem Bereich des Anästhetischen zu führen.67 Taktik der Exotik Die Taktik der exotischen Ästhetik ist wesentlich als romantische Strategie anzusehen. In der Beschreibung der Planungen für Fresh Kills Parkland in Staten Island, New York, durch das Büro von James Corner, „Field Operations“, heißt es:68 „In der Tat besteht einer der Hauptkritikpunkte an groß angelegten Stadtentwicklungsprojekten darin, dass sie oft den Eindruck erwecken, sie könnten sich eigentlich überall befinden – sie sind allgemein gehalten, vorhersagbar, bekannt, sicher und sauber. Es stellt sich die Frage, wie wir als Planer einen gewissen Sinn für das Mysteriöse, das Ungewöhnliche, das Verrückte und das Exotische bei der Gestaltung der städtischen Landschaft vermitteln können.“69

Es zeigt sich eine Sehnsucht nach einer Unverwechselbarkeit schaffenden exotischen Ästhetik, die auch als Sehnsucht nach ‚Wildnis‘ gedeutet werden könnte – schließlich geht es gegen das Prognostizierbare, das Kontrollierba-

67 Das wird im obigen Zitat beispielsweise daran deutlich, dass die Autoren die Anzahl der Zwischenstadt-Generationen beziffern. Es ist dabei nebensächlich, ob sich die Autoren auf Generationen einer Familie beziehen oder ob lediglich gemeint ist, dass die Zwischenstadt bereits seit längeren Jahren verschiedenen Bewohnern zur Heimat geworden ist. Für den Gang unserer Argumentation ist hier bloß wichtig, dass den Autoren die Idee der Dauer überhaupt als Argument gilt, dass sie den „Reifeprozess“, der die Zwischenstadt kennzeichne, überhaupt bemerken. 68 Nach der Stilllegung der riesigen Mülldeponie Fresh Kills Landfill lobte die Stadt New York 2000/2001 einen Wettbewerb für die Schaffung einer Parkanlage aus, den das Landschaftsarachitekturbüro „Field Operations“ von James Corner mit einem Team aus Verkehrsplanern („Arup“), Ökologen („Applied Ecology Services“), Ingenieure für technischen Umweltschutz („Geosyntec“), Ingenieurökologen („AKRF“) und Lichtgestaltern („L’Observatoire“) gewonnen hat. Geplant sind fünf miteinander verbundene Parks, die eine Gesamtfläche von neun Quadratkilometern einnehmen und zusammen etwa zweieinhalbmal so groß wie der Central Park sein werden. Es ist eine phasenweise Realisierung des Parks bis 2036 vorgesehen. – Obwohl der Projektstandort in den USA ist und der Park von einem amerikanischen Büro geplant wurde, wird das Projekt hier, bei der Analyse des deutschsprachigen Diskurses um die Zwischenstadt behandelt, weil es über die Darstellung in Zeitschriften, Büchern etc. Eingang in diesen gefunden hat; z. B. Corner 2005; Prominski 2004b: 107-109; Switkin 2006. 69 Ebd.: 75.

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re und das Sichere. Wildnis im eigentlichen Sinn soll der Park aber nicht sein: „Die Projekte […] versuchen, für vorhandene Areale neue Nutzungen zu finden, das Vorhersehbare zu vermeiden und stattdessen eine neue städtische Exotik zu entdecken. Um dies zu erreichen, werden wir Fresh Kills Parkland nicht in eine komplette Wildnis verwandeln, in der die Landschaft losgelöst von den Aktivitäten der Menschen ist.“70

Doch ist (1) offenkundig, dass hier Parallelen zur romantischen Suche nach dem Anderen, Fremden und Ungewöhnlichen vorliegen. Die Parklandschaft soll wie die ‚Wildnis‘ in der Romantik die Wirklichkeit verzaubern (Vorstellung 29). (Siehe Abbildung 8, die den Main Creek in der Dämmerung zeigt. New York, das in unmittelbarer Nachbarschaft liegt, scheint weit weg. Natur wird als das Andere der Stadt, Wildnis als exotisch-friedvolles Paradies inszeniert. Abbildung 9 zeigt andere Lichtverhältnisse, ruft aber ähnliche Empfindungen hervor: Die wieder „intakte“ Natur, hier symbolisieret durch den jungen Reiher, erscheint als Gegenwelt zur Zivilisation und verzaubert durch den Kontrast zu dieser). Begreift man Fresh Kills als urbanen Park und somit als Teil von Stadt, so nimmt die urbane Landschaft die romantische Bedeutung der ‚Großstadt‘ als Sphäre der Verzauberung an (Vorstellung 36). Abbildung 8, links: Der Main Creek in der Dämmerung. Abbildung 9, rechts: Ein junger Reiher am Main Creek.

Man kann (2) die Strategie von Field Operations auch auf eine andere Art interpretieren. Gegen die Großstadt als Ort universeller Monotonie wird dann die wilde Ästhetik des Parks als „Jungbrunnen“ gestellt (Vorstellung 12). Wie auch in der ersten Interpretation wird hier der Park zwar als Gegenwelt erlebt, aber er ist nicht Vorschein einer anderen Welt oder Ausdruck der Sehnsucht nach dieser, sondern er dient letztlich, als Komplement zur alltäglichen Ordnung, der Stabilisierung der bestehenden Verhältnisse.

70 Ebd.: 76.

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Auch die zweite Hafensafari in Hamburg arbeitet mit der Ästhetik des Exotischen.71 Sie versteht sich als temporäre Kunstaktion und Entdeckungstour. Es ist also weniger ein Gestaltungsvorschlag für einen Ort in der Zwischenstadt als vielmehr ein Beispiel dafür, dass der neue Blick und die andere Ästhetik, die ihm zugrundeliegt und sich ihm enthüllt, das Potenzial haben, andere Bilder und weiterführende Ideen für die Stadtentwicklung zu provozieren. „Die Hafensafari beabsichtigt keine Planung. Sie macht den Ort sichtbar, für den die Visionen diskutiert werden. Die besondere Lage des Kleinen Grasbrook und des Stadtteils Veddel geben das Thema vor. Beides sind Inseln nicht nur durch ihre geographische Lage, sondern auch durch die Bilder und Gefühle, die diese Orte hervorrufen: Entdeckerlust und Romantik, aber auch Fremdheit und Verlorensein in den ungeheuren Dimensionen des Hafens.“72

Der Kleine Grasbrook und Veddel werden als Inseln wahrgenommen, weil sie sich von der Umgebung abgrenzen, weil ihr Aussehen, ihr Charakter, ihre Stimmung befremden. Die ambivalenten Gefühle, die sie hervorrufen, lassen sie als Orte einer wilden, einer aufregenden Ästhetik erscheinen. Aber auch die Umgebung kann als eine Form von Wildnis gedeutet werden, in der man sich klein und verloren fühlt, oder die einen durch ihre Monotonie erdrückt. „Die Kunstwerke schaffen fremde Inselwelten als Metapher für einen Ort der Exotik, sie inszenieren den Wechsel der Zeiten, verwandeln Ödnis in Oasen.“73 Die aufregende und aufregend andere Ästhetik der Inseln wird gegen die gewöhnliche und öde Arbeitswelt des Hafens gestellt. Wildnis und die exotische Ästhetik fallen zusammen und stehen gegen die Monotonie und Anästhesie der alltäglichen Welt. Wildnis ist dann (1) in romantischer Lesart das, was hilft, sich nicht von der Alltagstristesse einlullen zu lassen, sie ist Medium der Verzauberung und Vorschein einer anderen Welt (Vorstellung 29). Typisch romantisch ist auch deren Unerreichbarkeit: Die andere Welt ist, durch ihre Inszenierung auf den Inseln, räumlich entrückt und einem einfachen Zugriff entzogen. Außerdem ist die Wildnis als Vorschein der anderen Welt prinzipiell unerreichbar, da sie nur als Metapher für Orte exotischer Ästhetik steht – es ist allen Besuchern klar, dass es sich bei den Hafeninseln nur um symbolische Wildnisse handelt, die stellvertretend für eine stehen, die ihrerseits als weit

71 Die Hafensafari bietet „Entdeckungstouren“ zu temporären Installationen im Hamburger Hafen an. Die zweite Hafensafari fand vom 13. bis 29. August 2004 auf dem Kleinen Grasbrook und der Veddel statt und wurde von Rolf Kellner, Ulrich Stief, Heike Lorenz und Frank Sleegers initiiert; mehr Informationen unter URL: http://www.hafensafari.de/2004/index.html. 72 Sleegers 2004: 31, zit. n. Bormann et al. 2005: 113. 73 Sleegers 2004: 31, zit. n.Bormann et al. 2005: 115.

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weg, global bedroht oder sogar weltweit gar nicht mehr vorhanden angesehen wird. Sie kann aber auch (2) im konservativen Sinne, als „Jungbrunnen“, notwendiges Komplement einer guten Ordnung sein (Vorstellung 12).74 Taktik der Aneignung Die dritte Taktik, die Zwischenstadt dem „suburbanen Einerlei“ zu entziehen und sie in den Bereich des Ästhetischen zu holen, ist die Ästhetik der Aneignung. Hier ist zwischen zwei verschiedenen Perspektiven zu unterscheiden: derjenigen der Bewohner der Zwischenstadt und derjenigen ihrer Besucher, die lediglich Betrachter sind.75 In der ersten Perspektive gelingt die Überführung in den Bereich der Ästhetik, weil Menschen sich Orte ihrer täglichen Umgebung aneignen, sich intensiv mit ihnen befassen und sie dadurch in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken. Die Besucher hingegen eignen sich die Orte nicht tätig an, aber sie registrieren die Spuren der Aneignung, wodurch die Gegend für sie in den Bereich des bewusst Wahrgenommenen rückt. An Boris Sieverts‘ Beschreibungen seines Projekts Labyrinth und Prärie – ein Dorfplatz für Ödenwaldstetten lassen sich wesentliche Aspekte dieser ästhetischen Taktik darstellen.76 Er beschreibt als Vorzug von Gebieten,

74 In den beiden gerade vorgestellten Interpretationen wird ‚Wildnis‘ eine ebenso exotische wie lebendige Ästhetik zugeschrieben. Die Ödnis, gegen die sie gestellt wird, kann aber ebenso als eine Form von Wildnis gedeutet werden: als anästhetische und tote Wüste, in die Oasen einer andern, einer lebendigen Ästhetik eingelassen sind. Wildnis in dieser Bedeutung und exotische Ästhetik sind unvereinbare Gegensätze. 75 Diese Unterscheidung verweist auf das Ästhetikverständnis der Qualifizierer: Beide Gruppen können sich der Zwischenstadt ästhetisch zuwenden, obwohl oder gerade weil die Nutzer und Bewohner, wenn sie sich Orte in den urbanen Landschaften aneignen, die Distanz zu ihnen aufgeben, die doch in anderen Theorien die Voraussetzung ist, Landschaft überhaupt erst als ästhetischen Gegenstand betrachten zu können (klassisch ist die Position von Ritter 1963/1974). Für die Qualifizierer gilt, dass gerade durch diese intensive Zuwendung die Orte aus der unbewussten Wahrnehmung gerissen und, im weitesten Sinne, ästhetisch wahrgenommen werden. 76 Boris Sieverts wurde im Spätsommer 2002 zum Wettbewerb „Kunst im Dorf“ in dem 600 Einwohner zählenden Dorf Ödenwaldstetten der Gemeinde Hohenstein auf der Schwäbischen Alb eingeladen. Es sollte unter anderem die Dorfentwicklungsplanung künstlerisch begleitet werden. Der Wettbewerbsbeitrag wurde, neben einem weiteren Beitrag („Hohensteintisch“ von Ulrike Böhme) von der Jury zur Realisierung empfohlen. Mit einem „Lichterfest hinter den Häusern“ wurde das „Labyrinth“ im September 2003 eingeweiht. Vgl. auch die Projektbeschreibung und -deutung bei Bormann et al. 2005: 88 ff.

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die auf den ersten Blick einen ungestalteten Eindruck machen und daher typisch für die Zwischenstadt sind, dass sie „Raum für ein nicht entfremdetes Leben“77 böten. „Unter diesen Besonderheiten [der Gebiete] ist das utopische Potenzial dieser Zonen hervorzuheben. Es wird möglich durch Zonen, die sich im Sichtschatten unserer kontrollierten Welt befinden. Sie bieten Raum für soziale und gestalterische Experimente. Bauen und Lebenspraxis sind hier häufig noch eins. Lebensräume werden durch Gebrauch und nicht durch Eigentum definiert.“78

Deutlich offenbart sich in diesem Zitat die basisdemokratische Stoßrichtung. Im Projekt zeigt sie sich in Sieverts‘ Anregung, zusammenhängende Privatgrundstücke so zu interpretieren, dass sie einen neuen, gemeinsam zu nutzenden Dorfplatz ergeben. Er betont, dass es nicht darum gehe, „jemanden im Umgang mit seinem Grund und Boden fremd zu bestimmen [sic!]“79, aber er macht sich stark für eine „Verdoppelung der Sicht: Wenn jeder den Raum vor, hinter, rechts und links neben seinem Haus zusätzlich als potenziellen Teil des durchlässigen Territoriums betrachtet, kann jeder diesen Dorfplatz mitgestalten. Jenseits einer bloßen Wahrnehmungsveränderung ergeben sich aus dieser Sicht zahlreiche Möglichkeiten, das durchlässige Territorium als tatsächlichen temporären Dorfplatz zu nutzen“.80

Ihm kommt es nicht nur auf die Wahrnehmungsveränderung an, sondern auch auf die sich aus ihr ergebenden neuen Wege zur räumlichen und sozialen Organisation des Zusammenlebens. Im Umkehrschluss heißt das aber auch, dass er, in der für die Qualifizierer typischen Weise, den neuen Blick als Bedingung und Vorstufe neuer Gestaltungsideen sieht. Er bestimmt daher die ästhetischen Qualitäten der Gebiete wie folgt: „Diese haben eine weit über die individuellen Bedürfnisse und alltäglichen Lebensnotwendigkeiten einzelner Gesellschaftsgruppen hinausgehende Bedeutung, insofern, als sich hier die Chance zur Überprüfung und Erweiterung des gesellschaftlich akzeptierten ästhetischen Wertekanons bietet.“81 Was Sieverts hier als ein Anliegen seines Projekts beschreibt, erinnert an die Ziele der sozialwissenschaftlichen bzw. emanzipatorischen Freiraumplanung der 1970er Jahre. Auch dort wollte man „über die Erkenntnis der ‚unmittelbaren Bedürftigkeit‘ zur Selbstverwirklichung des Individuums in

77 78 79 80 81

Sieverts 2003b: 55. Ebd. Ebd.: 57. Ebd. Ebd.: 55.

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der Gesellschaft führen“82. Die angesprochene Erweiterung des Wertekanons erstreckt sich im Projekt auf den „Reichtum des Informellen“, „das ästhetische und gesellschaftliche Innovationspotential des Ungestalteten“, auf die „vorschnell als ungestaltet gewerteten Räume“83, auf das „ausgeprägte Patchwork scheinbar ungestalteter Dinge“84, die aber in Wahrheit Ergebnis einer durch ihre Bewohner gestalteten Lebenswelt sind. Es strebt also die Erweiterung des akzeptierten ästhetischen Kanons um die „Ästhetik der Aneignung“ an. Dabei weckt der Begriff der „Prärie“, viel stärker noch als der des „Labyrinths“, Assoziationen mit der Idee der ‚Wildnis‘. Mit ihm bezeichnet Sieverts freie Flächen im und um das Dorf, die „überraschende Momente endloser Weite“85 bescheren und die, zusammen mit den Labyrinthflächen und -strukturen, den Dorfplatz bilden (siehe Abbildung 10). Abbildung 10: Freiräume im „dörflichen Geflecht“ als Prärie.

82 Nohl 1973: 40; siehe auch Nohl 1980. – Zur sozialwissenschaftlichen Freiraumplanung Körner 2001: 239 ff., speziell zu Nohls Ansatz ebd.: 293 ff., Hanisch et al. 2008: 50-52. 83 Alle drei Zitate Sieverts 2003b: 54. 84 Ebd.: 55. 85 Ebd.: 56.

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Der Zwischenstadt werden hier also, das legt die Koppelung aus Öffentlichkeit (Dorfplatz für gemeinschaftliche Aktivitäten) und Freiheit (Freiheit der Nutzung, temporäre Aneignung von Flächen im und um den Ort) nahe, Bedeutungen zugeschrieben, die in der demokratischen Weltanschauung mit ‚Wildnis‘, aber vor allem auch mit ‚Großstadt‘ verbunden werden (Vorstellungen 19 und 27). Diese gilt klassischerweise als Sphäre der gelebten Emanzipation, die als Ergebnis von Aneignungshandlungen begriffen wird. Die Tätigkeiten, die Sieverts sich für den gemeinschaftlich genutzten Dorfplatz vorstellt, erfüllen alle Kriterien, die Nohl für die „Aneignung im Sinne einer aktiven Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Wirklichkeit“86 angesetzt hatte: Die kollektive Nutzung aller Freiflächen für Dorffeste, Grillabende mit Nachbarn etc. ermöglicht „das Erleben mitmenschlicher Beziehungen“ und „die Teilnahme an sozialen Interaktionsprozessen“ genauso wie „das Erleben des materialen Substrats“ und „die Benutzung der materialen Ausstattung des Freiraums“87. Vertreter der Aneignungsästhetik gehen, wie im Folgenden noch viel deutlicher werden wird, davon aus, dass ein Gegenstand oder eine Gegend erst dann, wenn man ihn bzw. sie sich angeeignet hat, auch schön sein kann. In seinem Text „Die Stadt als Wildnis“ beschreibt Boris Sieverts zwei Siedlungen im Kölner Stadtgebiet, die „Siedlung am Heckpfad“ und die Siedlung „Alter Deutzer Postweg“. Beide wirkten auf den ersten Blick ungestaltet und seien sozial stigmatisiert, offenbarten aber, „bei näherem Hinsehen“, „Möglichkeiten selbstbestimmten Lebens“88. Auch hier geht es ihm also, auf der formalen Ebene, darum, „den tatsächlichen Zeichenreichtum“ von Gegenden aufzuzeigen, die „für die meisten Menschen zeichenlos“89 sind. Dass er sich für dieses ästhetische Programm gerade diese informellen und illegalen Siedlungen ausgesucht hat,90 offenbart auf der semantischpolitischen Ebene seine basisdemokratische Stoßrichtung. Seine Zuwendung zu den fragmentierten Patchworklandschaften der Zwischenstadt hat also zwei Funktionen: Erstens fordert er durch seine Projekte, Beschreibungen und Spaziergänge dazu auf, sich auch denjenigen Landschaften vorbehaltlos und interessiert zuzuwenden, die Lebenswelt sozialer Randgruppen sind. Die zweite Funktion ist weniger auf Toleranz und Verständnis in der sozialen Gemeinschaft gerichtet, als vielmehr auf eine Hilfestellung zur individuellen Lebensführung: Bei der Erfassung der urbanen Patchworklandschaft

86 87 88 89 90

Nohl 1973: 40. Alle ebd. Beide Zitate Sieverts 2003a: 214. Ebd.: 207. Illegal sei die Siedlung, weil die Häuser ohne Baugenehmigung errichtet worden seien. Das Land, auf dem sie stehen, sei offiziell als Gartenland deklariert. Die Bewohner zahlten Pacht für das Land. Die Häuser seien ihr Eigentum. Gelegentlich müsse der eine oder andere Bewohner ein Bußgeld für illegales Bauen zahlen, aber das käme selten vor. (Ebd.: 215)

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kann man seine „Fähigkeit des Fügens durch genaues Hinsehen, Interpretation und Erkennen von Zusammenhängen auf bis dahin nicht bedachten Ebenen […] trainieren – eine Fähigkeit, die er [der Einzelne] mehr und mehr brauchen wird, soll ihm sein eigenes Leben nicht in tausend Stücke zerfallen“.91 Die Wahrnehmung fragmentierter urbaner Landschaften trainiere also, sich im Chaos, auch und vor allem dem des eigenen Lebens, zurechtzufinden und diesem Zustand der Verwirrung auch noch etwas Gutes abzugewinnen: „An ihm [dem Patchwork der Landschaft] können wir sowohl die Fähigkeit des Fügens – und bestimmte Wahrnehmungsweisen, die nötig sind, um dem Chaos Schönheit zu entlocken – trainieren, als uns auch mit besonderen Befindlichkeiten wie Desorientierung und Fremdheit vertraut machen.“92 Hier wird offenbar ein enger Zusammenhang von urbaner Landschaft und ihren Bewohnern, von sozialen Verhältnissen und Ästhetik angenommen: Der Patchworkcharakter der Landschaft wird als Ausdruck der Lebensweise der in ihr lebenden Personen interpretiert:93 „Deregulierte Verhältnisse brauchen deregulierte Geographie“94 (siehe Abbildung 11). Mit diesem Begriff sind, im Sinne einer „deregulierten Topographie“, Zonen gemeint, die „ein landschaftliches Pendant zum Patchworkcharakter moderner Biographien bilden“95. Diese Fragmentierung fasst er mit der Metapher ‚Wildnis‘, und so stellt er seine Überlegungen unter der Überschrift „Stadt als Wildnis“ an. Die Bedeutungen, die ‚Wildnis‘ dabei zukommen, werden in aufeinanderfolgenden Interpretationsschritten deutlich. (1) Die erste Bedeutung – auf die er anspielt, wenn er die Brachflächen und illegalen Siedlungen der Ballungsgebiete als ‚Wildnis‘ bezeichnet – ist sozusagen ihre klassische: Die Wildnis der typisch zwischenstädtischen Orte ist ungeordnet, unkontrolliert und unkontrollierbar; sie ist ein Ort der Bedrohung für die Ordnung der etablierten Kultur, und ihre Bewohner sind Menschen sozialer Randgruppen, denen gegenüber starke Vorbehalte bestehen. (2) Eine vorteilhaftere Bedeutung kommt der Zwischenstadt-Wildnis dann zu, wenn Sieverts dazu anregt, in ihr das ästhetisch Reizvolle der alternativen Lebenswege zu entdecken. Die intensive Beschäftigung mit und der lange Aufenthalt in diesen Gegenden zu ihrer Erkundung lässt sie allerdings

91 Ebd.: 213. 92 Ebd.: 214. 93 Diese Charakterisierung erinnert an die Landschaftsdefinitionen John Brinckerhoff Jacksons, siehe beispielsweise Jackson 1984/1997: 305; 1984/2005: 43. Außerdem wendet sich Sieverts, ganz so wie Jackson, dem „Vernakulären“ zu, z. B. Jackson 1985/1997; 1990/2005; 1994: 119-133; zu Jackson und der Bedeutung des Vernakulären siehe Wilson & Groth 2003. 94 Sieverts 2003a: 230. 95 Ebd.

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zunehmend weniger als Wildnis, sondern eher als angeeignetes und kultiviertes Land, als Kulturlandschaft erscheinen. Boris Sieverts‘ Beschreibungen der Orte und ihrer Qualitäten legen nahe, dass Zwischenstadt hier Bedeutungen annimmt, die der ‚Kulturlandschaft‘ aus der Perspektive der demokratischen Weltanschauung zukommt. Sie gilt ihm erstens als emanzipatorisches Betätigungsfeld (Vorstellung 24), d. h. als Ort eines Lebensentwurfs, der sich im Schatten kapitalistischer und bürokratischer Institutionen entfaltet. So sieht er die zwischenstädtischen Patchworktopographien als „Räume, in denen Ausgleich ohne Wohlfahrtsstaat möglich ist“ und die sich „dem sonst allgegenwärtigen Gesetz der Maximierung der Grundrente – zumindest vorübergehend – entzogen“96 haben. Zweitens sieht er sie als Ausdruck einer zweckmäßigen Schlichtheit (Vorstellung 23), was an seiner Beschreibung der informellen Architekturen deutlich wird (siehe Abbildung 12). Abbildung 11, links: Ein Wohnhaus der Siedlung am Heckpfad. Abbildung 12, rechts: Grundriss eines Wohnhauses der Siedlung am Heckpfad.

„Der Wert der Siedlung am Heckpfad liegt nicht in den einzelnen Architekturen, sondern in dem komplexen Gesamtbild, das die Siedlung abgibt, in dem hohen Identifikationsgrad der Bewohner mit ihren Häusern und in der Möglichkeit, auch ohne Kapital seine konkrete, physische Umgebung selber zu gestalten.“97 Hier tritt der Kerngedanke der Taktik der Aneignung klar zutage: Nur eine Gegend, die man sich angeeignet hat, kann schön sein und „Prozesse der Identifikation mit Freiflächen, Wohnquartier und Stadt“, wie Nohl die symbolische Dimension der Aneignung beschreibt, ermöglichen.98 Dass er der Aneignung auch eine ästhetische Dimension zuschreibt,99 meint, dass der ästhetische Blick selbst eine Form der Aneignung ist. Die bekämpfte Anästhetik erscheint dann als (sekundäre) Nicht-Angeeignetheit: Nicht weil

96 97 98 99

Beide Zitate ebd.: 214. Ebd.: 220. Nohl 1993: 6. Ebd.

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die Dinge primär fremd sind, sondern weil sie durch die Beziehungslosigkeit zu den eigenen Produkten (Ent-Fremdung) fremd geworden sind, ist die Voraussetzung für einen ästhetischen Blick nicht mehr gegeben. Aneignung, in all ihren Dimensionen, ist dann der Weg, der zu „einer Gesellschaft mündiger Individuen“100 führt, denen es möglich ist, „das Einmalige, Besondere, Unverwechselbare des physischen und des sozialen Aspekts in Freiräumen sinnlich bewußt zu erfassen“101, diese also ästhetisch wahrzunehmen.

5.2 D IE „E NTFESSELUNG “ DER Z WISCHENSTADT – ZUR MORALISCHEN D IMENSION DES W ILDNISBEGRIFFS Wildnis ist, wie schon gesagt, nicht nur ein ästhetischer Begriff, sondern auch, und vielleicht sogar primär, ein moralischer. (Wir hatten gesehen, dass sich schon hinter der These der Anästhetik der Zwischenstadt ein moralischer Vorwurf verbarg, der sich gegen die „Kälte“ der zeitgenössischen urbanen Landschaft und ihre gesellschaftspolitischen Ursachen richtete.) Die primären Begriffe, mit denen man die Zwischenstadt beschreibt, sind darum auf die sein-sollende Gesellschaft bezogene moralische Begriffe; sie haben vor allem mit Ideen wie ‚Freiheit‘, ‚Ordnung‘ und ‚Vernunft‘, den uns aus Kapitel 4 bekannten Kriterien, zu tun.102 Darum wird, hier, im zweiten Unterkapitel auf die Zwischenstadt als Wildnis im Sinne einer moralischen Kategorie eingegangen. Es wird sich zeigen, dass das Verständnis dessen, was Wildnis ist und wie sie zu bewerten ist, stark variiert – von Autor zu Autor, aber auch von Aussage zu Aussage: So gibt es beispielsweise zahlreiche Varianten des Topos der Unordnung und Unkontrollierbarkeit der Zwischenstadt. Sie reichen von der „Entfesselung“ der Städte bis zu Charakterisierungen von Stadtentwicklungen als „wild wuchernd“. Das unkontrollierte Wachstum kann aber sehr unterschiedlich, ja völlig konträr bewertet werden – je nachdem, ob die Ordnung, gegen die es verstößt, als stützend oder beengend gewertet wird. Wird sie, wie in der romantischen Denktradition, als Enge interpretiert, so bedeutet das unkontrollierte Wachstum Befreiung von den restriktiv empfundenen Verhältnissen. Zumeist jedoch offenbaren die Beschreibungen des Kontrollverlusts ein gewisses Unbehagen – auch bei den Qualifizierern, die doch eigentlich der Unordnung der Zwischenstadt viele Reize abgewinnen können müssten. In den im Folgenden analysierten Zitaten wird die Bandbreite an Variationen des Topos der Unordnung und

100 Ebd.: 39; i. O. hervorg. 101 Ebd.: 40. 102 Die drei Begriffe leiten, wenn auch nicht systematisch und explizit, die in diesem Kapitel unternommene Analyse ausgewählter Zitate auf ihren weltanschaulichen Gehalt und die Untersuchung ihrer Verbindungen.

