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German Pages 352 Year 2015
Alexander Meschnig Der Wille zur Bewegung
H i s t o i r e | Band 1
2008-09-02 10-51-29 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 027f188247652968|(S.
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Alexander Meschnig (Dr. phil., Mag. phil.), Politikwissenschaftler und Psychologe, arbeitet als freier Autor und Publizist in Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Militärgeschichte, Nationalsozialismus sowie Kulturgeschichte der Arbeit und des Konsums.
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Alexander Meschnig Der Wille zur Bewegung. Militärischer Traum und totalitäres Programm. Eine Mentalitätsgeschichte vom Ersten Weltkrieg zum Nationalsozialismus
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© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung aus: Hermann Rex (1926): Der Weltkrieg in seiner rauhen Wirklichkeit. Das Frontkämpferwerk, Oberammergau. Korrektorat: Johannes Richter, Bielefeld Satz: Alexander Meschnig Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-955-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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INHALTSVERZEICHNIS Einleitung.................................................................................................. 7 1. Von Marathon nach Verdun............................................................. 31 1.1. Dispositive .................................................................................... 31 1.2. Schießpulver.................................................................................. 37 1.3. Revolution..................................................................................... 43 1.4. Industrie ........................................................................................ 53 2. Die Strategie der Abnutzung ............................................................ 61 2.1. Der Schlieffenplan ........................................................................ 61 2.2. Die Doktrin der Offensive ............................................................ 71 2.3. Verschleißkrieg ............................................................................. 79 2.4. Operation Gericht.......................................................................... 89 2.5. Vernichten vs. Ermatten................................................................ 97 3. Kriegserlebnis................................................................................... 109 3.1. August 1914 ................................................................................ 109 3.2. Kriegsziele und Visionen ............................................................ 121 3.3. Zeitalterkrieg............................................................................... 130 3.4. Sinnkonstruktionen ..................................................................... 138 3.5. Der Dolchstoß ............................................................................. 145 4. Mensch gegen Material ................................................................... 161 4.1. Radikalisierung der Mittel .......................................................... 161 4.2. Primat des Willens ...................................................................... 175 4.3. Langemarck und Verdun............................................................. 185 4.4. Frontsozialismus ......................................................................... 194 5. Die totale Mobilmachung ................................................................ 209 5.1. Kriegswirtschaft .......................................................................... 209 5.2. Totaler Krieg ............................................................................... 220 5.3. Arbeit und Krieg bei Ernst Jünger .............................................. 231 5.4. Das geistige Prinzip .................................................................... 244 6. Krieger und Bürger ......................................................................... 249 6.1. Die Masse.................................................................................... 249 6.2. Die Elite ...................................................................................... 263 7. Nationalsozialismus ......................................................................... 275 7.1. Linien und Brüche....................................................................... 275 7.2. Die Bewegung............................................................................. 287 7.3. Ambivalenzen ............................................................................. 300 7.4. Rassenkrieg ................................................................................. 319 Literatur ............................................................................................... 333
EINLEITUNG
In den letzten Jahren sind eine Vielzahl von Büchern über den Ersten Weltkrieg in deutscher Sprache erschienen oder aus dem Englischen übersetzt worden. 1 Angestoßen wurde die verstärkte Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg zunächst von angelsächsischen Autoren. Danach setzte auch in Deutschland eine intensivere Auseinandersetzung mit den Jahren 1914-1918 und ihrer Vorgeschichte bzw. Bewältigung ein. Die Häufung und die publikumswirksamen Debatten seit einigen Jahren lassen dabei auf ein neu erwachtes Interesse größerer Kreise schließen. Das wird auch daran ersichtlich, dass die Printmedien in Deutschland sich seit einigen Jahren vermehrt dem Thema Erster Weltkrieg widmen. Exemplarisch dafür etwa die Ausgabe des Spiegel special aus dem Jahre 2004, die unter dem Titel: Die Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts erschien und rasch ausverkauft war. Auf dem Cover sind Wilhelm II. und Adolf Hitler gemeinsam abgebildet, was eine direkte Verbindung und historische Linie von Wilhelm II. zum nationalsozialistischen Diktator suggeriert. Hitler selbst hat von Deutschlands letztem Kaiser bekanntlich wenig gehalten, so wie ihm die ganze Kaiserzeit als „innerlich hohl“ und „verfault“ galt. Wilhelm II. wiederum erhoffte sich in naiver Weise durch den Aufstieg der Nationalsozialisten seine Rückberufung. Nach Hindenburgs Tod 1934 stellte sich dieser Wunsch aber endgültig als Illu___________________ 1
Die wichtigsten Veröffentlichungen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – waren chronologisch: Niall Ferguson: Der falsche Krieg (1999), John Keegan: Der Erste Weltkrieg (2001), Roger Chickering: Das Deutsche Reich und der Erste Weltkrieg (2002), Michael Salewski: Der Erste Weltkrieg (2002), Volker Berghahn: Der Erste Weltkrieg (2002), Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich und Irina Renz: Enzyklopädie Erster Weltkrieg (2004), Michael Howard: Kurze Geschichte des Ersten Weltkriegs (2004), Hew Strachan: Der Erste Weltkrieg. Eine neue illustrierte Geschichte (2004) und als bis dato umfangreichstes Werk, David Stevenson: Der Erste Weltkrieg 1914-1918 (2006). Neben diesen Gesamtdarstellungen sind zusätzlich unzählige Teilaspekte – von einzelnen Schlachtanalysen angefangen bis hin zum Abdruck von Feldpostbriefen – in Buchform erschienen.
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sion heraus und so sprach er im Weiteren vom Dritten Reich nur noch als von der Mostrichrepublik („braun und scharf“). Ergänzt wird die Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg darüber hinaus durch das Fernsehen, das verstärkt Dokumentationen und Berichte über den großen Krieg der Jahre 1914-18 in unterschiedliche Programme aufnimmt. Letzte Zeitzeugen werden interviewt, vergessene Stummfilmaufnahmen ausgegraben und hundertjährige Greise zu ihren Erlebnissen an der Front befragt. 2 Der Erste Weltkrieg erlebte in den letzten Jahren zweifellos eine Konjunktur. Lange Zeit als eine Art „Vorkrieg“ des Zweiten verdeckt, gerät seine Bedeutung und Spezifik heute vermehrt in das Blickfeld politisch-historischer Analysen und populärer Darstellungen. Problematisch für eine differenzierte Betrachtung war lange eine allzu häufige Thematisierung seiner Ergebnisse in einer gedanklichen Linie, die unweigerlich auf den Zweiten Weltkrieg und die nationalsozialistische Herrschaft hinführte, eine Kontinuität, wie sie auch das erwähnte Spiegel special nahe legt. Dieser als selbstverständlich angenommene Konnex hatte zur Folge, dass der Erste Weltkrieg lediglich wie ein geschichtlicher Vorläufer des Zweiten – oder beide Kriege als eine Einheit von Vorkrieg und Hauptkrieg – betrachtet wurde, ohne seine Eigenständigkeit und Spezifik gebührend zu berücksichtigen. „So wichtig der Hinweis auf Kontinuitäten deutscher Hegemonialpolitik im 20. Jahrhundert bleibt, so sehr hat eine solche Perspektive eine merkwürdige Enthistorisierung des Ersten Weltkrieges zur Folge. Als ‚Auftakt und Vorbild‘ (Wehler) für die nationalsozialistischen Angriffskriege und Völkermorde gerät der Erste Weltkrieg zur bloßen Generalprobe für das eigentliche Objekt des historischen Interesses, den Zweiten Weltkrieg, aus dessen Geschichte allzu leicht Fragestellungen und Erkenntnisinteressen ahistorisch auf jenen früheren Krieg übertragen werden.“3
Auch in der vorliegenden Arbeit werden historische und v.a. mentale Linien vom Ersten Weltkrieg zum Nationalsozialismus gezogen, die unzweifelhaft existieren. Das Aufzeigen von inhaltlichen Verbindungen soll aber nicht bedeuten, dass hier zwangsläufig Automatismen in Gang gesetzt wurden, die den Nationalsozialismus zum einzig möglichen ___________________ 2
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Siehe etwa das Interview in Spiegel spezial (2004, S. 61-63) mit dem 107-jährigen Charles Kuentz. In Frankreich wurde die Zahl der noch lebenden Frontkämpfer des „Großen Krieges“ stets penibel gezählt. Im Januar 2008 starb, wie die Medien berichteten, im Alter von 110 Jahren, Louis de Cazenave, der letzte (französische) Frontsoldat des Ersten Weltkrieges. Reimann 2004, S. 30
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EINLEITUNG
Nachfolger des deutschen Kaiserreiches und der Weimarer Republik machten. „Wahrscheinlich besitzen alle großen Umwälzungen der Geschichte in ihrer Entstehungsweise ein Element der Kontingenz, der zufälligen Verknüpfung verschiedener Entwicklungslinien; denn ohne einen gewissen Überrumpelungseffekt wären sie nicht möglich.“4 Auch wenn vielleicht in der Retrospektive eine Art Zwangsläufigkeit für die Entwicklung hin auf den Nationalsozialismus allein durch die Darstellung nahe gelegt wird – in der Rückschau von heute bleibt das NSSystem, trotz aller politischen und historischen Erkenntnisse, immer noch etwas vollkommen Unwahrscheinliches und Überraschendes. Allein die Tatsache, dass eine kleine Bierzelt- und Stammtischpartei wie die DAP (so der Name der Vorläuferpartei der NSDAP) zur Herrschaft über die mächtigste Industrienation Europas gelangen konnte, hat wohl historisch kaum eine Parallele. Der Zusammenhang zwischen Erstem Weltkrieg und Nationalsozialismus wird sicherlich von niemandem ernsthaft bestritten, aber in der Forschung kontrovers ist die Art und Weise, wie dieser Zusammenhang beschaffen ist, wie eng die Verbindungen waren oder ob es gar eine Determination der deutschen Geschichte durch den Ausgang des Ersten Weltkrieges zum Nationalsozialismus gegeben hat oder nicht. Die prinzipielle Frage nach dem Kausalitätsverhältnis von Erstem Weltkrieg und Nationalsozialismus wird auch in meiner Arbeit nicht eindeutig beantwortet. Denn Geschichte, und das zeigt vielleicht der Erfolg der NS-Bewegung deutlich, ist immer linear und kontingent. Wenn ich also einerseits die Vorstellung eines einfachen kausalen Zusammenhanges von Erstem Weltkrieg und Nationalsozialismus vermeiden will, bestehen doch andererseits so enge Verbindungen, die die These einer Kontinuität wiederum nahe legen. Das Problem einer angemessenen Darstellung von Kausalität, Kontingenz und Linearität versuche ich in der vorliegenden Arbeit in actu zu lösen. Denn die Linien, aber auch Brüche, konnte ich nur am Material selbst entwickeln, ohne eine homogene oder eindeutige Antwort der Erbschaft des Ersten Weltkrieges geben zu wollen. Dennoch wird die These vertreten, dass ohne den Ersten Weltkrieg, einer spezifischen Realität des Krieges und seiner (Nicht-)Verarbeitung, ein tieferes Verständnis des Nationalsozialismus unmöglich ist und er als der Schlüssel für eine Rekonstruktion des NS gelten muss. Es ist, neben älteren Herkunftslinien, eine bestimmte Rezeption und Verdichtung von Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, die der Nationalsozialismus aufnimmt, die er weiterführt, aber auch transformieren wird. Die Erfahrungen des Krieges sind natürlich nicht homogen: Front und ___________________ 4
Radkau 2000, S. 465
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Etappe, Mannschaften und Stabsoffiziere, Soldaten und Zivilisten machen unterschiedliche Erfahrungen. Diese haben die Spaltungen der Nachkriegsgesellschaft verstärkt, gleichzeitig aber dem (späteren) Mythos einer Schicksalsgemeinschaft der Front zu seiner Stärke verholfen. Für meine Arbeit sind das Erlebnis der Front und seine Verarbeitung in einem gewaltbereiten Kontext nach 1918 entscheidend. Eines ist trotz aller historischen Kontingenzen aber offensichtlich: Ohne den Ersten Weltkrieg hätte es Hitler und die NSDAP nicht gegeben, der Krieg von 1914-1918 bleibt die Schlüsselerfahrung für ein Verständnis der nachfolgenden Ereignisse. Er hat, wie der Historiker Golo Mann in seiner Deutschen Geschichte des XX. Jahrhunderts anmerkt, letztlich auch eine viel tiefere Bedeutung als der Hitler’sche Krieg: „Der Zweite Krieg hat noch ungleich mehr Opfer gefordert als der Erste, aber er hat nicht das gleiche historische Gewicht. Den Kriegshandwerker mag auch er und ebenso interessieren; den Historiker nicht. Man vergleiche die Literaturen, welche beide Kriege hervorbrachten. Man vergleiche die Spannungen, die Fülle widersprechender Tendenzen und Möglichkeiten in Deutschland, den Reichtum an bedeutenden Figuren während der Jahre 1914-1918 mit der Eintönigkeit der Propaganda und Scharfrichterei im Zweiten Krieg.“5
Nach 1918, der Katastrophe des Zusammenbruchs, der Niederlage Deutschlands und den horrenden Kriegsverlusten – auch der alliierten Gegner, v.a. Frankreichs – blieben, wie der Politikwissenschaftler Herfried Münkler in seinem Buch Die Neuen Kriege ausführt, im Wesentlichen drei politische Reaktionen: „Erstens ein prinzipieller Pazifismus, dessen Vertreter sich – trotz rechtlicher und gesellschaftlicher Sanktionen – jeder Form des Kriegsdienstes verweigerten, in der Hoffnung, eine massenhafte Verbreitung dieser Entscheidung werde die Kriegführung unmöglich machen. Daneben ist, zweitens, der Versuch zu nennen, durch zwischenstaatliche Übereinkünfte und Verträge, vor allem aber
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Mann 1966, S. 438f. Der Zweite Weltkrieg hat, anders als der Erste, nur wenige nennenswerte Kriegsromane hervorgebracht. In ihrem Mittelpunkt steht persönliches Leid oder unpolitische Tapferkeit, nicht die Reflexion des Krieges an sich, wie in den Arbeiten Ernst Jüngers und anderer Kriegspublizisten nach 1918. Das Hauptthema des Ersten Weltkrieges, das Erscheinen der Technik auf den Schlachtfeldern (siehe Kapitel 4), finden wir nach 1945 nirgends mehr als überwältigendes Erlebnis, das nach einer Verarbeitung verlangt. Man kann daraus folgern: der Umgang mit der Technik ist bereits zum Standard der menschlichen Psyche geworden. Auch das ein Resultat des Ersten Weltkrieges und seiner (technischen) Materialschlachten.
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EINLEITUNG
durch die Gründung internationaler Organisationen, wie des Genfer Völkerbundes, zu einer Ordnung der Staatenwelt zu gelangen, die den Ausbruch von Kriegen verhindern könnte. Die Ächtung des Angriffskrieges war ein erster Schritt auf diesem Wege. Schließlich gab es, drittens, die Option, den Krieg wieder führbar zu machen: Durch veränderte Strategien und Gefechtstaktiken sowie die Entwicklung neuer Waffen sollte es möglich werden, verlustreiche Abnutzungsschlachten, wie man sie sich bei Verdun und an der Somme geliefert hatte, unter allen Umständen zu vermeiden, die eigenen Verluste an Menschenleben deutlich zu senken und die gesellschaftlichen Kosten des Krieges spürbar zu reduzieren.“6
Die von Herfried Münkler angesprochene dritte Option, ihre Apologeten, politischen Vordenker und schließlich ihre Praktiker in Deutschland sind im weitesten Sinne das Thema dieser Arbeit. Diese Fokussierung hat zunächst und vor allem pragmatische Gründe. Der Forschungskomplex Erster Weltkrieg und seine Folgen für die deutsche Geschichte sind von der Menge des Stoffes her geradezu einschüchternd. Das verlangt in der Perspektive eines „ökonomisch“ vertretbaren Aufwandes eine thematische Eingrenzung und zwangsläufige Beschränkung. Die Überfülle des Vorhandenen macht eine subjektive Auswahl mehr noch als sonst unvermeidlich, muss notgedrungen Lücken lassen und wird die Argumentation auf einige Punkte zuspitzen, die in den einzelnen Kapiteln jeweils ausführlich thematisiert werden. Die Auswahl der von Münkler angeführten „dritten Option“ hat über dieses pragmatische Argument hinaus aber vor allem einen historischen und politischen Hauptgrund: diese „Option“ hat bis 1945 in Deutschland den Sieg über alle anderen politischen und gesellschaftlichen Diskurse davongetragen, eine Tatsache, die bei Kriegsende 1918 mitnichten bereits vorgegeben war. Pazifismus und zwischenstaatliche Verträge waren in der Weimarer Republik reale Optionen, die praktische Politik gestalteten. Die, spätestens nach der Hyperinflation 1923 sich ganz langsam stabilisierende, ökonomische Lage in Deutschland brachte bereits erste Formen von Konsumbürgerlichkeit und einer „postheroischen Mentalität“ (Münkler) hervor. Auch die von vielen Zeitzeugen beschriebene Vergnügungssucht breiter Kreise, Tanz, Spielsucht und Börsenspekulation, der Versuch den Krieg einfach zu vergessen, kurz: der allgemeine Hedonismus der 20er Jahre, von einigen Beobachtern mit einer „Amerikanisierung“ Deutschlands gleichgesetzt – er war eine unbestreitbare Realität. Insofern gab es, zumindest bis 1929, auf jeden Fall eine jenseits des Sozialismus angesiedelte gesellschaftliche Alternative gegenüber den „Ideen der Front“ und der, insbesondere von einem ___________________ 6
Münkler 2002, S. 211 (Herv. im Orig.)
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wachsenden unzufriedenen Teil der jüngeren Generation gestellten Forderung nach einem „Aufbruch der Nation“. 7 Gemeinsam waren Hedonismus und Aufbruchsmythen aber ein „kolossaler Narzissmus der Selbstüberhöhung“ (Modris Ekstein), der die reale Welt zum Spielball egozentrischer und exzentrischer Visionen machte, die schließlich im Nationalsozialismus eine furchtbare Verwirklichung fanden. Der Krieg und die Idee seiner Führbarkeit durch militärische, technische und politische Innovationen blieb, nach einer Phase des Schockzustandes, ein virulentes Element der Nachkriegszeit und bildete die Ultima Ratio der stärksten politischen Kraft zu Beginn der 30er Jahre, der NSDAP, für die der Krieg, in den Worten ihres Führers Adolf Hitler, „das größte aller Erlebnisse“ war. Joachim Radkau verweist in seiner Studie Das Zeitalter der Nervosität in diesem Zusammenhang auf die psychische „Stärke“ einer positiven Deutung des Krieges für die NSBewegung, die mit dem Beginn der Wirtschaftskrise und den endlosen politischen Wirren der Weimarer Republik immer größeren Anklang in der Bevölkerung fand: „Die einzelnen Bestandteile der NS-Ideologie sind älteren Ursprungs; aber jene Gewalttätigkeit, die zum hervorstechenden Zug des faschistischen Aktionsstils wurde, entstand durch den Krieg. […] Die positive Verarbeitung [des Kriegserlebnisses; A.M.] erwies sich auf die Dauer als die stärkere Strategie, die mehr Energien freisetzte: In dieser fatalen Psychodynamik liegt ein Grund der deutschen Katastrophe.“8
Vor dem Ersten Weltkrieg war die Erfahrung eines Zusammenstoßes der Industrie-, Menschen- und Waffenpotenziale europäischer Großmächte auf ihrem eigenen Territorium noch unbekannt. Auch dass war ein Mitgrund für das Gefühl, in ein neues Zeitalter einzutreten. „Die verbreitete kollektive Zäsurerfahrung leitet sich dabei nicht so sehr aus einem epochalen Bruch seit 1914, sondern vielmehr aus der Tatsache ab, dass die imperiale Aggressivität der europäischen Moderne zum ersten Mal von der geografischen und sozialen Peripherie in das bürgerliche europäische Zentrum zurückschlug und sich dabei ohne zu zögern und mit äußerster Konsequenz aller Instrumente und Methoden der industriellen Moderne bediente.“9 ___________________ 7
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Zur Erinnerung: Die NSDAP kam noch bei den Reichstagswahlen 1928 auf lediglich 2,6% der Stimmen. Bei der Wahl im September 1930 bekam sie schon 18,3%, aber erst im Juli 1932 gelang ihr der Durchbruch: mit 37,4% der Stimmen wurde sie zur stärksten Partei in Deutschland (Zahlen in: Zentner und Bedürftig 1993, S. 408). Radkau 2000, S. 469 Reimann 2004, S. 38
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EINLEITUNG
Die Verbindung von Industrie und Militär, Maschine und Soldaten, Heimat und Front, war das eigentliche Novum des Ersten Weltkriegs. Schon sehr früh wurde der Krieg von aufmerksamen Beobachtern in seiner neuartigen Totalität erkannt. Die Totalisierung des Krieges war zwar nicht vollkommen unbekannt, im Ersten Weltkrieg aber das Ergebnis einer neuartigen Verbindung des ursprünglich revolutionären Prinzips des Volkskrieges mit einer fortschreitenden Bündelung der industriellen Kräfte, die im Laufe des Krieges immense Steigerungen der Produktionsziffern erlaubte. Vorstufen des totalen Krieges, wie der amerikanische Bürgerkrieg oder der russisch-japanische Krieg, zeichneten bereits die zukünftige Entwicklung, wurden aber von den europäischen Militärs nicht in ihrer neuen Dimension erkannt, sondern als periphere Ereignisse betrachtet. Vielmehr galt der schnelle deutschfranzösische Krieg von 1870/71 als Vorbild für kommende Kriege. Ein langjähriger Stellungskrieg, als Dauereinrichtung mit verheerenden wirtschaftlichen und politischen Folgen, wurde – wenngleich manchmal von einzelnen Verantwortlichen angedeutet – nur von wenigen Außenseitern, wie etwa dem polnischen Bankier Johann von Bloch oder bereits 1887 von Friedrich Engels, richtig vorhergesagt.10 Als die wichtigsten Elemente des totalen Krieges zwischen den Jahren 1861 (Beginn des amerikanischen Bürgerkrieges) und 1945 (der Kapitulation Deutschlands und Japans) können im Wesentlichen genannt werden:
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Im Jahre 1887 prophezeite Engels, angesichts der Aufrüstungsprogramme der europäischen Großmächte, einen verheerenden Konflikt, dessen Ausgang er schon mit fast unheimlicher Genauigkeit vorhersah: „Und endlich ist kein anderer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich, als ein Weltkrieg, und zwar ein Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit. Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen. […] Die Verwüstungen des dreißigjährigen Krieges zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet. […] Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer Staatsweisheit, derart, dass die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt.“ (MEW XXI, S. 350f.) In einer Prognose aber, die er als absolut sicheres Resultat ansah, irrte sich Engels: Der Krieg habe zur Folge „die allgemeine Erschöpfung und die Herstellung der Bedingungen des schließlichen Sieges der Arbeiterklasse.“ (Ebd.) Zwar war, anders als in Mittel- und Westeuropa, die bolschewistische Revolution 1917 in Russland siegreich, aber: im zaristischen Reich gab es keine Arbeiter in nennenswerter Zahl. Es bestätigt sich für die russische Revolution die These von Georges Bataille (2001, S. 257), dass alle Revolutionen immer nur gegen feudal-agrarische Gesellschaften erfolgreich sein können, niemals gegen bürgerliche.
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DER WILLE ZUR BEWEGUNG
1. Totale Kriegsziele (d.h. die bedingungslose Kapitulation oder die Zerstörung des feindlichen Gegenübers als einer potenziell bedrohlichen Macht); 2. Totale Kriegsmethoden (d.h. keine Rücksicht auf rechtlich-moralische Regeln in der Kriegführung, wobei diese je nach Lage und Feind differenziert angewendet werden können); 3. Totale Mobilmachung (d.h. die möglichst breite Erfassung und Bündelung aller Ressourcen von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft und ihre Indienststellung für die Kriegführung); 4. Totale Kontrolle (d.h. eine zentral gelenkte Organisation des privaten und öffentlichen Lebens zum Zwecke der Kriegführung).11 Selbst wenn wir alle diese Bestimmungen im Ersten Weltkrieg annähernd verwirklicht sehen, der Krieg wird niemals im äußersten Sinne des Wortes „total“ sein können, wie bereits Carl von Clausewitz in seinem 1832 posthum erschienenen Hauptwerk Vom Kriege kritisch anmerkt. Zwar ist der bei Clausewitz sogenannte absolute Krieg, der philosophisch reine Krieg, die gedankliche Folie der Betrachtung der wirklichen (empirischen) Kriege, letztere tragen aber in sich stets mäßigende Faktoren, sogenannte Friktionen. „Friktion ist der einzige Begriff, welcher dem ziemlich allgemein entspricht, was den wirklichen Krieg, von dem auf dem Papier unterscheidet“, denn, so Clausewitz: „Das Handeln im Kriege ist eine Bewegung im erschwerenden Mittel.“12 Der Begriff des absoluten Krieges kann folglich auf keinen realen Krieg synonym angewendet werden. So meint auch der Begriff des „totalen Krieges“ im weiteren Zusammenhang nur die Erscheinungsweise der Kriege 1914-1918 bzw. 1939-1945, er bleibt empirisch folglich ein bloßer Zustand der Annäherung, insbesondere da es stets unterschiedliche politische Interessen innerhalb der kriegführenden Staaten oder ganzer Allianzen gibt und auch der Ausstoß der Rüstungsindustrien und ihre Verwendung auf den Schlachtfeldern an materielle und menschliche Grenzen gebunden ist. Eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen des totalen Krieges macht, wie Stig Förster anmerkt, tendenziell eine „totale Geschichtsschreibung notwendig.“13 Das impliziert eine fachliche Offenheit: Politikgeschichte, Sozialgeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Technikgeschich___________________ 11 12
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Vgl. Förster St. 2002a. Clausewitz 1994, S. 77 und 78. In den napoleonischen Kriegen sah Clausewitz (Ebd., S. 643) eine Annäherung von wirklichem und absolutem Krieg, insbesondere durch die Einbeziehung der Volksmassen in die Kriegshandlungen (siehe dazu Kapitel 1.3.). Förster St. 2002a, S. 36.
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EINLEITUNG
te, psychologische und kulturelle Deutungsmuster müssen zur Beschreibung und Charakterisierung herangezogen werden. Der Gegenstand „totaler Krieg“ verlangt eine interdisziplinäre Betrachtungsweise. Wenn der Schwerpunkt dieser Arbeit auf den militärischen und politischen Konzeptionen für einen „neuen Krieg“ und der nationalistisch-gewaltbereiten Kriegsliteratur liegt, dann v.a. deshalb, weil der Krieg als Phänomen in den Sozialwissenschaften häufig noch verbannt wird. Hier möchte ich einen Kontrapunkt setzen. Im Allgemeinen beschäftigt man sich als „Zivilist“ oder Sozialwissenschaftler nicht mit militärischen Fragen, da die Tatsache, den Krieg in seiner eigenen Logik zu denken, vielfach auf skeptische Reaktionen stößt. Den Krieg zu denken, erscheint wie ein Zugeständnis, ihn als „rationale Handlung“ zu begreifen – was er übrigens in vielen Aspekten auch tatsächlich ist. Aus rein moralischen Gründen sollte man den Krieg aber nicht den Militärs alleine überlassen, was historisch zumindest in einigen Fällen – und der Erste Weltkrieg mag ein Beispiel dafür sein – zu fatalen Konsequenzen führte. Nicht immer, das zeigt vor allem die Geschichte des Zweiten Weltkrieges, sind die Militärs und Generalstäbe dabei die treibenden Kräfte einer Kriegspolitik gewesen. 14 So gesehen möchte diese Arbeit auch die Auseinandersetzung mit dem Thema Krieg als einem legitimen Gegenstand, insbesondere der Politikwissenschaft, vorantreiben. Was hat den Ersten Weltkrieg neben seiner gesteigerten Totalität aber noch von früheren Kriegen unterschieden? Im Wesentlichen das, was schon Zeitgenossen die „Begeisterung für den Krieg“ nannten und was im Rückblick, angesichts der Realität des Massensterbens, am schwersten verständlich bleibt. Noch nie ist eine Generation so begeistert in den Krieg gezogen wie die von 1914. Diese allgemein vertretene Ansicht wird zwar in einigen entscheidenden Punkten zu relativieren sein (vgl. Kapitel 3.1.), dennoch bleibt trotz aller Vorsicht nicht von der Hand zu weisen, dass der August 1914, insbesondere bei der jüngeren Generation, eine unerwartete nationale Reaktion (und das nicht nur in ___________________ 14
Was für den Nationalsozialismus gilt, ist auch heute in einzelnen Fällen zu beobachten. Auffallend war in jüngster Zeit etwa, dass der einzige „richtige Militär“ in der ersten Regierung von George W. Bush, General Colin Powell, des Öfteren als „Taube“ bezeichnet wurde, während die „Falken“, also diejenigen, die im Krieg ein legitimes Mittel der Politik sehen, in der amerikanischen Regierung durchgehend Zivilisten sind. Vielleicht liegt diese Tatsache darin begründet, dass ein Offizier wie Powell weiß, was Krieg real bedeutet, während Berufspolitiker ihn heute nur aus zweiter Hand oder aus den Medien erfahren. Das unterscheidet sie von einem Politiker wie Hitler, der den Krieg noch selbst erfahren hatte, sich gegen Ende des Zweiten Weltkrieges aber ebenfalls von seiner Wirklichkeit abwendete.
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DER WILLE ZUR BEWEGUNG
Deutschland) hervorrief. Der bereits zitierte Joachim Radkau gibt eine mentalitätsgeschichtliche Erklärung für dieses Phänomen. Für ihn war das Augusterlebnis eine Abreaktion psychischer Spannungen, die sich in der Wilhelminischen Ära aufgebaut hatten. Der Krieg erschien wie eine Erlösung, eine Abfuhr der inneren Erregung einer ganzen Gesellschaft. Nun endlich war das lange Befürchtete und Erwartete da: „Diese Euphorie [angesichts der Kriegserklärung; A.M.] erklärt sich ganz und gar nicht durch die objektive Situation des Mehrfrontenkrieges, sondern durch einen voraufgegangenen Zustand psychischer Spannung. Diese muss eine Besonderheit der Zeit vor 1914 gewesen sein, denn 1939 wiederholte sich die Euphorie nicht, trotz einer viel massiveren und raffinierteren Kriegspropaganda.“15
Das ist ein wichtiger Hinweis, denn 1939, trotz eines totalitären NSStaates und einer übermächtigen Propaganda, sehen wir keine dem August 1914 vergleichbaren Szenen. Im Gegenteil: Die Stimmung in der Bevölkerung ist weitgehend bedrückt. „Der Kriegsausbruch [1939; A.M.] war keine Erlösung wie 1914; nur das Weiterschleichen der längst vertrauten Krise in ein neues, unbekanntes und gefährliches Stadium. So tief unwillkommen war der deutschen Nation der Krieg, dass die regierenden Oberpsychologen in den ersten Tagen das Wort selber vermieden und von einer Polizeiaktion oder bloßen ‚Vergeltungsmassnahmen‘ gegen Polen sprachen.“16
Die Begeisterung für den Krieg von 1914 bleibt auf jeden Fall erklärungsbedürftig und wir werden sehen, dass diese Begeisterung – neben einer nebulösen Idee der Erneuerung der deutschen Gesellschaft – vor allem einer bestimmten (und falschen) Vorstellung des Krieges entsprach, die durch seine blutigen Ereignisse dann konterkariert wird. Genauso schnell wie sie entstanden war, zerfiel die Begeisterung auch im weiteren Kriegsverlauf und machte Apathie und Resignation, stummer Auflehnung und Protest Platz. Aber das Gefühl der nationalen Einheit im August 1914 wird der Bezugspunkt aller völkischen und nationalisti___________________ 15 16
Radkau 2000, S. 461. Mann 1966, S. 426. Auch Andreas Hillgruber (1983, S. 27f.) verweist auf die Differenz von 1914 und 1939: „Die völlig andersartige Reaktion der deutschen Bevölkerung auf den Kriegsbeginn im September 1939 – Erschrecken und resignierende Hinnahme des scheinbar Unabänderlichen statt Begeisterung und Aufbruchsstimmung im August 1914 – ließ in der nationalsozialistischen Führung Zurückhaltung in den Kriegsanforderungen aus psychologischen Gründen dringend geboten scheinen.“
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EINLEITUNG
schen Bewegungen nach 1918 bleiben. Die Wiederherstellung dieser Einheit, symbolisch im Augusterlebnis und der Frontgemeinschaft beschworen, bildet dann auch das eigentliche politische Ziel der nationalsozialistischen Bewegung. Für eine zahlenmäßig zwar relativ kleine, aber ab Ende der 20er Jahre immer diskursmächtigere Gruppe hatte der Krieg in seiner industriellen Wirklichkeit eine erkenntnisleitende Funktion. In der Reflexion der Bedeutung des Krieges für Gegenwart und Zukunft hatten sie allen anderen Gruppierungen eines voraus: Sie gaben den Ereignissen zwischen 1914 und 1918 einen nachvollziehbaren Sinn für die deutsche Geschichte, mag er uns im Rückblick noch so unklar und metaphysisch erscheinen. Zwar hat der Historiker Aribert Reimann einerseits Recht, wenn er schreibt: „Gleichzeitig ist davor zu warnen die prominenten Deutungsangebote radikaler Minderheiten, (z.B. in der Literatur Ernst Jüngers), unbesehen zu verallgemeinern, denn zumindest unter den Kriegsteilnehmern entwickelte sich auch ein Diskurs des negativen Heroismus, der weniger die männerbündische Aggressivität als vielmehr die aufopferungsvolle Leidensfähigkeit zum Kernbestand männlicher Identität stilisierte. […] Die Zahl derjenigen, die durch den Krieg entwurzelt ihren Platz als Familienväter oder Arbeitnehmer nicht wieder finden konnten oder wollten und stattdessen in die männerbündische Radikalisierung flüchteten, war verhältnismäßig niedrig.“17
Andererseits stellt sich im Anschluss an diese Relativierung die berechtigte Frage: Was erklärt dann die politische Wirksamkeit der radikalen Positionen, mit denen viele innerlich wohl übereinstimmten? Augenscheinlich, so lässt sich zunächst folgern, haben die Kriegsgegner mental und psychisch für eine Entlastung der Kriegsverlierer und ihrer Angehörigen wenig anzubieten. „Die pazifistischen Autoren der Kriegsliteratur haben den Krieg nur als ein sinnloses Massensterben darstellen können, aber das hat den Hinterbliebenen der zwei Millionen deutschen Kriegstoten keinen Trost bieten können.“ 18 Der Antikriegsdiskurs bot offensichtlich keine wirkliche Sinnstiftung für die Verarbeitung der Niederlage und mit dem zeitlichen Abstand zum Krieg verlor dieser auch mehr und mehr seine Schrecken.19 Anders dagegen die radikale Rechte, ___________________ 17 18 19
Reimann 2004, S. 35. Münkler/Storch 1988, S. 87. Kurt Tucholsky (1975, S. 260f.) hat die Tendenz, das Kriegserlebnis ins Harmlose zu verwandeln, wunderbar persifliert: „Schmerzen werden vergessen. So hat die Nation die Scheußlichkeit des Krieges verwunden. Freundliche Lappalien wachsen über diese Regionen der Erinnerung, und die Äußerlichkeiten bleiben: ein Teemädchen in Baranowitschi, die
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und in bestimmter Weise auch die radikale Linke, die im Krieg und der folgenden Niederlage nur eine Vorstufe einer noch größeren Auseinandersetzung, im Frieden lediglich eine Übergangszeit sah. Die Niederlage wird hier in eine stringente Geschichte eingebunden, deren eschatologische Verheißung in einer Verwirklichung der „deutschen“ oder „sozialistischen“ Zukunft kulminiert. Während Frankreich in einer Opfermentalität und hinter der Maginotlinie Zuflucht suchte, England und v.a. die USA sich als die eigentlichen Sieger betrachteten, wurde in Deutschland der Diskurs der Selbstbehauptung und des „Im-Felde-unbesiegt“ zum wichtigsten nationalen Deutungsmuster, das Identität versprach. Die nach Kriegsende durchaus in großer Zahl vorhandenen pazifistischen und besonnenen Stimmen konnten sich, v.a. mit Beginn der Weltwirtschaftskrise und der verschärften Krise des Weimarer Parteienstaates Ende der 20er Jahre, politisch nicht mehr entscheidend durchsetzen. In der Beschreibung des Krieges von 1914-1918 waren sich so unterschiedliche Autoren wie Erich Maria Remarque und Ernst Jünger zwar im Wesentlichen einig, ihre Darstellung des Krieges an der Westfront ist praktisch identisch, die Folgerungen daraus aber könnten nicht unterschiedlicher sein. Ein prinzipieller Pazifismus oder die geistige und materielle Vorbereitung auf einen neuerlichen Krieg, der die Niederlage von 1918 in einen endgültigen Sieg und den Parteienstreit partikularer Interessen in eine homogene Volksgemeinschaft verwandeln sollte.20 ___________________
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Geschichte mit den zwei Schweinen in Flandern, der verzögerte Feldpostbrief, der Krach mit dem Bataillonsführer wegen des Hanseatenkreuzes – das wird behalten. Aber der Schmerz, der Schmerz ist fast vergessen.“ Die Volksgemeinschaft wurde auch von der Linken oder von den Liberalen als demokratische gefordert, was zeigt, wie schwierig es ist, Begriffe wie „Links“ oder „Rechts“ im Kontext der Weimarer Zeit beizubehalten. Die politische Semantik dieser Jahre zeichnet sich durch eine vollkommene Unübersichtlichkeit, der Auflösung starrer Fronten und eine Veränderung tradierter politischer Normen aus. „Die Faszinationskraft der neuen Nationalismen lag nicht zuletzt darin, dass sie die Positionsunterschiede zwischen links und rechts verflüssigten und versprachen, den Gegensatz von nationaler Idee und Sozialismus aufzuheben.“ (Mommsen 2001, S. 55) Im Kürzel NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) sind die beiden Pole National/Deutsch vs. Sozialistisch/Arbeiter symbolisch vereint. Selbst wenn man den Sozialismus der Nationalsozialisten nur als „ideologisches Accessoire“ (Christoph Werth) betrachtet und etwa die Ausschaltung des „linken Flügels“ der NSDAP um die Brüder Strasser als Beweis dafür heranziehen kann, die Wirkung des „nationalen Sozialismus“ auf die Deutschen wurde wesentlich durch Volksküchen, 1. Mai-Feiern, Volksempfänger und KDF-Fahrten bestimmt (Vgl. dazu Reichel 1996 und vor
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In der vorliegenden Arbeit – und das ist zugegebenermaßen eine inhaltliche Einschränkung – geht es im Weiteren um die Sicht derjenigen, die auch nach 1918 den Krieg weiterführen wollen, die Kapitulation nicht akzeptieren oder nur als Waffenstillstand interpretieren. Gemeinsam ist ihnen die Idee der „nationalen Erhebung“, die vor dem Hintergrund des seit 1914 variierten „Wiedergeburtssyndroms“ (Hans Mommsen) seine Kraft entfaltete. Im Unterschied zum alten Nationalismus der Kaiserzeit, der die Inklusion großer gesellschaftlicher Gruppen – wie etwa der Frauen und Arbeiter – in das politische System strikt ablehnte, kann der so genannte „Neue Nationalismus“ über den – zumindest rhetorischen – Einschluss bis dorthin politisch Ausgeschlossener definiert werden. Er ließ zwar das Geschlechterverhältnis unangetastet, ordnete aber die schicht- und klassenspezifischen Interessen dem Nationenbegriff unter.21 Diese Wendung ist m.E. eine unmittelbare Reaktion auf die Erfahrung des Krieges als einer Massenauseinandersetzung, die klar machte, dass zukünftige Kriege nur noch über den Einbezug der Volksmassen und ihrer produktiven Kräfte zu gewinnen waren. Diese Erkenntnis führte bei vielen „rechten Denkern“ zur Forderung einer Integration der Volksmassen in die nationale Gemeinschaft. So hielt etwa Moeller van den Bruck die Tatsache, dass der vierte Stand (die Arbeiter) nicht in die Nation eingeschlossen war, für einen Skandal und eine elementare Schwäche der deutschen Politik. Neben einer Fokussierung der Analyse auf diejenigen, die den Krieg weiterhin als Mittel, nicht nur der Politik, sondern seine Vorbereitung als nationale Aufgabe verstehen, besitzt die vorliegende Arbeit auch einen geografischen Fokus. Die Logik des Ersten Weltkrieges und seine spätere Verarbeitung konzentriert sich im Folgenden ganz auf die westliche Front, die durch ihre Material- und Abnutzungsschlachten charakterisiert werden kann. Damit soll nicht der Einfluss der Erfahrungen der Ostfront des Ersten Weltkriegs auf rassistische und paternalistische Einstellungen gegenüber dem Judentum und den slawi___________________
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allem Aly 2005). Kollektivistische und revolutionäre Züge sind auch für Teile der Rechten in der Weimarer Zeit prägend. Zur Differenz von Alten und Neuem Nationalismus vgl. Breuer (1999, S. 26). Stefan Breuer unternimmt den Versuch, die heterogenen Gruppen der deutschen Rechten zwischen 1871 und 1945 in eine allgemeine Matrix zu stellen, die alle Positionen idealtypisch abbildet. Anhand der beiden Achsen Exklusion/Inklusion und Progression/Regression werden die schwer überschaubaren Gruppen angeordnet (Ebd., S. 30). Die inhaltlichen Positionen der meisten Rechten in der Nachkriegszeit sind aber in sich widersprüchlich und über einen längeren Zeitraum betrachtet auch nicht stringent. Das macht Breuers Arbeit nicht überflüssig, zeigt aber die unglaubliche Vielfalt und die mit den „normalen“ politischen Kategorien von links und rechts kaum zu fassenden Positionen.
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schen Völkern geleugnet werden (vgl. Kapitel 7.4.), die in der nationalsozialistischen Behandlung so genannter „Fremdvölkischer“ und „Untermenschen“ dann ihren grausamen Kulminationspunkt fand. Für mich steht der Osten aber für eine Kriegserfahrung, die als antimodern bezeichnet werden kann. Panzer, schwere Geschütze, Eisenbahnlinien fehlten so etwa in den meisten Fällen.22 Der Krieg im Osten bedeutete für die deutsch-österreichischen Armeen traditionelle Bewegungsschlachten und Raumeroberungen im großen Stil. Zwar gab es durchaus harte Stellungskämpfe und Kämpfe um Festungen, aber es gelang immer wieder, anders als im Westen, Bewegung in die Aktionen zu bringen. Entscheidend scheint mir aber, dass der Erste Weltkrieg, trotz des Friedens von Brest-Litowsk, nicht im Osten entschieden wurde: „Die Siege im Osten, der vom August und wieder der vom Dezember [1914; A.M.] änderten nichts daran, dass der Krieg etwas zu werden im Begriff war, was kein Mensch vorausgesehen hatte. Es war auf beiden Seiten zuviel aufgestaute Macht; Industrie, Menschen, Kampfmoral. Es wurden auf beiden Seiten Massen ins Feld geführt, die an vernichtender Schlagkraft jeder bisherigen Erfahrung spotteten. Wenn man dies ungefähr erwartet hatte, so war das völlig Unerwartete dies: die Verteidigung erwies sich stärker als der Angriff. Nicht im Osten, wo die Russen unersetzliche Vorräte an Waffen und Munition schon verloren hatten und die Deutschen auf die Überlegenheit ihrer Industrie zählen konnten. Aber im Westen.“23
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Zu Recht gilt der Krieg im Osten aber als der unbekannte. Eine Ausnahme ist die Arbeit Kriegsland im Osten des litauischen Autors Vejas Liulevicius (2002), der das Ostfronterlebnis als „verborgenes Vermächtnis des Ersten Weltkrieges“ (Ebd., S. 11) bezeichnet. 2006 erschien beim Schöningh-Verlag in der Reihe Zeitalter der Weltkriege ein Band mit dem Titel Die vergessene Front – der Osten 1914/15, hgg. von Gerhard Groß. Der erste, der sich mit den militärischen Ereignissen der Ostfront detailliert auseinandersetzte, war in den 70er-Jahren Norman Stone (1975). Mann 1966, S. 130. Hans von Hentig argumentiert – anders als Golo Mann – in seinem 1927 herausgegebenen Buch Psychologische Strategie des großen Krieges mit verschiedenen mentalen Dispositionen um die Überlegenheit der deutschen Armee im Osten zu erklären: „Die großen Erfolge, die Deutschland in Russland und auf dem Balkan gewann, beruhten auf der Anwendung von Grundsätzen seiner alten guten, im Frieden oft durchgespielten Taktik und auf der Überlegenheit des deutschen Temperaments im Bewegungskrieg gegenüber den slawischen Willensverzögerungen.“ (Hentig 1927, S. 40) Neben einer rassistischen Komponente und der allgemein verbreiteten Glorifizierung des Willens gibt es in Hentigs Beschreibung einen „wahren Kern“: Die deutsche Armee zeichnete sich, auch wenn die allgemeine Vorstellung von preußischer Disziplin vollkommen davon abweicht, durch einen relativ großen Spielraum der Handlungsfähigkeiten der unteren Führung aus,
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EINLEITUNG
Im Osten fand, auch durch die Weite des Raumes und die Ausdehnung der Fronten bedingt, im eigentlichen Sinne ein „älterer Krieg“ statt, der im Wesentlichen die rüstungs- und führungstechnische Unterlegenheit der russischen Armee zeigte. Der Bewegungskrieg muss nicht immer zwangsläufig der „moderne Krieg“ sein, wenngleich alle Kriegführung auf Bewegung beruht. Zwar wurden einige Verfahren im Osten erprobt, die später an der Westfront eingesetzt wurden, insbesondere Innovationen im Angriffsverfahren durch den bekanntesten deutschen Artillerieexperten Oberst Bruchmüller. Die großen Materialschlachten im Westen zeigen aber, je länger der Krieg dauert, den industriellen Vorsprung der Alliierten, der auch trotz neuer deutscher Angriffsverfahren und Defensivtaktiken über längere Sicht nicht kompensiert werden konnte. Die Taktiken im Osten waren nicht einfach auf die Westfront zu übertragen. Die letzte deutsche Offensive im März 1918 war nur noch der verzweifelte und uneingestandene Versuch, die Tatsache ökonomischer Unterlegenheit zu leugnen. Die Westfront brachte den Ersten Weltkrieg auf seinen Nenner und in der Erinnerung blieb sie, obwohl auch Hunderttausende Soldaten an der Ostfront dienten, das prägende Ereignis, wohl auch auf Grund ihrer abgeschlossenen Situation. Die spätestens ab 1915 für die Westfront charakteristischen Material- und Abnutzungsschlachten waren das primäre Ergebnis eines Zusammenstoßes der großen europäischen Industrienationen, die ihr wirtschaftliches Potenzial in die Waagschale des Krieges warfen. Was das konkret bedeutete, zeigt etwa eine Aufstellung der Vorbereitungen für ein Armeekommando, das für den deutschen Angriff auf Verdun, eine der größten Materialschlachten des Krieges, vorgesehen war. „Für das 3. AK [Armeekommando; A.M.] hatte man den erstmaligen Bedarf berechnet auf 125.000 Stielgranaten, 7000 Schutzschilde, 6000 Drahtscheren, 80.000 Leuchtpatronen, 17.000 Spaten, 17.000 Kreuzhacken, je 6000 Äxte und Beile, 1 Million Sandsäcke, 265 Tonnen Stacheldraht, 10,5 Tonnen Bindedraht, 4000 Spanische Reiter, 3500 Schnelldrahthindernisse, 18.000 Rahmen Schutzholz, 20.000 hölzerne Hindernispfähle, 30.000 Bohlen und Bretter, 30.000
___________________ was schnelle Entscheidungen ermöglichte. Kadavergehorsam war nicht unbedingt gefragt. Auch nach dem Krieg, unter dem Chef der Heeresleitung, Hans von Seeckt, wurden in der Reichswehr alle Offiziere und Unteroffiziere in die Lage versetzt, Funktionen des jeweils höheren Dienstranges auszuüben, was den späteren rasanten Ausbau der Wehrmacht unter Hitler erst ermöglichte. (Vgl. Masson 2000, S. 21ff)
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Rundhölzer, 2000 Wellblechtafeln, 400 Sturmböcke, 1000 Sturmleitern, 6000 Lattenroste, 200 Wasserfässer, 400 Laufgrabenlaternen!“24
Diese ungeheuren Zahlen galten, wie zitiert, lediglich für den „erstmaligen Bedarf“ und mussten laufend durch die heimische Industrie ersetzt werden. Granaten, Schrapnelle, Minen, Maschinengewehre, Munition etc. sind in dieser Aufzählung noch gar nicht mit erfasst. Der Stellungskrieg fraß sich sozusagen selbst, indem er Nachschub auf Nachschub, von den Fabriken an die Front gebracht, verbrauchte. Die Logik des Abnutzungskrieges und seiner Protagonisten, das Erleben der Soldaten in den Frontgräben, ergänzt um die Sicht des Generalstabs und der nationalen Kriegspublizisten werden im Folgenden in ihrer politischen und psychischen Aufarbeitung des Geschehens und seiner Extrapolation in eine noch zu schaffende Zukunft analysiert. Die Erfahrungen der Westfront verdichteten sich in „politische Konzepte“, die den Aktivismus um seiner selbst willen, ergänzt durch chiliastische Ziele, propagierten. Die Memoiren, Reflexionen und Kriegstagebücher einer meist verbitterten und gleichzeitig aktivistischen Frontgeneration sind dabei natürlich nicht unabhängig von ihrem politischen Zweck und dieser wiederum nicht unabhängig vom öffentlichen Diskussionsstand der erinnerten Ereignisse zu lesen. Und niemand bleibt, oft nach Jahren des Schweigens, souverän gegenüber seinen Erinnerungen, v.a. wenn sie so traumatische Erlebnisse wie den Fronteinsatz in einem Maschinenkrieg beinhalten. Insofern ist die Gegenwart stets in den, v.a. literarischen, Erinnerungen präsent.25 Die Beschreibung des Krieges und die Hauptmuster der Verarbeitung werden in den folgenden Kapiteln anhand weniger, immer wiederkehrender Elemente herausgearbeitet. Dabei wird bewusst darauf verzichtet, den Diskurs der nationalistischen und soldatischen Autoren von vornherein nicht „ernst“ zu nehmen und ihn lediglich als ideologisches Machwerk abzutun. Politische Irrtümer, ___________________ 24 25
Schlachten 1921ff., Bd. 13, S. 28. So sind etwa die Kriegstagebücher Ernst Jüngers, wie beispielsweise sein erfolgreicher, erstmals 1920 erschienener Roman, In Stahlgewittern, nicht identisch mit seinen Aufzeichnungen unmittelbar während des Krieges. Jünger hat praktisch bei allen Texten Umarbeitungen in späteren Ausgaben vorgenommen. Aber der Authentizitätsnachweis, das eigene Erleben, blieb das wichtigste Verkaufsargument der Kriegsbelletristik. Dass gilt auch für die Antikriegsromane Ende der 20er Jahre. Im Vorfeld des Erscheinens von Remarques Im Westen nichts Neues wurde von Seiten des Propyläen-Verlages stets darauf hingewiesen, dass sich hier ein Frontsoldat seine Kriegserlebnisse unmittelbar „von der Seele geschrieben“ habe (Vgl. Schrader 1992, S. 9). Allgemein zum Zusammenhang von Literatur und Kriegserlebnis in der Weimarer Republik etwa: Müller H. H. (2002).
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insbesondere wenn sie von „rechten“ Autoren stammen, sind in der Rückschau natürlich immer einfach zu denunzieren. Damit bleibt man stets auf der sicheren Seite. Es geht mir deshalb nicht um den „Beweis“, dass die militanten Frontsoldaten und die Apologeten der Gewalt in der Aufarbeitung des Krieges lediglich selbstlegitimatorisch, antidemokratisch oder schlicht falsch argumentieren. Es geht auch nicht um die Frage nach der Authentizität, die selbst als eine Waffe im Kampf um politische Deutungsmuster verstanden werden muss. Vielmehr interessiert mich die Logik einer Analyse, die den Krieg in den Mittelpunkt aller zukünftigen Politik stellt und die aus der eigenen Kriegserfahrung politisch folgenreiche Schlüsse zieht. Dass sie für den Nationalsozialismus in einigen Punkten wichtige Stichwortgeber waren, bleibt dabei unbestritten. Wie letzterer schließlich aus dem von ihm einerseits verherrlichten, andererseits zum Teil auch kritisch reflektierten Kriegserlebnis – es fehlte ja vor allem ein „nationaler Führer“ – und der „Domäne der Front“ einen politischen Führungsanspruch bzw. eine neuartige und radikale Kriegführung ableiten wird, skizziert der Schlussteil dieser Arbeit. Er bietet insofern eine Interpretationsmöglichkeit für den engen Zusammenhang zwischen Nationalsozialismus und Erstem Weltkrieg. Die einzelnen Kapitel gliedern sich wie folgt: Der Abriss einer knappen Kriegsgeschichte in Kapitel 1 will zeigen, in welchen größeren militärischen Kontext der Erste Weltkrieg zu stellen ist. Ausgehend von der bekannten Clausewitz’schen Formel, „Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“, wird nicht nur diese Definition hinterfragt, sondern auf ihre impliziten Voraussetzungen verwiesen: der Gleichsetzung von Staatlichem und Politischem und die Trennung von Militär und Zivil. Für die Frage nach der Spezifik des Ersten Weltkriegs ist das Verhältnis von Politik und Kriegführung entscheidend. Angefangen von der militärischen Aufmarschanweisung, dem 1914 umgesetzten Schlieffenplan, bis zur Übernahme der Obersten Heeresleitung durch Hindenburg und Ludendorff, zeigt sich im Laufe des Krieges eine zunehmende Dominanz des Militärischen über das Politische. Diese Überlegenheit wird aber wiederum durch die Abhängigkeit von der Rüstungsindustrie abgeschwächt und verschmilzt in ein Dispositiv, das man, mit dem französischen Soziologen Paul Virilio, bereits als einen frühen „militärisch-industriellen Komplex“ bezeichnen könnte. Im zweiten Kapitel wird die Abnutzungs- oder Materialschlacht als spezifisches Merkmal des Ersten Weltkrieges eingeführt. Ihre zwangsläufige Entstehung und gedankliche Verarbeitung steht dabei im Mittelpunkt der Analyse. Angefangen bei der militärisch schließlich so verheerenden Doktrin der Offensive und der Propagierung der Vernichtungsschlacht, ihrer blutigen Karikatur im Stellungskrieg, bis zu den
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vergeblichen Versuchen, wieder Bewegung in die starren Fronten zu bringen, zeigt sich eine gedankliche Leerstelle nicht nur im deutschen Heer. Am Beispiel der Schlacht vor Verdun wird gezeigt, dass das vergebliche Ringen um einige Meter Bodengewinn ein Nichtanerkennen der neuen Kriegsrealitäten darstellt. Der Versuch einzelner Militärs (Erich von Falkenhayn) oder Kriegstheoretiker (Hans Delbrück), den Gedanken der Ermattungsschlacht in den Mittelpunkt der Strategie zu stellen, scheiterte nicht zuletzt an militärischen Vorbehalten und der industriellen Wirklichkeit der Schlachtfelder. Dennoch ist der Erste Weltkrieg im Endeffekt als (ungewollter) Ermattungskrieg geführt worden und die Differenz von Ermatten und Vernichten wird für den Fortgang meiner Arbeit, und insbesondere für die Charakterisierung der nationalsozialistischen Kriegsstrategie, die die Fehler von 1914-1918 zu vermeiden sucht (vgl. Kapitel 7.3.), entscheidend sein. Kapitel 3 nähert sich dem eigentlichen Zentrum des Ersten Weltkrieges: dem Erlebnis als entscheidender Kategorie der Reflexion. Galten bis dahin die Auswertungen des Generalstabes und die Memoiren führender Feldherren als der adäquate Ausdruck für die Realität des Krieges, wird ab 1914 die subjektive Perspektive wichtiger, ja geradezu sakrosankt. Die Militärgeschichte wird nun v.a. „von unten“ geschrieben. 26 In Darstellungen von (jüngeren) Frontoffizieren und einzelnen Erlebnisberichten kulminiert die Erfahrung des Krieges, die ihre Fortsetzung in den großen Kriegsromanen Ende der 20er Jahre findet. Die Kaprizierung auf das Erlebnis, vom Augusterlebnis an bis zum kollektiven und individuellen Trauma der Niederlage („Dolchstoß“), ist auch eine Reaktion auf das vollkommene Fehlen von Kriegszielen auf ___________________ 26
Herfried Münkler (2003b, S. 88f.) spricht in diesem Zusammenhang von einem Auseinanderfallen zweier Darstellungsformen. „Die impressionistische Berichterstattung unmittelbarer Augenzeugenschaft spaltete sich von der analytischen Darstellung der militärischen Stäbe ab. […] Dies wird vor allem in den Darstellungen des Ersten Weltkrieges sinnfällig, in denen die berühmten literarischen Texte, von Arnold Zweigs Erziehung vor Verdun über Ludwig Renns Krieg bis zu Ernst Jüngers In Stahlgewittern, die Authentizität begrenzter Augenzeugenschaft für sich in Anspruch genommen haben, während die umfassenden Generalstabsdarstellungen solche Formen von Authentizität gemieden und statt dessen auf vom unmittelbaren Geschehen abstrahierende Begriffe und Schemata gesetzt haben.“ In manchen Gesamtdarstellungen des Krieges, wie etwa in den vom Reichsarchiv ab 1921 herausgegebenen Schlachten des Weltkrieges – nicht zu verwechseln mit der amtlichen Schriftenreihe Der Weltkrieg 1914–1918 – lassen sich aber Annäherungen an die Perspektive „von unten“ beobachten. Das liegt v.a. daran, dass die herkömmliche Kriegsgeschichte die Realitäten des Abnutzungskrieges nicht mehr adäquat abbilden kann (Vgl. dazu: Pöhlmann 2002b).
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deutscher Seite zu Kriegsbeginn. Die Absenz einer klaren politischen und militärischen Strategie und die Zersplitterung der Fronten verlagert den Krieg nach innen, macht ihn zu einem subjektiven Ereignis. Ihm nach 1918 einen „größeren Sinn“ zu verleihen, wird zum Kampfplatz unterschiedlichster politischer Gruppierungen, deren vielleicht bestimmendes Merkmal eine Inthronisation der Jugend bildet. „Macht Platz, ihr Alten!“, in diesem Aufruf Gregor Strassers steckt konzentriert ein Ausgangspunkt für die Nachkriegsdynamik.27 Im vierten Kapitel steht die in praktisch allen Reflexionen über den Krieg an der Westfront thematisierte Konfrontation zwischen Mensch und Maschine im Mittelpunkt. Die Schlacht als ein wechselseitiges Kräftemessen der Arbeitsproduktivität ganzer Staatenallianzen trifft dabei mit aller Wucht auf alte Bilder und Traditionen des Soldatischen. Weder heroische Tapferkeit noch eiserner Wille konnten Artillerie, Gas, Maschinengewehre und Flugzeuge besiegen. Trotz der offenkundigen Übermacht der Maschine wird aber, insbesondere auf deutscher Seite, am Primat des Willens festgehalten. Die blutigen Schlachten der Westfront waren auch dieser Vorstellung geschuldet, die eine Schlacht erst dann als verloren gelten ließ, wenn der Wille sie verloren gab. Zugleich enthielt die Front auch eine gesellschaftliche Utopie der Gleichen, die pervertierte Idee einer „Demokratie“, als Preußischer (Spengler) oder Soldatischer Sozialismus bekannt geworden. Im Schützengraben des Materialkrieges und angesichts der Übermacht der Maschine zählten für die Vertreter eines „wahren Sozialismus“ weder bürgerliche Tugenden noch soziale Unterscheidungen. Die Schicksalsgemeinschaft der Front als Sozialismus wurde nach 1918 zum wichtigen Kollektivsymbol der Nation und fand in politischen und v.a. auch wirtschaftlichen Diskursen ihren Niederschlag. Der Nationalsozialismus definierte seinen Sozialismus schließlich prägnant als „Domäne der Front.“ Kapitel 5 betrachtet die Amalgamierung von Wirtschaft und Krieg als das Paradigma der totalen Kriegführung. Die Inthronisation der Wirtschaft und die Dominanz der technischen Vernichtungsmittel führen zu einem veränderten Verhältnis von ziviler Industrie und militärischer Logik, Hinterland und Front. Die totale Mobilmachung der Nation als militärische Notwendigkeit bedeutet auch, eine politische Strategie für ___________________ 27
Strasser 1932, S. 171. Hans Zehrer gab 1930, als sich eine Tendenz zur Versöhnung der jüngeren Generation mit den Weimarer Mitteparteien andeutete, die Parole aus: „Achtung junge Front! Draußen bleiben.“ (Zit. bei Mommsen 2001, S. 68) Auch die Ideen einer „Dritten Front“ zielten auf die Überwindung des Klassenantagonismus und des Parteienstreits durch die jüngere Generation. Goebbels bezeichnete in der sogenannten Kampfzeit die Weimarer Republik immer wieder als eine „Republik der Greise.“
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die Geschlossenheit der Nation zu entwickeln. Krieg und Frieden werden für die Befürworter des „totalen Krieges“ ununterscheidbare Zustände: der Frieden gilt als Vorbereitungszeit des Krieges, letzterer muss im Frieden vorbereitet werden. Das ist die genuine Aufgabe der Politik. Wurde der totale Krieg bereits nach 1916 von entscheidenden Akteuren, wie etwa General Ludendorff, offensiv gefordert, so stieß er doch an immanente Grenzen und blieb so mehr eine rhetorische Idee mit starkem idealistischen Gehalt. Ökonomisch war das deutsche Reich auf keinen lange anhaltenden Wirtschaftskrieg vorbereitet und alle Versuche der Totalisierung des Krieges, wie etwa die Steigerung der Produktion durch das Hindenburgprogramm, scheiterten an der Realität eines von Rohstoffzufuhren abgeschnittenen Deutschlands, das auch nicht über genügend Arbeitskräfte verfügte. Dennoch blieb die Figur des totalen Krieges als die Verschmelzung von Krieger und Arbeiter virulent und wurde später für die nationalsozialistische Propaganda bedeutsam. Die vom Führer der Deutschen Arbeitsfront (DAF), Robert Ley, 1938 publizierte Redensammlung, Soldaten der Arbeit, ist dafür nur ein Beispiel.28 Im sechsten Kapitel untersuche ich nochmals die Subjekte des Krieges, die Soldaten, die im Diskurs derjenigen, die den Krieg weiterführen wollen, auf den Polen Bürger/Wehrpflichtiger gegen Krieger/Freiwilliger angeordnet werden. Für die militärische Elite und für diejenigen, die sich als solche verstanden, war das Einbeziehen der Massen über die allgemeine Mobilmachung in den Krieg der Hauptfehler der politischen und militärischen Führung. Das Massenheer, gleichgesetzt mit der politischen Herrschaftsform der Demokratie, gilt als der Untergang des eigentlichen militärischen Ethos und als Grund für die Perversionen der Kriegshandlungen auf den Schlachtfeldern. Die Forderung nach einem kleinen Berufsheer, technisch bestens gerüstet und hervorragend geschult, blieb zunächst angesichts der von den alliierten Siegermächten festgesetzten 100.000 Mann Reichswehr annähernd Realität und wurde ___________________ 28
Siehe: Ley 1938. Mit Kriegsbeginn und v.a. nach dem Ende der Offensive vor Moskau im Winter 1941 wurden die Appelle Leys immer verzweifelter. Hieß es 1939 noch: Wir alle helfen dem Führer. Deutschland braucht jeden Deutschen, so reflektierte sich in Schmiede des Schwertes. Der deutsche Arbeiter im großdeutschen Freiheitskampf (1942) bereits eine Vorahnung auf einen längeren Krieg. Nach der Niederlage in Stalingrad wird dann der „totale Krieg“ explizit gefordert: Die große Stunde. Das deutsche Volk im totalen Kriegseinsatz (1943). Ley war nach Stalingrad, gemeinsam mit Goebbels und Speer, ein Verfechter der Bündelung aller gesellschaftlichen Kräfte für den Krieg, eine Konzentration die am Widerstand Hitlers – und v.a. auch an Martin Bormann, Hitlers Sekretär und eifersüchtigem Wahrer der Privilegien der NSDAP – scheiterte.
