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German Pages 234 Year 1997
Der Wirtschaftsstandort Deutschland
SCHRIFTENREIHE DER GESELLSCHAFT FÜR DEUTSCHLANDFORSCHUNG BAND 53
Der Wirtschaftsstandort Deutschland lIerausgegeben von
Karl Eckart Spiridon Paraskewopoulos
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Der Wirtschaftsstandort Deutschland / hrsg. von Kar! Eckart und Spiridon Paraskewopoulos. - Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung ; Bd. 53) ISBN 3-428-09178-7
Alle Rechte vorbehalten © 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Ber!in Printed in Germany ISSN 0935-5774 ISBN 3-428-09178-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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INHALT Vorwort ................................................................................................................ 7 Gernot Gutmann Der Wirtschaftsstandort Bundresrepublik Deutschland Ende der achtziger Jahre ................................................................................................................. 9 Wem er Klein Die wirtschaftliche Bedeutung der DDR Ende der achtziger Jahre ............... 27 Fred Klinger Folgen der Wiedervereinigung für den Wirtschafts standort Deutschland ..... 51 Klaus Krakat Die Folgen des wirtschaftlichen Umbaus in den neuen Bundesländern für den Wirtschaftsstandort Berlin ....................................................................... 83 Anton Sterbling Der soziale Umbau in den osteuropäischen Transformationsländern und seine Auswirkungen auf den Wirtschaftsstandort Deutschland ................... 137 Eckhardt Wohlers Ökonomische Auswirkungen der Transformationsprozesse in Mittel- und üsteuropa auf die Bundesrepublik Deutschland .......................................... 159 Alexander Barthel Die Auswirkungen der G lobalisierung auf den Standort Deutschland ......... 181 Christoph Kreienbaum Der Wirtschaftsstandort Deutschland im Rahmen weltweiter ökologischer Umwandlungsprozesse ................................................................................. 215 Verfasser und Herausgeber .............................................................................. 235
VORWORT Der vorliegende Sammelband ist das Ergebnis der 18. Wissenschaftlichen Jahrestagung der Gesellschaft fiir Deutschlandforschung, die am 7. und 8. März 1996 an der Humboldt-Universität zu Berlin stattfand. Unter der wissenschaftlichen Leitung des Vorsitzenden der GfD, Prof Dr. Karl Eckart (Universität Duisburg), wurden von fachlich ausgewiesenen Referenten unterschiedliche Aspekte zum Tagungsthema "Der Wirtschaftsstandort Deutschland" behandelt. Seit einigen Jahren wird in Deutschland über das Thema "Wirtschaftsstandort" diskutiert. Die Beschäftigung mit dieser Thematik ist nach wie vor von großer Aktualität und Brisanz. Gerade nach den umwälzenden Veränderungen mit der deutschen Vereinigung, dem Zusammenbruch Osteuropas und der zunehmenden Globalisierung der Wirtschaft ist es notwendig, über Attraktivität des Wirtschaftsstandortes Deutschland nachzudenken. Denn nur ein attraktiver Wirtschaftsstandort hat Überlebenschancen. Die Attraktivität eines Raumes muß jedoch im Urteil potentieller Investoren vorhanden sein. Wenn ein Unternehmen investiert, muß es dort auch wettbewerbsfähig sein. Es sind zur makroökonomischen Bewertung einer Region der Wettbewerbsfähigkeit mehrere Kriterien notwendig, die in der Standorttheorie und Wachstumstheorie Berücksichtigung fmden. Sie basieren auf in Wechselbeziehung stehenden Faktoren, und vor allem auf •
der Attraktivität der Faktorausstattung des betrachteten Landes (insbesondere Humankapital),
•
den Nachfragebedingungen auf dem heimischen Markt,
•
dem Fehlen oder Vorhanden sein von komplementären Betrieben fiir innovative Unternehmungen und
•
der Existenz oder dem Fehlen eines wettbewerbsfreundlichen Umfeldes.
Die Erfassung dieser Faktorenkomplexe kann eine Gesamtbewertung eines Raumes ermöglichen und umfassende Aussagen über einen Wirtschaftsstandort machen.
In allen Referaten werden diese Faktorenkomplexe immer wieder angesprochen. Zunächst wird der "Wirtschaftsstandort Bundesrepublik Deutschland Ende der achtziger Jahre" behandelt. Um die besondere Situation in der DDR zu erfassen, folgen Ausfiihrungen über "Die wirtschaftliche Bedeutung der DDR Ende der achtziger Jahre". Mit den "Folgen der Wiedervereinigung fiir den Wirtschaftsstandort Deutschland" und den "Folgen des wirtschaft;ichen Umbaus in den neuen Bundesländern fiir den Wirtschaftsstandort Berlin" werden zwei aktuelle und noch in der Entwicklung befmdliche Prozesse vorgestellt.
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Vorwort
Um herauszustellen, daß die Attraktivität eines Wirtschaftsstandortes nicht nur unter ökonomischen Aspekten zu betrachten ist, werden Ausführungen mit dem Thema "Der soziale Umbau in den osteuropäischen Transformationsländern und die Auswirkungen auf den Wirtschaftsstandort Deutschland" gemacht. Mit den "Ökonomische(n) Auswirkungen der Transformationsprozesse in Mittel- und Osteuropa auf die Bundesrepublik Deutschland" befaßt sich ein weiterer Beitrag. Schließlich werden auch noch "zunehmende Globalisierung und weltweite ökologische Umwandlungsprozesse in ihren Auswirkungen auf den Wirtschaftsstandort Deutschland" untersucht. Karl Eckart Spiridon Paraskewopoulus
Gernot Gutmann DER WIRTSCHAFTSSTANDORT BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND ENDE DER ACHTZIGER JAHRE
I.
1. Wenn von der Qualität eines Wirtschaftsstandorts die Rede ist, dann geht es um die Frage, ob und in welchem Umfang die Unternehmungen einer Region A auf jenen Märkten, auf denen sie ihre Produkte anbieten, wettbewerbsfähig sind oder nicht, aber auch darum, ob diese Region im Urteil potentieller Investoren, die ihren Sitz außerhalb haben, attraktiv genug erscheint, Kapital nach A zu transferieren, um es dort zu investieren und ob die in A bereits angesiedelten Unternehmen und potentiellen Investoren nicht der Auffassung sind, es sei ökonomisch sinnvoller, ganze Unternehmen oder Unternehmensteile hier zu schließen und statt dessen dort zu investieren. Es geht also um die Wettbewerbsfähigkeit der betrachteten Region auf Produkt- und Faktormärkten, wobei es freilich innere Zusammenhänge gibt: Eine Region, deren Unternehmen auf den Produktmärkten nicht wettbewerbsfähig sind, wird auch schwerlich auf den Märkten für Kapital und Arbeitskräfte Wettbewerbsvorteile vor anderen Standorten haben. Wenn also in dem mir aufgetragenen Thema über den Wirtschaftsstandort der Bundesrepublik Deutschland am Ende der achtziger Jahre referiert werden soll, dann geht es dabei darum, die Wettbewerbsfähigkeit Westdeutschlands zum Ausgang des vergangenen Jahrzehnts zu beurteilen. 2. Dem stellt sich freilich eine grundsätzliche Schwierigkeit entgegen. Da in einer Region oder in einem Land - wenn dieses nicht gerade extrem monostrukturiert ist üblicherweise Unternehmungen ganz unterschiedlicher Branchen angesiedelt sind, mag es solche geben, die an ihren Produkt- und Faktormärkten eine gute Position haben, wohingegen dies fiir andere Unternehmen ganz und gar nicht zutrifft. Will man die Wettbewerbsfähigkeit aber nicht in diesem Sinne mikroökonomisch diskutieren, bedarf es einer oder mehrerer Maßgrößen, aus denen sich eine Gesamtbeurteilung der Region oder des Landes ableiten läßt. Soweit es sich um die internationale Wettbewerbsfähigkeit ganzer Länder handelt, glaubt man häufig, als Maßgröße fiir die Beurteilung den Saldo der Leistungsbi/anz heranziehen zu können. Dabei geht man von der Überlegung aus, daß ein Land, dessen Unternehmungen auf den Weltmärkten mehr an Exporterlösen erzielen als sie
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andererseits fur den Import von Waren und Dienstleistungen bezahlen müssen, sehr wohl international wettbewerbsfähig ist. Legt man der Standortbeurteilung dieses Kriterium zugrunde, dann erwies sich die westliche Bundesrepublik Deutschland in den achtziger Jahren als außerordentlich wettbewerbsfähig, denn der positive Leistungsbilanzsaldo stieg zwischen 1985 und 1989 von 48 Mrd. DM auf 104 Mrd. DM an, und er belief sich im Durchschnitt dieser funf Jahre auf über 6% des gesamten Außenhandelsumsatzes der Bundesrepublik Deutschland. Erst mit der Wiedervereinigung wurde der Leistungsbilanzsaldo negativ. Er belief sich 1993 auf -32,2 Mrd. DM.' Da aber ein positiver Leistungsbilanzüberschuß - er dokumentiert ja, daß mehr Güter vom Inland in das Ausland gehen als umgekehrt - auch Ausdruck der Tatsache ist, daß die inländische Ersparnis größer ist als die inländische Investition, daß man es also mit einem Nettokapitalexport zu tun hat, wird - unter saldenmechanischem Aspekt - oft auch bedauernd die Frage gestellt, warum nicht mehr Sparkapital im Inland Anlage gefunden hat.
3. Freilich ist bei solcher Argumentation Vorsicht geboten. Während mit Blick auf die internationalen Güterströme das Land mit einem Leistungsbilanzüberschuß Standortvorteile aufweist, soll es hier bei der Betrachtung der Kapitalströme merkwürdigerweise geradezu umgekehrt sein. Ein hoher Kapitalexport muß aber nicht notwendig eine Investitionsschwäche im betreffenden Land signalisieren, es kann sich genauso gut um eine "Konsumschwäche" handeln, denn wenn ein Land bei hohen Einnahmen aus seinem Wirtschaftsverkehr mit der Außenwelt Einnahmenüberschüsse bildet, dann liegt die Vermutung nahe, daß es nicht genügend Anreize gibt, um von dem in der Außenwelt erwirtschafteten Einkommen mehr zu konsumieren und zu investieren bzw., daß z.B. die "reale Rendite von Finanzanlagen bei seinem Wohlstandsniveau zu hoch ist, um mehr Konsum oder Investitionen attraktiv zu machen.,,2 Die wissenschaftliche Diskussion um Standortfragen konzentriert sich heute jedoch nicht mehr auf den Leistungsbilanzsaldo als alleiniger Maßgröße fur die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes, sondern man bedient sich mehrfacher Indikatoren. 4. So arbeitete das Ifo-Institut in einer Analyse vom Oktober 1988 mit insgesamt 21 Indikatoren,3 der Sachverständigenrat hingegen zunächst mit vier und anschließend mit weiteren sechs. 4 Auch nehmen gleiche oder ähnliche Indikatoren in verIygl. Statistisches Jahrbuch flir die Bundesrepublik Deutschland 1995, S. 690. 2Flassbeck, Heiner: Die Standortqualität der Bundesrepublik Deutschland. In: Konjunkturpolitik, 34. Jg, Heft 5/6, 1988, S. 255 ff., hier: S. 263. lYgl. Ifo-Institut filr Wirtschaftsforschung: Standort Bundesrepublik Deutschland - Ergebnisse einer Umfrage der deutschen Metallindustrie. In: Ifo-Schnelldienst, 21. Okt. 1988, 41. Jg., S. I ff., hier: S. I. 'Ygl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Arbeitsplätze im Wettbewerb, Jahresgutachten 1988/89, Stuttgart und Mainz 1988, S. 109 ff..
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schiedenen Publikationen einen sehr unterschiedlichen Erklärungs- und Stellenwert ein. Beispielsweise stehen in der gerade erwähnten Ifo-Untersuchung die Stückkosten, beim Sachverständigenrat hingegen das Wirtschaftswachstum, an erster Stelle. Lohnstückkosten werden beim Sachverständigenrat vergleichsweise nachrangig behandelt. Der von ihm an erster Stelle genannte Indikator "Wirtschaftswachstum" kommt demgegenüber bei Ifo überhaupt nicht vor. 5 Man hat es also hier mit den auch aus der Theorie des wirtschaftlichen Systemvergleichs bekannten Problemen der Merkmalsauswahl, der sinnvollen Defmition der Merkmale und der Gewichtung der Einzelmerkmale bei der Gesamtbeurteilung zu tun. Ich gehe im folgenden von der modemen Standorttheorie, insbesondere von Michael Porter aus, der in seinem Werk "The Competitive Advantage of Nations" (1990) vier die Standortqualität bestimmende Faktoren benennt, die jedoch miteinander in Wechselbeziehung stehen. Es sind dies •
die Attraktivität der Faktorausstattung des betrachteten Landes,
•
die Nachfragebedingungen auf dem heimischen Markt,
•
das Vorhandensein oder das Fehlen von komplementären und unterstützenden Betrieben für innovative Unternehmungen, sowie
•
das Vorhandensein oder das Fehlen eines wettbewerbsfreundlichen Umfelds.
Jedoch gibt es zwischen diesen Gegebenheiten - wie schon gesagt - Wechselbeziehungen. Wenn man nämlich jene Einflußfaktoren mit in die Betrachtung einbezieht, weIche diese vier die Standortqualität bestimmenden Umstände ihrerseits determinieren, dann zeigt sich ein komplexes Gefüge von sich gegenseitig bedingenden Tatsachen, und die Ursache-Wirkungszusammenhänge sind keineswegs immer eindeutig. Das bringt es auch mit sich, daß viele der als Indikatoren benutzten Umstände einerseits Standortvorteile und andererseits Standortnachteile bewirken, ein Saldo aber schwerlich quantifiziert werden kann. Man wird wohl mit Zeppernick sagen dürfen: "Die Schwierigkeiten bei der Messung der Standortqualität dürften wegen der ... Probleme der Auswahl, Gewichtung und Aussagefähigkeit einzelner Indikatoren auch in Zukunft durch noch so verfeinerte Analysen nicht beseitigt werden können. Damit wird man auch weiterhin auf eine qualitative Analyse auf der Basis eines ganzen Sets von Indikatoren zurückgreifen müssen, um möglichst gesicherte Aussagen zu erhalten.,,6 Ich möchte noch hinzufügen: Infolge der interdependenz vieler dieser Indikatoren verwundert es nicht, daß leicht der eine Wissenschaftler diese oder jene Gr,'\ße als Ursache für die Standortqualität ansieht, wogegen ein anderer dieselbe Größe als Ergebnis einer bestimmten Standortqualität interpretiert. Dennoch will ich mich versuchsweise auf das Abenteuer einlassen, vor das mich die 5 YgL
Zeppemick, Ralf: Die Diskussion um die Standortqualität der Bundesrepublik Deutschland, In: Wirtschaftsdienst, 70, Jg" 1990/1, S. 51 ff" hier: S. 52. 6Zeppemick, Ralf: a.a.O., S, 56,
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mir aufgegebene Thematik stellt und dies in der Gewißheit, dabei permanent angreifbar zu sein. 11.
1. Ein wichtiger Umstand, der nach Porter die Wettbewerbsfiihigkeit eines Standorts mitbestimmt, ist - wie gesagt - dessen Faktorausstattung. Dieser Gedanke spielt bekanntlich schon in der traditionellen Außenhandelstheorie eine wichtige Rolle. Im Rahmen einer Gleichgewichtsanalyse führten Heckseher und Ohlin in Geld gemessene komparative Kostenunterschiede in den miteinander Außenhandel treibenden Staaten nicht nur auf Unterschiede der Nachfragebedingungen in den beteiligten Ländern zurück, sondern auch auf Verschiedenartigkeiten in der relativen Faktorausstattung. Das bekannte Faktorproportionentheorem besagt ja, daß ein Land A die Produktion jenes Gutes X zugunsten von dessen Import einschränkt, dessen Erzeugung intensiv in dem Faktor mit der in Relation zum Ausland größeren Knappheit ist, wogegen es die Erzeugung jenes anderen Gutes ausweitet und es exportiert, dessen Herstellung intensiv im relativ weniger knappen Faktor ist. Im Partnerland B geschieht das gleiche, nur sind die Güter X und Y in der umgekehrten Weise betroffen.? - Jedoch kommt es bei Porter weniger auf die quantitative relative Faktorausstattung an als vielmehr auf die Qualität der Faktoren und insbesondere auf die Möglichkeit, das vorhandene Angebot an Arbeit laufend an die sich ständig verändernden Bedürfnisse technologisch führender Unternehmen anzupassen. - Geht man der Frage nach, welche Umstände auf die Qualität der Faktorausstattung und Faktornutzung in der Bundesrepublik Deutschland in den achtziger Jahren einwirkten, dann wird folgendes erkennbar. 2. Bekanntlich war und ist die Bundesrepublik Deutschland ein rohstoffarmes Land und so gesehen mit dem Faktor Natur quantitativ nur begrenzt ausgestattet. Jedoch wird die Qualität dieses Faktors erheblich mitbestimmt durch das Ausmaß der Umweltschutzmaßnahmen, die entweder der Staat oder die Unternehmungen finanzieren, was dann zu entsprechenden Kostenbelastungen der Betriebe führen muß. Umweltschutzmaßnahmen sind daher für die Standortqualität ambivalent. Einerseits erhalten oder verbessern sie die Qualität des Produktionsfaktors Natur und erbringen daher Standortvorteile, andererseits können die damit verbundenen Kosten zu Standortnachteilen führen. Ob und inwieweit zwischen den Vorteilen der Erhaltung und Verbesserung der Qualität der Umwelt durch entsprechende Schutzmaßnahmen einerseits und den dabei fiir die Unternehmungen andererseits entstehenden Kosten per Saldo ein 7yg l.
Schumann, Jochen: Artikel: Außenhandel, 1\1: Wohlfahrtseffekte. In: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft (HdWW), Bd. I, Stuttgart und New York, TUbingen, Göttingen und Zürich 1977, S. 403 ff., hier: S. 408 f ..
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Standortvorteil oder -nachteil resultiert, hängt nicht zuletzt von den konkreten Regeln des Umweltschutzes ab. In der Bundesrepublik Deutschland versucht man schon längere Zeit, das Verursacherprinzip anzuwenden und zu erreichen, daß die Schäden verursachenden Unternehmungen so mit Kosten belastet werden, daß es sich fiir sie lohnt, selbst Kosten aufzuwenden, um Schadensvermeidung zu erreichen. Ob und inwieweit diese Zielsetzung verwirklicht werden kann, hängt vom ordnungspolitischen Rahmen ab, also von der Umweltgesetzgebung und deren Konsequenz im Vollzug der Auflagen. "Die vielzitierten Verzerrungen im Standortwettbewerb resultieren in hohem Maße aus der Ausgestaltung dieser Regelungen, das heißt, in welchem Umfang der volkswirtschaftliche Aufwand rur Umweltschutzmaßnahmen sich in der Kostenrechnung der Unternehmen niederschlägt.IOs OECD-Statistiken zeigen - bei aller Problematik, die solche Vergleichsstatistiken aufweisen mögen -, daß die Anteile der Umweltschutzausgaben am nominalen Bruttosozialprodukt - verstanden als Investitionen und laufende Ausgaben des Staates hierfiir sowie Investitionen des produzierenden Gewerbes - in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1988 mit 1,07% hinter den Niederlanden mit 1,34% und Kanada mit 1,11 % an dritter Stelle lagen. Bei allen übrigen von der Statistik erfaßten OECD-Ländern lag die Belastungsquote durch Umweltschutzausgaben unter 1%. Da aber der Anteil der Investitionsausgaben des produzierenden Gewerbes in den genannten Ländern höchst unterschiedlich hoch war, ergab es sich, daß die Umweltschutz-Kostenbelastung der Wirtschaft selbst in Westdeutsch land in dem genannten Jahr 1988 mit 0,39% des Bruttosozialprodukts die Position des Spitzenreiters belegte. Bei allen übrigen genannten Ländern lag sie darunter. Da die Umweltschutzausgaben im späteren Jahr 1991 bei 1,7% des Bruttosozialprodukts anlangten - in den USA bei 1,4% und in Japan bei 1% _,9 kann man wohl sagen, daß der Standort Deutschland sicherlich mit hohen Umweltschutzkosten belastet war und ist. Jedoch fiihrte das andererseits auch dazu, daß sich Westdeutschland in der Umwelttechnologie eine fiihrende Position verschaffen konnte, mit entsprechenden Chancen auf den einschlägigen internationalen Märkten. Es ist wohl kaum möglich, eine eindeutige und belegbare Antwort auf die Frage zu fmden, ob per Saldo aus den Umweltschutzmaßnahmen langfristig Standortvorteile oder Standortnachteile erwachsen. Daß natürlich Umweltschutz eine Steigerung der allgemeinen Lebensqualität bewirkt, ist hiervon unberührt. 3. Die Qualität des Produktionsfaktors Arbeit, insbesondere das sogenannte Humankapital, dokumentiert sich unter anderem im Stand der Ausbildung der arbeitenden Menschen, in deren Erfahrung, Arbeitsmotivation, Kooperationsbereitschaft, 8Joas, August; Saur, Ellen: Trendwende über strukturelle Anpassungen. Volkswirtschaftliche Standortfaktoren in Deutschland: Ressourcenqualität und -kosten als Determinanten der Wettbewerbsfllhigkeit. In: Dynamik im Handel, 37. Jg., 1993, S. 75 ff., hier: S. 77. 9Vg l. ebenda.
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Lemfähigkeit und Zuverlässigkeit, wobei diese Umstände wiederum von der bestehenden Wirtschaftsordnung, aber auch vom bestehenden Bildungs- und Ausbildungssystem beeinflußt werden. Hans K. Schneider weist sicherlich zu Recht darauf hin, daß die Arbeitskräfte der Bundesrepublik Deutschland in den achtziger Jahren infolge ihres Ausbildungsstandes und des bestehenden Ausbildungssystems vor allem die Fähigkeit besaßen, neue Technologien und Lösungen in bestehende Verfahren und Produkte zu inkorporieren. Dies galt vor allem fiir die Ingenieure und Facharbeiter im Maschinenbau, aber auch fiir andere Bereiche der westdeutschen Industrie, z.B. fiir den Automobilbau. 1O Offenbar fehlte dem Humankapital jedoch vielfach die Qualität, im High-TechBereich an der Spitze zu stehen. In den Berichten des BMFT wird bei den forschungs- und entwicklungsintensiven Gütern differenziert nach •
Gütern der höherwertigen Technologie, bei denen der ForschungsaufWand zwischen 3,5 und 8,5% des Umsatzes liegt und
•
Gütern der Spitzentechnologie mit einem ForschungsaufWand von mehr als 8,5% des Umsatzes.
Die auf dieser defmitorischen Grundlage ermittelten Werte weisen zum Ende der achtziger Jahre erhebliche Schwächen der westdeutscheri Wirtschaft in der Spitzentechnologie auf, jedenfalls dann, wenn man mit Japan und den USA vergleicht. Anfang der neunziger Jahre exportierte die Bundesrepublik Deutschland zwar doppelt so viele forschungs- und entwicklungsintensive Produkte als sie importierte. Der Export-Import-Index belief sich auf 220%. In der Spitzentechnologie jedoch betrug er nur 126%, dagegen in der höherwertigen Technologie 248%. Das deutet darauf hin, daß die Bundesrepublik Deutschland in manchen Bereichen - wie es einmal formuliert wurde - zum "Weltmeister in der vergangenen Technologie-Generation" geworden ist, jedoch bei der Gentechnik, bei Halbleitern und Computern und bei der modemen Medizintechnik nur noch eine nachgeordnete Rolle spielt. Auch eine Strukturberichterstattung der Wirtschaftsforschungsinstitute beschäftigte sich mit der Frage, wie die Bundesrepublik Deutschland in den achtziger Jahren im High-TechBereich im Vergleich zu anderen Ländern abschnitt, und zwar gemessen an den Ausfuhr-fEinfuhrrelationen, den Koeffizienten der "revealed comparative advantages" (RCA). Die RCA-KoeffIzienten drücken aus, ob eine Volkswirtschaft bei der betrachteten Gütergruppe einen über- oder unterdurchschnittlichen Nettoexport bzw. Nettoimport im Vergleich zum gesamten Nettoexport bzw. Nettoimport aufWeist. Positive RCA-Werte zeigen komparative Wettbewerbsvorteile und negative RCAWerte zeigen komparative Nachteile an. Das Ergebnis der genannten BerichterstatlO ygl. Schneider, Hans-Karl: Die Bundesrepublik im internationalen Wettbewerb: Thesen und Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaf\. In: Dierkes, Meinolf; Zimmermann, Klaus (Hg.); Wirtschaftsstandort Bundesrepublik. Leistungsfllhigkeit und Zukunftsperspektiven, Frankfurt, New York 1990, S. 69 ff., hier: S. 72.
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tung war die Feststellung, daß die Bundesrepublik Deutschland schon damals schlecht abgeschnitten hatte, insbesondere im Vergleich zu Japan und den USA. Die RCA-Werte hatten sich während der achtziger Jahre überall im High-Tech-Bereich verschlechtert, ausgenommen bei Feinmechanik und Optik. I I Eine Langfristuntersuchung des Instituts fiir Wirtschaft und Gesellschaft in Bonn zeigt,12 daß die RCAWerte gerade bei den humankapitalintensiven Produktgruppen schon während des gesamten Zeitraums der achtziger Jahre einen fallenden Trend aufweisen. Es wurden dabei vier Gütergruppen analysiert: •
Die Gruppe 1 umfaßte naturintensive Produkte wie Rohstoffe, Nahrungsmittel und Genußmittel. Hier waren die RCA-Werte seit Beginn der siebziger Jahre permanent negativ mit leicht ansteigendem Trend.
•
Zur Gruppe 2 zählten standardisierte Massenerzeugnisse wie Güter der Branche Textil, Bekleidung, Holz, Leder, Keramik, Waschmittel, chemische Düngemittel u.a .. Die RCA-Werte schwankten hier leicht um die Nullmarke.
•
In der Gruppe 3 wurden solche Güter erfaßt, die wie Erzeugnisse der elektronischen Datenverarbeitung, der Unterhaltungselektronik und der Telekommunikationstechnik sehr humankapitalintensiv sind, wobei jedoch das in diese Produkte einfließende Wissen nicht standortgebunden ist, sondem mobil. Forschung und Entwicklung einerseits und Herstellung andererseits ließen sich hier räumlich trennen.
•
Hingegen umfaßte die Gruppe 4 Erzeugnisse aus den Bereichen Meß-, Prüf- und Kontrollgerätetechnik, Feinmechanik, medizinische und pharmazeutische Produkte sowie solche der Luft- und Raumfahrttechnik, die ebenfalls in hohem Maße humankapitalintensiv sind, wobei jedoch das in diese Güter einfließende Wissen stärker an den Standort der Herstellung gebunden war.
Für diese beiden zuletzt genannten Güterkategorien gilt, daß die RCA-Werte zwar positiv waren und sind, aber im Trend sinken. Ob freilich dieses Defizit in der Standortqualität allein auf Mängel in der Qualität des westdeutschen Humankapitals zurückzufiihren ist, wird sich schwerlich feststellen lassen. Auch mag es problematisch sein, ob mit solchen "mangelhaften" RCAWerten unter längerfristigem Aspekt wirklich Rückschlüsse auf die Entwicklung der Qualität des Faktors Arbeit im eigenen Land und gleichzeitig auf dessen Wettbewerbsfähigkeit gezogen werden können. Es muß nämlich dahingestellt bleiben, ob das, was aus heutiger Sicht Spitzentechnologie ist und damit große Wachstumschancen hat, dies im nachhinein betrachtet tatsächlich war. "Was wirklich eine
Ilygl. Schneider, Hans-Karl: a.a.O. Ottnad, Adrian; Wahl, Stefanie; Grünewald, Reinhard: Risse im Fundament. Die deutsche Wirtschaft bis 2005, Berlin, Heidelberg 1995, S. 122 ff.. 12 ygl.
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"Wachstumstechnologie" bzw. ein "Wachstumsprodukt" ist, kann oft erst mit einem großen zeitlichen Abstand festgestellt werden.,,13 Abb. 1: Komparative Wettbewerbsvorteile Deutschlands') von 1972-1992 ISO
RCA·Wert
100
SO
o
·50
·100
·150
~~~~~----r----...----~ Jahr 1972
- Gruppe I
1977
- Gruppe 2
1982
1987
1992
- Gruppe 3 - Gruppe 4
') bis 1990 Westdeutschland. Quelle: Ottnad, A.; Wahl, St.; Grünewald, R., Risse im Fundament, a.a.O., S. 124. 4. Die Qualität des Sachfaktors Kapital, also der Maschinen, Werkzeuge und Einrichtungen einer ganzen Volkswirtschaft filr einen bestimmten Zeitpunkt global einzuschätzen, ist wohl ein hoffnungsloses Unterfangen. Man wird immerhin vom Alter des Kapitalstocks gewisse Rückschlüsse auf dessen Leistungsfahigkeit ziehen können. In den Unternehmen aller Wirtschaftsbereiche der Bundesrepublik hatten im Jahre 1989 nur 30% aller ProduktionsauslÜstungen ein Alter von über zehn Jahren I3Zeppemick, Ralf: a.a.O., S. 55.
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erreicht. Über 40% aller in westdeutschen Unternehmen arbeitenden Maschinen und Ausrüstungen waren jünger als fiinf Jahre. Seit Beginn der achtziger Jahre besaßen die Produktionsausrüstungen aller Unternehmungen ein Alter von im Durchschnitt acht Jahren. Im Gegensatz dazu hatten zu Beginn des Jahres 1989 die Produktionsausrüstungen in der DDR-Industrie ein vergleichsweise biblisches Alter von 18 Jahren. 14 So gesehen wird man Ende der achtziger Jahre von einem modemen und leistungsfahigen Kapitalstock in Westdeutschland ausgehen dürfen. Freilich kann man auch nicht übersehen, daß die Qualitätszunahme des Kapitalstocks allmählich dadurch abnahm, daß dieser durch einen verlangsamten Anstieg der Investitionen - sowohl der Bau- als auch der Ausrüstungsinvestitionen - in der Zeit von 1980 - 1990 jahresdurchschnittlich nur noch um 3% wuchs, nach 5,6% im Jahrzehnt von 1960 - 1970 und 4,1% in den Jahren von 1970 - 1980. Dies fiihrte zu einem Rückgang im Zuwachs des westdeutschen Produktionspotentials von 4,5% (1960 - 1970),2,9% (1970 - 1980) auf etwas über 1,5% (1980 - 1990):5 Die nähere Analyse zeigt, daß diese Investitionsschwächen auf zurückbleibende Investitionen des Staates und des Wohnungsbaus zurückzufiihren waren, was vom Unternehmenssektor nicht dadurch kompensiert wurde, daß er stärker als früher üblich investierte. 16 Es ist zu vermuten, daß schon damals Unternehmensgrtlndungen und damit verbundene Investitionen ausgeblieben sind, was wiederum verschiedene Ursachen haben kann. In diesem Zusammenhang ist auch auf das Problem der Direktinvestitionen hinzuweisen. Während im Verlauf der achtziger Jahre (1980 - 1987) ausländische Direktinvestitionen in der Bundesrepublik jahresdurchschnittlich bei etwas über 2 Mrd. Mark lagen, beliefen sich im gleichen Zeitraum die deutschen Direktinvestitionen im Ausland jahresdurchschnittlich auf knapp 13 Mrd. DM. Die Differenz von rund 11 Mrd. DM wurde in der Literatur unter anderem auf die relativ hohen Arbeitskosten in Westdeutschland zurückgefiihrt, auf die später noch zurückzukommen sein wird. 17 Allerdings ist keineswegs sicher, ob dies die Hauptursache dafilr ist, daß so wenige ausländische Investoren Kapital nach Deutschland gebracht haben. Hier spielt auch die Wechselkursentwicklung eine wichtige Rolle. "Der Höhenflug des US-Dollars in der ersten Hälfte der achtziger Jahre beispielsweise dürfte den Anreiz, Direktinvesti14 Buck, Hannsjörg F.; Gutmann, Gemot: Die Zentral planwirtschaft der DDR - Funktionsweise, Funktionsschwächen und Konkursbilanz. In: Kuhrt, Eberhard; Holzweißig, Gunter; Buck, Hannsjörg F.; u.a. (Hg.): Am Ende des realen Sozialismus. Beiträge zu einer Bestandsaufnahme der DDR-Wirklichkeit in den 80er Jahren (im Druck). 15 ygl. Boss, Alfred; Walter, Norbert: Zur wirtschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland in den achtziger Jahren, Arbeitspapier Nr. 169, Institut filr Weltwirtschaft an der Universität Kiel, Februar 1983, S. 21. (Zahlen nach 1983 geschätzt) 16 ygl. Fels, Gerhard: Der Standort Bundesrepublik Deutschland im internationalen Wettbewerb. In: Hamburger Jahrbuch filr Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 33. Jg., 1988, S. 9 fr., hier: S. 13. I'Ygl. ebenda, S. 16.
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tionen in den USA zu tätigen anstelle des direkten Exports von Gütern, relativ gemildert haben, worauf auch die Entwicklung der deutschen Exporte in die USA in diesen Jahren hinweist. Seit der Kehrtwende in der Entwicklung des Kurses zwischen Dollar und D-Mark im Frühjahr 1985 ist jedoch der reale Wechselkurs der DM gegenüber dem Dollar um über 80% gestiegen. Schon von daher ist es nicht verwunderlich, wenn die deutschen Auslandsinvestitionen - unabhängig von sonstigen Standortbedingungen - relativ zu- und die Investitionen von ausländischen Unternehmen in der Bundesrepublik abnehmen.,,18 Zur Kapitalausrilstung einer Volkswirtschaft gehören aber nicht nur jene Maschinen und Einrichtungen, die zur Gütererzeugung unmittelbar eingesetzt werden, sondern auch das, was man als materielle Infrastruktur bezeichnet, also die Einrichtungen des Verkehrs- und Kommunikationswesens, aber auch der Energieversorgung. Diese Infrastruktureinrichtungen sind infolge eines ständig zunehmenden Waren-, Dienstleistungs- und Informationsaustauschs von wachsender Bedeutung. - Zwar wies die Bundesrepublik Deutschland zum Ende der achtziger Jahre ein vergleichsweise leistungsfähiges Verkehrs- und Transportwesen auf Schiene, Straße und Wasserstraße sowie auf den Luftstrecken auf, jedoch fiihrten andererseits gewisse Regulierungen der Transportmärkte zu Ressourcenverschwendung. So war es etwa den fIrmeneigenen Lastkraftwagen nicht gestattet, Transportaufträge fiir Fremde zu übernehmen. Auch wurde über ein nicht befriedigendes Konzept zur Integration der verschiedenen Verkehrswege geklagt. Was den Bereich der Telekommunikation anbetrifft, gab es zweifellos allein dadurch Standortnachteile fiir die Bundesrepublik Deutschland - hier insbesondere im Vergleich zu den USA -, weil die Monopolsituation der Bundespost zum Teil erheblich höhere Kosten fiir die Unternehmungen mit sich brachte. Die beginnende Deregulierung hat dann später freilich erhebliche neue Marktimpulse mitgebracht. In Teilen der Mobilkornmunikation und der Satellitenkornmunikation wurde erst allmählich Wettbewerb erlaubt. "Kennzeichnend filr die Kommunikationssysteme ist die Heterogenität der Märkte: Deutschland hat zum Beispiel im internationalen Vergleich mit die höchste Telefondichte, bezogen auf die Einwohnerzahl, liegt jedoch bei Mobiltelefonen hinter anderen Industrieländern zurück. Weiterhin ist Deutschland eines der filhrenden Länder bei der Marktpenetration des ISDN-Netzes.,,19 Die Energieversorgung war in der Bundesrepublik Deutschland gut, jedoch sehr teuer. Im Vergleich zum benachbarten westeuropäischen Ausland schnitt hier die Bundesrepublik sehr schlecht ab, denn fast alle übrigen Länder waren billiger. Der Strompreis fiir Industriestrom lag 1990 um mehr als 20% über dem anderer Industriestaaten. Der Grund hierfilr lag einerseits im politisch gefOrderten Einsatz von 18Mayer, Otto G.: In der Diskussion: Der Standort Bundesrepublik. In: Wirtschaftsdienst, 68. Jg., 1988, S. 114 f., hier: S. 114. 19Joas, August; Saur, Ellen: a.a.O., S. 76.
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teurerer einheimischer Primärenergie (Kohlesubvention), an relativ hohen Sicherheits- und Umweltschutzstandards und Konzessionsabgaben der Stromerzeuger an die Kommunen. Zum anderen ist jedoch auch auf Mängel in der westdeutschen Marktstruktur bei der Energiewirtschaft hinzuweisen, die erhebliche Defizite im Wettbewerb aufweist. Das wurde ab 1990 besonders deutlich, als die neue DDRRegierung aus Sorge um die ostdeutsche Stromversorgung sich bemühte, diese den westdeutschen Konzernen zu übertragen, weshalb es unter Mithilfe des Bundeswirtschaftsministeriums am 22. August 1990 zu einem entsprechenden Vertrag mit dem RWE, Preußen-Elektra und Bayernwerk kam. Dies erlaubte es den westdeutschen Stromkonzernen, das Entstehen wettbewerblicher Marktstrukturen in Ostdeutschland tatkräftig zu verhindern. Westdeutschland war also zum Ausgang des letzten Jahrzehnts von hierher gesehen ein ziemlich ungeeigneter Standort fiir energie-, insbesondere stromintensive Betriebe. Verschärft wurde und wird dieses Problem auch dadurch, daß es bis auf den heutigen Tag im politischen Raum keinen Konsens in der Energiepolitik gibt. 20 5. Neben der Faktorausstattung wird nach Porter die Wettbewerbsfiihigkeit eines Landes - also seine Standortqualität - von den Nachfragebedingungen am heimischen Markt bestimmt. Damit ist freilich nicht das Volumen der volkswirtschaftlichen Gesamtnachfrage im keynesianischen Sinne gemeint, das kurzfristig konjunkturell schwanken kann, sondern vielmehr die "Qualität" der Nachfrage. Es sei nämlich zu berücksichtigen, daß eine "repräsentative" Nachfrage entscheidend fiir die Entwicklung neuer wettbewerbsfiihiger Industrien ist. "Repräsentative Nachfrage" ist jene Nachfrage, die sich relativ frühzeitig entwickelt und den Unternehmen sozusagen als Orientierung fiir ihre künftige Arbeit dient. 21 Hier wird ein Problem angesprochen, das in der Markt- und Wettbewerbstheorie als Theorie der Entwicklungsphase eines Marktes und in der Betriebswirtschaftslehre als Theorie des Produkt-Lebenszyklus bekannt ist. Porter rekurriert hier auf die Schwierigkeiten der EntwickJungsphase des Marktes, in welcher es filr das Unternehmen darum geht, fiir eine Produktinnovation einen Markt überhaupt erst zu kreieren. Ernst HEUSS weist in seiner "Allgemeinen Markttheorie" daraufhin, "". daß die eigentlichen Anfangsschwierigkeiten der Nachfrageproduktion darin bestehen, das Mißtrauen und die Skepsis, die dem unbekannten und unerprobten Produkt entgegengebracht werden, zu überwinden. Solange diese Haltung noch allgemein besteht, ist jeder einzelne, der fiir das Produkt als Abnehmer in Frage kommen könnte, zu überzeugen und zu gewinnen. ,,22 Dies ist - wie Porter sicherlich zu Recht darlegt - in dem heimischen Umfeld des Unternehmens, das eine Produktinnovation kreiert, 200ierkes, Meinolf; Zimmermann, Klaus: Qualitätskontrolle ist Zukunftssicherung: Der Standort Bundesrepublik im Profil. In: dieselben (Hg.), Wirtschaftsstandort Bundesrepublik ... , a.a.O., S. 29 ff., hier: S. 38. 21Vg l. Porter, Michael E.: The Competitive Advantage ofNations, New York 1990, S. 86 f.. 22Heu ß, Ernst: Allgemeine Marknheorie, TUbingen, ZUrich 1965, S. 31.
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leichter möglich als in der räumlichen Feme. "Nachdem die allgemeine ZUJÜckhaltung gegenüber dem neuen Produkt gefallen und der Durchbruch gelungen ist, öffnet sich erst jetzt der eigentliche Markt, auf dem es gilt, die sich bietenden Absatzmöglichkeiten zu ergreifen und zu realisieren. ,,23, der Markt kann also jetzt international werden. Nun weiß ich nicht, anhand welcher Größen sich die Geeignetheit zu "repräsentativer Nachfrage" in Westdeutsch land zum Ende der achtziger Jahre festmachen läßt. Zwei Einflußkomponenten könnte ich mir denken, zumindest dort, wo es sich um die Kreierung von Konsumgutmärkten handelt. Ich möchte vermuten, daß es eine gewisse Relation gibt zwischen der Einkommenshöhe und der Bereitschaft potentieller Käufer, das mit einer "repräsentativen Nachfrage" nach einem neuen Produkt verbundene Risiko einzugehen. Da die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland in den achtziger Jahren - im Vergleich zu vielen anderen Ländern - über ein sehr hohes und zumindest nominal wachsendes Pro-Kopf-Einkommen verfUgen konnte, besteht kein Grund zur Annahme, daß die Standortqualität der Bundesrepublik Deutschland und die internationale Wettbewerbsflihigkeit der Unternehmen so gesehen an besonders schlechten Bedingungen der "repräsentativen Nachfrage" gelitten habe. Andererseits ist wohl auch nicht zu verkennen, daß sich schon im vergangenen Jahrzehnt eine gewisse Technologieskepsis - um nicht zu sagen Technologiefeindlichkeit - breit gemacht hat, was auch eine gewisse Zurückhaltung beim Erwerb bestimmter neuer Produkte zur Folge hatte. Dies setzt sich bis auf den heutigen Tag fort, man denke etwa an die Skepsis vieler Menschen gegenüber gentechnisch hergestellten Produkten. 6. Ein weiterer Standortfaktor, der nach Porter die Wettbewerbsflihigkeit eines Landes mitbestimmt, ist das Vorhandensein oder das Fehlen komplementärer und innovative Unternehmen unterstützender Industrien und zwar solcher, die selbst international wettbewerbsflihig sind. Komplementäre Industrien sind solche, mit denen Unternehmen Aktivitäten teilen oder koordinieren können, wenn sie in Wettbewerb mit Anbietern ihrer eigenen Branchen treten, oder solche, die Produkte herstellen, die zu den eigenen Produkten komplementär sind. Letzteres triffi: z.B. im Verhältnis von Computerunternehmen mit SoftwarefIrmen zu. Solche Aktivitätsteilung kann dabei nach Porter hinsichtlich der Technologie, des Marketing, der Entwicklung oder des Service erfolgen. Nun wird man davon ausgehen dürfen, daß Westdeutschland zum Ausgang des letzten Jahrzehnts eine sehr differenzierte Industrie- und Produktionsstruktur aufwies und daß deshalb grundsätzlich filr Innovatoren das Vorhandensein solcher komplementärer und unterstützender Industrien gegeben war. Freilich möchte ich hier am Rande bemerken, daß die Art und Weise, in der solche industriellen Kooperationen erfolgen, mitunter auch ihre Probleme haben und wettbewerbspolitisch nicht immer 23Ebenda, S. 37.
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unbedenklich sind. Welche Risiken hier liegen können, zeigt derzeit der Daimler Benz Konzern, der versuchte, die unterstützenden Industrien teilweise in einem "integrierten Technologiekonzern" mit den eigenen Unternehmen zusammenzufassen, jedoch mit allen seinen bisherigen "strategischen Allianzen" und technologischen Verbindungen erheblich ins Schlingern gekommen ist. 7. Der vierte, die Standortqualität mitbestimmende Faktor ist ein wettbewerbsfreundliches Umfeld. Dies hängt zusammen mit dem, was als "Gesetz vom Phasenverzug der Exporte" oder als Linder-These bezeichnet wird. Es darf nämlich aufgrund empirischer Studien als gesicherte Erkenntnis gelten, daß nachhaltige Wettbewerbsvorteile am Weltmarkt nur dann entstehen, wenn sich die Anbieter im Wettbewerb auf dem heimischen Markt bewähren mußten. 24 Länder mit filhrender WeltmarktsteIlung - so Porter - haben oft starken lokalen Wettbewerb in ihrer Branche. 25 Nun wird hoffentlich niemand von mir erwarten, daß ich hier gewissermaßen im VoJiibergehen ein globales Urteil über die Intensität des Wettbewerbs in der westdeutschen Wirtschaft während der achtziger Jahre abgebe. Daß der Wettbewerb in manchen Branchen auch auf den Inlandsmärkten beträchtlich ist, wogegen es in anderen daran mangelt, ist bekannt und dUrfte als Aussage auch dann akzeptabel sein, wenn man ein anderes Verständnis von Wettbewerb hat als ich. Die Wettbewerbstheorie bietet ja hier durchaus Alternativen. Somit war auch die Beschaffenheit dieses Standortfaktors zum Ausgang des letzten Jahrzehnts teils positiv und teils negativ einzuschätzen.
1II. l. Alle hier kurz erläuterten Faktoren filr die Wettbewerbsflihigkeit der westdeutschen Wirtschaft werden in ihrer jeweiligen Beschaffenheit maßgeblich geprägt von der Wirtschafts- und Sozialordnung des Landes, denn alle ökonomischen Handlungen von Menschen, die zum beschriebenen Zustand in der Qualität der Produktionsfaktoren Arbeit, Natur und Kapital, zur Qualität der "repräsentativen Nachfrage", der Funktionsweise "komplementärer und unterstützender Industrien" sowie zur Qualität des wettbewerblichen Umfeldes filhren, sind durch das jeweils bestehende Arrangement institutioneller Gegebenheiten beeinflußt, welche die Wirtschaftsordnung ausmachen. Ändert sich die Beschaffenheit der Wirtschaftsordnung im Ganzen oder in ihren Teilen, dann reagieren die Wirtschaftssubjekte hierauf, sie passen sich den neuen Umständen an. Hierdurch verändern alle jene Indikatoren ihr bisheriges Ge24 yg l. Preuße, Gert: Zur Diskussion über die Erhaltung industrieller Kerne in den Neuen Bundesländern. In: Diskussionsbeiträge - Documentos de Trabaju, hg. vom Ibero-Amerika Institut rur Wirtschaftsforschung der Universität Göttingen, Nr. 60, Göttingen, Juni 1993. 2S Yg l. Porter, Michael E.: a.a.O., S. 117.
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präge, welche als Größen zur Beurteilung der Standortqualität herangezogen werden, entweder unmittelbar oder mittelbar. Hier seien nur drei Ordnungselemente herausgegriffen, welche die Wettbewerbsfähigkeit der westdeutschen Wirtschaft in den achtziger Jahren stark und unmittelbar mit beeinflußt haben und sie auch heute noch beeinflussen, nämlich die Ordnung des Arbeitsmarktes, die Sozialordnung und die Ordnung der öffentlichen Finanzen. 2. Entsprechend der durch Tarifhoheit gekennzeichneten Arbeitsmarktordnung in Deutschland werden die Lohnsätze, die ein wesentliches Element der Kosten fiir den Einsatz des Produktionsfaktors Arbeit sind, in Tarifauseinandersetzungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern flächendeckend festgelegt. Solche Vereinbarungen zwischen den Tarifvertragsparteien sind weiterfuhrend als man zunächst vermuten könnte, denn der Bundesminister fiir Arbeit und Sozialordnung kann einen Tarifvertrag - an den natürlich zunächst nur jene Gewerkschaft und jener Arbeitgeberverband gebunden sind, die ihn abgeschlossen haben - auf Antrag einer der beiden Vertragsparteien und im Einvernehmen mit einem paritätisch besetzten Ausschuß fiir allgemeinverbindlich erklären. Daß hinter den Vertragsverhandlungen - anders als Z.B. in der Schweiz - letztlich die Drohung von Streiks und Aussperrungen stehen, ist bekannt. Durch die Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit werden die durch einen abgeschlossenen Tarifvertrag bewirkten positiven oder negativen Konsequenzen fiir die internationale Wettbewerbsfähigkeit der zunächst betroffenen Unternehmen auf die ganze Branche ausgeweitet, denn die Arbeitskosten dieser zunächst vom Vertrag nicht bertihrten Unternehmen werden nun auch verändert. Die Arbeitskosten bestimmen aber entscheidend mit über die Chancen nationaler Unternehmen an internationalen Märkten. Zwar sind möglicherweise die Arbeitskosten in einem einzelnen Unternehmen nur ein Bruchteil an den Gesamtkosten der Produktion, jedoch muß man in Rechnung stellen, daß alle im Inland bereitgestellten Vorleistungen - also bezogene Halbfabrikate, Materialien, Maschinen und Einrichtungen - auch mit Arbeit hergestellt werden mußten und so in die Kosten des betrachteten Unternehmens ebenfalls eingehen. - Freilich muß man - um die Wirkung fiir die internationale Wettbewerbsflihigkeit zu bestimmen - zugleich die Produktivität des Faktors Arbeit mit heranziehen, also die Lohnstückkosten betrachten. 26 Handeln die Tarifvertragsparteien Veränderungen der Lohnsätze aus, die der prozentualen Veränderung der Arbeitsproduktivität entsprechen, dann bleibt von hierher gesehen Preisniveaustabilität bestehen, und die internationale Wettbewerbsflihigkeit der heimischen Wirtschaft wird nicht negativ tangiert. Jedoch handeln die Tarifparteien keineswegs immer nach diesem Grundsatz. Seit Mitte der achtziger Jahre verschlechterte sich die Wettbewerbsflihigkeit der westdeutschen Wirtschaft nicht zuletzt infolge von Lohnsatzsteigerungen, die den Produktivitätszuwachs überstiegen. 27
26
yg l. Ottnad, Adrian; Wahl, Stefanie; GrUnewald, Reinhard: a.a.O., S. 102.
27 yg l.
Flassbeck, Heiner: a.a.O., S. 256 f..
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Bei internationalen Vergleichen der um die Produktivität bereinigten Arbeitskosten spielen auch die Wechselkursentwicklungen eine wichtig~ Rolle. Wie die enormen Wechselkursveränderungen der beiden zurückliegenden Jahrzehnte auf den Vergleich von Arbeitskosten eingewirkt haben, wird an folgendem erkennbar. In USDollar gerechnet waren die Arbeitskosten je Stunde in den USA von 1970 bis 1980 um mehr als 130% angestiegen, von 1980 - 1987 um weitere 24%. In DM ausgedrückt entspricht dies im erstgenannten Zehnjahreszeitraum einem Anstieg von nur 15% und fiir den Zeitraum von 1980 - 1987 sogar einem Rückgang von 1,5%.28 Daher kommt Wohlers hinsichtlich der preislichen Wettbewerbsfahigkeit deutscher Unternehmen, die ja von den Lohnstückkosten maßgeblich geprägt wird, 1988 zu dem Schluß: "... daß der Anlaß fiir die gegenwärtige Diskussion um die internationale Wettbewerbsfahigkeit der Bundesrepublik Deutschland wohl weniger eine relative Verschlechterung der grundlegenden Standortbedingungen als vielmehr die Wechselkursentwicklung ist: Aufgrund der kräftigen Höherbewertung der D-Mark - gegenüber dem Dollar hat sie sich seit dem Frühjahr 1985 real um 80%, gegenüber den Währungen der 14 wichtigsten Handelspartner insgesamt um fast 10% aufgewertet werden die Standortbedingungen, obwohl sie sich allenfalls leicht verschlechtert haben, subjektiv als sehr viel ungünstiger empfunden als zuvor während der Phase des Dollarkursanstieges. 29 11
3. Nun werden die Kosten filr den Einsatz des Faktors Arbeit nicht allein durch die von den Taritpartnern ausgehandelten Lohnsätze und der geleisteten Arbeitsstunden bestimmt, sondern auch von dem, was man als Lohnnebenkosten oder Personalzusatzkosten bezeichnet. Hierzu zählen einerseits solche Kosten, die - wie Aufwendungen für Urlaub, Verpflegung und andere betriebliche Sozialleistungen - Gegenstand von Verhandlungen zwischen den Taritparteien sind oder von den Unternehmungen freiwillig auf sich genommen werden, als auch solche, die durch Regelungen der Sozialgesetzgebung verursacht werden, wie u.a. die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Soweit es sich um diese gesetzlichen Lohnnebenkosten handelt, sind sie Ergebnis der bestehenden Sozialordnung des Landes. Für Westdeutschland läßt sich nun konstatieren, daß die Personalzusatzkosten in der Zeit ab 1970 bis zum Ende der achtziger Jahre etwa um doppelt soviel gestiegen sind wie die Stundenlöhne und dadurch im internationalen Vergleich eine Spitzenhöhe erreichten. Sie beliefen sich insgesamt auf rund 80% der eigentlichen Löhne. Von hierher ergaben sich zweifellos Standortnachteile fiir die westdeutsche Wirtschaft. Jedoch ist auch zu bedenken, daß die aus der deutschen Sozialordnung erwachsenden hohen Sozialaufwendungen - die sich zum Teil in hohen Lohnnebenkosten 28Vgl. BOscher, Reinhard; Homann, Jochen: Standortdiskussion: Altes Thema mit neuer Brisanz. In: Wirtschaftsdienst, 69. Jg., 1989, S. 236 tT., hier: S. 238. 29Wohlers, Eckhardt: Internationale Wettbewerbsfllhigkeit, Wechselkurse und Außenhandel einige Anmerkungen zur gegenwärtigen Diskussion in der Bundesrepublik. In: Hamburger Jahrbuch filr Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 33. Jg., 1988, S. 27 tT., hier: S. 29.
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niederschlagen - und aus den hohen Leistungen der Sozialleistungsträger ein im internationalen Vergleich relativ stabiles gesellschaftspolitisches Klima bewirkten. Streiks, Aussperrungen oder Volksaufstände waren eher die Ausnahme als die Regel. Dies dürfte ein nicht unwichtiger Standortvorteil gewesen sein und ist es noch heute. Auf das Ganze gesehen muß man jedoch wohl konstatieren, daß die westdeutsche Wirtschaft einen Anstieg der Lohnstückkosten hinnehmen mußte, während sie in den USA konstant blieben, in Japan hingegen deutlich geringer waren. 30 4. Aus der Ordnung der öjJentlichen Finanzen in der Bundesrepublik Deutschland ergeben sich die verschiedenen Steuerarten, von denen einige die Unternehmungen unmittelbar betreffen und daher in die Produktionskosten und demzufolge in die Preiskalkulation eingehen. Nun sind jedoch Steuerbelastungsvergleiche ein äußerst schwieriges und komplexes Unterfangen? I In einer Reihe von wissenschaftlichen Analysen kam man zu dem Ergebnis, daß die Unternehmenssteuerbelastung international im Spitzenfeld lag. 32 So weisen Dierkes und Zimmermann darauf hin, daß die Unternehmenssteuern auf einbehaltene Gewinne weitaus höher waren als im Ausland, woraus sich natürlich Probleme für die Selbstfmanzierung von Risikoinvestitionen ergeben mußten. Die Gewinnthesaurierung wurde dagegen im Ausland begünstigt. Darüber hinaus verweisen sie darauf, daß es in Italien, den Niederlanden und Großbritannien eine ertragsunabhängige Gewerbekapitalsteuer gar nicht gab, die Vermögenssteuer auch nur noch in Japan, Österreich und der Schweiz.33 In einer Untersuchung kommt LoejJelholz 1989 zu folgendem differenzierteren Urteil. 34 Die steuerliche Belastung der Standortqualität eines Landes ist um so größer, " ... je stärker sich die öffentliche Finanzwirtschaft auf solche Steuern und Abgaben stützt, die im internationalen Handel nach den derzeit gültigen GA TI-Regelungen an der Grenze nicht zurückerstattet werden und insoweit die Preisstrukturen im Außenhandel verzerren. ,,35 Dies triffi: vor allem auf die direkten Steuern zu, zu denen ja die Einkommensteuer und die Körperschaftsteuern ebenso gehören wie die Vermögenssteuer und die Gewerbesteuern. Mit einem unterdurchschnittlichen Anteil dieser nicht ausgleichsfähigen Steuern am Gesamtaufkommen sowie am Bruttoinlandsprodukt befand sich Westdeutschland in einer vergleichsweise günstigen Position gegenüber dem Ausland. Jedoch hat die westliche Bundesrepublik unter den Ländern Niederlande, Schweiz, Kanada, USA und Großbritannien, die wie Westdeutschland
3Oygl. Schneider, Hans-Karl: a.a.O., S. 76. 31ygl. v. LoefTelholz, Hans Dietrich: Die Standortqualität der Bundesrepublik in steuerlicher Hinsicht. In: RWI-Mitteilungen, 40. Jg., 1989, S. 183 fT., hier: S. 184 fT.. 32 yg l. z.B. Leibfritz, W.; Pasche, R.: Steuerbelastung der Werkzeugmaschinenindustrie im internationalen Yergleich, Nr. 9, 1988 sowie Institut rur Weltwirtschaft (Hg.), Internationaler Yergleich der Unternehmensbesteuerung, Kiel 1988. 33ygl. Ottnad, Adrian; Wahl, Stefanie; GrUnewald, Reinhard: a.a.O., S. 36 f .. 34ygl. v. LoefTelholz, Hans Dietrich: a.a.O., S. 199 fT.. 35Ebenda, S. 199.
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selbst zwischen 1975 und 1986 das jeweilige steuerliche Belastungsniveau in mäßigem Umfang erhöhten, diesbezüglich an Standortqualität eingebüßt. Dies deshalb,
weil in der Bundesrepublik Deutschland der Anteil der beim Export nicht ausgleichsflihigen Steuern am gesamten Steueraufkommen und am BIP relativ stark gesteigert wurde, während dies in den USA und in der Schweiz in nur geringerem Maße geschah, in Kanada der Anteil der gesamten Abgaben am Steueraufkommen konstant gehalten und in den Niederlanden sowie in Großbritannien reduziert wurde. In Frankreich, Italien, Schweden, Griechenland, Spanien und Japan hingegen wurde im Betrachtungszeitraum die gesamtwirtschaftliche Abgabenbelastung in starkem Maße gesteigert. Diesen Ländern gegenüber hatte sich die Standortqualität Deutschlands in steuerlicher Hinsicht verbessert, denn in diesen Ländern "... erfolgte die zum Teil gravierende Erhöhung des volkswirtschaftlichen Belastungsniveaus vornehmlich durch ein Vordringen solcher Abgaben, die im internationalen Handel nicht ausgleichsflihig sind. ,,36 Man hatte es also auch hier wieder einerseits mit steuerlich bedingten Standortvorteilen, andererseits jedoch mit Standortnachteilen zu tun.
IV. Versucht man, aus der kurzen Betrachtung einiger wichtiger Indikatoren fiir die Standortqualität der westlichen Bundesrepublik zum Ausgang der achtziger Jahre eine Gesamtbewertung der Wettbewerbsfähigkeit ihrer Wirtschaft zu ziehen, also die vielen "Einerseits-andererseits"- und "Sowohl als auch"-Aussagen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, dann stößt man auf eine weitere Schwierigkeit. Es gibt jetzt nämlich drei denkbare Möglichkeiten, um zu einer solchen Gesamtbeurteilung zukommen: •
entweder man läßt die Gesamtheit der betroffenen Wirtschaftssubjekte durch Abstimmung darüber entscheiden, ob angesichts der ihnen bekannt gemachten Fakten die Standortqualität gut, mittelmäßig oder schlecht war, oder
•
man beauftragt die mit diesen Fragen beschäftigten Wissenschaftler, eine solche Entscheidung zu treffen, oder
•
man überläßt es dem Referenten - also mir -, ein Urteil zu fällen.
In den ersten beiden Fällen stößt man auf das altbekannte CONDORCETProblem, das in der Theorie der Wirtschaftspolitik als ARROW-Paradoxon bekannt ist. Es müssen nämlich die einzelnen Indikatoren hinsichtlich ihrer Bedeutung fiir das Gesamturteil gewichtet und in eine Rangskala gebracht werden. Weichen dann aber die in sich konsistenten Präferenzen der am Abstimmungsprozeß Beteiligten voneinander ab, dann ist es erforderlich, diese in eine widerspruchs freie Gesamtrangord-
36Ebenda, S. 200.
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nung zu bringen. Jedoch ist dies, wie ARROW gezeigt hat, kaum möglich. Die Gesamtrangordnung bleibt in sich widersprüchlich. Überläßt man das Urteil daher mir selbst, dann handelt es sich um ein Werturteil. Und solche gelten nicht als wissenschaftliche Aussagen. Ich schließe mich daher dem Sachverständigenrat an, der in seinem Jahresgutachten 1988/89 - ebenfalls wertend 37 sagte: "Die internationale Wettbewerbsflihigkeit der Bundesrepublik und ihre Attraktivität als Unternehmensstandort können nicht schlechthin als unzureichend bezeichnet werden. Ein anderes Urteil widerspräche den Tatsachen. Dennoch ist unübersehbar, daß die Bundesrepublik den Herausforderungen an hochentwickelte offene Volkswirtschaften, die mit der Globalisierung der Märkte und der Internationalisierung der Produktion verbunden sind, weniger gut als andere Industrienationen entsprochen hat ... Diese Zeichen sollten von der Wirtschaftspolitik ernst genommen werden." Daß die Wirtschaftspolitik dies freilich weitgehend nicht getan hat, ist bekannt, so daß sich das Standortproblem heute wohl noch viel schärfer stellt als damals.
37Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: a.a.O., S. 116.
Werner Klein DIE WIRTSCHAFTLICHE BEDEUTUNG DER DDR ENDE DER ACHTZIGER JAHRE 1. Vorbemerkungen
Der Versuch, die wirtschaftliche Bedeutung eines Landes darzustellen, berührt ein bisher nicht zureichend gelöstes wissenschaftliches Problem des Vergleichs von Wirtschaftssystemen. So gilt es im Kontext dieses Beitrags erstens einen Katalog von Kriterien zu benennen, anband dessen die wirtschaftliche Bedeutung eines Landes gemessen werden kann. Dies impliziert zweitens zugleich, daß der Begriff "wirtschaftliche Bedeutung" im Hinblick auf die durch die genannten Kriterien bestimmten ökonomischen Parameter inhaltlich sinnvoll nur gefiHlt werden kann, wenn ein diesbezüglicher Vergleich mit den entsprechenden Parameterwerten eines anderen oder mehrerer anderer Länder in statischer und/oder dynamischer Sicht vorgenommen werden kann. Ein erstes Problem ergibt sich im Hinblick auf die Bestimmung eines Kriterienkatalogs, der den genannten Zwecken zu dienen vermag. Daten über Fläche und Bevölkerung eines Landes, seine geographische Lage oder die Ausstattung mit natürlichen Ressourcen sagen zunächst unmittelbar nichts aus über die wirtschaftliche Situation desselben. Vielmehr sind es im allgemeinen Kennziffern der wirtschaftlichen Leistung im Sinne von Ergebniskriterien, vermittels derer die wirtschaftliche Bedeutung eines Landes zu erfassen versucht wird. Hierbei handelt es sich zumeist um die Messung des Standes und der Entwicklung von makroökonomischen Aggregatgrößen, wie z.B. der Produktionsleistung einer Volkswirtschaft (Bruttoinlandsprodukt [BIP], Bruttosozialprodukt [BSP] nominal und real, absolut und pro Kopf gerechnet), des Beitrags einzelner Sektoren zur Produktionsleistung, der Verwendung des erzeugten Sozialprodukts (privater Konsum, Staatskonsum, Investitionen) einschließlich der außenwirtschaftlichen Verflechtung (Außenbeitrag) und nicht zuletzt der Verteilung der im volkswirtschaftlichen Leistungsprozeß entstandenen Einkommen. Weitere Kriterien, die häufig zur Messung der wirtschaftlichen Bedeutung eines Landes herangezogen werden, beziehen sich auf den Anteil der Erwerbspersonen an der Wohnbevölkerung sowie die Qualifikation der Beschäftigten, den Stand und die Entwicklung der Beschäftigung bzw. der Unterbeschäftigung, das Niveau, die Entwicklung und die Struktur des sachlichen Produktionspotentials (Kapitalstock), die Ausstattung eines Landes mit Infrastruktur und nicht zuletzt eine ganze Fülle von
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Kriterien, die in Summe den Lebensstandard der Bevölkerung eines Landes erfassen sollen. Die Liste möglicher Kriterien ließe sich fast beliebig verlängern. Somit ergibt sich ein erstes Problem, aus forschungsökonomischen Gründen zunächst eine Auswahl jener Kriterien treffen zu müssen, die dem genannten Analysezweck am besten zu dienen vermögen. Ein weiteres Problem erwächst daraus, daß in aller Regel beim Vergleich entsprechender Daten sich ein Land bei einem oder mehreren Kriterien einem anderen gegenüber als überlegen, bei anderen aber als unterlegen erweist, so daß das Problem einer Gesamtbewertung durch Gewichtung einzelner Kriterien zu lösen ist. 1 Selbst bei Einigkeit über die zu verwendenden Kriterien zur Bestimmung der wirtschaftlichen Bedeutung eines Landes ergibt sich dann ein besonderes Problem, wenn, wie im Falle der DDR und anderer ehemals sozialistischer Planwirtschaften, vergleichsrelevante Daten der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung [VGR] nach dem MPS-Konzept (Material-Product-System), diejenigen von westlichen Marktwirtschaften aber nach dem SNA-Konzept (System of National Accounts) erfaßt wurden? Auf die hiermit verbundene Problematik ist im folgenden anhand der zitierten makroökonomischen Vergleichsdaten einzugehen.
2. Zum Stand der gesamtwirtschaftlichen Leistung der DDR Ende der achtziger Jahre Als ein wesentliches Kriterium fiir die wirtschaftliche Bedeutung eines Landes gilt dessen Fähigkeit, mit Hilfe der gegebenen Faktor- und Ressourcenausstattung fiir wirtschaftliches Wachstum zu sorgen. Wirtschaftliches Wachstum, gemessen am Wachstum des Bruttoinlands- bzw. Bruttosozialprodukts, des produzierten bzw. verwendeten Nationaleinkommens wird assoziiert mit der Fähigkeit eines entsprechenden Wirtschaftssystems, ökonomische Wohlfahrt erzeugen und mehren zu können. Sinn macht hierbei allerdings nur eine Betrachtung realer Größen, die damit eventuelle inflationsverzerrende Effekte ausschließt. Bei den zwecks Vergleich zu ermittelnden Zeitreihen des Wachstums der genannten Aggregatgrößen stößt man primär auf drei zu lösende Probleme, insbesondere im Hinblick auf den Vergleich entsprechender Leistungskennziffern von sozialistischen Planwirtschaften einerseits und privatwirtschaftlichen Marktwirtschaften andererIGutmann, G.: Kriterien des Yergleichs von Wirtschaftssystemen. In: Wöhlke, W. (1980), Hrsg., Probleme des Wirtschaftssystems, der Integration und der industriellen Entwicklung in Polen und der Tschechoslowakei, Ostmitte\europa-Studien, H. I, Marburg 1980, S. 9 - 20. Der vom Genfer "World Economic Forum" und von der Lausanner Management-Schule "IMD" herausgegebene "World Competitive Report", in dem die Rangkoeffizienten einzelner Länder hinsichtlich ihrer internationalen Wettbewerbsfilhigkeit angegeben sind, basiert auf einem Katalog von nicht weniger als 378 Kriterien, davon rund ein Drittel "weicher Faktoren". Ygl. hierzu NZZ vom 6.9.1995, S. 9. 2ygl. zu den Einzelheiten v.d. Lippe: Probleme des statistischen Ost-West-Yergleichs unter besonderer Berücksichtigung der Sozialproduktsberechnung. In: RWI-Mitteilungen. Zeitschrift rur . Wirtschaftsforschung, Jg. 39, 1988, S. I - 31.
Die wirtschaftliche Bedeutung der DDR Ende der achtziger Jahre
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seits. Das erste betriffi die Unterschiede in der gesamtwirtschaftlichen Werterfassung und -interpretation zum einen nach dem MPS-Konzept und dem SNA-Konzept zum anderen. Der Unterschied zwischen den beiden Systemen der VGR besteht grob gesprochen darin, daß nach dem MPS-Konzept nur die materielle Güter erzeugenden Sektoren (einschließlich der unmittelbar damit verbundenen Dienstleistungen) der Volkswirtschaft als wertschöpfende Sektoren gelten. Dienstleistungen i.e.S. (wirtschaftliche Leistungen von Banken, Versicherungen, des Hotelgewerbes, der Wohnungswirtschaft, der sozialen Dienste, der Staatsverwaltung etc.) werden als nichtproduktive, das heißt werteverzehrende Sektoren der Volkswirtschaft aufgefaßt. Nach dem SNA-Konzept sind dagegen sowohl die materiell produzierenden Sektoren als auch die Dienstleistungssektoren Le.S. als wertschöpfende Teilbereiche der Volkswirtschaft anzusehen. Wachstumsziffem und -indizes der Wertschöpfung, gewonnen nach dem MPS-Konzept, sind im Vergleich zu entsprechenden Ziffern und Wachstumsraten des BIP oder BSP nach dem SNA-Konzept systematisch überhöht. Ein zweites Problem besteht darin, daß der Wertbestimmung makroökonomischer Aggregate und Daten in sozialistischen Planwirtschaften prinzipiell plandeterminierte Preise zugrunde liegen. Systematische Preisverzerrungen, die sich aus den teils völlig unterschiedlichen Preisstrukturen ergeben, erschweren den Vergleich, da es gilt, zu diesem Zweck eine einheitliche Preisbasis zu entwickeln. Ein drittes damit verknüpftes Problem ergibt sich dann, wenn zwecks Vergleich entsprechender Daten und Zeitreihen Umrechnungen entsprechender nationaler Wertangaben in eine einheitliche Werteinheit, z.B. in US-Dollar oder DM vorzunehmen sind. Umrechnungen unter Nutzung der offiziellen Wechselk.urse, die durch die Regierungen der Länder des ehemaligen sogenannten Ostblocks festgesetzt wurden, fUhren zu ökonomisch nicht begründbaren Ergebnissen, weil die Wechselk.urse selbst mehr oder minder willkürlich und eher nach politischen Prestigegesichtspunkten festgelegt waren. Umrechnungen von Ziffern der volkswirtschaftlichen Gesamtieistung, wie sie nach dem MPS-Konzept in den sozialistischen Planwirtschaften erfaßt wurden, machen es notwendig, ökonomisch realistischere Wechselk.urse durch Kaufkraftparitätenvergleich zu bestimmen. Versuche, die offiziellen Wachstumsraten der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung einiger sozialistischer Länder vermittels verschiedener Methoden auf entsprechende Werte nach dem SNA-Konzept umzurechnen, zeitigten durchaus unterschiedliche Ergebnisse, wie aus der folgenden Tabelle 1 zu entnehmen ist. Unabhängig von der Methode zur Erfassung des wirtschaftlichen Wachstums wiesen die ermittelten Werte, mit Ausnahme des einen oder anderen Jahres je nach Land, einen teilweise erheblichen Rückgang des Wachstums bis hin zu negativen Wachstumsziffern aus. Nicht nur die Volkswirtschaft der DDR, sondern auch die Volkswirtschaften aller anderen sozialistischen Staaten mit prinzipiell zentralverwal-
30
Werner Klein
Tab. 1: Wachstumsraten des Nationaleinkommens (NE) und Schätzungen der entsprechenden Ziffern des Bruttoinlandsprodukts (BIP) sowie des Bruttosozialprodukts (BSP) in % 1981- 1985
1986
1987
1988
1989
NE BIP BSP
3,7 3,4 0,8
5,3 4,2 4,9
4,7 6,0 -0,9
2,4 2,6 2,0
-2,0 -1,9
NE BIP BSP
4,5 4,3 1,9
4,3 3,9 2,2
3,6 3,3 1,1
2,8 3,1 1,1
2,0 2,3
NE BIP BSP
-0,8 0,1 0,6
5,2 4,2 2,7
2,0 2,0 -1,7
4,8 4,1 2,1
0,1 -1,0
NE BIP BSP
3,0 3,2 -0,1
3,0 2,3 2,9
0,7 0,9 -0,9
-2,0 -0,5 -1,5
-7,9 -5,8
NE BIP BSP Tschechoslowakei NE BIP BSP Ungarn NE BIP BSP
3,2 3,7 1,9
2,3 3,3 4,0
1,6 2,9 1,3
4,4 5,5 1,5
2,4 3,0
1,8 1,7 1,2
1,8 3,2 2,1
2,7 2,7 1,0
2,6 2,2 1,4
1,2 1,2
1,2 1,8 0,7
0,9 1,5 2,2
4,1 4,1 1,1
-0,5 -0,1 1,1
-1,6 0,2
Land Bulgarien
DDR
Polen
Rumänien
Sowjetunion
-
-
-
-
-
Quelle: Komai, J., Das sozialistische System. Die politische Ökonomie des Kommunismus, BadenBaden 1995, S. 216 f.
tungswirtschaftlichen Ordnungsstrukturen, zeigten zumindest ab Mitte der achtziger Jahre erhebliche Wachsturnsschwächen. Dies galt selbst rur Ungarn, dessen Wirtschaftsordnung seit den Reformen des Jahres 1968 (Neuer ökonom i-
Die wirtschaftliche Bedeutung der DDR Ende der achtziger Jahre
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scher Mechanismus) oft als sozialistische Marktwirtschaft gekennzeichnet wurde. 3 Die Klassifikation eines Landes nach dem Stand seiner wirtschaftlichen Entwicklung erfolgt näherungsweise oft nach der Leistungskennziffer: Bruttosozialprodukt pro Kopf. Nach dem "Handbook of Economic Statistics" (1989) der CIA erreichte die DDR im Jahre 1988 einen entsprechenden Wert von 12.480 US-$ im Vergleich zu 14.260 US-$ der damaligen Bundesrepublik. Der Entwicklungsruckstand der DDR gegenüber der Alt-Bundesrepublik betrug hiernach lediglich 12,5%. Somit wäre die DDR zu den höchst entwickelten Volkswirtschaften der Welt zu zählen gewesen und hätte im europäischen Raum nur knapp hinter der so gemessenen Wirtschaftsleistung von Österreich (12.482 US-$ pro Kopf-BSP), aber noch vor Irland (8.131 US-$), Spanien (9.325 US-$), Portugal (6.737 US-$) und Griechenland (6.786 US-$) rangiert. 4 Die im CIA-Handbook veröffentlichte Leistungskennziffer des DDR Bruttosozialprodukts pro Kopf scheint aus mehreren Gründen weit überhöht zu sein. Ein Hauptproblem bei der Ermittlung von Vergleichskennziffern der dargestellten Art ergibt sich bei der Bestimmung der Kaufkraftparitäten zwischen der DM einerseits und der Mark der DDR sowie der Umrechnung der entsprechenden Werte in Kaufkraftparität gegenüber dem US-Dollar. Die Kaufkraftparitätenberechnung beruht methodisch gesehen auf dem Vergleich jeweiliger Werte (Kosten) eines Warenkorbs identischer Güter und Dienstleistungen zweier oder mehrerer Länder. 5 Eine unmittelbare Anwendung dieser Methode zur Bestimmung von Kaufkraftparitäten ist aber dann nicht sinnvoll, wenn - wie fiir sozialistische Planwirtschaften systemtypisch Preise in ganz anderer Weise bestimmt werden als durch prinzipiell wettbewerbliche Marktbedingungen in privatwirtschaftlichen Marktwirtschaften. Ergebnisse mit Bezug auf Daten zur Wirtschaftsleistung einer sozialistischen Planwirtschaft, die durch die Standardmethode des Kaufkraftparitätenvergleichs gewonnen werden, fuhren aus diesen Gründen zu möglichen Fehleinschätzungen. Güter und Dienste sind in sozialistischen Planwirtschaften erstens oft zu den offiziellen Preisen nicht verfiigbar. Die zusätzlichen direkten Kosten in Form von harten Devisen, Tauschwaren oder Bestechung sowie die damit verbundenen zusätzlichen Transaktionskosten, um sofort ein Produkt erhalten zu können, erhöhen realistischerweise gesehen den offiziellen Preis desselben. In diesem Sinne wäre dann Z.B. die Mark der DDR gegenüber der DM-West überbewertet gewesen. Zum zweiten 3Gutmann, G.: Volkswirtschaftslehre. Eine ordnungstheoretische Einfilhrung, 5. Aufl., Stuttgart 1993, S. 92; Leipold, H., Wirtschaftssysteme im Vergleich, 5. Aufl., Stuttgart 1988, S. 139 tf.. 4Vgl. zu den Zahlenangaben OECD: OECD Economic Survey - Germany -, Paris 1991/1992, S. 178. 5Vgl. hierzu und im folgenden PlanEcon: East-Germany at the Crossroads: Part one - Domestic Economic Situation; Part two - Recent Foreign Trade Performance, PlanEcon Report Nr. 44-45., 1989, S. 9 ff..
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sind die Produktqualitäten der Güter zumeist nicht vergleichbar, also entgegen dem traditionellen Konzept des Kautkraftparitätenvergleichs nicht identisch. Dies gilt sowohl im Hinblick auf Konsumgüter als auch auf Produktionsmittel. Wird dies bei einem Preisvergleich nicht berücksichtigt, erscheinen die offiziellen Preise des Warenkorbs minderer Qualität gegenüber jenen mit hohem Qualitätsstandard überhöht. Ein drittes Problem besteht darin, daß der Gebrauchswert selbst langlebiger Güter von technisch gleicher Qualität nicht gleich ist. Vergleichsweise höhere Kosten, die Z.B. wegen relativ schlechterer Service leistungen unter den Bedingungen sozialistischer Planwirtschaften offenkundig entstehen, sind nicht in den offiziellen Preisen der entsprechenden Produkte enthalten. Somit sind in summa bei einer ökonomisch begründeten Bestimmung der Kautkraftparitäten die offiziellen Werte des repräsentativen Warenkorbs einer sozialistischen Planwirtschaft im Vergleich zu dem einer privatwirtschaftlichen Marktwirtschaft nach "unten" zu korrigieren. Eine solche Korrektur fUhrt dann zu teils erheblich niedrigeren Werten des BSP pro Kopf als das CIA-Handbook sie auswies, wie aus Tabelle 2 zu entnehmen ist. Tab. 2: Bruttosozialprodukt pro Kopf im Jahre 1988 (US-Dollar auf der Basis alternativer Schätzung von Kautkraftparitäten) Land BR Deutschland DDR Tschechoslowakei Sowjetunion Ungarn Bulgarien Polen Jugoslawien Rumänien
CIA 14.260 12.480 10.140 8.850 8.660 7.510 7.270 6.530 5.490
PlanEcon 14.260 9.360 7.600 5.550 6.500 5.630 5.540 4.900 4.120
Quelle: PlanEcon, East-Gennany at the Crossroads: Part one - Domestic Economic Situation; Part two - Recent Foreign Trade Perfonnance, PlanEcon Report Nr. 44-45., 1989, S. 10.
Es wird deutlich, daß nach beiden Quellen (CIA und PlanEcon) im gesamten sogenannten Ostblock die DDR das höchste, Rumänien das niedrigste BSP pro Kopf aufwies. Der Abstand im Entwicklungsniveau der DDR gegenüber der ehemaligen Bundesrepublik, der, wie oben berichtet, nach CIA-Daten lediglich 12,5% betrug, vergrößert sich nach der Alternativrechnung (in Tabelle 2) auf rund 34% entsprechend dem pro KopfBSP von 9.360 US-$ anstatt von 12.480 US-$. Mit dieser niedrigeren Ziffer rangierte die DDR im Jahre 1988 aber immer noch vor Irland, Spanien, Portugal und Griechenland. Der Abstand in den Entwicklungsniveaus der sozialistischen Planwirtschaften und Ungarns stellte sich im Jahre 1988 gegenüber den Vergleichsziffern der DDR nach
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ClA- bzw. PlanEcon-Daten wie folgt dar: Tschechoslowakei: 18,7% / 18,8%; Sowjetunion: 29,1% / 40,7%; Ungarn: 30,6% / 30,5%; Bulgarien: 39,8% / 39,9%; Polen 41,7% / 40,8%; Rumänien: 56% / 56%. Es wäre voreilig, aus den vorgelegten Daten auf die Leistungsflihigkeit und den erreichten Wohlstand einer Volkswirtschaft unmittelbar schließen zu können. Durchschnittsgrößen der berichteten Art sagen nämlich nichts aus über die Zusammensetzung der erzeugten Endprodukte (Konsum- und Investitionsgüter in Menge und Qualität und deren jeweiliger Anteil an der Gesamterzeugung) sowie die Einkommensverteilung. Auf mittlere und längere Sicht wird zudem die wirtschaftliche Bedeutung eines Landes weniger daran gemessen, welche gesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten und welches Niveau des BSP pro Kopf erreicht wurde. Beides ist aHerdings indirekt ein Ausdruck fiir die Fähigkeit eines Landes, sich den strukturellen Wandlungsprozessen steHen zu können, das heißt, sich auch als international wettbewerbsflihig zu erweisen. Dies ist zudem verbunden mit der Möglichkeit, einen hohen Beschäftigungsstand zu erreichen. Auf diese Aspekte ist im folgenden näher einzugehen.
3. Sektoralstruktur der DDR-Wirtschaft und Beschäftigung Ende der achtziger Jahre Als ein wirtschaftlich und sozial bedeutsames Faktum galt die Tatsache, daß in fast aHen sozialistischen Planwirtschaften ein im Vergleich zu privatwirtschaftlichen Marktwirtschaften kaum gekannter Stand der Beschäftigung vorgefunden wurde. So erreichte der Beschäftigungsanteil im Verhältnis zur Zahl der erwerbsfahigen Personen in der DDR im Jahre 1989 einen Wert von 80,2%. Rechnet man die in den offizieHen Statistiken nicht mitgezählten Angehörigen von Armee, Polizei, Staatssicherheit, politischen Parteien und der Wismut AG hinzu, kommt man auf eine Erwerbstätigenquote von 89%. Die Vergleichsziffer lautete fiir die damalige Bundesrepublik 68,6% Markant war zudem der Unterschied im Hinblick auf den Anteil der weiblichen Beschäftigten an der Gesamtbeschäftigung zugunsten der DDR: 49,8% zu 39,6% Auch beim Anteil der Beschäftigten mit berufsqualifIzierendem Abschluß an der Gesamtbeschäftigung wies die DDR im Vergleich zur Bundesrepublik mit 78,7% zu 72,5% einen besseren Wert auf. AHerdings zeigt ein Blick auf die Art der Tätigkeiten der Beschäftigten (Tabelle 3) einige markante Unterschiede zwischen der DDR und der damaligen Bundesrepublik, die offensichtlich auf System unterschiede in der Kombination des Faktors Arbeit mit der Menge und Qualität des komplementären Faktors Kapital bzw. der Kapitalausstattung zurückzufilhren waren.
3 Eckart/Paraskewopou!os
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Tab. 3: Tätigkeitsmerkmale der Beschäftigung 1988 in % Typ der Tätigkeit Maschinenbasierte Fertigung Manuelle Fertigung Landwirtschaftliche Tätigkeit Reparaturen und Wartung Planung, F .&E. Dienstleistungen Überwachung Management Transport, Einzelhandel Medizin, Sozialdienste Unterricht Kultur Summe
DDR 12,9 11,8 6,6 12,0 6,1 6,6 6,1 12,6 13,9 4,4 6,6 0,4 100,0
Bundesrepublik 15,7 4,3 3,8 8,0 5,5 9,8 6,5 16,6 18,0 5,9 5,3 0,7 100,0
Quelle: OECD Economic Surveys - Germany -, Paris 1990/1991, S. 21.