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Unkontrolliertheit deutlich. Die Beispiele zeigen aber auch, dass aus den ausgewählten Passagen allein nicht immer erkennbar ist, auf welche der verschiedenen Deutungsmuster von ‚Wildnis‘ zurückgegriffen wird, d. h. in welchen weltanschaulichen Zusammenhängen die Aussage steht. Um hier zu eindeutigen Verortungen zu kommen, ist bisweilen eine Kontextualisierung der Zitate nötig. Das Kapitel gliedert sich nach Weltanschauungen, die als die dominierenden in den analysierten Textstellen erscheinen. Dass sich diese Gliederung als tragfähig erweist, ist bereits ein erster Hinweis darauf, dass es sich bei der überwiegenden Zahl der Fälle, in denen in einem Zitat Denkmuster unterschiedlicher Weltanschauungen verbunden sind, um Integrationen in eine als dominierend anzusehende handelt, und weniger um Kombinationen von zwei oder mehr gleichrangigen. Zu Beginn jedes Kapitels stehen die Passagen, die die jeweilige Weltanschauung möglichst rein zum Ausdruck bringen; daran schließt sich die Analyse und Interpretation der Integration anderer weltanschaulicher Elemente an. 5.2.1 Surfen auf den Wellen der Zwischenstadt – Dominanz der liberalen Weltanschauung Rein liberale Vorstellungen Fast in weltanschaulicher Reinheit zeigt sich ein Aspekt des Liberalismus, wenn die Qualifizierer ein neues Planungsverständnis mit der Begründung fordern, dass das alte, statische gescheitert sei, weil es die Komplexität und Dynamik der Peripherien nicht angemessen berücksichtigt hätte. „Um die sich immer schneller wandelnden Anforderungen aus der Vielzahl der Wirkkräfte aufzunehmen und ihnen besser gerecht zu werden, bedarf es einer deutlich größeren Flexibilität bei Planungsverfahren. Dies erfordert eine Verlagerung oder Ergänzung von einer flächenbezogenen Angebotsplanung hin zu einer nachfrageorientierten Prozessbegleitung. Das Leitbild der Beständigkeit wird abgelöst vom Leitbild der Flexibilität oder der Mobilität des ewigen Wandels“.103

Der Zwischenstadt wird hier eine Bedeutung zugeschrieben, die der Wildnis im klassischen Liberalismus zukam: Sie ist Motor des Fortschritts, Impulsgeber für neue Ideen (Vorstellung 1). Ihre Dynamik führt zur Idee des ewigen, immer zukunftsoffenen Fortschritts. Sie ist das Modell, an dem man Einsicht erhält in das wahre, und das ist das dynamische und komplexe, Wesen von Landschafts- und Siedlungsentwicklung insgesamt.104 Die nicht zu

103 Boczek 2007: 238 unter Bezug auf Dettmar 2005: 62. 104 Zum Komplexitätsthema siehe auch Poser 2008; Prominski 2004b: insbes. 1737, 103-146; Gleininger & Vrachliotis 2008; als allgemeine Einführung in das Thema Komplexität Mainzer 2008.

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kontrollierenden und immer schnelleren Veränderungen im suburbanen Raum machen die Entwicklung immer neuer Planungsstrategien überhaupt erforderlich. Darüber hinaus verweist auch das Denken in Kategorien der Angebots- und Nachfrageorientierung auf einen liberalen Hintergrund. Auch die Argumentation, dass in der Zwischenstadt gerade dann nützliche Orte entstehen, wenn man die Siedlungsentwicklung frei laufen lässt, offenbart eine liberale Weltanschauung. Für die Qualifizierer ist charakteristisch, dass sie nach Möglichkeiten suchen, trotz der Unkontrollierbarkeit der Zwischenstadt bestimmte Ziele zu erreichen und dies gerade mithilfe der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Komplexität und Dynamik, also dessen, was zur Unkontrollierbarkeit führt:105 „Es ist unmöglich, die räumliche Ausbreitung solcher Prozesse im Voraus zu koordinieren, sodass sich daraus nicht nur das landschaftlich scheinbar chaotische Geflecht aus Linien und Schnittstellen ergibt, sondern auch das enorm vielfältige Angebot an nutzbaren Orten, die je nach Transport- und Kommunikationsmittel bequem und rasch erreicht werden können.“106

Durch das Chaos der Siedlungsentwicklung kommt es immer wieder zu räumlichen und funktionalen Situationen von überraschender Qualität und Funktionalität, die – das scheint mitgemeint zu sein – weit besser sind als alles Geplante. Aus der unkontrollierbaren Dynamik und Komplexität erwachsen also selbst die Mittel zur Überwindung der Defizite. Diese Argumentationsfigur, dass das Unkontrollierte zu seiner eigenen Überwindung beiträgt, ist aus der liberalen Weltanschauung bekannt (Vorstellung 2): Die Einstellung zu den in der Zwischenstadt wirksamen Kräften ist strukturanalog zur Haltung, die der klassische Liberalismus gegenüber der inneren wilden Natur einnimmt: Die Wolfsnatur des Menschen und mit ihr das Wesen der Gesellschaft können weder beherrscht noch von Grund auf geändert, sondern zugelassen und immer nur klug gelenkt werden. Genau diese liberale Haltung, die Planung auffasst als die kluge Lenkung der unumgänglichen Realität, bringen Bormann et al. im folgenden Zitat zum Ausdruck. Dass sie sich dabei auf Koolhaas, einen der Protagonisten der Euphoriker berufen,

105 Denn obwohl sie bereit sind, sich auf ihre Reize einzulassen und sie andere Planungsstrategien als die herkömmlichen verfolgen, so sehen sie doch die Notwendigkeit von Planung und Gestaltung und unterscheiden sich darin von den Euphorikern, die gänzlich auf Planung verzichten: „Die eigenschaftslose Stadt markiert den endgültigen Tod jeder Planung. Wieso? Nicht, weil sie nicht geplant wäre – in Wirklichkeit lassen ungeheure, einander ergänzende Universen von Bürokraten und Bauträgern unvorstellbare Ströme von Energie und Finanzmitteln in ihre Fertigstellung fließen […]. Doch ihre gefährlichste und zugleich erheiterndste Entdeckung ist die, daß Planung völlig irrelevant ist.“ (Koolhaas 1996: 24; siehe auch 1995/1996.) 106 Oswald & Baccini 2003: 22.

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kann als Hinweis darauf gedeutet werden, dass eine rein liberale Haltung nicht den Kern der Qualifizierer ausmacht, sondern einen Übergang zur Haltung der Euphoriker markiert: „Rem Koolhaas benutzt metaphorisch das Bild des Surfers auf den Wellen für einen möglichen Umgang der Planerschaft mit den offensichtlich schwer beherrschbaren Kräften eines globalisierten Kapitalismus. Seine Metapher und die daraufhin in Deutschland ausgelöste Kontroverse offenbart bis heute einen tiefgehenden Grabenkampf: Die klassisch ‚synoptische‘ Planungshaltung, die den Raum nach Problemlagen durchsucht, um diese dann durch möglichst ganzheitliche Lösungen aus der Welt zu schaffen, steht einer eher pragmatischen Haltung gegenüber, die weniger Welt verbessernd [sic!] auftritt[,] sondern eher versucht, mit beobachteten Phänomenen umzugehen, sie als Material zu begreifen, das gestaltet werden kann. Das bedeutet, sich einzulassen auf die Mechanismen und Kräfte der Gesellschaft ohne sie damit unkritisch zu bejahen, letztlich also ein Arbeiten mit und nicht gegen die Realitäten.“107

Auch die Interpretation der Heterogenität der Zwischenstadt als räumlicher Ausdruck gesellschaftlicher und individueller Freiheit verweist auf einen liberalen Hintergrund: So, wie sich die Peripherie der Macht des Zentrums entzogen habe, hätten sich auch die Teilöffentlichkeiten der Interpretationsmacht des Bildungsbürgertums entzogen. Die Analogie drückt sich sprachlich in der Personifizierung der Zwischenstadt aus. Dieser selbst wird Freiheit zugeschrieben – ganz so, als sei sie ein Subjekt, das frei sei und handeln könne. So schreibt Thomas Sieverts: „Dieser Prozess [der Gestaltung und Urbanisierung der Zwischenstadt] muss die notwendigen und erwünschten Freiheiten der Peripherie wie ‚New Frontiers‘, die durch Strukturwandel und Brachen immer wieder neu entstehen, ebenso respektieren wie Elemente, die notwendigerweise der Eigenlogik der arbeitsteiligen Gesellschaft gehorchen.“108

Die Freiheit der Peripherie wird darin gesehen, dass sich in ihr immer wieder neue Grenzen bilden, an denen aufeinanderprallt, was unterschiedlichen Handlungslogiken folgt: Flächen, die durch den Strukturwandel aus der Nutzung gefallen sind, stoßen unvermittelt an solche, die aktuell unter hohem Nutzungsdruck stehen. Die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Handlungslogiken, die sich als räumliches Nebeneinander niederschlägt, wird als Ausdruck gewisser Freiheiten der Lebensführung gedeutet. Diese Möglichkeiten spiegeln sich als räumlich erfahrbare Koexistenz heterogener Elemente.

107 Bormann et al. 2005: 42 f. 108 Sieverts 2002: 43.

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Diese Freiheit ist es, die Sieverts veranlasst, die Zwischenstadt als New Frontier zu bezeichnen. Der Vergleich verweist auf den liberalen Zusammenhang, in dem die Wertschätzung der unbedingten freien Entfaltung der individuellen Lebensentwürfe wurzelt.109 Auf die Zwischenstadt wird hier also die Bedeutung von Wildnis als Sphäre der Freiheit im liberalen Sinn übertragen (Vorstellung 2). Für den Pionier an der klassischen frontier, der Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation in Nordamerika, stellte sich das Land im Westen als verheißungsvoller Raum der Freiheit dar und als Versprechen zukünftigen Erfolgs. Sieverts überträgt das Freiheitsversprechen und die Verheißung unbegrenzter Möglichkeiten auf die urbanen Landschaften. Sie werden durch den neuen Blick zur Neuen Welt. Typisch liberal ist auch der Topos, die Zwischenstadt als Ort der Freiheit von der vorherrschenden bildungsbürgerlichen Kultur zu charakterisieren: „Jedenfalls kann nicht mehr von der (oder einigen) Öffentlichkeit(en) die Rede sein, sondern von einem Universum von Teilöffentlichkeiten. Diese sind transitorisch, reflexiv und vielgestaltig; sie sind oft atomisiert, bilden voluntaristische Gemeinschaften und konstituieren sich vermehrt über Freizeit, Sport, Moden, Geschmäcker usw. Dazu gehört, dass selbst die (bildungs-)bürgerliche Öffentlichkeit nicht einfach verschwunden ist, sondern lediglich ihre Leitfunktion, insbesondere als Interpretationszentrum, verloren hat. Insofern ist der Ablösungsprozess auch eine Befreiung von einer zentrierten pädagogisch orientierten Öffentlichkeit zugunsten einer stark heterogenen, unüberblickbar vielfältigen Öffentlichkeit.“110

In der Öffentlichkeit (die ja für die Stadt wesentlich ist) der sich auflösenden Stadt wird gemäß der liberalen Ideologie etwas Wildnisartiges gesehen, insofern es nicht mehr eine Öffentlichkeit mit gemeinsamen Wertvorstellungen gebe (oder doch eine dominante – die bildungsbürgerliche –, die den anderen ihre Sichtweise mit einigem Erfolg aufzwingt), sondern viele heterogene, unüberblickbare, sich ständig verändernde Teilöffentlichkeiten. Das wird als Befreiung gedeutet. Diese Interpretation stimmt mit Grundannahmen des Liberalismus überein: In dessen Logik löst sich die eine Öffentlichkeit, die er erst erzeugt hat, irgendwann auf. Denn die fast bedingungslose Freiheit des Einzelnen führt zu einem Pluralismus der Teilkulturen, in dem die Idee der Öffentlichkeit ihren Sinn verloren hat, weil es außer dem Nachtwächterstaat keine gemeinsam zu gestaltende Gesellschaft mehr gibt. Es gibt keinerlei Vorgaben dazu, an was sich die eine Öffentlichkeit inhalt-

109 Seine berühmte frontier-These präsentierte Turner 1893 in einem Vortrag vor der American Historical Association in Chicago, das Buch, in dem er sie aufgriff und erweiterte, erst 1920 (Turner 1920/1996). Zum frontier-Topos allgemein: Johnson 2007; Nash 1967/2001; zu Stadt und Zwischenstadt als (urban) frontier besonders in der US-amerikanischen Planungsliteratur Garreau 1991; Jackson 1985; Lewis 2007. 110 Hubeli 2003: 49 f.

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lich ausrichten soll. Einziger Maßstab ist die jeweilige Laune, das individuelle Verlangen: Wenn man irgendein Bedürfnis hat, bildet man mit denen, die das gleiche haben, eine Gruppe mit eigenen Regeln, Codes, einer eigenen Sprache. Wie könnte es auch nur eine Öffentlichkeit geben bei so vielen unterschiedlichen Interessen? Autolobbyisten und die Tourismusbranche, Sportpferdezüchter und Naturschützer – sie alle verfolgen ihre Partikularinteressen, bilden Teilöffentlichkeiten und liefern sich wilde Kämpfe, die sich räumlich in der Heterogenität und Fragmentiertheit der Zwischenstadt niederschlagen.111 Die hier skizzierte Theorie der Öffentlichkeit ist verbunden mit der Idee einer bloß formalen Gesetzgebung im Liberalismus. Die formalen Gesetze, so haben wir oben gesehen, lassen Spielraum für die Entfaltung der je eigenen (wilden, nun aber kanalisierten) Natur. Die Zwischenstadt wird als Stadt imaginiert, die der primäre Ort dieser bloß formalen Gesetzgebung ist (Vorstellung 7). Bei den Teilöffentlichkeiten geht es zwar nicht, oder doch nicht ausschließlich, darum, als wölfisches Wirtschaftswesen aufzutreten. Dennoch spielt der Geist des Individualismus, der egoistischen Interessenorientierung die wesentliche Rolle bei der Konstitution der Teilöffentlichkeiten. Die Entfaltung der nicht mehr durch die Pädagogik eines kulturell alles beherrschenden Bildungsbürgertums (konservative und demokratische Gegner des Liberalismus würden statt dessen sagen: der Vernunft, unter der sie allerdings recht verschiedenes verstehen) gezügelten eigenen Natur führt dann zu einer in ihrer Schnelllebigkeit und Vielzahl unüberschaubaren und darum als befreiend empfundenen Struktur der Öffentlichkeit. Ebenfalls als Verweis auf einen liberalen Wertehintergrund ist die folgende Passage bei Vöckler zu deuten. „Die Stadt hat an Komplexität und Mehrdeutigkeit gewonnen. Die Alltagserfahrung eines Raums, der diskontinuierlich und in unterschiedlichen Dimensionen konstituierbar ist, bestärkt die Vorstellung, in einem dynamischen und flexiblen Raumgefüge zu leben, welches eine Vielzahl von Handlungsperspektiven bietet, ohne dass ein bestimmtes Handlungsmuster vorgezeichnet ist (auch wenn diese Vorstellung mit den

111 Die so entstehenden neuen Teilöffentlichkeiten sind nicht zu verwechseln mit den alten Ständen oder den späteren Klassen oder Schichten bzw. deren Teilöffentlichkeiten. Diese waren eher solche des Lebenszwangs: man war Bauer oder Arbeiter und gehörte als solcher eben dieser Teilöffentlichkeit an, aus der es kaum ein Entkommen gab. Die modernen Teilöffentlichkeiten werden dagegen als Ausdruck eines Höchstmaßes an Freiheit und Unverbindlichkeit angesehen (ob sie es sind und ob sie wirklich so pluralistisch-tolerant nebeneinanderstehen oder ob es nicht doch die alten Dominanzverhältnisse noch gibt, nur dass sie eben in einer bestimmten Ideologie nicht bemerkt werden, ist eine andere Frage), sie entstehen eben als „voluntaristische“ Zusammenschlüsse. Zwischenstadt gilt als diejenige Form des Zusammenlebens, die der zeitgemäße Ausdruck dieser Summe von Teilöffentlichkeiten ist.

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alltäglichen Zwängen und ökonomischen Beschränkungen kollidiert). Hier zeigt sich die befreiende Kraft der Entortung und Entgrenzung.“112

Die Betonung der Dynamik und Flexibilität sowie der uneingeschränkten Handlungsfreiheit offenbart also eine Orientierung am liberalen Ideal von Stadt als Ort der Freiheit (Vorstellung 8), die darin gründet, dass die Leidenschaften nicht unterdrückt, sondern allenfalls kanalisiert werden (Vorstellung 7). Die „Entortung“ und „Entgrenzung“ können als Absage an das konservative Paradigma der Verwurzelung und die damit einhergehenden Determiniertheit durch konkrete Natur und Tradition gedeutet werden. Gegen die Einheit aus Land und Leuten und deren wechselseitige Bedingtheit wird das Modell der bedingungslos freien Selbstverwirklichung gestellt. Integration anderer Weltanschauungen in die dominierenden liberalen Vorstellungen Wenn liberale Ideen das Denken der Qualifizierer dominieren, treten sie allerdings in der Regel nicht in Reinform auf, sondern sind in Motive anderer Weltanschauungen integriert – wie es scheint, um den krassen Liberalismus zu mildern. Eine Integration demokratischer und romantischer Motive in die liberale Weltanschauung wird bei der Beschreibung des Projektes Dietzenbach 2030113 durch Wilhelm und Becker deutlich. Bei diesem Projekt handelt es sich um eine Stelenreihe, die sich in der Mitte der Stadt Dietzenbach aufspannt. „Die 2.500 Holzstelen standen für die Option eines jeden Bürgers und einer jeden Bürgerin, sich mittels einer Stele einen Claim auf einer 100 qm großen Parzelle auf den ausgewiesenen Brachflächen abzustecken.“114 (Siehe Abbildungen 13 und 14.) In dem Projekt wird zur Besetzung von Brachflächen aufgerufen und die „Möglichkeit zur zeitweisen Nutzung, Gestaltung und Übernahme von Verantwortung für diese Flächen“115 geboten: „Methodisch haben wir mit unserem ‚Wecken anarchischer Lust an der Stadt‘ an die Ansätze der Situationisten, der Hausbesetzerszene, der Strategien von Chora/Bun-

112 Vöckler 2003: 156. 113 Das Projektteam bestand aus der Stadt Dietzenbach (Angela Bernhardt, Claas Bigos, Stefanie Rohbeck) dem Büro „Topos“ (Barbara Boczek, Vasili Saridis), Wissenschaftlern der Universität Frankfurt (Marianne Rodenstein, Stefan Böhm-Ott, Petra Günther) und der TU Darmstadt (Stephan Goerner), vertreten durch das Büro „mwas“ (Martin Wilhelm, Claudia Becker). Das Projekt lief von Juni 2000 (Bewerbung der Stadt Dietzenbach für den Ideenwettbewerb „Stadt 2030“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung) bis Juli 2003 (Bernhardt et al. 2003; Wilhelm & Becker 2003). 114 Bernhardt et al. 2003: 71. 115 Wilhelm & Becker 2003: 36.

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schoten und der Provokationen des Ateliers van Lieshout angeknüpft. […] Geprobt werden soll der Umgang mit den ‚Wildcards‘, dem Unvorhersehbaren, Unplanbaren, Unbeeinflussbaren, mit den ‚störenden‘ Elementen eben, die schon zu Beginn die lineare Planung der Dietzenbacher Entwicklungsmaßnahme aus der Bahn geworfen haben. Die Entwicklung übergeordneter Leitbilder interessiert in diesem Zusammenhang nicht mehr. In Umkehrung der bekannten Polemik denken wir, dass die Summe der Einzelfälle heute wichtiger als ‚das Ganze‘ ist. Aus dem Umgang mit den Einzelfällen und Zufällen kann die Planung, fast schon als Nebenprodukt, Impulse für die Weiterentwicklung der Stadt beziehen.“116

Abbildung 13: Die Stelenreihe durch Dietzenbach.

Abbildung 14: Die Stelenreihe in Dietzenbach.

Dass hier demokratische und romantische Elemente in die dominierende liberale Weltanschauung integriert sind, drückt sich (1) in der Überzeugung oder doch wenigstens der Hoffnung aus, dass gerade wegen des fehlenden übergeordneten Plans die Dynamik der einzelnen Ereignisse und Interessen zu einem besseren Ergebnis für jeden Einzelnen führe (typisch liberal ist die Formulierung: für die „Summe“, nicht für „das Ganze“). Der Zwischenstadt, die immer schon ohne übergeordnete Pläne, die beispielsweise die Interessen verschiedener Kommunen koordinieren, ausgekommen ist, entnimmt man das Vorbild für Planung insgesamt.

116 Ebd.

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Die Autoren greifen auf Bedeutungen von ‚Wildnis‘ und ‚Stadt‘ zurück, die diesen Begriffen im Kontext des liberalen Denkens zugeschrieben werden: Stadtentwicklung wird gefördert, indem Abstand genommen wird von dem einen, übergeordneten Plan und indem den Bürgern die Möglichkeit gegeben wird, eigene Ideen einzubringen. Man vertraut darauf, dass durch deren weitgehend ungelenktes Wirken der Entwicklung am meisten gedient ist. Im Liberalismus ist entsprechend die Stadt der Ort, an dem sich die „willde“, nur soweit unbedingt nötig, um eigene Nachteile zu vermeiden, kanalisierte Natur des Menschen ausleben kann (Vorstellung 7). Diese Interpretation markiert eine interessante Wendung des Wildnisbegriffs: Das Unkontrollierte wird, indem es in den Dienst einer, wenn auch raffinierten, Planung gestellt wird, instrumentalisiert. Es ist gerade das Zulassen des Unvorhersehbaren und des Anarchischen (der „Wildcards“, die, wie Joker im Kartenspiel, als plötzliche, zufällige und unerwartete Ereignisse zwar selten sind, aber wesentliche Änderungen bewirken und als Störungen im gewohnten Ablauf erscheinen), das zu dessen Gegenteil, dem Geplanten, führt. Wildnis trägt, wie man sieht, als solche zum Fortschritt bei. Diese Argumentationsfigur entspricht einem liberalen Begriff von Stadt (Vorstellung 9), in dem diese als der Ort gesehen wird, an dem die vor Energie überschäumende innere Natur so verwertet wird, dass daraus Fortschritt resultiert. Obwohl sie hier funktionalisiert wird, ist entscheidend, dass sie zwar als kanalisierte, aber dennoch wahrhaft leidenschaftliche gedacht wird. Denn nur dann kann sie im Überborden der Einbildungskraft neue Ideen generieren und ihrer Aufgabe als Innovationskraft nachkommen. Die Textstelle kann, besonders unter Berücksichtigung des weiteren Kontextes, (2) auch als Verweis auf demokratische Planungsideen gedeutet werden: Brachflächen erscheinen als emanzipatorisches Betätigungsfeld, da sie ja offenbar gegen die Regeln und gerade gegen die dem Liberalismus heiligen Eigentumsverhältnisse angeeignet werden sollen (Vorstellung 24). Das Projekt wollte bürgerschaftliches Engagement anregen – in der klassisch demokratischen Terminologie: dazu erziehen. (Abbildung 15 zeigt Bürger bei der Entnahme und Versetzung der Stelen. Das Projekt sollte, quer durch alle Bevölkerungsgruppen, zu bürgerschaftlichem Engagement anregen.) Die Bewohner der Stadt sollten dazu motiviert werden, im Interesse des Allgemeinwohls ihren Beitrag zur gemeinschaftlichen Entwicklung zu leisten. Das schließt auch ein, dass sie wieder Vertrauen in die kommunale Stadtplanung fassen und diese als ihre Sache ansehen und mittragen. So hatte das Planungsprojekt auch zum „Ziel, neue Anknüpfungspunkte zwischen Bürgern und Stadtplanung zu schaffen und zu pflegen“117.

117 Ebd.: 37.

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Abbildung 15: Bürger bei der Entnahme und Versetzung der Stelen.

„In Städten wie Dietzenbach sind die Energie und auch die finanziellen Mittel der Bürger wichtige Ressourcen der Stadtentwicklung, für die es aber nur selten Schnittstellen zur Stadtverwaltung gibt. Angesichts knapper werdender öffentlicher Mittel und Macht sowie der Abhängigkeit von Investoren und deren sprunghafter Entwicklungslogik scheint uns die Annäherung an angloamerikanische Traditionen wichtig (‚Adopt-a-lot‘ in den USA, Übernahme privater Patenschaften etwa für die Pflege von Verkehrsinseln).“118

Zunächst wird also das (demokratische) „Ganze“ auf das (liberale) gemeinsame Interesse am (ökonomischen) Funktionieren der Gemeinde reduziert. Um das zu erreichen, bedarf es dann allerdings des (basis-)demokratischen Engagements der einzelnen Bürger, die erneut Vertrauen in die kommunale Stadtplanung gefasst haben. Das Engagement der Einzelnen, die Aneignung der Brachflächen und die Übernahme von Verantwortung für ein Stückchen Boden ihrer Gemeinde wird zur Voraussetzung dafür gemacht, dass sich

118 Ebd.

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gleichsam als Nebenprodukt des individuellen Engagements die ganze Stadt erfolgreich weiterentwickelt.119 Die Passage kann (3) auch so interpretiert werden, dass ihr eine romantische Wildnisbedeutung zugrunde liegt. Dann wird Gewicht darauf gelegt, dass das Projekt mit dem Unvorhergesehenen spielt und sich damit im Gegensatz zur „linearen“, vernunftbetonten Planung sieht. In diesem Denkzusammenhang gilt ‚Wildnis‘ als Sphäre der Freiheit von den Bestimmungen der Vernunft (Vorstellung 30). Sobald sich die Planung davon löst, Leitbilder vorzugeben, eröffnet sich ihr ein Spielfeld kreativer und flexibler Ansätze, die ihr erlauben, sich auf sich ständig verändernde Rahmenbedingungen einzulassen. Solange ausklammert bleibt, dass in der Romantik Vernunft und Planung schlechthin verneint werden, der Liberalismus hingegen sehr wohl eine auf den Nutzen (für die Summe der Einzelnen) bezogene vernünftige Planung befürwortet, gelingt die Integration des romantischen Moments der Leitbildlosigkeit, weil beiden Weltanschauungen die Idee der offenen Zukunft eignet. Auch konservative Topoi werden in die liberale Weltanschauung integriert bzw. liberal umgedeutet, beispielsweise das Motiv der Sehnsucht nach Heimat: Weil einem die universell verbreiteten Dinge selbstverständlich vertraut seien, seien gerade die Orte ohne lokale Besonderheiten Heimat. So wird bei Oswald et al. die Netzstadt als Ort neuer Urbanität, also die Zwischenstadt, zum heimatlichen Ort: „Da entpuppt sich Neue Urbanität als universales Phänomen und hat positiv zur Folge, dass wir auf der Basis vertrauter Bilder heutiger urbaner Baukultur wie Autobahnen, Strassen aus gleichen Reklamereihen, Parkplätzen, Untergrundbahnstationen, Hotellobbies, Warengalerien, Kinos und Ferienparadiesen überall Orte auf dem Planeten finden, an denen wir uns heimisch fühlen.“120

119 Der Umgang mit dem Boden ist ein zentrales Thema des Projekts: Mit basisdemokratischen Mitteln (geplante Verteilung des Bodens und Aneignung der Brachflächen) soll ein Bewusstsein für die Probleme der Stadtentwicklung geschaffen werden, die sich einem liberalen Verständnis des Bodens als Eigentum verdanken: „Der Umgang mit Boden als Gegenstand in einem gigantischem Vermarktungsprozess, als Streitobjekt um seinen Wert vor Gericht, als für überdimensionierte Verkehrsräume verbrauchtes Gut, als Leere in der Stadt und als der Bevölkerung unzugänglicher Raum spiegelt der Boden eine Vielzahl von individuellen, wirtschaftlichen und planerischen Interessen in der Stadt wider.“ (Ebd.: 36) Die Behandlung des Bodenthemas erinnert außerdem an die konservative Bauern-Ideologie: Die Leute handeln verantwortlich, wenn sie Boden besitzen. Das darf für sie allerdings nicht einfach eine Einkommensquelle sein, sondern für ihn hat man auf Dauer Verantwortung. (Zur konservativen Boden-Ideologie Greiffenhagen 1986: 148-152.) 120 Oswald & Baccini 2003: 21.