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vom Chef der Heeresleitung, General Hans von Seeckt, auch forciert. Hitler wird mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1935 eine andere Konzeption favorisieren, die für die Entfesselung und Mobilmachung der deutschen Gesellschaft hin auf den nächsten Krieg maßgeblich war. Er blieb, trotz aller elitären Rhetorik, ein Massenführer. Es bleibt abschließend in Kapitel 7 die Frage zu beantworten, welche Linien, aber auch Brüche, zwischen der Realität der Materialschlachten, ihrer Verarbeitung, den Apologeten des Krieges, den Aufbruchsideen und dem Nationalsozialismus bestehen. War es nicht vor allem der aktivistische Impuls der Nachkriegsgeneration der den Nationalsozialismus definiert? Der in den Jahren 1939-1941 erfolgreich durchgeführte Blitzkrieg und zuvor noch die politische Überrumpelungstaktik Hitlers, eine gewissermaßen beschleunigte Bewegung, folgte dem Prinzip der Überraschung und der Paralyse, ein Prinzip das gegen Ende des Ersten Weltkrieges in den Sturmtruppen und Tankangriffen bereits zum Vorschein kam. Nichts fürchtete Hitler so sehr wie den (politischen und militärischen) Stillstand, das Trauma der Westfront und einer ganzen Generation. War die erstarrte Front der Hauptgrund für die Entstehung der Bewegung? War der Wunsch nach Bewegung die innerste Motivation des Führers und seiner Gefolgschaft? War der Blitzkrieg die militärisch und politisch folgerichtige Antwort auf die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges? Lag schließlich der totale Krieg als Ermattungskrieg nicht in der Absicht der NS-Führung? Und wie hängt der Rassenkrieg mit seinen Metaphern der Reinigung und der Auslese mit der Verarbeitung des Kriegserlebnisses zusammen? Ziel meiner Arbeit ist es, einige der Forme(l)n und Aspekte herauszuarbeiten, die den Nachkriegsdiskurs und die Vorbereitung auf einen neuen Krieg auf Seiten der nationalistischen und militanten Gegner der Weimarer Republik bestimmen und die schließlich 1933 im Nationalsozialismus kulminieren, der das selbstbezogene Modell der Front zum Paradigma einer Volksgemeinschaft macht, die im Ausschluss des „Abweichenden“ ihre Exklusivität erhält. Der wichtigste Bezugspunkt für den Nationalsozialismus, neben seinen imperialistischen und rassistischen Wurzeln, die tief ins 19. Jahrhundert reichen, bildet dabei zweifellos der Krieg. Die von mir herangezogenen Kriegspublizisten wie Ernst Jünger, Franz Schauwecker, Ernst von Salomon und Autoren wie Werner Sombart oder Oswald Spengler sind aber nicht mit dem Nationalsozialismus gleichzusetzen. So waren die meisten Propagandisten des „Neuen Nationalismus“ etwa entschiedene Gegner jeglicher straffen politischen Organisation und standen zumeist in kritischer Distanz zur der von ihnen verabscheuten Masse, obwohl sie theoretisch
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ihre Einbeziehung forderten. 29 Sie schufen mit ihren Arbeiten aber die geistigen Voraussetzungen für die organisatorische Bündelung von Ressentiments, Ängsten und Gewaltphantasien, die von den Nationalsozialisten schließlich von amorphen Bildern in faktische politische und militärische Handlungen übersetzt wurden. Sicherlich ist die politische Gewalt in der Weimarer Republik und später unter dem Nationalsozialismus nicht einfach nur die Fortsetzung militärischer Gewalt. 30 Die Zuspitzung des Konfliktes zwischen der sozialistischen Arbeiterbewegung und ihren nationalen Gegnern nach 1918, mehr aber noch die Erfahrung des russischen Bürgerkrieges und ihre Rezeption in Deutschland waren für eine Brutalisierung der Politik ebenso prägend. Es geht mir im Folgenden nicht um eine kausale Begründung des Nationalsozialismus anhand eines einzelnen Elementes, aber ein spezifischer Krieg und das daraus resultierende Kriegserlebnis, seine nachträgliche Politisierung durch einen militanten Teil der Frontgeneration und seine entscheidende Wirkung, insbesondere auf die nachwachsende Genera___________________ 29
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So kann Ernst Jüngers 1932 erschienene Schrift Der Arbeiter als Versuch angesehen werden, die unausweichliche Herrschaft einer „ganzen Klasse“ zu postulieren. Da mit der Weiterentwicklung einer auf der Technik basierenden Welt jeder bei Jünger zum Arbeiter wird, spricht Stefan Breuer (1999, S. 123ff.) in diesem Zusammenhang von einem „planetarischen Imperialismus“, der die engen nationalstaatlichen Grenzen sprengt. Aber trotz dieser Schrift blieb Jünger in seiner persönlichen Haltung national und elitär. Der einzige, der Jüngers Arbeiter wirklich mit Emphase aufnimmt, ist der Nationalbolschewist Ernst Niekisch. In seinem 1935 veröffentlichten Buch Die dritte imperiale Figur symbolisiert der Arbeiter – wie bei Jünger – die Figur des technisch-kollektivistischen Ordnungsgedankens. In ihm verschwindet jede Form der gesellschaftlichen und räumlichen Exklusion. Die ganze Welt wird am Ende zum „Vaterland des Arbeiters“ (Niekisch 1935, S.170). Dass dieses Buch mit seinem Hohelied auf die proletarische Revolution die NSZensur überstand, ist erstaunlich. 1939 wurde Niekisch aber vor dem Volksgerichtshof als Herausgeber der Zeitschrift Der Widerstand wegen „literarischen Hochverrates“ zu lebenslanger Haft verurteilt. Diese allgemein verbreitete Auffassung vertritt etwa Armin Mohler, der besonders die Wirkung des Krieges auf die nachwachsende Generation betont, die das Fronterlebnis nicht mehr gemacht hatte (Vgl. dazu Kapitel 7.4. dieser Arbeit). „Die viereinhalb Kriegsjahre führen ganze Generationen in ihrer prägbarsten Zeit in Landschaften, denen jede Beziehung zur bürgerlichen Welt fehlt. Der Bürgerkrieg der Jahre nach 1918 aber, im Grunde nichts anderes als die Verlagerung des Weltkrieges auf eine andere Ebene, hat, wenn auch unter etwas schwächerem Druck, die gleiche Wirkung. Zudem erfasst er jene Altersschichten, die für die Front noch zu jung waren.“ (Mohler 1972, S. 41) Dirk Schumann (2004) sieht dagegen in der Brutalisierung der politischen Kultur der Nachkriegszeit nur mittelbar ein Produkt des Krieges.
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tion, war für die Umsetzung der mörderischen Politik der Nationalsozialisten ein, wenn nicht der entscheidende Ausgangspunkt. An dieser Stelle möchte ich noch Prof. Dr. Herfried Münkler, PD Dr. habil. Matthias Bohlender und insbesondere Christina Knüllig für ihre Lektüre und wichtigen Anregungen danken. Die Arbeit selbst widme ich Frau Prof. Gerburg Treusch-Dieter, die im November 2006 tragisch verstorben ist und die mir über viele Jahre eine wichtige Gesprächspartnerin war.
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1. V O N M A R A T H O N
NACH
VERDUN
Je mehr die Politik von großartigen, das Ganze und sein Dasein umfassenden Interessen ausgeht, je mehr die Frage gegenseitig auf Sein und Nichtsein gestellt ist, um so mehr fällt Politik und Feindschaft zusammen, um so mehr geht jene in dieser auf, um so einfacher wird der Krieg, um so mehr geht er aus dem bloßen Begriff der Gewalt und Vernichtung hervor, um so mehr entspricht er allen Forderungen, die man aus dem Begriff logisch entwickeln kann, um so mehr Zusammenhang einer Notwendigkeit haben seine Teile. Carl von Clausewitz (1827)
1 . 1 . D i sp o s i t i v e Der bekannteste Philosoph des Krieges, Carl von Clausewitz, beginnt das von seiner Witwe Marie von Clausewitz 1832-1835 posthum veröffentlichte Hauptwerk Vom Kriege mit der einfachen Frage: Was ist der Krieg? Seine Antwort, militärisch präzise wie knapp, lautet: „Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen. […] Gewalt, d.h. die physische Gewalt, ist also das Mittel, dem Feinde unseren Willen aufzudringen, der Zweck.“1 In dieser Zweck-Mittel-Relation spricht sich ein instrumentelles Verhältnis zur Kriegführung aus. Der Krieg wird zwar als letztes Mittel, aber als ein legitimes Instrument der Politik akzeptiert. Er verlässt dabei nicht den eigentlichen Raum des Politischen. In einer oft zitierten Stelle spricht Clausewitz davon, „dass der Krieg nicht bloß ein politischer Akt, sondern ein wahres politisches Instrument, eine Fortsetzung des politischen Verkehrs, ein Durchführen desselben mit anderen Mitteln“2 ist. Es ___________________ 1 2
Clausewitz 1994, S. 17; Herv. im Orig. Ebd., S. 34; siehe auch S. 674ff. Michel Foucaults Originalität (1986, S. 8) in Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte besteht darin, dass er umgekehrt fragt: „Welches war der Grundsatz, den Clausewitz umfor-
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ist diese Vorstellung des Verhältnisses von Krieg und Politik, die Clausewitz über die rein militärische Welt hinaus bekannt gemacht hat. In der Überzeugung vom Primat der Politik hat die Mehrzahl der Clausewitzexegeten denn auch das Vermächtnis und die Lehre von Clausewitz, insbesondere nach den Erfahrungen der beiden Weltkriege, gesehen. Die Ereignisse vor Verdun, an der Somme oder später etwa die in Stalingrad – sie sind für einige Kommentatoren nichts anderes als katastrophale Folgen eines fundamentalen Missverständnisses der Clausewitz’schen Formel vom Krieg als der Fortsetzung der Politik.3 Für andere wiederum folgen die Vernichtungsschlachten der beiden großen Kriege unmittelbar aus der Lehre und Doktrin, die Clausewitz in Vom Kriege entwickelt. Herfried Münkler hat in seiner Studie Gewalt und Ordnung berechtigterweise darauf hingewiesen, dass die instrumentelle Auffassung des Krieges, d.h. den Krieg als Mittel für etwas anderes, die Politik, zu denken, nur eine Linie in Clausewitz Werk bildet. Parallel dazu findet man in Clausewitz frühen Schriften eine andere, mehr existenzielle Definition des Krieges, die lebensgeschichtlich mit seiner Wendung hin zu konservativen Positionen und der damit einhergehenden Ablehnung der revolutionären napoleonischen Strategie in den Hintergrund tritt.4 Die Begeisterung und unverhohlene Bewunderung der revolutionären Dynamik der französischen Armeen auf den europäischen Schlachtfeldern machten Clausewitz lange Zeit sehr empfänglich für nationalrevolutionäre Töne. Seine Weigerung, die Kapitulation Preußens nach den vernichtenden Niederlagen in den Schlachten bei Jena und Auerstedt zu akzeptieren, führte Clausewitz nach einer Zeit der Internierung in Frankreich in den Dienst des russischen Zaren. Nicht pragmatische Interessen, sondern Begriffe wie Tapferkeit und Ehre bestimmten seine Argumente für diesen Übertritt. Ethische und ästhetische Kriterien, innere Überzeugungen und persönlicher Mut waren dafür ausschlaggebend, dass Clausewitz den Krieg gegen Napoleon auf eigene Faust und gegen den Willen seines Königs weiterführte. Die revolutionären Töne und patriotischen Gefühle die Clausewitz zu dieser Zeit bewegen, lassen sich nur schwer mit der in Vom Kriege später entwickelten instrumentellen Kriegstheorie vereinbaren. In der Bekenntnisdenkschrift von 1812 wird denn auch vehement der Volkskrieg, orientiert am ___________________
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muliert hat, oder vielmehr: wer hat den Grundsatz formuliert, den Clausewitz umgedreht hat, als er sagte, der Krieg ist nur die anders geführte Politik?“ Zur Clausewitzinterpretation insgesamt siehe den Sammelband Clausewitz in Perspektive herausgegeben von Günter Dill (1980). Münkler 1992, S. 99.
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Vorbild der spanischen Guerillakämpfe, gefordert. Nur im Widerstand gegen die Besatzer, so Clausewitz’ Überzeugung, kann sich das Volk als Nation erschaffen und zu sich selbst gelangen. In dieser existenziellen Auffassung des Kampfes wird „der Krieg nicht mehr als Mittel der Politik, sondern als Medium der Konstitution oder Transformation einer politischen Größe begriffen.“ 5 Im Akt des Krieges und der Gewalt schafft sich die Nation erst ihre Existenzberechtigung. Das heißt aber auch: Die legitime Staatsgewalt erfährt keine Anerkennung mehr von Seiten der Patrioten, soweit sie nicht selbst das revolutionäre Konzept vertritt. In dem Maße, wie der existenzielle Krieg voranschreitet und eskaliert, emanzipiert sich die kriegerische Energie von traditionellen Werten und normativen Setzungen. Instrumentelle und existenzielle Kriege folgen so unterschiedlichen Vorstellungen über die Rolle des Krieges oder der Gewalt im Verhältnis zur Politik und – so auch Münklers Überzeugung – geben verschiedene Antworten auf die Frage nach der Identität des kämpfenden Subjekts. Den Krieg als Instrument und Mittel zu betrachten setzt zunächst die Anerkennung einer legitimen politischen Ordnung voraus, die die Zwecke der Kriegführung definiert. Das zeigt sich insbesondere in der Betonung des Staates als Träger der gesellschaftlichen Interessen. Die existenzielle Auffassung sieht demgegenüber im Krieg ein Mittel, das seinen Zweck erst hervorbringen soll. So unterschiedliche politische Positionen wie die Lenins, Maos oder Hitlers folgen letzterem Imperativ. Ob die klassenlose Gesellschaft oder die rassische Volksgemeinschaft, die reinigende und regenerierende Kraft des Krieges, wie in Ernst Jüngers Stahlgewittern – stets soll der Krieg das neue politische Gebilde, ein glorreiches Zeitalter oder zukünftiges Bewusstsein konstituieren. Politisch auf den ersten Blick weit auseinander liegende inhaltliche Positionen wie etwa die (reaktionären) Ideen des Deutschlands von 1914 oder die antikolonialistischen Befreiungsbewegungen der Dritten Welt – sie sind beide der existenziellen Auffassung des Krieges verpflichtet. Der in den nächsten Kapiteln thematisierte Erste Weltkrieg folgt in seinem zeitlichen Verlauf und seiner ideologischen Rechtfertigung zunehmend der existenziellen Definition des Krieges und der daraus sich immer schneller drehenden Spirale der Vernichtung.6 ___________________ 5 6
Ebd., S. 103. Herfried Münkler (ebd., S. 109) spricht von einer Transformation der Kriegsauffassungen im Verlaufe des Ersten Weltkrieges. „Der Erste Weltkrieg, als Staatenkrieg begonnen und von allen beteiligten Regierungen zunächst als instrumenteller Krieg aufgefasst, hat in seinem Verlauf einen Wandel durchgemacht, der ihn zunehmend der existenziellen Kriegsauffassung angenähert hat.“ Für den Zweiten Weltkrieg und
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Die instrumentelle Definition des Krieges bei Clausewitz als Fortsetzung der Politik ist – unabhängig von der Frage, warum sich die Clausewitz-Forschung überwiegend auf diesen Aspekt der Interpretation fokussiert –, bereits in ihrer Verallgemeinerung in sich unzulänglich. Sie setzt umstandslos die Existenz von Staaten und Staatsinteressen voraus, eine Bedingung, die historisch erst zu einem sehr späten Zeitpunkt der menschlichen Geschichte auftritt. 7 Der Krieg oder sagen wir zunächst: Kriegerische Handlungen sind viel älter als der Staat und Clausewitz verkennt, dass die westliche Kriegführung seiner Zeit auf ihrer Kultur beruht, einer Kultur, die die Existenz von Staaten, regulären und disziplinierten Armeen und einen bestimmten Stand der Bewaffnung voraussetzt. Der britische Militärhistoriker John Keegan zeigt in seiner Studie Die Kultur des Krieges anschaulich, wie sich im Verlauf der Geschichte die Formen des Kampfes wandelten. Insbesondere gibt es eine auffallende Grenzlinie zwischen dem, was man die westliche Kriegführung nennen könnte und die mit der Taktik der griechischen Phalanx beginnt, und der Kampftradition der östlichen Steppenvölker. Während die westliche Kultur auf dem aggressiven Zusammenstoß und der Aufgabe der Vorsicht basiert, ist für die Steppenvölker des Nahen und Mittleren Ostens eine indirekte, ausweichende und zurückhaltende Taktik charakteristisch. Es ist mehr als bezeichnend, dass die Partisanentheorie Mao Tse-tungs genau auf dieser verschleppenden und lang hinhaltenden Taktik beruht. „Die Theorie des in die Länge gezogenen Krieges ist Maos Hauptbeitrag zur Militärtheorie.“8 Ein ferner Rest der ___________________
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insbesondere den Krieg an der Ostfront gilt diese Auffassung von Anfang an. Clausewitz’ Analyse des spanischen Partisanenkrieges gegen die Armeen Napoleons berücksichtigt bereits, wie gleich gezeigt wird, eine Veränderung der militärischen Auseinandersetzungen. Dass sich in Clausewitz’ Buch Vom Kriege unterschiedliche Politikbegriffe finden, zeigt HerbergRothe (2004), der die Auffassung vertritt, dass die Clausewitzsche Theorie des Krieges auch auf nicht-staatliche Kriege angewandt werden kann – eine These, die Clausewitz-Kritiker wie John Keegan oder Martin van Crefeld vehement zurückweisen würden. Keegan 1997, S. 91. In den heute zunehmenden „asymmetrischen Kriegen“ (Münkler 2002) wie in Afghanistan oder im Irak wird die Partisanentaktik, kombiniert mit terroristischen Aktionen, zur Strategie der waffentechnologisch unterlegenen Seite. Neu an Terrorgruppen wie alQuaida ist ihre globale Vernetzung und ihre Fähigkeit, überall auf der Welt zuzuschlagen. Während der frühere Partisan Vorteile aus seiner Ortskenntnis und der Unterstützung in der Bevölkerung erlangte, ist es heute eine globale finanzielle, logistische und technische Apparatur, die spektakuläre Aktionen ermöglicht. Für ihre Wirksamkeit bedarf es aber v.a. der Massenmedien, die uns die Bilder zur Prime Time am besten live ins Haus liefern.
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kulturellen Tradition der asiatischen Heere zeigt sich hier im 20. Jahrhundert. Regulären Truppen organisatorisch und waffentechnisch unterlegen, versucht der Partisan zunächst seine Niederlage zu vermeiden, gemäß der These Raymond Arons, dass die Partisanen, wenn sie nicht militärisch verlieren, den Krieg politisch gewinnen. 9 Da auch Clausewitz die Partisanentaktiken ausführlich thematisiert, ist es nicht verwunderlich, dass, angefangen bei Friedrich Engels (einem der renommiertesten Militärhistoriker seiner Zeit), Vom Kriege von marxistischer Seite große Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde. 10 Das Interesse richtet sich dabei vor allem auf die von Clausewitz analysierte Taktik der spanischen Guerilla gegen die napoleonischen Armeen. Der Guerillakrieg, spanisch: kleiner Krieg, war für die Strategie der marxistischen Intellektuellen die Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit des Sieges gegen überlegene reguläre Armeen. In der mündlich und schriftlich überlieferten Geschichte, die zunächst nichts anderes als Kriegsgeschichte ist, gab es immer wieder Zusammenstöße und bewaffnete Auseinandersetzungen verschiedener „Dispositive“ des Krieges. So war der erste unmittelbare Zusammenstoß zwischen einer griechischen Hoplitenphalanx und den in der Kampftradition des vorderen Orient ausgebildeten Soldaten des Perserreiches in der Ebene bei Marathon (490 v. Chr.) für letztere eine unerklärliche und unheimliche Situation. Einen Gegner, der offensichtlich dem Wahnsinn verfallen war, indem er jegliche natürliche Vorsicht aufgab, konnten die persischen Heere einfach nicht begreifen. Ihre Niederlage beruhte so im Wesentlichen auf den verschiedenen kulturellen Traditionen des Kampfes, die mit der politischen Organisation koinzidierten. Die Phalanx wurde aus freien Bürgern gebildet, die sich im Kampf gegenseitig sicherten und abdeckten und war als „taktischer Körper“ den Streitkräften der Perser weit überlegen. Das vielleicht extremste Beispiel des Aufeinandertreffens zweier unterschiedlicher Formen der Kriegführung ist die Anfang des 16. Jahrhunderts erfolgreiche Eroberung Mexikos durch spanische Konquistadoren unter Hernando Cortez. Dass es einigen hundert Spaniern gelang, aztekische Heere von 20.000 Mann zu schlagen, kann, trotz des waffentechnologischen Vorsprungs der Europäer, nur mit einer ganz anderen Auffassung von Sinn und Zweck des Krieges erklärt werden. Während die Spanier einen Eroberungsfeldzug im Namen der katholischen Kirche und ihrer weltlichen Herrscher in Mittelamerika begannen, führten die Azteken Krieg, um Gefangene für ihre Opferrituale zu gewinnen. Die restlose Vernichtung einer gegner___________________ 9 10
Vgl. Aron 1963, S. 47ff. Zur Kriegstheorie von Friedrich Engels und Mao Tse-tung siehe: Wallach (1972) bzw. Münkler (1992, S. 63-71).
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ischen Streitkraft war jenseits ihres vertrauten militärischen Horizonts und es ist bezeichnend, dass sie nicht in der Lage waren, ihre Kriegführung zu ändern, als sie auf einen ganz neuartigen Gegner stießen. Die Geschichte des Krieges und seiner Führung ist als Teil der allgemeinen Kulturgeschichte zu schreiben. Die unterschiedlichen Formen der Kriegführung, die eingesetzten technischen Mittel, die strategischen und logistischen Überlegungen, die Führungsprinzipien und das Verhältnis von Kombattanten und Zivilpersonen sind nur auf dem Hintergrund der sozialen, religiösen und ökonomischen Organisation der Gesellschaften verständlich. Hat der Krieg, mit den Worten von Clausewitz, „seine eigene Grammatik, aber nicht seine eigene Logik“, so kann er niemals „vom politischen Verkehr getrennt werden,“11 und das gilt, erweitert auf die Ebene der Ökonomie, insbesondere für komplexe Industriegesellschaften. Man könnte einwenden, dass die „Industrialisierung des Krieges“ fast ebenso alt wie die menschliche Zivilisation ist, denn spätestens mit der Bronzezeit wurden Handwerker mit speziellen Fertigkeiten für die Waffenproduktion unentbehrlich. Verbesserungen des Bogens, die Entdeckung, wie aus Eisen effizientere Waffen herzustellen sind, die Künste der Festungsbauer und die Geheimnisse der Pulvererzeugung – sie brachten eine beträchtliche Anzahl von unmittelbar in der Kriegsindustrie Tätigen hervor. Aber der überwiegende Teil der Gesellschaft war bis ins 19. Jahrhundert in der Landwirtschaft beschäftigt, Waffen und Rüstungen hielten lange Zeit und die Zahl der kriegführenden Männer hielt sich in bescheidenen Grenzen, einfach deshalb, weil ihre Führung und Verpflegung mit den damaligen Mitteln an enge Grenzen stieß. Erst mit der industriellen Revolution wurde die Massenproduktion von Waffen im Verbund zwischen Militär und privaten Unternehmern geschaffen und das Transportwesen revolutioniert. 12 Der Ausbau der Eisenbahn und die (zunächst) halbautomatisierte Massenproduktion waren der deutlichste Ausdruck für die ab den 1840er Jahren in West- und Mitteleuropa einsetzende Verflechtung von Industrieproduktion und Kriegführung bzw. der zunehmenden Koinzidenz zwischen Zivilem und Militärischem. Das schließlich Anfang des 20. Jahrhunderts geprägte Schlagwort des totalen Krieges spricht diese ___________________ 11 12
Clausewitz 1994, S. 675. Virilio (1980, S. 177ff.) betont nicht umsonst, dass die Gefährlichkeit der heutigen Waffen nicht so sehr in ihrer Wirksamkeit als vielmehr in der Geschwindigkeit ihrer Transportvektoren besteht. Automatische Systeme und Datenverarbeitungsanlagen treten vermehrt an die Stelle politischer Entscheidungen. Das so genannte Transpolitische ist wahrscheinlich nichts anderes als diese Vernichtung der letzten Lebenssphäre des Politischen: der Dauer.
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Amalgamierung deutlich aus. 13 Lange Zeit war der Krieg zwar nicht unbedingt an der Peripherie der Gesellschaft angesiedelt, hatte aber dennoch seine bestimmten Zeiten und ausgewählten Protagonisten. Ab dem späten 19. Jahrhundert, und am zeitlich frühesten vielleicht im Amerikanischen Bürgerkrieg 1861-1865, zeigte der Krieg sein modernes, industrielles Gesicht.
1 . 2 . S c hi e ß p u l v e r Will man ein einzelnes Ereignis hervorheben, das die Kriegführung und mit ihr die alte soziale Ordnung revolutionierte, so ist die Erfindung und Verwendung des Schießpulvers an erster Stelle zu nennen. Zuvor waren es die Bronzeverarbeitung bzw. die Entdeckung, wie sich aus Eisen effiziente Waffen und Rüstungen herstellen ließen, die einschneidende Wandlungen der Kriegführung mit sich brachten. Mit der Einführung der Feuerwaffen beginnt der langsame und sich stets beschleunigende Untergang der alten aristokratischen Kriegerkaste, der schließlich in den Materialschlachten des Ersten Weltkrieges vollendet wird. Das Gemisch aus Schwefel, pulverisierter Holzkohle und Salpeter war in China bereits im 11. Jahrhundert bekannt, wurde aber bis zum Ende des 13. Jahrhunderts nicht zu Kriegszwecken verwendet. Einige Zeit später war das Schießpulver auch in Europa verbreitet und die abendländische Welt verstand sofort seine überragende militärische Bedeutung.14 Der englische Mönch Roger Bacon hatte 1260 als erster in ___________________ 13
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Wie im Verlauf meiner Arbeit am Ersten Weltkrieg gezeigt werden wird, haben die Apologeten des totalen Krieges den Frieden als Ausnahmezustand gesehen und den Krieg an den Ausgangspunkt allen staatlichen Handelns gesetzt. Stellvertretend hier nur eine Stimme: „Der Krieg erscheint nun nicht mehr als bloßer Zwischenfall, dem eine eigene Bedeutung nicht zukommt; er hat sich aus einer Welt, die ihn, wenn nicht ganz abschaffen, so doch ihren Gesetzen unterwerfen zu können glaubte, emanzipiert und tritt als Erscheinung eigener Art und eigenen Rechtes, als selbständige, gleichwertige Daseinsform dem Frieden gegenüber. Eine ganz neue Welt ist damit geboren, eine Gegenwelt, in welcher der Krieg die Voraussetzung und das Maß aller Dinge und sein Vertreter, der Soldat, der Herr und Gesetzgeber ist, der nun seinerseits dem Bürger Wert und Aufgabe zuteilt. […] Während früher der Frieden den Krieg in seine Ordnung einzubeziehen, ihn in rechtliche Schranken einzuzwängen und zur Achtung seiner Gesetze und Werte anzuhalten versuchte, muss jetzt umgekehrt der Frieden sich den Forderungen des Krieges fügen, der zum heimlichen Herrn des Zeitalters geworden ist.“ (Wolter 1935, S. 218) Die militärische und politische Dominanz des Westens ab 1500 führt Geoffrey Parker (1990) im Wesentlichen auf die Einführung und den
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Westeuropa die chemische Zusammensetzung des Schießpulvers aufgezeichnet. Erst sechzig Jahre später, Anfang des 14. Jahrhunderts, werden Kanonen gebaut, die Zerstörungen von bis dato uneinnehmbaren Burgen ermöglichten, eine Tatsache, die Generationen von Belagerungstechnikern überrascht hätte.15 Zwar reagierten die Festungsbauer, unter ihnen so bekannte Männer wie Leonardo da Vinci oder Michelangelo, mit neuen Konzeptionen rasch auf die verstärkte Feuerkraft, doch mit der Verbreitung des Schießpulvers in der abendländischen Welt geriet die gesamte soziale Organisation West- und Mitteleuropas in eine Krise.16 Mitte des 15. Jahrhunderts experimentierten europäische Soldaten erstmals mit Handfeuerwaffen, 1550 waren sie bereits allgemein verbreitet. Nun konnte jeder einfache Bauer, der zum Soldaten rekrutiert wurde, einen jahrelang geschulten Ritter töten, eine Tatsache, die bereits mit der Einführung der Armbrust als primitiver mechanischer Waffe ihren Vorläufer fand. Die mittelalterliche Elite wehrte sich verständlicherweise lange gegen die Verbreitung der neuen Waffen. Den ersten Musketenschützen wurden noch von erbitterten Feinden die Hände abgehackt, so feige und mutlos empfand man ihr Erscheinen auf dem Schlachtfeld. So verdammt in Cervantes’ Don Quijote der tragische Titelheld die Erfindung der Feuerwaffe, die es einer gemeinen und feigen Hand gestatten, einem tapferen Ritter das Leben zu nehmen. In Japan schließlich verbot die herrschende Kriegerkaste, die Samurai, die Produktion von Feuerwaffen mit dem Argument, dass sie gesellschaftliche Instabilität hervorrufen. Noch mehr als ihre europäischen Pendants, die Ritter, sahen sie darin klar ihren drohenden Untergang.17 Bis tief ins 19. Jahrhundert verfügte Japan so über keine moderne Armee ___________________
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effizienten Einsatz von Schießpulver zurück. Vgl. dazu auch Mc Neill 1984, S. 81-96. John Keegan macht in Die Maske des Feldherren darauf aufmerksam, dass der Belagerungskrieg, ähnlich wie dann die Materialschlachten des Ersten Weltkrieges, eine frühe Verbindung von Arbeit und Krieg bildet. „Das Paradoxon der Belagerungstechnik besteht, wie Vauban (ein Meister der Belagerungstechnik unter Ludwig XIV; A.M.) wusste, darin, dass die Männer in der vordersten Linie ‚nicht für den Krieg, sondern für die Arbeit gekleidet‘ sein müssen. Eine Belagerung ist Erdarbeit unter Feuer.“ (Keegan 2000, S. 112) Auch wenn hier eine technologische Lesart der Kriegsgeschichte nahe gelegt wird: Die Dialektik von politischer Innovation und technischer Entwicklung bestimmt die Geschichte des Krieges. Am Beispiel der französischen Revolution (Kapitel 1.3.) werde ich in knapper Weise auf die Dynamik politischer Veränderungen auf die Kriegführung eingehen, während Kapitel 1.4. mehr die technische Revolution durch die Industrialisierung betont. Zur Geschichte der Samurai: Vgl. Keegan 1997, S. 76ff.
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im europäischen Sinne. Der Einfluss des ritterlichen Ideals prägte bis zur Erfindung des Schießpulvers, bei den Kampfregeln und Schlachtordnungen angefangen, bis in die Sphäre des politischen Verkehrs, die Kriegführung. Im ritterlichen Code kann man den erfolgreichen Versuch sehen, der feudalen Gewaltbereitschaft Regeln und Formen zu geben. Aus heutiger Sicht führte das zu absurden Konsequenzen. „Der militärische Formalismus erhält zu jener Zeit den Wert eines religiösen Absoluten. Es kommt häufig vor, dass man sich töten lässt, um Konventionen von einer wundersamen Extravaganz Genüge zu leisten. […] Ebenso werden strategische Notwendigkeiten solchen der Ästhetik oder der höfischen Ehre geopfert.“18
Die Vervollkommnung der Waffentechnik machte die ritterliche Courtoisie bald nutzlos. Im 15. Jahrhundert führen Landsknechte den Gebrauch der Trommel ein – nach Huizinga, dem holländischen Historiker des Mittelalters, das Symbol für den Übergang in die mechanisierte Kriegführung. Die Erfindung der Artillerie, zunächst leichtere Kanonen auf fahrbaren Lafetten, machte die Ritter endgültig zu anachronistischen Figuren. Don Quijote, dessen alte Werte und Verhaltensweisen nur noch als lächerlich empfunden werden, führt diese Tatsache in eindrucksvoller Weise vor. Das Schießpulverzeitalter brachte in Europa große soziale und politische Umwälzungen mit sich. Das Feudalsystem löste sich in Westeuropa bereits im 13. Jahrhundert allmählich auf, die Herrscher mussten immer mehr auf Söldnerverbände zurückgreifen, da die Lehensverpflichtungen so verwickelt und undurchschaubar geworden waren, dass mit einer verlässlichen Armee und der Einhaltung der Kriegsdienstpflicht nicht mehr zu rechnen war. Nach 1450 war die Führung von Kriegen in Europa eng mit der Entstehung von Nationalstaaten verbunden. Bis zum späten 17. Jahrhundert kommt es zu einer Zentralisierung politischer und militärischer Autorität, begleitet von staatlicher Besteuerung und bürokratischer Kontrolle. Parallel dazu etabliert sich ein privater Markt der Waffenindustrien, eine „Kommerzialisierung des Krieges“ setzt, beginnend in den norditalienischen Stadtstaaten, ab dem 14. Jahrhundert ein. „Der Krieg förderte die Entwicklung des Finanzwesens und belebte Handel und Industrie, insbesondere die Bekleidungsindustrie, die Pferdezucht, den Bergbau und die Munitionsindustrie.“19 Zwar misstrauten die führenden Militärs und Staatsmänner den auf Profit gerichteten Interessen der privaten Unternehmer, Gewinn___________________ 18 19
Rougemont 1987, S. 292. Montgomery 1999, S. 296.
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denken und militärische Tapferkeit gingen nicht nahtlos ineinander über, aber insbesondere für die führenden Seemächte (Venedig, England) wurden finanzielle, logistische und administrative Aspekte der Kriegführung immer entscheidender. Carl Schmitt hat in seiner Studie Land und Meer darauf aufmerksam gemacht, dass der Seekrieg stets den Aspekt der Totalität des Krieges in sich trägt, da er nicht nur, vermittels Blockade des Handels und der Wirtschaft, auf die gegnerischen Streitkräfte zielt, als vielmehr die gesamte Gesellschaft des Feindes tangiert. Im Gegensatz zum Landkrieg, in dem sich Heere gegenüberstehen und die Zivilbevölkerung im Idealfall außerhalb der Feindseligkeiten bleibt, folgt der Seekrieg einem ubiquitären Prinzip: „Dem Seekrieg liegt dagegen der Gedanke zugrunde, dass Handel und Wirtschaft des Feindes getroffen werden sollen. Feind ist in einem solchen Krieg nicht nur der kämpfende Gegner, sondern jeder feindliche Staatsangehörige und schließlich auch der Neutrale, der mit dem Feinde Handel treibt und zu ihm in wirtschaftlichen Beziehungen steht. Der Landkrieg hat die Tendenz zur entscheidenden offenen Feldschlacht. Im Seekrieg kann es natürlich auch zur Seeschlacht kommen, aber seine typischen Mittel und Methoden sind Beschießung und Blockade feindlicher Küsten und Wegnahme feindlicher und neutraler Handelsschiffe nach Prisenrecht. Im Wesen dieser typischen Seekriegsmittel liegt es begründet, dass sie sich gegen Kämpfende wie Nichtkämpfende richten. Eine Hungerblockade insbesondere trifft unterschiedslos die Bevölkerung des ganzen blockierten Gebietes, Militär und Zivilbevölkerung, Männer und Frauen, Greise und Kinder.“20
In diesem Sinne kann der entwickelte Seekrieg als Vorbild für die Totalisierung des Krieges gelten, da er weder räumliche Grenzen noch Unterschiede von Soldaten und Zivilisten anerkennt, eine Tatsache, die die Luftstreitkräfte des 20. Jahrhunderts fortsetzen werden. Langsam und zunächst durchaus gegen den Widerstand der traditionellen Offiziere dringen mehr und mehr rationale Muster der Planung und umfassenden Führung in die militärische Welt. Die Logistik, abstraktes Planen und wissenschaftliche Prinzipien werden zu entscheidenden Faktoren der ___________________ 20
Schmitt 1993, S. 87f. Für Carl Schmitt verläuft die menschliche Geschichte entlang der großen Linien der Auseinandersetzungen von Land– und Seemächten. Auch die erste politisch-historische Kriegserzählung, Thukydides Geschichte des Peloponnesischen Krieges, kann in diesem Sinne als der Kampf zwischen einer Seemacht (Athen) und einer Landmacht (Sparta) gelesen werden (Vgl. Thukydides 1991). Die unterschiedlichen strategischen Konzeptionen von See- und Landmächten werden in der Differenz von Ermattung und Vernichtung noch öfters thematisiert (v.a. Kapitel 2.5. und 7.3.).
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Kriegführung und nicht mehr allein persönlicher Mut oder soldatische Tapferkeit. Die zunehmend kommerzialisierte Kriegführung und die Bürokratisierung des Militärwesens führten zu einer Monopolisierung des Krieges durch die großen politischen Gebilde. Die administrativen Aufgaben und die innenpolitischen Folgen der Heeresvermehrung waren zu berücksichtigen. Das Heer wird nicht mehr als ein Haufen roher Individuen angesehen, sondern als ein komplexer, durch vernünftige Anordnungen zu regierender Organismus. Die Heeresverwaltung musste nach kaufmännischen Prinzipien ausgerichtet, die standardisierten Waffen vom Staat und nicht mehr vom Soldaten gestellt werden. Die Idee des Nationalstaates verlangte danach, seine Macht zu vergrößern und seine Interessen zu verteidigen; Herrscher und Untertanen sollten harmonisch und zum allgemeinen nationalen Wohl zusammenarbeiten. „Aber es waren der Krieg und die Folgen des Krieges, die einen viel mächtigeren und beständigeren Druck auf die Bildung von Nationalstaaten ausübten, als es durch diese philosophischen Überlegungen und die sich langsam entwickelnden sozialen Tendenzen geschah. Ihre Militärmacht erlaubte es den meisten europäischen Dynastien, ihre Stellung gegenüber den großen Magnaten des Landes zu behaupten und die politische Einheit des Landes und ihre Autorität zu sichern (wenn dies auch oft nur durch Zugeständnisse an den Adel gelang). Militärische – oder besser geostrategische – Faktoren halfen, die territorialen Grenzen der Nationalstaaten zu formen, während die häufigen Kriege ein Nationalbewusstsein schufen...“21
Die Entstehung der Nationalstaaten und der Beginn der kapitalistischen Wirtschaftsordnung vergrößerten sowohl die rekrutierbare Masse der potenziellen Soldaten als auch die Menge der zur Verfügung stehenden Waffen. Die Armeen als ältester Teil des Regierungsapparates können als Ausgangspunkt der industriellen Massenproduktion betrachtet werden. Parallel dazu begann im 18. Jahrhundert die allgemeine Exerzierausbildung der Infanterie. Das von Michel Foucault so genannte „Zeitalter der Disziplinen“ formt sich zunächst an der Peripherie der ___________________ 21
Kennedy 1996, S. 125. Zur Verstaatlichung des Krieges und ihre Folgen vgl. insbesondere Münkler 2004, S. 91-131. Münkler verweist darauf, dass mit der Verstaatlichung des Krieges der „unmittelbare Kampf der von beiden Seiten aufgebotenen Streitkräfte, die Entscheidungsschlacht, eine sehr viel größere Bedeutung gewonnen, wenngleich der Versorgungs- und Ermattungskrieg nach wie vor eine strategische Option blieb, die immer wieder wahrgenommen wurde. Staatenkriege begünstigen jedoch die militärische Entscheidung der zwischen den Konfliktparteien umkämpften Frage.“ (Ebd., S. 67)
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militärischen Welt. In der Verabsolutierung des mechanistischen Prinzips wird der Soldat zum Rädchen in der großen Maschinerie Armee. „In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist der Soldat etwas geworden, was man fabriziert.“ 22 Die von der entstehenden industriellen Gesellschaft geforderte Gleichförmigkeit der Disziplin des Arbeiters spiegelt sich auch in den neuen soldatischen Tugenden wider. Nicht mehr eine bestimmte Haltung und standesgemäße Zugehörigkeit definiert den Soldaten, sondern sein diszipliniertes Verhalten unter allen denkbaren Bedingungen. Jörg Friedrich bemerkt in seiner großen Studie Das Gesetz des Krieges dazu an: „Disziplin ist die Verhaltensregel von Kombattantenhaufen, die kein Gefechtsethos kennen.“23 Die am besten ausgebildete Armee der Antike, die römische, kannte beispielsweise den Gleichschritt noch nicht. Erst als die Regierungen im 18. Jahrhundert damit begannen, große, ebene Kasernenhöfe anzulegen, konnte das Marschieren geübt werden. John Keegan macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass die Exerzierreglements der Musketiere den Sicherheitshandbüchern der modernen Industrie entsprechen, indem sie den Schießvorgang in zahlreiche, präzise festgelegte Einzelschritte zerlegen. 24 Diese Zergliederung entspricht genauestens der von Michel Foucault in Überwachen und Strafen konstatierten „Gelehrigkeit der Körper“ und den dabei angewandten methodischen Prinzipien. So reflektiert sich im Militärischen auch eine immer mehr auf das Zivile übergreifende Gesellschaftsutopie: „Der Traum von einer vollkommenen Gesellschaft wird von den Ideenhistorikern gern den Philosophen und Rechtsdenkern des 18. Jahrhunderts zugeschrieben. Es gab aber auch ein militärisches Träumen von der Gesellschaft; dieses berief sich nicht auf den Naturzustand, sondern auf die sorgfältig montierten Räder einer Maschine; nicht auf einen ursprünglichen Vertrag, sondern auf dauernde Zwangsverhältnisse; nicht auf grundlegende Rechte, sondern auf endlos fortschreitende Abrichtungen; nicht auf den allgemeinen Willen, sondern auf die automatische Gelehrigkeit und Fügsamkeit.“25
Militärisch wird das Ende der Individualität des Soldaten auch darin sichtbar, dass er seit dem späten 17. Jahrhundert Uniform trägt. Während die mittelalterlichen Ritter noch in prunkvollen Rüstungen in den Kampf gingen, und die Heraldik mit ihren Symbolen und Zeichen den Einzelnen unterscheidbar machte, löscht die Uniform die Differenz der Soldaten ___________________ 22 23 24 25
Foucault 1977, S. 173. Friedrich 1995, S. 21. Keegan 1997, S. 485. Foucault 1977, S. 218.
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oder reduziert sie auf ganz einfache Chiffren. Den neu eingeführten Reglements entspricht ein Persönlichkeitstypus, der gelernt hat, sich der Disziplin zu unterwerfen – etwas, was bis dahin undenkbar war, setzten sich doch die angeheuerten Söldnertruppen aus wenig verlässlichen Geächteten, Vagabunden, Mördern und Dieben zusammen. „Vor dem 17. Jahrhundert hat es keine disziplinierten Heere gegeben, und erst im 18. wuchsen sie zur Gewohnheit heran.“26 Aber auch die Offiziere der neuen königlichen Heere mussten auf viele Freiheiten verzichten, die ihre imaginären ritterlichen Vorgänger noch besaßen. Mit der Einführung der Handfeuerwaffen und insbesondere durch die Verbesserungen der Artillerie, die auf große Entfernungen Infanteristen angriff, veränderte sich die psychische Struktur der Kämpfenden. „Eine undurchsichtige, mathematisch-technische Fertigkeit drohte Mut und persönlichen Einsatz antiquiert und nutzlos werden zu lassen. Die Definition des Soldatischen wurde durch einen solchen Wandel in Frage gestellt, mochte er im 18. Jahrhundert verglichen mit dem, was das 19. und 20. bringen sollte, noch ganz in den Anfängen stecken.“27
Technische Rationalität gegen heroischen Mut, Material gegen Wille – das blieben, nach den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, die bestimmenden Themen der militärischen Reflexion.
1 . 3 . Re v o l u ti o n Das nach der europäischen Katastrophe des 30-jährigen Krieges im Friedensschluss von Münster und Osnabrück (1648) etablierte klassische Kriegsrecht, führte lange Zeit zu einer „Hegung des Krieges“ (Carl Schmitt). Die Verheerungen eines mit religiösen Streitigkeiten aufgeladenen Krieges übertraf alles da Gewesene. Ganze Teile Deutschlands waren verwüstet, die Bewohner durch marodierende Soldaten umgebracht, die Landwirtschaft zerstört. In einem gemeinsamen Friedensvertrag sollte für die Zukunft, insbesondere bei eventuellen Kriegshandlungen, Vorsorge geleistet werden. Das multipolare System europäischer Großmächte als Machtgleichgewicht trug zu diesem Wunsch das ihrige bei. Ein ausbalanciertes Staatensystem, das in jedem Land ein stehendes Heer, eine funktionierende Verwaltung und eine auf der Staatsräson beruhende Politik voraussetzte, begrenzte – bis zu den ___________________ 26 27
Friedrich 1995, S. 21. McNeill 1984, S. 156.
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napoleonischen Revolutionskriegen – die europäischen Auseinandersetzungen. 28 Die Kriegshandlungen konzentrierten sich mehr und mehr in den Händen einer Zentralmacht, so dass de facto und de jure nur noch die Staatsmächte Kriege ausrufen und Mittel dafür bereitstellen konnten. Der Krieg verstaatlichte sich, die für den Feudalismus noch so typische alltägliche Gewalt wurde zum Monopol eines professionellen und technisch geschulten Militärapparates. Norbert Elias hat in Über den Prozess der Zivilisation gezeigt, was die Etablierung eines Gewaltmonopols für die Entwicklung der mittelalterlichen Gesellschaft bedeutete. Er sieht darin eine entscheidende Determinante für eine Zunahme an Selbstzwang und Affektregulierung, Voraussetzungen für die Disziplin des neuen Bürgers und Soldaten. 29 Das staatlich finanzierte und disziplinierte Heer markiert – neben der Errichtung eines Staatsfinanzwesens, welches wiederum im Wesentlichen für den Unterhalt der stehenden Heere geschaffen wurde – die Geburt des modernen Staates. Die Transformation der Religions- und Bürgerkriege nach 1648 in zwischenstaatliche Auseinandersetzungen beruht für den deutschen Staats- und Völkerrechtler Carl Schmitt im Wesentlichem auf der Identifikation von Staatlichem und Politischem, eine Verschmelzung, die als sukzessive Entpolitisierung der Gesellschaft gelesen werden kann. Die wechselseitige Anerkennung des rechtlichen Status des Gegners hat ihre Grundlage in der Kennzeichnung des Soldaten als regulärem Kombattanten. Damit wird die Differenz von Soldat und Zivilist erst möglich. Idealerweise achten die Gegner sich untereinander, Hass oder persönliche Feindschaft galten als negative Kennzeichen militärischer Disziplin. „Die Hegung und klare Begrenzung des Krieges enthält eine Relativierung der Feindschaft. Jede solche Relativierung ist ein großer Fortschritt im Sinne der Humanität.“30 Das spezifisch Politische besteht für den zitierten Carl Schmitt in der Unterscheidung von Freund und Feind, die den Sinn hat, „den äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation zu bezeichnen.“ 31 Wie immer man Schmitts Rolle im nationalsozialistischen Deutschland beurteilen will, die Vorstellung eines rassischen oder biologischen Feindes, dessen totale Vernichtung angestrebt wird, scheint mir nicht so einfach vereinbar mit seiner Auffassung eines gehegten Krieges, der in der gegenseitigen juristischen Anerkennung der Konfliktparteien besteht. ___________________ 28 29 30 31
Man muss hier sicherlich hinzufügen, dass diese Begrenzungen nicht für die Kolonialkriege der europäischen Staaten galten, in denen dem Gegner jedes souveräne Recht abgesprochen wurde. So waren alle Mittel erlaubt. Vgl. Elias 1980, Teil 1, S. 321. Schmitt 1963, S. 11. Ebd., S. 27.
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Schmitts Interesse gilt der Frage nach der Begrenzung des Krieges, den er zwar als letztes Instrument der Politik bejaht, dessen Energien er aber über den besonderen Status des Kriegers zügeln will.32 Am Vorabend der französischen Revolution war der Krieg, in den Worten von Clausewitz, „ein bloßes Geschäft der Regierungen“33 geworden. „Seiner Bedeutung nach war er […] eine etwas verstärkte Form der Diplomatie, eine kräftigere Art zu unterhandeln.“ 34 Hier kommt der Krieg der instrumentellen Definition am nächsten. Sieht man von der elementaren Grausamkeit der europäischen Kolonialkriege ab, so waren die Kriege der europäischen Staaten untereinander in der Zeit von 1648 bis zum Ausbruch der französischen Revolution weit weniger verheerend als zuvor. Die Fiktion des „Justus hostis“, des gerechtfertigten Feindes, konstituierte eine Rechtsbeziehung untereinander, in der jede Partei der anderen die Gerechtigkeit ihrer Sache einräumen musste. Als Objekt des Angriffes galt die gegnerische Streitmacht, nicht – der Idee nach zumindest – das zivile Volk. „Im Ergebnis gehorcht der Krieg des 17. und 18. Jahrhunderts den Zwecken der Souveräne und hat dadurch eine Begrenzung erfahren wie nie zuvor oder danach. Eigentümlicherweise fand die parzielle Humanisierung des Krieges ein Ende, als ihr Prophet, der Aufklärungs- und Brüderlichkeitsgedanke, die politische Macht erlangte.“35
Mit dem Eintritt des Staatsbürgers und damit der Massenheere in die Sphäre des Krieges gewinnt die militärische Auseinandersetzung eine ___________________ 32
33 34 35
Man kann sich an dieser Stelle natürlich zu Recht fragen, ob eine solche Hegung des Krieges überhaupt möglich ist, ob nicht die Dynamik des Krieges stets das Kriegsrecht zu einem bloßen Stück Papier macht. Den eskalatorischen Momenten soll hier nicht widersprochen werden, dennoch finden wir historisch entscheidende Differenzen in der Kriegführung und der Handhabung der Kriegsregeln. Ein Beispiel wäre etwa die Kriegführung der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Während im Westen durchaus nach den gängigen Regeln gekämpft wurde, Gefangene ihren Rechtsstatus in den allermeisten Fällen behielten, so war der Krieg auf dem Balkan und insbesondere an der Ostfront von einer anderen Dimension. Das war eine politische Entscheidung Hitlers, die dann in Verbindung mit der realen Situation im Osten (Weite und fehlende Infrastruktur des Landes, harter Widerstand der Roten Armee, Partisanenverbände, Stillstand des Angriffs vor Moskau und damit Ende des Blitzkriegkonzeptes etc.) zu militärischen Exzessen größten Ausmaßes führten (zu den verschiedenen Formen der NS-Kriegführung vgl. Hillgruber 1982). Clausewitz 1994, S. 655. Ebd., S. 656. Friedrich 1995, S. 47.
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neue Dimension. Nicht nur Carl Schmitt sieht in den militärischen Folgen der französischen Revolution den markantesten Einschnitt in die lange Zeit erfolgreiche Hegung des Krieges. Mit der französischen Revolution beginnend kommt es zu einer umfassenden Wandlung der kriegerischen Handlungen. Die Kabinettskriege werden nun in Volkskriege verwandelt, alle Begrenzungen des Kriegsrechts fallen der Energie und den Prinzipien der Revolution zum Opfer. Das 17. und 18. Jahrhundert versuchte die Kriegführung einer mathematischen Formalisierung zu unterwerfen. Geometrische Berechnungen, komplizierte Manöver, analog zu glänzenden Zügen auf dem Schachbrett, gelten als der Gipfel der Kriegskunst. Die Erhaltung der eigenen Armee wird höher bewertet als die Vernichtung einer fremden. Kalkül wurde großgeschrieben, unnötige Verausgabungen kritisiert, einfache monetäre Rechnungen der Kosten und Folgen des Krieges aufgestellt. Ein Beispiel für diese praktische Vernunft, das es wert ist, zitiert zu werden, findet sich in dem lange Zeit zu Unrecht vergessenen Werk von Denis de Rougemont: Die Liebe und das Abendland. Der darin zitierte Law, ein französischer Finanzminister im 18. Jahrhundert, kommt angesichts der horrenden Kriegskosten für den Staat auf folgende nüchterne Bilanzierung: „Der Sieg gehört stets dem, der den letzten Taler hat. In Frankreich unterhält man eine Armee, die jährlich hundert Millionen kostet. Das macht zwei Milliarden für zwanzig Jahre. In zwanzig Jahren haben wir nicht mehr als fünf Jahre Krieg. Und dieser Krieg kostet uns zusätzlich mindestens noch eine Milliarde. Also kosten uns fünf Jahre Krieg drei Milliarden. Und wie sieht das Resultat aus? Der definitive Erfolg ist ungewiss. Mit viel Glück kann man hoffen, 150.000 Feinde durch Feuer, Eisen, Wasser, Hunger, Überanstrengung und Krankheiten zu vernichten. Somit kostet uns die direkte oder indirekte Vernichtung eines deutschen Soldaten 20.000 Pfund, ohne den Verlust an unserer eigenen Bevölkerung zu rechnen, der erst nach Ablauf von fünfundzwanzig Jahren wieder ausgeglichen ist. Anstatt ein solch aufwendiges, unbequemes und gefährliches Werkzeug zu haben, wie ein stehendes Heer es darstellt, wäre es nicht besser, die Kosten dafür zu sparen und die feindliche Armee aufzukaufen, wenn sich eine Gelegenheit dazu bietet? Ein Engländer schätzte einen Menschen auf 480 Pfund Sterling. Das ist die höchste Einschätzung, und nicht alle sind so teuer, wie man wohl weiß. Und doch könnte man dabei noch die Hälfte an Geld und alles an Menschen sparen, denn für sein Geld hätte man einen neuen Mann, anstatt dass man nach dem jetzigen System den verliert, den man hatte, ohne von dem etwas zu profitieren, den man auf so kostspielige Weise ums Leben gebracht hat.“36
___________________ 36
Rougemont 1987, S. 306f. John of Lauriston Law, ein englischer Ökonom, war von 1719 bis 1720 Generalkontrolleur der Finanzen in Frankreich.
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Das klassische Zeitalter folgte aus finanziellen und machtökonomischen Gründen dem, was Schmitt den gehegten und Carl von Clausewitz den begrenzten (im Gegensatz zum absoluten) Krieg nennt. 37 Neben der dominierenden und verbindlichen Theorie des klassischen Völkerrechts waren es die materiellen Bedingungen, die die Kampfhandlungen einschränkten. Die zur Verfügung stehenden Mittel der Kriegführung waren bescheiden, die Heere klein und kostenintensiv, die Marschleistungen der Armeen gering. Ein Heer war viel zu teuer, um es in riskanter Offensive aufs Spiel zu setzen. Schlachten waren selten und es galt geradezu als militärische Weisheit, ihnen aus dem Wege zu gehen oder sie doch zumindest auf ein Minimum zu beschränken. 38 Den vorhandenen militärischen Mitteln entsprachen darüber hinaus begrenzte Kriege um begrenzte Ziele. All das änderte sich mit den Ideen von 1789: „Tiefgreifende politische und gesellschaftliche Veränderungen, von der Revolution herbeigeführt, hatten schon bald eine bis dahin unvorstellbare Kraftentfaltung zur Folge.“39 Mit den Revolutionsheeren nähert sich der Krieg der von Clausewitz so genannten absoluten Gestalt. „Die napoleonischen Kriege füllen, zumindest approximativ, die deskriptive Kategorie des absoluten Krieges mit empirischem Gehalt.“40 Der berühmte Aufruf, die levée en masse des Jahres 1793, wies jedem einzelnen Bürger der französischen Nation, egal ob Mann, Frau, Kind oder Greis, einen bestimmte Aufgabe bei der Kriegführung zu. Nicht mehr dynastischen Interessen, sondern der Verbreitung neuer Ideen dient der revolutionäre Krieg. Es sind so weniger materielle Interessen als staatliche Propaganda und die Anrufung der nationalen Leidenschaft, die den Krieg bis zum äußersten steigern. „Um das blutige Mysterium und den blutigen Kult herum wird eine neue Gemeinschaft geschaffen: die Nation.“41 Die patriotische Haltung der Soldaten und die allgemeine Mobilmachung im nationalstaatlichen Rahmen hatten einen Effekt auf ___________________ 37 38
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Die Logik der Kriegführung zwischen 1660 und 1815 behandelt Kennedy 1996, Kapitel 3. Berühmt geworden ist in diesem Zusammenhang die ironische Bemerkung von Prinz Heinrich über seinen Bruder Friedrich II: „Mein Bruder wollte immer bataillieren, das war seine ganze Kriegskunst.“ Das Zitat findet sich bei Herfried Münkler (1992, S. 58). McNeill 1984, S. 166. Der Autor verweist in diesem Kontext auf die zeitgleiche industrielle Revolution in England, die die Grenzen des Möglichen ebenso ausdehnte wie die politische Revolution in Frankreich. Deren Ausbruch erklärt er insbesondere über einen demographischen Wachstumsschub, ausgelöst durch den Rückgang tödlicher Infektionskrankheiten (Vgl. ebd., Kapitel 6). Wehler 1974, S. 277. Rougemont 1987, S. 308.
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die Kriegführung, der schon den Zeitgenossen, also auch Clausewitz, nicht entging: „Nun hatten die Mittel, welche angewandt, die Anstrengungen, welche aufgeboten werden konnten, keine bestimmte Grenze mehr, die Energie, mit welcher der Krieg selbst geführt werden konnte, hatte kein Gegengewicht mehr […] Seit Bonaparte also hat der Krieg, indem er zuerst auf der einen Seite, dann auf der anderen Seite wieder Sache des ganzen Volkes wurde, eine ganz andere Natur angenommen, oder vielmehr, er hat sich seiner wahren Natur, seiner absoluten Vollkommenheit sehr genähert.“42
So wie der Staat war nun der Krieg in die „Hände des Volkes“ gegeben. Der militärische Gegner hatte demgegenüber kein Vaterland. Als Untertan der Despotie verewigte er die Unterdrückung der Freiheit, für deren Ziele die Revolution antritt. Der Feind existiert hier nicht nur als militärischer Antagonist, sondern als ein zu beseitigendes Prinzip. Der existenzielle Krieg betritt mit aller Kraft die Bühne der Geschichte. Ab nun wird der Kampf um Ideen und historische Prinzipien universell. „Daher der immer blutigere Charakter der Kriege des 19. Jahrhunderts. Es handelt sich nicht mehr um Interessen, sondern um antagonistische ‚Religionen‘. Und die Religionen kennen im Gegensatz zu den Interessen keine Vergleiche: Sie ziehen den Heldentod vor.“43 Wolfgang Schivelbusch verweist in seiner Studie Die Kultur der Niederlage darauf, dass mit der Demokratisierung des Krieges die alte Idee der Revanche verschwindet: „Im totalen Krieg des Zeitalters der Massendemokratie hat diese Art der Revanche keinen Platz mehr, stehen sich doch hier nicht mehr einander respektierende Kriegerkasten und Herrscherdynastien gegenüber, sondern nationalistisch entfesselte öffentliche Meinungen, die im Gegner die Inkarnation des Bösen und den Weltfeind sehen, mit dem es keine Gemeinsamkeit und keinen Kompromiss gibt, sondern der nur zu vernichten oder, wie es nun heißt, ein für allemal unschädlich zu machen ist. In dieser Unversöhnlichkeit ist der totale Krieg der Moderne den jede Revanche ausschließenden Religionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts und den Vernichtungsfeldzügen der Antike vom Typus des 3. Punischen Krieges näher als seinem unmittelbaren Vorgänger, dem noch weitgehend nach den Regeln des klassischen Kabinettskrieges operierenden Nationalkrieg des 19. Jahrhunderts.“44
___________________ 42 43 44
Clausewitz 1994, S. 660. Rougemont 1987, S. 311. Schivelbusch 2003, S. 41.
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Clausewitz’ Begriff des absoluten Krieges, an den wir an dieser Stelle unweigerlich denken müssen, meint, im Gegensatz zum wirklichen Krieg, einen von allen moralischen Hemmungen friktionslos geführten Krieg bis zur letzten Entscheidung, d.h. bis zur restlosen Vernichtung des Gegners. Empirisch tritt er in der reinen Form nicht auf, er liefert aber die tödliche Folie für den wirklichen Krieg. In der preußisch-deutschen Militärdoktrin wurde das Postulat des absoluten Krieges in das Konzept der Vernichtungsschlacht gekleidet, die 1914 im Schlieffenplan und ab 1939 in der Blitzkriegsstrategie kulminierte. 45 Mit den napoleonischen Volksheeren wird Clausewitz’ absoluter Krieg annähernd Wirklichkeit: „Mit anderen Worten: der ‚absolute‘ Krieg ist für die Kriegstheorie ein ‚Ding an sich‘, gewöhnlich tritt der Krieg dagegen ‚für sich‘ nur als durch zahlreiche ‚Friktionen‘ gehemmter und begrenzter Krieg auf. Der ‚absolute Krieg‘ ereignet sich eigentlich nicht […] aber seine bloße Möglichkeit ist für alle Politik, zumindest seit dieser Erfahrung mit Bonaparte, schlechthin konstitutiv.“46
Der absolute oder reine Begriff des Krieges kennt für Clausewitz keine hemmenden Faktoren. Der Krieg findet seine begriffliche Strenge und Reinheit einzig im und als Angriff: „Nie kann in der Philosophie des Krieges selbst ein Prinzip der Ermäßigung hineingetragen werden, ohne eine Absurdität zu begehen.“ Das Wesen des Krieges, so Clausewitz als Bewunderer der Revolutionsarmeen, „ist der Kampf, das Wesen des Kampfes ist der Angriff, das Wesen des Angriffs ist die Bewegung.“ Der Angriff als tätiges Prinzip duldet keinen Stillstand „und sollte also wie ein aufgezogenes Uhrwerk in stetiger Bewegung ablaufen. […] Jeder Stillstand im kriegerischen Akt […] erscheint so als widersinnig.“ Die zeitliche Kontinuität ist aber nur ein Prinzip der Bewegung, ihr zweites, die Beschleunigung, findet sein Modell in der „Natur und Wirkung des Schwerpunktes in der Mechanik.“ 47 Wirklicher und absoluter Krieg nähern sich im Laufe der napoleonischen Kriege allmählich an, indem ___________________ 45
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Der bekannteste Exponent der Vernichtungsidee ist Alfred Graf von Schlieffen, von 1891 bis 1906 Chef des Generalstabes der deutschen Armee. Nach seinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst wurde er noch von Kaiser Wilhelm II. 1911 zum Generalfeldmarschall ernannt. Schlieffens Ideen, insbesondere sein berühmter, im Ersten Weltkrieg umgesetzter Kriegsplan (Schlieffenplan) hatten – wie wir noch sehen werden – fatale Folgen für die deutsche Kriegführung. Der israelische Militärhistoriker Yehuda Wallach (1972, S. 89-134) nennt in seiner Analyse der Kriegstheorien des 19. und 20. Jahrhunderts das Kapitel über Schlieffen nicht zu Unrecht: „Der Dogmatiker des Vernichtungskrieges.“ Wehler 1974, S. 278. Clausewitz 1994, S. 18, S. 272, S. 194, S. 27, S. 531.