Es fällt auf, daß ein relativ hoher Prozentsatz der Beschäftigten in der DDR im Vergleich zur Bundesrepublik in den Bereichen manuelle Fertigung (11,8% zu 4,3%), Reparaturen und Wartung (12% zu 8%) und in der Land- und Forstwirtschaft (6,6% zu 3,8%) tätig waren. Ein weiteres Bewertungskriterium filr die Beurteilung der wirtschaftlichen Bedeutung eines Landes bezieht sich auf die Kapitalausstattung sowie die technologische und die Altersstruktur des Kapitalstocks. Wegen der prinzipiell nicht vergleichbaren Preisstrukturen der DDR mit denen der Bundesrepublik macht ein direkter Vergleich der Kapitalausstattung beider Volkswirtschaften kaum Sinn.6 Generell läßt sich allerdings feststellen, daß die Kapitalintensität in beiden Volkswirtschaften im Laufe der Jahre nicht unerheblich gestiegen war. Trotzdem sanken allerdings, wie bereits gezeigt, die Wachstumsraten der Wirtschaftsleistung der DDR mindestens seit Mitte der achtziger Jahre permanent. Diese widersprüchlichen Entwicklungen von Kapitalintensität und Wirtschaftswachstum wurden auf sinkende Erträge infolge des systembedingten Typs "extensiven" Wachstums in Verbindung mit steigender Kapitalakkumulation zurückgefilhrt. Die Reaktion der Wirtschaftspolitik der DDR auf diese Entwicklung bestand in einer weiteren Konzentration der Investitionen auf sogenannte Schlüsselsektoren, wie Mikroelektronik und Robotertechnik. Das eigentliche Problem relativ geringer Faktorproduktivität, nämlich das Unvermögen, via Investitionen technischen Fortschritt verstärkt als Wachstumsfaktor zu initiieren, wurde fiir die sinkende Gesamtleistung nicht direkt verantwortlich gemacht.
6ygl. hierzu OECD: OECD Economic Surveys - Germany -, Paris, 1990/1991, S. 21 f..
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Bedeutsam fiir die wirtschaftliche Leistungs- und Wettbewerbsflihigkeit eines Landes ist aber auch dessen Fähigkeit zu strukturellem Wandel. In der langen Frist und in grober Abgrenzung zeigt sich diese Dynamik in einem relativen Zurückbleiben des Primärsektors (Land- und Fostwirtschaft) hinter dem Sekundärsektor (Industrie), wobei heute fiir die fortgeschrittenen Volkswirtschaften gilt, daß nunmehr der tertiäre Sektor (Dienstleistungen) zumeist mehr als 50% der gesamtwirtschaftlichen Leistung erzeugt, gemessen an der Bruttowertschöpfung. Obwohl die Bundesrepublik im Jahre 1989 nicht zu den Ländern zählte, die hinsichtlich des strukturellen Wandels mit zur Weltspitze gehörte, war der so gemessene EntwicklungslÜckstand der DDR gegenüber der Bundesrepublik beträchtlich. Auffällig waren, wie aus Tabelle 4 hervorgeht, die eklatanten Unterschiede der Anteile der Sektoren Bergbau und warenproduzierendes Gewerbe (Industrie) an der Bruttowertschöpfung aller Sektoren mit 53,4% mit Bezug auf die DDR und dem Vergleichswert von lediglich 35,9% fiir die Bundesrepublik. Das gleiche gilt mit Blick auf die entsprechenden Ziffern der Sektoren Land- und Forstwirtschaft (3,8% zu 1,7%) und Dienstleistungen i.e.S. (5,5% zu 29,0%). Die Strukturunterschiede bezüglich der Bruttowertschöpfung treten noch deutlicher zutage, wenn man die entsprechenden Ziffern des Dienstleistungssektors i.w.S. (Dienstleistungen i.e.S. plus staatliche Dienstleistungen) betrachtet. Hier lauten die Werte: 18,2% der DDR zu 40,0% der Bundesrepublik. In etwa spiegelt auch die sektorale Beschäftigungsstruktur das dargestellte Bild (vgl. Tabelle 5). Ein weiteres Beurteilungskriterium zur Bestimmung der wirtschaftlichen Bedeutung eines Landes wird in der Effizienz des Arbeitseinsatzes gesehen, gemessen an der Arbeitsproduktivität. Auch hier sind im Vergleich der entsprechenden Produktivitätsziffern der DDR im Vergleich zur Bundesrepublik ganz erhebliche Niveauunterschiede zu konstatieren (vgl. Tabelle 6). Die DDR-Wirtschaft wies, wie dargestellt, gesamtwirtschaftlich und unter sektoralen Gesichtspunkten gesehen, einen erheblichen Rückstand in der Arbeitsproduktivität verglichen mit der der Bundesrepublik auf Dieser war, unter technischen Aspekten zu urteilen, zu großen Teilen auf die relative Überalterung des Kapitalstocks der Volkswirtschaft der DDR zurückzufiihren. In aller Regel läßt sich von der Altersstruktur eines Kapitalstocks auch auf dessen technisches Niveau schließen. Im Hinblick hierauf wies die DDR im Vergleich zur Bundesrepublik einen erheblichen EntwicklungslÜckstand auf, was sich besonders deutlich an der Altersstruktur der AuslÜstungen zeigte.
3'
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Tab. 4: Bruttowertschöpfung nach Wirtschaftszweigen 1989 (zu laufenden Preisen)
Land- und Forstwirtschaft Bergbau und warenproduzierendes Gewerbe Baugewerbe Groß- und Einzelhandel Verkehr Dienstleistungen Staat Private Organisationen ohne Erwerbscharakter Summe
Bundesrepblik % Mrd. DM 35,7 1,7 777,3 35,9
DDR % Mrd. DM 3,8 11,0 152,6 53,4 21,3 17,9 23,0 15,6 36,3
7,5 6,3 8,1 5,5 12,7
119 194,3 126,4 627,3 238,6
5,5 9,0 5,8 29,0 11,0
8,0
2,8
46,5
2,1
285,7
100,0
2165,1
100,0
Quelle: OECD Economic Surveys - Germany -, Paris 1990/1991, S. 24.
Tab. 5: Sektorale Beschäftigung 1989 DDR Land- und Forstwirtschaft Bergbau und warenproduzierendes Gewerbe Baugewerbe Groß- und Einzelhandel Verkehr Dienstleistungen Staat Private Organisationen ohne Erwerbscharakter Summe
Bundesrepublik % in Tausend 1.066 3,9 9.140 33,1
in Tausend 960 3.655
% 10,0 37,9
589 784 624 899 1.746
6,2 8,1 6,5 9,3 18,1
1.810 3.600 1.559 4.978 4.267
6,6 13,0 5,6 18,0 15,4
374
3,9
1.203
4,4
9.640
100,0
27.623
100,0
Quelle: OECD Economic Surveys - Germany -, Paris 1990/1991, S. 24.
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Tab. 6: Niveau der Arbeitsproduktivität in der DDR (Bundesrepublik = 100) Zweige Gesamtwirtschaft Land- und Forstwirtschaft Warenproduzierendes Gewerbe Baugewerbe Handel- und Verkehr Dienstleistungen (einschl. staatliche Dienstleistungen)
Arbeitsproduktivität 37,5 36,8 49,9 54,8 48,7 71,5
Quelle: OECD Economic Surveys - Germany -, Paris 1990/1991, S. 25.
Tab. 7: Entwicklung der Altersstruktur der Ausrüstungen in der Industrie Alter in Jahren bis 5 6 bis 10 11 bis 20 über 20 Summe
DDR Anteil in % 1977 1989 32,0 27,0 27,4 22,5 19,4 29,4 21,2 21,1 100,0 100,0
Bundesrepub lik Anteil in % 1980 1989 39,3 40,2 31,7 29,7 23,6 24,7 5,4 5,3 100,0 - 100,0
Quelle: Kusch, G. u.a., Schlußbilanz-DDR. Fazit einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik, Berlin 1991, S. 57 und OECD Economic Surveys - Germany -, Paris 1990/1991, S. 88.
Wie sich aus Tabelle 7 entnehmen läßt, waren im Jahre 1989 50% der Ausrüstungen des industriellen Sektors der DDR älter als 11 Jahre, verglichen mit der entsprechenden Ziffer filr die Bundesrepublik von 29%. Der desolate Zustand des Kapitalstocks der DDR-Volkswirtschaft zeigte sich daIilber hinaus in einem vergleichsweise hohen Verschleißgrad desselben sowie einem relativ hohen Anteil an vollständig abgeschriebenem Anlagevermögen. So betrug der Verschleißgrad des Kapitalstocks im Jahre 1988 insgesamt 45,7%, der der Ausrüstungen sogar 55,5%. Ein internationaler Vergleichswert filr die letztere Ziffer liegt bei 45%. Zu berücksichtigen ist außerdem, daß die Nutzungsdauer von Ausrüstungen international gesehen wegen der Methode degressiver Abschreibung kürzer ist gegenüber der Nutzungsdauer, die durch die in der DDR üblichen Methode linearer Abschreibung ausgewiesen wurde. 7 Der schlechte Zustand des Kapitalstocks der DDR manifestierte sich auch im Gebäudezustand, insbesondere dem von Fabrik- und sonstigen wirtschaftlich genutzten Gebäuden. Letztere waren zu circa 20% unbrauchbar geworden. Die Lagergebäude 7Kusch, G. u.a.: Schlußbilanz-DDR. Fazit einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik, Berlin 1991, S. 55.
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des Großhandels waren zu 50%, die Gebäude des Einzelhandels zu fast 33% kaum mehr zu nutzen. - Eine drastische Verschlechterung zeigte auch die Entwicklung des Bauzustandes von Wohngebäuden in den achtziger Jahren. Tab. 8: Bauzustandsstufen der Wohngebäude in der DDR 1980 und 1989 (in %) Bauzustandsstufe I (guter Erhaltungszustand) 11 (leichte Schäden: 6 - 25% Verschleißgrad) III (beträchtliche Schäden: 26 - 50% Verschleißgrad) IV (unbrauchbar) Summe
1980 21 58
1989 9 40
19
40
2 100
II 100
Quelle: Kusch, G. u.a., Schlußbilanz-DDR. Fazit einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik, Berlin 1990, S. 65.
Wie sich aus Tabelle 8 entnehmen läßt, sank der Anteil der Wohngebäude der Kategorie I und 11 (guter bis mittlerer Bauzustand) von 79% im Jahre 1980 auf lediglich 49% im Jahre 1989. Im Gegenzug erhöhte sich der Anteil der Kategorien III und IV (schlecht bis unbrauchbar) von 21% auf51% im gleichen Zeitraum. 8 Technologische Überlegenheit oder Rückständigkeit eines Landes manifestiert sich nicht nur in dem Stand und der Entwicklung der Altersstruktur seines Kapitalstocks, sondern zeigt sich auch in der Entwicklung und dem Niveau relativer Weltmarktpreise, die die exportierten Industrieprodukte zu erzielen vermögen. Die Durchschnittspreise von Industrieprodukten der DDR erreichten im Jahre 1980 noch 57% vergleichbarer Produkte der Bundesrepublik, fielen aber auf nur 37% im Jahre 1989.9 Beides, die Vergreisung des Kapitalstocks der DDR und der Verfall der Weltmarktpreise fiir DDR-Industrieprodukte zeigt, daß die DDR-Wirtschaft gegenüber den entwickelten westlichen Volkswirtschaften nicht nur eine technologische Lücke aufwies, sondern daß sich diese in den achtziger Jahren zudem vergrößerte. Als zusätzliche Faktoren, die die Effektivität des Faktoreinsatzes wesentlich mitbestimmen, gelten die Entwicklung und der Zustand der technischen Infrastruktur. In technisch unzureichender Verfassung befanden sich Ende 1989 insbesondere das Verkehrs- und Nachrichtenwesen der DDR. Die Flughäfen und die Systeme der Energieversorgung genügten nicht den Ansprüchen einer entwickelten industrialisierten Volkswirtschaft. Extreme Entwicklungsrückstände wies insbesondere das Telekommunikationsnetz sowohl im Hinblick auf die Anschlußdichte als auch die Al8ebenda, S. 65. 9Stehn, J., Schmieding, H.: Spezialisierungsmuster und Wettbewerbsfllhigkeit: eine Bestandsaufnahme des DDR-Außenhandels. In: Die Weltwirtschaft, H. I, 1990.
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tersstruktur des hierin gebundenen Kapitalstocks auf. 1O Die Verkehrsinfrastruktur war ebenfalls mit zahlreichen Mängeln behaftet. Dies bezieht sich sowohl auf den Ausbau der Eisenbahnverbindungen (Anteil elektrifIzierter Strecken am Gesamtnetz) als auch den Unterhaltungszustand der Gleiskörper. II Als unterentwickelt und in schlechtem Zustand konnte auch das Fernstraßennetz der DDR gelten. 20% der Fernstraßen (vergleichbar den Bundesstraßen der Bundesrepublik), 34% der Autobahnen und 60% der Kreis- und örtlichen Straßen wurden als hochgradig schadhaft oder als unbrauchbar qualifIziert. I2 In ähnlich rückständigem und schlechtem Unterhaltungszustand befanden sich auch andere Bereiche der technischen Infrastruktur. So überstiegen etwa 50% der Wasserversorgungsanlagen und Leitungsnetze die Zeit normaler Nutzungsdauer. Von den rund 7.500 Städten und Gemeinden der DDR verfugten lediglich 1.035 über Klärwerke zur Abwasserbehandlung, wovon 40% eine nur mechanische Abwasserreinigung vornehmen konnten und 30% derselben einen erheblichen Verschleiß aufwiesen.
4. Zur Bedeutung und dem Stand der außenwirtschaftlichen Position der DDR Ende der achtziger Jahre Die wirtschaftliche Bedeutung eines Landes wird auch daran gemessen, in weicher Weise dieses fliltig ist, sich die Vorteilhaftigkeit internationalen Handels zunutze machen zu können. Dies gilt um so mehr filr relativ kleine und rohstoffarme Volkswirtschaften. Die Verflechtungsquote, gemessen als Anteil des Wertes der Exporte am BSP, betrug im Jahre 1989 filr die DDR 19,1%, verglichen mit der der Bundesrepublik von 34,4%. Auch war die Position der DDR im Welthandel im Jahre 1989, wie aus der folgenden Tabelle 10 zu entnehmen ist, von eher geringer Bedeutung mit einem Anteil von lediglich 0,7% am Wert der Weltexporte, verglichen mit einer entsprechenden Ziffer von etwas mehr als 11 % filr die damalige Bundesrepublik. Hinsichtlich der Regionalstruktur des Außenhandels der DDR zeigte sich ein außerordentlich widersprüchliches Bild, je nachdem, welche Wechselkursrelationen den Berechnungen der Export- und bnportwerte zugrunde gelegt wurden. So hat das Statistische Bundesamt den Versuch unternommen, aus den in "Valutamarktgegenwert" ausgedrückten Daten im Hinblick auf Exporte, bnporte und Handelsbilanzsaiden eine Umbewertung der Außenhandelsdaten der DDR in DM-Werte vorzunehmen. I3 Daraus ergibt sich dann das folgende Bild hinsichtlich der Regionalstruktur des Außenhandels der DDR im Jahre 1989 (Tabelle 10). IOOECD: OECD Economic Surveys - Germany -, Paris, 1990/1991, S. 91. " Vgl. Laaser, C.-F.: Implikationen der deutschen Vereinigung rur die Verkehrspolitik. In: Die Weltwirtschaft, H. 2.,1990. 120ECD: OECD Economic Surveys - Germany -, Paris, 1990/1991, S. 91. IlStatistisches Bundesamt (Hrsg.): Sonderreihe mit Beiträgen rur das Gebiet der ehemaligen DDR, H. 9: Umsätze im Außenhandel 1975 und 1980 bis 1990, Wiesbaden 1993, S. 17.
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Tab. 9: Kennziffern zum Welthandel 1989 - Mrd. US-Dollar % Exporte Welthandel 3.090 100 Industrialisierte Länder 70 2.170 davon: Bundesrep. D.·) 341 11 Entwicklungsländer 645 21 8,9 (100) RGW-Länder 275 davon: DDR 22 0,7 (8,0) Länder Exporte pro Kopf (US-Dollar) DDR 1.050 Bundesrepublik 5507 Deutschland Belgien TT 10.316 Niederlande 7.257 Dänemark 5.478 Schweden 6.075 Osterreich 4.256 Irland 5.912 Spanien 1.116 Portugal 1.231 Griechenland 757 Italien 2.444 Frankreich 3.191 Großbritannien 2.657 U.S.A. 1.462 Japan 2.228
Importe % 100,0 3.090 2.195 71,0 19,7 270 19,7 610 9,2 (100) 285 0,7 (8,0) 22 Exportquoten (Exporte zu BIP in %) 19 29 66 48 27 27 26 61 11 28 14 16 19 18 8 10
')ohne lOH; I)
einschließlich Luxemburg
Quelle: OECD, OECD Economic Surveys - Gerrnany -, Paris 199011 991, S. 27 und 178; eigene Berechnungen.
Festzuhalten bleibt, daß die DDR in regionaler Hinsicht außerordentlich stark in den RGW eingebunden war. Hierin dominierten bei weitem die Außenhandelsbeziehungen mit der Sowjetunion, die sowohl bei den Exporten als auch den Importen einen Anteil von mehr als 50% an den entsprechenden RGW-Werten der DDR erreichte. Hinsichtlich der Warenstruktur der Exporte und Importe der DDR zeigte sich sowohl im Hinblick auf den RGW - und insbesondere den Handel mit der So-
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Tab. 10: Regionalstruktur des Außenhandels der DDR im Jahre 1989 Region Staatshandelsländer - darunter Sowjetunion
Exporte Mill. DM % 29.834,3 72,6 16.576,3 40,3
Importe % Mil!. DM 27.671,4 67,3 15.392,3 37,4
Industrialisierte westliche Länder - darunter EG-Länder
6.913,3 3.508,3
16,8 8,5
9.256,1 4.273,6
22,5 10,4
Entwicklungsländer
2.300,2
5,6
2.016,8
4,9
2.056,8 41.104,9
5,0 100,0
2.197,6 41.141,9
5,3 100,0
Übrige Länder Summe
Quelle: Statistisches Bundesamt, Hrsg., Sonderreihe mit Beiträgen rur das Gebiet der ehemaligen DDR, H. 9: Umsätze im Außenhandel 1975 und 1980 bis 1990, Wiesbaden 1993, S. 15; eigene Berechnungen.
wjetunion - als auch in bezug zu westlichen Markwirtschaften eine erhebliche inkongruenz. Die Warenstruktur hochentwickelter Volkswirtschaften wird durch intraindustriellen Handel dominiert, weniger entwickelte Volkswirtschaften zeigen dagegen Sortimentsstrukturen ihrer Export- und Importprodukte, die dem Typus interindustrieller Handel zuzuordnen sind. Für die Warenstruktur des Außenhandels der DDR war kennzeichnend, daß die Importe aus dem RGW-Raum und mit Dominanz der Sowjetunion zu großen Teilen aus dem Bezug von Energierohstoffen (Erdöl und Erdgas) bestanden 14. Mehr als zwei Drittel des Wertes der Importe aus der Sowjetunion bestanden aus Energieträgern, sonstigen Rohstoffen und Vormaterialien. Die Steinkohle-, Koks- und Eisenerzimporte aus der Sowjetunion und Polen bildeten die Rohstoffbasis der eisenschaffenden Industrie. Erdöl- und Erdgaslieferungen primär aus der Sowjetunion ergänzten die vorwiegend aus Braunkohle bestehenden Ausgangsrohstoffe der chemischen Industrie. Die Warenstruktur der DDR-Exporte in den RGW-Raum und wiederum mit Dominanz in die Sowjetunion bestand primär aus Investitions- und industriellen Konsumgütern. Bei bestimmten Ausrüstungen, vornehmlich Erzeugnissen des Maschinenbaus, deckte die Sowjetunion ihren Bedarf zu mehr als 50% durch Importe aus der DDR. Bei Werkzeugmaschinen betrug der Importanteil der DDR ca. 70%, bei Fischereifahrzeugen sogar 90%. Insgesamt gesehen war die DDR bei Erzeugnissen des Maschinenbaus innerhalb des RGW die fiihrende Exportnation. Dabei lieferte die DDR ein ungewöhnlich breites Sortiment industrieller Produkte in den RGW14 yg l. hierzu und im folgenden Wemer, K.: Die Integration der DDR-Wirtschaft im RGW und der Zusammenbruch der Ostmärkte. In: Pohl, R., Hrsg., Herausforderung Ostdeutschland. Fünf Jahre Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, Berlin 1995, S. 53 - 66.
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Raum. Diese waren zwar von ihrer Beschaffenheit her gesehen als relativ humankapitalintensiv, aber auch als leicht substituierbar zu klassifizieren 15 • Ein durchaus anderes Bild zeigte sich in der Waren struktur des Außenhandels der DDR mit westlichen industrialisierten Marktwirtschaften, dem sogenannten "Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet" (NSW). Unterschiede werden besonders deutlich bei einem Vergleich mit den entsprechenden Strukturkomponenten der ehemaligen Bundesrepublik. Tab. 11: Warenstruktur des Außenhandels der DDR und der Bundesrepublik mit westlichen Handelspartnern 1987 - in % DDR')
Produkttyp Rohstoffe Arbeitsintensive Produkte Kapitalintensive Produkte Forsch ungs-/humankapitalintensive Produkte - leicht zu imitieren - schwer zu imitieren
Bundesrepublik
Export 28,2 28,8 17,7
Import 17,6 17,5 17,8
Export 9,1 20,8 28,5
Import 22,7 22,3 18,1
10,8 13,2
18,2 32,4
15,2 27,4
16,3 19,8
I) Handel mit den OECD-Uindem einschließlich lOH. Quelle: Stehn, J.tH. Schmieding, Spezialisierungsmuster und Wettbewerbsfllhigkeit: eine Bestandsaufnahme des DDR-Außenhandels. In: Die Weltwirtschaft, H. 1,1990.
Die Warenstruktur der Exportgüter der DDR im Hinblick auf den Außenhandel mit den OECD-Ländern kontrastierte erheblich mit deljenigen gegenüber den RGWLändern. Im Westexport der DDR dominierten Rohstoffe und arbeitsintensive Produkte. Innerhalb der Rohstoffexporte spielten die auf Erdölbasis gewonnenen Produkte, das heißt Mineralölprodukte, chemische Grundprodukte u.a. in den siebziger und Anfang der achtziger Jahren eine wichtige Rolle. Die Westimporte der DDR konzentrierten sich im wesentlichen auf technologisch hochwertige Investitionsgüter der Kategorie "schwer zu imitieren" (vgl. Tabelle Il). In summa läßt sich festhalten, daß der Außenhandel der DDR durch das Prinzip des intraindustriellen Handels dominiert war. Allerdings mit dem paradox anmutenden Erscheinungsbild, daß sich die DDR gegenüber den RGW-Partnerstaaten als die technologisch überlegene, gegenüber westlichen Industrieländern aber als die technologisch unterlegene Volkswirtschaft erwies. Die Handelsbilanz der DDR gegenüber den RGW-Staaten hatte sich im großen und ganzen aus systemspezifischen Gründen, mit Ausnahme im Verhältnis zur So15Stehn, J., Schmieding, H.: Spezialisierungsmuster und Wettbewerbsfllhigkeit: eine Bestandsaufnahme des DDR-Außenhandels. In: Die Weltwirtschaft, H. I, 1990.
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wjetunion, relativ gleichgewichtig entwickelt. Gegenüber der Sowjetunion hatte sich im Laufe der siebziger und achtziger Jahre ein erhebliches kumuliertes Handelsbilanzdeflzit in Höhe von über 5 Mrd. transferablen Rubel aufgebaue 6 • Die in den siebziger Jahren gegenüber dem Westen zunehmende Verschuldung in Hartwährungsvaluten konnte zwar Anfang der achtziger Jahre aufgrund einer entsprechenden "Exportoffensive" reduziert werden, wuchs aber spätestens seit Mitte der achtziger Jahre wieder an und erreichte 1989 eine derart kritische Höhe, daß die DDR vor der Zahlungsunfahigkeit stand. Die als "Sockel" bezeichnete Verschuldung gegenüber dem Westen blieb von 1980 bis 1986 mit circa 28 Mrd. Valutamark (VM) oder, je nach Wechselkursentwicklung, circa 12 bis 13 Mrd. US-$ relativ konstant, erreichte dann aber im Jahre 1989 einen Wert von 49 Mrd. VM oder von über 20 Mrd. USDollar. Für das Jahr 1990 wurde sogar eine Westverschuldung in Höhe von 57 Mrd. VM prognostiziert. Tatsächlich sollte die Nettoverschuldung der DDR im Jahre 1989 aber nur 38 Mrd. VM oder 20,6 Mrd. US-Dollar betragen, da bisher "geheimgehaltene" Guthaben noch keinen Eingang in das Zahlenwerk der Zahlungsbilanzentwicklung gefunden hätten. 17 Daß sich die Westverschuldung der DDR derart kritisch entwickeln konnte, war auch darauf zurückzuführen, daß entgegen den Zielstellungen des Fünfjahrplanes 1986 bis 1990 der Planwert der Westexporte um 14 Mrd. VM unterschritten, der Planwert der Westimporte dagegen um 15 Mrd. VM überschritten wurde. Statt des geplanten Exportüberschusses von 23,1 Mrd. VM im Westhandel war in diesem Zeitraum ein Handelsbilanzdeflzit von 6 Mrd. VM entstanden. Nach den durch das Statistische Bundesamt veröffentlichten Zahlen errechnet sich allein fiir die Jahre 1980 bis 1989 ein kumuliertes HandeisbilanzdefIZit gegenüber dem NSW von 8,7 Mrd. DM. 18 Die im Westhandel erzielten Handelsbilanzüberschüsse sanken in den achtziger Jahren beständig und reichten bei weitem nicht aus, um die aufgelaufene Westverschuldung wenigstens bedienen, das heißt zumindest den Schuldenstand halten zu können. Als Ergebnis dieser Entwicklung bleibt festzuhalten, daß die Exporterlöse des Jahres 1989 im Handel mit dem NSW nur 35% der Zahlungsverpflichtungen im Hinblick auf die Begleichung der Westimporte und der Bedienung der Kredite deckten, was einer so bestimmten Schuldendienstrate von circa 150% ent-
l6ygl. Haendcke-Hoppe, M.: Erfolge und Mißerfolge in der Außenwirtschaft. In: Die Wirtschaftspolitik der Ära Honecker - ökonomische und soziale Auswirkungen, FS Analysen, H. I, 1989, S. 67, Tabelle 8. 17Vgl. Haendcke-Hoppe-Amdt, M., Wer wußte was? Der ökonomische Niedergang der DDR. In: Deutschland Archiv, H 6,1995, S. 588 - 602, S. 590. '8Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Sonderreihe mit Beiträgen rur das Gebiet der ehemaligen DDR, H. 9: Umsätze im Außenhandel 1975 und 1980 bis 1990, Wiesbaden 1993, S. 17; eigene Berechnungen.
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sprach. 19 Die Entwicklung der Handelsbilanzsaiden gegenüber dem NSW zeigt Tabelle 12. Tab. 12: Außenhandel der DDR mit den Industrialisierten Marktwirtschaften in den Jahren 1980 - 1989 (Millionen DM) Jahr 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 Summe
Einfuhr 8.080,3 8.181,8 8.274,9 7.009,2 8.424,4 7.126,0 7.354,4 8.623,8 9.114,9 9.256,1
Ausfuhr 4.978,9 5.597,6 7.788,4 7.197,4 7.599,3 9.404,0 8.272,6 6.665,9 6.307,1 6.913,6
Außenhandelssaldo -3.101,4 -2.584,2 -486,5 +188,2 -825,1 +2.278,0 +738,2 -1.957,9 -2.807,8 -2.342,5 -10.901,0
Quelle: Statistisches Bundesamt, Hrsg., Sonderreihe mit Beiträgen für das Gebiet der ehemaligen DDR, H. 9: Umsätze im Außenhandel 1975 und 1980 bis 1990, Wiesbaden 1993, S. 14 ff.
Über kaum ein Kapitel der wirtschaftlichen Situation der DDR Ende der achtziger Jahre gab und gibt es mehr widersprüchliche Aussagen als über deren Westverschuldung. Dazu mögen beigetragen haben die teilweise nicht veröffentlichten oder nur bruchstückhaft bekannt gewordenen Statistiken zum Außenhandel der DDR mit dem Westen und den eingegangenen Kreditbeziehungen. Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht Wunder, daß bei der Beschreibung der Westverschuldung der DDR erhebliche von einander abweichende Zahlenangaben existieren. Nach offiziellen Zahlen der Bank filr Internationalen Zahlungsausgleich (BlZ) betrug die Bruttoverschuldung der DDR im Jahre 1989 33,3 Mrd. DM oder 19,4 Mrd. US-$. Nach Abzug der ausgewiesenen Guthaben in Höhe von circa 15,7 Mrd. DM und unter Berücksichtigung des Defizits der DDR im IDH in Höhe von ca. 4 Mrd. Verrechnungseinheiten (= DM) ergab sich somit eine Nettoverschuldung von 19,7 Mrd. DM oder circa 11 Mrd. US-$. Bei den ausgewiesenen Guthaben handelte es sich allerdings zum allergrößten Teil um Einlagen von Ausländern, um Werte des Umlaufvermögens der Gruppe "Kommerzielle Koordinierung" (KoKo), noch nicht verwendete Hartwährungskredite und Deviseneinlagen von DDR-Bürgern. Ökonomisch betrachtet konnten diese Guthaben daher nicht zur gänze gegenüber den Werten der Bruttoverschuldung als
19Schürer, G., u.a.: Vorlage rur das Politbüro des Zentralkomitees der SED, Betreff: Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlußfolgerungen, 27. Oktober 1989, abgedruckt in: Deutschland Archiv, H. 10, 1992, S. 1112 - 1120.
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deckungsfähig angesehen werden. 20 Eine neuere Untersuchung21 kommt nunmehr auf der Grundlage der Sichtung umfangreicher Originalmaterialien zu dem Schluß, daß die nominale Nettoverschuldung der DDR Ende 1989 nicht bei 20,6 Mrd. USDollar, sondern mit großer Wahrscheinlichkeit bei 13-14 Mrd. US-Dollar gelegen haben dürfte.
5. Abschließende Bemerkungen aus ordnungstheoretischer Sicht Wie aus den berichteten Daten hervorgeht, befand sich die DDR-Volkswirtschaft Ende der achtziger Jahre in einer ökonomisch brisanten, wenn nicht sogar prekären Situation. Das zwar im Vergleich zu den anderen Staaten des RGW-Raumes beachtliche BSP pro Kopf erfilllte bei weitem nicht den jahrzehntelang erhobenen politischen Anspruch, den anfangs bestehenden Entwicklungsrückstand gegenüber westlichen industrialisierten Volkswirtschaften nicht nur aufholen zu wollen und zu können, sondern diese in der Wirtschaftsleistung in absehbarer Zeit sogar zu übertreffen. Die Ursachen filr die festgestellten Wachstumsschwächen, die außerordentlich niedrige Faktorproduktivität, den desolaten Zustand des Kapitalstocks und nicht zuletzt die in mancherlei Hinsicht an internationalen Standards gemessen wenig entwickelte Außenwirtschaft waren außerordentlich vielgestaltiger Natur. Wesentliche Gründe filr die relative ökonomische Unterentwicklung der DDR-Volkswirtschaft respektive deren sich in den achtziger Jahren deutlich zeigender Niedergang lassen sich schwergewichtig auf zwei miteinander verwobene Ursachenkomplexe zurückfiihren. Es sind dies erstens die in den Ordnungsstrukturen von sozialistischen Planwirtschaften angelegten IneffIzienzen aller Art und zweitens und damit zusammenhängend die wirtschaftspolitische Entwicklungsstrategie der in diesen Wirtschaftssystemen jeweils herrschenden marxistisch-leninistischen Parteien, der SED im Falle der DDR also. Um mit letzterem zu beginnen: Schon während der Zeit der Schaffung der Grundlagen eines Systems der Zentralverwaltul)gswirtschaft sowjetischen Typs in der späteren DDR wurde auch die Strategie der wirtschaftlichen Entwicklung dem sowjetischen Vorbild folgend ausgerichtet. 22 Für die damalige SBZ und auch die übrigen Staaten im sowjetischen Einflußbereich bedeutete dies den Auf- und Ausbau einer industriellen Basis (mit dem Schwerpunkt auf der Schwerindustrie) als den wirtschaftliches Wachstum bestimmenden Sektor. Die Beibehaltung dieser Strategie 2Oygl. Haendcke-Hoppe-Amdt, M.: Wer wußte was? Der ökonomische Niedergang der DDR. In: Deutschland Archiv, H 6,1995, S. 590. 2lVolze, A., Ein großer Bluff'? Die Westverschuldung der DDR. In: Deutschland Archiv H. 5, 1996. 22Thalheim, K. C.: Die Rezeption des Sowjetmodells in Mitteldeutschland. In: lahn, G.lvon Bissing, W.M. (Hrsg.): Die Wirtschaftssysteme der Staaten Osteuropas und der Volksrepublik China. Untersuchungen der Entstehung, Entfaltung und Wandlung sozialistischer Wirtschaftssysteme, Bd. I, Berlin 1961, S. 267 - 343.
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und die durch Systemspezifika verursachten Tendenzen zur Perpetuierung dieser Sektoralstruktur hatten in dynamischer Sicht zu einem relativen Übergewicht des industriellen Sektors sowohl im Hinblick auf dessen Anteil am BIP als auch an der Beschäftigung gefiihrt. 23 Unabhängig von der Größe eines Landes und seiner Ausstattung mit natürlichen Ressourcen waren es dominant system- und politikspezifische Faktoren, die zu der vergleichsweisen Überdimensionierung des industriellen Sektors in allen sozialistischen Planwirtschaften fiihrten. Als politikspezifische Faktoren sind in diesem Zusammenhang zu nennen die binnenwirtschaftlich orientierte Wachstums- und die dazu spiegelbildlich passende Außenwirtschaftsstrategie der Importsubstitution. Beides, binnenwirtschaftliche Wachstumsorientierung und Importsubstitutionsstrategie fiihrten dazu, daß die kleinen Volkswirtschaften Ostreuropas und insbesondere auch die DDR nicht die ihrer ökonomischen Größe entsprechenden Vorteile aus dem internationalen Handel wahrnahmen. Die sem i-autarke Wachstums- und Entwicklungsstrategie verursachte eine Überexpansion der Rohstoffe und Zwischenprodukte herstellenden Industriesektoren: Eisen und Stahl, chemische Produkte, Zement, Papier usw .. Marktwirtschaften vergleichbaren Entwicklungsstandes und entsprechender Größe decken ihren Bedarf an derartigen Produkten zu einem weitaus größeren Teil durch Importe. Im Vergleich zu Marktwirtschaften wiesen sozialistische Planwirtschaften deshalb einen relativ hohen Grad an "Unterspezialisierung" auf. Das heißt mit anderen Worten: In allen sozialistischen Planwirtschaften wurde ein zu großes Sortiment an Gütern der verschiedensten Art, in vergleichsweise zu geringen Stückzahlen und mit zu hohem Material-, Energie- und Arbeitsaufwand produziert. Systemspezifische Faktoren der Unterspezialisierung traten in sozialistischen Planwirtschaften besonders deutlich auf der Betriebsebene zutage. In diesem Zusammenhang ist die Tendenz der Betriebe zu nennen, möglichst viele der fiir die Endprodukte benötigten Zwischenprodukte selbst herzustellen, um dadurch das Risiko der Nichterreichung der Planziele zu minimieren. Dies ist zurückzufilhren auf die systembedingte betriebliche Umwelt genereller Knappheit an Inputfaktoren und unzuverlässiger Zulieferungen. Der durch die geschilderte Außenhandelsstrategie verursachte generelle Trend zur Unterspezialisierung wurde auf der mikroökonomischen Ebene durch das Verhalten der Betriebe noch verstärkt. In der DDR trug hierzu insbesondere das offiziell sogar als ökonomisch besonders fortschrittlich erachtete Programm zum "Rationalisierungsmittelbau" der Kombinate bei. 24 Die verzerrenden Wirkungen des überdimensionierten industriellen Sektors tendierten, wie bereits erwähnt, zu perpetuieren. Die aus system- und politikspezifi-
23 Vgl.
hierzu und im folgenden Winiecki, 1.: The Distorted World of Soviet-Type Economies, London und New York 1988, S. 73 f1. 24ygl. zur ökonomischen Bedeutung dieses Programms vgl. Kusch, G. u.a.: Schlußbilanz-DDR. Fazit einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik, Berlin 1991, S.46 t1.
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schen Glilnden exzessive Nachfrage nach Inputfaktoren aller Art einschließlich des Faktors Arbeit erzeugte zusammen mit dem hiermit gleichzeitig verbundenen Hang zur Hortung ein Klima allgemeiner Ressourcenknappheit. Dieser Effekt veranlaßte die Planinstanzen zum verstärkten Ausbau der Grundstoffmdustrien, weil die Planverantwortlichen der ökonomisch falschen Ansicht waren, daß diese letzteren Sektoren den industrielle Endprodukte erzeugenden Branchen in ihrer Entwicklung hinterherhinkten und so das industriebasierte Wachstum hemmten. Dies läßt sich fiir den Fall der DDR sehr deutlich an den Strukturverschiebungen der Investitionen innerhalb des industriellen Sektors im Zeitraum von 1970 bis 1988 nachweisen. Innerhalb dieses Zeitraums nahmen die Investitionen im Bereich der Grundstoffmdustrie strukturell um mehr als 50 Mrd. M zu, wohingegen der entsprechende Wert fiir den Maschinenbau 13,5 Mrd. M betrug und die Elektrotechnik-Elektronik einen diesbezüglichen Strukturverlust von 9,3 Mrd. M erfuhr?5 Letztendlich führte diese Strategie zu einem vergleichsweise überhöhten Anteil der Grundstoffmdustrie am Gesamtwert der Industrieproduktion und dem Anteil der Beschäftigten im industriellen Sektor. Daraus folgt, daß innerhalb des überdimensionierten industriellen Sektors strukturell gesehen die Grundstoffe erzeugende Industrie selbst als überdimensioniert anzusehen war. Für die DDR-Wirtschaft stellte der überdimensionierte industrielle Sektor ein besonderes Problem dar. Die auf dem VIII. Parteitag im Juni 1971 verkündete Strategie der Hauptaufgabe der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik mit dem als Kernstück derselben bezeichneten Wohnungsbauprogramm26 überforderte die Leistungskraft der DDR-Volkswirtschaft. Die strukturelle Um lenkung der Investitionsmittel auf die sog. nichtproduzierenden Bereiche bei gleichzeitig steigendem Konsum und sinkenden Akkumulationsraten mußten im Verein mit den verzerrten Branchenstrukturen zu der oben dargestellten Vergreisung des Kapitalstocks filhren. 27 Die Rolle der außenwirtschaftlichen Beziehungen unter den Ordnungsbedingungen sozialistischer Planwirtschaften ergab sich aus der institutionellen Gestaltung des Außenwirtschaftsregimes als staatliches Auße~andels- und Valutamonopol und dessen Einbettung in die zentrale staatliche Volkswirtschaftsplanung. Exporte und Importe mit Bezug auf die Waren- und Regionalstruktur sowie die damit verbundenen Valuta- und Kreditbeziehungen waren integraler Teil des Füntjahr- und des Jahresvolkswirtschaftsplanes und von daher gesehen von eher sekundärer Bedeutung. Entsprechend der Tendenz, den Außenhandel an den strukturellen Erfordernis-
25 yg l.
Kusch, G. u.a.: Schlußbilanz-DDR. Fazit einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik, Berlin 1991, S. 29 ff., insbesondere S. 23, Tabelle 7. 26 Buck, H.: Die Sozialpolitik der DDR arn Beispiel des Wohnungsbaus. Enquete-Kommission: Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland, Bd. III1, S. 729 - 745, Baden-Baden und Frankfurt 1995, S. 729 ff.. 27 yg l. Kusch, G. u.a., Schlußbilanz-DDR. Fazit einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik, Berlin 1991, S. S. 22 ff..
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sen einer Importsubstitutiosstrategie auszurichten, konzentrierten sich die Importe sozialistischer Planwirtschaften auf den Bezug von •
im eigenen Land nicht verfiigbaren Rohstoffen und Brennstoffen,
•
Gütern der gewerblichen Wirtschaft, die nicht im eigenen Lande selbst erzeugt wurden oder werden konnten, vornehmlich von Investitionsgüter und
•
Zwischenprodukten, die selbst nicht in gewünschtem Umfang hergestellt wurden oder werden konnten. 28
Der Gesamtumfang der importierten und der exportierten Güter wurde aus den entsprechenden Planteilen des Volkswirtschaftsplanes abgeleitet. Hierbei wurden sowohl die Export- als auch die Importmöglichkeiten durch die bereits erwähnte Tendenz zu exzessiver Faktornachfrage beeinflußt. Hieraus leitete sich ein verstärkter Druck auf den Bedarf von Importgütern ab, der wesentlich aber nur durch Lieferungen aus westlichen Marktwirtschaften zu decken war. Dies deshalb, weil die Handelspartner innerhalb des RGW-Blocks mit den gleichen system spezifischen Verhaltensmustern innerhalb ihrer eigenen sozialistischen Planwirtschaften konfrontiert waren. In außenwirtschaftlich auf Importsubstitution ausgerichteten Volkswirtschaften sind fast alle importierten Güter "lebensnotwendige" Engpaßgüter. Ein Ausfall solcher Zulieferungen gefährdete nicht nur den Volkswirtschaftsplan als solchen, sondern darin eingeschlossen auch die geplanten Exporte. Somit kam es zu der ökonomisch paradoxen Situation, daß eine auf Importsubstitution ausgerichtete Außenhandelspolitik in Verbindung mit den Systemspezifika der sozialistischen Planwirtschaft den Zwang zum Import noch verstärkte. Wachsende Schwächen in der Außenhandelsposition zeigten sich insbesondere auch in den Exportleistungen sozialistischer Planwirtschaften. Besonders deutlich wurde dies bei Betrachtung der Entwicklung der Warenstruktur der exportierten Produkte. Der wachsende Verlust an Konkurrenzfiihigkeit wurde deutlich sichtbar an einem permanent sinkenden Anteil sozialistischer Planwirtschaften am Import von industriellen Fertigprodukten durch westliche Marktwirtschaften. Im Gegensatz zur binnenwirtschaftlichen Bedeutung des industrieIlen Sektors hatten Z.B. die industriellen Fertigerzeugnisse der DDR wegen mangelnder Qualitäts- und veralterter Technologiestandards kaum noch die erwünschten Absatzmöglichkeiten. Der Zwang zum Export in Richtung NSW, um die von dort bezogenen Importe fmanzieren zu können, ließ die Frage nach der Exportrentabilität zunächst als sekundär erscheinen. So nimmt es nicht Wunder, daß die sogenarmte Devisenrentabilität, das heißt der Valuta-Erlös je Mark Exportproduktion im Hinblick auf das NSW bewertet zu In-
28Vg l.
hierzu und im folgenden Winiecki, J.: The Distorted World of Soviet-Type Economies, London und New York 1988, S. 163 ff..
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landspreisen ständig sank. War im Jahre 1970 filr eine Mark Valuta-Erlös des Exports in das NSW noch ein Binnenaufwand von circa 1,87 Mark der DDR (M) erforderlich, so stieg dieser auf 4 M im Jahre 1988. Um den Valuta-Erlös des Jahres 1988 im NSW-Export realisieren zu können, war damit ein Aufwand in Höhe von 40% des produzierten Nationaleinkommens notwendig geworden?9 Aus der Fülle von Details zur Beschreibung der wirtschaftlichen Bedeutung der DDR Ende der achtziger Jahre konnten nur einige wenige, aber für die Thematik dieses Beitrags bedeutsame berichtet werden. So viel sollte allerdings deutlich geworden sein: Das Wirtschaftssystem der DDR hatte eine Entwicklung genommen, bedingt durch die radikalen Veränderungen der wirtschaftlichen Beziehungen zu den Partnerländern im ehemaligen RGW, aber insbesondere infolge der erheblichen ordnungsstrukturellen Defekte des Systems selbst, die über kurz oder lang zu dessen Kollaps gefiihrt hätte und letztlich auch gefiihrt hat.
29Vg
l. Kusch, G. u.a.: Schlußbilanz-DDR. Fazit einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik, Berlin 1991, S. 54.
4 Eckart I Paraskewopoulos
Fred Klinger
FOLGEN DER WIEDERVEREINIGUNG FÜR DEN WIRTSCHAFTSSTANDORT DEUTSCHLAND 1. Vorbemerkung und Problemstellung Der wirtschaftliche und soziale Anpassungsprozeß in den neuen Ländern droht auf halben Wege steckenzubleiben. Eingezwängt zwischen den wirtschaftlichen Wachstumseinbrüchen im Westen, der Finanznot der öffentlichen Haushalte und den gigantischen Belastungen, die aus der Systemtransformation der Planwirtschaft erwachsen, ist die anfangliche Dynamik des ostdeutschen Wiederaufbaus ins Stocken geraten. Haben sich also - zu guter Letzt - die düsteren Prognosen vom Vereinigungsdesaster, wie sie kurz vor der Wiedervereinigung von nicht wenigen Kritikern abgegeben wurden, doch noch als zutreffend erwiesen?1 Man kann diese Frage defmitiv verneinen. Denn über einen Zeitraum von knapp sechs Jahren hat der Anpassungsprozeß im Osten das genaue Gegenteil belegt. Es wurden Entwicklungen vorangetrieben, deren Tempo und Umfang jeden unvoreingenommen Beobachter erstaunen lassen. Hierzu gehören die umfassende Herstellung marktwirtschaftlicher Rahmenbedingungen in ihrer ganzen institutionellen Breite, die vollständige Umwandlung des Staatseigentums in privatwirtschaftliches Produktivvermögen und nicht zuletzt die zwar schmerzhafte, aber unumgängliche Umwälzung der alten, nicht wettbewerbsfiihigen Beschäftigungsstrukturen der DDR. Die kritische Phase des sozialen und wirtschaftlichen Zusammenbruchs der DDR konnte zumindest abgefedert werden. Nicht zuletzt deshalb, weil mit dem umfangreichsten Transferprojekt der bisherigen Wirtschaftsgeschichte über eine Billion DM in die neuen Bundesländer gelenkt wurde. Auf den lautstark verkündeten Einschätzungen der Einigungskritiker sammelt sich inzwischen der Staub der Archive. Es berührt merkwürdig, wie vergeßlich die Welt der selbsterklärten Experten, Zeitkritiker und Medientrommler zu sein scheint! Fast so als litte sie unter zeitgesschichtlichem Gedächtnisschwund. Mir zumindest ist keine einzige namhafte Untersuchung bekannt, die sich wenigstens in Ansätzen IEinige dieser Positionen, die das Vereinigungsdesaster prognostizierten, habe ich in dem Beitrag: Der Transformationsschock. Wirtschaftliche und soziale Entwicklungen nach der 'Wende'. In: Altenhoff, Ralf; Jesse, Eckhard (Hrsg.): Das wiedervereinigte Deutschland, DUsseldorf 1995, S.169f dargestellt. Zu ihnen gehörten auch so hochrangige Forschungseinrichtungen wie das Deutsche Institut rur Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin.
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selbstkritisch mit den eigenen, heute zum Teil grotesk anmutenden Fehleinschätzungen zu Beginn der 90er Jahre auseinandersetzte. Was Wunder, daß diejenigen, die einst die relative Leistungsflihigkeit der Planwirtschaft mit wissenschaftlichem Raffinement zu untermauern suchten, wiederum irrten, als es darum ging, die wirtschaftlichen und sozialen Wirkungen des Vereinungungsprozesses abzuschätzen, und heute nicht weniger danebenliegen, wenn es um den Aufweis der strukturellen Defizite geht, die die aktuelle Krisis des ostdeutschen Aufbauprozesses bedingen. Fast sechs Jahre nach der Wiedervereinigung können die bedrohlich stagnativen Tendenzen in Ostdeutschland nicht mehr auf das bittere Erbe der Vergangenheit, der längst untergegangenen DDR-Wirtschaft geschoben werden. Viehnehr erweisen sie sich bei genauerer Betrachtung als der beredte Ausdruck einer höchst gegenwärtigen Problematik: In ihr drücken sich nicht mehr - zumindest nicht in erster Linie - die besonderen Strukturprobleme der Systemtransformation im Osten, sondern primär die allgemeinen StandortdefIzite des deutschen Westens aus. Letztere, so die hier vertretene Annahme, sind nämlich mit dem Einigungsboom nur kurzfristig verdeckt worden, treten nun aber verstärkt in den Vordergrund und beginnen auch auf die neuen Bundesländer auszustrahlen. Sechs Jahre nach der Vereinigung sind die negativen Einflüsse aus den Strukturpoblemen des Wirtschaftsstandorts Deutschland im Anpassungsprozeß überdeutlich geworden. Die neuen Länder wirken als Problemkatalysator. Sie lassen wie durch ein überdimensionsiales Brennglas die in Westdeutschland Z.T. noch verdeckt wirkenden Standortprobleme in ihren Konturen scharf hervortreten. Das zeigt sich insbesondere beim Kardinalproblem des ostdeutschen Wiederaufbaus: dem enormen Schwund an industriellem Potential. Diese industriellen Verluste an Produktivvermögen konnten bislang trotz aller Bemühungen und trotz aller neuentstandenen Verflechtungen mit dem Westen nicht wieder ausgeglichen werden. Das verarbeitende Gewerbe, d.h. die Industrie im engeren Sinne, hat sich seit dem Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft nicht wieder erholen können und besitzt nach wie vor erst eine marginale wirtschaftliche Bedeutung. So haben die neuen Länder zwar einen Bevölkerungsanteil von knapp 20%, tragen aber nur mit verschwindenden 6% zur gesamten Bruttowertschöpfung der Industrie in Deutschland bei. Die Arbeitsproduktivität des verarbeitenden Gewerbes erreicht nur 50% des westdeutschen Niveaus. Sechs Jahre nach der Wiedervereinigung hätte dieses geschwundene industrielle Produktionsfeld im Osten aber schon längst wieder durch leistungsfähige und international konkurrenzfähige Unternehmen ausgeglichen werden müssen, würden dieser Re-Industrialisierung nicht zwingende wirtschaftliche und institutionelle Barrieren entgegenstehen. Für das ostdeutsche Wirtschaftsgebiet wurden mit der Vereinigung Anspruche auf Gratifikationen und einen Lebensstandard vorprogrammiert, deren überhöhtes Niveau im Vergleich zu internationalen Leistungs-Relationen auch filr den Westen schon längst nicht mehr zu rechtfertigen war. Im Osten aber müssen diese neuen
Folgen der Wiedervereinigung flir den Wirtschaftsstandort
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Einkommen auf der Basis von Produktionsstrukturen erwirtschaftet werden, deren chronische Leistungsschwäche nicht nur den Untergang der DDR ausgelöst hatten, sondern die zusätzlich noch den Strukturbruch eines gewaltigen Transformationsprozesses zu verkraften haben. So hat die ebenso voreilig wie rasch vorangetriebenen Angleichung der ostdeutschen Erwerbseinkommen u.a. dazu gefiihrt, daß die dortigen Lohnstückkosten, d.h. die Arbeitskosten, die je Einheit Produkt gezahlt werden müssen, das westliche Kostenniveau auch heute noch um gut 30% übertreffen. Das bedeutet, um eine Einschätzung vom Frühjahr 1993 aufzugreifen, daß es in den Jahren seit der Wiedervereinigung "mit Abstand weltweit keinen vergleichbaren Produktionsstandort gibt, der gleichzeitig so teuer, so leistungsschwach und so schlecht ausgestattet ist" wie der deutsche Osten2 Jede nüchterne Bilanz der Ausgangslage hätte daher eine andere Anpassungstrategie fiir die neuen Länder nahegelegt als die, die sich in Deutschland durchsetzen konnte: Auf der Tagesordnung stand nicht die Angleichung an ein sowieso nicht mehr haltbares westdeutsches Lebensnivau, sondern die institutionelle Genera/er-
neuerung des deutschen Wirtschaftsstandorts im Kontext einer modernisierenden Vereinigungspolitik. Der politische Schlüssel zur Sicherung der wirtschaflichen und
sozialen Zukunftschancen des wiedervereinigten Deutschlands lag nicht im Wettlauf um Konsum und materielle Verbesserungen, der noch im Vereinigungsboom seine flüchtigen Triumphe abfeierte, nicht in einer Konservierung bestehender Verhältnisse und ihrer Übertragung auf die neuen Länder, sondern in energischen Schritten hin auf ein gesellschaftliches Umdenken. In Stichworten ausgedrückt: Begrenzung von konsumtiven und sozialpolitischen Ansprüchen im Osten wie im Westen, Finanzierung des ostdeutschen Wiederaufbaus durch solide Ersparnisbildung, Entlastung der öffentlichen Haushalte statt weiterer Verschuldung und nicht zuletzt umfassende Maßnahmen zur Verbesserung von Wettbewerbsstärke und Innovationskraft. Beide Dimensionen, der erforderliche Strukturwandel des deutschen Wirtschaftsstandorts auf der einen und die zukünftigen die Entwicklungschancen im ostdeutschen Anpassungsprozeß auf der anderen, bilden in der Tat einen unauflöslichen Zusammenhang. Denn eine sich ausweitende Krise des Standorts wird die wirtschaftliche und soziale Strukturanpasssung in den neuen Ländern schon allein aufgrund ihrer Abhängigkeit von weiteren fmanziellen Transfers gefahrden; umgekehrt wird eine stagnative, krisenhafte Entwicklung im Osten die bereits vorhandenen Standortprobleme noch verschärfen und die politischen Handlungsspielräume ihrer Lösung verringern.
2Klinger, Fred: Aufbau und Erneuerung. Über die institutionellen Bedingungen der Standortentwicklung in Deutschland. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 17/1994, S.8. Der Beitrag basierte auf einem Referat auf der Jahrestagung der Gesellschaft fIlr Deutschlandforschung im FrUhjahr 1993.
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Daß sich die ökonomische Irrationalität entgegen allen Ralunenbedingungen und entgegen aller zukunftsichernden Vernunft dennoch Bahn brach, hatte seine Gründe. Es herrschte damals durchaus ein unterschwelliges Einverständnis zwischen den lnteressenvertretern aus Wirtschaft, Gewerkschaften und Politik, eine Art Minimalkonsens des kurzfristigen Vorteilsdenkens in Sachen Wiedervereinigung, der da lautete: Alle Partner im lnteressenkartell sollten auf ihre Kosten kommen und von grundlegenden Nachteilen verschont bleiben. 3 Die ökonomischen Folgen waren bislang ebenso zwangsläufig wie schwerwiegend: Der Osten Deutschlands ist zum de-industrialisierten Entwicklungsgebiet geworden.
2. Ökonomische Globalität und das Problem des Standorts Vereinfacht ausgedrückt besagt die These vom Standortnachteil, daß die Rahmenbedingungen der Produktion, insbesondere die im internationalen Vergleich zu hohen Lohnkosten dazu fuhren, daß bestimmte Produktionen auf dem einheimischen Standort nicht mehr konkurrenzfähig sind. Sie erfiillen nicht mehr die Renditeerwartungen, und deshalb fließt per Saldo auf längere Sicht Produktivkapital an andere, wirtschaftlich günstigere Standorte ab. Diese These vom Standortnachteil ist umstritten und gerade in jüngster Zeit unter heftigen Beschuß geraten. Sie sei, volkswirtschaftlich gesehen, wie ihre Gegner nachzuweisen versuchen, "eine Absurdität".4 Die Kernargumente der Kritiker lauten, wiederum vereinfacht: Eine Volkswirtschaft, die begründete die IG-Metall als gewerkschaftlicher Vorreiter einer radikalen und umgehenden Einkommensangleichung ihren Vorstoß zur 100%igen Tarifangleichung bis April 1994 mit dem nüchternen Hinweis, daß man damit nur die unumgängliche Marktbereinigung in Ostdeutschland unterstütze. Da man sich sowieso auf einen vollständigen Neuaufbau der Industrie einstellen müsse, würde eine Niederiglohnpolitik nur die nicht konkurrenzfllhigen Produktionsanlagen in den neuen Bundesländern erhalten helfen. Der tiefere Hintergrund dieser gewerkschaftlichen 'Marktverdrän-gungspolitik' bestand darin, jeden Druck der östlichen Arbeitsmärkte auf die westlichen Besitzstände zu verhindern. Vgl. etwa dazu die Stellungnahmen des damaligen IG-Metall Vorsitzenden Franz Stein kühler im Handelsblatt v.12.8.199I, S.3. Um die dann arbeitslosen OstArbeitnehmer von der gefilrchteten Abwanderung in den Westen abzuhalten, wurden sogar - und dies auf erstaunlich problemlose Weise - mit dem Arbeitgeberverband Ausgleichszahlungen vereinbart, die das damalige Kurzarbeitergeid filr die rund 500.000 ostdeutsche Metaller auf einen ungekürzten Tariflohn aufstockten! All dies war natürlich durchaus im (westlichen) Arbeitgeberinteresse, denn die überlegenen Westbetriebe hatten dadurch mit der leidigen Ostkonkurrenz leichtes Spiel. Die TarifVeträge würden ja nicht nur filr die alten Ostbetriebe, sondern auch filr die hochproduktiven Westunternehmen gelten. "Dies", so Steinkühler, "wußten die Gewerkschaften, die Arbeitgeber und die Politiker. " - ebenda. Dieselben Argumente wurden auch seitens der IG-BauSteine-Erden vorgetragen, die bereits bis Anfang 1994 eine Angleichung auf 85% der westlichen Grundvergütungen erreicht hatte. -Vgl. etwa Der Tagesspiegel v. 31.10.1990, S.15. Völliges Einverständnis mit dieser Tarifentwicklung/Ost war auch aus dem Bundesministerium filr Arbeit und Sozialordnung zu vernehmen.- Vgl. etwa Lothar Clasen, Erste Zwischenbilanz, in: Bundesarbeitsblatt, 1991/H.6, S. 5-8ff.. 4Flassbeck, Heiner: Deutschland - kein Standort filr Investitionen? Zum Zusammenhang von Löhnen und Direktinvestitionen, in: WSI-Mitteilungen, 1995/H.II, S. 70 I. J So
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wie die Bundesrepublik Deutschland seit Jahren erhebliche Ausfuhrüberschüsse erzielt, bei zahlreichen Erzeugnissen die Position des Exportweltmeisters einnimmt und an den internationalen Devisenbörsen geradezu als Stabilitätsgarant gilt, hat keinen Standortnachteil, sondern einen enormen Standortvorteil! Eine zwangsläufige Konsequenz dauerhafter Exportüberschüsse, die nicht durch gegenläufige Entwicklungen des Kapitalexports ausgeglichen werden, besteht in der Aufwertung der jeweiligen Währung. 5 Die Erhöhung des Außenwerts einer Währung hat natürlich umgekehrt eine Verbilligung von bnporten bzw. eine entsprechende Verteuerung der Exporte zur Folge. Bei nachhaltigem Aufwertungsdruck kann sich daher die Wettbewerbsposition vieler inländischer Unternehmen gegenüber ihrer ausländischen Konkurrenz entscheidend verschlechtern, zumal dann, wenn Preiserhöhungen die Wettbewerbsposition gefährden und es nicht gelingt, die währungsbedingten Preisverschiebungen durch entsprechende Kostensenkungen und Produktivitätszuwächse wieder wettzumachen. Diese Aufwertungstendenzen, wie sie sich in den vergangenen Jahren vor allem fiir die exportstarke Bundesrepublik, aber auch fiir Japan ergaben, sind natürlich ein eindeutiger Indikator rur Wettbewerbsstärke. Kein geringerer als der führende Konkunkturexperte des DIW, Heiner Flassbeck, formulierte daher: "Es gibt kein Problem mangelnder Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland. Der Standardfall der Standortdebatte: 'zu hohe Löhne - zu viel Abwanderung an Kapital' ist im gesamtwirtschaftlichen Rahmen schon von vorherein nicht plausibel, wird aber abwegig, wenn er auf ein Land angewendet wird, dessen Währung - wie es rur die D-Mark der Fall ist - permanent aufwertet.,,6 Aus einer konventionellen gesamtwirtschaftlichen Sicht zwingen diese Zusammenhängen zu einer unausweichlichen Konsequenz: Ein Land, das aus der Position einer dauerhaften Wettbewerbsstärke agiert und gleichzeitig eine Politik betreibt, die dazu geeignet ist, die eigene Konkurrenzfähigkeit noch zusätzlich durch Lohnsenkungen, fmanzielle Entlastung der Unternehmen u.a.m. zu optimieren, schüttet offenkundig politisches Öl ins wirtschaftliche Feuer, versucht, den Teufel des Aufwertungsdrucks mit dem Belzebub noch größerer Wettbewerbsvorteile (und postwendend nachfolgender Aufwertungseffekte) auszutreiben. Es sei daher, wie Flassbeck meint, gerdezu "gefährlich", "wenn 'der Gesunde' eine Wirtschaftspolitik betreibt, die sich vor allem das Ziel gesetzt hat, die Wettbewerbsfiihigkeit und die Standortqualität noch weiter zu verbessern. Eine solche Einstellung kann nur dazu führen, daß das wettbewerbsstarke Land immer wieder mit Aufwertungen überzogen wird, die die Wettbewerbsverhältnisse völlig verzerren. Am Ende ist er dann selbst der Kranke.,,7 5Jeder Kapitalexport erhöht die Nachfrage nach den Währungen derjenigen Volkswirtschaften, in denen dieses Kapital investiert wird. Dieser Export wirkt also im Vergleich zum Warenexport, der die ausländische Nachfrage nach einheimischer Währung erhöht, auf den Außenwert der Währung ~enau in entgegengesetzter Richtung. Flassbeck: a.a.O., S.704. 7Ebenda.
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Die erstaunliche lohnpolitische Empfehlung, die der hier zitierte Wirtschaftsexperte des DIW fiir den aufwertungsgeschwächten Wirtschaftsstandort zur Therapie empfiehlt, lautet daher: "Von 'zu hohen' Löhnen (einschließlich der Lohnnebenkosten) in Deutschland kann folglich nicht die Rede sein. Das Gegenteil ist richtig: Allein von den einheimischen Determinanten der Wettbewerbsfähigkeit her betrachtet, sind die Löhne in Deutschland 'zu niedrig'!"s Gegensätzlicher könnten die zeitgenössischen Bewertungen zur Standortfrage wohl nicht sein. Versuchen wir der Problematik genauer auf den Grund zu gehen! Von den Vertretern der Standortstärke wird in der Regel hervorgehoben, daß den extrem hohen Abeitskosten in der Bundesrepublik Deutschland, die im Westen mit brutto rund 44,- DM je Stunde das mit Abstand höchste Niveau auf der Welt erreichen, auch eine entsprechend hohe Produktionsleistung der Beschäftigten gegenüberstehe. In der Tat scheinen mit einer gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung von rund 62,- DM (1994) je Arbeitsstunde die hohen Personalkosten auch 'verdient' zu werden. Im internationalen Vergleich der fuhrenden Volkswirtschaften liegen die westdeutschen Lohnstückkosten zwar im Spitzenbereich, sie sind aber aufgrund der hohen Effizienz der Produktion noch erheblich niedriger als etwa in Japan, Großbritannien oder den USA. Zudem zeigen langfristige Vergleiche, daß die westdeutschen Lohnstückkosten weniger rasch gestiegen sind als in anderen fuhrenden Volkswirtschaften. Das DIW konnte daher in einer Standortanalyse daraufhinweisen, daß sich die Lohnstückkosten von 1970 - 1994 in Westdeutschland nur um 94 v.H. erhöhten, während dieser Anstieg bei "den wichtigsten Konkurrenzländern" bei 270 v.H. lag. 9 Die real erwirtschafteten Produktivitäts- und Kostenvorteile wurden allerdings durch die ebenfalls dauerhaften Aufwertungstendenzen der DM immer wieder zunichte gemacht, so daß sich, auf lange Sicht betrachtet, die EffIzienzvorteile und die Gegenbewegung des Aufwertungsdrucks die Waage hielten. Diese scheinbar lückenlose Indizienkette der Standortapologie gerät allerdings erheblich ins Wanken, wenn man ihre methodischen Prämissen und den Kanon ihrer theoretischen Annahmen verläßt, die unausgesprochen in den wirtschaftspolitischen Schlußfolgerungen immer mitransportiert werden. Zunächst: Die Standortapologie argumentiert immer gesamtwirtschaftlich, sie
fuhrt, und das hat Gründe, volkswirtschaftliche Aggregate ins Feld. Eine Formulie-
rung wie im oben genannten DIW-Bericht, wo von den 'wichtigsten Konkurrenzländern' der Bundesrepublik die Rede ist, muß eigentlich stutzig machen. Ja, sie kann sogar sehr irrefiihrend sein! Denn im Wettbewerb stehen ja nicht 'Japan' oder 'Deutschland', nicht die amerikanische oder die britische Volkswirtschaft, in Konkurrenz miteinander befmden sich vielmehr einzelne Unternehrnehmen: Automobilher-
8Ebenda, S.702. DIW-Wochenbericht, 1995/Nr.38, S.656.
9 yg l.
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steiler wie Volkswagen und Genral Motors; Werkzeugmaschinenbauer wie Mazak oder Traub; kleine Unternehmen mit regionalem Absatz oder Weltkonzerne mit globalem Marketing. Alle diese Wirtschaftseinheiten müssen zwar im Rahmen von vorgegebenen und übergreifenden Rahmenbedingungen (wie Arbeitskosten, Steuern und Abgaben, Zinsen, Infrastrukturen, institutionelle Einflüsse u.a.m.) produzieren, die fur ihre jeweiligen Volkswirtschaften bzw. Standorte charakteristisch sind. Aber diese Rahmenbedingungen sind immer nur ein äußeres Datum. Sie bilden niemals den Kern dessen, was die einzelne unternehmerische Leistung ausmacht. Denn es ist immer das konkrete Unternehmen, das als besondere wirtschaftliche Einheit unter dem Erfolgszwang der Leistungserbringung und des Marktes steht. Jedes Unternehmen stellt in diesem Sinne ein Unikat dar: Es kombiniert immer auf je spezifische Weise seine Produktionsfaktoren, verfilgt über hochmotivierte Mitarbeiter oder desinteressiertes Personal, gewinnt Kunden hinzu oder verliert Marktanteile, ist innovationsorientiert oder phantasielos. Die 62,-- DM Bruttowertschöpfung stellen daher auch keine reale wirtschaftliche Größe dar, sondern nur ein rechnerisches Konstrukt, das Ergebnis eines statistischen Durchschnitts, das sich in der Wirklichkeit auf ein Universum unterschiedlichster produktiver Akte bezieht. Diese Hinweise zielen keineswegs auf eine antiquierte Entgegensetzung von mikro- und makroökonomischer Betrachtungsweise, sondern auf die geradezu fatale Ignoranz gegenüber jenen mikroökomomischen Vorausetzungen, die fur die Makroökonomie der Standortproblematik eine zentrale Rolle spielen. Es ist das höchst komplexe Beziehungsgeflecht aus kulturellen, qualifikatorischen und produktionstechnischen Standortfaktoren, deren Zusammenspiel überhaupt erst Wertschöpfungsprozesse wie die der (west)deutschen Volkswirtschaft ennöglichen. Dieses Zusammenspiel unterliegt einer evolutionären Tendenz. Das heißt: Es kann zerstört oder weitergegeben werden; es ist, da in steter Wechselwirkung mit der jeweiligen Umwelt, entwicklungsfahig und veränderlich. Die Heraufkunft zahlreicher Schwellenländer, insbesondere die des feröstlichen Wirtschaftsraums, aber auch in Europa selbst belegen das deutlich. Diese neuen, mit expansiver Wucht wachsenden Standorte haben sich in der Tat deshalb mit einigem Erfolg in den Weltmarkt einfugen können, weil es ihnen auf der Grundlage eines sozial-kulturellen Akkumulationsprozesses gelang, einen bestimmten Sockel an Erfahrungswissen, Qualifikationen und bestimmten sozial-kulturellen Fertigkeiten zu entwickeln, die ich mit einem Arbeitsbegriff kurz Handling-Kompetenzen nennen möchte. Sie umschließen Fertigkeiten wie die Gewährleistung von Tansaktionssicherheit, die Professionalisierung von Funktionseliten, organisationale Effizienz, Aufbau von kooperations- und anschlußfahiger Institutionen u.a .. Diese Fertigkeiten des - im weitesten Sinne - Humankapitals hat die Schwellenländer fur eine Vielzahl von Produktionsprozessen auf konventionellem oder mittlerem Technologienivau aufuahmefahig und filr Weltmarktintegrationen emptanglich gemacht. Ökonomische G10balität drückt sich in diesem Sinne also keineswegs allein in der Ausweitung und Verdichtung von Han-
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deisbeziehungen und auch nicht in der - häufig einseitig betonten - neuen Qualität der internationalen Finanzmärkte aus, die die schnelle Bewegung gigantischer Geldund Kapitalströme in die jeweils günstigsten Anlagefelder erlauben. Das alles gab es im Prinzip - auch wenn die quantitativen Größenordnungen hier eine neue Dimension erreichen - schon vorher. Die wirklich neue Qualität der sich auch ökonomisch konstituierenden Weltgesellschaft äußert sich vielmehr in der beschriebenen Evolution von Handling-Kompetenz. Sie hat nämlich zwangsläufig die wachsende Mobilität des technologischen Wissens, die Verbreitung von Marktkenntnissen und des betriebswirtschaftlichen Know-hows und damit auch eine zunehmende Standortunabhängigkeit der Produktion zur Folge. Durch diese Expansion der kulturellen und produktionstechnischen Verwertungsschancen erfahrt die konventionelle Lehrbuchannahrne, daß das Realkapital lokal gebunden, das Finanzkapital hingegen mobil sei, eine grundlegende Modifikation. Zwar ist es auch unter den neueren Bedingungen globaler Ökonomie nicht möglich, ganze Branchen, Unternehmen oder Produktionsstätten wie durch Knopfdruck an andere Standorte zu verpflanzen, doch können in einer sich derart vernetzenden Weltwirtschaft in zunehmendem Maße an beliebigen planetaren Standorten beliebige Produktionen in vergleichbarer Produktivität und Qualität etabliert werden. Ausschlaggebend rur die Standortfestlegung von Produktivkapital sind dann tatsächlich die mittelfristig zu erwartenden Kostenstrukturen. Weisen letztere auf Dauer ein wesentlich günstigeres Niveau auf, so entwickeln sich die entsprechende Standorte unter sonst gleichen Bedingungen und bei wachsender Liberalisierung der Märkte zu einem Wachstumsfocus. Unter den neuen Bedingungen ökonomischer Globalität ziehen sie dann die auf das jeweilige Standortprofil besonders passenden und kosten günstigsten Produktionen wie ein Magnet an. Unternehmen, die in einem Hochlohnland wie Deutschland von entsprechenden Standortnachteilen bedroht sind, können auf solche Herauforderungen prinzipiell auf zweierlei Weise reagieren: Sind Hauptprozesse oder wichtige unternehmensinterne Zulieferungen betroffen, dann bietet sich das Abwandern an den neuen Standort an. Eine entsprechende Produktionsverlagerung eröffnet zudem die Möglichkeit, das ursprünglich auf dem einheimischen Standort erworbene hochproduktive Wissen mit den Kostenvorteilen des ausländischen Standorts zu kombinieren. Die neuen Kombinationsmöglichkeiten von vergleichsweise extrem niedrigen Faktorkosten, Spitzenstandards der technologischen Ausrüstung und hochentwickeltem produktionstechnischem Wissen erweisen sich dann in den Renditemöglichkeiten als geradezu explosiv. An den sich neu entwickelnden Standorten kommt es dann zu sprunghaften Wachstumsschüben und zu einem weiteren Anstieg des dort vorhandenen Sockels an Qualifikationen und Handling-Kompetenzen. Zum anderen können die Unternehmen im Falle von Standardprodukten und marktgängigen Erzeugnissen, unterstützt durch weltweit sinkende Transportkosten, auf die kostengünstigeren ausländischen Zulieferungen ausweichen. Es kommt dann,
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verrnittel über den Waren- und DienstIeistungshandel, sukzessive zum Aufbau spezialisierterer Lieferbeziehungen und dauerhafter produktiver Netzwerke mit den kostengünstigeren Auslandsstandorten. Typisch filr diese Entwicklung ist, daß der Anteil importierter Vorleistungen an den gesamten Vorleistungen des verarbeitenden Gewerbes in Deutschland, wie die nachfolgende Tabelle ausweist, im Laufe der Zeit erheblich zugenommen hat. Tab. I: Anteil der importierten Vorleistungen an den gesamten Vorleistungen des verarbeitenden Gewerbes 1980 und 1996 in V.H. 1) Industriezweig Chemie Maschinenbau Elektrotechnik Fahrzeugbau Holzbearbeitung Eisen und Stahl Kuststoffverarbeitung Papierverarbeitung I)
1980 24,2 19,4 24,3 14,6 9,2 11,6 10,3 7,0
1996 45,0 34,0 30,0 25,0 21,0 20,0 18,0 12,0
Zusammenstellung nach Angaben bei RolfKroker (1995), S.711
Diese Internationalisierung der produktiven Verwertungschancen, wächst in dem Maße, wie sich die realwirtschaftliche Dimension von Globalität durchsetzt. Sie stellt die wirklich neue Qualität des ökonomischen Strukturwandels dar. Noch vor 15 Jahren war sie bestenfalls ein isoliertes Phänomen innerhalb einiger multinational agierender Unternehmen. Heute ist sie längst zum Gegenstand systematischer Standortplanungen und einer entsprechenden Ausrichtung auf globale Systeme von Produktion, Zulieferung und Absatz geworden. Entsprechend können die unterschiedlichen nationalen Produktivitäts- und Kostenvorteile unter einem einzigen Unternehmensdach als Elemente einer globalen Wertschöpfungssynthese optimiert werden. So ist es filr multinationale Konzerne inzwischen typisch, daß sie mit Hilfe eines differenzierten "globalen Beschaffungswesens die Fertigungsaktivitäten im globalen Maßstab koordinieren, um wettbewerbliche und komparative Vorteile auszunutzen.,,10 Unter den Bedingungen realer ökonomischer Globalisierung ist es also eine höchst zweischneidige Sache, wenn das hohe Arbeitskostenniveau mit dem Verweis auf das hohe Niveau der Arbeitsproduktivität gerechtfertigt wird. Dieses Zusammenspiel hat fiir die 'guten alte Zeiten' der stetigen Lohnerhöhungen und ProduktivitätsIOYmurray, Janet; Wildt, Albert R.; Kotabe, Masaaki: Global Sourcing Strategies ofU.S. Subsidiaries of Foreign Multinationals. In: 'Management International Review, I995/H.4, S.322;- Übers. F,K.
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verbesserungen durchaus seine Berechtigung. Und fiir diese 'guten alten Zeiten' sind auch die angefiihrten klassischen Mechanismen der Zahlungsbilanz - die Rückwirkung der Aufwertungseffekte aufgrund nachhaltiger Überschüsse im Warenhandel durchaus aussagekräftig. Im dem Maße aber wie auch das Realkapital in dem beschriebenen Sinne durch wachsende Handling-Kompetenzen und globale Qualifizierungsprozesse ortsunabhängig und mobil wird, verlieren diese alten außenwirtschaftlichen Beziehungen an Bedeutung. Sie werden durch eine neue Entwicklung abgelöst: Es gibt bei gleichwertigen Produktions- und Transaktionsbedingungen überhaupt keinen Grund mehr, weshalb bei entsprechend hohen Arbeitskostenunterschieden das davon betroffene Produktivkapital nicht abwandern sollte. Wir würden also aufgrund der beschriebenen Zusammenhänge annehmen, daß sich bei den außenwirtschaftlichen Verflechtungen mit dem Ausland ein wachsender Strom von deutschen Direktinvestionen zeigt, der in jene Bereiche abfließt, in denen ausländische Standorte inzwischen qualitativ vergleichbare, aber wesentlich kostengünstigere Verwertungsbedingungen anzubieten haben. Das ist vor allem das verarbeitende Gewerbe auf den unteren und mittleren technologischen Nivaus. Wir würden ferner annehmen, daß dies umgekehrt bei den ausländischen Investitionszuflüssen nach Deutschland der Tendenz nach nicht der Fall ist. Das empirische Bild der Kapitalverflechtungen mit dem Ausland (vgl. Abbildung I) bestätigt diese Annahmen vollständig. Es erscheint in diesem Zusammenhang nicht unwesentlich darauf hinzuweisen, daß der von den Vertretern der Standortstärke betonte Zusammenhang von Handelsbilanzüberschüssen einerseits und daraus folgenden Nettokapitalexporten andererseits vollständig in die Irre fUhren muß, wenn allein die quantitative Seite der wirtschaftlichen Verflechtungen mit dem Ausland betrachtet wird und nicht die besondere Entwicklungsdynamik der verschiedenen Kapitalarten und die Qualität der Investitionsfelder unter die Lupe genommen werden. Derselbe positive Saldo auf einem Bankkonto kann ebenso für die Bonität wie für den drohenden Bankrott des Kontoinhabers stehen! Um was es sich dabei wirklich handelt, ergibt sich nicht aus dem mechanischen Summenspiel der Salden, sondern aus der Dynamik übergreifender, qualitativer Entwicklungen. Abbildung I zeigt zunächst einmal, daß die Strukturbilder der ausländischen und deutschen Direktinvestitionen zum einen ein sehr ähnliches Muster aufweisen: die Vorrangstellung des verarbeitenden Gewerbes, dynamische Entwicklungen beim Handel sowie bei Banken und Versicherungen besonders in der letzen Dekade. Zum anderen überragt aber die deutsche Wirtschaft schon allein quantitativ das ausländische Engagement in ganz erheblichem Maße und hat gegenüber dem Ausland im Laufe der Zeit eine beträchtliche Aktivposition aufgebaut.
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Abb. 1: Deutsche und ausländische Direktinvestitionen 1976 - 1993
140 120
lOO SO 60 40 20 0 1987
1976
1993
Deutsche Direktinvestitionen im Ausland nach ausgesuchten Wirtschaftszweigen in Mrd. DM
140 120
UXI 80 60 40 20 0 1976
1987
1993
E3
Verarbeilendes Gewerbe
EH
Banken und Versicherung Beleiligungsgesellschaflen und Vermögensverwal!ungen Finanzierungsinveslilionen
~ Handel
111
EillI
Anmerkung: Ausländische Investoren filr 1976 nur unmittelbare Untemehmensinvestitionen sowie Banken ohne Versicherungen; Zusammenstellung und eigene Berechnung nach Angaben der Deutschen Bundesbank, in: Monatsberichte, div. Jhg. Copyright: © Dr. Fred Klinger.
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Per Saldo floß von 1976 - 1993 wesentlich mehr an produktivem Kapital aus der bundesdeutschen Wirtschaft ab als umgekehrt aus dem Ausland an Direktinvestitionen ZUflOß. 11 Dieser Vermögensüberschuß im Unternehmensbereich liegt derzeit (Stand Jahresende 1993) per Saldo bei rund 121 Mrd. DM. 12 Noch zu Beginn des hier betrachteten Zeitraums hatten Ausländer knapp 15 Mrd. DM mehr in der Bundesrepublik investiert als umgekehrt deutsche Investoren im Ausland. Die bundesdeutsehe Wirtschaft war 1976 also noch ein Nettoimporteur von Direktinvestionen. Seitdem aber nahmen die deutschen Direktinvestitionen im Ausland wesentlich stärker zu als die von Ausländern in der Bundesrepublik. Zum Wendepunkt kam es 1980: Erstmals überstiegen in diesem Jahr die deutschen Direktinvestitionen die des Auslands. Der mit Abstand größte Teil der deutschen Direktivestitionen floß in Bereiche des verarbeitenden Gewerbes, dessen Anteil realiter noch größer wird, wenn man die seit Ende der achtziger besonders stark anwachsenden Finanzierungsinstitutionen mitberücksichtigt. Hier handelt es sich im wesentlichen um konzernabhängige Finanzeinrichtungen, die diverse moderne Dienstleistungen wie etwa Leasing, Kosurnentenkredite, konzerninternen Kreditvergaben u.a. mehr übernehmen. Diese Einrichtungen sind häufig nur die verselbständigten Finanzabteilungen multinationaler Industriekonzerne. Der Nettozufluß an ausländischen Direktinvestitionen nach Deutschland flillt im Vergleich zunächst einmal wesentlich niedriger aus. Anders als bei den deutschen Auslandsinvestitionen muß jedoch beim Bestand des ausländischen Unternehmensvermögens zusätzlich berücksichtigt werden, daß er im Kernbereich der harten Direktinvestionen, den sog. UnternehmensbeteiJigungen, viel niedriger ausfällt, als es auf nach dem Bild der aggregierten Größen erscheinen mag. Ein nicht unerheblicher Teil der nominellen Zuflüsse aus dem Ausland besteht nämlich - zumal seit 1989 aus konzern internen Krediten, die nicht zur Erweiterung der Unternehmensbeteiligungen eingesetzt werden. Der echte Zuwachs an Beteiligungskapital belief sich beispielsweise selbst in der Boomphase der Vereinigung (1989-1991/ jeweils Jahresende) bei den ausländischen Investoren in Deutschland auf lediglich 16 Mrd. DM,
IIDie Daten- und Bewertungsgrundlage ftlr die nachfolgende Einschätzung bilden die Berichterstattungen der Deutschen Bundesbank, die seit 1976 u.a. in ihren Monatsberichten regelmäßig in einem Zweijahresabstand über den Stand der Kapitalverflechtung der Unternehmen mit dem Ausland berichtet. 12Dieser Überschuß fiele noch höher aus, wenn man den Anstieg des Außenwerts der DM berücksichtigt. Die AufWertungseffekte fuhren dazu, daß die in ausländischer Währung ausgewiesenen Bilanzwerte von deutschen Auslandsinvestitionen bei der Rückrechung in DM entsprechend an Wert verlieren. Diese transaktionsbedingten Wertverluste des deutschen Produktivvermögens beliefen sich bis Ende 1993 auf etwa 20 Mrd. DM. Umgekehrt werden die ausländischen Investitionen - solange wir den Vergleich in DM durchftlhren - von solchen Wertverschiebungen natürlich nicht berührt. Denn wie jedes andere inländische Unternehmen müssen auch die ausländischen Investoren ihr Unternehmensvermögen in DM bewerten.
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während alle ausländischen Direktinvestionen zusammengenommen (d.h. einschließlich der Kredite) immerhin um nominell 42 Mrd. DM anstiegen. Die echten Unternehmensbeteiligungen machten also weniger als 40% der Direktinivestitionen aus.