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Hier integriert die liberale Weltanschauung die konservative Idee der Heimat und universalisiert sie, verkehrt sie also in gewissem Sinn in ihr Gegenteil: Gemäß dem liberalen Credo wird durch das Walten der Gesetze des freien Marktes universeller Fortschritt erzeugt. Dieser steigert die Lebensqualität – nicht einfach, weil die freie Konkurrenzgesellschaft am besten ist für die Produktionssteigerung, sondern auch, weil er, und nur er, einlösen kann, was die alte Ordnung (bzw. die konservative Ideologie) immer als das Wesen von Lebensqualität sah: Beheimatung. Aber diese konnte in der alten Ordnung immer nur lokal und unter Ausgrenzung alles Fremden realisiert werden. Jetzt aber wird durch die Universalität des Fortschritts die Fremdheit abgeschafft. Überall ist Heimat – und das ist wahre Lebensqualität. Dieser eigentümlichen Kombination konservativer und liberaler Elemente, oder genauer dieser Integration eines zentralen konservativen Motivs in die liberale Theorie entspricht keine der klassischen Bedeutungen von ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ oder ‚Stadt‘. Der aus ihr resultierende letztlich progressive Heimatbegriff stellt eine vollkommen neuartige und konsistente Verbindung antagonistischer Weltanschauungen dar. Am ehesten scheint dieser neuen Zuschreibung ein liberaler Begriff von ‚Stadt‘ zu entsprechen, in der man von provinziellen Beschränkungen sowie von der Ideologie, in der Heimat immer nur lokal und unter Ausgrenzung alles Fremden zu verwirklichen ist, befreit ist (Vorstellung 8). Aber sie geht darin nicht ganz auf, weil im klassisch liberalen Begriff die Idee der Beheimatung ausgeklammert bleibt, die jedoch für den neuen Begriff zwischenstädtischer Heimat wesentlich ist. Die Idee der universellen Heimat ist konstitutives Moment der ‚Neuen Urbanität‘, wie sie Oswald et al. verstehen. Sie sei die „Lebensform der grossen Mehrheit der Menschen in den entwickelten Ländern“121. Entscheidend geprägt werde sie durch die zwischenstädtische Realität mit ihren überall gleichen und gleichförmigen Elementen: „Dieses Bild des flächendeckenden, in die Landschaft ausfransenden Siedlungsteppichs oder, umgekehrt formuliert, der in die Siedlung eindringenden, landschaftlichen Tentakel[..] prägt sich als Haupteindruck heutiger urbaner Baukultur ins Gedächtnis ein“.122 Vertraut sei die formlos erscheinende Siedlungsstruktur, weil sie „pragmatisch nur allzu direkt die Gesetzmässigkeiten im heutigen Alltag“123 widerspiegele. Man kennt, was man woanders sieht, immer schon von zuhause, weil alles überall denselben, global gültigen Regeln folgt. Zwar sei dies, historisch betrachtet, kein einzigartiges Phänomen unserer Epoche, da abendländische Stadtkulturen die Erdteile wiederholt so kolonisiert und bebaut hätten, dass ihre Auswanderer sich auch in der Fremde zuhause fühlen konnten und Eingeborene ihrerseits fremde Statussymbole kennengelernt

121 Ebd.: 20. 122 Ebd.: 21. 123 Ebd.

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hätten, die sie mit eigenen kombinierten.124 Trotzdem sei die zwischenstädtische Urbanität neu, weil sich der städtische Alltag von heute in seiner Realität und vor allem in seinem Rhythmus von dem früheren radikal unterscheide.125 Vor allem sei „das Gemisch von Lebensstilen an einem Ort […] ein Charakteristikum Neuer Urbanität“126. Die Vorstellung, dass Städte Orte der Integration („Gemisch“) sind, macht zwar den Kern des klassisch liberalen Urbanitätsbegriffs aus; neu ist aber die konsequente Weiterführung dieser Auffassung: Weil sich in allen Städten verschiedene Lebensstile mischen, sieht es überall gleich aus, und alles funktioniert nach denselben Gesetzmäßigkeiten. Daher – und das ist der neue Gedanke – fühlen wir uns in den Allerweltsstädten, und zwar nur in diesen, heimatlich geborgen. Eine andere Variante, wie sich konservative Motive mit der dominierenden liberalen Weltanschauung kombinieren, wird an einer These evident, die Bormann et al. über den Zusammenhang von Urbanität und der gesellschaftlichen Integrationskraft der Zwischenstadt aufstellen. Sie meinen, dass diese erst dann zu einem urbanen und lebenswerten Ort werde, wenn sie ihre beiden gegensätzlichen prägenden Lebenswelten, nämlich die des idyllesuchenden Spießertums und die der Subkulturen (Skater, Clubszene etc.), ausbalanciere und wenn jenes diese integriere. Diese Subkulturen „beinhalten […] das Potential, die ‚Heile Welt‘ mit möglichen Kehrseiten der Gesellschaft zu konfrontieren. Über die schon bestehende Aneignung verschiedenster sozialer Gruppen hinaus, ist die Zwischenstadt vielleicht erst durch ein solches ‚Oszillieren‘ zwischen konfliktfreier Anreicherung und Störung bei der Möglichkeit echter Urbanität angelangt, im Sinne einer antipodischen, das ‚Andere‘ integrierenden Vollständigkeit.“127

(1) Als dominierendes Deutungsschema bietet sich der Liberalismus an, weil nur in ihm die Integration des „Anderen“ als Kanalisierung der inneren Wildnis betrieben wird. Man kann und man soll sich und seine Andersartigkeit ausleben, aber dergestalt, dass die Leidenschaften und Launen nicht nutzlos verpuffen, sondern in (für einen selbst) verwertbare Produkte verwandelt werden. Das (störende) Andere wird also nicht nur toleriert, sondern es gilt als notwendig für den gesellschaftlichen Fortschritt – wenn es sich nicht, zumindest nicht prinzipiell, der Logik der Verwertbarkeit entzieht (Vorstellung 7). Die Vorstellung von der Strukturierung der Gesellschaft der Zwischenstadt in Antipoden und die Notwendigkeit ihres funktionalen Zusammenspiels erinnert (2) an die konservative Gesellschaftskritik etwa bei Wilhelm Heinrich Riehl: Immer stehen zwei Pole in einem spannungsvollen, aber

124 125 126 127

Ebd. Ebd.: 20. Ebd.: 21. Bormann et al. 2005: 66.

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doch ausgewogenen Verhältnis zueinander. Solche Gegensätze sind z. B. die „Mächte der Beharrung“ und die „Mächte der Bewegung“ oder auch „Stadt“ und „Land“128. In ein vergleichbares Verhältnis stellen Bormann et al. vorstädtisches Spießertum und Subkultur. Erst durch ihr Zusammenspiel realisiere sich wahre Urbanität. Durch diese funktionale Betrachtung verlieren die Gegensätze ihren Oppositionscharakter, weil das Zusammenwirken beider als notwendig erachtet wird. Diese Theoriestruktur beschreibt Greiffenhagen als für den Konservatismus typisches dialektisches Muster: „Dadurch, daß man die Gegensätze ‚zusammendenkt‘, sollen sie ihren Oppositionscharakter verlieren und zu einer höheren, zugleich aber ursprünglichen Wirklichkeit zusammenschmelzen.“129 In der konservativen Kulturkritik des 19. Jahrhunderts ist die Kulturlandschaft der Ort, an dem die Gegensätze „Stadt“ und „Land“ in einem harmonischen und zugleich dynamischen Gleichgewicht stehen. Bei Bormann et al. wird die Zwischenstadt zum Ort dieses beobachteten oder doch erwünschten Gleichgewichts, wodurch sie strukturell die Stelle einnimmt, die in der klassisch konservativen Stadtkritik der ‚Kulturlandschaft‘ zukam (Vorstellung 13, 14 und 15). Wie kommt es zu der Mehrdeutigkeit der oben zitierten Passage? Wieso kann diese einerseits auf eine liberale Weltanschauung verweisen, zugleich aber eine typisch konservative Theoriestruktur aufweisen? Die Verbindung ist möglich, weil nur die Struktur der konservativen Argumentation übernommen ist, nicht aber die Inhalte und weil eben diese (dialektische) Struktur kompatibel mit der liberalen ist. Wie dann die Leerstellen des Argumentationsschemas inhaltlich gefüllt werden, ist in beiden Weltanschauung sehr verschieden: Während im Konservatismus ‚Stadt‘ und ‚Land‘ in einer beide umfassenden, jedoch keineswegs vermischenden ‚Kulturlandschaft‘ aufgehoben werden, so entsteht bei der hier vorgestellten liberalen Position Urbanität aus dem Zusammenprall von „Heiler Welt“ und dem, was zu Rissen in dieser führt. 5.2.2 Auf der Suche nach der Identität der Zwischenstadt – Dominanz der konservativen Weltanschauung Im Folgenden werden Aussagen von Qualifizierern analysiert, in denen sich eine Dominanz konservativer Vorstellungen abzeichnet. Wie im vorangegangenen Kapitel, so werden auch hier zunächst Zitate untersucht, bei denen sich konservative Motive in möglichst unverfälschter Form zeigen. Im zweiten Teil des Kapitels wird dann analysiert, wie Elemente anderer Weltanschauungen in jene integriert werden.

128 Alle Zitate Riehl 1854; dazu Vicenzotti 2005: 79 ff., Vicenzotti & Trepl 2009: 386. 129 Greiffenhagen 1986: 222.

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Rein konservative Vorstellungen Der vielleicht typischste konservative Topos, der im Diskurs um die Zwischenstadt häufig anzutreffen ist, ist ihre Charakterisierung als eigenschaftsloser Ort. Selbst wenn sich das jeweils nur auf Elemente (Gewerbegebiet, Einfamilienhaussiedlung, etc.) bezieht, so verbindet es sich, wie im folgenden Zitat, zumeist mit der Ansicht, dass sie im Prinzip aus lauter solchen Teilen besteht. „Klone sind monokulturelle Siedlungs- und Gewerbeflächen, die eine gleichförmige Prärie mit minimaler Ortsspezifik entstehen lassen. Sie besetzen mit immensem Flächenverbrauch als monofunktionale Patches die Freiräume zwischen den Infrastrukturlinien. Strukturell reichen sie von der einförmigen Großwohnsiedlung bis zum Einfamilienhausgebiet geringer Dichte.“130

Das Bild der Prärie weckt Assoziationen mit eintönig-reizlosen, endlosen Gegenden, die dem Wildnistyp Wüste in seiner Monotonie und Lebensfeindlichkeit ähneln.131 Das Gemeinsame all der verschiedenen Flächen, die strukturell der Siedlungs- und Gewerbeflächenprärie entsprechen, besteht für die Autoren in der Gleichförmigkeit, die durch das Repetitive gleicher Einzelteile verursacht wird. Auf eine konservative Weltanschauung verweist diese Wahrnehmung in zweierlei Hinsicht: Die „Klone“ gelten (1) wegen ihrer kaum ausgeprägten Ortsspezifik als problematisch. Die immergleichen Zwischenstadtelemente haben die Aufgabe verfehlt, sich in sich und mit Rücksicht auf den gesamten Raum zu differenzieren und so charaktervolle Raumeinheiten zu entwickeln. Sie haben versäumt, an ihrer Vervollkommnung zu arbeiten; denn diese drückt sich immer in der je individuellen Gestalt der Dinge aus. Stattdessen sind Prärien entstanden, wildnisartig in ihrer wüsten Gleichförmigkeit. Diese Interpretation gründet also auf jener konservativen Deutung von Wildnis, gemäß der diese die Vervollkommnung der wahren Natur verhindert (Vorstellung 11). Wildnis ist dabei als öde Siedlungs- und Gewerbegebietsprärie das, was sich

130 Bormann et al. 2005: 22. 131 Zum Wildnistyp Wüste Hoheisel et al. 2005; Jasper 2004; Kangler & Vicenzotti 2007; Lindemann 2000, Schwarzer 2007. – Trotz dieser Ähnlichkeit scheint die Prärie ein eigenständiger Wildnistypus zu sein bzw. sie unterscheidet sich in einem wichtigen Punkt von der Wüste: Sie ist typisch amerikanisch, weshalb mit ihr auch die ganze Industrie- und Fortschrittskritik, die an den USA geübt werden, assoziiert ist (zur Prärie Angus 1975; Thacker 1989). Obwohl sie naturwissenschaftlich betrachtet identisch mit der Steppe ist (sie kann als deren nordamerikanische Ausprägung betrachtet werden), sind die kulturellen Bedeutungen von Prärie und Steppe sehr verscheiden. (Dschingis Khan kommt aus der Steppe, nicht aus der Prärie; aber dort, und nicht in der Steppe gibt es Indianer; zur Steppe Barker 1979; Finke 1995.)

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anstelle der harmonisch-heimatlichen Dörfer einstellt. Und sie ist das, was die Vervollkommnung der Siedlungen zu eben diesen heimatlichen Orten verhindert, also Ausdruck und Folge der inneren triebhaften Natur der Individuen und der Gesellschaft. (2) Klone sind ihrem Wesen nach monoton. Eine ausgeprägte Ortsspezifik wird aber, wie im Zitat deutlich wird, als Ausdruck der Individualität eines Ortes angesehen. Nur individuelle Orte könnten ihren Bewohnern Heimat sein. Dass sich die Menschen in den charakterlosen Orten der Zwischenstadt nicht zuhause fühlen können, fügt sich in die für den Konservatismus einst typische Feindschaft gegen die Großstadt ein. Diese wegen ihrer universellen Gleichförmigkeit zu verfemen, ist ein gängiger Topos klassisch konservativer Stadtkritik (Vorstellung 17). In seiner modernisierten Variante verschiebt sich allerdings das Objekt der Missbilligung: Nicht mehr die Stadt steht im Brennpunkt der Kritik (diese, also die historische europäische Stadt, gilt ja inzwischen vielmehr als Ort, dessen Eigenart sich in einem Höchstmaß sichtbar entfaltet hat), sondern die Zwischenstadt wird als Inbegriff monotoner Ungestalt angesehen.132 Ein anderer Themenkomplex, an dem sich rein konservative Motive zeigen, ist die Zurückweisung derjenigen Planungsauffassung, die in der Tradition der klassischen Moderne steht, oft verbunden mit der Feststellung, dass diese Auffassung weitgehend wirkungslos sei.133 Charakteristisch ist die Argumentation, dass die überkommene Planung in der Zwischenstadt scheitere, weil diese ein Raum sei, der sich durch komplexe und dynamische Prozesse auszeichne, die die Planung alter Art nicht erfassen könne.134 So

132 Nicht nur die Stadt, sondern auch die Wildnis (oder doch wenigstens bestimmte Wildnistypen) können als universell gleichartig angesehen werden: Wo immer man beispielsweise im Dschungel hinkommt, überall ist er „grüne Hölle“, und in seiner bedrohlichen Unordnung ist er völlig gleichförmig (Kangler & Vicenzotti 2007: 294 ff.). Die heute beschworene Biodiversität dieser Gegenden, die gemeint ist als Vielfalt, mithin als charakteristische Ausprägung einer ganz bestimmten Eigenart, ist nicht der Artenreichtum des Dschungels, sondern des tropischen Regenwaldes. (Zum Unterschied der Begriffe Vielfalt und Vielzahl, insbesondere im Biodiversitätsdiskurs Kirchhoff & Haider 2009; eine kritische Reflexion des Biodiversitätsbegriffs im Naturschutz bei Haber 2006: 23 f.; 2009.) 133 In der Kritik an der Planung, die in der Tradition der klassischen Moderne steht, überschneiden sich, wie sich unten noch zeigen wird, der konservative Diskurs und der basisdemokratische, wobei sich die Gründe für die Zurückweisung unterscheiden. 134 Zumeist wird betont, dass die Zwischenstadt beides sei, hochkomplex und hochdynamisch. Denn ein sich nicht veränderndes komplexes Gebilde wäre irgendwann erfasst und dann auch beherrschbar – ebenso wie ein zwar hochdynamisches System, das aber immer wieder die gleichen Phasen durchläuft. Damit erinnert die Zwischenstadt also an den Wildnistyp Dschungel, nicht an

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macht beispielsweise Boczek die „Transformationen und die Komplexität urbaner Landschaften“ dafür verantwortlich, dass die „Grenzen der Planbarkeit“135 erreicht werden: „Für Entwicklungen mit heterogenen Verknüpfungen und Nutzungen an unvorhergesehenen Orten lassen sich bisher keine Systematisierungen oder Steuerungsmöglichkeiten erkennen. Vielmehr ist ein schwindender Einfluss der Planung zu beobachten.“136 Die Begründung, mit dem hier das alte Planungsverständnis angegriffen wird, gleicht der Argumentation, mit der die klassisch konservative Kritik die Großstadt und die Bemühungen zu ihrer Entwicklung angegriffen hat. In beiden Fällen seien Planungen letztlich unwirksam, weil von einem falschen Bild der Siedlungsentwicklung ausgegangen werde (was letztlich, wie gleich noch ausgeführt wird, auf einen falschen Vernunftgebrauch zurückgehe): Die Stadt sei kein nach mechanischen Gesetzen funktionierendes Objekt, sondern ein lebendiger Organismus. (Und wenn man einen Organismus falsch, also nicht pflegend, sondern gewalttätig-konstruierend behandelt, reagiert er durch unorganisches Wachstum: er wuchert.) Dass er nicht zu kontrollieren sei, bedeute allerdings keineswegs, dass er keinen Gesetzen folgt. Die Stadt sei vielmehr, wie die Natur, so komplex und dynamisch, dass ihre Entwicklungen meist nur im Nachhinein erklärt, nicht aber prognostiziert werden können.137 „Die Anordnung von Gebäuden widerspiegelt den kurzfristig wechselnden Bedarf für gesellschaftliche Einrichtungen wie Wohnhäuser, Schulen, Einkaufszentren oder Golfanlagen, sodass das Konzept für den Stadtplan dem Bild von Strandgut ähnlich ist, das zufällig an der Wasserkante zurückbleibt. Die Metapher des Strandguts zeigt, dass das Muster der Gegenstände an der Wasserkante, topologisch gesehen, zwar ein gesetzmässig erzeugtes, aber im Voraus nicht festzulegendes Ergebnis darstellt.“138

Daher könnten „Formen urbaner Zustände nicht lange im Voraus fixiert werden […], wie es das Programm der Moderne noch in den so genannten Masterplänen vorgesehen hatte.“139 Damit ist diejenige Planungsauffassung,

135 136

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Wüste oder Prärie. Wie der Dschungel, so ist auch sie ein undurchdringliches Gewirr, sich ständig unvorhersehbar verändernd und vor allem unaufhaltsam wuchernd. Beide Zitate Boczek 2007: 237. Ebd.; vgl. Sieferle 2003: 75. – In diesem Sinne bezeichnen auch Hubeli und Luchsinger das „Geflecht“ „der wild gewachsenen Hybride zwischen Metropole und Provinz“ als „zu weit fortentwickelt und zu komplex, als dass die vorstädtischen Zonen neu organisiert werden könnten“ (Hubeli & Luchsinger 1996: 39). Ganz in diesem Sinne bestimmt auch Prominski „Unvorhersagbarkeit“ als einen Teil im „Dreiklang der Komplexität“ (Prominski 2004b: 23 f.). Oswald & Baccini 2003: 22. Ebd.: 188.

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die in der Tradition der klassischen Moderne steht und die der hier als „Demokratismus“ bezeichneten weltanschaulichen Position zugehört, als Gegner einer bestimmten Strömung innerhalb des Lagers der Qualifizierer genannt. Sie ist mit dem Anspruch angetreten, das Wohn- und Arbeitsumfeld umfassend neu zu gestalten und die Lebensqualität zu verbessern. Das wird ihr von den Qualifizierern als maßlose Selbstüberschätzung vorgeworfen. Die moderne Überzeugung, durch umfassende Planung kontrolliert gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen zu können, wird als Hybris gegeißelt; das dahinterstehende Gesellschaftsbild sei unterkomplex und technokratisch. Diese Argumentation erinnert an die der konservativen Kulturkritik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Sie erscheint als modernisierte Variante des fortschrittsfeindlichen Blicks auf die moderne Großstadt (Vorstellung 16). In jener Kulturkritik wurde die Vernunft der Aufklärung, die als abstrakt-lebensfremd, konstruierend und sich überschätzend galt, verworfen. Um ihr Scheitern zu beweisen, verwiesen die Kulturkritiker auf die zeitgenössische Großstadt mit ihren sozialen Missständen und ästhetischen Zumutungen, was als unbeabsichtigte, aber zwangsläufige Folge dieser Vernunft gedeutet wurde (siehe Kapitel 4.2.3). Dem ist die heutige Kritik an der Zwischenstadt als dem unbeabsichtigten Produkt dieser Moderne sehr ähnlich: Die Zwischenstadt offenbare deren Scheitern, weil trotz oder, richtiger, wegen der intensiven Planungsbemühungen, wenn auch ungewollt, das Chaos der Peripherie entstanden sei. Sowohl die moderne Großstadt als auch die Zwischenstadt werden also in der klassischen wie in der modernisierten Variante konservativer Kritik als Produkt einer von der falschen Vernunft geleiteten Planung verstanden. Der klassische Konservatismus verwirft Planung generell und setzt stattdessen darauf, Gesellschaft, Stadt und Landschaft behutsam zu pflegen und lediglich ihrem natürlichen Wachstum Zügel anzulegen (setzt also auf die richtige, nämlich die „vernehmende“ Vernunft). Die Position der Qualifizierer weicht, wie bereits deutlich wurde, von dieser Haltung ab – und zwar nicht nur, weil es sich um eine modernisierte Variante des klassischen Konservatismus handelt, sondern auch, weil dieser zwar ihr Denken durchaus prägt, aber, wie man im Folgenden sehen wird, andere weltanschauliche Motive integriert. Integration anderer Weltanschauungen in die dominierenden konservativen Vorstellungen Dass der Konservatismus Elemente anderer Weltanschauungen aufgreift und umzudeuten sucht, gehört, wie wir in Kapitel 4.2 mit Greiffenhagen gesehen haben, zu seinem Wesen und liegt in der Logik seines Entstehens begründet: Er muss, wenn er in der Welt Bestand haben will, immer so modern sein wie seine weltanschaulichen Gegner, selbst, wenn es ihm widerstrebt. Eine der Waffen, mit denen er kämpfen muss, obwohl sie doch seinen Gegner im Kern ausmachen, ist die kapitalistische Ökonomie, die im Liberalismus ihre ideologisch-weltanschauliche Heimat hat; dies gilt auch für die

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Ökonomie der Zwischenstadt. Ein genauerer Blick auf die Kombinationen von Motiven wird zeigen, ob es sich bei den liberalen nur um Lippenbekenntnisse handelt, die konservative Überzeugungen in ein zeitgemäßes rhetorisches Gewand kleiden, oder ob es zu tatsächlichen Modifikationen am konservativen Programm kommt. Bölling und Christ thematisieren beispielsweise die Ungezügeltheit ökonomischer Interessen in der Zwischenstadt. „Zwischenstadt zeichnet die Fähigkeit zur (ökonomischen) Aggression aus. Werden Räume darin zu Orten (Adressen) qualifiziert, verliert dann die Zwischenstadt ihre Existenzberechtigung? Wird also die Qualifizierung der Zwischenstadt, wenn sie auf dem Weg über Adresse, Mythos, Knoten ernsthafte Orte zur Folge hat, Zwischenstadt mit der traditionellen Stadt infizieren (Ortsloyalität)? Ist Qualifizierung der Anfang vom Ende animalischer Vitalität?“140

Sie scheinen Zweifel zu haben, wie das Ergebnis ihrer Maßnahmen zu werten ist, als Minderung der Aggression und dadurch der Lebendigkeit; und sie scheinen Zweifel zu haben, wie jedes von beidem zu werten sei. (1) Dieses Zitat rückt durch Anzeichen dafür, dass die Autoren diese Verminderung bedauern würden, in die Nähe der liberalen Weltanschauung: Sie sprechen davon, dass die Zwischenstadt immer mehr den Charakter der traditionellen Stadt annehmen könnte, was für sie mit (ökonomischer) Trägheit einhergeht. Diese, bzw. die in der alten Stadt gegebene „Ortsloyalität“, scheint im Zitat als Krankheit gesehen zu werden, ist dieser Charakter doch etwas, mit dem man sich „infizieren“ kann. Die ökonomische Kraft und Impulsivität der (gesunden und vitalen) urbanen Landschaften macht deren Daseinsberechtigung aus. Damit entspricht hier die Zwischenstadt dem liberalen Ideal von ‚Stadt‘ als dem Ort, an dem die wilden Triebe nicht zum Verschwinden gebracht, sondern nur so gelenkt werden, dass sie in Gestalt ökonomischer Aggression zu Fortschritt und Wohlstand verhelfen (Vorstellung 7). Diese wirtschaftliche Energie selbst ist in Analogie zur inneren Wildnis konstruiert; sie ist mit Freiheit verbunden, und diese besteht wesentlich darin, sich ausleben zu können (Vorstellung 2). (2) Allerdings verweist die Unsicherheit angesichts der Frage, ob Gestaltungsmaßnahmen nicht die Vitalität der Zwischenstadt zerstören, noch auf eine entgegengesetzte, nämlich konservative Interpretationsmöglichkeit: Gilt einem die ökonomische Aggressivität als verwerflich, dann werden alle Maßnahmen, die ihr ein Ende bereiten, dankbar willkommen geheißen. Ihre Bändigung wird als Zügelung wilder Triebhaftigkeit gedeutet, die die Menschen unterjocht (Vorstellung 10). Diese Interpretation scheint für die Autoren einige Plausibilität zu besitzen, denn erstens ist für sie Qualifizierung

140 Bölling & Christ 2005: 267.

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gleichbedeutend mit Urbanisierung,141 und zweitens schließen sich für sie Urbanität und animalische Vitalität aus (schließlich wäre Qualifizierung deren Ende). ‚Stadt‘ und ‚Wildnis‘ sind somit als klares Gegensatzpaar konzipiert. Das Ziel der Autoren, die Qualifizierung der Zwischenstadt, legt ihre Wertzuschreibungen offen: Die animalisch-triebhafte Wildnis soll überwunden und in städtische Kultur überführt werden. Die ungestaltete Zwischenstadt gilt ihnen als Ort der Unfreiheit in einem doppelten Sinne: zum einen, weil die vermeintlich frei Handelnden, die Geschäftemacher, selbst eigentlich Sklaven ihrer Neigungen sind, und zum anderen, weil man, sobald das ökonomische System mit seiner Dynamik in Gang gesetzt ist, dessen Gesetzen unterworfen ist. Was im Zitat zunächst noch als Zweifel und offene Frage formuliert wird, kann also unter Einbeziehung des weiteren Kontextes zugunsten einer Dominanz konservativer Wertvorstellungen beantwortet werden. Doch das artikulierte Bedauern über den Verlust der ökonomischen Aggressivität offenbart eine gewisse Sympathie für liberale Werte, deren Integration in die eigene Position allerdings nicht vollzogen wird. Vielmehr werden hier beide Weltanschauungen und ihre Implikationen als inkommensurable Möglichkeiten stilisiert, zwischen denen es sich zu entscheiden gilt. Eine andere Art der Integration liberaler Elemente besteht in dem Versuch, konservative Ziele mit ökonomischen Argumenten, die der liberalen Ideologie entlehnt werden, zu untermauern. Diese Kombinationsvariante findet sich bei Bölling und Christ, wenn sie die Forderung nach einer erkennbaren Identität der Region auch mit wirtschaftlichen Gründen zu stützen suchen. Zunächst bringen sie ihr Anliegen, das als typisch konservativ anzusehen ist, vor: „Als Alltagsraum und Heimat muss die Zwischenstadt […] zum Identitätsraum ihrer Bewohner werden können, mit gemeinsamen und verbindenden Raumgeschichten und -bildern über die je individuell zusammengesetzten hinaus.“142 Die Entwicklung der Zwischenstadt ist hier das, was verhindert, dass diese so etwas wie Heimatlichkeit ausbildet und zum Ort einer lebendigen Geschichte und einer einenden Vorstellung der Region wird. Wie der Wildnis in der konservativen Weltanschauung zugeschrieben wird, die Vervollkommnung der wahren Natur zu verhindern, so verhindert hier der chaotische Charakter der Stadtentwicklung in den peripheren Räumen die Entwicklung der wahren Natur des Ortes (Vorstellung 11). Diese wird anscheinend darin gesehen, zum heimatlichen Identifikationsraum seiner Bewohner zu werden. Dazu muss er aber behutsam entwickelt und darf nicht vernachlässigt werden. Weil die Zwischenstadt aber gerade nicht das Ergebnis liebevoller Zuwendung, vielmehr einer Verbindung von achtlosem Versäumnis und maßloser Gier ist, kann sie niemals als Ausdruck des wahren Wesens

141 „Für das vorliegende Teilprojekt des Ladenburger Kollegs ist Qualifizierung identisch mit Urbanisierung.“ (Ebd.: 271) 142 Ebd.: 183.

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der Natur eines Ortes gedeutet werden. Das Zitat geht folgendermaßen weiter: „Gerade im Rahmen eines internationalen Standortwettbewerbs kann es sich zudem keine Stadtregion länger leisten, den Großteil ihrer Fläche, also die Zwischenstadt, achtlos sich selbst zu überlassen“.143 Man sieht, wie das konservative Anliegen der Stärkung der Identität des Ortes mit einem diesem Denkzusammenhang völlig fremden Argument, dem liberalen des Bestehens im Konkurrenzkampf, zusammengebracht wird. Dieses Argument lässt das konservative Anliegen nicht unbeeinträchtigt: Dem Ziel, die Zwischenstadt zu einem Ort mit unverwechselbarer Identität zu machen, haftet der Beigeschmack an, dass dies nur zur ökonomischen „Adressbildung“144 geschehe, d. h. um den Ort zum attraktiven Wirtschaftsstandort zu machen. Es entsteht der Verdacht, dass das eigentliche Anliegen, die Ortsidentität, instrumentalisiert wird. Die im Folgenden analysierte Integration demokratischer Inhalte in einen konservativen Denkzusammenhang ist eine der weltanschaulichen Verbindungen, die die Position der Qualifizierer in besonderem Maße prägen. Eine gängige Variante verbindet dabei das demokratische Motiv der Kritik an der wildwuchernden Interessenorientierung (Vorstellung 20) mit der konservativen Argumentation, dass eben diese Orientierung verhindere, dass sich die Zwischenstadt gemäß ihrer wahren Natur vervollkommne (Vorstellung 11). Diese Verbindung wird beispielsweise bei Sieferle145 deutlich. Ich werde zunächst auf seine Darstellung der in der Zwischenstadt (zusammen-)wirkenden Interessen und Kräfte eingehen, um dann die Verbindung konservativer und demokratischer Momente zu analysieren. Er stellt zunächst fest, dass die „totale Landschaft“, wie er die Zwischenstadt nennt,146 als unintendiertes und unerwünschtes Produkt aus dem Zusammenwirken zahlreicher unterschiedlicher Handlungslogiken entstanden sei: „Die Physiognomie der totalen Landschaft ist ein Residualprodukt einer Vielzahl von Handlungen, die jeweils eigene Zwecke verfolgen. In ihr schlagen sich die Ergebnisse von Arbeit, Verkehr, Wohnen, Freizeit, Tourismus, Konsum, Landschaftsplanung und Naturschutz nieder, doch ist sie in ihrer realen Gesamtheit von niemandem gewollt.“147

143 Ebd. 144 Der Begriff der Adressbildung spielt bei Bölling und Christ eine große Rolle als Mittel der Inwertsetzung – ganz wörtlich zu nehmen – der Zwischenstadt (Bölling & Christ 2005: 148, 176 f., 184 ff.; siehe auch Bölling 2004: 99, 108). 145 Als Umwelthistoriker bemüht sich Sieferle um eine wertneutrale Darstellung der Entwicklungen der „totalen Landschaft“. Dennoch lassen einige Passagen und Ausdrücke Rückschlüsse auf die Wertbesetzungen von Wildnis zu, die hinter den Beschreibungen stehen und die Hinweise auf die (unterschiedlichen) weltanschaulichen Kontexte geben, vor denen er seine Theorien formuliert. 146 Vgl. Sieferle 1997: 208. 147 Ebd.: 220.