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immer mehr gesellschaftliche Kräfte in die militärische Auseinandersetzung fließen. Clausewitz’ Buch Vom Kriege kann als eine Reaktion auf die Revolutionierung der Kriegführung durch die napoleonischen Armeen gelesen werden. Er selbst hatte als Offizier des unterlegenen preußischen Heeres die Wucht und Überlegenheit der französischen Armee gegen die von ihm befohlenen Leibeigenen erleben müssen. Mit der Einbeziehung großer Teile der männlichen Bevölkerung in die kriegerische Auseinandersetzung, also den Massenheeren, erreicht die Destruktivkraft, in Verbindung mit der technologischen Entwicklung der Waffen und Kommunikationsmittel, eine neue Dimension. Bis dahin waren Heere von 50.000 Mann die oberste Größe gewesen. Mit den neuen, auf Selbstdisziplinierung und auf nationale Gefühle setzenden Führungsprinzipien steigerte sich die Anzahl der gleichzeitig eingesetzten Soldaten auf das Zehnfache. „Nie zuvor war eine solche Streitmacht für denkbar gehalten worden, schon wegen der erforderlichen Waffen und Textilien nicht. Keine Nation außer Frankreich hätte solche Menschenmengen munitionieren und einkleiden können. Was ihnen an Drill, Routine und Führung fehlte, machten sie wett durch Übermut und eine neue, auf Tapferkeit und Phantasie beruhende Kampfweise.“48
Napoleon hatte die Formel geprägt: Destruktivkraft ist gleich Masse mal Geschwindigkeit. Diese Faktoren waren der Effekt der national-patriotischen Aushebung. Die Ausschöpfung der nationalen Wehrreserven, die Propaganda der Gleichheit und die Pflicht des Bürgers, Waffen zu tragen, schufen die Massenheere. Der freie Marsch, d.h. der Verzicht auf die sichtbare Überwachung der Einheiten, erhöhte die Geschwindigkeit und zielte auf die Überraschung des Gegners durch einen Zeitvorteil. Das praktizierte Requisitionssystem – die Armee ernährte sich aus dem Lande und den besetzten Gebieten, eine Vorgehensweise, die in den alten Söldnerheeren stets ein Auseinanderbrechen der militärischen Disziplin bedeutete – ermöglichte den Unterhalt und die Verpflegung riesiger Soldatenmassen. Zusätzlich schlossen sich viele Männer aus den besetzten Ländern der Revolution an, bereit für ihre übernationalen Prinzipien zu kämpfen. „Hohe Marschgeschwindigkeit, strategische Konzentration und eine aggressive Taktik auf dem Schlachtfeld wurden fortan zum Charakteristikum der französischen Heere. Dadurch, dass sie in größerem Umfang Franktireurs einsetz___________________ 48
Friedrich 1995, S. 49.
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ten, als andere Armeen mit minder spontaner Disziplin es sich erlauben konnten, waren die Franzosen in der Lage, auch in unübersichtlichen oder bewaldetem Gelände anzugreifen, wo sich die altmodische Schlachtlinie nicht formieren ließ.“49
Die bis dahin geltende militärische Planung war von einer Ökonomie des Raumes diktiert: der Zeiteinsatz war durch die geographische Ausdehnung und die topographische Beschaffenheit des Geländes bestimmt. Ein derartiges Raum-Zeit-Dispositiv ordnet der französische Soziologe Paul Virilio dem Zeitalter metabolischer Geschwindigkeit zu, in dem die Bremskräfte, die räumlichen Hindernisse, dominieren. Analog dazu beruhte die Gesellschaft bis zum 19. Jahrhundert auf Bremswirkungen. Die Mittel zur Steigerung von Geschwindigkeit waren gering, vor der Erfindung der Dampfmaschine fuhren beispielsweise Segelschiffe kaum schneller als in der Antike über das Meer. Das Feudalsystem errichtete darüber hinaus (soziale) Hindernis – sprich: Bremssysteme, konservierte folglich die starre ständische Ordnung. In der napoleonischen Armee stand für alle „Begabten“ eine militärische Karriere offen. Nicht mehr Standesherkunft, sondern fachliches Wissen bestimmte die Besetzung hoher Posten. Selbst ehemalige königliche Offiziere, die bereit waren der Revolution zu dienen, wurden, bei entsprechender Qualifikation, mit offenen Armen empfangen. 50 Die parallel zur sozialen Revolution verlaufende industrielle, die Virilio als „dromokratische“ 51 bezeichnet, erfindet nicht nur Mittel, um massenhaft zu produzieren, sondern vor allem Mittel, um Geschwindigkeit herzustellen: zunächst die Dampf___________________ 49
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McNeill 1984, S. 178f. Franktireurs waren selbständig operierende Truppenteile, die nicht zentral gelenkt werden konnten, bei denen folglich eine „innere Disziplin“ an Stelle der äußeren Befehlsstruktur trat. Das war eine psychische Struktur, die in den Armeen der Gegner der Revolution niemals als gesichert gelten konnte. „Während 1789 mehr als neunzig Prozent der Offiziere Adelige waren – allerdings häufig von sehr niederem Adel –, stammten 1794 nur noch drei Prozent aus diesem Stand.“ (Keegan 1997, S. 496) Auch Hitler hat während des Zweiten Weltkrieges ein ähnliches Konzept verfolgt, in dem er die klassische aristokratische Militärkaste gerne durch den neuen Typus des nationalsozialistischen Offiziers ersetzt sehen wollte. So sank etwa der Adelsanteil der Oberbefehlshaber im Krieg von 64% auf 19% (siehe: Kaufmann 1996, S. 298). Das Attentat vom 20. Juli 1944 hat dann Hitlers negative Ansichten über den adeligen Offiziersstand bestätigt und nirgendwo sonst ist seine Rachsucht stärker zu Tage getreten, als in der Liquidation der Verschwörer des 20. Juli. Das lag offenbar in erster Linie daran, dass der Berufssoldat, trotz anfänglicher Erfolge, die Differenzen verdeckten (siegreiche Generäle putschen nicht), der letzte Stand war, den Hitler nicht vollständig beherrschen konnte. Virilio 1980, S. 9-51.
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maschine, Ende des 19. Jahrhunderts den Verbrennungsmotor. Auch wenn die Eisenbahn erst später kriegsentscheidend wurde, neu an den Revolutionsarmeen war insbesondere die Geschwindigkeit, mit der sie vorgingen, d.h. sie bewegten sich schneller als die traditionelle RaumZeit-Kalkulation erwarten ließ.52 Der Topos der Beschleunigung rückte so zu Beginn des 19. Jahrhunderts immer mehr ins Zentrum militärischen Denkens. Aber es war vor allem der gewandelte disziplinarische Zusammenhang der Armeen, die ihre überlegene Geschwindigkeit ermöglichten: dieser Strukturwandel führte zu einer übermäßigen Entwicklung der kinetischen Energie der revolutionären Masse. Die halbherzigen und vorsichtigen Manöver der europäischen Koalitionsarmeen gegen den „Dromomanen“ Napoleon wurden zum Symbol für den Anachronismus der alten sozialen und militärischen Ordnung, die mit der Wucht und Energie der nationalen Bewegung nicht länger Schritt halten konnte. Lange Zeit galten die revolutionären Armeen als unschlagbar und es bedurfte einer gemeinsamen gesamteuropäischen Kraftanstrengung, Frankreich zu besiegen. Das ist nur eine der vielen auffallenden Parallelen zwischen Napoleon und Hitler, dessen eigene Kriegsziele – insbesondere der Angriff auf die Sowjetunion – manchmal wie eine Kopie der napoleonischen erscheinen.53 Es fällt schwer, die Rolle der französischen Revolution für die moderne Kriegführung nicht überzubetonen. Zwar gab es bereits in Ansätzen neue strategische Konzepte und Taktiken, veränderte Ideen auf dem Gebiet der Organisation und Versorgung, „was aber die Kriege nach der französischen Revolution und zur Zeit Napoleons I. im Besonderen charakterisiert, ist das Massenheer, das sich aus allen Volksschichten auf Grund der allgemeinen Dienstpflicht rekrutiert. […] Außerdem wurden durch den Volkskrieg bis dahin unbekannte geistige und moralische Kräfte freigesetzt und der Krieg___________________ 52 53
Zur Transformation des Krieges Vom Raum zum Krieg in der Zeit siehe: Meschnig (1998) oder Kaufmann (2004). Elias Canetti (1992a, S. 175-205) hat in seinem Essay Hitler nach Speer das Verhältnis von Hitler zu Napoleon als das eines simplen Übertreffenwollens charakterisiert. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Diktatoren zeigt sich auch in der verfehlten Kriegsstrategie nach ihren großen Erfolgen. Beide können die Seemacht England nicht besiegen und wenden sich gegen Russland: „Napoleon wie Hitler wollten England über Russland schlagen, und ihre Armeen haben beide den entscheidenden Kampf nach verblüffenden Erfolgen in den ersten Jahren aus den gleichen Gründen so total verloren, wie kein anderer Krieg verloren gegangen ist.“ (Masson 2000, S. 15) Dennoch wurden sowohl die napoleonische Armee als auch die deutsche Wehrmacht taktisch und technisch die Vorbilder für die siegreichen Gegner nach den Kriegen.
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führung zugeführt.“54 Dennoch kam es nach der endgültigen Niederlage Frankreichs im Jahre 1815 in den europäischen Armeen zu einer Dogmatisierung des Altvertrauten. Insbesondere die Angst vor revolutionären Umtrieben im eigenen Land ließen die Idee eines Volkes unter Waffen sehr ambivalent erscheinen. „Nicht grundlos waren daher die Herrscher Europas einhellig der Meinung, dass weitere Experimente im militärischen Bereich untunlich seien. […] So hatte es nach 1815 ein rundes Vierteljahrhundert lang den Anschein, dass die Lenkung des Militärwesens aus der Zeit des ancien régime sich gegen die ungünstige Kombination von gewalttätigen Massenaktionen und politischem Idealismus behauptet hatte, von denen die Revolution in Frankreich ausgelöst worden war.“55
Damit war die politische Revolution rückgängig gemacht worden, aber nach 1840 war es die fortschreitende industrielle Revolution, die eine substanzielle Wandlung der alten Traditionen der militärischen Welt einleitete.
1 . 4 . I n d u s tr i e Halbautomatische Massen- und standardisierte Waffenproduktion gaben zwar bereits eine Vorahnung darauf, wie die industrielle Technik für eine Revolutionierung der Kriegsführung verwendet werden könnte, doch wünschte niemand, und schon gar nicht das traditionelle Offizierkorps, einen raschen Wandel der vertrauten Prinzipien. Aber die Dynamik der technischen und sozialen Entwicklung, insbesondere durch die Initiativen privater Unternehmer verstärkt, ließ sich nicht aufhalten und veränderte den waffentechnischen Stand der großen europäischen Mächte radikal. „In den 1840er Jahren gingen die preußische Armee und die französische und die britische Kriegsmarine von der Tradition der Bewaffnung ab, die den europäischen Regierungen des ancien régime so gute Dienste geleistet hatte. In diesen Veränderungen kündigte sich die Industrialisierung des Krieges an, doch die neuen Formen der Waffenproduktion traten erst im folgenden Jahrzehnt deutlich hervor, als der Krimkrieg (1854-56) die Mängel der hergebrachten Methoden des Nachschubwesens unübersehbar machte und sich englischen und französischen Erfindern die Chance bot, die Prinzipien der zivilen Technik auf militärische Probleme jeder Art anzuwenden. Danach beschleunigte sich das ___________________ 54 55
Wallach 1972, S. 9. Mc Neill 1984, S. 197.
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Tempo des Wandels im Rüstungsbereich und in den Methoden militärischer Lenkung immer mehr, so dass zu Beginn der 1880er Jahre die Wehrtechnik das zivile Konstruktionswesen von der Spitze zu verdrängen begann, wodurch die Proportion, die noch dreißig Jahre zuvor gegolten hatte, umgekehrt wurde.“56
In der ersten Phase waren es insbesondere Dampfschiff und Eisenbahn, die den Nachschub an Männern, Waffen und Verpflegung in großem Maßstab erweiterten. Das erste schraubengetriebene Kriegsschiff wurde 1843 von der amerikanischen Admiralität in Betrieb genommen, England und Frankreich folgten dieser Entwicklung in den 40er und 50er Jahren des 19. Jahrhunderts. 1870 schaffte die englische Flotte ihre Segelschiffe endgültig ab, die gepanzerten Kriegsschiffe bestimmten ab diesem Zeitpunkt die maritimen Auseinandersetzungen. Der zügige Ausbau der Straßen und Verkehrswege war eng an die militärischen Aufmarschpläne der einzelnen Länder gekoppelt. Mitte des 19. Jahrhunderts verlegten Arbeiterkolonnen die strategischen Hauptstrecken der Eisenbahnen in Amerika und Europa. Parallel dazu wurde der von Samuel Morse 1832 erfundene Morsetelegraph von den Eisenbahngesellschaften übernommen. Seine militärische Bedeutung kann kaum überschätzt werden, ermöglichte er doch die Steuerung riesiger Massenheere auf große Entfernungen und eine rapide Beschleunigung der Nachrichtenübertragung.57 Parallel dazu kam es auf der Ebene der Weiterentwicklung der Waffensysteme zu einem regelrechten Wettlauf der Ingenieure und Techniker. Handfeuerwaffen wurden mit der Übernahme der amerikanischen Produktionsprinzipien maschinell hergestellt, halbautomatische Fräsen gewährleisteten eine standardisierte Bohrung der Gewehre, die zugleich durch neue, längliche Gewehrkugeln größere Schussweite erlangten. Den entscheidenden Durchbruch bei der Verbesserung der Schusswaffen brachte die Einführung des Hinterladers 1839 durch Johann Dreyse, eine Konstruktion, die die preußische Armee 1848/49 erstmals erfolgreich im Krieg gegen Dänemark verwendete. Friedrich Engels führt die Siege der preußischen Armeen, entgegen der sonstigen Glorifizierung Moltkes als genialem Stabschef, auf das neue Zündnadelgewehr zurück. Die Erfindung des Patronenmagazins und der Patronenhülse aus Messing steigerten die Reichweite und Zielgenauigkeit der Gewehre. Vor allem in Amerika entstanden nun Repetierwaffen, von denen der 1832 nach Samuel Colt benannte Revolver am bekanntesten ist. Die französische Mitrailleuse und das von Richard Gatling 1862 ___________________ 56 57
Ders. 1984, S. 199. Zum Verhältnis von Kommunikationsmitteln und Kriegführung vgl. Kaufmann (1996) bzw. speziell zur Einführung des Telefons im Ersten Weltkrieg: Meschnig (1995).
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vorgestellte Maschinengewehr gaben eine Vorahnung auf die kommenden verlustreichen Schlachten und tatsächlich sind im Ersten Weltkrieg neben Artilleriebeschuss die meisten Soldaten durch Kugeln der Maschinengewehre auf beiden Seiten der Gräben getötet worden. Das MG ist die erste wirkliche Maschine auf dem Schlachtfeld. Aufgrund der Ausdehnung maschineller Prinzipien im Ersten Weltkrieg kamen manche Autoren nach Kriegsende zu dem Schluss, dass hier kein Krieg mehr zwischen Menschen, sondern der Kampf technischer Apparate gegeneinander tobt. „Die Bedeutung dieses Krieges als geschichtliche Erscheinung und Entwicklung ist außer von den Massen noch von zwei Menschenklassen erkannt worden: von den Dichtern und den Industriellen. Von den Dichtern, weil diese mit ihrer außergewöhnlichen Feinfühligkeit Wahrheiten erfassen, die anderen halb verschleiert bleiben, und von den Industriellen, weil diese einsehen, dass dieser Krieg ein Krieg der Maschine ist.“58
Von der Ausnutzung des Rückstoßes bei den Handfeuerwaffen beeindruckt, versuchten auch die Artillerieexperten den alten Vorderlader durch das Hinterladergeschütz abzulösen. Lange gab es dazu aber keine befriedigende Lösung. Um 1900 wurde die Artillerie schließlich mit Hinterladern ausgestattet, wie sie im Ersten und Zweiten Weltkrieg in Gebrauch waren. Neue Verfahren der Stahlproduktion machten das Material härter und widerstandsfähiger; Schiffsgeschütze mit Feuerleitsystemen, drehbaren Türmen und höherer Durchschlagskraft durch die Verwendung von Granaten veränderten die Auseinandersetzungen auf See. Es entwickelte sich nach 1860 eine globale und private Rüstungsindustrie, die die Produkte der staatlichen Arsenale bei weitem übertraf. Privatwirtschaftliche Konkurrenz im Verbund mit nationalen Rivalitäten förderten die technischen Erneuerungen in großem Maßstab. Die rasche technische Entwicklung setzte in Folge die militärische Elite unter Druck. Rationale Wahlmöglichkeiten für dieses oder jenes Erzeugnis der Waffenindustrien waren wegen der rasanten Veränderungen nicht mehr möglich. Nur ein technisch versierter Spezialist konnte die Vielfalt der Erzeugnisse noch unterscheiden. Zugleich war eine erfolgreiche Kriegführung der überwiegend traditionsgebundenen Offiziere nur durch moderne Maschinen möglich. Den Armeen haftete so, trotz der Dynamik der industriellen Entwicklung, etwas Archaisches an. Zudem hatte die Revolution 1848 die Massenheere als Gefahr für die alte Ordnung deutlich gemacht. „Es war besser, nur kleine Heere zu unterhalten, denn ___________________ 58
Soldan 1925, S. 90.
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auch die Truppe konnte durch revolutionäre Ideen infiziert werden, und so wurden aus den Massenheeren der napoleonischen Zeit kleine Berufsheere.“59 Einzig Russland und Preußen hielten an ihren großen Armeen fest. Die imperialistischen und nationalistischen Tendenzen in Europa, der starke Anstieg der Bevölkerungszahlen und die industrielle Revolutionierung der alten Produktionsprinzipien sollten die Kriege der Zukunft schließlich bestimmen. Die beiden große Kriege des 19. Jahrhunderts, der amerikanische Bürgerkrieg (1861-1865) und der deutschfranzösische Krieg (1870/71) zeigten zwar bereits eine Vorahnung der technischen Möglichkeiten, die führenden Militärs ignorierten aber vor allem die Erfahrungen des Bürgerkrieges in Nordamerika, der im Wesentlichen ein Krieg der Eisenbahn und des Nachschubs war. Die Stärke der Defensive durch die verbesserten Feuerwaffen führte zu einem Eingraben der Infanterie, der Spaten wurde genauso wichtig wie das Gewehr. „Das alles war das Ergebnis der Erfahrung im amerikanischen Bürgerkrieg, aber die Berufssoldaten in Europa nahmen diese Lehren nicht ernst, weil sie glaubten, die Amerikaner seien militärische Dilettanten.“60 Vielleicht hat kein anderes Land als Preußen nach 1860 eine Heeresreform durchgeführt, die den neuen Verhältnissen gerecht wurde. Albrecht von Roon schuf das preußische Berufsheer parallel zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und der Verlängerung der Dienstzeiten. Die Vergrößerung des Rüstungsetats und die Schaffung eines gut geschulten Generalstabes waren maßgeblich für die rasche Folge der Siege gegen Dänemark (1864), Österreich (1866) und Frankreich (1870) verantwortlich. Das vereinte Deutschland wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts die stärkste industrielle Macht in Europa. „Der wirtschaftliche Vorsprung Deutschlands gegenüber Großbritannien beruhte aber gar nicht so sehr auf den Leistungen der deutschen Schwerindustrie, sondern vielmehr auf den Errungenschaften der elektrotechnischen und chemischen Industrie. Auf beiden Sektoren vermochte sich das Deutsche Reich bis 1914 eine weitgehende Führungsstellung auf den Weltmärkten zu verschaffen.“61
Diese wirtschaftliche und militärische Überlegenheit ist wohl die reale Grundlage für die weltpolitischen Absichten des deutschen Bürgertums gewesen, das, aufgrund einer Diskrepanz der politischen und ökonomi___________________ 59 60 61
Montgomery 1999, S. 420. Ebd., S. 438. Mommsen 1998, S. 55.
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schen Stellung Deutschlands in der Welt, den Ruf nach einer adäquaten Entsprechung laut werden ließ (vgl. Kapitel 3.2. dieser Arbeit). Eine verstärkte Interaktion des militärischen mit dem industriellen Bereich lässt sich ziemlich genau auf das Jahr 1884 datieren, als eine Flottenhysterie in England ausgelöst wurde. Großbritannien sah sich in seiner maritimen Vorrangstellung insbesondere durch das aufstrebende Deutschland bedroht. Der Kriegsschiffbau löste in der Folge einen ungeheueren Anstieg der privaten Zulieferer und Produzenten aus. 1897 arbeiteten 250.000 Zivilisten, das waren 2,5% der gesamten männlichen Arbeitskräfte, in Großbritannien für die Kriegsmarine oder ihre Hauptzulieferer. 1913, am Vorabend des Ersten Weltkrieges, als das Wettrüsten zwischen Deutschland und Großbritannien auf den Meeren seinen Höhepunkt erreichte, waren nicht weniger als ein Sechstel der britischen Erwerbstätigen von Aufträgen für die Royal Navy abhängig.62 Staatliche Entscheidungen verschmolzen immer mehr mit der privaten Rüstungsindustrie und man kann hier sicherlich bereits den von Virilio so genannten militärisch-industriellen Komplex verorten. „In der Politisierung der Entscheidungen, von denen sie lebten, wie in der Spitzentechnologie waren die großen Rüstungsunternehmen den anderen Industriesektoren weit voraus. Die Rüstungskonzerne und die Streitkräfte, mit denen sie Geschäfte machten, wurden so zu den wichtigsten formenden Kräften der beiden eng verwandten Prozesse, die ein spezifisches Merkmal des 20. Jahrhunderts darstellen: die Industrialisierung des Krieges und die Politisierung der Wirtschaft.“63
Beide Merkmale bestimmen, obschon zu Beginn durch traditionelle militärische Denkweisen noch unterschätzt, die Schlachten und die Dynamik des Ersten Weltkriegs. Die Maschinisierung des Krieges veränderte zugleich mit der endgültigen Etablierung der Massenheere und den neuen Führungsprinzipien die psychologische und ideologische Struktur des Soldaten. Der moderne Krieg hatte sich damit etabliert: „Er führte nach und nach dazu, die exaltierten und prunkliebenden Ritter in disziplinierte und gleichförmige Truppen umzuwandeln. Eine Entwicklung, die in unseren Tagen damit enden sollte, dass jede kriegerische Leidenschaft verschwunden ist, in dem Maße, in dem die Maschinen bedienenden Menschen sich selbst zu Maschinen machen und nur noch eine kleine Anzahl von
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Die genannten Zahlen finden sich in Mc Neill 1984, S. 251. Ebd., S. 259.
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automatischen Bewegungen ausführen, die dazu bestimmt sind, auf weite Entfernungen ohne Zorn und Mitleid Tod zu verbreiten.“64
Trotz aller Versuche der kriegführenden Länder, den Ersten Weltkrieg mit nationalen Ideologien zu verbinden, werden wir sehen (Kapitel 4.3.), dass die Leidenschaftslosigkeit des Kriegers und seine Verschmelzung mit der technischen Struktur des Krieges eine entscheidende mentale Metamorphose in der Verarbeitung des Kriegserlebnisses darstellt. Anders als der Zweite Weltkrieg hat der Erste Weltkrieg eine große Menge reflektierter Analysen und literarischer Verarbeitungen, insbesondere nach dem Erscheinen von Remarques Im Westen nichts Neues (1929), hervorgebracht. Einer, der die Verschiebungen im Verhältnis Mensch und Maschine bereits 1925 deutlich ausspricht, ist der Militärhistoriker und Weltkriegsmajor George Soldan. „Mit Begeisterung gegen Material kämpfen, heißt nichts anderes als der Materialwirkung in die Hand arbeiten. Begeisterung macht blind. Gegen die kalte Macht des Materials gewinnt die Oberhand nur, wer mit offenem Auge kalt und sachlich abwägt.“65 Der Kampf vor Verdun, der mir im nächsten Kapitel als Paradigma der industriellen Feldschlacht dient, gibt das exemplarische und tödliche Beispiel für die Verbindung von hoch entwickelter Industrie und grauen Arbeitersoldaten, statistischen Produktionsziffern und kalkuliertem Menschenverschleiß. Die ergebnislose Schlacht um Verdun, bezahlt mit 700.000 Verlusten auf deutscher und französischer Seite, erzeugte das Klima für eine psychische Mentalität, die, geboren in den Materialschlachten des Stellungskrieges, dann von den Nationalsozialisten mythisch überhöht und zugleich instrumentalisiert werden wird.66 Clausewitz’ absoluter Krieg näherte sich zwar bereits mit den Revolutionskriegen mehr und mehr der empirischen Wirklichkeit, aber erst die moderne Industrie und Verwaltung, die Verbesserung der technischen Möglichkeiten, die Ausdehnung des Krieges in Raum und Zeit und seine Anbindung an weitgehend abstrakte nationale Interessen schufen die Voraussetzungen für das große Schlachten. Den Krieg im Sinne der Clausewitz’schen Theorie in Vom Kriege als Instrument der Politik zu begreifen, verschwand zugunsten einer stetigen Gleichsetzung von Politik und Krieg. Der Erste Weltkrieg unterschied sich in vielen Punkten von allen vorangegangenen Kriegen, da er sämtliche Bereiche ___________________ 64 65 66
Rougemont 1987, S. 302. Soldan 1925, S. 34. Vgl. dazu den Aufsatz von Bernd Hüppauf (1996) mit dem Titel Schlachtenmythen und die Konstruktion des neuen Menschen (siehe dazu auch Kapitel 4.3. dieser Arbeit).
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1. VON MARATHON NACH VERDUN
der Gesellschaft erfasste, also nicht mehr nur von den Armeen, sondern auch von den zivilen Kräften geführt wurde. 67 Der Krieg „totalisierte“ sich in der Konfrontation ganzer Gesellschaften und ihres ökonomischen Reichtums: „Die Substitution von Menschen durch immer mehr vernichtende Maschinen als den hauptsächlichen Kriegsmitteln und die Organisation einer auf Massenproduktion gerichteten industriellen Rüstung bildeten den Endpunkt – bzw. Ausgangspunkt! – einer internationalen Entwicklung in allen industrialisierten Ländern. Verbunden damit war die Steigerung – und die Fähigkeit, diese Steigerung zu erzwingen – des Mitteleinsatzes in Kriegen zwischen industrialisierten Staaten, so dass Kriege nicht mehr von separierten Militäranstalten, sondern nur noch im Rahmen einer nationalisierten Gewaltorganisation durchgefochten wurden. Nationen mit ihrem gesamten Produktionspotenzial, nicht mehr Militäranstalten mit einer spezialisierten Rüstungsindustrie, traten miteinander in Konflikt. Die Organisation der gesamten produktiven Kräfte der Nation zum Zwecke der Gewaltanwendung bildete das außerordentliche Kennzeichen dieser Periode der permanenten Gewalt. War das 19. Jahrhundert eine Epoche der Nationalisierung der Produktion, ist das 20. Jahrhundert eine Epoche der Nationalisierung der Destruktion.“68
Die schiere Größe des militärischen und ökonomischen Potenzials der Allianzen, die territoriale Ausdehnung des Krieges, die Abhängigkeit des militärischen Ringens vom Hinterland, die überlegene Rolle der Technik und schließlich die propagandistische Indoktrination von Heer und Bevölkerung machten diesen Krieg zu einer vollständig neuen Erfahrung, auf die keine der Kriegführenden Mächte vorbereitet war. Welche Vernichtungsdynamik aus der Produktion moderner Waffen und des Einsatzes aller verfügbaren Mittel ganzer Staatenallianzen hervorgeht, sollen die nächsten Kapitel – insbesondere am Beispiel von Verdun – zeigen. So wie Stalingrad den Untergang des Dritten Reiches symbolisiert, stehen die Ereignisse vor Verdun für eine neue Logik der Kriegführung, deren Vernichtungswille das Politische, als im klassischen Sinne die Fähigkeit zu handeln, sukzessive zerstörte. Hans von Hentig charakterisiert den daraus hervorgehenden Krieg 1927 in eindringlichen Worten, die insbesondere den Verlust der Bedeutung des soldatischen Könnens betonen: ___________________ 67
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Natürlich ist diese Aussage nicht trennscharf: der 30-jährige Krieg oder der amerikanische Bürgerkrieg zeigen bereits Ansätze einer Totalisierung des Krieges. Ersterer, weil seine Opfer schließlich überwiegend Zivilisten sind, letzterer, weil er nach anfänglichem Zögern eine umfassende Mobilisierung von Arbeitskräften und der Industrie einleitete. Geyer 1984, S. 98.
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DER WILLE ZUR BEWEGUNG
„Der moderne Materialkrieg schont den Soldaten nicht mehr wie ein Kapital, das man möglichst aufspart, um es wieder verwenden zu können. Der Maschinenkrieg frisst Menschen in so ungeheuren Maßen, dass eine sorgfältige Ausbildung Verschwendung ist. Sorgfalt wird verwendet auf die waffentechnische Ausrüstung, auf die Bekleidung, den Transport, die Ernährung. Alle diese Hilfsmittel erfordern in einem Industriestaate eine gewisse Vorbereitung. So lange rinnt der Brunnen spärlich. Ist der Herstellungsapparat einmal aufgebaut, läuft das ‚rollende Band‘, dann produziert ein Industriestaat, der über gesunde Menschen verfügt, serienweise Heere auf Heere.“69
Diese Eigenschaft, das industrielle Potenzial unmittelbar auf den Schlachtfeldern umzusetzen, und die Fähigkeit der Hochöfen und Rüstungsfabriken, pausenlos Nachschub an Waffen und Munition herzustellen, dehnen den Krieg in Raum und Zeit in bis dato unbekannte Ausmaße und machen ihn zu einer alles erfassenden Erscheinung. „Die Massenproduktion von Waffen und Kriegsmaterial durch die (Groß)industrie und die Existenz von Massenarmeen, die davon Gebrauch machen können, bei gleichzeitiger Auflösung der persönlichen Bindung jedes Kriegers an ein Stück der verfügbaren Bewaffnung: dies sind die absoluten sozialökonomischen Voraussetzungen des ‚totalen Krieges‘ oder aber umgekehrt das Vorhandensein dieser Faktoren hat den Übergang vom Vernichtungszum ‚totalen Krieg‘ zur Fatalität gemacht.“70
In den nächsten Kapiteln werde ich die Folgen der Ubiquität des Krieges und seine individuellen wie gesellschaftlichen Verarbeitungsforme(l)n bei denjenigen untersuchen, die 1914 an die Front geworfen wurden, die aber auch nach dem Ende der Auseinandersetzung und der katastrophalen Niederlage am Konzept der Führbarkeit des Krieges mittels neuer militärischer, technischer und politischer Innovationen festhalten.
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Hentig 1927, S. 91. Hans von Hentig (1887-1974) engagiert sich nach dem Ersten Weltkrieg in der Politik der Münchner Räterepublik. Als Nationalbolschewist flieht er nach dem Hitlerputsch 1923, dem er mit Volksfronttruppen in Thüringen und Sachsen entgegentritt, in die Sowjetunion, wo ihm Lenin einen Führungsposten im Eisenbahnwesen anbietet, den er allerdings ablehnt. 1925 kehrt er nach Deutschland zurück und wird 1929 Professor in Kiel. Nachdem die Nationalsozialisten an die Macht gekommen sind, wird er 1934 entlassen. Er bekommt zwar noch einen Ruf nach Bonn, wird aber per Eilbrief 1935 pensioniert und emigriert in die USA. Nach Kriegsende kehrte er auf seinen Lehrstuhl in Bonn zurück. Kondylis 1988, S. 140.
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2. D I E S T R A T E G I E
DER
ABNUTZUNG
Der Krieg vor Verdun war ein besonderer Krieg, am schwersten war die grenzenlose Verlassenheit, die aus schlammgefüllten Trichtern, verkohlten Baumstämmen, zerwühlten Gräben, zerstörten Protzen, zerrissenen Leibern und gebrochenen Augen die Soldaten anstarrte. Das war das Bitterste. Das Grau des zähen Schlammes auf dem Boden der Schlucht machte vor nichts halt, nicht vor Kleidern und Waffen, nicht vor der Nahrung und nicht vor den Gesichtern. Es drang auch in die stumpf gewordenen Seelen. Werner Beumelburg (1925)
2.1. Der Schlieffenplan Einer der besten Kenner der deutschen Militärgeschichte, der Historiker Gerhard Ritter hat, neben seinem klassischen 4-bändigen Werk Staatskunst und Kriegshandwerk, 1 1956 zum ersten Mal den berühmten Schlieffenplan und die Denkschriften des ehemaligen Generalstabschefs im Detail veröffentlicht.2 Dieser Plan, der in der deutschen Diskussion noch immer mehr als der Fall Gelb oder das Unternehmen Barbarossa3 ___________________ 1 2
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Ritter 1954ff. Ders. (1956). Der Schlieffenplan beschäftigt auch heute noch die Nachwelt. 2006 erschien in der Reihe Zeitalter der Weltkriege eine von Hans Ehlert u. a. herausgegebene umfangreiche Dokumentensammlung und Analyse des Planes (Ehlert 2006). Der „Fall Gelb“ ist der Name für den erfolgreichen Angriffsplan gegen Frankreich im Mai 1940. Die dann „Sichelschnitt“ genannte Aufmarschanweisung war ein gewissermaßen umgekehrter Schlieffenplan mit Schwerpunkt auf dem linken Flügel. Barbarossa war das Deckwort für den verhängnisvollen Angriff der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Herfried Münkler (1999, S. 260) interpretiert die Wahl des Namens „Barbarossa“ als eine symbolische Verbindung von Süd- und Ostexpansion, die in der deutschen Geschichte für zahlreiche Richtungskonflikte stand. Zwar befahl Hitler den Stoß nach
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für Kontroversen sorgt, gibt die militärischen Einzelheiten (Aufmarschpläne, Angriffspunkte, Eisenbahnkapazitäten usw.) bei einem eventuellen Krieg gegen Frankreich im Detail an. Schlieffen hatte jahrelang an diesem Plan gearbeitet und gefeilt, immer wieder von neuem Berechnungen angestellt, Zahlen verglichen und Divisionen verschoben. Während seiner langen Dienstzeit als Generalstabschef (1891-1906) sah sich die deutsche Armee mit zwei entscheidenden Problemen konfrontiert: einmal mit dem zu erwartenden Zweifrontenkrieg gegen Frankreich und Russland und zum anderen mit dem Problem der Mobilmachung eines Heeres, das schließlich 1914 etwa 4 Millionen Soldaten umfassen sollte. Das erste Problem, im Wesentlichen ein Ergebnis der verfehlten Wilhelminischen Bündnispolitik, wollte Schlieffen mit einer schnellen Entscheidungsschlacht gegen Frankreich lösen. Dabei vertraute er militärisch auf den Vorteil der inneren Linie und einer Überflügelung der französischen Streitkräfte von Nordwesten Richtung Paris. Diese Flankenbewegung, die die deutschen Hauptstreitkräfte durch das neutrale Belgien führen sollten, war seine Obsession und noch auf dem Totenbett soll Schlieffen seinen Nachfolgern eindringlich nahe gelegt haben: „Macht mir nur den rechten Flügel stark!“ Das zweite Problem, das der Mobilmachung einer Massenarmee, hing im Wesentlichen von der Kapazität der Eisenbahnen und einer vorausschauenden Fahrplanerstellung ab. Als Schüler Moltkes d. Ä. erinnerte Schlieffen gerne an eine seiner letzten Mahnungen: „Bauen sie keine Festungen, bauen sie Eisenbahnen.“4 Das hatte das deutsche Reich getan und so gab das dichte Verkehrsnetz im Westen auch den einzig möglichen Raum für eine schnelle Offensive mit anschließender Vernichtung des Gegners vor. Nur die Westfront ermöglichte eine rasche Konzentration und Bewegung der Kräfte. Der Schlieffenplan reagierte in geradezu paranoider Weise auf die geostrategische Situation Deutschlands, das sich von seinen potenziellen und nach Kriegsbeginn realen Gegnern eingekreist sah. Deshalb sollte zunächst im Westen, gestützt auf die durch die Eisenbahn hervorragenden Aufmarschmöglichkeiten, in einer einzigen Umfassungsbewegung Paris umgangen und Frankreich anschließend geschlagen werden, um danach mit ebensolcher Geschwindigkeit Russland im Osten zu bezwingen, noch bevor das Zarenreich seine riesigen Soldatenmassen ___________________
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Osten, im Namen „Barbarossa“ war aber, so Münkler, auch die Südexpansion symbolisch aufgehoben. Man kann in der Wahl des Decknamens Barbarossa auch die für Hitler so typische Unentschiedenheit lesen und seine Vermeidung, sich auf ein Ziel festlegen zu lassen. Schlieffen 1913, Band 2, S. 437. Zur Bedeutung der Eisenbahn für die moderne Kriegführung vgl. Keegan 1997, S. 437ff.
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2. DIE STRATEGIE DER ABNUTZUNG
in vollem Umfang aktivieren konnte. Der Schlieffenplan setzte alles auf eine Karte, sollte Frankreich nicht in sechs Wochen besiegt sein, war der Krieg nach Schlieffens Ansicht verloren. Die Alternative lautete also: Totalsieg oder Untergang. Für den Historiker Modris Ekstein war der Schlieffenplan „ein Beispiel für Phantasiedenken und faustische Augenblicke. […] Er versprach den totalen Sieg in Europa auf der Basis eines einzigen großen Cannae in Nordfrankreich. Es war ein großartiger Plan, eines Wagners würdig: er hob ein begrenztes taktisches Abenteuer in den Rang einer totalen Vision.“5 Cannae war das große Vorbild und Ideal für Schlieffens Idee und Konzeption der entscheidenden Vernichtungsschlacht. Seltsamerweise hat der ehemalige Generalstabschef aber offensichtlich nicht danach gefragt, wer den Krieg zwischen Rom und Karthago letztlich verlor. Das war nämlich der Sieger von Cannae, Hannibal. Die Niederlage bei Cannae hatte die Regierung Roms nicht zu Fall gebracht. Vielmehr trat ein Mann auf den Plan, dessen Beiname noch heute verächtlich klingt: Fabius Cunctator, auf Deutsch: Fabius der Zauderer. Letzterer besiegte Hannibal ohne Schlacht, indem er ihm die Versorgungslinien durchschnitt und ihn langsam aushungerte. Cannae ist ein frühes Beispiel dafür, dass ein militärischer Vernichtungssieg nicht unbedingt eine politische Entscheidung bringt, v.a. wenn die Ressourcen des gegnerischen Staates groß genug sind. Den Gegner langsam zu zermürben und wenn nötig, der Schlacht aus dem Wege zu gehen, war dabei eine altbekannte Kriegsform, die insbesondere Hans Delbrück (1908ff.) in seiner Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte als Ermattungsstrategie beschrieben hat. (vgl. Kapitel 2.5.) Dass Schlieffen die wichtige Lehre des Ermattungskrieges übersah, lag im Wesentlichen daran, dass er, wie auch seine Gegner auf alliierter Seite, nicht an die Möglichkeit langer Kriege im Industriezeitalter glaubte. Kurz vor seinem Tod 1913 schrieb er: „Solche Kriege sind aber zu einer Zeit unmöglich, wo die Existenz der Nation auf einem ununterbrochenen Fortgang des Handels und der Industrie begründet ist. […] Eine Ermattungsstrategie lässt sich nicht betreiben, wenn der Unterhalt von Millionen den Aufwand von Milliarden erfordert.“6 ___________________ 5 6
Ekstein 1990, S. 142. Zu den deutschen Kriegszielen, insbesondere ihrer metaphysischen Komponente, siehe Kapitel 3.2. dieser Arbeit. Schlieffen 1913, Band 1, S.17. Das Problem eines möglicherweise langen, erschöpfenden Krieges an zwei Fronten sollte durch eine frühe Form des „Blitzkrieges“ gelöst werden. „War as an uninterrupted movement was Schlieffen‘s answer to the problem of a two-front war.“ (Geyer 1986, S. 532) Panajotis Kondylis (1988, S. 120) betont im Unterschied zu vielen anderen Kritikern, dass Schlieffen durchaus von politischen Überlegungen ausgegangen ist. Die zeitgenössischen Kritiker
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Schlieffens Nachfolger im Generalstab, der jüngere Moltke, ein Neffe des „großen Moltke“, sah in klaren Momenten das kommende zähe Ringen voraus. Schon 1905, noch vor seiner Ernennung zum Generalstabschef, sagte er zu Kaiser Wilhelm II.: „Es wird ein Volkskrieg werden, der nicht mit einer entscheidenden Schlacht abzumachen sein wird, sondern ein langes, mühevolles Ringen mit einem Lande sein wird, das sich nicht eher überwunden geben wird, als bis seine ganze Volkskraft gebrochen ist, und der auch unser Volk, selbst wenn wir Sieger sein sollten, bis aufs äußerste erschöpfen wird.“ 7 Aber diese Einsicht behielt bei Moltke d.J. bei Kriegsbeginn nicht die Oberhand. Der schließlich von ihm im August 1914 umgearbeitete Angriffsbefehl des ursprünglichen Schlieffenplans sah folgendermaßen aus: „Moltkes Plan sah einen deutschen linken Flügel von acht Korps vor, also etwa 320.000 Mann, der die Front im Elsaß und in Lothringen südlich von Metz halten sollte. Die deutsche Mitte von elf Korps mit etwa 400.000 Mann würde durch Luxemburg und die Ardennen nach Frankreich einmarschieren. Der deutsche rechte Flügel mit sechzehn Korps, etwa 700.000 Mann, sollte auf dem Wege über Belgien angreifen, die berühmten Sperrfestungen Lüttich und Namur brechen, die die Maas schützten, und über den Fluss vorstoßen, um das ebene Land und die direkten Straßen am jenseitigen Ufer zu erreichen. Das Marschpensum war für jeden Tag im voraus festgelegt. Man nahm nicht an, dass die Belgier Widerstand leisteten; für den Fall, dass sie es doch wagten, rechnete man mit einer raschen Kapitulation vor der Wucht des deutschen Angriffs. Der Plan verlangte, dass die Straßen über Lüttich bis zum 12. Tag nach der Mobilmachung offen waren; Brüssel würde dann bis zum 19. Tag genommen, die französische Grenze am 22. Tag überschritten, die Linie Thionville-St. Quentin am 31. Tag, Paris und der endgültige Sieg bis zum 39. Tag nach der Mobilisierung erreicht sein.“8
Die Führung im Kriege erscheint bei Moltke d.J. (wie auch bei Schlieffen) nicht mehr als ein „System der Aushilfen“ als vielmehr wie ein wissenschaftlich vorausberechenbarer Ablauf von Ereignissen. Kriegführung war ein technisch-mathematischer Akt der exakten Berechnung, der Sieg eine Frage der richtigen Kalkulation. Aber – und das ist der entscheidende Einwand: der Schlieffenplan war ein rein militärischer Plan. Weder bezog er konkrete politische Situationen in seine Überlegungen mit ein noch gab es einen Spielraum für etwaige Korrekturen, war die Maschinerie einmal ins Laufen gekommen. Für Gerhard Ritter, ___________________
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bemängelten denn auch mehr seine Unterschätzung der moralischen Größen, weniger seine Entscheidung für eine Vernichtungsstrategie. Moltke 1922, S. 308. Tuchman 2001, S. 34f.
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2. DIE STRATEGIE DER ABNUTZUNG
aber nicht nur für ihn, bedeutete der Schlieffenplan die Bankrotterklärung der politischen Führung und ihre Selbstdemontage angesichts ihrer Abdankung vor den militärischen „Notwendigkeiten“. „Der Kriegsausbruch von 1914 ist das erschütternste Beispiel hilfloser Abhängigkeit der politischen Staatsleitung von den Planungen der Militärtechniker, das die Geschichte kennt. Darin, dass sie sich in diese Abhängigkeit hineinziehen ließen, dass sie die Kriegsplanung ohne Vorbehalt als Sache des militärischen Fachmannes betrachteten, liegt die historische Schuld der Nachfolger Bismarcks.“9
Diese im Jahre 1914 verhängnisvolle innenpolitische Entwicklung begann bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Moltke d. Ä. Sein operatives Offensivdenken, aber vor allem die großen Siege der preußischen Armeen, insbesondere gegen Frankreich 1870, führte zu einer Form von kultischer Verehrung alles Militärischen. Heer und Nation wurden eins, war doch die Reichsgründung unmittelbar das Ergebnis eines erfolgreichen Feldzuges. Was die Politik nicht vermocht hatte, der Krieg und das Heer machten es möglich: Deutschland fand zu sich selbst. Damit einher ging ein ungeheurer Anstieg des Selbstbewusstseins der militärischen Kaste, die sich als die eigentlichen Sieger der neuen Zeit betrachteten. Und wie immer, wenn eine gesellschaftliche Klasse an Selbstbewusstsein zunimmt, wurde der Ruf nach der Übertragung politischer Verantwortung laut. „Der Generalstab hörte auf, lediglich unterstützende und militärisch planende Instanz zu sein; er suchte vermehrt auch im Frieden Einfluss auf die Politik im Sinne militärischer Interessen zu nehmen.“10 Im kaiserlichen Deutschland waren Regierung und Generalstab streng getrennt, es gab keine verfassungsmäßige Verbindung zwischen ihnen. Die einzige Klammer bildete Kaiser Wilhelm II., dem sie pro forma unterstellt waren. Zwar kannte der Reichskanzler Bethmann Hollweg nicht alle Details des Schlieffenplans, dass er über die Absichten der Heeresführung aber überhaupt nicht unterrichtet war, ist schlichtweg falsch.11 Er war lediglich zu schwach, sich den Militärs (und vielleicht der allgemeinen Stimmung) in den Weg zu stellen. Wahrscheinlich hatte er 1914 aber auch einfach keine Alternative ___________________ 9
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Ritter 1956, S. 95. Man könnte Ritter, der sich auf Clausewitz’ Primat der Politik beruft, entgegnen, dass sich bei Clausewitz auch das Postulat der Entscheidungsschlacht findet, die eine Beschleunigung des Angriffes ohne Rücksicht (auch der Politik?) fordert. Foerster 1989, S. 35. Aron 1980, S. 364f. Vgl. auch die bei Fischer (2002, S. 90ff.) thematisierten Kriegsziele Bethmann Hollwegs.
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anzubieten. Zudem kämpfte er gegen eine gesellschaftliche Entwicklung, die der Politik enge Grenzen setzte. „Die allmählich zunehmende gesellschaftliche und politische Überbewertung des Militärischen im Reich, die Aufblähung der Planungs- und Methodengläubigkeit des deutschen Generalstabs schon während Moltkes Zeit als Chef des Generalstabs, aber vor allem nach seinem Tod und damit – in Verbindung mit der allgemeinen politischen und sozialen Entwicklung Deutschlands – der Verlust des Primats der Politik mit all seinen späteren Konsequenzen bis hin zum ‚totalen Krieg‘.“12
Lautete der ursprüngliche Auftrag an Schlieffen, für einen politischen Eventualfall eine militärische Strategie zu entwickeln, war das Ergebnis ein Offensivplan, der umgesetzt werden sollte, noch bevor die Gegenseite zu reagieren imstande war. Für die Politik hieß das implizit eine die Offensive legitimierende Situation zu schaffen, also eine vollkommene Verkehrung des instrumentellen Verhältnisses von Politik und Krieg. Der Generalstab löste sich, insbesondere nach der Einsetzung der Dritten Obersten Heeresleitung (OHL), verkörpert durch Ludendorff und Hindenburg, in seiner Planung weitestgehend von politischer Einflussnahme, die Führung des Krieges wurde ausschließlich als Angelegenheit der Militärs betrachtet. Clausewitz’ Formel vom Krieg als der Fortsetzung der Politik war endgültig auf den Kopf gestellt. 13 Dieser hatte in seinem Hauptwerk Vom Kriege zu den Kriegszielen geschrieben: „Man fängt keinen Krieg an, oder man sollte vernünftigerweise keinen anfangen, ohne sich zu sagen, was man mit und was man in demselben erreichen will, das erstere ist der Zweck, das andere das Ziel. Durch diesen Hauptgedanken werden alle Richtungen gegeben, der Umfang der Mittel, das Maß der Energie bestimmt, und er äußert seinen Einfluss bis in die kleinsten Glieder der Handlung hinab.“14
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Foerster 1989, S. 27. Manche Autoren, wie etwa Soutou (1997, S. 32), bestreiten zwar nicht den Einfluss der militärischen Führung, halten aber die Behauptung eines Primats des Militärischen für übertrieben. Clausewitz 1994, S. 642. Nach Clausewitz ist es eine schädliche Auffassung, „wonach ein großes kriegerisches Ereignis oder der Plan zu einem solchen eine rein militärische Beurteilung zulassen soll; ja es ist ein widersinniges Verfahren, bei Kriegsentwürfen Militäre zu Rate zu ziehen, damit sie rein militärisch darüber urteilen sollen.“ (Ebd., S. 678) Es ist hier nicht der Raum, um die unterschiedlichen Interpretationen der Clausewitz’schen Gedanken zum Verhältnis von Krieg und Politik zu behandeln. Die m.E. ausführlichste Analyse dazu bietet Raymond Aron in seiner großen Studie: Clausewitz. Den Krieg denken. Insgesamt zu
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Dass der Schlieffenplan durch die Verletzung der belgischen Neutralität England in den Krieg ziehen musste, zeugt von der Schwäche der politischen Entscheidungsträger. Nach den Erfordernissen des Schlieffenplanes musste das Heer durch den belgischen Korridor nach Nordfrankreich einmarschieren. Die logistischen Vorbereitungen eines Aufmarsches von Millionen, die Einteilung der Eisenbahnstrecken, die Fahrplanerstellung und die Organisation des Nachschubs, in Jahren ausgearbeitet und präzisiert, erlaubte keine Änderung der strategischen Option. Lief der Mobilmachungsbefehl erst einmal an, konnte die Militärmaschinerie nur mehr schwer gestoppt werden. „Der vernichtende Einwand gegen ihn [den Schlieffenplan; A.M.] ist politisch. Es war ein Plan, der um eines ungewissen Erfolgs willen ein sicheres Übel in Kauf nahm: Um eine Großmacht, Frankreich, vielleicht aus dem Feld zu schlagen, zog er eine andere, noch stärkere, England, mit Sicherheit in den Krieg hinein.“ 15 Tatsächlich verlor man in den Kriegführenden Ländern (mit Ausnahme vielleicht von England) mit Beginn der Mobilmachungsbefehle die politische Kontrolle über den Ablauf der Ereignisse, die nun durch die Kriegspläne der Generalstäbe diktiert wurden. Kann der Vorwurf des unpolitischen Charakters des Schlieffenplanes so stehen gelassen werden? Hat nicht jeder militärische Plan implizite politische Faktoren? Der Schlieffenplan beruhte auf mindestens vier Überlegungen, von denen zwei explizit politisch waren: 1. Außenpolitisch war eine rasche Entscheidung deswegen zu suchen, weil Schlieffen Angst vor der Einmischung anderer Mächte hatte (England). Wenn Frankreich schnell geschlagen würde, so die Logik, findet England keinen Grund mehr, den Krieg fortzuführen (ein politischer Irrtum, der sich im Zweiten Weltkrieg wiederholen sollte). 2. Innenpolitisch war auch dem Generalstab klar, dass nur die Unterstützung von Sozialdemokratie und Arbeiterklasse einen Krieg im Industriezeitalter möglich machte. Insbesondere die Rüstungsarbeiter waren ein entscheidender Faktor. Schon allein deswegen musste der Krieg rasch entschieden werden, da ihre Solidarität dem Staat und seiner Führung gegenüber äußerst brüchig war. 3. Der Vernichtungskrieg und seine angestrebte schnelle Entscheidung vermeiden einen wirtschaftlichen Kollaps. Es war vor 1914 ein ___________________
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Clausewitz siehe den von Günter Dill (1980) herausgegebenen Materialienband Clausewitz in Perspektive. Jürgen Langenbach (1983, S. 18-51) bestreitet in seinem Buch Über Krieg den Primat der Politik bei Clausewitz, insbesondere da letzterer keinen ausformulierten Begriff des Politischen habe. Haffner 2001, S. 39f., Herv. im Orig.
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Gemeinplatz, dass moderne Kriege Handel und Industrie außer Kraft setzen und deswegen unmöglich lange dauern könnten. 4. Die waffentechnische Entwicklung musste den Flankenangriff strategisch bevorzugen, da ein Frontalangriff höchst wahrscheinlich erfolglos war, was sich später bestätigte. Deswegen musste der Angriff über das neutrale Belgien erfolgen, selbst auf die Gefahr hin, dass England in den Krieg eintrat. Diesen militärischen Vorteil konnte man nicht aus der Hand geben. Man muss Haffner und anderen Kritikern – trotz der hier angeführten zumindest impliziten politischen Überlegungen Schlieffens – in einem entscheidenden Punkt aber sicher Recht geben. Die Reichspolitik ordnete sich schnell den erforderlichen militärischen Maßnahmen der Kriegführung unter und diese Tatsache wird für den ganzen Verlauf des Ersten Weltkrieges maßgeblich bleiben. Holger Afflerbach führt zusätzlich noch zwei rein militärische Faktoren für die überaus riskante strategische Option eines Zweifrontenkrieges an. „Dass trotzdem dieses gefährliche Spiel [Verletzung der Neutralität Belgiens, Zweifrontenkrieg] weder von ihm [Reichskanzler Bethmann Hollweg] noch von anderen kritisiert wurde, lag an zwei Faktoren: der Unterschätzung des britischen Heeres – Moltke [der Jüngere; A.M.] sollte später bei der Nachricht der Landung des britischen Expeditionskorps nur wegwerfend feststellen: ‚Die arretieren wir!‘ – und vor allem an der ungeheuren Unterschätzung der Franzosen, die sich seit 1870 geradezu zum Dogma der deutschen Militärs und auch der deutschen Politik herausgebildet hatte.“16
Moltke d.J. selbst hatte aber Angst vor der Schwäche seines linken Flügels und der Wehrlosigkeit Ostpreußens. Er zog deshalb mehr Truppen des rechten Flügels auf den linken, ganz entgegen der Auffassung Schlieffens, der den rechten Flügel so stark wie möglich haben wollte, auch unter der Gefahr einer Entblößung anderer Frontabschnitte. Moltke d.J. scheiterte letztendlich an den Friktionen der Kriegführung, die bereits Clausewitz eindringlich beschrieben hatte. Ihm die Schuld an der Niederlage an der Marne zu geben, wie es schon während des Krieges und nach 1918 gängig war, und ihm eine „Verwässerung des Schlieffenplanes“ vorzuwerfen, ist eine Polemik derjenigen, die noch vom Sieg träumten, als die Niederlage schon zur Tatsache geworden war. Tatsächlich zeigen die Zahlen, die der israelische Militärhistoriker Jehuda Wallach errechnete, dass im Schlieffenplan von 1905 und in Moltkes Planungen von 1914 jeweils 54 Divisionen auf dem rechten ___________________ 16
Afflerbach 1997, S. 282.
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Flügel eingesetzt werden sollten. Von einer absoluten Schwächung kann also keine Rede sein, sie ist lediglich relativ zu behaupten.17 Aber die deutsche Heeresführung war nicht die einzige, die mit einem riskanten Offensivplan in den Ersten Weltkrieg ging. Auf französischer Seite zirkulierte der sogenannte Plan 17, der, fertig gestellt im Februar 1914, eine schnelle Offensive in Lothringen und im Elsaß vorsah, die, im August desselben Jahres als Gegenangriff umgesetzt, in einer vernichtenden Niederlage mündete. Der Grundgedanke dieses Planes war, in den Worten von Marschall Foch: „Unser Weg nach Berlin führt über Mainz.“ Nur enthielt der Plan 17, im Gegensatz zum Schlieffenplan, kein festgehaltenes übergreifendes Ziel und keine ins Einzelne gehende Aufstellung militärischer Aktionen. Er war mehr eine Idee als ein ausformulierter Plan. „Es war kein Operationsplan, sondern ein Aufmarschplan mit Direktiven für verschiedene Angriffsmöglichkeiten jeder Armee, die jeweils von den Umständen abhängig waren, aber kein Ziel vorschrieben. Da der Plan im Wesentlichen eine Antwort, einen Gegenschlag auf einen deutschen Angriff darstellte, über dessen Richtung die Franzosen im voraus nichts Genaues wissen konnten, musste er, wie Joffre sagte, notwendigerweise ‚a posteriori und opportunistisch‘ sein. Die Intention blieb unverändert: Angriff!“18
Das entsprach der französischen Kriegsphilosophie, in deren Kern die offensive á outrance stand, eine Offensive bis zum Äußersten, die ihre historische Legitimation über ihre Rückbindung mit den Energien der französischen Revolution erhielt. Nur eine totale Offensive könne eine schnelle Entscheidungsschlacht bringen. Die Freiheit des Handelns heißt, dem Feind seinen Willen aufzuzwingen. Insbesondere Bergsons élan vital, ein französisches Pedant zur nietzscheanischen Lebensphilosophie, gab den Militärs die Gewissheit, dass Frankreich befähigt war, auch einen überlegenen Gegner wie Deutschland zu schlagen. Bergsons Idee ___________________ 17 18
Wallach 1967, S. 136. Tuchman 2001, S. 49. Die Warnungen einzelner Offiziere vor einem Angriff der deutschen Armee mit einem starken rechten Flügel über Belgien wurden vor allem aus zwei Gründen ignoriert. Zum einen glaubte der französische Generalstab nicht, dass Deutschland so dumm sein könnte, die belgische Neutralität zu verletzen, da dies unweigerlich England auf den Plan rufen würde. Zum anderen hielt man einen zahlenmäßig so großen Angriff der Deutschen für unmöglich, da die Auffassung bestand, Reservearmeen könnten an einer kriegswichtigen Offensive nicht teilnehmen. ‚Les reserves, c‘est zero!‘, das war das klassische Dogma des französischen Offizierkorps. Tatsächlich warf die deutsche Armee aber schließlich zahlreiche Reserveeinheiten gemeinsam mit ihren aktiven Einheiten an die Front.
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einer substanziellen Lebensenergie wurde in den Köpfen des französischen Generalstabes zum Dogma der Offensive, was praktisch bedeutete, immer weniger Kräfte zur Verteidigung der belgischen Grenze zu lassen und immer mehr Heeresteile am Rhein zu konzentrieren. Plan 17 war die Konsequenz einer Verherrlichung des Angriffs, eine Verabsolutierung der Offensive, die aber für alle Armeen Europas vor dem Ersten Weltkrieg konstatiert werden kann. 1913 beschreibt der Generalstabschef Jacques Joffre die französische Armee in der typischen Art seiner Zeit, wie wir sie in allen Armeen des Westens finden können: „The French Army, returning to its traditions, no longer knows any other law than the offensive […] All attacks are to be pushed to the extreme with the firm resolution to charge the enemy with the bayonett, in order to destroy him […] This result can only be obtained at the price of bloody sacrifices. Any other conception ought to be rejected as contrary to the very nature of war.“19
Die „Natur des Krieges“ und seine unveränderlichen Prinzipien sollten im Ersten Weltkrieg vollkommen unerwartete Ereignisse zeitigen. 1914 versagte der Schlieffenplan vor allem aus logistischen Gründen: Der Vormarsch der Infanterie und pferdebespannter Verbände wurde durch zerstörte Eisenbahnlinien und Brücken aufgehalten; Frankreich konnte seine Armeen mit Hilfe der Eisenbahn und wie an der Marne sogar per Taxis rasch an die Front bringen. Das Reichsheer erreichte zwar in beispielloser Marschleistung und raschen Siegen die Marne 50 Kilometer vor Paris, aber da endete dann auch abrupt der schlieffensche Gedanke der Entscheidungsschlacht im Westen. Nach dem von Moltke befohlenen Rückzug der deutschen Truppen an die Aisne versuchten beide Armeen in atemlosem Wettlauf der jeweils anderen in den Rücken zu fallen, bis im Norden der Atlantik, im Süden die schweizerische Neutralität diesen Versuchen ein Ende machten. Im Oktober 1914 erstarrte die ganze Westfront. Von nun an lagen sich, von kleinen Veränderungen der Linien abgesehen, bis zum Ende des Krieges auf einer durchgehenden Front Millionen von Männern mit gleichwertigen Waffen gegenüber, geführt von Generälen, deren einzig denkbarer Erfolg im frontalen Durchbruch der feindlichen Stellungen lag. Die „Natur des Krieges“ zeigte plötzlich ein neues Gesicht. Vom Scheitern der Offensivpläne beider Kontrahenten im Westen ausgehend, begann die Phase des Material- und Zermürbungskrieges, die, von wenigen Ausnahmen abgesehen, den Kriegsverlauf an der Westfront bis zur deutschen Kapitulation bestimmte. ___________________ 19
Zit. bei Ellis 1975, S. 53f. Zur Verherrlichung der Offensive auf französischer und deutscher Seite vgl. Storz (1997) bzw. Snyder (1984).
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„Der Schlieffenplan hatte als Ganzes versagt, war aber doch insofern erfolgreich gewesen, dass er die Deutschen in den Besitz ganz Belgiens und Nordfrankreichs hinunter zur Aisne gebracht hatte. […] Dass sie dort standen, tief im Inneren Frankreichs, dafür waren die Fehler des Planes 17 verantwortlich. Er hatte es dem Feind erlaubt, so weit vorzudringen, dass er nicht mehr vertrieben werden konnte, nachdem die Franzosen an der Marne ihre Kräfte wieder gewonnen hatten. Er hatte den Durchbruch ermöglicht, der gerade noch eingedämmt und später nur gebannt werden konnte um den Preis eines furchtbaren Aderlasses an französischer Volkskraft, der den Krieg 1914 bis 1918 zum Vater des Krieges [für Frankreich mehr noch der Niederlage; A.M.] von 1940 machen sollte. Es war ein Fehler, der sich nie wieder gut machen ließ. Das Versagen des Planes 17 war genauso schicksalhaft wie das Versagen des Schlieffenplanes, und beide zusammen führten zur Erstarrung der Westfront. Diese Front, die fünftausend, ja manchmal fünfzigtausend Menschenleben an einem Tag fraß, die Munition, Energie, Geld, Gehirne und ausgebildete Soldaten schluckte, erschöpfte die Hilfsquellen der Alliierten und brachte Bemühungen an anderer Stelle – zum Beispiel in den Dardanellen – zum Scheitern, die sonst vielleicht den Krieg verkürzt hätten.“20
Bevor die militärischen und politischen Konsequenzen des Grabenkrieges an der Westfront analysiert werden, wollen wir den Grundgedanken der Offensive einer genaueren Betrachtung unterziehen. Die Verabsolutierung des Angriffs und die Vernachlässigung der gegenteiligen Erfahrungen voriger Kriege im Industriezeitalter trugen im Wesentlichen zu den Massakern vor Verdun oder an der Somme bei.