Hinzu kommt ein wesentlicher Unterschied. Das deutsche Unternehmensvermögen im Ausland weist nicht nur wertmäßig die höchsten Anteile beim verarbeitenden Gewerbe auf, dieser Sektor nahm auch in der Zahl der aktiven Unternehmen und Neugrundungen stetig zu. Umgekehrt beim Ausland: Von 1976 bis 1985 entfielen fast alle 1800 neuentstandenen Unternehmen mit maßgeblicher ausländischer Beteiligung auf Geschäftsfelder außerhalb des verarbeitenden Sektors. Das heißt: Der deutsche Wirtschaftsraum stellte sich bereits zu diesem Zeitpunkt rur gewerbliche ausländische Investoren in erster Linie nur noch als Absatzmarkt dar. Er war daher fiir den Ausbau von Handels- und Vertriebsnierdelassungen, nicht mehr jedoch als Produktionsstandort von Interesse. Das im Besitz von Ausländern befmdliche Unternehmensvermögen des verarbeitenden Gewerbes wuchs daher in der Grundtendenz nur noch wertmäßig im Rahmen der bereits etablierten Unternehmen und dabei auch nicht einmal in erster Linie durch eine Erweiterung der produktiven Basis. In den Jahren 1991 bis 1993 schrumpfte diese Basis sogar zum ersten Mal während des hier betrachteten Gesamtzeitraums: Die ausländischen Direktinvestitionen im verarbeitenden Gewerbe gingen aufgrund von Liquidationen in ihrem Bestand sogar um 2 Mrd. DM zurück. In diesen Bereich flossen bis auf Marginalien auch keine Mittel fiir Neuanlagen. Wie niedrig das wirtschaftliche Wachstumspotential der neuen Bundesländer von ausländischen Unternehmen eingeschätzt wird, erhellt nicht zuletzt die Tatsache, daß sich zwischen 1991-1993 der gesamte Zufluß an ausländischen Direktinvestionen in die neuen Ländern auf magere 3 Mrd. DM belief, die zudem am Industriebereich vorbeigingen. 13 Die Größenordnung entspricht ungefähr den deutschen Direktinvestionen, die während dieser Jahre in Brasilien getätigt wurden. Wie immer man die Veränderungen der Zah!ungsbilanz interpretieren will, die Vertreter der Standortstärke bleiben eine Erklärung dafiir schuldig, weshalb deutsches Kapital ausgerechnet in produktive Anlagen des verarbeitenden Gewerbes mit ungebrochener Dynamik zu ausländische Standorten abwandert und umgekehrt ausländische Unternehmen diesen Bereich so meiden, als grassierte in Deutschland die ökonomische Pest. Bleibt der Einwand zu berucksichtigen, daß die dauernden Exportüberschüsse und die stetige AufWertungstendenz der DM ja nur zwei Seiten derselben Medaille sind und daß der Nettoexport von Kapital unter diesen Bedingungen nur zum notwendigen Zahlungsbilanzausgleich beiträgt. Diese Aussage ist in einem prinzipiellen Sinne 13 Vg l. Deutsche Bundesbank: Die Entwicklung der Kapitalverflechtung der Unternehmen mit dem Ausland von Ende 1991 bis Ende 1993, in: Monatsbericht, 1995/H.5, S.60.
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sicher richtig; sie triffi: jederzeit und auf jede Volkswirtschaft zu. Mehr als problematisch ist eS jedoch, Wenn über diese grundsätzlichen Zusammenhänge hinaus versucht wird, eine fundamentale Beziehung zwischem dem Außenhandel einerseits und den tatsächlichen Währungs schwankungen andererseits zu konstruieren. Ein solche Kausalannahrne erscheint unter den Bedingungen global entfalteter Finanzmärkte nicht nur spitzfindig, sondern auch antiquiert. Denn seit geraumer Zeit gehen die Handelsströme gegenüber den Kapital- und (kurzfristigeren) Geldbewegungen in ihrer wertmäßigen Bedeutung ständig zurück. Das heißt, andere Einflüsse, zumal die geld- und kapitalmarktspezifischen Dimensionen der Außenwirtschaft bestimmen den Wechselkurs einer Währung wesentlich stärker als der Warenhandel. Die Salden der Kapitalverkehrsbilanz folgen in ihrer Logik schon längst nicht mehr den Salden der Außenhandels- bzw. Leistungsbilanz. Die entfalteten Finanzmärkte haben sich vielmehr gegenüber den Warenmärkten zu einer selbständigen, genauer gesagt: verselbständigten Systemwelt fortentwickelt. Diese wird in unserer Gegenwart beispielsweise wesentlich stärker durch spekulative Tendenzen und politische Ereignisse beeinflußt, als durch realwirtschaftliche Vorgänge. Auch hier nagt also der Zahn der Zeit an Erklärungsmodellen, die Anfang der achtziger Jahre noch eine begrenzte Plausibilität haben mochten, anfang der neunziger Jahre aber als weithin überholt erscheinen müssen. Wie Abbildung 2 zeigt, beliefen sich die gesamten Warenumsätze im deutschen Außenhandel, d.h. die Summe aus Einfuhren und Ausfuhren, 1982 auf 804 Mrd. DM und waren bis zum Jahre 1992 auf 1309 Mrd. DM angestiegen. Allein der langfristige Kapitalverkehr (d.h. die Summe aller von In- und Ausländern getätigten Transaktionen bei Direktinvestionen, Wertpapieranlagen und langfristigen Krediten) war 1992 mit einem Gesamturnsatz von 2931 Mrd. DM mithin mehr als doppelt so groß. In derGrößenordnung entsprach das dem gesamtdeutschen Bruttoinlandsprodukt dieses Jahres. Noch im Jahre 1982 beliefen sich die Umsätze im langfristigen Kapitalverkehr auf erst 424 Mrd. DM. Sie lagen damals also noch unter dem Wert der Außenhandelsumsätze. Das bedeutet: Die Welt der Außenwirtschaft hat sich in diesem Zeitraum also nicht nur gedreht, sie hat eine Achsverschiebung erlebt! Es sind - vermittelt über die wachsende Internationalisierung und den Quantensprung der Finanzmärkte - qualitativ neue Systembeziehungen der sich global vernetzenden Märkte entstanden. Unter ihnen wirken die alten, konventionellen Wechselwirkungen zwischen Handels- und Finanzbeziehungen nur noch als Subsysteme mit nachgeordneter Bedeutung.
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Abb. 2: Anteile von Warenhandel und Kapitalverkehr deutscher Außenwirtschaft 1982 und (992 1) 14
~ Kapitalverkehr
I)
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Warenhandel
Nach Angaben der Deutschen Bundesbank und des Instituts der Deutschen Wirtschaft
1992 ging der Außenhandelsüberschuß der deutschen Wirtschaft in Höhe von rund 33 Mrd. DM sogar mit einem positiven Saldo der Kapitalbilanz von rund 135 Mrd. DM einher, d.h. mit einem bis dahin unbekannten, alle Dimensionen sprengenden Kapitalimport!
14
© Dr. Fred Klinger 1996.
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3. Globalität und Gestaltungserfordernisse Wenn die These von der Standortbedingtheit der wirtschaftlichen Aufbauprobleme im Osten zutrifft, worin bestehen dann die allgemeinen Gestaltungserfordernisse einer erfolgreichen Strukturentwicklung? Und weiter: WeIche konkreten Einflüsse trugen in der jüngsten Vergangenheit dazu bei, daß diese Erfordernisse nicht oder nur unzureichend berücksichtigt wurden? Natürlich ist es in diesem Zusammenhang nicht möglich, aus einer noch nicht einmal verfugbaren Theorie ökonomischer Globalität jene Punkte herauszufiltern, die eine Schlüsselstellung im Rahmen von ökonomischen Strukturentwicklungen im allgemeinen und - in Ableitung hiervon - fur die ostdeutschen Länder im besonderen besitzen. Ich will im weiteren jedoch versuchen, auf diese Fragen zumindest ansatzweise zu antworten. Folgende drei grundsätzliche Schlußfolgerungen drängen sich auf: I. Ökonomische Globalität in dem beschriebenen Sinne fuhrt dazu, daß mit der Vermehrung der Standortkonkurrenzen ein allgemeiner Druck zur ständigen Preissenkung entsteht. Diese globale Grundströmung ergibt sich deshalb, weil sich in der Tendenz einerseits die Preise auf die jeweils günstigsten Kostenbedingungen innerhalb der internationalen Wertschöpfungskette zubewegen und es andererseits immer kostspieliger und unrealistischer wird, mit Hilfe von Subventionen und anderer institutionel1er Barierren ein politisch gewünschtes Preisniveau fur bestimmte Güter bzw. Personengruppen künstlich aufrechtzuerhalten. Auch ein Land wie Deutschland, das - im internationalen Vergleich und gesamtwirtschaftlich betrachtet - über starke Wettbewerbspositionen verfugt, kann daher gleichzeitig in bestimmten, sich global vernetzenden Bereichen unter erheblichen Wettbewerbs- und Kostendruck geraten, ohne daß diese Entwicklung noch mit politischen Eingriffen steuerbar wäre.
Diese sich ausweitende Globaltendenz zum Faktorpreisausgleich müßte ohne eine gegenläufige Entwicklung, d.h. ohne die Erschließung neuer Märkte und Wertschöpfungspotentiale, zwangsläufig zur ökonomischen Zerstörung unserer Wirtschafisund Sozialordnung fuhren. Das ist eine zwingende, unausweichliche Konsequenz, von der wir heute annehmen müssen, daß sie schon längst aufgehört hat, eine nur virtuel1e Drohung zu sein. Viele Anzeichen sprechen datUr, daß sie sich in den vergangenen zehn Jahren bereits zur realen Bestandsbedrohung ausgewachsen hat. Die deutsche Volkswirtschaft und vergleichbare Wirtschaftsräume im übrigen Europa sind gegenüber qualitativ und produktiv gleichwertigen Standorten mit nominalen Arbeitskosten von einem Zehntel bis einem Fünftel des westdeutschen Niveaus auf die Dauer nicht konkurrenzfähig. Deshalb können auch Strategien der drastischen Absenkung von Arbeits- und Personalzusatzkosten keine angemessene Antwort auf die gegenwärtigen sozial-ökonomischen Herausforderungen sein. Sie erlauben, bestenfal1s, Zeit zu gewinnen. Mehr nicht. Dauerhafte Chancen der ökonomischen und sozialen Bestandwahrung kann es allein dann geben, wenn es gelingt, durch fortlaufende Innovation und höchste Rationalitätsansprüche im Rahmen komplexer Pro-
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duktionsprozesse, die jetzt noch gehaltene Sprosse in der globalen Wertschöpfungskette zu verteidigen. Anderenfalls ist die Abwärtstendenz auf der ökonomischen Stufenleiter unvermeidlich. Die erste Antwort auf die Herausforderungen ökonomischer Globalität heißt also die Förderung von Innovation und rationellste Formen ihrer marktorientierten Umsetzung in Permanenz. H. Die wachsende Einbettung aller nationaler Ökonomien in die Weltfinanzmärkte bedingt, daß fiskalische Ungleichgewichte, politisch verzerrte Preise und vergleichbare marktfremde Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen umgehend und mit der gnadenlosen Härte spekulativer Finanzströme abgestraft werden. Das heißt: Politisch lenkende Eingriffe in wirtschaftliche Wechselwirkungen verfehlen ihren Zweck, weil sie durch die heute gegebene Einwirkung allgegenwärtiger Finanzmärkte unterlaufen werden. Die Handlungsspielräume einer nationalen Geld- und Fiskalpoltitik sind daher in zunehmendem Maße begrenzt und müssen sich vermehrt darauf konzentrieren, den derzeit größen Störfaktor des globalen Finanzgeschehens - die hohe Staatsverschuldung - abzubauen und die öffentlichen Haushalte entsprechend zu konsolidieren. Diese Staatsverschuldung ist im Durchschnitt der europäischen OECD-Länder auf die astronomische Höhe von 75% des Bruttoinlandsprodukts geklettert und liegt derzeit in der Bundesrepublik Deutschland bei 60%.15
Das bedeutet aber auch, daß die mit Abstand größte Verschuldungsquelle der öffentlichen Haushalte, die politisch gewollte Niveauabsicherung der Bevölkerung durch weitreichende sozialpolitische Transfers von den Bemühungen zur Haushaltskonsolidierung nicht ausgespart werden darf. Das aber bedeutet, daß die von den internationalen Finanzmärkten ausgehenden Spar- und Konsoldierungszwänge durch entsprechend organisational leistungsfähigere, kostengünstigere und dauerhaftere Formen der sozialen Sicherung aufgewogen werden müssen, die nicht nur eigenverantwortliche, sondern nach Möglichkeit auch nicht-monetäre Formen der gegenseitigen Unterstützung sowie Gemeinschaftsformen der Hilfe einschließen sollten. Die von den heutigen politischen Verantwortungsträgern geübte Praxis schematischer Haushaltsakürzungen erscheint indes als höchst kontraproduktiv und in der sozialen Wirkung zerstörerisch. Denn die Funktionalität hochkomplexer Produktionsprozesse ist in hohem Maße von einer relativen Planungssicherheit, der Erwartbarkeit sozialen Verhaltens und der durchgängigen Konfliktarmut ökonomischer Transaktionen abhängig. Isolierte fiskalische Interventionen aber zerreißen diese subtilen Austauschprozesse im Gewebe sozialer Beziehungen ebenso wie sie sie einst in Zeiten voller Kassen und hemmungsloser Staatsverschuldung deformierten. Aus der Logik sozialer und ökonomischer Verflechtungen folgt also, daß sich eine sozial-ordnende Anpassung an veränderte fmanzielle Rahmenbedingungen in jedem Falle auf eine politische Strategie institutioneller Modernisierungen stützen muß.
15 Nach Angaben der OECD in: Organisation fllr wirtschaftliche Zusammenarbeit, Wirtschaftsausblick, 1995INr.58, Paris, S. 23.
5'
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III. Die Einbettung der (national verfaßten) Staatsorganisation in die neue globale Ökonomie erfordert eine entsprechende Anpassung ihrer Funktionsweisen. In ihrer heutigen Gestalt stellt sie im wesentlichen eine nur unwesentlich weiterentwickelte Schöpfung der ersten Hälfte des gegenwärtigen Jahrhunderts dar. Aus diesen Umständen erwächst die zunehmende Distanz zwischen den professionellen Potentialen der sich global verflechtenden Wirtschaftsaktivitäten einerseits und den strukturell immobilen, technologisch rückständigen wie häufig ineffizient agierenden öffentlichen Diensten andererseits. 16 Die überkommenen behördenmäßigen Verfahrensweisen mit ihren administrativen Starrheiten, langen hierarchischen Entscheidungswegen und kameralistischer Haushaltsfiihrung sind unter den Bedingungen fortgeschrittener Globalität weithin ungeeignet, um auch nur im Ansatz die Interessen der Allgemeinheit noch wirksam wahrnehmen zu können. Wenn - um nur ein Beispiel zu geben - Fachbeamte und Verwaltungskräfte, die etwa fUr Gewerbeansiedlung und Wirtschaftsförderung zuständig sind, in ihren Referaten oder Abteilungen weder über geeignete informationstechnische Arbeitsbeitsmittel (Datenbankrecherchen, Auswertung von Wirtschaftsdiensten etc.), noch über angemessene fmanzielle Ressourcen, geschweige denn über Befugnisse und Entscheidungsspielräume verfugen, um die Seriosität und Eignung von privatwirtschaftlichen Unternehmen abschätzen zu können, dann hört die Staatsorganisation schon aufgrund ihres defizitären Leistungsprofils auf, noch ein ernstzunehmender, gestaltungsfahiger Partner zu sein. Und je mehr diese strukturbedingten Mängel in Erscheinung treten, um so größer wird auch die Gefahr des schwachen Staates. Mit dem Schwinden seiner politischer Führungskompetenz gerät der Staat vermutlich zum ersten Male seit seinen neuzeitlichen Anflingen in die Position eines realen 'Nachtwächters' . Denn die Staatsorganisation wird unter den gegebenen Bedingungen mehr und mehr zur leichten Manipuliermasse mächtiger externer Kräfte und fragwürdiger interner Profilierungsinteressen. Der Wildwuchs unbewältigter Komplexität ist gemeinhin das Saatbeet lobbyistischer Vereinnahrnung und byzantinischer Subventionspfründe. Charakteristisch hierfUr scheint nicht zuletzt der relative Bedeutungsverlust der Wirtschaftsministerien auf Landes- und Bundesebene zu sein, die zunehmend auf den Status einer Behörde fUr Messeeröffnung, Subventionszuteilung und Publicity geschrumpft sind. 17 Hinzu kommt, daß die staatlichen Akteure nicht nur durch die chronischen Engpässe der öffentlichen Hände lahrngelegt werden, auch die Zersetzung fachlicher
J6ygl. hierzu diverse Befunde der jUngeren sozialwissenschaftlichen Forschung zum öffentlichen Sektor, die insbesondere ökonomische Gesichtspunkte in die Analyse einzubeziehen versucht, Managementkonzepte der Führung und Serviceorientierung sowie neuere Organisations formen aus dem Unternehmensbereich berUcksichtigt. Exemplarisch etwa Naschold Frieder, Modemisierung des Staates. Zur Ordnungs- und Innovationspolitik des öffentlichen Sektors, Berlin 1993. 17Aus eigener Erfahrung. Ich behaupte, daß es in Deutschland kaum einen emstzunehmenden Analysten geben dUrfte, der dies im vertrauten Gespräch anders beurteilen wUrde!
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QualifIkationen gerade bei der älteren Garde der Berufsbearnten durch politischen Klientelismus, die Indienstnahme öffentlicher Mittel fiir politische Sonderinteressen und nicht zuletzt die sinkende moralische wie intellektuelle Kompetenz politischer Entscheidungsträger fUhren in der Summe zu einem Geflecht negativer Synergieeffekte. 18 Nicht selten wird aus solchen Befunden die Forderung nach einer deregulierenden Entstaatlichung der Gesellschaft abgeleitet. Aber diese Argumentation verwechselt die Verschleißerscheinungen staatlicher Akteure mit einer weitgehenden Zurückdrängung staatlicher Funktionen überhaupt. Im Rahmen naiver Deregulierungsmodelle kann jedoch die Grundsatzfrage nach den Institutionen, denen die Wahrung grundlegender Existenz- und Gesellschaftsinteressen auch zukünftig obliegen soll, nicht mehr sinnvoll gestellt, geschweige denn auf praktikable Weise beantwortet werden. Die zeitgnössischen Verfallsformen des alten nationalökonomisch angelegten Staates erfordern unter den Bedingungen globaler Vernetzung gerade nicht den Abbau staatlicher Funktionen, sondern die Behebung jener strukturellen Professionalitäts- und FlexibilitätsdefIzite der Staatsorganiation, die einer Modernisierung ihrer Steuerungskapazitäten heute noch entgegenstehen. Das heißt: Die Staatsorgan isation müßte in ihrer Arbeitsweise und Struktur auf die Ansprüche globaler (wirtschaftlicher) Verflechtungen angehoben werden. Nach den bisherigen Überlegungen lassen sich (zumindest) drei Schnittstellen und Gestaltungsbereiche einer globalitätsorientierten Standortentwicklung ausmachen. Der Bereich der •
organisierten Innovation und Erschließung neuer Wertschöpfungspotentiale
•
Haushaltskonsolidierung und institutionellen Modernisierung des Sozialstaats
•
Professionalisierung und Effizienzsteigerung der Staatsorganisation. 4. Problembereiche und Gestaltungs/eIder globaler Standortentwicklung
Im folgenden Punkt will ich versuchen, diese drei globalen Einflüsse und die ihnen entsprechenden Gestaltungsfelder anhand einzelner Problemfälle aus den neuen Ländern auszuweisen. Es geht also darum aufzuzeigen, aufweiche Weise die vorge18 Vgl. etwa zum Problem der parteipolitischen Penetration der Staatsorganisation in der Bundesrepublik Deutschland die Ausftlhrungen von Thomas Ellwein, Krisen und Reformen. Die Bundesrepublik in den sechziger Jahren, S.152ff. Ellwein verweist zu recht darauf, daß mit der filzähnlichen Verquickung von Partei- und Staatsinteressen nicht nur die Korruption und der immer schamlosere Mißbrauch öffentlicher Mittel eine starke strukturelle Basis haben, sie bedingt auch und gerade eine "Gefllhrdung der öffentlichen Verwaltung" (S.154) im Sinne ihrer Leistungsfllhigkeit und fachlichen Kompetenz. Was die Auswüchse politischer PfrUndeinteressen anbelangt, vgl. Hans Herbert von Amim, Der Staat als Beute. Wie Politiker in eigener Sache Gesetze machen, München 1993.
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nannten Makrodimensionen ökonomischer Globalität und ihre mangelhafte Wahrnehmung den Aufbauprozeß in den neuen Bundesländern bislang beeinflußt haben. Natürlich kann anhand empirischer Anschauungsbeispiele die theoretische Stimmigkeit der hier nur skizzenhaft dargelegten Gestaltungserfordernisse nicht 'bewiesen' werden. Aber darauf soll es im weiteren auch gar nicht ankommen. Mir geht vielmehr nur darum, ihre Plausibiltät zu verdeutlichen.
4. J. Das Prob/ern organisierter Innovation und die Erschließung neuer Wertschöpjungspotentia/e Zwei Punkte seien in diesem Zusammenhang zunächst vorausgesetzt. Zum einen die Richtigkeit der Aussage, daß es - im Vergleich zu anderen Standorten - eine sich ausweitende Innovationslücke in Deutschland gibt. Ich gehe also davon aus, daß die Befunde, wie sie - zum wiederholten Male - auch im jüngsten Technologiegutachten des Bundesministeriums fiir Forschung etwa hinsichtlich des deutschen Rückstandes im Bereich der Hochtechnologien und der wirtschaftlichen ÜberleitungsdefIzite bei Innovationsprozessen ausgefiihrt wurden, zutreffen. 19 Zum zweiten wird hier die weithin verbreitete Auffassung unterstützt, daß (zentral)staatliche Gestaltungen im Regelfalle ungeeignet sind, Innovationen zu hervorzubringen oder Innovationsziele zu defmieren. Ihre praktischen Ansatzpunkte liegen vielmehr auf dem Felde des Aufbaus geeigneter Rahrnenbedingungen, d.h. bei der Einrichtung und Optimierung innovationsfördernder Infrastukturen von Forschung und Entwicklung (F&E). Genau auf diesem Felde staatlicher Gestaltungsmöglichkeiten der F&E-Aktivitäten ist es allerdings während des Aufbauprozesse in den neuen Ländern zu gravierenden politischen Fehlleistungen gekommen, die in ihren negativen Folgen noch gar nicht überschaut werden können. Die Verantwortungsträger aller Ebenen haben es in Deutschland immerhin zugelassen, daß mit dem Vereinigungsprozeß nahezu die gesamten industriellen Altpotentiale von Forschung und Entwicklung der fiüheren DDR verloren gingen. Zweifellos bildeten die hauptsächlich in den Industriekombinaten der DDR konzentrierten F&E-Einrichtungen mit ihren rund 75.000 Industrieforschem ein in weiten Teilen unzureichend qualifIZiertes und im Regelfalle auch suboptimal eingesetztes Potential. Das alte Lenkungssystem bedingte sogar die strukturell gegebene Innovationsunfiihigkeit der DDR-Wirtschaft, und dieser Umstand gehörte spätestens seit Mitte der achtziger Jahre zu den entscheidenden ökonomischen Krisenfaktoren, die wenig später in den politischen Zusammenbruch des Regimes einmündeten?O 19 y9 l. hierzu u.a. Späth, Lothar: Wege aus der Innovationskrise. In: Bild der Wissenschaft, 1994/ H.I, S.40-43, sowie Henzler, Herbert: Die sieben Todsünden der Forschung, in Ebd., S.44-45. 20 Die hierftlr maßgeblichen politisch-ökonomischen Zusammenhänge und Yerlaufsformen habe ich etwa drei Jahre vor dem Ausbruch der Wende in der DDR u.a. in dem Beitrag: Die Krise des
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Aber diese historischen HintergrUnde dürfen nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß der Osten Deutschlands durch die weitgehende Beseitigung und Abwicklung der F&E-Potentiale während des ökonomischen Transformationsprozesses de facto in die technologische Unterentwicklung abgeglitten ist. Die in den beiden nachfolgenden Abbildungen ausgewiesenen F&E-Kennziffern zeigen wie randständig und bedeutungslos die neuen Ländern auf diesem Gebiet geworden sind. Die dort verfiigbaren Personal- und Geldmittel machen nur noch Bruchteile des westdeutschen Niveaus aus. Es sollte keiner weiteren BegrUndung bedürfen, daß eine ausgewogene und in die gloablen Entwicklungen integrationsflihige Wirtschaftsstruktur im Osten ohne gezielte Maßnahmen der Regeneration der verlorengegangenen F&E-Infrastrukturen als ausgeschlossen gelten muß. Zudem ist jetzt schon offenkundig, daß die im Regelfalle kaum wettbewerbsflihigen Industrieansätze in den neuen Ländern - von den ostdeutschen Niederlassungen einiger westlicher Unternehmen einmal abgesehen - enorme Schwierigkeiten haben, sich in die arbeitsteiligen Strukturen der Weltwirtschaft zu integrieren. Die Exportleistungen und außenwirtschaftlichen Verflechtungen der östlichen Industrieunternehmen sind verschwindend. 21 Stattdessen fmden wir im Schlepptau öffentlicher Brutto-Förderungen und unqualifizierter Auftragsvergabe Nischenproduktionen vor, deren qualitatives Niveau häufig niedrig ist. Im jüngsten Fortschrittsbericht zum Anpassungsprozeß in den neuen Ländern ist daher zu recht hervorgehoben worden, daß die Gefahr bestünde, daß durch undifferenzierter Förderstrategien ein Unternehmsfeld mit nicht konkurrenzfähige Produktionsstrukturen hochsubventioniert würde. 22 Wenn es also - diese Drohung zeichnet sich inzwischen mit aller Deutlichkeit abin den nächsten Jahren nicht gelingen sollte, in diesem sensiblen Bereich Ostdeutschlands entscheidende Durchbrüche zu erreichen, dann sind die strukturelle Rück- und die ökonomische Randständigkeit der neuen Länder auf Dauer vorpgrogrammiert. Die bereits bestehenden Strukturmängel werden dann zu einer sich selbst steigernden Negativdynamik aus ausbleibenden Investitionen des höheren Technologieniveaus einerseits und wachsender Marginalisierung der ostdeutschen F&E-Potentiale sowie neuen ökonomischen Strukturdefiziten andererseits.
Fortschritts in der DDR. Innovationsprobleme und Mikroelektronik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1987/H.3, S.3-19 dargestellt. 21 Vg l. Deutsches Institut filr WirtschaftsforschungIBerlin, Institut filr WirtschaftsforschungIHalle, Institut filr We\twirtschaftlKiel, Gesamtwirtschaftliche und untemehmerische Anpassungsfortschritte in Ostdeutschland. 13. Bericht, veröffentlicht in: D1W-Wochenbericht 1995/Nr.27-28, S.47If.. 22Ebenda, S.491 f..
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Abb. 3: Bestand an Forschungs- und Entwicklungspersonal in ganz Deutschland im Jahre 1993 1)23
m
Neue Bundesländer
[ill] I)
Alte Bundesländer
Nach Angaben des Stifterverbandes fUr die Wissenschaft, ganz Deutschland = 100%
Abb. 4: Deutsche Aufwendungen fiir Forschung und Entwicklung in der Wirtschaft im Jahre 1994 1)24
m
Neue Bundesländer
[ill] I)
Alte Bundesländer
Nach Angaben des Stifterverbandes fUr die Wissenschaft, ganz Deutschland = 100%
23(0 24(0
Dr. Fred Klinger 1996. Dr. Fred Klinger 1996.
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Zweifellos wäre es nicht einfach gewesen, geeignete Strategien der Gegensteuerung zu entwickeln und diese mit genügendem Aufwand umzusetzen. Aber man sage nicht, daß derlei unmöglich und nicht realisierbar gewesen sei! Angesichts des Milliardenaufwands an jährlichen Transferleistungen und angesichts des zielstrebigen Umbaus eines ganzen Wirtschafissystems innerhalb von nur filnf Jahren, wäre die Frage des Strukturerhalts der F&E-Potentiale und die Unterbringung von einigen zig Tausend Industrieforschern wohl eher ein Nebenschauplatz der Systemtransformation gewesen. Allerdings ein Schauplatz von strukturentscheidender Bedeutung. Daß man die unwiderbringlichen Verluste dieser Potentiale dennoch zuließ, erscheint auch heute noch unfaßbar. Denn die hier geschilderten Fehlentwicklungen waren in jeder Hinsicht vorhersehbar. Es hat auch nicht an Stimmen und Expertisen gemangelt, die auf sie aufmerksam gemacht hätten?5 Auch laufen diese Entwicklungen noch immer ohne nennenswerte Gegensteuerung vor unserer aller Augen ab. Und schließlich sind ihre Folgewirkungen ebenso eindeutig, wie das grundsätzliche Politikversagen, auf die das durchaus vermeidbaren F&E-Debakel in Ostdeutsch land ZUTÜckzufiihren ist. Anders als bei jeder ,eigenverantwortlichen Tätigkeit, anders als bei jedem privatwirtschaftlichen Unternehmen habe diese staatlich-politischen Fehlleistungen keinerlei stichhaltige Konsequenzen nach sich gezogen. Es gibt hier keine richtende Instanz, keine Mechanismen der Selbstkorrektur und keine zum Ausleich zwingenden Gegenkräfte. Das heißt: Anders als bei intakten umweltabhängigen Systemen, fiir die die negative Rückkopplung ein wesentlicher Korrekturmechanismus des eigenen, selbstregulierten Verhaltens ist, haben wir es im Bereich des heutigen politischen Systems und seiner Staatsorganisation mit zielunklaren Steuerungspotentialen zu tun, die zwar erhebliche Ressourcen verbrauchen und Fehlentwicklungen programmieren, aber keinen geeigneten selektiven Kontrollen unterliegen. Zumindest unter den gegebenen Bedingungen können diese Fehlleistungen auch nicht von außen auf zeitgerechte und tragfiihige Weise korregiert werden. Wahlakte und demokratische Legitimationen wären hierfiir sowieso ungeeignet, da sie als Mittel viel zu grobschlächtig und in ihrem Zeitverhalten zu langsam wirken.
4.2 Das Problem der Haushaltskonsolidierung und institutionellen Modernisierung des Sozialstaats Es ist seit der Wiedervereinigung häufig darauf hingewiesen worden, daß mit den gewaltigen sozialpolitischen Transfers in den Osten Deutschlands ein sozialer Dammbruch verhindert werden konnte. Ohne diese Sozialeinkommen und ohne die massiven Stützungsmaßnahmen wäre der bisherigen Autbau- und Anpassungsproetwa Institut fIlr Wirtschaftsforschung Halle, FrUhjahrsgutachten. Ostdeutschland 1993 und 1994. Aufbau trotz Rezession im Westen, BerlinlHalle 1993, S.73-75.
25 Vgl.
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zeß in den neuen Ländern sicherlich nicht möglich gewesen. So wurde der ostdeutsche Arbeitsmarkt allein im Spitzenjahr 1992 mit einem Ausgabenvolumen von 46 Mrd. DM durch die Bundesanstalt filr Arbeit mit verschiedensten Maßnahmen des Arbeitsförderungsgesetzes um rund zwei Millionen Personen, die anderenfalls arbeitslos geworden wären, entlastet. Die gesamten sozialen Transferleistungen beliefen sich bis einschließlich 1994 auf rund 240 Mrd. DM, was etwa 40% aller öffentlichen Transfers in die neuen Länder entsprach. Ebenso eindeutig wie diese sozialpolitisch stabilisierende Wirkung sind aber auch die geringen beschäftigungspolitischen Effekte der hier eingesetzten Mittel. Das heißt: Der indirekte Beitrag, den die verschiedenen arbeitsfördernden Maßnahmen (wie Arbeitsbeschaffung, Kurzarbeit, Qualifizierung etc.) rur die Arbeitsaufuahme im ersten Arbeitsmarkt geleistet haben, ist geradezu verschwindend. Von den in einer Wirkungsanalyse erfaßten 130.000-150.000 Teilnehmern in "Arbeitsbeschaffenden Maßnahmen" (ABM) gelang es beispielsweise nur 11.000 Arbeitnehmern auf entsprechende Dauerarbeitsplätze zu kommen. 26 Nur ein Bruchteil der Projekte, die im Rahmen sogen. B&Q-Gesellschaften (Beschäfti-gungs- und QualiflZierungsgesellschaften)27 eingerichtet wurden, konnte die anfangs euphorisch formulierten Gründerziele auch wirklich erreichen. Ganze 460 Arbeitsplätze in 41 betrieblichen Ausgründungen wurden realisiert, die es im übrigen, so darf vermutet werden, auch dann gegeben hätte, wenn statt der arbeitsmarktlichen Fördermittel andere Finanzierungsinstrumente eingesetzt worden wären. Das absehbare Scheitern der B&Q-Gesellschaften hing auch wesentlich mit dem Wirtschafsverständnis und der laboristischen Philosophie ihrer politischen Fürsprecher zusammen, wie sie vor allem seitens der Gewerkschaften, insbesondere der IG-Metall, sowie von Teilen der Sozialdemokratie, wie v.a. dem brandenburgischen Arbeitsm inisteriums, propagiert wurden. 28
26ygl. Hans-Böckler-Stiftung (Hrsg.): Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften. Bericht über eine Wiederholungsbefragung in den neuen Bundesländern, bearbeitet von Bernd Grass, Oüsseldorf 1993, S.II. und S.31. 210ie B&Q-Gesellschaften waren vollständig über ABM und andere Fördermittel finanzierte Unternehmen, die nach einer Planungs- und Anlaufphase zur AusgrUndung, wirtschaftlichen Selbständigkeit oder entsprechenden Beschäftigungsverhältnissen der Belegschaftsmitgliederallsamt ehemals freigesetzte bzw.arbeitslose Erwerbstätige- im ersten Arbeitsmarkt überleiten sollten. 280as Unternehmen wird dort als ein einfaches Zusammenspiel aus Produktionstechnik und Arbeit verstanden, dessen einziges wirkliches Handicap - der Mangel an Kapital und finanzielle Startschwierigkeiten - man eben durch staatliche Hilfe kompensieren mUsse. So naives auch klingen mag, man ignorierte damit vollständig die nicht unwesentliche Tatsache, daß UnternehmensgrUndungen sowie das wirtschaftliche Überleben selbständiger Wirtschaftsheinheiten schlechthin in allen zentralen Fragen auch vom Geschick, der FUhrungskompetenz und Tatkraft des dispositiven Faktors, d.h. vom unternehmerischen Können des betrieblichen Leitungskörpers abhängen. Vgl. etwa IG Metall Vorstand, Wirtschaftsabteilung, Beschäftigungspolitische ÜberbrUckungskonzepte in den neuen Bundeländern, 0.0., oJ.(internes Material- Frankfurt a.M./Juni 1991); ähnlich: Land
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Das alles fi1hrt in der Summe zu der nicht unbegründeten Vermutung, daß der größte Teil der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, die im Osten Deutschlands zum Einsatz kamen, nicht nur fiir die Beschäftigungsenstwicklung im ersten Arbeitsmarkt ohne nennenswerte Wirkung blieben, sie waren auch in einem ordnungspolitischen Sinne und bezogen auf die Folgen fiir die wirtschafltiche Strukturentwicklung von zweifelliaftem Wert. Was also bleibt, ist die politische Rechtfertigung, daß es in den neuen Ländern einen Zwang zum raschen politischen Handeln und zur umfassenden sozialen Abfederung des Transformationsschocks gab. Aber auch in diesem Punkt wird man durchaus die Frage aufwerfen müssen, ob nicht die gleichen sozialen Effekte mit höherem ökonomischen Nutzeffekt durch marktnahe und indirekte Förderinstrumente wie etwa qualifIzierte Lohnkostensubventionen, zielgenaue und differenzierte Auftragsvergabe der öffentlichen Hände, Ausbau von Risikokapital, bessere Finanzausstattung von Unternehmensgrundungen u.a.m. erreicht worden wären. Selbst dort, wo durch ABM im öffentlichen Dienst (bei gegebener Gemeinnützigkeit und Zusätzlichkeit der Arbeiten) scheinbar sinnvolle Tätigkeiten fmanziert wurden, mögen die ortganisations- und leistungsspezifIschen Wirkungen durchaus zwieschlächtig sein. Nicht selten trugen nämlich die arbeitsfördernden Maßnahmen auch in diesen Fällen dazu bei, die interne Mißwirtschaft dieser Dienste zu konservieren. Anstatt zur Einrichtung echter, durchrationalisierter Arbeitsplätze und Organisationsformen anzuregen, konnten Strukturmängel fortgeschrieben und vorhandene Leistungslücken durch die Einbindung subventionierter Zusatzkräfte kaschiert werden. Die ABM-Kräfte spielten dann, in der Hoffuung auf Weiterbeschäftigung die 'dienstinterene Feuerwehr', während der große Rest des festbeschäftigten Trosses gemächlich die Traditionen des 'business as usual' pflegte. Alternativen zu den Instrumenten des Arbeitsförderungsgesetzes hätten eine entsprechende institutionelle Flexibilität und den politischen Willen vorausgesetzt, durch geeignete Modernisierungen den Wirkungsgrad sozialstaatlicher Leistungen zu verbessern. Gerade der Umbruch in Ostdeutschland hätte vielfach auch die Chance geboten, unkonventionelle Wege zu gehen und notwendige Strukturreformen ohne den Widerstand festgeschweißter Besitzstandsinteressen umzusetzen. Es scheint charakteristisch, daß diese durchaus gegebene Entwicklungsvariante im deutschen Vereinigungsprozeß nicht einmal ansatzweise eine Rolle spielte. Stattdessen wurden Instrumente und Institutionen in den Osten transplantiert, die, wie im Falle der Arbeitsförderung schon längst im Westen fragwürdig und reformbedürftig geworden waren. Die Neigung zur Strukturkonservierung ist unübersehbar. Man mochte 1990 oder 1991 noch mit der Zeitnot, dem politischen Handlungsdruck, fehlenden Erfahrungen Brandenburg, Ministerium rur Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen, Sofortprogramm "Qualifizierung und Arbeit rur Brandenburg", 0.0., 0.1. (inemes Material, Potsdam, Februar 1991).
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oder unklaren Planungshorizonten argumentieren. Aber galt dies auch noch filr die Folgejahre? Spätestens seit den rezessiven Tendenzen des Jahres 1993 war offenkundig geworden, daß neue, dauerhaftere Lösungen der Beschäftigungspolitik tUr die nicht zu schließende Arbeitsplatzlücke gefunden werden mußten, daß das Arbeitsförderungsgesetz nicht nur in Teilen den Strukturwandel blockierte, sondern auch auf Dauer - es sei denn durch die Inkaufnahme explodierender Lohnnebenkosten - nicht mehr zu fmanzieren war. Aber weder 1993, noch 1994, noch 1995 ist es und dies bei voller Kenntnis einer ausweglosen und sich kontinuierliche verschärfenden Situation- zu irgendeiner strategischen Neuorientierung der Arbeitsmarktpolitik gekommen. Stattdessen schält sich eine anderes Verhaltensmuster mit aller Deutlichkeit heraus: Trotz fortbestehender Strukturprobleme und trotz wachsender Handlungsbedarfe zurnal in den Neuen Ländern werden die gegebenen Herausforderungen nur durch einseitiges fiskalisches Krisenmanagement beantwortet. Die Kehrseite jeder institutionellen Sklerose ist schon immer die Flucht in die Kürzung der Haushaltsmittel gewesen: Das Stopfen der alten Löcher durch das Aufreißen neuer. Man kann dies deutlich am Beispiel der Entlastungswirkungen der Arbeitsmarktpolitik im Verlauf der zurückliegenden Jahre ablesen. Obwohl alle Belastungen in der Substanz weiterbestehen, wurden die Ausgaben (ablesbar an den Entlastungseffekten) einfach nur halbiert (vgl. Abbildung 5). Gleichzeitig blieben, wie geschildert, alle untauglichen Förderinstrumente ohne jede Strukturreform erhalten. Die neue Qualität der Lage druckt sich derzeit lediglich darin aus, daß sich das Drama massenhafter Beschäftigungseinbrüche, wie wir es aus den neuen Ländern kennen, inzwischen auch in den alten Ländern vollzieht. Die endlich seit Mitte 1996 dem Bundestag vorliegenden Ansätze zur Novellierung des Arbeitsförderungsgesetzes legen den Schwerpunkt auf die Enlastung des Bundeshaushaltes, nicht aber auf eine institutionelle Modernisierung?9 Das Reformkonzept des Bundesministers filr Arbeit läuft im Kern darauf hinaus, neue gesetztliche Instrumente der Ausgabenminderungen und Leistungsbegrenzung zu entwickeln. Indirekt wird dadurch allerdings nur eine Problemverlagerung durch fmanzielle Umverteilung erreicht: Ein Teil der Lasten wird durch Leistungsbegrenzungen und eine Verschärfung von Anspruchskriterien dem einzelnen Betroffenen aufgebürdet, d.h. gewissermaßen 'privatisiert'. Ein anderer Teil der Lasten wird de facto institutionell umverteilt, indem er auf die in ihren Haushalten sowieso schon geplilnderten Kommunen abgewälzt wird. Da das Beschäftigungssystem selbst auf absehbare Zeit keine Ausweichmöglichkeiten bietet, werden nämlich die Leistungsbegrenzungen schon bald dazu fuhren, daß die unteren Niveaugruppen der Betroffenen als neue Sozialhilfeempfanger durch die Kommunen versorgt werden müssen. Es ist absehbar, daß die sozialen Konflikt- und Verim Gegensatz zu den Ankündigungen und VorUberlegungen des Bundesarbeitsministers. Vgl. etwa Norbert Blüm, Vor einer grundlegenden Reform, in: Bundesarbeitsblatt, 1995/ H.2, S.15-19.
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fallsprozesse, die damit vorgezeichnet sind, nicht nur entsprechend Folgekosten (Kriminalität, öffentliche Verwahrlosung, Überlastung und Zerfall kleiner Gemeinschaften etc.) nach sich ziehen, sie werden auch die zukünftige Standortqualität in Deutschland weiter beeinträchtigen. Abb. 5: Entlastungswirkung arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen nach Zahl der Erwerbspersonen 1)30
1991
E:l lS3
1992
1994
1993
Vorruhestandl Altersübergangsgeld berufliche Qualifizierung
0 129
Kurzarbeitergeid arbeitsbeschaffende Maßnahmen
I~ach Angaben des Bundesamtes ftlr Statistik; Angaben in Mio., umgerechnet in Vollbeschäftigungseinheiten.
4.3. Das Problem der Professionalisierung und Ejjizienzsteigerung der Staats organisation Als Beispiel sei in diesem Zusammenhang auf das Problem der Wirtschaftsförderung und der Entwicklung privaten Unternehmertums in den neuen Ländern eingegangen. Nach dem Ende der Planwirtschaft mußte ein neuer Mittelstand aus unternehmerischen Leistungsträgern erst wieder neu entstehen. Denn als eine sozialstruktureIle Größen waren privatwirtschaftliehe Initiative und eine Kultur der wirtschaftli-
JO©
Dr. Fred Klinger 1996.
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chen Selbständigkeit durch vierzig Jahre Planwirtschaft nahezu ausgelöscht worden. Vor diesem Hintergrund ist das Aufgabengebiet der Wirtschaftsförderung in den neuen Ländern von noch grundlegenderer Bedeutung als unter normalen Bedingungen. Die quantitative Bilanz der ersten GrOndungsphase war mit rund 500.000 neuen Unternehmen und selbständigen Existenzen durchaus erfolgreich und verweist auf die hohe soziale Dynamik der Transformationsperiode. Gleichwohl sind mit den Unternehmensgründungen auch gravierende Entwicklungsprobleme entstanden. Das Standardproblem dieser neugegründeten Kleinstbetriebe und junger freiberuflicher Existenzen liegt in der mangelhaften Ausstattung mit Eigenkapital. Der Anteil liegt im Durchschnitt bei 10%. Eine Quote von 30% Eigen- gegenüber 70% Fremdkapital wäre - zumal bei Kleinbetrieben - ein vertretbares Mischungsverhältnis der Kapitalausstattung. In der gegenwärtigen Phase des wirtschaftlichen Abschwungs im Westen und nachlassender Antriebskräfte im Osten werden daher die Belastungen dieser Existenzgründer bei sinkenden Erträgen so groß, daß zahlreiche dieser Ostbetriebe inzwischen von einer Pleitwelle erfaßt worden sind. Die Zahl der steil ansteigenden Insolvenzen hält sich zwar noch immer in Grenzen, wenn man sie in Relation zum Umfang der Neugründungen setzt. Sie trifft jedoch einen Wirtschaftsraum, den angesichts der bestehenden Arbeitsmarktprobleme und des notwendigen Wiederaufbaus die erneuten Betriebsschließungen viel härter treffen als andere Regionen. Zudem liegen die Insolvenzen in den neuen Ländern, gemessen am Bevölkerungsanteil, wesentlich höher als in Westdeutschland. Bei etwa 28.000 Insolvenzen in ganz Deutschland fiir 1995 entfallt etwa ein Viertel der Fälle - rund 7000- auf den Osten, dessen Insolvenzzahlen damit gegenüber dem VOIjahr um nochmals rund 40% zunahmen. 31 Bedrohlicher noch als diese nackten Zahlen erscheint die Tatsache, daß die betrieblichen Strukturprobleme, die die bisherige Pleitewelle hervorgebracht haben, in einer viel größeren Zahl von Betrieben vorhanden sind, als dies in den Insolvenzzahlen selbst sichtbar wird. Die viel zu niedrige Kapitalausstattung trifft beispielsweise auf 40% aller Ostbetriebe ZU. 32 Mit anderen Worten: Ein erheblicher Teil des neuen Mittelstandes steht tagtäglich vor dem drohenden wirtschaftlichen Aus. Schon geringste Abweichungen in der Zahlungsmoral wichtiger Kunden können hier wegen fehlender Bonität zur Gesschäftsaufgabe zwingen. Erschwerend kommt der Umstand hinzu, daß es angesichts der Finanznot der öffentlichen Hände und auslaufender Existenzgründungsprogramme kaum Möglichkeiten gibt, die erneut drohenden Verluste an wirtschaftlichem Potential durch entsprechende Fördermittel aufzufangen. So herrscht bei den politischen Entscheidungsträgern in Bund und neuen Ländern angesichts leerer Kassen eine druchgängige 31 Nach
32Nach
Angaben des Statistischen Bundesamtes. In: Konjunktur, Januar 1996, S.73. Angaben der Creditreforrn e.V. In: Der Tagesspiegel v. 7.6.1995, S.7.
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Ratlosigkeit darüber, wie die jetzt anstehende Etappe marktlicher Etablierung und betriebswirtschaftlicher Konsolidierung fmanziell weiter gestützt und förderpolitisch begleitet werden könnte. Derlei mag angesichts der lautstarken Werbetrommeln, die rur den Weg in die Selbständigkeit rührten, und angesichts der Loblieder, die auf den neuen ostdeutschen Mittelstand gesungen wurden, fiir alle Betroffenen ein bemerkenswertes Schlagschlicht auf die Glaubwürdigkeit politischer Grundsatzerklärungen werfen. Noch schwerwiegender aber muß dieses politische SteuerungsdefIZit erscheinen, wenn in Rechnung gestellt wird, daß hinter der Finanznot der öffentlichen Hände ja nicht nur objektive Umstände wie die rückläufige Konjunktur, entsprechende Steuerausfalle und europolische Zwänge zur SchuldenbegrerIZung stehen, sondern auch erhebliche Fehllenkungen bei der Vergabe verfügbarer Färdermittel. Anders gesagt: Die neuen Pleiten und ihre bedrohliche Ausweitung sind auch eine Folge davon, daß vorhandene Mittel in nicht unerheblichem Maße fiir höchst zweifelhafte Maßnahmen verbraucht wurden. Dazu zählen insbesondere Projekte, deren politischer Öffentlichkeitswert zwar unbestritten sein mag, deren volkswirtschaftlicher Nutzen aber mehr als bedenklich erscheinen muß. Ich will diese starke Kritikposition an einem charakteristischen Beispiel aus dem Land Brandenburg verdeutlichen, das ich aus eigener Erfahrung und Beratungsarbeit recht gut kenne. In Brandenburg wurde mit Rückendeckung des Bundes und mittels massiver Einflußnahme auf die Subventionsvorbehalte der europäischen Gemeinschaft ein Finanzvolumen von 700 Millionen DM aktiviert, um einen der groteskesten Industriestandorte der ehemaligen DDR, das Stahlwerk von Eisenhüttenstadt, zu modernisieren und in seinen produktionstechnischen Strukturen zu vervollständigen. Dieses Stahlwerk an der Oder, das während des ersten Fünfjahrplans der DDR als Ausdruck stalinistischer Tonnenideologie ohne alle logistischen Vorausetzungen und ohne jeden betriebswirtschaftlichen Verstand mitten auf die grüne Wiese gepflanzt wurde, hätte zwar unter heutigen Bedingungen durchaus nur wenige Kilometer weiter östlich auf polnischem Territorium eine realis!ische Perspektive, auf dem volkswirtschaftlichen Terrain der Bundesrepublik vermag dieses Industriedenkmal jedoch nur aufgrund dauerhaft fließender Subventionsströme zu überleben. Mit dem staatlichen 700-Millionen-Paket, das zugeschossen werden mußte, um den belgischen Stahlkocher Coquerill Sambre überhaupt zur Geschäftsübernahme zu bewegen, wurden - zumindest vorläufig - im Stammbetrieb des Werks etwa 2200 Arbeitsplätze gesichert. Nun karm es keinerlei Zweifel darüber geben, daß nicht nur die deutsche, sondern auch die (west)europäische Stahlindustrie weitere Maßnahmen zum Kapazitätsabbau ergreifen muß. Bis zum Jahr 2000 wird die Stahlproduktion der europäischen Union um rund 3% zurückgefahren weren müssen, wenn sie im Fahrplan des subventionierten Kapazitätsabbaus bleiben will. Keine Frage auch: Mit Stahl läßt sich durchaus 'echtes Geld' verdienen. Zu den Wachstumsmärkten der Stahlproduktion zählen
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insbesondere die Entwicklungs- und Schwellenländern des pazifischen Raums einschließlich Chinas. 33 Daß sich angesichts dieser Gegebenheiten das Land Brandenburg mit massiver Unterstützung seitens des Bundesministeriums fiir Wirtschaft alternativlos auf die Erhaltungssubvention fiir eine Schornsteinindustrie festlegte, mag schon rur sich genommen wie ein wirtschaftspolitischer Schildbürgerstreich erscheinen. Noch schwerwiegender aber ist es, wenn in Rechnung gestellt wird, daß mit den 700 Millionen DM fiir ein neues Stahlwerk an der Oder und den damit gleichsam programmierten zukünftigen Subventionslasten (nicht nur fiir den laufenden Betrieb, sondern auch fiir den 'planmäßigen' Abbau der gerade neu entstanden Kapazitäten, Sozialpläne und Arbeitsllirdermittel fiir kampfentschlossene Belegschaften, weiteren Hilfen fiir das strukurschwache Umland etc., etc.) auch alternative MitteIverwendungen ausgeschlossen wurden. So gesehen mag das Angebot des brandenburgischen Wirtschaftsministers, jungen Technologiebetrieben mit einem Fördertopf des Landes von sage und schreibe 2 Millionen DM unter die Arme zu greifen, - man verzeihe die unwissenschaftliche Qualifizierung -, wie ein schlechter Witz wirken. 34 Freilich, angesichts gegebener lobbyistischer Einflußnahmen und politischer Wahlkampfmteressen muß dieses Politikverhalten als durchaus rational eingestuft werden. Alle europäischen Wirtschaftsminister haben sich ja in der Frage der Ausreichung von Stahlsubventionen schon seit Jahrzehnten und im großen Stile ebenso verhalten wie ihr frischgebackener Kollege im jungen Lande Brandenburg. 5. Zusammenfassung
Ich fasse thesenhaft zusammen: •
Deutschland hat ein eindeutiges Standortproblem. Die hier vorgetragenen Befunde stützen die Auffassung, daß sich die Strukturschwäche des deutschen Wirtschaftsstandorts in den neuen Ländern insbesondere in den ausbleibenden bzw. nicht ausreichenden Impulsen zur Re-Industrialisierung ausdrückt. Die Probleme der ungelösten Re-Industrialisierung stellen nur eine besonders schwerwiegende Erscheinungsform des allgemeinen deutschen Standortdefizits dar.
•
Das Standortproblem steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den qualitativ veränderten Rahmenbedingungen ökonomischer Globalität. Letztere können im Kontext konventioneller volkswirtschaftlicher Betrachtungsweisen nicht mehr hinreichend interpretiert werden. Die Anhänger der These einer deutschen Stand-
Marktanalysen ist in diesm Wirtschaftsraum bis zum Jahr 2000 von eim Wachstumspotential bei Stahl von etwa 40% gegenüber dem Stand von 1990 auszugehen. Nach Angaben in YDINachrichten v .2. 7 .1993, S.1. 34 yg l. DerTagesspiegel, 14.10.1995, S.14. J3 Nach
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ortstärke können mit ihrem Erklärungsmodellen die qualitativ neuen Struktureffekte der Globalisierung nicht erklären. Ihre Vorstellungswelten entstammen einer wirtschaftlichen Epoche, die spätestens seit den 80er Jahren der Vergangenheit angehört. Entsprechend unglaubwürdig und logisch widersprüchlich gerät daher auch der Versuch, mit ungeeigneten theoretischen Mitteln die politische Ziele der sozialen Besitzstandswahrung zu rechtfertigen. •
Als entscheidende Schwachstelle bei der Binnenverarbeitung und Anpassung an die gewandelten Strukturen der (ökonomischen) G10balität erweist sich die heutige Staatsorganisation. Ihre Effizienzsteigerung und ihr Modemisierungsbedarf sind unübersehbar. Gravierende politische GestaltungsdefIzite in den Bereichen Innovation, Arbeitsmarktpolitik und Wirtschaftsförderung in Ostdeutschland können diese Aussage stützen.
6 Eckartl Paraskewopoulos
Klaus Krakat DIE FOLGEN DES WIRTSCHAFTLICHEN UMBAUS IN DEN NEUEN BUNDESLÄNDERN FÜR DEN WIRTSCHAFTS STANDORT BERLIN 1. Einleitende Bemerkungen zur ThemensteIlung
Zweifellos kann sich das nunmehr zusammengewachsene Berlin mit der Übernahme der Hauptstadtfunktion und dem noch erfolgenden Regierungs- und Parlamentsumzug wieder zu einem politischen Zentrum entwickeln und somit relativ problemlos an frühere Zeiten anknüpfen. Auch mit Blick auf seine jetzigen Positionen und Leistungen von Kunst und Kultur sowie Wissenschaft und Forschung wäre ein ebenso unkomplizierter Anschluß an ehemalige Traditionen und Standards denkbar. Anders verhält es sich hingegen im Falle der Wiedergewinnung seiner früheren wirtschaftlichen Leistungskraft. Neue Entwicklungstrends, initiiert durch die Globalisierung von Märkten, den Zusammenbruch der DDR sowie den Zerfall des einstigen sowjetischen Herrschaftssystems, die anhaltende Rezession in Verbindung mit stagnierenden Wirtschaftsleistungen sowie einem unvermindert anhaltenden Strukturwandel, gelten allgemein auch für Berlin als wesentliche Bestimmungsgrößen seiner gegenwärtigen Wirtschaftslage. Angesichts der daraus resultierenden Wandlungen können für Berlin als Wirtschaftsstandort insbesondere folgende charakteristische Fakten festgestellt werden: I) Hier konzentrieren sich nicht nur die unterschiedlichen Probleme des Wirtschaftsstandortes Deutschland, sondern ebenso die sich aus der deutschen Einheit ergebenden Zwänge auf engstem Raum. Mit anderen Worten: In der Stadt äußerten und äußern sich neben den rezessionsbedingten Strukturanpassungen auch die aus der Transformation der einstigen DDR-Planwirtschaft in eine Marktwirtschaft resultierenden Brüche und Deformationen. Diese zeigten und zeigen sich nicht zuletzt in der Existenz teilungsbedingter Doppelstrukturen und -funktionen sowie Anomalien innerhalb verschiedener Bereiche. 2) Der Erneuerungsprozeß in der Industrie ist noch nicht abgeschlossen. Kennzeichnend ist auch rur Berlin der Rückgang der Großindustrie, der mit einer Erstarkung des Dienstleistungssektors einhergeht. Die wirtschaftspolitischen Entwicklungslinien des Berliner Senats sind insgesamt darauf ausgerichtet,
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Klaus Krakat die Stadt als Industriestandort zu erhalten und als Dienstleistungsstandort auszubauen.
3) Eng verbunden mit den sich vollziehenden Strukturveränderungen ist ein anhaltender Arbeitsplatzabbau. Wesentlich ist im gegebenen Zusammenhang, daß fur die auch in Berlin zu erbringenden Leistungen immer weniger Arbeitskräfte notwendig sind. Somit bleibt der Beschäftigungspolitik des Senats daher nur noch die Möglichkeit, die Dynamik der Prozesse sozial abzufedern. Die hierfur bislang eingeleiteten Maßnahmen hatten sich mehrheitlich als unzureichend erwiesen. 4) Bisherige Arbeitsplatzverluste vor allem im produzierenden Bereich sollen nicht nur durch existenzsichernde Maßnahmen fur bereits bestehende kleine und mittlere Unternehmen (KMU), sondern ebenso durch die Unterstützung von Existenzgründungen, insbesondere durch technologieorientierte Existenzgründungen, ausgeglichen werden. 5) Die als notwendig erachtete Erneuerung und Profilierung des Wirtschaftsstandortes Berlin fuhrte zu einem tragfähigen Konzept der stadträumlichen gewerblichen Entwicklung einschließlich einer Zuweisung von Forschungsund Wissenschaftsstandorten. Die Ausgangsbasis bildeten hierfür Standortanalysen, Strategiepapiere, Teilkonzepte und Leitbilder, die sich mit dem Großraum Berlin, seiner Teilräume sowie dem engeren Verflechtungsraum BerlinlBrandenburg befaßt hatten. 6) Aufbau und Profilierung des Wirtschaftsstandortes Berlin müssen jedoch davon ausgehen, daß die gegeben Potentiale nur auf der Grundlage eines von Berlin und Brandenburg gemeinsam getragenen Entwicklungsskonzepts genutzt werden können. Dementsprechend waren und sind die Aktivitäten beider Länder darauf ausgerichtet, die planerischen Voraussetzungen fur einen leistungsfähigen Wirtschaftsstandort BerlinlBrandenburg zu schaffen. 7) Weiterhin berücksichtigen die Anstrengungen des Berliner Senats ebenso einen Orientierungsrahmen rur erforderliche sektorale Kommunalpolitiken, in denen wirtschaftliche Aspekte wie Vennarktung kommunaler Leistungen oder Möglichkeiten zur Effizienzsteigerung gezielter Aktionen im Mittelpunkt stehen. Die "marktgerechte" Stadt mit touristischen Anziehungspunkten hat somit eine hohe Priorität erreicht. 8) Nicht zuletzt ist in Rechnung zu stellen, daß angesichts des diagnostizierten Milliardendefizits im Haushalt des Berliner Senats geplante standortprofilierende Großprojekte nunmehr auf dem Prüfstand stehen: Die Rücknahme hochgesteckter Erwartungen und Rückstufung von Zielstellungen sind nicht nur mit dem Abbau von Doppelstrukturen verbunden, sondern berühren ebenso Qualitätsstandards eines Standortes, der sein Image auch durch eine
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Diversifikation von Leistungsangeboten im kulturellen und wissenschaftlichen Bereich gegenüber Mitkonkurrenten hervorheben möchte. Die intensive Diskussion über eine Anpassung von Standorten an veränderte Erfordernisse des Marktes und Standortsicherung durch den Ausbau imagefördernder und zukunftsorientierter Standortfaktoren der Unternehmen, von Wirtschaftszweigen oder einer Stadt wie Berlin ist keinesfalls erst gegenwärtig unter dem Druck dynamischer Marktbewegungen und -verwerfungen entfacht worden. Bereits 1909 hatte Alfred Weber mit seinem Werk "Über den Standort der Industrien" erste Grundlagen für eine Standorttheorie vor allem unter betriebswirtschaftlichen Aspekten geschaffen.' Im Zeitverlauf sind diese Grundlagen nach und nach ergänzt worden. Dies drückte sich insbesondere in der Entwicklung unterschiedlicher Standorttheorien (IndustrieJle Standorttheorien, Raumwirtschaftstheorien usw.) unter Einbeziehung des Bedeutungswandels von Standortfaktoren aus? Berücksichtigt wurde nicht zuletzt die Tatsache, daß Standortprobleme im Rahmen der Stadt-, Regional- und Raumplanung volkswirtschaftlich wie geseJlschaftspolitisch andere Lösungsansätze erforderten. Während die meisten Industriebetriebe ihren Standort in der Regel unter Berücksichtigung möglichst günstiger Arbeitskosten frei wählen können (Standortwahl als konstitutive Entscheidung), ist der Standort für bestimmte Wirtschaftszweige oder Städte eine geographisch vorgegebene Größe. Standortoptimalität kann nicht durch Standortwechsel (Nutzung niedriger Herstellungskosten), sondern nur durch eine Verbesserung gegebener Standortfaktoren erreicht werden. Bekanntlich wird jeder Standort von unterschiedlichen Faktoren, den Standortfaktoren, geprägt bzw. beeinflußt. Folgt man der auch der vorliegenden Analyse und Situationsbeschreibung zugrundeliegenden Begriffsdefinition Alfred Webers, dann versteht man unter einem Standortfaktor "einen seiner Art nach scharf abgegrenzten Vorteil, der für eine wirtschaftliche Tätigkeit dann eintritt, wenn sie sich an einem bestimmten Ort oder auch genereJl an Plätzen bestimmter Art voJlzieht.,,3 Mithin können ganz aJlgemein zunächst folgende Faktoren standortprägend sein: Die Leistungskraft der regionalen Wirtschaft, vorhandene lokale Forschungskapazitäten, die Arbeitskosten (niedrige oder hohe Löhne), die Verkehrsinfrastruktur (gute oder schlechte Verkehrsbedingungen), das Wohnraumangebot (Mietwohnungen in guter oder schlechter Lage mit hohen oder niedI Alfred
Weber: Über den Standort der Industrien, I. Teil: Reine Theorie des Standortes, Tübingen 1909. 2yg l. dazu u.a. Busso Grabow, Dietrich Henckel, Beate Hollbach-Grömig: Weiche Standortfaktorem, Schriften des Instituts rur Urbanistik, Band 89, Stuttgart-Berlin-Köln 1995, S. 73 ff. oder Karl ehr. Behrens: Allgemeine Standortbestimmungslehre, Köln und Opladen 1961. J Alfred Weber, a.a.O., S. 16.
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rigen Mieten usw.) oder das Verwaltungshandeln (bürokratisch oder investitionsfreundlich mit schneller Entscheidungsfindung) usw. Allgemein wird bekanntlich unter Berücksichtigung geltender Standortbedingungen zwischen den sogenannten "harten" und "weichen" Standortfaktoren unterschieden. 4 Beide stehen in enger Wechselwirkung zueinander und sie beeinflussen die Entscheidungen des betrieblichen Managements und kommunaler Kompetenzträger. Sie zählen daher zu den Komponenten von Unternehmenspolitik und Wirtschaftspolitik, so beispielsweise mit Blick auf die Verbesserung der kommunalen Wirtschaftsstruktur und ihrer Arbeitseffizienz rur den Standort Berlin. Zu den "harten" Standortfaktoren werden z.B. günstige Verkehrsanbindungen, ausreichende Gewerbeflächen, qualifizierte Arbeitskräfte oder leistungsfähige KMU gerechnet. Als "weiche" Standortfaktoren werden beispielsweise ein gutes Image oder gute kulturelle AngeboteS bezeichnet. Wenn nunmehr anschließend zu den Folgen des wirtschaftlichen Umbaues in den neuen Bundesländern rur den Wirtschaftsstandort Berlin Stellung genommen wird, dann geschieht dies unter Berücksichtigung folgender Fakten und Bedingungen: 1. Das Profil des Wirtschaftsstandortes Berlin wird durch dezentrale Regionalstandorte bzw. Teilräume in den Bezirken und einer sich damit ergebenden polyzentralen Flächennutzung geprägt. Davon ausgehend kann Berlin als ein wirtschaftliches Aktionszentrum mit im Zeitverlauf gewachsenen Funktionen aufgefaßt werden. Mithin muß die Stadt wie ein Unternehmen bestimmte Leistungen erbringen. Im wesentlichen sind das Dienstleistungen der Verwaltungen (Senatsverwaltungen, Bezirksämter) rur Privatwirtschaft oder Bürger der Stadt. Im Mittelpunkt der damit verbundenen Aktivitäten steht bekanntlich die Gewährleistung geeigneter Rahmenbedingungen rur bereits ansässige Finnen oder interessierte Investoren, rur Wissenschaft und Forschung, rur ein erfolgreicjhes Wirken von Kunst und Kultur, rur die Durchsetzung einer geeigneten großstädtischen Verkehrsinfrastruktur oder die Bewahrung vorhandener Naturressourcen. Ziel soll es mithin sein, Berlin beispielsweise zu einer Kultunnetropole, zu einem Touristikzentrum, zu einer Forschungs- und Technologiehochburg, zu einem Medien-, Dienstleistungs- und Ökologiestandort bei gleichzeitiger Revitalisierung und FördeBegriffsbestimmung weicher Standortfaktoren vgl. Busso Grabow, Dietrich Henckel, Beate Hollbach-Grömig: Weiche Standortfaktoren, a.a.O., S. 14 ff. sHierUber informiert insbesondere eine Analyse des Kultursektors in Berlin. Vgl. dazu Kurt Geppert u.a.: Kultur als Wirtschaftsfaktor in Berlin. Eine Studie des Deutschen Instituts rur Wirtschaftsforschung, D1W, im Auftrag der Senatsverwaltung rur kulturelle Angelegenheiten, Berlin 1992. 4Zur
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rung industrieller Potentiale zu entwickeln. Neben der Betonung von Vorzügen der Stadt und der damit verbundenen Vermittlung geeigneter Leitbilder müssen die Vermarktungsstrategien des Berliner Senats jedoch ebenso die sich aus der Verzahnung der beiden Länder Berlin und Brandenburg resultierenden Folgen den Bürgern zu erklären. Zu den wesentlichen Funktionen der Senatsverwaltungen und der Bezirksämter zählt daher nicht zuletzt die Wahrnehmung der Marketingfunktion. Diese ist darauf gerichtet, den Standort Berlin mit seinen Teilräumen gegenüber anderen (konkurrierenden) städtischen Ballungszentren, so z.B. München oder Frankfurt am Main, durch die Förderung und Realisierung besonderer Leistungen bzw. die Nutzung von Vorzügen bzw. Standortfaktoren abzuheben. Im gegebenen Zusammenhang spielt dabei besonders das in die Öffentlichkeit vermittelte und zu vermittelnde Image 6 der Stadt und seiner politischen Akteure eine entscheidende Rolle. 2. Eine Qualifizierung des Wirtschaftsstandortes Berlin und seiner Teilräume ist zweifellos nur auf der Basis •
einer den künftigen Anforderungen des Marktes entsprechenden und allgemein anerkannten Konzepten einer Flächennutzung durch definierte Zielgruppen des produktionsgeprägten Gewerbes, durch Dienstleister oder Forschungsinstitutionen in hierfiir zugewiesenen Standorten,
•
der damit eng verbundenen Gewährleistung neuer Profile einzelner Stadträume,
•
der Förderung typischer und stadtprägender Standortfaktoren,
•
eines zielgerichteten Standortmarketings,
•
einer Koordinierung wesentlicher Aktionen mit Hilfe leistungsflihiger Informations- und Kooperationsnetze sowie
•
einer glaubwürdigen und tragflihigen Politik des Berliner Senats möglich.
3. Wenn wir von Berlin sprechen, dann ist davon auszugehen, daß der Wirtschafts raum Berlin Gegenstand der Erörterungen ist (vgl. Abbildung I), nicht aber die Stadt innerhalb ihrer Landesgrenzen. Mit anderen Worten: Unter Berücksichtigung ökonomischer Gesichtspunkte ist die Stadt nicht von ihrem unmittelbaren Umland zu trennen. Berlin ist daher als ein integraler Bestandteil des Landes Brandenburg aufzufassen, da dessen Verflechtungen mit seinem Umfeld inzwischen bereits wieder außerordentlich eng sind.
60as
zu vennittelnde positive Image gilt allgemein als ein "weicher" Standortfaktor und ist Gegenstand der zu entwickelnden und "nach außen" zu vennittelnden Stadtkultur.
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4. Angesichts der Fülle der für eine Standortanalyse relevanten Fakten ist jedoch eine Beschränkung auf wesentliche Entwicklungen, Zielstellungen und Probleme, lokale Besonderheiten sowie bestimmte Standortfaktoren, dargestellt an ausgewählten Beispielen, geboten. 2. Ausgangsgrundlagen und einstige standortbestimmende Einflußgräßen Wenn man sich mit den Folgen des wirtschaftlichen Umbaues speziell mit Blick auf Berlin befaßt, dann ist es zweckmäßig, sämtliche für den Doppelstatus der Stadt verantwortlichen Bestimmungsgrößen und daraus resultierende standortspezifische Entwicklungen zu erfassen. Fixpunkt einer Analyse ist demzufolge zunächst die Tatsache, daß die getrennten Stadthälften ab 1949 unterschiedliche Entwicklungen genommen haben. Verantwortlich dafür war die Aufspaltung Deutschlands in zwei politische Systeme mit unterschiedlichen Wirtschaftsordnungen. Allein die Abschnürung Mitteldeutschlands von seinen einstigen Absatz- und Zuliefermärkten, die Beseitigung von Kriegszerstörungen, umfangreiche Reparationszahlungen an die sowjetische Besatzungsmacht sowie die Eingliederung der verbliebenen Wirtschaftspotentiale in den sowjetischen Wirtschaftsverbund zwangen die damalige Sowjetische Besatzungszone (SBZ) und spätere DDR bekanntlich zu umfangreichen Strukturanpassungen. Im Rahmen des Ausgleichs unterschiedlicher Defizite ab Anfang der fünfziger Jahre entstanden somit im Zeitverlauf neue Wirtschaftsstrukturen sowie neue Wert- und Güterkreissläufe. 7 Derartige Fakten äußern sich gegenwärtig in den im zusammengewachsenen Berlin beklagten Doppelstrukturen, aber auch Provisorien und Anomalien. 2.1 Der Großraum Berlin zum Zeitpunkt der politischen Wende 1989/1990 2. I. 1 Bemerkungen zum Teilraum Berlin-West Der Großraum Berlin war bis 1989 auf Grund seiner Teilung von drastischen Gegensätzen geprägt. Die im Westteil der Stadt wirksam gewesenen unterschiedlichen Effekte konnten vor allem nur deshalb eine weitgehende Stabilität garantieren, weil er von Beginn seiner Abschnürung an voll in das Rechts-, Wirtschafts- und Finanzsystem des Bundes sowie nicht zuletzt in die Europäische Gemeinschaft integriert war. Nicht minder stabilisierend hatten sich be-
7Vg l.
in diesem Sinne Bruno Gleitze: Ostdeutsche Wirtschaft, Berlin 1956, S. 4 u. 5 sowie ders.: Die Wirtschaftsstruktur der Sowjetzone und ihre gegenwärtigen sozial- und wirtschaftsrechtlichen Tendenzen, Bonn 1951, S. 4 ff.
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Abb. I: Das zusammengewachsene Berlin und sein Verflechtungs raum
Erklärungen:
c::J fünf regionale Großballungsräume in Brandenburg. darin eingebenet der Raum Berlin I::J äußerer Entwicklungsraum c:::J
o
fl
engerer Verflechtungsraum Zentren des engeren Verflechtungsraums Zentren mit besonderem Handlungsbedarf im engeren Verflechtungsraum
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kanntlieh die mit der Berlin-Regelung von 1971 verbundenen Abkommen, Vereinbarungen und Erklärungen, die Verkehrsvereinbahrungen von 1975 sowie nicht zuletzt der Grundlagenvertrag von 1972 ausgewirkt. 8 Dabei wurde die Attraktivität der Insellage West-Berlins mit einem Bündel von Subventionen sowohl für Arbeitnehmer als auch Investoren vor allem auf der Grundlage des Berlinförderungsgesetzes (BerlinFG)9 gewährleistet. Das heißt, beim früheren Standortmarketing des Senats spielte die Werbung mit monetären Transfers an private Unternehmen eine zentrale Rolle. 1o Die Grundlage bildete hierfür eine umfangreiche Bundeshilfe zum damaligen West-Berliner Landeshaushalt. 11 Nur auf diese Weise konnte im Zeitablauf die Ansiedlung von Firmen und der Wirttschaftsstandort Berlin-West gesichert bzw. die Abwanderung gewerblicher Funktionsträger bereits unmittelbar nach dem Kriegsende kompensiert werden. Ohne die gewährten Förderungen wäre manche Firma nicht wettbewerbsfähig gewesen. Nachteilig machte sich dabei bemerkbar, daß die Förderungen im Verarbeitenden Gewerbe die Entwicklung eines vergleichsweise hohen Anteils "verlängerter Werkbänke" hervorgebracht hatte. Während sich die Entscheidungs- und Forschungszentren besonders der großen Unternehmen im westdeutschen Wirtschaftsraum befanden, hatte die BerlinFörderung - von einigen Ausnahmen abgesehen - im Westteil Berlins die Präferierung von Fertigungen mit relativ wenig qualifizierter Arbeit bewirkt. Mit anderen Worten: Das durch Subventionen geprägte Wirtschaftsklima hatte den Modernisierungsgrad von Unternehmen und das Qualifizierungsniveau von Arbeitnehmern unter den Bundesdurchschnitt absinken lassen. Hinzu kam, daß infolge der gewährten Subventionen in der Regel flächenextensive Betriebe mit relativ geringer Wertschöpfung angezogen wurden. Als nachteilig äußerte sich zudem eine Unternehmermentalität, die durch zunehmende Erwartungshaltungen gegenüber dem Staat geprägt war. Zu berücksichtigen ist nicht zuletzt auch, daß durch die Förderungen die Nachteile der sozio-ökonomischen Abschnürung vom angrenzenden Umland nicht kompensiert werden konnten. Vg l. hierzu im einzelnen die Ausftlhrungen von Manfred Rexin zum Stichwort "Berlin". In: DDR Handbuch, Band I A - L, 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 1985, S. 164 - 180 sowie OlafHillenbrandiChristian Matern: "Berlin", in: Werner WeidenfeldlKarl-RudolfKorte (Herausg.), Handbuch zur deutschen Einheit, Bonn 1993, S. 39 - 55. 9Das Berlinfl\rderungsgesetz (BerlinFG) galt bis 1989 in der Fassung seiner Bekanntmachung vom 10.12.1986. IOBekanntlich erhielt jeder beschäftigte Arbeitnehmer ein steuer- und abgabenfreies Plus von 8 % seines Bruttoeinkommens. Hinzu kamen monatliche Zulagen ftlr jedes Kind, zinslose Darlehen zur Familiengrundung, verbilligte Wohngelddarlehen und Zuzugshilfen ftlr neue Arbeitnehmer. Für Unternehmen und Selbständige wurden durch die Ermaßigung der Einkommensteuer bis zu 22,5 % sowie durch eine relativ niedrige Gewerbesteuer besondere Anreize geschaffen. Im Falle von Investitionen im Westteil wurden zudem steuerfreie Zulagen bis zu 25 % der Gesamtsumme und bei Investitionen ftlr Forschung und Entwicklung sogar bis zu 40 % gewährt. liDer Beitrag der Bundeshilfe zum Landeshaushalt hatte 1990 mit rd. I3 Mrd. DM mehr als 50 Prozent des Etats ausgemacht. 8
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Wie bereits zuvor darauf hingewiesen wurde, konnte das Überleben des Westteils der Stadt zusätzlich durch eine Palette von Abkommen und Regelungen (Grundlagenvertrag, Transitabkommen, Besuchs- und Reiseabkommen, Wissenschaftsabkommen, Regelungen im Rahmen des innerdeutschen Handels usw.) gesichert werden. Auf Grund der dennoch vorherrschenden aktionsbeschränkenden Rahmenbedingungen war die Wirtschaftspolitik des Senats stets von dem Bemühen geprägt, den geopolitisch bedingten Standortnachteil WestBerlins in einen wirtschaftspolitischen Vorteil umzumünzen: Die Stadt sollte vor allem Brückenfunktionen fur Kooperationen mit den osteuropäischen Ländern übernehmen. Trotz der gegebenen einschränkenden Rahmenbedingungen konnte sich der Westteil Berlins weitgehend als Standort unterschiedlicher Leistungen entfalten. Er war bis 198911990 besonders: a) Ein Standort bekannter und gut besuchter Großmessen und -ausstellungen (Internationale Grüne Woche, IGW, Internationale Tourismusbörse, ITB, Internationale Funkausstellung, IFA). b) Ein Standort mit guten Forschungs- und Wissenschaftsressourcen, u.a. vertreten durch rd. 180 FuE-Einrichtungen in Hochschul- und weiteren Forschungsinstituten und -zentren. c) Ein Standort mit einer günstigen innerstädtischen Verkehrsinfrastruktur (Öffentlicher Personennahverkehr, ÖPVN, als "Rückgrat") und einem funktionierenden Eisenbahn-, Flug- und Schiffahrtsverkehr, der die Insellage ertragbar machte. d) Ein aufstrebender Medien- und Dienstleistungsstandort (Dienstleistungsmarkt Berlin), in welchem unternehmensbezogene Dienstleistungen ab 1977 besonders expandierten. e) Eine Kultur- und Wissenschaftsmetropole, in welcher sich, begünstigt durch die Insellage, auch eine AIternativkulturlandschaft ausprägte, so daß sich die Stadt insgesamt durch die Anziehungskraft von Mauer, Museen sowie Festspiel- oder Theaterlandschaft zu einem attraktiven touristischen Anziegungspunkt entwickeln konnte. t) Ein noch hinreichend gesicherter Standort fur Industrie und Verarbeitendes
Handwerk, bei dem sich jedoch bereits ab Mitte der achtziger Jahre als Folge hoher Bodenpreise und Gewerberaummieten, schlechter Expansionsmöglichkeiten sowie ansteigender Arbeitskosten fur nicht wenige Unternehmen anwachsende Aktionsproblerne offenbarten. Hinzu kam, daß insbesondere im Bereich der Elektrotechnik der technologische Wandel in Richtung Elektronik und Digitaltechnik zunehmende Anpassungen erforderte, die besonders fur mittelständische Unternehmen nur mühsam bewältigt wer-
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Klaus Krakat den konnten. Darüber hinaus machte sich zum Ende der achtziger Jahre die vergleichsweise überproportionale Zahl der in den Fertigungsbereichen Beschäftigten erschwerend bemerkbar.
Kennzeichnend für den Westteil der Stadt und sein industrielles Gewerbe war schließlich dessen räumliche Verteilung auf bestimmte Großraumstandorte (Beispiel: Siemens/Siemenstadt oder ScheringiWedding) einerseits sowie dezentrale bzw. verteilte Lagen (Streu lagen) andererseits. Insgesamt ließ sich für den Westteil Berlins ein in Abhängigkeit von dem jeweiligen Bezugsrahmen unterschiedliches Bild zeichnen: •
ein durch die Wirtschaft und deren Förderung geprägtes Bild (Subventionsstandort sowie kostenintensiver Standort),
•
ein durch wissenschaftliche Leistungsfähigkeit und starke Forschungsorientierung (Beispiele: Freie Universität und Technische Universität, Produkt ionstechnisches Zentrum, Technologie- und Innovationspark Berlin usw.) geprägtes Bild,
•
ein kulturelles Bild (Kulturstadt mit Museen, geprägt durch seine Philharmoniker usw.),
•
ein räumliches Bild, das sich zunächst unter Berücksichtigung landschaftlicher Aspekte (reich an Seen und Wald) sowie politischer Aspekte formen ließ und den Westteil als Insel zeigte (umgeben von einem anderen politischen und wirtschaftlichen System mit der trennenden Mauer als Kennzeichen und touristischem Anziehungspunkt) und schließlich
•
ein geschichtliches Bild (alte "Reichshauptstadt", Preußenturn, geteilte Stadt). 2.1.2 Zum Teilraum Berlin-Ost
Demgegenüber wurde der Ostteil Berlins mit Billigung der Sowjetunion zu einem Machtzentrum der SED-Führung und zur Hauptstadt der DDR ungeachtet bestehender internationaler Vereinbarungen ausgebaut und von Regierung und SED-Führung im Zeitverlauf zielstrebig in das politische und gesellschaftliche System der DDR integriert. 12 Hier hatten daher sämtliche zentralen Staatsorgane (auch der Bereich Kommerzielle Koordinierung und rd. 36 seiner Firmen) sowie bedeutende Potentiale von Wissenschaft und Forschung ihren Sitz. Im Rahmen der Wahrnehmung von Hauptstadtfunktionen wurde Ost-Berlin zudem auch als "Schaufenster zum Westen" gegenüber den anderen Bezirken vor allem 12 Zur völkerrechtlichen Problematik und der inneren Ordnung von Berlin-Ost vgl. u.a. Manfred Rexin, a.a.O., S. 176 ff.