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Die Prozesse, die die einzelnen Elemente der Zwischenstadt hervorbringen, folgten jeweils einer eigenen Logik: Ein Gewerbegebiet, eine Einfamilienhaussiedlung, eine Autobahn, ein unter Naturschutz stehendes Wäldchen – für sie alle gälten Entwicklungslogiken, jedoch unterschiedliche. Da eine Koordination praktisch nicht stattfinde, sei das Ganze das Ergebnis einer unkontrollierten, anarchischen Entwicklung, was die Zwischenstadt als naturgleich gewachsen erscheinen lasse:148 „Die totale Landschaft folgt dem eigentümlichen Vorbild einer systemverhafteten Individualisierung. Sie ist mobilisiert und konstruiert, doch nicht geplant, im Gegenteil: Sie gehorcht dem Prinzip sekundärer Naturwüchsigkeit.“149 Das führe dazu, dass sich die Gesellschaft von der Vorstellung verabschiede, soziale und räumliche Entwicklungen als Ganze ließen sich planen: „Die Gesellschaft plant zwar in fast jeder Hinsicht, doch hat sie den Glauben daran verloren, daß ihre Pläne tatsächlich die gesamte Wirklichkeit erreichen könnten. Sie bewegt sich daher innerhalb der Paradoxie einer konstruierten Planlosigkeit, die ihrerseits Züge der Heteronomie und einer neuen Naturwüchsigkeit trägt.“150

Die Zwischenstadt wirke also deshalb als Ganze ungeplant, weil in ihr Interessenkonflikte verschiedener Art ausgetragen werden. Dies lässt sich (1) mit der Formel der „objektiven Anarchie und subjektiven Rationalität“ fassen, mit der Habermas das Prinzip der Warenproduktion des Liberalismus charakterisiert (siehe Kapitel 4.1.1) und wird von Sieferle mit typisch demokratischen Argumenten kritisiert: Dass er die Zwischenstadt als von niemandem erwünschtes Residualprodukt von Handlungen mit einer jeweils eigenen Logik und eigenen Interessen beschreibt, die ohne Rücksicht auf ein übergeordnetes gemeinsames Interesse verfolgt werden, stimmt strukturell damit überein, dass Wildnis in der demokratischen Weltanschauung als Sphäre der wildwuchernden Orientierung an den eigenen Trieben und Launen verurteilt wird (Vorstellung 20). Diese Zuschreibung ist sehr wirkmächtig und ein charakteristisches Moment der demokratischen Interpretation der Zwischenstadt. Zwei eng miteinander verbundene Aspekte werden dabei immer wieder deutlich: Man kritisiert an der Zwischenstadt (a), dass sie gebauter Ausdruck von Partikularinteressen ist. Mit diesen sind die Interessen privatwirtschaftlicher Investoren, die einzelner Kommunen oder die sich zum Teil widersprechenden Interessen öffentlicher Akteure auf unterschiedlichen Ebenen (Kommunen, Naturschutzbehörden) gemeint. Dass sich die Einzelinteressen durchsetzen, impliziert (b), dass die Belange der Gesamtre-

148 Eine ähnliche Einschätzung findet sich auch bei Sieverts: „Peripherie ist Wildnis, eine Makrostruktur ohne vorgedachte Gestalt und Aneignung, in die zahlreiche, jedoch vereinzelte, in ihrer Gestalt vorgedachte und angeeignete Mikrostrukturen eingestreut sind.“ (Sieverts 1997/2001: 56) 149 Sieferle 1997: 216, siehe auch Sieferle 2003: 71. 150 Sieferle 1997: 221.

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gion ignoriert werden. Das äußere sich sowohl in deren wirtschaftlichen und infrastrukturellen Schwierigkeiten als auch in ästhetischer Hinsicht. (2) Was Sieferle hingegen im folgenden Zitat über die Stilbildung sagt, zeigt, dass seinen Überlegungen eine konservative Basis zugrunde liegt, in die die demokratische Kapitalismuskritik integriert wird: „Pampasgras neben Blautanne, Pferdekummet neben Satellitenschüssel, Oldtimer neben Mobiltelefon, Krötentunnel neben Legebatterie, Pornoshop neben Friedensmahnwache, Gartenzwerg neben Bauhauslampe. Im Unterschied zur älteren Kulturlandschaft können sich diese Formbruchstücke nicht mehr zu einem konsistenten und dauerhaften Stil verdichten, sondern sie bleiben einem permanenten Fließen ausgesetzt, das ihrer Konstellation keine stabile Form mehr verleiht. Die mobilisierte Stillosigkeit wird zum übergreifenden Merkmal dieser Zwischenlandschaften, deren einzig dauerhafte Eigenschaft die Permanenz des Wandels ist.“151

Das Nebeneinander unterschiedlicher Interessen schlägt sich in der Sphäre des Ästhetischen als unsteter Stilpluralismus nieder. Er wird als eine Form von Wildwuchs interpretiert, die die Vervollkommnung der wahren Natur, und das heißt der Einheit aus Natur und Kultur, verhindert (Vorstellung 11). Da sich im konservativen Denken die „Intaktheit“ einer Landschaft in ihrer Schönheit ausdrückt, verweist umgekehrt eine als stillos empfundene Landschaft auf schlechte Lebensbedingungen. Es handelt sich also bei der Entstehung der totalen Landschaft „um eine Zunahme nicht nur ästhetischer, sondern auch ökologischer Entropie“152. Die Integration des demokratischen Motivs in die dominierende konservative Weltanschauung wird bei den zitierten Passagen durch die gemeinsame Frontstellung gegen Liberalismus und Kapitalismus möglich: Beiden ist die Vorstellung fremd, allein die eigenen Triebe und Interessen zur Richtschnur des Handelns zu machen. Solange dabei nicht in den Blick genommen wird, dass die Alternativen, die sie jeweils als übergeordnetes Kriterium der gesellschaftlichen Ordnung vorschlagen, unvereinbar sind – Unterordnung unter ein gegebenes Ganzes, sei es Gott, Geschichte oder Natur im Konservatismus oder Unterwerfung unter selbstgesetzte und allgemein verbindliche vernünftige Ziele im Demokratismus – ist diese weltanschauliche Allianz erfolgreich. Dieselbe Kombination konservativer und demokratischer Wildnisbedeutungen wird auch bei einer kurzen, steckbriefartigen Beschreibung einer Siedlung durch Bölling und Christ deutlich. Abseits des alten Dorfkerns sei ein „Strip mit autoorientiertem Angebot“153, der für die „[v]erschwindende Nahversorgung im alten Kern“ verantwortlich sei.

151 Sieferle 1997: 215 f. 152 Ebd.: 208. 153 Bölling & Christ 2005: 131; Bölling 2007: 269.

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„Bis heute dörflicher Kern, mangels Umgehungsstraße durch Durchgangsverkehr stark belastet. Das eigentliche Zentrum des Ortes bildet die Heerstraße mit einer wilden gewerblichen Entwicklung zwischen Autohandel und Imbissbude.“154

Im Zitat ist zunächst die für die Qualifizierer typische Ambivalenz erkennbar: der Zwiespalt zwischen der Trauer über den Verlust der alten Siedlungsformen (hier Verlust des Charmes und der Funktion des alten Dorfkerns) und der Faszination durch das Neue (die Geschäftigkeit der Straße). Doch selbst letzteres ist kein ungetrübt positives Gefühl: Im Attribut ‚wild‘ drückt sich die zwiespältige Haltung gegenüber der gewerblichen Entwicklung aus, der die Straße ihre zentrale Funktion verdankt. Es hat sich offenbar etwas angesiedelt und durchgesetzt, für das es ein Bedürfnis gibt, sowohl bei den Gewerbetreibenden als auch bei den Nutzern. Aber es ist auch Bedauern darüber zu erkennen, dass das Zentrum des Ortes durch so banale und kulturlose Dinge wie Autohäuser und Imbissbuden gebildet wird, und zwar wegen der unkontrollierten Entwicklung.155 Für dieses Bedauern gibt es eine doppelte Erklärung, an der die Kombination konservativer und demokratischer Elemente evident wird. Es legt (1) nahe, dass die Autoren in typisch konservativer Einstellung in der Zwischenstadt etwas sehen, das verhindert, dass sich Entwicklungen zu Zielen der Art vollziehen, wie sie durch „dörflicher Kern“ angedeutet sind (Vorstellung 11). Weil sich die Interessen der profitsüchtigen Investoren und die der gedankenlosen und vorteilsbedachten konsumierenden Bewohner durchgesetzt haben, beherrschen nun gesichtslose Bauten, die im Wesen des Ortes nicht angelegt waren, das Erscheinungsbild und den Alltag. So hat die Gemeinde die Gelegenheit vergeben, ihre Eigenart auszuarbeiten und sich gemäß ihrer historischen und natürlichen Gegebenheiten zu entwickeln, also beispielsweise die zentralen Funktionen des alten Kernes durch die Ausarbeitung eines Verkehrskonzepts, das ihn vor Durchgangsverkehr schützt, zu stützen und auszubauen. Die unkontrollierbaren oder zumindest doch unkontrollierten Interessen verhindern somit eine gelungene kulturelle (und das ist im Allgemeinen identisch mit „natürliche“) Siedlungsentwicklung. Die Beschreibung lässt (2) eine Interpretation zu, die als demokratisch gelten kann; auch in ihr erscheint die Zwischenstadt den Autoren als eine Form von Wildnis, insofern die ungeordnete gewerbliche Entwicklung in die Sphäre der individuellen egoistischen Interessenorientierung und damit

154 Bölling & Christ 2005: 44; Bölling 2007: 182; die Beschreibung bezieht sich auf die Ortsmitte von Frankfurt-Praunheim. 155 Dass Bölling und Christ eine andere Vorstellung davon haben, wie alte Dorfkerne aussehen und welche Funktion sie haben sollen, zeigt sich beispielsweise daran, dass sie an anderer Stelle über historische Siedlungsstrukturen als „‚Identitätskerne‘ im suburbanen Einerlei“ (Bölling & Christ 2005: 143) sprechen.

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der egoistischen Versklavung durch Neigungen gehört (Vorstellung 20). Die Gemeinsamkeit mit der konservativen Bedeutung und somit der Grund, aus dem diese weltanschauliche Kombination möglich wird, besteht darin, dass in der im Zitat eingenommenen Perspektive Wildnis als das gelten kann, was die vorgegebene gute Ordnung des Gesellschafts- oder Mensch-NaturGanzen zerstört (wohingegen im liberalen Denkzusammenhang nur das unkontrollierte Wilde die Ordnung gefährdet, das kanalisierte hingegen sogar als essentiell für den gesellschaftlichen Fortschritt angesehen wird). Eine ähnliche Verbindung weltanschaulicher Motive zeigt sich bei Hausers Überlegungen zur Urbanität zwischenstädtischer Shopping Malls. Zunächst werde ich ihre Gedanken zur Urbanität der Einkaufszentren skizzieren: Sie argumentiert, dass sich die Urbanitätserfahrung von der Stadt gelöst habe und nun auch, und vielleicht sogar nur noch, in deren Peripherie gemacht werden könne. Denn die alten Stadtkerne hätten sich von lebendigen und authentischen Orten in Standorte von Filialen der immer gleichen Geschäfte oder in innerstädtische Shopping Malls gewandelt. Die alte Stadt habe somit das verloren, was Urbanität konstituiere. „Die vitale und erotische, die unwiderstehliche Attraktion der Städte oder ihrer Zentren ist erledigt.“156 Attraktiv seien hingegen die Zwischenstädte geworden, aber auch die Malls selbst (auch die innerstädtischen). „Die Antwort [auf die Frage nach dem Verbleib des ästhetischen Moments, das die Städte einst zu traumhaften Orten schillernder Faszination gemacht hat] war, dass die sinnliche Fülle und Überwältigung, die den Kern des Traums von Urbanität ausmachen, sich als Topos vom alten Gegenstand, den in vielen Städten uninteressant gewordenen Stadtkern, gelöst haben und ihre aktualisierte Auferstehung in gereinigter, konzentrierter Form beispielsweise in Shopping-Malls, in der Zwischenstadt erleben.“157

Hauser stilisiert also die Shopping Mall zum urbanen Ort der Zwischenstadt. Das mag befremden, doch werden die Einkaufszentren vielfach, zumindest von Planern, so gedeutet. Denn im Unterschied zu den monofunktionalen Wohnsiedlungen stellten die Malls durch ihr vielseitiges Nutzungsangebot (Einkauf, Cafés, Kinos, etc.) einen Ort der Abwechslung dar, an dem man in Kontakt, wie verkümmert dieser auch immer sein mag, mit anderen Menschen komme und an dem man so etwas wie Öffentlichkeit erleben könne.158 Allerdings unterscheide sich die Urbanitätserfahrung in ihrer zwischenstäd-

156 Hauser 2003: 109. 157 Ebd.: 119. 158 Dass Shopping Malls tatsächlich nur bestimmte Dimensionen öffentlicher Räume erfüllen, ist vielfach Thema kritischer Analysen, z. B. Flierl 2000; Schubert 1999; Siebel 2006; Wehrheim 2007: insbesondere 77-171.

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tischen Form von der der alten Stadt. Sie trete, so das Zitat, in gereinigter und konzentrierter Form auf. „Wenn heute das Genrebild der Urbanität als sinnliche Fülle gebraucht wird, kann sie als Entwurf aus einer Hand synthetisiert werden, und zwar in einer purifizierten, abgegrenzten und konzentrierten Form, die alle Unannehmlichkeiten der alten Urbanitätserfahrung wie Lärm, Enge, Gestank, sichtbare Armut, die zu der alten Faszination der Stadt beigetragen hat, ausschließt und bevorzugt die Fernsinne angenehm beschäftigt.“159

Wenn Hauser hier von sinnlicher Fülle spricht, so denkt sie gerade nicht an die Überschreitung des Gewohnten und die verstörende Erotik, die sie als Bedingungen der Urbanität der alten Stadt beschrieben hatte. Sie charakterisiert hier vielmehr aufwändig inszenierte unauthentische, von allem Ungewohnten und Verstörenden gesäuberte Wahrnehmungs- und Erlebnisweisen, die sie aber doch der Urbanität so ähnlich erachtet, dass sie sie ebenfalls so nennt. Ihre Analysen der Shopping Malls als typische Orte zwischenstädtischer Urbanität zeigen, ohne dass dies explizit ihr Thema wäre, die ambivalente Einstellung dieser gegenüber: Natürlich wünscht sie sich nicht die Probleme der alten Stadt zurück. Andererseits wird aber auch sehr deutlich, dass die neue „Urbanität“ als unauthentische Inszenierung beargwöhnt wird. Diese missbilligende Haltung kann (1) als in der Tradition einer konservativ motivierten Kapitalismuskritik stehend gedeutet werden, in der die Gier der Geschäftemacher und die der Kaufenden als Maßlosigkeit gebrandmarkt werden (Vorstellung 18). Folgende drei Aspekte werden in diesem Zusammenhang immer wieder als Momente der aus dieser rücksichtslosen Entwicklung resultierenden Unfreiheit angeprangert: Die Bewohner der Zwischenstadt seien (a) den Kräften des Marktes, als deren Inkarnation die Malls gelten, unterworfen und der seelen- und kulturlosen Konsumgier ausgeliefert. Die Lage der Malls fernab bestehender Ortschaften fördere, einzig ausgewählt nach dem Kriterium guter Erreichbarkeit durch den motorisierten Individualverkehr, (b) die Abhängigkeit vom Auto. Wer keines besitze, der erreiche die Mall nicht oder nur unter großem Aufwand, sei aber trotzdem oft auf sie angewiesen. Ihr Freiheitsversprechen (immense Auswahl an Produkten, angenehmes Shoppingklima, Bequemlichkeit und Zeitersparnis, weil alle Produkte an einem Ort zu erstehen sind) entpuppe sich also (c) nicht nur als leeres, sondern als falsches Versprechen. In Wahrheit erzeuge die Konsumgier neue Abhängigkeitsverhältnisse und zerstöre die alte Stadt mit ihren Resten öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens. (2) Die Kapitalismuskritik, die sich gegen die Malls richtet, ist nicht nur aus konservativer, sondern auch – und nicht weniger – aus demokratischer bzw. sozialistischer Perspektive möglich und auch geäußert worden: Die gesellschaftlichen Umstände, die zu diesen Konsumtempeln führen, werden,

159 Hauser 2003: 113.

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wie schon oben ausgeführt, als Sphäre wildwuchernder Egoismen der Kapitaleigner gedeutet (Vorstellung 20). Die Möglichkeit der Verbindung dieser Kritik mit der konservativen ergibt sich auch in den hier zitierten Passagen durch die beiden Weltanschauungen gemeinsame Frontstellung gegen Liberalismus und Kapitalismus. (3) In den ausgewählten Zitaten Hausers findet man aber auch eine demokratisch motivierte Wertschätzung der Zwischenstadt, die in deren „Urbanität“ gründet – wie stark sich diese auch von ihrer klassischen Form unterscheiden mag. Dahinter steht die für die Qualifizierer typische Auffassung, dass auch in den alten Städten Urbanität nicht mehr in ihrer ursprünglichen und authentischen Form erfahrbar sei, da in den Stadtzentren dieselben Kräfte wirksam seien wie in der Zwischenstadt, diese aber doch der – einzige – Ort sei, wo sich so etwas wie Urbanität noch entwickeln könne, man müsse sich nur auf deren neue Formen einlassen. Eine solche Argumentation ist nur auf der Basis einer typisch demokratischen Vorstellung von Stadt, in der Öffentlichkeit als Ausdruck und Maßstab verwirklichter Freiheit und als Mittel zu deren Herstellung gilt, möglich (Vorstellung 27). Dieser Öffentlichkeit ist in der klassischen demokratischen Theorie nicht nur die Freiheit von Traditionsbindungen, sondern auch von den in der kommerziellen Gesellschaft wegen ihrer ungerechten Besitzverteilung gegebenen Abhängigkeiten wesentlich – daher ist es für manche Qualifizierer entscheidend, dass die Menschen sich die Orte der Zwischenstadt auf eine unkonventionelle, geradezu anarchische Art und Weise aneignen und deren ursprünglichen Zweck konterkarieren: An der Stelle des Konsums der Produkte entfremdeter Warenproduktion und weltweiten Handels in der Mall steht auf dem Floh- oder Bauernmarkt davor der Kauf gebrauchter und lokaler Güter; die Monofunktionalität der Tankstelle wird aufgebrochen, indem sich die Jugendlichen dort treffen, abhängen und vorglühen (siehe Abbildung 16). Hausers Haltung gegenüber der Urbanität der Shopping Malls ist also höchst ambivalent: Auf der einen Seite steht die sowohl konservativ als auch demokratisch motivierte Kritik an den Einkaufszentren als Ausdruck liberal-kapitalistischer Ideologie, auf der anderen Seite die demokratisch begründete Anerkennung ihrer „Urbanität“. Die Diskussion der weltanschaulichen Zuordnung dieser Auffassung und die der Verbindung unterschiedlicher Weltanschauungen wirft zwei Fragen auf, von denen die erste, nämlich wie die demokratische Position in das konservative Weltbild integriert wird, mit dem Hinweis auf die geteilte Frontstellung gegen Liberalismus und Kapitalismus bereits beantwortet ist. Die zweite lautet, wie es dazu kommen kann, dass sich vor dem Hintergrund einer Weltanschauung, nämlich der demokratischen, gleichermaßen eine Ablehnung und eine Wertschätzung der Shopping-Mall-Urbanität ergeben können. Sie lässt sich damit beantworten, dass Hauser zwischen den ökonomischen und sozialen Ursachen (und Folgen) der Malls (und ihrer „Urbanität“) einerseits und ihrem sinnlichen Erleben andererseits unterscheidet. Die Gleichzeitigkeit von Zu-

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rückweisung und Würdigung ist also möglich, weil Hauser die beiden Urteile trennt. Bezeichnenderweise liegen ihnen auch andere Lesarten zugrunde: Während die Zurückweisung der Mall auf demokratische Vorstellungen von ‚Wildnis‘ verweist, liegt der Wertschätzung ihrer Urbanität eine Interpretation als ‚Stadt‘ zugrunde. Abbildung 16: Tobias Zielony Tankstelle.

Nicht weniger spannungsvoll als die bislang analysierten Varianten, in denen progressive Motive in die konservative Weltanschauung eingebunden wurden, ist die Integration romantischer Elemente. Sie wird beispielsweise bei Bormann et al. deutlich, wenn sie die Zwischenstadt als Quelle und Speicher kultureller Werte charakterisieren. „Der Philosoph Boris Groys bezeichnet den so genannten profanen Raum als zusammengesetzt ‚aus allem Wertlosen, Unscheinbaren, Uninteressanten, Außerkulturellen, Irrelevanten und – Vergänglichen. Doch gerade der profane Raum dient als Reservoir für potentiell neue kulturelle Werte, da er in Bezug auf die [valorisierten] Archivalien der Kultur das Andere ist. […]‘“160

Die Autoren rekurrieren hier (1) primär auf die konservative Bedeutung von ‚Wildnis‘ als Jungbrunnen der Gesellschaft (Vorstellung 12). Als ohne Wert und kulturlos erscheine die Zwischenstadt wie die Wildnis nur unter einer bestimmten Perspektive: derjenigen der etablierten (Planungs-)Kultur, die mit ihrer Starrheit und ihrer Besessenheit von der Idee des umfassenden Zu-

160 Bormann et al. 2005: 156 mit Zitat von Groys 1999: 56; Ergänzung aus dem Original bei Groys.

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griffs die Potentiale des Ungeplanten und die Möglichkeiten lebendiger Entwicklung ignoriere. Entsprechend den zwei Hauptgegnerschaften des klassisch-konservativen Denkens richtet sich die bei Bormann et al. deutlich werdende, modernisierte Version konservativer Kritik gegen zwei Varianten der etablierten Planungshaltung: gegen die allein auf Profit und Verwirklichung individueller Interessen gerichteten Entwicklungen, die als (neo-)liberal verworfen werden, und gegen Planungen im Geiste staatsfixierter sozialdemokratischer Haltungen, die zwar vorgeben, das Allgemeinwohl zu fördern, aber tatsächlich an den wahren Bedürfnissen und Möglichkeiten der Stadt und ihrer Bewohner vorbeiagierten, weil sie die Bedeutung der natürlichen, vor allem aber der geschichtlichen Gegebenheiten ignorieren würden. Letztere würden verkennen, dass die Zwischenstadt ein „Reservoir“ für Werte ist (wie die Wildnis ein Jungbrunnen im klassischen Konservativismus), an denen sich eine Alternative zum autoritären und totalen Planungsansatz orientieren könne und solle. Dadurch, so scheint hier argumentiert zu werden, könnten nicht nur lebenswerte Städte entstehen: Der profane Raum der Zwischenstadt könnte als Impulsgeber letztlich das gesamte kulturelle und gesellschaftliche Leben bereichern. Allerdings schwingt in dem obigen Zitat (2) auch etwas mit, das auf den Einfluss romantischer Gedanken verweist: Die Beschreibung des „profanen Raums“ erinnert an romantische Vorstellungen von Wildnis als Sphäre der Vernunftwidrigkeit (Vorstellung 28). Diese gilt der Romantik gerade nicht als strittig; das Übel ist ja die Vernunft selbst, weswegen alles, was sich ihr widersetzt, den Nimbus der Freiheit und der Verzauberung trägt. Ganz in diesem Sinne wird von Bormann et al. hier das Wertlose und Irrelevante als das angesehen, was der Kultur zur Weiterentwicklung verhilft und was Überraschendes hervorzubringen vermag, eben weil es sich der Logik der Verwertbarkeit, den gängigen Regeln und der Routine entzieht. 5.2.3 Mit anarchischer Aneignung gegen die Auswüchse des Kapitalismus und der instrumentellen Vernunft – Dominanz der demokratischen Weltanschauung Demokratische Motive treten im Diskurs der Qualifizierer um die Zwischenstadt nicht nur, wie wir bislang gesehen haben, als Momente auf, die in andere dominierende Weltanschauung integriert sind. Im Folgenden wird sich vielmehr zeigen, dass die demokratische Weltanschauung für das Selbstverständnis der Qualifizierer prägend ist und sowohl prominent in Reinform als auch in Kombination mit anderen Weltanschauungen vertreten wird. Rein demokratische Vorstellungen Ein besonders prägendes und wiederholt auftretendes demokratisches Motiv ist die Kritik an der laisser-faire-Haltung des Liberalismus, durch die das Profitstreben und die rücksichtslose Verfolgung partikularer Interessen ge-

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heiligt würden. Diese Kritik äußern beispielsweise Oswald et al. in ihrem Buch Netzstadt:161 „Wie die Praxis im Stadtbau zeigt, ist bei der Realisierung von Stadtstücken die willentliche Bezugnahme auf das grösser gewählte Teilganze alles andere als selbstverständlich. Man lässt das Bauen der Stadt im Sinn eines ‚laisser faire‘ mehr oder weniger geschehen. Es gebe sowieso keine befriedigenden Instrumente, mit denen sich der Bau koordinieren lasse, wird behautet. Hauptsache sei, dass er funktioniere, denkt man, sagt es auch und handelt danach. Man argumentiert, dass man zwar ausgewählte Aspekte technisch, vielleicht auch ökonomisch vor der Ausführung testen könne, damit sei dann aber vorausblickendes Vorgehen hinreichend nachgewiesen, alles andere zu kompliziert und aufwändig. Eine solche Argumentation mag praktische Handgriffe rechtfertigen, aber nicht Gestaltung im anerkannt komplexen Stadtbauwerk. Sie greift nicht nur zu kurz, sondern widersetzt sich bereits im Ansatz dem hier diskutierten Prinzip [der Gestaltbarkeit].“162

Die demokratische Stoßrichtung der Autoren zeigt sich hier vor allem in dem Bedauern, dass bei den meisten Projekten der Stadtentwicklung die gesamtregionale Perspektive ignoriert wird. Eine Stadtplanung, die keine Rücksicht auf übergeordnete Belange nimmt, könne niemals eine lebenswerte Stadtregion hervorbringen. Sie könne sich nur auf das mechanische Funktionieren der technischen und ökonomischen Abläufe konzentrieren. Die Stadt dürfe aber nicht darauf reduziert werden. Man müsse für ein sinnund qualitätsvolles Zusammenleben soziale, ästhetische, kulturelle, ökologische und viele weitere Aspekte berücksichtigen, und zwar umfassend, das heißt: immer mit Blick auf die gesamte Region. Hinter dieser Kritik steht die Vorstellung der Zwischenstadt als Wildnis im Sinne planlos wuchernder Trieborientierung (Vorstellung 20). Laisser faire ist, aus demokratischer

161 In ganz ähnlicher Weise lässt sich auch Boczeks Analyse der zwischenstädtischen Entwicklung deuten, wenn sie schreibt: „Doch entwickelt jede dieser Interessengruppen [Investoren, Erholungssuchende, Naturschützer und Infrastrukturanbieter] ihr System unabhängig von dem der anderen und begreift daher Landschaft als Ressource für den eigenen Bedarf. Es kommt zu einem Nebeneinander selbstbezüglicher Nutzungen mit weitgehend negativer gegenseitiger Beeinträchtigung und entsprechenden Auswirkungen auf die Landschaft, die im Ganzen als ‚intentionslos Geschaffenes‘ (Hauser 2001, S. 240) erscheint.“ (Boczek 2007: 17) Die Beobachtung der Selbstbezüglichkeit der Systeme, eine systemtheoretisch durchwehte Reformulierung der klassisch demokratischen Kritik an der egoistischen Durchsetzung der Partikularinteressen, ist der Ausgangspunkt ihrer Überlegungen. Sie versucht, durch eine Analyse der einzelnen Akteure und ihrer jeweiligen „Sichtweisen“ Schnittmengen der Interessen zu finden, um so, projektweise, „Synergien“ zu nutzen (ebd.: 21, 187 ff.). 162 Oswald & Baccini 2003: 28.