2.2. Die Doktrin der Offensive Im Krieg des britischen Empire gegen die einheimischen Buren in Südafrika (1899-1902) erfuhren die modernen Waffen ihren ersten größeren Einsatz. Die Buren verteidigten sich dabei in unerwartet erfolgreicher Manier, was die europäischen Pazifisten, allen voran Johann von Bloch 21 , in der Auffassung bestärkte, dass die modernen ___________________ 20 21
Tuchman 2001, S. 460f. Der polnische Bankier Johann von Bloch veröffentlichte 1899 ein sechsbändiges Werk, das den Nachweis zu erbringen suchte, dass der moderne Krieg zwischen den europäischen Großmächten militärisch, politisch und wirtschaftlich zu einer Katastrophe führen müsse. Viele der im Ersten Weltkrieg dann tatsächlich eingetroffenen Ereignisse sind bei Bloch vorweggenommen. Seine visionären Voraussagen sind in einer Broschüre veröffentlicht, die die sechs voluminösen Bände zusammenfasst (Bloch 1901). Bloch war auch ein aufmerksamer Beobachter des Burenkrieges in Südafrika.
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Feuerwaffen einen Krieg unmöglich machten. Die deutschen Militärs hielten diese Folgerungen für gänzlich falsch. Zunächst hielt man die englische Armee für äußerst schwach, da sie bisher nur in Kolonialkriegen gegen unterlegene Gegner siegreich geblieben war. Da die deutsche Armee aber über ein ähnliches Infanteriereglement verfügte, war dieses Argument gefährlich und führte in der Folge zu einer Änderung der Gefechtsvorschriften von 1888.22 Die Infanterie sollte nun in lockeren Formationen, unter Ausnutzung des Geländes vorgehen und künstliche Deckungen schaffen, was dem Spaten zum wichtigen Werkzeug machte. General von Reichenau, ein Taktiklehrer und relativ modern in seinen Auffassungen, schrieb in Anbetracht der neuen Anforderungen: „Wir werden uns übrigens an das Kriechen ebenso gewöhnen, wie wir uns an das Niederlegen gewöhnt haben.“ 23 Die Traditionalisten wehrten sich selbstverständlich gegen eine solche „unmännliche“ Kriegführung und sahen den Offensivgeist und die Moral der Truppe dadurch gefährdet. Aber auch dem deutschen Soldaten waren Schanzarbeiten noch bei Kriegsausbruch verhasst, viele Infanteristen ließen ihren Spaten einfach liegen und erst langsam lernten die einfachen Soldaten den Wert von Schützengräben und Erddeckungen schätzen. Die psychischen Mentalitäten der Männer wandelten sich erst durch die eigenen leidvollen Erfahrungen. Bis dahin war die Kriegführung des Ersten Weltkrieges von einer unbegreiflichen Missachtung der modernen Waffenwirkung geprägt. Gleiches lässt sich auch für die modernen Nachrichtentechniken sagen. Der Sinn der neuen Kommunikationstechniken musste den Truppen erst mühsam angelernt werden. Das zeigten vor allem wiederholte Klagen von Offizieren über die Zerstörungstätigkeit der eigenen Truppen. Nicht genug, dass der Feind ständig durch Artilleriebeschuss oder Sabotage mühsam aufgebaute Netze zerstörte. Die eigene Truppe galt bei manchen Offizieren als der „schlimmste Feind“ der Fernsprechverbindungen. Der exemplarische Bericht eines Offiziers der Telegrafentruppe zeigt das deutlich: „Dass aber Telegraphenstangen, große wie die kleinen Behelfstangen, umgehauen und als Brennmaterial für Biwakfeuer verwendet wurden, verriet doch eine etwas reichliche Verständnislosigkeit. Ohne Rücksicht fuhren Wagen beim Abbiegen über Stangen und Kabel hinweg. Ja, man schnitt sogar aus hoch-
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Zur Entwicklung der Infanterietaktiken von 1888 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges vgl. Borgert 1979, S. 427-528 oder Balck 1922. Reichenau 1904, S. 47.
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gelegten Leitungen Stücke heraus, um sie zu allerlei nützlichen Zwecken, zum Anbinden von Pferden, zum Flicken zerbrochener Deichseln zu verwenden.“24
Hatte die Artillerie im Burenkrieg noch keine wichtige Rolle gespielt, zeigte der russisch-japanische Krieg (1904/05) bereits große Ähnlichkeiten mit dem Ersten Weltkrieg. Stacheldraht, Schützengräben, Artilleriemassierungen, Maschinengewehre. Aber für die europäischen Beobachter war ausschließlich der Angriffsgeist der Japaner entscheidend, egal welche Verluste dabei auch in Kauf genommen wurden. Japan hatte gesiegt und damit bestätigte sich einmal mehr, dass erfolgreich Kriegführen angreifen hieß. Außerdem erschwerte eine rassistische Komponente das Begreifen der neuen Bedingungen. Zum Krimkrieg wie zum russisch-japanischen Krieg hieß es: „Aber Stellungskämpfe werden derart ausgedehnt bei uns nicht auftreten, da ein Kulturland die Beweglichkeit der Armee so steigert, dass der Angreifer nicht vor den starken Stellungen des Verteidigers festzuliegen braucht.“25 Die militärischen Führungsschichten Europas waren, von einzelnen Kritikern abgesehen, insgesamt der Doktrin der Offensive und der Bewegung verpflichtet, ein Rückzug galt als Feigheit, jeder Meter Boden musste hartnäckig verteidigt werden. Der Angriff galt gegen jede empirische Erfahrung als stärkere Kampfform. Es ging darum, Fluss in die erstarrten Fronten zu bringen. Die Erfahrungen der Kriege vor 1914 hätten zwar bereits eine Vorahnung auf die Unbeweglichkeit des Stellungskrieges und die Stärke der Defensive zugelassen, doch war die geradezu dogmatische Verherrlichung des offensiven Geistes ein gedankliches Hindernis für die Erkenntnis des veränderten Charakters des maschinellen Krieges. Die neuen technischen Mittel waren in ihrer Revolutionierung der Kriegführung zwar bekannt, die Folgerungen daraus aber noch der aristokratischen Welt des Krieges entnommen. „Es bedurfte eines festen Standpunktes, um die überwältigende Fülle neuer Produkte und Erscheinungen einzuordnen und zu bewerten. Die Militärs fanden ihn im Willen der Kämpfenden. Er wies der Technik ihren Rang
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25
Schniewindt, Generalleutnant 1929, S. 148; vgl. dazu auch Meschnig. (1995). Die zweifellos vorhandene Begeisterung der frühen Offensiven führten zu Zerstörungen wichtiger Feindesleitungen, die zu erhalten gewesen wären. Die Angriffswucht gab den Truppen ein Gefühl der Überlegenheit und Souveränität, dass sie oft glauben machte, keinerlei Verbindungen mehr zu bedürfen. Mollin (1985, S. 193) zitiert hier aus einem Artikel des Militärwochenblattes von 1906. Zum Dogma der Beweglichkeit vgl. auch Groß (2002).
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zu.“26 Eine Schlacht galt dann als verloren, wenn sie gedanklich verloren war. Die Dogmatisierung der Offensive und die postulierte Überlegenheit des menschlichen Willens prägten die Vorstellungen von entscheidenden Schlachten und der Wiederaufnahme der Bewegung. „Die Einsicht in die Defensivkraft moderner Waffen ließ das Moralargument nicht etwa verstummen, sondern führte zu einer paradoxen Reaktion, von ihm her die Taktik zu bestimmen.“27 Die Offensive wurde gerade „nicht einfach in Missachtung der Gewalt des modernen Feuers betont, sondern in Reaktion darauf.“ 28 Die Armeen sollten gewissermaßen das Feuer unterlaufen. Dem Angriff immanent wurde eine besondere Kraft gesehen, die im menschlichen Willen den Schlüssel zum Sieg betrachtete. „Es liegt im Angriff selbst eine hinreißende Gewalt, die von Anfang an alle Geistesfähigkeiten in Tätigkeit setzt und, indem sie alle auf ein einziges Ziel hinleitet, ihnen die höchste Spannung verleiht.“ 29 Auch Major Kraft, ein bekannter Taktiklehrer, kommt in seiner Analyse der Gefechtsgrundsätze im neuen japanischen Exerzier-Reglement für die Infanterie von 1909 zu folgendem Schluss: „Es gibt heute wohl kaum noch ein Regiment, das den Angriff nicht betont: Unterschiede liegen nur in der Ausdrucksweise dieses Grundsatzes.“ 30 Der bekannte Militärschriftsteller von der Goltz schrieb zum Primat der Offensive: „Stillschweigend wird ein offensiver Geist allen theoretischen Spekulationen, und größtenteils auch den praktischen Übungen zu Grunde gelegt.“ Und er schloss in seinem Buch Das Volk in Waffen: „Krieg führen heißt angreifen.“31 Zwar empfanden die Offiziere in den neuen technischen Entwicklungen und Waffensystemen durchaus eine Herausforderung. Ihre Reak___________________ 26 27 28
29 30
31
Storz 1997, S. 258. Herv. A.M. Wie die Frontkämpfer der Gräben in ihrer Sicht des Krieges den Primat des Willens und die Übermacht der Maschine betonen, wird in Kapitel 4.2. behandelt. Ebd., S. 263. Ebd., S. 267. Vgl. dazu Reichenau (1904). Auch der Erste Balkankrieg zwischen der Türkei und den christlichen Balkanstaaten 1912 bestätigte für die deutschen Interpreten nur wieder den Geist des Angriffs. Dass sich die Türken im zweiten Abschnitt des Krieges in der so genannten Tschadaldschalinie verschanzten und alle Angriffe erfolgreich abwehrten, wurde großzügig übersehen. Und das, obwohl sich die Türken nach der deutschen Feldbefestigungsvorschrift eingruben. Bernhardi 1912, Band 2, S. 26. Krafft 1910, S. 435. So hieß es etwa auch für die französische Infanterie: „Die moralischen Kräfte sind die mächtigsten Träger des Erfolgs. Die Ehre und die Vaterlandsliebe flößen der Truppe die edelste Hingebung ein. Der Opfermut und der Wille zu siegen, sichern den Erfolg.“ (Immanuel 1905, S. 49) Goltz 1899, S. 130, S. 233.
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tion darauf war aber die einseitige Betonung der Seite ihres Gewerbes, das unmittelbar unter Kontrolle der engeren Kompetenz militärischer Führung fiel. Ein pauschaler Hinweis auf die Unfähigkeit der Offiziere erklärt denn auch nichts am Desaster des Ersten Weltkrieges. Die führende Offizierskaste war sorgfältig ausgebildet und im Allgemeinem auch nicht technikfeindlich eingestellt, sie konnte nur nicht schnell genug auf die neuartigen Anforderungen reagieren, die der Stellungskrieg mit sich brachte. Ihr verzweifeltes Beharren auf den moralischen Kräften widerspiegelt nur das Fehlen einer schlüssigen Konzeption insbesondere für die Verhältnisse an der Westfront. Und dieses Beharren gilt für alle Beteiligten: „In der außerordentlichen Betonung von Willen und Angriffsgeist unterschieden sich diese Schulen [Moderne und Reformer; A.M.] nicht. Auch ist es falsch, diese Einstellung mit Eigentümlichkeiten des wilhelminischen Deutschland in Verbindung zu bringen, denn die militärischen Führer des politisch ganz anders gearteten Frankreich teilten sie.“32 Auch Jack Snyder kommt in seiner Studie The Ideology of the Offensive, in der er Frankreich, Deutschland und Russland miteinander vergleicht, zu dem Schluss, dass alle Armeen dem Gedanken der bedingungslosen Offensive huldigten. 33 Zu dieser nationalen Verherrlichung des Angriffs kamen einige prinzipiell nicht zu lösende Dilemmata hinzu. Das galt insbesondere für die Infanterie, die zur damaligen Zeit nur im engen Nebeneinanderliegen der Schützen eine genügende Feuerkraft entfalten konnte: „Die Ansammlung vieler Schützen auf engem Raum musste, insbesondere bei Artilleriebeschuss, zu hohen Verlusten führen, wurde aber nach dem herrschenden Grundsatz ‚Wirkung geht vor Deckung‘ für unverzichtbar gehalten. […] Wollte man infanteristische Feuerüberlegenheit, so brauchte man dichte Schützenlinien, wollte man Verluste vermeiden, so brauchte man lichte oder verdünnte Linien.“34
Neben diesem Widerspruch war es die Zusammenarbeit von Infanterie und Artillerie bzw. die Feuerüberlegenheit des Verteidigers, für die keine ___________________ 32 33 34
Storz 1997, S. 271. Snyder 1984 (für Deutschland siehe insbesondere das Kapitel „The Necessery is Possible“, S. 125-157). Linnenkohl 1996, S. 37. Auf den Gedanken, Maschinengewehre für die Offensive einzusetzen, kam zunächst keiner der Generäle (Ebd.). Allgemein zur veränderten Taktik der Infanterie siehe die von der 7. Abteilung des Generalstabes des Heeres bearbeitete und 1938 veröffentlichte Studie: Die Entwicklung der deutschen Infanterie im Weltkrieg 1914-1918, im weiteren zitiert als „Entwicklung.“ Ebenfalls sehr aufschlussreich dazu Liebmann (1937).
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Lösung gefunden werden konnte. Diese wäre aber nötig gewesen, um eine Offensive ohne übermäßige Verluste überhaupt möglich zu machen. In der Leugnung der oben genannten Widersprüche suchte man kurz vor Kriegsausbruch die Lösung „in einem irrationalen Kult der Kampfmoral“35, ohne Rücksicht auf noch so große Verluste. Eine Waffengattung allerdings, die schließlich im Ersten Weltkrieg zur dominanten werden sollte, wollte schon sehr früh eine rationaltechnische Form der Kriegführung etablieren: die Artillerie. Im Gegensatz zur Infanterie, aber insbesondere zur Kavallerie, war die Artillerie eine „bürgerliche Waffe“. Seit den 1880er Jahren kam es in der preußischen Armee, v.a. in der Artillerie, vermehrt zu einem Zugang von bürgerlichen Schichten. Die daraus hervorgegangenen Offiziere brachten neue Mentalitäten, wie etwa das bürgerliche Bildungsideal und einen wissenschaftlichen Effizienzgedanken in die aristokratische Welt des Militärs. Zwar wurde die Artillerie laufend brüskiert, zurückgesetzt und als bürgerliche Waffe verunglimpft, da der Adel v.a. die ritterliche Waffe, die Kavallerie, noch ganz beherrschte, aber mit Anerkennung der Bildung als Qualifikationsmerkmal auch im Militär wurde der Adel langsam und zunächst unmerklich entmachtet.36 Für die Artilleristen war die Schlacht ein rationaler, kalkulierbarer Prozess, der über die Logik der Zahl die Ideologie des Massenschnellfeuers vertrat. Die Wirkung des einzelnen Schusses trat zurück, die Absicht ein fest umrissenes Ziel durch einen Einzelschuss zu treffen, wurde durch die Idee ersetzt, einen Raum unpassierbar zu machen. Trommel-, Sperrfeuer und die ständig verbesserte Feuerwalze waren im Ersten Weltkrieg die bekanntesten Verfahren für die Vorbereitung einer Offensive. 37 Dieser Weggang vom präzisen Feuer zu Massen- und Breitenstreuung zeigte sich u.a. auch darin, dass die Optimierung der Richt- und Zielvorrichtungen der Geschütze kaum vorangetrieben wurde. Zugleich wurde der einzelne Infanterist mit der Einführung des MG und später mit der Maschinenpistole (MP) nicht mehr im Zielschießen geschult (das übernahmen spezielle Scharfschützen), er sollte vielmehr eine Zone undurchdringlichen Feuers erzeugen. Treffen, jahrhundertlang der Ausweis für die militärische Tugend eines Soldaten, wurde zu einem Kalkül der Wahrscheinlichkeitsrechnung. 38 Die Logik der Artilleristen ___________________ 35 36 37 38
Linnenkohl 1996, S. 42. Zur Bedeutung der Bildung für die veränderte Kriegführung: Messerschmidt 1977, S. 26ff. Zum Wettlauf von Taktik und Technik im Ersten Weltkrieg siehe die schon erwähnte Studie von Hans Linnenkohl (1996) mit dem prägnanten Titel: Vom Einzelschuss zur Feuerwalze. Vgl. Keegan 1991, S. 365f.
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sollte im Endergebnis noch schlimmere Folgen als die der anderen Waffengattungen zeigen: „Während aber sowohl die Kavalleristen als auch die Infanteristen den Offensivgedanken aus einem nachzeitigen, ja geradezu vorsintflutlichen Bewusstsein bezogen […] entwickelte sich aus dem Sonderbewusstsein der Artillerie-Techniker eine ganz andere Mentalität, die wesentlich zum fatalen Verlauf des Ersten Weltkrieges beitragen sollte. Diese Mentalität weist zwei Komponenten auf: das Dogma der totalen Kalkulierbarkeit des Gefechts und das Dogma der maximalen Produktion an Feuer.“39
Diese beiden Dogmen erfuhren durch die Verherrlichung des Kampfes und der Opferzahlen weitere Nahrung. Die horrenden Verluste wurden zwar eingestanden, galten aber zugleich auch als Ausweis des Angriffsgeists der eigenen Soldaten. Ein General, der seine Truppen verausgabte, durfte eher damit rechnen, für „seinen Schneid“ befördert zu werden. Niedrige Verlustzahlen wurden geradezu als Feigheit angesehen. Diese Gleichsetzung von Opferzahlen mit Offensivgeist galt genauso auf nationaler Ebene, wo hohe Verlustraten eine Nation quasi „adelten.“ Sie waren ein Beweis für die Größe der eigenen Nation. „And the casuality lists that a later generation was to find so horrifying were considered by contemporaries not an indication of military incompetence, but a measure of national resolve, of fitness to rank as a Great Power.“40 In der Übernahme eines vulgären Sozialdarwinismus, der den Kampf und den Krieg zum einzigen Prinzip des Lebens erhob, fand die militärische Elite eine Form der „wissenschaftlichen Legitimation“ für ihren eigenen Stand. Der Krieg war nicht nur unvermeidlich, seine Aufgabe bestand in der Korrektur schädlicher Einflüsse des Zivilisationsprozesses und einem schwächlichen Fühlen. Colmar Freiherr von der Goltz, einer der bekanntesten Fürsprecher der militärischen Elite, hatte denn auch 1908 nur zwei Wünsche für Deutschland: „einen langen, schweren Kampf um seine Existenz und (die) dadurch erzwungene Rückkehr zu den einfachen Verhältnissen seiner Väter.“ 41 Kampf aber hieß Offensive, wie viele Opfer der Sieg kostete war lange Zeit sekundär. Insofern war der Schlieffenplan eigentlich der Versuch, die Opfer über die Schnelligkeit des Feldzuges zu minimieren. Militärisch war das sinnvoll. Für die Doktrin der Offensive sprach für den Generalstab aber ___________________ 39 40 41
Mollin 1985, S. 214f. Herv. im Orig. Howard 1976, S. 522. Goltz 1932, S. 331. Hier sind Zivilisationskritik und die Vorstellung des Krieges als Reiniger und Erlöser miteinander verbunden (siehe dazu Kapitel 3).
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noch ein anderes, nämlich ein politisches Argument: das Problem eines Massenheeres, das sich insbesondere aus Bauern und der Arbeiterschaft zusammensetzte und die Leistungskapazitäten der Industrie, die von einer Zustimmung der Arbeiterklasse für den Krieg abhängig war. „Schlieffen’s strategy, of course, needed the ‚masses‘ and industry as means of war, but not as subjects in their own right. In this respect he was less an aristocratic-‚feudal-officer’ than a ‚bureaucratic‘ one who insisted on the primacy of institutional rationality.“ 42 Schlieffens im Industriezeitalter veralteter Traum war der einer Trennung von militärischer und ziviler Welt. In seiner Angst vor den Arbeitermassen und ihrer Loyalität kam er zur Auffassung, man könne einen langen Krieg schon deswegen nicht führen, weil im Zeitalter der Massenheere die Stimmung in der Bevölkerung entscheidend für die Fortsetzung eines Krieges war. Eine schnelle Entscheidung war für dieses Problem die einzige Lösung. Dass die Masse der Bevölkerung und insbesondere die Arbeiterschaft den Krieg so lange unterstützten, selbst als die Versorgungslage und die Situation an den Fronten immer prekärer wurde, ist dabei ein Phänomen, das mich in Kapitel 3 noch beschäftigen wird.43 Eine offensive Kriegführung, die in einer Vernichtungsschlacht endete, war also auch politisch mehr als opportun. Der für das Industriezeitalter sehr wahrscheinliche lange und alle Ressourcen erschöpfende Krieg wurde leichtfertig zur Seite geschoben. Er galt als der „falsche Krieg“, selbst als er dann blutige Wirklichkeit geworden war. Friedrich von Bernhardi kam 1920, nach den Erfahrungen vor Verdun oder an der Somme, immer noch zum selben Schluss wie vor dem Krieg:
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Geyer 1986, S. 533. Hitler hat in seiner Kriegführung dem politischen und psychologischen Faktor stets eine große Rolle zugedacht. So kam es nach der Niederlage in Stalingrad und nach Goebbels’ Aufruf zum totalen Krieg, der eine Einführung der Arbeitspflicht für Frauen und die Schließung von Bars, Revuen und Luxusrestaurants forderte, zu keinen Maßnahmen, die die deutsche Wirtschaft voll mobilisiert hätten (Vgl. dazu insbesondere Fetscher 1998, S.141-161). Die Stimmung in der Bevölkerung war Hitler bis kurz vor Kriegsende immer ausgesprochen wichtig. Dazu haben die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges mit der Erschöpfung an der Front und in der Heimat, die Unzufriedenheit in der Bevölkerung und die revolutionäre Stimmung, wesentlich beigetragen. Der Blitzkrieg war in diesem Sinne nichts anderes als der Versuch, die zivile Gesellschaft so wenig wie möglich im Krieg zu tangieren (Vgl. Kapitel 7.3.). Dass der Blitzkrieg letztendlich im Osten scheiterte, spricht für seine mangelnde strategische Konzeption, trotz operativer Erfolge, „verlorener Siege“ wie Generalfeldmarschall Erich von Manstein (1955) nach dem Krieg in apologetischer Manier seine Erinnerungen titulierte.
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„Schließlich beruht die Überlegenheit der Offensive darin, dass sie allein eine Entscheidung erzwingen kann. Selbst eine erfolgreiche Verteidigung kann eine Überlegenheit nur dann bringen, wenn sie die Möglichkeit gibt, aus ihr zur Entscheidung suchenden Offensive überzugehen. Ein Abwehrsieg ist immer nur ein halber Sieg, und die Hoffnung, den Gegner durch Ermattung, dadurch, dass man seine Kräfte sich erschöpfen lässt, zum Frieden zu veranlassen, ist ihrem Wesen nach falsch und verfehlt.“44
Der Traum von einer Entscheidung, die fallen wird und in der Zukunft fallen muss, fordert das glorreiche Opfer. „Unsere Infanterie wird nur dann ein scharfes Werkzeug der deutschen Politik bleiben, wenn sie entschlossen ist, wie in den ruhmreichen Tagen der Vergangenheit, Ströme Blutes zu vergießen, und beseelt bleibt von dem eisernen Willen, koste es, was es wolle, den Feind zu schlagen.“45 Die 1910 von Bernhardi geforderten Ströme flossen ab August 1914 vier lange Jahre im Übermaß.
2 . 3 . V e r sc hl e i ß k r i e g Der Schlieffenplan scheiterte im September 1914, 50 Kilometer vor Paris, an der Marne. Die deutsche Armee zog sich an die Aisne zurück. Von diesem Moment an begann, zunächst von den Generalstäben noch uneingestanden, der für die westliche Front des Ersten Weltkriegs so typische Verlauf, der die Bilder dieses Krieges bis heute bestimmt: von Kratern und Granattrichtern übersäte Landschaften, Erdfontänen, Gasschwaden, Grabensysteme, Stacheldraht und Schlamm.46 Auf Seiten der Soldaten und der militärischen Führung: Massenangriffe mit entsetzlichen Verlusten, von Granatsplittern zerstörte Körper, endloses Warten in dreckigen Unterständen, vollkommene Unklarheit über den ___________________ 44
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Bernhardi 1920, S. 136. Bernhardi übt in seinem Buch harsche Kritik an der Offensive vor Verdun und der „Ausblutungsstrategie“ Falkenhayns. Sein Lieblingsgegner aber ist der bekannte Historiker der wilhelminischen Epoche, Hans Delbrück, der die Bezeichnung Ermattungsstrategie prägte. Bernhardi nennt ihn verächtlich einen Zivilstrategen (Ebd.). Die insbesondere politischen Unterschiede zwischen der Schlieffen’schen Vernichtungsstrategie, Delbrücks Ermattungsstrategie und der vor Verdun praktizierten Kriegführung behandelt Kapitel 2.5. Ders. 1910, S. 194. Für viele war der Schlamm schlimmer als das Feuer. So schreibt etwa das französische Soldatenblatt La Mitraille: „Nicht das Feuer bedeutet die Hölle. Die wirkliche Hölle ist der Matsch.“ (zit. bei Ferguson 1999, S. 314)
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Gesamtverlauf der Schlachten. Werner Beumelburg, Militärschriftsteller und vor Verdun eingesetzt, hat die Unkenntnis des Frontoffiziers und des gemeinen Soldaten im Stellungskrieg besonders hervorgehoben und eindringlich beschrieben: „Was wussten wir vom Ganzen? Wir kannten keine Veränderung. Die Divisionen wechselten. […] Wir sahen sie kommen und gehen – und blieben. Monat auf Monat der gleiche enge Abschnitt vor uns. Wir verlernten nach den Anderen zu fragen. Wir kannten auch nicht die Erwägungen der hohen Stäbe. Es sollten ja wohl die Franzosen hier wie mit einer Saugpumpe ausgesaugt werden. Warum sollte es einmal wieder anders sein? Wir dachten nicht darüber nach.“47
Das über die Jahre immer besser ausgebaute Graben- und Verteidigungssystem ließ alle Angriffsbemühungen mit blutigen Verlusten scheitern. Abermillionen von Granaten und Tausende von Geschützen, an die Front geschafft in der Hoffnung, den Gegner durch die Anhäufung von Material schier erdrücken zu können, sollten die verfahrene Lage ändern. Massen an Soldaten und Material entsprachen der industriellen Wirklichkeit einer Gesellschaft, deren Horizont sich schon vor 1914 im Frieden abzuzeichnen begann. An der Front wurde die moderne Industriegesellschaft mit ihrer exponenziellen Steigerung der Produktion zum ersten Mal in tödlicher Weise sichtbar. Der englische Historiker Eric Hobsbawm beschreibt die aus dem Materialkrieg entstehenden Verhältnisse in seinem Buch Das Zeitalter der Extreme in präzisen Worten: „Das war die ‚Westfront‘, die zum Schauplatz von Massakern werden sollte, wie es sie wahrscheinlich niemals zuvor in der Kriegsgeschichte gegeben hat. Millionen von Männern lagen sich hinter Sandsäcken verbarrikadiert in Schützengräben gegenüber, in denen sie wie Ratten und zusammen mit Ratten und Läusen hausen mussten. Von Zeit zu Zeit versuchten ihre Generäle aus diesen Gräben auszubrechen. Tage, ja sogar Wochen unaufhörlichen Artilleriefeuers sollten den Feind zermürben und unter die Erde treiben. Im geeigneten Augenblick kletterten dann Wellen von Soldaten aus den Schützengräben, die üblicherweise unter Stacheldraht und Netzen verborgen waren, ins Niemandsland hinaus, in ein Chaos aus verschlammten Granattrichtern, zersplitterten Baumstümpfen, Morast und liegen gelassenen Leichen, um schließlich in das gegnerische Maschinengewehrfeuer zu laufen und niedergemäht zu werden.“48
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Beumelburg 1922, S. 66. Hobsbawm 1995, S. 42.
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Da zusätzliche Kräfte im Osten der schwankenden österreichisch-ungarischen Armee zu Hilfe kommen mussten, verlegte sich das deutsche Heer im Westen bis zum Angriff auf Verdun vom Frühjahr 1915 an auf die strategische Defensive. Einzig in den Schlachten am östlichen Kriegsschauplatz und am Balkan war der Krieg beweglich geblieben und hier errangen die deutschen und verbündeten Armeen auch ihre größten Erfolge. Die Siege von Tannenberg und an den masurischen Seen trugen wesentlich zur mythischen Verklärung des Feldherrenduos Ludendorff/Hindenburg bei, den beiden ab August 1916 fast unumschränkten Militärdiktatoren Deutschlands. 49 Während die deutschen Armeen im Osten Erfolge feierten, verbluteten Frankreichs Armeen in zwei Großoffensiven in der Champagne und im Artois, ohne den Frontverlauf entscheidend verschieben zu können. Die klassische Kriegskunst war mit der Auftürmung immer noch größerer Material- und Soldatenmassen an ihr Ende gelangt; soldatische Tugenden und militärische Kunst konnten der industriellen Wirklichkeit nicht mehr als eine sinnlose Opferbereitschaft entgegenstellen. Wilhelm Ritter von Schramm, aristokratischer Offizier und Militärhistoriker, hat in der von Ernst Jünger 1930 herausgegebenen Anthologie Krieg und Krieger diese Veränderungen aus der Sicht des Soldaten eindringlich beschrieben: „Der Krieg war nicht mehr eine erhöhte, zusammengefasste Form des männlichen Lebens, wie wir ihn alle geträumt, er war eine fürchterliche Maschine, eine Mechanik der blinden Zermalmung, die von einem Heer simpler Angestellter, auch von gewieften Mechanikern in Gang erhalten war, die durch die eigene Trägheit und das Beharrungsvermögen der einmal bewegten Massen immer weiter und weiter lief und Länder und Generationen zermalmte. […] Was Krieg hieß, wurde in Wirklichkeit nur der Leerlauf der Kriegsmechanik, das Toben der Artillerie vom schwersten Kaliber, der Tanks, Minen und Flieger gegen die wehrlose Infanterie.“50
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German Werth (1979, S. 371) verweist darauf, dass die Erinnerung an diese Siege im Osten mit für den riskanten Kriegsplan gegen die Sowjetunion 1941 verantwortlich waren. „In Tannenberg hatte das militärische Überlegenheitsgefühl gegenüber den Russen seinen Ursprung, das ein Vierteljahrhundert später mit zu Hitlers leichtfertigem Konzept des Barbarossa-Feldzugs beitrug.“ Erich Ludendorff, der der Schlacht den Namen Tannenberg gab, tat es in Erinnerung an die am 15. Juli 1410 vom Deutschen Ritterorden gegen die Polen und Litauer verlorene Schlacht, die nun, so Ludendorff, durch den Sieg gegen den slawischen Feind gerächt sei. Schramm 1930, S. 38f.
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Und Schramm fasst die von ihm aufgezählten Veränderungen abschließend in einem Satz zusammen: „Der Krieg war unmilitärisch geworden.“51 Die bis ins Jahr 1916 erzwungene Begrenzung des Vernichtungswillens hatte ihren Grund vor allem darin, dass die industrielle Produktion der kriegführenden Länder den Forderungen nach Waffen und Munition nicht so schnell nachkommen kann, wie sie auf den Schlachtfeldern verbraucht wird. Im Winter 1914/15 führte die chronische Unterversorgung mit Gerätschaften und Munition zum teilweisen Stillstand der Kampfhandlungen an der Front. Niemand war auf den ungeheuren Verbrauch der Mittel vorbereitet, bei Kriegsbeginn hatte die deutsche Armee einen Munitionsvorrat von wenigen Monaten. 1916 waren schließlich die Rüstungsindustrien der hoch entwickelten Länder den Erfordernissen des Material- und Verschleißkrieges bereits besser gewachsen. Staatliche Zentralisierungen der Wirtschaft, eine Koordination der Verwaltungs-, Planungs- und Steuerungsaufgaben machten schlagartig die Rolle der Produktion und Logistik als der entscheidenden Komponente für die moderne Kriegführung deutlich. Exaktes, wissenschaftlich ausgerichtetes Planen, gut geschultes, in Bildungsstätten erzogenes Personal und eine effiziente Verwaltung bestimmten nun – im Verbund mit steigenden Produktionszahlen – im Vorfeld die Entscheidung auf dem Schlachtfeld und nicht ausschließlich rein militärische Tugenden.52 Bereits mit dem Jahr 1915 langsam beginnend, sieht auch Michael Geyer bei der Bewertung des Kriegsverlaufes, neue und radikalere Bilder entstehen: „In lieu of diplomacy, we increasingly find the hostile projection of ideological images against the other camp and a military strategy that relied more on mobilizing the sources of economic and social power against the other bloc than on the limited and limiting ‚play‘ of nineteenth-century power politics. […] The destruction of national determination took the place of military victory over enemy forces.“53
Was ökonomisch eine Zentralisierung und Rationalisierung der Produktion und politisch Gefolgschaft und Zustimmung bedeutet, hatte auch militärisch sein Pendant. Krieg zu führen wurde nun eine Sache der ___________________ 51 52
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Ebd., S. 45. Über den Sieg Preußens gegen Frankreich in den Einigungskriegen 1870/71 sollte Renan sagen, es sei ein Sieg der preußischen Schulmeister über ihr französisches Gegenstück gewesen (zit. bei Ekstein 1990, S. 115). Geyer 1986, S. 534f.
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präzisen Vorbereitung des Schlachtfeldes. Hatten in anderen historischen Epochen ebenfalls eigene Prinzipien der Gestaltung eines Kampffeldes gegolten, so erfordert eine Industriegesellschaft die unmittelbare Umsetzung ihres ökonomischen Potenzials auf dem Schlachtfeld. Letzteres wird zu einem Ort, der bearbeitet werden muss. 54 Die sorgfältige Präparierung des Angriffsgeländes und die Bereitstellung großer Mengen an Artillerie und Material waren spätestens mit dem Erstarren der Front im Winter 1914 unabdingbare Voraussetzungen für einen Erfolg. Den seit Dezember 1915 geplanten deutschen Angriff auf Verdun leiteten, verteilt über mehrere Tage, zweieinhalb Millionen Granatabschüsse ein, von 1300 Transportzügen an die Front gebracht. Ein paar Monate später, zur Präparierung des Schlachtfeldes an der Somme, verschoss die englische Artillerie bereits 6,5 Millionen Granaten, 4000 Tonnen täglich. 55 Bei der letzten großen deutschen Offensive im März 1918 (Codename Michael) wurden innerhalb von fünf Stunden über eine Million Granaten verbraucht. Diese immensen Steigerungen zeigen auch das exponenzielle Wachstum der Waffenindustrien der hoch entwickelten Industrienationen, die die gigantische Kriegsmaschine erst am Leben hielten. Darüber hinaus bot einzig das Gebiet im Westen die dafür erforderliche Kapazität an Eisenbahnlinien für den Transport von Mannschaften und Material. Anderenorts wäre der Krieg an Unterversorgung erstickt. Trotz der gigantischen Mengen an Material war die Front, abgesehen von kleinen, örtlichen Erfolgen, aber nicht zu bewegen. Vier Jahre blutigen Ringens an der Westfront, unzählige Offensiven, die Millionen von Soldaten das Leben kosteten, führten lediglich zu einigen wenigen Kilometern Geländegewinn. Auf das Erliegen der traditionellen Offensiven auf beiden Seiten durch die Macht der mit Maschinenwaffen bewehrten Verteidiger antwortete die militärische Führung mit der phantasielosen Massierung von immer mehr industriell erzeugten Waffen und der Erhöhung der Zahl der eingesetzten Soldaten. Gerechterweise muss man hier anführen, dass innovative Köpfe auf beiden Seiten versuchten, eine dem Stellungskrieg adäquate Taktik zu entwickeln. Die Veränderungen im Angriffsverfahren wurden auf deutscher Seite schon zaghaft seit 1915 umgesetzt und hatten insbesondere eine Neubewaffnung der Infanterie zur Folge: Hand- und Gewehrgranaten, Erdmörser, Flammenwerfer, Granat- und Minenwerfer führten
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Zum Verhältnis von Arbeit und Krieg vgl. Kapitel 5 dieser Arbeit. Vgl. Piekalkiewicz 1994, S. 351 und 358.
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zu einer Entwertung des Gewehrs und der einzelnen Schützen. 56 Ihre Hauptaufgabe in den Vorkriegsreglements bestand in der Herstellung einer Feuerüberlegenheit, was sich im Grabenkrieg schnell als undurchführbar herausstellte. 57 Feuer und Bewegung, als die beiden entscheidenden Faktoren des Krieges, gingen nun getrennte Wege. „So kam es, dass sich Feuer und Bewegung, Feuerkraft und Stoßkraft, die bisher im Gewehrschützen vereinigt gewesen waren, in erheblichem Maße trennten. Diese Trennung musste folgerichtig auch ihrerseits auf die Auflösung der bisherigen Kampfform der Infanterie hinwirken.“58 Daraus entwickelte sich das sogenannte Stoßtruppverfahren, eine Kombination aus infanteristischer Feuerkraft mit den neuen Waffen (Handgranaten, Grabenmörser, Granatwerfer, Flammenwerfer), die die Stoßtruppen auch ohne massive Unterstützung der Artillerie durch das feindliche Feuer führen sollten. Nachdem lange Zeit die Artillerie allein die Feuerkraft herstellte, trug die Infanterie nun wieder dazu bei. Diese neuen Angriffsverfahren verlangten vom Soldaten eine gute Ausbildung, eine sorgfältige planmäßige Vorbereitung des Angriffs und die Auflösung linearer Formationen. Das Problem der Zusammenarbeit von Artillerie und Infanterie blieb aber trotzdem bestehen, letztere wurden oft das Opfer ihrer eigenen Artillerie, was im Wesentlichen auf das Fehlen von verlässlichen Nachrichtenverbindungen zurückzuführen war. Technisch war die Herstellung von Funkverbindungen noch in seinem Anfangsstadium. So konnte die der Infanterie vorangehende Feuerwalze nur durch ein planmäßiges Vorgehen nach Uhrzeiten gesteuert werden. 59 Leuchtsignale wurden oft missverstanden oder bei Nebel und schlechtem Wetter nicht gesehen oder missinterpretiert, Angriffe hinter Kuppen oder Bergen konnten nicht mehr eingesehen werden. Die Feuerwalze blieb, trotz ihrer Vervollkommnung im Laufe des Krieges, ein unsicheres Verfahren.60 ___________________ 56 57 58 59
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Das bestätigt auch Erich Ludendorff (1920, S. 211) indirekt in seinen Kriegserinnerungen: „Der Infanterist hatte über der Handgranate das Schießen verlernt.“ Das Maschinengewehr und ab 1918 die leichtere Maschinenpistole verdrängten schließlich das Gewehr als Feuerträger der Infanterie. Entwicklung 1938, S. 379. Als Feuerwalze bezeichnet man im Ersten Weltkrieg das mit der Infanterie abgestimmte Vorsetzen des Artilleriefeuers, hinter dem die zum Sturm angetretenen Truppen sich wie hinter einem „eisernen Vorhang“ bewegten. Zur Feuerwalze siehe: Marx (1936) und zur Sturmtruppentaktik allgemein Gudmundsson (1989). Als „Erfinder“ der Stoßtrupptaktiken gilt der deutsche General Oskar von Hutier (1857-1934), ein Schwager von Erich Ludendorff. Seine in den Jahren 1917 und 1918 erfolgreiche Angriffstaktik war anscheinend so bekannt, dass die französische Armee sie
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Durch die Massierung von Artillerie wurde das Angriffsgelände zu einer zerschossenen und umgepflügten Trichterlandschaft, die das Vorangehen, insbesondere der Versorgungstruppen mit Lebensmitteln, Wasser und Munition bzw. das Vorziehen der eigenen Artillerie meistens verhinderte. Aus diesem Widerspruch (den eigenen Angriff gewissermaßen selbst zu behindern) konnten sich die Militärs auf beiden Seiten nicht lösen, obwohl auf deutscher Seite gegen Ende des Krieges eine kurze Artillerievorbereitung, die auf Überraschung zielte, bevorzugt und das wochenlange Trommelfeuer, das den Effekt unzähliger Trichterlöcher hatte, aufgegeben wurde. Der bekannteste Artillerieexperte auf deutscher Seite, Oberst Georg Bruchmüller, betont dagegen in seinen Schriften, dass auf deutscher Seite bereits seit 1915 dieses Verfahren angewendet wurde und dass die französische Armee vom Sommer 1918 an die deutsche Praxis der Überraschung und der kurzen Vorbereitung übernahm, ja die französische Führung sogar noch eine geringere Zeitdauer der Artillerievorbereitung zur Sicherstellung der Überraschung in Kauf nahm.61 In seinen beiden Büchern Die deutsche Artillerie in den Durchbruchsschlachten des Weltkrieges (1922) und Der Angriff der Artillerie im Stellungskriege (1926), ersteres um einige Beispiele, v.a. dem letzten großen Angriff der deutschen Armee am 21. März 1918 ergänzt, kommt Bruchmüller angesichts seiner Kriegserfahrungen zu folgenden Schlüssen: „Zur Durchführung eines erfolgreichen Angriffs im Stellungskriege müssen bei den artilleristischen Maßnahmen folgende Grundsätze Beachtung finden: Überraschen durch Geheimhalten der Absichten und der Vorarbeiten, Täuschungsmaßnahmen an anderen Stellen der Front, gänzlicher Verzicht auf Einschießen, gleichzeitige Feuereröffnung aller Batterien, kurze Artillerievorbereitung und damit Verzicht auf völlige Zerstörung der feindlichen Anlagen, Sturm zur festgesetzten Stunde ohne Hurrarufen. Niederhalten durch: Masseneinsatz von Artillerie, große Feuergeschwindigkeit, Vergasen der feindlichen Artillerie während der ganzen Artillerievorbereitung und beim Sturm. […] Nach der Tiefe wirken durch: weittragende Geschütze, weit vorgeschobene ___________________
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schlicht die „Hutier-Taktik“ nannte. Gewöhnlich wird von ihr als Infiltrationstaktik gesprochen (Vgl. Hirschfeld, Krumeich und Renz 2003, S. 567). Siehe dazu die Angaben für die Artillerievorbereitung auf deutscher und französischer Seite (Bruchmüller 1926, S. 171 und 172f.). So betrugen die Artillerievorbereitungen in den von Bruchmüller zitierten erfolgreichen Schlachten im Osten (Gorlice-Tarnow, Przasnyzs, Narotschsee, Witonitz etc.) nur einige Stunden, während sie bei Franzosen und Engländern im Westen nach Tagen zählten. 1918 waren die Zeiträume der Artillerievorbereitung dann bei den Alliierten auf wenige Stunden reduziert, bei Angriffen mit Tanks (Panzern) fiel sie überhaupt weg.
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Stellungen der Batterien, schnellen Stellungswechsel. Die eigene Truppe vorbereiten durch: Zentralisation der Befehlsführung, gründliche Einweisung von Infanterie und Artillerie, Schulung.“62
Auch wenn die tatsächlichen Ergebnisse an der Front Bruchmüllers Behauptung einer erfolgreichen Umsetzung dieser Prinzipien größtenteils Lügen strafen, kann im Laufe des Krieges eine Abkehr von den sturen Vorkriegsprinzipien als Tatsache festgestellt werden. Die veränderten Taktiken fanden ihren Niederschlag in neuen Gefechtsvorschriften, die sich insbesondere bemühten, die technischen Neuerungen einzubeziehen.63 So wurden auf deutscher Seite jeweils für den Angriff wie auch für die Verteidigung neue Vorschriften erlassen. Interessanterweise ging n den gegen Kriegsende erlassenen Reglements Angriff und Verteidigung, wie schon bei Clausewitz, eine immer engere Verbindung miteinander ein, d.h. der Stoßtruppgedanke wurde am Ende des Krieges in die Verteidigung als Gegenstoß integriert. „Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die deutsche Infanterie gegen Ende 1917 ein Verteidigungssystem anwandte, dass eine völlige Abkehr von dem lange Zeit festgehaltenen linearen Verfahren darstellte. Statt in und um eine Linie, kämpfte sie tief gegliedert in und um eine tiefes Kampffeld. […] Mehr als je suchte die deutsche Infanterie die Entscheidung auch in der Verteidigung offensiv herbeizuführen.“64
Gerade durch die im Grabenkrieg entwickelten neuen Abwehrverfahren, die den Vorkriegsvorstellungen vom Halten einer Linie vollkommen widersprachen und ein undurchdringliches Netz aus Stellungen, Stichgräben und gestaffelten Verteidigungszonen schufen, blieben die zahlreichen Offensiven aussichtslos. Der „Kampf aus der Tiefe“ ließ den Angreifer in den allermeisten Fällen blutig scheitern. „Erst das Trommelfeuer der immer gewaltiger werdenden Artilleriemassen schuf eine neue Stellungsform. Bei der neuen Abwehrtechnik ging man dazu über, hinter der ersten Stellung eine Zweite anzulegen, die nicht gleichzeitig zu zerschlagen war. So konnte aus einer neuen Stellung ___________________ 62 63
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Bruchmüller 1926, S. 167f. (Herv. im Orig.) Siehe dazu die Analyse der deutschen Gefechtsvorschriften von 1914 bei Liebmann (1937). Der General der Infanterie führt die Fehler der Friedenreglements auf eine Ursache zurück, „die unzutreffende Einschätzung des Feuers.“ (Ebd., S. 462) Entwicklung 1938, S. 386f. Bei Clausewitz gibt es im strengen Sinne eigentlich keine reine Verteidigung. Das wäre ein bloßes Erdulden. Das Element des Angriffs gehört notwendig zur Verteidigung (Vgl. dazu Marcks 1923, S. 3).
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heraus die Verteidigung aufgenommen und gegebenenfalls zum Gegenangriff geschritten werden.“65 1914 dachte man noch nicht in diesen Dimensionen. Man war – nicht nur auf deutscher Seite – in der Hoffnung auf eine schnelle militärische Entscheidung in den Krieg gezogen. Niemand dachte daran, einen langen und zermürbenden Verschleißkrieg zu führen, eher sah man eine Wiederholung der Ereignisse von 1870/71 als wahrscheinlich an. Kein Verantwortlicher, ob Politiker oder Militär, wusste, was ein Länder umspannender Krieg im Industriezeitalter bedeutete; die wenigen kritischen Stimmen wurden gemeinhin ignoriert, das Denken war noch ganz den alten Traditionen verhaftet und erst die zunehmend sichtbaren Realitäten des Krieges führten zu einem langsamen Umdenken, das zu spät kam, um noch Wirkungen zu zeitigen. „Wie die Megaschlachten an der Somme und bei Verdun zeigten, war das militärische Denken auf beiden Seiten zu nationalen Aderlässen gigantischen Ausmaßes bereit, solange es sie als Völkerschlachten, das heißt als soldatisch militärische Veranstaltung, verstehen konnte. Einen Schritt weiterzugehen und die Schlacht als die wechselseitige ‚Konsumtion‘ der von den beteiligten Volkswirtschaften produzierten Material- und Menschenströme zu sehen, fehlte sowohl dem militärischen wie dem politischen Denken der Weltkriegsmächte das Abstraktionsvermögen. Um im oben erwähnten Bild des ‚Feuers‘ zu bleiben: Die Kunst der Strategie, die ja allein auf der Bewegung basiert, kam im industrialisierten Sperrfeuer des Weltkriegs zum Stillstand.“66
Die großen Schlachtpläne und strategischen Konzepte wichen im Verlaufe der Kämpfe immer mehr der Addition einzelner Unternehmungen, der Überblick der Aktionen verlor sich in der Wüstenei des Niemandslandes. Der industrielle Krieg schafft ein leeres Schlachtfeld, auf dem der Soldat lernen muss, seine Passivität zu ertragen. Der französische Soziologe Paul Virilio hat neben der endlosen Wieder___________________ 65
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Blum-Delorme 1939, S. 1214. Der Autor und ehemalige Major macht in seinem Aufsatz Vom Schützenloch zum Betonbunker darauf aufmerksam, dass gegen Ende des Krieges die sorgfältigen Ausbauten der Stellungen durch Beton und Eisen wieder in den Ursprungszustand versetzt wurden. Die Trichterstellungen in den Granatlöchern näherten sich wieder der Urform von 1914 an. Der Krieg war bereits schneller geworden. Schivelbusch 2003, S. 304. (Herv. im Orig.) Der bekannteste französische Kriegsroman von Henri Barbusse, bereits 1916 erschienen, trägt den schlichten Titel: Le feu: Das Feuer (Barbusse 2004). Man könnte den Ersten Weltkrieg auch unter dem Aspekt von Feuermetaphern (Tod, Reinigung und Auferstehung) untersuchen, die in vielen Romanen und Erinnerungen eine große Rolle spielen.
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holung von Angriff und Verteidigung auf die Unbeweglichkeit des Grabenkriegers hingewiesen: „Letztlich reduzierte sich die Schlacht auf eine Serie von Einzelaktionen, auf einen Krieg der Unteroffiziere, und eine Folge von kurzen Ausfällen in Richtung Tod, die Tag für Tag und Monat für Monat aufeinander folgten, und zwar an der gleichen Stelle, oder ‚im Stillstand‘ für jene unbeweglichen Leute, die ihr Ende auf der Stelle erwarteten, am Boden festgenagelt durch die Gewalt des Bombardements.“67
Mit der Verbesserung der Reichweite und der Schussfolge des Gewehrs war bereits in den Schlachten des späten 19. Jahrhunderts die Infanterie zum Gegenstand verlustreicher Massaker geworden. Instinktiv gruben sich die Soldaten in die Erde, dem einzigen Schutz – vor dem Auftauchen des Panzers auf dem Kriegsschauplatz – vor den Geschossen des Angreifers. Als die Erfindung und spätere industrielle Produktion von Maschinengewehren den Verteidigern eine noch effizientere Waffe in die Hände gab, war ein Durchbrechen der feindlichen Linien faktisch unmöglich geworden. Im Ersten Weltkrieg wurde der Graben zusätzlich durch Brüstungen mit Stacheldrahtverhauen abgesichert, jeder Angreifer fand hier den sicheren Tod, selbst wenn er den Gürtel aus Stacheldraht lebend erreichen sollte. Einzig die Maschinenwaffen konnten einen auf diese Weise verteidigten Graben ausschalten, so zumindest der Glaube der führenden Militärs. In Wirklichkeit waren die Zerstörungen des Artilleriefeuers immer geringer als angenommen, stets waren noch einige Verteidiger am Leben geblieben, die mit Maschinengewehren die angreifende Infanterie niederschossen. So erlitten etwa die englischen Truppen am 1. Juli 1916, dem Angriffstag der durch tagelanges massiertes Trommelfeuer eingeleiteten Schlacht an der Somme, Verluste von 60.000 Mann, die meisten davon in den ersten Stunden des Angriffs. Den Soldaten wurde vorher ein „Spaziergang“ durch die feindlichen Linien bis zu den Gräben versprochen, so sehr war die Generalität von der Wirkung der Artillerie überzeugt.68 Nachdem sich diese Auffassung als falsch herausgestellt hatte, antworteten die Militärs darauf wiederum mit einer noch größeren Intensivierung des Artilleriebombardements, ___________________ 67 68
Virilio 1980, S. 70. Hier sei exemplarisch nur ein Beispiel zitiert. Der englische General Sir Henry Rawlison erklärte, was sich später durch die furchtbaren Verluste der Angreifer als vollkommen falsch herausstellen sollte, seinen Soldaten die Ergebnisse der Artillerievorbereitung an der Somme mit folgenden Worten: „Nothing can exist at the conclusion of the bombardement in the area covered by it and the infantry would only have to walk over and take possession.“ (zit. bei Edmonds 1932, S. 289)
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gebremst nur durch die Grenzen der Produktionskapazität der heimischen Waffenindustrien, und dem zur Verfügung stehenden Angriffsraum.69 Die Durchbruchs- oder Vernichtungsschlacht, Phantasie und Ideal aller Militärstrategen, wurde im Verlauf des Krieges zunehmend durch die Fehlschläge aller Offensiven zur blutigen Karikatur. An ihre Stelle trat, von weitblickenderen Generälen vorausgesehen, erzwungenermaßen eine Strategie der Ermattung. Im Westen war ein Durchbruch aufgrund der Massierung von Material und Soldaten unter normalen Bedingungen nicht mehr möglich. An seine Stelle trat der langsame und methodische Verschleiß, der mit Verdun seine historische Geburtsstunde erlebte. „Das Ereignis, das die Ansicht der Militärs […] für immer veränderte, war der mit einer in der Geschichte des Krieges einzigartigen Heftigkeit und Feuerkraft geführte deutsche Angriff auf Verdun im Februar 1916. Das Jahr 1916 sah die Heraufkunft einer neuen Art von Krieg: des bewusst gewollten, von beiden Seiten akzeptierten Abnutzungskrieges.“70 Er war die letzte Zuflucht einer paralysierten Situation, mehr von reaktivem als aktivem Denken bestimmt. Vor Verdun sollten sich die Erfahrungen der Westfront in konzentrierter Weise verdichten.
2 . 4 . O p e r at i o n G e r i c ht Als der inzwischen verstorbene französische Ministerpräsident François Mitterand und der damalige deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl sich im September 1984 auf den Schlachtfeldern von Verdun die Hände reichten, sah die inländische Presse darin fast geschlossen den symbolischen Akt für das Ende einer alten Feindschaft. Die Erinnerung ___________________ 69
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John Keegan (1991, S. 279f.) erklärt die vergleichsweise ‚geringen Erfolge‘ der Artillerie des Ersten Weltkrieges mit ihrem geringen Anteil an Sprengstoff. Die Belastung der Granate beim Abschuss verlangte einen dicken Stahlmantel, der das Gesamtgewicht im Verhältnis zum Füllgewicht stark erhöhte. Ein Vergleich des Artilleriebombardements an der Somme 1916 mit der Invasion in der Normandie 1944 zeugt von der extremen Zunahme der tödlichen Wirkung, insbesondere durch die Fliegerbombe, die mit einem leichten und dünnen Mantel versehen ist, da sie keinerlei Belastung durch ein Geschütz aushalten muss. Kamen an der Somme 30 Tonnen Sprengstoff auf eine Quadratmeile, warfen im Vergleich dazu die alliierten Luftstreitkräfte 1944 nahezu 800 Tonnen Bomben mit hohem Sprengstoffanteil ab, und dass auch noch binnen Minuten, nicht Tagen. Ekstein 1990, S. 219. Verdun wird von vielen Autoren als Wendepunkt in der Kriegsgeschichte angesehen. Exemplarisch dazu etwa Jörg Friedrich (1995, S. 108): „Der Verarbeitungscharakter des Artilleriekrieges hat in der Verdun-Schlacht eine kriegsgeschichtliche Wende eingeleitet.“
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an Verdun überdauerte den Zweiten Weltkrieg, in dem es zwischen Deutschen und Franzosen keine vergleichbare Schlacht gegeben hatte, überrannten die deutschen Panzerdivisionen die sich hinter der Maginotlinie sicher fühlende französische Verteidigung doch in wenigen Wochen. So konnte die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. September 1984 in ihrer Schlagzeile melden: „Mitterand und Kohl in Verdun – Deutsche und Franzosen versöhnt“. Verdun, heute Schauplatz für Staatsfeiern, Ort von Friedenskongressen, Historikertreffen und eines Massentourismus, ist sowohl zu dem Symbol des Ersten Weltkrieges geworden als auch zur Chiffre für den Untergang des alten Europa. Schriftsteller wie Louis-Ferdinand Céline, William Faulkner oder Arnold Zweig mit seinem 1935 erschienenen Roman Erziehung vor Verdun haben das Trauma, welches Verdun für eine ganze Generation bedeutete, in vielfacher Weise beschrieben und thematisiert. Der Name Verdun spricht bis heute das zusammengefasste Grauen des Ersten Weltkrieges aus: Minen, Schrapnelle, Gasgranaten, Maschinengewehre, Flammenwerfer, Schützengräben, hunderttausendfaches Sterben. Auch der ehemalige Gefreite und spätere Oberbefehlshaber der Wehrmacht, Adolf Hitler, vier Jahre ununterbrochen als Meldegänger am mörderischsten Ort des Krieges, der Westfront, eingesetzt, sprach nicht umsonst am 8. November 1942 im Münchner Löwenbräukeller davon, „dass Stalingrad auf keinen Fall ein zweites Verdun für Deutschland werden wird.“71 Zu deutlich war noch die Erinnerung an die vergeblichen Opfer und das Ausmaß der Niederlage vor Verdun. Elf Tage nach Hitlers Rede begann die von der STAWKA (dem Generalstab der Roten Arme) sorgfältig geplante, nach deutschem Vorbild durchgeführte, sowjetische Gegenoffensive, die zur Umklammerung und schließlichen Vernichtung der 6. Armee unter Paulus im Kessel von Stalingrad führte. Der von der Wehrmacht bis zum Stillstand vor Moskau im Dezember 1941 praktizierte Blitzkrieg wurde in Stalingrad endgültig wieder zum Stellungskrieg, zum Krieg um Hauptstraßen, wichtige Plätze, einzelne Häuser, ja selbst um Stockwerke in denselben. Die Verluste der deutschen und russischen Infanteristen und Pioniere waren horrend, längst vergessene Schreckensbilder des Ersten Weltkrieges tauchten ___________________ 71
Domarus 1962/63, S. 1938. In seiner Rede wendet sich Hitler auch explizit gegen den Vorwurf, Stalingrad aus Prestigegründen zum Ziel der Sommeroffensive 1942 gemacht zu haben: „Ich wollte zur Wolga kommen, und zwar an einer bestimmten Stelle, an einer bestimmten Stadt. Zufällig trägt sie den Namen von Stalin selber. Aber denken Sie nur nicht, dass ich aus diesem Grunde dorthin marschiert bin – sie könnte auch ganz anders heißen –, sondern weil dort ein wichtiger Punkt ist.“ (Ebd.)
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nicht nur in der Erinnerung Hitlers wieder auf. Stalingrad sollte, wie Verdun, zum Symbol der militärischen Niederlage werden. Als Erich von Falkenhayn, Nachfolger des glücklosen Moltke d.J. als Generalstabschef des Reichsheeres, im Dezember 1915 Kaiser Wilhelm II. einen Angriff auf Verdun vorschlug, wusste er um die taktisch relativ bedeutungslose Lage der Festung. Von Falkenhayn spekulierte aber mit dem symbolischen Wert von Verdun: Hier teilten 843 die Söhne Ludwig des Frommen das Frankenreich in drei Teile, hier wurde später den Angriffen der östlichen Heere standgehalten. Verdun symbolisierte so für Frankreich die Nation als Ganzes. Um seine Eroberung zu verhindern, so von Falkenhayns Logik, würden die Franzosen beliebig viele Verteidiger konzentrieren und opfern. So müsse Frankreich entweder seinen moralischen Durchhaltewillen einbüßen oder mehr Soldaten dem Tode aussetzen als militärisch gerechtfertigt. Der Entschluss für die Option Verdun wird von Falkenhayn in seinen bereits 1920 erschienenen Kriegsmemoiren, die noch einmal verlorene Schlachten schlagen, im Wortlaut veröffentlicht. Das Memorandum, an den Kaiser gerichtet, lautete: „Es wurde bereits betont, dass Frankreich in seinen Leistungen bis nahe an die Grenze des noch Erträglichen gelangt ist – übrigens in bewundernswerter Aufopferung. Gelingt es, seinem Volk vor Augen zu führen, dass es militärisch nichts mehr zu hoffen hat, dann wird die Grenze überschritten, England sein bestes Schwert aus der Hand geschlagen werden. Das zweifelhafte und über unsere Kräfte gehende Mittel des Massendurchbruchs ist dazu nicht nötig. Auch mit beschränkten Kräften kann dem Zweck voraussichtlich Genüge getan werden. Hinter dem französischen Abschnitt der Westfront gibt es in Reichweite Ziele, für deren Behauptung die französische Führung gezwungen ist, den letzten Mann einzusetzen. Tut sie es, so werden Frankreichs Kräfte verbluten, da es ein Ausweichen nicht gibt, gleichgültig, ob wir das Ziel selbst erreichen oder nicht. Tut sie es nicht und fällt das Ziel in unsere Hände, dann wird die moralische Wirkung in Frankreich ungeheuer sein. Deutschland wird nicht gezwungen sein, sich für die räumlich eng begrenzte Operation so zu verausgaben, dass alle anderen Fronten bedenklich entblößt werden […] Denn es steht ihm frei, seine Offensive schnell oder langsam zu führen, sie zeitweise abzubrechen oder sie zu verstärken, wie es seinen Zwecken entspricht. Die Ziele, von denen hier die Rede ist, sind Belfort und Verdun. Für beide gilt das oben Gesagte. Dennoch verdient Verdun den Vorrang.“72
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Falkenhayn 1920, S. 183f. Hoffmeister verweist 1933 darauf, dass es 1916 drei Optionen gegeben hätte: 1) im Westen in der Defensive bleiben, 2) ein Angriff mit begrenzten Zielen (Belfort oder Verdun) und 3) eine Massierung der Kräfte in Richtung Abbeville mit Ziel Kanalküste. Falkenhayn wählte die für Hoffmeister falsche Lösung, insbesondere da
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Falkenhayn, der im Unterschied zu vielen anderen nicht mehr an einen kriegsentscheidenden Durchbruchssieg im Westen glaubte, fasste den Beschluss, vor Verdun in die Offensive zu gehen, Weihnachten 1915. Einiges deutet darauf hin, dass auf deutscher Seite der Angriff auf Verdun nicht mit allen verfügbaren Kräften durchgeführt wurde. 73 Es sollte gar nicht zu einer schnellen Eroberung kommen, wichtig war die berechnete Verausgabung von Menschenleben, die Erich von Falkenhayn auf das mathematische Verhältnis von 2:5 bezifferte: Durch den Verlust zweier Männer war der Tod von fünf Gegnern zu erzielen. Konsequent gedacht, musste so der Sieg nach einer Periode der Abschlachtung zwangsläufig eintreten. Dieses Konzept nannte Falkenhayn, die Franzosen „weißbluten lassen“, den gesamten Angriffsplan auf Verdun „Operation Gericht.“ Jan Phillip Reemtsma charakterisiert die hinter diesem Plan stehende Logik als den Versuch, „die Realität des Stellungskrieges mit der Idee der Vernichtungsschlacht zu verbinden. Das Resultat war eine erweiterte Idee der Vernichtung. War im Schlieffen-Plan nur das gegnerische Heer das Objekt der ‚Zertrümmerung‘, das heißt parziellen Vernichtung und gänzlichen Entwaffnung, gewesen, so war das Objekt der Falkenhaynschen Vernichtungsphantasie ein Teil der französischen Bevölkerung, eine ganze Generation waffenfähiger Männer.“74
Selbst für das nicht gerade zimperliche preußisch-militärische Denken war solch eine Logik ein Novum. Der für die preußische Armee bedeutendste Militärtheoretiker Carl von Clausewitz hatte zwar bereits die Vernichtung gelehrt, aber nirgends findet sich bei ihm die Idee, bereitwillig Hunderttausende der eigenen Soldaten zu opfern, um die ___________________
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eine Ermattungsstrategie für Deutschland unmöglich war, da das „potentiel de guerre“ auf Seiten der Entente lag. So „wurde das Jahr 1916 zur Schicksalswende“ (Hoffmeister 1933, S. 506). Das behauptet v.a. Hermann Wendt (1931) in seinem Buch Verdun 1916. Generalleutnant Kabisch geht weniger streng mit Falkenhayn ins Gericht, will aber zwischen taktischem Erfolg (Gab es die Möglichkeit Verdun zu nehmen?), und strategischem Gedanken (Ausblutungsidee), unterscheiden. Letzteren hält er prinzipiell für richtig und führt zwei Gründe für das Scheitern an, die nicht Falkenhayn zu verantworten hat: der Alleingang der k.u.k. Armee in Tirol ohne Information an die deutsche Heeresleitung und die Störung durch die russische Brussilov-Offensive (Kabisch 1931, S. 540ff.). Die große Offensive der Alliierten an der Somme (Beginn am 1. Juli 1916) erwähnt Kabisch erstaunlicherweise aber nicht. Zum Krieg der Deutschen an der Somme gerade erschienen: Hirschfeld, Krumeich und Renz 2006, wo insbesondere auch Briefe und Tagebuchauszüge von Beteiligten zitiert werden. Reemtsma 1997, S. 390. Herv. im Orig.