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hinsichtlich der Versorgung der Bevölkerung mit technischen Konsumgütern sowie Lebensmitteln oder der Bereitstellung von Investitionsmitteln rur die Staatswirtschaft stets bevorzugt behandelt. Entgegen der zunächst noch unter Honecker und Mittag bestrittenen umfangreichen wirtschaftlichen Probleme hatte sich die einstige DDR 1989 in den Staatsbankrott manövriert. 13 Mit einer neuen Führungsspitze in Partei und Regierung sollte unter Berücksichtigung veränderter wirtschaftlicher Ordnungsprinzipien und besonders durch eine den Marktverhältnissen angepaßte Wirtsachaftspolitik eine drastische Wende herbeigeruhrt werden. Aber auch diese Idee wurde durch ein Bündel von Ereignissen in der Zeit vom Oktober 1989 bis hin zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion im Juni 1990 bekanntlich überrollt. Noch bis Anfang des Jahres 1990 bestanden jedoch trotz erster erkennbarer Veränderungstendenzen im Ostteil Berlins die planwirtschaftlich geprägten Funktionen und Strukturen: (I) Der staatliche Dienstleistungs- und Verwaltungssektor Besonders die Konzentration von Staatsorganen (Staats- und Parteiapparat mit z.B. 28 ir. Berlin existierenden Ministerien, diversen staatlichen Ämtern, allgemeinen staatlichen Verwaltungen, wichtigen staatlichen Banken oder wesentlichen Außenhandelsorganen) ruhrte zwangsläufig dazu, daß 1989 knapp 32 v.H. aller Berufstätigen in den sogenannten "nichtproduzierenden Bereichen" tätig waren. An zweiter Stelle rangierte die Industrie mit rd. 25 v.H. (vgl. hierzu weiterhin Tabelle 1). Nicht wenige Berufstätige waren vor allem in den aufgeblähten Kombinatsleitungen beschäftigt. Mit der Übernahme der Hauptstadtfunktion wurde Ost-Berlin nicht nur zur zentralen Wirtschafts- und Kulturmetropole de~ DDR ausgebaut. Ein haupt- und weltstädtisches Ambiente in "den Farben der DDR" sollte insbesondere die Region "Unter den LindenlFriedrichstraße" erhalten: Nach den auf der SED-Bezirksdelegiertenkonferenz Berlin im Februar 1984 vorgetragenen Planungen 14 13 yg l. hier z.B. Gemot Gutmann u. Hannsjörg F. Buck: "Die Zentralplanwirtschaft der DDR Funktionsweise, Funktionsschwachen und Konkursbilanz", Maria Haendcke-Hoppe-Amdt: "Außenwirtschaft und innerdeutscher Handel" oder Klaus Krakat: "Probleme der DDR-Industrie im letzten FUnfjahrplanzeitraum (1986 - 1989/1990)". In: Am Ende des realen Sozialismus, Band 2: Die wirtschaftliche und ökologische Situation der DDR in den 80er Jahren, Leske + Budrich, Opladen 1996. 14 yg l. hierzu die Information "Berlin gedeiht als blühende Hauptstadt unserer Republik". In: Neues Deutschland vom 13.2.1984, S. 5 sowie ergänzend dazu auch a.a.O., S. 1 - 4. - Gegenstand der auf dieser Bezirksdelegiertenkonferenz besonders hervorgehobenen Bauvorhaben war auch der Wohnungsbau, so z.B. die Grundsteinlegung ftlr ein Wohngebiet in Berlin-Hohenschönhausen. Siehe
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wollte man beispielsweise die Friedrichstraße zu einer attraktiven Geschäftsstraße ausbauen. Zu den regionalen Fixpunkten zählten im gegebenen Zusammenhang vor allem das Handelszentrum und internationalen Standards angepaßte Hotels. Den krönenden Abschluß sollten jedoch die Friedrichstadtpassagen, ein Bau der Warenhausvereinigung "Centrum" und das "Casino Berlin" bilden. Wesentliches Ziel solcher und weiterer westorientierter Dienstleistungsangebote war es, harte Westdevisen abzuschöpfen, um die sich DDR-weit erhöhenden Finanzierungsdefizite auszugleichen und die ins internationale Abseits abgedriftete Planwirtschaft zu sanieren. (2) Kunst, Kultur, Freizeitgestaltung Zweifellos war es günstig, daß in unmittelbarer Umgebung vorhandener und auszubauender Dienstleistungsschwerpunkte vor allem die weithin bekannten Museen oder Theater ihren Sitz hatten. Zweifellos übten traditionsgemäß die in Ost-Berlin beheimateten Opernhäuser und Theater sowie die weit über die Stadt hinaus bekannten Bauwerke namhafter Architekten bzw. Meister seit jeher nicht nur für die Einheimischen, sondern ebenso für Besucher des Ostteils der Stadt eine besondere Anziehung aus: Unter den Linden waren das vor allem die Staatsoper, die St. Hedwigskathedrale, die Humboldt-Universität und die Alte Bibliothek. Einen hohen Bekanntheitsgrad hatten zudem bereits zu DDR-Zeiten große Museen, wie beispielsweise das Bode-Museum mit dem Pergamon-Altar. In unmittelbarer Nähe der "Linden" bildete z.B. das von Berthold Brecht 1949 gegründete Berliner Ensemble, das seit 1954 im Theater am Schiffbauer Damm sein Domizil hat, einen weiteren Anziehungspunkt. Erwähnenswert ist im gegebenen Zusammenhang ebenso der am 2. Juli 1955 eröffnete Tierpark in BerlinFriedrichsfelde mit etwa 160 Hektar Fläche und mehr als 5.000 Tieren. Dieser Park hat sicht nicht nur zu einem beliebten Ausflugsziel entwickelt, sondern war und ist ebenso international rur seine Zuchterfolge bekannt. Nicht zuletzt bot der "grüne Bezirk" Köpenick mit seinem Wald- und Wasserreichtum schon immer gute Möglichkeiten für viele Formen der Freizeitgestaltung. Wesentlich ist im gegebenen Zusammenhang, daß auch die von der SED verfochtene Kulturpolitik als Element zur Durchsetzung politischer Ziele mißbraucht wurde. Hier bildeten wie auch in anderen Fällen die im Ost-Berlin konzentrierten Medien einen geeigneten Transmissionsriemen. 15
hierzu ergänzend "Berlin-Hohenschönhausen wird Heimstadt flIr 100 000". In: Neues Deutschland vom 10.2.1984, S. I u. 2. 15Zur Funktion der Medien sowie der Medienlenkung vgl. insbesondere Gunter Holzweißig: "Medien und Medienlenkung" . In: Am Ende des realen Sozialismus, Band I: Die SED-Herrschaft und ihr Zusammenbruch, Verlag Leske + Budrich, Opladen 1996, S. 51 - 81.
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(3) Die SED-gelenkte Industrie Traditionell zählte die im Ostteil Berlins angesiedelte Industrie mit insgesamt 144 Volkseigenen Betrieben (VEB) zu den Leistungsträgern der Stadt. Gemessen am Produktionsvolumen war der Industriebereich ElektrotechniklElektronik/Gerätebau l6 1989 mit einem Anteil von mehr als 31 v.H. an der GesamtIeistung Ost-Berlins vertreten, gefolgt von der Leichtindustrie (15,5 v.H.) und dem Maschinen- und Fahrzeugbau (15 V.H.).17 Tab. 1: Berufstätige 1988 im Ostteil Berlins (ohne Lehrlinge) Bereiche - Nichtproduzierender Bereich - Industrie - Handel - Verkehr, Post- u. Fernmeldewesen - Bauwirtschaft - sonstige produzierenden Zweige - produzierendes Handwerk (ohne Bauhandwerk) - Land- u. Forstwirtschaft Berufstätige insgesamt
in 1000 222.375 175.669 107.353 76.681 51.585 39.038 16.730
in v.H. 31,9 25,2 15,4 11,0 7,4 5,6 2,4
7.668 697.100
1,1 100,0
Quelle: Statistisches Jahrbuch der DDR 1990, 1. Auflage, S. 67 und Eigenberechnungen
Kennzeichnend auch tur die im Ostteil Berlins ansässige Industrie waren besonders: a) Ein hoher Zentralisationsgrad, der sich in einer hohen Betriebsgrößenkonzentration mit einem umfangreichen Bestand der in den Großbetrieben tätigen Personen (einschließlich eines erheblichen Dienstleistungsanteils bei den Beschäftigten) äußerte. b) Eine vertikale Betriebskonzentration, mit der in den Industriekombinaten VEB mehrerer Produktionsstufen (in bezug auf die gefertigten Endprodukte ) vereinigt waren. 18 c) Die Existenz von Produktions- und Angebotsmonopolisten, wodurch ein Wettbewerb zwischen einzelnen VEB mit gleichen oder ähnlichen Leistungen praktisch ausgeschaltet war. 16 Dieser Industriebereich umfaßte in Berlin folgende Geschäftsfelder: Nachrichten- und Meßtechnik, Lichtquellen, Kabel, Hochspannungsgeräte und Elektroapparate, betriebliche Meß-, Steuer- und Regelungstechnik sowie den Starkstrom- und Femmeldeanlagenbau. 17 Statistisches Jahrbuch der DDR 1990, I. Auflage, S. 68. IS Eine Ausnahme bildeten hiervon Kombinate der Leicht- und Lebensmittelindustrie.
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d) Eine relativ niedrige Arbeitsproduktivität je Beschäftigten. 19 e) Eine ebenfalls extrem niedrige West-Exportrentabilität. 2o f) Hohe Fertigungstiefen bei den Produktionsbetrieben.
g) Eine enge Verzahnung mit den übrigen RGW-Ländem, insbesondere mit der ehemaligen Sowjetunion und eine Ausrichtung auf deren Bedürfnisstrukturen. h) Ein nicht geringer veralteter und heruntergewirtschafteter Kapitalstock mit hohen Verschleißquoten bei Produktionsanlagen und Maschinen. 21 i) Eine polyzentrische Flächennutzung durch die Industrie, wobei neben großräumigen Industriestandorten (Beispiel: Oberschöneweide) wesentliche Produktionskapazitäten ebenso in Streu lagen, verteilt über alle Bezirke, existierten. 22 Tab. 2: Auswahl strukturbestimmender Produktionsbetriebe des DDR-Industriezweiges. ElektrotechniklElektronik mit Sitz im Ostteil Berlins (Stand: 1988/1989) Kombinat VEB Elektro-Apparate-Werke Berlin-Treptow: • VEB Elektro-Apparate-Werke Berlin-Treptow, Stammbetrieb des Kombinates, Hoffmannstr. 15 - 16/26, Berlin-Treptow 1988 ca. 8.500 Beschäftigte allein im Stammbetrieb, davon ca. 49 v.H. in Forschung und Entwicklung • VEB Steremat Berlin, Schwedter Str., Berlin-Mitte (1988 ca. 2.000 Beschäftigte), Produktionsbetrieb • VEB Chromatron Berlin, Plönzeile 43, Berlin-Köpenick, Produktionsbetrieb • VEB Plastikwerk Friedrichshagen, Berlin-Köpenick, Produktionsbetrieb
19Mit einem Rückstand der DDR von 40 v.H. zur Bundesrepublik, ausgewiesen z.B. in der Anlage Nr. 4 zum Protokoll Nr. 47 der Sitzung des Politbüros des Zentralkommitees der SED vom 31. Oktober 1989, Geheime Verschlußsache, S. 4. In: SAPMO BArch, DY 30/J IV 2//2356. 20Die (West-) Exportrentabilität drUckt das Verhältnis zwischen Aufwand und Erlös aus. Für I Valuta-Mark Erlös aus Exporten in den Westen, das heißt in das sogenannte Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet (NSW), mußte in der Regel auch in Ost-Berliner Industriebetrieben ein Betriebsaufwand zwischen 3,-- bis 6,-- Mark der DDR in Rechnung gestellt werden. 21Gewisse Ausnahmen bildeten hiervon die durch Staatsaufträge bevorzugten und exportorientiert produzierenden Betriebe. Im Vergleich zu anderen Produzenten waren sie mit einer leistungsfllhigeren Produktions- und Informationstechnik ausgerUstet und nahmen daher auch eine Vorzeigefunktion wahr. 22Neben den traditionellen Standorten (z.B. Oberschöneweide) wurden zu DDR-Zeiten neue Gewerbegebiete insbesondere am östlichen Stadtrand (Marzahn, Hohenschönhausen, Lichtenberg) aber ebenso in der Innenstadt (z.B. Storkower Straße) geschaffen.
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97
VEB Kombinat Nachrichtenelektronik, Berlin: VEB Funkwerk Köpenick, Wendenschloßstr. 154/158, Ber1in-Köpenick, Stammbetrieb des Kombinates 1988 ca. 4.000 Beschäftigte (im angeschl. Zentrum f. Forschung u. Technik zusätzl. ca. 2.000 Beschäftigte) • VEB Meße1ektronik Berlin, Neue Bahnhofstr. 9117, Berlin-Friedrichshain (1988 ca. 1.350 Beschäftigte), Produktionsbetrieb • VEB Funk- u. Femmelde-Anlagenbau Berlin, Storkower Str. 120, Berlin-Prenzlauer Berg (1988 ca. 1.200 Beschäftgte), Produktions betrieb • VEB Studiotechnik Berlin, Rungestr. 25/27, Berlin-Mitte (1988 ca. 1.000 Beschäftigte), Produktions betrieb • VEB Telefon- u. Signalbau Berlin, Lehderstr. 16/19, Berlin-Weissensee, Produktionsbetrieb VEB Kombinat Automatisierungsanlagenbau, Berlin: • VEB Elektroprojekt- und Anlagenbau, Stammbetrieb des Kombinates, Rhinstr. 100, BerlinLichtenberg 1988 ca. 8.500 Beschäftigte (1990 = ca. 5.200) • VEB Transformatorenwerk Berlin (TRO), Wilhelminenhofstr. 83/85, Berlin-Köpenick (1988 ca. 3.900 Beschäftigte), Produktionsbetrieb • VEB Signal- u. Sicherungstechnik Berlin, Eisenstr. 87/96, Berlin-Treptow (1988 = ca. 3.000 Beschäftigte), Produktionsbetrieb • VEB Elektrodyn Berlin, Salvador-Allende-Str. 76, Berlin-Köpenick, Produktionsbetrieb • VEB Projektas Berlin, Leninalle 376/Landsberger Allee, Berlin-Lichtenberg, Produktions betrieb VEB Kombinat NARVA, Berlin: • VEB NARVA Berliner GIOhlampenwerk, Ehrenbergstr. 11/14, Berlin-Friedrichshain, Stamm betrieb des Kombinates 1988 knapp 6.000 Beschäftigte • VEB NARVA Sondermaschinen- u. Leuchtenbau, Storkower Str. 113, Berlin-Lichtenberg (1990 = ca. 400 Beschäftigte), Produktions betrieb • VEB Studiotechnik Berlin, Josef-Orlopp-Str. 5, Berlin-Lichtenberg (1988 = ca. 600 Beschäftigte), Produktions betrieb VEB Kombinat Kabelwerk Oberspree (KWO), Berlin: • VEB Kabelwerk Oberspree, Wilhelminenhofstr. 76177, Berlin-Köpenick Stammbetrieb des Kombinates 1988 ca. 6.000 Beschäftigte • VEB Kabelwerk Köpenick, Friedrichshagener Str. 11, Berlin-Köpenick (1988 ca. 1.700 Beschäftigte), Produktions betrieb • VEB Schnellflechter Berlin, Langhansstr. 123-126/Streustr. 27, Berlin-Weissensee (Beschäftigte 1988 ca. 500, 1990 = 248, Produktionsbetrieb VEB Kombinat Mikroelektronik, Erfurt: • VEB Werk rur Fernsehelektonik Berlin (WF), Ostendstr. 1/5, Berlin-Köpenick (1988 ca. 8.600 Beschäftigte), Produktionsbetrieb • VEB Mikroelektronik-Secura-Werke Berlin, Chausseestr. 42, Berlin-Mitte (1988 ca. 1.900 Beschäftigte), Produktions betrieb VEB Kombinat Elektromaschinenbau, Dresden: • VEB Gießerei u. Maschinenbau Berlin, Herzbergstr. 1191124, Berlin-Lichtenberg, Produktionsbetrieb VEB Kombinat Rundfunk u. Fernsehen, Staßfurt: • VEB Sternradio Berlin, Liebermannstr. 75, Berlin-Weissensee (1988 ca. 3.000 Beschäftigte), Produktions betrieb
•
7 Eckart I Paraskewopoulos
98
Klaus Krakat
Kombinat VEB Fahrzeugelektrik, Ruhla: VEB Berliner Akkumulatoren- u. Elementefabrik (BAE), Wilhelminenhofstr. 68/68, BerlinKöpenick (1988 ca. 2.100 Besch.), Produktionsbetrieb VEB Kombinat Lokomototivbau-Elektrotechnische Werke, Henningsdorf: • VEB Isokond Isolierstoff- u. Kondensatorenwerk, Lehder Str. 34/35, Berlin-Weissensee (1988 ca. 100 Besch.), Produktionsbetrieb VEB Kombinat Carl-Zeiss, Jena: • VEB Gerätewerk Berlin, Berlin-Köpenick, Produktionsbetrieb
•
Tab. 3: Hauptstandorte der DDR-Industrie im Ostteil Berlins und hier tätig gewesene VEB (Beispielsammlung, Stand: 1989) Bezirk Pankow Standort Buchholzer Straße • VEB Chemieanlagenbaukombinat Leipzig-Grimma, AußensteIle Berlin-Pankow • VEB Kombinat Zentraler Industrieanlagenbau der Metallurgie, Stammbetrieb u. Kombinatsleitung • VEB Transformatorenwerk Berlin (TRO), Betriebsteil Kessel- u. Behälterbau Berlin-Pankow Bezirk Weissensee Standort I: GehringstraßelLiebermannstraße/NUDlerstraßelFeldtmannstraße • VEB Druckguß u. Formenbau • VEB Isolierungen • VEB Meßelektronik Berlin, Betrieb im Kombinat Nachrichtenelektronik, Berlin-Köpenick • VEB Sternradio Berlin, Betrieb im Kombinat Rundfunk u. Fernsehen, Staßfurt • VEB Werkzeugmaschinenkombinat "7. Oktober" Berlin, Stammbetrieb u. Kombinatsleitung Standort 2: Langhansstraße/StreustraßelBehaimstraße • VEB Ingenieurbetrieb filr Anlagen Berlin, Bereich Maschinenbau • VEB Kunstschmiede Berlin • VEB Schnellflechter Berlin, Betrieb im Kombinat Kabelwerk Oberspree (KWO), Berlin Bezirk Marzahn Standort: Landsberger Allee (LeninaIlee) • VEB Berliner Druckplattenwerk • VEB Berliner Werkzeugmaschinenfabrik, Betrieb im Werkzeugmaschinenkombinat "7. Oktober", Berlin Bezirk Lichtenberg Standort I: HerzbergstraßelLandsberger Allee/SiegfriedstraßeNulkanstraBe • VEB Elektrokohle Lichtenberg • VEB Gießerei u. Maschinenbau Berlin, Betrieb im Kombinat Elektromaschinenbau • VEB Industrie- u. Kraftwerksrohrleitungen Bitterfeld, Werk Industrierohrleitungsmontagen Berlin • VEB Kombinat Minol Berlin • VEB Lufttechnische Anlagen Berlin • VEB Metallaufbereitung Halle, Werk Berlin • VEB Metalleichtbaukombinat Leipzig, Werk Berlin • VEB Stahlkonstruktion Berlin • VEB Verpackungsmittelbau Berlin Standort 2: Jacques-Duclos-Straße • VEB Herrenbekleidung Fortschritt, Stammbetrieb des Kombinates Oberbekleidung, Berlin • VEB Maßatelier Berlin, Betrieb im Kombinat Bekleidung u. Täschnerwaren, Berlin
Die Folgen des wirtschaftlichen Umbaus
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Standort 3: RhinstraßelLandsberger Allee • VEB Elektroprojekt u. Anlagenbau, Stammbetrieb des Kombinates Automatisierungsanlagenbau, Berlin • VEB Projektas Berlin, Betrieb im Kombinat Automatisierungsanlagenbau, Berlin Bezirk Treptow Standort: HofTmannstraßelEichenstraßelElsenstraße • VEB Elektro-Apparate-Werke Berlin-Treptow, Stammbetrieb des Kombinates ElektroApparate-Werke, Berl in-Treptow • VEB Signal- u. Sicherungstechnik Berlin, Betrieb im Kombinat Automatisierungsanlagenbau, Berlin Bezirk Köpenick Standort: Oberschöneweide/Spreeknie • VEB Berliner Akkumulatoren- u. Elementefabrik, Betrieb im Kombinat Fahrzeugelektrik, Ruhla • VEB Kabelwerk Oberspree, Stamm betrieb des Kombinates Kabelwerk Oberspree, Berlin • VEB Transformatorenwerk , Betrieb im Kombinat Automatisierungsanlagebau, Berlin • VEB Werk filr Fernsehelektronik Berlin, Betrieb im Kombinat Mikroelektronik, ErfiJrt
Zu den Bezirken mit hoher Industriekonzentration zählten beispielsweise Weissensee, Lichtenberg oder Köpenick (vgl. dazu weiterhin Tabellen 223 und 3) Dementsprechend war Oberschöneweide im Bezirk Köpenick mit etwa 25.000 Arbeitsplätzen vor der Wende zu den strukturbestimmenden Standorten der DDR-Elektrotechnik und -Elektronik zu rechnen. Besonders dieser altindustrielle Stadtteil hatte sich im Zeitverlauf infolge unterlassenen er Sanierungsund Reparaturarbeiten bei den Wohnbauten zu einem heruntergekommenen Stadtquartier trotz der sonst üblichen Privilegierung Ost-Berlinl4 bei Wohnungsversorgung und Stadtausbau entwickelt. Seine Wohnbevölkerung war daher schon zu DDR-Zeiten in einem alarmierenden Rückgang begriffen. (4) Wissenschafts- und Forschungsaktivitäten Bekanntlich hatte die SED im Rahmen der von ihr verfochtenen Forschungsund Technologiepolitik Prioritäten gesetzt, die von politischen Zielen, ökonomischen Erfordernissen und internationalen (westlichen) Standards der Wissenschafts- und Technologieentwicklung abgeleitet waren. Hinzu kam, daß forschungsorientierte Auswahl- und Transformationsprozesse nicht nach wirtschaftlichen Kriterien verliefen, da der von Märkten und Kundenverhalten ausgehende Druck unter den geltenden planwirtschaftlichen Prämissen ausgeschaltet war. Zudem fehlten geeignete Organisations- und Kommunikationsstrukturen, welche Motivation, Identifikation und innovatives Verhalten in der notwendigen Breite initiieren konnten?5 Vor diesem Hintergrund konzentrierte die Die Tabelle beschränkt sich auf Kombinatsbetriebe der sogen. zentralgeleiteten Industrie. dazu u.a. Hannsjörg F. Buck: "Wohnungsversorgung, Stadtgestaltung und Stadtverfall". In: Am Ende des realen Sozialismus, Band 2: Die wirtschaftliche und ökologische Situation der DDR in den achtziger Jahren, Leske + Budrich, Opladen 1996, S. 81 u. 82. 25 Zur Forschungs- und Technologie der DDR vgl. u.a. Klaus Krakat: "Probleme der DDR-Industrie im letzten FUnfjahrplanzeitraum (1986 - 1989/1990)". In: Am Ende des realen Sozialismus, Band
B
24 Vgl.
7'
IOD
Klaus Krakat
SED den Faktoreinsatz trotz zunehmender Überschuldung und wirtschaftlicher Disproportionen im Verlauf der achtziger Jahre speziell auf Schlüsseltechnologien, da man sich durch diese nicht nur einen Modernisierungsschub, sondern ebenso internationale Anerkennung und nicht zuletzt die Sicherung des Parteiund Machtapparates erhoffte. Dennoch konnte die gegenüber den ftlhrenden westlichen Industrieländern bestehende technologische Lücke zu keiner Zeit abgebaut werden; sie nahm vielmehr stetig zu. Die ftlr DDR typisch gewesene Verteilung des gesamten Forschungspotentials auf vier Sektoren26 äußerte sich auch im Ostteil Berlins. Dabei handelte es sich um: •
staatseigene Akademien mit der Akademie der Wissenschaften (AdW) als wohl größtem "Forschungsbetrieb" der DDR,
•
Forschungsinstitute an Hochschulen und Universitäten (Beispiele: Humboldt-Universität, Hochschule ftlr Ökonomie "Bruno Leuschner" usw.),
•
Industrieforschung in Kombinatsbetrieben und den Forschungseinrichtungen einzelner Industrieministerien (ausgerichtet auf zweigspezifische Grundlagenforschung bis hin zur angewandten Forschung und Entwicklung) sowie schließlich
•
Partei-Institute (Beispiele: das Zentralinstitut rur Sozialistische Wirtschaftsführung beim ZK der SED in Berlin-Rahnsdorf oder das Zentral institut ftlr Information und Dokumentation in Köpenick/Wuhlheide).
Davon ausgehend, ergaben sich rur den Standort Berlin-Ost z.B. folgende weitere Merkmale: a) Mehr als 20 v.H. des gesamten Forschungspotentials der DDR waren im Ostteil Berlin konzentriert. Allein die Akademie der Wissenschaften unterhielt im Rahmen der ihr zugewiesenen außeruniversitären Forschung rd. 36 Institute mit etwa 15.000 Mitarbeitern. Hauptstandorte existierten in Berlin-Adlershof und Berlin-Buch oder bestanden an der Prenzlauer Promenade. Sie umfaßten über 50 v.H. des gesamten AdW-Potentials. Weitere Institute hatten in Potsdam-Golm (Telegrafenberg) und in Leipzig (Permosastraße) ihren Sitz. Kennzeichnend ftlr die Akademieforschung waren dabei vor allem deren •
hoher Konzentrationsgrad (Hauptstadtzentralismus),
2: Die wirtschaftliche Situation der DDR in den achtziger Jahren, Leske + Budrich, Opladen 1996, S.150ff. 26ZU kennzeichnenden forschungspolitischen Schwerpunkten der DDR äußerten sich vor allem RH Brocke u. E. Förtsch: Forschung und Entwicklung in den neuen Bundesländern 1989 - 1991, Stuttgart 1991, S. 15 ff.
Die Folgen des wirtschaftlichen Umbaus
101
•
deren personelle Überbesetzung,
•
deren Abhängigkeit von den politischen Zielstellungen der SED sowie
•
erhebliche Defizite bei der Ausstattung mit apparativer Forschungstechnik (der Mangel an leistungsfiihigen Computern zwang daher in der Regel zum Eigenbau!).
Derartige Fakten konnten nicht ohne Einfluß auf die Forschungseffektivität der DDR insgesamt bleiben. b) Relativ hoch waren auch die im Ostteil Berlins angesiedelten Potentiale der Industrieforschung. 27 Sie existierten als •
Bereich, der dem Stamm betrieb eines Kombinates zugeordnet war,
•
Spezialabteilung, ggf. einschließlich Rationalisierungsmittelbau, innerhalb eines Produktionsbetriebes,
•
eigenständige Institution entweder mit Institutscharakter oder in der Form eines VEB sowie
•
Institut eines Ministeriums.
So bestanden beispielsweise im Stammbetrieb des Kombinates KWO in der Wilhelminenhofstraße, im Werk für Fernsehelektronik am Spreeknie oder bei den zuvor genannten Werkzeugmaschinenherstellern umfangreiche Forschungsund Entwicklungsabteilungen. Im Kombinat Nachrichtenektronik Berlin war der hierfilr geschaffene VEB Zentrum für Forschung und Technologie zuständig. Forschungsfunktionen hatte demgegenüber im Kombinat Automatisierungsanlagenbau Berlin wiederum das Hochleistungsprüffeld (Prüffeld filr elektrische Hochleistungstechnik) zu übernehmen. Zu den weiteren Forschungsinstutionen im Industriebereich zählten u.a. auch der VEB Industrieforschungszentrum Biotechnologie in AIt-Stralau, der VEB Ingenieurbetrieb filr wissenschaftlichen Gerätebau in Köpenick und weitere Forschungsbetriebe der Industrie. Trotz erheblicher Anstrengungen und Gegensteuerungen war es der SED nie gelungen, den planwirtschaftlich bedingten langen Zeitraum zwischen Forschungsergebnissen und deren Umsetzung in absatzfiihige Produkte wesentlich zu reduzieren. Hinzu kam, daß mit neuen Erzeugnissen der Eigenbedarf der DDR nie gedeckt werden konnte (Beispiele: Mikroprozessoren, Werkzeugmaschinensteuerungen oder Computer). Entweder standen nur kleine Musterfertigungen zur Verfügung oder der Output mußte zur Erwirtschaftung notwendiger Devisen in den Westen bzw. in RGW-Länder, insbesondere in die Sowjetunion, 27Vgl.
dazu u.a. auch Klaus Krakat: "Probleme der DDR-Industrie im letzten FUnfjahrplanzeitraum
(1986-1989/1990)", a.a.O., S. 155 ff.
\02
Klaus Krakat
exportiert werden. Typisch auch fur die im Ostteil tätig gewesenen Institutionen der Industrieforschung war schließlich, daß ihnen von den zentralen Staatsorganen ebenso Aufgaben aus dem Bereich der imitierenden Forschung (einschließlich Rüstungsforschung, weitgehend im Auftrag der Sowjetunion) übertragen worden waren, das heißt, sie waren in das von der SED gesteuerte Aktionsnetz des illegalen West-Ost-Technologie-Transfers eingebunden. Das bedeutete, daß in den Betrieben das dortige FuE-Personal nicht nur als qualifizierte Reserve zur Beseitigung von Produktionsengpässen eingesetzt wurde, sondern auch "mit Nach- und Umwegentwicklungen von Technologien, die im Westen bereits ausgeforscht und in die Wirtschaft überfuhrt waren, beschäftigt" war. "Ursächlich dafur war auf seiten des Westens die COCOM-Sperre und auf seiten der DDR die schlechte außenwirtschaftliche Lage .... " verantwortlich. 28 2.2 Kommunalpolitische Weichenstellungen und erste Maßnahmen zur Realisierung des Vereinigungsprozesses - Auswirkungenfür die Stadt Berlin Zweifellos bestand bereits spätestens Anfang 1990 bei den politisch Verantwortlichen Klarheit darüber, daß der Abriß der Mauer in Berlin zwar ein erster bedeutsamer, doch vielleicht eher symbolischer Akt zur Überwindung der jahrelangen Teilung Deutschlands und vor allem Berlins sein konnte. So wurden die kommunalpolitischen Aktivitäten in Berlin relativ schnell darauf ausgerichtet, die teilungsbedingten Provisorien, Anomalien und und Doppelfunktionen in Frage zu stellen, Vorbereitungen fur deren sukzessiven Abbau zu treffen und zudem die Transformation der Planwirtschaft in eine Marktwirtschai't zu unterstützen. Dies wurde bekanntlich durch ein Bündel von Maßnahmen gewährleistet, den Grundlagen zur Realisierung des Vereinigungsprozesses. Zu diesen zählen: •
Zunächst der "Beschluß zur Gründung der Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums (Treuhandanstalt) vom 1. März 1990".z9 Sie hatte bekanntlich in Berlin ihren Hauptsitz.
•
Es folgte bald darauf die im Mai 1990 vollzogene Unterzeichnung des Einigungsvertrages. 30 Dieser hatte insbesondere fur Berlin mit Blick auf die Festlegung der Hauptstadt (Artikel 2) eine bedeutsame Entscheidung getroffen.
2RR.H. Brocke/E. Förtsch, a.a.O., S. 69. 29Veröffentlicht in: Gesetzblatt der DDR vom 8. März 1990, Teil I Nr. 14, S. 107 sowie die dazu gehörige "Verordnung zur Umwandlung von volkseigenen Kombinaten, Betrieben und Einrichtungen in Kapitalgesellschaften", S. 108. 30yertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands - Einigungsvertrag -. Presse- und Informationsdienst der Bundesregierung, Bulletin Nr. 104, Bonn, d. 6.9.1990, S. 877 ff..
Die Folgen des wirtschaftlichen Umbaus
\03
•
Wesentliche Grundlagen filr ein Zusammenwachsen fur die beiden deutschen Staaten und damit ebenso filr eine Integration der beiden Teile Berlins wurden darüber hinaus zweifellos mit dem "Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik" geschaffen. 31 Er bildete die Ausgangsbasis filr das Zusammenwachsen der separierten Stadthälften und die Verzahnung der Stadt mit ihrem Umland.
•
Zur Regelung der Privatisierung des ehemaligen volkseigenen Vermögens dienten neben den bereits ergangenen Privatisierungsbeschlüssen weitere Regelungen. Zu diesen ist besonders das "Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens (Treuhandgesetz) vom 17. Juni 1990" zu rechnen. 32
•
Der Bundestagsbeschluß vom 20. Juni 1991 sah schließlich vor, daß die bereits gekürte Hauptstadt Berlin nunmehr auch Regierungssitz des vereinigten Deutschlands sein sollte.
Vor diesem Hintergrund hatte sich der Senat von Berlin zunächst vor allem die folgenden wirtschaftspolitischen Aufgaben gestelle 3 •
Unterstützung des Ausbaues der Stadt zu einem repräsentativen Sitz filr Regierung und Parlament
•
Sicherung und Ausbau der Attraktivität Berlins als Investitionsstandort,
•
Förderung des Zusammenwachsens der beiden Stadthälften und der Integration des Westteils mit dem Umland,
•
Nutzung der vorhandenen wissenschaftlich-technischen Potentiale und hochqualifizierten Dienstleistungsangebote sowie
•
Gewährleistung der Zusammenarbeit von Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung bei der Entwicklung der Region.
•
Dabei bestand Einigkeit darüber, daß zur Lösung derartiger Aufgaben umfangreiche Maßnahmen notwendig waren. Dazu wurden vor allem gerechnee 4
•
Auswahl geeigneter Standorte filr Regierung und Parlament,
•
Sanierung und Erneuerung des Verkehrsnetzes3S ,
JIVeröffentlicht in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bulletin Nr. 63, Bonn d. 18. Mai 1990, S. 517 ff.. 32 ln: Gesetzblatt der DDR, Teil 1 Nr. 33 vom 12. Juni 1990, S. 300 - 303. J3Gesarntberliner Landesregierung von Senat und Magistrat, 19. Bericht Ober die Lage der Berliner Wirtschaft, Stand: November 1990 (Herausgegeben von der Senatsverwaltung rur Wirtschaft), S. 6. 34Gesarntberliner Landesregierung von Senat und Magistrat, 19. Bericht, a.a.O., S. 6.
Klaus Krakat
104
•
Ausbau der Flughafenkapazität rur den Großraum Berlin in Anpassung an die Erfordernisse einer Hauptstadt (mit Sitz von Regierung und Parlament) und Wirtschaftsmetropole,
•
Sanierung des teilweise desolaten Altbaubestandes einerseits und Neubau von Wohnungen an ausgewählten Standorten andererseits im Ostteil Berlins,
•
Festlegung regionaler Entwicklungsschwerpunkte und Aktionsräume für die Wirtschaft mit einer ausgewogenen Integration der Funktionen Wohnen, Arbeiten und Freizeit und unter Berücksichtigung kiezspezifischer Kulturen (Beispiele: Standorte Oberschöneweide, Prenzlauer Berg, Kreuzberg usw.).
Eng verbunden war damit vor allem der Ausbau und Umbau des Wirtschaftsund Wissenschaftsstandortes Berlins auf der Basis zu entwickelnder stadträumlicher Konzepte zu einem Dienstleistungszentrum (in welchem insbesondere von produktionsorientierten Dienstleistungen Impulse erwartet werden konnten) bei gleichzeitiger Sicherung und Erweiterung industrieller Leistungspotentiale an ausgewählten Standorten. Hierrur wurden z. B. eine stärkere Unterstützung von Existenzgründungen in Verbindung mit einer besonderen Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) besonders im Ostteil der Stadt, die Ausweitung von Ost-West-Kooperationen und eine gezielte Inanspruchnahme von Finanz- und Strukturhilfen der EG anerkannt. 3. Zu den Folgen des wirtschaftlichen Umbauesfür den Standort Berlin 3.1 Veränderungen im Wirtschaftsbereich 3.1.1 Entwicklungsprobleme in beiden Teilen Berlins Bereits vor der Wende, seit etwa Mitte der achtziger Jahre, hatte in den Ballungsräumen Westdeutschlands ein in der Folgezeit stetig zunehmender Abbau von Industriearbeitsplätzen eingesetzt und auch -wie bereits vorne gesagt- den Westteil Berlins erfaßt. Verantwortlich waren darur trotz der gewährten Subventionen des Senats vor allem: •
hohe Bodenpreise und Gewerberaummieten,
•
hohe Arbeitskosten sowie
•
schlechte Expansionsmöglichkeiten rur die hier ansässigen Unternehmen.
35 Über die im gegebenen Zusammenhang von der Senatsverwaltung rur Verkehrswesen z.B festgelegten Ziele und als notwendig erkannten Maßnahmen vgl. insbes. Herwig E. Haase "Integrationspolitik der Verkehrsinfrastruktur". In: Unvollendete Transformation im Osten Probleme und Chancen, Teil I. FS-Analysen Nr. 2/1993, S. 107 - 114.
Die Folgen des wirtschaftlichen Umbaus
105
Unmittelbar nach dem Mauerfall konnte die einigungsbedingte Euphorie und der daraus resultierende Wirtschaftsboom die bestehenden strukturellen Defizite des Westteils der Stadt noch verdecken. Mit fortschreitender Normalisierung der Gesamtsituation machten sich die Nachteile der bisherigen Insellage des Westteils zunehmend bemerkbar, weil westdeutsche Unternehmer länger als verantwortbar von den Fruchten der Wiedervereinigung gezehrt und ihre Strukturanpassungen zu zögerlich vorgenommen hatten. Derartige Negativeffekte wurden durch den Fortfall der Berlin-Förderung und die ansteigenden Lohnkosten zusätzlich erhöht. Bislang im Westteil angesiedelte Firmen wanderten daher in das Ausland oder kostengünstigere Umland, in den sogenannten Speckgürtel, ab oder gingen Pleite. Der erneute Konjunktureinbruch verstärkte ab 1995 die Anpassungsschwierigkeiten und machte deutlich, daß die westliche Stadthälfte noch immer eine Insel geblieben war. Im Ostteil Berlins hingegen waren bekanntlich nicht allein die sich aus der Transformation der Plan- in eine Marktwirtschaft ergebenden Strukturbruche, sondern die parallel dazu wirkenden rezessionsbedingten Belastungen und der sich daraus ergebende drastische Abbau von Arbeitsplätzen rur die bestehenden Dauerprobleme verantwortlich. Als teilweise störend rur das Zusammenwachsen der beiden Stadthälften wurden auf westlicher Seite nicht minder existierende alte DDR-Strukturen und -Mentalitäten empfunden. 3.1.2 Zu den Folgen von Sanierung und Privatisierung durch die Treuhandanstalt Sanierung und Privatisierung durch die Treuhandanstalt gelten allgemein als wesentliche Komponenten der Transformation der Planwirtschaft in eine Marktwirtschaft. Damit waren bekanntlich verschiedene Maßnahmen verbunden zu denen gerechnet werden können: 1. Entflechtung verbürokratisierter und überdimensionierter Kombinats- und VEB-Strukturen,36 2. Ausgliederung nicht geschäftsnotwendiger Grundstücke und Anlagen im Rahmen von Sanierungsmaßnahmen,
wissen nicht erst heute, daß zu viele Hierarchieebenen mit den damit verbundenen langen Weisungswegen in der einstigen DDR-Wirtschaft bekanntlich nicht nur zu Informationsverlusten gefilhrt, sondern ebenso Fehl- und Falschinformationen übergeordneter zentraler Leitungsorgane begünstigt hatten. Die Entflechtung planwirtschaftlieh orientierter Strukturen durch die Treuhandanstalt zielte daher mit der Aufspaltung überdimensionierter Strukturen auch auf die Schaffung verschlankter, flexibler Firmen ab. Damit war zwangsläufig mit der Liquidation hinderlicher Leitungsebenen ein Personal abbau verbunden. 36 Wir
106
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3. Ausrichtung von Firmenleistungen auf gewinnversprechende Geschäftsfelder und Märkte. Unmittelbare Folge der Durchsetzung solcher und weiterer Maßnahmen der Sanierung und anschließenden Privatisierung durch die Treuhandanstalt war ein rapider Abbau von Arbeitsplätzen. Dies war auf Grund des viel zu hohen Beschäftigungsgrades der einstigen DDR-Betriebe zu erwarten. Als eine besondere Hürde auf dem Weg in die Marktwirtschaft erwies sich für den Großteil der auch in Berlin ansässigen Treuhandfirmen der Zusammenbruch der traditionellen Märkte in Mittel- und Osteuropa. Chancen mußten daher verstärkt auf Westmärkten gefunden werden. Nicht ohne nachhaltige Folgen waren in einigen Fällen auch die zu spät einsetzende Sanierung, aber auch teilweise falsche Privatisierungsentscheidungen der Treuhandanstalt für die betroffenen Betriebe geblieben. Einige Betriebe mußten daher von der Anstalt wieder zurückgenommen werden 3? und die Suche nach einem geeigneten Investor begann erneut. Andere Firmen sind -wie es hierzu u.a. hieß- von dem Investor regelrecht "in die Pleite gefahren" worden. Rettungsversuche der Treuhandanstalt blieben zum Teil erfolglos. 38 In wiederum anderen Fällen wurden die vorgegebenen Auflagen der Anstalt nicht errullt oder die zur Verrugung gestellten Finanzierungsmittel vom Investor mißbraucht. 3.1.3 Ausdünnung des Industriebereichs als Hauptmerkmal des wirtschaftlichen Strukturwandels
Ausdruck der transformations- und konjunkturbedingten Anpassungsprozesse war und ist eine deutliche Ausdünnung der im Ostteil Berlins nach der Sanierung und Privatisierung verbliebenen industriellen Pontentiale. Neu entstandene kleine und mittlere Unternehmen, einige aus der Privatisierung hervorgegangene größere Unternehmen oder Niederlassungen westlicher Unternehmungen, kennzeichnen dort seither das sich auch weiterhin verändernde Profil des produzierenden Gewerbes. Aber auch im Westteil der Stadt hat sich seit 1990 die Struktur der einstigen Industriestandorte vor allem durch Standortverlagerungen deutlich verändert. Folgende Faktoren können daher rur Berlin als entwicklungsprägend angesehen werden: 1. Vor allem solche Produktionsstandorte und hier ansässige strukturbestimmende Betriebe, die eine besondere Rolle im Rahmen der RevitalisierungsJ7Beispiel: Schnellflechter GmbH, Berlin-Weissensee (vorm. Betrieb im Kombinat Kabelwerk Oberspree). 38Beispiel: Berliner Schreibfeder GmbH, Berlin-Friedrichshain (vorm. VEB Schreibgeräte, Betriebsteil Schreibfeder).
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konzepte des Berliner Senats spielten, erfuhren zwischenzeitlich als erhaltenswerte "industrielle Kerne" eine besondere Unterstützung. Die damit verbundenen Förderungsmaßnahmen wiesen nicht zuletzt auf umfangreiche Bemühungen hin, den Rückgang des produzierenden Gewerbes aufzuhalten. Bei den "industriellen Kernen" handelte es sich nach aIlgemeiner Auffassung um solche Treuhandbetriebe, die für den Erhalt der Wirtschaftskraft und die Sicherung der weiteren Existenz einer Region als unverzichtbar galten und zudem über ein qualifiziertes Fachpersonal, eine ausreichende produktionstechnische Basis sowie intakte und marktorientierte betriebliche Funktionsbereiche verfügten. In Berlin existierten 1993 insgesamt neun solcher bis dahin noch nicht privatisierten Betriebe mit rund 4.000 Arbeitsplätzen, die für eine besondere Sanierung vorgeschlagen wurden und in der sogenannten B-9-Liste der Senatsverwaltung für Wirtschaft und Technologie enthalten waren (vgl. Tabelle 4).39 2. Auch in der Berliner Industrie haben sich seit Ende der achtziger Jahre die ehemals großen Produktions- und Verwaltungseinheiten drastisch verschlankt: Es wurden Hierarchien abgebaut und zu lange Informationswege verkürzt sowie betriebliche Funktionsbereiche ausgelagert und verselbständigt (Outsourcing). Auf diese Weise konnten kleine, flexiblere und dezentralisierte Funktionsbereiche mit der Betonung produktionsorientierter Dienstleistungen geschaffen werden. Derartige Veränderungen rechtfertigen die FeststeIlung, daß der bislang geltende Begriff "Industrie" inhaltlich um Dienstleistungskomponenten wie z.B. Forschung, Ingenieursleistungen oder Marketing erweitert werden sollte. Im Zentrum solcher Wandlungen steht zweifeIlos die Erneuerung der Innovationskraft der Unternehmen. Die damit verbundenen Veränderungen beziehen sich einerseits auf die Entwicklung neuer Produkte, neuer Technologien, neuer Dienstleistungen und neuer Märkte. Andererseits sind jedoch auch Innovationen in neue Prozesse, Abläufe, Strukturen und Beziehungen zu beobachten. Dies alles muß zwangsläufig Folgen für die Strukturanpassung der großen städtischen industriellen BaIlungsräume haben: Es entwicken sich nunmehr auf der Grundlage neuer Flächennutzungskonzepte (für Industrie, Dienstleistungen Forschung und Wissenschaft usw.) dezentrale und kleinräumige Standortprofile, sogenannte dezentrale Konzentrationen als raumordnerische Leitbilder in den einzelnen Berliner Stadtbezirken bzw. -regionen. 4o Dabei handelt es sich um eigen-
39yg l.
hierzu weiterhin auch Klaus Krakat: "Zum Dilemma von Strukturanpassung und Strukturerhaltung in den neuen Bundesländern vor dem Hintergrund konjunkturel1er EinbrUche". In: Deutschland Archiv Nr. 111994, S. 24 u. 25. 40yg l. Klaus Krakat: "Management und Markt, Wettbewerbssicherung als Zielstel1ung rur KMU Betriebswirtschaftliche Notwendigkeiten". Referat auf dem Mittelstands-Forum Köpenick am 24.11.1994 anUIßlich der Europawoche vom 21. bis 27.11.1994. In: Die Forderungen der Europäi-
Klaus Krakat
\08
ständige Entwicklungsräume, in denen die Faktoren Wohnen, Arbeiten, Verkehrsinfrastruktur und Freizeitgestaltung eine neue Dimension erhalten. Beispiele sind hiertUr: •
Berlin-Oberschöneweide4\,
•
der Wirtschafts(WISTA),
•
Gewerbestandorte in Marzahn, Lichtenberg oder Hohenschönhausen usw.
und
Wissenschaftsstandort
Adlershof/Johannisthal
Tab. 4: Betriebe der B-9-Liste der Senatsverwaltung tUr Wirtschaft und Technologie 1993 • • • • • • • • •
BAE Berliner Batterie GmbH, Berlin-Köpenick (Oberschöneweide) BECON c1assic GmbH, Berliner Herrenkonfektion, Berlin-Lichtenberg BWF Berliner Werkzeugmaschinenfabrik GmbH, Berlin-Treptow Befiza Berliner Zigarettenfabrik GmbH, Berlin-Pankow Elektrokohle Lichtenberg GmbH, Berlin-Lichtenberg Fahrzeugausrüstungen Berlin GmbH, Standortverlagerung nach DahlwitzHoppegarten Kühlautomat Berlin GmbH (KAB), Berlin-Johannisthal (Adlershof) NILES Werkzeugmaschinenfabrik GmbH, Berlin-Weissensee Prolux Maschinenbau GmbH, Berlin-Hohenschönhausen
Ausgedehnte weitere Gewerbeflächen, die inzwischen weitgehend durch eine drastische Ausdünnung der industriellen Strukturen gekennzeichnet sind, existieren darüber hinaus an weiteren markanten Standorten und Bezirken OstBerlins. Der Strukturwandel vollzieht sich sowohl im Ost- wie auch im Westteil der Stadt in Richtung des Aufbaus neuer Dienstleistungszentren, einer Sicherung von Standorten tUr das Prozierende Gewerbe sowie der Entwicklungsforderung von Wissenschafts- und Forschungspotentialen bei gleichzeitigem Bau neuer Wohnquartiere. 3. Der trotz verschiedener weiterer Gegensteuerungen des Berliner Senats voranschreitende Abbau von Industriearbeitsplätzen wurde zweifellos Z.B. durch •
den Konkurs der Fritz Wemer & Niles AG seelMarienfelde (500 betroffene Arbeitsplätze)42,
in
Berlin-Weissen-
schen Union an die Wettbewerbsfllhigkeit mittelständischer Unternehmen. Konsequenzen rur die Region Berlin-Oberschöneweide, FS-Analysen, Sonderheft 1995, S. 7 ff.. 41Weitere Hinweise zum Standort Oberschöneweide finden sich im Abschnitt 4.2 dieser Arbeit. 42Die Niles Werkzeugmaschinenbau GmbH in Weissensee wurde zum Januar 1993 aus dem Bestand der Treuhandanstalt an die Fritz Werner Werkzeugmaschinen AG in Berlin-Marienfelde ver-
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109
•
die vorgesehene Schließung des AEG/TRO-Transformatorenwerkes Köpenick zum Ende des Jahre 199643 oder
•
die geplanten Standortverlagerungen des Berliner Aufzugs- und Fahrtreppenherstellers Otis nach Frankreich und Italien auf Grund zu hoher Arbeitsnebenkosten beschleunigt. Insbesondere die Wemer-Niles-Pleite weist deutlich auf die derzeitige instabile Lage des deutschen Maschinenbaues hin.
In
4. Von dramatischen Strukturveränderungen ist nicht zuletzt das Baugewerbe betroffen. Obwohl der hier zu beobachtende Arbeitsplatzabbau zwar kein spezielles Berliner Problem ist, so treffen die sich ergebenden Nachteile die Stadt in konzentrierter Form als Folge des nunmehr offenen europäischen Arbeitsmarktes. Den in Berlin registrierten Arbeitslosen stehen gegenwärtig Bauarbeiter aus fast allen europäischen Regionen gegenüber, die legal oder illegal auf der derzeit größten Baustelle Europas tätig sind. Mit Hilfe des sogenannten Entsendegesetzes und der Festsetzung eines Mindestlohnes in Höhe von rd. 20,-- DM/Std. erhofft man sich eine Problembereinigung. Diese könnte jedoch kaum wirksam werden, wenn die vorgesehenen Investitionskürzungen des Senats zu Stellenstreichungen führen sollten. Bereits jetzt ist auf Grund der gegebenen einschränkenden Bedingungen im Baugewerbe eine Konkurswelle vorhersehbar. 5. Der insgesamt voranschreitende rapide Arbeitsplatzabbau und damit einhergehende sozialstrukturelle Veränderungen zwingen sich neben wirtschaftsrelevanten Problemen zu bestimmenden Größen der künftigen Senatspolitik auf. Fest steht, daß von dem Abbau der industriellen Arbeitsplätze in bei den Stadthälften der Industriebereich Elektrotechnik, gefolgt vom Maschinenbau, der Bauwirtschaft, der chemischen Industrie und dem Bekleidungsgekauft. Trotz einer Millionen-Zugabe durch die Treuhandanstalt im Rahmen der Privatisierung, trotz eines Rückkaufes von Grund und Boden durch die Treuhand-Nachfolgerin BVS und einer relativ günstigen Auftragslage galt das Überleben des Maschinenbauunternehmens am Markt als nicht mehr gesichert. Daran änderte in der Folgezeit auch nichtS, daß die Autania AG filr Industriebeteiligungen, Frankfurt a.M., als Holdinggesellschaft Mitte 1993 die Mehrheit an der Fritz Werner AG übernommen und versucht hatte, die angeschlagene Liquidität des Unternehmens durch ein Gesellschafterdarlehen i. H. v. 5 Milliarden Mark zu sichern. Auf Grund eines Verschmelzungsvertrages vom August 1995 ist dann die Niles GmbH durch Übertragung ihres Vermögens auf die Fritz Werner AG mit dieser zusammengefilhrt worden. Bei der Fusion waren in beiden Unterenehmen zusammmen rd. 550 Mitarbeiter tätig. Davon sollten den, Planungen der Autania entsprechend, etwa 300 bis 350 Arbeitsplätze langfristig gesichert werden. 4J Das Werk in Oberschöneweide wurde 1992 von der AEG übernommen. Im Januar 1996 hatte sich der Daimler-Benz-Konzern bekanntlich dazu entschlossen, seine Elektro-Tochter AEG aufzulösen. Als Folge dieser Maßnahme soll nunmehr die gesamte Transformatorenproduktion an die französische GEC Alsthol verkauft werden. Wie es nach AEG-Angaben u.a. heißt, sollen ausschließlich wirtschaftliche Gründe filr die geplante Auflösung entscheidend gewesen sein, die die gesamte Branche betreffen. Demgegenüber wurden von der IG-Metall Zweifel an der Stichhaltigkeit der AEG-Argumente vorgebracht. Dabei wurde u.a. betont, daß es sich hier um eine reine politische Entscheidung gegen den Standort Berlin gehandelt habe.
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110
werbe bislang am stärksten betroffen waren. Insgesamt sind seit der Vereinigung der beiden Stadthälften bis etwa Anfang 1995 im Ostteil etwa 155.000 und im Westteil rd. 50.000 industrielle Arbeitsplätze abgebaut worden. Im Februar 1996 betrug die Anzahl der erfaßten Arbeitslosen in Berlin insgesamt schließlich 237.552 44 mit einer Arbeitslosenquote von 13,8 %. Die meisten Arbeitslosen wurden im Bezirk Neukölln registriert (26.168), gefolgt von Kreuzberg (17.921) und Wedding (14.938). Von der gestiegenen Arbeitslosigkeit waren nicht minder die östlichen Stadtbezirke betroffen. Die Spitzenposition nahm hier Prenzlauer Berg (11.964) ein. Auch die Zahl der Kurzarbeiter war vor allem in den Bezirken Pankow, Weißensee und Prenzlauer Berg drastisch angestiegen. Derartige radikale Veränderungen ließen besonders auch im Ostteil der Stadt die Anzahl der Erwerbstätigen von 857 000 im Jahre 1990 auf etwa 488 000 im Jahre 1995 herabsinken (vgl. Tabelle 5). Tab. 5: Entwicklung der Erwerbstätigkeit im Ostteil Berlins Jahr 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995
Entwicklungsverlauf in 1.000 Personen 857,0 762,0 629,1 534,6 520,0 498,0 488,01)
I) Vorläufiges Ergebnis, Stand am 5.2.1996. Quelle: Statistisches Bundesamt, Wiesbaden.
3.1.4 Kleine und mittlere Unternehmen als Wirtschaftsfaktor Kleine und mittlere Unternehmen (KMU) haben sich insbesondere in dem zusammengewachsenen Berlin "zu einem inzwischen wichtigeri Wirtschaftsfaktor" entwickelt. 45 Im Vergleich zu den auch in Berlin ansässigen großen Unternehmen haben sie bislang nicht nur Arbeitsplätze erhalten, sondern zusätzliche geschaffen. Nicht unwesentlich ist im gegebenen Zusammenhang, daß als unVgl. im gegebenen Zusammenhang auch die Hinweise der Industrie- und Handelskammer Berlin zur Beschäftigungsentwicklung in: Berlin in Zahlen, Ausgabe 1995, S. 8 u. 9. 45 S0 beispielsweise Peter Wieczorek (Bundesministerium rur Wirtschaft, Berlin) in seinem Vortrag "Entwicklungsstand und Chancen rur den Mittelstand in den neuen Bundesländern", gehalten auf dem Mittelstands-Forum Berlin-Köpenick zum Generalthema "Die Forderungen der EU an die Wettbewerbsfllhigkeit mittelständischer Unternehmen - Konsequenzen rur die Region BerlinOberschöneweide" am 24.11.1994 anläßlich der Europa-Woche vom 21. - 27.11.1994. 44
Die Folgen des wirtschaftlichen Umbaus
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mittelbare Folge der Transformation und den damit verbundenen Umstrukturierungen bereits ab 1990 KMU in allen Wirtschaftsbereichen Ostdeutsch lands entstanden. Sie glichen nicht nur die insbesondere durch Enteignung ehemaliger Privatbetriebe 197246 und massive Betriebskonzentrationen entstandenen Strukturdefizite aus, sondern haben sich inzwischen als bedeutende Wirtschaftsakteure bewährt. Der Fortbestand vieler auch in Berlin ansässiger KMU gilt jedoch noch immer als nicht gesichert. Nachteilig wirkt sich beispielsweise aus, daß bei nicht wenigen von ihnen vorhandene unternehmensinterne Schwachpunkte durch vielfältige staatliche Unterstützungen verdeckt wurden. Mit zunehmendem Unternehmensalter belasten z.B. der Fortfall von Zinsstundungen oder die nach längerer Wartezeit nunmehr einsetzenden Tilgungleistungen usw. die Liquidität von KMU. Als ungünstig haben sich jedoch ebenso eine zu niedrige Eigenkapitalquote, die einseitige Orientierung auf regionale Märkte in Verbindung mit einem unbefriedigenden Marketing, die schleppende Begleichung von Rechnungen durch öffentliche und private Auftraggeber oder gar Forderungsausfälle usw. erwiesen. Ursachen für die statistisch erfaßten Existenzzusammenbrüche bilden nicht zuletzt beträchtliche Defizite hinsichtlich des erforderlichen betriebswirtschaftlichen Know-hows. 47 Sie äußern sich vor allem in Finanzierungsfehlern oder fehlendem Marketingwissen. Obwohl die in Berlin existierenden KMU auch von den hier verantwortlichen politischen Akteuren als bedeutende Wirtschaftskraft eingeordnet und gefördert werden, stehen sie andererseits steigenden Abgaben- und Steuerbelastungen gegenüber. Diese geflihrden besonders die Existenz kleiner und kapitalschwacher Firmen im Ostteil der Stadt und verwässern die gewährten Förderungen.
3.1.5 Berlin: Günstiges Klimafür Existenzgründungen 1995 wurden für Berlin insgesamt rund 33 000 Geschäftsneuerrichtungen und darüber hinaus mehr als 7 000 Übernahmen bereits bestehender Firmen
46ygl. hierzu insbesondere: Monika Kaiser: 1972 - Knockout rur den Mittelstand, Berlin 1990 sowie Maria Haendcke-Hoppe: Privatwirtschaft in der DDR, Geschichte - Struktur - Bedeutung, FS-Analysen Nr.1I1982. 4?Hinweise finden sich hierzu u.a. bei Klaus Krakat: MBO-Untemehmen im Ostteil Berlins vor dem Hintergrund von Strukturanpassungen. Eine Wirtschaftsanalyse. FS-Analysen, Sonderheft 1993, S. 48 - 53 sowie ders.: GrUnde rur Erfolg oder Mißerfolg von KMU unter besonderer Berilcksichtigung von Finanzierung und Liquiditätssicherung. Ergebnisse einer Regionalanalyse in Berlin-Oberschöneweide. FS-Analysen, Sonderheft Nr. 311994. - Eine gute Analyse der Gesamtproblematik gibt Jochen Struck mit seiner Informationsschrift "Ostbetriebe: Zwischen Wachstumsdynamik und Liquiditätsengpässen". In: Deutsche Ausgleichsbank, Bonn, Wissenschaftliche Reihe, Band 2, August 1995 .
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durch neue Inhaber registriert. 48 Dies läßt die Vermutung zu, daß Existenzgründungen noch immer auf Zuspruch stoßen. Firmenneugründungen werden vom Berliner Senat als "Keimzellen" des Strukturwandels eingestuft. Mithin steht besonders rur sie ein umfangreiches Bündel von Förderungen bereit, um auf dessen Basis Gründungen zu initiieren und Berlin zu einer "Gründerstadt" zu entwickeln. 49 Insbesondere mit den "Gründertagen Berlin-Brandenburg", bislang veranstaltet in der TU Berlin, will man nicht nur Studienabgänger rur den Weg in die Selbständigkeit gewinnen, sondern ebenso über wesentliche Gründungsvoraussetzungen informieren. Dementsprechend standen Z.B. die 11. Gründertage am 16.117. September 1995 im Zeichen der Vermittlung von Basiswissen und speziellen Kenntnissen. Den Mittelpunkt der Veranstaltung bildete zweifellos die erstmalige Verleihung des "Existenzgründerpreises der Berliner Morgenpost". Er wurde Unternehmen verliehen, die als hervorragende Beispiele rur unternehmerischen und wirtschaftlichen Erfolg gelten. Wesentlicher Grund rur derartige Informationsveranstaltungen, Beratungen und darüber hinaus auch Weiterbildungsseminare und angebotene Fördermaßnahmen ist zunächst die Erkenntnis, daß es in Berlin im bundesweiten Vergleich bislang noch zu wenige kleine und mittlere Unternehmen gibt, die mit neuen Ideen Märkte erobern und Arbeitsplätze schaffen. 50 Darüber hinaus sieht man sich seitens des Senats gezwungen, vor allem über technologieorientierte Existenzgründungen die zunehmende Brache im produzierenden Sektor abzufangen. Zu den besonderen Problemen der Existenzgründerförderung zählt dabei nicht zuletzt die Tatsache, daß auch in Berlin rur technologieorientierte Gründer aber nicht minder rur KMU die Beschaffung von Risikokapital in der Regel auf Barrieren stößt. Berücksichtigt man speziell das Gründungsgeschehen im Ostteil Berlins, dann ist festzustellen, daß sich dort "in allen Wirtschaftsbereichen das zahlenmäßige Verhältnis von Neugründungen zu Betriebsschließungen auch 1995 weiter verschlechtert hat.,,51 Diese Entwicklung weist zunächst darauf hin, daß hinsichtlich der Gründungsentwicklung die Wachstumsgrenzen deutlich werden. 52 Sie deckt sich darüber hinaus Z.B. mit der Feststellung abnehmender
48Industrie- und Handelskammer zu Berlin (Herausg.): Bericht 1995/96, Berlin - Unter dem Druck zur Trendwende, Berlin 1996, S. 39. 49S0 der ehemalige Finanzsenator Elmar Pieroth auf einer Veranstaltung an der TU Berlin: "Eine Grunderwelle ist nötig". In: Der Tagesspiegel vom 17.9.1994, Beilage "Start in die Selbständigkeit", S. B 4. 10 Allgemein wird unterstellt, daß mit jeder Firmenneugrundung durchschnittlich drei bis vier neue Arbeitsplätze geschaffen werden. I I Industrie- und Handelskammer zu Berlin (Herausg.): Bericht 1995/96, a.a.O., S. 41. 12 Basis rur diese Einschätzung: Nachfrage bei einer Auswahl von Weiterbildungs institutionen im Februar 1996.
Die Folgen des wirtschaftlichen Umbaus
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Gründungszuwächse als Indiz einer sich anbahnenden Nonnalisierung bei den Gründungen durch das Bundesministerium filr Wirtschaft, Berlin 53 • Speziell mit Blick auf die filr Existenzgründer gebotenen Unterstützungen und Aktionsmöglichkeiten kann Berlin mit seinen sich neu strukturierenden Räumen filr Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung durchaus als ein günstiger Standort mit einem guten Gründungsklima bewertet werden. Verantwortlich sind dafilr vor allem: •
Sonderllirderprogramme des Senats54,
•
umfangreiche Infonnationsangote anläßlich der jährlich stattfindenden Gründertage Berlin-Brandenburg,
•
Sonderveranstaltungen Berliner Universitäten sowie Hoch- und Fachschulen,
•
günstige Startbedingungen in Technologie- und Gründerzentren mit z.B. reduzierten Mieten, zentralen kostengünstigen Serviceleistungen usw. (vgl. dazu Abschnitt 3.2.3 sowie Tabelle 7),
•
Weiterbildungs- und Infonnationsprogramme der Industrie- und Handelskammer zu Berlin55 ,
•
Existenzgründerseminare auch an den Volkshochschulen im Ostteil · 56, BerIms
•
Sonderberatungen und -infonnationen durch Banken oder
•
Beratungen der Bezirksämter57 •
Nicht unwesentlich ist im gegeben Zusammenhang, daß die gebotenen Weiterbildungsmöglichkeiten von vielen Gründern nicht in dem erforderlichen Umfang genutzt werden. Das äußert sich in der Regel in wenig überzeugenden Unternehmenskonzepten und deren Umsetzung oder Finnenzusammenbrüchen. Nach allgemeinen Feststellungen sind dafilr vor allem Defizite im Managementwissen (betriebswirtschaftliches Grundwissen), zu geringe Kenntnisse über 53Mitteilung des rur KMU einschließlich ExistenzgrUndungen zustllndigen Referates im BMWi, Berlin, auf eine telefonische Anfrage im Februar 1996. 54Vg l. hierzu u.a. die Förderfibel 1995 der ehemaligen Senatsverwaltung rur Wirtschaft und Technologie, 5. Auflage oder die Broschüre ExistenzgrUndung, 8. Auflage. 55 Auskunft über angebotene Seminare, Lehrgänge und PrUfungen gibt die Broschüre Berufliche Weiterbildung, I. Halbjahr '96 der Industrie- und Handelskammer zu Berlin. 56Beispiel: Die Volkshochschule Köpenick mit dem Seminar "Erfolgreiche ExistenzgrUndung und Existenzsicherung" . 57S0 beispielsweise der Gesprächskreis rur ExistenzgrUnder und Untemehemer des Bezirksamtes Köpenick, Abteilung PersonalNerwaltung und FinanzenlWirtschaft (Bereich ExistenzgrUnderberatung u. Investorenbetreuung). 8 Eckart/Paraskewopou!os
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das Marktgeschehen oder die zu knappe Eigenkapitalausstattung verantwortlich. s8 3.1.6 Wirtschaftskraft durch Dienstleistungen
Mit dem Rückgang der Industrie nahm im Entwicklungsverlauf der Anteil der Dienstleistungen, insbesondere auch der industrienahen Dienste, an der Wertschöpfung in Berlin ebenso wie bundesweit zu. S9 Seit der Wende 1989, nicht zuletzt bedingt durch die Übernahme neuer Funktionen, ist in der Stadt die Nachfrage nach Dienstleistungen stetig gestiegen. Dementsprechend ist in diesem Bereich die Zahl der Arbeitsplätze um lOO.OOO auf inzwischen rund 400.000 angewachsen. Berlin zählt gegenwärtig z.B. mit insgesamt 145 Kreditinstituten, davon 62 ausländischen Bankhäusern, inzwischen zu den wichtigsten Bankplätzen Deutschlands.60 Die Stadt hat sich darüber hinaus zu einer der führenden Kongreßmetropolen der Welt entwickelt. 61 Unterstützt wurde der Aufwärtstrend auch durch die Auslagerung betrieblicher Funktionsbereiche (Outsourcing) und deren Verselbständigung. Nach Überzeugung der Berliner Industrie- und Handelskammer muß Berlin jedoch "ein starker Industriestandort" bleiben, um mit ihm eine tragfähige Basis für den Ausbau der Stadt zu einer Dienstleistungsmetropole gewährleisten zu können. 62 Der aktuelle Flächennutzungsplan sieht für die Ansiedlung von Dienstleistungen vor allem die City-Bereiche (insbesondere die Innenstadt) vor. Ein gefragter Standort von Banken, Handelshäusern oder unternehmensnahen Dienstleistungen ist die City-West mit dem Areal zwischen Kurfürstendamm, Hardenbergstraße, Zoologischen Garten und Ernst-Reuter-Platz. Daneben hat die CityOst an Bedeutung gewonnen. Sie entsteht in dem Bereich zwischen Potsdamer Platz, Brandenburger Tor bis hin zum Alexanderplatz (einschlielich Friedrichstraße und Unter den Linden usw.). Hier konzentrieren sich neben den Einrichtungen von Parlament und Regierung weitere Dienstleistungen. Zusätzliche Dienstleistungsstandorte entstehen zudem an den Schnittpunkten von S-Bahnring und anderen Bahnlinien sowie in den besonders im Ostteil der Stadt bereits wird daher von kompetenter Seite empfohlen, sich das erforderliche Managementwissen vor der Gründung einer eigenen Firma anzueignen, da der Druck des späteren Tagesgeschäftes den Besuch von Weiterbildungsveranstaltungen in der Regel ausschließt. Wichtig ist es ebenso, sich vor der Gründung ausreichende Informationen über Risikobranchen zu beschaffen (filr 1996 ~eltendes Beispiel: die Baubranche). 9Vg l. hierzu weiterhin u.a. "Dienstleistungsmetropole Berlin", Sonderbeilage der Berliner Tageszeitung "Der Tagesspiegel" vom 8.3.1994. 60Beriin kurzgefaßt. Herausgeber: Presse- und Informationsamt des Landes Berlin, Berlin 1995, S. 30. 61 Ebenda. 62lndustrie- und Handelskammer zu Berlin (Herausg.): Bericht 1995/96, a.a.O., S. 78.
S8 Es
Die Folgen des wirtschaftlichen Umbaus
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existierenden bzw. geplanten Gewerbezentren (Beispiele: Oberschöneweide, Adlershof/Johannisthal, Marzahn oder "NARVA_City,,63). Die wachsende Dominanz der Dienstleistungen ist zweifellos als Ergebnis der Forderungen nach mehr Informations-, Kommunikations- und Serviceleistungen zu werten. Insgesamt weisen die genannten und weitere Fakten darauf hin, daß die Strukturpolitik des Senats hinsichtlich der Gestaltung des Wirtschaftsstanortes Berlin nach der Überwindung erster teilungs bedingter Schwächen auf eine Dienstleistungsmetropole einschließlich einer Neubestimmung industrieller Leistungspotentiale ausgerichtet ist. Das Berlin von morgen soll auf diese Weise auch zu einem •
unumstrittenen Regionalzentrum im Herzen des neuen Ostdeutschlands, insbesondere mit Blick aufproduktionsnahe und Finanzdienstleistungen,
•
Zentrum von Wissenschaft und Forschung mit internationaler Bedeutung sowie
•
Kristallisationspunkt der Schaltzentralen wesentlicher Institutionen aus Wirtschaft und Politik ausgestaltet werden. 3.2 Wissenschaft und Forschung 3.2.1 Erste Konsequenzen aus der Vereinigung
Ausgehend von Empfehlungen des Wissenschaftsrates64 hinsichlich der Ausrichtung ehemaliger Forschungskapazitäten der DDR auf die Bedürfnisse des Marktes und des Ausbaues ihrer Standorte mit dem Ziel der Herausbildung einer einheitlichen deutschen Wissenschafts- und Forschungslandschaft, wurde unter anderem dem Land Berlin die Aufgabe zugewiesen, optimale Voraussetzungen rur eine Integration der bestehenden Belange von Forschungs- und Lehreinrichtungen der im Ostteil Berlin bestehenden Hochschulen und Universitäten sowie außeruniversitären Forschungseinrichtungen, insbesondere rur die 63 Im Jahre 1906 begann auf dem Areal des inzwischen abgewickelten NARVA-Kombinates die GasglUhlicht AG (Auergesellschaft) mit dem Aufbau einer ausgedehnten Fabrikanlage an der Warschauer Brücke. 1918 wurde hier Osram gegründet. Dem Unternehmen gehörten die GIUhlampenfabrikation der Auergesellschaft, der AEG sowie von Siemens & Halske an. Im Zenit der Industrialisierung waren auf dem Gelände bereits rund 5.000 Mitarbeiter beschäftigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das stark zerstörte Werk wieder aufgebaut und zum Sitz des Stammbetriebes des NARV A-Kombinates und der Kombinatsleitung mit zuletzt etwa 6.000 Beschäftigten. - Nach dem derzeitigen Stand der Planungen sollen auf der Narva-Industriebrache mit einer Investitionssumme von etwa 1,3 Milliarden DM ein Dienstleistungszentrum und 300 Wohnungen entstehen. 64 Wesentliche Voraussetzungen bildeten hierftlr der Artikel 38 des Einigungsvertrages und dessen Kontrollnotizen aus dem Jahre 1990.
8'
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einstigen AdW-Institute, zu schaffen. Dies sollte sich beispielsweise in dem Aufbau von Wissenschaftsparks sowie Technologie- und Gründerzentren nach dem Vorbild des auf dem Technologie- und Innovationspark Berlin (TIB) in Berlin- Weddi~f beste~enden Berli?er. Inno~ations- und Gründung~zentru~s (BIG) äußern. Derartige, auf den hierrur freigegebenen Arealen u. a. m BerhnAdlershof oder in der Wuhlheide gegründeten Wissenschafts- und Technologiestandorte sollen zudem eine geeignete Startbasis rur innovationsorientierte Unternehmen, vor allem rur Existenz- und Ausgründer, bilden. Damit waren auch wesentliche forschungspolitische Prämissen vom Berliner Senat vorgegeben. 3.2.2 Bemerkungen zu den Forschungs-GmbH
Schon Anfang der neunziger Jahre deutete sich an, daß die Umgestaltung des Forschungs- und Wissenschaftsbereiches der einstigen DDR einen besonders dramatischen Verlauf nehmen sollte. Im Rahmen der Entflechtungs- und Sanierungsmaßnahmen der Treuhandanstalt wurden bekanntlich die FuE-Funktionen aus den in die Marktwirtschaft zu entlassenden Unternehmen ausgegliedert. Während dadurch einerseits verlängerte Werkbänke ohne FuE entstanden, schuf man andererseits mit dem Abbau von FuE-Potentialen der einstigen DDR-Industrie66 die sogenannten Forschungs-GmbH als selbständige Dienstleister. Ihnen wurden kaum große Marktchancen eingeräumt. Im Rahmen einer Analyse betrieblicher Anpassungsprozesse in den neuen Bundesländern hatte daher ein interdisziplinär zusammengesetztes Forschungs-Team in seinem Abschlußbericht dazu festgestellt, daß eine Ausgliederung von FuE-Funktionen "fatale Auswirkungen auf die Innovationsflihigkeit der Unternehmen" haben werde. 67 Dies wurde relativ schnell mit Blick auf sichtbar werdende Innovationsdefizite nicht weniger privatisierter Firmen bestätigt.
65 Das BIO ist 1983 gegründet worden. Es handelt sich hierbei um das erste Technologie- und Gründerzentrum Deutschlands (vgl. hierzu ergllnzend auch Tabelle 6). 66ygl. hierzu im einzelnen weiterhin R.H. BrockelE. Förtsch, a.a.O., S. 73 ff.. 67 Abschlußbericht zum Forschungsprojekt "Probleme der Umstellung von Industriebetrieben der neuen Bundesländer auf die Marktwirtschaft", Berichtszeitraum: I. November 1990 - 31. Dezember 1991, S. 20. - Beteiligt waren daran Mitarbeiter des Instituts rur Werkzeugmaschinen und Fertigungstechnik (IWF) an der TU Berlin, der Forschungsstelle rur gesamtdeutsche wirtschaftliche und soziale Fragen, Berlin und der Gesellschaft rur interdisziplinäre Technikforschung, Technologieberatung und Arbeitsgestaltung mbH, Berlin.
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Tab. 6: Beschäftigte im Akademie-Bereich am 31.12.1991 (in VbE) Regionen Berlin-Ost Brandenburg Neue Bundes!.
Akademie der Wissenschaften 9.397 1.997 19.646
Bauakademie
Akademie der Landwirtschaften
1.300
8.100
..
..
Quelle: R. H. BrockelE. Förtsch, a.a.O., S. 6l. VbE, Abkürzung ftlr: Vollbeschäftigteneinheiten.
Insgesamt wurden 1991 etwa 196 solcher Forschungs-GmbH mit rd. 26.043 Beschäftigten gezählt. 68 Davon bestanden in Berlin (Ost) nach Angaben der Treuhandanstalt 24. 69 Der sowohl hier als auch bei den Akademie-Instituten (vg!. hierzu auch Tabelle 6) im Rahmen der erfolgenden Anpassungen zu verzeichnende Arbeitplatzabbau machte sich trotz Vorruhestandsregelungen und ABM-Konzepten durch anschwellende Arbeitslosigkeit bemerkbar. Nicht unwesentlich ist jedoch auch, daß ein nicht geringer Teil der ehemals in Wissenschaft und Forschung Beschäftigten u. a. in Abhängigkeit von dem erreichten Alter, der nachgewiesenen Fachkompetenz und dem bisherigen Tätigkeitsbereich usw. beispielsweise in die Arbeitslosigkeit entlassen, in ABM-Projekte integriert, in den Forschungs-GmbH oder ebenso in anderen Institutionen (u.a. in Fraunhofer Instituten, der Technologieförderung, der Weiterbildung usw.) eine Anstellung finden oder als Geschäftsfilhrer in einem Unternehmen (z.B. im Rahmen der Privatisierung über MBO) tätig werden konnte. 3.2.3 Technologiepolitische Folgen
Im Wettbewerb mit anderen Ballungsräumen ging der Berliner Senat ab 1991 dazu über, die durch das Zusammenwachsen der beiden Stadthälften sich auch hinsichtlich von Forschung und Wissenschaft ergebenden Chancen, besonders die eines integrierten Wirtschafts- und Technologiestandortes, aufzugreifen sowie Leitbilder und Entwicklungsstrategien filr dessen zukunftsorientierte Gestaltung zu entwickeln. Dies wird vor allem durch die gestellten technologiepolitischen Zielstellungen und gewählten Instrumentarien verdeutlicht. 70 Für den früheren Senat sollte die Technologiepolitik einen "nachhaltigen strukturpolitischen Beitrag zur Modernisierung der Berliner Industrie, zur Stärkung ihrer Wettbewerbs fähigkeit und zur Schaffung der nötigen Voraussetzungen für die Entwicklung Berlins zu einer Metropole der produktionsnahen 68R.H. BrockelE. Förtsch, a.a.O., S. 76. 69Zitiert von R.H. BrockelE. Förtsch, a.a.O., S. 78. 7Oygl. dazu die Ausftlhrungen der Senatsverwaltung ftlr Wirtschaft und Technologie: Wirtschaftsbericht Berlin 1995, Stand: Juli 1995, S. 96 ff..
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Dienstleistungen erbringen. Dabei ist die Technologiepolitik zentrales Bindeglied zwischen Wirtschafts- und Wissenschaftspolitik. ,, 7 Als Basis hatte man hierfiir vor allem die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen fiir Industrie und produktionsnahe Dienstleistungen sowie die Orientierung auf innovative Technologien unter Nutzung der vorhandenen regionalen Potentiale anerkannt. Davon ausgehend wurde ein Zielsystem, in welchem u.a. folgende Komponenten enthalten sind, festgelegt: •
Sicherung von Industrie und produktionsnahen Dienstleistungen durch geeignete wirtschaftsfreundliche Rahmenbedingungen.
•
Fortsetzung der Gewährung von Hilfen zur Selbsthilfe fiir Firmen aus dem Ostteil der Stadt.
•
Ausrichtung von Finanzierungsschwerpunkten auf wesentliche Produkt- und Prozeßinnovationen.
•
Gewährleistung einer unabhängigen Grundlagenforschung neben einer anwendungsorientierten Forschung.
Die Realisierung solcher und weiterer Ziele sollte vor allem durch bestimmte Instrumentarien gewährleistet werden. Dazu zählte nicht zuletzt die Konzentration auf ausgewählte Technologiefelder (Technologiec1uster), wie Informationsund Kommunikationstechnologien, Umwelt- und Biotechnologien, Lasertechnologien und Optik, Verkehrstechnologien, neue Werkstofftechnologien usw. Für den Aufbau und die Profilierung der auf solche Felder ausgerichteten und auszurichtenden Infrastrukturen steht Bündel unterschiedlicher Förderprogramme zur Verfügung. Als Schwerpunkte der Ausbildung forschungs- und technologieorientierter Infrastrukturen gelten für Berlin: I. Der Aufbau und Ausbau des Wirtschafts- und Wissenschafts standortes Berlin-Adlershof (WISTA) auf der Basis dort bereits vorhanden gewesener, zukunftsgerichteter Potentiale, Wissenschaftseinrichtungen aus den alten Bundesländern und weiteren, z.T. auch neuen Akteuren. Als Leitbild gilt die Symbiose von Forschung und Wirtschaft in definierten Fachzentren (z.B. Zentrum für Umwelttechnologie, Zentrum für Informatik usw.). Dies war und ist verbunden mit der Gründung und Ansiedlung •
kleiner und mittlerer Firmen,
•
rund 16 außeruniversitärer Einrichtungen (u.a. Bundesanstalt für Materialforschung),
71Senatsverwaltung rur Wirtschaft und Technologie: Wirtschaftsbericht Berlin 1995, S. 96.
Die Folgen des wirtschaftlichen Umbaus •
von Instituten der Humboldt-Universität,
•
der Hochbrillanz-Synchrotronstrahlungsquelle BESSY n,
•
des ersten Bauabschnittes eines Innovations- und GrUnderzentrums oder
•
eines Ost-West-Kooperationszentrums.
119
2. Die Errichtung und Erweiterung von Technologie- und Grlinderzentren in der Stadt als "betriebliche Standortgemeinschaften junger und technologieorientierter Unternehmen" in unmittrelbarer Nachbarschaft zu FuE-Instituten von Hochschulen und Industrie. Zu diesen Technologie- und GrUnderzentren (vgl. Tabelle 7) zählen vor allem das Berliner Innovations- und GrUnderzentrum (BIG), angesiedelt auf dem Technologie- und Innovationspark Berlin-Wedding (TIB), das ebenfalls bereits erwähnte Innovations- und GrUnder Zentrum Berlin-Adlershof (lGZ), das Technologie- und GrUnderzentrum TGZ) mit Standort im Innovationspark Wuhlheide in BerJin-Köpenick oder das Technologie- und Grlinderzentrum Spreeknie in BerlinKöpenick/Oberschöneweide usw. Kennzeichnend rur den Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort BerIin-Adlershof und die vorgenannten Technologie- und GrUnderzentren ist es, daß rur diese umfangreiche Mittel aus der Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur (GA)" bereitgestellt worden sind und werden. Allein für den WISTA umfaßt der Investitionsaufwand rur die auf etwa zehn Jahre ausgerichtete Autbauphase einschließlich der Schaffung von etwa 11.000 Arbeitsplätzen ein Volumen von fast 900 Millionen Mark. 72 Im Rahmen der Festlegung forschungs- und technologiepolitischer Schwerpunkte hatte der Berliner Senat nach der Wende seine forschungspolitischen Zielstellungen unter anderem auch auf eine Präferierung der Durchsetzung des Umweltschutzes ausgerichtet. Daraus resultierende Sonderrurderungen unterstützen vor allem ökologieorientierte KMU. Maßgeblich war und ist dabei der Gedanke, daß eine Existenzsicherung solcher Firmen dann als sinnvoll eingestuft wird, wenn diese sich auf umweltgerechte Herstellungsverfahren und Produkte konzentriert und auf diese Weise Arbeitsplätze geschaffen hatten bzw. schaffen werden. Die bereits aktiven Berliner Technologie- u. GrUnderzentren sind mit den in unmittelbarer Nähe zur Stadtgrenze gelegenen Brandenburger Technologie- und GrUnderzentren über das Beratungs- u. Abstimmungsgremium "InnoColleg" der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Technologie- und Grlinderzentren, ADT e.V. kooperativ miteinander verbynden.
72Senatsverwaltung rur Wirtschaft und Technologie: Wirtschaftsbericht Berlin 1995, a.a.O., S. 104.
Klaus Krakat
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Tab 7: In Berlin bereits existierende und geplante Technologie- und Gründerzentren (Beispielsammlung, Stand: Frühjahr 1996) Technologie- und Grunderzentrum (TGZ)
Standort
-a-
-b-
Berliner Innovations- u. Grun- Technologie- und InnoBerlin derzentrum (BIG) vationspark (TIB), Berlin-Wedding und Innovations- u. Grunderzen- Wissenschaftstrum Berlin-Adlershof (IGZ) Wirtschaftsstandort Berlin-Adlershof (WISTA) Technologie- u. Grunderzen- Innovationspark Wuhltrum Berlin-Köpenick heide (IPW) GmbH, Berlin-Köpenick des ehern. Technologie- u. Grunderzen- Gelände trum Spreeknie (TGS) Werkes ftlr Fernsehelektronik, Oberschöneweide Wei- Gewerbepark, Grilnderinnenzentrum Berlin berwirtschaft MittelPrenzlauer Berg Focus TELEPORT, Grunder- Gewerbe- und Innovatizentrum onspark, Berlin TiergartenIMoabit, Standort ftlr Technologie und Kommunikation Focus MEDIPORT, Grunder- Gewerbe- und InnovationsparkIDienstleizentrum stungszentrum, BerlinSteglitz Grunderwerkstatt "Phönix" am Gewerbe- und InnovatiBorsigturm onspark, Heriitz-Falkenhöh Biotechnologiezentrum Berlin- BBB Biomedizinischer Buch, Grunderzentrum Forschungscampus BerIin-Buch Wartenberger Innovations- u. Innovationspark WarBildungszentrum tenberg Grunderzentrum Pankow Gewerbezentrum f. Handw., Dienstl. und Prod. Gewerbe PankowBuchholz
Grilndungsjahr Gewerbe- bzw. Technologiezentrum
Anzahl der
1983
a-20 b=48
Beschäftigten -200 = 1.300
1991
a - 66 b= 192
- 530 = 3.400
1991
a-40 b= 140
-245 = 1.500
1993
a= \0
= 150
1989
a=35
·
1990
. 1995 (4. Quartal) 1996 1995
.
Firmen
a=-
·
b = 110
=2.000
·
·
·
·
a-· b = 16
··
· ·
· ·
Zusammengestellt nach Informationen der ADT e.V., der ehern. Senatsverwaltung ftlr Wirtschaft u. Technologie sowie der Geschäftsftlhrungen einzelner Gewerbe- u. Innovationsparks bzw. Technologie- u. Grunderzentren.