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Perspektive, genau die Parole, die die zugehörige egoistische Handlungsorientierung ausdrückt und befördert. Einige Motive im Zitat und seinem Kontext scheinen jedoch auf einen konservativen Hintergrund hinzuweisen: So ist auch im Konservatismus die Orientierung an einem übergeordneten Ganzen wesentlich, und die an anderer Stelle von den Autoren erhobene Forderung, „Alltag und Geschichte“ zu berücksichtigen, um zu erreichen, „dass die Lebensqualität sinnstiftend erneuert und gesteigert wird“163, scheint gleich auf zwei typisch konservative Topoi zu verweisen: erstens auf die Vorstellung, dass sich eine gelingende Entwicklung an den Sitten und Traditionen, eben am „Alltag“ und der „Geschichte“, zu orientieren habe, und zweitens auf das Ziel dieser Entwicklung, das in der Orientierung am größeren Ganzen gesehen wird. Durch andere Hinweise wird aber schnell ersichtlich, dass die konservativ klingenden Motive als Varianten demokratischer Ideen aufzufassen sind: Die „Rücksichtnahme auf Alltag und Geschichte“ wird deutbar als Paraphrasierung der Forderung, dass neue Eingriffe „sich in Inhalt und Form auf den Willen relevanter Akteure stützen“164 sollen. „Alltag“ und „Geschichte“ werden hier also nicht als unverrückbar Gegebenes, sondern als von autonomen Menschen kraft ihres Willens und ihrer Einsicht selbst Geschaffenes verstanden, was ganz deutlich auf eine demokratische Weltanschauung verweist. In ähnlicher Weise erscheint die Rede über die „sinnstiftende“ Erneuerung und Steigerung der Lebensqualität lediglich als eine ungenaue Sprechweise: Das, was Sinn stiftet, ist nicht die Region als vorgegebenes übergeordnetes Ganzes, sondern das Wissen darum, dass sie gemäß den Vorstellungen ihrer Bewohner entwickelt wird, dass also die in ihr lebenden Menschen Einfluss nehmen können auf die Geschehnisse in ihrer Stadtregion. Eine den Diskurs stark prägende Variante der klassisch demokratischen Weltanschauung kann als basisdemokratisch-anarchistische Variante bezeichnet werden. Sie kombiniert typischerweise Kritik am Konservatismus mit der Kritik an der primär auf den Staat setzenden Version von Demokratie (Extremform: Staatssozialismus); beides gilt ihr als „traditionell“ und „zentralistisch“. Wir werden sehen, dass die basisdemokratische Argumentation speziell im Diskurs der Planer die Kritik am Typus des von oben herab agierenden „demokratischen“ oder „sozialistischen“ Bürokraten oder Funktionärs mit der Kritik des konservativen Typs des genialen (oft künstlerischen) Gestalters vermischt.165 Es ist nur eine geringe Akzentverschiebung, durch die sich die konservative Kritik an der „totalitären“ Planung in eine basisdemokratisch-anarchistische wandelt. In unserem Zusammenhang, der Frage nach der weltanschaulichen Zuordnung und Verbindung, ist dabei vor allem interessant, dass hier nur an einer Stelle im theoretischen Gerüst eine Veränderung nötig

163 Beide Zitate ebd. 164 Ebd. 165 Vgl. Körner 2001: 239 ff., 297 ff.

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ist, damit sich alles Andere verschiebt: Die Kritik wird auf „zentralistische“ Formen von Gestaltung (hier oft „traditionelle“ genannt) ausgeweitet. Sie erhält eine neue Bedeutung (stellt sich z. B. in einen neuen sozial-politischen Interessenkontext), ohne dass an all diesem Anderen etwas geändert werden müsste: Es lassen sich weitestgehend dieselben Argumente vorbringen wie vorher, und dennoch ist klar, dass es nicht konservativ gemeint ist. Verworfen wird, wie man bei Bormann et al. beispielhaft sieht, nun nicht die Idee der Planung von Gesellschaft überhaupt (wie im Konservatismus), sondern die der Planung durch eine avantgardistische Elite – hier von Architekten, die als „Propagandisten der Macht“166 gesehen werden. „Der ein fixes Ordnungsmuster vorgebende Entwurf mutierte zum übergreifenden ‚Leitbild‘, welches die Gesellschaftsordnung in dieses Muster einpassen will. Klassische Beispiele für diese Denkart sind die Stadtutopien Le Corbusiers, die den Anforderungen eines ‚Neuen Menschen‘ entsprechen sollten, ohne sich wirklich von traditionellen Formen zentralistischer Repräsentation lösen zu können.“167

Die Planungsavantgarde wird also erstens kritisiert, weil sie mit ihrer starren übergreifenden Leitidee den Anforderungen gerade des „Neuen Menschen“, dem sie sich verpflichtet sieht, nicht gerecht werde. Sie bliebe stattdessen der „zentralistischen Repräsentation“ verhaftet und durch das „Verständnis des künstlerisch orientierten Architekten als avantgardistischem Vorbild geprägt“168. Dies wird, wie es den Anschein hat, von den Autoren in einer für die basisdemokratisch-anarchistische Richtung typischen Weise als konservative Auffassung gewertet – so dass die in ihrem Selbstverständnis ebenso wie nach allgemein verbreiteter Auffassung progressiven Planer der klassischen Moderne wie Le Corbusier, Ludwig Hilbersheimer und Frank Lloyd Wright, auf die sie sich hier explizit beziehen, in Wahrheit konservativ seien. Zweitens wird die „alte“ Planung kritisiert, weil sie den eigenen Einfluss überschätze und dadurch realitätsfremd werde. So sehen Bormann et al. das „Problem der künstlerischen Avantgarde (wie auch der Planung)“ darin, „dass die Machthaber und Entscheidungsträger meist wenig Anlass sahen und sehen, ihr zu folgen“. Es habe sich „eine Lücke aufgetan zwischen dem Phänomen der Gestaltung auf der einen und den Einfluss nehmenden politischen, wirtschaftlichen oder technischen Prozessen auf der anderen Seite“, seit „die Avantgarde ihrerseits die reine Repräsentation bestehender Einflusskräfte abzulehnen begann“169. „Blauäugiger Avantgardismus und dessen Negation des ‚Realen‘ auf der einen und entwurfsignorante Einflusskräfte auf der anderen Seite haben die städtebauliche und

166 167 168 169

Bormann et al. 2005: 86. Ebd. Ebd. Alle Zitate ebd.

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noch viel mehr die architektonische Gestaltfindung mittlerweile weitgehend marginalisiert und so [zu] mit Gesellschaft kaum noch in Zusammenhang stehenden Zierrat mutieren lassen, dem kaum noch kulturelle Aussagekraft zueigen ist.“170

Auch dem liegt eine demokratische Vorstellung von ‚Wildnis‘ zugrunde (Vorstellung 20), denn der fehlende Einfluss der professionellen Planung auf die Siedlungsentwicklung wird als Unkontrollierbarkeit der politischen, wirtschaftlichen oder technischen Prozesse durch die Planer wahrgenommen. Allerdings schimmert hier bzw. im Kontext dieser Passage eine Variante der klassisch demokratischen Kritik durch, dass nämlich die Unkontrollierbarkeit nur eine scheinbare sei, dass die ablaufenden Prozesse in Wahrheit gar nicht so unkontrolliert seien, wie es in der Gesellschaft den Anschein habe. Vielmehr sei alles sehr gut kontrolliert, nur eben nicht von den Planern und Architekten.171 Integration anderer Weltanschauungen in die dominierenden demokratischen Vorstellungen Die Auffassung, dass das Chaos der Zwischenstadt nur ein scheinbares sei, wird beispielsweise an der folgenden Passage von Bormann et al. sehr deutlich: „Allerdings erwies sich dieses Konglomerat oftmals als undurchdringlich für den tradierten professionellen Blick: Das scheinbare, räumliche und funktionale Chaos schüchtert ein“.172 In Wahrheit sei die Zwischenstadt also geordnet – wenn sich auch diese Ordnung nur demjenigen eröffnet, der wagt, den traditionellen professionellen Blick gegen einen neuen einzutauschen und wenn diese Ordnung auch

170 Ebd. 171 Hier handelt es sich um eine (sehr verbreitete) Variante basisdemokratischanarchistischer Argumentation: in verschwörungstheoretischer Weise glaubt man, dass die Welt von skrupellosen Geschäftemachern in den Chefetagen gelenkt werde. Die Planer und Architekten sind dann entweder deren Handlanger, oder sie sind gutwillige, aber machtlose Traumtänzer. In einer anderen Variante wird (wie in der klassisch-demokratischen Position) davon ausgegangen, dass nichts gelenkt wird, vielmehr kommt, weil jeder macht, was er will, am Ende heraus, was keiner gewollt hat. Das kann Chaos sein, und dann braucht man Planung (das sagt aber nur die klassisch-demokratisch-sozialistische Position, nicht die basisdemokratisch-anarchistische, die will nur den Kapitalismus und die Bürokratie abschaffen, dann regelt sich alles von selbst), oder es ist eine ungewollte, aber sehr strenge Ordnung: niemand, das heißt: keine Person, wohl aber „das System“ oder „die Strukturen“ sorgen dafür, dass sich Ordnung, wenn auch eine schlechte, herstellt (dann wird eher Basisdemokratie, nicht Planung gefordert). Zwischen diesen Varianten gibt es freilich Kombinationen, oft wird Widersprüchliches miteinander verbunden. 172 Ebd.: 10; Kommafehler im Original.

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eine völlig neue Qualität hat: Sie sei dynamisch und komplex, nicht statisch und einfach. Die mit dieser Argumentation verbundene Planungskritik scheint dem konservativen Denken entlehnt: Dort kann die Natur niemals mittels Planung völlig beherrscht werden – im Gegenteil, je mehr man sie zu kontrollieren versucht, umso unbeherrschbarer wird sie. Gemäß dieser Deutung erschiene Zwischenstadt als dynamisch-organische Natur, die niemals mittels abstrakt-instrumenteller Vernunft zu kontrollieren sei, wohl aber unter Einsatz konkreter Vernunft kultiviert werden solle. Das ließe sie als eine Form von Kulturlandschaft erscheinen, deren Vervollkommnung in der harmonischen Verbindung von Natur und Kultur angestrebt wird (Vorstellung 13). Der Kontext des obigen Zitats legt allerdings nahe anzunehmen, dass die Autoren in ihrer Hauptprägung keineswegs als konservativ, sondern vielmehr als basisdemokratisch einzuordnen sind. Sie sehen sich daher genötigt, in einer wesentlichen Frage der zwischenstädtischen Entwicklung vom konservativen Muster abzuweichen: Der Topos der Vervollkommnung wird umgedeutet und unter Integration eines liberalen Motivs, der Zukunftsoffenheit, als typisch demokratisches Element interpretierbar. Zwischenstadt wird im obigen Zitat als Stadt aufgefasst und als Sphäre der Freiheit gedeutet (Vorstellung 27): In ihr eröffnen sich, der Kontrolle der bevormundenden „zentralistischen“ Bürokratie entzogen, Möglichkeiten der emanzipativen Selbstverwirklichung: Die von der Herrschaft (des Kapitals, der Bürokratie) befreiten Menschen verwirklichen sich selbst, nicht ihr von Gott oder der Natur vorgegebenes Wesen; vielmehr ist die Zukunft, wie im Liberalismus, offen.173 An einem verwandten Thema wird eine weitere weltanschauliche Kombination erkennbar, bei der aber nicht ein konservatives Motiv demokratisch umgedeutet, sondern in die dominierende demokratische Vorstellung integriert wird: „Die Peripherie, das wurde spätestens zu diesem Zeitpunkt sichtbar, wuchs vor allem nach eigenen Regeln weiter, erwies sich als zunehmend Leitbild absorbierend oder Leitbild resistent [sic!] und erweiterte ihr Arsenal um Gegenwärtiges wie Shopping Malls, Büroparks und Freizeitcenter.“174

Eine Reihe von Motiven deutet (1) darauf hin, dass hier als dominierende Weltanschauung die demokratische gelten kann. Da ist zunächst die Irritation zu nennen, die sich einstellt, weil sich die Zwischenstadt nicht so entwi-

173 Allerdings ist die „Natur des Menschen“ nicht die Hobbes’sche egoistische Wolfsnatur, sondern wie bei den späteren milderen Liberalen (Locke) oder auch bei Rousseau und bei Anarchisten wie Kropotkin eine gute, freundliche, auf Gemeinsamkeit, auf solidarische Kooperation ausgerichtete Natur, die nur durch die gesellschaftliche Entwicklung verdorben ist. 174 Ebd.: 50.

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ckelt wie geplant. Denn der hier enttäuscht gefundene Glaube, die Zukunft ließe sich gemäß rational erdachter Leitbilder steuern, verweist auf eine demokratisch gefärbte Planungsauffassung. Schuld an dieser Entwicklung, so lässt sich in der hier eingeschlagenen Richtung weiterargumentieren, tragen vornehmlich die Investoren, die sich durch die Malls und Büroparks bereichern (Vorstellung 20). Im Zitat scheint (2) auch Enttäuschung mitzuschwingen darüber, dass es sich bei dem, was sich dem spontanen Wachstum der Zwischenstadt verdankt, um so profane Dinge wie Malls, Büro- und Freizeitzentren handelt und nicht um Museen und Bibliotheken.175 Das ist deutbar als ein Moment konservativer Stadtkritik – entweder als Klage darüber, dass es sich um Allerweltsdinge handelt und die Zwischenstadt ein Ort ohne Eigenart bleibt (dann würde die Zwischenstadt mit Vorstellungen 11 oder 17 assoziiert werden), oder als Kritik an der oberflächlichen Konsumgier und der Maßlosigkeit, der sich die genannten Dinge verdanken (dann wird auf die Vorstellung 16 rekurriert). Basisdemokratische Vorstellungen können auch denjenigen Ansätzen zugrundeliegen, die die Zwischenstadt als Raum aktiver Aneignung begreifen. Unter der Überschrift „Freiheit“ führen Bormann et al. Folgendes aus: „Er [Hubeli] beschreibt die neuen Agglomerationen im Vergleich zu den viel beachteten, historisch belegten, kleinteiligen Innenstädten als weniger inhaltlich determiniert und sieht mehr räumliche und soziale Leerflächen, welche Möglichkeiten der freieren Interpretation und Aneignung beinhalten, indem die Bewohner aktiv in das Raumgeschehen eingreifen und die Leerstellen aktiv mit neuem (kulturellen) Inhalt füllen, bzw. die eindimensionalen, interessegeleiteten Räume der neuen Stadtlandschaft als Möglichkeitsraum der Anreicherung begreifen.“176

Die Autoren thematisieren hier also (1) mit einer als klassisch basisdemokratisch zu bezeichnenden Stoßrichtung die Aneignung von Räumen. Die Möglichkeit dazu sehen sie auf Flächen gegeben, die räumlich oder sozial unbestimmt sind, z. B. Brachflächen. Sie sprechen, das wird aus dem Kontext des Zitates deutlich, auch Flächen an, die zwar eindeutig einer bestimmten Nutzung zugewiesen sind, aber trotzdem oder gerade deswegen zur Aneignung einladen. (Man kann hier an die großen Parkplatzflächen von Einkaufszentren denken, die sich am Wochenende in Flohmärkte verwandeln.)

175 Diese Enttäuschung sitzt tief und ist selbst eingefleischten Euphorikern bekannt. Sogar Koolhaas trauert in seinem Essay Die Stadt ohne Eigenschaften darüber, dass der öffentliche Raum der zeitgenössischen Stadt nur noch durch das Einkaufen geprägt sei. „Wir sind selbst schuld daran – etwas Sinnvolleres zu tun ist uns nicht eingefallen. Dieselben Räume von anderen Dingen – Büchereien, Bädern oder Universitäten – erfüllt, das wäre herrlich; ihre Pracht würde uns vor Ehrfurcht erstarren lassen.“ (Koolhaas 1996: 25) 176 Bormann et al. 2005: 60.

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Zwischenstadt erscheint ihnen als Raum, der durch Aneignung die Möglichkeit zur Emanzipation eröffnet. Hier kann eine neue Gemeinschaft entstehen, die als bewusst hergestellt (und nicht, wie es dem konservativen Ideal entspräche, gewachsen) verstanden wird. Ihr werden Eigenschaften zugeschrieben, die in der demokratischen Weltanschauung der ‚Stadt‘ zukommen (Vorstellung 27). Es schwingen aber auch Bedeutungen mit, die ‚Wildnis‘ zugeschrieben werden, insofern diese als Referenzpunkt der Emanzipation und des Kampfes um die Befreiung aus natürlichen und gesellschaftlichen Abhängigkeitsverhältnissen gilt (Vorstellung 19). (2) Besonders durch den Hinweis auf die Stadtlandschaft als „Möglichkeitsraum“ lässt sich das Zitat auch der romantischen Weltanschauung zuordnen: Die Zwischenstadt entspricht romantischen Bildern von ‚Stadt‘ und ‚Wildnis‘ insofern, als diese als Orte der Freiheit und als Sphären des Gefühls und der positiv gesehenen Vernunftwidrigkeit gesehen werden (Vorstellungen 28, 30, 34 und 35). Die Aneignungsphantasien erscheinen als anarchistisch-sozialromantisch. Sie haben das Ziel, von bildungsbürgerlichen, elitären, lebensfernen, einengenden Setzungen einer totalitär sich gebärdenden, planenden Vernunft zu befreien und den Weg zu anderen Möglichkeiten der Lebensführung zu weisen. Die Zwischenstadt wird zum Raum, in dem man jenseits der Vorgaben des bürokratischen Systems leben und sich dabei als wahrhaftig freier Menschen erfahren kann. Dass die Verbindung demokratischer und romantischer Ideen nicht ungewöhnlich ist, belegt schon die Existenz des Begriffs ‚Sozialromantik‘.177 Sie gelingt hier, weil differenziert wird zwischen der Begründung für die Notwendigkeit, Räume zur gesellschaftlichen Aneignung von Freiflächen zu schaffen einerseits, und dem, wie diese Freiheit inhaltlich ausgefüllt wird, andererseits. Während die Begründung für ersteres typisch demokratischen Mustern folgt, mischen sich in die Inhalte, wie diese Freiräume zu nutzen sind, romantische Motive. Wenn man an dem Zitat (3) vor allem hervorhebt, dass die inhaltliche und räumliche Unbestimmtheit unbegrenzte Möglichkeiten zur Durchsetzung individueller Interessen bietet, dann kann es auch auf einen liberalen Werthintergrund verweisen. Zwischenstadt erscheint dann, wie die ‚Stadt‘ im klassischen Liberalismus, als Ort der Freiheit von etablierten Zwängen, wozu nicht nur solche der Tradition, sondern auch solche der Bürokratie zählen (Vorstellung 8). Dieses liberale Motiv kann in die dominierende de-

177 Zu diesem bemerkt Boothe allerdings richtigerweise, dass er eine negative Wertung impliziere; der Sozialromantiker laufe Gefahr, Missstände ideologisch zu verklären „Wer sozialromantisch denkt, schreibt Menschen, die einer Klasse sozialer und wirtschaftlicher Unterprivilegierung angehören und denen Verarmung und Verelendung droht [sic!], prosoziale Tugenden, persönliche Loyalität und die Fähigkeit zu persönlichem Glück zu. Das ist eine Variante des verbreiteten Fehlschlusses von der moralischen Überlegenheit des Opfers gegenüber den Tätern.“ (Boothe 2007: 15)

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mokratische Vorstellung integriert werden, da beiden Weltanschauungen die Ablehnung konservativer Zwänge gemeinsam ist, die als „inhaltliche Determination“ die autonome und freie Entwicklung der Menschen verhindern.178 5.2.4 Unbestimmte Sehnsucht und sehnsüchtige Unbestimmtheit – Dominanz der romantischen Weltanschauung Vielleicht überraschend, aber keinesfalls randständig prägen romantische Motive die Haltung der Qualifizierer. Sie treten zwar nur selten in Reinform auf, sondern meist in Verbindung mit anderen Weltanschauungen, aber oft durchaus prominent. Motiviert scheinen sie durch eine gewisse Beklemmung angesichts der profan erscheinenden Lebenssituation in der Zwischenstadt zu sein, so dass Safranskis Fazit für das Romantische als Geisteshaltung auch für den Planungsdiskurs zutrifft: „Es ist fast immer im Spiel, wenn ein Unbehagen am Wirklichen und Gewöhnlichen nach Auswegen, Veränderungen und Möglichkeiten des Überschreitens sucht.“179 Rein romantische Vorstellungen Das Romantische wird also als Ausweg aus der Alltagstristesse der Zwischenstadt gesehen. Dieses Befreiungsmotiv klingt beispielsweise bei Schwarz an, der wünscht, dass sich die Architektur als überschreitbar und sich selbst überschreitend konzipiert, damit sie zu einer „Architektur der Sehnsucht“180 werden kann. „Sehnsucht braucht Raum, den Zwischenraum zwischen dem, was ist, und dem, was nicht ist. Die Architektur hat es nicht leicht, einen solchen Zwischenraum zuzulassen. Aus einem bestimmten professionellen Selbstverständnis heraus neigt sie dazu, den Zwischenraum durch das Ideal der Perfektion zuzuschütten.“ 181

178 Mit der romantischen Weltanschauung stimmt die liberale Idee insofern überein, als beiden Auffassungen die Idee des offenen Fortschritts gemeinsam ist. Der Begriff des „Möglichkeitsraums“ steht romantischen und liberalen Interpretationen gleichermaßen offen. In der zitierten Passage bleibt allerdings ein Widerspruch zwischen dem Liberalismus einerseits und der demokratischen und romantischen Weltanschauung andererseits offen bestehen: der zwischen der liberalen Verfolgung der individuellen Interessen auf der einen und die angestrebte und erhoffte Bereicherung dieser als „eindimensional“ gescholtenen Perspektive auf der anderen Seite. 179 Safranksi 2007: 392. 180 Schwarz 2003: 91. 181 Ebd.

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In der Zwischenstadt als typischem „Zwischenraum“ wird für ihn die Sehnsucht durch den professionellen Perfektionswahn zugeschüttet. Wenn es gelänge, sich von ihm zu befreien, so wäre sie der ideale Ort der Sehnsuchtsarchitektur: der gebauten Auseinandersetzung mit der „permanenten Bewegung des Widerstreits, der permanenten Zuspitzung der Nicht-Identität, der Verflüssigung alles Festen und der Unterminierung aller Eindeutigkeit“182. Die Formulierungen verweisen auf ein Wunschbild von Zwischenstadt, das romantische Vorstellungen von ‚Wildnis‘ und ‚Großstadt‘ offenbart (Vorstellungen 28 und 35). Beide werden als Orte jenseits der Herrschaft einer Vernunft, die alles eindeutig bestimmen will, imaginiert. Zwischenstadt gilt als Raum zwischen allen eindeutigen Kategorien, mithin als ein Raum des Unbestimmten, der der Phantasie zugesteht, frei umherzuschweifen und sich in sehnsuchtsvollen Gedankenspielen zu verlieren. Das Leben im Schatten dieser alles bestimmenden Vernunft erscheint als unbestimmt, und gerade in dieser Unbestimmtheit und Offenheit sieht Schwarz in typisch romantischer Manier die Möglichkeit eines von der Vernunft befreiten und damit sinnvollen Daseins. „Die Leere, das Nichts, das Unbestimmbare: Das sind Metaphern, die spätestens seit den 70er-Jahren […] auf eine radikale Umorientierung von Architektur und Städtebau verweisen, die bis heute virulent geblieben sind. Dabei geht es nicht im wörtlichen Sinn um das Nichts, sondern um die Einrichtung von Freiräumen, um Zonen des Offenen, des Nichtvorherbestimmten, des Unbekannten und des Anderen. Planung erzeugt nicht mehr das Definierte und Fixierte, sondern gerade das Nichtdefinierte.“183

Aus diesem Zitat spricht sehr deutlich die romantisch gefärbte Sehnsucht nach dem unbekannten Fremden, dem Anderen, dem Wilden. (Schwarz selbst greift bei der Entwicklung seiner Argumentation explizit auf „die Romantik der Moderne“184, zurück, die er unter Bezug auf Baudelaire und dessen Interpretation durch Walter Benjamin und Karl Heinz Bohrer entwickelt.) Er charakterisiert die Zwischenstadt als Raum, in dem es gelingt, die Welt wieder verzaubert erscheinen zu lassen, genauso, wie dies der klassischen Romantik in der Wildnis und der Großstadt möglich war (Vorstellungen 30 und 35). Sie ist der paradigmatische Ort des neuen Architekturverständnisses; schließlich steht sie zwischen den bekannten Kategorien von Stadt und Land und entzieht sich einer eindeutigen Definition, wobei genau diese Unschärfe und Unbestimmtheit als Versprechen gewertet wird – als Versprechen anderer Lebensmöglichkeiten, die sich eröffnen, weil man sich von einer alles bestimmenden Vernunft gelöst hat.

182 Ebd.: 88. 183 Ebd.: 83. 184 Ebd.: 87.

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An Schwarz‘ Ausführungen wird allerdings auch deutlich, dass immer dann, wenn romantische Vorstellungen in Reinform auftreten, die Grundhaltung der Qualifizierer schnell in die euphorische Auffassung umschlagen kann. So entwickelt er seine Argumentation hauptsächlich unter Bezugnahme auf Planer und Architekten wie Koolhaas, Tschumi und Eisenmann, die ich in dieser Arbeit als Vertreter der Grundhaltung der Euphoriker bezeichnet habe (siehe Kapitel 3). Typisch für die Haltung der Qualifizierer ist vielmehr, wie gesehen, die Integration romantischer Motive in die anderen Weltanschauungen oder, wie man im Folgenden sehen wird, deren Eingliederung in eine als romantisch einzustufende Grundtendenz. Integration anderer Weltanschauungen in die dominierende romantische Vorstellung Eine erste Integrationsvariante romantischer und liberaler Motive zeigt sich bei Hubeli, der einen besonderen Aspekt von Freiheit, die in der zwischenstädtischen Öffentlichkeit gegebenen sei, diskutiert und den er als „erotische Dimension“ bezeichnet. Das scheint er nicht nur im engeren Sinn zu meinen, d. h. auf sinnliche Erotik zu beziehen, sondern, wie wir oben bei Hauser gesehen haben, auf Gefühle, die mit Grenzüberschreitung im Allgemeinen verbunden sind:185

185 Zu einer ähnlichen Verbindung von Erotik und Grenzüberschreitung Bataille 1984; zum Thema der Grenzüberschreitung Duerr 1978. – Es mag sich die Frauge aufdrängen, welchen Typ Bewohner und Nutzer der Zwischenstadt diejenigen Qualifizier im Auge haben, die sich für alternative Lebensentwürfe mit einer „erotischen Dimension“ stark machen. Auf diese Frage möchte ich dreierlei antworten: Zunächst ist festzuhalten, dass mit der erotischen Dimension hier ganz allgemein ein sinnliches Erleben ungewöhnlicher, nicht-alltäglicher Momente bezeichnet wird. (Wie sinnvoll eine solch weite Begriffsverwendung ist, soll hier nicht thematisiert werden. Sie wird allerdings nicht selten verwendet, so etwa bei Bormann et al. 2005; Hauser 2003 und Hubeli 2003). Zweitens entwickeln die Qualifizierer ihre Planungsvorstellungen für ganz unterschiedliche Zielgruppen – also sowohl für solche, wo das Reden über eine „erotische Dimension“ näherzuliegen, als auch für solche, wo es völlig unangemessen zu sein scheint. Drittens aber kann selbst bei den letztgenannten eine „erotische Dimension“ im weitesten Sinne relevant werden. Das wird an dem Projekt Koslowskis Urbanismus deutlich, das Bormann et al. als gelungenes Beispiel für den von ihnen vertretenen neuen Planungsansatz vorstellen. In diesem Studentenprojekt befasst sich ein Teilprojekt mit den Problemen und Wünschen von Bewohnern, die nahe der B1 in Bochum leben. Sie erzählen in einer idealisierten Geschichte über den Alltag der sechsköpfigen Familie Koslowski mit ihren ganz alltäglichen Sorgen und Freuden von der Wohnsituation, der Lebensgeschichte und den Wünschen der Anwohner. (Bormann et al. 2005: 57) Die „erotische Dimension“ scheint hier darin zu liegen, dass es selbst bei dieser

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„Öffentliche Räume können eine erotische Dimension freilegen, insofern sie Orte mit erotischen Aktivitäten im weitesten Sinn des Begriffs sind, wo ‚Kräfte des Bruchs und des Spiels aufeinandertreffen‘, wo das Gegenbild zu dem entsteht, ‚was nicht Spielraum ist, was nicht Anderssein ist: die Familie, der Wohnort, die Identität.‘ Ein so verstandener öffentlicher Raum lässt sich nicht herstellen, da das Herstellen ja bereits das Vorgeplante, Vorgedeutete und eine Identität beinhalten würde.“186

Die neuen öffentlichen Räume, d. h. die Räume der neuen Gesellschaft, werden als das Andere und in Analogie zur Wildnis charakterisiert – und das, obwohl bzw. gerade weil die These zugrunde liegt, dass die ganze Lebenswirklichkeit urbanisiert, dass alles zu „100 % Stadt“ sei (so der Titel des Buches, in dem Hubelis Text erschienen ist). (1) Dass es die „erotische Dimension“ sei, die einer Stadt Lebendigkeit und Urbanität verleiht, die Möglichkeiten eröffnet, an sich und seinen Mitmenschen auf spielerische, vielleicht ironische Art immer wieder neue, nonkonformistische Seiten zu erkunden – all das rückt das Zitat in die Nähe der romantischen Weltanschauung. Durch diese Dimension wird der engen und starren Alltagswelt eine andere Form der Öffentlichkeit entgegengehalten. Deren Bild orientiert sich an Ideen des Nicht-Vernünftigen, wie sie in der romantischen Weltanschauung sowohl mit der ‚Großstadt‘ als auch der ‚Wildnis‘ verknüpft sind (Vorstellungen 28 und 34). Erotik, im weitesten Sinne, wird also als Gegenbegriff zur Vernunft etabliert und mit der Zwischenstadt verknüpft. Die neuen urbanen Landschaften werden so zum Raum alternativer Lebensentwürfe: Suburbia ist gerade nicht die Heimat der Reihenhausspießer, sondern unkonventioneller Alltags- und Lebenskünstler. Die identitätskritische und individualitätsbejahende Haltung, die im Zitat ebenfalls zu entdecken ist, lässt (2) auch eine liberale Interpretation plausibel erscheinen. Die „erotische Dimension“ bezeichnet dann die launenhafte und leidenschaftliche Seite der Individuen, die nicht durch irgendwelche Bindungen gehemmt werden sollen. Die Individuen können und sollen nach Lust und Laune handeln, und zwar nicht nur in der Sphäre des Privaten. Es bilde sich dadurch auch eine neue Kultur des öffentlichen Lebens heraus, das im krassen Gegensatz zur abgeschlossenen, hierarchisierten, beengten Privatheit steht, wie sie mit dem konservativen weltanschaulichen Gegner verbunden und als überwunden gedacht wird. Der Zwischenstadt werden also Bedeutungen zugeschrieben, die im klassischen Liberalismus der ‚Stadt‘ zugekommen sind: Sie erscheint als Raum der Freiheit von der Bindung an ein tradiertes Bild von Familie, Wohnort sowie regionaler und sozialer Identität, also von dem, was ich mit dem klassischen Vokabular als „organisches Beziehungsgeflecht“ bezeichnet hatte (Vorstellung 8). Freiheit wird emp-

so alltäglich erscheinenden Situation ungewöhnliche sinnliche Aspekte gibt. So wird beispielsweise der Lärm, der von der B1 durch die Schallschutzmauer dringt, von den Bewohnern als „Meeresrauschen“ (ebd.) gedeutet. 186 Hubeli 2003: 58 mit Zitaten von Barthes 1985/1988.