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doppelte Anzahl der Gegner zu töten. Man muss Falkenhayn aber zugestehen, dass er als einer der wenigen im Reichsheer nicht von der Idee der Entscheidungsschlacht beherrscht wurde. Verdun war so weniger, wie seine zahlreichen Kritiker (Wallach, Fuller, Lidell-Hart) ihm vorwerfen, eine barbarische Phantasielosigkeit als der verzweifelte Versuch, der Strategie wieder zu ihrem Recht zu verhelfen. Dass die Bedingungen des Abnutzungskrieges kaum mehr Spielraum für strategisches Denken boten, ist Falkenhayn nicht unbedingt persönlich anzukreiden. Ein Vierteljahrhundert vor dem Untergang der 6. Armee in Stalingrad, in den Morgenstunden des 21. Februar 1916, beginnt schließlich die deutsche 5. Armee unter der Führung des Generalleutnants Schmidt von Knobelsdorf mit stundenlangem Artilleriefeuer von bis dorthin unbekannten Ausmaßen und dem folgenden Einsatz von Infanteriekräften die Schlacht um Verdun. Sie führt, nach anfänglichen Erfolgen der deutschen Sturmtruppen und der Eroberung strategisch wichtiger Punkte – etwa des größten französischen Verteidigungsforts Douaumont – zu einer militärgeschichtlichen Neuheit: zum Beginn der industriellen Feldschlacht und des Materialkrieges, der sich bereits im Stellungskrieg von 1915 in seinen rudimentären Anfängen zeigte. Dieser Krieg war den Generalstäben und auch den beteiligten Soldaten zunächst ein Rätsel: „Auf eine solche Kriegführung waren aber die in der Friedensschule zu rücksichtslosem Vorstürmen erzogenen Regimenter keineswegs eingestellt. In dieser Zeit lag zumeist noch jene Methodik des Vorgehens, die im weiteren Verlaufe des Krieges mehr und mehr zur Regel wurde, ihnen völlig fern. […] Und so erwuchs schon in diesen Angriffstagen immer mehr aus der Offensivdie Zermürbungsschlacht. Es beginnt jene Zermürbung, die, so schwer sie auch in Anbetracht der allgemeinen deutschen Kriegslage rein zahlenmäßig wiegt, zunächst sich doch weniger durch die Höhe der blutigen Verluste als durch die seelische Niederringung der Überlebenden auswirkt.“75
In der ab 1921 herausgegebenen offiziellen Schriftenreihe des Reichsarchivs mit dem Titel Schlachten des Weltkrieges werden Verdun insgesamt vier Bände gewidmet, darunter, obwohl ansonsten im Wesentlichen zeitlich chronologisch angeordnet, auch der erste Band. Das ist nur ein Hinweis auf die Bedeutung von Verdun in der Aufarbeitung des Krieges für die deutsche Generalität.76 Die Autoren der Bände sehen die ___________________ 75 76
Schlachten 1921ff., Bd. 13, S. 256f. Die Dominanz der Westfront wird in der Schriftreihe des Reichsarchivs eindrucksvoll sichtbar: Von den bis 1930 erschienenen 36 Bänden der Schlachten des Weltkrieges sind sechsundzwanzig der Westfront gewid-
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deutsche Kriegführung mit der Schlacht um Verdun vor eine neuartige Situation gestellt, die 1916 noch in den „Kinderschuhen“ steckte. Der Kampf führte deshalb zu unüberwindlichen gedanklichen Hindernissen: „In der Tat wurde für damalige Verhältnisse eine ungeheuere Menge an Angriffsartillerie, besonders auch an schwerer und schwerster, bereitgestellt und in der Hand der höchsten Führung konzentriert. Hilfswaffen wie Minenwerfer und Flammenwerfer sollten daneben in wirksamer Weise der verhältnismäßig schwachen Angriffsinfanterie den Weg bahnen. So entsteht hier vor Verdun die erste deutscherseits angesetzte große Materialschlacht. Die in ihr ruhenden Kräfte in vollem Umfange vorauszuahnen, sie richtig einzuschätzen, sie auszunutzen oder einzudämmen – das war auch nach den Erfahrungen der großen Abwehrschlachten in der Champagne nicht möglich.“77
Je heftiger die deutschen Truppen vor Verdun anstürmten, umso mehr verfestigte sich der französische Widerstand unter der Führung von General Petain, dem späteren Regierungschef von Vichy-Frankreich. Verdun und insgesamt das Jahr 1916 brachte, trotz der blutigen Schlachten an der Westfront zuvor, eine entscheidende Wende in der „Kriegskunst“, die endgültig zu planmäßiger Arbeit mutierte. Die Materialschlacht zeigte hier erstmals ihre Abhängigkeit von der industriellen Kapazität und die Koinzidenz von Arbeit und Krieg. Der 13. Band der vom Reichsarchiv herausgegebenen Reihe lautet: Die Tragödie von Verdun 1916. Der Autor sieht bereits mit Beginn des Angriffes einen schicksalshaften Wandel in der Kriegführung: „Schon diese ersten Kampftage erscheinen als ein mühsames, mit großen Opfern verbundenes, schrittweises Vorarbeiten, als ein Verbeißen an hervorstechende Punkte des Geländes oder der Verteidigungsanlagen, als ein qualvolles Ausharren unter unsäglicher Artilleriewirkung in Granattrichtern, in zerschossenen Gräben und Unterständen, demgegenüber die wenigen Stunden sieghaften Vordringens nur allzu schnell verblassen, da die Behauptung jedes Erfolges besonders blutige und schwere Stunden und Tage mit sich zu bringen pflegte. […] Wandelt sich nicht hier schon die Offensivschlacht zur Zermürbungsschlacht, die trotz allen unvergleichlichen Heldentums als deutsche Tragödie in die Geschichte eingehen wird?“78
Falkenhayn ließ die Schlacht vor Verdun nicht abbrechen, auch als klar war, dass die Abnutzungsstrategie nicht aufging. Der Angreifer sah sich ___________________
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met, vier dem Balkan, einer Italien und lediglich fünf der Ostfront, die doch die größten Siege mit sich gebracht hatte. Schlachten 1921ff., Bd. 13, S. 16 (Herv. im Orig.) Ebd., S. 253.
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nun in provisorischen Stellungen ungeschützt dem Feuer der französischen Artillerie ausgesetzt, Nachschub und Versorgung brachen zusammen. Um einen Mann an der Front zu versorgen, mussten zehn Männer logistische Arbeit verrichten, da die Anmarschwege nur noch zu Fuß zu bewältigen waren und unzählige Menschenleben kosteten. Um in die Stellungen zu gelangen, musste man eine Zone des Feuers durchschreiten, die Tag und Nacht von der feindlichen Artillerie errichtet wurde. Die eingesetzten Soldaten verloren jeden Kontakt zu ihren Stäben und Nachbareinheiten, das Gefühl der Verlassenheit wurde zum Kennzeichen der psychischen Struktur der Grabenkämpfer. „Nichts vermag andererseits niederdrückender auf die kämpfende Truppe wirken als die Verlassenheit ihres örtlichen Abschnitts, die Begrenzung ihrer nervenzehrenden Tätigkeit auf ein paar Trichter, einen zerschossenen Stolleneingang, ein Stück zerwühlten Drahthindernisses und dem einengenden Wirbel von Lärm und Eisensplittern. Dies aber gab Verdun das Kennzeichen.“ 79 Erkenntnistheoretisch bedeutet Verdun einen schmerzhaften Lernprozess für die deutsche Generalität. Nachdem sie lange Zeit im Westen in der strategischen Defensive blieb, sollte Verdun den 1914 gescheiterten Schlieffenplan in neuartiger Weise erfüllen. Von der unvermeidlichen Schwächung der militärischen Kampfkraft der Franzosen wurde ein Zusammenbruch der Heimat, also der zivilen Basis des Krieges, erwartet. Die Verhältnisse, die daraus entstanden, machten aber ein Umdenken notwendig, das auf beiden Seiten nicht vollständig gelang: „Verdun bedeutet für uns Deutsche den ersten großen Versuch, auch an der im Stellungskampf erstarrten Westfront Erfolge zu erzielen. […] Es galt das Wesen der modernen Schlacht tief zu durchdenken und daraus Schlüsse zu ziehen. Wie schwer das ist, lehrt die Kriegsgeschichte nur allzu eindringlich. Ganz besonders aber wachsen die Schwierigkeiten, wenn unvorhergesehene Waffenwirkung eine Änderung der Kampfweise im Verlaufe eines Krieges selber nötig macht. So zeigt denn auch der Weltkrieg eine sehr langsame, fast zaghafte Umstellung der Kampfweise bei allen Parteien, ohne dass es letztlich gelungen ist, bis zum Abschluss des Krieges die Wandlung in ihrer vollen Tragweite zu erkennen, geschweige denn, ihr Rechnung zu tragen.“80
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Beumelburg 1922, S. 65f. Verlassen von Heimat und Stab, das wird ein wichtiges mentales Muster der Kriegsverarbeitung nach 1918 werden. Die Schicksalsgemeinschaft der Front steht dem entgegen (siehe Kapitel 4.4.). Schlachten 1921ff., Bd. 13, S. 254.
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Ein bekannter Militärhistoriker der 20er Jahre, der Weltkriegsmajor George Soldan, fasste die psychischen Folgen von Verdun in seinem Buch Der Mensch und die Schlacht der Zukunft zehn Jahre später so zusammen: „Fest steht aber, und das ist das schwerwiegendste, dass Kämpfe solcher Art einen Moralverlust der Truppe gebracht haben, der gar nicht im Verhältnis steht zu einem etwaigen Prestigeverlust in der Heimat oder sonst in der Welt, geschweige denn zu irgendeinem tatsächlichen Erfolge. Die 150.000 Männer, die wir bei Verdun weniger verloren haben als die Franzosen, wiegen nicht den ungeheuren Niedergang der Moral der deutschen Armee auf, der mit Verdun eingesetzt hat. Es mag zu weit gehen, wenn Beumelburg sagt, diese Schlacht ist unser Schicksal geworden. Aber richtig ist, dass die Grenze der Anforderungen an den Menschen hier überschritten worden ist. ‚Wer durch dies Schlammfeld voll Sterben und Schreien gewatet, wer in diesen Nächten gezittert, der hatte die letzten Grenzpfähle des Lebens passiert und trug nachher tief in sich die dumpfe Erinnerung an irgendeinen Raum, der sich zwischen Tod und Leben oder jenseits beider befinden mag.‘ Die Grenzpfähle des Lebens sind in all diesen Kämpfen überschritten worden.“81
Soldan ist 1925 einer der wenigen, der klar sieht und zugibt, dass Verdun auf einem elementaren Fehler der deutschen Militärdoktrin beruhte, die den menschlichen Willen, trotz der Überlegenheit der Maschinenwaffen, immer noch als stärkste Kraft verabsolutiert. German Werth, Chronist der Ereignisse vor Verdun, spricht in seiner Rekonstruktion des Geschehens von der Veränderung des deutschen Heeres während und nach der Schlacht: „Sicher ist nur, dass die deutschen Truppen bei Verdun einen irreversiblen Verlust an Kampfkraft erlitten. 48 Divisionen waren durch die Mühle an der Maas gegangen, fast alles Truppen mit langjähriger Ausbildung und langer Kriegserfahrung, die nicht mehr zu ersetzen waren. Verdun zeigt die deutsche
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Soldan 1925, S. 49. Die Zahl von 150.000 Gefallenen mehr auf Seiten der Franzosen ist eine reine Erfindung, sollte aber das vergebliche Opfer vor Verdun zumindest relativieren. Der von Soldan zitierte Autor, Werner Beumelburg, eröffnete die Reihe Schlachten des Weltkrieges 1914-1918. Nicht zufällig war der erste Band Verdun gewidmet. Der von Beumelburg gewählte Titel Douaumont war der Name des stärksten französischen Verteidigungsforts im Sperr- und Betongürtel vor Verdun, das einige Tage nach Angriffsbeginn mehr zufällig als geplant von deutschen Sturmtruppen erobert, schließlich aber von den Franzosen Ende Oktober 1916 wieder zurück gewonnen wurde. Die wechselhafte und zugleich groteske Geschichte des Douaumont in der Verdun-Schlacht findet sich bei Werth (1979, S. 92-124).
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Armee noch in einem Stadium der Disziplin, die es später nicht mehr gab. […] Nach Verdun war das deutsche Heer nicht mehr dasselbe.“82
Diese psychische und mentale Veränderung beschreibt auch Werner Beumelburg 1925 im ersten Band des Reichsarchivs mit dem Titel Douaumont: „Wenn wir später an anderen Kampffronten geweilt, ist oft plötzlich in uns die Erinnerung an Verdun aufgetaucht. Woher kam sie? Sie war auf einmal da, wie aus geheimer Versenkung erstanden. Und es hat uns dann geschienen, als ob uns mit den wenigen, die damals mit uns zusammen gewesen, ein ganz besonderes Band verknüpfe. Es war nicht das gewöhnliche Bild der Zusammengehörigkeit, das stets Menschen bindet, die gemeinsam Schweres ertrugen. Es war nicht nur, dass im Anschauen jener Kameraden aus der Verduner Zeit vor unseren Augen die Berge und Schluchten wiedererstanden, dass uns der lauernde Tod wieder dicht an die Grenze des Erlebens trat. Es war noch ein Anderes, Besonderes. Es lag wohl daran, dass Verdun die Seelen umformte.“83
Als die Schlacht von Verdun im Dezember 1916 vorläufig zu Ende ging, war Falkenhayns Strategie nicht aufgegangen: Beide Seiten beklagten in etwa gleich viele Verluste, zusammen 700.000 Mann. Michael Geyer kommt deshalb in seiner Analyse der deutschen Strategien im Zeitalter des maschinellen Krieges zur folgenden abschließenden Charakterisierung der Schlacht um Verdun: „More than any other battle, Verdun showed the military impass of World War I, the complet disjuncture between strategy, battle design, and tactics, and the inability to use the modern means of war. But most of all, it showed, at horrendous costs, the impasse of professional strategies.“84
2 . 5 . V e r n i c ht e n v s. E r m a t t e n Auch wenn viele Kommentatoren später Falkenhayns Logik als Niedergang der Kriegskunst und zynisches Vorgehen betrachteten, muss man gerechterweise doch anführen, dass er als einziger in der Heeresspitze klar sah, dass ein entscheidender militärischer Sieg im Westen, angesichts der im Grabenkrieg verfestigten Front, nicht mehr errungen werden konnte. Seine Ausführungen vor Reichskanzler ___________________ 82 83 84
Werth 1979, S. 370f. Schlachten 1921ff., Bd. 1, S. 127; Herv. A.M. Geyer 1986, S. 536.
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Bethmann Hollweg im Mai 1915 enthielten erstens das Eingeständnis, dass ein positiver Kriegsausgang von Deutschland unter den jetzigen Umständen nicht mehr erzwungen werden konnte, zweitens die logische Folgerung nach der Suche einer politischen Lösung für einen baldigen Friedensschluss, insbesondere einen Sonderfrieden mit dem zaristischen Russland, und drittens konkrete Vorschläge für eine neue militärische Strategie. Im Gegensatz zu seinen eifersüchtigen Konkurrenten Ludendorff und Hindenburg sah Falkenhayn den Hauptgegner in England und weniger in Russland. Keineswegs überzeugt davon, dass Russland militärisch besiegt werden könne, sollte der Schwerpunkt der Kräfte im Westen liegen, da einzig hier die Entscheidung über den Kriegsausgang fallen musste. Da ein Durchbruch im Westen aber unter den Bedingungen des Stellungskrieges nicht möglich sei, müsse eine Ermattungsstrategie an die Stelle verlustreicher Offensiven treten. Der französische Autor Raymond Aron hat in seiner großen Studie Clausewitz. Den Krieg denken auf die gedankliche Schlüssigkeit dieser Ausführungen hingewiesen: „Vielleicht sah Falkenhayn richtig, als er sein Ziel auf die Vernichtung des positiven Willens des Feindes beschränkte. […] Ich kann nicht einsehen, warum man die ‚moralische‘ Verurteilung des gegenseitigen Massakers dem einzigen General zukommen lassen soll, der so klar sehend war und erkannte, dass ein Durchbruch unter den Bedingungen an der Westfront 1916 oder 1917 unmöglich war. […] Da die Waffen und die Methoden für den Durchbruch auf beiden Seiten fehlten, legte Falkenhayn die Logik dessen offen, was die anderen taten, ohne es zu wissen.“85
Aron hat insofern Recht, als die blutigen Offensiven der Alliierten im Jahr 1915 im Endeffekt dasselbe Ergebnis brachten. Dennoch muss man die Differenz zur späteren Obersten Heeresleitung in Deutschland betonen: Als Falkenhayn am 28. August 1916, auch aufgrund der vergeblichen Kämpfe vor Verdun, als Generalstabschef abgelöst wurde, ändert sich auch die Kriegskonzeption. „Mit Ludendorff und seinem nominellen Chef Hindenburg kehrte ein anderer Geist und ein anderes Konzept des Krieges im Generalstab ein. Der wesentliche Unterschied war, dass Ludendorff glaubte, durch geschickte strategische Dispositionen den militärischen Sieg erfechten und dem Gegner den Willen aufzwingen zu können. Er war, wieder mit einem Wort des Historikers Del-
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Aron 1980, S. 375ff.
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brück, ein ‚Vernichtungsstratege‘, der den militärischen Totalsieg als einzige Möglichkeit des Kriegsendes in Betracht zog.“86
Hans Delbrück, Professor für Allgemeine Geschichte und Herausgeber der Preußischen Jahrbücher, hatte sich schon lange vor Kriegsbeginn einen Namen als Militärhistoriker gemacht. Unter Berufung auf Clausewitz kam Delbrück in seiner Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte zu zwei unterschiedlichen Strategien der Kriegführung: Einmal der Niederwerfungs- oder Vernichtungsstrategie und zum anderen zu dem, was er Ermattungs- oder Zermürbungsstrategie nannte. Diese doppelte Art des Krieges hat, wie Delbrück freimütig einräumt, in Clausewitz den „eigentlichen Entdecker der Wahrheit.“ 87 In einer 1827 niedergeschriebenen „Nachricht“, die das Vorwort zu Vom Kriege bildet, beschreibt Clausewitz zwei Formen der Kriegführung: „Diese doppelte Art des Krieges ist nämlich diejenige, wo der Zweck das Niederwerfen des Gegners ist, sei es, dass man ihn politisch vernichten oder bloß wehrlos machen und also zu jedem beliebigen Frieden zwingen will, und diejenige, wo man bloß an den Grenzen seines Reiches einige Eroberungen machen will, sei es, um sie zu behalten, oder um sie als nützliches Tauschmittel beim Frieden geltend zu machen. Die Übergänge von einer Art in die andere müssen freilich bestehen bleiben, aber die ganz verschiedene Natur beider Bestrebungen muss überall durchgreifen und das Unverträgliche voneinander sondern.“88
Laut Delbrück kam Clausewitz aufgrund seines frühen Todes nicht mehr dazu, die zweite Form der Kriegführung detailliert auszuarbeiten, und so ging seine Entdeckung verloren und führte im deutschen Generalstab seit der Zeit von Moltke d.Ä. zur einseitigen Betonung des Vernichtungsgedankens. Delbrücks Analysen führten Ende des 19. Jahrhunderts zum sogenannte „Strategiestreit“. Insbesondere von Seiten der Militärs musste der „Zivilstratege“ harte Kritik einstecken, vor allem da Delbrück die ___________________ 86 87 88
Afflerbach 1997, S. 303. Delbrück 1908ff, 4. Bd., S. 439. Clausewitz 1994, S. 8. Es wäre interessant die Partisanentaktik und die heutigen Kriege unter dem Aspekt dieser doppelten Kriegsauffassung zu untersuchen. Auf den ersten Blick liegt die These nahe, dass wir heute im Stadium einer Dominanz der Ermattungsstrategen angelangt sind, auch wenn einige westliche Mächte immer noch an den Vernichtungssieg glauben. Die Hauptfrage bleibt aber, ob wir bei den innerstaatlichen, endemischen und terroristisch geführten Kriegen noch von strategischen Absichten reden können.
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friderizianische Kriegführung als Ermattungsstrategie bezeichnete. Da das heroische Bild Friedrich des Großen nicht preisgegeben werden konnte – Ermattung klang doch sehr nach matt – warf das Militär alle Energien in die Waagschale um zu beweisen, das Friedrichs Kriegszüge allesamt Vernichtungsfeldzüge waren und er stets die Entscheidung gesucht habe. In Folge kam es zu einer Verengung des Konflikts um die Frage, ob Friedrich nun Vernichtungs- oder Ermattungsstratege war. Historisch hat vor allem der Eindruck der Einigungskriege im Generalstab zu einer Dogmatisierung der Vernichtungsschlacht geführt. Der zu Beginn des Kapitels besprochene Schlieffenplan mit seinem Cannae-Vorbild steht genau in dieser Tradition. Nun bedeutet die begriffliche Trennung zweier Arten der Kriegführung nicht, dass alle Kriege auf den beiden Polen angeordnet werden können. Sie bilden vielmehr ein Kontinuum, mit mehr oder weniger starker Ausprägung und Mischformen. Delbrücks Lehre besagt, wie er selbst ausführt, nur „dass in der Weltgeschichte zwei Grundformen der Kriegführung zu beobachten und begrifflich festzustellen seien, die man als Niederwerfungs- und Ermattungs- oder Zermürbungsstrategie bezeichnen kann, natürlich nicht in dem Sinne, als ob nun alle Kriege der Welt, unter welchen Umständen sie auch geführt worden seien, notwendig diese Kategorien, wie in ein Schema eingepasst werden könnten, sondern in dem Sinne, dass es sich um Grundformen handelt, die vielfach abgewandelt und auch aneinander angenähert werden können. Die beiden Haupttypen aber bleiben bestehen.“89
Die Offensive vor Verdun zählt für Delbrück in der Konsequenz nicht als eine entscheidende Schlacht. „Denn zu einer Entscheidung gehört, dass man den Sieg weiter und weiter verfolgen kann.“90 Dazu reichten aber Falkenhayns Kräfte genauso wenig wie die Hannibals nach dem Sieg bei ___________________ 89
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Delbrück 1920, S. 48. Zur ersten Kategorie gehören für Delbrück: Alexander, Cäsar, Napoleon, Gneisenau, Moltke (und Schlieffen; A.M.), zur zweiteren Perikles, Hannibal, Gustav Adolf, Friedrich, Wellington. Diese Einteilung könnte man auch nach Kriegen machen. So wird der 30jährige Krieg bei Münkler (2002, S. 59-91) als eine Form des Ermattungskrieges beschrieben. Im Folgenden halte ich an der Differenz von Ermatten und Vernichten fest, auch wenn Delbrück meistens anstatt von Vernichten von Niederwerfen spricht. Aber für den Ersten Weltkrieg scheint mir der Begriff der Vernichtung wesentlich stimmiger als der der Niederwerfung. Verdun, die Somme oder der Chemin des Dames, alle diese Namen sind Orte der Massenvernichtung. Zur Differenz von Clausewitz’ Begriff der Vernichtung und dem NS-Rassenkrieg siehe Kapitel 7.4. dieser Arbeit. Delbrück 1920. S. 49.
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Cannae, der Lieblingsschlacht von Schlieffen, aus der er seine Idee der Durchbruchs- und Vernichtungsschlacht entwickelte. Verdun steht vielmehr in der Tradition eines umfassenderen Gedankens: „Der Angriff auf Verdun ist kein Durchbruchsversuch; er ist keine Schlacht; er bezweckt nicht eine große taktische Entscheidung. […] ‚Dieses Ausbluten-Lassen‘ wird man als eine Spezies der Ermattungs- oder Zermürbungsstrategie bezeichnen dürfen. Diese bedeutet ja keineswegs bloßes passives Ausdauern, unblutiges Manövrieren.“91 Auch der schon zitierte französische Autor und Clausewitzkenner Raymond Aron verteidigt den Falkenhayn’schen Entwurf, insbesondere da er einem politischen Zweck (dem Verständigungsfrieden mit den Alliierten) dienen sollte. Während die Mehrheit der deutschen Generalität, allen voran Ludendorff, noch von kriegsentscheidenden Schlachten und einer rein militärischen Lösung träumten, versuchte Falkenhayn wieder strategisch zu denken: „Sollten sich nach der Niederlage an der Marne 1914 die Mittelmächte noch als Ziel im Kriege einen militärischen Sieg setzen, der ihnen gestattete, den Frieden zu diktieren? Erich von Falkenhayn war, nachdem er einige Wochen versucht hatte, die Entscheidung im Westen zu erzwingen, der einzige, der sich bewusst, scheint mir, zu einer friderizianischen Strategie bekehrt hatte: den feindlichen Willen zu einem totalen Sieg zu entmutigen.“92
Nach den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges schien sich die Delbrück’sche Theorie zu bestätigen. Die einseitige Fixierung auf den Vernichtungsgedanken kam mit der tatsächlichen Kriegführung, insbesondere an der Westfront, nicht mehr zurecht. Für Delbrück hätte der Generalstab aus seiner Konzeption der Ermattungsstrategie lernen können, wenn er es denn gewollt hätte. Er ist mit schuld an der Niederlage, so Delbrücks nach Kriegsende provokante Behauptung, die neuen Konfliktstoff in sich barg, v.a. da er auch die Dolchstoßlegende als Unsinn bezeichnete. Schuld an der katastrophalen Niederlage waren für Delbrück mentale und geistige Unbeweglichkeit der führenden Offiziere: „Der Generalstab war im Ersten Weltkrieg nicht in den Methoden der Zermürbungsstrategie geschult. Die einseitige Betonung der einen Kriegführung führte zu einer falschen Vorbereitung auf den Krieg, den die im Gedanken der Vernichtungsstrategie groß gewordenen Generäle gar nicht anders denken konnten.“93 Falkenhayn strebte nicht die totale Vernichtung des Feindes in einer einzigen großen Schlacht an, sondern vielmehr seine langsame und ___________________ 91 92 93
Ebd. Aron 1980, S. 734. Delbrück 1920, S. 74.
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blutige Auszehrung, ein methodisches und kalkuliertes Töten. „Es ist klar, dass Falkenhayns Ideen über die Kriegführung keine anderen sind als die der Friderzianischen Ermattungsstrategie“. 94 Diese Logik setzte sich schließlich auch auf französischer Seite durch, exemplarisch in den Worten des Generalstabschefs Joffre zusammengefasst: „Wir knabbern an ihnen.“ Es waren aber darüber hinaus nicht nur Phantasielosigkeit oder Unmenschlichkeit, die Falkenhayn veranlassten, „im November 1914 die aussichtslose Ypernschlacht mit immer neuen Truppen zu nähren oder die Schlacht von Verdun trotz entsetzlicher Verluste der eingesetzten Verbände nicht abzubrechen, sondern die Fixierung auf den ‚Willen‘.“95 Derjenige würde siegen, dessen positiver Wille am längsten erhalten blieb. Die Ermattungsstrategie Delbrücks, deren früheste Ausformulierung er bei Clausewitz fand, geriet mit den Ereignissen vor Verdun, auch wenn sie vielleicht theoretisch richtig war, historisch in totalen Misskredit. Delbrück wollte die Mäßigung in den Kriegszielen lehren, um einen Verständigungsfrieden möglich zu machen. Seine Konzeption der Ermattungsstrategie ist zwar auf die Politik bezogen, erhielt aber mit dem Ersten Weltkrieg und den Materialschlachten eine von ihm unvorhersehbare Logik, die sie quasi ins Gegenteil verkehrte. „Die technischen Modalitäten des Gefechts – die festen Fronten und Schützengräben, das Trommelfeuer, tausende Tote für einige Kilometer Gebiet – gaben
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Ebd., S. 73. Es gab tatsächlich eine, wenn auch nicht gerade glückliche, Begegnung zwischen Delbrück und Falkenhayn: „Der 68-jährige Historiker Hans Delbrück war als Dekan der Philosophischen Fakultät der Berliner Universität mit großen Erwartungen im Juli 1915 ins oberschlesische Pleß geeilt. Er wollte Generaloberst Erich von Falkenhayn, dem Nachfolger des an der Marne auf ganzer Linie gescheiterten jüngeren Moltke, feierlich die Ehrendoktorwürde ob dessen Verdienste beim deutsch-österreichischen Durchbruch bei Gorlice-Tarnow verleihen. Im deutschen Großen Hauptquartier musste Falkenhayn jedoch zu der lästigen akademischen Feierstunde erst von Walter Nicolai, dem Chef des militärischen Nachrichtendienstes, überredet werden. Delbrück durfte schließlich an Ort und Stelle den lateinischen Urkundentext verlesen, worauf Falkenhayn ihm beschied: „Herr Geheimrat! Ich war schon auf der Schule ein schlechter Lateiner und habe kein Wort verstanden. Aber ich nehme an, dass das, was sie vorgelesen haben, sehr ehrenvoll für mich war. Ich empfinde die mir zuteil gewordene Ehre und danke Ihnen dafür. So, meine Herren, nun wollen wir essen!“ Aber auch das anschließende Essen verlief nicht viel fruchtbarer. Nicolai notierte anschließend seufzend in sein Tagebuch: „Mit solchen Gelehrten werden sie aber wenig Geschichte über uns schreiben können.“ (unter: www.jungefreiheit.de, 13.09.2002) Storz 1997, S. 273.
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dem Begriff der Ermattungsstrategie einen ganz anderen Sinn als den von Delbrück gemeinten. Nicht mehr eine Strategie, um den Feind zu ermüden und ihn schließlich dazu zu bringen, über den Frieden zu verhandeln, sondern im Gegenteil eine Strategie, die einen Frieden nach dem Sieg dank der totalen Erschöpfung der Ressourcen des Feindes diktieren will.“96
Auch Delbrück sieht in der Offensive vor Verdun trotz des richtigen Ansatzes der Zermürbungsstrategie eine entscheidende Schwäche. Sie ist aber mehr psychologisch als konzeptionell und führte in letzter Konsequenz zum Sturz Falkenhayns. „Falkenhayns Verhängnis war das Unternehmen vor Verdun. Ludendorff stellt ihm ausdrücklich das Zeugnis aus, dass der Angriffspunkt strategisch richtig gewählt war. Man darf auch hinzufügen, dass die Idee, sich zwar zur Ermattungs-Strategie zu bekehren, aber nicht in die reine Defensive zu verfallen, echt friderizianisch gedacht war. Die Ausbildung des Ermattungsgedankens zum ‚Ausbluten‘ war aber eine Überspannung, die sich nicht durchführen ließ. Die Schwierigkeit ist psychologischer Natur. Der Soldat muss bereit sein und ist bereit, sein Leben zu opfern, wenn es gilt einen Sieg zu erfechten, den blutigen Lorbeer um die Stirn zu flechten, aber nicht, sich hinschlachten zu lassen nur in der Berechnung, dass drüben beim Feinde mehr als doppelt so viele fallen. Und wenn eine solche Rechnung möglich ist für einen Tag, so ist sie doch unmöglich für die Dauer.“97
Da die Schlachten des Industriezeitalters sich aber über Wochen und Monate ausdehnten, bleibt die Frage, ob die von Delbrück beschriebene friderzianische Strategie im Zeitalter der Massenproduktion und verbesserter Waffentechnik überhaupt noch denkbar und möglich war. Er selbst glaubte fest daran und entwickelte seine Überzeugung vor allem in Abgrenzung gegen den Hauptexponenten der Vernichtungsidee im Ersten Weltkrieg: Erich Ludendorff. Delbrück verachtet Ludendorff als Vertreter der alldeutschen Idee und einer einseitigen strategischen Konzeption, die schließlich die militärische und politische Katastrophe ___________________ 96
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Aron 1980, S. 375. Michael Geyer (1986, S. 535) sieht in Falkenhayns Strategie den Versuch, den Krieg zu verkürzen und die zivile Gesellschaft außen vor zu lassen. „Falkenhayn‘s strategy, on the other hand, hoped for the collapse of elite control in the enemy‘s camp by ‚bleeding its forces to death‘, which would set free social pressures for peace. If peace negotiations could be achieved quickly enough, the necessity of involving one‘s own society in the decisions over war and peace could be forstalled. This was an elite response to the collapse of professional control over the war and, at the same time, a means to control mass involvement in military matters.“ Delbrück 1920, S. 77.
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hervorrufen sollte.98 Demgegenüber stellt Delbrück eine maßvolle Form der Kriegführung, die sich stets einen politischen Ausweg offen halten muss: „Hätte man von vornherein auch die Möglichkeit der Ermattungs-Strategie ins Auge gefasst, so trat auch der Fall einer sehr langen Kriegsdauer in den Gesichtskreis, und zur Ermattungs-Strategie gehört dann auch wieder der politische Gedanke gemäßigter Kriegsziele. […] Denn an den Kriegszielen, die Europa und Amerika mit Entsetzen erfüllten und jede Möglichkeit eines Verständigungsfriedens verbauten, sind wir zugrunde gegangen.“99
Vielleicht war es aber auch die durch die technische Entwicklung und die nationale Euphorie gekennzeichnete Situation, die eine fürchterliche Verkehrung der bei Delbrück mäßigenden Idee der Zermürbung mit sich brachte. Denn der Abnutzungsgedanke, von französischer Seite „bataille d‘usure“ genannt, fordert in seiner letzten Konsequenz das Engagement der ganzen Nation. Hier wird der Krieg tatsächlich im Ludendorff’schen Sinne total. „Denn sobald der Krieg ‚total‘ wird – und nicht mehr militärisch ist – bedeutet die Vernichtung des bewaffneten Widerstandes die Ausrottung des Menschenreservoirs des Gegners: der Arbeiter, die in den Fabriken beschäftigt, der Mütter, die Soldaten gebären, kurz aller ‚Produktionsmittel‘, Dinge und Personen in gleicher Weise.“ 100 Der Krieg totalisiert sich, indem er einige Elemente und Prinzipien miteinander verbindet, wie sie in dieser Koinzidenz davor nicht existierten: die Ausdehnung der Massenheere, die wachsende Bedeutung des Rüstungspotenzials, die allgemeine wirtschaftliche Ausweitung und schließlich die Etablierung der psychologischen Propaganda an der Front und im Heimatgebiet.101 Abstrakte mathematische Prinzipien, statistische Zahlen, administrative Überlegungen bestimmen die Prinzipien des Abnutzungskrieges, der stetig in die Zonen des zivilen Lebens eindringt.
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Zur Kritik an Ludendorff als Feldherr und „Möchtegernpolitiker“ siehe Delbrück (1922, S. 64), der ihn, gemeinsam mit Tirpitz, als „Zerstörer des Deutschen Reiches“ bezeichnet. Einen sehr interessanten Vergleich von Falkenhayn und Ludendorff als Strategen bietet Delbrücks kleine Schrift: Ludendorff – Tirpitz – Falkenhayn (Delbrück 1920, S. 45-78), aus der hier öfter zitiert wird. 99 Delbrück 1920, S. 76; Herv. A.M. Panajotis Kondylis (1988, S. 139) verweist in seiner Theorie des Krieges darauf, dass Delbrücks Ermattungsstrategie im Ersten Weltkrieg geradezu das Gegenteil des von ihm Erwünschten als Ergebnis zeitigte. 100 Rougemont 1987, S. 314. 101 Vgl. dazu Schmidt-Richberg 1979, S. 134-144.
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„Der erste gewollte Verschleißkrieg war der erste Krieg von zugleich Vernichtung und Konsumtion, eine unmittelbare Vernichtung von Menschen, Materialien, Städten und Landschaften und eine grenzenlose Konsumtion von Munition, Ausrüstung und Arbeitskraft. Nach und nach machten die eleganten Aufmarschpläne oder Angriffsordnungen neuen Überlegungen Platz: dem Granatenverbrauch pro laufendem Meter Schützengraben, dem Produktionsprogramm, Auflistung und Bewertung von Nachschublagern.“102
Nach der Ablösung Falkenhayns durch die Dritte Oberste Heeresleitung (OHL), verkörpert durch Hindenburg und Ludendorff, trat der Gedanke einer strategischen Konzeption des Krieges in den Hintergrund. Einen Verständigungsfrieden lehnte Ludendorff strikt ab. In der einseitigen Fixierung auf Bewegung und Aktivität verlor der strategische Gedanke mit der 3. OHL jede Berechtigung. „Their promotion signalled a new age of strategy. […] Strategy became a composite, reflecting and expressing public sentiments on the one hand and the craft of operations on the other, both being welded together by the organizational talent of a supreme engineer. […] What counted was activity; it mattered remarkably little wether or not the actions made strategic sense. With Ludendorff and Hindenburg an age began in which strategic thinking declined and strategic expectations grew as long as something happened.“103
Ein Generalstabsoffizier, der es wagte, die letzte große Offensive im Frühjahr 1918 wegen ihrer ungenügenden Planung zu kritisieren, wurde von Ludendorff zusammengebrüllt: „Wir hauen ein Loch [in die gegnerische Front; A.M.] hinein. Das weitere findet sich. So haben wir es in Russland auch gemacht.“104 Mit Ludendorff begann eine implizit totale Kriegführung, die auf einer auch ideologischen Mobilisierung der gesamten Gesellschaft beruhte, obwohl sie im Ersten Weltkrieg noch in ihren Anfängen steckte.105 Dieser „totale Krieg“ ist das unmittelbare Resultat des industriellen Kräftemessens, gewissermaßen ein Ermattungskrieg im Zivilen. So werden Ziviles und Militärisches faktisch ununterscheidbar, da alle ökonomischen und propagandistischen Kräfte des Hinterlandes in die Kriegführung einfließen. Diese Totalisierung des Krieges war in Deutschland von verschiedenen Seiten bereits gefordert und in mannigfaltiger Weise vorgedacht worden. Als die verzweifelten Versuche, die ___________________ 102 103 104 105
Virilio 1980, S. 69. Geyer 1986, S. 537, Herv. A.M. Diese Geschichte findet sich u.a. bei Borgert 1979, S. 521. Sowohl Ludendorff als auch Hitler in Mein Kampf betonen immer wieder die Schwäche der eigenen Propaganda im Verhältnis zur gegnerischen.
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Länge des Krieges zu begrenzen, die Freisetzung aller Energien notwendig machte, konnten sich diejenigen vermehrt Gehör verschaffen, die schon längere Zeit vom totalen Staat, totaler Politik und totaler Kriegführung träumten. „Eine solche Idee wurde nicht über Nacht geboren. Viele der Aktivitäten der pangermanischen Bewegung, des Flottenvereins, der Kolonialgesellschaften und anderer radikaler nationalistischer Organisationen der Vorkriegszeit waren von dem Ziel getragen, die deutsche Gesellschaft durch militärische Prinzipien und Tugenden zu revitalisieren. Und interessanterweise war ein gut Teil dieser populären Form des Militarismus nicht auf die Junker unter den Militärs zurückzuführen, sondern auf die Vertreter neuer Gesellschaftsschichten, auf Männer wie Ludendorff und Bauer sowie auf die Beamten- und Angestelltenelemente – die sogenannte neue Mittelklasse – in den neuen nationalistischen Vereinigungen. Der totale Krieg war kein Ideal aristokratischer Junker, sondern ein Ideal des neuen Deutschland.“106
Delbrücks Ermattungsstrategie wurde im totalen Krieg endgültig pervertiert. Die Vernichtungsstrategie, so lässt sich zusammenfassen, dreht sich allein um den Pol der Schlacht während die Ermattungsstrategie zwei Pole besitzt, nämlich die Schlacht und das Manöver. Den Gegner langsam zu zermürben und wenn nötig, der Schlacht aus dem Wege zu gehen, war dabei eine altbekannte und auch altbewährte Kriegsform. Zwar war in vorindustriellen Kriegen die Ermattung des Feindes durch Plünderungen, Sabotage, Zerstörung von Brunnen und Nahrungsmitteln bekannt, aber die Forderung, alle vorhandenen Mittel in direkte oder indirekte Waffen zu verwandeln, war unbekannt. Nirgends musste die Heimat systematisch für die Front arbeiten. Auch die berühmte levée en masse war nur eine Vorform der totalen Mobilmachung, mehr ein ideeles Prinzip als praktische Politik. Die im Ermattungskonzept enthaltene Erweiterung der Kriegsziele über die feindlichen Streitkräfte hinaus – das, was Delbrück „Manöver“ nennt und gewöhnlich jede Art wirtschaftlicher Schädigung durch Zerstörungen, Kontributionen, Unterbrechung des Handels, bei Seemächten speziell durch ___________________ 106 Ekstein 1990, S. 239f. Diese These bestätigt auch Ulrike Haß (1993) in ihrer exzellenten Arbeit: Militante Pastorale. Zur Literatur der antimodernen Bewegung im frühen 20. Jahrhundert. Eine ähnliche Auffassung vertritt Hannah Arendt (1991, S. 362) in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft bezüglich der Genese des kontinentalen Imperialismus. „Unter den Führern der Panbewegungen wie unter den Mitgliedern der von ihnen gegründeten Verbände und Vereine finden wir daher so gut wie keine Geschäftsleute oder Unternehmer, dafür aber alle freien Berufe sowie andere Gruppen des gebildeten Mittelstandes wie Lehrer und Beamte.“
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2. DIE STRATEGIE DER ABNUTZUNG
Blockaden, meint – bedarf nun noch eines entscheidenden Faktors, um zum totalen Krieg zu werden: Die Bündelung des ökonomischen und moralischen Potenzials der Nation im Dienste der Kriegführung. Erst die Massenproduktion von Waffen und Kriegsmaterial durch die Großindustrie und der Einsatz von Massenarmeen Wehrpflichtiger als sozialökonomische Voraussetzungen erlauben den ‚totalen Krieg‘. Es sind – so könnte man aus den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs folgern – weniger unterschiedliche politische Systeme, die den totalen Krieg möglich oder unmöglich machen. Die Voraussetzungen eines totalen Krieges sind in der industriellen Gesellschaft und ihrer immanenten Ersetzungslogik zu suchen.107 Die Ohnmacht der Politik bestand im Wesentlichen darin, dass die Gegner aus Angst vor dem nächsten Schritt des Anderen und einer Antizipation der möglichen Entwicklung (fast) alle Kriegsmittel ins Feld führten. Außerdem galt jede Friedensinitiative als Zugeständnis eigener Schwäche und letztlich versagten die traditionellen politischen Mittel angesichts der Realität eines totalen Krieges. Ludendorffs Schluss, die Politik habe in allen modernen zukünftigen Auseinandersetzung der Kriegführung zu folgen, ja schon im Frieden auf den Krieg vorzubereiten – eine Verkehrung der instrumentellen Definition des Krieges bei Clausewitz – war so gesehen nur eine konsequente Übersetzung der Logik des Ermattungskrieges in industrialisierten Gesellschaften. Da die Niederlage für Ludendorff aber im Wesentlichen ein Zusammenbruch des Willens bedeutete, wurde es für ihn zur Hauptaufgabe der Politik, für die rassische und seelische Geschlossenheit zu sorgen (d.h. durch Propaganda). Nachdem bis hierher die Ebene der Generalstäbe und die großen Strategien betrachtet wurden, nähere ich mich im Folgenden der „Sicht von unten“, den Erfahrungen der Frontsoldaten. Im Zentrum des Ersten Weltkrieges und seinen späteren Verarbeitungsformen steht das Erlebnis der großen Materialschlachten, für die Verdun nur ein Beispiel darstellt. Die Masse der Soldaten verwandelte sich mit Fortdauer des blutigen Geschehens in eine graue und abgestumpfte Truppe. Der mit Kriegsbeginn zunächst idealistisch und heroisch vorgestellte Kämpfer wird im Laufe des großen Schlachtens zu einer nüchternen und sachlichen Figur, die dem Maschinen- und Abnutzungskrieg eine neuartige „Individualität“ entgegensetzt. Die Wandlung im Kriegserlebnis – von der anfänglichen Begeisterung bis hin zur Resignation – und die Verarbeitung der Niederlage durch die Dolchstoßlegende („Im Felde unbesiegt“) wird mich im nächsten Kapitel beschäftigen. ___________________ 107 Vgl. Kondylis 1988 und Kapitel 7.3. dieser Arbeit.
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3. K R I E G S E R L E B N I S Aufgewachsen in einem Zeitalter der Sicherheit, fühlten wir alle die Sehnsucht nach dem Ungewöhnlichen, nach der großen Gefahr. Da hatte uns der Krieg gepackt wie ein Rausch. In einem Regen von Blumen waren wir hinausgezogen, in einer trunkenen Stimmung von Rosen und Blut. Der Krieg musste es uns ja bringen, das Große, Starke, Feierliche. Er schien uns männliche Tat, ein fröhliches Schützengefecht auf blumigen, blutbetauten Wiesen. Ernst Jünger (1920a)
3 . 1 . A u g u s t 1 91 4 Die nachfolgende Szene ist bekannt: Als am 1. August 1914 in München die allgemeine Mobilmachung vor der Feldherrenhalle ausgerufen wurde, stand ein Mann in der jubelnden Menge, der sich 10 Jahre später, in seinem Buch Mein Kampf, selbst wenn man die Bemühung um Stilisierung mit einbezieht, sehr genau an dieses Ereignis erinnern konnte. Der Mobilmachungsbefehl und damit der Kriegsbeginn war für den arbeitslosen Exil-Österreicher Adolf Hitler Wendepunkt und Neubeginn eines bis dahin unscheinbaren und anonymen Lebens. Jetzt fühlte er zum ersten Mal so etwas wie persönliche Größe und Bedeutung und zugleich schwang in seiner Bewertung des ganzen Vorganges bereits sein später folgenreiches Ausschlussprinzip von Sieg oder Untergang bedrohlich mit. „Mir selber kamen die damaligen Stunden wie eine Erlösung aus den ärgerlichen Empfindungen der Jugend vor. Ich schäme mich auch heute nicht, es zu sagen, dass ich, überwältigt von stürmischer Begeisterung, in die Knie gesunken war und dem Himmel aus übervollem Herzen dankte, dass er mir das Glück geschenkt, in dieser Zeit leben zu dürfen. Ein Freiheitskampf war angebrochen, wie die Erde noch keinen gewaltigeren bisher gesehen; denn sowie das Verhängnis seinen Lauf auch nur begonnen hatte, dämmerte auch schon den breitesten Massen die Überzeugung auf, dass es sich dieses Mal
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nicht um Serbiens oder auch Österreichs Schicksal handelte, sondern um Sein oder Nichtsein der deutschen Nation.“1
Tatsächlich war Adolf Hitler nicht der einzige der Millionen Wehrpflichtigen des Ersten Weltkrieges, der zu Beginn des vierjährigen Ringens um jeden Meter Boden zum Preis von Hekatomben von Toten, den Anbruch einer neuen Zeit fühlte. Tausende empfanden wie er. Die Begeisterung, oder: wie es viel präziser genannt wurde, das Erlebnis des August 1914 übertraf alle Erwartungen. Arbeiter, Intellektuelle, Konservative wie Sozialdemokraten, so die bis heute allgemein akzeptierte Auffassung, schlossen sich dem Jubel nach der Kriegserklärung durch Kaiser Wilhelm II. an. Der Glaube an die Notwendigkeit und die Unausweichlichkeit des Krieges war vor allem in den bürgerlichen Schichten weit verbreitet. Insbesondere das protestantische Bildungsbürgertum, in seiner sozialen Stellung und normativen Kraft schon längere Zeit durch die aufsteigende technische Intelligenz entwertet, zwischen der immer schärfer werdenden Polarisierung von Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften in ihrem Status bedroht, begrüßten den Krieg als die Möglichkeit einer Überwindung der Klassengegensätze in einem Gemeinschaftserlebnis über alle gesellschaftlichen Gruppen hinweg. 2 Für sie war der Krieg darüber hinaus ein Konflikt zwischen den materialistischen Werten des Westens (den Ideen von 1789) und den idealistischen der deutschen Kultur (den Ideen von 1914). 3 Der Kriegsbeginn erschien so wie eine Erlösung aus den verhassten Lebensformen der wilhelminischen Zeit. Einer der Hauptexponenten der nationalistischen Nachkriegsliteratur, Ernst Jünger, Kriegsfreiwilliger und Stoßtruppleutnant, erinnerte sich fast ___________________ 1
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Hitler 1939, S. 177. Der Kulturhistoriker Modris Ekstein (1991, S. 463) nennt dieses „Alles-oder-Nichts“ einen „Heroismus des Absurden, eine kolossale Egozentrik, die Kompromiss, Diskussion und Versöhnung von vornherein ausschloss, kurzum jegliche Anerkennung einer auf der Dialektik des ‚Ich und Du‘ bauenden Koexistenz.“ Das Bürgertum als soziokulturelle Erscheinung mit eigenen Wertvorstellungen und Lebensformen wurde bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert, so Hans Mommsen (2001, S. 21-44), von Auflösungserscheinungen bestimmt, die im intellektuellen Protest gegen die bürgerlichen Werte im fin de siècle einen charakteristischen Ausdruck fand. Der Gedanke eines „nationalen Aufbruchs“, der uns im Folgenden immer wieder begegnen wird, war schon von den bürgerlichen Reformbewegungen am Ende des 19. Jahrhunderts vorbereitet (Ebd., S. 37). Der Begriff „Ideen von 1914“ stammt u.a. von Rudolf Kjellen (1915), einem schwedischen Staatsrechtler und Germanophilen. Er bildete, obwohl oft zitiert und angerufen, aber nie eine einheitliche und geschlossene Ideologie.
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20 Jahre später an die Stimmung bei Kriegsausbruch und gab der allgemeinen Situation einen präzisen historischen Sinn: „Der Jubel der Freiwilligen, der ihn begrüßt, liegt mehr als die Erlösung von Herzen, denen sich über Nacht ein neues, gefährlicheres Leben offenbart. Es verbirgt sich in ihm zugleich der revolutionäre Protest gegen die alten Wertungen, deren Gültigkeit unwiderruflich abgelaufen ist.“4 Die alte Ordnung, das war das 19. Jahrhundert mit seinen Normen und Wertvorstellungen, die ganz in der Welt bürgerlicher Sicherheit beheimatet waren. Insbesondere in Deutschland wurde diese Welt mit England gleichgesetzt. England, wie der Nationalökonom Werner Sombart 1915 in seinem Buch Händler und Helden ausführte, das Land der Krämer und des bürgerlichen Tauschprinzips, gefangen in konservativer Erstarrung, Komfort, Profit und allenfalls noch dem Sport verpflichtet, bildete nicht nur für Sombart das Gegenstück zum modernen und aufstrebenden Deutschland. In der Abwertung des „perfiden Albion“, wie es noch vor Kriegsbeginn zur allgemeinen Formel wurde, steckte nicht allzu verdeckt eine Hassliebe Deutschlands gegenüber England, das angesichts seiner überragenden weltpolitischen Stellung eine (nicht nur) heimliche Bewunderung erfuhr. Die nicht gewährte „Liebe“ Englands, seine Ablehnung eines Zusammengehens oder doch zumindest einer friedfertigen Aufteilung der Welt zwischen Deutschland und der britischen Großmacht, ist eine der wichtigsten psychologischen Motive für ein Verständnis der deutschen Politik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere auch der Politik Hitlers, der mit England keinen Krieg wollte, was etwa die halbherzig unternommene Operation „Seelöwe“, Codename für die Invasion der englischen Insel im Jahre 1940, deutlich zeigt.5 Für Sombart, den Vertreter des deutschen Bildungsbürgertums, repräsentierte das Deutschland des kaiserlichen Reiches die heldischen ___________________ 4 5
Jünger 1932, S. 55. Auch auf der ersten Seite von In Stahlgewittern erinnert sich Jünger (1993, S. 7) an die mit Kriegsbeginn einhergehende Hoffnung auf eine andere und höhere Ordnung des Lebens. In Hitlers Tischgesprächen (Picker 1993) sind immer wieder Anklagen gegen England überliefert, die neben einem Minderwertigkeitskomplex ein infantiles Beleidigtsein angesichts der englischen Politik gegen Deutschland zeigen. In einer Reichstagsrede im Jahre 1940 bringt Hitler dieses Unterlegenheitsgefühl in komischer Weise auf den Punkt: „Wir haben es als Deutsche für alle Zukunft satt, uns von England vorschreiben zu lassen, ob wir vielleicht dieses oder jenes tun dürfen oder nicht, ja am Ende sogar, ob der Deutsche Kaffee trinken darf oder nicht. Wenn es England nicht gefällt, dann wird die Kaffee-Einfuhr einfach gesperrt. Mich persönlich berührt das gar nicht. Ich trinke keinen. Aber es ärgert mich, dass andere ihn nicht trinken sollen können.“ (Domarus 1962/63, Bd. II, S. 1577)
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Qualitäten, die Kulturideale eines Menschentums, das nicht auf Gewinn oder Genuss, sondern auf weite, außeralltägliche Ziele gerichtet und von großer Opferbereitschaft beseelt war. Genau um diese Ideale würde der Krieg geführt: „Der Krieg, der die Vollendung der heldischen Weltanschauung bildet, der aus ihr hervor wächst, ist notwendig, damit diese heldische Anschauung selber nicht den Mächten des Bösen, nicht dem kriechenden Händlergeiste zum Raube werde.“6 Während England den weltpolitischen Status Quo und dessen Erhaltung verkörperte, die Pax Britannica als universale und verbindliche Doktrin für alle Kulturen betrachtete, stand Deutschland in der Auffassung vieler Beobachter für eine moderne, progressive und befreiende Kraft. Die relative Neuheit des deutschen Nationalstaates, der beklagte Mangel an sichtbaren Beweisen für den deutschen Einfluss in der Welt, der Übergang Wilhelms II. von der europäischen Politik hin zu einer „Weltmachtpolitik“, aber auch die wegweisenden deutschen Inhalte in Musik, Philosophie oder Theologie: all das gab dem deutschen Nationalismus von 1914 einen starken idealistischen Gehalt. Manch einer sprach denn bei Beginn des Krieges offen von der „Hoffnung auf eine national-geistige Wiedergeburt.“7 Da die lange ersehnte Einigung Deutschlands unter kriegerischen Vorzeichen stattgefunden hatte, fand die Propagierung einer reinen Machtpolitik fruchtbaren Boden. Das Ansehen alles Militärischen war nach den Einigungskriegen 1870/71 in geradezu exzessiver Weise gestiegen. Uniformen, Aufmärsche, Paraden, militärische Tugenden – überall stieß man auf die Symbole und Chiffren einer heroischen Vergangenheit. Die Militarisierung der Gesellschaft und des Alltags nahm zum Teil groteske Züge an: Man trank aus Tassen mit den Abzeichen der Waffengattungen, aß von Tellern mit Schlachtenszenen oder saß in Zimmern mit Wandschmuck, der Kaiser und Militär verherrlichte – kurzum: das alltägliche Leben war von kriegerischen Symbolen durchdrungen.8 Für viele war der nun beginnende Krieg gewissermaßen ein Mittel zum Zweck, die letzte Bewährungsprobe aller Kultur, Schicksalskampf der deutschen Nation. „Für mich stritt nicht Österreich für irgendeine serbische Genugtuung, sondern Deutschland um seinen Bestand, die ___________________ 6 7 8
Sombart 1915, S. 92. Schramm 1930, S. 36. Zur Militarisierung der Gesellschaft siehe: Ullrich 2004, S. 397-407 oder Rosinksi (1970, S. 95), der nach drei siegreichen Kriegen Preußens konstatiert: „Das soziale Prestige des Offiziers steigerte sich bis zur Absurdität; auch das Bürgertum und andere Schichten der Bevölkerung, wie der Uradel und die Söhne von Bankiers und Industriellen, die sich bisher allem Militärischen ferngehalten hatten, bewarben sich nun in zunehmender Zahl um die Aufnahme in die Armee, während der Zivilist zumindest danach trachtete, ihr als Reserveoffizier anzugehören.“
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deutsche Nation um Sein oder Nichtsein, um Freiheit und Zukunft“, so Adolf Hitler in Mein Kampf.9 In den Begriffen von Clausewitz näherte sich der Krieg in dieser kompromisslosen Form seiner absoluten Gestalt. Als schaffende und erneuernde Instanz aufgefasst, wird er, mit Fortdauer der Auseinandersetzung, zu einer existenziellen Prüfung. Entscheidender als Ziel und Zweck der Millionen von Opfern war denn auch die Opferbereitschaft an sich, die Bereitschaft für eine Idee zu sterben. „Die Elite zog 1914 in der jubelnden Hoffnung in den Krieg, dass die ganze Zivilisation, wie sie sie gekannt hatte, in den ‚Stahlgewittern‘ (Ernst Jünger) untergehen werde, und ihre Gedichte galten, wie Thomas Mann als erster bemerkte, nicht den Siegen ihrer Vaterländer, sondern dem Krieg, dem ‚Reiniger‘ und ‚Erlöser‘ als solchem.“10 Die Vorstellung des Krieges als Reiniger und Erlöser, seine eschatologische Dimension, war aber nicht nur auf die individuelle Erfahrung bezogen. „Das nationale ‚Heilungserlebnis‘ wurde jedoch keineswegs nur selbstbezüglich interpretiert, sondern es wurde auch zur Grundlage des jetzt vielfach beschworenen Gedankens einer ‚deutschen Mission‘.“ 11 In einer vulgären Interpretation der darwinistischen Prinzipien wird der Krieg zum Auslesekriterium und Selektionsinstrument einer zukünftigen Generation. In einem kleinen Aufsatz zur Entstehungsgeschichte des modernen Rassismus charakterisiert der französische Sozialphilosoph Michel Foucault diese Auffassung des Krieges anhand zweier Merkmale. Es gehe in den neuen Kriegen nun darum, „nicht nur den politischen Gegner zu zerstören, sondern die gegnerische Rasse, diese Art von biologischer Gefahr […] Aber mehr noch, der Krieg wird […] – und das ist absolut neu – als eine Art und Weise erscheinen, nicht nur seine eigene Rasse zu stärken, indem man die gegnerische Rasse […] ausschaltet, sondern ebenfalls als eine Art und Weise, seine eigene Rasse zu regenerieren. Je zahlreicher die unter uns sind, die sterben, desto reiner wird die Rasse sein, der wir angehören.“12
Die Reinigungsmetapher wird schließlich in der praktisch umgesetzten Kriegs- und Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten eine zentrale Rolle spielen. Auch hier waren es vor allem um die Jahrhundertwende entstandene Ideologeme und Visionen, verstärkt nach 1918 durch die ___________________ 9 10 11 12
Hitler 1939; S. 178. Arendt 1991, S. 530. Kruse 1991, S. 85. Foucault 1993, S. 66. Zwar spielte der Rassenbegriff im Ersten Weltkrieg keine dominierende Rolle, aber die Vorstellung des Krieges als reinigende Kraft und Erlösung aus der wilhelminischen Erstarrung nahm einen breiten Raum ein.