Die Ergebnisse der bisherigen auf die Existenzgründung und -sicherung gerichteten Forschungs- und Technologiepolitik zeigen sich nicht zuletzt in der
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angewachsenen Zahl der in Berlin relativ erfolgreich agierenden kleinen forschungsorientierten Finnen aus dem Bereich der Infonnations- und Kommunikationstechnologien. Dazu zählen rd. 1.300 Finnen im audiovisuellen Bereich, rd. 1.000 Medien- und Kommunikationsdienstleister und rd. 1.100 Softwareentwickler. 4. Industrieflächensicherung - Aktionsrräume - Aktionsschwerpunkte: Raumordnerische Gestaltungslinien für Industrie, Dienstleistungen, Forschung und Wissenschaft 4. I Zum Konzept der Industrieflächensicherung
Angesichts der umfangreichen Zwänge des weltweiten Strukturwandels sowie der noch vorhandenen teilungsbedingten Strukturschwächen einerseits und der existierenden Potentiale und günstigen Perspektiven Berlins als bedeutender Standort andererseits war der Senat angehalten, rur die Revitalisierung und Qualifizierung des Wirtschaftsstandortes Berlin den Forderungen der Zeit entsprechende Entwicklungsschwerpunkte zu fonnulieren. Dazu waren vor allem neue strukturpolitische Leitlinien (Leitbilder mit unterschiedlichen thematischen Ausrichtungen) als Ausgangsgrundlage rur die Durchsetzung zukunftsweisender industrie-, forschungs- und technologiepolitischer Maßnahmen erforderlich. Diese Leitbilder gingen sowohl von einer Erhaltung des Industriestandortes Berlin (Reindustrialisierung), der Anerkennung der wachsenden Bedeutung der Dienstleistungen sowie der konsequenten Nutzung der gegebenen guten Forschungspotentiale aus. Dementsprechend hatte der Berliner Senat bereits im November 1992 ein Konzept zur Sicherung von Gewerbe-Industrieflächen in wichtigen Bereichen beschlossen. 73 Insgesamt handelte es sich dabei um 21 Schwerpunktbereiche "mit ihrer flächen- und wirtschaftsbezogenen Infrastruktur rur das produzierende Gewerbe".74 Das Entwicklungskonzept wurde darauf ausgerichtet, der heimischen Industrie günstige Möglichkeiten zur räumlichen Anpassung sowie ebenso rur private Investoren und Existenzgründer standortund branchengerechte Aktionsbedingungen zu bieten. Davon ausgehend wurde vom Berliner Abgeordnetenhaus im Juli 1994 der erste Flächennutzungsplan rur Gesamt-Berlin beschlossen, um "die räumlichen Voraussetzungen rur eine ziel-
73Vgl . dazu die Ausfilhrungen der Senatsverwaltung filr Wirtschaft und Technologie (Herausg.): Konzept zur Sicherung von Gewerbe- und Industrieflächen in wichtigen Bereichen Berlins (Konzept zur Industrieflachensicherung), Stand: Januar 1993 sowie ergänzend dazu Senatsverwaltung filr Wirtschaft und Technologie (Herausg.): Wirtschaftsbericht Berlin 1995, Stand: Juli 1995, S. 58. 74Senatsverwaltung filr Wirtschaft und Technologie (Herausg.): Wirtschaftsbericht Berlin 1995, a.a.O., S. 58.
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gerichtete Reindustrialisierung von Berlin zu schaffen".75 Ausgangsbasis für die Lösung der sich nunmehr stellenden Aufgaben war ein nutzbarer Gesamtflächenbestand von insgesamt 3.750 ha. Von diesem werden etwa 1.300 ha nicht gewerblich genutzt. Weitere ca. 500 ha dienen als sogenannte "Innere Reserve" und zusätzliche rd. 500 ha wurden als Wachstumsreserve ausgewiesen. In einer inzwischen revidierten Fassung läßt das Industrieflächensicherungskonzept eine Flächennutzung sowohl durch produzierendes Gewerbe als auch andere gewerbe- und industriegebietstypische Nutzungen (Speditionen, Großhandel, Logistikbetriebe, Bauuntemehmen, Ver- und Entsorgungsanlan usw.) ZU. 76 Die insbesondere auch unter Einbeziehung der auf den Sitzungen des Berliner Stadtforums erzielten Arbeitsergebnisse zu Themen wie "Zukunft der Arbeit in der Stadt", "Profil des Berliner Südwestraumes und seiner Teilräume", "Arbeitsort Südosten" oder "Stadt und äußerer Entwicklungsraum" und weiterer stadträumlicher Analysen ftihrten schließlich bis zum jetzigen Zeitpunkt zu einer Palette allgemein anerkannter Leitbilder mit räumlichen Spezifika von Gewerbeflächen fiir unterschiedliche Nutzungsstrukturen, fiir die nicht zuletzt eine Verzahnung staatlicher und privater Interessen typisch ist. 4.2 Aktionsräume und Aktionsschwerpunkte Das Konzept der Flächennutzung ist insgesamt auf die sich künftig ergebenden Anforderungen ausgerichtet. Es sieht zunächst eine Aufgliederung des gesamten Stadtgebietes in sieben sogenannte Stadträume vor77 • Mit den nachfolgenden Ausfiihrungen soll in aller Kürze auf die sich dabei im Ostteil Berlins stellenden Aktionsschwerpunkte und stadträumlichen Funktionen eingegangen werden: a) Innenstadt: City Ost und City West (knapp 90 qkrn Fläche), b) Stadtraum Nordost: Bezirke Pankow u. Weissensee, Teile des Bezirks Prenzlauer Berg (rd. qkrn), c) Stadtraum Ost: Bezirke Hellersdorf, Hohenschönhausen, Lichtenberg, Marzahn (rd. 115 qkrn), d) Stadtraum Südost: Bezirk Köpenick, Hauptteil des Bezirks Treptow (ohne Innenstadtanteil) und kleiner Teil des Bezirks Neukölln (rd. 205 qkrn), 75Senatsverwaltung fllr Wirtschaft und Technologie (Herausg.): Wirtschaftsbericht Berlin 1995, a.a.O., S. 58 u. 59. 76Senatsverwaltung fllr Wirtschaft und Technologie (Herausg.): Wirtschaftsbericht Berlin 1995, a.a.O., S. 59. 17Senatsverwaltung fllr Wirtschaft und Technologie (Herausg.): Berlin, Räume fllr die Wirtschaft, September 1995.
Die Folgen des wirtschaftlichen Umbaus
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e) Stadtraum Nordwest: Bezirk Reinickendorf, Teile des Bezirkes Wedding sowie geringe Teilflächen des Bezirks Tiergarten (103 qkrn),
t) Stadtraum West: Bezirk Spandau und die wesentlichsten Teile des Bezirks Charlottenburg (rd. 110 qkrn), g) Stadtraum Südwest: Bezirke Zehlendorf und Steglitz, der größte Teil des Bezirks Tempelhof sowie Teile der Bezirke Schöneberg und Wilmersdorf (rd 170 qkm). I) Der Innenstadtbereich der City-Ost (Bezirke Friedrichshain und Mitte, der größte Teil des Bezirks Prenzlauer Berg sowie ein Teil des Bezirks Treptow)78. Nach dem derzeitigen Planungsstand werden auch dem östlichen Innenstadtbereich folgende Funktionen bzw. Aktionsschwerpunkte zugeordnet: •
zentrale Dienstleistungs- und Verwaltungsfunktionen als Schwerpunkt (Banken, Versicherungen, Handelshäuser, Beratungsunternehmen, Bundesregierung, Ver- bände Botschaften usw.),
•
wesentliche kulturelle Funktionen (Opernhäuser, Museen usw.),
•
Produktionsfunktionen (Industrie, Handwerk),
•
wissenschaftliche Funktionen (einschließlich Forschung und Lehre z.B. an der Humboldt-Universität usw.) sowie
•
Wohnen.
Die Innenstadt gilt insgesamt weniger als ein reiner Bürostandort, sondern erhält ihr Profil durch eine Mischung unterschiedlicher Funktionen. Begünstigt wird dies durch den Aufbau einer Palette neu entstehender Standorte mit Dienstleistungsfinnen zunächst auf Freiflächen entlang der einstigen Stadtgrenze zwischen dem Ost- und Westteil Berlins (Beispiel: Potsdamer Platz)79. Hinzu treten bevorzugte Lagen zwischen Brandenburger Tor und Alexanderplatz in unmittelbarer Nähe zum S-Bahnnetz. Zum Innenstadtbereich zählen jedoch ebenso weitere Gewerbestandorte im äußeren Gürtel der City-Ost. Zu diesen können mehrere Teilräume gerechnet werden. Im folgenden zwei Beispiele:
78Der zur Innenstadt gehörende Bereich der City-West wird durch den S-Bahnring umgrenzt. Er umfaßt die Bezirke Tiergarten und Kreuzberg, die wesentlichen Teile der Bezirke Charlottenburg, Wedding, Wilmersdorfund Schöneberg sowie Einzelteile der Bezirke Tempelhofund Neukölln. 79Senatsverwaltung ftlr Wirtschaft und Technologie (Herausg.): Berlin, Räume ftlr die Wirtschaft, a.a.O., S. 9.
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•
Neben dem Gewerbestandort "Köpenicker Straße"so gewinnt beispielsweise der Standort "Rummelsburger Bucht" mit angrenzenden Gewerbearealen in Nähe des S-Bahnhofes Ostkreuz im Rahmen der Stadterneuerung als Dienstleistungsknotenpunkt eine zentrale Bedeutung. Die neu zu gestaltende Gesamtfläche beträgt rund 130 ha. Den Kern des Projektes bildet der historische Unternehmenssitz der Knorr-Bremse AG, der nach seiner Sanierung an die Bundesversicherungsanstalt rur Angestellte vermietet werden soll. Auf benachbarten Arealen ist die Ansiedlung von Dienstleistungs- und Gewerbebetrieben (Beispiel: Gewerbepark Klingenberg) sowie der Bau von Wohnungen vorgesehen. SI
•
Auf dem Gelände des ehemaligen Zentralviehhofs an der Storkower Straße im Bezirk Friedrichshain soll nach der Jahrtausendwende wiederum ein völlig neues Stadtviertel mit weit über 2 000 Wohnungen einschließlich Gewerbebauten entstehen. Investoren äußerten bisher jedoch auf Grund der rur die Sanierung der denkmalgeschützten Hallen als notwendig anerkannten hohen Kosten noch weitgehendes Desinteresse. 2) Der Stadtraum Nordost
Dieser Stadtraum wird durch eine Palette thematisch unterschiedlich ausgerichteter Standorte geprägt. Zu diesen zählen insbesondere: •
Der Biomedizinische Forschungscampus Berlin-Buch mit dem Max-Delbrück-Centrum rur Molokulare Medizin als Herzstück. Drei Universitäten, drei Universitätsklinika, drei Max-Planck-Institute, Großforschungseinrichtungen sowie eine Reihe von Forschungsinstituten bilden dessen institutionelles Rückgrat. Darüber hinaus ermöglicht der Aufbau eines Gründerzentrums rur innovative Firme aus dem Bereich der Biotechnologie zusätzliche Aktionsmöglichkeiten. In unmittelbarer Nähe zu diesem Wissenschaftsstandort sind inzwischen mehr als 60 kleine Firmen als forschungsorientierte Dienstleister entstanden.
•
Die industrielle Basis der Region wird wiederum durch Asea Brown Boveri (ABB) mit Standort in Berlin-Wilhelmruh (Fertigungsstätte rur Schienenfahrzeuge und Busse) oder NILES-Werkzeugmaschinen in Berlin-Weissensee (dessen Existenz noch immer nicht als gesichertt gilt) geprägt.
•
In Pankow entsteht im Rahmen von Stadterweiterung und Gewerbestärkung auf größtenteils unbebautem Gelände der Gewerbestandort Pankow-Nord mit Nutzungen rur produktionsorientierte Dienstleistungen, Verarbeitendes
BOBestandteii des Industrieflächensicherungskonzeptes des Berliner Senats, im Westteil der Stadt in unmittelbarer Nähe zur ehemaligen Grenze nach Ost-Berlin gelegen. BISenatsverwaltung filr Wirtschaft und Technologie (Herausg.): Berlin, Räume filr die Wirtschaft, a.a.O., S. 14 u. 15.
Die Folgen des wirtschaftlichen Umbaus
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Gewerbe und Wohnungsbau. Als Zielgruppen im Rahmen der Ansiedlungspolitik des Senats gelten Z.B. größere Gewerbebetriebe (Logistikbetriebe, Baugewerbe usw.) •
Im gleichen Bezirk, im Ortsteil Heinersdorf, entsteht darüber hinaus der Gewerbestandort Heinersdorf-Nord rur Firmen des Produzierenden Gewerbes sowie produktionsorientierte Dienstleister.
•
Auf einer kleinen Industriebrache im Ortsteil Pankow-Buchholz wird auf einer Nutzfläche von ca. 5 000 m2 ein Dienstleistungs- und Gründerzentrum errichtet. Hier sollen auf dem Gelände der früheren VEB Lederfabrik "Solidarität" Berlin Handwerks- und Dienstleistungsfirmen sowie Betriebe des Produzierenden Gewerbes angesiedelt werden. 3) Der Stadtraum Ost
Der Ausgangspunkt rur die Fortentwicklung der Wirtschaft bilden zweifellos bereits an anderer Stelle genannte Betriebe des aus dem Bereich der indu3triellgewerblichen Produktion wie beispielsweise Elektrokohle Lichtenberg, BerlinKosmetik, Elektroprojekt und Anlagenbau oder Druck~lattenwerk Berlin usw. Als noch relativ schwach entwickelt gilt das Handwerk. 2 Gegenstand des Industrieflächensicherungskonzepts sind insbesondere folgende Standorte: •
Der Gewerbestandort Herzbergstraße mit einer Gesamtfläche von rd. 194 ha. rur Industrie, Produzierendes Gewerbe sowie produktionsorientierte Dienstleistungen sowie
•
der Gewerbestandort Marzahn-Nord in Nähe des S-Bahnhofes Gehrenseestraße, wiederum vorgesehen rur Nutzungen durch Industrie, Produzierendes Gewerbe und produktionsorientierte Dienstleistungen. 4) Der Stadtraum Südost
Diesem Stadtraum (weitgehend durch die beiden Bezirke Köpenick und Treptow gebildet) ist die Wahrnehmung der Funktionen Forschung und Produktion zugeordnet worden. Dies betrim den Standort Adlershof in BerlinTreptow mit seinen Forschungs- und Technologiepotentialen als Kern oder Oberschöneweide83 in Berlin-Köpenick (industriegeprägtes Gewerbe sowie forschungsorientierte Dienstleister). •
Der Standort Adlershof/Johahannesthal (Treptow)
82Senatsverwaltung rur Wirtschaft und Technologie (Herausg.): Berlin, Räume rur die Wirtschaft, a.a.O., S. 25. 83 1n dieser Stadtregion trennt die Spree den oberen Teil der einstigen "schönen Weyde vor das Vieh" von dem niederen Teil (heute: Niederschöneweide).
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In Adlershof entsteht derzeit auf einer Fläche von rd. 76 ha ein Standort filr Forschungseinrichtungen sowie Unternehmen mit einem hohen Forschungsanteil, bekannt geworden (siehe oben) unter der Kurzbezeichnung "WISTA" (Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort Berlin-Adlershot), dessen Aktionsschwerpunkte auf künftig relevante Schlüssel industrien ausgerichtet sind. Die institutionelIe Basis des Standortes wird durch naturwissenschaftliche Fachbereiche der Humboldt-Universität, wissenschaftlichen Institutionen (Beispiele: Bundesanstalt filr Materialprüfung, Deutsche ForschungsanstaIt filr Luft- und Raumfahrt, GeselIschaft filr Mathematik und Datenverarbeitung usw.) sowie forschungsorientierte Kleinunternehmen und weitere Einrichtungen gebildet. Dazu zählt nicht zuletzt das Innovations- und Gründerzentrum Adlershof (lGZ). •
Innovationspark WuhlheidelKöpenick
Auch der Innovationspark Wuhlheide einschließlich seines Technologie- und Gründerzentrums (TGZ) hat sich inzwischen zu einem Standort innovativer kleiner und mittlerer Firmen entwickelt. Deren Aktivitäten sind ebenso auf bestimmte technologieorientierte Themenbereiche ausgerichtet. Dazu zählen: Umwelttechnik, erneuerbare Energien, Meß- und Feingerätetechnik, Biotechnologien, Optoelektronik, Sensorik, Mikrosystemtechnik, Bearbeitungstechnologien oder Bau- und Sanierungstechnologien. •
Der Standort OberschöneweidelKöpenick
Für die Weiterentwicklung dieses altindustrielIen Standort bildet eine Neuordnung der Funktionen Wohnen, Arbeiten, Freizeitgestaltung und Verkehrsinfrastruktur die Ausgangsbasis. 84 Dies wird wird nicht zuletzt durch die Planung und stufenweise Realisierung dezentral angesiedelter Investitionsprojekte der Berliner LandesentwicklungsgeselIschaft mbH (BLEG)8s deutlich. Dabei handelt es sich um: I. das Industrie- und Gewerbegebiet Tabbert-, Nalepa- und Wilhelminenhofstraße (100 000 m2, Baurnaßnahmen seit Juli 1994), 84 Die
Neugestaltung vollzieht sich u.a. auch in Anlehnung an: Strategien rur Oberschöneweide, Memorandum rur die integrierte Entwicklung der Industriestadt Berlin-Oberschöneweide, erarbeitet von der MAIe BERLIN GmbH in Zusammenarbeit mit Dr. Dieter Hoffinann-Axthelm. Herausgegeben von der Senatsverwaltung rur Stadtentwicklung und Umweltschutz Berlin, Referat Öffentlichkeitsarbeit, Dezember 1993. 15 Die BLEG ist auf dem Berliner Flächenmarkt seit 1992 tätig. Sie erwirbt, erschließt und verwertet Flächen rur neue Wohnungs-, BUro- und Dienstleistungsnutzungen sowie nicht zuletzt rur die Ansiedlung neuer und die Sicherung bereits existierender produzierender Unternehmen im Interesse des Landes Berlin. Mit Schreiben vom 22.3.1993 wurde die BLEG von der Senatsverwaltung filr Finanzen beauftragt, im Namen des Landes Berlin u.a. bestimmte Liegenschaften im Industriegebiet Oberschöneweide von der Treuhandliegenschaftsgesellschaft (TLG) anzukaufen, zu sanieren und satzungsgemäß rur neue Projekte zur Verftlgung zu stellen. Dabei handelte es sich um eine Fläche von mehr als 320 000m2 , die im Rahmen der Entflechtung der entlang der Wilhelminenhofstraße einst ansässigen Kombinate und VEB als "nicht betriebsnotwendig" deklariert wurde.
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2. das Handwerker- und Gewerbezentrum Wilhelminenhofstraße (rd. 40 000 m2, Baumaßnahmen seit Oktober 1994), 3. die denkmalsgerechte Sanierung der Rathenau-Villa (an der Wilhelminenhofstraße, Bau- und Sanierungsmaßnahmen seit November 1994), 4. das Technologie- und GrUnderzentrum Spreeknie, TGS (Gelände des ehemaligen Werks für Femsehelektronik, Erschließungsmaßnahmen ab Januar 1995 und erste Bauphase) sowie 5. die denkmalsgerechte Sanierung von Flächen und Gebäuden auf dem ehemaliegen KWO-Gelände an der Wilhelminenhofstraße. Tab. 8: Standortprägende Finnen im Bezirk Köpenick ADMOS-Gleitlager GmbH, ADMOS-Systembau, Gewerbezentrum der ADMOS GmbH AEG-TRO Transformatoren und Schaltgeräte GmbH Ausbildungszentrum BootsbaulSchiffsbau GmbH Berlin BAE Berliner Batteriefabrik GmbH Berliner Bürgerbräu GmbH Berliner Reifenwerk, Produzent von PKW-Winter- und Sommerreifen Bildungszentrum am Müggelsee GmbH BLEG, Berliner Landesentwicklungsgesellschaft GmbH (Büro Südost) mit Investitionsprojekten in Oberschöneweide Fotochemische Werke GmbH Friedrichshagener Maschinenbau- u. Fördertechnik GmbH GAMAT -Schwank Wärmegeräte GmbH Köpenicker Maschinenbau GmbH KWO Kabel GmbH, seit dem 1.2. 1993 Unternehmen der BICC Cables Ltd. wichtiger Standort der Kabelproduktion in Deutschland, dem größten Kabelmarkt in Europa Larose Hygiene-Service GmbH Mebe Metallbearbeitung GmbH Köpenick Samsung, Elektronische Bauelemente GmbH (Kernbereich "Farbbildröhrenproduktion" des ehern. Werks fllr Femsehelektronik, WF), am 5.9.1992 privatisiert, tätig seit dem 1.1.\ 993; Beschäftigte: 1993 = 800, 1994 = 860, 1995 = 1.050 Schrauben- und Präzisionsdrehteile Köpenick GmbH Silicon Sensor GmbH, einer der führenden Hersteller optischer Präzisionssensoren Technologie- und Grunderzentrum Köpenick sowie weitere Institutionen im Innovationspark Wuhlheide GmbH Wassersportzentrum Müggelspree GmbH & Co. KG Quellen: BLEG (Herausg.): Chancen an der Spree. Das Spreeknie in Berlin, Standort fIIr Industrie und Gewerbe, InformationsbrochUre 1995; Bezirksarnt Köpenick (Herausg.): Köpenick. Die Adresse fIIr Investoren, Berlin im Januar 1996 sowie weitere Informationen des Bezirksamtes Köpenick.
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Mit der zum Jahresende 1996 zu erwartenden Auflösung von AEG-TRO reduziert sich der Bestand der in Oberschöneweide ansässigen Großunternehmen auf die Samsung GmbH und die KWO-Kabel GmbH. Sie bilden mit weiteren Finnen den derzeitigen Bestand der den Wirtschaftsstandort Köpenick prägenden Unternehmen (vgl. Tabelle 8). Hinsichtlich der innerhalb des Berliner Stadtgebietes gebildeten Stadträume und Standortprofile ist abschließend festzustellen: I. Der gesamte Berliner Stadtraum ist in insgesamt sieben Stadträume aufgeteilt worden. 2. Innerhalb dieser Stadträume wurden wiederum insbesondere auf Grund bestehender und geplanter Forschungs- und Fertigungsschwerpunkte bestimmte Standortprofile erstellt. 3. Dabei berücksichtigt das erarbeitete Flächennutzungskonzept rur definierte Gewerbestandorte eine Zielgruppenorientierung (Beispiel: Standortprofil Nordost mit Berlin-Buch Orientierung auf Bio- und Gentechnik usw.). Neben bestimmten (themenbezogenen) forschungs- und entwicklungsorientierten Unternehmen werden an den einzelnen Standorten kleinere Fertigungsbetriebe und produktionsgeprägte Dienstleister tätig sein. 4. Davon ausgehend ist es das Ziel, die Ansiedlung möglichst kleinteilig strukturierter Finnen mit aufeinander abgestimmten Leistungsangeboten zu initiieren. 5. Mit Hilfe eines "Rasters rur Idealstandorte" (Produzierendes Gewerbe, Dienstleistungen usw.) sollen künftige Flächenanforderungen mit dem existierenden Flächenangebot in einen Beziehungszusammenhang gesetzt werden. 5. Standort-Marketing: Erfordernisse und Rahmenbedingungen
Bekanntlich beginnt jede Marketingstrategie zunächst mit einer Standortbestimmung und der Erfassung des Ist-Zustandes, das heißt einer Ennittlung der vorhandenen Stärken und Schwächen. Hierfür kann man sich des in der Betriebswirtschaft bekannten Konzeptes des "Benchmarking" bedienen. Es liefert eine hinreichende Basis und Chance fortlaufend den Standort Berlin als "wirtschaftliches Aktionszentrum" unter Berücksichtigung der gegebenen Rahmenbedingungen stets straff zu halten und strategisch auf die sich verändernden Bedingungen auszurichten. Ein Benchmarking erleichtert unter anderem ebenso, die wesentlichen Aktionsfelder zu definieren und die erkannten Stärken auszubauen und Schwächen zu reduzieren. Die daraus resultierenden Ergebnisse
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fuhren schließlich zu neuen Leitbildern und Visionen sowie Konzepten der Flächennutzung. Unter dem Druck des zunehmenden Wettbewerb mit anderen Ballungsräumen ist der Berliner Senat bereits ab 1991 dazu übergegangen, die durch das Zusammenwachsen der beiden Stadthälften sich ergebenden Chancen, besonders die eines integrierten Wirtschafts- und Wissenschaftsstandortes, mit einer Orientierung auf zukunftorientierte Leitbilder neu zu definieren sowie Strategien fUr deren Verwirklichung zu entwickeln. Dazu war zunächst eine radikale Abkehr von bisherigen, die auf Belange der Insellage West-Berlins ausgerichteten Marketingkonzepte, geboten. Auch eine einseitige Orientierung auf die Übernahme der Hauptstadtfunktion sowie die durch den Umzug von Regierung und Parlament sich ergebenden Zwänge oder "Olympia 2000" konnten nicht reichen, da die hiermit verbundenen Konzeptionen mit Blick auf den entstehenden wirtschaftlichen Ballungsraum als unzureichend zu bezeichnen waren. Speziell fUr den Wirtschaftsstandort Berlin sind daher im Zeitverlauf Vorstellungen über ein bestimmtes Leitbildkonzept unter Berücksichtigung möglicher Hemmnisse seiner Realisierung entwickelt worden. 86 Wesentliche Grundlagen bildeten hierfUr unter anderem die sich aus den Arbeitssitzungen des Stadtforums Berlin ergebenden Aufgabenstellungen 87 z.B mit Blick auf die Industrieflächensicherung. Das fUr die Stadt skizzierte Leitbild "Venture Capital" wird insbesondere durch bereits eingeleitete Wandlungen speziell im Bereich von Wissenschaft und Forschung in Richtung spezieller Aktions- bzw. Themenschwerpunkte mit entsprechend ausgerichteten Dienstleistungs- und Gründungszentren innovativer und technologieorientierter KMU geprägt. 88 Hierzu vorgegebene Planungen äußern sich unter anderem in der Zielstellung, den Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort Adlershof (WISTA) als "Herzstück" einer "neuen innovativen Industrie" in rund zehn bis fUnfzehn Jahren zum größten deutschen Technologiepark mit etwa 10.000 Beschäftigten auszubauen. 89 Parallel dazu ist ebenfalls vorgesehen, den Bestand der gegenwärtig existierenden rund zehn Berliner Technologie- und Gründerzentren auf insgesamt fünfzig auszudehnen, um dadurch nicht nur zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen, sondern ebenso die Weichen in Richtung eines wettbewerbsflihigen Forschungs-, 86Walter Kahlenbom, Meinolf Dierkes, Camilla Krebsbach-Gnath, Sophie Mützel, Klaus W. Zimmermann: Berlin - Zukunft aus eigener Kraft. Ein Leitbild fllr den Wirtschaftsstandort Berlin. Studien zu Kultur und Wirtschaft, im Auftrag der Grundkreditbank Berlin. Berlin 1995. 87yg l. hierzu: Stadtforum Berlin, 42. Sitzung am 7.18. Oktober 1994: Profil des Berliner Südostraumes und seiner Teilräume, Dokumentation. Senatsverwaltung fllr Stadtentwicklung und Umweltschutz, Referat Öffentlichkeitsarbeit oder: Stadtforum Berlin, 44. Sitzung am 13.114. Januar 1995: Arbeitsort Südosten. 88Walter Kahlenbom, Meinolf Dierkes, Camilla Krebsbach-Gnath, Sophie Mützel, Klaus W. Zimmermann, S. 127. 89yg l. "Technologiepark Adlershof gewinnt Kontur". In: Berliner Zeitung vom 31.1.1996. 9 Eckartl Paraskewopoulos
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Technologie- und damit auch Wirtschafts standortes zu stellen und Berlin zu einer "Unternehmerstadt" auszubauen. 9o Das Bild einer prosperierenden Hauptstadt will man zudem durch die Wahrnehmung und Förderung kultureller Potentiale oder die Pflege standortprägender natürlicher Ressourcen (Wasser- und Waldreichtum) und den Ausbau der verkehrstechnischen Infrastruktur prägen. Unter Berücksichtigung derartiger und weiterer Forderungen, Planungen und Visionen wurde unter der Federführung der Senatsverwaltung für Wirtschaft und Technologie in Kooperation mit der Berliner Wirtschaft im Oktober 1994 eine erste Image-Kampagne für den Standort Berlin durchgeführt. Besonders die sich verschlechternden Aktionsbedingungen verlangten jedoch eine professionelle institutionelle Basis für ein erfolgreiches Marketing. Dies konnte durch die Gründung der "Partner für Berlin - Gesellschaft für Hauptstadt-Marketing mbH" gesichert werden. Sie wird von folgenden Institutionen unterstützt: 91 •
Berlin-Marketing Service GmbH (Berliner Absatz-Organisation, BAO),
•
Berlin-Tourismus-Marketing GmbH (BTM),
•
Berliner Landesentwicklungsgesellschaft mbH (BLEG),
•
Messe Berlin GmbH und
•
Wirtschaftsförderung Berlin GmbH (WFB).
Das Standort-Marketing muß jedoch um erfolgreich zu sein, die nunmehr durch Sparzwänge des Senats rur nötig befundenen radikalen Schnitte bei nicht wenigen Standortfaktoren plausibel machen. Es ist daher glaubhaft darzustellen, daß die getroffenen Sparentscheidungen den Wettbewerb mit anderen Ballungszentren nicht behindern, das heißt beispielsweise •
die Bedeutung des Wirtschaftsstandortes bei Investoren und ansässigen Klein- und Mittelunternehmen nicht mindern,
•
der zusammengewachsenen Stadt als Ausbildungs- und Wissenschaftsmetropole nicht schaden oder
•
sich nicht auf den Bereich von Kunst und Kultur nachteilig auswirken.
Da die Entwicklung Berlins im Vergleich zu anderen Bundesländern als noch rückständig einzuordnen ist, sollten daher die vorhandenen Standortvorteile, die Z.B. aus dem anstehenden Regierungs- und Parlamentsumzug, der günstigen Infrastruktur, der noch bestehenden Kulturangebote oder hinsichtlich der gegebenen wissenschaftlichen Ressourcen resultieren, für den härter werdenden 90"Berlin muß wieder Unternehmerstadt werden". In: Berliner Zeitung vom 2.2.1996 sowie ergänzend dazu "Pieroth: Junge Firmen fllrdem". In: Der Tagesspiegel vom 11.3.1996. 91 Vg l. dazu weiterhin die Senatsverwaltung rur Wirtschaft und Technologie (Herausg.): Wirtschaftsbericht Berlin 1995, a.a.O., S. 57 u. 58.
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BI
Standortwettbewerb möglichst ohne hinderliche Einschränkungen genutzt werden. Ein gezieltes Standort-Marketing ist nicht nur für Berlin als Ganzes notwendig. Auch die einzelnen Bezirksverwaltungen stehen in der Pflicht, mit einem auf die Bezirksbelange ausgerichteten Marketingkonzept, gemeinsam mit kompetenten Partnern und in Abstimmungen mit entsprechenden Rahmenplanungen des Berliner Senats, für "ihre" Region und die gegebenen Standortfaktoren wirtschaftsfördernd in unterschiedlichen Richtungen zu werben. 6. Zur Länderfusion Berlin-Brandenburg Bereits seit 1990 ist eine zunehmende Verzahnung des nunmehr vereinigten Berlins mit seinem Umland zu beobachten. Ermöglicht wurde diese nicht zuletzt durch die Revitalisierung lange Jahre hindurch unterbrochener Straßen- und Bahnverbindungen. Davon ausgehende Integrationswirkungen führten unter anderem dazu, daß Z.B. nach den Feststellungen einer Pendlerstudie zum Jahreswechsel 1995/l996 täglich rund 90.000 Brandenburger in Berlin einer Arbeit nachgingen. 92 Weitere Beispiele belegen die fortschreitende Integration Berlins mit seinem Umland. 93 Unabhängig von derartigen Entwicklungen hatten die Regierungen der beiden Länder bekanntlich Ende April 1995 einen Neugliederungs-Vertrag beschlossen. 94 Die im Vorfeld der Volksabstimmung am 5. Mai 1996 über eine Fusion der beiden Länder geführte Werbekampagne ließ nicht nur Defizite erkennen, sondern machte bestehende Vorbehalte gegen eine Fusion mehr als deutlich. Dabei wurden von den Fusionsgegnern die bestehenden Informationsdefizite der Bevölkerung ausgiebig genutzt. Die erst spät angelaufene Argumentationsoffensive der Fusionsbefürworter mußte vor allem als Grundproblem die Tatsache anerkennen, daß jeder der bislang Befragten die Vorteile der Fusion jeweils auf der anderen Seite sah. Dies hätte durch einen rechtzeitigen Kooperationsdialog auf der Grundlage kompetenter Aktionsgemeinschaften durch die Fusionsbefürworter vermieden werden können. Im Kreis der Wirtschaft bestand insgesamt Einigkeitkeit darüber, daß auch im Falle eines Scheiterns der Fusion der Integrationsprozeß beider Länder zügig voranschreiten werde. Vgl. dazu im einzelnen: "Berlin entlastet Arbeitsmarkt im Umland". In: Der Tagesspiegel vom 21.2.1996. 93 So u.a. zusammengestellt in: Berlin kurzgefaßt, a.a.O., S. 25. 94 Vgl. hierzu Drs. 12/5571, Abgeordnetenhaus von Berlin, 12. Wahlperiode: Vorlage - zur Kenntnisnahme - ober Zusammenfassung und BegrOndung der Kanzleien zu dem Staatsvertrag der Länder Berlin und Brandenburg Ober die Bildung eines gemeinsamen Bundeslandes (Neu gliederungs-Vertrag) vom 27. April 1995 - Drs Nr. 12/5521 (25 Seiten). 92
9'
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7. Politische Kompetenz und Verwaltungshandeln als Querschnittsfunktionen
Die mit der Herausbildung Berlins zu einem führenden Wirtschaftsstandort verbundenen Probleme95 können zweifellos nur mit einem stabilen und handlungsflihigen Senat gelöst werden. Politische Kompetenz und Verwaltungshandeln überlagern als Querschittsfunktionen die gegebenen Handlungsfelder. Das heißt, sie bilden die Rahmenbedingungen für eine optimale Entwicklung der vorhandenen und auszubildenden Standortfaktoren. Allein die Ergebnisse der Koalitionsvereinbarung lassen jedoch eine Fortsetzung der Pflege alter Denkmuster vermuten: Die Verhandlungen konzentrierten sich nach Auffassung der Industrie- und Handelskammer zu Berlin weniger auf Probleminhalte als vielmehr auf Ressortverteilungen und Personen. 96 Statt der bisher verkündeten Absichtserklärungen wäre daher ein Schritt zu konsequentem und realitätsbezogenem Handeln angebracht. Doch bereits die im Rahmen der Senatsbildung vollzogene Trennung von Wirtschafts- und Technologiepolitik kann sich - angesichts der sich aus dem gepflegten Ressortdenken ergebenden schlechten Erfahrungen - als neue Hürde erweisen. Nachteile besonders für KMU könnten ebenso die vorgesehene Einrichtung einer Leitstelle für Genehmigungsverfahren und Ansiedlungsvorhaben (ab über fünf Milliarden Mark) bringen. Nicht zuletzt kritisieren Industrie- und Handelskammer, Unternehmerverband BerlinBrandenburg und die betroffenen Unternehmen, vor allem die Mehrzahl der in Berlin ansässigen KMU, die geplante Anhebung der Gewerbesteuer ab 1998 auf 390 Prozent. Wesentlich ist einerseits, daß mit dieser Maßnahme ein bisheriger Standortvorteilleichtfertig vergeben wird. Seitens des Berliner Senats wird dazu andererseits argumentiert, daß der vergleichsweise niedrige Steuersatz ein Relikt der inzwischen überholten Berlin-Förderung der Jahre vor 1989 sei. Weil nicht zuletzt die flillige Verwaltungsreform nur in kleinen Schritten vollzogen wird, sind auch künftig Reibungsverluste zwischen einzelnen Senatsverwaltungen, zwischen Senatsverwaltungen und Bezirksämtern oder innerhalb von Bezirksämtern zu erwarten. Überzogenes "Kästchendenken", d.h. überholte Organisationsmuster nach dem Vorbild des Organisations- bzw. Bürokratiemodells Max Webers 97 , das im wesentlichen durch Amtshierarchie, strikte Aufgabenteilung (Geschäftsverteilungs- plan), Unpersönlichkeit der Amtsführung, Aktenmäßigkeit usw. geprägt ist, präferiert geradezu lange Abstimmungs- und Genehmigungsverfahren. 98 Die daraus resultierende Innovationsfeindlichkeit Hinweise über Analyseergebnisse zum Wirtschaftsstandort Berlin finden sich u.a. in einem Report der Industrie- und Handelskammer zu Berlin zum Thema "Berlin muß berechenbar und entscheidungsfllhig bleiben". In: Berliner Wirtschaft Nr. 1111995, S. 24 ff. %Ygl. hierzu "UlK will vom Senat Taten sehen". In: Berliner Morgenpost vom 27.1.1996 oder "Berliner Wirtschaft kritisiert den Senat". In: Berliner Zeitung vom 27.128.1.1996. 97Vgl. dazu Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Auflage, Tübingen 1972. 98 Eine derartige Praxis kann sich zweifellos auch auf jedes Projektmanagement öffentlicher Verwaltungen negativ auswirken. 95
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könnte sich daher auch weiterhin als Fortschrittsbremse auswirken. Begünstigt wird dies durch ein noch immer relativ schwach ausgebildetes Informationsmanagement bei verschiedenen Institutionen. Als Gründe sind hierfUr zu nennen: I. Der institutionalisierte Informationsfluß zwischen Unternehmen, Verbänden und kommunalen Einrichtungen ist noch immer zu schwach ausgebildet. Obwohl bereits seit längerer Zeit über die Zweckmäßigkeit von Informations- und Kommunikationsnetzen geredet wird, fehlt in nicht wenigen Fällen die Bereitschaft, sich aktiv beim Aufbau derartiger Netze zu beteiligen oder sich in vorhandene Netze einzuschalten. 2. Defizite existieren zudem hinsichtlich der Bereitschaft, strategisch bedeutsame Informationen intern und extern mit Blick auf ein allgemein angestrebtes Gesamtergebnis auszutauschen. Vielmehr werden vielerorts Informationsmonopole aufgebaut und Besitzstände verteidigt. 8. Zusammenfassung Der wirtschaftliche Umbau planwirtschaftlich geprägter Strukturen äußerte sich auch im Ostteil Berlins zunächst im Rahmen von Sanierungs- und Privatierungsmaßnahmen der Treuhandanstalt vor allem in der •
Entflechtung der vorhandenen industriellen Groß strukturen und der Herausbildung neuer flexibler Betriebe in Verbindung mit dem Aufbau eines leistungstahigen Mittelstandes,
•
Ausrichtung der Geschäftsfelder neu gebildeter Betriebe auf kundenorientierte Produktionen und neue Märkte,
•
Ausgliederung "nicht geschäftsnotwendiger" Betriebsflächen und deren Bereitstellung für andere Nutzungen,
•
Erhöhung der betrieblichen Arbeitsproduktivität durch eine drastische Reduzierung der Arbeitsplätze oder
•
Neustrukturierung der vorhandenen Wissenschafts- und Forschungspotentiale und deren Anpassung an die westdeutsche Forschungslandschaft.
Dies erforderte ebenso in Berlin eine den veränderten Rahmenbedingungen angepaßte Wirtschafts-, Forschungs-, Technologie- und Sozialpolitik des Berliner Senats, die u.a. •
eine schnelle wirtschaftliche Verzahnung der beiden Stadthälften,
•
die Begrenzung der zunächst im Ostteil der Stadt entstandenen Industriebrache,
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•
die Erarbeitung sozialverträglicher Lösungen zur Eindämmung der ansteigenden Arbeitslosigkeit oder
•
eine speziell die Belange des Ostteils betreffende Wirtschafts- und Forschungsförderung
gewährleisten mußte. Bekanntlich wurden die sich hierbei zwangläufig ergebenden Probleme durch die umfangreiche und langandauernde Rezession sowie wirtschaftliche Fehleinschätzungen durch politische wie wirtschaftliche Akteure erheblich verstärkt. Strukturbrüche kennzeichneten daher die Entwicklung in bei den Stadthälften und erzwangen koordinierte Anpassungen an die Forderungen des Marktes und des wissenschaftlich-technischen Fortschritts auf der Grundlage zukunfts orientierter Standortanalysen sowie erarbeiteter Leitbilder und Raumnutzungskonzepte. Zusammenfassend lassen sich folgende Ergebnisse festgestellen: 1. Insgesamt standen hinsichtlich der Analyse der Entwicklung Berlins seit der Wende 1989/1990 die kommunale Wirtschaft, die Wirtschaftsentwicklung sowie Arbeitsmarktprobleme im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Die hier registrierten Veränderungen können mittel- bis langfristig als globale Einflußgrößen filr die Entwicklung des Großraumes Berlin angesehen werden. 2. Im gegebenen Zusammenhang ist kennzeichnend, daß die Industrie ihre filr die gesamte Stadt geltende bisherige Bedeutung verloren hat. Mit dem fortschreitenden Abbau einst strukturbestimmender Potentiale kann Berlin nicht mehr als ein reiner Industriestandort bezeichnet werden. Zunächst haben sich auch in der West-Berliner Industrie die einst umfangreichen Strukturen unter anderem durch Ausgliederung von Funktionseinheiten erheblich verschlankt. Strukturverändernd wirkte sich zudem die Orientierung auf produktionsnahe Dienstleistungen aus. Der Weg filhrte im West- wie im Ostteil bekanntlich nicht nur zu betrieblichen Dezentralisierungen, sondern ebenso zur Betonung neuer wirtschaftlicher Leistungsbereiche. Die daraus resultierenden drastischen Veränderungen initiierten wiederum die Herausbildung dezentraler Standortprofile in sieben Stadträumen unter Berücksichtigung von Flächennutzungen durch öffentliche und private Investoren. 3. Die insbesondere durch den Rückgang der Großindustrie entstandenen Defizite glaubt man vor allem durch ein Industrieflächensicherungskonzept, die Förderung und Ansiedlung technologieorientierter innovativer Existenzgründer und KMU in verteilten Wirtschafts- und Wissenschaftszentren (Beispiel: WISTA) ausgleichen zu können. "Venture Capital" soll sich auf diese Weise zu einem Leitbild filr die Stadtentwickelung herausbilden.
Die Folgen des wirtschaftlichen Umbaus
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4. Im Rahmen der veränderten Kommunalpolitik und deren Ausrichtung auf neue und bereits vorhandene Standortvorteile haben Aspekte der Verbesserung von Standortfaktoren und die Vermarktung von Standortfaktoren (Berlin- bzw. Standortmarketing) höchste Priorität erreicht. 5. Entwicklungsbremsend wirkten und wirken sich die nicht geringen Reibungsverluste durch zu langsam erfolgende bzw. ausstehende politische Entscheidungen und Mängel im Verwaltungshandeln (Beispiel: Genehmigungsverfahren) aus. 6. Bedeutung und Wirksamkeit anerkannter Standortvorteile können nicht zuletzt durch die jüngsten Sparbeschlüsse des Berliner Senats in Frage gestellt werden und zu Nachteilen im Wettbewerb mit anderen großen Ballungszentren führen. Nicht minder nachteilig, das heißt imagebeeinträchtigend, kann sich ebenso die Zurückstellung einiger allgemein als dringend eingestufter Investitionsprojekte des Senats ggf. über das Jahr 2000 hinaus äußern. 7. Trotz der erkannten einschränkenden Aktionsbedingungen müssen die Perspektiven des Wirtschaftsstandortes Berlin insgesamt jedoch nicht als nachteilig eingestuft werden. Dem härter werdenden Standortwettbewerb und dem anhaltenden Rezessionsdruck stehen besondere Vorteile der Stadt gegenüber. Sie werden beispielsweise repräsentiert durch hervorragende Leistungen von Wissenschaft und Forschung sowie Kunst und Kultur, bedeutende Arbeitskräftepotentiale und Flächenreserven, eine günstige Verkehrsinfrastruktur, bestehende Vorteile im Osthandel und nicht zuletzt durch den Umzug von Regierung und Parlament. 8. Wesentliche Voraussetzung für den Aufbau eines erfolgreichen Wirtschaftsstandortes bilden intakte Informations- und Kommunikationsnetzwerke und der darauf aufbauende Wille zu Kooperationen und Aktionsgemeinschaften sowie eine verstärkte Ausrichtung auf Gemeinnutzinteressen. Zweifellos lassen sich die für den Wirtschaftsstandort Berlin erarbeiteten Entwicklungskonzepte, bislang realisierten standortprägenden Aktionsergebnisse und noch zu lösenden Aufgaben letztlich mit dem angestrebten Ziel verbinden, die Zukunft der Stadt als wettbewerbsflihige Metropole vor allem durch Innovationen in möglichst vielen Bereichen zu sichern.
Anton Sterbling DER SOZIALE UMBAU IN DEN OSTEUROPÄISCHEN TRANSFORMA TIONSLÄNDERN UND SEINE AUSWIRKUNGEN AUF DEN WIRTSCHAFTS STANDORT DEUTSCHLAND Der Niedergang der kommunistischen Herrschaft in Osteuropa und der davon eingeleitete "Systemwechsel"l wurden zunächst von nahezu unbegrenzten Erwartungen und manchen Illusionen begleitet.2 Nicht nur die Befreiung des Denkens und Sprechens von ideologischen Kontrollen und Systemzwängen und die Rückbesinnung aller Intellektueller auf eine universale Grammatik des kritischen Diskurses3 bildeten den Bezugspunkt solcher - wie sich zeigte - schwer erfiillbarer Hoffuungen. 4 Auch ein rapider wirtschaftlicher Fortschritt und ein rasch wachsender allgemeiner Wohlstand, zügige demokratische Entwicklungen und zivilisierte Regelungsformen sozialer Konflikte, das Verschwinden von Feindbildern und umfassende militärische Abrüstung, fortschreitende Integrationsprozesse und größtmögliche Freizügigkeit in Europa zählten zu den naheliegend erscheinenden Zielvorstellungen, die den Systemwechsel in Osteuropa zumindest anfangs begleiteten. Dem folgte dann aber alsbald eine Phase deutlicher Ernüchterung, Enttäuschung, Ratlosigkeit oder Irritation. Haben in den osteuropäischen Gesellschaften die anhaltenden und sich teilweise sogar verschärfenden wirtschaftlichen Krisenerscheinungen und die vielfliltigen Orientierungsprobleme angesichts tiefgreifender gesellschaftliI Zur analytischen Betrachtung des Wandels in Osteuropa als "Systemwechsel" siehe: Beyme, Klaus von: Systemwechsel in Osteuropa, Frankfurt a. M. 1994; Merkei, Wolfgang (Hrsg.): Systemwechsel I. Theorien, Ansätze und Konzeptionen, Opladen 1994. 2In diesem Sinne stellt beispielsweise Rudolf Andorka fest: "Auch hat beinahe niemand in den euphorischen Monaten die Richtung und die Komplikationen des Übergangs zu einer modemen Marktwirtschaft und zu einem demokratischen politischen System ermessen können." Siehe: Andorka, Rudolf: Ungarn - der nächste Anlauf zur Modernisierung, in: Berliner Journal filr Soziologie, Band 4, Berlin 1994 (S. 501-512), vgl. S. 501. JSiehe: Dahrendorf, Ralf: Betrachtungen über die Revolution in Europa, in einem Brief, der an einen Herrn in Warschau gerichtet ist, Stuttgart 1990, insb. S. 15 ff; Bourdieu, Pierre: Die Intellektuellen und die Macht, Hamburg 1991. 4Zur Ambivalenz der Intellektuellen als Produzenten und Vertreter universalistischer bzw. nationalistischer Wertvorstellungen und Ideologien siehe: Lendvai, Paul: Zwischen Hoffnung und Ernüchterung. Reflexionen zum Wandel in Osteuropa, Wien 1994, S. 211 ff; Sterbling, Anton: Von den Schwierigkeiten des Denkens ohne Verbot. Die Rolle des Intellektuellen, der intellektuelle Aufbruch und die nahezu unvermeidbaren Konfusionen in Osteuropa, in: Neue Literatur. Zeitschrift filr Querverbindungen, Heft 4 (Neue Folge), Bukarest 1993 (S. 55-71).
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cher Umbrüche zu einer rasch um sich greifenden Desillusionierung gefiihrt, so waren aus westlicher Sicht das Wiederaufleben interethnischer Spannungen und nationalistischer Ideologien und nicht zuletzt die militärischen Auseinandersetzungen im auseinandergebrochenen Jugoslawien und in der ehemaligen Sowjetunion die unmittelbaren Bezugspunkte starker Irritationen und Enttäuschungen.5 Mehr noch als im Meinungsbild und in den Einstellungen breiter Bevölkerungskreise im Osten wie im Westen spiegeln sich entsprechende Stimmungsumschwünge in den intellektuellen Reflexionen und Stellungnahmen wider. 6 Insofern mag es nicht erstaunen, daß auch die sozialwissenschaftlichen Betrachtungen zunächst vielfach von intellektuellen Leidenschaften gepackt und keineswegs frei von leichtfertigen oder überheblichen Fehlurteilen waren. Bis heute erscheint ein beachtlicher Teil der sozialwissenschaftlichen Osteuropaforschung von unrealistischen Modellvorstellungen oder problematischen Wertimplikationen geleitet. 7 Sie hat jene Sachlichkeit, Gründlichkeit und Kohärenz jedenfalls noch nicht erreicht, die sie zu einer einigermaßen zuverlässigen Grundlage praktischer Urteile und Entscheidungen machen könnte. Diese Vorbemerkungen erscheinen mir erforderlich, um gleichsam uneinlösbaren Erwartungen an meine weiteren Ausfiihrungen vorzubeugen. In diesem Sinne muß ich zunächst feststellen: Zu den Auswirkungen des "sozialen Umbaus" oder sozialen Wandels in Osteuropa auf den Wirtschaftsstandort Deutschland sind einfache Kausalaussagen aus meiner Sicht nicht möglich. Diese Zusammenhänge erscheinen soweit sie sich überhaupt näher bestimmen und bedenken lassen - vielfach vermittelt, kompliziert und ambivalent. Sie können daher nur schrittweise - und gegenwärtig wohl auch nur partiell und vorläufig - analysiert werden. Insofern werden sich meine Ausfiihrungen zwangsläufig darauf beschränken müssen, einige grundlegende Aspekte der sozialen Gegebenheiten und des Strukturwandels in den osteuropäischen Gesellschaften aufzuzeigen, die als solche natürlich in vielfaltiger Weise fiir die weiteren Aussichten des Wirtschaftsstandorts Deutschland relevant erscheinen, ohne daß man beim gegenwärtigen Stand der Dinge allerdings - wie schon gesagt - eindeutige Kausalzusammenhänge aufzeigen oder umfassend durchdachte Entwicklungsszenarios präsentieren könnte. Dies umso weniger, als sich die sozialen Entwicklungen in den einzelnen osteuropäischen Staaten - bei 5Siehe dazu auch: Sterbling, Anton: Gegen die Macht der Illusionen. Zu einem Europa im Wandel, Hamburg 1994. 6Siehe: Hoffinann, Hilmar, Kramer, Dieter (Hrsg.): Das verunsicherte Europa, Frankfurt a. M. 1992; Sterbling, Anton: Überlegungen zum "Wiedererwachen der Geschichte", in: Südosteuropa. Zeitschrift fur Gegenwartsforschung, 42. Jg., München 1993 (S. 219-243). 7Siehe: Müller, Klaus: Vom Post-Kommunismus zur Postmodernität? Zur Erklärung sozialen Wandels in Osteuropa, in: Kölner Zeitschrift filr Soziologie und Sozialpsychologie, 47. Jg., Opladen 1995 (S. 37-64); Sterbling, Anton: Historische Modemisierungstheorien und die gegenwärtigen Probleme des Institutionenwandels in Ost- und Südosteuropa, in: Müller, Klaus/Schmidt, Rudi (Hrsg.): Auswege aus der postkommunistischen Krise, Opladen 1997 (in Vorbereitung).
Der soziale Umbau in den osteuropäischen Transformationsländern
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allen strukturellen Gemeinsamkeiten der Ausgangslagen und Ähnlichkeiten der Übergangsprobleme - durchaus unterschiedlich darstellen.
I. Zur Relevanz der sozialen Entwicklungen in den osteuropäischen Gesellschaften für den Wirtschaftsstandort Deutschland Ganz allgemein und grundsätzlich betrachtet, erscheinen die sozialen Entwicklungen in den osteuropäischen Staaten in vielen Hinsichten fiir den Wirtschaftsstandort Deutschland und seine weiteren Aussichten relevant. Dazu nur einige Stichworte: Die osteuropäischen Staaten, mit einer Gesamtbevölkerung, die der Westeuropas vergleichbar ist, stellen als jahrzehntelang unterversorgte und vom entfalteten Massenkonsum und von technologisch hochwertigen Produkten weitgehend abgeschnittene "Mängelgesellschaften" zweifellos wichtige aktuelle und potentielle Absatzmärkte fiir eine denkbar breite Palette von Gebrauchs- und Verbrauchsgütern dar. Hinzu kommt, daß kulturelle Traditionen und Einflußfaktoren, die die langfristigen kulturkreis- und gesellschaftsspezifischen Konsummuster und Verbraucherdispositionen mitprägen,8 wie auch die nachhaltige Diffusion westlicher Konsum- und Lebensstilelemente in den zurückliegenden Jahrzehnten 9 nahezu ideale Absatzmärkte für westliche Produkte und Markenartikel in Osteuropa geschaffen haben. Was die gegenwärtigen Absatzchancen allerdings stark beeinträchtigt, ist die in allen osteuropäischen Ländern fehlende Massenkautkraft und sind die Importschranken auf Grund geringer eigener Wirtschaftsleistungen, angespannter Staatshaushalte und relativ hoher, in vielen Fällen aus der Zeit kommunistischer Alleinherrschaft überkommener Auslandsverschuldungen. 'o 8Auch
bei sich weiter globalisierenden Wirtschaftsbeziehungen und sich einander angleichenden Geschmacks- und Kulturstandards haben kulturelle Traditionen und entsprechende Wertvorstellungen, die beispielsweise Ernährungs- und Bekleidungsgewohnheiten, Sauberkeits- und Hygienevorstellungen oder Einstellungen zu technischen Artefakten betreffen, durchaus einen eigenständigen Einfluß auf Konsumdispositionen bzw. Markterschließungschancen filr bestimmte Gebrauchsund Verbrauchsgüter. 9 Wie wir in einem anderen Zusammenhang ausgefilhrt haben, hing die Diffusion westlicher Lebensstilelemente eng mit dem zunehmenden Einfluß westlicher Massenmedien, dem Zustrom von Touristen und den dadurch ermöglichten Sozialkontakten wie auch mit der Ausdehnung des Schwarzmarktgeschehens in den osteuropäischen Ländern zusammen. Von der Ausbreitung westlicher Lebensstilelemente bzw. an westlichen Konsumgütern orientierten Erwartungen ging sicherlich auch ein erheblicher Wandlungsdruck aus, der im Hinblick auf die Legitimationskrise und den Niedergang des kommunistischen Systems keineswegs gering eingeschätzt werden darf. Siehe auch: Hütten, Susanne/Sterbling, Anton: Expressiver Konsum. Die Entwicklung von Lebensstilen in Ost- und Westeuropa. In: Blasius, Jörg; Dangschat, Jens (Hrsg.): Lebensstile in den Städten. Konzepte und Methoden, Opladen 1994 (S. 122-134). IOZur Auslandsverschuldung einzelner südosteuropäischer Staaten und den Folgeproblemen wie auch zu den relevanten wirtschaftlichen Kennziffern osteuropäischer Staaten siehe: Sterbling, Anton: Eigeninteressen oder Verantwortung der Intelligenz? Zum Niedergang der kommunisti-
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Auf der anderen Seite bilden modernisierte alte oder neu entstandene Wirtschaftsunternehmen in den einzelnen osteuropäischen Staaten natürlich auch mögliche Partner oder beachtenswerte Konkurrenten im Hinblick auf die Herstellung oder Vermarktung von regional oder international wettbewerbsfähigen Gütern und Dienstleistungen. Die zwischenzeitlich erfolgten Verlagerungen der Teil- oder Gesamtfertigung westlicher und deutscher Unternehmen - insbesondere in die mitteleuropäischen Länder Tschechien, Polen, Ungarn oder Slowenien, die durch ihre qualifIzierten Arbeitskräfte, ihr vergleichsweise niedriges Lohnkostenniveau, die gewährten Steuervorteile oder die vermuteten Absatzchancen bestimmte Vorteile bieten haben heute in Deutschland nicht nur eine nachhaltige Standortdiskussion ausgelöst. Sie lassen wohl auch schon deutliche Rückwirkungen auf die deutsche Wirtschaft erkennen. Natürlich sind die sozialstrukturellen Gegebenheiten und die weiteren sozialen Entwicklungen in den osteuropäischen Gesellschaften nicht nur im Hinblick auf die angesprochenen Wirtschaftsbeziehungen fiir den Wirtschaftsstandort Deutschland relevant. Soziale Prosperität oder anhaltende Krisen, relative Stabilität oder zunehmende Spannungen und Konflikte, soziale Integration oder tiefgreifende sozialstrukturelle Spaltungen sind auch fiir die Demokratisierungsfortschritte in diesen Ländern wie auch fiir die politischen Entwicklungen und die internationalen Beziehungen in Europa und nicht zuletzt fiir mögliche binneneuropäische Wanderungsbewegungen von erheblicher Bedeutung. Ein wachsendes Wohlstandsgefalle, "anomische" Zustände, 11 zunehmende soziale oder interethnische Spannungen in einzelnen Gesellschaften oder Regionen Osteuropas, wie auch um sich greifendes Mißtrauen, das Erstarken antidemokratischer politischer Kräfte oder Neigungen zu einem autoritären Etatismus würden sich nicht nur nachteilig auf die weitere Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Staaten der Europäischen Union und Osteuropa auswirken. Entsprechende Konflikte können auch schnell - wie uns das Beispiel der Konflikteskalation im ehemaligen Jugoslawien deutlich gemacht hat - zu militärischen Auseinandersetzungen fuhren und damit komplizierte internationale Probleme erzeugen sowie massive Flüchtlings- und Wanderungsbewegungen auslösen, die in ihren unmittelbaren Auswirkungen oder in ihren vielfältigen Folgewirkungen natürlich auch die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft beträfen. So betrachtet - und man könnte dem bisher Gesagten natürlich noch viele weitere Gesichtspunkte hinzufiigen l2 - kommt dem sozialen Wandel in Osteuropa vermutlich schen Herrschaft in Südosteuropa, in: Sterbling, Anton (Hrsg): Zeitgeist und Widerspruch: Soziologische Reflexionen über Gesinnung und Verantwortung, Hamburg 1993 (S. 231-250), insb. S. 236; Beyme, Klaus von: Systemwechse1 in Osteuropa, Frankfurt a. M. 1994, insb. S. 224 f. IISiehe: Andorka, Rudolf: Ungarn - der nächste Anlauf zur Modernisierung, in: Berliner Journal filr Soziologie, Band 4, Berlin 1994 (S. 501-512), insb. S. 505 f. 12Insbesondere die Aufnahme neuer Mitglieder in die Europäische Union und die Osterweiterung der NATO bilden zwei Kernprobleme der zukünftigen Entwicklungen, die rur Deutschland von großer Bedeutung sind.
Der soziale Umbau in den osteuropäischen Transfonnationsländem
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eine weitreichende und wohl kaum zu überschätzende Bedeutung fiir die Zukunft des Wirtschaftsstandortes Deutschland zu. Allerdings lassen sich die entsprechenden, vielfach vennittelten Zusammenhänge nicht einfach bestimmen, sondern allenfalls schrittweise und partiell untersuchen, wobei gründliche Einsichten in die sozialen Verhältnisse und in die Ungleichheits- und Konfliktstrukturen einzelner osteuropäischer Gesellschaften jedenfalls einen wichtigen Ausgangspunkt aller weiterfUhrenden Analysen bilden. Die weittragende Bedeutung der sozialen Aspekte der Transfonnations- und Modernisierungsprozesse in Osteuropa erscheint in diesem wie in vielen anderen Betrachtungszusammenhängen sicherlich unbestreitbar. Gleichwohl ist festzustellen, daß diese Relevanz in einem auffalligen Kontrast zu den dazu vorliegenden, einigennaßen gesicherten sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen steht. Dies hat gleichennaßen außerwissenschaftliche wie auch wissenschafts immanente Gründe.
II. Defizite und Schwierigkeiten der Forschung über die Sozialstrukturen und den Strukturwandel osteuropäischer Gesellschaften Verglichen mit den marktwirtschaftlichen Transfonnationsprozessen, den politischen Demokratisierungsvorgängen, der Herbeifiihrung rechtsstaatlicher Verhältnisse oder der Pluralisierung der Kultur und der Medienlandschaft - also verglichen mit den institutionenbezogenen und institutionell vennittelten Veränderungen und Modemisierungsprozessen 13 - verlaufen die sozialstrukturellen Wandlungsprozesse nicht nur "zielloser" und "ungesteuerter". Sie stellen zumeist nichtintendierte oder in Kauf genommene, zunächst auch weitgehend unübersichtlich bleibende und sozialwissenschaftlich unteranalysierte Folgeprobleme des "Systemwechsels" dar. Hinzu kommt noch ein Weiteres. Jahrzehntelang waren die sozialen Gegebenheiten osteuropäischer Gesellschaften eingehenden empirischen Strukturanalysen fast unzugänglich. 14 Die ideologische Selbstdeutung als "nichtantagonistische Klassengesellschaften" auf dem Weg der Herausbildung qualitativ neuer "sozialistischer Nationen" hatte zwar keine hohe empirische Evidenz. Der zentrale Stellenwert solcher an marxistische Kategorien anschließender, ideologisch konstruierter und politisch massiv propagierter "Gesellschaftsvorstellungen" versperrte aber doch weitgehend den Blick auf die tatsächlichen ungleichheitserzeugenden Mechanismen, Vergesell-
130eren nähere Analyse erscheint natürlich auch alles andere als einfach. Siehe dazu: Sterbling, Anton: Historische Modemisierungstheorien und die gegenwllrtigen Probleme des Institutionenwandels in Ost- und Südosteuropa, in: Müller, Klaus/Schmidt, Rudi (Hrsg.): Auswege aus der p,0stkommunistischen Krise, Opladen 1997 (in Vorbereitung). 4Siehe dazu näher: Sterbling, Anton: Strukturfragen und Modemisierungsprobleme südosteuropäischer Gesellschaften, Hamburg 1993, insb. S. 23 ff.
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schaftungsprozesse und Strukturprinzipien. ls Insofern war natürlich auch die Ausgangs lage tur die sozialwissenschaftliche Erforschung der Sozialstrukturen osteuropäischer Gesellschaften nach dem Niedergang der kommunistischen Herrschaft recht ungünstig; ganz unabhängig davon, daß gleichzeitig mehr oder weniger tiefgreifende Veränderungen und Verwerfungen der sozialen Verhältnisse eingetreten sind, die schon ihrer angedeuteten Dynamik und WiderspTÜchlichkeiten wegen auf Anhieb nur schwer erfaßbar und näher beschreibbar erscheinen.
III. "Objektive" und "subjektive" Aspekte der sozialen Entwicklung in den osteuropäischen Gesellschaften Viele Untersuchungen über die gegenwärtigen sozialen Entwicklungen in den osteuropäischen Gesellschaften knüpfen an makroökonomische Sachverhalte an. Sie suchen durch Rückgriffe auf "objektive" Indikatoren und "subjektive" Umfrageergebnisse wie auch durch die nähere Betrachtung institutioneller Entwicklungen zu einer allgemeinen Beschreibung der veränderten Lebensbedingungen und ihrer subjektiven Perzeption wie auch zu einer Einschätzung der Vermittlungsmöglichkeiten alter und neuer sozialer Konflikte zu gelangen. Sicherlich sind solche vorwiegend deskriptiv ausgerichtete Untersuchungen informativ und auch in manchen sozialstrukturellen Hinsichten aufschlußreich. Ich will dies durch einige Hinweise deutlich machen. Als Folge einer nachhaltigen, durch die langmstige Unterentwicklung und die sozialistische Wirtschaftsweise erzeugten ökonomischen Modernisierungskrisen 16 wie auch als Ergebnis des weitgehenden Zusammenbruchs der zwischenstaatlichen wirtschaftlichen Austauschbeziehungen in Osteuropal 7 - und natürlich auch wegen der überaus komplizierten Entscheidungs- und Anpassungsprobleme im Übergangs-
15 Auch die an westlichen Schichtungstheorien orientierte, primär auf berufsstrukturelle Kategorien gestützte empirische Sozialstrukturforschung, die sich in den zurückliegenden Jahrzehnten beispielsweise in Ungarn und Polen entwickelte und die zweifellos einen großen Fortschritt gegenüber den dogmatischen Klassentheorien darstellte, bleib insofern defizitär, als sie die politische Herrschaftsdimension sozialer Ungleichheit wie auch die traditionalen Strukturelemente weitgehend ausblendete. Siehe dazu eingehender: Sterbling, Anton: Traditional-Iändliche Strukturelemente südosteuropäischer Gesellschaften, in: Sterbling, Anton: Kontinuitäten und Wandel in Rumänien und Südosteuropa, München 1997 (in Vorbereitung). 16Siehe dazu näher: Sterbling, Anton: Strukturfragen und Modernisierungsprobleme südosteuropäischer Gesellschaften, Hamburg 1993, insb. S. 218 ff. 17Zum Zusammenbruch des "sozialistischen Marktes" bzw. der Desintegration des "ComecomHandelssystems" siehe auch: Andorka, Rudolf: Ungarn - der nächste Anlauf zur Modernisierung, in: Berliner Journal filr Soziologie, Band 4, Berlin 1994 (S. 501-512), insb. S. 504; Juchler, Jakob: Die wirtschaftliche Entwicklungsdynamik im "postsozialistischen" Transforrnationsprozeß - zum Wechselspiel von strukturell-allgemeinen und historisch-spezifischen Faktoren, in: Berliner Journal filr Soziologie, Band 4, Berlin 1994 (S. 485-500), insb. S. 491.
Der soziale Umbau in den osteuropäischen Transformationsländern
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prozeß zur Marktwirtschaft l8 - sind die erfaßten gesamtwirtschaftlichen Leistungen aller osteuropäischer Staaten deutlich gesunken. In den meisten ostmitteleuropäischen Staaten ging das statistisch ausgewiesene Bruttoinlandsprodukt Anfang der neunziger Jahre um etwa ein Fünftel bis ein Drittel zurück. Ein noch weit höherer Rückgang ist in den südosteuropäischen Staaten, den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien - mit Ausnahme Sloweniens -, in den europäischen GUSRepubliken wie auch in den baltischen Staaten zu verzeichnen. Eine erste Wende hin zu einem erneuten Anstieg des Bruttoinlandsproduktes ergab sich ab 1992 zunächst in Polen, das sich wegen seiner hohen Auslandsverschuldung rasch zu einer "schockartigen" Wirtschaftsstrategie entschied. In anderen Ländern ist ein erneutes Wirtschaftswachstum erst in den folgenden Jahren, oder aber - wie in den meisten Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion - noch überhaupt nicht recht eingetreten. 19 Zum Teil noch weit stärker als das Bruttoinlandsprodukt ging in allen osteuropäischen Staaten seit Ende der achtziger Jahre die Industrieproduktion zurück. 20 Mehrere Jahre in Folge nahm in vielen Fällen auch die Agrarproduktion ab, die in Ländern wie Albanien, Bulgarien, Rumänien, den GUS-Staaten oder auch in den baltischen Ländern eine durchaus wichtige gesamtwirtschaftliche Rolle spielt. 21 Daß die relative Bedeutung des Dienstleistungsbereichs in allen osteuropäischen Gesellschaften in den letzten Jahren zugenommen hat, kann - allgemein gesehen - als Modemisierungsvorgang verstanden werden. Es müßte dabei allerdings näher untersucht werden, welche Dienstleistungstätigkeiten expandiert sind. 22 Begleitet wurde der Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion in vielen Fällen von außenwirtschaftlichen Handels- und LeistungsbilanzdefIZiten wie auch von erheblichen Haushaltsschwierigkeiten, die der Wirtschaftspolitik, der staatlichen Investitionstätigkeit (zum Beispiel im Hinblick auf die dringend erforderlichen In18Siehe dazu auch: Juchler, Jakob: Osteuropa im Umbruch. Politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen 1989-1993, Zürich 1994; Heidenreich, Martin: Die mitteleuropäische Großindustrie im Transformationsprozeß, in: Zeitschrift filr Soziologie, 23. Jg., Stuttgart 1994 (S. 3-21). 19Siehe: Secretariat of the Economic Commission for Europe (Hrsg.): Economic Survey of Europe in 1994-1995, New York-Geneva 1995, insb. S. 70; Juchler, Jakob: Die wirtschaftliche Entwicklungsdynamik im "postsozialistischen" Transformationsprozeß - zum Wechselspiel von strukturellallgemeinen und historisch-spezifischen Faktoren, in: Berliner Journal filr Soziologie, Band 4, Berlin 1994 (S. 485-500), insb. S. 492. 2oSiehe: Secretariat of the Economic Commission for Europe (Hrsg.): Economic Survey of Europe in 1994-1995, New York-Geneva 1995, insb. S. 70 und S. 250. 2lSiehe: Secretariat of the Economic Commission for Europe (Hrsg.): Economic Survey of Europe in 1994-1995, New York-Geneva 1995, insb. S. 82; Sterbling, Anton: Kontinuitäten und Wandel in Rumänien und Südosteuropa, München 1997 (in Vorbereitung). 22Siehe: Andorka, Rudolf: Ungarn - der nächste Anlauf zur Modernisierung, in: Berliner Journal für Soziologie, Band 4, Berlin 1994 (S. 501-512), S. 503 f; Andorka, Rudolf: Hungarian Society: Heritage of the Past, Problems of the Transition and Possible Future Development up to 2005, in: Society and Economy in Central and Eastern Europe, Band 17, Nr. 1,1995 (S. 9-73), insb. S. 34 ff und S. 62; Secretariat of the Economic Commission for Europe (Hrsg.): Economic Survey of Europe in 1994-1995, New York-Geneva 1995, insb. S. 108.
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frastrukturinvestitionen) oder der Sozialpolitik natürlich enge Handlungsspielräume setzen?3 Ebenso waren hohe Inflationsraten in den zwiickliegenden Jahren zu verzeichnen, die in Ländern wie Ungarn, Tschechien und der Slowakei (bzw. vormals der Tschechoslowakei) eine zweistellige, in Ländern wie Albanien, Bulgarien, Rumänien, Slowenien, aber auch Polen, zunächst eine dreistellige, dann eine zweistellige und in Ländern wie Kroatien, Restjugoslawien oder den baltischen Staaten zeitweise sogar eine vierstellige Größenordnung erreichten, ehe es diesen Staaten allmählich gelang, die Geldentwertung unter Kontrolle zu bringen. In den GUSStaaten, die in den zwiickliegenden Jahren drei- und vierstellige jährliche inflationsraten aufwiesen, bildet die hohe Inflation immer noch ein schwerwiegendes Problem. 24 Eine weitere Folge der schrumpfenden Volkswirtschaften war ein deutlicher Rückgang der Erwerbsbevölkerung und der Beschäftigten und ein starker Anstieg der Arbeitslosenzahlen. So ging allein zwischen 1990 und 1993 die Zahl der Beschäftigten in Albanien um 27%, in Bulgarien um 26%, in Ungarn um 24%, in Kroatien um 23%, in Estland um 20%, in Slowenien um 19%, in der Slowakei um 16%, in Polen um 14%, in Tschechien um 11%, in Lettland um 10%, in Rumänien um 8%, in der Ukraine um 7%, in Litauen um 7%, und in Rußland um 6% zwiick. 25 Die Rate der registrierten Arbeitslosen betrug 1993 in Albanien 22%, in Bulgarien 16%, in Kroatien 16%, in Polen 16%, in Slowenien 15%, in der Slowakei 14%, in Ungarn 12%, in Rumänien 10%, in Lettland 5%, in Litauen 3%, in Tschechien 3%, in Estland 2%, und in Rußland 1%, und sie erreichte auch im Jahre 1994 in den meisten Fällen eine ähnliche Größenordnung. 26
23Siehe: Secretariat ofthe Economic Commission for Europe (Hrsg.): Economic Survey ofEurope in 1994-1995, New York-Geneva 1995, insb. S. 92 fund S. 253; Juchler, Jakob: Die wirtschaftliche Entwicklungsdynamik im "postsozialistischen" Transformationsprozeß - zum Wechselspiel von strukturell-allgemeinen und historisch-spezifischen Faktoren, in: Berliner Journal fUr Soziolo~ie, Band 4, Berlin 1994 (S. 485-500), insb. S. 492. 4Siehe: Secretariat ofthe Economic Commission for Europe (Hrsg.): Economic Survey of Europe in 1994-1995, New York-Geneva 1995, insb. S. 97; Juchler, Jakob: Die wirtschaftliche Entwicklungsdynamik im "postsozialistischen" Transformationsprozeß - zum Wechselspiel von strukturellallgemeinen und historisch-spezifischen Faktoren, in: Berliner Journal rur Soziologie, Band 4, Berlin 1994 (S. 485-500), insb. S. 492; Beyme, Klaus von: Systemwechsel in Osteuropa, Frankfurt a. M. 1994, insb. S. 225; Zentrum rur Zusammenarbeit mit den Reformländern (Hrsg.): OECD Wirtschaftsberichte. Die Russische Föderation 1995, insb. S. 28. 25 Die Prozentsätze wurden in allen Fällen auf ganze Zahlen abgerundet. Siehe: Secretariat of the Economic Commission for Europe (Hrsg.): Economic Survey ofEurope in 1994-1995, New YorkGeneva 1995, insb. S. 107. 26 Die Prozentsätze wurden in allen Fällen auf ganze Zahlen abgerundet. Im Falle Rußlands betrug die Arbeitslosenrate nach der Erfassungsweise der ILO im Jahre 1993 rund 5%. Siehe: Secretariat ofthe Economic Commission for Europe (Hrsg.): Economic Survey ofEurope in 1994-1995, New York-Geneva 1995, insb. S. 111; Juchler, Jakob: Die wirtschaftliche Entwicklungsdynamik im "postsozialistischen" Transformationsprozeß - zum Wechselspiel von strukturell-allgemeinen und historisch-spezifischen Faktoren, in: Berliner Journal rur Soziologie, Band 4, Berlin 1994 (S. 485-
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Das massenhaft erlebte Risiko der Arbeitslosigkeit stellt rur die Menschen in Osteuropa nicht nur eine neue, sozial und psychisch schwierig zu verarbeitende Erfahrung dar, sondern - da die sozialen Sicherungssysteme in den osteuropäischen Staaten nur unzureichend ausgebaut sind27 - bildet die Arbeitslosigkeit zugleich eine erhebliche Gefahr des sozialen Abstiegs, der Marginalisierung und der Verarmung. Die zur Bewältigung der gegenwärtigen Übergangsprobleme recht unzulänglich erscheinenden sozialen Absicherungen zusammen mit den hohen Inflationsraten28 brachten auch andere Bevölkerungsgruppen, wie beispielsweise Rentner oder kinderreiche Familien, in eine prekäre materielle Lage, wobei sich die unzureichende Alterssicherung und familienbezogene Sozialpolitik insofern umso gravierender auswirken, als der durch den volkswirtschaftlichen Schrurnpfungsprozeß und die marktwirtschaftlichen Reformen eingetretene Rückgang der Erwerbsbevölkerung zum Teil durch Frühverrentungen oder das Ausscheiden von Frauen aus dem Berufsleben aufgefangen wurde. Die Gefahr der Verarmung oder zumindest eines sinkenden Lebensstandards breiter Bevölkerungskreise geht natürlich auch auf die Realeinkommensentwicklung zurück. Hier zeigt sich allerdings ein zeitlich und gesellschaftsspezifisch recht differenziertes Bild. Zwar sind in allen osteuropäischen Staaten zeitweilig oder tendenziell sinkende Realeinkommen zu verzeichnen, allerdings sieht die diesbezügliche Situation in Tschechien oder in Polen, Länder, die seit 1992 steigende oder zumindest gleichbleibende Realeinkommen aufweisen, oder auch in Ungarn, weit günstiger als beispielsweise in Bulgarien, Rumänien oder in den baltischen Staaten oder den GUSStaaten aus?9 Selbstverständlich ist in sozialstruktureller Hinsicht nicht nur die Entwicklung des allgemeinen Realeinkommensniveaus, sondern auch die durch die marktwirtschaftlichen Reformen und Privatisierungsprozesse eingetretene stärkere Differenzierung 500), insb. S. 492; Zentrum filr Zusammenarbeit mit den Reformländern (Hrsg.): OECD Wirtschaftsberichte. Die Russische Föderation 1995, insb. S. 28. 27Zur Arbeitslosenversicherung, beispielsweise in Rumänien oder in Polen, siehe: Hartwig, Ines: Der Umbau des sozialen Sicherungsnetzes in Rumänien, in: Osteuropa. Zeitschrift filr Gegenwartsfragen, 46. Jg., Stuttgart 1996 (S. 53-63); Wilkiewicz, Zbigniew: Arbeitslosigkeit und ihr Stellenwert in der polnischen Sozialpolitik, in: Osteuropa. Zeitschrift filr Gegenwartsfragen, 46. Jg., Stuttgart 1996 (S. 64-79). Als allgemeiner Überblick zu den Regelungen in den einzelnen osteuropäischen Ländern siehe: Secretariat of the Economic Commission for Europe (Hrsg.): Economic Survey ofEurope in 1994-1995, New York-Geneva 1995, insb. S. 118. 28 Die hohe Inflation hat in vielen Fällen zu einer schwindenden Kaufkraft der Renten und zu einer weitgehenden Entwertung von Gelderspamissen gefilhrt. 29 1n den meisten Fällen sind die Realeinkommen nicht so stark wie das Bruttoinlandsprodukt gesunken. Zudem weisen die Realeinkommen vielfach eine unstetigere Entwicklung als andere Wirtschaftskennziffern auf. Siehe: Juchler, Jakob: Die wirtschaftliche Entwicklungsdynamik im "postsozialistischen" Transformationsprozeß - zum Wechselspiel von strukturell-allgemeinen und historisch-spezifischen Faktoren, in: Berliner Journal filr Soziologie, Band 4, Berlin 1994 (S. 485500), insb. S. 492; Secretariat of the Economic Commission for Europe (Hrsg.): Economic Survey ofEurope in 1994-1995, New York-Geneva 1995, insb. S. 103. 10 Eclcart/Paraslcewopoulos
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der Erwerbs- und Einkommenschancen besonders relevant. Folgt man den empirischen Untersuchungen, die beispielsweise von Rudolf Andorka für Ungarn durchgeführt wurden,30 so zeigt sich zum einen, daß die angesprochenen makroökonomischen Entwicklungen - also das zwischen 1989 und 1993 in Ungarn um etwa 20% zurtickgegangene Bruttoinlandsprodukt, das gleichzeitig um 12% gesunkene reale Pro-Kopf-Einkommen, die jährliche Inflationsrate zwischen 21 und 35% und die Arbeitslosenquoten von etwa 12% in den Jahren 1992 und 1993 - dazu führten, daß der Anteil der am "durchschnittlichen Existenzminimum" bemessenen "armen" Bevölkerung von 10% in den achtziger Jahren auf 25% der Gesamtbevölkerung im Jahre 1993 anstieg. Vom Armutsrisiko besonders betroffen sind Beschäftigte in niedrig qualifizierten und schlecht bezahlten Tätigkeiten, Arbeitslose, Erwachsene ohne eigenes Einkommen (zumeist ältere Hausfrauen), junge Ehepaare mit Kindern sowie Angehörige ethnischer Minderheiten (insbesondere Zigeuner), während im Falle Ungarns Rentner erstaunlicherweise nur unterdurchschnittlich vom Armutsrisiko betroffen erscheinen? I Ein weitaus größerer Bevölkerungsteil als die unmittelbar durch Armut geflihrdeten Gruppen mußte in den zurtickliegenden Jahren zumindest eine Verschlechterung der Einkommenslage und einen Rückgang des Lebensstandards hinnehmen. Dies hängt mit den angesprochenen wirtschaftlichen Entwicklungen wie auch mit der ebenfalls schon angesprochenen stärkeren Ungleichverteilung der Einkommen, die zwischenzeitlich ein ähnliches Ausmaß wie in der Bundesrepublik Deutschland angenommen hat, zusammen. Die ausgeprägtere Differenzierung der Einkommen tritt natürlich auch darin in Erscheinung, daß sich im oberen Bereich der Einkommensschichtung ihrem quantitativen Umfang nach relativ kleine Gruppen von Einkommensbeziehern fmden, die Andorka als "Leitende in höheren Positionen" und "HochqualifIzierte" zusarnmenfaßt, deren Pro-Kopf-Haushaltseinkommen 1993 um 62 bzw. 40% über dem durchschnittlichen Pro-Kopf-Haushaltseinkommen lag und deren relative Einkommenssituation sich gegenüber den achtziger Jahren erheblich verbessert hat. 32 Aus "subjektiver" Perspektive, im Rahmen einer repräsentativen Umfrage, schätzten 1993
30Siehe: Andorka, Rudolf: Ungarn - der nächste Anlauf zur Modernisierung, in: Berliner Journal ftlr Soziologie, Band 4, Berlin 1994 (S. 501-512); Andorka, Rudolf: Hungarian Society: Heritage of the Past, Problems of the Transition and Possible Future Development up to 2005, in: Society and Economy in Central and Eastern Europe, Band 17, Nr. 1, 1995 (S. 9-73). 31Siehe: Andorka, Rudolf: Ungarn - der nächste Anlauf zur Modernisierung, in: Berliner Journal ftlr Soziologie, Band 4, Berlin 1994 (S. 501-512), insb. S. 504 f. 32Siehe: Andorka, Rudolf: Ungarn - der nächste Anlauf zur Modernisierung, in: Berliner Journal ftlr Soziologie, Band 4, Berlin 1994 (S. 501-512), insb. S. 508 f. Nach einer etwas anderen Aufschlüsselung lag im Jahre 1993 das Einkommen der "higher manager" bei 263% und das der "middle manager" bei 200% des durchschnittlichen Einkommens aller Beschäftigten, wobei die Spitzeneinkommen zwischen 1991 und 1993 eine deutlich steigende Tendenz gegenüber dem durchschnittlichen Einkommen aufwiesen. Siehe: Andorka, Rudolf: Hungarian Society: Heritage of the Past, Problems of the Transition and Possible Future Development up to 2005, in: Society and Economy in Central and Eastern Europe, Band 17, Nr. 1, 1995 (S. 9-73), insb. S. 64.