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funden, weil es nicht mehr eine für alle verbindliche Orientierungsinstanz gibt. Vielmehr wird, analog zum Prinzip der bloß formalen Gesetzgebung im klassischen Liberalismus, in der Zwischenstadt jedem das Recht zugebilligt, nur seinen eigenen Neigungen und Interessen nachgehend individuelle Lebenswege zu verfolgen (Vorstellung 7).187 Die Integration des liberalen Motivs in die romantische Weltanschauung gelingt Hubeli, weil er beide Weltanschauungen zusammenführt in der Argumentation gegen einen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, gemeinsam gehassten Zustand: die beengende, hierarchisierte, die Vitalität und Phantasie erstickende Form des Zusammenlebens. Dem Liberalismus läuft vor allem zuwider, dass diese den Fortschritt hemmt, weil die Individuen nicht nach freiem Gutdünken handeln können; die Romantik bedrückt die phantasielose Enge des sinnentleerten Daseins. Als gemeinsamer Ausweg scheint sich die Übertretung etablierter Grenzen anzubieten – jedoch nur, solange außer Acht bleibt, dass der Liberalismus mit seinem Fortschrittswahn gerade das vorantreibt, was der Romantik als Entzauberung gilt, und umgekehrt die Ablehnung technischen und ökonomischen Fortschritts durch die Romantiker den Liberalen als hoffnungslos rückständig gilt. Dass sich eine romantische Basis eignet, um mit Motiven der anderen Weltanschauung gekoppelt zu werden, zeigt sich auch am folgenden Zitat, in dem sich Bormann et al. den wahren Endemiten der Zwischenstadt zuwenden: „Skater | Sie sind die ‚Primärvegetation‘ der Zwischenstadt. Pioniere in der urbanen Steppe. Sie sind äußerst genügsam, gedeihen ohne den Humus vermeintlich städtischen Flairs und Altstadt-Urbanität.“188 (1) Der Stilisierung der Skater (Skateboarder)189 zu Außenseitern und zu Repräsentanten einer Subkultur steht die Figur des romantischen Bohemien Pate (siehe Abbildung 17). Diese Patenschaft mag auf wackeligen Füßen stehen, wenn man versucht, die Skater als intellektuelle Künstlerszene zu begreifen. Legt man jedoch den Fokus auf die ihnen von den Planern zuge-

187 Zu dieser Haltung passt das zurückgenommene Planungsverständnis, das bei Bormann et al. ganz deutlich wird: Ziel von Planung ist nun nicht mehr, die eine richtige Idee davon, wie Gesellschaft sein zu habe, zu verwirklichen. Vielmehr wird die Aufgabe darin gesehen, „die vorhandenen Geschichten, auch die des Wohnens, aufzuspüren, um ihnen einen gestalteten, reflektiven Raum zu geben. Veränderung findet allenfalls noch in der Umerzählung der Geschichte statt, nicht in deren Neuerfindung.“ (Bormann et al. 2005: 52) 188 Bormann et al. 2005: 62. 189 Skater waren und sind eines der Lieblingsmotive einer bestimmten Untergruppe der Qualifizierer. Sie tauchten und tauchen vereinzelt noch auf Bildern zur Illustration einer als typisch zwischenstädtisch charakterisierten und stilisierten Öffentlichkeit auf, oder sie werden doch wenigstens eigens als (neues) urbanes Phänomen erwähnt (Bormann et al. 2005 : 62 und 64; Schmeing et al. 2004: 116; siehe auch Boczek 2009: 159; Borden 2001; Kohte 2007: 83; Mutschler 2007: 335, Schneider 2000: 14, Uhrig 2000: 7; Anonymous 2009: 66).

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schriebene Rolle (die von ihrem Selbstbild, wie sie es beispielsweise in entsprechenden Magazinen zum Ausdruck bringen, nur wenig abzuweichen scheint)190 als Repräsentanten einer antibürgerlichen Lebensweise, dann mag die Analogie aufgehen. Die Idee einer Außenseiterkultur, die die Stadt erst richtig urban und attraktiv werden lässt, ist ein für die Romantik typischer Gedanke: Im Schatten der Vernunft und, wenigstens sozial gesehen,191 am Rande der Innenstadt versammelt sich die Boheme und setzt ein Gegengewicht zur Kultur der braven Stadtbürger, der engstirnigen Philister (Vorstellung 34). Für die Skater selbst ist die Zwischenstadt der ihrem Lebensgefühl angemessene Ort, an dem sie sich jenseits des Diktats der einengenden Normen der bürgerlichen Lebensführung unbehelligt treffen können. Neben der sich aufdrängenden romantischen Interpretation bietet sich (2) auch eine konservative Deutung an, selbst wenn diese auf den ersten Blick fernzuliegen scheint – geht es doch um zeitgemäße Phänomene jugendlicher Subkultur. Sie trifft dennoch in einem Motiv der Großstadtfeindschaft zu, das in der obigen Passage anklingt: Gegen die inszenierte, unauthentische Altstadturbanität wird die urwüchsige Natur („Primärvegetation“) in Gestalt der Skater-Subkultur gesetzt. Diese nimmt dadurch die Jungbrunnen-Rolle ein, die man in der konservativen Kulturkritik den Bewohnern der Wildnis zusprach (Vorstellung 12): Die lebendige und wilde Jugendszene der Zwischenstadt erobert den Raum der starren, toten, überzivilisierten Großstadt zurück. Die Skater sind, wie das Unkraut, das durch die Ritzen bricht, oder die Vegetation, die Bauruinen zurückerobert, oder die Westerwälder bei Riehl (siehe Kapitel 4.2.1) ein Symbol für die Unverfälschtheit der urwüchsigen Kraft „der Natur“. Das subversive Moment wird wertgeschätzt, weil die Ordnung, gegen die es verstößt, als lebensfeindlich und (darum) verwerflich gilt, und weil es das Potential besitzt, die städtische Kultur immer wieder zu beleben. Die konservative Sicht fügt sich hier nahtlos in das romantische Motiv, weil sich beide Weltanschauungen gegen die Folgen und Auswüchse der (abstrakten) Vernunft wenden.192 Dass der Konservatismus nur eine bestimmte Art des Vernunftgebrauchs ablehnt, die Romantik hingegen allen Formen der Rationalität skeptisch gegenübersteht, muss freilich außer Acht bleiben, soll diese weltanschauliche Allianz funktionieren.

190 Vgl. Bormann et al. 2005: 62. 191 Am geographischen Rand der Stadt hingegen versammeln sich die, von denen die Boheme den Namen hat: die Zigeuner und anderes fahrendes Volk. 192 Historisch hat diese weltanschauliche Kombination dann Bewegungen wie die Lebensreform hervorgebracht (siehe z. B. Schnädelbach 1983/1999: 174 ff.), auch die „Aussteiger“ der 70er und 80er Jahre, die auf’s Land zogen, können dazu gezählt werden.

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Abbildung 17: Skater in der Zwischenstadt.

Die Formulierung der Autoren weist (3) auch auf basisdemokratisch-anarchische Motive hin, denn die Aneignung des öffentlichen Raums durch die Skater lässt sich als emanzipatorischer Akt deuten. Die Zwischenstadt gilt dann, in typisch demokratischer Lesart, als Sphäre der Freiheit (Vorstellungen 27 und 21). Die Skater werden in dieser Perspektive als Eroberer des öffentlichen Raums wahrgenommen, die sich nicht durch Verwaltungsakte in Form von Skatestoppern und Blumenkübeln von der Inbesitznahme haben abschrecken lassen. Der Mechanismus der Integration in die dominierende romantische Weltanschauung folgt auch hier dem Muster des gemeinsamen Feindbilds, aus dem sich die Schnittmenge bei der Wahl der Gegenmittel ergibt, die in Betracht gezogen werden: In beiden Weltanschauungen wird gegen eine verwaltete Welt, die jegliche Phantasie und Emanzipation unterbindet, opponiert. Die zur Subkultur stilisierte Skaterszene wird als willkommener Ausbruch aus der starren bürgerlichen Ordnung gedeutet. Dieser weltanschauliche Zusammenschluss gelingt, solange ignoriert werden kann, dass für die Romantik ein gelungener Ausbruch nur in und mit der Kunst gelingen kann, dass dieser aber von den Vertreter der Basisdemokratie abge-

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lehnt wird und sie die Lösung statt dessen in der realen Aneignung von Freiräumen sehen müssen. Ein Motiv aus dem obigen Zitat verweist (4) auf einen liberalen Hintergrund: Die Skaterkultur ist dann ein Beispiel dafür, dass man Wildnis (die ungestüme, nonkonformistische Jugendszene) zumindest zunächst und in einer bestimmten, kanalisierten Form zulassen sollte, da sie den Weg für Innovationen und gesellschaftlichen Fortschritt bereitet (Vorstellungen 1 und 7). Der Begriff der „Primärvegetation“ impliziert den Gedanken der Sukzession, was auf den Gegenstandsbereich der Stadtentwicklung übertragen meint, dass häufig Jungend-, Künstler- und Subkulturen den Anstoß für eine Quartiersentwicklung geben, die als Gentrifizierung beschrieben und (in sozialer Hinsicht mit demokratischer Stoßrichtung) kritisiert wird. Mit der romantischen Weltanschauung ist dieses liberale Motiv über die bereits erwähnte Zukunftsoffenheit verbunden. Es wird jedoch sehr deutlich, dass die Implikationen der unterschiedlichen Weltanschauungen, auf die die Autoren rekurrieren, sich zum Teil auch widersprechen: Während aus liberaler Perspektive die Wildnis (d. h. das subversive Moment der Skaterszene) nur als Mittel zum Zweck (Wertschöpfung aus der Stadtentwicklung, die durch die Skater miteingeleitet wird) angesehen wird, gilt sie aus romantischer Perspektive als das eigentliche Ziel.

6. Fazit und Ausblick

Im vorangehenden Kapitel habe ich die weltanschauliche Herkunft und Kombination bestimmter Topoi im aktuellen Diskurs um die Zwischenstadt analysiert. Dazu habe ich exemplarisch untersucht, in welchen Bedeutungen in der Grundhaltung der Qualifizierung die metaphorische Lesart „Wildnis“ verwendet wird. Es hat sich herausgestellt, dass in den Aussagen, die dieser Haltung zugeordnet werden können, Vorstellungen aus allen vier untersuchten Weltanschauungen auftreten und dass es zumeist zu Kombinationen von liberalen, konservativen, demokratischen und romantischen Denkelementen kommt. Ich möchte hier abschließend diskutieren, was dieses Ergebnis bedeutet (Kapitel 6.1) und welche weiterführenden Fragen es eröffnet (Kapitel 6.2).

6.1 Z U DEN WELTANSCHAULICHEN K OMBINATIONEN , ZUR V IELDEUTIGKEIT DER L ESART „W ILDNIS “ UND ZUR M ETHODE DER ARBEIT Ich möchte auf die Fragen zurückkommen, die dem vorangegangenen Kapitel und der gesamten Arbeit als Leitfaden gedient haben. Dazu werde ich auf die weltanschauliche Heterogenität der Grundhaltung der Qualifizierer eingehen und einen Typisierungsvorschlag für verschiedene Varianten machen, nach denen sich in den Aussagen der Planer und Architekten Elemente unterschiedlicher weltanschaulicher Herkunft kombinieren. Außerdem werde ich einige Anmerkungen zur Vieldeutigkeit der metaphorischen Lesart „Wildnis“ machen und zur Methode, die ich in dieser Arbeit entwickelt habe. Zur weltanschaulichen Heterogenität der Qualifizierer Mit der Arbeit wollte ich die Frage beantworten, welche Vorstellungen von ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ mit welchem weltanschaulichen Hintergrund in der Grundhaltung der Qualifizierer, die die Zwischenstadt als „Wildnis“ wahrnehmen, vorkommen. Das vielleicht bemerkenswerteste Er-

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gebnis ist, dass in den Aussagen der Qualifizierer Topoi aus allen vier Weltanschauungen auftreten.1 Zwar ist weltanschauliche Heterogenität nicht unerwartet, es überrascht aber doch, dass tatsächliche alle vier Weltanschauungen Einfluss auf die Formulierung aktueller Auffassungen nehmen. Es mag besonders erstaunen, dass auch die romantische Weltanschauung als prägend für den Diskurs der Qualifizierer anzusehen ist. Denn das „Romantische“ gilt gemeinhin als viel zu wirklichkeitsfremd und überholt, als dass es mit der Planung und Gestaltung eines aktuellen Phänomens, bzw. genauer, mit einer Positionen, die sich zu dessen Dynamik konstruktiv verhalten will, in Verbindung gebracht wird. Dass das nun doch der Fall ist, beruht zum einen darauf, dass sich der romantische Idealtypus, der in dieser Arbeit als Basis für die Diskursanalyse konstruiert wurde, von dem weithin verbreiteten und zumeist undifferenzierten Bild der Romantik unterscheidet. (Wir erinnern uns, dass sie als eine Variante des Dritten Wegs zwischen den Polen des Liberalismus und des Konservatismus aufgefasst wird und als solche definitionsgemäß progressive und konservative Elemente kombiniert.) Der Einfluss, den das romantische Denken auf die Qualifizierer hat, verweist zum anderen darauf, dass deren Planungsauffassung keinesfalls rein progressiv ist, sondern auch fortschrittskritische Züge aufweist (was sich ebenso deutlich an der Relevanz konservativer Anteile zeigt) – selbst wenn dies, zumindest teilweise, ihrem Selbstverständnis widerspricht, oder doch wenigstens dem, was ihnen oft als solches unterstellt wird. Es sollte ebenfalls untersucht werden, ob und wenn ja, welche Weltanschauungen den Diskurs (qualitativ) dominieren. Es hat sich gezeigt, dass jede der Weltanschauungen als vorherrschende auftreten kann, in die dann Elemente anderer Weltanschauungen integriert sind.2 Was bedeutet es, dass

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Auch wenn die Analyse nicht darauf angelegt ist, quantitativ ausgewertet zu werden, möchte ich die quantitativen Ergebnisse zum Einstieg in die Diskussion und zur Interpretationsanregung anführen: Von 59 von mir identifizierten Deutungsmustern sind 17 liberal, 17 konservativ, 12 demokratisch und 13 romantisch; 27 davon sind Vorstellungen von ‚Wildnis‘, genauso viele von ‚Stadt‘, aber nur 5 Vorstellungen von ‚Kulturlandschaft‘. Häufig, d. h. fünfmal oder öfter, aufgetreten sind die Vorstellungen 7 (Stadt als Sphäre von Fortschritt und Ordnung durch die produktive Kanalisierung der Leidenschaften: 7 mal), 11 (Wildnis verhindert die Vervollkommnung der wahren Natur: 5 mal) und 20 (Sphäre der Unordnung durch wildwuchernde Interessenorientierung: 6 mal); nicht vertreten sind die Vorstellungen 3-6, 22-23, 25-26, 29, 31-33, 36. Obwohl jede der vier Weltanschauung als dominierende auftreten kann, scheinen die Qualifizierer dennoch nicht jeder gleich zugetan. Ihr Verhältnis zum Liberalismus mit dem Kapitalismus in seinem Gefolge erscheint keineswegs ungetrübt: Sie schätzen zwar sein innovatives Moment und akzeptieren ihn, da sie sich ja konstruktiv zur gegebenen Realität verhalten und nicht als verträumte Spinner auftreten wollen. Man kann sich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Akzeptanz nicht vollen Herzens geschieht. Das zeigt sich beispielsweise daran,

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die Grundhaltung der Qualifizierer nicht durch eine einzelne Weltanschauung oder einige wenige Weltanschauungen dominiert wird, sondern dass in Abhängigkeit von Thema, Planungsaufgabe, Ort, Architekt oder Planer eine andere weltanschauliche Perspektive vorherrscht? Es verweist auf die weltanschauliche Offenheit der Qualifizierer.3 Das macht einerseits die Stärke dieser Haltung aus: Sie erscheint Architekten und Planern mit teilweise sehr unterschiedlichen Auffassungen als attraktive intellektuelle Heimat im breit gefächerten Spektrum möglicher „Entwurfsphilosophien“ – solange sie sich nur um die Fahne der „Qualifizierung der Zwischenstadt“ versammeln können, sind sie willkommen. Schnell sind viele Mitstreiter gefunden, was die Qualifizierer zu einem Lager mit großer diskursiver Macht werden lässt. Andererseits liegt aber in der Offenheit auch Potential für interne Konflikte. „Offenheit“ ist dann als „Undifferenziertheit“ oder sogar „leeres Schlagwort“ zu paraphrasieren. Beispielsweise können die Antworten darauf, was „Qualifizierung“ denn eigentlich bedeute, sehr unterschiedlich ausfallen: Die Spanne reicht, wie sich gezeigt hat, von der Auffassung, dass sie immer nur „Urbanisierung“ im Sinne geordneter Verhältnisse bedeuten kann bis zur Auffassung, dass der wilde, ungeordnete Charakter der Zwischenstadt zu erhalten sei. Diese internen Konflikte verweisen auf tieferliegende, den Diskurs strukturierende Ordnungen, die sich an der Diskursoberfläche (wie sie beispielsweise durch eine Einteilung in drei Grundhaltungen konstituiert wird) nicht zeigen und die durch die Diskursanalyse erst herausgearbeitet werden. Es ist ein Anliegen der vorliegenden Arbeit gewesen, Wissen bereitzustellen, um diese internen Konflikte wahrnehmen, analysieren, erklären und verstehen zu können. Dieses Verständnis ist die Voraussetzung dafür, mit den auftretenden Konflikten konstruktiv umzugehen, und das heißt: im Einzelfall entscheiden zu können, ob sie überwindbar sind, und wenn, zu welchem Preis.

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dass es keine ästhetische Taktik gibt, die sich an der liberalen Weltanschauung orientiert, während die Ästhetik des geschichtlichen Bezugs auf den Konservatismus, die Ästhetik der Exotik auf die Romantik und die Ästhetik der Aneignung auf den Demokratismus verweist. (Diese Einschätzung weicht von den Ergebnissen ab, die die quantitative Analyse ergeben hat, da in den untersuchten Zitaten genauso viele liberale wie konservative Vorstellungen auftreten. Diese Abweichung kann als doppelter Verweis gedeutet werden: darauf, wie ungeeignet ein kleiner Korpus wie der hier untersuchte für eine quantitative Auswertung sein kann, und darauf, dass quantitative Ergebnisse immer, auch bei umfangreicheren Korpora, von qualitativen Beobachtungen flankiert werden sollten; dazu Jäger 2001/2006: 103 f.) Diese Offenheit spiegelt sich auch darin wider, dass in den analysierten Zitaten 29 der zugeordneten Vorstellungen aus den progressiven Weltanschauungen (17 liberale und 12 demokratische) stammen und 30 (17 konservative und 13 romantische) aus den fortschrittskritischen.

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Zur Kombinationen der Weltanschauungen: ein Typisierungsvorschlag der Verbindungsvarianten Besonderes Augenmerk sollte bei der Analyse der Zitate auf die in ihnen auftretenden Verbindungen von Denkmustern unterschiedlicher weltanschaulicher Herkunft gerichtet werden, um die Ausdifferenzierungen und Neukombinationen der klassischen, d. h. weltanschaulich reinen, Vorstellungen der Lesarten zu analysieren. Die Leistung der Arbeit liegt diesbezüglich nicht nur darin, gezeigt zu haben, dass alle vier Weltanschauungen im aktuellen Diskurs präsent sind, sondern auch (a) beispielhaft einige Möglichkeiten der Integration und Kombination analytisch sauber – so hoffe ich – durchgespielt zu haben. Die Arbeit ist (b) über Analysen hinausgegangen, die lediglich feststellen, dass es Positionen gibt, die unterschiedlichen Weltanschauungen zuzuordnen sind oder die bloß konstatieren, dass sich in bestimmten Positionen verschiedene Auffassungen kombinieren. Denn gerade an dieser Stelle habe ich in dem Bewusstsein, dass in der Kombination von Motiven unterschiedlicher Weltanschauung einige theoretische und praktische Brisanz stecken kann, weitergebohrt: Was kombiniert sich genau und wie? Daher ist die Untersuchung der weltanschaulichen Kombinationen bzw. Integrationen wesentlicher Bestandteil der Analyse. Ich habe nicht nur danach gefragt, welche Elemente welcher Weltanschauungen sich kombinieren, sondern auch, wie sie sich kombinieren, also wie sie in einen Ideenund Wertkosmos integriert werden, der ihnen als eigentlich unvereinbarer gegenüberzustehen scheint. Dabei hat sich gezeigt, dass sich bestimmte Mechanismen der Integration und Kombination wiederholen. Ich möchte sie hier systematisieren, indem ich eine Typisierung der gefundenen Kombinationsvarianten vorschlage.4 Das Kriterium, auf dem diese Systematisierung primär fußt, ist das der positionslogischen Konsistenz, d. h. des Grades der Widerspruchsfreiheit der zusammengefügten Vorstellungen. Das Spektrum der Kombinationsvarianten reicht von Typen, bei denen sich konsistente Koppelungen ergeben bis hin zu solchen Verbindungen, bei denen es sich nur um in der jeweiligen Passage, sozusagen temporär, nebeneinandergestellte Motive ansonsten unvereinbarer Weltanschauungen handelt. Ich werde im Folgenden vier Typen skizzieren. Die Reihenfolge ihrer Darstellung folgt dem immer schwächer werdenden Grad der Konsistenz der Verbindung, so dass eigentlich nur bei dem ersten Typ von einer richtigen Integration gesprochen werden kann und der letztgenannte Typ kaum mehr als eine Beschreibung zufällig nebeneinander aufgeführter Argumente ist. In der Gliederung der Kombinationsmöglichkeiten sind alle Varianten, die im Rahmen der hier angestellten

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Die Typisierung ist nicht als Anleitung für gültige und Verurteilung falscher, weil inkonsistenter Kombinationsvarianten misszuverstehen. Sie ist, zumindest primär, nur eine Analyse im Diskurs auftretender Argumentationsmuster.

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Analyse aufgetretenen sind, erfasst. Sie kann allerdings keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, da es Kombinationsmöglichkeiten geben mag, die in den untersuchten Passagen nicht vorgekommen sind. Es ist allerdings plausibel davon auszugehen, dass häufig auftretende und markante Typen berücksichtigt worden sind. Denn erstens wurde eine ganze Reihe von Fällen untersucht, und zweitens sind die Qualifizierer eine in sich so heterogene Grundhaltung, dass anzunehmen ist, dass innerhalb dieser Haltung die meisten der möglichen Kombinationsvarianten auch tatsächlich auftreten. (1) Den ersten Typ weltanschaulicher Kombinationen möchte ich als „echte Umdeutung“ bezeichnen. Er liegt beispielsweise bei der Prägung eines liberalen Heimatbegriffs bei Oswald und Baccini vor (siehe Kapitel 5.2.1). Er tritt zwar nur selten auf, hat aber weitreichende Konsequenzen für die beteiligten Vorstellungen. Diese erfahren tiefgreifende Modifikationen, die bis in den Kern der kombinierten weltanschaulichen Überzeugungen reichen. Das ist allerdings auch notwendig, wenn diese widerspruchsfrei mit Weltanschauungen kombiniert werden sollen, die ihnen zuvor noch als gegnerische inkompatibel gegenüberstanden. Es wäre übertrieben zu sagen, dass sich bei „echten Umdeutungen“ eine neue Weltanschauung ergibt; schließlich konzentrieren sich die Umdeutungen nur auf eine Frage oder ein Problem, das es zu lösen gilt, wie beispielsweise die Entwicklung eines progressiven Heimatbegriffs. Aber dennoch: durch diesen Typ weltanschaulicher Kombination entstehen neue Begriffe, die aufgrund ihrer logischen Konsistenz das Potenzial haben, sich im Diskurs durchzusetzen und als Kristallisationspunkte für die Entwicklung weiterer Argumente zu dienen. Da diese neuen Begriffe das Ergebnis von Versuchen sind, die Unzulänglichkeiten der jeweils kombinierten Weltanschauungen zu überwinden, treten sie mit dem Anspruch auf, attraktive Kandidaten für die Bewältigung der anstehenden Herausforderungen zu sein. (2) Der zweite Typ beschreibt die in der obigen Analyse am häufigsten auftretende Verbindungsvariante; man könnte sie als „Zweckbündnis“ bezeichnen. Die Kombination zweier inkompatibler Weltanschauungen gelingt, indem sie sich gegen eine dritte verbünden – ohne dass es dabei zu „echten Umdeutungen“ kommt.5 Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn Kapitalismuskritik als integratives Moment für konservative und demokratische Motive herangezogen wird (siehe Kapitel 5.2.2). Der Integrationsmechanismus ist hier die Beschwörung des im Gegensatz zu einer dritten Weltanschauung gegebenen Gemeinsamen, das sich allerdings auflöst, sobald

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Natürlich kann auch der erste Typ, die „echte Umdeutung“, dadurch motiviert sein, dass es einen gemeinsamen weltanschaulichen Gegner gibt. Die Motivation ist aber nicht das Kriterium der Typisierung, sondern die begriffliche Konsistenz. Der Unterschied der ersten beiden Typen liegt daher darin, dass es im ersten Fall, aus welchen Gründen auch immer, zu einer weitreichenden begrifflichen Modifikation kommt, während diese im zweiten Fall ausbleibt.