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Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, die als gedankliche Vorläufer der Politik des nationalsozialistischen Staates fungierten. Die Einschätzung des Krieges als Reiniger und Erlöser, als der Beginn einer neuen Zeit, als Bewährungsprobe und Sinnstifter, blieb im August 1914 nicht auf wenige Einzelne beschränkt. Modris Ekstein hat in seinem bemerkenswerten Buch Tanz über Gräben, das die Geburt der Moderne in den Kontext des Ersten Weltkrieges stellt, darauf aufmerksam gemacht, dass die bedeutsamen politischen Entscheidungen in Deutschland 1914 ausnahmslos vor der Kulisse begeisterter Massen getroffen worden sind. Demonstrationen und Kundgebungen verlangten nach einer Bestrafung Serbiens und seiner Verbündeten, Mobilmachung und Kriegserklärung wurden laut skandiert. Ekstein zufolge bleibt angesichts der nationalen Begeisterung nur ein Schluss möglich: „Es führt kein Weg an der Feststellung vorbei, dass in Deutschland die Massen die politische Initiative an sich gerissen hatten.“13 Und er folgert: „Kein politischer Führer, der einem derart entschlossenen Ruf des Volkes nach entschlossenem Handeln hätte widerstehen können.“ 14 Ekstein widerspricht damit explizit der, vor allem auf Seiten der Linken, gerne postulierten These des aufgezwungenen Krieges durch die imperialistischen und kapitalistischen Teile der Gesellschaft. Am 3. August 1914 schwenkte auch die deutsche Sozialdemokratie mit überwältigender Stimmenmehrheit auf den Kriegskurs der Regierung ein. So sehr man die wenigen Abgeordneten hervorheben muss, die sich gegen die allgemeine Kriegsbegeisterung stellten, die Meinung der Mehrheit vertraten sie nicht. Die Bilder der Mobilmachung unter Blumen und Girlanden, die Hurra schreiende Menge am Straßenrand, die Volkfeststimmung mit Liedern und Parolen – für Augenblicke schien die nach den Einigungskriegen 1870/71 proklamierte Einheit Deutschlands eine Tatsache zu sein. „In den ersten Augusttagen schwelgten die Deutschen im Bewusstsein einer ihrer Ansicht nach echten Synthese von Vergangenheit und Zukunft, einer im Augenblick verkörperten Ewigkeit und der Aufhebung allen innerstaatlichen Zwists; Partei gegen Partei, Sekte gegen Sekte, die Kirche im Konflikt mit dem Staat, all das ist jetzt vergessen.“15
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Ekstein 1990, S. 105. Hitler schrieb dazu in Mein Kampf, in zwar apologetischer Absicht, aber inhaltlich auf der Linie von Eksteins Argumentation: „Der Kampf des Jahres 1914 wurde den Massen, wahrhaftiger Gott, nicht aufgezwungen, sondern von dem gesamten Volke selbst begehrt.“ (Hitler 1939, S. 176) Ekstein 1990, S. 101. Ebd., S. 102f. Vgl. Schulin 1997, S. 11f. oder Mommsen 2001, S. 46f. Schon am 1. August rief Kaiser Wilhelm II. in Berlin die berühmten Wor-
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Bei näherer Betrachtung und unter Einbeziehung der neueren Forschung muss diese These Eksteins aber zumindest relativiert werden. Die Begeisterung über den Kriegsausbruch war in der Wirklichkeit weniger einheitlich, als uns die Bilder und die tradierte Geschichtsschreibung suggerieren.16 Zudem handelte es sich bei der Begeisterung, wie Michael Jeismann in einer vergleichenden Studie um nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich zeigt, mehr um eine Begeisterung der „Nation an sich selbst“, am wieder gewonnenen Gefühl von Kraft und Sinn, und weniger um eine Begeisterung für den Krieg an sich.17 Am deutlichsten zeigte sich das sogenannte Augusterlebnis dann auch beim Bildungsbürgertum, bei Intellektuellen, Schriftstellern und Künstlern. Bei der Masse der Arbeiter und Bauern war von Kriegsenthusiasmus zunächst nichts zu spüren. Erst die ersten großen Siegesmeldungen zu Beginn der Offensive im Westen führten zu einem Stimmungsumschwung, der aber nur solange anhielt wie der Glaube an einen kurzen Krieg sich halten ließ. Wichtig für ein Umschwenken der sozialdemokratischen Führung insgesamt war – neben dem Hass auf das zaristische und reaktionäre Russland – die Vorstellung, aus der gesellschaftlichen Pariasituation im Kaiserreich herauszutreten und zu einem gleichberechtigten Mitglied im deutschen Staate zu werden. Für das so genannte Augusterlebnis insgesamt war die überwiegende Zustimmung der SPD für die Bewilligung der Kriegskredite von entscheidender Bedeutung: „Soweit im August 1914 auch Teile der Sozialdemokratie von echter Begeisterung erfasst wurden, resultierte sie wohl nicht zuletzt aus dieser Erfahrung, erneut [nach 1870; A.M.] gleichberechtigt teilnehmen zu dürfen an einer gesamtnationalen Bewegung. Durch diese Erfahrung – bzw. durch die Hoffnung, dass dem Abbau der emotionalen die der realen Schranken, d.h. eine umfassende Neugestaltung der inneren Verhältnisse des Reiches folgen würde – erhielt der Kriegseinsatz selbst einen höheren Sinn. Wie weit, in welch einem Grad diese für viele führende Funktionäre nachweisbare Stimmung auch die Mitglieder erfasste, wurde noch nicht systematisch untersucht. Sicher dürfte jedoch sein, dass das sogenannte ‚August-Erlebnis‘ erst durch die Abstimmung der sozialdemokratischen Fraktion am 4. August möglich wurde. Sie war für die Partei, für die Gesellschaft, die Behörden das entscheidende Signal.“18
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te: „In dem jetzt bevorstehenden Kampfe kenne Ich in Meinem Volke keine Parteien mehr. Es gibt unter uns nur noch Deutsche.“ Vgl. dazu etwa Verhey 2000, Geinitz 1998 oder bereits sehr früh bezogen auf die regionale Arbeiterschaft im Ruhrgebiet: Reulecke 1974. Jeismann 1992, v.a. S. 299, 301 und 316. Rojahn 1991, S. 67f. „Während von etablierter Seite das Bekenntnis der bisherigen inneren Gegner zur herrschenden Ordnung bejubelt wurde,
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Trotzdem zeigen etwa die übertriebenen Zahlenangaben der Freiwilligen, dass von Beginn an ein propagandistisches Element die Opferbereitschaft und die Begeisterung der Bevölkerung überzeichnete. Moderne Kriege ziehen zwar ganze Länder und Nationen in ihre Logik hinein, „doch führt dies selten – wir sind versucht zu sagen: nie – zu einer völligen Vereinheitlichung der mentalen Einstellungen der Gesamtbevölkerung zum Krieg. Was als allgemeine Kriegsbegeisterung identifiziert worden ist, war oft nur das Produkt der Propaganda kleiner, wenn auch einflussreicher Eliten oder das Ergebnis des Wunschdenkens der Kriegspropagandisten.“19 Wenn auch der Krieg nicht von allen begrüßt wurde, die Tatsache einer Massenbegeisterung lässt sich zweifellos nicht leugnen, und der heutige Beobachter mag sich noch immer darüber wundern. Der Zweite Weltkrieg hat, was angesichts der Totalität der Propaganda und der Informationspolitik des nationalsozialistischen Regimes erstaunt, keine vergleichbaren Szenen hervorgebracht. Das hat auch mit der seltsamen Spannung zu tun, die vor 1914 von vielen Beobachtern beschrieben wurde, eine Form von Ungeduld, die quasi auf den Krieg drängte. „Wenn man überzeugt war, dass der Krieg so oder so irgendwann kommen werde, dann wurde das ewige Warten besonders für labile Charaktere zur Qual und der Kriegsausbruch zur Erlösung von einer quälenden Spannung.“ 20 Nun endlich war man befreit vom Druck der latenten Drohung. Dem Jubel der Massen im August 1914 lagen vielfältige und vielfach irrationale Motive zugrunde: patriotische Wunschträume, Ausbruch aus der als beklemmend empfundenen Langeweile und Normalität der wilhelminischen Zeit, hegemoniale nationalistische Phantasien, die Vorstellung von Abenteuern und lustvoller Verantwortungslosigkeit anstelle bürgerlicher Ordnung und nicht zuletzt die Möglichkeit persönlicher Verwirklichung in einer extremen Situation. Daneben spielten aber auch Ängste vor sozialem Abstieg in den bürgerlichen Schichten eine große Rolle für die Begeisterung einer – so die Vorstellung – alle sozialen Konflikte aufhebenden Situation. ___________________
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sahen die bislang unterdrückten Gruppen von der Frauenbewegung über nationale und religiöse Minderheiten bis zu den Sozialdemokraten in dem Einheitserlebnis gerade ein Versprechen auf nationale Anerkennung und Gleichberechtigung.“ (Kruse 1991, S. 83) Insbesondere zeigte sich auch das deutsche Judentum anfänglich vom Augusterlebnis überwältigt. Die Vorstellung, nun endlich zur deutschen Nation zu gehören, sollte aber eine Wunschprojektion bleiben. Linden und Mergner 1991, S. 11 Radkau 2000, S. 447.
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„Der nationale Erneuerungsmythos, der mit dem Kriegserlebnis zum Syndrom der alle bisherigen Gegensätze einschmelzenden ‚nationalen Erhebung‘ gerann, muss vor dem Hintergrund der verbreiteten Zivilisationskritik des ausgehenden Jahrhunderts, aber auch der tief sitzenden Existenzangst der bürgerlichen Oberund Mittelschichten gesehen werden, die sich durch das Anwachsen der unterbürgerlichen Schichten und den zunehmenden Verlust angestammter sozialer Privilegien tödlich bedroht sahen.“21
Modris Ekstein betont einen anderen Punkt, der viele der obigen Motive einschließt und insbesondere – aber nicht nur – in Deutschland im Erlebnis des August 1914 kulminierte: den allgemeinen Wunsch und die Sehnsucht nach Erhöhung des irdischen Lebens. Der Profanierung der eigenen Existenz wurde mit Kriegsbeginn ein vermeintliches Ende gesetzt. Die Erfahrungen der großen Materialschlachten und die Reduktion des Einzelnen auf ein winziges Rädchen in der Maschinerie Militär waren noch nicht gemacht. Zunächst versprach der Krieg eine Verbindung zu transzendentaler Größe und spiritueller Kraft. Die mit der Moderne einhergehenden Säkularisierungsprozesse sind ja nicht ausschließlich unter dem Primat eines Bedeutungsschwunds von Religion zu betrachten, sondern auch als eine Bewegung der Entgrenzung: eine Entgrenzung der Geschichte hin zur Heilsgeschichte in der Immanenz des diesseitigen Lebens. Nun sollte der profane Alltag zum Ort des Heils und der Überschreitung werden, der Einzelne mit „höheren Elementen“, Volk, Rasse, Nation, in Verbindung treten: „Das Alltagsleben ist transzendiert. Es ist zum ästhetischen Phänomen geworden, zu einem Gesamtkunstwerk […], in dem materielle Sorgen, ja überhaupt alle prosaischen Belange, von einer geistigen Lebenskraft überwunden sind.“22 Das Leben als Vision und Schauspiel, ein Kunstwerk das jeglicher Verpflichtung auf bürgerliche Moral und Verhaltenskodizes entsagte. Jetzt galten andere Maßstäbe, die mit der Welt der bürgerlichen Ordnung und ihrer Werte nur noch wenig gemein haben konnten. Nicht einmal 20 Jahre nach Kriegsende wird der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, in seinen Ansprachen an die Schutzstaffel (SS) der NSDAP stets ein Denken in Jahrtausenden predigen, ein Denken, das die kleine, alltägliche Welt nicht kümmern muss, weil es anderen, gewaltigeren und größeren Maßstäben folgt. 23 Die bewaffnete Auseinandersetzung im ___________________ 21 22 23
Mommsen 2001, S. 49. Zu den mentalen Voraussetzungen für die Kriegsbegeisterung siehe auch Rohkrämer 1997a. Ekstein 1990, S. 103. Zu den implizit religiösen Komponenten der modernen politischen Kollektivitätsvorstellungen vgl. Berghoff 1997. Insbesondere die „Endlösung der Judenfrage“ war eines jener Themen, die Himmler geheim halten wollte, gemäß seiner Überzeugung, dass das deutsche Volk noch nicht „reif“ für eine solche Mitteilung sei. Die SS
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August 1914 war in diesem Sinne für viele Freiwillige auf deutscher Seite – insbesondere für die bürgerliche Jugend – weniger eine materielle Angelegenheit als die Vorstellung einer geistigen Konfrontation, Eintrittskarte in die Welt des Heroischen. „Ein solcher Wunsch nach dem Außergewöhnlichen, nach einer heiligen Mission, die über die Trübseligkeit der alltäglichen Existenz hinausweisen sollte, findet sich in der ganzen Geschichte der Freiwilligen.“24 Der größte Teil der Forschungsliteratur über die Kriegsbegeisterung im August 1914 dreht sich fast ausschließlich um die Massenbegeisterung der Deutschen. Das verdeckt die Sicht darauf, dass die Begeisterung für den Krieg nicht allein ein deutsches Phänomen war. Die moderne Kriegsbegeisterung ist älter und fällt mit den bürgerlichen Revolutionen im 18. Jahrhundert zusammen. Was für Deutschland als spezifisch betrachtet werden kann, war der starke idealistische Gehalt und im Laufe des Krieges die zähe Weigerung, die Realitäten zu akzeptieren, was im Wesentlichen auch auf die Informationspolitik des deutschen Reiches zurückzuführen war, das Niederlagen gerne verschwieg. Umso plötzlicher und überraschender kam dann die Kapitulation. Entscheidend aber ist: Die Begeisterung, von der so viel die Rede ist, galt einem ganz bestimmten Krieg, einem Krieg (vgl. Kapitel 2.2.), wie ihn auch die Militärs in schnellen Offensiv- und Umfassungsschlachten erträumten. Einem Krieg, der dem von 1870/71 ähnlich war, einem kurzen Krieg, den Wilhelm II. seinen Soldaten ja versprochen hatte und der die Gesellschaft als Ganze nicht tangieren würde. Noch bevor das erste Laub von den Bäumen fiel, sollten die Soldaten, so der Kaiser in einer Ansprache, wieder zurück sein. „Der öffentliche Kriegsenthusiasmus im Sommer 1914 war also nicht unbedingt der Höhepunkt eines langen Integrationsprozesses von Randgruppen in die kaiserliche Gesellschaft, sondern eine außergewöhnliche Reaktion, bedingt durch die Erwartung eines spezifischen Krieges.“ 25 Die Dimensionen des totalen Krieges lagen noch außerhalb der Vorstellungskraft, und mit Fortdauer des Krieges verblasste das Augusterlebnis schnell angesichts der realen Not, um dafür wieder umso stärker nach dem Zusammenbruch als Ideal angerufen zu werden. Nun sollte, angesichts der revolutionären ___________________
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habe deshalb die Verantwortung für diese Taten zu übernehmen, da nur sie weltanschaulich so gefestigt sei, diese Aufgabe „anständig“ zu lösen. Sie allein sei imstande die „größere Idee“ dahinter sehen zu können und sich nicht in tagesaktuelle Debatten verwickeln zu lassen. Die zukünftige Geschichte werde später die Vernichtungspolitik rechtfertigen (Vgl. Himmler 1974, S. 170f.). Mosse 1991, S. 34. Bessel 1991, S. 128.
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Stimmung im Nachkriegsdeutschland, der gesellschaftliche Burgfrieden mit der Erinnerung an das verklärte Erlebnis der Einheit bei Kriegsausbruch wieder hergestellt werden. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist die Idee einer „Sendung der jungen Generation“26, die eine neue generative Bewusstseinslage reflektierte. Die junge Generation sollte in mythischer Verklärung den Weimarer Parteienstaat überwinden und die Zukunft in Deutschland gestalten. Das Kriegserlebnis prädestinierte sie in den Augen ihrer Apologeten für die Führung der Nation. Zwar gab es in der Weimarer Republik auch eine populäre pazifistische Literatur, allen voran Remarques Kriegserzählung Im Westen nichts Neues (1929), Ludwig Renns Krieg27 (1929) oder Edlef Köppens Heeresbericht (1930), die überwiegende Mehrzahl der Verkaufsbestseller war aber „Erlebnisliteratur“ ehemaliger Frontkämpfer, die im Krieg die stärkste „Mannesprobe“ und das größte Opfer für die Gemeinschaft sahen. Manche Kommentatoren bewerten auch Autoren wie Remarque als Propagandisten einer Literatur, die den Krieg zum Erlebnis machten und ihm so (ungewollt) einen tieferen Sinn gaben: „Werke, die ein Massenpublikum anzogen, schienen dagegen Elemente zu enthalten, die den Schrecken zugunsten annehmbarer Erinnerungen an den Krieg milderten. Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues (1929) bildet dafür ein gutes Beispiel. […] Karl Hugo Sclutius bezeichnet ihn in der Weltbühne 1929 als ‚pazifistische Kriegspropaganda‘.“28 Die Antikriegsliteratur, wie auch der Antikriegsfilm, kann leicht ins Gegenteil umschlagen. „Der Antikriegsdiskurs verwies auf die unvermittelte Präsenz des Krieges, dessen Zerstörungsgewalt seinen Schatten über die Lebenden warf; der Antikriegsdiskurs blieb mithin im Krieg befangen, wie sehr er den Krieg auch anprangerte.“29 Entscheidend aber war, dass trotz der zunächst starken Ablehnung des Krieges nach 1918 eine Sinnstiftung erfolgen musste. Denn vollkommen umsonst gekämpft zu haben war psychisch nicht zu bewältigen. ___________________ 26 27
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Gründel 1932. Ludwig Renn = Arnold Friedrich Vieth von Golssenau. Obwohl das Buch vollkommen fiktiv angelegt ist, wurde es wie alle anderen als authentisches Erlebnis vermarktet. Renns Buch Krieg wurde noch von den Nationalsozialisten begeistert aufgenommen und erst in der Rezeption nach 1945 zu einem Antikriegstext. Mosse 1991, S. 30f. Der Publizist und Pazifist Karl Ossietzky schreibt 1932 über Remarques Bestseller: „Seine ungeheure Verbreitung hat dem Nationalismus keinen Abbruch getan. Es ist im Grunde effektlos vorbeigerauscht. Es ist als eine Modesache aufgenommen, so gelesen und weggelegt worden.“ (Zit. in Prümm 1974, S. 75) Geyer 2004, S. 32.
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Nach einer Phase der Verdrängung und der Trauer setzte in einem Abstand von etwa zehn Jahren die Auseinandersetzung mit dem vergangenen Krieg vehement ein. Das Gemeinschaftserlebnis war für fast alle Kriegspublizisten die alles verbindende Form der Verarbeitung einer traumatischen Niederlage. Noch stärker galten das Prinzip des inneren Zusammenhalts und der Wegfall aller sozialen Schranken für die Männer der Front, die nach 1918 gleichermaßen in der nationalistischen Rechten als Idealbild des kommenden Staates vorgeführt werden. Ihnen erscheinen der Krieg und die Front als Paradigma einer zukünftigen Nachkriegsgesellschaft, deren Gestaltung dem Frontkämpfer oblag: „Im Extremfall, wie in Deutschland, wurde durch das Kameradschaftsideal das Kriegsgedenken in eine säkularisierte Religion und in ein neues politisches Prinzip umgewandelt. Die extreme Rechte präsentierte sich selbst als eine Männergemeinschaft, mit einem gleichen Status für alle, aber mit hierarchischer Struktur: mit Führerschaft und Demokratie.“ 30 Der Nationalökonom Johann Plenge hat das „sozialistische Moment“ der Kriegserfahrung bereits 1915 in seinem Buch Der Krieg und die Volkswirtschaft formuliert: „Wenn wir diesen Krieg in einem Erinnerungsfeste feiern werden, so wird es das Fest der Mobilmachung sein. Das Fest des 2. August. Das Fest des inneren Sieges – da ist unser Geist geboren: der Geist der stärksten Zusammenfassung aller wirtschaftlichen und staatlichen Kräfte zu einem neuen Ganzen, in dem alle mit gleichem Anteil leben. Der neue deutsche Staat! Die Ideen von 1914!“31
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Mosse 1991, S. 28. Zum „Frontsozialismus“ oder „Preußischen Sozialismus“ (Spengler) siehe Kapitel 4.4. dieser Arbeit. Klaus Theweleit sieht das spezifische Merkmal des „Preußischen Sozialismus“ darin, dass hier, im Gegensatz zur Sozialisationsinstanz Familie, die Utopie der Gerechtigkeit herrscht. Vater werden kann man als Sohn niemals, Offizier kann aber prinzipiell jeder Auszubildende werden. „Das Militär ist ihnen die vollkommenste Form des Sozialismus, weil es jedem den gerechten Platz in der Hierarchie zuweist.“ (Theweleit 1987, Bd. 2, S. 175) Theweleits Analyse ist auch eine Kritik an Freuds 1921 erschienener Schrift Massenpsychologie und Ich-Analyse, die am Beispiel des Heeres den ödipalen Charakter von Führung und Gefolgschaft nachweisen wollte. Der Vorgesetzte kann eben nicht, wie Freud es tut, dem Vater gleichgesetzt werden. Die Autorität des Vaters muss sich nicht beweisen, er muss nicht können, was er vom Sohn verlangt. Der Offizier kann das, was er fordert, im Gegensatz dazu auch selbst. Plenge 1915, S. 189f. Dass diese Mobilmachung v.a. auch eine Apotheose der Arbeit meint, zeigt folgendes Zitat: „Wir waren ein Volk der Dichter und Denker. Wir sind ein Volk der neuen Arbeitspraxis geworden. Praktisch dichten und denken heißt: organisieren“ (Ebd., S.95). Vgl. dazu auch Kapitel 5 dieser Arbeit. Die Auffassung Plenges erinnert sehr
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Gemeint sind damit die Ideen von der Einheit und der Opferbereitschaft der Nation, die Aufhebung sozialer, religiöser und kultureller Unterschiede. Hatten diese Ideen aber einen realen Gehalt, der über rhetorische Phrasen hinausging? Und was bedeuteten diese Ideen für die reale Konzeption des Krieges? In den Kriegszielabsichten des deutschen Reiches zeigt sich der zunehmende Realitätsverlust am deutlichsten. Selbst als die militärische Niederlage sich längst abzeichnete, wurden noch weit ausgreifende Annexionen und visionäre Pläne entworfen. Je mehr der Krieg die Mittelmächte dem Zusammenbruch näher brachte, desto großartiger wurden die Ziele. Die (immer auch vage gebliebene) Kriegszielpolitik des Deutschen Reiches ist das beste Beispiel für die Hybris der politischen und militärischen Führungsschicht, die im Glauben an die „deutsche Sendung“ in der Welt einfach die tatsächliche Lage Deutschlands und seiner Verbündeten nach dem Scheitern des Schlieffenplanes ignorierte.32 Die militärischen Einzelsiege der deutschen Armeen, insbesondere im Osten, haben zu dieser Selbsttäuschung entscheidend beigetragen. Deutschland gewann zwar Schlachten, aber nicht den Krieg.
3 . 2 . K r i e g sz i e l e u n d V i si o n e n Wie auch immer man die Kriegsgefahr im Juli 1914 bewertet und die Motive die schließlich zur Katastrophe des Ersten Weltkrieges führten: Eine historische Determination im Sinne einer unabwendbaren Notwendigkeit war dieser Krieg nicht. Wie alles politische Handeln war er an Akteure und Protagonisten gebunden, die durchaus Handlungsspielräume zur Verfügung hatten. Nur war keine der führenden Mächte bereit, für den Frieden aktiv einzutreten. Ernst Schulin trifft in einem Aufsatz zur Entstehungsgeschichte des Krieges daher zunächst zwei negative Feststellungen: Erstens, „kein Staat hatte ein so lebenswichtiges ___________________
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an den bekannten Ausspruch Robert Leys, des Führers der Deutschen Arbeitsfront (DAF), dass die nationalsozialistische Weltanschauung nicht „gelehrt“, sondern nur „exerziert“ werden könne. Diese Ignoranz vor der Wirklichkeit sollte im Zweiten Weltkrieg noch extremere Formen annehmen. Vor allem in der Ostpolitik des Dritten Reiches mit seinen Plänen für die Umsiedlung von über 50 Millionen Menschen und dem „Hinausschieben der Volkstumsgrenze um mindestens 500 km nach dem Osten“ (Himmler) wird die Hybris überdeutlich. Vielmehr als ein „Volk ohne Raum“ war ein „Raum ohne Volk“ Wirklichkeit geworden, denn es drängte sich praktisch kein „deutscher Volksgenosse“ danach im Osten zu siedeln. (Vgl. Mommsen 2001, S. 283-295)
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politisches Ziel oder war gar dermaßen in seiner Existenz gefährdet, dass er zum Krieg als letztem Hilfsmittel hätte greifen müssen.“ Und zweitens, „kein Staat hielt die Erhaltung des Friedens für so vordringlich, dass er dafür Macht- oder Prestigeverlust hingenommen hätte.“33 Auf deutscher Seite war die wilhelminische „Weltpolitik“, die den Anspruch auf eine hegemoniale Stellung in Mitteleuropa und einen „Platz an der Sonne“ (Bülow in einer Rede 1897) forderte, mit ein Grund für die Reichsregierung, kurz nach Kriegsbeginn territoriale Forderungen zu erheben und weitgehende Entschädigungen von ihren Gegnern zu verlangen. Seit dem 1961 erschienenen Buch von Fritz Fischer mit dem Titel Griff nach der Weltmacht haben diese Forderungen im Begriff des Septemberprogramms einen Namen gefunden. Fischers Schrift war bei seinem Erscheinen ein Skandal, brach er doch mit der in Deutschland gerne akzeptierten Auffassung, die Kriegszielpolitik des Deutschen Reiches sei eine rein militaristische, maximal noch von chauvinistischen Verbänden wie etwa den Alldeutschen und der Schwerindustrie vorangetriebene Veranstaltung gewesen. Fischer versucht in seinem Buch anhand umfangreichen Quellen- und Aktenmaterials zu zeigen, dass die Reichsregierung unter Kanzler Bethmann Hollweg selbst eine treibende Kraft in den maßlosen Zielen der Kriegspolitik bildete, die durchaus konsensualen Charakter innerhalb der Führungsschichten des Reiches besaß. Gleichzeitig blieb das Septemberprogramm der Ausgangs- und Bezugspunkt für alle strategischen Überlegungen während des Krieges, insbesondere für alle Friedensverhandlungen, die schon deshalb scheitern mussten, da alle Parteien Angst hatten, sich eine Blöße zu geben. „Die besondere Bedeutung des Septemberprogramms für die politische Willensbildung innerhalb Deutschlands im Ersten Weltkrieg lag in zwei Punkten. Einmal stellte das Programm keine isolierten Forderungen des Kanzlers dar, sondern repräsentierte Ideen führender Köpfe der Wirtschaft, Politik und des Militärs. Zum anderen waren, wie sich zeigen wird, die in dem Programm niedergelegten Richtlinien im Prinzip Grundlage der gesamten deutschen Kriegszielpolitik bis zum Ende des Krieges, wenn sich auch je nach Gesamtlage einzelne Modifikationen ergaben.“34
Im Mittelpunkt der „vorläufigen Aufzeichnungen über die Richtlinien unserer Politik beim Friedensschluss“ vom 9. September 1914 stand die Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes durch eine gemeinsame Zollunion. Eine Idee, die der AEG-Chef Walther Rathenau, ___________________ 33 34
Schulin 1997, S. 5. Vgl. auch Mommsen 1993. Fischer 2002, S. 95.
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ab August 1914 Leiter der Kriegsrohstoffabteilung, angeregt hatte, um den nach einer Niederlage Frankreichs zu erwartenden Wirtschaftskrieg mit England bestehen zu können. Diese Zollunion sollte Deutschlands Vormachtstellung und ökonomische Vorherrschaft auf dem europäischen Kontinent sichern. Klugen Köpfen war aber schnell klar, dass wegen der Abhängigkeit Deutschlands vom Welthandel eine rein mitteleuropäische Zollunion niemals konkurrenzfähig sein konnte. Neben diesem wirtschaftlichen Bündnis sollte der deutsche Kolonialbesitz in Afrika erweitert und ausgebaut werden. „Bethmann Hollweg nahm den Plan der Schaffung eines ‚zusammenhängenden mittelafrikanischen Kolonialreiches‘ in sein Septemberprogramm auf; dieses große Überseeprojekt blieb damit grundsätzlich fortan ein Bestandteil der amtlichen deutschen Kriegszielpolitik.“35 Diese Konzeption, die v.a. eine Übernahme französischer Kolonien vorsah, war ganz auf die erwartete Niederlage Frankreichs abgestellt. Im Westen sollte Frankreich schließlich durch Annexion der Erzvorkommen von LongwyBriey, die der deutschen Industrie zugute kommen sollten, in seiner wirtschaftlichen Potenz entscheidend geschwächt werden. Daneben war eine Kriegsentschädigung festzusetzen, die es Frankreich unmöglich machen sollte, erhebliche Mittel für die Rüstungsindustrie aufzubringen. Einzelne Festungen zu zerstören und einen Küstenstrich abzutreten waren Ergänzungen neben der Forderung nach einem Handelsvertrag, der Frankreich wirtschaftlich von Deutschland abhängig machen musste. Die beiden schwierigsten Fragen bei der Kriegszielfestlegung aber waren das besetzte Belgien, das zu einem Vasallenstaat herabsinken sollte, und insbesondere die Zukunft Polens, die das Verhältnis zum Bündnispartner Österreich-Ungarn von Anfang an belastete. In der praktischen Polenpolitik, insbesondere der Dritten OHL unter Ludendorff, finden sich auch die ersten Anzeichen einer Expansion nach Osten und der dazu gehörigen rassistischen Ideologie.36 Neben dem Septemberprogramm, das Fritz Fischer als offizielle Richtlinie der politischen Führung ansieht, wurden mit Kriegsbeginn eine Unzahl von Petitionen, Eingaben und Memoranden, die von nationalen Verbänden, einzelnen Abgeordneten und wirtschaftlichen Interessengruppen stammten, der Reichsleitung vorgelegt. „Man watet in Denk___________________ 35 36
Ebd., S. 92f. Vgl. dazu Fischer 2002, S. 102ff. oder Ullrich 2004, S. 428ff. Zu Belgien und Polen insgesamt Haffner 2001, S. 47-65. Für letzteren scheiterten alle Friedensmissionen an diesen beiden Problemkomplexen und der starren deutschen Haltung: „Und daran scheiterten alle Friedenschancen, an Belgien die amerikanischen und an Polen die russischen. […] Was wollte Deutschland mit Belgien und Polen? Es sind die beiden unverständlichsten Aktionen der deutschen Kriegspolitik.“ (Ebd. S. 59)
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schriften“, merkte der Staatssekretär des Reichskolonialamtes im September 1914 an. Am schärfsten formulierten sich die Wünsche und Absichten der sogenannten Kriegszielbewegung bei den Alldeutschen, einer nationalen und antisemitischen Gruppierung, die unter ihrem Vorsitzenden Heinrich Claß Mitte September eine Handschrift vorlegte, die an Radikalität alle anderen Eingaben übertraf. Zwar verfügten die Alldeutschen lediglich über 25.000 Mitglieder, das war im Verhältnis etwa zu den 300.000 Mitgliedern des Flottenvereins eine kleine Zahl, sie nahmen aber zu einem erheblichen Anteil einflussreiche Positionen in Staat, Armee, Marine, Wirtschaft und Publizistik ein. Die bis vor 1914 versagt gebliebene Weltmachtstellung Deutschlands wurde von den Alldeutschen nicht nur als Recht gefordert, der Krieg und der erwartete militärische Sieg sollten dem Kaiserreich endlich zur lange ersehnten Hegemonie gereichen. Politische und völkerrechtliche Rücksichten waren den Alldeutschen fremd: „Die staatlichen Dinge sind keine Beschäftigung für Nervenschwache und Gefühlsmenschen – sie sind ein hartes Geschäft, das so besorgt sein will, dass das eigene Volk dabei am besten fährt.“37 Die Kriegszielbewegung war ab Frühjahr 1915 auch stets gegen einen „faulen Frieden“ gerichtet, und lehnte gleichzeitig innenpolitische Konzessionen an die SPD und die Arbeiterklasse ab. Von Frieden oder parlamentarischen Zugeständnissen zu sprechen, war für die Vertreter der Kriegszielbewegung gleichbedeutend mit nationalem Verrat.38 Insbesondere in der Schwerindustrie trafen die Ideen nationaler Verbände und der konservativen Professorenschaft auf große Zustimmung. Nicht allein die horrenden Profite der Kriegswirtschaft auf Seiten der Rüstungsindustrie, als vielmehr auch die Angst der herrschenden Schichten vor sozialen Unruhen sind hier als Motiv zu nennen.39 Entscheidend für die ganze Kriegszieldebatte war die Frage nach dem Charakter des Krieges. Handelte es sich um einen Verteidigungsoder Annexionskrieg? Aus der Antwort darauf ergab sich entweder ein Verständigungs- oder Siegfrieden. Diese Kopplung brachte die Reichsregierung und die militärischen Befehlshaber in eine schwierige Situation. Da man mit Kriegsbeginn immer von einer rein defensiven Kriegführung gesprochen hatte, waren Annexionen zumindest propagandistisch ein ___________________ 37 38 39
Claß zit. nach Ullrich 2004, S. 420. Später wurde dem „Verzichtfrieden“, auch „Scheidemannfrieden“ (nach dem damaligen außenpolitischen Sprecher der SPD), der „Siegfrieden“ oder „Hindenburgfrieden“ gegenübergestellt. In einer Petition im Juni 1915, der sogenannten Intellektuellen-Eingabe, forderten 1347 Unterschriften der geistigen Eliten in Deutschland, in Anlehnung an die Alldeutschen, eine rücksichtslose Siedlungspolitik im Osten, insbesondere um den sozialen Druck im Inneren auszugleichen (siehe dazu: Fischer 2002, S. 143f.).
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Vermittlungsproblem. Denn der Verteidigungstopos war der wichtigste Impuls für die Durchhalte- und Opferbereitschaft der deutschen Soldaten und des zivilen Hinterlandes. Über weltanschauliche Konzeptionen, wie einem völkischen Denken oder einer geheimen Sendung des Germanentums, wurde versucht den Widerspruch zwischen „Angegriffenen“ und „Annexionisten“ zu lösen. Die Überzeugung eines Präventivkrieges, der das eigene Überleben sichern sollte und die „Einkreisungspolitik“ der Entente aufsprengte, war ein mächtiger Faktor für die Gewissheit, moralisch im Recht zu sein. Weiters wurde im Rekurs auf einen angeblich historischen Auftrag, den Deutschland erfüllen müsse, die propagierten Kriegsziele als geschichtliche Mission vorgestellt, die aus einem alten Recht abgeleitet wurden. Expansionistische und rassistische Weltbilder konnten so populär und in den Kontext eines nationalen Existenzkampfes gestellt werden. Die Erweiterung von Lebensraum im Osten war dabei ein Topos, der in seiner rassistischen Komponente dem „Volk ohne Raum“ (Hans Grimm) einen Ausweg versprach. Bis November 1916 konnte Bethmann Hollweg ein Verbot über Debatten der Kriegsziele aufrechterhalten, um den inneren „Burgfrieden“ nicht zu stören. Denn längst wurden auch Stimmen laut, die einen Frieden ohne Annexionen und Ansprüche forderten. In Wirklichkeit wurde mit dem Verbot der öffentlichen Diskussion das Gegenteil erreicht. Die Diskussionen wurden heftiger und rückten die Reichsregierung ins „Zwielicht der Unaufrichtigkeit.“ 40 Bethmann Hollweg sah sich zwischen der konservativen Rechten und der wieder erstarkenden Linken in die Zange genommen. Insbesondere die 3. OHL unter Ludendorff und Hindenburg wollten den Sturz des Kanzlers, der ihnen zu „weich“ gegenüber den innenpolitischen Feinden (Sozialdemokraten, Linke) als auch dem Ausland (Verständigungsfrieden) war, herbeiführen. Am 13. Juli 1917 reichte Bethmann Hollweg schließlich sein Abschiedsgesuch ein. Ihm sollte für einige Monate Georg Michaelis nachfolgen, „die Null der Nullen“ (Gerhart Hauptmann), ein Mann, der sich „anders als sein Vorgänger, in erster Linie als Erfüllungsgehilfe der Obersten Heeresleitung“ 41 verstand. Aber auch unter dem neuen Reichskanzler blieb das Septemberprogramm mit jeweils auf die Kriegssituation gemünzten Abwandlungen, so Fritz Fischer, Richtlinie der offiziellen Politik. In der neueren Forschung wird dieses Programm aber wesentlich weniger verbindlich betrachtet, als das Fischer noch in seinem 1961 erschienenen Buch behauptet. Die meisten Kommentatoren sind sich ___________________ 40 41
Ullrich 2004, S. 426. Ebd., S. 529.
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einig, dass das Septemberprogramm einen mehr provisorischen Charakter hatte: „In Wirklichkeit hatte dieses ‚Septemberprogramm‘ keinerlei endgültigen Charakter; es handelt sich um einen Gelegenheitstext, der verfasst wurde, bevor noch die Reichsführung erkannt hatte, dass die am 6. September begonnene Marneschlacht zu einer deutschen Niederlage führen würde. Sehr rasch sollte Bethmann Hollweg seine ehrgeizigen Ziele zurückschrauben. […] Vor allem aber wollte der Reichskanzler mit diesem Dokument kein territoriales Programm im eigentlichen Sinne aufstellen. […] Tatsächlich ist der Kern des ‚Septemberprogramms‘ denn auch wirtschaftlicher und nicht territorialer Natur.“42
Fischer vertritt in seinem Buch Griff nach der Weltmacht im Gegensatz dazu eine intentionalistische Position: Die Reichsleitung hat für ihn den Krieg mit Russland und Frankreich provoziert, um über die Erringung einer europäischen Hegemonie die lang ersehnte Weltmachtstellung zu erreichen. Dass die Hoffnung auf eine englische Neutralität sich nicht erfüllte, war schließlich ausschlaggebend für die katastrophale Niederlage, ändert aber nichts an den weltpolitischen Absichten des Krieges. Eine Gruppe von Historikern, v.a. Wolfgang J. Mommsen und HansUlrich Wehler, vertreten dagegen einen „Primat der Innenpolitik“. Für sie war der Krieg ein Effekt der innenpolitischen Krise des Kaiserreiches, mit dem die wilhelminischen Eliten verzweifelt versuchten, ihre privilegierte Stellung innerhalb des Staates zu sichern. Die deutsche Politik im Juli 1914 war gewissermaßen ein „Sprung nach vorn“, eine aggressive Wendung nach Außen, um die verfahrene Situation im Reich quasi exterritorial zu lösen.43 Schließlich macht eine weitere Gruppe von Interpreten, wie etwa Andreas Hillgruber oder Egmont Zechlin, die zunehmende strategische Defensive des Kaiserreiches für den Kriegsausbruch verantwortlich. Aufgrund der verfehlten Bündnispolitik und einer Verschlechterung der geopolitischen Lage habe das deutsche Reich eine Handlungsoffensive gesucht. Dass der Krieg nicht lokalisierbar blieb, war zwar als Risiko eingeplant, lag aber außerhalb der intentionalen Absicht. Das Prinzip des „kalkulierten Risikos“ scheiterte an den weltpolitischen Bedingungen, insbesondere an der Furcht Englands vor einer deutschen Hegemonie in Kontinentaleuropa.44 Allgemein lässt sich festhalten, dass von einer durchdachten und gelenkten Politik in der wilhelminischen Ära nur sehr schwer gesprochen ___________________ 42 43 44
Soutou 1997, S. 29. Mit dem wirtschaftlichen Kernpunkt ist die Zollunion Mitteleuropas gemeint. Exemplarisch dafür Mommsen (1995) bzw. Wehler (1995). Vgl. dazu Hillgruber (1979) und Zechlin (1979).
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werden kann. Sprunghaft und operettenhaft wie der Kaiser, von Augenblickseingebungen geleitet und in manisch-depressiven Phasen gefangen, war auch die Politik des deutschen Reiches. Die Theatralik ersetzte allzu oft politisches Handeln. „Kein fest umrissenes Eroberungsprogramm trieb diese Politik an, auch nicht eine exzessiv übersteigerte sozialimperialistische Krisenstrategie, sondern ein merkwürdiges Gemisch aus übertriebenen Befürchtungen, irrationalen Erwartungen und dilettantischen Fehlrechnungen.“ 45 Joachim Radkau verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass gerade die fehlende Linie der deutschen Außenpolitik vor 1914 den Eindruck einer vollkommen unberechenbaren Macht hinterließ. „Nicht das Vorhandensein einer deutschen imperialen Planung vor 1914, sondern die unkoordinierte Zieldiffusion war der Grund, weshalb sich das Deutsche Reich mit allen anderen großen Mächten verfeindete.“ 46 Diese Auffassung vertritt auch Karl-Dietrich Bracher, der gerade in der Richtungslosigkeit der deutschen Außenpolitik die verhängnisvolle Seite des Kaiserreichs sieht. „Der kontinental-politische Drang der großagrarischen Junker musste die russischen, der kolonialpolitische Drang der Großindustriellen die englischen Interessen treffen. Dass beides gleichzeitig betrieben wurde, weil die verschiedenen Richtungen nicht in eine abgewogene Außenpolitik gebändigt werden konnten, hatte jene ‚Außenpolitik‘ des ‚Sowohl-als-Auch‘ zur Folge, die dem wilhelminischen Reich schließlich die viel beklagte ‚Welt von Feinden‘ bescherte und die wilden Expansionsträume der Kriegszeit begünstigten.“47
Für die Motivation der Soldaten spielten territoriale Eroberungen oder wirtschaftspolitische Überlegungen keine entscheidende Rolle. Die Frage nach der Kriegsbereitschaft der proletarischen und bäuerlichen Massen muss vielmehr in sozialpsychologischen und mentalen Faktoren gesucht werden. Das Versprechen von Sicherheit, Gleichberechtigung und Anerkennung gab dem Krieg eine existenzielle Dimension, die eine bessere Zukunft imaginierte: „Es war letztendlich nicht der eine oder andere Zugewinn an Territorien oder Ressourcen, der die Massen mobilisierte und später die Erinnerung an den
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Ullrich 2004, S. 255f. Der Kulturwissenschaftler Wolfgang Schivelbusch betont ebenfalls die Realitätsverdrängung der wilhelminischen Politik, die auch als „symbolische Inflation“ verstanden werden kann. „Gemeint ist die unter Wilhelm II. ins Theatralisch-Opernhafte auswuchernde Inszenierung von Reich und Nation, deren Suggestivkraft schließlich auf ihre Urheber zurückwirkte.“ (Schivelbusch 2003, S. 234) Radkau 2000, S. 309. Bracher 1993, S. 19f.
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Weltkrieg vergoldete, obwohl dieses Element im Diskurs der Herrschaftseliten im Mittelpunkt stand. Im populistischen Diskurs wurden derartige Kriegszielvorstellungen maßgeblich übersteigert, ohne dass sie auf irgendeinen konkreten Mehrgewinn abgehoben hätten – außer man stellt sich einen deutschen Siegfrieden über Europa und die halbe Welt vor, imaginiert sich die französische Sicherheit in alle Ewigkeit oder hält die irredentistischen Hoffnungen Italiens oder Griechenlands für ein irgendwie konkretes Kriegsziel. Hier ging es nicht um instrumentale Kriegführung, sondern um die Satisfaktion für Massenbedürfnisse nach umfassender Sicherheit und mehr noch um Anerkennung oder Selbstbestätigung.“48
Damit einher ging „die Abwendung von einer vorwiegend objektorientierten Kriegführung, die auf den Zugewinn von Territorien, Ressourcen und Bevölkerungen abzielt, zugunsten einer werte-orientierten Kriegführung, mit der die Konversion bzw. Zerstörung alternativer Weltund Gesellschaftsentwürfe und deren Produzenten verbunden ist. Dies verknüpft sich wiederum mit der normativen Aufladung der Kriegsziele, die manche Historiker als eine Rückkehr zum ius ad bellum, also zu einer Theorie und Praxis des ‚gerechten Krieges‘ verstehen.“49 Die spirituelle und existenzielle Dimension des Krieges zeigt sich beispielhaft am Fehlen einer Gesamtkonzeption des Krieges auf der Ebene der politischen und militärischen Führung. So waren etwa territoriale Überlegungen vor dem Krieg weit weniger maßgeblich als man annehmen könnte. „Noch bis zum September 1914 konnten weder Regierung noch Militärs konkrete Kriegsziele vorweisen, alles, was man hatte, war eine Strategie und eine Vision – die Vision einer Expansion Deutschlands in einem eher existenziellen als physischen Sinne.“50 Keine der europäischen Großmächte hatte 1914 eine klare Vorstellung territorialer Art, um derentwillen man den Krieg führen wollte. Erst nach Kriegsbeginn wurden – wie wir gesehen haben – zumeist maßlose Annexionswünsche formuliert, die sich in ihrer Radikalität zu übertreffen versuchten. Aber auch in ihnen kann man nicht eigentlich eine Haltung erkennen, die der realen Situation angemessen wäre, es sind mehr utopische Phantasien und manische Ausbrüche als klare räumliche und politische Vorstellungen, die sich in ihnen manifestieren. Bezogen auf die deutsche Situation spricht Ulrike Haß von der aus dieser irrealen Situation resultierenden Vernichtungsdynamik, die im Rekurs auf eine glorreiche Vergangenheit Deutschlands Zukunft imaginiert: ___________________ 48 49 50
Geyer 2004, S. 31. Ebd., S. 29 (Herv. im Orig.). Ekstein 1990., S. 143. Zum Fehlen eines klaren territorialen Programms bei Kriegsbeginn vgl. Mommsen (1998, Kapitel V).
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„Das undeutliche innenpolitische Motiv des Krieges – ‚Schmiedefeuer der Nation‘, ‚Reinigungsbad‘ – bezieht sich weniger auf ein konkretes Territorium, als dass es einem nicht näher bestimmten untergegangenen Reich gilt. Die imaginäre Komponente dieses Motivs macht es wie kein anderes geeignet, eine Folie für den in sich unbegrenzbaren Vernichtungshunger der Kriegsproduktion abzugeben. Das Motiv und die Vernichtungsproduktion sind gleichermaßen bodenlos. Die Doppelbewegung beider befördert eine ruinöse Beschleunigung der involvierten ‚Geschichtsmaterialien‘ (Körper, Maschinen). Deren Beschleunigung zielt aufs ‚Nirgendwohin‘, auf eine utopische Moderne jenseits des Infernos.“51
Aufgrund der Bezogenheit auf eine vergangene Ordnung die paradoxerweise als Zukunft erscheint, zeigt sich eine seltsame Verbindung: „auf der einen Seite ein moderner medial-technischer Verbund und eine moderne Verwaltung, die tendenziell alles umfasst und auf der anderen Seite der Komplex des Kriegeraristokratismus.“52 Diese gegen Ende der 20er Jahre politisch schließlich bedeutsame Gruppe sieht im Krieg von Anfang an weniger einen Kampf gegen den Feind oder ihre Aufgabe in der Verteidigung des eigenen Staatsgebietes, ihr bedeutet der Krieg mehr als der Zusammenprall von Nationen. Für sie treffen im großen Ringen zwei Prinzipien aufeinander, die vielleicht weniger in das Schema von Freund und Feind passen als vielmehr in das der Konfrontation zweier Zeitalter, das Gefühl in einer längst vergangenen Welt zu leben, die gewaltsam untergehen muss, damit das Neue endlich zum Durchbruch kommen kann. Der „Generationenkrieg“, der zugleich einen Krieg der Weltanschauungen darstellt, der die Ideen von 1914 mit denen von 1789 kontrastiert, wird von den soldatischen Autoren der Weimarer Republik mit dem Untergang des „Zeitalters der Väter“ und der bürgerlichen Ordnung verbunden. Die wichtigste Erkenntnis des Krieges ist der Anbruch einer neuen Zeit, deren Heraufkommen v.a. in den Destruktionskräften der industriellen Feldschlachten und der Veränderung der militärischen Logiken wahrgenommen wird (siehe Kapitel 4). Diese neue Zeit erfordert zugleich eine neue Konzeption des Soldaten, neue Formen der Verarbeitung und der Vorbereitung auf zukünftige Kriege. Das Verhältnis zwischen Militärischem und Zivilem, Krieg und Politik verändert sich in drastischer Weise. Die Verherrlichung der Gewalt in der Politik ist ein Ergebnis der heroisch-militärischen Kultur als „Jugendkultur“, die gegen die bürgerliche Gesellschaft und ihre verhassten Autoritäten antritt. ___________________ 51 52
Haß 1993, S. 79f. Ebd., S. 81.
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3 . 3 . Z e i tal te r k r i e g Als zahlenmäßig unbedeutende Gruppe gelingt der „konservativen Revolution“ und dem so genannten „Soldatischen Nationalismus“ in den späten 20er Jahren die Politisierung des Kriegserlebnisses.53 Es gilt ihnen als verwirklichte nationale Gemeinschaft und Ausgangspunkt der politischen und geistigen Erneuerung. Auch wenn es unmöglich erscheint, die unzähligen und in sich heterogenen Gruppen von rechtsgerichteten Bünden, Ringbewegungen, Verbänden, Stahlhelm, Reichsvisionären und rechten Publizisten, die Varianten des Neo-, Jungkonservatismus oder des Nationalbolschewismus auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen: Was sie innerlich verband, „war die Vision eines grundlegenden Neubaus von Staat und Gesellschaft in nationalem Sinne.“ 54 Darüber hinaus gibt es aber noch eine anderes Element, das sie vereinte: Das entscheidende Moment ihrer Gemeinsamkeit ist – neben der Erfahrung des Krieges – ein Generationenbewusstsein. Die wichtigsten Autoren, vorwiegend ehemalige Frontoffiziere, sind jung, zwischen 1890 und 1900 geboren: Ernst Jünger (1895), Friedrich Georg Jünger (1898), Werner Beumelburg (1899), Edwin Erich Dwinger (1898), Franz Schauwecker (1890). Es handelt sich bei ihren Kriegstagebüchern, Reflexionen und Romanen im besten Sinne um Jugendliteratur, geschrieben von jungen Männern, deren erstes bewusstes Erlebnis der Zusammenbruch einer Welt ist, mit der die gesamte geistige und soziale Grundlage des Abendlandes zerstört wird. In einem soziologischen Sinne handelt es sich bei den Protagonisten um eine Form der Jugendrevolte, ähnlich den Halbstarken der 50er Jahre oder den Hippies der 70er. Jugendbewegungen haben in Deutschland eine lange Tradition. Schon vor dem Weltkrieg kommt es zu „einem Aufstand der Jugend gegen die Welt der Väter, als welche der Wilhelminismus aufgefasst wird, gegen eine Welt des ___________________ 53
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Karl Prümm will, in Anlehnung an Armin Mohler (1972), den paradoxen Begriff der „Konservativen Revolution“ für alle Gruppierungen gelten lassen, die folgende Gemeinsamkeiten aufweisen: 1) ein Bekenntnis zur Irrationalität, eine strikte Ablehnung jeder Programmatik oder Organisation; 2) eine antiliberale und antidemokratische Haltung; 3) einen dynamischen Revolutionsbegriff, ausgelöst durch die Erfahrung der russischen Oktoberrevolution; 4) eine Trennung vom alten, patriotischen Nationalismus und 5) der Rückgriff auf das Kriegserlebnis als Einheitserfahrung (Prümm 1974, S. 6f.). Für den Soldatischen Nationalismus ist v.a. der letzte Punkt entscheidend. Kritisch zum Begriff der konservativen Revolution vgl. Breuer (1993) oder Werth (1996). Mommsen 2001, S. 54.
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Scheins und der Künstlichkeit, welche alles Lebendige zu ersticken droht.“55 Die bekannteste Jugendbewegung vor dem Krieg ist der Wandervogel, 1901 offiziell gegründet. Seine Anhänger ziehen hinaus in die „natürlichen“ Landschaften und versuchen sich der Autorität der Erwachsenen auf der Suche nach den „wahren und inneren Werten“ zu entziehen. Die Forderung nach einer Autonomie der Jugend gegenüber der Welt der Erwachsenen zeigt deutlich das Bewusstsein einer Generationendifferenz. Die Jugendkultur der Vorkriegszeit versteht sich selbst als die Hoffnung auf eine neue Welt, die den Werten der alten diametral entgegensteht. „Unter dem Einfluss von Zivilisationskritik und Lebensreform setzte sich hier die Vorstellung eines ‚Aufbruchs‘ der jungen Generation zur Schaffung einer neuen Gesellschaft durch, die an die Stelle des Kampfes der Interessen und der materiellen Wertorientierung eine Grundübereinstimmung des Lebensgefühls und eine von idealistischen Werten geprägte Gemeinschaft setzte.“56
Der Krieg wird schließlich eine ganze Generation der Wandervögel und verwandter Gruppen vernichten oder als Verwandelte zurückkehren lassen. Diese Überlebenden verstehen sich als Frontgeneration, die sich schon allein über ihre Erfahrungen des Krieges von allen anderen abheben. Die Frontjahrgänge „waren die Generation, in der der Mythos Jugend politisch mobilisiert wurde. Angehörige der 1890er Alterskohorten identifizierten sich mit den Ideen Möller van den Brucks, verhalfen ihnen nach dem Krieg zu großer Verbreitung. Sie teilten das Bewusstsein des Außenseitertums, der Entwurzelung und Entfremdung von den Traditionen des 19. Jahrhunderts.“ 57 Die verhasste Generation ___________________ 55
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Mohler 1972, S. 31. In der spätwilhelminischen Phase finden wir auch erste Versuche der etablierten Parteien, die jüngere Generation zu erreichen. So werden etwa politische Jugendverbände gegründet, von denen allein der Jungdeutschlandbund bei Ausbruch des Krieges rund 750.000 Mitglieder zählt. (Vgl. Mommsen 2001; S. 61f.) Seine Aufgabe bestand explizit in der Stärkung der Wehrkraft. Mommsen 2001, S. 63. Stambolis 2003, S. 197. Barbara Stambolis 1982 fertig gestellte Dissertation zeigt vielleicht am genauesten wie in der Weimarer Republik „Jugendlichkeit“ ins Zentrum messianischer Heilserwartungen rückte und wie mit dem Mythos Jugend Politik gemacht wurde. Und das gilt nicht nur für die rechten Kräfte, sondern auch für die Sozialdemokratie. Für Stambolis (Ebd., S. 10) war die Zuspitzung des Generationenkonflikts ein entscheidender Ausgangspunkt für den Zusammenbruch der Weimarer Republik. Dieser Konflikt „trug erheblich zur Delegitimierung der bestehenden politischen Institutionen und Parteien und auch zur Zurück-
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der Väter sind dabei nicht nur die bürgerlichen Honoratioren und der monarchische Pomp, sondern auch die Etappenoffiziere und Schreibtischstrategen, die vom tatsächlichen Krieg an der Front keine Ahnung haben, einem Krieg der – trotz der Monotonie der Schützengräben – als Ausbruch aus der bürgerlichen Saturiertheit imaginiert wird. Die von ihnen erfahrene Wirklichkeit des Maschinenkrieges hatte mit den Idealen der Ideologen von 1914 wenig zu tun. Die einseitige Heroisierung des Kriegserlebnisses Ende der 20er Jahre ist eine spätere Erscheinung und entsprach kurz nach Kriegsende nicht den ernüchternden Erfahrungen der Soldaten aus den Schützengräben. Der Grundausdruck des bürgerlichen Lebens, dem aber die Intensität des Kriegserlebnisses entgegengestellt wird, ist der der Langeweile. Niemand hat das klarer ausgedrückt als Franz Schauwecker in seinen 1926 erschienenen Erinnerungen Der feurige Weg: „Früher gingen wir mit dem Gedanken und waren erlebnislos. Unerlebter Gedanke, der gelernt wird, das ist Theorie. Und das Erlebnis, mit dem sich viele behalfen war trüber Ersatz: Mensur, Liebeleien, die sich verstecken mussten, Flirt, der übers Tennisnetz verspielt wurde, kleine Wanderungen in absichtlich lässiger Kleidung, Saufabende, Prahlereien, Aufbauschungen, Witz, Ehrgeiz nach der ersten Rolle auf philiströsen Gesellschaften und Dilettantenbühnen, Hurra aus Sitte und Übung. Nun fangen wir von vorn an. Wir beginnen mit den Grundlagen des Lebens.“58
Das, was sich schon vor dem Krieg ankündigte, die Sehnsucht nach einer „Ganzheit“ (auch des Einzelnen) und einem ursprünglichen Erleben, wird nun in den Augen einer radikalisierten Frontgeneration mit zeitlichem Abstand zum Kriege zur ersehnten Wirklichkeit. Das Zurückgeworfensein auf einen letzten Ausgangspunkt, auf einen innersten Kern, auf eine unzerstörbare Substanz des Lebens lässt alte Trennungen wie Geist und Materie, Ich und Welt obsolet werden. Im Krieg könne der Krieger auf das zurückgreifen, was von der äußeren Zerstörung nicht erreicht wird. „Die wertvollste Erkenntnis, die aus der Schule des Krieges davongetragen wird, ist die, dass das Leben in seinem innersten Kerne unzerstörbar ist.“59 In dieser Unzerstörbarkeit und der Reduktion auf das innerste Prinzip des Lebens wird der Neubeginn phantasiert. Die Zeit, die nun folgen ___________________
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drängung eines pragmatischen Politikverständnisses und der Popularisierung des politischen Irrationalismus bei, mit dessen Hilfe die Nationalsozialisten nach 1929 ihre Erfolge errangen.“ Schauwecker 1926, S. 20 (Herv. A. M.). Jünger 1930c, S. 3.
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wird, wird sich gänzlich von der vorherigen unterscheiden. Abstrahiert vom Erleben des Einzelnen zeigt der Krieg den Beginn eines neuen Zeitalters, das endgültig die Ideen von 1789 in die Annalen der Geschichte verweist. Der Kriegsausbruch und das Augusterlebnis werden schon früh als deutsche Revolution gefeiert, die den endgültigen „Sieg“ der deutschen Tugenden bedeutet: „Seit 1789 hat es in der Welt keine solche Revolution gegeben, wie die deutsche Revolution von 1914. […] Und man darf behaupten, dass die ‚Ideen von 1914‘, die Ideen der deutschen Organisation zu einem so nachhaltigen Siegeszug über die Welt bestimmt sind, wie die ‚Ideen von 1789‘.“60 Mit dieser Auffassung steht der Soziologe und Nationalökonom Johann Plenge nicht allein. Der germanophile schwedische Staatsrechtler Rudolf Kjellen, der den Begriff der Ideen von 1914 als erster geprägt hatte, schreibt im selben Sinne in seinen weltgeschichtlichen Betrachtungen: „Eine große Umkehr erwartet jetzt die Gegenwart, eine Umkehr von den Ideen von 1789 zu dem neuen Stern von 1914, dem kalten, aber hellen Stern der Pflicht, der Ordnung, der Gerechtigkeit.“61 Nicht nur fanatische Nationalisten und konservative Professoren waren der Meinung dass mit dem August 1914 eine „Zeitenwende“ ihren Ausgang nahm. Parteienzwist, Klassenkampf, kleinliche Streitereien und die falsch verstandenen Werte der französischen Revolution (Demokratie, Gleichheit), all das war nun zu Ende. Das „Zeitalter des Deutschen“ sollte jetzt beginnen: „Vielfach wurde der Kriegsbeginn als Untergang der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts und als Auftakt einer neuen, von Deutschland bestimmten Epoche der Weltgeschichte gefeiert.“62 Der bekannte Historiker Friedrich Meineke sprach in diesem Zusammenhang von einer „neuen geschichtlichen Epoche“ die mit dem 1. August 1914 beginnt. Für diejenigen, die, anders als die konservative Professorenschaft, in den Materialschlachten der Westfront das „neue Zeitalter“ von seiner destruktiven Seite kennen lernten, blieb der Aspekt der Zerstörung einer alten Zeit das prägende Erlebnis. Hier, auf den Schlachtfeldern vor Verdun oder an der Somme, zerschellten alle Werte und Überzeugungen der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts an einer „technischen Moderne“, die sich in den tödlichen Wirkungen der Artillerie, der Flugzeuge und Tanks erstmals zeigte. Das neue Zeitalter zeigte sich zunächst als ein Moloch der Vernichtung. Sein Prinzip lautete Zerstörung und Tod. Der Erste Weltkrieg war für die Mehrzahl der später darüber schreibenden Frontsoldaten daher – neben der viel beschworenen ___________________ 60 61 62
Plenge 1915, S. 173f. Kjellen 1915, S.46. Kruse 1991, S. 85.
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Auseinandersetzung: Mensch gegen Material – mehr der Kampf zweier Zeitalter als der zwischen verschiedenen Nationen. So kommt etwa Friedrich Georg Jünger in der von seinem bekannteren Bruder Ernst herausgegebenen Anthologie Krieg und Krieger zu dem Schluss, dass dieser Krieg den „Salut über dem Grabe des 19. Jahrhunderts schießt und das zwanzigste breit eröffnete.“63 Die Katastrophe des Ersten Weltkriegs, mit der das 20. Jahrhundert eigentlich erst anhebt, beginnt so mit der Zerstörung der Werte und Normen der bürgerlichen Zivilisation des 19. Jahrhunderts. Mit ihr verschwinden nicht nur alte gesellschaftliche Ordnungen und transnationale Reiche, auch Europa verliert seine dominierende Stellung in der Welt. Mit Ende des Weltkrieges werden die USA zur einzigen hegemonialen Macht, deren wahre Dominanz sich allerdings durch den amerikanischen Isolationismus der Zwischenkriegszeit noch nicht deutlich zeigt. Für den englischen Historiker Eric Hobsbawm, den Chronisten des 20. Jahrhunderts, war der Erste Weltkrieg die grausame Initiation in ein neues Zeitalter und der Untergang eines alten: „Das großartige Bauwerk der Zivilisation des 19. Jahrhunderts brach in den Flammen des Weltkriegs zusammen, als seine Säulen einstürzten.“64 Für Hobsbawm folgte der Kriegsausbruch aber keinem historischen Determinismus. Der Zusammenbruch der Welt des 19. Jahrhunderts geschah nicht zwangsläufig. Zwar gab es vor 1914 genügend Anzeichen für den Beginn einer europäischen Katastrophe, doch hätte bei entsprechender politischer Einsicht und Verhandlungsbereitschaft das scheinbar Unvermeidliche nicht eintreten müssen. Dennoch gab es ab einem bestimmten Punkt kaum ein Zurück mehr: „Der Weltkrieg war keinesfalls das direkte Resultat eines deutschen ‚Griffs nach der Weltmacht‘ oder des Konkurrenzkampfes der europäischen Imperialismen. Er war ausgelöst worden durch einen schon lange schwelenden Konflikt innerhalb des europäischen Mächtesystems; allerdings standen die weltpolitischen Gegensätze dabei als verschärfende Faktoren im Hintergrund. Nachdem es einmal zum Krieg gekommen war, brachen sich die nationalistischen und imperialistischen Energien der Völker in wilder Eruption Bahn. So steigerte sich der Krieg von Anfang an in ein gnadenloses Ringen, das nur die völlige Niederwerfung des Gegners als legitimes Ziel gelten ließ.“65
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Jünger, F. G. 1930, S. 56. Hobsbawm 1995, S. 38. Ernst Jünger schreibt analog dazu in dem 1929 erstmals erschienen Aufsatz Das abenteuerliche Herz, im Ersten Weltkrieg habe sich das „19. Jahrhundert an den Flammen des 20. verbrannt.“ Mommsen 1998, S. 301.
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Für eine streng deterministische Auffassung der Geschichte stehen die revolutionären und zugleich nationalistischen Autoren der späten Weimarer Republik. Für sie war der Krieg unvermeidlich und er wurde begrüßt, weil die alte, von ihnen verhasste Ordnung längst überfällig war. Selbst die Niederlage im Herbst 1918 kann daran nichts ändern, ja aus ihr wird geradezu der zukünftige Sieg abgeleitet. Das wilhelminische Reich verdient den Untergang, daran gibt es, auf Seiten der extremen Rechten, keinen Zweifel. In apokalyptischer Absicht, mit einer offensichtlichen Lust an der Zerstörung bringt Friedrich Georg Jünger diese Ansicht 1930 exemplarisch auf den Punkt: „Reif für die Vernichtung! Nicht nur die Leiber waren es, die von den Granaten zerrissen, nicht nur die Städte, die von ihnen zerschlagen und verbrannt wurden. Nicht nur die Throne waren es, die umgeweht wurden, die Kronen, deren Gold erlosch, Hierarchien und Systeme, Ordnungen des Lebens und Denkens brannte der flammende Scheiterhaufen zu Flocken und Asche.“66
Zur Einsicht, das ein neues Zeitalter herangebrochen war, mit den Attributen Technik, Gewalt und Tod, kam auch Ernst Jünger in seiner Weltkriegserzählung Feuer und Blut. Ihm dient die Destruktionsenergie der industriellen Feldschlacht als erkenntnisleitende Instanz. „Wir haben in den tödlich funkelnden Spiegeln der Materialschlacht den Zusammenbruch eines hoffnungslos verlorenen Zeitalters geschaut.“67 Interessanterweise hat der 1944 von der Gestapo ermordete französische Historiker Marc Bloch in seinem Versuch, die französische Niederlage 1940 zu erklären, genau dieses Argument der Zeit benutzt. Den Nationalsozialismus definiert er in diesem Sinne als eine neue Dimension der Zeitlichkeit: „Die Deutschen haben einen Krieg von heute geführt, im Zeichen der Geschwindigkeit. Wir dagegen haben nicht nur versucht, einen Krieg von gestern zu führen, sondern waren auch unfähig oder nicht willens, den Rhythmus der deutschen Kriegführung, der dem rascheren Wellenschlag einer neuen Ära folgte, überhaupt zu begreifen. So standen sich in Wirklichkeit zwei Gegner auf unseren Schlachtfeldern gegenüber, die jeweils einem anderen Zeitalter angehörten.“68
Die von Bloch für den Zweiten Weltkrieg formulierte Auffassung findet sich in fast stereotyper Weise in den allermeisten Reflexionen über den ___________________ 66 67 68
Jünger, F. G. 1930, S. 60f. Jünger 1925b, S. 451. Bloch 1995, S. 82; Herv. A.M.