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lediglich 7% der Befragten in Ungarn, daß sich ihr Lebensniveau verbessert hat, 20% meinten, es sei gleich geblieben, während 73% eine Verschlechterung ihres Lebensstandards bekundeten. Selbst wenn sich diese im übrigen sehr pointiert herausgestellten Trends und Auswirkungen der makroökonomischen Entwicklungen auf die sozialen Gegebenheiten keineswegs generalisieren lassen und das näher betrachtete Fallbeispiel Ungarn - schon der vergleichsweise viel günstigeren Ausgangssituation wegen - wohl in manchem vom wirtschaftlichen und sozialen Geschehen in anderen osteuropäischen Staaten abweicht,33 sind doch gewisse Grundtendenzen durchaus ähnlich. Dies geben übrigens auch die in Meinungsumfragen erhobenen "subjektiven" Einschätzungen der sozialen Lebensverhältnisse und ihrer Veränderungstendenzen zu erkennen. Aus verschiedenen Umfragen in den zurückliegenden Jahren - auf die ich hier nicht im einzelnen Bezug nehmen kann - geht hervor, daß - bei allen gesellschaftsspezifischen Unterschieden - doch überall ein relativ großer Teil der Bevölkerung eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation wie auch der persönlichen finanziellen Lage bekundet und daß eine ambivalente Einschätzung der marktwirtschaftlichen Reformen wie auch des früheren sozialistischen Wirtschaftssystems weit verbreitet ist, daß aber doch auch vielfache Hoffuungen auf eine zukünftige Verbesserung der Lebenssituation bestehen. 34 Schaut man sich beispielsweise eine repräsentative Meinungsumfrage, die im Herbst 1995 in Rumänien durchgefiihrt wurde/ 5 näher an, so geht daraus hervor, daß 30% der Befragten bekunden, daß ihre Einkommen noch nicht einmal fiir das unbedingt Nötigste reichten, weitere 33% geben an, daß sie sich nur das Nötigste leisten können, weitere 27% meinen angemessen zu leben, ohne sich aber kostspielige Anschaffungen leisten zu können, 9% können dies unter Rückgriff auf Erspamisse und lediglich 1% der Befragten meinen, sich alles Wünschenswerte aus den laufenden Einkommen leisten zu können. Im Vergleich zum VOIjahr meinen 6% der Befragten, daß es ihnen erheblich schlechter ginge, 30%, daß es ihnen etwas schlechter ginge, J3 ln
vielen anderen osteuropäischen Staaten dürfte die Einkornmenspolarisierung und das Phänomen der "Neureichen" noch deutlicher als in Ungarn in Erscheinung treten, ebenso das Problem der Massenarmut. Siehe auch: Juchler, Jakob: üsteuropa im Umbruch. Politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen 1989-1993, Zürich 1994; Juchler, Jakob: Die wirtschaftliche Entwicklungsdynamik im "postsozialistischen" Transformationsprozeß - zum Wechselspiel von strukturell-allgemeinen und historisch-spezifischen Faktoren, in: Berliner Journal filr Soziologie, Band 4, Berlin 1994 (S. 485-500), insb. S. 495 fT. 34Siehe: Beyme, Klaus von: Systemwechsel in üsteuropa, Frankfurt a. M. 1994, insb. S. 209 f; Juchler, Jakob: Die wirtschaftliche Entwicklungsdynamik im "postsozialistischen" Transformationsprozeß - zum Wechselspiel von strukturell-allgemeinen und historisch-spezifischen Faktoren, in: Berliner Journal filr Soziologie, Band 4, Berlin 1994 (S. 485-500), insb. S. 497 f; Andorka, Rudolf: Ungarn - der nächste Anlauf zur Modernisierung, in: Berliner Journal filr Soziologie, Band 4, Berlin 1994 (S. 501-512), insb. S. 510. 35Siehe: Institutul de cercetare a calitatii vietii: Barometrul de opinie publica. Septembrie 1995, Bukarest 1995, insb. S. 9 fT.
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44%, daß die Situation etwa gleichgeblieben wäre, 18%, daß es ihnen besser, und 2%, daß es ihnen wesentlich besser gehe. Was die Hoffuungen fiir das nächste Jahr betrifft, glauben immerhin 31 %, daß es ihnen besser und 35%, daß es ihnen ähnlich gehen werde, während 22% eine leichte und 5% eine deutliche Verschlechterung ihrer Lage erwarten. Im Hinblick auf die allgemeine Zufriedenheit, meinen 4% der Befragten, daß sie sehr zufrieden, und 47%, daß sie ziemlich zufrieden sind. Wenig zufrieden sind hingegen 41 % und sehr unzufrieden 8% der Befragten. Nun können Indikatoren und Umfragedaten, wie sie hier sehr knapp und pointiert herangezogen worden sind, durchaus einige grobe Anhaltspunkte36 zur gegenwärtigen sozialen Situation und ihren Veränderungstendenzen wie auch zur subjektiven Perzeption der Lebensverhältnisse in Osteuropa vermitteln. Und doch bleibt dies, selbst wenn man nur eine allgemeine Beschreibung oder Momentaufnahme der Dinge anstrebt, in vielen Hinsichten unzulänglich. Schon die in verschiedenen Quellen recht deutlich voneinander abweichenden zentralen makroökonomischen Kennziffern fiir die einzelnen osteuropäischen Staaten verraten große Erfassungsunsicherheiten, ganz abgesehen davon, daß diese hochaggregierten Daten viele wichtige Gegebenheiten unberücksichtigt lassen. Sie erfassen weder die gerade in wirtschaftlichen Krisenzeiten sehr wichtige subsistenzwirtschaftliche Agrar- und Haushaltsproduktion, noch die aus der sozialistischen Zeit allseits bekannte, in institutionell konfusen Übergangszeiten besonders ausgeprägte "Schattenwirtschaft", noch den grenzüberschreitenden Kleinhandel, noch die grauen Märkte, noch eine Vielzahl von Transferleistungen aus dem Westen, wobei davon auszugehen ist, daß der gesamte informelle Wirtschaftssektor einen erheblichen, gruppenspezifisch natürlich unterschiedlich zum Tragen kommenden Einfluß auf die sozialen Lagen vieler Bevölkerungsgruppen ausübt. Auf Polen bezogen wird in diesem Sinne festgestellt: "Hier kommen der grenzüberschreitende Kleinhandel, die sozialpolitischen Effekte der sogenannten "grauen Sphäre", die massive - legale und illegale - Erwerbsemigration ins westliche Ausland zum Zuge, die eine bisher nur in Ansätzen vorhandene Arbeitsmarktpolitik in Polen ersetzt haben. Paradoxerweise sind es gerade jene Fähigkeiten und Fertigkeiten der polnischen Gesellschaft, die sich im realen Sozialismus bereits ausgezahlt haben, die auch jetzt wieder dafiir sorgen, daß die sozialen Folgen der wirtschaftlichen Transformation nicht so gravierend ausfallen, wie man hätte befilrchten können und wie dies von manchen Sozialwissenschaftlern und Sozialpolitikem behauptet wird.,,37
16Siehe auch: Juchler, Jakob: Die wirtschaftliche Entwicklungsdynamik im "postsozialistischen" Transformationsprozeß - zum Wechselspiel von strukturell-allgemeinen und historischspezifischen Faktoren, in: Berliner Journal fIlr Soziologie, Band 4, Berlin 1994 (S. 485-500), insb. S.491. 37Siehe: Wilkiewicz, Zbigniew: Arbeitslosigkeit und ihr Stellenwert in der polnischen Sozialpolitik, in: Osteuropa. Zeitschrift fIlr Gegenwartsfragen, 46. Jg., Stuttgart 1996 (S. 64-79), vgl. S. 79.
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Auch die "subjektiven" Daten werfen, von technischen Fragen der Erhebungsverfahren - von Fragen der Zuverlässigkeit, Repräsentativität, der Reliabilität, der Validität und der tatsächlichen internationalen Vergleichbarkeit der Befunde - einmal abgesehen, viele Nachfragen auf und sollten keineswegs überinterpretiert werden. Auf jeden Fall bleibt im Hinblick auf die subjektive Perzeption der gegenwärtigen Lebensverhältnisse und die entsprechenden Zufriedenheitsmaße zu berücksichtigen, daß sich die Aspirationen und Erwartungshorizonte mit dem Systemwechsel zunächst deutlich erhöht und erweitert haben, ohne daß sich - von den ökonomischen Realisierungsmöglichkeiten einmal abgesehen - die sozialen Wissensbestände und Wertvorstellungen in gleichem Maße verändert hätten. 38 Recht plakativ, aber sicherlich nicht ganz unzutreffend, werden die diesbezüglichen Widersprüche und Konfusionen in den sozialen Einstellungen durch folgende Feststellung auf den Begriff gebracht: "Man wünschte sozusagen kapitalistische EffIzienz und Wohlstand sowie sozialistische Sicherheit und Egalität gleichzeitig, was ambivalente Einstellungsmuster beinhaltete (und weiter beinhaltet). ,,39 Neben den angedeuteten Einschränkungen und Relativierungen, die bei den vorliegenden empirischen Beschreibungen der sozialen Gegebenheiten in Osteuropa zu beachten sind, erscheint noch ein anderer Gesichtspunkt wesentlich: Solche vorwiegend deskriptive Untersuchungen geben kaum hinreichend Aufschluß über die Grundmechanismen der Erzeugung und Reproduktion sozialer Ungleichheitsstrukturen. Aber erst Strukturanalysen, die über die wesentlichen Erzeugungs- und Reproduktionsmechanismen sozialer Ungleichheit und über die wichtigsten Vergesellschaftungsvorgänge aufklären, können die auf längere Sicht wirksamen strukturellen Spannungen, Spaltungen und Konfliktlinien und deren weitere Entwicklungstendenzen sichtbar machen. Im folgenden möchte ich daher versuchen, einige zentrale Erzeugungs- und Reproduktionsmechanismen sozialer Ungleichheit in den osteuropäischen Transformationsgesellschaften herauszuarbeiten.
38Insofern erscheint auch erklärlich, daß Zufriedenheitsgrade und Zukunftserwartungen im internationalen Vergleich nicht sehr konsistent mit den realen ökonomischen Gegebenheiten zusammenhängen. Siehe: Beyme, Klaus von: Systemwechsel in Osteuropa, Frankfurt a. M. 1994, insb. S. 209 f; Juchler, Jakob: Die wirtschaftliche Entwicklungsdynamik im "postsozialistischen" Transformationsprozeß - zum Wechselspiel von strukturell-allgemeinen und historisch-spezifischen Faktoren, in: Berliner Journal ftlr Soziologie, Band 4, Berlin 1994 (S. 485-500), insb. S. 497 f; Andorka, Rudolf: Ungam - der nächste Anlauf zur Modernisierung, in: Berliner Journal ftlr Soziologie, Band 4, Berlin 1994 (S. 501-512), insb. S. 510. 39Siehe: Juchler, Jakob: Die wirtschaftliche Entwicklungsdynamik im "postsozialistischen" Transformationsprozeß - zum Wechselspiel von strukturell-allgemeinen und historisch-spezifischen Faktoren, in: Berliner Journal ftlr Soziologie, Band 4, Berlin 1994 (S. 485-500), vgl. S. 489.
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IV. Zentrale Strukturprinzipien osteuropäischer Gesellschaften Um die heute relevanten ungleichheitserzeugenden und strukturbildenden Prozesse zu verstehen, erscheint es notwendig, zunächst auf die strukturprägenden Mechanismen in der sozialistischen und auch in der vorsozialistischen Zeit zu schauen, zumal diese Strukturprinzipien - mindestens teilweise - weiterhin wirksam sind und sicherlich immer noch weitreichende Auswirkungen auf die Sozialstrukturen osteuropäischer Gesellschaften entfalten. Zunächst kann man in einer langfristigen Betrachtungsperspektive konstatieren, daß in keiner osteuropäischen Gesellschaft - bei allen überaus wichtigen Unterschieden, die ansonsten zu berücksichtigen sind - je das Prinzip der "Klassenbil-dung" strukturdominant geworden wäre,40 wenngleich es Ansätze zur Klassenbildung gab und heute erneut gibt. Zumindest wenn man von Max Webers Auffassung ausgeht: "Immer aber ist fiir den Klassenbegriff gemeinsam: daß die Art der Chance auf dem Markt diejenige Instanz ist, welche die gemeinsame Bedingung des Schicksals der Einzelnen darstellt." - und er fugt dem hinzu: "Klassenlage" ist in diesem Sinn letztlich: "Marktlage". ,,41 - wenn man also berücksichtigt, daß erst "die Chancen der Marktverwertung von Gütern oder Leistungen die Klassenlage primär bestimmen" und damit verschiedene "Erwerbsklassen" hervorbringen,42 so lassen sich viele empirische Belege zusammentragen, die eindeutig dafiir sprechen, daß weder in den vorsozialistischen Perioden, noch im Sozialismus die "Klassenla-ge" als "Marktlage" in den osteuropäischen Gesellschaften im Vordergrund stand. 43 Waren Marktbeziehungen und Klassenbildung in der vorsozialistischen Zeit durch die zumeist noch weitgehend agrargesellschaftlich-subsistenzwirtschaftlich geprägten Strukturen und einen besonders in der Zwischenkriegszeit unübersehbaren Etatismus der meisten
4°Lepsius weist darauf hin, daß die Sozialstrukturen entwickelter Gesellschaften stets von verschiedenen, teilweise gegensätzlichen Strukturprinzipien geprägt sind, so daß näher zu erforschen ist, welches "Mischverhältnis" zwischen den einzelnen relevanten Strukturprinzipien besteht und welches Prinzip filr eine bestimmte Zeit "strukturdominant" und "entwicklungsleitend" ist. Siehe: Lepsius, M. Rainer: Soziale Ungleichheit und Klassenstrukturen in der Bundesrepublik Deutschland, in: Lepsius, M. Rainer: Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990 (S. 117-152), insb. S.118. 4lSiehe: Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Ttibinf:en 1976 (5. Aufl.), vgl. S. 532. 2Siehe: Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Ttibinf:en 1976 (5. Aufl.), vgl. S. 532 und S. 177. 3Siehe: Sterbling, Anton: Statussegregation als Strukturmerkmal osteuropäischer Gesellschaften. Shmuel N. Eisenstadts Bedeutung filr die soziologische Osteuropaforschung, in: Plake, Klaus;Schulz, Wolfgang K. (Hrsg.): Entillusionierung als Programm. Beiträge zur Soziologie von Shmuel N. Eisenstadt, Weinheim 1993 (S. 149-175); Sterbling, Anton: Die Grenzen klassentheoretischer Analysekategorien in der Strukturanalyse südosteuropäischer Gesellschaften, in: Sterbling, Anton: Kontinuitäten und Wandel in Rumänien und Südosteuropa, München 1997 (in Vorbereitung).
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osteuropäischen Staaten stark eingeschränkt,44 so kamen Marktbeziehungen während der kommunistischen Herrschaft - einem Zeitraum, in den im übrigen die wichtigste Phase der Industrialisierung der meisten osteuropäischen Gesellschaften fallt45 - noch weniger zur Entfaltung. Wenn nicht Klassenbildung, welche Strukturprinzipien lagen dann der sozialen Differenzierung und den maßgeblichen Vergesellschaftungsprozessen zu Grunde? Meines Erachtens - und diesen Standpunkt habe ich an anderen Stellen eingehend dargelegt46 - sind es vor allem drei ungleichheitserzeugende Mechanismen, die in den sozialistischen Staaten Osteuropas strukturbestimmend waren: erstens politische Ausschließung, zweitens meritokratisch-funktionale Differenzierung und drittens traditionale Schließung. Ich möchte nun kurz erläutern, wie diese Strukturprinzipien zur Geltung kamen, welche Spannungs- und Verschränkungsverhältnisse zwischen ihnen bestand - und natürlich auch, wie weit und mit welchen ModifIkationen diese Prinzipien gegenwärtig immer noch in der Erzeugung und Reproduktion sozialer Ungleichheit in den osteuropäischen Gesellschaften wirksam sind. Unter sozialer und politischer "Ausschließung" versteht man in der Regel herrschaftsbegründete Strukturmechanismen, durch die - wie Frank Parkin im Anschluß an Max Weber feststellte - "soziale Gemeinschaften Vorteile zu maximieren versuchen, indem sie den Zugang zu Privilegien und Erfolgschancen auf einen begrenzten Kreis von Auserwählten einschränken".47 Die politische Ausschließung während der kommunistischen Alleinherrschaft in Osteuropa beruhte auf ideologischer Konformität und - wohl mehr noch - auf persönlicher Loyalität. Persönliche Abhängigkeits-, Loyalitäts- und Protektionsbeziehungen48 - zu einem komplizierten Netz klientelistischer Beziehungen verwoben - bildeten die wichtigste Grundlage des abgestuften Zugangs zu Positionen und Privilegien, und damit eine wirksame und folgenreiche Basis politischer Ausschließung.
44Siehe: Seton-Watson, Hugh: Osteuropa zwischen den Kriegen 1918-1941, Paderbom 1948. 45 Außer der Tschechoslowakei und einigen Landesteilen Ungarns und Polens und der Sowjetunion waren die osteuropäischen Staaten in der Zwischenkriegszeit noch kaum industrialisiert, was sich nicht zuletzt an der Industrieproduktion und an der sektoralen Verteilung der Erwerbsbevölkerung ablesen läßt. Siehe: Seton-Watson, Hugh: Osteuropa zwischen den Kriegen 1918-1941, Paderbom 1948; Hartmann, JUrgen: Politik und Gesellschaft in Oste uropa. Eine Einfilhrung, Frankfurt a. M.New York 1983, insb. S. 46. 46Siehe: Sterbling, Anton: Strukturprobleme und Modemisierungsaussichten südosteuropäischer Gesellschaften, in: Berliner Journal rur Soziologie, Band 1, Berlin 1991 (S. 99-111); Sterbling, Anton: Strukturfragen und Modemisierungsprob1eme südosteuropäischer Gesellschaften, Hamburg 1993, insb. S. 95 f1 47Siehe: Parkin, Frank: Marxism and Class Theory: A Bourgeois Critique, London 1979; Parkin, Frank: Strategien sozialer Schließung und Klassenbildung, in: Krecke!, Reinhard (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten, Soziale Welt, Sonderband 2, Göttingen 1983 (S. 121-\35), vgl. S. 123. 48Siehe dazu auch: Roth, Günther: Politische Herrschaft und persönliche Freiheit, Heidelberger Max Weber-Vorlesungen 1983, Frankfurt a. M. 1987.
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Nun ist nach dem Niedergang der kommunistischen Herrschaft das Kriterium der ideologischen Konformität irrelevant geworden - zumindest so weit nicht der Nationalismus als neue "exklusive" Ideologie den Platz der alten kommunistischen oder nationalkommunistischen Ideologien eingenommen hat. Das heißt aber keineswegs, daß die alten, auf persönlicher Abhängigkeit, Loyalität und Protektion beruhenden Netzwerke, daß die "alten Seilschaften", ihre Relevanz völlig eingebüßt hätten. Ganz im Gegenteil: die strategische Bedeutung solcher in Machtauseinandersetzungen oder spezifischen Konkurrenzsituationen aktivierbarer informeller Beziehungsnetze spielen bei der vielfach fortbestehenden Kontrolle bestimmter staatlicher Institutionen und Verbände durch ehemalige Funktionäre, bei den in vielen Fällen mehr als dubios verlaufenen Privatisierungsprozessen staatlicher Betriebe, aber auch bei den zunächst er~taunlich erscheinenden Wahlerfolgen der kommunistischen Nachfolgeparteien eine nicht unwesentliche Rolle. 49 Dies hängt auch - wie noch zu zeigen sein wird - mit den spezifischen Verschränkungsbeziehungen zwischen politischer Ausschließung und den beiden anderen Strukturprinzipien zusammen. Das zweite Strukturprinzip, das in den osteuropäischen Gesellschaften mindestens partiell zur Geltung kam, ist die meritokratisch-funktionale Differenzierung - also jene Form der vertikaler Differenzierung,50 die am individuellen Leistungsvermögen und gleichsam an den funktionalen Erfordernissen modemen Gesellschaften orientiert ist. Dieses Strukturprinzip gewann vor allem mit dem fortschreitenden Industrialisierungsprozeß, mit der insbesondere in den sechziger Jahren zügig voranschreitenden Bildungsexpansion, mit dem zunehmenden fachlichen Qualifikationsbedarf der ihre Modernisierung anstrebenden sozialistischen Gesellschaften und mit der Ausdehnung der Staatsbürokratien an struktureller Bedeutung. Darin ist gewissermaßen die "modeme" Seite, das modeme Strukturelement osteuropäischer Gesellschaften zu sehen. Soweit sich dieses Prinzip entfalten konnte und im Zusammenhang mit der sektoralen Transformation und der Bildungsexpansion soziale Aufstiegsmöglichkeiten fiir größere Bevölkerungsgruppen schaffte, trug es sicherlich zur zeitweiligen Stabilisierung und partiellen Legitimation des sozialistischen Systems bei. Allerdings kam das Prinzip der meritokratisch-funktionalen Differenzierung nur begrenzt zur Entfaltung, zumal es mit dem Strukturprinzip der politischen Ausschließung durchgängig in einem komplizierten Spannungs- und Verschränkungsverhältnis stand. Einerseits konnten sich funktionale Autonomie und teilsystemspezifische Rationalitätskriterien wegen der ständig gegebenen, mehr oder weniger intensiven ideologischen Bevormundung und politischen Kontrolle nur sehr bedingt zur Gel-
49Siehe: Beyme, Klaus von: Systemwechsel in Osteuropa, Frankfurt a. M. 1994. 50Siehe auch: Haller, Max: Sozialstruktur und Schichtungshierarchie im Wohlfahrtsstaat. Zur Aktualität des vertikalen Paradigmas der Ungleichheitsforschung, in: Zeitschrift rur Soziologie, 15. Jg., Stuttgart 1986 (S. 167-187).
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tung bringen51 - was ein pennanentes Spannungsverhältnis zwischen den entsprechenden Strukturprinzipien und ihren Trägergruppen begründete. Andererseits bestand zwischen politischer Ausschließung und meritokratisch-funktionaler Differenzierung aber auch ein sehr enges Verschränkungsverhältnis. Der Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen wie auch die Zugangs- und Aufstiegschancen im weitgehend politisch kontrollierten staatlichen Beschäftigungssystem - und nicht zuletzt die Teilhabe an Privilegien - waren keineswegs nur leistungsabhängig. Diese Chancen hingen oft überwiegend von ideologischer Konfonnität, politischem Opportunismus und persönlichen Loyalitäts- und Protektionsbeziehungen ab. Wurde das "meritokratische" Prinzip damit deutlich eingeschränkt oder umdefmiert, so kann auf der anderen Seite festgestellt werden, daß sich das kommunistische Führungspersonal auf allen hierarchischen Ebenen zunehmend aus dem Kreis bildungsprivilegierter Gruppen rekrutierte, bzw. daß sich die kommunistischen Eliten - insbesondere in der Generationenfolge - auf Bildungswegen reproduzierten. Dies trug bestimmte Konflikte, insbesondere zwischen Machteliten und Technokraten, zunehmend in die kommunistischen Parteiorganisationen und letztlich auch in die Führungsspitzen hinein. 52 Diese komplizierten Spannungs- und Verschränkungsbeziehungen zwischen politischer Ausschließung und meritokratischfunktionaler Differenzierung haben nicht nur die Eigenart des politischen Regimewechsels in Osteuropa wesentlich mitbestimmt,53 sie haben auch bis in die Gegenwart hinein wichtige politische und sozialstrukturelle Auswirkungen, von denen ich nur drei kurz erwähnen möchte. Zunächst ist auf das stets latent gegebene, zeit- und gesellschaftsspezifisch natürlich unterschiedlich gelagerte Spannungsverhältnis zwischen Gruppen, die vorwiegend von der politischen Ausschließung, und Gruppen, die vorwiegend von der meritokratisch-funktionalen Differenzierung profitierten, zurückzuführen, daß sich heute viele als entschiedene Gegner des kommunistischen Systems verstehen oder stilisieren, die noch vor geraumer Zeit wie karrierebewußte Opportunisten wirkten. 54 51Siehe: Sterbling, Anton: Eliten im Modemisierungsprozeß, in: Mittelstraß, Jürgen (Hrsg.): Wohin geht die Sprache? Wirklichkeit - Kommunikation - Kompetenz. Essen 1989 (S. 206-219), insb. S. 112 ff. 52Siehe: Konräd, György; Szelenyi, Ivan: Die Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht, Frankfurt a. M. 1978. 53Siehe dazu näher: Sterbling, Anton: Eigeninteressen oder Verantwortung der Intelligenz? Zum Niedergang der kommunistischen Herrschaft in Südosteuropa, in: Sterbling, Anton (Hrsg): Zeitgeist und Widerspruch: Soziologische Reflexionen über Gesinnung und Verantwortung, Hamburg 1993 (S. 231-250). 5~atürlich waren Positions inhaber in den einzelnen gesellschaftlichen Teilsystemen (etwa der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Kunst) vielfach bestrebt, ihre Handlungsautonomie gegenüber politischen Kontrollmaßnahmen und Eingriffen zu erweitern, ohne daß darin allerdings schon ein grundsätzlicher Dissens zum kommunistischen Herrschaftssystem zum Ausdruck gekommen wäre. Siehe auch: Sterbling, Anton: Von den Schwierigkeiten des Denkens ohne Verbot. Die Rolle des Intellektuellen, der intellektuelle Aufbruch und die nahezu unvenneidbaren Konfusionen in Osteu-
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Sodann ist durch die enge Verschränkung zwischen politischer Ausschließung und meritokratisch-funktionaler Differenzierung zu erklären, daß nach dem Niedergang der kommunistischen Alleinherrschaft alternative Elitenpotentiale weitgehend fehlten, so daß die nicht selten mit moralischer Empörung konstatierte "Kontinuität" der Eliten, im Hinblick auf deren Herkunft oder vormalige Karriere, strukturell eigentlich erwartbar und naheliegend erscheint. ss Schließlich muß man sehen, daß die durch die partielle Wirksamkeit des meritokratisch-funktionalen Differenzierungsprinzips vormals privilegierten sozialen Gruppen, das heißt vor allem beachtliche Teile der Intelligenz und der Intellektuellen, nicht nur dem kommunistischen System nahestanden, sondern auch von dessen Verteilungsregelungen profitierten. Mit ihren Eigeninteressen waren viele bildungsprivilegierte Gruppen durchaus an die staatlich garantierten, von persönlichen Leistungen weitgehend unabhängigen Beschäftigungsmöglichkeiten und Alimentationschancen und damit an das sozialistische Umverteilungs- oder Redistributionssystem gebunden,s6 das sie erst dann grundsätzlich in Frage zu stellen begannen, als dessen Leistungseftizienz offenkundig immer geringer und die Zahl der Prätendenten und das Niveau der Prätentionen immer höher wurde. Vor diesem Interessenhintergrund muß man indes auch die Ambivalenzen und Zögerlichkeiten wichtiger Teilen der Intelligenz gegenüber den angestrebten Entstaatlichungsprozessen und marktwirtschaftlichen Transformationen sehen. Daraufwerde ich noch zurückkommen. Das dritte in den osteuropäischen Gesellschaften vorherrschende Strukturprinzip ist das der soziokulturellen Schließung auf der Grundla~e traditionaler, ethnischer oder religiöser Wertvorstellungen oder Sozialmerkmale. 7 Natürlich war die kommunistische Politik und die in ihrem Sinne betriebene soziale und politische Mobilisierung auf die Zerstörung traditionaler Sozialstrukturen und auf eine ideologische Homogenisierung der Wertvorstellungen angelegt. Desgleichen wirkten sich die meritokratisch-funktionale Differenzierung und insbesondere die Bildungsmobilisierung und ihre Folgen tendenziell auflösend auf die traditionalen Vergesellschaftungsformen aus. Die politische Ausschließung auf der Grundlage ideologischer Konropa, in: Neue Literatur. Zeitschrift rur Querverbindungen, Heft 4 (Neue Folge), Bukarest 1993 (S. 55-71). 55Da der Aufstieg in Elitepositionen heute nahezu überall - auch und insbesondere in den osteuropäischen Staaten - an höhere Schulbildung und akademische Titel gebunden ist, wirkt sich der vormals politisch regulierte Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen auch heute noch in gewisser Weise selektiv und diskriminierend auf die Prozesse der Elitenbildung aus. 56Siehe: Konräd, György; Szeh!nyi, Ivan: Die Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht, Frankfurt a. M. 1978. 57Siehe auch: Sterbling, Anton: Statussegregation als Strukturmerkmal osteuropäischer Gesellschaften. Shmuel N. Eisenstadts Bedeutung rur die soziologische Osteuropaforschung. In: Plake, Klaus;Schulz, Wolfgang K. (Hrsg.): Entillusionierung als Programm. Beiträge zur Soziologie von Shmuel N. Eisenstadt, Weinheim 1993 (S. 149-175); Sterbling, Anton: Traditional-Iändliche Strukturelemente südosteuropäischer Gesellschaften, in: Sterbling, Anton: Kontinuitäten und Wandel in Rumänien und Südosteuropa, München 1997 (in Vorbereitung).
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fonnität, die sich gegen traditionale oder religiöse Wertvorstellungen wendete, und die massiven Diskriminierungen, die nicht selten an askriptive Merkmale der sozialen oder ethnischen Herkunft anknüpften, fiihrten aber zugleich - gewissennaßen als "Reaktion" der Betroffenen auf die erfahrene Ausschließung - zu einer gewissen Stabilisierung oder Konservierung traditionaler sozialmoralischer Wertvorstellungen und Vergesellschaftungsfonnen.58 Wenn von einer "zweiten Gesellschaft" oder einer "nonnativen Doppelstruktur" der sozialistischen Gesellschaften gesprochen wurde,59 so war damit nicht zuletzt die strukturelle Wirkung zweier weitgehend gegensätzlicher Schließungs- und Integrationsmechanismen in diesen Gesellschaften gemeint. Die realen Verhältnisse waren aber auch diesbezüglich etwas komplizierter, als es auf den ersten Blick erscheint. Zwischen politischer Ausschließung und traditionaler Schließung gab es nicht nur ein grundsätzliches Spannungsverhältnis, sondern auch gewisse Verbindungen. Nicht selten knüpften die persönlichen Abhängigkeits-, Loyalitäts- und Protektionsbeziehungen in den kommunistischen Parteien und staatlichen Institutionen an "traditionale" oder sogar "archaische" Sozialbeziehungen, etwa der gemeinsamen landsmannschaftlichen Herkunft oder der Verwandtschaft, an. Dies ist durchaus verständlich, denn wenn Prozesse der Machtakkumulation sowie Chancen und Risiken des politischen Auf- und Abstiegs von der Zuverlässigkeit der persönlichen Beziehungen abhängen, dann ist eine Absicherung der Loyalität in traditionalen Sozialbeziehungen und wechselseitigen Unterstützungsverpflichtungen (in einer ansonsten weitgehend mißtrauischen sozialen Umgebung) sicherlich vorteilhaft. Diese punktuellen Verbindungen von politischen und traditionalen Schließungsmustern haben mit der Zeit eine komplexe Struktur neopatrirnonialistischer, klientelistischer Abhängigkeitsbeziehungen herbeigefiihrt, die teilweise bis heute - so zu sagen von unnötigem ideologischem Ballast und entsprechendem Dissens befreit - fortbestehen. Besonders gut ist die Persistenz solcher Strukturen in vielen ländlichen Gebieten zu beobachten. Daß dort ehemalige kommunistische Parteifunktionäre oder Leiter von landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften ;8 Vor
allem bei den durch das kommunistische System diskriminierten ethnischen oder religiösen Minderheiten bildete die soziale Schließung eine häufige, psychologisch gut verstehbare Reaktion. Dies läßt sich recht gut am Beispiel diskriminierter ethnischer Minderheiten in Rumänien aufzeigen. Siehe: Sterbling, Anton: On the Development of Ethnic Relations and Conflicts in Romania, in: Giordano, ChristianlGreverus, Ina-Maria (Hrsg.): Ethnicity - Nationalism - Geopolitics in the Balkans (11). Sonderband des Anthropological Journal on the European Cultures, Band 4, Heft 2, Fribourg-Frankfurt a. M. 1995 (S. 37-52). 59Siehe: Hankiss, Elemer: The "Second Society": Is There and Alternative Social Model Emerging in Contemporary Hungary?, in: Social Research. An International Quarterly ofthe Social Sciences, 55 . Jg., New York 1988 (S. 13-42); Hondrich, KarlOtto: Systemveränderung sozialistischer Gesellschaften - eine Herausforderung filr die soziologische Theorie, in: Zapf, Wolfgang (Hrsg.): Die Modernisierung moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 25. Deutschen Soziologentages in Frankfurt am Main 1990, Frankfurt a. M.-New York 1991 (S. 553-557); Sztompka, Piotr: Vertrauen: Die fehlende Ressource in der postkommunistischen Gesellschaft, in: Nedelmann, Birgitta (Hrsg.): Politische Institutionen im Wandel. Sonderheft 35 der Kölner Zeitschrift filr Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1995 (S. 254-276).
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vielfach weiterhin in Führungspositionen sind, hängt weniger - wie manche meinen mit der positiven Bewertung oder Verklärung der kommunistischen Vergangenheit als vielmehr mit dem Fortbestand solcher klientelistischer Abhängigkeitsbeziehungen zusammen. Dieses Phänomen kann im nachhinein ebensogut als kommunistische Durchdringung der traditionalen Strukturen wie als traditionale Unterwanderung des kommunistischen Herrschaftsgefiiges interpretiert werden. Es stellt jedenfalls einen wichtigen Aspekt der "nichtrnodemen" Seite der sozialistischen Gesellschaften dar. 60 Dessen ungeachtet, bildeten politische Ausschließung und traditionale Schließung aber sicherlich weitgehend gegensätzliche Strukturprinzipien. Daher wurde die "traditionale" Erneuerung nach dem Niedergang der kommunistischen Herrschaft, vor allem von einigen osteuropäischen Politikern und Intellektuellen, auch als Alternative - oder zumindest als Ergänzung - zur "Verwestlichung" ihrer Gesellschaften gesehen. In der gegenwärtigen Übergangssituation, die durch tiefgreifende Orientierungsprobleme und große materielle Unsicherheiten gekennzeichnet ist, kommen den "traditionalen" Handlungsressourcen zweifellos eine beachtliche Bedeutung zu. Dennoch sind große Zweifel angebracht, ob die traditionale Erneuerung ein realistischer Ausweg aus der postkommunistischen Krise wäre. Denn nicht nur die vielfaltigen "traditionalen" Solidaritätsbeziehungen, die sich als Überlebensstrategien schon im Sozialismus bewährt haben, oder die erneute Hinwendung zur Religion und zur verschütteten nationalen "Geschichte" sind Ausdruck der Retraditionalisierungstendenzen in den osteuropäischen Gesellschaften. Die um sich greifenden interethnischen Konflikte und das Wiederaufleben nationalistischer Ideologien sind dies gleichermaßen.61 V. Abschließende Betrachtungen
Versucht man zum Abschluß die bisherigen Ausfilhrungen mit einem Blick auf die gegenwärtige Situation abzurunden, so ist festzustellen, daß neben den bereits angesprochenen Strukturprinzipien der politischen Ausschließung, der meritokratisch-funktionalen Differenzierung und der traditionalen Schließung, auf deren modifIziert fortbestehenden strukturellen Einfluß hingewiesen wurde, noch ein weiteres Strukturprinzip deutlicher in Erscheinung tritt: das prinzip der Klassenbildung. Natürlich sind die Tendenzen der Klassenbildung, die sich mit der allmählichen Entfal60Siehe auch: Messelken, Karlheinz: Archaik und Modeme im Kommunismus und im Postkommunismus. Zur Realdialektik von revolutionären Transformationen, in: Balla, BälintlSterbling, Anton (Hrsg.): Zusammenbruch des Sowjetsystems - Herausforderung rur die Soziologie, Hamburg 1996 (S. 19-50); Balla, Bälint: Kommunismus und Postkommunismus handlungstheoretisch, in: Balla, BälintlSterbling, Anton (Hrsg.): Zusammenbruch des Sowjetsystems - Herausforderung filr die Soziologie, Hamburg 1996 (S. 81-100). 6lSiehe: Sterbling, Anton: Überlegungen zum "Wiedererwachen der Geschichte", in: Südosteuropa. Zeitschrift rur Gegenwartsforschung, 42. Jg., München 1993 (S. 219-243).
Der soziale Umbau in den osteuropäischen Transformationsländern
157
tung rnarktwirtschaftlich-kapitalistischer Verhältnisse ergeben, nicht unabhängig vorn nachhaltigen Einfluß und der fortbestehenden Relevanz der anderen Strukturprinzipien. Vielmehr sind es gerade die äußerst komplizierten Spannungs- und Verschränkungsverhältnisse zwischen den unterschiedlichen Strukturprinzipien, die die gegenwärtige sozialstrukturelle Situation kennzeichnen. Wenn eingangs festgestellt wurde, daß die soziale Lage in den meisten osteuropäischen Gesellschaften im Hinblick auf die weiteren Entwicklungen und nicht zuletzt hinsichtlich der zukünftigen strukturellen Spannungen und Konflikte "ambivalent" erscheint, so hängt dies aufs engste mit der vielfach noch weitgehend offenen Frage zusammen, welche der angesprochenen ungleichheitserzeugenden Mechanismen und Vergesellschaftungsformen in den einzelnen osteuropäischen Gesellschaften auf Dauer strukturbestimmend werden. Setzen sich erneut bestimmte Formen der sozialen und politischen Schließung als dominante Elemente der Sozialstruktur und politischen Ordnung durch? Oder gewinnt die meritokratischfunktionale Differenzierung im Zusammenhang mit spezifischen Formen der Klassenbildung größere Bedeutung? In den verschiedenen osteuropäischen Gesellschaften könnten die weiteren Entwicklungen sowohl in die eine wie in die andere dieser nur ganz grob angedeuteten Richtungen verlaufen. Vieles hängt dabei von jenen größtenteils aus dem alten System hervorgegangenen politisch privilegierten und bildungsprivilegierten Gruppen ab, die nach wie vor die politischen Geschicke ihrer Länder in den Händen haben und zugleich als Schlüsselakteure der in Gang befmdlichen oder noch anstehenden institutionellen Wandlungsprozesse fungieren. Es kommt - insbesondere was den Prozeß des Institutionenwandels betriffi62 - auf die Handlungskompetenz und das Durchsetzungsvermögen dieser Gruppen an; mehr noch aber darauf, in welche Richtung ihre Eigeninteressen letztlich tendieren. Ganz zugespitzt formuliert, lautet die entscheidende Frage: werden sich jene Eliten und Teile der Intelligenz durchsetzen, denen es vornehmlich um eine erneute etatistische Absicherung ihrer Alimentationschancen geht, oder jene, die sich durch Privatisierung und marktwirtschaftliche Reformen neue Appropriations- und Erwerbschancen sichern bzw. auf Dauer bestätigen lassen wollen? Oder: welche Kompromisse, welche Zwischenlösungen werden diese verschieden gelagerte Eigeninteressen verfolgenden und damit auch unterschiedliche Optionen favorisierenden einflußreichen Gruppen fmden?63
62Siehe: Nedelmann, Birgitta: Zusammenbruch des Sowjetsystems - Herausforderung fIlr die soziologische Institutionenanalyse, in: Balla, BälintJSterbling, Anton: Zusammenbruch des Sowjetsystems - Herausforderung fIlr die Soziologie, Hamburg 1996 (S. 115-138); Sterbling, Anton: Historische Modemisierungstheorien und die gegenwärtigen Probleme des Institutionenwandels in Ost- und Südosteuropa, in: Müller, Klaus/Schmidt, Rudi (Hrsg.): Auswege aus der postkommunistischen Krise, Opladen 1997 (in Vorbereitung). 63Inwiefem diese Auseinandersetzungen den weiteren Modemisierungsprozeß blockieren, wäre eine weitere wichtige Frage.
158
Anton Sterbling
In vielen osteuropäischen Gesellschaften ist der Ausgang dieser "Institutionenkämpfe" ,64 die vornehmlich zwischen verschiedenen Gruppen der Intelligenz ausgetragen werden - und in denen die Lage und die Interessen des "Volkes" allenfalls als rhetorisches Beiwerk dienen -, noch weitgehend offen. Insofern sind auch die Weichen noch nicht endgültig gestellt, die den weiteren gesellschaftlichen Entwicklungen und sozialen Konflikten die wahrscheinlichen Bahnen vorzeichnen. So oder so, werden die gegenwärtigen und zukünftigen Veränderungen in Osteuropa aber sicherlich weittragende Auswirkungen auf das gesamte Europa und mithin auf den Wirtschaftsstandort Deutschland haben.
64Siehe: Lepsius, M. Rainer: Institutionenanalyse und Institutionenpolitik, in: Nedelmann, Birgitta (Hrsg.): Politische Institutionen im Wandel, Sonderheft 35 der Kölner Zeitschrift rur Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1995 (S. 392-403).
Eckhardt Wohlers ÖKONOMISCHE AUSWIRKUNGEN DER TRANSFORMATIONSPROZESSE IN MITTEL- UND OSTEUROPA AUF DIE BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND Die wirtschaftlichen und politischen Umwälzungen in Mittel- und Osteuropa, die in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre einsetzten, der Zerfall des RGW Anfang der neunziger Jahre und die Integration der ehemaligen Planwirtschaften in das marktwirtschaftlich geprägte System der internationalen Arbeitsteilung bedeuten auch fiir Deutschland eine große Herausforderung. Diese Umwälzungen vollziehen sich unmittelbar vor der deutschen "Haustür"; durch die Wiedervereinigung wurde die Bundesrepublik zudem vom ,,zaungast" zum Beteiligten dieses Prozesses. Die ökonomischen Auswirkungen der Transformationsprozesse in den ehemaligen Staatshandelsländern auf die Bundesrepublik Deutschland sind Gegenstand der folgenden Ausfiihrungen. Die Integration der mittel- und osteuropäischen Volkswirtschaften in die internationale Arbeitsteilung vollzieht sich auf zwei Wegen, über den Güter- und Leistungsaustausch mit diesen Ländern sowie über den Austausch von Produktionsfaktoren, insbesondere von Kapital und Arbeit, aber auch von Technologie. An beidem ist die Bundesrepublik maßgeblich beteiligt. Die Öffnung der ehemaligen RGW-Länder und der enorme Bedarf dieser Länder an westlichen Kapitalgütern zur Modernisierung ihrer Volkswirtschaften hat der deutschen Wirtschaft einerseits neue Exportchancen eröffnet, die angesichts der Größe der Märkte in Mittel- und Osteuropa und des dort schlummernden Expansionspotentials beträchtlich sind. I Andererseits hat die wachsende Integration der Reformländer in die internationale Arbeitsteilung fiir die Bundesrepublik, wie auch fiir andere westliche Länder, zusätzliche Belastungen durch steigende bnportkonkurrenz und eine Verschärfung des strukturellen Wandels gebracht, insbesondere filr den Arbeitsmarkt. Zudem werden diese Länder mehr und mehr auch zu Konkurrenten im internationalen Standortwettbewerb um mobiles Kapital. Die Belastungen, die sich aus alledem filr die Bundesrepublik ergeben, sind um so gravierender, je geringer die Anpassungsfiihigkeit und Flexibilität auf den betroffenen Märkten ist. 'Ygl. dazu auch Lösch, Dieter; Wohlers, Eckhardt (1994): Auswirkungen der Transformationsprozesse in Mittel- und Osteuropa auf die deutsche Wirtschaft. In: Wachstumsperspektiven in den neunziger Jahren, Beihefte der Konjunkturpolitik H. 42/1994, S. 147 ff.
160
Eckhardt Wühlers
Am weitesten fortgeschritten ist die Integration der ehemaligen Staatshandelsländer in den internationalen Waren- und Leistungsverkehr. Die Mobilität der Produktionsfaktoren ist derzeit noch beschränkt. Beim Faktor Arbeit bestehen von seiten der Europäischen Union (EU) erhebliche Schranken, so daß der in Deutschland gefiirchteten Zuwanderung von billigen Arbeitskräften aus dem Osten schon von daher Grenzen gesetzt sind. Legal einwandern können lediglich die deutschstämmigen Aussiedler; ihre Zahl hat sich in den letzten Jahren merklich verringert und bei rund 200.000 eingependelt. Beim Faktor Kapital gibt es zwar von westlicher Seite im Prinzip keine Begrenzung. Dafiir beschränken aber politische Risiken, institutionelle Hemmnisse und Mängel im Transformationsprozeß auf seiten der Reformländer in Mittel und Osteuropa den Kapitalfluß mehr oder minder stark. Überdies herrscht in diesen Ländern vielfach erhebliche Angst vor "Überfremdung", und insbesondere in den Volkswirtschaften, die schon fiir RGW-Verhältnisse als relativ hoch entwickelt galten, gibt es erhebliche Befiirchtungen, zu bloßen "verlängerten Werkbanken" zu werden und so eigene Forschungsfähigkeit zu verlieren und in neue Abhängigkeit zu geraten. Dennoch haben in den letzten Jahren verstärkt westliche Kapitalanieger in diesen Ländern investiert, nicht zuletzt aus der Bundesrepublik. So sind die deutschen Direktinvestitionen in den mittel- und osteuropäischen Ländern in den neunziger Jahren spürbar gestiegen; gleichwohl ist ihr Umfang, gemessen an den gesamten deutschen Direktinvestitionen im Ausland, immer noch vergleichsweise gering. J. Güteraustausch der Bundesrepublik Deutschland mit den Ländern Mittel- und Osteuropas in der ersten Hälfte der neunziger Jahre Bei der Analyse der Entwicklung des Handels mit Mittel- und Osteuropa ist es schon wegen der unterschiedlichen Ausgangssituation sinnvoll, zumindest fiir die ersten Jahre nach der Wiedervereinigung West- und Ostdeutschland gesondert zu betrachten. Auf seiten der mittel- und osteuropäischen Länder erscheint ferner eine Differenzierung nach dem Grad der Fortschritte im Transformationsprozeß notwendig. Deshalb werden hier drei Gruppen von Ländern unterschieden: •
die sog. Visegrad-Staaten Polen, Ungarn und Tschechische sowie Slowakische Republik als Länder, die im Transformationsprozeß bereits relativ weit fortgeschritten sind und sich schon wieder in einer - zum Teil bereits recht ausgeprägten - wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung befmden,
•
die südosteuropäischen Länder Albanien, Bulgarien und Rumänien, wo der Reformprozeß nur zähflüssig vorankommt, und
•
die Nachfolgestaaten der Sowjetunion, wo die Fortschritte großenteils noch gering sind. Zwar wäre hier wegen der großen Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern eine weitere Differenzierung sinnvoll; so ist das Baltikum im Transformationsprozeß sehr viel weiter vorangekommen als etwa Rußland oder die
Ökonomische Auswirkungen der Transformationsprozesse
161
asiatischen Staaten. Statistische Gründe sprechen aber fiir eine Zusammenfas2 sung. Die Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien, die seit einigen Jahren zunehmend ebenfalls der Ländergruppe Mittel- und Osteuropa zugerechnet werden, bleiben - auch aus statistischen Gründen - unbeJiicksichtigt.3
1.1. Zusammenbruch des Handels mit den ehemaligen RGW-Partnern in Ostdeutschland Der Außenhandel der Bundesrepublik mit den Ländern Mittel- und Osteuropas in der ersten Hälfte der neunziger Jahre war gekennzeichnet durch gegensätzliche Entwicklungen in West- und Ostdeutsch land. Von der Umstrukturierung der Wirtschaft und der Öffitung der Märkte in den früheren RGW-Ländern und den davon ausgehenden positiven Integrationseffekten profitierte bisher vorrangig die westdeutsche Wirtschaft; sie konnte ihre Handelsbeziehungen mit diesen Ländern kräftig ausbauen. Auf ostdeutscher Seite kam es dagegen nach der Wiedervereinigung zu einem Zusammenbruch des Außenhandels und zu einer Auflösung der bisherigen Handelsbeziehungen; die "Desintegrationseffekte" beschleunigten den wirtschaftlichen Niedergang in den neuen Bundesländern.4 Die zu Beginn des deutsch-deutschen Einigungsprozesses teilweise gehegte Hoffnung, daß der HandelOstdeutschlands mit den mittel- und osteuropäischen Ländern, die zu RGW-Zeiten der mit Abstand wichtigste Handelspartner gewesen waren, noch einige Zeit auf hohem Niveau gehalten und damit die notwendige Umstrukturierung der ostdeutschen Wirtschaft erleichtert werden könnte, erfililte sich nicht. Nach der Auflösung der RGW Anfang 1991 brach nach dem Westexport auch der Export in die ehemaligen RGW-Länder rasch zusammen (vgl. Tabelle I und Abbildung I). Selbst massive Stützungsrnaßnahmen durch umfangreiche Hermes-BÜTgschaften und direkte Subventionen fiir Lieferungen in die Sowjetunion konnten den Fall nur vorübergehend etwas bremsen. Die Tiefe des Einbruchs wird zwar durch die Ausfuhrwerte überzeichnet; gleiches gilt bei der Einfuhr. Denn das bis Ende 1990 der
20ie hier beibehaltene Zuordnung der baltischen Staaten zur ehemaligen Sowjetunion hat hauptsächlich statistische GrUnde; der Handel mit diesen Ländern wird in der deutschen Außenhandelsstatistik wie auch in den Statistiken der internationalen Organisationen erst ab Mai 1992 gesondert erfaßt. 31n der deutschen Statistik werden die Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien seit Anfang 1995 der Ländergruppe Mittel- und Osteuropa zugeordnet. Für eine gesonderte Erfassung spricht auch, daß sie nicht dem RGW angehörten und bereits vorher an der internationalen Arbeitsteilung teilhatten, wenn auch mit einigen Einschränkungen. 4 yg l. Wohlers, Eckhardt: Tendenzen im Handel mit den Ländern Mittel- und Osteuropas. In: Wirtschaftsdienst, 73. Jg. 1993, S. 433 If..
11 Eckartl Paraskewopoulos
162
Eckhardt Wohlers
Tab. 1: Außenhandel der Bundesrepublik Deutschland nach Regionen - Veränderungen gegenüber VOIjahr in % 1990
1991
1992
1993
1994
1995
Westdeutschland Insgesamt westliche Industrielander ehern. Staatshandelslander rnittel- u. osteurop. Land. Polen, Ungam, CSFR übrige Lander ehern. Sowjetunion Alb., Bulg., Rumanien
0,3 0,0 -6,2 -4,3 2,6 -9,8 -10,1 -8,1
0,9 -0,6 9,6 10,9 40,S -15,8 -16,7 -11,5
1,4 -0,2 19,2 15,8 25,7 0,8 -3,2 20,8
-6,2 -9,6 28,2 20,9 16,0 30,0 32,0 21,9
10,0 9,3 16,4 18,4 18,9 17,4 17,4 17,2
5,3 4,1 13,0 15,9 20,9 7,3 2,8 27,0
Ostdeutschland Insgesamt westliche Industrielander ehern. Staatshandelslander rnittel- u. osteurop. Land. Polen, Ungarn, CSFR übrige Lander ehern. Sowjetunion Alb., Bulg., Rumanien
-7,4 -26,2 2,2 2,9 -5,1 6,8 7,1 4,8
-54,2 -12,7 -62,0 -61,7 -77,7 -54,7 -49,0 -88,2
-21,0 4,4 -36,6 -37,1 -26,2 -39,S -38,7 -58,3
-13,4 -18,5 -11,3 -12,9 -25,7 9,6 -11, I 45,2
3,2 39,9 -20,4 -19,8 15,3 -27,4 -27,1 -34,2
12,5 25,3 5,1 -1,7 41,6 -16,6 -17,3 4,1
EINFUHR Westdeutschland Insgesamt westl iche Industrielander ehern. Staatshandelslander rnittel- u. osteurop. Land. Polen, Ungarn, CSFR übrige Lander ehern. Sowjetunion Alb., Bulg., Rurnanien
8,7 8,6 17,7 13,2 26,9 1,8 6,6 -19,6
15,0 14,5 29,0 21,4 33,8 8,4 8,6 7,5
-0,8 -1,2 11,3 14,9 24,S 2,6 1,5 9,0
-11,2 -14,1 9,2 5,8 5,1 6,8 6,1 10,5
8,7 7,7 22,8 27,0 24,7 30,6 31,0 28,9
2,5 1,7 13,3 17,2 26,7 3,2 1,3 13,6
1990
1991
-44,5 -38,8 -44,3 -44,7 -43,5 -45,3 -39,5 -70,8
-52,5 -30,5 -59,5 -58,8 -63,3 -56,7 -53,3 -87,6
AUSFUHR
Ostdeutschland Insgesamt westliche Industrielander ehern. Staatshandelslander rnittel- u. osteurop. Lander Polen, Ungarn, CSFR übrige Lander ehern. Sowjetunion Alb., Bulg., Rurnanien
1992 -11,6 14,4 -25,1 -24,2 -4,5 -32,0 -31,7 -44,6
1993 -9,2 -2,3 -17,9 -15,0 -8,6 -18,4 -18,2 -32,6
1994 23,1 34,5 6,2 1,8 27,0 -13,9 -14,0 -10,2
1995 19,0 14,0 26,8 26,5 17,4 34,9 35,3 13,8
Quelle: Statistisches Bundesarnt, Fachserie 7: Außenhandelsstatistik, eigene Berechnungen.
Ökonomische Auswirkungen der Transformationsprozesse
163
Abb. 1: Exporte der Bundesrepublik Deutschland nach Mittel- und Osteuropal
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I)Gleitende Dreimonatsdurchschnitte saisonbereinigter Monatszahlen; Saisonbereinigung nach ASA 11 (HWWA-Version). 2)Polen, Ungarn, Teschechische und Slowakische Republik. Quelle: Statistisches Bundesamt: Fachserie 7: Außenhandelsstatistik, eigene Berechnungen.
11'
164
Eckhardt W ohlers
Bewertung zugrunde liegende "Preisniveau" im RGW-Handel war, gemessen an Weltmarktpreisen, vielfach überhöht und der Transferrubel gegenüber der D-Mark überbewertet. Auch "real" war der Rückgang aber immer noch erheblich. In den letzten Jahren kam es bei der ostdeutschen Ausfuhr in die ehemaligen RGW-Länder zu einer gewissen Stabilisierung auf freilich sehr niedrigem Niveau. Die Exporte in die Visegrad-Staaten, die zuvor nahezu bis zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft waren, zeigen seit 1994 wieder eine leichte Aufwärtstendenz. Bei den Lieferungen in die Nachfolgestaaten der Sowjetunion hielt der Abwärtstrend dagegen bis zuletzt an. Insgesamt erreichte der ostdeutsche Export in die mitte\- und osteuropäischen Länder 1995 dem Werte nach nur noch ein Sechstel des Niveaus, das er am Beginn der Wiedervereinigung hatte. 1m Ausmaß der Schrumpfung gab es dabei Unterschiede zwischen den einzelnen Ländergruppen. Während die Ausfuhren in die ehemalige Sowjetunion "nur" auf reichlich 20% des, letztmalig planwirtschaftIich bestimmten, Niveaus von 1990 zurückfielen, erreichten die in die Visegrad-Staaten lediglich 14%, die in die südosteuropäischen Länder nur noch rd. 5% des damaligen Wertes. Der Zusammenbruch des Ostexports in den neuen Bundesländern war zum Teil Folge der Schwierigkeiten der ehemaligen Staatshandelsländer bei der Transformation ihrer Volkswirtschaften und der Desintegrationseffekte nach dem Auseinanderbrechen des RGW und später auch der Sowjetunion; Schätzungen zufolge hat sich der Handel zwischen den früheren RGW-Partnern allein in den Jahren 1991/92 dem Volumen nach um mehr als die Hälfte verringert. 5 Vor allem waren aber, auch infolge von Qualitätsmängeln und unzureichenden technologischen Standards, ostdeutsche Produkte unter Weltmarktbedingungen, wie sie nun ebenfalls im Außenhandel mit den mittel- und osteuropäischen Ländern herrschten, nicht mehr wettbewerbsfähig, und dies konnte auch durch umfangreiche Subventionen nicht oder nur unzureichend kompensiert werden. Unter diesen Bedingungen verloren überdies auch früher als "Standortvorteile" Ostdeutschlands angesehene Faktoren wie Kenntnisse der Sprache, der Mentalität, der Außenhandelssysteme der ehemals sozialistischen Länder usw. rasch an Bedeutung.
IYgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Jahresgutachten 1992/93, Bundestagsdrucksache 12/3774, Nov. 1992, lifT. 46.
Ökonomische Auswirkungen der Transformationsprozesse
165
Abb. 2: Importe der Bundesrepublik Deutschland aus Mittel- und Osteuropa
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I)Gleitende Dreimonatsdurchschnitte saisonbereinigter Monatszahlen; Saisonbereinigung nach ASA II (HWWA-Version). 2>Polen, Ungarn, Tschechische und Slowakische Republik. Quelle: Statistisches Bundesamt: Fachserie 7: Außenhandelsstatistik, eigene Berechnungen.
166
Eckhardt Wühlers
Die Einfuhr Ostdeutschlands aus dem RGW-Raum brach - ebenso wie die aus anderen Regionen - bereits unmittelbar nach Inkrafttreten der Wirtschafts- und Währungsunion Mitte 1990 zusammen; binnen Jahresfrist sank sie dem Werte nach um rd. 70%. Wesentliche Gründe dafiir waren der durch Marktöffhung, Aufwertungsschock und Veränderungen der Nachfragestruktur hervorgerufene Produktionseinbruch in der ostdeutschen Industrie, der den Bedarf an Vorprodukten drastisch reduzierte, die schwindende Akzeptanz und Wettbewerbsfähigkeit osteuropäischer Fertigwaren sowie der leichte Zugriff auf Waren aus Westdeutschland, mit denen die Güter aus den ehemaligen RGW-Ländern nun konkurrieren mußten. Im Zuge der wirtschaftlichen Erholung in Ostdeutschland sind seit 1993 zwar auch die Einfuhren aus dem Ausland wieder gestiegen. Ausgeweitet wurden aber zunächst in erster Linie die Importe aus westlichen Ländern, insbesondere aus der Europäischen Union; die Bezüge aus Mittel- und Osteuropa blieben gedrückt. 1994 nahmen dann - von sehr niedrigem Niveau aus - auch die Importe aus den Visegrad-Staaten und im vergangenen Jahr schließlich die aus der ehemaligen Sowjetunion wieder zu. Die ostdeutsche Wirtschaft konnte die negativen Desintegrationseffekte im Handel mit den RGW-Ländern bisher nur in geringem Umfang durch Integrationserfolge im Handel mit westlichen Ländern ausgleichen; der Anstieg der Außenhandelsanteile der westlichen Industrieländer ist nicht zuletzt Ausdruck des überproportionalen Rückgangs des Osthandels. Lediglich im innerdeutschen Handel gab es eine gewisse Kompensation; nachdem in der ersten Zeit nach der Wiedervereinigung die ostdeutschen "Importe" aus den alten Bundesländern enorm in die Höhe geschnellt waren, sind in den letzten Jahren im Zuge des innerdeutschen Integrationsprozesses auch die Lieferungen nach Westdeutsch land kräftig gestiegen. Erschwert wurde die integration der ostdeutschen Wirtschaft in die internationale Arbeitsteilung durch die Unterordnung unter das Wechselkursregime der D-Mark. So war eine teilweise Korrektur von Wettbewerbsnachteilen durch Währungsabwertung nicht möglich; andere ehemalige RGW-Länder wie etwa die Visegrad-Staaten setzten dagegen den Wechselkurs zur Exportförderung ein, indem sie ihre Währungen in der ersten Phase des Transformationsprozesses kräftig abwerteten. Eine Verbesserung der internationalen Wettbewerbsposition der ostdeutschen Wirtschaft konnte somit nur "von innen heraus" kommen. Trotz deutlicher Fortschritte bei der Umstrukturierung und Modernisierung der ostdeutschen Wirtschaft kam die Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit aber nur schleppend voran, da die beträchtlichen Produktivitätssteigerungen immer wieder durch kräftige Lohnerhöhungen aufgezehrt wurden. So ist das Niveau der Lohnstückkosten - bei deutlichen Unterschieden von Branche zu Branche und sogar innerhalb der Bereiche - im gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt in Ostdeutschland immer noch merklich höher als im Westen; je nach Berechnungs-
Ökonomische Auswirkungen der Transformationsprozesse
167
weise um ein oder sogar zwei Drittel.6 Gegenwärtig vergrößert sich der Abstand sogar wieder. Trotz der beträchtlichen Einbußen im Handel mit den früheren RGW-Partnern ist der ostdeutsche Außenhandel immer noch sehr "ostlastig". Rund 35% der Exporte gehen weiterhin nach Mittel- und Osteuropa, der größte Teil davon in die Nachfolgestaaten der Sowjetunion (vgl. Tabelle 2). Bei der Einfuhr ist die "Westorientierung" zwar weiter fortgeschritten als bei der Ausfuhr, der Anteil der Importe aus den früheren RGW-Ländern ist, verglichen mit Westdeutsch land, aber immer noch sehr hoch. Darin kommt nicht zuletzt die weiterhin große Abhängigkeit der neuen Bundesländer von Energielieferungen aus der ehemaligen Sowjetunion zum Ausdruck.
1.2. Beträchtliche Intensivierung des Osthandels in Westdeutschland Zwischen Westdeutschland und den Ländern Mittel- und Osteuropas kam es dagegen seit Beginn dieses Jahrzehnts zu einer beträchtlichen Intensivierung des Handels. Die westdeutschen Exporte in diese Region sind seit 1991 dem Werte nach jährlich mit zweistelligen Raten gestiegen (vgl. Tabelle 1 und Abbildung 1). Regional gab es dabei jedoch beachtliche Unterschiede. So sind die Lieferungen in die im Reformprozeß bereits weit fortgeschrittenen Visegrad-Staaten Polen, Ungarn sowie in die Tschechische und die Slowakische Republik schon seit 1990 deutlich aufwärtsgerichtet und haben sich seither insgesamt - bei Abweichungen von Land zu Land im Ausmaß und in der zeitlichen Abfolge - fast verdreifacht; die Exportgewinne der westdeutschen Wirtschaft in diesen Ländern waren damit erheblich größer als die Einbußen ostdeutscher Exporteure. Die Ausfuhren in die übrigen Länder Mittelund Osteuropas insbesondere in die ehemalige Sowjetunion blieben dagegen nach der Wiedervereinigung zunächst schwach; in den letzten drei Jahren zeigten sie, anders als die ostdeutschen Exporte, zwar einen Aufwärtstrend, der freilich immer wieder von schwächeren Phasen unterbrochen wurde. Die kräftige Expansion der Ausfuhren in die mittel- und osteuropäischen Länder ging einher mit einer ähnlich starken Zunahme der Einfuhr aus diesen Ländern. Das regionale Muster entsprach dabei weitgehend dem im Export. So haben sich die westdeutschen Importe aus den Visegrad-Staaten in den neunziger Jahren reichlich verdoppelt und damit die Absatzverluste dieser Länder in Ostdeutsch land mehr als ausgeglichen. Die Einfuhren aus den südosteuropäischen Ländern und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion waren in der Grundtendenz zwar ebenfalls aufwärtsgerichtet, das Expansionstempo blieb aber lange Zeit vergleichsweise gering, erst seit
Vg l. Wohlers, Eckhardt: Aufholprozeß in Ostdeutsch land verliert an Schwung. In: Konjunktur von morgen, Nr. 958, 7.3.96, S. IC..
6
168
Eckhardt Wohlers
1994 ergaben sich auch hier, im Gefolge der konjunkturellen Belebung in Deutschland, größere Zuwachsraten. Tab. 2: Außenhandel der Bundesrepublik Deutschland n. Regionen - Anteile in % 1989
1990
1991
1992
1993
1994
1995
Westdeutschland Insgesamt westliche Industrieländer ehern. Staatshandelsländer rnittel- u. osteurop. Länder Polen, Ungam, CSFR übrige Länder ehern. Sowjetunion Alb., Bulg., Rumänien
100,0 85,6 4,6 3,8 1,7 2,1 1,8 0,3
100,0 85,4 4,3 3,6 1,7 1,9 1,6 0,3
100,0 84,2 4,6 4,0 2,4 1,6 1,3 0,3
100,0 82,9 5,5 4,6 3,0 1,6 1,3 0,3
100,0 79,1 7,8 6,2 3,9 2,3 1,9 0,4
100,0 79,4 7,9 6,4 4,0 2,4 1,9 0,4
100,0 78,5 8,5 7,0 4,6 2,4 1,9 0,5
Ostdeutschland Insgesamt westliche Industrieländer ehern. Staatshandelsländer rnittel- u. osteurop. Länder Polen, Ungam, CSFR übrige Länder ehern. Sowjetunion Alb., Bulg., Rumänien
100,0 16,8 72,6 70,5 23,2 47,3 40,3 7,0
100,0 13,4 80,1 78,3 23,8 54,6 46,6 7,9
100,0 25,5 66,5 65,5 11,6 53,9 51,9 2,0
100,0 33,7 53,3 52,1 10,8 41,3 40,2 1,1
100,0 31,4 54,9 52,6 9,3 43,3 41,5 1,8
100,0 42,9 42,1 40,6 10,3 30,7 29,2 I, I
100,0 47,9 39,4 35,5 13,0 22,5 21,4 1,1
EINFUHR Westdeutschland Insgesamt westl iche Industrieländer ehern. Staatshandelsländer rnittel- u. osteurop. Länder Polen, Ungam, CSFR übrige Länder ehern. Sowjetunion Alb., Bulg., Rumänien
100,0 82,7 5,0 3,8 1,7 2,1 1,7 0,4
100,0 82,6 5,4 4,0 2,0 1,9 1,7 0,3
100,0 82,2 6,0 4,2 2,4 1,8 1,6 0,3
100,0 81,9 6,8 4,8 3,0 1,9 1,6 0,3
100,0 78,5 8,6 6,0 3,6 2,3 2,0 0,4
100,0 78,5 9,4 6,7 4,0 2,7 2,3 0,4
100,0 77,9 10,4 7,7 4,9 2,7 2,3 0,5
1989
1990
1991
1992
1993
1994
1995
100,0 22,5 67,3 65,3 20,5 44,8 36,6 8,3
100,0 24,8 67,4 65,0 20,8 44,2 39,8 4,3
100,0 36,2 57,4 56,4 16,1 40,3 39,2 1,1
100,0 46,9 48,7 48,4 17,4 31,0 30,3 0,7
100,0 49,5 46,7 46,3 17,9 28,4 27,9 0,5
100,0 55,1 38,0 37,5 18,0 19,4 19,1 0,4
100,0 52,8 40,4 39,8 17,8 22,0 21,7 0,4
AUSFUHR
Ostdeutschland Insgesamt westliche Industrieländer ehern. Staatshandelsländer rnittel- u. osteurop. Länder Polen, Ungam, CSFR übrige Länder ehern. Sowjetunion Alb., Bulg., Rumänien
Quelle: Statistisches Bundesamt: Fachserie 7: Außenhandelsstatistik, eigene Berechnungen.
Ökonomische Auswirkungen der Transformationsprozesse
169
Somit kam es bisher vor allem im Handel mit den Visegrad-Staaten zu einer deutlichen Intensivierung des Güteraustauschs. Dort hat Westdeutschland seine bereits zu RGW-Zeiten beachtliche Stellung erheblich ausbauen können und ist mittlerweile überall der mit Abstand wichtigste Handelspartner. Zugleich haben diese Länder ihren Anteil am deutschen Außenhandel deutlich ausweiten können. Gleichwohl erzielte die westdeutsche Wirtschaft im Handel mit den Visegrad-Staaten - wie auch mit den anderen Reformstaaten - einen beträchtlichen Ausfuhrüberschuß. Die intensivierung der Handelsbeziehungen mit den südosteuropäischen Ländern und den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion kam dagegen nur schleppend in Gang und vollzog sich "ungleichgewichtiger"; die Zunahme der westdeutschen Einfuhr aus diesen Ländern blieb deutlich hinter der Steigerung der Ausfuhren dorthin zurück. Gleichwohl ist Westdeutschland auch in den meisten dieser Länder - insbesondere in den europäischen - der wichtigste Handelspartner. Der vorrangige Ausbau der Handelsbeziehungen zwischen Westdeutschland und den Visegrad-Staaten ist sicherlich zu einem großen Teil auf die "Vorreiterrolle" dieser Länder im Reformprozeß und bei der Liberalisierung des Außenhandels zurückzufiihren. Daneben haben aber auch noch andere Faktoren eine Rolle gespielt, insbesondere die Nachbarschaft und die schon zu Zeiten des RGW bestehenden engen Handelsbeziehungen mit diesen Ländern. Andere Nachbarländer wie Österreich, konnten am Expansionsprozeß in den "Visegrad-Staaten" ebenfalls überdurchschnittlich partizipieren. 7 Bemerkenswert ist allerdings, daß sich die Intensivierung des Handels zwischen der westdeutschen Wirtschaft und den ostmitteleuropäischen Ländern gleichgewichtiger vollzog als in vielen anderen europäischen Ländern. Dort hielten die Importe aus den Visegrad-Staaten mit den stark expandierenden Exporten in diese Region meist weit weniger Schritt als in Westdeutschland. Alles in allem profitierte somit vom Transformationsprozeß und der damit einhergehenden Öfthung der Märkte in Mittel- und Osteuropa bisher in erster Linie die westdeutsche Wirtschaft, sie erhielt davon neue Wachsturnsimpulse. Die ostdeutsche Wirtschaft geriet nach der Auflösung des RGW infolge mangelnder Wettbewerbsfähigkeit seiner Produkte in dieser Region mehr und mehr ins Hintertreffen; lediglich die im Transformationsprozeß zurückhängenden Nachfolgestaaten der Sowjetunion blieben ein Handelspartner von einigem Gewicht. Die drastische Einschränkung des Güteraustauschs mit den früheren RGW-Partnern brachte den neuen Bundesländern erhebliche zusätzliche Belastungen, nicht zuletzt für den Arbeitsmarkt. Durch den Zusammenbruch des Osthandels dürften dort mindestens 500.000 Arbeitsplätze verlorengegangen sein, vorrangig in der Industrie.
7Vg l.
Stankovsky, lan: OECD-Handel mit Ost-Mitteleuropa kräftig gewachsen. In: WIFOMonatsberichte, H. 911993, S. 360.
170
Eckhardt Woh1ers
1.3. Wachsender Konkurrenzdruck durch Importe aus Mittel- und Osteuropa Doch auch auf westdeutscher Seite gab es "Gewinner" und "Verlierer", denn die Integration der mittel- und osteuropäischen Länder in die internationale Arbeitsteilung brachte der deutschen Wirtschaft neben kräftigen Nachfrageimpulsen auch eine spürbare Verschärfung der Importkonkurrenz. Zu den "Nutznießern" gehörten insbesondere die Investitionsgüterhersteller, denn die fiiiheren Zentralverwaltungswirtschaften benötigten zur Umstrukturierung und Modernisierung ihres maroden Kapitalstocks in erheblichen Umfang westliche Kapitalgüter. Der Anteil von Investitionsgütern an den Exporten nach Mittel- und Osteuropa betrug 1993 fast überall mehr als 50% (vgl. Tabelle 3).8 An erster Stelle rangierten dabei Maschinenbauerzeugnisse, gefolgt von elektrotechnischen Erzeugnissen und Kraftfahrzeugen sowie - mit einigem Abstand - EBM-Waren und Büromaschinen bzw. Datenverarbeitungsgeräten. Neben Investitionsgütern wurden ferner höherwertige Grundstoffe und Produktionsgüter in größerem Umfang in die mittel- und osteuropäischen Länder exportiert, in erster Linie chemische Erzeugnisse. In den letzten Jahren ist schließlich auch der Anteil von Verbrauchsgütern deutlich gestiegen, insbesondere bei den Ausfuhren in die Visegrad-Staaten. Dies ist wohl auch Folge wachsender Fortschritte dieser Länder im Reformprozeß, denn mit steigendem Einkommen nimmt erfahrungsgemäß die Nachfrage nach höherwertigen Verbrauchsgütern ebenfalls zu. Der hohe Anteil von Verbrauchsgütern sowohl auf der Ausfuhr- als auch auf der Einfuhrseite spiegelt aber auch eine verstärkte Arbeitsteilung in der Textil- und Bekleidungsindustrie zwischen Deutschland und diesen Ländern wider. Bei den Einfuhren aus Mittel- und Osteuropa haben "komplementäre" Produkte wie Energieträger oder Industrierohstoffe immer noch beachtliches Gewicht. Je nach Ressourcenverfilgbarkeit und Stand im Transformationsprozeß gibt es dabei regional aber beachtliche Unterschiede. So bestehen die Importe aus den rohstoffreichen, im Reformprozeß aber noch weit ZUTÜckhängenden Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion auf westdeutscher Seite zu reichlich vier FünfteIn aus Energieträgern und Industrierohstoffen mit niedrigem Bearbeitungsgrad wie NE-Metallen; in Ostdeutschland ist der Anteil solcher Güter sogar noch höher. Offensichtlich können diese Länder die zum Import westlicher Investitionsgütern notwendigen Devisen weitgehend durch den Export von Rohstoffen "verdienen", so daß von dieser Seite her der Druck zur Entwicklung exportflihiger Industrieprodukte nicht so stark ist wie in rohstoffänneren Ländern.
~ach Ländern und GOtergruppen wird der Außenhandel der Bundesrepublik seit 1993 nicht mehr getrennt nach alten und neuen Bundesländern ausgewiesen. EndgOltige Zahlen fUr 1994 sind in dieser Gliederung bisher noch nicht veröffentlicht.
Ökonomische Auswirkungen der Transformationsprozesse
171
Tab. 3: Warenstruktur des Handels der Bundesrepublik Deutschland mit den mittelund osteuropäischen Ländern 1993 - Anteile in % Mittel-
AUSFUHR Land- u. Forstwirtschaft, Ernährung Bergbau dar. Erdöl, Erdgas usw. Erzeugnisse des Grund-stoff u. ProduktionsgUtergewerbes dar. ehern. Erzeugnisse Erzeugnisse des InvestionsgUtergewerbes dar. Stahlbau Maschinenbau Straßenfahrzeugbau Elektrotechnik Erzeugnisse des VerbrauchsgUtergewerbes dar. Textilien Bekleidung Gesamt EINFUHR Land- u. Forstwirtschaft, Ernährung Bergbau dar. Erdöl, Erdgas usw. Erzeugnisse des Grundstoff u. ProduktionsgUtergewerbes dar. ehern. Erzeugnisse Erzeugnisse des Investitions gUtergewerbes dar. Stahlbau Maschinenbau Straßenfahrzeugbau Elektrotechnik Erzeugnisse des VerbrauchsgUtergewerbes dar. Textilien Bekleidung Gesamt
Visegrad-Staaten Polen Ungam
eR/SR
Übrige
5,4 0,0 0,0
5,1 0,4 0,2
14,2 0,0 0,0
20,2 13,3
18,9 12,6
18,5 10,2
12,4 8,3
49,5 1,3 16,5 10,1 13,1
42,4 1,3 14,0 9,5 10,1
50,8 1,2 13,7 13,9 14,3
56,4 1,4 20,9 8,5 15,6
59,6 5,7 25,8 10,4 9,9
17,6 8,4 1,3 100,0
22,4 11,0 1,4 100,0
25,8 14,4 1,1 100,0
23,6 10,7 1,9 100,0
18,1 7,4 1,4 100,0
11,5 5,1 1,1 100,0
7,5 20,7 18,9
10,2 3,1 0,0
10,0 4,6 0,0
16,8 0,1 0,0
5,0 2,5 0,0
4,3 41,6 41,3
26,9 4,8
22,6 5,0
24,1 4,4
13,3 4,2
29,6 7,0
32,0 4,5
18,4 1,9 3,8 2,6 5,0
29,0 3,1 5,9 4,2 8,2
21,6 3,0 3,3 3,3 4,8
34,5 1,9 7,2 3,5 14,5
33,3 3,8 7,6 5,6 7,7
5,7 0,5 1,5 0,8 1,2
24,8 3,4 10,8 100,0
33,2 4,7 13,5 100,0
38,1 3,1 18,9 100,0
33,4 6,6 12,6 100,0
27,0 5,4 7,9 100,0
14,9 1,9 7,6 100,0
und Osteuropa gesamt
insgesamt
10,3 0,1 0,0
7,3 0,2 0,1
10,3 0,2 0,0
16,3 10,4
19,3 12,0
54,0 3,3 20,6 10,2 11,7
Quelle: Statistisches Bundesamt: Fachserie 7: Außenhandelsstatistik, eigene Berechnungen.
172
Eckhardt W ohlers
Bei den Importen aus Polen, Ungarn sowie der Tschechischen und der Slowakischen Republik haben dagegen Energieträger und Rohstoffe nur noch vergleichsweise geringe Bedeutung; das größte Gewicht haben Grundstoffe wie Eisen und Stahl, NE-Metalle, chemische und Mineralölerzeugnisse. In den letzten Jahren wurden zunehmend aber auch Investitionsgüter aus den "klassischen" Bereichen Maschinenbau, Fahrzeugbau (vorrangig aus der Tschechischen Republik) und Elektrotechnik importiert, vor allem lohnintensive "Iow-tech-Güter". Bei den Verbrauchsgüterimporten aus diesen Ländern dominieren Textilien, Bekleidung und Schuhe sowie Holzwaren. Die Visegrad-Staaten können am deutschen Markt neben technologisch einfacheren mehr und mehr auch mit anspruchsvolleren Produkten Fuß fassen. 9 Bei solchen Produkten, wo der Konkurrenzdruck ohnehin schon durch Importe aus den "Schwellenländern" groß war, hat sich durch das Hinzukommen neuer Anbieter aus den Transformationsländern der Wettbewerb auf dem deutschen Markt spürbar verschärft, nicht nur für heimische Unternehmen, sondern auch für Anbieter aus anderen Ländern, nicht zuletzt aus dem südostasiatischen Raum. Alles in allem entspricht die Arbeitsteilung zwischen Deutschland und den Ländern der ehemaligen Sowjetunion vielfach noch der zwischen hochentwickelten Industrieländern und Entwicklungsländern; das Spezialisierungsmuster ist noch weitgehend identisch mit dem zu Zeiten des Sozialismus vorherrschenden. Im großen und ganzen gilt das auch für den Güteraustausch mit den südosteuropäischen Staaten. Dagegen schreitet die Arbeitsteilung mit den Visegrad-Staaten als "Vorreitern" im Reformprozeß zügig voran. Hier zeichnet sich bereits eine von den relativen Faktorpreisen bestimmte Spezialisierung nach dem Muster der Arbeitsteilung mit den Schwellenländern ab. Komparative Vorteile der mittel- und osteuropäischen Länder sind dabei vor allem das durch die Wechselkurspolitik noch akzentuierte niedrige Lohnniveau, insbesondere in Ungarn und der Tschechischen Republik zudem noch in Verbindung mit einem relativ guten QualifIkationsniveau der Arbeitskräfte. Das Aufkommen neuer Konkurrenz aus den Niedriglohnländern Mittel- und Osteuropas hat den Strukturwandel in Westdeutschland sowohl sektoral als auch regional verschärft. Gesamtwirtschaftlich ist eine verstärkte Arbeitsteilung mit diesen Ländern auflängere Sicht durchaus von Vorteil, für die von der wachsenden Importkonkurrenz betroffenen Branchen bringt sie jedoch erst einmal verstärkten Anpassungsdruck und den Verlust von Arbeitsplätzen. Zwar entstehen bei den Unternehmen, die die Absatzchancen auf den Märkten in Mittel- und Osteuropa nutzen, auch neue Arbeitsplätze bzw. bestehende werden gesichert. Ob damit aber die Arbeitsplatzverluste in den "Verliererbranchen" ausgeglichen werden können, hängt nicht
9 yg l.
Beyfuß, Jörg: Position der Reformländer in der internationalen Arbeitsteilung - Stand und Perspektiven. In: iw-trends, H. 111993, S. 45f..
Ökonomische Auswirkungen der Transformationsprozesse
173
zuletzt von der Flexibilität dieser Branchen wie auch des Arbeitsmarktes ab. Nach den bisherigen Erfahrungen scheint Skepsis angebracht.
2. Die mittel- und osteuropäischen Länder als Konkurrenten im Standortwettbewerb Mit der Transformation ihrer Volkswirtschaften und der Integration in die internationale Arbeitsteilung wurden die mittel- und osteuropäischen Länder nicht nur zu Konkurrenten auf den Gütermärkten, sondern auch im Standortwettbewerb um mobiles Kapital privater Investoren. Im Gegensatz zum Waren- und Leistungsverkehr sind die Erfolge der Reformländer im Standortwettbewerb bisher eher bescheiden, wie nicht zuletzt die ausländischen Direktinvestitionen in diesen Ländern zeigen. So stieg der Anteil der mittel- und osteuropäischen Länder an den gesamten grenzüberschreitenden Direktinvestitionen bis zum Jahre 1994 lediglich auf rd. 3%; an den Beständen sind sie mit rd. 1% beteiligt.lO Das zeigt, daß die Attraktivität dieser Länder filr westliche Investoren immer noch relativ gering ist. Der derzeit gewichtigste Standortfaktor der mittel- und osteuropäischen Länder sind zweifellos die niedrigen Kosten des Faktors Arbeit. So machen die Arbeitskosten je Stunde in den Visegrad-Staaten, die inzwischen schon erheblich über denen in den übrigen Reformstaaten und insbesondere in Rußland liegen, immer noch nur rd. 10% der Arbeitskosten in Westdeutschland - und knapp 20% der in Ostdeutschland aus. Außerdem ist die Arbeitszeit länger als in Deutschland. Bei der Beurteilung dieser Zahlen bleibt allerdings meist unberücksichtigt, daß auch das Produktivitätsniveau in Mittel- und Osteuropa noch relativ niedrig ist; die Lohnstückkosten dürften deshalb im Durchschnitt nicht wesentlich höher als in Deutschland sein. 11 Allerdings haben die mittel- und osteuropäischen Länder bei einer Reihe anderer Kostenfakt0ren ebenfalls Vorteile, so daß die gesamten Produktionskosten dennoch deutlich niedriger als in der Bundesrepublik sind. Bei vielen anderen Standortfaktoren wie etwa' Ausbildung und QualifIkation, In-
frastruktur oder dem ganzen Katalog der politischen Rahmenbedingungen bestehen
dagegen bei den mittel- und osteuropäischen Staaten noch erhebliche DefIzite, die potentielle ausländische Investoren und Kapitalgeber abschrecken und die Stellung der Reformländer im Standortwettbewerb schwächen (vgl. Abbildung 3). Überdies hängt die Beurteilung der Standortqualität auch vom Vertrauen des Auslands in die Ernsthaftigkeit und Zielstrebigkeit der Reformanstrengungen und in die Stabilität
IOygl. Stankovsky, Jan: Bedeutung ausländischer Direktinvestitionen in Oste uropa. In: Monatsberichte des WIFO H. 2/1996, S. 128. " Vgl. Beyfuß ,Jörg: Standortqualitäten der Lander Mittel- und Osteuropas. In: iw-trends H. 2/1995, S. 33f.
Eckhardt Wohlers
174
Abb. 3: Vor- und Nachteile der Länder Mittel- und Osteuropas im Standortwettbewerb Standortqualitäten I • Kostenkriterien: D (Wes!) = 100·
-h.
Arbeitszeiten .............................
Arbel!Skosten~ ProdukllvUatsmvau
~
-
- - - - - - - - --
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
------------------------
~::....;::...=....:;b
Wasserkosten
. . . . . .. . ...............
Elektrizitätskosten
-----------------
o Polen
:~
[;] Ungarn
Einkommenssteuer· Spitzensatz Telefonkosten ...........•.................
o
150
100
50
200
Standortkriterien 11
. Ausstanungsmerkmale: D (Wes!) = 100·
Qualitätsbewußtsein F&E Ausgaben
iiiiiiir
o Polen
111 Tschechien
iiil;lB••q..
[J
Ungarn
•
Rußland
bgiiiiiiit:::t;)
Austattung mit Ingenieuren. Sicherheit für Leben und Eigentum
"'iiliiiiiiÖiibll
Fremdsprachen· kenntnisse I
Staat!. Kontrolle l-:..,..,.,..,.-:".-:-..,..,.., .."".""'.-:".-:-..,..,.., ..,..,.,...,.-:-.-:-..,. ..,..,.,..,.-:"." der Unternehmen
J
1=-==-==-=c..:::.-=-.::...;:1...:=-=c..:::.-=-=--=, - - - - - - - - - - - -
'i!i@i!iiii@!i~!!~~~~~!!!__
Hemmnisse! Bürokratische
o
50
100
150
200
250
300
350
Vgl. Beyfuß, Jörg: Standortqualitäten der Länder Mittel- und Osteuropas. In: iw-trends H. 2/1995, S. 33f.