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versucht wird, die als temporär und/oder aspektgebunden zu bezeichnende Allianz auch auf andere Themen zu übertragen. (3) Beim dritten Typ handelt es sich um eine eklektizistische Sammlung von Argumenten aus unterschiedlichen weltanschaulichen Zusammenhängen, die alle angeführt werden, um das eigene Ziel zu stützen. Als Beispiel aus der obigen Analyse ist die Argumentation von Bölling und Christ für die Zwischenstadt als Identitätsraum zu nennen. Um das eigentlich konservative Anliegen zu stützen, bringen sie auch liberale Argumente, woraus es allerdings, wie wir gesehen haben, nicht vollkommen unangetastet hervorgeht (siehe Kapitel 5.2.2). Das hebt hervor, welche Probleme sich weltanschauliche Verbindungen einhandeln können, die nach dem Modell des Typs drei funktionieren: Es besteht die Gefahr, Allianzen mit falschen Freunden einzugehen, die eigene Auffassung also mit Anschauungen zu koppeln, die in vielerlei Hinsicht (im Extremfall in jeder anderen Frage außer der aktuell zu lösenden) vollkommen gegensätzliche Ansichten vertreten. An diesem Punkt wird ein unmittelbar praktischer Nutzen der hier angestellten Analyse deutlich: Sie kann entdecken und darstellen, in welchen Begründungen Argumente unterschiedlicher Weltanschauung zusammengestellt werden, die außer der jeweils behandelten Frage keine übereinstimmenden Ziele verfolgen bzw. Interessen vertreten. Für die Planungspraxis ist das insofern relevant, als ausgelotet werden kann, bei welchen Projekten welche Partner6 voraussichtlich erfolgreich zusammenarbeiten können. (4) Die vierte und letzte Variante besteht in Sympathiebekundungen für den nicht gewählten Weg, die begleitet werden von Betonungen der Unvereinbarkeit. Die Erläuterung der Frage, ob durch die Qualifizierung der Zwischenstadt deren ökonomische Vitalität verloren gehe, folgt beispielsweise diesem Muster (siehe Kapitel 5.2.2). Bölling und Christ entscheiden sich klar für die qualifizierende Urbanisierung der Zwischenstadt; es wird aber sehr deutlich, dass sie der ungestümen wirtschaftlichen Dynamik, die durch die Qualifizierung zurückgedrängt wird und die doch eigentlich einen wesentlichen Teil des speziellen Reizes der Zwischenstadt ausgemacht hat, nachtrauern. Diese Verbindungsfigur erlaubt die klare Parteinahme für den argumentativen Kosmos einer Weltanschauung, ohne sich den Vorwurf weltanschaulicher Ignoranz einzuhandeln, weil man ja – was aus ehrlichen

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Ich schreibe hier „Partner“ und nicht „Akteure“, was als der vielleicht gängigere Begriff erscheint, weil ich betonen möchte, dass die hier untersuchte Ebene der Weltanschauung quer zu den Interessen liegen kann, die den Akteuren als unter bestimmten soziologischen Kriterien einheitlich erscheinender Gruppe zugeschrieben werden. Beispielsweise kann die Akteursgruppe der „Erholungssuchenden“ völlig unterschiedliche Ansprüche an die Erlebnisqualitäten der Landschaft stellen, was sich auf unterschiedliche Naturbilder, also Vorstellungen davon, wie die ‚gute Natur‘, die ‚Kulturlandschaft‘ oder die ‚Wildnis‘ idealerweise zu sein habe, zurückführen lässt.

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oder lediglich strategischen Sympathiebekundungen hervorgeht – durchaus um die Vorzüge der ausgeschiedenen Option weiß. Zur Vieldeutigkeit der Lesart „Wildnis“ Die exemplarische Untersuchung einer Grundhaltung, nämlich derjenigen der Qualifizierer, erlaubt auch, Antworten auf die Frage zu geben, wieso die metaphorische Lesart „Wildnis“ für die Zwischenstadt gleichermaßen von den Gegnern, den Euphorikern und den Qualifizierern verwendet werden kann. Bereits durch die Darstellung des Interpretationsrepertoires in Kapitel 4 hat sich die These bestätigt, dass ‚Wildnis‘ ganz unterschiedliche, sogar gegensätzliche Bedeutungen haben kann. Das macht verständlich, wieso mit derselben Lesart verschiedene, ja sogar antagonistische Haltungen zum Ausdruck gebracht werden können. In Kapitel 5 habe ich dann gezeigt, wie sich unterschiedliche Vorstellungen von ‚Wildnis‘ in den aktuellen Auffassungen der Qualifizierer kombinieren und wie durch diese Kombination weitere Bedeutungsnuancen dieser metaphorischen Lesart entstehen. Diese bleibt also keinesfalls auf die zwölf im Interpretationsrepertoire dargestellten Vorstellungen beschränkt. Vielmehr ist ihr Bedeutungsspektrum durch die Kombinationen der Vorstellungen um ein Vielfaches reicher. Und es wächst noch weiter, wenn man – was plausibel ist – davon ausgeht, dass bei den andern beiden, hier nicht eingehender untersuchten Grundhaltungen wieder andere Kombinationen auftreten. Diese Vieldeutigkeit der Lesart „Wildnis“ erklärt, warum sie zur Charakterisierung der Zwischenstadt von Vertretern der unterschiedlichen Grundhaltungen verwendet werden kann. Aufschlussreich ist außerdem, dass mitunter Bedeutungen, die der Zwischenstadt zugeschrieben werden, nicht nur – worauf ja der Fokus der Analyse lag – solchen entsprechen, die ‚Wildnis‘ beigelegt werden, sondern dass sie darüber hinaus mit Topoi der ‚Stadt‘ zusammenfallen. (Man sieht das daran, dass bestimmte Lexien auf Vorstellungen verweisen, die sowohl im Zusammenhang mit ‚Wildnis‘ als auch mit ‚Stadt‘ diskutiert werden.) Das zeigt die Wirkmächtigkeit des Topos der Stadt als Wildnis, der, bei aller Unterschiedlichkeit in der Bewertung, in allen vier Weltanschauungen präsent ist. Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch, dass es keine nennenswerten Übereinstimmungen zwischen den Interpretationen der Zwischenstadt als „Wildnis“ mit Vorstellungen von ‚Kulturlandschaft‘ gab.7 Die Lesart der suburbanen Räume als „Wildnis“ scheint also zwar mit Ideen

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Das spiegelt sich auch darin, dass in den untersuchten Zitaten Vorstellungen von ‚Wildnis‘ genauso häufig wie Vorstellungen von ‚Stadt‘ identifiziert wurden, nämlich 27, wohingegen nur fünf Ideen von ‚Kulturlandschaft‘ ausgemacht werden konnten.

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von ‚Großstadt‘, nicht aber mir solchen von ‚Kulturlandschaft‘ vereinbar zu sein, oder doch diesen wenigstens nicht nahezuliegen.8 Zur Methodenentwicklung und zur Erprobung ihrer Eignung Neben den inhaltlichen Zielen waren auch die Entwicklung einer geeigneten Methode für die Analyse des Diskurses um die Zwischenstadt und der Nachweis ihrer Eignung Anliegen der Arbeit. Auf zwei Aspekte meiner Vorgehensweise möchte ich hier abschließend eingehen: (1) die Erarbeitung und Darstellung des Interpretationsrepertoires in Kapitel 4 und (2) die weltanschauliche Zuordnung der Zitate und die Analyse der Mechanismen, nach denen sich Vorstellungen unterschiedlicher weltanschaulicher Herkunft miteinander verbinden in Kapitel 5. Zu (1): Nach Max Weber offenbart sich der heuristische Nutzen von Idealtypen im Nachhinein: Theoretisch fruchtbar sind sie, wenn sie zum Verständnis des untersuchten Objektes beigetragen haben. In diesem Sinne hat sich die Erarbeitung und systematische Darstellung des Interpretationsrepertoires in Kapitel 4 als Analysewerkzeug bewährt. Die in ihm formulierten Idealtypen von ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ haben als gut geeignete Ausgangspunkte für die Untersuchung der Interpretationen der Zwischenstadt als „Wildnis“ durch die Qualifizierer gedient. Zu (2): Grundsätzlich bewährt hat sich auch der Ansatz des fünften Kapitels, in dem die weltanschauliche Herkunft und Kombination bestimmter Topoi im aktuellen Diskurs um die Zwischenstadt analysiert worden ist. Die Arbeit mit dem klar definierten Interpretationsrepertoire, d. h. der Ansatz, in den Zitaten von Planern und Architekten die zuvor dargestellten Vorstellungen der Lesarten zu identifizieren und die Mechanismen ihrer Kombination zu bestimmen, hat eine nachvollziehbare und methodisch saubere Analyse ermöglicht.9 Dass sie nachvollziehbar ist, bedeutet allerdings nicht, dass man ihr in allen Fällen zustimmen wird oder muss. Besonders bei der Zuordnung der Vorstellungen aus dem Interpretationsrepertoire zu den analysierten Zitaten, und das heißt letztlich bei der Frage nach deren weltanschaulicher Verortung, wird man meinen Vorschlägen vielleicht nicht immer zustimmen können. Das ist nicht als Mangel der vorgeschlagenen Methode anzusehen, sondern dem hermeneutischen Arbeiten als solchem geschuldet:

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Mit dieser Beobachtung wird nicht die Interpretation der Zwischenstadt als Kulturlandschaft in Frage gestellt (sie war ja nicht Gegenstand der Untersuchung), sondern es soll lediglich betont werden, dass sich die Lesarten ‚Wildnis‘ und ‚Kulturlandschaft‘ offenbar fremder sind als die Lesarten ‚Wildnis‘ und ‚Stadt‘. Nachvollziehbar ist die Analyse insofern, als durch den eindeutigen Verweis auf die entdeckt geglaubte Vorstellung, deren Nummer sogar in jedem Fall angegeben wird, Verwechslungen oder Uneindeutigkeiten der Zuordnung ausgeschlossen sind.

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Je nach weltanschaulichen Sympathien oder eigener Grundhaltung, je nach Vorwissen über die Autoren und Planer, über den Entstehungskontext des Textes, aus dem das Zitat entnommen, über den Ort, auf den im Zitat Bezug genommen wird, über die im Zitat angesprochenen Themen, etc. kann das im hermeneutischen Verstehensprozess unvermeidbare und notwendige Vorurteil anders ausfallen – und mit ihm die weltanschauliche Zuordnung. Im Rahmen der Arbeit wurde durch die idealtypische Formulierung der Weltanschauungen versucht, diese begrifflich so präzise wie möglich zu fassen, um so wenigstens auf einer Seite der Zuordnung begriffliche Eindeutigkeit, d. h. übereinstimmende Vorurteile, zu erzeugen. Auf der anderen Seite, der Kontextualisierung der Zitate, konnte dies nicht geleistet werden. Das ist allerdings eher ein Mangel der Durchführung denn der Methode (wobei eine vollständige Kontextaufbereitung auch prinzipiell unmöglich ist, da sich dieser ständig ändert). Daher verstehe ich die hier präsentierte Analyse der weltanschaulichen Zuordnung und Kombination als einen Vorschlag, der als Einstieg in und Anregung zur Diskussion dient.

6.2 Z UR AKTUALITÄT DES I NTERPRETATIONSREPERTOIRES UND ZUM V ERHÄLTNIS VON E NTWURF UND D ISKURSANALYSE In diesem abschließenden Ausblick möchte ich aus den vielen Fragen, die sich im Anschluss an die Arbeit aufdrängen mögen, zwei Themen herausgreifen. Sie beziehen sich jeweils auf einen der beiden Hauptteile der Arbeit. Ein erster Fragenkomplex betrifft die Nützlichkeit und Aktualität des von mir in Kapitel 4 erarbeiteten Interpretationsrepertoires; der zweite widmet sich dem Verhältnis von Entwurf und Diskursanalyse. Ich kann diese Fragen hier allerdings nicht ausführlich herleiten, geschweige denn angemessen beantworten. Ich werde lediglich andeuten, in welche Richtung zu überlegen fruchtbar wäre. Zur Aktualität des Interpretationsrepertoires In Kapitel 4 habe ich verschiedene Bedeutungen der Lesarten „Wildnis“, „Kulturlandschaft“ und „Stadt“ aus der Perspektive von vier Weltanschauungen (Liberalismus, Konservatismus; Demokratismus und Romantik) dargestellt. Die systematische Differenzierung unterschiedlicher Topoi stellt das Interpretationsrepertoire dar, auf das die Subjekte des Diskurses um die Zwischenstadt zurückgreifen, wenn sie diese wahrnehmen und zu deuten versuchen. Die Frage nach der Aktualität des Interpretationsrepertoires verweist in drei verschiedene Richtungen: (1) Der mögliche Einsatzbereich des erarbeiteten Repertoires geht über die in dieser Arbeit beispielhaft analysierte Diskursposition, die Untersu-

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chung der metaphorischen Lesart „Wildnis“ bei den Qualifizierern, hinaus. Es kann erstens für die Untersuchung der anderen Lesarten („Kulturlandschaft“ und „Stadt“) sowie der anderen Grundhaltungen (Gegner und Euphoriker) eingesetzt werden. Es kann zweitens auch als Ausgangspunkt für die Analyse anderer Diskurse dienen, die im weitesten Sinne mit Stadt, (Kultur-)Landschaft und Wildnis zu tun haben – sofern die Ebene der Bedeutungen und ihre ideengeschichtliche und weltanschauliche Herkunft interessiert. (2) Zur Differenzierung der unterschiedlichen Vorstellungen von ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ habe ich auf Formulierungen von Liberalismus, Konservatismus, Demokratismus und Romantik zurückgegriffen, wie sie sich etwa um die sogenannte Sattelzeit, also die Zeit um die Französische Revolution, herausgebildet haben. Zwar ist es gut begründbar, auf diese frühen Formulierungen zu rekurrieren (siehe Kapitel 2.3). Es wäre aber sicher auch ein Interpretationsrepertoire heuristisch wertvoll, das zur Differenzierung der unterschiedlichen Vorstellungen auf neuere politische Philosophien und Weltanschauung zurückgreift. In diesen, so kann man mit guten Gründen annehmen, wird die in der Sattelzeit ausgebildete Grundkonstellation (Fortschritt – Fortschrittskritik – Dritter Weg und Verabschiedung von aller Politik) immer noch wirksam sein. Die neueren politischen Philosophien und Weltanschauungen versuchen also auf je eigene Art, Elemente des progressiven mit dem fortschrittskritischen Denken zu verbinden. Man kann daher annehmen, dass in ihnen bereits einige der Kombinationen, die ich in Kapitel 5 bei der Analyse von Aussagen der Qualifizierer beschrieben habe, ausformuliert sind. Insofern könnte der Rückgriff auf die neueren Philosophien helfen, die erarbeiteten weltanschaulichen Kombinationen zu differenzieren und zu präzisieren. (3) Interessant wäre auch, die Ergebnisse der Arbeit unter folgender Fragestellung zu betrachten: Kann die Bezeichnung „Zwischenstadt“ in den bereits etablierten Begriffen ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ aufgelöst werden, oder bleibt ein unbestimmbarer Rest? Dieser könnte als Indikator für eine neue Diskursschicht, eine Transformation in der Moderne, gedeutet werden. Zum Verhältnis von Entwurf und Diskursanalyse Abschließend möchte ich auf zwei Fragen eingehen, die das Verhältnis von Entwurf und Diskursanalyse betreffen. Ich möchte (1) Fragen methodischer Art skizzieren, die aus der Betrachtung der spezifischen Aussageform des Entwurfes in der Diskursanalyse erwachsen. Abschließend möchte ich (2) einige Antworten auf die Frage andeuten, welchen Beitrag eine Diskursanalyse für die gestalterische und planerische Praxis leisten kann. Zu (1): Ich habe den Fachdiskurs der Landschaftsarchitektur, des Städtebaus sowie der Stadt- und Landschaftsplanung über die Zwischenstadt analysiert. Im Mittelpunkt des Interesses standen Gestaltungsstrategien und

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Planungsauffassungen. Bei deren in Kapitel 5 durchgeführter Analyse und Interpretation habe ich einzelne Entwürfe und Planungen daher immer nur als typische Beispiele behandelt. Zu diesem Zweck war es oftmals ausreichend, sich auf ausgewählte Gesichtspunkte an den Entwürfen und Planungen zu konzentrieren. Diese Art der Analyse mag das Gefühl provozieren, ihnen nicht in ihrer Ganzheit und Eigenständigkeit gerecht geworden zu sein. Gibt man diesem Verdacht nach, so führt das zu einer Reihe weiterer Fragen und mündet in der Aufforderung, sich eingehender mit den konkreten Entwürfen als Form der Aussage im Diskurs zu beschäftigen. Was kann diese Forderung forschungsprogrammatisch bedeuten? Man könnte beispielsweise fragen, ob und wie sich unterschiedliche weltanschauliche Hintergründe in unterschiedlichen Gestaltsprachen niederschlagen. Man könnte also analysieren, ob man allein anhand des konkreten Entwurfes auf seine weltanschaulichen Hintergründe schließen kann. Zwei gegensätzliche Thesen sind denkbar: These 1: Die Gestaltsprache eines konkreten Entwurfes lässt eindeutige Schlüsse auf seine weltanschaulichen Hintergründe zu. – Das ist die grundlegende Annahme etablierter Forschungstraditionen in der Geschichte der Landschaftsarchitektur, des Städtebaus, der Architektur und der Gartenkunst. Prominentestes Beispiel ist die Gegenüberstellung des französischen Barockgartens mit dem englischen Landschaftsgarten. Die axiale Geometrie des ersten Gartentyps hat man als räumliche Verwirklichung absolutistischer Prinzipien gedeutet, die natürlich anmutende Formsprache des zweiten Typs als Ausdruck des englischen Liberalismus. Ein Indiz für die Richtigkeit der ersten These könnte man auch in der Bildsprache sehen, mit der Entwürfe dargestellt und veranschaulicht werden. Es liegt nahe zu vermuten, dass es zwischen der Gestaltsprache von Entwürfen, die mit handgezeichneten Perspektiven in Aquarelloptik und solchen, die mit computergenerierten 3DVisualisierungen erläutert werden, Unterschiede gibt. These 2: Die Gestaltsprache eines konkreten Entwurfes allein lässt keine eindeutigen Schlüsse auf seine weltanschaulichen Hintergründe zu. – Diese These lässt sich in Anlehnung an das formulieren, was Siegmund für den Landschaftsgarten zeigt, dass nämlich „Sinngehalt und Form nicht eindeutig miteinander korreliert [sind], sondern die gleichen Landschaftselemente wie auch die gleichen formalen Gestaltungsprinzipien […] inhaltlich unterschiedlich besetzt sein“10 können. Für die Beurteilung von Entwürfen und Planungen für die bzw. in der Zwischenstadt bedeutet das, dass man auf ihren weltanschaulichen Hintergrund nie allein von ihrer Gestaltung aus schließen kann. Es wäre immer der weitere Kontext zu berücksichtigen: Entwurfserläuterungen, vom Auftraggeber formulierte Anforderungen, finanzielle, politische, rechtliche und natürliche Rahmenbedingungen, etc.

10 Siegmund 2010: 6.

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Um also die konkreten Entwürfe als Aussageformen im Diskurs angemessen zu berücksichtigen und zu untersuchen, ob und wie sich unterschiedliche weltanschauliche Überzeugungen in ihnen niederschlagen, müsste man die Entwürfe und ihren Entstehungskontext intensiv analysieren. Dabei wäre eine Reihe von methodisch relevanten Differenzierungen zu treffen. Es wäre beispielsweise zu trennen zwischen der Darstellungsweise eines Entwurfes und seinem Inhalt. Es wäre zu unterscheiden zwischen verschiedenen inhaltlichen Ebenen des Entwurfs, also beispielsweise zwischen Aussagen zum Städtebau, zur Landschaftsarchitektur und zur Architektur. Es wäre zu diskutieren, wie sehr äußere Rahmenbedingungen die tatsächliche Gestaltungsfreiheit der Architekten und Planer eingeschränkt haben, und wie sie mit diesen Bedingungen umgegangen sind. Man müsste die Beziehungen analysieren zwischen den Entwürfen, ihrer Bewertung im Diskurs und dem Einfluss, den sie wiederum auf andere Entwürfe haben. Dazu müsste man zwischen verschiedenen Analysemethoden und -medien (Bilder, Texte, Karten, Pläne) wechseln, um die Diskursverflechtungen wahrnehmen, nachzeichnen und deuten zu können. Doch der Aufwand verspricht lohnend zu sein: Der Ansatz, Entwürfe als Aussageformen in der Diskursanalyse zu berücksichtigen, könnte fruchtbar gemacht werden für eine Kritik landschaftsarchitektonischer und städtebaulicher Entwürfe sowie verschiedener Planungsansätze. Da Diskursanalysen ganz unterschiedliche Erkenntnisinteressen verfolgen können, kann auch die Kritik der Entwürfe auf ganz unterschiedliche Aspekte zielen. Wenn, wie in dieser Arbeit, der Schwerpunkt der Diskursanalyse auf der weltanschaulichen und ideengeschichtlichen Ebene liegt, so würde diese Ebene bei der Kritik der Entwürfe in den Mittelpunkt gerückt werden. Darüber hinaus kann es auch in forschungspolitischer Hinsicht interessant sein, Entwurfskritik und Diskursanalyse zu verbinden. Dadurch wird man nämlich erstens den Eigenheiten der Landschaftsarchitektur, des Städtebaus etc. gerecht, weil und indem die Entwürfe als zentrale Aussageform dieser Disziplinen angemessen behandelt werden müssten. Zweitens baut man mit der Diskursanalyse auf einem theoretischen Fundament auf, das einerseits eine gewisse Tradition hat, andererseits immer noch weiterentwickelt wird, und zwar in Disziplinen, die in der Forschungslandschaft fester etabliert sind als beispielsweise Landschaftsarchitektur. Die diskursanalytische Kritik von Entwürfen wäre also eine mögliche Antwort auf das beklagte Theoriedefizit dieser Disziplin. Zu (2): Es wird zumeist als selbstverständlich angesehen, dass theoretisch-reflexive sowie real- und ideengeschichtliche Arbeiten auch und gerade in anwendungsorientierten Disziplinen notwendig sind. Die Begründungen für diese Auffassung reichen allerdings oft nicht sehr weit. Auch diese Arbeit ist durch die Hoffnung motiviert, dass die hier geleistete Reflexionsarbeit für die Entwurfspraxis hilfreich ist; und auch ich bin nicht näher auf den Zusammenhang zwischen Reflexion und Entwurf eingegangen. Ich möchte daher abschließend auf einige Gedanken von Eisel zu diesem Thema

F AZIT

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verweisen, die mir erwähnenswert erscheinen. Er meint, dass Entwürfe als „Belebungsprinzip und Anregungsmittel“11 diskutiert und analysiert werden können. „Entwürfe können dazu dienen, daß man konzeptionsbildend reflektiert; gerade der, von dem sie stammen, kann sie als Verweis auf sich, seine Lebensführung und sittlichen Prinzipien begreifen lernen. Das verbessert zwar nicht sein Talent, aber dafür seine konzeptionelle Sicherheit und Ausstrahlungskraft, d. h. seine Deutlichkeit.“12

Über Entwürfe und die sich in ihnen ausdrückenden Prinzipien der Lebensführung nachzudenken, kann also zur Ausbildung einer reflektierten Entwurfshaltung beitragen.13 Und eine solche Entwurfshaltung kann man als hilfreich dafür ansehen, zu attraktiven Freiraumgestaltungen zu gelangen, das heißt zu konzeptionell sicheren Entwürfen mit einer gewissen Ausstrahlungskraft.14 Über die Art der Analyse mit einer solchen Stoßrichtung, d. h. einer, bei der die „politische und wissenschaftstheoretische Qualität des Entwerfens genutzt werden soll“15, schreibt Eisel Folgendes: „Man müßte versuchen, den abgelaufenen ästhetischen Verobjektivierungsvorgang mit dem Verstand anschließend einzuholen. Nicht, um Regeln des Entwerfens zu finden, das ist prinzipiell der Holzweg – wenn man vom Handwerklichen und einigen Tricks absieht –, sondern, um den aufscheinenden Prinzipien der Vernunft, d. h. dem, was in diesem Einzelbeispiel an Weltbild zugrunde liegt, auf die Spur zu kommen.“16

Um die Entwürfe und Entwurfsstrategien daraufhin zu untersuchen, benötigt man jedoch keine Entwurfskenntnisse. Denn: „Was die Entwürfe ausdrücken, entschlüsselt sich ‚hermeneutisch‘, und die Hermeneutik wird so gut sein, wie es der Interpret als Geisteswissenschaftler ist, nicht als Entwerfer, d. h. wie groß und professionell sein kulturtheoretischer Theorievorrat ist.“17 Diese Andeutungen erklären noch einmal, aus anderer Perspektive, nämlich unter einem auf die Praxis des Entwerfens und Planens ausgerichteten Aspekt, die Ausrichtung meiner Arbeit: Ich versuche, entwerferische Grund-

11 Eisel 1997b: 25; siehe auch 2003b; 2004e. 12 Eisel 1997b, Hervorh. V. V. 13 Siehe genauer zum Zusammenhang von Entwurf, (ästhetischer) Idee und Weltanschauung ebd. 14 Ob allerdings die im Zitat erwähnte „Deutlichkeit“ (Eisel) als Ideal Bestand haben kann, wäre zu hinterfragen. Man kann annehmen, dass gerade ein gewisses Maß an Undeutlichkeit, eine gewisse Ambivalenz den Charakter und die Ausstrahlungskraft eines Entwurfes ausmacht. Schließlich ist ein Entwurf keine wissenschaftliche Arbeit, die deutlich und eindeutig sein muss. 15 Ebd.: 26. 16 Ebd.: 25. 17 Ebd.: 26.

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haltungen aus dem Diskurs um die Zwischenstadt mit kultur- und politikwissenschaftlichen Theorien, die unterschiedliche Weltanschauungen zum Gegenstand haben, zusammenzubringen, d. h. den weltanschaulichen Gehalt dieser Haltungen zu analysieren und somit den Diskurs neu zu ordnen. Diese Ordnung ist aber kein Selbstzweck, sondern sie kann hoffentlich dazu beitragen, die entwerferische Praxis zu beleben.

7. Zusammenfassung

Um den Fachdiskurs in Landschaftsarchitektur, Städtebau, Stadt- und Landschaftsplanung über die Zwischenstadt zu analysieren, untersuche ich drei verschiedene Lesarten: „Wildnis“, „Kulturlandschaft“ und „Stadt“. Ausgangspunkt der Arbeit ist, dass von Vertretern unterschiedlicher Grundhaltungen, also von Architekten und Planern, die die Zwischenstadt ganz unterschiedlich bewerten, dieselben Lesarten verwendet werden. Das führt zu der These, dass jede der drei Lesarten offenbar mehrdeutig ist und unterschiedlich bewertet wird. Wenn die Zwischenstadt also beispielsweise als „Wildnis“ bezeichnet wird, so kann damit sowohl eine ablehnende als auch eine wohlwollende Haltung ausgedrückt werden. Ein Anliegen der Arbeit ist daher, verschiedene Bedeutungen der drei Lesarten systematisch zu unterscheiden. Dazu differenziere ich aus der Perspektive unterschiedlicher Weltanschauungen verschiedene Vorstellungen, die sich mit ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ verbinden. Diese Darstellung dient als Analysewerkzeug für die Untersuchung des Diskurses um die Zwischenstadt. Ich analysiere, auf welche Topoi im Diskurs zurückgegriffen wird. Besonderes Augenmerk lege ich dabei auf die weltanschauliche Herkunft der verwendeten Vorstellungen und ihre Kombination. Dadurch ergibt sich eine Ordnung des Diskurses, die tieferliegende, den Diskurs strukturierende Schichten aufdeckt. In der Einleitung entwickle ich die Ziele der Arbeit aus einer Analyse bisheriger Ordnungsversuche des Diskurses (Kapitel 1.1). Meine Arbeit greift bestehende Ordnungsprinzipien auf, präzisiert diese und kombiniert sie miteinander, wodurch es zu einer tatsächlichen Neuordnung des Diskurses kommt. Ich untersuche den Diskurs nach Grundhaltungen, Lesarten und Weltanschauungen. Ich unterscheide also (1) drei Grundhaltungen, d. h. drei grundlegend verschiedene Weisen, die Zwischenstadt zu bewerten. Die Vertreter dieser Haltungen nenne ich die „Gegner“, die „Euphoriker“ und die „Qualifizierer“ der Zwischenstadt. Erstere weisen die Verstädterung der freien Landschaft harsch zurück und orientieren sich am Ideal der kompakten europäischen Stadt. Die Repräsentanten des zweiten Lagers hingegen sehen in der Dynamik, Unbestimmtheit und Fragmentiertheit der Zwischenstadt das Versprechen einer neuen Freiheit, weshalb sie die neue Stadtform

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euphorisch bejahen. Die Vertreter des dritten Typs nehmen eine Mittelstellung ein: Sie akzeptieren die Realität der Zwischenstadt als unhintergehbares Faktum, erkennen aber auch deren Defizite, die sie besonders im Hinblick auf die in ihr gegebene Lebensqualität sehen. (2) Unter der Vielzahl an Lesarten, die zur Charakterisierung der Zwischenstadt herangezogen werden, wähle ich drei aus: „Stadt“, „Kulturlandschaft“ und „Wildnis“. Sie unterscheiden sich nicht nur semantisch, sondern sind auch Lesarten von unterschiedlichem Charakter: ‚Wildnis‘ weist einen metaphorischen Charakter auf, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ sind hingegen nicht als Metaphern gemeint. Auf der Ordnungsebene der Weltanschauung gehe ich (3) von vier Positionen aus: Ich unterscheide eine liberale, eine konservative, eine demokratische und eine romantische Weltanschauung. Mit diesen Bezeichnungen verbinde ich keine Bewertungen. Sie sind theoretisch gemeint und dienen der Charakterisierung eines spezifischen Zusammenspiels von Theoriestruktur und Werthaltung, das ich beschreibe, jedoch nicht bewerte. Im zweiten Teil der Einleitung (Kapitel 1.2) entwickle ich die Leitfrage der Arbeit: In welchen Bedeutungen verwenden die Qualifizierer die Lesart „Wildnis“ zur Charakterisierung der Zwischenstadt? Diese Frage impliziert letztlich eine weltanschauliche Analyse der Grundhaltung der Qualifizierer. Denn zu untersuchen, auf welche Wildnis-Topoi die Qualifizierer zurückgreifen, bedeutet auch, danach zu fragen, ob es sich bei diesen Topoi um liberale, konservative, demokratische oder romantische Wildnisideen handelt, die, entweder in Reinform oder auch in bestimmten Kombinationen, zur Beschreibung der Zwischenstadt verwendet werden. In Kapitel 2 stelle ich die in der Arbeit verwendeten Methoden vor. Ich führe aus, dass sie als eine Diskursanalyse angelegt ist (Kapitel 2.1). Dazu stelle ich den Diskursbegriff Michel Foucaults dar, wie er ihn in seinen frühen Arbeiten entwickelt hat. Seinen Ansatz erweitere ich zu einer ideenimmanenten Untersuchung von Entwurfsstrategien und planerischen Positionen. Anschließend mache ich einige Anmerkungen zur Auswahl des Analysematerials. Im Folgenden (Kapitel 2.2) stelle ich Idealtypen als das heuristische Werkzeug vor, mit dem es gelingt, die große Vielfalt an Lesarten und Grundhaltungen der Realität begrifflich zu fassen. Dazu gehe ich auf wesentliche Hauptaspekte der Idealtypen ein, die von Max Weber als Methode kulturwissenschaftlichen Arbeitens in seinem Objektivitätsaufsatz von 1904 geprägt wurden. Als Grundlage zur Strukturierung der im Diskurs auftretenden Aussagen führe ich, in Kapitel 2.3, vier unterschiedliche Weltanschauungen ein: Liberalismus, Konservatismus, Demokratismus und Romantik. Ich erläutere ihre Auswahl und wie im Rahmen dieser Arbeit ihre Ausdifferenzierung gedacht wird. Anschließend charakterisiere ich die Ideengeschichte als Mittel, um erstens die Bedeutungsvielfalt der Lesarten synchron darzustellen und um zweitens in diachroner Perspektive die auftretenden diskursiven Kontinuitäten und Brüche aufspüren zu können (Kapitel 2.4). Dazu grenze ich den ideengeschichtlichen Ansatz, der dieser Arbeit zugrundeliegt, von dem klassischen Verständnis von Ideengeschichte ab,