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Ersten Weltkrieg. Für die soldatische Literatur der späten 20er Jahre gilt der Konsens, dass auf den Schlachtfeldern in Flandern, in der Champagne oder vor Verdun zwei Zeitalter aufeinander prallten. Es sind so weniger der Feind oder nationale Ressentiments, die im Mittelpunkt der soldatischen Reflexionen stehen, im Gegenteil: die „andere Seite“ wird als mit demselben Schicksal Getroffene wahrgenommen. Fraternisierungen über die Schützengräben hinweg waren so – trotz der Androhung strenger Strafen – vor allem zu Kriegsbeginn eine häufig zu beobachtende Verhaltensweise der Frontsoldaten. Insbesondere Weihnachten 1914 kam es zu massenhaften Verbrüderungsszenen zwischen Engländern, Franzosen und Deutschen.69 Hannah Arendt hat in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass der Erste Weltkrieg, bei aller patriotischen Stimmung, auch ein antinationales Element enthielt: „Bereits der Erste Weltkrieg hat paradoxerweise die echten Nationalgefühle in Europa fast ausgelöscht; in der Zeit zwischen den beiden Kriegen war es von sehr viel größerer Bedeutung, zu den Generationen der Schützengräben auf ganz gleich welcher Seite gehört zu haben, als ein Deutscher oder Franzose zu sein.“70 Hitler hat in seiner Propaganda dann auch stets an die Gefühle der Frontgeneration appelliert, Anrufungen, die über nationale Beschränkungen hinausgingen: „Die Nazis haben ihre ganze europäische Propaganda um diese ‚Schicksalsgemeinschaft‘ zentriert und mit ihr die Sympathien einer sehr großen Anzahl von Kriegsverbänden in allen europäischen Ländern gewonnen – womit sie deutlichst bewiesen, wie belanglos nationale Schlagworte selbst in den Reihen der so genannten Rechten in Europa geworden waren, wo sie zwar weiter benutzt wurden um ihrer gewalttätigen Assoziationen willen, aber nicht wegen ihres spezifisch nationalen Inhalts.“71
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Zu den Verbrüderungsszenen in den Schützengräben Weihnachten 1914 siehe: Ekstein 1990, S. 150ff. Die aktuellste Studie zu den Fraternisierungen mit dem Titel Der kleine Frieden im Großen Krieg stammt von Michael Jürgs (2005). Man lese auch Ernst Jüngers Schilderung der Begebenheiten Weihnachten 1914 in Der Kampf als inneres Erlebnis (1922, S. 49f.). Dass der Gegner nicht unbedingt als persönlicher Feind betrachtet wurde, belegt auch folgende Stelle aus In Stahlgewittern: „Ich war im Kriege immer bestrebt, den Gegner ohne Hass zu betrachten und ihn als Mann seinem Mute entsprechend zu schätzen. Ich bemühte mich, ihn im Kampf aufzusuchen, um ihn zu töten, und erwartete auch von ihm nichts anderes. Niemals aber habe ich niedrig von ihm gedacht.“ (Jünger 1920a, S. 65). Offensichtlich spricht sich hier der Wunsch aus, dieselbe Achtung von Seiten des Gegners zu erhalten. Arendt 1991, S. 532. Ebd.
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Dass nationalistische Differenzen nicht den Kern der Konfrontation bildeten, spricht auch Ernst Jünger 1932 im Rückblick deutlich aus. „Im Mittelpunkte der Auseinandersetzung steht nicht etwa die Verschiedenartigkeit der Nationen, sondern die Verschiedenartigkeit zweier Zeitalter, von denen ein werdendes ein untergehendes verschlingt.“ 72 Bereits hundert Seiten zuvor kam er in seiner geschichtsphilosophischen Abhandlung Der Arbeiter auf die „Zeitalterfront“ (Ulrike Haß) zu sprechen: „Der Weltkrieg wurde nicht nur zwischen zwei Gruppen von Nationen, sondern auch zwischen zwei Zeitaltern ausgetragen, und in diesem Sinne gibt es sowohl Sieger als Besiegte bei uns zuland.“73 Natürlich muss diese Auffassung als eine Möglichkeit der Verarbeitung der militärischen Niederlage gelesen werden, die gewissermaßen als objektive Realität keine Rolle für eine Interpretation der Ereignisse spielt. Auch der „Verlierer“ konnte als „Sieger“ hervorgehen, wenn er nur das neue Zeitalter in seinen modernen Dimensionen bejahte. In dieser bedingungslosen Affirmation des „Neuen“ steckt neben einer nihilistischen Revolte und einer Apotheose der Technik ein „Vater-SohnKonflikt“ der weitreichende historische Wirkungen haben sollte. Der Kulturwissenschaftler Wolfgang Schivelbusch stellt in diesem Sinne die Verbindung zwischen der jugendlichen Frontgeneration und den nationalsozialistischen Mythen einer siegreichen Übernahme der Nation durch die kämpfende Front her. Im Kampf der Generationen siegt 1933 die Jugend über die dekadenten Väter der Niederlage: „Der in den Siegernationen des Ersten Weltkrieges geprägte Begriff der Lost Generation gilt weit über seine ursprünglich literarische Bedeutung hinaus. Sein ganz anders geartetes Pendant auf der Verliererseite war die FrontGeneration. Auch sie kehrte zwar in eine weiterhin väterbestimmte Gesellschaft zurück, doch waren es gedemütigte Exautoritäten. […] Es war für die Söhne eine ‚vaterlose Gesellschaft‘, in der Väter nur als Verlierer und Gegenstand der Verachtung vorkamen. […] Das Zentralbild der faschistischen und nationalsozialistischen Mythologie, der lange Marsch der Front an die Macht in der Heimat, war im Verständnis derer, die ihn unternahmen, nichts anderes als die endgültige Verjagung der Verliererväter durch die Kriegerjugend.“74
Die Vorstellung, dass der aktive Teil der Frontgeneration gemeinsam mit der Nachkriegsgeneration eine „Dritte Front“ errichten würde, war nicht auf den Nationalsozialismus beschränkt. Aber es handelte sich für die konservativen Revolutionäre dabei mehr um eine „geistige Revolution“, ___________________ 72 73 74
Jünger 1932, S. 157. Ebd., S. 57. Schivelbusch 2003, S. 362f., Fn. 32.
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was die entscheidende Differenz zum Nationalsozialismus bezeichnet, denn letzterer nahm gleichzeitig den Jugendmythos in Anspruch und verband seine Dynamik mit einer strengen Organisationsform. Die Enttäuschung der Frontgeneration über die Verhältnisse der Nachkriegszeit und ihre Ausstrahlung auf die nachwachsende Generation wurde spätestens Ende der 20er Jahre zu einer explosiven Mischung. „Schon die Generation der zurückkehrenden Kriegsteilnehmer hatte nicht wirklich integriert werden können. Ihre durch das Kriegserlebnis gespeisten Erwartungen waren gründlich getäuscht; sie fühlten sich gutenteils als ‚verlorene Generation‘, der wirkliche Gestaltung versagt blieb. Die Nachkriegsgeneration, die zum eigentlichen Träger des nun romantisch und nationalistisch überhöhten Frontkämpfermythos wurde, trat seit 1928 aus ihrer politischen Abseitsstellung heraus, war aber – mit wenigen Ausnahmen – nicht bereit, sich mit der Republik zu identifizieren.“75
Der Krieg und sein Versprechen auf nationale Einheit waren folglich für eine immer stärker anwachsende Gruppe mit der Kapitulation im November 1918 nicht zu Ende. Seinen Abschluss fand er nach dieser Lesart erst mit dem 30. Januar 1933, einem Datum, das in einigen Aspekten mit dem Ereignis des 1. August 1914 verglichen werden kann. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten war in dieser Logik nichts anderes als „the promise of 1914 fulfilled.“76
3 . 4 . S i n n k o n s tr u k ti o n e n Die Wandlung im Kriegserlebnis – von der Begeisterung im August 1914 hin zur Ernüchterung nach den ersten verheerenden Schlachten des Industriezeitalters – steht zweifellos im Mittelpunkt der Reflexionen über den Ersten Weltkrieg. Waren davor die großen strategischen und taktischen Bewegungen, die Schlachtpläne und Angriffsszenarien Gegenstand der militärischen Literatur seitens einiger hoher Generalstabs___________________ 75
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Mommsen 2001, S. 67. Zum Verhältnis von Frontkämpfer und nachwachsender Generation vgl. Kapitel 7.4. Es ist auf jeden Fall schwer zu beantworten, wann genau die Front als Vorstellung einer idealen Gemeinschaft für größere Teile der Gesellschaft politisch sinnstiftend wurde. Aber die Sehnsucht, aus der zerrissenen Lage der Republik zu entkommen, war wahrscheinlich stärker als die Angst vor einer autoritären Führung in einer Volksgemeinschaft. Schivelbusch 2003, S. 445, Fn. 143. Schivelbusch zitiert hier eine 1933 in London erschienene anonyme Schrift mit dem Titel „Why Nazi?“ Mehr zu der Gleichsetzung 1914/1933 in Kapitel 7.1. dieser Arbeit.
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offiziere, so markiert dieser Krieg den Beginn einer Erlebnisliteratur, in der dem Einzelnen und seinen Erfahrungen ein größerer Wahrheitsgehalt über den Krieg oder der Realität der modernen Schlacht zugesprochen wird als der übergeordneten Position der Stäbe. Die Militärgeschichte subjektiviert sich mit dem Ersten Weltkrieg gewissermaßen, folgt, in sozialwissenschaftlicher Terminologie, vermehrt der „Sprache von unten.“77 Insbesondere die wahrgenommene Differenz Front vs. Etappe, Kampftruppen vs. Kommandostab schufen ein Gefühl der Überlegenheit auf Seiten der ersteren, die sich näher an der Realität des Krieges und verraten von fernen Stabsentscheidungen fühlten. 78 Die Ohnmachtserfahrungen in den Schützengräben, pausenloses Artilleriefeuer, Gasangriffe, Schlamm, Dreck und Verwesung, verlustreiche und sinnlose Angriffsbefehle, „dies alles hat auf die Vorstellung vom Kriege und dem Kriegswesen stärker gewirkt als die generalstäblerische Auswertung der Kriegserfahrung. Hier reifte die Erkenntnis, dass die blutige Kraftprobe von 1914-1918 ein anderes Maß der Dinge gebar; daher ist das innere Erlebnis dieses Krieges, ist dieser geistige Prozess für das Verständnis der Militärgeschichte zwischen 1918 und 1939 von so außerordentlichem Rang geworden.“79
Das Erlebnis von 1914, die metaphysische Konnotation des Krieges mit Aufbruch und Erneuerung, wandelte sich im Laufe der Ereignisse, ___________________ 77
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In der Weltkriegsforschung ist die „Perspektive von unten“, die Fokussierung auf das „Kriegserlebnis“ und seine Verarbeitung spätestens ab den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts dominant geworden (Vgl. dazu exemplarisch Vondung 1980 oder Wette 1995; zusammenfassend: Krumeich 1996). Das erklärt auch das oftmals bezeugte Überlegenheitsgefühl Hitlers gegenüber seinem jahrelang geschulten Generalstab. Diese „Herren“, im Ersten Weltkrieg kilometerweit von der Front entfernt, wussten für ihn einfach nichts von der Wirklichkeit des modernen Krieges und bis zu einem gewissen Grade war das auch nicht falsch. Dabei sparte er auch nicht mit Polemik gegenüber seinen höchsten Offizieren. So entgegnete er etwa seinem kurz danach entlassenen Generalstabschef Franz Halder im Sommer 1942: „Was wollen Sie, Herr Halder, der Sie nur auch im Ersten Weltkrieg, auf demselben Drehschemel saßen, mir über die Truppe erzählen. Sie, der Sie nicht einmal das schwarze Verwundetenabzeichen tragen?“ (zit. in Engel 1974, S. 125) Es war eben die Nähe der Front, die Hitler als Meldegänger erlebt hatte, die ihn in seinen Augen von Männern wie Halder unterschied. Im Zweiten Weltkrieg hat Hitler dann selbst die von ihm kritisierte Rolle eingenommen, indem er alle negativen Meldungen schlechterdings zunehmend ignorierte. Allgemein zum Verhältnis Front und Stäbe vgl. Keegan (1991, S. 313). Hermann 1966, S. 330.
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insbesondere durch die großen Materialschlachten von 1916, in präzisere Erfahrungen. „Am Anfang des Krieges steht der rauschhafte Aufschwung der ersten Kriegswochen, an seinem Ende der jähe, von den meisten nicht erwartete Zusammenbruch. Dazwischen aber dehnen sich die nüchternen und gleichförmigen Jahre des zum Alltag gewordenen Krieges aus, und das Erlebnis dieser Jahre gräbt sich am tiefsten ein.“80 So wie der Bewegungskrieg nur eine kurze Phase an der Westfront bildete und maximal am östlichen Kriegsschauplatz noch eine größere Rolle spielt, ist der Alltag des Krieges nicht über große Entscheidungsschlachten, sondern über jahrelange öde Routine definiert, unterbrochen nur von Feuerüberfällen und Ausfällen in den Tod. Der Grabenkrieg erfordert ein gänzlich anderes, neuartiges Verhältnis des Soldaten zum Krieg. In der ununterbrochenen Dauerbereitschaft und dem Blick aus den Gräben auf das „Niemandsland“ jenseits des Stacheldrahtes einen „Sinn“ im Krieg zu finden war unendlich schwerer als in offensiven Schlachten mit Raumgewinnen und weiten Eroberungen. Der Graben bedeutete das Ende militärischer Kunst. Krieg zu führen und Soldat zu sein musste nun neu definiert werden.81 Da der Generalstab sowie die politische Führung nicht mehr vermitteln können, was der Krieg ist oder sein soll, wird seine Reduktion auf ein „inneres Erlebnis“ zur wichtigsten Sinnkonstruktion der soldatischen Autoren. Erscheint für sie der Krieg in apologetischer Manier als „Vater aller Dinge“, als Prinzip einer Neuordnung der Welt, so wurden natürlich nach Kriegsende auch Gegenstimmen laut. In der Beurteilung und Beschreibung der Realität des Maschinenkrieges waren sich zwar alle Autoren einig, beispielsweise unterscheidet sich Remarques Im Westen nichts Neues hier nicht wesentlich von Jüngers In Stahlgewittern, die Folgerungen könnten aber unterschiedlicher nicht sein. Da, wo Jünger, Soldan, Schramm oder Schauwecker, durchweg Offiziere und Freikorpsangehörige, nach einem inneren Sinn des Krieges suchen, steht er für die Antikriegsliteratur Ende der 20er Jahre nur noch als Symbol für die äußerste Sinnlosigkeit einer Welt, die keine positiven Werte mehr erzeugen kann. Angetreten mit dem Enthusiasmus und dem Schwung des August 1914, verändert der Alltag des Materialkrieges alle bisherigen Überzeugungen und Sinngehalte: ___________________ 80 81
Mohler 1972, S. 33. „Der Graben dagegen machte den Krieg zum Handwerk, die Krieger zu Tagelöhnern des Todes, von blutigem Alltag zerschliffen. […] Zu lyrischem Sinnen, zur Ehrfurcht vor der eigenen Größe hatte der Graben keinen Raum. Alles Feine wurde zermahlen und zerstampft.“ (Jünger 1922, S. 33)
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„Dreizehn Monate […] an der Front, die großen Empfindungen werden stumpf, die großen Worte klein, Krieg wird zum Alltag, Frontdienst zum Tagwerk, Helden werden Opfer, freiwillig Gekettete, das Leben ist eine Hölle, der Tod ist eine Bagatelle, wir alle sind Schrauben einer Maschine, die vorwärts sich wälzt, keiner weiß, warum, wir werden gelockert, gefeilt, angezogen, ausgewechselt, verworfen – der Sinn ist abhanden gekommen, was brannte, ist verschlackt, der Schmerz ausgelaugt, der Boden, aus dem Tat und Einsatz wuchsen, eine öde Wüste.“82
Auch Ernst Jünger, der wichtigste Repräsentant der soldatischen Literatur der Weimarer Republik, gesteht die offenkundige Sinnlosigkeit des Krieges ein, aber anders als der zitierte Ernst Toller kann er nicht damit aufhören, nach dem verborgenen Sinn, der tieferen Bedeutung dieses Krieges für die Zukunft zu suchen. In seinen Schriften Anfang der 20er Jahre findet er, jenseits nationalistischer Überzeugungen, die Lösung in der Betonung der Kampfmotivation. Politische und soziale Motive verlieren ihre Bedeutung zugunsten einer lebensphilosophischen Interpretation des Krieges als Ausbruch tiefer menschlicher Urkräfte und Triebe. In seinen 1922 erschienenen Fronterlebnissen mit dem programmatischen Titel Der Kampf als inneres Erlebnis wird die Richtung der Sinnsuche am deutlichsten ausgesprochen. In der Differenz von Bürger und Landsknecht (Soldat) werden zwei Erlebnisformen des Krieges einander gegenübergestellt. Der Bürger erscheint als Sklave des Krieges, da er nicht imstande ist, den Kampfhandlungen an der Front einen größeren inneren Wert abzugewinnen, eine gewissermaßen transzendentale Beziehung zum Kriege aufzubauen. Dem Bürger wird der Krieg stets etwas Äußerliches bleiben, nie wird er vollständig in seine „brodelnde Tiefe“ hinabsteigen können, um wie Phönix aus der Asche neugeboren an die Oberfläche aufzusteigen (vgl. Kapitel 6). In der Betonung des moralischen Faktors kommt Jünger zum Schluss, dass es in diesem Krieg zwar Männer gegeben, die zermalmt, aber nicht besiegt wurden. Letztlich sind Sieg oder Niederlage nur an einem inneren Zustand des Kämpfenden abzulesen: „Aber wer in diesem Krieg nur die Verneinung, nur das eigene Leiden und nicht die Bejahung, die höhere Bewegung ___________________ 82
Toller 1978, S. 72. Als Kriegsfreiwilliger 1914 eingerückt, waren Ernst Tollers Erfahrungen an der Front maßgeblich für seine Teilnahme an den revolutionären Aktionen im November 1918 in München verantwortlich. Als Vorsitzender des Revolutionären Zentralrates in der Ersten Räterepublik musste er vor regierungstreuen Truppen und konterrevolutionären Freikorps flüchten. Nach seiner Gefangennahme zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt, blieb er bis zu seiner Emigration 1933 in Deutschland. 1939 beging er Selbstmord in New York.
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empfand, der hat ihn als Sklave erlebt. Der hat kein inneres, sondern nur ein äußeres Erlebnis gehabt.“83 Der Weltkriegsmajor und Schriftleiter der Reihe Schlachten des Weltkrieges George Soldan hat in seiner 1925 veröffentlichten Studie Der Mensch und die Schlacht der Zukunft von einer einzigen großen Konfrontation gesprochen, die das Erlebnis und die Lehren des Krieges bestimme. Seine Fokussierung auf eine einzige fundamentale Auseinandersetzung steht exemplarisch für einen breiten Konsens innerhalb der militärischen Schriften über den Ersten Weltkrieg. Entscheidend ist, dass er, wie auch Jünger und andere, das subjektive Erlebnis in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt. Nur das eigene Erleben kann noch relevante Aufschlüsse über die Wirklichkeit der modernen Schlacht geben, die mit den „normalen Maßstäben“ der militärischen Analysen nicht mehr zu begreifen ist. Generalstabsaufzeichnungen und Schlachtendarstellungen amtlicher Kriegsbücher sind nicht mehr in der Lage, den Krieg zu beschreiben, geschweige denn seine innere Dynamik zu verstehen. In den Worten von Soldan: „Das Frontkämpfererlebnis wird zur Grundlage aller Weltkriegslehren. Als eisenharte These kündet der Satz die einschneidendste Wandlung, die der Weltkrieg der Kriegswissenschaft brachte. Frontkämpfererleben aber ist dieses: Das Ringen zwischen Mensch und Material.“84 In dieser Konfrontation wird das Drama eines ganzen Zeitalters ausgesprochen. Die idealistischen Überzeugungen, der Ethos der ritterlichen Kriegskunst, der Traum von individueller Bestätigung, alle diese im August 1914 noch vorhandenen Vorstellungen zerschellen an der Wirklichkeit des Material- und Erschöpfungskrieges. Das Erleben des Soldaten wird zum reinen Überleben. Neue psychische Haltungen sind notwendig, um die Realität des modernen Schlachtfeldes ertragen zu können. Der Einzelne muss nun in sich selbst eine Disziplin generieren, die die ständige Passivierung in den Schützengräben überdauert. In den großen Materialschlachten des Jahres 1916 (Verdun, Somme) werden endgültig die alten Träume von Heldentum und Begeisterung zermalmt. ___________________ 83
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Jünger 1922, S. 108; Herv. A.M. Dass Ernst Jünger in dieser Arbeit überproportional Raum gegeben wird, hängt nicht nur damit zusammen, dass er der wichtigste Vertreter einer heroischen Mentalität ist, die den Krieg in das Zentrum ihres Denkens stellt. Seine Kriegserzählungen und Essays der 20er und frühen 30er Jahre sind die vielleicht differenziertesten Betrachtungen der Rolle der Technik als dem gemeinsamen Moment der Kriegserfahrung. (Vgl. Rohkrämer 1997b) Die Überraschung und der Schock des technischen Zeitalters ist m.E. der entscheidende Nenner aller Reflexionen über den Ersten Weltkrieg, zumindest bezogen auf die Westfront. (Vgl. die folgenden Kapitel 4 und 5) Soldan 1925, S. 20. Herv. A. M.
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Das neue Zeitalter kündigt sich in der „Übermacht des Materials“ unerbittlich an: „Aber hier scheint der Seidenglanz der Fahnen zu verblassen, hier spricht ein bitterer und trockener Ernst, ein Marschtakt, der die Vorstellung von weiten Industriebezirken; Heeren von Maschinen, Arbeiterbataillonen und kühlen Machtmenschen erweckt. Hier spricht das Material seine eisenharte Sprache und der überlegene Intellekt, der sich des Materials bedient.“85
In den frühen 30er Jahren werden die Rolle der technischen Mittel und die Frage nach der Relevanz der Kriegserfahrungen für die zivile Gesellschaft auch zu Ernst Jüngers zentralen Themen. Er hält zunächst an der sinnfreien Zone des Krieges fest, den er als eine geheimnisvolle, fremden Gesetzen folgende Wirklichkeit beschreibt. Bei der Betrachtung der offenkundigen Übermacht der Maschine über den Menschen bleibt zunächst nur folgender Schluss: „Freier Wille, Bildung, Begeisterung und der Rausch der Todesverachtung reichen nicht zu, die Schwerkraft der wenigen hundert Meter zu überwinden, auf denen der Zauber des mechanischen Todes regiert.“ Wir beobachten „das Auftreten eines neuen furchtbaren Prinzips, das als Verneinung erscheint. Die Verlassenheit, in der sich hier das tragische Schicksal des Individuums vollzieht, ist das Sinnbild der Verlassenheit des Menschen in einer neuen, unerforschten Welt, deren stählernes Gesetz als sinnlos empfunden wird.“86 Die Technik als destruktive Kraft bedrohe – so seine These – auch die bürgerliche Gesellschaft, deren Ende Jünger herbeisehnt. Gerade der apokalyptische Zusammenbruch des deutschen Heeres im November 1918 ermögliche die Auferstehung einer neuen Ordnung. In seiner 1932 erschienenen Schrift Der Arbeiter wird Jünger schließlich den Versuch unternehmen, Technik und Subjekt in einer organischen Konstruktion zu verschmelzen. Dass eine Affirmation der Technik nicht unbedingt bedeutet, sie zu vergöttlichen und zum eigentlichen Subjekt des Krieges zu machen, hat Werner Schauwecker deutlich ausgesprochen. Die Technik muss vielmehr in einem instrumentellen Sinne „benutzt“ werden. Funktionalität war gefragt, nicht Apotheose. Zugleich betont Schauwecker auch die Notwendigkeit der Überwindung einer alten Ordnung: „Denn die Zeit ist nur wert vernichtet zu werden. Aber um sie zu vernichten, muss man sie genau kennen. Sonst erliegt man ihr. Man musste die Technik völlig sich unterwerfen, indem man sie bis ins letzte durchformte. Dann war sie ___________________ 85 86
Jünger 1922, S. 107. Ders. 1932, S. 109f.
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kein Problem mehr, sondern eine Selbstverständlichkeit, über die man nicht mehr staunte. Die Bewunderung des Apparates – das war das Gefährliche. Er verdiente keine Bewunderung, er musste nur benutzt werden. Mehr nicht.“87
In Gestalt der „Stahlnatur“, die Frontkämpfer in der vordersten Linie, fand der Soldatische Nationalismus die paradigmatische Figur für die zukünftige Entwicklung der technischen Welt. Die Erfahrungen der in den Materialschlachten überlebenden Soldaten unterschieden sich dabei fundamental von den idealistischen Überzeugungen und Hoffnungen der Kriegsfreiwilligen. Der Frontkämpfer näherte sich mehr und mehr dem Arbeiter der industriellen Welt an. Krieg mutierte zu planmäßiger Arbeit. Von Heroismus keine Spur. In der Amalgamierung von technischen Mitteln und menschlicher Natur sieht auch Ernst Jünger die einzige Möglichkeit, den neuen Anforderungen, die der Krieg an den Einzelnen stellt, gewachsen zu sein, „Anstrengungen, denen das besondere Merkmal der Zwecklosigkeit anhaftet.“ 88 Dieser – zugegeben seltsame – Schluss ergab sich für ihn unmittelbar aus den Erfahrungen der Übermacht der Technik gegenüber dem menschlichen Willen in den industriellen Feldschlachten des Krieges. Der Krieg wird so zum Sinnbild und Paradigma der neuen (wirtschaftlichen und zivilen) Ordnung und ihren „eisernen Gesetzen“. So wie der Frontsoldat sich der Logik der Maschinenwelt und den von ihr erzeugten technischen Imperativen anpassen muss, um nicht hilflos unterzugehen, verkörpere die Gestalt des Arbeiters die technische Logik schlechthin. Im Gegensatz dazu unterliege das Bürgertum der Gewalt der Technik, da es sie nur benutze, ohne aber ihre immanente Logik zu akzeptieren. Die Technik bleibt dem Bürger, so wie der Krieg, rein äußerlich und instrumentell. Der bürgerlich-kapitalistischen Vision, die Technik als Mittel zur Steigerung des Wohlstandes einzusetzen, erteilt Jünger eine definitive Absage. Nur der „Arbeiter“ sei ausschließlich an der Steigerung seiner Leistungsfähigkeit interessiert, der eigentlichen Essenz des technischen Zeitalters.89 So verschmelzen Frontkämpfer und Arbeiter miteinander und grenzen sich gegen den Bürger ab, der in der neuen Ordnung nur das Prinzip seines Unterganges sehen kann. Sein Verhältnis zum Krieg bleibt instrumentell, sein Erleben bleibt ein ___________________ 87 88 89
Schauwecker 1931, S. 55. Herv. A.M. Zu Ernst Jüngers Reflexionen zu Krieg und Technik, vgl. Rohkrämer 1997b. Jünger 1930b, S. 15. Robert Ley, der Führer der Deutschen Arbeitsfront, schrieb 1943 an seine „Arbeitersoldaten“: „Die Leistung ist unsere Ehre“, und sprach eine Seite später von der „nationalsozialistischen Leistungsgemeinschaft“ (Ley 1943, S. 27f.). „Kraft durch Freude“ und „Schönheit der Arbeit“ waren andere signifikante Schlagworte für die deutsche Arbeiterschaft.
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äußerliches. Der Bürger oder Zivilist kann niemals Krieger sein – deswegen die Verachtung seiner Werte und Normen.90 Die Konstruktion von Sinn erhält nach einer Phase der rein subjektiven Bewertung des Krieges eine Verknüpfung mit dem ersehnten Beginn eines neuen Zeitalters. Das soll nicht heißen, dass viele der Interpreten und Beteiligten des Krieges nicht zum Schluss kommen, dass der Krieg sinnlos war und sich die Mehrheit der Soldaten deshalb nach Kriegsende in eine Opfermentalität, in Pazifismus und in das Vergessen flüchtete. Die ernüchternden Erfahrungen der Schützengräben entsprachen keineswegs den 1914 propagierten idealistischen Phrasen der Front und des Krieges. Aber für die politisch schließlich wirksamsten Interpreten symbolisierte die sichtbare Übermacht der Maschine und der technischen Welt den Beginn einer neuen gesellschaftlichen Ordnung, deren Prinzipien sie im Fegefeuer der Front annähernd verwirklicht sahen. Der tiefste und innerste Sinn des Krieges ist für sie nicht eine idealistische Opferbereitschaft für Kaiser, Gott und Vaterland, der Sinn des Krieges lag in der kollektiven Öffnung hin auf eine zukünftige Ordnung, die mit den bürgerlichen Lebensformen nichts mehr gemein haben wird. Genau diese bürgerliche Ordnung galt es zu überwinden. Angesichts dieser Hoffnungen, v.a. zu Kriegsbeginn virulent, war der Zusammenbruch 1918 umso traumatischer, auch weil er für die meisten unerwartet kam. Bevor wir uns mit der großen Konfrontation Mensch/Wille gegen Material/Technik im nächsten Kapitel anhand der Erfahrungen der in den Krieg Geworfenen beschäftigen, will ich abschließend noch die politisch folgenreichste Figur der Verarbeitung des Erlebnisses der Niederlage thematisieren: den Dolchstoß.
3.5. Der Dolchstoß Im Sommer 1918 lag die französische Hauptstadt Paris noch in der Reichweite schwerer deutscher Artillerie. Knapp 100 Kilometer von ___________________ 90
Diese Verachtung bringt etwa Franz Schauwecker in seiner Definition des „wahren Nationalismus“ auf den Punkt: „Der Nationalismus, den wir ersehnen, wird vom Erlebnis des Krieges den radikalen Aktivismus und vom Erlebnis des Friedens das Geistige als Herzschlag und Gehirnimpuls in sich spüren, um zunächst einmal zu verlernen, bevor er zu lernen beginnt, um den Bürger, vor Angst und Kompromißgependel bleich wie sein Fett, dorthin zu befördern, wo seiner das Zuständige wartet, ins Alters- oder Invalidenheim, um dann dem Deutschen zu geben, was des Deutschen ist, damit er zu sich selbst und seiner Möglichkeit komme.“ (Schauwecker 1926, S. 232; Herv. A.M.)
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Paris entfernt, schien der ersehnte Durchbruch im jahrelangen Stellungskrieg greifbar nahe. Einige Monate später kapitulierte die deutsche Armee, immer noch tief in Feindesland stehend. Nicht nur die Plötzlichkeit der Niederlage, sondern auch die Tatsache, dass ein Land den Kampf aufgab, welches weit jenseits seiner Grenzen eine Frontlinie besaß, war ein militärisches Novum. Nachdem man 4 Jahre lang einer Übermacht an Menschen und Material standgehalten hatte, schienen die Nerven der militärischen Führung nun am Ende. Die beiden (fast) unumschränkten militärischen Diktatoren Deutschlands, Hindenburg und Ludendorff, forderten am 29. September in einer Sitzung des Kronrates die Aufnahme sofortiger Waffenstillstandsverhandlungen mit dem amerikanischen Präsidenten Wilson. Etwas, was sie bis dahin immer strikt abgelehnt, ja mit Defätismus gleichgesetzt hatten. In einem Bericht Ludendorffs über den Kronrat ist aber bereits der Schachzug angesprochen, der die politische Führung der Weimarer Republik von Anfang an desavouieren wird und die militärische Führung entlastete: „Ich habe aber S. M. [Seine Majestät, Wilhelm II.; A.M.] gebeten, jetzt auch diejenigen Kreise an die Regierung zu bringen, denen wir es in der Hauptsache zu verdanken haben, dass wir so weit gekommen sind. Wir werden also diese Herren jetzt in die Ministerien einziehen sehen. Die sollen nun den Frieden schließen, der jetzt geschlossen werden muss. Sie sollen die Suppe jetzt essen, die sie uns eingebrockt haben!“91
Damit ist der entscheidende Punkt der militärischen Niederlagenverarbeitung angesprochen: das Abwälzen der Verantwortung und Schuld auf die politischen Kräfte in Deutschland, insbesondere auf Sozialdemokratie und Revolution. Die Verhandlungen mit den Alliierten und das „Diktat von Versailles“ wurden so von Beginn an mit der Weimarer Republik gleichgesetzt, die mit dem Dolchstoß identifiziert wurde. Aber auch auf Seiten der Linken gab es eine Dolchstoßtheorie, die der militärischen und politischen Führung die Schuld an der Niederlage zuschrieb. Ihre Argumente wurden dabei oft in spiegelbildlicher Manier vorgebracht. Die Leugnung der militärischen Niederlage wird aber selbst von der neuen politischen Führung übernommen. So begrüßt etwa Friedrich Ebert am 18. Dezember 1918 am Brandenburger Tor die heimkehrenden Truppen mit den Worten: „Kein Feind hat euch überwunden. Erst als die Übermacht der Gegner an Menschen und Material immer drückender
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Zit. bei Petzold 1963, S. 32.
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wurde, haben wir den Kampf aufgegeben.“92 Noch bevor der Dolchstoß in den Rücken der kämpfenden Armee als bestimmende und verbindliche Version die Niederlage erklären musste, war es die Figur des „Im Felde unbesiegt“, die eine kollektive psychische Entlastung ermöglichte. Das Bewusstsein, selbst durchgehalten zu haben, führt allzu leicht dazu, die Schuld an der Niederlage den „anderen“ zuzuschreiben. Das gilt nicht allein für militärische Verbände der kämpfenden Truppe93, sondern noch vielmehr für das Verhältnis von Front und Heimat. Darüber hinaus zeigt die Rede von „Im Felde unbesiegt“, dass seine Protagonisten die Wirklichkeit des Materialkrieges nicht verstanden hatten, denn ihr liegt noch eine Vorstellung des Sieges zugrunde, die auf Einzelleistungen und nicht auf einem industriellen Kräftemessen ganzer Staatenallianzen beruht. So konnte man zwar einzelne Siege erringen, den Krieg als Ganzes aber trotzdem verlieren. Wolfgang Schivelbusch verweist zusätzlich auf die implizite Problematik der Figur des Unbesiegtseins: „Im Augenblick des Zusammenbruchs vermochte sie das nationale Selbstbewusstsein zwar zu stabilisieren, später jedoch, als das volle Ausmaß und die moralischen Implikationen der unheroischen Widerstandslosigkeit des Zusammenbruchs klar wurden, verlor sie nicht nur ihre Tragfähigkeit, sondern verursachte einen Rückstoß. Den Krieg ohne eine Entscheidungsschlacht verloren zu haben wurde nun nicht mehr als Zeichen heroischen Unbesiegtseins gesehen. Im Felde unbesiegt konnte allzu leicht umgedeutet werden in: ohne Kampf kapituliert.“94
Psychologisch betrachtet wäre es wahrscheinlich besser gewesen, eine „richtige militärische Niederlage“ zu erleiden, da dann die Bewältigung der Niederlage einfacher geworden wäre. Annelise Thimme schreibt in ihrem Buch Die Flucht in den Mythos: „Wenn der Besiegte gezwungen wird, die Tatsache der Niederlage anzuerkennen und zu realisieren, das heißt zu durchleben, nur dann ist er psychologisch frei, neu zu beginnen.“ 95 Die Kapitulation im Mai 1945 ist ein gutes Beispiel für ___________________ 92
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94 95
Zit. bei Hiller von Gaertringen 1963, S. 132. Der Kriegsminister Scheüch erklärte am selben Tag: „Mit dem Willen zum Sieg in den Krieg gezogen, kehrt Ihr, wenn wir auch von einer nie gesehenen Übermacht erdrückt wurden, doch als unbestrittene Sieger von der Walstatt zurück.“ (Ebd.) Ein für den Zweiten Weltkrieg typisches Beispiel dafür ist etwa die Auffassung, die italienischen und verbündeten Truppen wären schuld an der Niederlage in Stalingrad gewesen, da sie den Durchbruch der sowjetischen Streitkräfte und die Einschließung der 6. Armee ermöglichten. Schivelbusch 2003, S. 244 (Herv. im Orig.). Thimme 1969, S. 94. Man kann diese Auffassung als eine psychologisch umgedeutete Form des Phönix-aus-der-Asche-Motivs ansehen.
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diese These, da es angesichts der vollständigen Niederlage erst gar nicht zu einer Kontroverse über die Ursachen kam. Die Mythen rund um die Niederlagenverarbeitung erscheinen nicht nur als neurotische Gebilde, sondern als heilsame Schutzräume, in die man sich zurückziehen kann angesichts einer nicht zu ertragenden Realität. Im Felde unbesiegt ist – wie der Dolchstoß – eine solche Schutzformel, eine Formel für eine Selbsttröstung und vielleicht noch wichtiger: für eine Selbsterhöhung. Der Mythos dient also der Bestätigung der eigenen unbesiegten Position, er spendet Trost und gibt den Opfern einen Sinn. Das Attribut unbesiegt bezog sich dabei immer und ausschließlich auf das Heer, nicht auf das Reich als Ganzes. Nur im Falle eines an der Front unbesiegten Heeres ergab das Bild des Dolchstoßes einen Sinn: „Die Vorstellung, das deutsche Heer sei zum Zeitpunkt des Waffenstillstandes nicht oder jedenfalls nicht völlig besiegt gewesen, der Krieg hätte also fortgesetzt und – möglicherweise – zu besseren Konditionen beendet werden können, stellt den Ausgangspunkt der Dolchstoßvorstellung dar.“96 Der Empfang der heimkehrenden Truppen führte in der Folge zu paradoxen sprachlichen Konstruktionen, die versuchten, Kapitulation und Unbesiegtsein in Einklang zu bringen. Hier nur drei Beispiele aus zeitgenössischen Quellen: „Wir sind besiegt, obwohl nicht geschlagen“, „wir haben den Krieg verloren ohne besiegt zu sein“, oder sprachlich auf den Punkt gebracht: „Wir sind besiegte Sieger.“97 Symbolisch zeigte sich das Nichtanerkennen der Niederlage darin, dass sich die Rückkehr der Truppen nach Berlin „an der traditionellen preußischen porta triumphalis abspielte und sich äußerlich offenbar kaum von der Begrüßung der siegreichen Truppen der Kriege 1815, 1864, 1866 oder 1871 unterschied.“ 98 Das Brandenburger Tor war im Herbst 1918 genauso mit Siegesgirlanden geschmückt wie 1871. In den meisten Städten Deutschlands wurden die Soldaten als Sieger empfangen.99 Die offensichtliche Abwehr der Niederlage transferiert die entscheidende Frage der individuellen Bewältigung in den Bereich des Moralischen. „Im Felde unbesiegt“ hatte schnell zur Folge, dass es für die Beteiligten des Krieges nur noch um einen „inneren Sieg“ oder ein „inneres Besiegtsein“ gehen konnte, unabhängig von der objektiven Realität der deutsch-österreichischen Kapitulation. Propaganda und ___________________ 96 97 98 99
Sammet 2003, S. 54. Ebd., S. 68f. Ebd., S. 69. Diese Feststellung steht scheinbar in Widerspruch zur öfters beschriebenen Ablehnung des Frontsoldaten durch die Heimat. Letztere muss aber als kollektive Verarbeitung der Niederlage gedeutet werden, die in der Figur des von der Heimat Enttäuschten und Verlassenen einen wichtigen psychischen Anknüpfungspunkt enthielt.
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Wunschdenken treten an die Stelle der äußeren Realität. Aber selbst ein so unverdächtiger Autor wie Erich Maria Remarque lässt seinen Erzähler in Im Westen nichts Neues die Niederlage an der Front nicht akzeptieren: „Wir sind nicht geschlagen, denn wir sind als Soldaten besser und erfahrener; wir sind einfach von der vielfachen Übermacht zerdrückt und zurückgeschoben.“100 Das Bild des Erdrücktwerdens, das die Materialschlachten der Westfront für viele am Besten kennzeichnete, wird bald von einem heimtückischeren und stärkeren Bild abgelöst. Schuld an der Niederlage, so musste der Schluss aus der These des unbesiegten Heeres lauten, war die Heimat, die den kurz bevorstehenden Sieg verhindert und in eine Niederlage verwandelt hatte. Demokraten, Juden, Revolutionäre – sie alle waren schuld an einer Niederlage, die so unerwartet kam, dass niemand sie ahnen oder sehen konnte. Denn hinten hat man keine Augen. Während man vorne an der Front seinen Mann stand, schlich sich der Mörder feige von hinten an. Der Frontsoldat wurde so im letzten Moment um seinen Sieg betrogen. Auf die reale, psychische Dimension dieses Gefühls verweist Wolfgang Schivelbusch: „Angesichts der Tatsache, dass Kriege zwischen ‚militaristischen‘ und ‚bürgerlichen‘ Nationen oft mit glanzvollen militärischen Erfolgen der ersteren beginnen, um nach langwierigem Material- und Erschöpfungskrieg durch die erdrückende Wirtschaftsmacht der letzteren entschieden zu werden, erscheint das Gefühl der Verlierer, um den Sieg betrogen worden zu sein, nicht vollkommen abwegig.“101
Auf Seiten der Militärs und der politischen Rechten lässt sich insgesamt in der Niederlagenverarbeitung aber keine einheitliche Ausformung des Dolchstoßes feststellen, es gibt vielmehr unterschiedlichste Ausprägungen. Schematisch kann man zwei Extreme unterscheiden, zwischen denen die einzelnen Varianten angesiedelt sind: 1. Der Dolchstoß in einem weiteren Sinne meint mehr oder weniger die Verhinderung eines Sieges durch die revolutionären Aktionen des Proletariats im November 1918 und die parallel konstatierte Schwäche des Bürgertums. 2. Der
___________________ 100 Remarque 1993, S. 255. 101 Schivelbusch 2003, S. 29 (Herv. im Orig.). Ein Beispiel für eine solche Konstellation ist der amerikanische Bürgerkrieg, in dem die unterlegenen Südstaaten militärisch lange Zeit dem industrialisierten Norden Paroli bieten konnten.
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Dolchstoß in einem engeren Sinne meint die Vergrößerung der Niederlage beinahe ausschließlich durch die Revolution.102 Es gibt folglich eine Vielzahl von Dolchstoßlegenden, die auf einem Kontinuum zwischen einem verratenen deutschen Totalsieg und einem verhinderten und sabotierten Verständigungsfrieden angesiedelt werden können. Wir haben es beim Dolchstoß also mit einem produktiven Mythos zu tun, einer Vielzahl von Erzählungen die polyvalente Erklärungen für die Ursache der Niederlage entwickeln. Überspitzt gesprochen: Fast jede gesellschaftliche oder politische Gruppe verfügte nach 1918 in gewisser Weise über ihren eigenen Dolchstoß. So kommt es etwa in spiegelbildlicher Analogie zu den Militärs nach Kriegsende auch zu einer Dolchstoßlegende auf Seiten der Techniker und Ingenieure, die jede Verantwortung für die Niederlage weit von sich wiesen. Vielmehr hätten die Militärs die Bedeutung der Technik nicht in ihrem tatsächlichen Ausmaß anerkannt. Der Militarismus sei der deutschen Technik in den Arm gefallen. Ebenso verfügten die einzelnen Waffengattungen über ihren eigenen Dolchstoß. Ende der 20er Jahre erschienen noch Bücher mit Titeln wie: „Auf See unbesiegt“ oder „In der Luft unbesiegt.“ Als politisches Schlagwort mit großer Breitenwirkung hat aber erst Hindenburgs Aussage vor dem Untersuchungsausschuss der Nationalversammlung 1919 den Dolchstoß als verbindlichen Begriff eingeführt. Zwar war der Dolchstoß für die Deutschen kein neuer Begriff – er fand schon unmittelbar nach Kriegsende bei verschiedenen Seiten Verwendung – aus dem Munde des Generalfeldmarschalls Hindenburg, des väterlichen Repräsentanten der Nation und glorreichen Feldherrn, erhielt er aber ein anderes moralisches Gewicht. In seiner Vernehmung über die Ursachen des deutschen Zusammenbruchs, in der Hindenburg die „heimliche Zersetzung von Heer und Flotte“ und die revolutionäre „Zermürbung“ beklagte, zitiert er einen (angeblichen) Ausspruch eines englischen Generals (Sir Frederick Maurice): „Die deutsche Armee ist von hinten erdolcht worden.“ Und in seinen Kriegserinnerungen, ebenfalls 1919 abgefasst, heißt es: „Wir waren am Ende. Wie Siegfried unter dem hinterlistigen Speerwurf des grimmen Hagen, so stürzte unsere ermattete Front; vergebens hatte sie versucht, aus dem versiegenden Quell der heimatlichen Kraft neues Leben zu trinken.“ 103 Hindenburg ___________________ 102 Vgl. Sammet 2003, S. 174; Petzold 1963, S. 67-69 oder Hiller v. Gaertringen (1963, S. 149), der von einer „übersteigerten“ bzw. „schwächeren“ Dolchstoßthese spricht. 103 Hindenburg 1920, S. 403. Die Nibelungensage ist vielleicht der mythische Anknüpfungspunkt der deutschen Niederlagengeschichte. (Vgl. Münkler und Storch 1988) Kurz vor dem Ende der Schlacht um Stalingrad verwies Reichsmarschall Hermann Göring in seiner Rede am 10. Jahrestag des Triumphes der nationalsozialistischen Bewegung, die
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wählt in seinen Erinnerungen wohl unbewusst – denn niemand kann ihm ansonsten eine besondere sprachliche Sensibilität nachweisen – an Stelle des Dolches den Speer aufgrund seiner männlichen Konnotation. Denn der Dolch, als tückisches und weibliches Mittel sehr nah dem Gift, konnte schwerlich eine Heroengeschichte begründen. 104 Für die alte wilhelminische Elite war der Dolchstoß als Speerwurf eine Erklärung für das Versagen ihres eigenen Führungsanspruches. Und das in doppelter Weise: „Einmal der unerwartete Zusammenbruch anstelle des nach dem Vorbild der Väter und Großväter für sicher gehaltenen Totalsieges. Und dann, schwerwiegender noch, das persönliche Versagen beim Ausbruch der Revolution, das stille Sichdavonstehlen anstelle des heroisch-tragischen Endkampfs in Etzels Saal. Sich nicht wie Siegfried dem Drachen zu stellen, sondern in der Art Alberichs unter der Tarnkappe zu verschwinden, um bald darauf wiederaufzutauchen und den Dienst unter der verachteten Sozialdemokratie wieder aufzunehmen – diese Serie innerer Gesichtsverluste muss die Führungsschicht der wilhelminischen Beamten und Offiziere tiefer getroffen haben, als sie sich eingestanden. Ihre nachträglichen Versuche, den November-Umsturz zur ‚größten aller Revolutionen‘ hochzustilisieren, dienten ebenso wie die Legende vom Dolchstoß allein dem Zweck, das eigene Versagen vergessen zu machen.“105
___________________ Hitler aus verständlichen Gründen nicht selbst halten wollte, auf die Nibelungensage und ihr „Vermächtnis“ für das deutsche Volk. Göring wendet sich mit folgenden Worten an die deutsche Öffentlichkeit und an die Stalingradkämpfer, die so ihren eigenen Untergang noch vor der Kapitulation per Funk aus der Heimat mitgeteilt bekommen: „Aus all diesen heroischen Kämpfen ragt nun gleich einem Monument der Kampf um Stalingrad heraus. Es wird der größte Heroenkampf unserer Geschichte bleiben. Wir kennen ein gewaltiges Heldenlied von einem Kampf ohnegleichen, es heißt: ‚Der Kampf der Nibelungen‘. Auch sie standen in einer Halle voll Feuer und Brand, löschten den Durst mit dem eigenen Blut, aber sie kämpften bis zum letzten. Ein solcher Kampf tobt heute dort, und noch in tausend Jahren wird jeder Deutsche mit heiligem Schauer von diesem Kampf in Ehrfurcht sprechen und sich erinnern, dass dort trotz allem Deutschlands Sieg entschieden worden ist.“ (Görings Rede ist auszugsweise zit. in: Piekalkiewicz 1992, S. 628ff.) Neben der Nibelungensage ist es der Kampf und Untergang der Spartaner am Thermopylenpass, den Göring in seiner Rede als Vorbild für die deutschen Soldaten beschwört. Eine wagnerianische Lust am Untergang schwingt hier, wie später insbesondere in Goebbels Reden, bereits mit. 104 Zur Metapher des Giftes vgl. Münkler und Storch 1988, S. 92f. Für Münkler steht fest, „dass der Giftmord im Unterschied zum Dolchstoß in keine mythische Geschichte einbindbar war, und daher ein definitives Ende symbolisiert hätte, während nach dem Dolchstoß, verstanden als Ermordung Siegfrieds, die Geschichte weiterging.“ (Ebd., S. 93) 105 Schivelbusch 2003, S. 251.
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Dass die Niederlage im Herbst 1918 nichts Heroisches hatte, kein Aufbäumen, kein Selbstopfer, keine Heldentaten, das war für die psychische Verarbeitung der Kapitulation eine schwere Hypothek. Noch kurz vor der Niederlage zirkulierende Ideen wie die des „Königstodes“ – der Kaiser fällt an der Spitze eines Angriffs, umgeben von seinen Generälen, und findet so den Heldentod – blieben bloße Wunschphantasien. Der zumindest nach dem Willen der Seekriegsleitung „ehrenvolle Untergang“ durch eine letzte Ausfahrt der Schlachtflotte kam über das Stadium der Planung nicht hinaus. So bleiben der Stolz und die teuerste Waffe Wilhelms II. eine während des ganzen Verlaufes des Krieges in ihren Häfen isolierte Flotte, die nichts zum Kriegsausgang beitragen konnte. Was aber passierte im Herbst 1918 tatsächlich? Der Kaiser flüchtet heimlich bei Nacht und Nebel nach Holland, wo er Asyl bekommt und sich zum Opfer der Weltgeschichte stilisiert. Wie Hitler 27 Jahre später im Führerbunker ergeht sich Wilhelm II. in Beschimpfungen seiner Untertanen: „Das deutsche Volk ist eine Schweinebande.“106 Ludendorff, der eigentliche Herrscher und Verantwortliche für die militärische Niederlage, verschwindet rechtzeitig nach Schweden, um nicht mit den Waffenstillstandsverhandlungen in Verbindung gebracht zu werden. Er wird schließlich nach 1918 zum eifrigsten Vertreter der Dolchstoßlegende. Und der Stolz des deutschen Kaisers, die Flotte, wird zum Ausgangspunkt der Revolution. In der Nacht vom 29. auf den 30. Oktober verweigern die vor Wilhelmshaven liegenden Matrosen der Schlachtflotte den Gehorsam. Das alles sind nicht unbedingt die idealen Voraussetzungen für eine gelungene psychische Integration der erfahrenen Niederlage. Anders als für die alte Elite, die sich von der Schuld der Kapitulation und ihrem eigenen Versagen befreien muss, stellt sich die Niederlage aber für die extreme Rechte dar. Für sie ist der Dolchstoß nur noch eine leere Phrase der dekadenten Führungsschichten des kaiserlichen Reiches. Armin Mohler hat schon sehr früh auf die Tatsache aufmerksam gemacht, dass für die revolutionären Gruppen der Rechten die Niederlage als ein Ereignis akzeptiert, ja begrüßt wird, das den Aufstieg Deutschlands in der nahen Zukunft erst ermöglichen wird. „Die alte Rechte hängt wirklich mehrheitlich jener ‚Dolchstoß-Legende‘ an, welche die Niederlage zu einem ‚Zufall‘ macht – zu einem Werk hinterlistig im Verborgenen arbeitender Verschwörer. Die konservativ-revolutionären Gruppen hingegen suchen in erstaunlich großem Maß die Niederlage als etwas Notwendiges zu begreifen. Sie wollen den ‚Sinn‘ der Niederlage enträtseln.“107 ___________________ 106 Zit. bei Ullrich 2004, S. 568. 107 Mohler 1972, S. 37.
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Ihre apokalyptische, und d.h. religiöse, Dimension zeigt sich im finalen Wissen um die Notwendigkeit des Unterganges und der Vernichtung der alten Ordnung als Voraussetzung der Erlösung. Ebenso entscheidend ist die Auffassung, dass der Krieg noch nicht zu Ende ist, dass er im Geheimen weitergeht, unterbrochen lediglich von einer Phase des Waffenstillstandes; ein Gedanke, der sich – nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs – nicht unbedingt als falsch herausstellte. Für die „wahren Krieger“, die Freikorps und paramilitärischen Gruppen, hat der Krieg niemals aufgehört. Ernst Jüngers visionäre Prognose sollte sich schließlich in Gestalt der Nationalsozialisten, die der Weimarer Republik den Todesstoß versetzten, bewahrheiten. „Dieser Krieg ist nicht das Ende, sondern der Auftakt der Gewalt. Er ist die Hammerschmiede, in der die Welt in neue Grenzen und neue Gemeinschaften zerschlagen wird.“ 108 Der Wilhelminismus stellt sich für die Vertreter der konservativen Revolution als ein dekadentes System dar, der Krieg als ein reinigendes Gewitter. Die deutsche Niederlage wird als Voraussetzung des kommenden großen Zeitalters emphatisch bejaht. Bei manchen ihrer Autoren, wie etwa bei Franz Schauwecker, schwingt sogar die Lust am Untergang deutlich mit: „Der Deutsche freut sich seiner Untergänge, weil sie die Verjüngung sind; er geht gelassen durch seine Niederlagen, da sie nichts anderes als seine kommenden Siege verbürgen, ja, sie ermöglichen und voraussetzen. […] Indem wir den Krieg verloren haben, haben wir ihn gewonnen. Indem wir die Niederlage erlitten, wurden wir der Voraussetzung zum künftigen Siege teilhaftig. Der Krieg und alles, was danach gekommen ist, ist nur Reinigung und Weg durch die Welt gewesen.“109
___________________ 108 Jünger 1922, S. 55. Noch deutlicher spricht Jünger 1932 in Der Arbeiter vom elementaren Einschnitt des Ersten Weltkrieges in die deutsche Geschichte: „Ohne Zweifel übertrifft dieses Ereignis, dessen wahrer Umfang sich noch gar nicht ermessen lässt, an Bedeutung nicht nur die Französische Revolution, sondern sogar die Deutsche Reformation.“ (Jünger 1932, S. 158) Für Hannah Arendt (1991, S. 422) schließlich ist der Erste Weltkrieg der Schlüssel für das Verständnis des 19. Jahrhunderts: “Wir können aus der Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts den Ersten Weltkrieg nicht erklären; aber wir können gar nicht anders, als im Lichte dieser Katastrophe das Jahrhundert verstehen, das in ihr sein Ende fand.“ 109 Schauwecker 1931, S. 162, S. 313. Herv. A.M. Auch Hitler schreibt in Mein Kampf: „Wir haben diese Niederlage mehr als verdient“ und „für das deutsche Volk darf man es fast als großes Glück betrachten“, in die Katastrophe gestürzt worden zu sein (Hitler 1939, S. 250 und 252). Exemplarisch auch das Motto von Franz Schauweckers 1929 erschienenem Buch Aufbruch der Nation: „Wir mussten den Krieg verlieren, um die Nation zu gewinnen.“
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Der zu Beginn kurz angesprochene linke Dolchstoßvorwurf war in seiner Kritik am System des Kaiserreichs nicht ganz unähnlich den revolutionären Gruppen der Rechten. Der sozialliberale Militärschriftsteller Franz Carl Endres machte neben einer inkompetenten politischen Führung bereits Ende Oktober 1918 die von Ludendorff angestrebte Vernichtungsstrategie, die den militärischen Totalsieg anstrebte, für die Niederlage verantwortlich, da „bei nüchterner Betrachtung der gegnerischen Streitkräfte und beiderseitigen Reserven wenig militärische und bei einer klaren politischen Überlegung gar keine politischen Aussichten“ für einen Sieg bestanden.110 Allgemein gilt für die linke Argumentation: der Dolchstoß sei letztlich von der Regierung, der Obersten Heeresleitung und dem Flottenkommando ausgegangen. „Unser militärisches System“, schreibt Hermann Kranold 1924, „hat unser Heer von hinten erdolcht.“111 Manchmal ist auch von einem Dolchstoß „von oben“ die Rede, was zwar bildlich schwer vorstellbar, aber in der Vertikalität des Bildes einen Sinn ergibt. Denn die Verhältnisse im Heer, v.a. die soziale Distanz von Offizier und Mannschaften bzw. Missstände in der Heimat, werden hauptverantwortlich für die Niederlage gemacht. Der Publizist Kurt Heinig schreibt 1920, „die grenzenlose Verachtung des einfachen Soldaten, der Unterschied zwischen ihm und dem Offizier, der gemacht wurde, die Verelendung und Verkümmerung breiter Massen der Daheimgebliebenen, im Gegensatz zum Wohlleben derjenigen, die an der Kriegskonjunktur teilhatten,“112 diese Faktoren seien Hauptschuld an der Niederlage. Wer diese Wirklichkeit nicht sehen wolle, so polemisch der badische Sozialdemokrat Adam Remmele, sei „entweder blind oder wurde in einer Offiziersküche verpflegt.“113 Der Dolchstoß war in den Augen der Linken also ein Verbrechen der Militärs und Regierenden am eigenen Volk. Die einzige Gruppe, die nach 1918 ein „Bekenntnis“ zum Dolchstoß abgab (in Teilen auch die USPD) war die zur Jahreswende 1918/19 gegründete KPD. Mit Stolz verwies sie auf die revolutionäre Tätigkeit während des Krieges, die als Notwehr eines verzweifelten Volkes verstanden wird und schließlich den von allen ersehnten Frieden brachte. Dieses Eingeständnis der eigenen Subversion war natürlich wieder Wasser auf die Mühlen der rechten Kritiker, die sich in ihrem Dolch___________________ 110 Zit. bei Sammet 2003, S. 77, vgl. auch Endres’ (1924) Analyse des Ersten Weltkrieges. 111 Kranold 1924, S. 16. 112 Heinig 1920, S. 44. Der Mythos der Frontgemeinschaft bezog sich deshalb immer nur auf die kämpfende Truppe und fand im adeligen Stabsoffizier sein Hassobjekt. Dasselbe gilt für die Figur des „Kriegsgewinnlers“, der mit seinem Reichtum prasste, während das Volk hungerte. 113 Zit. bei Sammet 2003, S. 188
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stoßvorwurf bestätigt fanden. Umgekehrt bezichtigte aber die KPD die sozialdemokratischen Parteien des Dolchstoßes an der Revolution. Auf einem bekannten Plakat aus den 20er Jahren sieht man den SPD-Kanzler Ebert, der einen Arbeiter (und damit die Revolution) von hinten erdolcht. Das Bild des Dolchstoßes war also allgemein im Gebrauch und konnte von unterschiedlicher Seite verwendet werden. Dennoch hat die politische Rechte den Dolchstoß erfolgreicher instrumentalisiert. Nach den vielfältigen Diskussionen, Untersuchungsausschüssen, Presseartikeln und literarischen Auseinandersetzungen entsteht einige Monate nach Kriegsende die zunächst (fast) alle entlastende Auffassung, dass nicht die Heimat, sondern die Revolution den Dolchstoß geführt hat. Der Begriff „Dolchstoß der Heimat“ engt sich hier ein und meint eigentlich die revolutionäre Arbeiterbewegung.114 Die Vorstellung eines inneren Feindes, eines „Maulwurfs“, gehört dabei mit zur mentalen Grundlage des wilhelminischen Staates. Dieser Feind war zunächst die verhasste Sozialdemokratie die im Krieg, des inneren Burgfriedens willen gebraucht und auch ohne nennenswerten Widerstand bei Kriegsbeginn in die Euphorie und die Kriegskredite einstimmte. Jenseits der offiziellen Parteilinie der SPD waren es aber die klassenkämpferischen Parolen der Basis, die den Führungsschichten des Kaiserreiches die Gewissheit gaben, es hier mit „Feinden“ des Reiches zu tun zu haben. Feinde, die im Inneren den Zusammenhalt der Nation und ihre Kriegsbereitschaft immer mehr unterhöhlten, je länger und aussichtsloser der Kampf geführt wurde. Die Metaphern der Unterwühlung, Verseuchung oder Vergiftung traten bald in Konkurrenz zu der des Dolchstoßes. So erklärte General Hermann v. Kuhl, während des Krieges Generalstabschef der Heeresgruppe des Kronprinzen Rupprecht v. Bayern, in seinem Gutachten für den Untersuchungsausschuss des deutschen Zusammenbruches: „Die Wirkung dieser unheilvollen Tätigkeit trat hauptsächlich hervor, als nach dem Scheitern unserer Offensive im Sommer 1918 der Krieg aussichtslos
___________________ 114 Vgl. dazu Petzold 1963, S. 69f. Die Monografie Joachim Petzolds Die Dolchstoßlegende. Eine Geschichtsfälschung im Dienste des deutschen Imperialismus und Militarismus stellt nach wie vor die gründlichste Untersuchung der Entstehungsgeschichte des Dolchstoßes dar. Aufgrund seiner ideologischen Position, die den „Klassenstandpunkt“ vertritt, gerät er aber in ein unauflösbares Dilemma. Denn einerseits muss Petzold, um nicht selbst die Argumente der Dolchstoßanhänger zu übernehmen, die Bedeutung der Revolution als Grund für die Niederlage verkleinern, andererseits muss er aber die Leistung des „deutschen Proletariats“ für die erfolgreiche Zersetzung der Kampfmoral betonen. Aus diesem Widerspruch, der ihm nicht bewusst wird, kann er sich nicht lösen.