Ökonomische Auswirkungen der Transformationsprozesse
175
der politischen Systeme ab. Bei alledem gibt es zwischen den einzelnen Ländern deutliche Unterschiede. So gelten die allgemeinen Rahmenbedingungen fiir ausländische Investoren in den Visegrad-Staaten - und hier insbesondere in der Tschechischen Republik und Ungarn - als deutlich günstiger als etwa in Rußland oder in den südosteuropäischen Ländern; die höheren Lohnkosten in den mitteleuropäischen Ländern werden dadurch mehr als aufgewogen. Tab. 4: Entwicklung der deutschen Direktinvestitionen in den mittel- und osteuropäischen Ländern I 1991
1992
1993
1994
1995 a
39,28
30,50
25,34
27,03
50,00
Mittel- und osteuropäische Länder
1,35
1,75
2,37
3,10
4,26
Visegrad-Staaten Polen eR/SR Ungarn
1,29 0,07 0,81 0,42
1,60 0,17 0,58 0,85
2,13 0,44 0,77 0,92
2,54 0,42 1,17 0,95
3,92 0,78 1,32 1,82
übrige Länder
0,06
0,15
0,24
0,56
0,24
dar. ehemalige Sowjetunion3 Rußland Direktinvestitionen, Anteile in %2 insgesamt
-0,08
-
0,02 0,01
0,04 0,03
0,32 0,17
0,15 ...
100,0
100,0
100,0
100,0
100,0
Mittel- und osteuropäische Länder
3,4
5,7
9,4
11,5
8,5
Visegrad-Staaten Polen eR/SR Ungarn
3,3 0,2 2,1 I, I
5,2 0,6 1,9 2,8
8,4 1,7 3,1 3,6
9,4 1,6 4,3 3,5
7,8 1,6 2,6 3,6
übrige Länder
0,1
0,5
1,0
2,1
0,7
0,1 0,0
0,2 0,1
1,2 0,6
Direktinvestitionen", Mrd. DM insgesamt
dar. ehemalige Sowjetunion3 Rußland
-
I) EinschI. der Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien. 2) Deutsche (Netto)-Anlagen im Ausland. 3) Ab 1992 ohne Baltische Staaten. a) 1.-3.Vj. 1995. Quelle: Deutsche Bundesbank, Zahlungsbilanzstatistik, eigene Berechnungen.
0,3
...
176
Eckhardt W ohlers
Deutschland ist der wichtigste westliche Investor in Mittel- und Osteuropa; im Jahre 1992 entfielen rund ein Drittel aller Direktinvestitionen der OECD-Länder in dieser Region auf Investoren aus der Bundesrepublik. 12 Die deutschen Direktinvestitionen in Mittel- und Osteuropa sind in der ersten Hälfte der neunziger Jahre kräftig gestiegen; 1994 lag ihr Anteil an den gesamten deutschen Direktinvestitionen bei 11,5% (vgl. Tabelle 4). 1995 ist er zwar wieder zurückgegangen, aber nicht infolge nachlassenden Interesses an den Transformationsländern, sondern vorrangig wegen kräftig gestiegener Direktinvestitionen in der Europäischen Union, auch im Hinblick auf die Währungsunion. Insgesamt investierte die deutsche Wirtschaft im Zeitraum 1990-95 fast 13 Mrd.DM in den Transformationsländern. Dabei gab es allerdings ganz erhebliche Unterschiede von Land zu Land. Bevorzugte Zielländer waren die "Reformvorreiter" Ungarn sowie die Tschechische und Slowakische Republik mit einem Anteil von fast 40% bzw. reichlich 35%, gefolgt - in einigem Abstand - von Polen mit knapp 15%. Auf die ehemalige Sowjetunion und die südosteuropäischen Länder entfielen zusammen nur etwa 10% der deutschen Direktinvestitionen nach Mittel- und Osteuropa. Bei den deutschen Direktinvestitionen in den mittel- und osteuropäischen Ländern handelte es sich zu einem großen Teil um "absatzbegleitende" Investitionen zur Markterschließung; marktorientierte Motive haben nach einer Umfrage der OECD bei den ausländischen Investitionen in diesen Ländern immer noch das bei weitem größte Gewicht (vgl. Tabelle 5). Bei solchen Vorhaben sind negative Auswirkungen auf die heimischen Arbeitsplätze wenig wahrscheinlich; die Verbesserung der Absatzchancen im Ausland läßt in den exportorientierten Wirtschaftszweigen sogar zusätzliche Beschäftigungsimpulse erwarten. In letzter Zeit dürfte es allerdings auch vermehrt zur Verlagerung lohn intensiver Produktionen in die östlichen Nachbarländer gekommen sein, so etwa in den Bereichen Textilien, Leder und Bekleidung, Möbel, aber auch im Maschinenbau. Inwieweit privates Kapital infolge der weit niedrigeren Lohnkosten in den östlichen Nachbarländern statt in Ostdeutsch land investiert wurde, geht aus den Zahlen nicht hervor. Die massive "Subventionierung" der Investitionen in den neuen Bundesländern läßt aber vermuten, daß dies bisher noch nicht in größerem Umfang geschehen ist. Erheblich umfangreicher als die Direktinvestitionen waren bisher die privaten langfristigen Finanzanlagen in den Ländern Mittel- und Osteuropas. Dabei handelte es sich zum überwiegenden Teil um öffentlich gesicherte Bankkredite, insbesondere um von der Bundesregierung verbürgte Mittel filr die ehemalige Sowjetunion. \3 Insgesamt beliefen sich die deutschen Nettokapitalanlagen in Mittel- und Osteuropa 12 yg l. Stankovsky, Jan: Direktinvestitionen in Osteuropa - BestimmungsgrUnde, Umfang, Branchenstruktur, Wien 1995, insbesondere die Übersichten S. 4 bis S. 10. Il yg l. Deutsche Bundesbank: Die Wirtschaftsbeziehungen des vereinigten Deutschland zu den mittel- und osteuropaischen Reformlandern. In: Monatsberichte der Deutschen Bundesbank, Juli 1992, S. 20.
Ökonomische Auswirkungen der Transformationsprozesse
177
(ohne Direktinvestitionen) in den Jahren 1989 bis 1994 auf rd. 4112 Mrd. DM. Allein die Forderungen deutscher Kreditinstitute gegenüber dieser Region betrug Ende 1994 fast 59 Mrd. DM; 1989 waren es noch 20 Mrd. DM gewesen. Darin enthalten sind allerdings Forderungen in Höhe von umgerechnet rd. 25 Mrd. DM an "ererbten" Transferrubelbeständen. 14 Größter Schuldner waren mit rd. 49 Mrd. DM die Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion (1989: 8,2 Mrd. DM). Tab. 5: Hauptgründe fiir die Attraktivität der mittel- und osteuropäischen Länder als Investitionsstandortl) Alle Investoren Anteile in % Marktorientierte Motive Zugang zum großen Inlandsmarkt Marktanteil Marktpotential Ressourcenorientierte Motive Niedrige Produktionskosten Quelle billiger Rohstoffe Sonstige Geographische Lage Um den Kunden zu folgen
43,8 25,9 11,1 9,3 6,8 5,6 4,3
Anteile an der Zahl der Nennungen, Mehrfachantworten möghch. Quelle: OECD, Assessing Investment Opportunities in Economies in Transition, Paris, 1994; zitiert nach Stankovsky, Jan: Bedeutung ausländischer Direktinvestitionen in Osteuropa. In: Monatsberichte des WIFO H. 2/1996, S. 132.
3. Weitere Perspektiven Die wirtschaftliche und politische Entwicklung in Mittel- und Osteuropa wird auch weiterhin von erheblicher Bedeutung filr die deutsche Wirtschaft sein. Nach wie vor birgt dieser Raum ein beträchtliches Nachfragepotential, dessen "Aktivierung" nicht zuletzt vom Fortgang des Reformprozesses abhängt. Wie weit dieses etwa in den Visegrad-Staaten bereits ausgeschöpft ist, ist derzeit kaum zu sagen; empirische Studien dazu kommen, nicht zuletzt wegen erheblicher Unterschiede in der Ansetzung des ,,Ausgangspotentials" , zu erheblich abweichenden Ergebnissen!S Da die mittel- und osteuropäischen Volkswirtschaften bei der Mo14 yg l. Deutsche Bundesbank: Die Wirtschaftsbeziehungen des vereinigten Deutschland zu den mittel- und osteuropäischen Reform1ändem. In: Monatsberichte der Deutschen Bundesbank, Juli 1992, S. 21f. ISygl. Lösch, Dieter; Wohlers, Eckhardt: Auswirkungen der Transformationsprozesse in MitteIund Osteuropa auf die deutsche Wirtschaft. In: Wachstumsperspektiven in den neunziger Jahren, Beihefte der Konjunkturpolitik H. 42/1994, S. 149 ff.
12 Eckart I Paraskewopoulos
178
Eckhardt Wohlers
dernisierung und Umstrukturierung ihres Kapitalstocks immer noch in erheblichem Maße auf westliche Kapitalgüter angewiesen sind, bestehen dort weiterhin gute Absatzchancen fUr westdeutsche Investitionsgüter, ähnliches gilt fUr höherwertige Inputgüter. Mit fortschreitendem Reformprozeß und damit einhergehenden Realeinkommenssteigerungen in diesen Ländern wird dort aber auch die Nachfrage nach höherwertigen Konsumgütern mehr und mehr expandieren und deutschen Anbietern entsprechende Absatzchancen bieten. Zur Förderung der Reformprozesse - und damit der Erschließung der Absatzpotentiale - in Mittel- und Osteuropa ist aber die Öffnung der eigenen Märkte fUr Produkte aus dieser Region erforderlich, auch um den dortigen Ländern die Möglichkeiten zu geben, die zum Kauf westlicher Produkte notwendigen Devisen zu "verdienen". Die Angebotspalette der ehemaligen RGW-Länder wird in erster Linie von den komparativen Vorteilen dieser Länder bestimmt werden. In den meisten Ländern liegen sie - neben den natürlichen Ressourcen - wegen des relativ niedrigen Lohnniveaus sicherlich noch geraume Zeit in arbeitsintensiven Produkten sowie in Bereichen mit standardisierter Technologie, die nicht mehr an die Industrienationen gebunden ist. 16 Später dürften aber wegen des Potentials an qualifIzierten Arbeitskräften auch Produkte mobiler Schumpeter-Industrien an Bedeutung gewinnen, indem Technologien aus den hochentwickelten Industrieländern importiert werden, und so das vorhandene Potential efftzienter genutzt wird. Bei der Öffnung der Märkte fUr Produkte aus den mittel- und osteuropäischen Ländern ist die Bundesrepublik offenbar trotz des durch die wachsende Importkonkurrenz weiter vorangekommen als andere westliche Länder; dies verbessert sicherlich auch die Absatzchancen deutscher Exporteure in den Reformländern. Allerdings gibt es trotz der Assoziierungsabkommen der EU mit den Visegrad-Staaten sowie Bulgarien und Rumänien bei einer Reihe von sog. "sensiblen" Gütern, bei denen die mittel- und osteuropäischen Länder komparative Vorteile besitzen, und die rund ein Drittel der Einfuhren der EU aus den assoziierten Ländern ausmachen, auf seiten der Union teilweise immer noch Einfuhrrestriktionen, und bei anderen Produkten wird versucht, neue Hürden über Anti-Dumping-Verfahren u.ä. aufzubauen. Das hat auch Rückwirkungen auf den Offenheitsgrad der deutschen Märkte fUr Produkte aus den Transformationsländern. Bei der Nutzung der Absatzpotentiale in Mittel- und Osteuropa werden westdeutsche Firmen sicherlich noch einige Zeit erfolgreicher bleiben als ostdeutsche. Selbst auf den Märkten der GUS-Staaten, die im Reformprozeß noch weit zurück sind, herrschen inzwischen, soweit es den Außenhandel betrim, Weltmarktbedingungen; um so mehr gilt das fUr die im Transformationsprozeß und bei der Einbindung in die internationale Arbeitsteilung bereits weit vorangekommenen Visegrad-Staaten. In l6ygl. Sachverstandigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Jahresgutachten 1992/93, Bundestagsdrucksache 12/3774, Nov. 1992., Ziff. 55.
Ökonomische Auswirkungen der Transformationsprozesse
179
allen früheren RGW-Ländem lassen sich Marktanteile nur noch mit Produkten gewinnen, die nicht nur hinsichtlich des Preises, sondern auch hinsichtlich Qualität und technologischem Standard mithalten können; bei der Entwicklung und Produktion solcher Produkte besteht in Ostdeutschland aber noch ein erheblicher Nachholbedarf. Eine nachhaltige Erholung des ostdeutschen Exports nach Mittel- und Osteuropa wie auch in andere Regionen - setzt somit eine deutliche Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft in den neuen Bundesländern voraus. Offene oder versteckte Preissubventionen können zwar fiir eine gewisse Zeit Wettbewerbsnachteile kaschieren, sie können aber auf Dauer nicht Mängel in der Qualität und im technologischen Standard kompensieren. Immerhin werden nun mehr und mehr die in den letzten Jahren vorgenommenen Investitionen produktionswirksam; damit ist eine spürbare Verbesserung der Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit verbunden. Auf Fortschritte bei der Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit deutet auch der Anstieg des ostdeutschen Exports im letzten Jahr um rd. ein Zehntel hin, der sich freilich von einem sehr niedrigen Niveau aus vollzog; die Ausfuhren aus den neuen Bundesländern machen nur knapp 2% des gesamten deutschen Exports aus. Mit wachsenden Erfolgen im Transformationsprozeß werden die mittel- und osteuropäischen Länder zunehmend attraktiv fiir private Kapitalanieger, so daß sich der Standortwettbewerb mit diesen Ländern auf mittlere Sicht deutlich verschärfen wird. Die im Vergleich zur deutschen Wirtschaft derzeit noch niedrige Produktivität ist auf längere Sicht im Standortwettbewerb sicherlich kein gravierendes Hindernis. Denn sie kann durch Investitionen in diesen Ländern, die ja zumeist mit einem Transfer von Technologie und "know how" einhergehen, spürbar gesteigert werden, insbesondere auch gegenüber den heimischen Konkurrenten in den Transformationsländern. Andere StandortdefIzite können die Investoren ebenfalls selbst mindern, so etwa Defizite in Ausbildung und Motivation. 17 Mit alledem tragen die Direktinvestitionen zur Verbesserung der Wachstumsbedingungen und damit auch zum raschen Fortgang des Transformationsprozesses bei. Bei den Löhnen wird die deutsche Wirtschaft auch künftig nicht mit den Ländern in Mittel- und Osteuropa konkurrieren können; obwohl dort das Lohnniveau im Zuge des Reformprozesses ebenfalls steigen wird, wird es noch geraume Zeit hinter dem in Deutschland zurückbleiben. Um so wichtiger ist es, die komparativen Vorteile bei anderen Standortfaktoren - etwa ein hoher technologischer Standard und hohe Produktivität von Arbeit und Kapital, eine relativ gute Infrastruktur und ein leistungsfähiges Kommunikationssystem, politische Stabilität und Glaubwürdigkeit - zu halten und auszubauen, und bestehende Nachteile rasch zu beheben. Dann wird die deutsche Wirtschaft auch künftig im internationalen Standortwettbewerb bestehen können.
I'Vgl. Beyfuß, Jörg: Standortqualitaten der Lander Mittel- und Osteuropas. In: iw-trends H. 2/1995, S. 36. 12*
Alexander Barthel DIE AUSWIRKUNGEN DER GLOBALISIERUNG AUF DEN STANDORT DEUTSCHLAND J. Vorbemerkungen Seit einigen Jahren wird in Politik, Medien und Öffentlichkeit zum Teil sehr kontrovers über den "Standort Deutschland" diskutiert. Der aktuelle Hintergrund dieser Debatte sind eine insgesamt nachlassende Wachstumsdynamik und ein deutlicher Anstieg der Arbeitslosigkeit. Im Mittelpunkt stehen die Fragen, ob einerseits die deutsche Volkswirtschaft zureichend auf die Herausforderung aus der Globalisierung der Weltmärkte eingestellt ist, und welche Anpassungsstrategien andererseits zur Bewältigung dieser Herausforderungen erfolgversprechend sind. Einige Aspekte und Elemente dieser Debatte werden im folgenden beleuchtet: Eingangs sind kurz einige Spezifika dieser Globalisierung zu skizzieren. Daran anschließend werden an Hand zweier Indikatoren - Investitionsdynamik und Entwicklung der Arbeitslosigkeit - offenkundige Schwächen des Standortes Deutschland aufgezeigt. Hiervon ausgehend werden des weiteren - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - mehrere Ursachen dieser Standortschwäche sowie hierauf bezogene Ansatzpunkte zur Verbesserung der hiesigen Standortqualitäten aufgezeigt. Nicht zuletzt deswegen, weil sie in der aktuellen Standortdebatte eine herausgehobene Stellung einnehmen, stehen die Tarif- und Sozialpolitik hierbei im Vordergrund. Den Abschluß der Ausfilhrungen bilden einige Überlegungen zu dem politischen Bedingungsrahmen, innerhalb dessen die Debatte um die Verbesserung der wirtschaftsund sozialpolitischen Rahmenbedingungen Deutschlands stattfmdet. Unbestritten gelten in den neuen Bundesländern angesichts der dortigen tiefgreifenden Transformation des gesamten Wirtschafts- und Sozialsystems besondere Bedingungen. Gleichwohl stellt sich die Frage nach den Standortqualitäten filr beide Hälften Deutschlands gleichermaßen: Die Transformation kann nur zum wirklichen Erfolg fUhren, wenn Deutschland insgesamt seine internationale Wettbewerbsfiihigkeit sichert; umgekehrt belasten weitere Verzögerungen des Transformationsprozesses jedoch auch das Bemühen um eine Stärkung des Wirtschaftsstandorts Deutschland insgesamt. Unter diesem Vorzeichen soll das standortpolitische Thema im folgenden vorrangig unter gesamtdeutschem Vorzeichen behandelt werden.
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Alexander Barthel
2. Globalisierung der Weltwirtschaft als Ausgangspunkt Die internationale Arbeitsteilung hat sich insbesondere seit Beginn der 90er Jahre nicht nur quantitativ, sondern insbesondere auch qualitativ verändert. Zwei wesentliche Entwicklungslinien sind hierbei zu beobachten: Zum einen ist in den letzten Jahren die weltweite Freizügigkeit des Kapital-, Waren- und Dienstleistungsverkehrs erfreulicherweise weiter angewachsen. Kennzeichen hierfür sind sowohl die Fortschritte beim Abbau internationaler Handelshemmnissen als auch das erfreuliche weitere Vordringen marktwirtschaftlicher Ordnungsprinzipien auch in vielen Entwicklungsländern und Schwellenländern sowie auch in einigen der fiüheren Staatshandelsländer. Gleichzeitig sind die Transportkosten in den letzten Jahren deutlich gesunken. War Kapital schon immer ein international sehr mobiler Faktor, gilt dies in wachsendem Maß auch fiir unternehmerisches und technologisches Know-how. Zum anderen erhöht sich die Taktzahl des technologischen Fortschritts und damit auch die Geschwindigkeit des Strukturwandels. Vorrangig die rasanten Fortschritte im Bereich der Kommunikations- und Informationstechnologien sind hierfiir ein wesentlicher Schrittmacher. Allgemein ist eine zunehmende Teritiarisierung der Volkswirtschaften zu beobachten: Die gesamtwirtschaftliche Bedeutung der industriellen Sektoren sinkt, diejenige der Dienstleistungsbereiche steigt. Insbesondere im Bereich der produktionsnahen Dienstleistungen ist vieles von dem, was fiüher nicht international handelbar war, gerade wegen dieser Fortschritte bei den Kommunikations- und Informationstechnologien handelbar geworden. Nur beispielhaft sei hier erwähnt, daß deutsche Druckhäuser Layouts zwischenzeitlich häufig in Singapur erstellen oder europäische Luftfahrtgesellschaften ihr elektronisches Buchungssystem heutzutage auch in Indien abwickeln lassen.
Im Gesamtergebnis dieser Entwicklungslinien sinken die Transaktionskosten der internationalen Arbeitsteilung immer weiter und verzahnen sich die einzelnen Volkswirtschaften immer enger. So schließen zahlreiche bisherige Schwellenländer gerade auch auf den Märkten fiir innovative, kapital- und wissensintensive Güter und Dienstleistungen immer stärker zu den bisherigen Industrieländern auf. Mit der Öffnung der ostmitteleuropäischen Reformstaaten gegenüber den Weltmärkten ist zugleich aber auch die Konkurrenz im Bereich der eher einfachen, arbeitsintensiven Güter spürbar gewachsen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis diese Länder auch den traditionellen Industriestaaten mit technologieintensiven Gütern Konkurrenz machen werden. Es ist nur scheinbar ein Paradoxon, daß die Bedeutung der konkreten ökonomischen Rahmenbedingungen in den einzelnen Ländern um so mehr anwächst, je intensiver die internationale Arbeitsteilung wird. Je leichter nämlich fiir die Unternehmen bei ihren Entscheidungen über Investition und Produktion ein globales Enga-
Die Auswirkungen der Globalisierung auf den Standort Deutschland
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gement wird, um so einfacher - und rentabler - wird es fiir sie, sich diejenigen Länder bzw. Standorte auszusuchen, die im Vergleich zu anderen beispielsweise ein geringes Abgabenniveau aufweisen, über eine leistungsfiihige öffentliche Infrastruktur und eine qualifizierte Arbeitnehmerschaft verfUgen, in denen die unternehmerische Initiative vergleichsweise wenig reglementiert wird und in denen günstige Kostenbedingungen - nicht zuletzt bei den Arbeitskosten - bestehen. Je intensiver der internationale Wettbewerb wird, um so größeres Augenmerk müssen die Unternehmen bei ihren Investitions- und Produktionsentscheidungen gerade solchen Aspekten schenken. Je diversifizierter die Unternehmen in ihren internationalen Standortentscheidungen werden, um so besser können sie das Wettbewerbsprinzip auch fiir unternehmensinterne Entscheidung nutzbar machen: Dasjenige Tochterunternehmen wird mit der ErfUliung einer spezifischen Produktionsfunktion betraut, das im Vergleich zu anderen Tochterunternehmen die günstigsten Produktionsbedingungen aufweist. Die entscheidende Frage ist somit nicht mehr, ob überhaupt Wertschöpfung und damit Wachstum stattfmden. Immer entscheidender wird fiir die einzelnen Volkswirtschaften, wo sie stattfmden und wo damit auch Wohlstand und Arbeitsplätze entstehen bzw. gesichert werden können. Neben den Wettbewerb der Unternehmen auf den Gütermärkten tritt zunehmend ein Wettbewerb der einzelnen Länder um Kapital sowie technisches und unternehmerisches Know-how und damit um Beschäftigung und Wohlstand sowie ein unternehmensinterner Standortwettbewerb. Je intensiver nun auch Volkswirtschaften in unmittelbare Konkurrenz zueinander treten, die räumlich weit voneinander entfernt liegen, um so stärker treffen damit höchst unterschiedliche Sozialstrukturen aufeinander: Neben die traditionellen Industriestaaten, die in den zurückliegenden Jahrzehnten wirtschaftlichen Erfolgs umfangliche wohlfahrtsstaatliche Strukturen geschaffen und ausgebaut haben, treten nun Länder, in denen der Ausbau und die Festigung der wirtschaftlichen Leistungskraft auch auf absehbare Zeit noch deutlichen Vorrang vor wohlfahrtsstaatlichen Entwicklungen hat. Solange im wesentlichen nur die hochentwickelten Wohlfahrtsstaaten auf den Weltmärkten miteinander konkurrierten, stellte das Niveau der wohlfahrtsstaatlichen Ansprüche und Besitzstände zumindest im Hinblick auf die jeweilige internationale Wettbewerbsfähigkeit kein besonderes Problem dar. Allerdings galt schon bisher, daß in diesen Ländern das anwachsende Niveau wohlfahrtsstaatlicher Eingriffe eine Hypothek fiir Innovationsfiihigkeit und Leistungsbereitschaft der Gesellschaft war und damit auch die Wachstumsdynamik beeinträchtigte. Unter dem Vorzeichen der Globalisierung erweist sich jedoch diese bisherige wohlfahrtsstaatliche Entwicklung in den traditionellen Industrieländer zunehmend als Belastung fiir ihre internationale Wettbewerbsfiihigkeit. Das gilt nicht nur fiIr die Unternehmen, sondern gerade auch fiIr die Beschäftigten: In letzter Konsequenz
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Alexander Barthel
stehen heutzutage auch die deutschen Facharbeiter mit ihren hohen Löhnen und den auf ihren Arbeitsplätzen lastenden Sozialkosten in unmittelbarer Konkurrenz mit Arbeitnehmern in Indien, Singapur oder Malaysia, die nicht selten ebenfalls hoch qualifIziert und mindestens genauso produktiv sind - deren Arbeitsstunde jedoch nur einen Bruchteil des deutschen Niveaus kostet. 3. Qualität des Wirtschaftsstandortes Deutschland: Der Sachstand
Insbesondere von Vertretern der SPD und der Gewerkschaften, aber auch von Mitgliedern des sozialpolitischen Flügels der CDU wird in der gegenwärtigen Standortdebatte häufIg das Argument bemüht, Deutschland sei - je nach zugrundegelegter Währungsbasis - nach wie vor eine der stärksten Exportnationen der Welt; lege man die Exporte pro Kopf zugrunde, sogar Exportweltmeister. I Angesichts dieser offenkundigen Erfolge entlarfe sich die ganze Standortdebatte als ein fadenscheiniger und verwerflicher Versuch der Wirtschaft, die zwischenzeitlich erreichten tarif- und sozialpolitischen Standards auf Kosten der Arbeitnehmer zurückzuschrauben. Wer so argumentiert, der übersieht zum einen, daß die deutsche Volkswirtschaft bereits seit Jahren permanent internationale Marktanteile verliert: Mit der vorübergehenden Ausnahme des Jahres 1994 sind die deutschen Exporte in der jüngeren Vergangenheit stets langsamer gestiegen als das Volumen der ausländischen Märkte (vgl. Abb. 1).2 Wer so argumentiert, der übersieht jedoch zum anderen auch, daß die heutigen Exporte das Ergebnis früherer Anstrengungen sind. Keineswegs sind sie ein Beweis dafiir, daß die heimischen Bedingungen weiterhin so sind, daß auch in der Zukunft Exporterfolge möglich sind. Gerade auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat in seinem jüngsten Jahresgutachten nachdrücklich darauf hingewiesen, daß die Bedrohung eines Standortes sich zunächst nicht auf den Gütermärkten bemerkbar macht, sondern beispielsweise daran, daß die Investitionsdynamik nicht mehr ausreicht, um fiir Arbeitsplätze, die im Zuge des Strukturwandels fortfallen, an anderer Stelle Ersatz zu schaffen. 3 Sowohl um die Investitions- als auch um die Beschäftigungsdynamik ist es in Deutschland offenkundig schlecht bestellt. 'Siehe beispielhaft: Deutscher Gewerkschaftsbund, Standort Deutschland: Mindestens so stark wie andere Industrieländer, Infonnationen zur Wirtschafts- und Strukturpolitik, vervielf. Manuskript, Düsseldorf, November 1995. 2Daß das Exportvolumen selbst bei sinkenden Weltmarktanteilen noch steigen kann, wenn die ausländischen Märkte stark genug anwachsen, sei hier nur am Rande angemerkt. Wer sich mit einer solchen Entwicklung begnügt, der nimmt in Kauf, daß die EinbrUche der deutschen Exporte beim nächsten weltwirtschaftlichen Abschwung um so gravierender werden. JSiehe Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Jahresgutachten 1995/1996, Stuttgart 1995, S. 11
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Abb. I: Entwicklung der deutschen Export-Weltmarktanteile
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Quelle: OECD, Economic Outlook, Dezember 1995; eigene Berechnungen.
3. J. Wachsende Beschäftigungslücke
Die Zahl der registrierten Arbeitslosen wird im Durchschnitt des Jahres 1996 auf 3,9 Mio. Personen ansteigen. 1995 waren es bereits 3,6 Mio. Personen gewesen. Besonders besorgniserregend ist, daß sich die Arbeitslosigkeit immer weiter verfestigt. Zwischenzeitlich ist bereits ein Drittel aller Arbeitslosen länger als ein Jahr ohne Beschäftigung. Rechnet man die Teilnehmer an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen hinzu (siehe Übersicht I), dann beläuft sich die Beschäftigungslücke in Deutschland sogar auf rd. 5 Mio. Personen. Wieviele derjenigen, die, obwohl sie arbeitslos gemeldet sind, allerdings an Steuer- und Beitragsrecht vorbei einer Beschäftigung nachgehen, läßt sich allenfalls schätzen.
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Alexander Barthel
Tab. 1: Teilnehmer an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen in West- und Ostdeutschland (Angaben in Tausend) Westdeutschland
Kurzarbeit
Ostdeutschland
Qualifi- Arbeitsbezierung schaffung
Kurzarbeit
Qualifi- Arbeitsbe- Vorruhezierung schaffung stand
1990
56
350
83
1991
145
364
83
1616
280
183
554
1992
283
372
78
370
491
388
811
1993
767
348
51
181
381
270
852
1994
275
309
57
97
259
279
646
1995
128
304
72
71
256
312
370
Quelle: Bundesanstalt rur Arbeit
Abb. 2: Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit in Westdeutschland 10
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Quelle: Statistisches Bundesamt; Bundesanstalt für Arbeit
C1'J
C1'J C1'J
V
C1'J C1'J
Die Auswirkungen der Globalisierung auf den Standort Deutschland
187
Niveau und Entwicklung der Arbeitslosigkeit lassen sich allenfalls in sehr engen Grenzen auf eine unzureichende gesamtwirtschaftliche Nachfrage zurückführen. Läge das Problem vorrangig auf der Nachfrageseite, dann wäre nicht erklärbar, warum sich die Arbeitslosigkeit, die in Rezessionsjahren angestiegen ist, in den anschließenden Aufschwungjahren nur teilweise wieder zurückbildet. In den Vereinigten Staaten ist dies der Fall, nicht jedoch in (West-)Deutschland. Dort ist der Sockel der Arbeitslosigkeit im Gefolge der beiden Rezessionen 1974/75 und 1981/82 jeweils deutlich angestiegen; und auch nach der jüngsten Rezession 1993 zeichnet sich eine gleichgerichtete Entwicklung ab (siehe Abb. 2). Dies spricht eher rur angebotsseitige Ursachen unserer Beschäftigungsprobleme.
3.2. Nachlassende Investitionsdynamik und Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland Ebenfalls auf angebotsseitige Ursachen dürfte ZUIÜckzufiihren sein, daß die Investitionsdynamik in Deutschland immer mehr zu wünschen übrig läßt. Hierzu nur einige Zahlen: 1993 sind in Westdeutschland die realen Investitionen um 10% gesunken. Als die Wirtschaft 1994 insgesamt wieder in Fahrt kam, stiegen sie - von entsprechend niedriger Basis aus - lediglich um 0,7% und 1995 um nur 1,3%. Die aktuellen Investitionsprognosen fiir dieses Jahr schwanken zwischen einerseits einem Wachstum von 2 bis 3 Prozent und andererseits faktischer Stagnation. Besonders verhalten ist die Investitionsdynamik im Maschinenbau als einer der wichtigsten Exportbranchen Deutschlands. Sofern die Unternehmen überhaupt im Inland investieren, dann dominieren derzeit Rationalisierungs- und Modernisierungsmotive, nicht jedoch Erweiterungsinvestitionen. Letztere werden zwar vorgenommen - jedoch nicht im Inland, sondern vorrangig im Ausland. Daß deutsche Unternehmen im Ausland verstärkt investieren, ist als solches noch kein Beweis fiir hiesige Standortschwächen. Solche Direktinvestitionen dienten bisher gerade auch dazu, ausländische Märkte käufernah zu erschließen und zu sichern. Insoweit sind sie auch ein Indikator fiir wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und sichern hiesige Arbeitsplätze. Um so schwerer wiegt es jedoch unter diesem Blickwinkel, daß ausländische Unternehmen kaum den Weg nach Deutschland fmden. Der Negativsaldo zwischen zu- und abfließenden Direktinvestitionen ist in den beiden zurückliegenden Jahrzehnten kontinuierlich größer geworden (vgl. Abb. 3). Deutschland hat als Investitions- und Produktionsstandort gerade auch in den Augen der potentiellen ausländischen Investoren offenkundig an Attraktivität verloren. Dies ist um so besorgniserregender, wenn man sich den weiterhin beträchtlichen Investitionsbedarf in den neuen Ländern vergegenwärtigt.
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Abb. 3: Entwicklung der Direktinvestitionen nach und aus Deutschland (ab 1991 Gesamtdeutschland)
89
100
-170
-200 1971 bis 1975
1976 bis 1980
1981 bis 1985
1986 bis 1990
1991 bis 1995
Quelle: Deutsche Bundesbank; eigene Berechnungen
In jüngster Zeit mehren sich zudem die Anzeichen dafilr, daß deutsche Unternehmen sich nicht mehr nur aus Gründen der Markterschließung und -sicherung im Ausland engagieren, sondern daß hierbei die Nutzung dortiger Standortvorteile zunehmende Bedeutung erhält. Wenn beispielsweise die deutsche Gentechnologie fast gänzlich in die Vereinigten Staaten verlagert worden ist, dann kann dies nicht nur mit dem amerikanischen Marktpotential, sondern muß nicht zuletzt auch mit den dortigen, im Vergleich zu Deutschland flexibleren, Vorschriften zur gentechnologischen Forschung und Produktion erklärt werden. Auf diese Weise gehen hier in Deutschland unzweifelhaft Arbeitsplätze verloren;
das Argument allerdings, daß durch solche Direktinvestitionen vorrangig Arbeits-
plätze in unsere östlichen Anrainerstaaten mit ihrem niedrigen Arbeitskostenniveau verlagert würden, hält der empirischen Überprüfung nicht stand: 1995 flossen 62% der deutschen Direktinvestitionen in die EU, 22% in außereuropäische Industrieländer, dabei mit deutlichem Abstand - knapp 18% - in die Vereinigten Staaten. In die
Die Auswirkungen der Globalisierung auf den Standort Deutschland
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mittel- und osteuropäischen Refonnländer gingen lediglich 10% und 6% in asiatische Entwicklungs- und Schwellenländer.4 Diese Strukturdaten zeigen, daß steigende Direktinvestitionen in erster Linie Zeichen dafilr sind, daß sich der Standortwettbewerb gerade auch zwischen den hochentwickelten Industrieländern intensiviert hat. Lohnkostenunterschiede spielen hierbei sicherlich auch eine Rolle; noch entscheidender scheinen jedoch das jeweilige Niveau der staatlichen Regulierung, die Steuerbelastung, die Sozialpolitik oder auch die Flexibilität des Arbeitsmarktes - Z.B. im Hinblick auf arbeitsrechtliche Schutzvorschriften und Niveau der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen - zu sein. Gerade im Hinblick auf Lohnkostenunterschiede ist jedoch die Feststellung wichtig, daß die deutsche Wirtschaft einen immer größeren Teil ihrer Vorleistungen aus dem Ausland bezieht. 1980 betrug dieser Anteil noch 19,5%, 1994 waren es bereits annähernd 30%. Dies mag vordergründig als Indiz filr eine sich weiter vertiefende internationale Arbeitsteilung gewertet werden; hiergegen spricht allerdings, daß im gleichen Zeitraum der Anteil der Wareneinfuhren am Bruttoinlandsprodukt von 23,2% auf 20,4% ZUlÜckgegangen ist. 5 Eindeutig sind es Kostenunterschiede, die dazu fuhren, daß die deutsche Wirtschaft einen immer stärkeren Anteil ihrer Lohnveredelung in den ostmitteleuropäischen Refonnstaaten und in Südostasien durchfuhren läßt. Zwei Drittel aller deutschen Einfuhren nach Lohnveredelung stammen aus Mittelost- und üsteuropa. Unter den südostasiatischen Schwellenländern spielen bei der Lohnveredelung insbesondere Malaysia und Singapur eine dominierende Rolle.
4. Versuch einer Ursachenanalyse Zieht man unter die bisherigen Ausfilhrungen einen Strich, dann bleibt festzuhalten, daß Deutschland als Investitions- und Produktionsstandort augenscheinlich und deutlich an Attraktivität verliert und daß im Ergebnis die Beschäftigungslücke anwächst. Die Öffentlichkeit fiihlt sich durch tiefschürfende Problemanalysen und hierauf beruhende komplexe Lösungsansätze in der Regel gelangweilt bis belästigt und bevorzugt statt dessen in der Regel einfache Patentrezepte. Gerade auch die Gewerkschaften kommen diesem Bedürfuis gerne nach und lassen unter Beifall der Medien und der Kirchen beispielsweise verlauten, die Beschäftigungslücke könne schon alleine dadurch geschlossen werden, daß erstens die Tarifparteien die noch vorhandene Arbeit durch weitere, radikale Arbeitszeitverkürzungen "gerecht" umverteilen und daß zweitens der Staat öffentlich fmanzierte Ersatzbeschäftigung in großen 4Siehe Deutsche Bundesbank: Monatsbericht MlIrz 1996, S. 28 ff. Kroker, R.: Geht Deutschland die Arbeit aus?, in: Institut der deutschen Wirtschaft, iw-trends Nr. 3/1995, S. 5 -17, hierS. 10.
5Vgl.
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Dimensionen organisiert. Füge man dieser Mixtur noch eine gehörige Portion industriepolitischer Innovationsförderung fiir die Unternehmen bei, so seien damit letztlich alle Probleme gelöst und der Wohlfahrtsstaat könne im Sinne seines weiteren Ausbaus gesichert werden. So einfach liegen die Dinge jedoch nicht. Jede seriöse Strategie muß an den tatsächlichen Ursachen ansetzen und darf nicht nur auf der Ebene reiner Symptombekämpfung verharren. Und da unsere Investitions-, Wachstums- und Beschäftigungsschwäche auf ein Bündel unterschiedlichster, komplexer Ursachen zwilckgeruhrt werden muß, die je rur sich genommen möglicherweise nicht sonderlich, in ihrer Summe jedoch um so mehr ins Gewicht fallen, muß auch die Lösungsstrategie auf vielen unterschiedlichen Einzelmaßnahmen beruhen. Keine dieser Maßnahmen alleine reicht aus, aber ohne den jeweils einzelnen Schritt sind auch die anderen Schritte zum Scheitern verurteilt. Da hier keine umfassende Ursachenanalyse unserer aktuellen StandortdefIZite erfolgen kann, müssen im folgenden einige wenige, stichwortartige Ausfiihrungen genügen. 6
4./. Finanz- und Steuerpolitik Über die Jahre hinweg ist der Anteil, den die Öffentliche Hand an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung beansprucht, fast durchgängig gewachsen. Zwar konnte die Staatsquote in den 80er Jahren in vergleichsweise geringem Umfang wieder zurückgefiihrt worden; im Zuge der deutschen Wiedervereinigung ist sie jedoch auf über 50% des Bruttoinlandsprodukts angestiegen. Selbst wenn man die Beanspruchung der Öffentlichen Hand aus der Wiedervereinigung mitberucksichtigt, so ist diese Quote fiir marktwirtschaftliehe Verhältnisse entschieden zu groß. Die hohe Staatsquote korrespondiert mit einer im Zeitverlauf deutlich steigenden Abgabenbelastung: Die Abgabenquote am Bruttoinlandsprodukt - Steuern und Sozialversicherungsbeiträge - beträgt zwischenzeitlich rd. 44%, und im internationalen Vergleich belastet der deutsche Fiskus die Unternehmen sehr stark. Von 100 DM Gewinn sind in Deutschland 62% an den Fiskus abzufilhren, von 100 $ in den USA demgegenüber nur 45% und von 100 f. in Großbritannien sogar nur 33%. Ursache dieser hohen Unternehmensbesteuerung ist dabei nicht die deutsche Körperschaftsteuer, die mit einem Steuersatz von 45% auf thesaurierte Gewinne noch vergleichsweise moderat ist. Ein besonderes Problem bilden vielmehr die Gewerbekapital- und die betriebliche Vermögensteuer. Beide Steuern sind ertragsunabhängig und
6Siehe hierzu auch: Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbande, Wege zu mehr Beschaftigung - ein Beitrag zum Konsultationsprozeß der Evangelischen und Katholischen Kirche rur ein gemeinsames Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, Köln 1995.
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belasten damit die Unternehmen - und die Arbeitsplätze - insbesondere in wirtschaftlich schwierigen Zeiten. Aber nicht nur die Unternehmen, sondern auch die Arbeitnehmer sind von wachsenden Abgabenbelastungen betroffen. In den zurückliegenden Jahren ist der Keil zwischen Bruttolohn und Nettolohn immer größer geworden. Obwohl die Arbeitskosten in Deutschland im internationalen Vergleich am höchsten sind, liegen die Nettoeinkommen der deutschen Arbeitnehmern im Ergebnis lediglich im MittelfeId.
4.2. Sozialpolitik Die Sozialpolitik in Deutschland ist in den zurückliegenden Jahrzehnten permanent ausgebaut worden: Wurden 1970 26,5 % des Bruttoinlandsproduktes fiir sozialpolitische Zwecke ausgegeben, so sind dies zwischenzeitlich bereits rd. 33 %. Pro Kopf erreichten die Sozialausgaben in Deutschland 1994 fast 13.600 DM und lagen damit um mehr als 340 % über dem Niveau des Jahres 1970. Im Vergleich dazu nahm die Bruttolohn- und Gehaltssumme je Beschäftigten im gleichen Zeitraum "nur" um rd. 250 % zu. Die sozialpolitischen Aufwendungen übersteigen seit vielen Jahren die jährlichen Investitionsausgaben - und damit den Betrag, der fur die Schaffung neuer Arbeitsplätze eingesetzt wird. 1994 stand den Ausgaben fur sozialpolitische Zwecke in Höhe von 1.106 Mrd. DM ein Investitionsvolumen von lediglich 759 Mrd. DM gegenüber. Parallel zum Anstieg der Sozialquote sind über die Jahre hinweg auch die Beiträge zu den Sozialversicherungen angewachsen. Belief sich die Beitragsbelastung im Jahr 1970 auf insgesamt 26,5% des beitragspflichtigen Arbeitslohns, erreicht sie Mitte des Jahres 1996 - nach Einfuhrung der zweiten Stufe der Pflegeversicherung fast 41 % (vgl. Abb. 4). Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der weiteren demographischen Entwicklung und des kostenintensiven technologischen Fortschritts im Bereich der Medizintechnik, aber auch angesichts der ungünstigen Arbeitsmarktentwicklung zeichnet sich bereits heute insbesondere in der Rentenversicherung und der Krankenversicherung ein weiterer Anstieg der Beitragsbelastung ab. Durch die in Deutschland gewählte Finanzierungsform lasten die Kosten der sozialen Sicherung zu einem Großteil auf den Arbeitsplätzen. Dies beeinträchtigt die nationale, insbesondere aber auch die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und forciert die Verlagerung der Produktion ins Ausland sowie die Substitution von Arbeit durch Kapital. Insoweit ist der Anstieg der sozialpolitisch bedingten Kostenbelastung eine der wesentlichen Ursachen fiir den Anstieg der Arbeitslosigkeit. Dies wiederum erhöht den sozialpolitischen Handlungsbedarf und fuhrt in der Folge zu weiteren Kostensteigerungen. Gerade auch wegen der hohen Sozialversicherungsbeiträge ist Deutschland im internationalen Vergleich das Land mit den
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höchsten Personalzusatzkosten. Diese Kosten belaufen sich je 100 DM Lohn fiir tatsächlich geleistete Arbeit bereits auf über 80 DM. 7 Abb. 4: Entwicklung der Sozialversicherungsbeiträge 45
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o Arbeitslosenversicherung 11 Krankenversicherung • Rentenversicherung
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Quelle: jeweilige gesetzliche Grundlagen
Ein besonderes Problem bilden die sogenannten versicherungsfremden Leistungen. Hierbei handelt es sich zum einen um solche, die im gesamtgesellschaftlichen Interesse liegen und deshalb nicht nur von den Beitragszahiern, sondern von der Gesamtheit aller Steuerzahler finanziert werden müssen. Dies betriffi: Z.B. familienpolitische Leistungen (z.B. Anrechnung von Ausfallzeiten wegen Kindererziehung) wie auch die Abwicklung von Kriegsfolgelasten in der Rentenversicherung oder die aktive Arbeitsmarktpolitik. Zum anderen handelt es sich um solche Leistungen, hinter denen in erster Linie sozialpolitische Umverteilungsziele stehen. Dort besteht die notwendige Korrektur nicht in der Übernahme dieser Leistungen durch die öffentliche Hand, sondern in der Begrenzung dieser Umverteilung in den Sozialversicherungen selbst. Das herausragende Beispiel hierfilr ist die bisherige kostenfreie 7Siehe Hemmer, E.: Personalzusatzkosten im produzierenden Gewerbe West- und Ostdeutschlands, in: Institut der deutschen Wirtschaft, iw-trends Nr. 2/1995, S. 55 - 66.
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Mitversicherung von Familienangehörigen in der Krankenversicherung. Der Gesamtumfang einerseits dieser versicherungsfremden Leistungen, die nicht durch staatliche Zuschüsse kompensiert werden, wie andererseits auch der sozialpolitischen Umverteilungsmaßnahmen beläuft sich über alle Sozialversicherungszweige hinweg zwischenzeitlich aufrd. 127 Mrd. DM. Durch eine Umfmanzierung dieser versicherungsfremden Leistungen sowie durch eine wieder stärkere Betonung des Äquivalenzprinzips bei der Mitversicherung der Familienangehörigen in der Gesetzlichen Krankenversicherung könnten die Arbeitskosten in West- und Ostdeutsch land um insgesamt rd. 4% gesenkt werden. 8 4.3. Tarifpolitik
In den zurückliegenden Jahrzehnten hat mit nur wenigen Ausnahmen der Anstieg der Tariflöhne das Produktivitätswachstum überstiegen. Zusammen mit den Lohnzusatzkosten - und zumindest teilweise natürlich auch durch die Aufwertung der DMark - fUhrt dies dazu, daß Westdeutschland bei den Lohnstückkosten dann, wenn man auf eine einheitliche Währungsbasis wie Z.B. die DM abstellt, insgesamt eine unrühmliche internationale Spitzenstellung einnimmt:9 Berechnungen des Instituts der Deutschen Wirtschaft zufolge betrug der Produktivitätsvorsprung der westdeutschen Industrie gegenüber dem gewogenen Durchschnitt der anderen Industriestaaten 1994 rd. 15 Prozent, der Kostennachteil jedoch reichlich 25%. Insgesamt lag das westdeutsche Lohnstückkostenniveau damit um rd. 10 Prozent über demjenigen der Mitkonkurrenten. 10 Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß ein beträchtlicher Teil der Produktivität, der bisher von der Taritpolitik verteilt worden ist, daraus herrührt, daß Arbeitsplätze wegen der hohen Kostenbelastungen wegrationalisiert werden: Je geringer die Belegschaften werden, um so größer wird notwendigerweise die Wertschöpfung je Mitarbeiter. Gerade diese wurde jedoch wiederum zum Maßstab weiterer Lohnsteigerungen genommen. Gerade auch hieran zeigt sich, daß die bisherige Taritpolitik in erster Linie die Interessen der Arbeitsplatzbesitzer, nicht jedoch die der Arbeitslosen berücksichtigt hat. Die gewerkschaftliche Solidarität mit denen, die auf diese Weise aus dem Arbeitsprozeß ausgeschlossen werden, lag zumindest bisher in erster Linie darin, eine permanente Ausweitung der staatlichen Arbeitsmarktpolitik zu fordern und die "Besserverdienenden" zu deren Finanzierung zu bitten. Seifen, A.: Versicherungsfremde Leistungen 1994, in: Institut der deutschen Wirtschaft, iwtrends Nr. 1/1996, S. 1 - 11. 9Unter LohnstUckkosten wird das Verhältnis zwischen der Veränderungsrate der nominalen Lohnkosten zu derjenigen der realen (Arbeits-)Produktivität verstanden. Bei diesen "Kosten" handelt es sich demzufolge um eine dimensionslose Index-Größe. Steigen die Lohnkosten rascher (langsamer) als die Produktivität, so steigen (sinken) die LohnstUckkosten. IOygl. Link, F. 1.:Produktivität und LohnstUckkosten im internationalen Vergleich, in: Institut der deutschen Wirtschaft, iw-trends Nr. 2/1995, S. 5 - 19. 8 Vgl.
13 Eckart/Paraskewopoulos
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In Ostdeutschland sollte der Lohnanstieg seit 1990 ganz ausdrtlcklich sogar ein Vorgriff auf künftige Produktivitätssteigerungen sein. Im Ergebnis einer solchen Tarifpolitik liegen die Lohnstückkosten in Ostdeutschland nochmals um ein Drittel über dem westdeutschen Niveau; mit allen negativen Konsequenzen, die dies rur den erhofften Aufbau wettbewerbsfähiger Wirtschaftsstrukturen in den neuen Bundesländern hat. Aber nicht nur das Tempo der Lohnsteigerungen selbst erweist sich als beschäftigungspolitisches Problem. Gleiches gilt zunehmend auch ilir die qualifIkationsbezogenen Lohnstrukturen. Sicherlich war es sozialpolitisch gut gemeint, daß in der Vergangenheit die Löhne ilir die untersten Tarifgruppen ilir einfache Tätigkeiten häufig überproportional angehoben wurden. Im Ergebnis jedoch wurde der Unterschied zwischen der Entlohnung dieser Personengruppe und deljenigen qualifizierter Facharbeiter immer geringer. Diese tarifpolitische "Sockelei" wiederum hatte zur Folge, daß gerade ilir einfache Arbeiten Kosten und Ertrag sehr bald nicht mehr übereinstimmten. Da die Nachfrage der Unternehmen nach nicht oder nur gering qualifizierten Arbeitskräften sehr kostenelastisch ist, sind diese Arbeitsplätze mit als erste fortgefallen. In der Chemischen Industrie beispielsweise stellten 1950 Hilfsarbeiter mit 34 v.H. den größten Arbeiteranteil. Zwischenzeitlich beläuft sich ihre Quote auf nur noch 4 v.H. In der Metall- und Elektroindustrie ist der Anteil der Hilfsarbeiter an allen Arbeitern von 23 v.H. im Jahr 1970 auf nur noch 16 v.H. im Jahr 1992 gefallen. Die Entwicklung in anderen Branchen weist ein ähnliches Bild auf. Diese Entwicklung in Deutschland steht in deutlichem Gegensatz zu deljenigen in anderen Industrieländern. Dort ist die qualiftkationsbezogene Spreizung der Verdienste in den 80er Jahren zumindest langsamer vonstatten gegangen, in wichtigen Konkurrenzländern wie den Vereinigten Staaten oder Großbritannien sogar gestiegen. Ein weiterer tarifpolitischer Problemkomplex betrifft die sehr kurzen Arbeitszeiten: Die Jahres-Sollarbeitszeit in Deutschland betrug 1995 1.602 Stunden. In Großbritannien waren es 160 Stunden bzw. 22 Tage mehr, in den USA 294 Stunden bzw. 40 Tage und in Japan sogar 355 Stunden bzw. 49 Tage mehr. Der Kollektivrnarsch in immer kürzere Arbeitszeiten war wohl die gravierendste tarifpolitische Fehlentscheidung der (west-)deutschen Nachkriegsgeschichte. Das hindert jedoch bekanntlich manchen Zeitgenossen aus Gewerkschaften, Wissenschaft und Kirchen nicht daran, weiterhin zu behaupten, wir könnten unsere Beschäftigungsprobleme durch eine Fortsetzung dieses Irrweges meistem. Dabei sind die Arbeitszeiten in Deutschland nicht nur zu kurz. Sie sind auch zu unflexibel. Entsprechend schwer flillt es den Unternehmen, rasch auf Auftragsschwankungen zu reagieren sowie Arbeitszeiten und Betriebsnutzungszeiten voneinander zu entkoppeln, um die teuren Produktionsanlagen möglichst kostengünstig zu
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nutzen. Mit nur 60 Wochenstunden ist Deutschland bei den Betriebsnutzungszeiten innerhalb der Europäischen Union das eindeutige Schlußlicht. Der Durchschnitt al1er Mitgliedsstaaten liegt bei 69 Wochenstunden.
4.4. Arbeitsrecht Kennzeichen des deutschen Arbeitsrechts ist ein hohes Maß an Schutz- und Rechtsanspruchen der Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber. Dies gilt insbesondere im Zusammenhang mit dem Kündigungsschutz. Die Kündigung von Arbeitsverträgen ist für die Unternehmen häufig nur unter schwierigen Bedingungen und unter Inkaufhahme hoher Kosten beispielsweise für Arbeitsgerichtsprozesse mit ungewissem Ausgang - und etwaige Abfmdungszahlungen bzw. sogenannte Sozialpläne möglich. Abgesehen von Unternehmenskonkursen verfugen Arbeitnehmer häufig über einen faktisch absoluten Kündigungsschutz, der ihnen seitens der Unternehmen nur durch entsprechend hohe Abfmdungszahlungen abgekauft werden kann.
Im Ergebnis sind Unternehmen selbst bei sich verbessernden Geschäftsaussichten bei der Neueinstel1ung von Arbeitskräften sehr zurückhaltend und weichen nach Überwindung einer Rezession zunächst einmal in Überstunden aus. Da diese Überstunden zumeist höher als normale Arbeitsstunden bezahlt werden, liegt diese Anpassungsstrategie auch im Interesse der Arbeitsplatzbesitzer selbst. Erst dann, wenn sich abzeichnet, daß die wirtschaftliche Aufwärtsbewegung von Dauer sein wird, steigt sukzessive die Bereitschaft der Unternehmen zu Neueinstel1ungen. 11 Der permanente Anstieg der Langzeitarbeitslosigkeit ist wesentlich auch auf den Ausbau des Arbeitnehmerschutzes seit den 70er Jahren zurückzufilhren. Die wesentlich größere Fähigkeit der Vereinigten Staaten, die Arbeitslosigkeit nach einer Rezession wieder auf das frühere Ausmaß zurückzufilhren, liegt - neben einer größeren Anpassungsfähigkeit der Löhne an die tatsächlichen Knappheiten auf dem Arbeitsmarkt - nicht zuletzt an den dortigen flexibleren Kündigungsschutzbestimmungen. In den Vereinigten Staaten ist zwar das Niveau sozialrechtlicher Einkommensabsicherung bei Arbeitslosigkeit geringer als in Deutschland; dies wird jedoch dadurch ausgeglichen, daß die Dauer der Arbeitslosigkeit dort im Einzelfal1 auf Grund der größeren lohnpolitischen und arbeitsrechtlichen Flexibilität kürzer ist. 12
"Insoweit war es einerseits bemerkenswert, ging andererseits aber auch an den tatsächlichen Erfordernissen und zugrundeliegenden Ursachen vorbei, wenn die IG Metall bei den Verhandlungen um das von ihr geforderte Bündnis filr Arbeit auf ein faktisches tarifvertragliches Verbot von Überstunden drängte. 12 Vg l. Wissenschafticher Beitrat beim Bundesministerium rur Wirtschaft, Gutachten zum Thema Langzeitarbeitslosigkeit, vervielf. Manuskript, Tübingen, Januar 1996. 13*
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4.5. Arbeitsmarktpolitik Daß Arbeitsmarktpolitik als solche berechtigt und notwendig ist, wird wohl von niemandem bestritten. Strittig sind jedoch stets ihr Umfang und ihre Zielsetzung. In Deutschland wird eine sehr umfängliche Arbeitsmarktpolitik durchgeführt: Neben den klassischen Instrumenten der Arbeitsvermittlung und der Lohnersatzleistungen bei Arbeitslosigkeit umfaßt sie auch mehrere Ansatzpunkte einer sogenannten aktiven Arbeitsmarktpolitik. Hierzu zählen insbesondere Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Lohnkostenzuschüsse filr Problemgruppen des Arbeitsmarktes, KurzarbeitergeId sowie besondere Vorruhestandsprogramme in den neuen Bundesländern, auf deren Grundlage seit 1990 ältere Arbeitnehmer zur Entlastung des dortigen Arbeitsmarktes vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden. So notwendig und unbestritten auch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zur Moderierung des Strukturwandels sind, so darf hierbei nicht übersehen werden, daß von ihnen indirekt auch negative Wirkungen auf das Beschäftigungssystem ausgehen können. Dies ist dann zu vermuten, wenn die Höhe und Dauer der arbeitsmarktpolitischen Leistungen die Anreize zur Eigeninitiative bei der Suche nach einer neuen Beschäftigung mindern. Das Ausmaß arbeitsmarktpolitischer Aktivitäten in Deutschland ist vergleichsweise umfangreich, und in diesem Zusammenhang sind in mehrerlei Hinsicht Probleme entstanden, unter denen die Flexibilität des Beschäftigungssystems insgesamt leidet: Der Lohnabstand, d.h. die Differenz zwischen dem Einkommen, das beispielsweise in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und demjenigen, das in einer regulären Beschäftigung erzielt werden könnte, ist in Deutschland vergleichsweise niedrig. In den neuen Bundesländern ist es sogar möglich, daß die Entlohnung in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen über deIjenigen in vergleichbaren regulären Beschäftigungsverhältnissen liegt. Das Problem eines zu geringen Lohnabstandes gilt in noch stärkerem Umfang auch filr die Sozialhilfe. 13 Die Leistungen der Sozialhilfe erfilllen in Deutschland faktisch die Rolle eines Mindestlohns. Liegt der Arbeitslohn unter dem Sozialhilfeniveau oder doch zumindest in seiner Nähe, kann nur ein geringes Interesse an der Aufuahme einer entsprechenden Beschäftigung vermutet werden. Von den öffentlich fmanzierten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, bei denen Rentabilitäts- und Kostengesichtspunkte nur eine untergeordnete Rolle spielen, gehen sehr leicht Verdrängungseffekte zu Lasten von Privatunternehmen und damit auch zu Lasten regulärer Arbeitsplätze aus. 13 yg l. Boss, A.: Zur Entwicklung der Arbeitseinkommen und der Transfereinkommen in der Bundesrepublik Deutschland, in: Die Weltwirtschaft, H. 3/1993, S. 311 - 330; A. Barthel, Sozialhilfe behindert Lohndifferenzierung. In: Arbeitgeber, H. 17/1994, S. 573- 579.
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Die Vorschriften, denen zufolge ein Arbeitsangebot einem Arbeitslosen als zumutbar zu gelten hat, sind vergleichsweise großzügig ausgestaltet. So ist die Vermittlung aus der Arbeitslosigkeit in eine Beschäftigung derzeit dann nicht möglich - weil vorgeblich unzumutbar -, wenn das dort erzielbare Einkommen unterhalb des Anspruchs auf Arbeitslosenhilfe liegt.
4.6. Innovationspolitische Defizite Jenseits der bereits genannten Faktoren müssen hiesige Unternehmen mit extrem langwierigen und damit kostenträchtigen Planungs- und Genehmigungsverfahren rechnen. Alleine im Umweltbereich sind insgesamt rd. 4.000 Vorschriften zu beachten, von der Überregulierung im Bauwesen ganz zu schweigen. Umwe1tschutzrelevante Genehmigungsverfahren dauern in Deutschland zwischen 6 und 22 Monaten, in Frankreich muß mit 5 bis 7 Monaten und in den USA lediglich mit 2 bis 5 Monaten gerechnet werden. Die Zeitspannen, innerhalb derer innovative Unternehmen mit neuen Produkten Vorsprungsgewinne erzielen können, ist im Zuge der globalen Wettbewerbsintensivierung zunehmend geschrumpft. Manchmal entscheidet ein Zeitvorsprung von nur wenigen Monaten über Erfolg oder Scheitern. Das bisherige Planungs- und Genehmigungsrecht in Deutschland erweist sich vor diesem Hintergrund zunehmend als ernste Standortbelastung. Insoweit überrascht es nicht, wenn die hiesigen Unternehmen im internationalen lnnovationswettbewerb an Boden zu verlieren scheinen. Sie sind zwar auf den Märkten fiir "höherwertige Technik" weiterhin stark, bei den "Spitzentechniken" spielen sie jedoch zumeist keine fiihrende Rolle. 14 Dort - insbesondere bei der Gentechnologie und der Mikroelektronik - rangiert die deutsche Wirtschaft mit wenigen Ausnahmen deutlich hinter den Vereinigten Staaten und Japan - und teilweise bereits hinter dem einen oder anderen "kleinen Tiger".ls Selbst in den Bereichen, in denen bisher unsere Stärken lagen - beispielsweise im Maschinenbau, in der Chemischen Industrie und im Fahrzeugbau - sind zwischenzeitlich deutliche Schwächesymptome erkennbar; ablesbar beispielsweise an der sinkenden Zahl von Patentanmeldungen oder an rückläufigen Ausgaben rur For-
14Zur "höherwertigen Technik" werden Produkte gezählt, bei denen der Anteil der Ausgaben rur Forschung und Entwicklung am Umsatz zwischen 3,5% und 8,5% liegt. Von "Spitzentechnik" wird ~esprochen, wenn dieser Anteil bei Ober 8,5% liegt. sHierzu und zu den folgenden Angaben vgl. Bericht an das Bundesministerium rur Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie: "Zur technologischen Leistungsfllhigkeit Deutschlands", erstellt durch das Niedersächsische Institut rur Wirtschaftsforschung, Hannover, das Deutsche Institut rur Wirtschaftsforschung, Berlin, das Fraunhofer-lnstitut rur Systemtechnik und Innovationsforschung, Karlsruhe, das Zentrum rur Europäische Wirtschaftsforschung, Mannheim, Dezember 1995, vervielf. Manuskript.
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schung und Entwicklung. All das übrigens trotzt der ausgewiesen starken und in internationalen Rahmen nach wie vor einmaligen deutschen Grundlagenforschung. Der Anteil neuer Produkte am Umsatz deutscher Industrieunternehmen ist von 33% zur Mitte der 80er Jahre auf nunmehr nur noch 30% gesunken; zwischenzeitlich lag die Quote sogar bei nur noch 28%. Auch hinter dieser Entwicklung stehen die bereits skizzierten Ursachen: ein hohes Regulierungsniveau und gravierende Kostenbelastungen; das Ganze vor dem Hintergrund einer öffentlichen Mentalitätslage, die technologischem Fortschritt und Wirtschaftswachstum insgesamt skeptisch bis ablehnend gegenübersteht. Gerade diejenigen, die stets das Argument mangelnder Innovationsneigung der Unternehmen als vorgeblichen Beweis dafiir zu bemühen suchen, daß die Tarif- und die Sozialpolitik keine Schuld fiir die Beschäftigungsentwicklung treffe, übersehen, daß auch die Innovationsflihigkeit der Unternehmen sehr eng mit den Kosten und damit auch mit den Gewinnen und den hieraus fmanzierbaren Investitionen zusammenhängt: Wo auf Grund der Kostenbelastung im Inland kaum noch Gewinne erwirtschaftet werden können, ist es auch mit der Investitionsfähigkeit als dem entscheidenden Medium rur die Umsetzung neuen Wissens in die Produktionspraxis nicht weit her. 16 Je stärker ein anwachsender Kostendruck die Unternehmen zudem in Rationalisierungs- und Verfahrensinnovationen zwingt, um so weniger Spielräume verbleiben fiir Produktinnovationen. Neue Märkte werden jedoch nicht mit neuen Produktionsverfahren, sondern mit neuen Produkten erschlossen. Daß auch unser Bildungssystem mit seinen offenkundigen Ineffizienzen - mangelnde Praxisnähe der Lerninhalte, lange Ausbildungszeiten, Überlastung der Ausbildungskapazitäten, Inetf'Izienzen im Lehrbetrieb usw. - seinen Anteil an der nachlassenden Innovationsdynamik unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaft hat, sei hier nur angemerkt.
5. Lösungsansätze Gerade der letztgenannte Problembereich macht deutlich, daß eine noch so umflingliche - und teure - staatliche Forschungs- und Innovationsförderung nicht die Anstrengungen ersetzen kann, die wirtschafts-, sozial- und tarifpolitischen Rahmen-
16 Wenn derzeit von hohen Gewinnsteigerungen berichtet wird, dann ist hierzu zum einen zu sagen, daß Gewinne, die um 50% sinken, in der Folgezeit erst einmal wieder um 100% steigen müssen, um überhaupt den alten Stand zu erreichen. Die GewinneinbrUche in der jüngsten Rezession waren filr die deutschen Unternehmen gravierend und sind in weiten Bereichen insbesondere des Mittelstandes noch nicht wieder ausgeglichen. Zum anderen wird ein wachsender Anteil der Gewinne deutscher Großunternehmen nicht in Deutschland, sondern im Ausland erwirtschaftet. Dies ist eine weitere Facette der anwachsenden Direktinvestitionen der deutschen Industrie im Ausland.
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bedingungen fiir Innovationen, unternehmerisches Engagement und damit auch filr neue Arbeitsplätze wieder spürbar zu verbessern. Das erfordert in erster Linie die Reduzierung der Abgabenlasten, die Rückführung der Staatsquote, die Entschlackung und Vereinfachung staatlicher Regulierungen, aber auch strukturelle Verbesserungen der Forschungspolitik und des Bildungssystems. Gerade auch im Hinblick auf die Rückführung der Arbeitslosigkeit bedarf es aber auch spürbarer Entlastungen bei den Arbeitskosten, wie der Arbeitsmarkt insgesamt flexibilisiert werden muß. In erster Linie stehen hier Sozial- und Tarifpolitik in der Verantwortung. Aber auch Neujustierungen in der Arbeitsmarktpolitik und eine gewisse Flexibilisierung des Arbeitsrechts sind in diesem Zusammenhang zu nennen, denn je flexibler das Beschäftigungssystem wieder wird, um so größere Chancen bestehen dann auch, das Wirtschaftswachstum wieder beschäftigungsintensiver zu machen, als es bisher ist. Die Beschäftigungsschwelle, d.h. die Zuwachsrate, ab der wirtschaftliches Wachstum nicht nur die Beschäftigungseffekte des Produktivitätswachstums ausgleicht, sondern auch zu Beschäftigungszunahmen filhrt, ist ja keine naturgesetzliche Konstante, sondern das Ergebnis der konkreten Ordnungsbedingungen. Entsprechende Reformansätze sollen im folgenden anhand einiger tarif-, sozialund arbeitsmarktpolitischer Einzelaspekte beleuchtet werden.
5. J. Tarifpolitischer Reformbedarf Auch wenn feststeht, daß die bisherige Tarifpolitik in Deutschland ihrer originären beschäftigungspolitischen Verantwortung nicht zureichend gerecht worden ist, kann die sachgerechte Antwort hierauf nicht in der Abschaffung des bisherigen Systems der deutschen Tarifautonomie insgesamt gesucht werden. Ein Lohnfmdungssystem, im dem starke Branchengewerkschaften keine Rolle mehr spielen, ist vor dem Hintergrund der bisherigen kulturellen und sozialen Traditionslinien in Deutschland auf absehbare Zeit realitätsfern. Insoweit können Vorschläge, die bisherigen kollektiven Tarifverträge durch eine dezentrale, betriebsbezogene Form der Lohnfmdung zu ersetzen, nicht befriedigen. Statt dessen muß die tarifpolitische Reformstrategie fiir mehr Beschäftigung darauf abzielen, die Inhalte dieser kollektiven Tarifverträge zu modernisieren. Konkret erfordert dies eine Neujustierung der Lohnpolitik, eine größere Flexibilität der Vertragsinhalte insbesondere im Zusammenhang mit der Arbeitszeit sowie die Schaffung größerer Gestaltungsspielräume filr die Unternehmen, damit diese die tarifvertraglichen Vereinbarungen entsprechend den jeweiligen Notwendigkeiten modifizierenkönnen.
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5.1.1. Verlangsamung des Lohnanstiegs
Das Ziel der deutschen Tarifpolitik kann nicht darin liegen, das hiesige Lohnniveau auf dasjenige unserer ostmitteleuropäischen Nachbarländer oder dasjenige asiatischer Schwellenländer zwilckzufUhren. Einerseits zeigen die Hauptzielländer der deutschen Direktinvestitionen, daß der Standortwettbewerb vorrangig zwischen den hoch industrialisierten Ländern stattfmdet; andererseits rechtfertigt ein hohes Produktivitätsniveau auch entsprechend hohe Arbeitseinkommen. Allerdings müssen sich die Lohnsteigerungen in Zukunft wieder tatsächlich und ausschließlich an der Produktivitätsentwicklung orientieren, wobei diese jedoch nur eine Obergrenze darstellen kann. Preissteigerungen stellen - entgegen gewerkschaftlicher Lehrmeinung - keine zusätzliche Verteilungsmasse dar, sondern sind häufig erst das Ergebnis davon, daß die Tarifpolitik in vorangehenden Jahren den tatsächlich vorhandenen VerteilungsspieIraum überschritten hat. Auch tUr eine zusätzliche lohnpolitische Umverteilung als dritter Komponente der bisherigen gewerkschaftlichen Lohnformel besteht nicht erst vor dem Hintergrund der hohen Arbeitslosigkeit und des wachsenden internationalen Standortwettbewerbs grundsätzlich keine Rechtfertigung. Gerade aber angesichts der hohen Arbeitslosigkeit kann der Produktivitätszuwachs tUr einen längeren Zeitraum nicht gänzlich als Lohnsteigerungen ausgeschüttet werden, sondern muß auch tUr Investitionen in neue Arbeitsplätze zur VertUgung stehen. Je signifIkanter eine solche tarifpolitische Zurückhaltung ist, und je länger sie anhält, um so größer werden im Zeitverlauf dann auch wieder die Spielräume tUr über- und außertarifliche Leistungen der einzelnen Unternehmen und damit rur eine wieder stärker leistungs- bzw. erfolgsorientierte Entlohnung der Mitarbeiter. Gerade weil ein solcher tarifpolitischer Kurswechsel nur über mehrere Jahre hinweg zum Erfolg fUhren kann, muß er möglichst rasch beginnen. So begrüßenswert es auch ist, daß die IG Metall in dem von ihr vorgeschlagenen "Bündnis rur Arbeit" erstmals auch öffentlich den engen Zusammenhang zwischen Lohnkosten und Beschäftigung anerkannt hat, so fiihrt es nicht weiter, wenn sie mit dem tarifpolitischen Kurswechsel erst bis zum Jahr 1997 warten will. Und es stellt die tatsächlichen Wirkungszusammenhänge vollkommen auf den Kopf, wenn diese Gewerkschaft zunächst von den Unternehmen die Schaffung neuer Arbeitsplätze einfordert und sich erst dann - sozusagen als Belohnung - bei ihrer Tarifforderung auf den Ausgleich der Preissteigerungsrate beschränken will. 5.1.2. Entlastungen bei den tariflichen und betrieblichen Personalzusatzkosten
Auch wenn die Anstiegsdynamik der betrieblichen und tarifvertraglichen Personalzusatzkosten in den zwilckliegenden Jahren gestoppt werden konnte, sind in der
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aktuellen Situation weitergehende Kostenentlastungen notwendig. In vielen Unternehmen wurden und werden bereits betriebliche Personalzusatzkosten eingespart, indem die betreffenden Leistungen absolut gekürzt oder mit dem Tariflohnanstieg verrechnet werden.
Im Bereich der tariflichen Zusatzkosten sind insbesondere Ansätze denkbar, bei denen die betreffenden Leistungen stärker als bisher von der konkreten wirtschaftlichen Lage des einzelnen Unternehmens abhängig gemacht werden. Dies kann beispielsweise dadurch geschehen, daß diese Leistungen in den einzelnen Unternehmen in wirtschaftlichen Notzeiten und im Gegenzug zum Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen gestundet oder auch gekürzt werden. Solche betrieblichen Regelungen setzen allerdings auf Grund der geltenden Rechtslage voraus, daß im jeweiligen Tarifvertrag entsprechende Gestaltungsspielrnume fiir die Betriebsparteien - Unternehmensleitung und Betriebsrat - geschaffen werden. 5.1.3. Flexibilisierung der Arbeitszeiten In der deutschen Wirtschaft besteht ein dringender Bedarf an neuen, flexibleren Arbeitszeitkonzepten, durch die das Arbeitszeitvolumen ohne weitere Zusatzkosten rascher an Schwankungen der Auftragslage angepaßt werden kann, die Nutzungszeiten der Produktionsanlagen stärker als bisher von den individuellen Arbeitszeiten entkoppelt und die betrieblichen Belange besser in Übereinstimmung mit den individuellen Arbeitszeitwünschen der Mitarbeiter gebracht werden können. Unter den geltenden arbeits- und tarifrechtlichen Bedingungen bestehen hierfiir unterschiedliche Ansatzpunkte: Dies betriffi: beispielsweise die Verlängerung der sogenannten Ausgleichszeiträume. Als Ausgleichszeitraum wird diejenige Zeitspanne verstanden, innerhalb derer - gemessen an der tarifvertraglich vereinbarten, durchschnittlichen Wochenarbeitszeit - längere und kürzere Arbeitszeiten miteinander verrechnet werden, bevor geprüft wird, ob die Mehrarbeit überwiegt und dann entsprechend den jeweiligen tarifvertraglichen Festlegungen gegebenenfalls Überstundenzuschläge zu zahlen sind. Je länger die Ausgleichszeiträume sind, um so größer sind die Verrechnungsmöglichkeiten, und um so weniger Überstunden bzw. Überstundenzuschläge fallen dann tendenziell an. In vielen Tarifverträgen sind noch Ausgleichszeiträume von einem halben Jahr vorgesehen, in einigen Tarifverträgen konnte der Ausgleichszeitraum bereits auf ein ganzes Jahr ausgedehnt werden. Auch können in den Tarifverträgen sogenannte Arbeitszeitkorridore vereinbart werden. Diese Arbeitszeitkorridore legen die Grenze fest, innerhalb derer das einzelne Unternehmen nach oben oder unten hin von der regulären, tarifvertraglichen Wochenarbeitszeit abweichen kann. Durch eine entsprechende tarifvertragliche Öffimngsklausel erhalten die Betriebe dann die Möglichkeit, die tatsächliche Wo-
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chenarbeitszeit innerhalb dieses Spielraums festzulegen. In der Chemischen Industrie konnten bereits solche Arbeitszeitkorridore vereinbart werden, im Bereich der Metall- und Elektroindustrie demgegenüber noch nicht. Eine große Rolle in der Debatte um eine Flexibilisierung der Arbeitszeiten spielen derzeit die sogenannten Arbeitszeitkonten. Im Grunde handelt es sich hierbei lediglich um ein organisatorisch-technisches Instrument zur Verrechnung von Mehr- und Minderarbeit. Im Rahmen beispielsweise der Gleitzeit oder auch im Zusammenhang mit den bereits erwähnten Ausgleichszeiträumen gibt es sie bereits heute. In jüngster Zeit wird jedoch auch darüber diskutiert, ob solche Arbeitszeitkonten auch rur melujährige Perioden genutzt werden können: Dann könnte ein Arbeitnehmer über mehrere Jahre hinweg - nach Verrechnungen innerhalb des Ausgleichszeitraums Mehrarbeitsstunden ansammeln und dieses Zeitguthaben dann beispielsweise dazu nutzen, sich mehrere Monate lang von der Arbeit freistellen zu lassen oder auch vorzeitig in den Ruhestand zu gehen. Für eine breitere Nutzung solcher Arbeitszeitkonten muß jedoch noch eine Reihe rechtlicher Fragen geklärt werden. Hierbei geht es beispielsweise darum, wie diese Zeitguthaben bewertet und wie sie im Falle eines Unternehmenskonkurses abgesichert werden sollen. Ein zentraler Punkt ist aber auch die Nutzung des Samstags als regulärer, zuschlagsfreier Arbeitstag. Der Samstag ist dem Gesetze nach in Deutschland ein normaler Werktag. Viele Berufszweige - beispielsweise im Handel, in der Freizeitindustrie und im Gesundheitswesen - sind an diesem Tag auch regulär tätig. In der industrie gilt jedoch bereits seit einigen Jahrzehnten - "Samstag gehört der Papa mir" grundsätzlich die 5-Tage-Woche bei arbeitsfreiem Samstag. Sofern der betreffende Tarifvertrag die Samstagsarbeit zuläßt, ist dies in der Regel mit besonderen Lohnzuschlägen verbunden, was eine möglichst umfassende Nutzung der teuren Produktionsanlagen entsprechend weiter verteuert. Die Nutzung des Samstags als regulärer, zuschlagsfreier Arbeitstag ist daher eine wichtige Voraussetzung rur flexiblere Arbeitszeiten zu tragflihigen Kostenbedingungen in der Industrie. Dies erfordert keine Verlängerung der Arbeitszeiten, ermöglicht jedoch eine bessere Verteilung der individuellen Arbeitszeiten und damit eine kostengünstigere Nutzung der Produktionsanlagen. Dieses Ziel kann jedoch nicht alleine auf tarifvertraglicher Ebene gelöst werden: Gemäß deutschem Betriebsverfassungsgesetz hat der Betriebsrat bei der konkreten Ausgestaltung des betrieblichen Arbeitszeitsystems (Verteilung der Arbeitszeiten, Überstunden usw.) ein Mitbestimmungsrecht. Dieses bezieht sich auch darauf, ob der Samstag als regulärer Arbeitstag genutzt werden kann. Selbst dort, wo dies im Tarifvertrag selbst grundsätzlich möglich ist, muß festgestellt werden, daß die Betriebsräte
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dies zunächst blockieren, wn der Belegschaft auf diese Weise Lohnzuschläge und sich selbst Einfluß auch auf andere betriebsrelevante Entscheidungen zu sichern. 17 5.1.4. Wiederentzerrung der qualifikatorischen Lohnstrukturen
Es wurde bereits erwähnt und sei hier nochmals mit Nachdruck wiederholt, daß es bei der Korrektur der Tarifpolitik nicht darum gehen kann, das deutsche Lohnniveau an dasjenige unserer ostmitteleuropäischen Nachbarn anzugleichen. Dieser Hinweis erscheint wichtig angesichts dessen, daß seitens der Arbeitgeberverbände in jüngster Zeit wiederholt auf die Notwendigkeit verwiesen wurde, sogenannte neue Niedriglohnbereiche zu schaffen: Hierbei geht es nicht wn die Absenkung des Lohnniveaus insgesamt, sondern um Korrekturen seiner Strukturen. Konkret geht es darum, daß die qualifikatorischen Lohnstrukturen in Deutschland wieder entzerrt werden, denn auch fiir Personen mit nur vergleichsweise geringem Qualifikations- und Leistungsniveau müssen wieder Arbeitsplätze entstehen können, bei denen Arbeitskosten und Arbeitsertrag in einem tragbaren Verhältnis zueinander stehen. Auch moralisierendes Naserümpfen derjenigen, die gutsituiert in Lohn und Brot sind, über sogenannte "bad jobs" hilft diesen Menschen weit weniger als das Angebot eines Arbeitsplatzes unter vertretbaren Kostenbedingungen. Bisher wurde vorrangig die Strategie verfolgt, die Beschäftigungschancen dieses Personenkreises durch umfangliche Qualifizierungsmaßnahmen zu verbessern, indem auf diese Weise ihre individuelle Arbeitsproduktivität erhöht werden sollte. Dieser Weg ist als solcher auch richtig und notwendig. Richtig ist aber auch, daß fiir nicht wenige Menschen objektive Grenzen ihrer individuellen Qualifizierungsfahigkeiten bestehen. Je komplexer die Arbeitswelt im Zuge des technologischen Fortschritts wird, um so gravierender wird dieses Problem. Deshalb fuhrt kein Weg daran vorbei: Auch die Tarifpolitik muß einen eigenen Beitrag dazu leisten, daß diese Personen wieder eine verläßliche Beschäftigungschance erhalten. In einigen Tarifbereichen wurde bereits 1994 vereinbart, daß Langzeitarbeitslose und Berufsanflinger nicht den normalen, sondern fiir eine gewisse Zeit einen reduzierten Tariflohn erhalten. Dies hat bereits auch zu positiven Beschäftigungseffekten gefuhrt. Die Wiederentzerrung der qualifikatorischen Lohnstrukturen muß jedoch über eine solche Lösung hinausgehen. Der Ansatzpunkt hierfilr ist die Schaffung neuer Niedriglohnbereiche, was konkret sowohl die wieder stärkere Nutzung der bestehen17Bezeichnenderweise gab dieselbe IG Metall, die 1994 zunächst mit der Arbeitgeberseite im Rahmen eines zeitlich befristeten Tarifvertrags zur Beschäftigungssicherung flexiblere Arbeitszeitregelungen vereinbart hatte, unmittelbar danach Handreichungen an die Betriebsräte heraus, in denen Empfehlungen für eine möglichst restriktive Handhabung eben dieser Flexibilisierungsregelungen gegeben wurden.
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den untersten Tariflohngruppen als auch die Schaffung neuer, niedrigerer Tariflohngruppen erfordert. Die Arbeitsplätze, die in der Industrie auf Grund der bisherigen Fehlentwicklung zwischenzeitlich fortgefallen sind bzw. in das Ausland verlagert wurden, lassen sich durch eine Wiederentzerrung der qualifIkatorischen Lohnstrukturen höchstwahrscheinlich nicht wieder zwiickholen. Aber je tragtahiger die Arbeitskosten auch in diesem Bereich wieder werden, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß an anderer Stelle dann entsprechende neue Arbeitsplätze entstehen. Besondere Bedeutung kommt hierbei insbesondere den Dienstleistungsbereichen und dabei den personen- und haushaltsbezogenen Dienstleistungen zu. In diesem Bereich besteht ein großes Potential auch fiir die Schaffung neuer Teilzeitbeschäftigungen. Gerade die Privathaushalte könnten wieder eine wesentlich stärkere Rolle als Arbeitgeber spielen als gegenwärtig. Dies erfordert jedoch neben Korrekturen der bisherigen Taritpolitik auch eine Unterstützung solcher Beschäftigungsverhältnisse durch die Steuerpolitik. Hierbei geht es vorrangig um die Frage, in welchem Umfang Privathaushalte ihre eigenen LohnkostenaufWendungen filr hauswirtschaftliche Beschäftigungsverhältnisse bei der Einkommensbesteuerung geltend machen können. Die Schaffung neuer Niedriglohnbereiche setzt jedoch auch Änderungen im Bereich der Sozialhilfe voraus, durch die die Anreize zur Arbeitsaufuahme auch fiir den Fall verstärkt werden, daß das Arbeitseinkommen unterhalb oder in der Nähe des Sozialhilfeanspruchs liegt. Dies betrifft zum einen die Frage, in welchem Umfang eigenes - geringes - Arbeitseinkommen auf den Sozialhilfeanspruch angerechnet wird. Die derzeitigen Regelungen fUhren dazu, daß, abgesehen von gewissen, vergleichsweise geringen Freibeträgen das gesamte Arbeitseinkommen auf den Sozialhilfeanspruch angerechnet wird. Bei einer so hohen "Grenzbelastung" des Arbeitseinkommens bestehen fiir einen Sozialhilfeempfänger derzeit nur wenige Anreize, sich um eine reguläre Beschäftigung zu bemühen. Zum anderen geht es darum, wie zu verfahren ist, wenn ein Sozialhilfeempfunger eine ihm angebotene, zumutbare Arbeit ablehnt. Zwar gibt es bereits im geltenden Sozialhilferecht filr diesen Fall eine Sanktionsregelung; im faktischen Verwaltungsvollzug hat sich jedoch gezeigt, daß sie kaum Wirkung entfaltet.