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wie es von Arthur O. Lovejoy geprägt wurde. In der Vorstellung eines mehrdimensionalen Analyse- und Interpretationsansatz in Kapitel 2.5 zeige ich, wie die unterschiedlichen methodischen Bausteine zusammengeführt und konkretisiert werden. Das dritte Kapitel ist als ausführlicher Problemaufriss konzipiert. Es gibt einen Überblick über das Diskursfeld. Dazu werden in einem ersten Schritt die drei zu untersuchenden Lesarten der Zwischenstadt, d. h. „Wildnis“, „Kulturlandschaft“ und „Stadt“, analysiert (Kapitel 3.1). Anschließend formuliere ich idealtypisch drei Grundhaltungen, also die Positionen der Gegner, der Euphoriker und der Qualifizierer der Zwischenstadt (Kapitel 3.2). Als Kombination aus den Lesarten und Grundhaltungen ergeben sich die von mir als Diskurspositionen bezeichneten Auffassungen. Ich unterscheide also die Gegner, die die Zwischenstadt als „Wildnis“ deuten, von den Gegnern, die sie als „Kulturlandschaft“ oder als „Stadt“ sehen; entsprechend untergliedere ich auch die Euphoriker und die Qualifizierer. So ergeben sich neun Diskurspositionen, die in Kapitel 3.3 kurz charakterisiert werden. Im Zwischenfazit (Kapitel 3.4) halte ich erstens fest, dass mit den Grundhaltungen nicht eine bestimmte Lesart vorgegeben ist (und andere ausgeschlossen sind), ebenso wie eine Lesart nicht eine Grundhaltung zur Zwischenstadt bestimmt. Als zweites stelle ich fest, dass in den Grundhaltungen jeweils Lesarten zusammen vorkommen, die semantisch als unvereinbar gelten. Diese Zwischenergebnisse bilden den Ausgangspunkt der weiteren Untersuchung. In Kapitel 4 erarbeite ich das Interpretationsrepertoire für die Analyse des Diskurses um die Zwischenstadt. Dazu differenziere ich unterschiedliche Vorstellungen von ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘, indem ich jeweils frage, welche Bedeutungen ihnen in den unterschiedlichen weltanschaulichen Kontexten, also im Liberalismus, im Konservatismus, im Demokratismus und in der Romantik, zugeschrieben werden. Als Kriterien der Darstellung dieser Deutungsmuster dienen mir die Ideen von ‚Freiheit‘, ‚Ordnung‘ und ‚Vernunft‘. Ich untersuche also die liberale Wildnisidee nach diesen drei Aspekten, ebenso die liberalen Ideen von ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ und die konservativen, demokratischen und romantischen Deutungsmuster. Aus dieser Darstellung geht eindrücklich hervor, dass sich mit den einzelnen Lesarten ganz unterschiedliche Bedeutungen und Bewertungen verbinden. Wildnis kann beispielsweise, je nach weltanschaulichem Zusammenhang, für Ordnung oder Unordnung stehen; während ‚Unordnung‘ im Konservatismus negativ konnotiert ist, wird in der Romantik die vernunftgeprägte ‚Ordnung‘ zurückgewiesen. In Kapitel 4.1 stelle ich Vorstellungen von ‚Wildnis‘, ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘ aus liberaler Perspektive dar. Ich erkläre zunächst, warum ich mich zur Darstellung des Liberalismus auf Thomas Hobbes beziehe. Es folgen einige Anmerkungen zum Verhältnis von Liberalismus und Demokratismus als Weltanschauungen der Aufklärung. Anschließend charakterisiere ich den Empirismus als erkenntnistheoretische Basis des Liberalismus und

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skizziere den modernen Naturbegriff. Im Liberalismus ist Wildnis (Kapitel 4.1.1) überwiegend negativ konnotiert. Sie wird als kriegerischer Naturzustand bzw. als Chaos, also als Ort der Unordnung, sowie als das NichtVerwertbare, als Sphäre, die sich der Vernunft widersetzt, beschrieben. Sie kann aber auch positiv konnotiert sein; sie symbolisiert dann Freiheit. Kulturlandschaft (Kapitel 4.1.2) ist Symbol des Landlebens. Sie steht einerseits für die Überwindung des kriegerischen Naturzustands und kann als verwertbare Ressource wahrgenommen werden, andererseits wird sie aber wesentlich mit politischer und technischer Rückständigkeit in Verbindung gebracht. Die Stadt (Kapitel 4.1.3) ist aus liberaler Perspektive der symbolische Ort des Gesellschaftszustands, der Ort also, an dem der Naturzustand überwunden und der Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft vollzogen ist. Als solcher kommen ihr ausschließlich positive Bedeutungen zu. In Kapitel 4.2 analysiere ich die drei Lesarten aus der Perspektive der konservativen Weltanschauung. Damit stelle ich den unmittelbaren weltanschaulichen Gegner des Liberalismus dar. Zunächst gehe ich auf den Begriff der Aufklärungskritik ein und charakterisiere eine bestimmte Form des Rationalismus als erkenntnistheoretische Basis konservativen Denkens. Ich erläutere, warum ich mich auf Johann Gottfried Herder und ergänzend auf Wilhelm Heinrich Riehl als „Grammatiker“ (Boltanski & Thévenot) des Konservatismus beziehe und führe dann die Idee der Eigenart als einen zentralen Begriff der konservativen Weltanschauung ein. Mit ‚Wildnis‘ sind aus der Perspektive der konservativen Weltanschauung (Kapitel 4.2.1) überwiegend negative Vorstellungen verbunden: Sie gilt als Sphäre der Triebgebundenheit und verhindert die Vervollkommnung der wahren Natur. Sie kann aber auch positiv konnotiert sein und verbindet sich dann mit Vorstellungen des Paradieses oder Jungbrunnens. Kulturlandschaft ist in konservativer Perspektive (Kapitel 4.2.2) Ausdruck, Ideal und Symbol gelingender kultureller Entwicklung. Sie ist erstens der Ort und die Lebensweise, die kulturelle Vervollkommnung fördert und hervorbringt und dabei ein Höchstmaß an Eigenart realisiert. Sie ist zweitens der Ort der gelungenen, damit immer auch maßvollen, Kulturentwicklung, der Orientierung an Natur, Geschichte und Tradition. Sie wird drittens mit Freiheit verbunden, weil sie Ort der Befreiung von den Zwängen triebhafter Wildnis ist. Die konservative Stadtkritik richtet sich gegen die moderne Großstadt (Kapitel 4.2.3). Die Darstellung anhand der drei Kriterien ‚Vernunft‘, ‚Ordnung‘ und ‚Freiheit‘ zeigt, dass sie ausschließlich mit negativen Vorstellungen verbunden wird: Erstens ist die moderne Großstadt der Ort unvernünftiger, maßloser Kulturentwicklung, was zu einer Verwilderung von Sitten und Moral führt, zweitens entwickelt sie keine Eigenart, sie ist vielmehr Ort universeller Gleichförmigkeit, und wird drittens mit Unfreiheit assoziiert. Vertrauter als der Begriff des Demokratismus mag „Demokratie“ klingen, doch während diese die Herrschaftsform bezeichnet und sich auf die institutionelle Ebene ihrer Durchsetzung bezieht, erfasst „Demokratismus“ die weltanschauliche Ebene, die den Demokratietheorien zugrunde liegt und auf

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die es hier ankommt. Zu Beginn des Kapitels 4.3 erkläre ich, dass und warum ich mich zur Formulierung der demokratischen Weltanschauung auf Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant beziehe und charakterisiere den Demokratismus als eine Variante des sogenannten Dritten Weges im Spektrum moderner politischer Philosophien. Auch aus der Perspektive der demokratischen Weltanschauung überwiegen bei der Wahrnehmung von Wildnis (Kapitel 4.3.1) negative Vorstellungen: Sie wird zwar in der Erhabenheitserfahrung als Medium gewürdigt, das der Bestätigung der Überlegenheit des autonomen und vernünftigen Subjekts gegenüber der Natur dient, jedoch ist sie hier eben nur Mittel zum Zweck. Außerdem ist sie nach wie vor mit Vorstellungen von Unfreiheit und Unordnung assoziiert. In der Aufklärung sind die ländlichen Verhältnisse und ihr Sinnbild, die Kulturlandschaft, idealisiert worden (Kapitel 4.3.2). Auch im Demokratismus gilt die Kulturlandschaft als Sinnbild des goldenen Zeitalters. Trotz dieser Idealisierung des Landlebens ist ‚Kulturlandschaft‘ auch mit Vorstellungen von Rückständigkeit und Unfreiheit assoziiert. Die Stadt kann aus der Perspektive der demokratischen Weltanschauung (Kapitel 4.3.3) für die ideale Lebensweise der Gesellschaft stehen – nicht nur, weil sie Ort des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts ist, sondern auch, weil sie der Ort ist, an dem sich der Mensch als Bürger, als sittlich-politisches Wesen bewährt und entfaltet. Stadt gilt als Sphäre der Ordnung und tugendhafter und gerechter Vernunft sowie als Ort der Emanzipation und Öffentlichkeit. Im letzten Unterkapitel (Kapitel 4.4) stelle ich Bedeutungen der drei Lesarten aus der Perspektive der romantischen Weltanschauung dar. Im Verhältnis zu den drei anderen Weltanschauungen kommt ihr eine gewisse Sonderrolle zu, auf die ich zunächst eingehe. Ihr Weltentwurf ist nämlich dezidiert apolitisch. Diese Sonderrolle wirkt sich auch auf die Vorstellungen vom Verhältnis der Gesellschaft oder vielmehr des Individuums zu Freiheit, Ordnung und Vernunft, zu Natur und Landschaft aus. Daher unterscheiden sich auch die romantischen Vorstellungen von Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt deutlich von den bisher dargestellten. Der Wildnis kommt in der Romantik (Kapitel 4.4.1) eine einzigartige Stellung zu: Sie wird um ihrer selbst willen aufs Höchste geschätzt und nicht mehr nur, wie in den anderen Weltanschauungen, als Mittel zum Zweck geduldet oder gar als Sphäre der Unordnung und Triebhaftigkeit verdammt. Ich lege dar, dass Wildnis erstens als Sphäre der Unabhängigkeit von einer entfremdenden Vernunft, zweitens als Ort einer angenehmen Verwirrung und drittens als Sphäre der Freiheit begriffen wird. Das Verhältnis der Romantiker zu Kulturlandschaft ist, entgegen weit verbreiteter Auffassungen, weder eindeutig noch uneingeschränkt positiv (Kapitel 4.4.2). Kulturlandschaft ist weitgehend, wenn auch nicht ausschließlich, negativ besetzt. Denn sie gilt erstens als der Vernunft unterworfene Sphäre; sie wird zweitens als Ort eines beengenden Stillstands wahrgenommen, und drittens erscheint sie als Sphäre eines ebenso vernünftigen wie banalen Alltags nicht als Gegenstand, der zum Romantisieren einlädt. Das Verhältnis der Romantiker zur Stadt ist zwiespältig (Kapitel 4.4.3).

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Einerseits wird sie, in ihrer Lebendigkeit, ihrer Ungeordnetheit und ihrem phantasmagorischen Charakter durchaus als Ort wahrgenommen, an dem romantische Zukunftsphantasien verwirklicht scheinen, andererseits fühlen sich die Romantiker in der Stadt beengt und entfremdet. Kapitel 5 ist, neben der Darstellung des Interpretationsrepertoires in Kapitel 4, der zweite Hauptteil der Arbeit. In ihm analysiere ich exemplarisch die Diskursposition der Qualifizierer, die die Zwischenstadt als „Wildnis“ wahrnehmen. Dazu untersuche ich verschiedene Entwürfe, Entwurfsbeschreibungen und andere Texte mithilfe der im Interpretationsrepertoire erarbeiteten Deutungsmuster. Ich frage jeweils, welche der in Kapitel 4 identifizierten Vorstellungen von ‚Wildnis‘ in den untersuchten Aussagen auftreten. (Am Rande berücksichtige ich auch Deutungsmuster von ‚Kulturlandschaft‘ und ‚Stadt‘.) In diesem Schritt geschieht also die weltanschauliche Verortung der Aussagen. Denn die in ihnen identifizierten Topoi lassen sich ja dem Liberalismus, dem Konservatismus, dem Demokratismus oder der Romantik zuordnen. In den wenigsten Fällen sind allerdings eindeutige Zuordnungen möglich. Meist enthält eine Passage Motive unterschiedlicher weltanschaulicher Herkunft. Daher richte ich mein besonderes Augenmerk darauf, wie die Topoi aus unterschiedlichen Denkzusammenhängen kombiniert werden. Da die Qualifizierer ihren ersten Zugang zu ihrem Planungsobjekt, der Zwischenstadt, als einen ästhetischen bestimmen, beschäftige ich mich im ersten Unterkapitel (Kapitel 5.1) mit der (An-)Ästhetik der als „Wildnis“ wahrgenommenen Zwischenstadt. Was genau die Qualifizierer unter dem Begriff der Anästhetik, also der bewusstlosen Wahrnehmung der verstädterten Region, verstehen, erläutere ich im ersten Unterkapitel (Kapitel 5.1.1). Im zweiten Unterkapitel (Kapitel 5.1.2) charakterisiere ich die Strategie der gezielten Ästhetik, mit der die Qualifizierer die Anästhetik der Zwischenstadt zu überwinden versuchen. Vier Momente charakterisieren diese Strategie: (1) Es müsse zunächst für die Anästhetik sensibilisiert werden. Es komme also darauf an, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass große Teile unserer alltäglichen Lebenswelt von uns nicht bewusst wahrgenommen würden. Die Qualifizierer fordern (2) eine intensive und vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit dem Ort, die zu einer intimen Ortskenntnis führt. Es ist vor allem die intime Ortskenntnis, die (3) einen neuen Blick ermöglicht. Das zunächst nicht oder nur unbewusst Wahrgenommene verändert sich durch ihn; unvermutete Seiten des Alltäglichen werden enthüllt. Ich stelle die These auf, dass diese urbanistische Strategie im Kern dem romantischen Programm gleicht: So wie in diesem die Wirklichkeit romantisiert und (damit) verzaubert werden soll, so streben auch die Qualifizierer danach, der Realität der Zwischenstadt durch geänderte Sehgewohnheiten eine andere Qualität zu verleihen. Es gibt allerdings eine Reihe von Abweichungen vom klassisch romantischen Programm, auf die ich anschließend eingehe. Exkursartig analysiere ich eine bestimmte, häufig geäußerte Kritik am „neuen Blick“, dass sich nämlich die Qualifizierer zu sehr auf dessen Verände-

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rungskraft ver- und dabei außer Acht ließen, wie desolat die städtebauliche, architektonische und allgemeine Lebensqualität der Zwischenstadt tatsächlich sei. Der letzte Punkt der Strategie der gezielten Ästhetik ist (4), dass der neue Blick durchaus in einem konkreten Gestaltungsvorschlag münden kann. Innerhalb dieser Gestaltungsvorschläge unterscheide ich drei idealtypische Taktiken, die ich als die Taktik der Geschichte, der Exotik und der Aneignung bezeichne (Kapitel 5.1.3). Diese unterschiedlichen ästhetischen Taktiken sind Ausdruck unterschiedlicher weltanschaulicher Kombinationen: Die jeweils dominierende romantische Basis verknüpft sich bei der Ästhetik des geschichtlichen Bezugs primär mit konservativen Elementen, bei derjenigen der Aneignung in erster Linie mit demokratischen Ideen, während die Ästhetik der Exotik idealiter eine rein romantische Taktik ist. Weil ‚Wildnis‘ aber nicht nur ein ästhetischer, sondern auch (und vielleicht sogar in ihrem Kern) ein moralischer Begriff ist, wird im zweiten Unterkapitel (Kapitel 5.2) auf die Zwischenstadt als Wildnis, diese als moralische Kategorie verstanden, eingegangen. Das Kapitel gliedert sich nach Weltanschauungen, die in den analysierten Textstellen als die dominierenden erscheinen. Im ersten Unterkapitel analysiere ich also Passagen, in denen liberale Vorstellungen entweder in Reinform auftreten oder in denen Topoi anderer Weltanschauungen in den dominierenden liberalen Denkzusammenhang integriert sind (Kapitel 5.2.1). Besonders interessant ist hier beispielsweise die Entwicklung eines liberalen Heimatbegriffes bei Oswald und Baccini. Dort wird die Zwischenstadt zu einem heimatlichen Ort, gerade weil sie keine lokalen Besonderheiten mehr aufweise und weil einem die universell verbreiteten Dinge vertraut seien. Hier integriert also die liberale Weltanschauung die konservative Idee der Heimat und universalisiert sie. Im folgenden Unterkapitel (Kapitel 5.2.2) analysiere ich Aussagen von Qualifizierern, in denen sich eine Dominanz konservativer Vorstellungen abzeichnet. In einer für diese Grundhaltung typischen Kombination wird das demokratische Motiv der Kritik an der wildwuchernden Interessenorientierung in die konservative Argumentation integriert, dass eben diese Orientierung verhindere, dass sich die Zwischenstadt gemäß ihrer wahren Natur vervollkommne. Kritik am Kapitalismus dient hier also als integrierendes Moment für konservative und demokratische Motive. Passagen, in denen demokratische Ansichten dominieren, werden in Kapitel 5.2.3 behandelt. Eine den Diskurs stark prägende Variante der klassisch demokratischen Weltanschauung kann als basisdemokratisch-anarchistische Variante bezeichnet werden. Sie kombiniert typischerweise Kritik am Konservatismus mit der Kritik an der primär auf den Staat setzenden Version von Demokratie (Extremform: Staatssozialismus); beides gilt ihr als „traditionell“ und „zentralistisch“. Keinesfalls randständig prägen auch romantische Motive die Haltung der Qualifizierer (Kapitel 5.2.4). Sie treten zwar nur selten in Reinform auf, sondern meist in Verbindung mit anderen Weltanschauungen. Sie scheinen durch eine gewisse Beklemmung angesichts der banal und öde erscheinenden Lebenssituation in der Zwischenstadt motiviert zu sein. Das

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Romantische wird also von den Qualifizierern als Ausweg aus der Alltagstristesse der Zwischenstadt gesehen. Im sechsten Kapitel stelle ich zunächst die wichtigsten Ergebnisse der Arbeit dar, indem ich auf die Leitfrage der Arbeit zurückkomme (Kapitel 6.1). Das vielleicht bemerkenswerteste Ergebnis ist, dass in den Aussagen der Qualifizierer Topoi aus allen vier Weltanschauungen auftreten. Zwar ist weltanschauliche Heterogenität nicht unerwartet, es überrascht aber doch, dass tatsächliche alle vier Weltanschauungen Einfluss auf die Formulierung aktueller Auffassungen nehmen. Ich deute diese weltanschauliche Heterogenität der Qualifizierer als Offenheit, hebe aber auch hervor, dass darin eine Ursache für positionsinterne Konflikte liegt. Besonderes Augenmerk sollte bei der Analyse der Aussagen der Qualifizierer, die die Zwischenstadt als „Wildnis“ deuten, auf die in ihnen auftretenden Verbindungen von Denkmustern unterschiedlicher weltanschaulicher Herkunft gerichtet werden. Dabei wird deutlich, dass sich bestimmte Mechanismen der Integration und Kombination wiederholen. Ich systematisiere sie in einem Typisierungsvorschlag der gefundenen Kombinationsvarianten. Ich unterscheide vier Typen: (1) echte Umdeutungen, (2) Zweckbündnisse, (3) eklektizistische Sammlungen von Argumenten und (4) Sympathiebekundungen für den Gegner. Ich schließe das Fazit mit einigen Anmerkungen zur Vieldeutigkeit der metaphorischen Lesart „Wildnis“ und zur Methode, die in der Arbeit entwickelt und erprobt wurde. Im abschließenden Ausblick (Kapitel 6.2) gehe ich zunächst auf die Aktualität des von mir entwickelten Interpretationsrepertoires ein. Ich deute dann Fragen methodischer Art an, die aus der Betrachtung der spezifischen Aussageform des Entwurfes in der Diskursanalyse erwachsen. Es wäre zu überlegen, ob nicht die diskursanalytische Kritik von Entwürfen eine mögliche Antwort auf das beklagte Theoriedefizit in Disziplinen wie der Landschaftsarchitektur sein könnte. Abschließend gehe ich auf mögliche Antworten auf die Frage ein, welchen Beitrag eine Diskursanalyse für die gestalterische und planerische Praxis leisten kann.

8. Verzeichnisse

Wiedergabe der Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Rechtsinhaber. Das Copyright liegt bei den Fotografen/Inhabern der Bildrechte. Alle Rechte vorbehalten. Trotz intensiver Bemühungen konnten nicht alle Rechtsinhaber ermittelt werden. Für etwaige Rechtsansprüche wenden Sie sich bitte an die Autorin.

8.1 ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: Der Diskurs über die Zwischenstadt – Lesarten und Grundhaltungen, eigene Abbildung. Abbildung 2: Der Diskurs über die Zwischenstadt und die Weltanschauungen, eigene Abbildung. Abbildung 3: Historische Orte in der Zwischenstadt, Bölling 2007: 242, Ausschnitt einer Darstellung von Lars Bölling, verändert. Abbildung 4: Historische Orte als „Identitätskerne“, Bölling 2007: 243, Ausschnitte einer Darstellung von Lars Bölling, verändert. Abbildung 5: „Landschaft entsteht neu – durch Stadt“, Bormann et al. 2005: 143, Darstellung von Büro Z, Zürich; process yellow, Berlin & lad+ Landschaftsarchitektur Diekmann, Hannover. Abbildung 6: Landschaft wird hergestellt, Bormann et al. 2005: 143, Darstellung von Büro Z, Zürich; process yellow, Berlin & lad+ Landschaftsarchitektur Diekmann, Hannover. Abbildung 7: Prozesshaftes Siedlungswachstum, URL: http://yellowz.net/ projekte/2003/olten/ [Zugriff am 22.02.2010], Darstellung von yellow z; lad+ Landschaftsarchitektur Diekmann, Hannover & bpr Bernd F. Künne & Partner, Hannover. Abbildung 8: Der Main Creek in der Dämmerung, URL: http://www.nyc. gov/html/dcp/pdf/fkl/fied12.pdf [Zugriff am 22.02.2010], mit freundlicher Genehmigung der Stadt New York, alle Rechte vorbehalten. Abbildung 9: Ein junger Reiher am Main Creek. URL: http://www.nyc. gov/html/dcp/pdf/fkl/fied12.pdf [Zugriff am 22.02.2010], mit freundlicher Genehmigung der Stadt New York, alle Rechte vorbehalten.

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Abbildung 10: Freiräume im „dörflichen Geflecht“ als Prärie URL: http:// www.neueraeume.de/projekte/Labyrinth_und_Praerie.pdf [Zugriff am 22.02.2010], Darstellung von Boris Sieverts. Abbildung 11: Ein Wohnhaus der Siedlung am Heckpfad, Sieverts 2003a: 220, Bild 2. Abbildung 12: Grundriss eines Wohnhauses der Siedlung am Heckpfad, 2003a: 220, Bild 3. Abbildung 13: Die Stelenreihe durch Dietzenbach, Bernhardt et al. 2003: 70, Abb. 29, Ausschnitt einer Darstellung von Barbara Boczek, Büro Topos. Abbildung 14: Die Stelenreihe in Dietzenbach, Bernhardt et al. 2003: 91, Abb. 47, Foto von Barbara Boczek, Büro Topos. Abbildung 15: Bürger bei der Entnahme und Versetzung der Stelen, Bernhardt et al. 2003: 95, Abb. 51. Ausschnitt einer Bildcollage von Barbara Boczek, Büro Topos. Abbildung 16: Tobias Zielony Tankstelle, Bormann et al. 2005: 63, Ausschnitt eines Fotos von Tobias Zielony. Abbildung 17: Skater in der Zwischenstadt, Bormann et al. 2005: 64, Wiedergabe einer Darstellung mit Fotos aus: Monster Skateboard Magazine 03/2002: 49, 66 f.

8.2 T ABELLENVERZEICHNIS Tabelle 1: Die Diskurspositionen, eigene Darstellung. Tabelle 2: Vorstellungen von Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt aus der Perspektive der liberalen Weltanschauung, eigene Darstellung. Tabelle 3: Vorstellungen von Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt aus der Perspektive der konservativen Weltanschauung, eigene Darstellung. Tabelle 4: Vorstellungen von Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt aus der Perspektive der demokratischen Weltanschauung, eigene Darstellung. Tabelle 5: Vorstellungen von Wildnis, Kulturlandschaft und Stadt aus der Perspektive der romantischen Weltanschauung, eigene Darstellung.

8.3 L ITERATURVERZEICHNIS Adam, Armin (1999/2002): Despotie der Vernunft? Hobbes, Rousseau, Kant, Hegel. Verlag Karl Alber, Freibug – München. Albertsen, Niels (2005): From Calvin to Spinoza. The New Spirit of Capitalism. – Distinktion (11): 67-81. Althusser, Louis (1966): Über Jean-Jacques Rousseaus „Gesellschaftsvertrag“. Die Verschiebungen. In: Althusser, Louis (Hrsg.): Machiavelli, Montesquieu, Rousseau. Zur politischen Philosophie der Neuzeit. Mit

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Thomas Dörfler Gentrification in Prenzlauer Berg? Milieuwandel eines Berliner Sozialraums seit 1989 2010, 336 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1295-0

Florentina Hausknotz Stadt denken Über die Praxis der Freiheit im urbanen Zeitalter August 2011, 366 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1846-4

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Urban Studies Michael Müller Kultur der Stadt Essays für eine Politik der Architektur 2010, 240 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1507-4

Julia Reinecke Street-Art Eine Subkultur zwischen Kunst und Kommerz (2. Auflage) Juli 2011, 194 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 23,80 €, ISBN 978-3-89942-759-2

Carsten Ruhl (Hg.) Mythos Monument Urbane Strategien in Architektur und Kunst seit 1945 Mai 2011, 320 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1527-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Urban Studies Uwe Altrock, Grischa Bertram (Hg.) Wer entwickelt die Stadt? Geschichte und Gegenwart lokaler Governance. Akteure – Strategien – Strukturen September 2011, 330 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1752-8

Peter Dirksmeier Urbanität als Habitus Zur Sozialgeographie städtischen Lebens auf dem Land 2009, 296 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1127-4

Christine Dissmann Die Gestaltung der Leere Zum Umgang mit einer neuen städtischen Wirklichkeit 2010, 248 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1539-5

Monika Grubbauer Die vorgestellte Stadt Globale Büroarchitektur, Stadtmarketing und politischer Wandel in Wien März 2011, 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1475-6

Piotr Kuroczynski Die Medialisierung der Stadt Analoge und digitale Stadtführer zur Stadt Breslau nach 1945 September 2011, ca. 320 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1805-1

Bastian Lange, Ares Kalandides, Birgit Stöber, Inga Wellmann (Hg.) Governance der Kreativwirtschaft Diagnosen und Handlungsoptionen 2009, 344 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-996-1

Guido Lauen Stadt und Kontrolle Der Diskurs um Sicherheit und Sauberkeit in den Innenstädten Oktober 2011, ca. 532 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1865-5

Annika Mattissek Die neoliberale Stadt Diskursive Repräsentationen im Stadtmarketing deutscher Großstädte 2008, 298 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1096-3

Stefan Kurath Stadtlandschaften Entwerfen Grenzen und Chancen der Stadtplanung im Spiegel der städtebaulichen Praxis

Thomas Pohl Entgrenzte Stadt Räumliche Fragmentierung und zeitliche Flexibilisierung in der Spätmoderne

November 2011, ca. 652 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 45,80 €, ISBN 978-3-8376-1823-5

2009, 394 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1118-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de