Im Zusammenhang mit der Wiederentzerrung der qualifIkationsbezogenen Lohnstrukturen bzw. der Schaffung neuer Niedriglohnbereiche müssen daher auch diese Regelungen modifIziert werden: Einerseits müssen die sozialhilferechtlichen Anrechnungsvorschriften großzügiger ausgestaltet werden; um so gerechtfertigter ist dann andererseits aber auch, daß gleichzeitig die Sanktion bei Verweigerung einer zumutbaren Arbeit verschärft wird. Konkret geht es um die Schaffung eines neuen
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Systems, bei dem zur Sicherung des gesellschaftlich als unabdingbar defmierten Existenmiveaus neben einen niedrigen Arbeitslohn staatliche Einkommenszuschüsse treten, ohne daß hierdurch demotivierende Effekte auf die Leistungsfiihigkeit entstehen. Die Reform der Sozialliilfe, die sich derzeit im Gesetzgebungsverfahren befmdet, zielt auf beide Problembereiche ab. Dadurch, daß die Regelsätze der Sozialliilfe künftig nur noch nach Maßgabe der Netto-Arbeitseinkommen steigen sollen, soll gleichzeitig auch ein ausreichend großer Lohnabstand sichergestellt werden.
5.2. Sozialpolitik Im Bereich der Sozialpolitik müssen alle Maßnahmen darauf zielen, den bisherigen Kostenanstieg in den Sozialversicherungen zu bremsen und diesen Trend umzukehren. Bekanntlich will die Bundesregierung mit ihrem Anfang Februar 1996 vorgelegten Aktionsprogramm erreichen, daß die Belastung mit Sozialversicherungsbeiträgen bis zum Jahr 2000 auf wieder unter 40 Prozent gesenkt wird. Nicht zuletzt angesichts der aktuellen arbeitsmarktpolitischen Probleme und der absehbaren weiteren demographischen Entwicklung ist dies ein sehr ehrgeiziges Ziel; es ist jedoch bei entschlossenem Handeln grundsätzlich erreichbar. 18
5.2.1. Entlastung der Sozialversicherungen von versicherungsfremden Leistungen Besonders dringlich ist die Lösung des Problems der versicherungsfremden Leistungen. Sie müssen zum Teil durch eine stärkere Beachtung des Äquivalenzprinzips - Z.B. im Zusammenhang mit der beitragsfreien Mitversicherung von Familienangehörigen - reduziert werden. Ein noch größerer Teil gehört jedoch, da es sich hierbei um gesamtgesellschaftliche Aufgaben handelt, in den öffentlichen, steuerfmanzierten Staatshaushalt. Angesichts der angespannten Lag~ der öffentlichen Budgets wird dies jedoch absehbar nur schrittweise und über einen längeren Zeitraum hinweg möglich sem. In keinem Fall darf es jedoch in diesem Zusammenhang zu Steuererhöhungen kommen. Die entsprechenden Spielräume müssen in den öffentlichen Haushalten durch Einsparungen an anderer Stelle gewonnen werden. Insoweit verbieten sich auch alle Überlegungen, in diesem Zusammenhang eine sogenannte Ökologische Steuerreform durchzufiihren, aus deren Aufkommen dann die SozialversicherungsIgzu folgendem siehe: Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände: Sozialstaat vor dem Umbau - Leistungsfllhigkeit und Finanzierbarkeit sichern, Köln 1994. Bei den nachstehenden Ausfilhrungen konnte das aktuelle Programm der Bundesregierung filr mehr Wachstum und Beschäftigung noch nicht mit berücksichtigt werden.
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beiträge reduziert werden sollen: Selbst wenn durch EntIastungen bei den versicherungsfremden Leistungen positive Beschäftigungsimpulse entstehen würden, führten diese Steuermehrbelastungen beispielsweise im Bereich der Energiewirtschaft und der Chemischen Industrie zu weiteren Arbeitsplatzverlusten. Das Problem, das gelöst werden soll, würde im Ergebnis nur weiter verschärft. Zudem bleibt bei solchen Vorschlägen unerwähnt, daß allein durch die Umfmanzierung versicherungsfremder Leistungen die bisherige Kostendynamik in den Sozialversicherungen nicht gebremst würde. Diese Kostendynamik beruht auf grundsätzlichen Steuerungsdefiziten innerhalb dieser Sozialversicherungen selbst. Solange diese nicht behoben werden, kann die Umfmanzierung der versicherungsfremden Leistungen nur kurzfristige Erleichterung schaffen. Nach einiger Zeit wäre das flühere Niveau der Beitragsbelastung erreicht, obwohl die Steuerbelastung zuvor weiter angehoben worden ist. Die Reform der sozialen Sicherungssysteme kann daher nicht bei Umfmanzierungsmodellen aufhören, sondern muß die Überprufung auch der sozialpolitischen Leistungen selbst einschließen.
5.2.2. Rentenversicherung Die Alterssicherung in Deutschland beruht im wesentlichen auf der Grundlage der umlagefmanzierten gesetzlichen Rentenversicherung. Die private Vorsorge wie auch Modelle zusätzlicher betrieblicher Alterssicherung spielen demgegenüber eine nachrangige Rolle. In der Gesetzlichen Rentenversicherung sind alle Arbeitnehmer Pflichtrnitglieder. Der Versicherungsbeitrag beläuft sich derzeit auf 19,2% des Bruttoeinkommens, allerdings nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze von gegenwärtig 8.000 DMIMonat. Arbeitgeber und Arbeitnehmer tragen diesen Versicherungsbeitrag - wie auch in den anderen Sozialversicherungen - jeweils zur Hälfte. Die Höhe der Rente richtet sich nach der Dauer und der relativen Höhe l9 der vorangegangenen Beitragszahlungen. Gegenwärtig beträgt die Rente nach 45jäh-riger Beitragszahlung eines durchschnittlich verdienenden Arbeitnehmers rd. 70 % des Netto-Arbeitseinkommens. Die Renten werden jährlich an die vorangegangene Entwicklung der Ne~tolöhne angepaßt. Abgesehen von einer gewissen Kassenreserve werden die Versicherungsbeiträge nicht angespart, sondern augenblicklich zur Finanzierung der laufenden Rentenzahlung benutzt. Akuter Handlungsbedarf bestand bis vor kurzem im Zusammenhang mit dem sogenannten Vorruhestand20 : Angesichts eines beträchtlichen personalpolitischen Anpassungsbedarfs sind in vielen Unternehmen Arbeitnehmer bereits mit Vollendung des 55. Lebensjahres aus dem Berufsleben ausgeschieden, haben bis zur Vollendung 19Gemessen am Durchschnittseinkommen aller rentenversicherten Arbeitnehmer. 20Dieser Vorruhestand ist trotz gleichem Namen nicht zu verwechseln mit den arbeitsmarktpolitischen Vorruhestandsmodellen in den neuen Bundesländern.
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des 60. Lebensjahres Leistungen der Arbeitslosenversicherung erhalten und sind dann mit 60 in die vorgezogene Rente wegen Arbeitslosigkeit gegangen, während das normale Renteneintrittsalter fiir Männer 63 Jahre beträgt. Diese Vorruhestandsmodelle waren insbesondere rur die Rentenversicherung mit beträchtlichen fmanziellen Belastungen verbunden. Angesichts dessen haben sich Bundesregierung, Wirtschaft und Gewerkschaften im Februar dieses Jahres auf die Initiierung einer Gesetzesänderung verständigt, die zumindest mittelfristig in der Rentenversicherung zu Kosteneinsparungen fUhren wird: Künftig wird die vorgezogene Rente mit Vollendung des 60. Lebensjahres wegen vorangegangener Arbeitslosigkeit nicht mehr in voller Höhe, sondern nur mit gewissen Abschlägen gezahlt. Gleichzeitig wurde ein neues Modell zur Förderung von Teilzeitarbeit älterer Arbeitnehmer eingeruhrt. Dieses Reformpaket reicht jedoch nicht aus, den aktuellen Kostendruck in der Rentenversicherung auf Grund der gestiegenen Arbeitslosigkeit und damit sinkender Beitragseinnahmen und den mittelfristigen Kostendruck wegen der weiteren demographischen Entwicklung auszugleichen. Die Gespräche darüber, weIche Entlastungsmaßnahmen ergriffen werden sollen, beginnen derzeit erst. Ein wichtiger, jedoch ebenfalls nur mittelfristig wirkender Ansatzpunkt wird darin liegen, die Geschwindigkeit, mit der die Renten der Entwicklung der Nettolöhne der Arbeitnehmer folgen, in gewissem Umfang zu verlangsamen. Auch werden weitere Einschränkungen bei den Regelungen notwendig sein, unter denen bisher Zeiten, in denen keine Beiträge gezahlt wurden, trotzdem z.B. aus familien- und bildungspolitischen Gründen als fIktive Beitragszeiten berücksichtigt werden. Die vorzeitige Anhebung des regulären Renteneintrittsalters auch fiir Frauen ist ein anderer denkbarer Ansatzpunkt. 21 Allen diesen Maßnahmen eigen ist jedoch, daß sie lediglich in mittlerer Frist zu einer Entlastung der Rentenversicherung fUhren werden, die Finanzierungsprobleme der Rentenversicherung jedoch äußerst akut sind. Rasch wirkende Maßnahmen wie eine Verschiebung der nächs~ährigen Rentenanpassung oder auch die Anhebung des bisher hälftigen Anteils der Rentner an ihren Krankenversicherungsbeiträgen werden daher wohl hinzutreten müssen.
21 Entsprechend dem Rentenreformgesetz 1992 sollte erst im Jahr 200 I begonnen werden, das derzeitige Renteneintrittsalter sukzessive anzuheben. Dies ist rur Renten wegen vorangegangener Arbeitslosigkeit (bisheriges Renteneintrittsalter: 60 Jahre) im Rahmen der Neuregelungen zum Vorruhestand auf das Jahr 1997 vorgezogen worden. Steigt dieses Renteneintrittsalter auf schließlich 63 Jahre, erfolgt bei vorzeitigem Rentenbezug ein Abschlag vom Altersruhegeld. Diese Regelung gilt derzeit jedoch nur rur Manner. Frauen haben nach derzeitiger Rechtslage weiterhin die Möglichkeit, bereits mit 60 Jahren in Rente zu gehen, ohne daß dies zu einem Rentenabschlag fuhrt.
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Alexander Barthel
5.2.3. Krankenversicherung In der Gesetzlichen Krankenversicherung besteht im wesentlichen folgender Refonnbedarf: Der Leistungskatalog in diesem Versicherungszweig muß auf das medizinisch wirklich Notwendige konzentriert werden. Leistungen, die dem Bereich der privaten Lebensfiihrung zuzurechnen sind, wie beispielsweise die Behandlung von Sportunfällen, dürfen künftig nicht mehr die Arbeitskosten verteuern. Gleichzeitig sollte die bereits teilweise verwirklichte Eigenbeteiligung der Versicherten an den Gesundheitskosten durchgängig eingefiihrt werden. Hierbei geht es nicht so sehr um die auf diesem Wege erzielbaren Einsparungen bei den Ausgaben der Krankenkassen, sondern vielmehr um stärkere Anreize rur die Versicherten, Leistungen der Krankenkassen nur dann in Anspruch zu nehmen, wenn dies wirklich notwendig ist. Bisher besteht zwischen den Leistungserbringern im Gesundheitssystem - insbesondere Ärzten und Krankenhäusern - kein wirksamer, auf Kosteneinsparungen abzielender Wettbewerb. Eine Refonn des Gesundheitswesens sollte diesen Wettbewerb in Gang setzen und künftig sichern. Ein weiteres Kennzeichen der Krankenversicherung ist, daß sie in beträchtlichem Umfang auch Aufgaben einer sozialpolitisch motivierten Umverteilung erfilllen soll: Die Familienangehörigen eines Arbeitnehmers, die nicht über eigene Arbeitseinkünfte verfilgen, werden mitversichert, ohne daß der Versicherte selbst hierfilr zusätzliche Beitragszahlungen erbringen muß. Dann, wenn keine Kinder im Haushalt leben, sollte diese kostenlose Mitversicherung zumindest begrenzt werden. Bereits seit längerem wird über eine umfassende Refonn des Gesundheitswesens diskutiert. Dabei zeichnet sich ab, daß die als solches notwendige Begrenzung des Leistungskatalogs der Krankenversicherung wie auch die Einfiihrung einer durchgängigen Eigenbeteiligungen aus innenpolitischen Gründen kaum Aussicht auf Realisierung haben.
5.3. Arbeitsmarktpolitik Die Arbeitsmarktpolitik kann die tieferen Ursachen der Arbeitslosigkeit nicht beheben; teilweise verschärft sie sich jedoch. Nach der deutschen Wiedervereinigung wurde die Arbeitsmarktpolitik insbesondere in den neuen Bundesländern massiv ausgebaut; gerade dort haben sich jedoch zwischenzeitlich die offensichtlichen Grenzen eines solchen Ansatzes gezeigt. Die Arbeitsmarktpolitik muß künftig weniger auf den Auf- und Ausbau von Ersatzarbeitsplätzen abzielen, als vielmehr darauf, die Beschäftigungsaufnahme in
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einem regulären Beschäftigungsverhältnis zu fördern bzw. hierfiir wirksamere Anreize zu setzen. Die aktive Suche nach Arbeit und die Aufnahme einer regulären Beschäftigung müssen gegenüber dem passiven Bezug von Lohnersatzleistungen wieder attraktiver werden. Nicht nur im Hinblick auf die Motivationslage der Arbeitslosen ist dies bedeutsam. Auch die Tarifpolitik erhält dann, wenn der Lohnabstand wieder deutlicher wird, neue Spielräume - aber auch wieder mehr Verantwortung - fiir eine problemgerechte Differenzierung der qualiftkatorischen Lohnbedingungen. Unter dieser Zielsetzung bieten sich mehrere Ansatzpunkte an, die teilweise auch Elemente der Reform sind, die die Bundesregierung derzeit im Zusammenhang mit dem Arbeitsförderungsgesetz vorbereitet: Bei aHer grundsätzlichen Problematik von Lohnsubventionen erscheint eine stärkere Nutzung dieses Instruments dann gerechtfertigt und sinnvoH, wenn es um die Integration von Langzeitarbeitslosen und Mitgliedern sonstiger Problemgruppen des Arbeitsmarktes geht. Eine solche Förderung ist insbesondere deswegen sinnvoH, weil die betreffende Person die notwendige Qualifizierung auf diese Weise nicht fern der Praxis - und deswegen nicht selten auch an den praktischen Erfordernissen vorbei erhält, sondern im Rahmen einer unmittelbaren, praktischen Tätigkeit. Wie bereits erwähnt, ist der Lohnabstand bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nur sehr gering und teilweise gar nicht mehr vorhanden. Gerade auch, um das Interesse der Träger solcher Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen an einem wieder größeren Lohnabstand zu stärken, könnte daran gedacht werden, die bisherige Lohnzahlung seitens der Arbeitsmarktverwaltung durch Zuschüsse zu ersetzen, die sich pauschal nach der Höhe des andernfaHs faIligen Arbeitslosengeldes richten. Denkbar wäre jedoch auch, die bisherigen Ausgaben der Arbeitslosenversicherung fiir Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen umzuwidmen und sie beispielsweise den Gemeinden zur Verfiigung zu steHen, damit diese damit Aufträge an Privatunternehmen vergeben. Diese Aufträge wären dann an die Voraussetzung geknüpft, daß das Unternehmen rur deren Erfiillung Arbeitslose einsteHen. Auf diese Weise könnte insbesondere vermieden werden, daß öffentlich geförderte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen Privatunternehmen verdrängen können. In den neuen Bundesländern setzt dies jedoch steHenweise erst noch den Aufbau einer leistungsflihigen und sachkundigen Kommunalverwaltung voraus. Auch soHte die berufliche Weiterbildung effektiviert werden, handelte es sich bei ihr bisher doch häufig nur um reine Beschäftigungstherapie. Der Ansatzpunkt hierfiir kann und muß sein, daß entsprechende Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen wesentlich praxisnäher, d.h. in unmittelbarer Nähe zu einem konkreten Arbeitsplatz durchgefilhrt werden. Da die bisherige Quantität der Weiterbildungsmaßnahmen nicht zugleich auch mit entsprechenden Qualitätssteigerungen verbunden war, er-
14 Eckartf Paraskewopoulos
210
Alexander Barthel
scheint auch eine Einschränkung dieses arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums vertretbar. Schließlich sollte die Eigeninitiative Arbeitsloser bei der Arbeitssuche gestärkt werden. Hierfilr ist beispielsweise denkbar, den Bezug von Arbeitslosengeld künftig davon abhängig zu machen, daß der Arbeitslose gegenüber dem Arbeitsamt nachweist, daß er sich aktiv um eine Beschäftigung kümmert. Ein weiterer wichtiger Punkt ist in diesem Zusammenhang eine Verschärfung der Zumutbarkeitskriterien, was dann jedoch auch seitens der Unternehmen durch umfllnglichere Mitwirkung bei der Feststellung einer Arbeitsverweigerung als bisher unterstützt werden müßte. Im Zusammenhang mit der steuerfmanzierten Arbeitslosenhilfe hat die Bundesregierung bereits ein entsprechendes Reformgesetz auf den Weg gebracht. Dessen wichtigster Punkt ist, daß sich die Höhe des Arbeitslosengeldes künftig nicht mehr dauerhaft nach der Höhe des Einkommens richtet, das der Arbeitslose zuletzt verdient hatte, sondern im Zeitverlauf sukzessive abgesenkt wird. Auch dies erhöht die Motivation der Betreffenden, sich aus der Arbeitslosenhilfe heraus um eine neue Beschäftigung zu bemühen.
6. Der politische Bedingungsrahmen für standortpolitische Reformen Der standortpolitische Reformbedarf in all seinen Facetten ist vergleichsweise leicht aufzuzeigen. Wesentlich schwieriger ist in einer Mehrheitsdemokratie jedoch die Verwirklichung der notwendigen Reformen. Die Konsequenzen unzureichender Rahmenbedingungen sind dem einzelnen aus eigener Erfahrung unmittelbar anschaulich: Die Arbeitslosigkeit steigt, und die Belastung seines Einkommens mit Steuern und Beiträgen wächst permanent. Bei der steigenden Arbeitslosigkeit kann er sich immer noch einreden, daß es ihn selbst schon nicht treffen wird, weil er gut qualifIziert und leistungsfiihig ist - bis dann eines Tages auch er seinen Arbeitsplatz verliert. Die tieferliegenden ökonomischen Wirkungszusammenhänge sind jedoch viel zu abstrakt, als daß sie von der Mehrheit der Bevölkerung mit den offenkundigen Problemen unmittelbar in Verbindung gebracht würden. Wie soll auch allgemeinverständlich gemacht werden, daß und warum der Standort Deutschland gefahrdet ist, wenn gleichzeitig tagaus tagein in den Medien über steigende Untemehmensgewinne und neue Rekordrnarken an den Aktienbörsen berichtet wird? Wie ist gerade vor diesem Hintergrund moralisch zu rechtfertigen, daß nun Arbeitslosengeld und Sozialliilfe gekürzt werden sollen? Warum soll der deutsche Wohlstandsbürger nur deswegen auf bisherige Besitzstände verzichten, weil Menschen am anderen Ende der Welt anspruchsloser und mindestens genauso leistungsfiihig sind wie er selbst? Und warum soll er durch die Tarifverträge zu Einkommenseinbußen gezwungen werden, wenn doch gleichzeitig alle eventuellen positiven Kosteneffekte durch eine Aufwer-
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tung der D-Mark gleich wieder zunichte gemacht werden, wie dies zumindest die Gewerkschaften behaupten? Der ordnungstheoretisch geschulte Ökonom kann hierauf die richtigen Antworten geben. Ob sie von der Mehrheit der Bevölkerung, auf deren Zustimmung es ja ankommt, dann auch verstanden oder gar akzeptiert werden, steht auf einem ganz anderen Blatt. Wichtiger als die Feststellung, wie die Dinge tatsächlich liegen, ist bekanntlich stets, welches Bild sich die Menschen über eben diese Dinge machen: Die globalen Umbrüche und ihre Konsequenzen auf die individuelle Lebenslage werden im Ergebnis häufig nicht als Chance, sondern als Bedrohung und als Anschlag auf landläufige Gerechtigkeitsvorstellungen empfunden, auf die mit Ablehnung und Verweigerung reagiert wird. Und hinzu kommt, daß manche nationalökonomische Schulrichtung weiterhin öffentlichkeitswirksam behauptet, daß Z.B. hohe Löhne über steigende Nachfrageimpulse einen Beitrag zur Überwindung der Arbeitslosigkeit leisten können, daß die Bundesbank durch eine großzügige Geldpolitik positive Beschäftigungspolitik betreiben kann oder daß in Deutschland genug Vermögen vorhanden sei, das der Staat über weitere Steuern abschöpfen und filr arbeitsmarktpolitische Maßnahmen einsetzen sollte. Omen glaubt man lieber als denen, die Steine statt Brot predigen und hinter deren Äußerungen perfide Partikularinteressen vermutet werden. Und auch diejenigen, die - teilweise auch aus eigenen machtpolitischen Interessen - an einer Fortsetzung des Weges in den Wohlfahrtsstaaten interessiert sind, greifen diese Thesen, die ja nun die Weihe der Wissenschaftlichkeit haben und scheinbar nicht auf die Befriedigung von Partikularinteressen sondern auf das Gemeinwohl abzielen, nur zu gerne auf. Umgekehrt tragen marktwirtschaftlich orientierte Ökonomen, die beispielsweise die wirtschaftlichen Interdependenzen des Arbeitsmarktes in aller Öffentlichkeit mit denjenigen eines Teppichmarktes gleichsetzen, eher zur Radikalisierung der Stimmung als zur notwendigen Versachlichung der Diskussion zwischen unterschiedlichen Interessen bei. Das gleiche gilt im übrigen auch rur diejenigen, deren radikalen Vorschläge zur Reform der Lohnfmdung im Sinne eines "californian dream" auf die Abschaffung der Gewerkschaften hinauslaufen. Überzeugt - oder doch zumindest nachdenklich gemacht - werden kann nur deljenige, der sich in seinen eigenen Interessen akzeptiert sieht. Alles andere ruft nur Verweigerungsreaktionen hervor. Die aktuellen Strukturdefizite sind nicht von heute auf morgen, sondern über einen langen Zeitraum hinweg entstanden. Auch ihre Überwindung kann nicht von heute auf morgen geschehen; erst recht treten die erhofften positiven Wirkungen nicht augenblicklich, sondern erst mit beträchtlicher zeitlicher Verzögerung ein. Stets gibt es dabei Gruppen, die von einer Änderung der Rahmenbedingungen kurzfristig negativ betroffen sind. In der Regel verfugen sie über Möglichkeiten, dies gegenüber Politik und Öffentlichkeit deutlich vernehmbar zu artikulieren und strategische Ver14*
212
A1exander Barthel
weigerungskoalitionen zu bilden. Der Umstand jedoch, daß durch solche Reformen die Wachstums- und Beschäftigungsperspektiven mittelfristig filr alle steigen, hat kaum einen Fürsprecher, der hierfiir wahlentscheidende Mehrheiten vermitteln könnte. Niemandem kann ja auch garantiert werden, in welchem konkreten Umfang er mittelfristig hiervon profitieren wird. Es ist nur zu verständlich, wenn im Ergebnis in der Bevölkerung insgesamt die Neigung dominiert, denjenigen Glauben zu schenken, die die scheinbar einleuchtenden Patentrezepte anpreisen, die versprechen, daß niemandem ernsthaft weh getan zu werden braucht. Es erscheint ja auch so bequem, auf den Umstand, daß andere Ländern zwischenzeitlich mindestens genau so erfolgreich sind wie wir, mit kürzeren Arbeitszeiten reagieren zu wollen. Auf diese Weise wird man den Konkurrenten in Singapur, Malaysia, Japan, den Vereinigten Staaten, China usw. sicherlich einen gehörigen Schrecken einjagen. Wenn allgemein das Verständnis fiir ökonomische Zusammenhänge unterentwikkelt ist, dann haben komplexe Lösungsansätze kaum eine Chance. Die Argumentationsmuster, die in einem solchen Umfeld an der Tagesordnung sind, sind bekannt: Die einen schlagen eine Maßnahme vor, die fiir die Standortsicherung und fiir die Schaffung von mehr Arbeitsplätzen notwendig ist, die aber fiir sich allein genommen selbstverständlich nicht hinreichend sein kann. Hierauf kontert die Gegenseite mit der rhetorischen Feststellung, daß sich mit dieser Maßnahme, die als solches ja auch unsozial und damit nicht konsensfähig sei, die Beschäftigungsprobleme nicht lösen läßt. Die Mehrheit der Zuhörer nickt verständnisvoll - und wieder einmal ist ein neuer Reformvorschlag in der Versenkung verschwunden. Da gehört sie nach landläufiger Meinung ja auch hin, weil sie keine absolute und umfassende Erfolgsgarantie beinhaltet. Gerade mit dem Verweis auf soziale Gerechtigkeit - was immer sie konkret beinhalten möge - und mit dem manchmal durchaus drohend gemeinten Hinweis darauf, wie wichtig der soziale Frieden als Standortfaktor fiir Deutschland ist, kann in der Stimmungs- und Mediendemokratie manches Argument vom Tisch gefegt werden. Und wer die Schaffung von Niedriglohnbereichen fordert, dem schallt augenblicklich der veröffentlichte Unmut daruber entgegen, er wolle das gesamte Lohnniveau auf polnische, ungarische, russische oder sonstwelche Verhältnisse zurückschneiden. Das will zwar niemand, aber auf die Öffentlichkeit machten solche Unterstellungen zumindest bisher genau den Eindruck, den die Urheber dieser Verlautbarungen erzielen wollen. Über Jahrzehnte hinweg ist auch der freiheitlich-demokratische Staat mit dem wohlfahrtsstaatlichen Versprechen angetreten, er könne das Lebensglück seiner Bürger durch staatliche Vorkehrungen, durch immer umfllnglichere Um verteilungen von Einkommen und Lebenschancen stetig steigern. An diesem Anspruch wird er
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weiterhin gemessen, auch wenn die Ernüchterung über das Unvennögen der Politik, ihn zu erfiillen, zwischenzeitlich deutlich angewachsen ist. Nach wie vor gilt es als selbstverständlich, daß der Staat fiir die Vollbeschäftigung zuständig ist - und zwar nicht im Ergebnis einer konzisen Ordnungspolitik, sondern durch unmittelbare staatliche Eingriffe. Und zugleich ist es in den Augen der Mehrheit die moralische Pflicht der Unternehmen, Arbeitsplätze zu erhalten und zu schaffen. Daß moralische Pflicht und ökonomische Zwänge zwei Paar Schuhe sind, daß Unternehmen nur dann, wenn ihre ökonomischen Perspektiven günstig sind, Arbeitsplätze schaffen und sichern können, ist keineswegs Allgemeingut. Noch immer fällt es den Gewerkschaften unter solchen Gegebenheiten vergleichsweise leicht, ausschließlich die Interessen der Arbeitsplatzbesitzer zu verfolgen, die Verantwortung fiir diejenigen, die dabei auf der Strecke bleiben, vor der Haustür der Politik abzuladen und die Unternehmen mit moralischen Vorwürfen zu bedenken. Eine entsprechend gefärbte Berichterstattung in den Medien kann hierfiir nur förderlich sem. Dies alles ist kein günstiges Umfeld fiir eine stringente Ordnungspolitik, dafiir aber um so günstiger fiir politischen Aktionismus, der auf kurzfristige Symptombekämpfung statt auf mittel- und langfristige Verbesserungen der Rahmenbedingungen abzielt. Eine solcher Aktionismus ist gerade auch aus Sicht der Politik erfolgversprechend: Was nutzt es dem eigenen Machterhalt, einschneidende Refonnen durchzufuhren, die leicht zum Verlust der nächsten Wahl fuhren und deren mittelfristig positiven Konsequenzen in einigen Jahren den dann Regierenden zugerechnet würden? Was bleibt bei alledem festzuhalten? Unsere Probleme sind nicht in erster Linie ökonomischer Natur. Sicherlich haben wir diese auch, aber sie wiederum sind - so paradox dies auch klingen mag - die Folgen unserer wirtschaftlichen Erfolge in der Vergangenheit. Sie haben Wohlstand und Wachstum zu Selbstverständlichkeiten werden lassen, über deren jeweiligen Bedingungszusammenhänge kaum Anlaß bestand, sich tiefere Gedanken zu machen. Im Gegenteil: Seit Ende der 60er Jahre pflegt die deutsche Wohlstandsgesellschaft eine Attitüde, die von einer mehr oder weniger kritischen Ablehnung marktwirtschaftlicher Prinzipien geprägt ist, bei der das Verständnis dafiir abhanden gekommen ist, daß Verteilung ohne Produktion schlechterdings nicht möglich ist. Der Marsch der "68er" durch die Instanzen, gerade auch durch die bildungspolitischen Instanzen und in die Medien hinein, ist durchaus in einem besonderen Sinne erfolgreich gewesen. So bitter dies auch klingen mag: Erst eine Situation, in der immer mehr Menschen Gefahr laufen, selbst von Arbeitslosigkeit betroffen zu sein, bereitet den Boden fiir die notwendige Anpassungsbereitschaft. Zumindest gilt dies fiir die tradierte Wohlstandsgesellschaft Westdeutschlands. Die ostdeutsche Bevölkerung hat seit 1989 ein Maß an Anpassungsbereitschaft an den Tag gelegt, von dem man sich nur wünschen könnte, Gaß er auch in Westdeutschland zumindest teilweise zum Tragen käme.
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Andererseits zeigen aber aktuelle Umfragen, daß gerade in der ostdeutschen Gesellschaft der Wert der Gleichheit einen weit größeren Stellenwert als der der Freiheit einnimmt und Freiheit dabei vorrangig als Freiheit von materieller Not und weniger als Freiheit zu eigenverantwortlichem Handeln verstanden wird. Offenkundig bereitet erst die Legitimationskrise der Institutionen, die die von ihnen selbst hervorgerufenen Heilserwartungen nicht erfiillen können, den Boden darur, daß sich diese Institutionen ihrer eigenen Möglichkeiten rur die Gestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten wieder bewußt werden und sie in ihrem eigenen Interesse neu - und bescheidener - defmieren: Niemand kann alleine Vollbeschäftigung garantieren, aber alle können dazu beitragen, daß dieses Ziel wieder in den Bereich des Möglichen ruckt. Daß dieser Umdenkungsprozeß bereits in diesem Jahr erfolgreich abgeschlossen werden kann, wäre zwar notwendig, es ist jedoch kaum zu erwarten. Möglicherweise sind pluralistische Gemeinwesen und deren Institutionen nur zu patologischem Lernen fahig, bei entsprechend großen Anpassungsschmerzen. Aber immerhin ist dies eine Form des Lemens. Diktaturen sind - wie die Geschichte wiederholt gezeigt hatnicht einmal hierzu in der Lage.
Christoph Kreienbaum
DER WIRTSCHAFTS STANDORT DEUTSCHLAND IM RAHMEN WELTWEITER ÖKOLOGISCHER UMWANDLUNGSPROZESSE 1. Einleitung Das Spannungsverhältnis von Ökologie und Ökonomie steht seit langem im Zentrum umweltpolitischer Diskussionen I. Mit der zunehmenden Sensibilisierung der Bevölkerung gegenüber Umweltschäden nehmen das Thema Umweltschutz und damit die möglichen Konflikte mit wirtschaftlichen Zielen einen zunehmend breiter werdenden Raum ein: Einerseits steigt die Nachfrage nach dem Gut "saubere Umwelt" in der Bevölkerung an, andererseits ist der Umweltschutz ein bedeutender Kostenfaktor. Eine Zielharmonie zwischen ökonomischen und ökologischen Zielen dürfte zwar in einigen Bereichen möglich sein, grundsätzlich besteht aber eine Konkurrenz hinsichtlich der Produktion "saubere Umwelt" und der Produktion anderer Güter und Dienste. Neben diese grundsätzliche Ebene tritt in der weltwirtschaftlichen Betrachtung eine weitere Ebene. Bei handelbaren Gütern und Diensten konkurrieren ver-schiedene Produktionsstandorte miteinander um mobiles Kapital filr Investitionszwecke, mit dem Realeinkommenszuwächse und Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen werden können. Angesichts der zunehmenden Globalisierung der Wirtschaft, also der zunehmenden Mobilität von Produktionsfaktoren, Vorleistungen sowie Gütern und Diensten, und dem hierdurch zunehmenden Wettbewerb zwischen verschiedenen Produktionsstandorten gewinnt der Umweltschutz auch in dieser Hinsicht als Kostenfaktor an Bedeutung. Dabei ist zu berücksichtigen, daß nicht der Einsatz des Gutes Umwelt als Produktionsfaktor an sich den Einsatz umweltpolitischer Maßnahmen erforderlich macht. Problematisch sind die externen Kosten der Umweltnutzung. Die Kosten der Umweltnutzung werden in der Regel nicht vollständig vom Verursacher getragen, d.h., sie werden externalisiert. Die Folge ist ein "Überverbrauch" an Umwelt: In der Produktion von Gütern und Diensten werden andere Produktionsfaktoren wie Arbeit und Kapital im Vergleich zur Optimalsituation durch Umwelt substituiert. Das Ergebnis sind Wohlfahrtsverluste. Um die tatsächliche Knappheit der Umwelt den IVgl. zu dem grundsätzlichen Spannungsverhältnis z.B. Kortmann, W.: Ökonomie versus Ökologie: Konflikte und Harmonien. In: WIRTSCHAITSDIENST, 70Jg., 1990, H.4, S. 212 fT.
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"Umweltverbrauchern" zu signalisieren, ist die Internalisierung der externen Kosten der Umweltnutzung notwendig. Für die Auswahl und filr die Ausgestaltung der umweltpolitischen Interventionen, die diese Internalisierung herbeifiihren können, ist die Art des betrachteten Gutes Umwelt von besonderer Bedeutung.
2. Abgrenzung "weltweiter ökologischer Umwandlungsprozesse .. Eine Möglichkeit zur Charakterisierung des Gutes Umwelt orientiert sich an zwei Kriterien der Umweltnutzung: Zum einen stellt sich die Frage, ob es sich um ein lokales Umweltgut oder um ein Umweltgut von internationalem Interesse handelt. Zum anderen hängt die Klassifizierung davon ab, ob das Gut von Aktivitäten betroffen ist, deren Wirkung sich auf das Gebiet souveräner Nationalstaaten beschränkt oder aber darüber hinausgeht. In der Tabelle 1 ist zu den vier Kategorien jeweils ein Beispiel angegeben. Tab. I: Klassifikation von Umwelteingriffen (Beispiele) Gutskategorie Art der Aktivität keine GrenzUberschreitung mit GrenzUberschreitung
local common good
global common good
Bodennahe Emissionen
Bedrohung der Artenvielfalt
Abfallexporte
Treibhausgas-Emissionen
I. Kategorie: Hierbei handelt es sich um Umweltnutzungen, die ein lokales Umweltgut schädigen (Beispiel: Emissionen an Schwermetallen durch innerstädtischen Autoverkehr). Die verursachenden Emissionen stammen aus dem Verfiigungsbereich des Umweltgutbesitzers; d.h., "nationale Emissionen schädigen nationale Umweltgüter". Die souveränen Einzelregierungen können in diesem Fall Verfiigungsrechte filr die betreffenden Umweltgüter defmieren und - zumindest theoretisch - von oben verordnet eine Übernutzung der Umwelt verhindern, indem sie zugunsten der Umwelt intervenieren. In diesen Fällen muß der Staat entscheiden, ob die mit der Produktion bestimmter Güter verbundenen Nutzen (Beschäftigung, Realeinkommen) die lokalen Umweltkosten übersteigen oder nicht. 2. Kategorie: Aktivitäten dieser Kategorie betreffen ebenfalls "nur" lokale Umweltgüter, sie sind aber mit GrenzUberschreitungen verbunden. Diese Konstellation tritt in der Regel nur dann auf, wenn die GrenzUberschreitung nicht durch Emissionen geschieht, sondern durch Güter, von denen zu einem späteren Zeitpunkt Emissionen ausgehen (Beispiel: Abfallexporte zur Verbrennung oder Deponierung). Eine GrenzUberschreitung von Gütern ist aber an die Genehmigung des Adressaten gebunden. Auch in diesem Fall liegt es an dem souveränen Einzelstaat zu bestimmen,
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ob der mit dem Import verbundene Umweltschaden geringer zu bewerten ist als die hierdurch erzielten ökonomischen Vorteile. 3. Kategorie: In dieser Kategorie schädigt eine lokale Emission zwar ein lokal vorhandenes Gut. Die Auswirkungen dieser Nutzung strahlen jedoch über das betroffene Gut hinaus und sind in diesem Fall von internationalem Interesse. Bei der Bedrohung der Artenvielfalt handelt es sich beispielsweise häufig um eine nationale Aktivität, die ein lokales Gut schädigt (heimische Tierart), aber auch das Interesse der anderen Staaten berührt (z.B. den Erhalt des Gen-Pools). In diese Kategorie gehören auch die Fälle "Auswirkungen der Regenwaldrodung" oder "Klimawirkungen von Superstaudämmen" etc. 4. Kategorie: Hierbei handelt es sich um die sogenannten "global common goods i.e.S.". Dies sind Umweltgüter, wie z.B. die Erdatmosphäre, die zwar im ökonomischen Sinne knapp sind, bei denen aber keine Verfilgungsrechte von oben defmiert werden können (fehlender Souverän) und somit auch kein Nutzer von der Abgabe schädlicher Emissionen ex ante ausgeschlossen werden kann: "Nationale Emissionen schädigen supranationaler Umweltgüter". Dieser Fall ist der in den letzten zehn Jahren beherrschende Problembereich: nach dem Ozonloch nun der drohende zusätzliche Treibhauseffekt durch die anthropogenen Treibhausgase, insbesondere CO2, das vor allem bei der Energiegewinnung aus fossilen Brennstoffen entsteht.
3. Bisherige Klimapolitik Es herrscht mittlerweile wohl fast durchgängig Übereinstimmung darüber, daß der CO2-Ausstoß kurz- bis mittelfristig stabilisiert, langfristig sogar deutlich reduziert werden muß. Schätzungen der OECD gehen von einer notwendigen Verringerung um 30-50% weltweit bis zur Mitte des nächsten Jahrhunderts aus. Eine weltweite Verringerung in dieser Größenordnung würde aber nicht fiir alle Länder in gleichem Ausmaß gelten. Insbesondere die Entwicklungsländer, die einen deutlich niedrigeren Pro-Kopf-Ausstoß an CO2 aufweisen, werden in ihrer weiteren Entwicklung zunächst wohl einen deutlichen Anstieg der CO2-Emissionen verzeichnen. Auch eine Verringerung der CO2-lntensität, die einer Erhöhung der EnergieeffIzienz gleichkommt, würde hier den Effekt eines höheren Energieeinsatzes kaum kompensieren. Diese Wirkungskette trifft wohl eher fiir die Transformationsländer zu. Beispielsweise entsprach der CO2-Ausstoß pro Kopf in der ehemaligen Sowjetunion annähernd dem westeuropäischen Niveau (vgl. Tab. 2). Eine Erhöhung des Wohlstandes könnte hier also auch ohne eine Erhöhung des CO2-Ausstoßes erreicht werden, vorausgesetzt die EnergieeffIzienz wird durch den Einsatz neuerer Technologien auf ein "westeuropäisches" Niveau gebracht. Insgesamt wird aber allein schon aus der Verteilung der COrEmissionen deutlich, daß die Industrie länder als derzeitige Hauptverursacher des anthropogenen Treibhauseffektes überproportional eine Ver-
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ringerung anstreben müssen, soll das Globalziel der Treibhausgas-Verringerung erreicht werden. Tab. 2: COrEmissionen nach Regionen 1990
C0 2 in Mill. t CO 2 in kg pro 1000 DMBIP CO 2 in kg pro Einwohner
Afrika Deutsch- Japan Sowjet- West- Asien Nordland union europa amerika 550
995
1.049
3.313
3.497
3.780
5.511
1.025
412
235
3.221
310
1.808
587
0,8
12,4
8,5
11,4
9,6
1,3
19,9
Quelle: RWI 1995; eigene Berechnungen.
Wie kann diese weltweite CO2-Verminderung erreicht werden? Das Charakteristikum der "global common goods" weist auf das Hauptproblem hin: Gäbe es einen Souverän, der die Verfiigungsrechte an der Erdatmosphäre defmieren und verteilen könnte, wäre der CO2-Fall ein sogenanntes "Pigou-Problem"z. Der Souverän könnte Instrumente einsetzen, die die Umweltknappheit mehr oder weniger gut regulieren. Bei souveränen Einzelstaaten fehlt diese Möglichkeit aber. Für jeden Einzelstaat ist das "Trittbrettfahren" attraktiv. Denn - so die Theorie - filhrt ein Land klimaschützende Regulierungen ein, trägt es die Kosten, während sich der Nutzen auf alle verteilt. Da sich jedes Land in einer solchen Entscheidungssituation befmdet, könnte der Umweltschutz hier zum Erliegen kommen. Einen Ausweg aus diesem Dilemma bieten internationale Absprachen. Die internationalen Absprachen zum Schutz der Erdatmosphäre fanden erstmals 1992 in Rio de Janeiro statt. Eine Initiative der Europäischen Union, zusammen mit den anderen Industriestaaten eine Stabilisierung der Treibhausgasemissionen anzustreben, scheiterte an den Widerständen aus den USA. Die Folgekonferenz 1995 in Berlin filhrte dann zumindest zu dem Ergebnis, daß die beteiligten Staaten bis 1997 konkrete Verringerungsziele vorlegen sollen. Trotz dieser Bemühungen und trotz der oben beschriebenen Notwendigkeit, eine kurz- bis mittelfristige Stabilisierung zu erreichen, deuten die aktuellen Prognosen eher auf einen weiteren Anstieg der CO2Emissionen hin. So gehen Schätzungen der Europäischen Kommission davon aus, daß die COrEmissionen in der Europäischen Union im Zeitraum von 1990 bis zum Jahr 2000 um 10%, in der OECD sogar um 15% ansteigen werden. Ob die künftigen
2ygl .
z.B. Kemper, M.: Das Umweltproblem in der Marktwirtschaft, Berlin 1989.
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Verhandlungen auf internationaler Ebene zu einem entscheidenden Durchbruch gelangen und damit den Trend umkehren können, ist zumindest fraglich. Aus diesem Grunde werden insbesondere in Deutschland die Stimmen wieder lauter, die einen nationalen Alleingang zum Klimaschutz fordern. Auch die Bundesregierung hat mehrfach betont, daß sie die klimapolitische Initiative ergreifen will möglichst im Gleichschritt mit seinen EU-Partnern, zur Not aber auch alleine. So hat die Bundesregierung in Rio und noch einmal in Berlin verkündet, daß sie fiir Deutschland eine Verringerung der CO 2-Emissionen bis zum Jahr 2005 um 25% auf der Basis von 1990 anstrebt. Wenn dieses Ziel und die Absichtserklärung, dieses Ziel notfalls auch im nationalen Alleingang zu erreichen, als Leitlinie fiir die Klimapolitik am Wirtschaftsstandort Deutschland angesehen wird, ergeben sich zwei grundsätzliche Fragenkomplexe: Läßt sich das gesetzte Ziel überhaupt noch erreichen? Stellt der nationale Alleingang eine ökologisch und ökonomisch sinnvolle Alternativstrategie zu den internationalen Verhandlungen dar? 4. Bundesdeutsche COr Verringerung: Wunsch und Wirklichkeit
Bei der Beantwortung der Frage, ob das von der Bundesregierung gesetzte nationale Ziel überhaupt noch erreicht werden kann, bietet es sich an, mit den aktuellsten Daten von 1995 nach einem Drittel des gesetzten Anpassungszeitraumes (19902005) eine Zwischenbilanz zu ziehen, was bislang im "nationalen Alleingang" erreicht worden ist. Die Zahlen fiir Gesamtdeutschland der Jahre 1990 bis 1995 deuten daraufhin, daß die CO2-Verringerung - bei einer gleichmäßigen absoluten Verringerung pro Jahr über den gesamten Anpassungszeitraum hinweg - sogar über dem angestrebten "Schnitt" liegt, da die Verringerung in den fiinf Jahren ca. 108 Mill t. CO2 betrug, der "Fahrplan" aber nur gut 83 Mill. t vorsieht (vgl. Tabelle 3). Eine isolierte Analyse der Werte fiir Gesamtdeutschland würde natürlich wichtige Einzeltrends ignorieren und so zu falschen Interpretationen fUhren. Der bisherige Erfolg der bundesdeutschen CO2- Verringerungspolitik ist nämlich ausschließlich auf den Zusammenbruch der ostdeutschen Industrie und auf den Wandel in den ostdeutschen Einsatz- und Verbrauchsgewohnheiten ZUTÜckzufUhren. Dabei ist zwar zunächst von der theoretischen Warte zu attestieren, daß es grundsätzlich unwichtig ist, in welchen Sektoren, bei welchen Einsatz- und Verbrauchsgewohnheiten oder auch in weIchen Regionen die national angestrebte CO2-Verringerung erreicht wird. So wäre es auch dann gesamtdeutsch sinnvoll gewesen, in Ostdeutsch land die CO2Emissionen einseitig zu verringern, wenn die ostdeutsche Industrie nicht zusammengebrochen wäre. Denn aufgrund der mit abnehmender CO2-Intensität ansteigenden Grenzvermeidungskosten war bei dem DDR-Ausgangsniveau eine Verringerung in
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Ostdeutsch land wesentlich günstiger durchzufiihren als in Westdeutschland. (Ausgangsniveau 1988: DDR: 20,8 t COz pro Einwohner und Jahr; BRD: 11,7). Tab. 3: COz-Emissionen: Anpassungspfad in Deutschland l 1990
Deutschland (gesamt) Ostdeutsch land Westdeutschland
1000 300 700
1995·
2005~·
- in Mil!. t 892 750 164 728
152 598
Anpassung erreicht notwendig 19901995-2005 1995 - in % p.a.-2,2 -1,6 -9,1 +0,8
-0,7 -1,8
Anmerkungen: I: Die Werte in dieser Tabelle entsprechen nur Näherungswerten; e: geschätzt; t: angestrebt; 2: Deutschland ~ politische Zielvorgabe, Aufteilung nach Regionen entsprechend der in diesen Regionen lebenden Bevölkerung im Jahre 1993. Quelle: DlW: Energieverbrauch und CO 2-Emissionen in Deutschlnad in der ersten Hälfte der neunziger Jahre, in: D1W-Wochenbericht 4/96, S. 73ff.; Statistisches Bundesamt; eigene Berechnungen.
Andererseits stellt sich aber die Frage: Können wir das erreichte gesamtdeutsche Tempo der COz-Emissionsverringerung auch in den kommenden zehn Jahren durchhalten? Und hier bestehen begründete Zweifel: Zunächst einmal ist der Umstand zu berucksichtigen, daß die COz-Emissionen in Westdeutsch land zwischen 1990 und 1995 sogar zugenommen haben, und zwar um immerhin 28 Mill t. bzw. 4%. Zwar ist diese Entwicklung auch als Spiegelbild zur Entwicklung in Ostdeutschland zu sehen, weil in diesen Jahren nicht nur die ostdeutsche Industrie zusammengebrochen ist, sondern auch Produktion und damit CO2-Emissionen nach Westdeutschland "gewandert" sind. (Dies dürfte den Gesamtanstieg jedoch wohl noch nicht hinreichend erklären.) Zum zweiten ist unklar, ob der weitere Weg in Gesamtdeutschland in Richtung weniger COz fiihren wird. Um dies abschätzen zu können und um sagen zu können, wie der weitere Anpassungsprozeß aussehen könnte bzw. müßte, um das gesetzte Ziel einer 25%igen Verringerung der CO2-Emissionen zu erreichen, wird hier die folgende Annahme getroffen: Bis zum Jahr 2005 ist der Autholprozeß Ostdeutschlands abgeschlossen, so daß in beiden Teilen Deutschlands pro Kopf etwa gleich viel CO2 emittiert wird, keine Ost-West-Wanderung mehr stattfindet und sich in Ostdeutsch land eine Energieträgerstruktur durchgesetzt hat, die im Hinblick auf die CO2-Intensität der westdeutschen Energieträgerstruktur gleicht. An den Werten der Tabelle 3 ist abzulesen, daß - stimmen die Annahmen des beschriebenen Szenarios - eine weitere Senkung der CO2-Emissionen kaum von der
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ostdeutschen Industrie bzw. den ostdeutschen Verbrauchern ausgehen wird bzw. ausgehen werden kann. Die Anpassungslast in den nächsten zehn Jahren wird fast ausschließlich auf Westdeutschland liegen. In Ostdeutschland ist eine Verringerung der CO2-Intensität zwar weiterhin notwendig, aber im wesentlichen nur, um bei zunehmender wirtschaftlicher Aktivität das ostdeutsche "C02-Kontingent" nicht wieder ansteigen zu lassen. Es ist sogar möglich, daß Ostdeutschland aufgrund des Nachholprozesses und der ungünstigeren Energieträgerstruktur (Braunkohle) über dem hier anvisierten Niveau liegen wird. Für die Zukunft - dies läßt sich zweifelsfrei festhalten - sind entschlossenere Schritte zur gesamtdeutschen CO2- Verringerung vonnöten, wenn das von der Bundesregierung verkündete Ziel ernstgenommen wird. Dies leitet zur zweiten Frage nach der ökologischen und ökonomischen Effizienz eines nationalen Alleingangs im Klimaschutz über. 5. Nationaler Alleingang zum Klimaschutz?
Der nationale Alleingang rückt insbesondere aufgrund der bislang nicht umgesetzten CO2-lEnergiesteuerpläne der Europäischen Kommission3 einerseits und der ambitionierten Klimapolitik der Bundesregierung andererseits wieder stärker in das Zentrum der bundesdeutschen Umweltdiskussion. Die Befiirworter des nationalen Alleingangs verweisen fast unisono auf ein Instrument: die "ökologische Steuerreform". Weil eine Steuerlösung - unabhängig davon, ob sie als reine CO 2-Steuer, als allgemeine Energiesteuer oder als kombinierte Steuer ausgestaltet sein sollte - die klimapolitische Diskussion zumindest in Europa eindeutig dominiert4, konzentriert sich die folgende Analyse darauf, welche Wirkungen auf den Standort Deutschland diese Form des nationalen Alleingangs hätte5 . Mit einer ökologischen Steuerreform - so die gängige Argumentation der Befilrworter - ließen sich die Klimaziele verwirklichen, ohne dem Wirtschaftsstandort Deutschland Schaden zuzufilgen, bzw. in der optimistischeren Variante ist auch von 3Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Vorschlag ftlr eine Richtlinie des Rates zur Einftlhrung einer Steuer auf Kohlendioxidemissionen und Energie, KOM(92) 226 endg., BrUssel 1992 sowie Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Geänderter Vorschlag ftlr eine Richtlinie des Rates zur Einftlhrung einer Steuer auf Kohlendioxidemissionen und Energie, Kom(95) 172 endg., BrUssel 1995. 4Kreienbaum, C., Matthies, K; Wacker-Theodorakopoulos, C.: Stellungnahme zum Richtlinienentwurf der EG-Kommission Ober die Einftlhrung einer CO 2-lEnergiesteuer, HWWADiskussionspapier Nr.6, Hamburg 1993. 5Andere umweltpolitische Instrumente mit denen z.B. klimapolitische Ziele verfolgt werden (z.B. Warmeschutzverordnung) oder verfolgt werden könnten (Zertifikatslösungen) werden im folgenden nicht betrachtet; vgl. hierzu u.a. Michaelowa, A.: Internationale Kornpensationsmöglichkeiten zur CO2-Reduktion unter BerUcksichtigung steuerlicher Anreize und ordnungsrechtlicher Maßnahmen, HWWA-Report Nr. 152, Hamburg 1995.
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einer "doppelten Dividende" die Rede: Hierbei wird argumentiert, daß ein positiver Beschäftigungseffekt durch die Belastung von Umweltverbrauch und einer Kostenentlastung beim Faktor Arbeit zu erwarten sei. So kommt das DIW in seinen im Auftrag von Greenpeace erstellten Gutachten6 zu dem Ergebnis, die ökologische Steuerreform weise den "Königsweg", auf dem gleichzeitig umweltpolitische und arbeitsmarktpolitische Ziele verfolgt werden könnten. Die Gegner einer ökologischen Steuerreform bestreiten dies und erwarten, daß ein nationaler Alleingang - ob nun in Gestalt einer ökologischen Steuerreform oder durch andere Maßnahmen - die Kosten fiir die Unternehmen am Produktionsstandort Deutschland erhöhe? Diese Kostenbelastung sorge dann dafiir, daß der Standort Deutschland im Wettbewerb um mobiles Kapital filr Investitionen und damit fiir Arbeitsplätze in einer sich zunehmend globalisierenden Welt, in der der Standortwettbewerb an Bedeutung gewinnen wird, weiter zurückfiele. Produktionsverlagerungen, ein Verlust an Wettbewerbsfahigkeit der Sektoren, die im außenwirtschaftlichen Wettbewerb um Exporte und Importe stehen, sowie daraus folgende Beschäftigungsverluste seien beim nationalen Alleingang die zwangsläufigen Folgen. Sie verweisen insbesondere darauf, daß Energie fiir alle Wirtschaftsbereiche einen besonders wichtigen Inputfaktor darstelle und Änderungen im Energiepreisniveau einen starken Strukturwandel zur Folge hätten, der nicht ohne hohe Friktionskosten bewältigt werden könne.
6. Chancen und Risiken eines nationalen Alleingangs Bei der Beurteilung der ökonomischen und ökologischen Effizienz einer ökologischen Steuerreform ist zu berücksichtigen, unter welchen Rahmenbedingungen diese umweltpolitische Intervention eingefiihrt werden soll. Von grundlegender Natur filr die Art der Steuerreform sind: •
die Aufkommensneutralität der Steuer. Diese kann auf unterschiedliche Arten sichergestellt werdenS. Hier wird unterstellt, daß eine andere - lohnkostenbezogene - Abgabe in entsprechendem Umfang gesenkt wird, um eine gesamtwirtschaftliche Aufkommensneutralität zu erzielen.
•
Eine NeutraIisierung außenwirtschaftIicher Effekte durch Importabgaben bzw. Exporterstattungen ist bei einem nationalen Alleingang sowohl im Rahmen der EU als auch im Rahmen internationaler Handelsvereinbarungen (GA TIIWTO) dem Grundsatz nach nicht möglich.
6ygl. DIW: Wirtschaftliche Auswirkungen einer ökologischen Steuerreform. Gutachten im Auftrag von Greenpeace e.V., Berlin 1994. 7Kronberger Kreis: Steuerreform filr Arbeitsplätze und Umwelt, Bad Homburg 1996. 8Vgl. DIW: Wirtschaftliche Auswirkungen einer ökologischen Steuerreform. Gutachten im Auftrag von Greenpeace e.V., Berlin 1994.
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Der Wirtschaftsstandort Deutschland
•
In der Umweltpolitik herrscht weitgehende Übereinstimmung darin, daß eine Steuereinfiihrung einem bestimmten "Fahrplan" folgen sollte, d.h., die Steuersätre sollten schrittweise bis zum Endsatz angehoben werden. Die Vorteile eines solchen Vorgehens liegen in der Planbarkeit und der Anpassungsmöglichkeit. Eine prominente derartige Variante, die auch den folgenden Berechnungen zugrundeliegt, stammt von der Europäischen Kommission9 .
6.1 Die ökologischen Wirkungen Eine ökologische Steuerreform innerhalb des dargestellten grundlegenden Rahmens wird zunächst einmal - und das ist das primäre Ziel der Reform - über eine Veränderung der relativen Preise in die marktliche Allokation eingreifen. Die vorher fehlende Kostenanlastung der Umweltinanspruchnahme, die zu einem zu hohen "Umweltverbrauch" gefiihrt hat, wird tendenziell korrigiert: Umweltintensive Produkte bzw. Verfahren werden (absolut) teurer, umweltschonendere (relativ) preisgünstiger. Dies verspricht eine Internalisierung externer Kosten und trägt folglich zu einer Wohlfahrtssteigerung bei. Soweit die umweltökonomische Theorie; bei der Klimaproblematik hängt die Wirksamkeit jedoch ganz entscheidend davon ab, daß der nationale Alleingang nur ein temporärer ist, die Hauptkonkurrenzländer des Wirtschaftsstandortes Deutschland also nachziehen. Hierfilr sind vor allem zwei Faktoren verantwortlich: •
Erstens ist bei einem deutschen Anteil an den weltweiten anthropogenen CO2Emissionen von ca. 5% offensichtlich, daß auch eine 25%ige COrVerringerung bis 2005 global keinen nennenswerten Effekt hätte. Weltweit würden hierdurch die COrEmissionen nur um 1,25% gesenkt.
•
Handelt es sich zweitens um handelbare Güter, ist also eine Abwanderung der betroffenen Produktion und deren Ersatz durch Importe (handelbare Güter) bzw. die Substitution deutscher Exporte durch ausländische Produktion möglich, und überwiegen die vermiedenen Steuerzahlungen die Mobilitätskosten Produktion bzw. Importe, wird der Umwelteffekt noch weiter verringert. Im schlechtesten Fall gilt sogar folgendes: Emittenten wandern ab, und der Import an "grauer Energie" in Form von Importgütern übertrifft die Einsparungen in Deutschland, wenn die Produktion im Ausland u.a. aufgrund der dort fehlenden klimapolitischen Intervention noch CO2- bzw. energieintensiver ist. Die Folge wäre ein
rur
9Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Vorschlag ftlr eine Richtlinie des Rates zur Einftlhrung einer Steuer auf Kohlendioxidemissionen und Energie, KOM(92) 226 endg., BrUssel 1992; sowie Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Geänderter Vorschlag ftlr eine Richtlinie des Rates zur Einftlhrung einer Steuer auf Kohlendioxidemissionen und Energie, Kom(95) 172 endg., Brüssel 1995.
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kontraproduktiver Effekt der Steuereinfilhrung im nationalen Alleingang auf die Umwelt. 6.2 Wandel in der Energieträgerstruktur und in der Branchenstruktur
Da sich durch die Steuererhebung auf einen wichtigen, in allen Bereichen der Wirtschaft eingesetzten Produktionsfaktor wichtige Rahmendaten ändern, ist davon auszugehen, daß dies auch einen durchgreifenden Strukturwandel auslösen wird. Die hierbei erfolgende Änderung der relativen Preise fiIhrt dazu, daß Produkte bzw. Verfahren mit einer hohen CO2- bzw. Energieintensität eher verdrängt werden, während relativ CO2-/energieännere Produkte bzw. Verfahren zumindest relative Wettbewerbsvorteile erzielen. Ein durchgreifender Strukturwandel kann dabei sowohl beim Energieträgereinsatz als auch auf Branchenebene erwartet werden. Der Strukturwandel auf der Ebene der Energieträger wird durch den unterschiedlichen CO2-Gehalt der Energieträger und die damit unterschiedliche Steuerbelastung ausgelöst. Die Intensität des notwendigen Strukturwandels hängt dabei von der konkreten Ausgestaltung der einzufilhrenden Öko-Steuer ab. Eine allgemeine Energiesteuer würde keinen Strukturwandel auf der Ebene der Energieträger auslösen, da alle Energieträger in gleichem Umfang belastet würden. Dagegen würde eine reine COrSteuer zu ganz unterschiedlichen Belastungen der Energieträger filhren. Beispielsweise würde Braunkohle aufgrund ihres hohen CO2-Gehaltes mit einem hohen, Erdgas aufgrund des niedrigen CO2-Gehaltes mit einem deutlich niedrigeren Steuersatz belastet lO • Eine kombinierte CO2-lEnergiesteuer, wie sie die Europäische Kommission vorschlägt!!, würde im Hinblick auf den Druck auf die bestehende Energieträgerstruktur und die hieraus folgenden Strukturwandlungsprozesse zwischen diesen beiden Extremformen liegen. In der Abbildung I sind die unterschiedlichen Steuersätze filr die einzelnen Energieträger bei diesen drei Varianten abgetragen. Die Basis filr Steuersatzhöhe bildet hier der Steuervorschlag der Europäischen Kommission !2. IOKreienbaum, C., Matthies, K.; Wacker-Theodorakopoulos, C.: Stellungnahme zum Richtlinienentwurf der EG-Kommission über die Einfilhrung einer C02-lEnergiesteuer, HWWADiskussionspapier Nr.6, Hamburg 1993. "Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Vorschlag filr eine Richtlinie des Rates zur Einfilhrung einer Steuer auf Kohlendioxidemissionen und Energie, KOM(92) 226 endg., BrUssel 1992 sowie Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Geänderter Vorschlag filr eine Richtlinie des Rates zur Einfilhrung einer Steuer auf Kohlendioxidemissionen und Energie, Kom(95) 172 endg., BrUssel 1995. 12Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Veränderter Vorschlag filr eine Richtlinie des Rates zur Einfilhrung einer Steuer auf Kohlendioxydemissionen und Energie Kom. (95) 172 endg., BrUsse\. 1995. Die vorgeschlagene CO2-lEnergiesteuer läßt sich auch in "reine" Steuern umrechnen; vg\.: Kreienbaum, C., Matthies, K.; Wacker-Theodorako-poulos, C.: Stellungnahme zum Richtlinienentwurf der EG-Kommission über die Einfilhrung einer C02-lEnergiesteuer, HWWADiskussionspapier Nr.6, Hamburg 1993.
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Abb. 1: Steuersatzunterschiede im Jahr der Steuereinfilhrung (C02-lEnergie-, reine CO2- und reine Energiesteuer in DM/GJ) 4~-------------------------------------------------
3.5+-----------------------------------------------_.t-3+---------------------------------------2.5 2
1.5
0.5
o
Diesel
Heizöl I
Heizöl s
FlüSSlQljils
Erdgas
Steinkohle Braunkohle
I_ C02lEnergie - C02 C Energie I Anmerkung: Der Berechnung der Steuersätze wurde der ursprüngliche Vorschlag der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 1992, rur das Jahr 1994 zugrundegelegt. Quelle : Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 1992, 1995; eigene Berechnungen.
Um das CO2-Verringerungsziel effIzient, d.h. zu den geringstmöglichen volkswirtschaftlichen Kosten erreichen zu können, ist eine Steuerlösung notwendig, die die kostengünstigsten Verminderungsquellen ausfmdig macht und nutzt. Darunter fallen vor allem die Erhöhung der Energieeftizienz (z.B. Verbesserung des Wirkungsgrades, Hausbau, Siedlungsstruktur), neue Formen der Energienutzung (z.B. Kraft-Wänne-Kopplung), die Förderung regenerativer Energieträger (z.B. Windenergie) sowie Änderungen in der Energieträgerstruktur. Während die beiden ersten Quellen durch eine allgemeine Energiesteuer genutzt werden können, die dritte durch eine Freistellung von derselben, ist die vierte Quelle nur dann vollständi nutzbar, wenn es eine reine CO2-Steuer bzw. eine "Treibhausgassteuer"I gibt. Wird eine reine CO2-Steuer gewählt, werden sich ver-
y
Il Eine "Treibhausgassteuer" könnte beispielsweise auch andere klimaschädliche Emissionen dadurch berücksichtigen, daß der jeweilige Anteil gewichtet mit der Treibhausschädlichkeit des jeweiligen Stoffes in einem Steuersatz rur den Energieträger zusarnmengefaßt wird.
15 Eckart I Paraskewopoulos
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mehrt die CO2-äßneren Energieträger durchsetzen, da sie eine geringere Preiserhöhung erfahren werden; besonders bevorzugt werden dabei regenerative, weil CO2freie Energieträger. Diese Veränderungen lösen im umweltökonomischen Sinne erwünschte Reaktionen der Unternehmen aus, da diese sich den ändernden Faktorpreisrelationen anpassen, um eine neue Minimalkostenkombination zu erreichen und die Steuerbelastung so gering wie möglich zu halten. Eine allgemeine Energiesteuer hingegen würde den Energieträgerstrukturwandel verhindern und so ineffiziente Strukturen konservieren. Efftzienzaspekte sprechen also insgesamt für eine reine COrSteuer bzw. für eine Treibhausgassteuer und gegen eine allgemeine Energiekomponente in der Besteuerung. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, daß der hierdurch ausgelöste Strukturwandel zwangsläufig Friktionskosten mit sich bringt: Diese Kosten sind jedoch in der langen Frist betrachtet geringer als die Kosten, die aufgrund einer inefftzienten Marktstruktur in Folge der allgemeinen Energiekomponente entstehen würden. Die Richtung und das Ausmaß des Strukturwandels auf der Branchenebene werden natürlich ebenfalls von der konkreten Ausgestaltung der Steuer abhängen. Die Branchen bzw. die in den Branchen zusammengefaßten Unternehmen am Standort Deutschland produzieren mit einem z.T. sehr unterschiedlichen Energiemix und folglich auch mit sehr unterschiedlichen CO2-intensitäten. Hierdurch ergeben sich als Folge einer ökologischen Steuerreform ganz unterschiedliche Belastungswirkungen für die einzelnen Branchen. In der Abbildung 2 ist die je nach gewählter Steuerart variierende Belastung der höchstbelasteten Branchen abgetragen. Um die Belastungswirkung zu berechnen, werden hier mit Hilfe der Input-Output-Analyse sowohl die direkten Kostenwirkungen in der Produktion durch den Einsatz von Energie als auch die indirekten Kostenwirkungen eingefangen, die daraus resultieren, daß jede Branche Vorleistungen anderer Branchen benötigt, bei deren Produktion ebenfalls Energie eingesetzt wird. Mit Hilfe dieser Methode ist es möglich, gleichzeitig die Einflüsse der Energieträger- und Vorleistungsstruktur zu berücksichtigen l4 • Die Kostenbelastung spiegelt auch den Druck auf die bestehende Sektorstruktur und damit die erforderlichen Anpassungsprozesse wider. So würde eine ökologische Steuerreform der beschriebenen Art insbesondere bei den "energieliefernden" Sektoren zu massiven Kostensteigerungen fUhren. Aber auch die energieintensiven Branchen wie Eisen und Stahl, Zellstoffe, NE-Metalle, Chemie und Feinkeramik müßten schon im Anfangsjahr der Steuererhebung Kostensteigerungen von über 2% ihres Bruttoproduktionswertes hinnehmen.
14 Für das methodische Vorgehen vgl. Wacker-Theodorakopoulos, c.: CO 2-lEnergiesteuer: Strukturelle Wirkungen eines umweltpolitischen Instrumentes. In: WIRTSCHAFTSDIENST, 73.Jg., 1993, H.4, S. 204 ff.
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Abb. 2: Belastungsunterschiede im Jahr der Steuereinfiihrung - Ergebnisse einer Input-Output-Analyse über 58 Branchen - (C02-lEnergie, reine CO2- und reine Energiesteuer, in % des Bruttoproduktionswertes) Mineralöl Kohlenbergbau Elektrizität Eisen, Stahl Zellstoffe NE-Metalle Chemie Feinkeramik Glas Textilien Schiffahrt Steine, Erden Ziehereien Nahrungsmittel Eisenbahnen Holzbearbeitung EBM
0
2
4
6
8
10
\- C02/Energie _ C02 0 Energie
12
I
Anmerkung:Dieser Berechnung ist ein Steuersatz zugrundegelegt, der ein Erreichen des Zielsteuersatzes der Europäischen Kommission in ihrem geänderten Vorschlag 1995 für das Jahr 2000 in gleichmäßigen Schritten ab Einführungsjahr 1997 ermöglicht.
Quelle: Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Veränderter Vorschlag filr eine Richtlinie des Rates zur Einfilhrung einer Steuer auf Kohlendioxydemissionen und Energie, Kom (95) 172 engd., Brüssel 1995; Statistisches Bundesamt: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Fachserie I S, Reihe 2: Input - Output - Tabellen, Wiesbaden 1991, sowie Statistisches Jahrbuch, verschiedene Jahrgänge, Berechnungen des HWW A.
IS'
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In einer geschlossenen Volkswirtschaft würde die Kostenerhöhung zu Nachfragerückgängen aufgrund notwendiger Preiserhöhungen fUhren. Andererseits entständen Kostensenkungspotentiale und damit Nachfragezuwächse in den Branchen, die durch die gleichzeitige Senkung anderer Abgaben per saldo entlastet würden. Dies wäre solange es sich um eine geschlossene Volkswirtschaft handelt - ein erwünschter Strukturwandelprozeß, der die Kosten des COr Verringerungs-programms dadurch minimieren würde, daß CO2 bzw. Energie dort eingespart würden, wo diese volkswirtschaftlich am leichtesten zu substituieren sind. In einer offenen Volkswirtschaft, wie sie der Standort Deutschland darstellt, könnte es unter Umständen aber zu ganz anderen Ergebnissen kommen: Tendenziell fUhrt eine ökologische Steuerreform dazu, daß in Deutschland die Produktion COr bzw. energieintensiver Güter teurer wird, und diese Güter damit verstärkt importiert werden, während humankapitalintensive Güter - bei einer Senkung lohnkostenbezogener Abgaben - kostengünstiger produziert und verstärkt exportiert werden können. Würde diese Änderung auf Verschiebungen in den komparativen Vorteilen der Handelspartner beruhen, wäre dies vereinbar mit einer effizienten internationalen Arbeitsteilung. Wird dieser Strukturwandel jedoch nur deshalb ausgelöst, weil die deutschen Produkte mit einer Steuer im nationalen Alleingang belastet werden, ohne daß sich die komparativen Vorteile verlagert haben, kommt es durch die Abwanderung von Produktion zu einer suboptimalen internationalen Arbeitsteilung und zu entsprechenden Friktionskosten, die weder ökologisch noch ökonomisch Sinn machen. Ist hingegen zu erwarten, daß der nationale Alleingang nur temporärer Natur sein wird, d.h. daß die Hauptkonkurrenzländer mit entsprechenden klimapolitischen Maßnahmen nachziehen werden, kann es vorteilhaft sein, den Anpassungsprozeß möglichst frühzeitig einzuleiten. Eine ökologische Steuerreform im nationalen Alleingang würde dann einerseits den effizienten und notwendigen Strukturwandel einleiten, der zu einer effizienten Arbeitsteilung zumindest zwischen den Hauptkonkurrenzländern fUhren würde, bei der die komparativen Vorteile inklusive der Klimaaspekte über die Struktur und den Umfang des Außenhandels entscheiden. Andererseits spricht alles dafiir, daß ein frühzeitig eingeleiteter Strukturwandel mit weniger Friktionen und daher mit niedrigeren Anpassungskosten verbunden ist als ein kurzfristiger Strukturwandel mit höherer Intensität. 6.3 Innovationen im umwelttechnologischen Bereich
Auch bei den Unternehmen aus den CO2-/energieintensiven Branchen, die also zu den "Verlierern" einer ökologischen Steuerreform gehören würden, gibt es Faktoren, die dazu fUhren, daß die Kostenbelastung zumindest teilweise kompensiert, langfristig unter Umständen sogar überkompensiert werden kann: Für Unternehmen wird es durch die Einfiihrung einer derartigen Öko-Steuer lohnend, verstärkt Vermeidungs-
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anstrengungen zu unternehmen. Dies dürfte i.d.R. in Fonn einer Substitution von Umwelt durch Kapital stattfmden, die durch die Änderung der Faktorpreisrelationen ausgelöst wird. Ein Bestandteil des Kapitalmehreinsatzes dürften in der Regel aber auch FuE-Aufwendungen darstellen. Mit Hilfe der FuE-Anstrengungen ist es möglich, umwelt- und unter Umständen kapitalsparende technische Fortschritte zu erzieleniS, denn durch die Verteuerung des Faktors Umwelt lohnt es sich zunehmend, Wege zu suchen, den Umwelteinsatz in der Zukunft stärker zu venneiden, insbesondere wenn die Unternehmen mit im Zeitablauf steigenden Steuersätzen rechnen müssen. Dies bedeutet mit anderen Worten, daß eine neue Technologie unter Umständen kostengünstiger Umweltemissionen venneiden kann, als es die alte Venneidungstechnologie konnte. Zu dem Ergebnis, einen ökonomischen Vorteil aus einem nationalen Alleingang ziehen zu können, kommt auch die These des "first mover". Diese These beruht letztlich auf dem Konzept der Lemkurve. Hiernach hat der Innovator durch fiühzeitige Erfahrungen in der Produktion und Anwendung von Venneidungstechnologien Möglichkeiten zur Kosteneinsparung und damit zur Erzielung von Wettbewerbsvorteilen gegenüber seinen nachziehenden Konkurrenten. Gegen diese Argumentation wird häufig eingewendet, daß der Weg der Innovation den Unternehmen auch ohne ökologische Steuerrefonn offenstehen würde. Wäre dies ein erfolgversprechender Weg, hätten rational handelnde Unternehmen längst in die Erforschung neuer Umwelttechnologien investiert. Diese Argumentation übersieht aber, daß staatliche Interventionen das Rentabilitätskalkül der Unternehmen ändern. Zum einen dürfte die Wettbewerbsintensität auf dem heimischen Markt i.d.R. höher sein als auf internationalen Märkten. Fallen also filr die Hauptkonkurrenten im Inland ähnliche Steuerbelastungen an, ergeben sich auch eher Spielräume filr die Umsetzung umwelttechnologischer Fortschritte. Der entscheidende Einfluß des Gesetzgebers ist m.E. aber darin zu sehen, daß dieser in die Verhandlungen auf internationaler Ebene involviert ist. Für die Unternehmen dürfte die Durchfiihrung einer ökologischen Steuerrefonn in Fonn eines nationalen Alleingangs ein notwendiges Signal dafilr sein, daß kurz- bis mittelfristig auch die Hauptkonkurrenzländer nachziehen werden. In diesem Fall ergäbe sich ein attraktiver Markt filr Umwelttechnologien auch im Ausland, den die "first mover" profitabel bedienen könnten.
15Kreienbaum, c., Wacker-Theodorakopoulos, C.: Innovationen unter verschiedenen Umweltregimen, in: Hamburger Jahrbuch, 39.Jg.(1994), Hamburg 1994, S. 167 ff.
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6.4 Die "doppelte Dividende"
Als ein entscheidender Vorteil einer ökologischen Steuerreform wird insbesondere die zu erwartende "doppelte Dividende" angefiihrt l6 : Neben der ökologischen Komponente soll die kompensierende Abgabenentlastung beim Faktor Arbeit filr eine Mehrnachfrage nach Arbeitskräften und damit filr einen Abbau der Arbeitslosigkeit sorgen. Aus den bisher aufgelisteten Wirkungsketten wird deutlich, daß die Entlastung des Faktors Arbeit und die hieraus resultierende Mehrnachfrage zunächst einmal den BeschäftigungslÜckgang aufgrund der gestiegenen Kosten der heimischen Produktion (Importanstieg, Rückgang der Exporte und der Inlandsnachfrage) ausgleichen müssen. Zweitens ist eine Substitution von Umwelt durch Arbeit unsicher; relativ sicher ist nur eine Substitution von Umwelt durch Kapital. Drittens setzt das Argument der "doppelten Dividende" einen friktionsarmen Strukturwandel voraus. Eine entscheidende Vorbedingung wäre hierftlr die Mobilität des Faktors Arbeit, die allerdings - und das zeigen Arbeitsmarktanalysen - nicht sehr hoch ist. Wenn trotz allem ein Beschäftigungsanstieg (auch das DIW l7 kommt in seinem günstigsten Szenario auf maximal 600.000 zusätzliche Beschäftigte) zu erwarten ist, dann ist aber auch filr die Zukunft mit geringeren Steigerungen der Arbeitsproduktivität zu rechnen, denn die Anstrengungen, den arbeitsparenden technischen Fortschritt und damit die Arbeitsproduktivität voranzutreiben, werden tendenziell verdrängt von den Anstrengungen, den umweltsparenden, umweltproduktivitätserhöhenden technischen Fortschritt voranzutreiben. Dies bedeutet aber, daß die realen Lohnzuwächse, die im Hinblick auf die Beschäftigungssicherung der Entwicklung der Arbeitsproduktivität folgen sollten, in der Zukunft hinter dem ZUIÜckbleiben müssen, was ohne eine ökologische Steuerreform möglich wäre. Zum einen ist dies auch gerechtfertigt, da den Leuten der Umweltschutz wichtiger als das Lohnniveau wird. Zum anderen ist - wenn die Diagnose der zu hohen Löhne und den damit zu "hohen" Produktivitätsfortschritten als Ursache filr das beschäftigungsextensive Wachstum und die Arbeitslosigkeit am Standort Deutschland zutriffi: - diese Entwicklung auch zu begrüßen. 6.5 Ökosteuer als Finanzierungsquelle?
Als Argument gegen eine ökologische Steuerreform wird häufig vorgebracht, daß beispielsweise eine CO2- bzw. Energiesteuer nicht der Finanzierungsfunktion gerecht würde und damit auch nicht als Ersatz filr eine im Gegenzug zu senkende Abgabe herangezogen werden könnte. Begrilndet wird dieses damit, daß es einen Widerspruch zwischen der Lenkungs- und der Finanzierungsfunktion einer Öko-Steuer Ibygl. D1W: Wirtschaftliche Auswirkungen einer ökologischen Steuerreform. Gutachten im Auftrag von Greenpeace e.Y., Berlin 1994. 17y gl. ebenda.
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geben würde: Je besser eine Öko-Steuer wirken würde, desto geringer wäre die Umweltinanspruchnahme durch die betroffenen Steuerpflichtigen, damit folglich auch die Steuerbemessungsgrundlage und folglich die Steuereinnahmen. Hierbei wird aber übersehen, daß das Ziel der CO2- bzw. Energiesteuer die internalisierung der mit den betreffenden Emissionen verbundenen sozialen Kosten ist. Die Folge wird eine Einschränkung der Emissionen sein - im günstigsten Fall auf das volkswirtschaftlich optimale "Pigou-Niveau" -, nicht aber die Einstellung der Energienutzung. Von einer "Selbsteliminierung" der Bemessungsgrundlage kann bei einer Öko-Steuer ebensowenig die Rede sein wie bei jeder anderen beliebigen Steuer. Auch der mögliche Einwand einer schlechteren Planbarkeit der öffentlichen Einnahmen dürfte höchstens filr die Einfiihrungsphase überzeugen.
7. Fazit und Ausblick Aufgrund der beschriebenen Wirkungen einer ökologischen Steuerrefonn auf den in diesem Zusanunenhang zentralen Feldern Umweltwirkung, Strukturwandel, innovationen, Beschäftigung und Einnahmefunktion kann folgendes festgehalten werden: Die ökologische und ökonomische Effizienz der Strategie ökologische Steuerrefonn im nationalen Alleingang hängt davon ab, ob ein ineffizienter Wandel in den Produktions- und Konsumstrukturen verhindert werden kann. Der benötigte effiziente Struturwandel fuhrt zu einer tendenziellen Verdrängung klimaschädlicher Produkte und Herstellungsverfahren. Damit sind natürlich auch entsprechende Schrumpfungsprozesse auf Unternehmens- bzw. Branchenebene verbunden. Sich hieraus ergebende Konsequenzen filr die sektoral erzielbaren Realeinkommen und die sektorale Beschäftigungsentwicklung stellen dabei aber keine gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrtseinbußen dar. Vielmehr sind die Schrumpfungen und die hierdurch ausgelösten Faktorwanderungen notwendig, um einen verbesserten Umweltschutz zu den geringstmöglichen volkswirtschaftlichen Kosten zu erreichen. Faktorwanderungen, die von einem ineffizienten Strukturwandel ausgelöst werden, sollten hingegen unter allen Umständen vennieden werden. Ein durch eine ökologische Steuerrefonn ausgelöster Strukturwandel, der Produktionen an andere Standorte wandern läßt, ist dann ineffizient, wenn er mit keiner Emissionsreduktion verbunden ist. Eine Abwanderung eines Betriebes ins Ausland wäre folglich nur dann sinnvoll, wenn dort mit weniger Emissionen produziert werden könnte. Dies ist im konkreten Fall der CO 2-Verringerung zumindest bei den Hauptkonkurrenzländern (Westeuropa, USA, Japan) wohl nicht zu erwarten. Ob ineffIziente Faktorwanderungen bei einer ökologischen Steuerrefonn verhindert werden können, hängt letztlich allein von der Frage ab, wann der "nationale Alleingang" aufhört, wann also zumindest die Hauptkonkurrenzländer im Wettbewerb der Produktionsstandorte mit klimapolitischen Eingriffen nachziehen werden.
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Ist nicht zu erwarten, daß diese Länder nachziehen werden, stellt der nationale Alleingang jedenfalls keine geeignete Strategie dar, weil der klimapolitische Nutzen vernachlässigbar, die mit dem Strukturwandel verbundenen Kosten jedoch hoch wären. Ist mit einem kurz- bis mittelfristigen Nachziehen der Hauptkonkurrenzländer zu rechnen - und dafiir sprechen die bisherigen internationalen Verhandlungen und die erneuten europäischen Initiativen - dürften die beschriebenen Chancen des nationalen Alleingangs die Gefahren überwiegen. Temporäre Wettbewerbsnachteile als Wirtschaftsstandort dürften sich vor allem deshalb in Grenzen halten, weil die Kosten der Produktionsverlagerung kurz- bis mittelfristig die Abwanderung der Unternehmen beschränken werden. Für das weitere Vorgehen in der nationalen und internationalen Klimapolitik lassen sich abschließend einige Eckpunkte aufzeigen. Dabei spielen auch die Länder eine Rolle, die zwar noch keine Hauptkonkurrenten darstellen, dies aber in Zukunft werden dürften (z.B. in Osteuropa): •
Es sollte bei einer ökologischen Steuerreform ein moderater Einstiegstarif gewählt werden, der mit einem kontinuierlichen Anstieg der Steuersätze verbunden ist. Hierdurch bleibt das Risiko fiir den Standort Deutschland kalkulierbar, der Prozeß ist reversibel und kann an das Nachziehen der Konkurrenzländer gekoppelt werden.
•
Haushalte und Verkehr könnten ohne Gefahren fiir den Standort sofort einer Besteuerung unterzogen werden; dies gilt auch fiir "binnenorientierte" Unternehmen. "Außenorientierten" Unternehmen könnte der Einsatz von Kompensationsprojekten im Ausland ermöglicht werden l8 •
•
In Zukunft wird dem "Vergrünen" internationaler Vereinbarungen eine immer wichtigere Rolle zukommen. So kann es der Schutz der "global common goods" erfordern, einen freien Welthandel durch außenwirtschaftliche Eingriffe in umweltschonendere Bahnen zu lenken l9 .
•
Im Bereich der Europäischen Union ist schließlich daran zu denken, daß eine weitere EU-Intensivierung, aber auch eine EU-Osterweiterung an Fortschritte bei der gemeinsamen bzw. nationalen Klimapolitik geknüpft werden kann.
Diese Punkte haben allerdings nur unterstützenden Charakter fiir die weiteren internationalen Verhandlungen. Zu diesen Verhandlungen gibt es keine Alternative, sollen die globalen Klimaziele im nächsten Jahrhundert auch tatsächlich erreicht
18 Vgl. Z.B. Michaelowa, A.: Internationale Kompensatiionsmöglichkeiten zur C02-RedukIion unter Berücksichtigung steuerlicher Anreize und ordnungsrechtlicher Maßnahmen, HWWA-Report Nr. 152, Hamburg 1995. 19V9l. Ewers, H.-J., Hassei, C.: Dauerhaft umweltgerechtes Wirtschaften: Entwurf rur die künftige Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, in: Morath, K. (Hrsg.): Welt im Wandel. Wege zu dauerhaft-umweltgerechtem Wirtschaften, Bad Homburg 1996, S. 59 ff.
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werden. Vorrangiges Ziel muß es in nächster Zukunft sein, die Industrienationen dazu zu bringen, eine Reduzierung der klimarelevanten Emissionen anzustreben. Erst wenn eine solche Einigung in Sicht ist, stellt ein nationaler Alleingang, mit der Deutschland eine Vorreiterrolle einnähme, eine ökologisch und ökonomisch sinnvolle klimapolitische Strategie dar.