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erschien. Aber die Wühlarbeit hat lange vorher planmäßig eingesetzt. Man kann somit nicht von einem Dolchstoß, sondern von einer Vergiftung des Heeres reden. Das Wort vom Dolchstoß trifft aber für die verheerende, plötzliche Wirkung der Revolution selbst zu. Sie fiel dem Heere buchstäblich in den Rücken, löste die Etappe auf, verhinderte die Zufuhr und zerstörte jede Ordnung und Disziplin wie mit einem Schlage.“115
Während im Falle des Dolchstosses der kämpfende und ahnungslose Krieger das Opfer ist, ist es in der Kuhl’schen Metapher der Vergiftung der anfällige und kränkelnde Patient. Eine innere Schwächedisposition des deutschen Volkes, das dem Angriff von innen nichts mehr entgegensetzen konnte, ist letztlich schuld an der Niederlage. Der Dolchstoß ist nur noch das „plötzliche Ereignis“ das einen geschwächten Organismus dem inneren Zusammenbruch zuführt. Interessanterweise wird der Begriff des Dolchstoßes bei Hitler und den Nationalsozialisten praktisch nur aus taktischen Gründen verwendet, um diejenigen Kreise (quasi zielgruppenspezifisch) anzusprechen, denen er tatsächlich etwas bedeutete. In Mein Kampf kommt der Begriff jedenfalls, nimmt man die allgemeine Weitschweifigkeit und Redundanz des Buches als Maßstab, ganz selten vor. An einer Stelle des zweiten Bandes spricht Hitler vom „Todesstoß“, den der „Verbrecherhaufen“ des Marxismus im November 1918 der kämpfenden Front versetzte. An einer anderen Stelle heißt es, der „kämpfende Siegfried“ sei am Ende dem „hinterhältigen Dolchstoss erlegen.“ 116 Was Hitler v.a. kritisiert ist aber die Fehleinschätzung der revolutionären Gefahr durch Kaiser und Reichsleitung. „Dass die bürgerlichen Schwätzerorganisationen im selben Augenblick wehrlos waren, ist selbstverständlich.“117 Die Rede von den „Novemberverbrechern“ als den ___________________ 115 Gutachten General Kuhls in: Die Ursachen des deutschen Zusammenbruches im Jahre 1918, Band 3, S. 39; Herv. im Orig. Neben Kuhl war auch der in Kapitel 2 öfters zitierte Historiker Hans Delbrück Mitglied des Untersuchungsausschusses. Er trat vehement gegen die Dolchstoßlegende auf. Für Delbrück lag die Schuld an der Niederlage an den maßlosen Kriegszielen und der Inkompetenz der Führung, insbesondere am ungezügelten Ehrgeiz Ludendorffs (zu Delbrücks Stellung zum Dolchstoß siehe Petzold 1963, S. 81-87). 116 Hitler 1939, S. 594. Wolfgang Schivelbusch hat beschrieben wie sich das Bild der Siegfriedlegende in den Jahren nach der Kapitulation für die revolutionären Nationalisten verändert. Bei ihnen wird Hagen zum Frontsoldaten, der die Nation von einer dekadenten Führung (Siegfried) befreien muss. Der Speerwurf von hinten ist nicht mehr Mord, sondern Notwehr. Hagens Verletzung des bürgerlichen Gesetzes gilt dann im NSJargon als „Heroismus der Tat“, eine Formel die etwa 1934 in der Ermordung der SA-Führung um Ernst Röhm ihre Anwendung findet. (Vgl. dazu Schivelbusch 2003, S. 252) 117 Hitler 1939, S. 594.
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eigentlich Schuldigen an der Niederlage schloss so nicht nur den Marxismus, sondern auch die führenden Schichten des Wilhelminismus mit ein. In der Sprache des Nationalsozialismus erscheint die Niederlage stets als eine Art von todbringender Seuche oder Krankheit. Vollständig in xenophobe Phantasien der Verschmutzung und Verunreinigung eingebettet, wird sie v.a. dem „jüdischen Bolschewismus“ zugeschrieben. Tatsächlich wimmelt es in Mein Kampf regelrecht von Ungeziefermetaphern. Daneben wird die Syphilis als Metapher von Sexualität und Rassenschande geradezu inflationär verwendet. 118 Etwas Fremdes, das längst in den eigenen Körper eingedrungen ist, symbolisiert den Zustand äußersten Ausgeliefertseins. Vielleicht ist das eine Erklärung dafür, warum gerade in der Assimilation des Judentums, wie es in Deutschland vor 1933 allgemein gängig war, die größte Gefahr gesehen wurde. Das Theorem der anonymen Mächte, die im Inneren des Staats- und später Volkskörpers agieren, musste die Niederlage der Front im Ersten Weltkrieg erklären. Der häufigste Satz Hitlers: „Ein November 1918 wird es bei mir nicht geben“ deutete bereits sehr früh auf die damit verbundenen Vernichtungsabsichten hin. Der „tiefste Grund“ der deutschen Niederlage 1918 war in den Augen der radikalen Antisemiten das Nichterkennen des Rasseproblems und insbesondere der „jüdischen Gefahr“. „Hätte man den Rassegedanken damals ernst genommen, die pazifistischen und zersetzenden Elemente der deutschen Volksgemeinschaft frühzeitig ausgeschaltet, wäre 1914 der Zeitpunkt gekommen gewesen, gegen die ganze betrügerische Genossenschaft dieser jüdischen Volksvergifter vorzugehen. […] Es war die Pflicht einer besorgten Staatsregierung gewesen, nun […] die Verhetzer dieses Volkstums unbarmherzig auszurotten. Wenn an der Front die Besten fielen, dann konnte man zu Hause wenigstens das Ungeziefer vertilgen.“119
___________________ 118 Die dabei verwendeten Bilder bringt Carl Amery in seinem 1998 erschienenen Essay Hitler als Vorläufer in Zusammenhang mit den Erfahrungen und der Wirklichkeit des Stellungskrieges: „Hitlers Bildersprache dagegen ist fast ausschließlich aufs Klinische, man kann sagen aufs Epidemiologische fixiert. Völker sind ‚durchseucht‘; fremde Lehren drangen und dringen wie ‚Bazillen‘ in den ‚gesunden Volkskörper‘ ein – die Eugenik zumal wird bei ihm aus einem Sprechzimmer – oder einer Operationstherapie zu einem riesigen Feldlazarett, in dem die blutigen Bandagen, die abgesägten Gliedmaßen und die pestbefallenen Todeskandidaten nur so herumliegen. Ist es abwegig anzunehmen, dass immer wieder Impressionen aus der Schlächterwerkstatt des flandrischen Grabenkrieges nach oben drängen?“ (Amery 1998, S. 59) 119 Hitler 1939, S. 185f. Wie Elias Canetti (1992b, S. 207) in Masse und Macht anmerkt, ist Ungeziefer das einzige, das man schuldlos töten kann. Die Wirksamkeit dieser Metapher wird noch in der praktischen
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Dass der Zusammenbruch aufgrund dieser Versäumnisse verdient, ja notwendig war, sprach Hitler später immer wieder aus. Ein Dolchstoß, so seine Prophezeiung, sollte für alle Zukunft in Deutschland unmöglich sein. Das Attentat vom 20. Juli 1944 wurde dann zwar in einer Rundfunkrede Hitlers mit dem November 1918 gleichgesetzt, aber nun war es gewissermaßen ein umgekehrter Dolchstoß: nicht Zusammenbruch der Heimat oder bolschewistische Propaganda, sondern Verrat des Generalstabes an der Heimat. Die Frage nach der „tatsächlichen“ politischen Wirkung des Dolchstoßmythos ist schwer zu beantworten. Nach Kriegsende wird zumindest innenpolitisch der Vorwurf des Dolchstoßes sofort aufgenommen und ein Untersuchungsausschuss des Reichstages (UA) gegründet, der sich mit den Ursachen der Niederlage beschäftigen sollte. So unterschiedliche Autoren wie der bereits zitierte General v. Kuhl oder der Historiker Hans Delbrück brachten jeweils eigene Gutachten ein. Die Veröffentlichung der Ergebnisse erfolgte in den Jahren 1925 bis 1929 und wurde dem Reichstag vorgelegt. Der Ausschuss wandte sich dabei gegen alle einseitigen Erklärungen der Niederlage, wenngleich er der Revolution einen Teil der Schuld gab. Er versuchte ein ausgewogenes Bild der historischen Ereignisse zu geben. Richtete sich zu Beginn noch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Untersuchung, war bei Erscheinen der zwölf Bände nur noch ein kleiner Teil der Deutschen daran interessiert.120 Wesentlich bekannter und politisch auch brisanter als die Ergebnisse des Untersuchungsausschusses war der Ebert-Prozess im Jahre 1924. Der Reichspräsident wurde in der Mitteldeutschen Presse beschuldigt, als Teilnehmer der Berliner Arbeiterstreiks im Januar 1918 schuld am Zusammenbruch Deutschlands zu sein. Obwohl der verantwortliche Journalist schließlich zu drei Monaten Gefängnis verurteilt wurde, wollte das Gericht den Vorwurf des Landesverrates nicht entkräften. Ebert, der
___________________ Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten deutlich. Zyklon B, ein Blausäurepräparat, das zunächst für die Schädlingsbekämpfung hergestellt wurde, diente als Mittel für die Ermordung von Hunderttausenden in Auschwitz. Hier wird ein zunächst rein symbolischer Begriff direkt in eine Vernichtungspraxis umgesetzt. Etwas, was selbst frühe und enge Anhänger Hitlers, wie etwa der Autor des Mythos des 20. Jahrhunderts, Alfred Rosenberg, oder der Generalkommissar für Weißruthenien, Wilhelm Kube, nicht für möglich hielten und zunächst dagegen protestierten (siehe dazu: Arendt 1991, S. 542, Fn. 50). 120 Hermann Göring verhinderte in der Endphase der Weimarer Republik als Reichstagspräsident eine Neuauflage der zwölf Bände, die bereits gedruckten Bände wurden makuliert. (Vgl. Sammet 2003, S. 218)
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kurz darauf starb, blieb bis zu seinem Tod im Verdacht, den Dolchstoß mitverantwortet zu haben. Der Höhepunkt der Publikationen zur Frage des Dolchstoßes war das Jahr 1919, danach findet man, so Rainer Sammet, der die zeitgenössischen Quellen (v.a. Zeitungen und parlamentarische Protokolle) analysiert, nur noch sehr wenige Bezugnahmen. Entscheidend für die politische Wirkung des Dolchstoßargumentes ist aber die Tatsache, dass es über die engeren Ereignisse im November 1918 hinaus auf unbewältigte Konflikte in der deutschen Geschichte verweist: „Es ging nicht um nüchterne Analyse und Bestandsaufnahme nach einem verlorenen Krieg, sondern in der Stellungnahme zur Revolution um aufgeschobene Vergangenheitsbewältigung. Die Frage nach den Gründen wurde zur moralisch befrachteten, emotional aufgeladenen Schuldfrage und Suche nach einem Sündenbock für unausgetragene Probleme aus der Zeit des Kaiserreichs.“121
Historisch war im vereinten Deutschland zunächst die SPD als Hauptschuldige an der deutschen Misere ausgemacht worden. Bismarcks Sozialistengesetze sind nur ein bekanntes Beispiel für den Ausschluss der Sozialdemokraten aus der nationalen Gemeinschaft. Der rechte Publizist Max Taube konnte aufgrund dieser historischen Ausgrenzung kurz nach Kriegsende zum Schluss kommen: „Revolution und Zusammenbruch 1918 wurden geboren, als die Sozialdemokratie in Deutschland geboren wurde. Das geschah vor 70 Jahren. In diesen 70 Jahren hat die Sozialdemokratie nichts anderes getan, als die Revolution vorbereitet.“122 Ziel musste es folglich sein, den Graben zu schließen, den die Revolution erneut aufgerissen und sichtbar gemacht hatte. Für die Politik der stärksten Partei Anfang der 30er Jahre, die NSDAP, stand die Verhinderung eines neuerlichen Dolchstoßes deshalb im Mittelpunkt. Bezeichnenderweise wurde der 9. November als zweifacher Trauertag behandelt. Denn dieser Tag war für die NSDAP doppelt gezeichnet durch den Verrat des Marxismus 1918 und den Verrat der Reaktion 1923 (Hitlerputsch). Die „Sühne“ für dieses doppelte Verbrechen bezeichnete Alfred Rosenberg als die Mission des Nationalsozialismus. Für Rainer Sammet, der die Bedeutung des Dolchstoßes für das Scheitern der Weimarer Republik in seinem Buch Dolchstoß relativiert, besteht die wirkliche Bedeutung des Mythos in der zukünftigen Verhinderung eines neuen Dolchstoßes: ___________________ 121 Barmeyer 1977, S. 260. 122 Taube, 1920 S. 12.
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„Tatsächlich aber dürfte die Erklärung der Niederlage von 1918 mit den unter dem Dolchstoßvorwurf subsumierbaren Faktoren weniger im Hinblick auf den Untergang der Republik als vielmehr für die Ausbildung rechter Ideologien – insbesondere des Nationalsozialismus – von Bedeutung sein. Einiges spricht dafür, dass nach 1933 dann ganz bewusst versucht wurde, diese Faktoren im Hinblick auf den nächsten Krieg auszuschalten.“123
___________________ 123 Sammet 2003, S. 282
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4. M E N S C H
G EG E N
MATERIAL
Hier feiert die sinnlose Materialschlacht ihren Triumph, hier geht alles verloren, was den Geist früherer Kämpfe ausmachte, Besinnung des einzelnen, Zusammenhalt der Masse. Verdun ist das Ende infanteristischer Kunst und Tüchtigkeit. Hier zerstampft das Unmaß technischer Vernichtungsmittel die preußische Schulung zweier Jahrhunderte und stößt die Soldatentugenden auch dieser hoch bewährten Regimenter in die Gruft der Ohnmacht. Thüringische IR (1928)
4.1. Radikalisierung der Mittel Am 26. Mai 1916 trägt der österreichische Pazifist und Friedensnobelpreisträger Alfred H. Fried folgende Zeilen in sein Tagebuch: „Die Menschen unserer Tage sind sich in ihrer übergroßen Mehrheit wohl nicht bewusst, dass sie im Rahmen dieses Weltkrieges ein Ereignis erleben, von dem die Jahrhunderte noch sprechen werden. Es ist dies die Hölle von Verdun! Seit hundert Tagen – Tag und Nacht – wird dort mit der größten Hartnäckigkeit und Erbitterung zwischen den Söhnen zweier europäischer Kulturvölker gerungen, unter Anwendung der fürchterlichsten Töte- und Vernichtungsmittel. Hundert Tage und Nächte um Bergzipfel und Mauertrümmer, um einige Meter Land vor und zurück. Die offiziellen Berichte lassen in ihrer gemäßigten Trockenheit kaum ahnen, was dort vorgeht. Es ist der höllischste Massenmord, seitdem wir Geschichte schreiben, ja sicher noch über diese Grenze zurück.“1
So wie Fried wurde den meisten kritisch denkenden Beteiligten kurz nach Beginn der Schlacht um Verdun klar, dass man in eine neue, bis dorthin unbekannte Dimension des Krieges eingetreten war (vgl. Kapitel 2). Im deutschen Begriff der „Materialschlacht“ kam diese Konzeption ___________________ 1
Zit. bei Werth 1994, S. 65.
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des Krieges auf ihren Punkt. Indem, wie vor Verdun, die bis dahin heilige Figur des Durchbruchs zugunsten einer Strategie der Ausblutung und Abnutzung ersetzt wurde, verwandelte sich der Krieg an der Westfront in eine unendliche Abfolge von Artilleriegefechten, Gasangriffen und lähmenden Wartezeiten in Unterständen und Bunkern. Dass es dieser Abschnitt des Krieges war, der die Erfahrung am meisten bestimmte, zeigt sich schon allein daran, dass die Masse der Kriegsromane, die nach 1929 erschien, fast durchgehend die Ereignisse an der Westfront 1916 behandeln, die überwiegende Mehrheit davon wiederum die Schlacht vor Verdun.2 Wie schon ausgeführt, verloren die strategischen Konzeptionen der Armeeoberkommandos und die vagen Kriegsziele ihre Bedeutung. An ihre Stelle trat, für den einfachen Frontsoldaten, der tägliche Kampf um winzige „taktische Ziele“: das Halten eines Grabens oder Trichterloches. Die Monotonie der Routine, die selbst an hart umkämpften Frontabschnitten eine Grunderfahrung bildete, stumpfte psychisch ab und machte Begriffe wie Sieg oder Niederlage weitgehend bedeutungslos. Die zyklopischen Mittel der Kriegsmaschinerie, ihre ungeheure, durch nichts zu brechende Destruktivkraft, nahm allen Beteiligten Sinn und Zweck. Der Krieg schien nur noch sich selbst zu dienen, ohne Verweis auf ein Leben außerhalb seiner selbst. Zwar wurden bereits ab 1915 der Kriegführung neue Vernichtungsmittel zugeführt, etwa Gas, Flammenwerfer oder der U-Bootkrieg, doch das waren zunächst Versuche in einem Stadium der Erprobung. Erst ab 1916 wurden sie zu einer allgemeinen Erfahrung. Die Artillerie war zwar keine neue Waffe, aber in ihrer Massierung, Reichweite, Geschoßgröße und teilweisen Motorisierung stellte sie die Soldaten doch vor neuartige Anforderungen. Zugleich war sie die „tödlichste Waffe“ des Ersten Weltkrieges, denn eine Mehrheit der Opfer ging auf die Wirkungen der Artilleriegeschoße zurück. Eine statistische Ermittlung der Todeszahlen der wichtigsten Schlachten auf französischer Seite ergab im Durchschnitt 67% der Verluste durch Splitterverletzungen (Sprenggranaten der Artillerie, Minenwerfer, Handgranaten), 23 Prozent durch Gewehr- und Maschinengewehrkugeln und 10 Prozent durch andere Einflüsse.3 Auf deutscher Seite wurden im Stellungskrieg an der ___________________ 2 3
Nur ein kleine Auswahl zu Verdun: Hein (1929), Schauwecker (1929), Beumelburg (1930), Wehner (1930), Zöberlein (1931) oder Ettighofer (1996, im Orig. 1936). Die Zahlen finden sich bei Linnenkohl (1996, S. 284). 10% der Ausfälle sind, neben den Waffenwirkungen, aber auch auf Erkrankungen zurückzuführen, die durch mangelnde Ernährung und Hygiene, physische und psychische Überlastung etc. verursacht wurden. Der Erste Weltkrieg war aber der erste Krieg in der Geschichte, in dem weniger Soldaten an Krankheiten starben als durch Waffeneinwirkungen. Die Entwicklung der
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Westfront 75 Prozent der Verwundungen durch Artilleriegeschosse festgestellt. Benjamin Ziemann gibt folgende vergleichbare Prozentzahlen für Tote und Verwundete auf deutscher Seite an: 76% Artilleriegeschosse, 16% Infanteriemunition, 1-2% Handgranaten, 1-2% Gas, 0,1% blanke Waffe (Säbel, Bajonett). 4 Insbesondere letztere Zahl zeigt sehr deutlich den Mythos des Kampfes Mann gegen Mann, der geradezu als untypisch bezeichnet werden kann. Auf einen sichtbaren Gegner zu treffen, der einem gegenüberstand, war nur für wenige Soldaten aktiverer Einheiten, wie etwa die Stoßtrupps, Realität. Die meisten Toten wurden auf deutscher Seite in Relation zur Dauer aber nicht im Stellungskrieg gezählt, sondern in den ersten drei Monaten des Angriffs, als die Heeresführung und auch die Mentalität der Soldaten noch ein sinnloses Vorwärtsstürmen als adäquate Strategie ansah. Erst über diese grauenhaften Verluste begann der Generalstab sich zögernd mit den Fehlern der eigenen Taktik auseinanderzusetzen. Unter dem Druck der „Übermacht des Materials“ verwandelte sich das Militär radikaler als jede andere Organisation der Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Industrialisierte Kriegführung bedeutet nicht nur den Einsatz von Waffen, die mit Hilfe industrieller Massenproduktion erzeugt werden, „sondern dass auch das Verhalten der Soldaten (ihr Krieg) von dem Umgang mit Waffen statt von der Herrschaft der Offiziere bestimmt wurde.“5 Doch erst mit der Dritten Obersten Heeresleitung (OHL) unter Ludendorff und Hindenburg wurden eine Reihe von Richtlinien und Bestimmungen herausgegeben, die in ihrer Essenz die Ersetzung des Menschen durch die Maschine beinhalteten, mit einer Radikalität, wie Michael Geyer anmerkt, die als einmalig bezeichnet werden kann.6 (Vgl. Kapitel 5.1.) Die Angleichung von Mensch und Technik wird in den Waffen selbst sichtbar. So wie der Artillerist sich dem eine Maschine bedienenden Arbeiter annähert, ist auch die andere tödliche Waffe des Krieges, das MG, eine tatsächliche Maschine. Den MG-Schützen kann man mit einem „Industriearbeiter in Uniform“7 vergleichen, besteht seine Aufgabe doch darin, mit wenigen mechanischen Bewegungen die Waffe durch festgesetzte Winkel zu steuern. Der MG-Schütze zielte nicht mehr auf einzelne Punkte, sondern versuchte durch eine mechanische Streuung des Feuers eine undurchdringliche Zone zu schaffen. Das MG war die erste ___________________
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modernen Medizin führte zu einem signifikanten Rückgang früher tödlich verlaufender Infektionen und Ansteckungskrankheiten, die durch das Zusammenleben großer Massen in Kriegen unter teils unhygienischen Zuständen bedingt waren. Ziemann 2004, S. 157. Geyer 1984, S. 100. Ebd., S. 102. Keegan 1997, S. 446.
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wirkliche Maschine auf dem Schlachtfeld und seine Geschichte ist unmittelbar durch seine furchtbare Wirkung bestimmt. In seiner Social History of the Machine Gun macht John Ellis auf die Entstehung des MGs parallel zu der automatischen Massenproduktion, wie sie in den USA Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt wurde, aufmerksam, die der europäischen Industrie voraus lief, die aber auch einen „mentalen Vorsprung“ besaß: „The most important of these was the fact that the European machine tool industry always lagged severely behind that of the United States. Thus by the time Europeans actually had the means to produce reliable automatic weapons, the key innovations had already been made by American inventors. A major explanation of this laggardly attitude towards adopting the new methods of precision engineering was undoubtedly the traditional vested interests of the skilled European gunmakers.“8
Das Maschinengewehr war eine amerikanische Erfindung. Nicht nur weil die vier größten Namen seiner frühen Geschichte – Gatling, Maxim, Browning und Lewis – amerikanische waren, sondern auch weil die USA die erste Industrienation war die über die materiellen und mentalen Bedingungen verfügte, um die Massenproduktion einer solchen Waffe überhaupt möglich zu machen. Zunächst war das MG aber eine Waffe, der der Ruf einer reinen Kolonialwaffe vorausging. Insbesondere das britische Kolonialreich setzte gegen Aufständische auf die Überlegenheit der Feuerwirkung ihrer MGs, deren oft geringe Zahl nichtsdestotrotz für Massaker verantwortlich war, die man im eigentlichen nicht als Krieg bezeichnen kann. So verloren die aufständischen Derwische bei der Mahdi-Revolte im Sudan (1898), während der Schlacht von Omdurman, 20.000 Mann. Die Briten und verbündete Truppen verfügten dabei lediglich über 20 englische MGs. Den 20.000 Toten der Aufständischen standen nur 48 Tote auf britischer Seite gegenüber.9
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Ellis 1975, S. 35. Solche asymmetrischen Verhältnisse finden wir heute in den Kriegen der USA im Nahen Osten. Während im Ersten Golfkrieg der USA gegen den Irak die Zahl der toten Iraker auf mindestens 100.000 geschätzt wird, fielen auf amerikanischer Seite lediglich 148 Soldaten, 37 davon auch noch durch sogenanntes „friendly fire“, also durch Waffeneinwirkung der eigenen Seite (Zahlen in: Münkler 2003a, S. 95). Ähnliche Relationen gelten auch für den Zweiten Golfkrieg, der Saddam Hussein zu Fall brachte. Erst nach Ende der Kriegshandlungen stieg die Zahl der toten US-Soldaten durch Bombenanschläge und Selbstmordkommandos deutlich an.
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Die deutsche Armee, die trotz ihrer langen Traditionen weder technikfeindlich noch innovationsscheu war, besaß vor dem Ersten Weltkrieg mehr MGs als die anderen Armeen in Europa. Zunächst wurden sie der Artillerie zugeschlagen, nach den ersten Erfahrungen damit aber sofort auf die Infanterie übertragen. Im Ersten Weltkrieg war das MG dann die Standardwaffe auf beiden Seiten der Front und im Rückblick erschien diese Waffe für viele noch furchtbarer als die Artillerie. „Through bitter experience, the machine taught that man himself was no longer master of the battlefield. The individual counted for nothing, all that mattered now was the machinery of war. If a machine gun could wipe out a whole battalion of men in three minutes, where was the relevance of the old concepts of heroism, glory and fair play between gentlemen? Lloyd George said that almost eighty percent of the First World War casualities were caused by machine guns.“10
Diese Schätzung Lloyd Georges ist zwar, wie die oben angeführten Zahlen zeigen, weit übertrieben, aber das MG war doch eine der effektivsten Waffen, konnte es doch ganze anstürmende Regimenter in wenigen Minuten vernichten. Von vielen Beteiligten ist später immer wieder vom „Zauber“ gesprochen worden, der eine anstürmende und brüllende Masse in eine leere, menschenlose Fläche verwandelte, bedeckt allein von Toten und Verwundeten. Die Waffe, die als größte Hoffnung für eine Überwindung der Materialwirkung betrachtet wurde, sollte schließlich zum Symbol des Ersten Weltkrieges werden: Gas. Der Abschuss von Gasgranaten bzw. zunächst das Öffnen von mit Gas gefüllten Behältern bei günstiger Windrichtung erzeugte Bilder an der Front, die von vielen Soldaten als surrealistisch wahrgenommen wurden. Der Gaskrieg gab dem Kampf einen irrealen Zug, insektenähnliche Wesen mit großen Rüsseln und riesigen Augen führten nun Krieg. Nachdem am 22. April 1915 der erste systematische Gasangriff von deutscher Seite an der Westfront gegen französische und kanadische Truppen erfolgte, fiel die moralische Barriere schon bald auch auf alliierter Seite. Gas wurde nun ein probates und wichtiges Mittel für jede Offensive. „Das Gas steht über der Materialwirkung. Es wird im Weltkriege zum treuesten und zuverlässigsten Verbündeten bei allen Versuchen, Materialwirkung auszuschalten. Gas allein hat gelegentlich zu einem vollen Triumph über das Material geführt“11, so der Weltkriegsmajor George Soldan. Er spricht von Gas als einem „ungewöhnlich humanen Kampfmittel“, da die Todesraten bei Gas ___________________ 10 11
Ellis 1975, S. 142. Soldan 1925, S. 67.
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unter 5% liegen (bei Geschossen und Splittern dagegen bei 25%), verweist aber darauf, dass Gas das stärkste psychische Mittel des Krieges darstellte, nicht nur seiner zunächst unsichtbaren Wirkung wegen, sondern auch weil der Gasbeschuss alle Mittel, die zur Nervenberuhigung dienen, wie Essen, Nikotin oder Alkohol, durch das Tragen der Gasmaske verhindere. So blieb nur noch das Warten darauf, ob die Dichtung der Maske hielt oder nicht.12 Letztlich kann man in der Verwendung von Gas einen weiteren verzweifelten Versuch betrachten, die starre Front zu öffnen. Da die eingesetzten Gase schwerer als Luft waren, krochen die Gasschwaden tief in die Gräben und Unterstände, das Gas sollte so die Verteidiger aus ihren uneinnehmbaren Stellungen hervorholen. Die Verbesserungen an der Gasmaske hielten dem Beschuss aber wiederum stand, und so war nur eine neue, fürchterliche Waffe mehr in allgemeinen Gebrauch übergegangen.13 Die Erfahrungen des Gaskrieges führten aber zur einzig nennenswerten Reaktion der beteiligten Staaten nach dem Krieg: Die Genfer Konvention von 1925 appellierte an die Staatengemeinschaft keine chemischen Waffen mehr einzusetzen. Obwohl die Vorbereitungen darauf weiterliefen und alle kriegführenden Nationen im Zweiten Weltkrieg über solche Waffen verfügten, wurden sie tatsächlich nicht verwendet. Dafür wurde die jüdische Bevölkerung Europas, alle zusammen Zivilisten, in Gaskammern ermordet – manche Autoren sehen darin einen späten Reflex Hitlers auf seine Gasvergiftung im Herbst 1918 und die Umsetzung einer bekannten Forderung in Mein Kampf, die die Vernichtungspolitik, zumindest wenn man intentionalistisch denkt, vorwegzunehmen scheint: „Hätte man zu Kriegsbeginn und während des Krieges einmal zwölf- oder fünfzehntausend dieser hebräischen Volksverderber so unter Giftgas gehalten, wie Hunderttausende unserer allerbesten deutschen Arbeiter aus allen Schichten und Berufen es im Felde erdulden mussten, dann wäre das Millionenopfer der Front nicht vergeblich gewesen.“14 ___________________ 12
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Interessanterweise sieht Soldan so weniger im Gas als in der Gasmaske das Hauptproblem. Nach ihm ist es geradezu unmöglich eine Offensive mit aufgestülpter Maske durchzuführen. Gasbeschuss der feindlichen Linien führt letztendlich dazu, den eigenen Angriff nicht unmittelbar ausführen zu können, solange die Wirkung anhält. Eine Gesamtdarstellung des Gaskrieges gibt Dieter Martinetz (1996). Hitler 1939, S. 772. Von diesem Zitat zur späteren Vernichtungspraxis eine Linie zu ziehen, bedeutet eine direkte Beziehung zwischen Ideologie, Planung und politischen Entscheidungen im Dritten Reich herzustellen, also intentionalistisch zu denken. Die sogenannte funktionalistische Position vertritt eine weniger stringente Logik: ideologische Basis und politische Initiative gehen für sie nicht unbedingt eine planmäßige
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Neben Gas war es der Flammenwerfer, der den potenziellen Opfern, den Verteidigern von Unterständen und Bunkern, panische Furcht einflößte. Die grauenhaften Bilder verbrannter und zusammengeschmorter Leichen führten die Soldaten an ihre psychischen Grenzen. Die Flammenwerfertruppe war die einzige Abteilung, die, wie später die SS und vor ihnen die Totenkopfhusaren der preußischen Armee, mit Totenköpfen signiert wurde, Symbol für ihre furchtbare Wirkung. Als Nahkampfmittel ermöglichte der Flammenwerfer den Sturmtruppen, hartnäckig verteidigte Stellungen auch ohne Artillerieeinsatz zu beseitigen.15 Alle diese auf Massenwirkung setzenden Waffen, bei denen Heroismus und Mut des Einzelnen eine geringere Rolle spielten, führten natürlich dazu, dass die militärische Elite nach neuen Wegen suchte, sich auszuzeichnen. „The officer corps still looked for battlefields where there was a place for individual acts of heroism. The advent of industrialised society had in fact meant the end of the type of war, such men dreamed of. Battle was now simply a matter of numbers, and the heroism of the individual, or even the unit, was now an irrelevancy. But old habits die hard.“16 Auch wenn man dieser Aussage zustimmen muss, es gab doch ein Kriegsmittel, das wieder zum Symbol des ritterlichen Zweikampfes wurde, obwohl es im Ersten Weltkrieg noch in den Kinderschuhen ___________________
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Beziehung miteinander ein. Der Eindruck einer durchdachten Politik der Nationalsozialisten ist für die Funktionalisten so häufig nur vom retrospektiven Standpunkt aus gegeben. Der Gegensatz der beiden Positionen zeigt sich am deutlichsten in der Interpretation der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. In der funktionalistischen Auffassung war das NS-System weithin chaotisch, wichtige Entscheidungen oft das Ergebnis unterschiedlichster Bestrebungen, wobei zentrale Planung und klare Befehle von oben fehlten. Für die Intentionalisten führt eine eindeutige Linie von der Ideologie zur Praxis. Eine Kombination beider Erklärungsansätze scheint mir am plausibelsten und dennoch bleiben viele Fragen weiter offen, wie etwa Henry Friedländer in seiner Rekonstruktion des „NS-Genozids“ konstatiert: „Trotz aller Bemühungen können wir noch immer nicht begreifen, warum scheinbar normale Männer und Frauen fähig waren, solch außerordentliche Verbrechen zu begehen. Weder Ideologie noch Eigeninteresse ist eine zureichende Erklärung für ein derartiges Verhalten. Diese Mörder gehörten zu jener Zeit und zu jenem Ort.“ (Friedländer 1997, S. 392) Bezogen auf Stalingrad schreibt Alexander Kluge in seiner Schlachtbeschreibung im selben Sinne: „Es gibt keinen einzigen Menschen in Deutschland, der so fühlt, so sieht oder denkt wie irgendeiner der Beteiligten 1942.“ (Kluge 1983, S. 298) Siehe Theune (1920). Das kleine Büchlein Flammenwerfer und Sturmtruppen ist eine schriftliche Anleitung zum Gebrauch und der taktischen Verwendung des Flammenwerfers, „wie sie im Kriege vorhanden hätte sein sollen“, so der Hauptmann und Autor. Ellis 1975, S. 116.
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steckte: das Flugzeug. In der neu aufgestellten Luftwaffe verschwindet der namenlose Soldat der Gräben und des Niemandslandes zugunsten mythischer Namen, die jedes Kind kannte, allen voran die Namen der berühmtesten Jagdflieger auf deutscher Seite: Manfred Freiherr von Richthofen (der Rote Baron), Max Immelmann, Oswald Boelcke, der spätere Reichsmarschall Hermann Göring oder Ernst Udet, von Göring 1939 zum Generalluftzeugmeister der Luftwaffe ernannt.17 Ihre Bekanntheit spiegelt auch etwas von dem Wunsch wieder, die Anonymität des Krieges zu durchbrechen. Abgeschossene Jagdflieger wurden entweder ritterlich von ihren Feinden behandelt oder erhielten, bei Tod, einen ehrenvollen Abschied. Hier spielte eine kleine Clique aus zumeist ehemaligen Kavallerieoffizieren noch den aristokratischen Krieg zwischen professionellen Militäreliten. Zugleich war das Flugzeug als Bomber und zuvor noch der Zeppelin eine Waffe, die den Krieg endgültig in die Zonen des zivilen Hinterlandes trug. Wilhelm II. wehrte sich zu Beginn auch dagegen, seine „Verwandten“ in Großbritannien durch Angriffe von Zeppelinen zu gefährden. Es sollten nur rein militärische Ziele bombardiert werden, eine Absicht die schon allein durch die mangelnde Navigationsleistung bei Nachtflügen konterkariert wurde. Bei Tage aber wären die Zeppeline ein leichtes Opfer der englischen Luftwaffe gewesen.18 Mit Fortdauer des Krieges fielen aber wie üblich alle Beschränkungen und die Luftwaffe wurde – neben ihrem Einsatz über den Schlachtfeldern und zu Aufklärungszwecken – zu dem, was sie im Zweiten Weltkrieg endgültig werden sollte: ein Mittel zur Terrorisierung der Zivilbevölkerung. Eine weitere neue Waffe, das U-Boot, führte zum Kriegseintritt der USA. Als Reaktion auf die britische Seeblockade, die in Deutschland zunehmend Mangel an Rohstoffen und Lebensmitteln hervorrief, verlangte die Seekriegführung unter Admiral Tirpitz schon sehr früh den ___________________ 17
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Im Gegensatz zum Jagdflieger kann der Bomberpilot nicht heroisiert werden, da er den industriellen Krieg und das anonyme Töten beispielhaft verkörpert. Ihm fehlt jede Ritterlichkeit, denn seine Opfer sind im Wesentlichen Zivilpersonen. In Deutschland waren vor dem Krieg die meisten Energien in die Entwicklung des Luftschiffes gesetzt worden, da es eine größere Reichweite besaß als auch weit höhere Lasten transportieren konnte. Das Luftschiff wurde im Kriegsverlauf bald nur noch von der Marine eingesetzt, da es sich über Land als allzu verwundbar gezeigt hatte. Die Bombardierung der englischen Hauptstadt war schließlich das letzte Projekt, bei dem das Luftschiff den Vorzug vor dem Flugzeug erhielt. Die auf deutscher Seite niederschmetternde Tatsache, dass dabei mehr Besatzungsmitglieder als Londoner Bürger umkamen, hat sicherlich dazu beigetragen, die eigenen Bombenangriffe in Zukunft ohne die verletzlichen Zeppeline durchzuführen.
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totalen U-Bootkrieg. Der uneingeschränkte U-Bootkrieg bedeutet, dass ohne Vorwarnung feindliche und neutrale Schiffe versenkt werden dürfen. Nach damals geltendem Seekriegsrecht ein Kriegsverbrechen. Aber man könnte natürlich zu Recht einwenden, dass die englische Fernblockade ebenfalls völkerrechtswidrig war. Und die Argumente für einen totalen U-Bootkrieg waren auf den ersten Blick auch zwingend: Die amerikanische Industrie arbeitete ja bereits für die Alliierten, bis die USA ihre Soldaten mobilisiert und nach Europa gebracht hätten, so die allgemeine Auffassung, wären England und Frankreich längst zusammengebrochen. Die deutsche Marineleitung versprach, jeden Monat 600.000 Tonnen Schiffsraum zu versenken, ein Verlust denn keine Industrie der Welt Anfang des 20. Jahrhunderts ersetzen konnte. Manche Admirale verpfändeten ihr Ehrenwort, dass der Krieg mit Ausrufung des totalen U-Bootkriegs in sechs Monaten beendet sein würde. Trotz all dieser Argumente wehrten sich Bethmann Hollweg und die Reichsleitung lange Zeit, den „uneingeschränkten U-Bootkrieg“ auf deutscher Seite zu beginnen, denn das musste den Kriegseintritt der USA zwangsläufig hervorrufen. Aber die Kriegslage und das wiederholte Drängen insbesondere auch der 3. OHL hatte im Januar 1917 endgültig Erfolg. Dieser Schritt hatte entscheidende politische Folgen, denn durch die Versenkung amerikanischer Passagierschiffe (insbesondere der Lusitania) durch deutsche U-Boote konnte die amerikanische Regierung mit einem breiten gesellschaftlichen Konsens bei Kriegseintritt rechnen. Am 6. April 1917 erklärten schließlich die USA dem Deutschen Reich den Krieg. Im totalen U-Bootkrieg – wie auch dem in seinen Anfängen steckenden Luftkrieg – verschwand endgültig die Differenz von Soldaten und Zivilisten, Neutralen und Kombattanten. Briten wie Deutsche versuchten sich gegenseitig auszuhungern und die Moral der Zivilbevölkerung zu demoralisieren. Den gewaltigen Kräftezuwachs auf Seiten der Entente durch den Kriegseintritt der USA konnten die Mittelmächte nicht ausgleichen. Die Ausrufung des totalen U-Bootkrieges war denn auch eine der politisch folgenschwersten Fehler der deutschen Kriegspolitik.19 Gegen Ende des Krieges erschien schließlich eine Waffe, die die Hoffnung symbolisierte, den Grabenkrieg endlich doch noch überwinden zu können. Tatsächlich sollte erst die Entwicklung des Panzers, der als die Verbindung von Feuer und Bewegung definiert werden kann, die ___________________ 19
Für Sebastian Haffner machte Deutschland mit dem unbeschränkten U-Bootkrieg zum zweiten Mal in noch größerem Maßstab den gleichen Fehler, den schon der Schlieffenplan in sich trug. „Wieder nahm es um eines unsicheren, nur erhofften Gewinns willen ein sicheres Übel in Kauf.“ (Haffner 2001, S. 65)
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Möglichkeit geben, feindliche Stellungen mit geringeren Verlusten anzugreifen. Die Briten konstruierten als Erste ein gepanzertes Raupenfahrzeug, Codename tank, hatten aber noch keine Strategie, seine ansatzweise sichtbare Überlegenheit auf dem Schlachtfeld taktisch umzusetzen. Zwar wurden im Ersten Weltkrieg ab 1917 auf alliierter Seite bereits Panzer in größerer Zahl eingesetzt (etwa vor Cambrai), es fehlte aber eine schlüssige Konzeption für ihre Verwendung im Zusammenspiel mit der Infanterie. Dennoch brachten die ersten massierten Panzerangriffe die deutschen Verteidiger unter massiven Druck. Die deutsche Industrie konnte aufgrund von Materialmangel nur einige wenige Panzer produzieren, es fehlte auch an Rohöl und Benzin für motorisierte Einheiten, die industrielle Überlegenheit der Entente zeigte sich am Beispiel der Tanks in deutlicher Weise. Wurde auf deutscher Seite – vor allem aufgrund von Rohstoffmangel – die Entwicklung des Panzers im Ersten Weltkrieg vernachlässigt, so erkannten nach Kriegsende einige Reichswehroffiziere sehr rasch die Bedeutung dieses Kampfmittels. Die eigens von Offizieren wie etwa Heinz Guderian geschaffenen und neu aufgestellten Panzerdivisionen sollten der Wehrmacht unter Hitler dann zu Beginn des Zweiten Weltkrieges auch die größten Erfolge bringen.20 Alle diese Waffen erforderten aber auch eine sorgfältige Koordination und Steuerung von Millionen Soldaten über weit ausgedehnte Frontabschnitte. Mit Beginn des Ersten Weltkrieges standen deshalb die Mittel der Informationsübertragung im Zentrum der Aufmerksamkeit. So wie der einzelne Soldat unter der „Übermacht des Materials“ die Neudefinition seiner Rolle im großen Kriegstheater fühlte, so stellte sich der militärischen Führung die Frage nach der Lenkung der auf riesige Areale verteilten Millionenheere. Hier fanden die neuen Nachrichtenmittel, Telegrafie und insbesondere Telefon, ihre Aufgabengebiete: „Je mehr die Schlachtfelder durch das ständige Anwachsen der Volksheere und durch die stetig zunehmende Leistungsfähigkeit unserer Feuerwaffen an Ausdehnung gewannen, umso mehr hatte sich ja gezeigt, dass nur die Telegrafie dem Feldherrn die Möglichkeit bietet, das Schlachtfeld zu beherrschen.“21 Bereits am 1. Oktober 1899 wurde in der deutschen Armee die Telegraphentruppe als eigene militärische Abteilung – aber noch als Teil der Verkehrstruppen – geschaffen. Insbesondere die Erkenntnisse des ___________________ 20
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Zur Geschichte der deutschen Panzerwaffe bzw. der eng damit verbundenen Blitzkriegskonzeption vgl. Guderian (1996) bzw. Bradley (1978). Kritisch zum Begriff der Blitzkriegsstrategie Frieser (1995). Vgl. auch Kapitel 7.3. dieser Arbeit. Schott, Generalmajor 1925, S. 29.
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russisch-japanischen Krieges, der zum ersten Mal in der Kriegsgeschichte wesentlich mit Hilfe technischer Nachrichtenmittel geführt wurde, hatten später entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der militärischen Nachrichtentruppe der deutschen Armee. Dominierte zunächst die Telegrafie, so trat alsbald das Telefon seinen Siegeszug an. Es war für die Anforderung, schnelle, feldmäßige Verbindungen herzustellen, dem komplizierteren und wesentlich langsameren Morsesystem überlegen. Mit ausgebauten Netzen konnte die Leistungsfähigkeit des Telefons zu dieser Zeit von keiner anderen Nachrichtentechnologie übertroffen werden. „Der Fernsprecher regierte“, so der spätere Generaloberst und „strategische Vater“ der deutschen Panzerwaffe im 2. Weltkrieg, Heinz Guderian.22 Der Generalstab hatte zwar zunächst Angst davor, das Telefon allein einzusetzen, denn „man fürchtete, dass bei der Übermittlung von Fernsprüchen sinnentstellende Fehler vorkommen könnten, ohne dass festzustellen wäre, wer die Schuld trüge, und wollte auf den Morsestreifen als schriftliches Dokument deswegen nicht verzichten“,23 doch ließen sich die Generalstabsoffiziere schließlich von den Vorzügen des Fernsprechers überzeugen, vor allem deshalb, weil er insbesondere „den persönlichen Meinungsaustausch der Führer“ 24 erlaubte. 1911 wurde in der deutschen Armee der reine Fernsprechbetrieb eingeführt. Parallel dazu forcierte das Heer die Funktelegrafie, die 1897 dem Kaiser erstmals vorgeführt und die den Vorteil der drahtlosen Übermittlung von Nachrichten besaß, deren technische Unzulänglichkeiten aber noch vielfache Probleme verursachten. Alte Technologien wie optische Signalgeräte, Brieftauben und Meldehunde verloren im Zuge dessen zunehmend ihre Bedeutung, bis sie schließlich im Laufe des Weltkrieges doch wieder eingesetzt wurden, vor allem deshalb, weil die Fernsprechnetze vollständig überlastet oder durch die Wirkungen des feindlichen Artilleriebeschusses unbrauchbar geworden ___________________ 22
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Guderian 1935, S. 99. Es ist sicher kein Zufall, dass Heinz Guderian zum Gründer der deutschen operativen Panzerwaffe des Zweiten Weltkrieges wurde. Im Ersten Weltkrieg Mitglied eines Telegraphenbataillons erkannte er sofort die Bedeutung der modernen Nachrichtenübermittlung für schnelle Verbände. Schon in der Zwischenkriegszeit forderte er für die Ausstattung der neu zu schaffenden Panzerdivisionen eine Verbindung mit Funk für jeden einzelnen Panzer, um so die Führung der Truppe möglichst effektiv zu ermöglichen. Gerade diese Nachrichtenverbindung innerhalb der Panzerdivisionen trug Wesentliches zu den ersten Erfolgen der sogenannten Blitzkriege bei. Deren Konzept beruhte auf der Bewegung als dem entscheidenden Faktor des Krieges. Guderian selbst hat stets die Synthese von Motor und Radio, also Funk, betont. (Vgl. Bradley 1978, S. 169) Schott 1925, S. 38. Ebd., S. 48.
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waren. Die alten Mittel, insbesondere auch Meldegänger wie etwa der Gefreite Hitler, blieben angesichts der Zerstörungskraft der Artillerie oftmals die einzig verlässlichen Verbindungen. Aus den Schützengräben der Schlachtfelder heraus versuchten Soldaten der Nachrichtentruppe immer wieder, Verbindung zu den hinter ihnen liegenden Heeresverbänden, insbesondere den Armeeoberkommandos herzustellen. Telefon- und Telegraphenleitungen wurden über riesige Strecken verlegt, zerstörte Leitungen mussten ausgebessert und erneuert, Zusammenschlüsse einzelner Netze bewerkstelligt werden. „Was der kunstgerechte Ausbau dieser Netze auf sich hatte, davon kann man sich keinen Begriff machen. An der Front der Einbau der drahtlosen und der Fernsprechstationen in Unterständen und die Verlegung der Leitungen in Gräben, hinter der Front der Ausbau aller der oben genannten Leitungsnetze und die Einrichtung der Stationen mit ihren zahllosen Anschlüssen. War doch die normale Station eines Armeeoberkommandos schließlich derart angewachsen, dass sie etwa einem Fernsprechamt von der Größe in Mainz gleichkam.“25
Die Friedensstärke der Telegraphentruppe betrug vor 1914 550 Offiziere und 5.800 Mann, nach der Mobilmachung im August 1914 besaß sie bereits 800 Offiziere und 25.000 Mann, um schließlich bei Kriegsende ihren Höchststand zu erreichen: 4.381 Offiziere und 185.000 Mann. 26 Diese Zahlen und die durch Kabinettsorder vom 18. Juli 1917 angeordnete Trennung der Telegraphentruppe von der Verkehrstruppe und ihre Umbenennung in eine selbstständige Organisation mit dem Namen „Nachrichtentruppe“ zeigen den Bedeutungszuwachs der Nachrichtendienste und -verbindungen im Ersten Weltkrieg. Sie gelten nun als „die Nerven des mobilen Heeres“, 27 dessen Größe und Tendenz zur Ausdehnung der Fronten selbst ein Faktor für die entscheidende Rolle der neuen Führungstechniken darstellt. Trotz aller Voraussicht überwog aber das improvisatorische Element. Die unvorhersehbare Dynamik des Krieges machte die mangelnde Vorbereitung umso klarer, je schwieriger die Bedingungen des Kampfes wurden: „Die Führung der Massenheere war ein Problem, das in der Vorkriegszeit häufig gestreift, aber nie durchgearbeitet worden war. Die früheren Kriege haben, teils wegen ihres geringen Umfanges, teils infolge ihres langsamen Verlaufes, des schnellen und vorbereiteten ___________________ 25 26 27
Ebd., S. 85. Für eine Offensive von lediglich 12 km Ausdehnung gibt Generalmajor Schott die dazu erforderliche Materialmenge mit 53,3 Tonnen, sprich 8 Eisenbahnwaggons, an. Randewig 1925, S. 95 und S. 124. Schniewindt 1929, S. 129.
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Einsatzes von Nachrichtenverbindungen nicht bedurft“.28 Und der General von Kuhl resümiert resignierend in seinen Erinnerungen an die Marneschlacht: „So sorgfältig sich der Generalstab auf den Krieg vorbereitet hatte, in der Technik der Leitung eines Millionenheers waren wir 1914 nicht zu einer ausreichenden Organisation gelangt“.29 Das ist natürlich in seiner pessimistischen Einschätzung übertrieben, macht aber deutlich, wie wichtig verlässliche und sichere Kommunikationsmittel für die moderne Kriegführung sind. Neben der rein militärischen Informationsvermittlung wurde im Laufe des Ersten Weltkrieges eine andere Kommunikationstechnik immer entscheidender: die Propaganda. Im Wesentlichen verfolgte sie drei Ziele: einmal die Festigung der moralischen Kräfte der eigenen Bevölkerung und die der Soldaten an der Front; zum zweiten die Vernichtung der „seelischen Widerstandskräfte“ des Gegners und drittens die Beeinflussung der öffentlichen Meinung in den neutralen Staaten der Welt. Wie sehr zu Beginn des Krieges das Mittel der Propaganda insbesondere bei der traditionellen Militärelite noch in Verruf stand, zeigt etwa die Tatsache, dass gefangene Flugzeugführer, die Flugblätter hinter der Front abwarfen, nicht als Kriegsgefangene, sondern als Spione eingestuft wurden. So unmilitärisch und ruchlos fand man ihr Vorgehen. Eine gezielte Propaganda fand in Deutschland im Ersten Weltkrieg auf vielfachen Ebenen statt: Neben der gegen Kriegsende eingeführten „Vaterländischen Erziehung“ 30 für die Soldaten sollten v.a. Bilder den Kriegsalltag propagandistisch beeinflussen. Plakate mit Gräueltaten der Alliierten, Bildpostkarten, die in Millionen Stück den Krieg verharmlosten, Kriegsphotografie mit geschönten Aufnahmen von Schlachtfeldern und den ewig gleichen Kameradschaftsbildern, die Flut der Bilder in den populären Medien war enorm. Schließlich sollte auch das neue Medium des Films propagandistisch eingesetzt werden. Auf persönliches Drängen Ludendorffs wurde am 18. Dezember 1917 eine große deutsche Filmfirma gegründet, die ab den 20er Jahren weltberühmte Ufa. Nach dem Willen der 3. OHL sollten v.a. Propagandafilme gedreht werden, doch die Ufa kümmerte sich wenig um diese Vorgaben und bot dem Publikum eine viel wichtigere Sache: Unterhaltung. Nach Kriegsende wurde auf deutscher Seite vielfach die Unterlegenheit der eigenen Propaganda gegenüber dem Feind beklagt. Positiv gewendet war der „Deutsche“ einfach nicht fähig ein so unmilitärisches Mittel anzuwenden. Für die „Technokraten der Kriegführung“, Offiziere, ___________________ 28 29 30
Ebd., S. 150. Ebd. Zum „Vaterländischen Unterricht“ vgl. den Aufsatz von Jürgen Förster (2002).
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wie etwa Ludendorff, gab es solche „nationalen Entschuldigungen“ aber nicht. Für ihn erklärte sich „die Niederlage nicht mit der materiellen Überlegenheit der Entente, sondern mit ihrer überlegenen Propaganda.“31 Sie wurde in der Folge zu einer Art Heilslehre auf deutscher Seite, so als ob Propaganda alles möglich machen könnte und kulminierte schließlich im Nationalsozialismus, der die Propaganda in den Mittelpunkt seiner Politik stellte, ja kaum mehr eine Unterscheidung zuließ, da jede praktische Politik in eine symbolische und propagandistische Handlung aufgelöst wurde. Der unbestreitbare und größte Erfolg der deutschen Propaganda und der geistigen Kriegführung im Ersten Weltkrieg war aber die Destabilisierung Russlands, die Unterstützung Lenins und als Folge der Zusammenbruch der zaristischen Herrschaft, Voraussetzung für den Diktatfrieden von Brest-Litowsk. Im Nachkriegsdeutschland wurde dieser Erfolg aber gerne totgeschwiegen. Die These der Ohnmacht der eigenen Propaganda konnte man ja nur sehr schwer mit diesem Erfolg vereinbaren. So blieb unter dem Strich die Erklärung, v.a. der feindlichen Propaganda unterlegen zu sein und weniger der Waffenwirkung. Aber es ist nicht nur die reine Propaganda als vielmehr die im Weltkrieg entstehende Massenkommunikation, die eine entscheidende kulturelle Wende kennzeichnet. Die zwangsweise erfolgte Mobilität der in den Krieg Geworfenen, die sich in fremden Ländern wiederfanden, in die sie im Frieden niemals gekommen wären, forderte eine Massenkommunikation, auf die sich Öffentlichkeit aufbaute. Für die Masse der bäuerlichen Soldaten entstand erstmals die Situation, sich selbst in schriftlicher Form über Briefe und Feldpostkarten zu verorten. Gerd Krumeich verweist in diesem Zusammenhang auf breitere mentalitätsgeschichtliche Wirkungen: „Und selbstverständlich muss beachtet werden, wie weit die im Weltkrieg zur alltäglichen Wirklichkeit werdende Massenpropaganda über ihre direkten Zielsetzungen hinaus die kommunikativen Strukturen sowie Hör-, Seh- und Lesegewohnheiten in ungeheurem Maße veränderten. Man wird die nationalsozialistische bzw. faschistische Propaganda ohne diese bürgerlich-militaristischen Vorläufer nicht verstehen können.“32
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Schivelbusch 2003, S. 257. Die These der Überlegenheit hat aber dennoch einen „wahren“, demokratischen Kern. „Wenn es eine Überlegenheit der Entente-Propaganda gab, dann bestand sie darin, dass sie von Journalisten gemacht wurde, die ihr Handwerk der Massenmanipulation im modernen Sensationsjournalismus gelernt hatten und frei von den Beschränkungen des militärischen Denkens waren.“ (Ebd., S. 261f.) Krumeich 1996, S. 15f.
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4 . 2 . P r i m a t d e s Wi l l e n s Alle diese neuen Mittel, Kommunikationstechniken, Strategien, Methoden und Verhaltenskodizes verallgemeinerten sich, nach ersten Erprobungen ein Jahr zuvor, ab 1916 zu furchtbaren Vernichtungsinstrumenten. Das Kriegsjahr 1916 sah, „sowohl Heraufkunft als auch Bejahung des neuen Krieges in ihrem spektakulärsten Ausmaß.“ 33 Ähnlich charakterisiert German Werth die Logik des Krieges: „Die Ereignisse des Jahres 1916 spielen noch vor dem Tag, an dem der Tank auf dem Schlachtfeld erscheint und die bisherige Kriegführung revolutioniert, Ereignisse wie vor unserer Zeitrechnung. Die Tonnenideologie der Artilleriefachleute diktiert das Gesetz der Schlacht. Das Material soll die Entscheidung bringen. Die Materialschlacht als Leistungsnachweis der Industriekapazität, ein Kampf um jeden Meter Boden.“ 34 Jörg Friedrich charakterisiert die neue Dimension des industrialisierten Krieges anhand der horrenden Verlustzahlen: „Das Jahr 1916 hat Europa in einen allseitigen Selbstvernichtungswahn gestürzt, der in der Historie kein Beispiel kennt. Die fünf Mächte (Deutschland, Österreich-Ungarn, Frankreich, England und Russland) fügten einander Verluste von vier Millionen Mann zu.“35 Das Jahr 1916 symbolisiert den Beginn eines Krieges, der alle alten Formen von Taktik, Methode und Kriegführung endgültig verdrängen sollte. Es war nun weniger ein militärischer als ein industrieller Krieg, ein unaufhörlicher Wettbewerb der Waffen produzierenden Länder um höhere Ausstoßziffern und Produktionsleistungen. Ein Krieg der Chemiker und Mathematiker, ein Krieg der Wissenschaftler und Ingenieure, in ihm verloren der Soldat und seine kriegerischen Tugenden immer mehr an Bedeutung. Das Bewusstsein, an einem völlig neuartigen Kampf teilzunehmen, kam auch dem Stoßtruppführer Ernst Jünger – eigenen Angaben zufolge nach dem Beginn der Artillerieschlachten – im Sommer 1916. „Nein, 1914 wussten wir noch nichts vom Material. Eine kleine Ahnung davon bekamen wir in den ersten Trommelfeuern, durch die man uns auf eine neue und grausamere Art zu beschießen begann. Aber erst, als uns das Schicksal 1916 nach dem doppelten Mahlgange der Verdun-Offensive in die fabelhafte Landschaft an der Somme verschlug, enthüllte sich uns der Wille der großen Staaten, der an den Fronten seine feurige Entladung fand.“36
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Ekstein 1991, S. 257. Werth 1994,S. 14. Friedrich 1995, S. 110. Jünger 1925b, S. 447.
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Der bekannte Militärhistoriker Herbert Rosinksi verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass mit dem Jahre 1916 ein neuer Typus des Kämpfers die Schlachtfelder prägte, den er in heroisierender Weise folgendermaßen charakterisiert: „So entstand um 1916 ein neuer Typus des Soldaten, der sich in einer Hölle von Feuer und Blut formte. In den Frontkämpfern unter dem Stahlhelm, mit verschmutzten Uniformen, brennenden Augen und hagerem Gesicht fand die Materialschlacht ihre Verkörperung: dieser neue Soldat war durch nichts zu erschüttern, er war abgehärtet von dem tödlichen Grauen ringsum, gleichgültig, erfindungsreich, selbständig bis an die Grenze des Ungehorsams – ein Mann, für den der Krieg zu einem harten, alltäglichen blutigen Handwerk geworden war, entblößt allen äußeren Glanzes und alles falschen Heldentums, die früher die schlimmsten Schrecken überdeckt hatten.“37
Erst 1916 waren die großen Nationen annähernd so weit, ihre industriellen Kapazitäten unmittelbar auf dem Schlachtfeld umzusetzen. Die daraus resultierende jahrelange Phase des „strategischen Stillstandes“ war die für den Ersten Weltkrieg bei weitem längste und signifikanteste Periode. In seinem Aufsatz Feuer und Bewegung, den beiden entscheidenden Elementen des modernen Krieges, kommt Ernst Jünger zu einer chronologischen Abfolge der Kampfhandlungen. Bei der Betrachtung des Gesamtverlaufes des Krieges ergibt sich für ihn folgende zeitliche Aufeinanderfolge: „Drei große Abschnitte heben sich in ihm voneinander ab. Im ersten wird die Entscheidung vergeblich durch die Bewegung alten Stiles gesucht. Der zweite zeichnet sich durch die absolute Herrschaft des Feuers aus. Im dritten deuten sich Bestrebungen an, die Bewegung durch neue Methoden wieder in Fluss zu bringen.“38 Der mittlere Abschnitt, der Abnutzungskrieg von 1916/17 war die bei weitem längste und konsistenteste Periode und verkörpert in den Namen Verdun, Somme oder Flandern mehr als alles andere die Logik und das Wesen des Ersten Weltkriegs. Dieser zeitlich lange andauernde Abschnitt brachte endgültig eine vollkommene Auflösung der traditionellen Auffassungen und Überzeugungen der Kriegskunst mit sich. Keine genialen Schachzüge oder überraschenden Manöver, einsame Heldentaten und persönliche Tapferkeit, sondern Ordnung, Methode, System, pure Beharrlichkeit, sind nun der (vermeintliche) Schlüssel zum Erfolg: „Die Gewichte deren man sich bedient, sind Materialmassen, die der technische Arbeitsgang der großen Industriestaaten in immer angespannterer Anstrengung
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Rosinski 1970, S. 148. Zum Frontsoldaten als Stahlnatur siehe Kapitel 6. Jünger 1930a, S. 114.
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fabriziert. […] Auf diese Weise entsteht das Bild der Materialschlacht, das Bild einer ungeheuren Entfaltung von technischen Energien, deren Wirkung jedoch über den taktischen Erfolg nicht hinauszugreifen vermag.“39
Die Schere zwischen den neuen Destruktionsmitteln und veraltetem strategischen Denken wurde im Verlauf des tödlichen Ringens immer deutlicher. Die gesteigerte Feuerkraft der Artillerie konnte das Missverhältnis von Angriff und Verteidigung zugunsten der Defensive (vgl. Kapitel 2), nicht mehr verschieben. Alle Offensiven, sei es 1916 die der Deutschen vor Verdun, die der Engländer an der Somme oder die 1917 von Meutereien begleitete Offensive der französischen Armee am Chemin des Dames – der Effekt war stets ein ungeheuerer Verlust auf Seiten der Angreifer. Das Niemandsland zwischen den Fronten wurde zum modernen Schlachthaus, über und über mit Leichen und verwesenden Körpern bedeckt, von der Artillerie wieder an die Oberfläche geholt und zerstückelt. Die Existenzbedingungen der Männer in den Gräben verloren jeglichen zivilisatorischen Standard. In den einzelnen kriegführenden Ländern entstandene Kosenamen wie das deutsche Frontschwein oder der französische poilu (Haariger) können wohl nicht deutlicher den Abstand zu den prunkvollen und heroischen Figuren früherer militärischer Auseinandersetzungen und das Bewusstsein der tierischen Existenz der Grabenkämpfer markieren. Hier wurde tatsächlich eine Grenze für den Menschen überschritten, die Körper und Seelen zerstörte. Für manche spätere Interpreten lag die Nähe zu den Bildern von Leichenhaufen und Massengräbern aus den deutschen Vernichtungslagern nahe: „Der Schützengraben, schrieb Robert Kee fünfzig Jahre später, war das Konzentrationslager des Ersten Weltkrieges, und mag der akademische Betrachter eine solche Analogie auch für unhistorisch halten, so muten doch alle Schilderungen des 1. Juli [dem Angriffstag an der Somme; A.M.] ‚treblinkahaft‘ an, wenn man sich jene langen gefügigen Reihen uniformiert-zerlump-
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Ebd. S. 115f. Die Materialschlacht selbst führt wiederum, wie Herbert Rosinski ausführt, innerhalb der militärischen Führung zu einer Aufwertung des Generalstabes: „Ein Machtgewinn des Generalstabes war keine zwingende Konsequenz, er war das unvermeidbare Ergebnis des Übergangs von der beweglichen zur starren Kriegführung. Da beim Stellungskrieg die Notwendigkeit rascher Entscheidungen ab und die Menge verwaltungsmäßiger Stabsarbeit zunahm, kam es in allen Armeen unweigerlich dazu, dass die Rolle der Befehlshaber geringer und die der Generalstabsoffiziere bedeutender wurde.“ (Rosinski 1970, S. 144) Diese Tatsache lieferte unendlichen Konfliktstoff zwischen kämpfender Front und der sogenannten Etappe.
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ter, schwer bepackter und ihre Nummern um den Hals tragender junger Männer vorstellt, die sich über zerstörtes Land ihrem Ende im Stacheldraht entgegenschleppten.“40
Stand bei Kriegsbeginn auf allen Seiten noch die Vorstellung von schneidigen Angriffen, unwiderstehlichem Vorwärtsstürmen und Bewegungsschlachten im Mittelpunkt, so wurde mit Beginn des Erstarrens, insbesondere der Westfront, eine neue Materialität und Realität des Krieges sichtbar. Im Stellungskrieg wird der Spaten wichtiger als das Gewehr, mehr Bergarbeitern denn Soldaten ähnlich, verlieren Begriffe wie Heldentum und Begeisterung für den einfachen Soldaten jeglichen Sinn. Die Maschine bestimmt nun den Krieg. „Für Soldaten und Offiziere rückte im Kampfgeschehen der adäquate Umgang mit den Kriegsmaschinen, die Kooperation im Rahmen des kampftechnischen Gefüges und ein sachliches Abwägen der Möglichkeiten an die Stelle, an der zuvor der heroische Elan gestanden hatte.“41 Vor der Übermacht der industriellen Waffen bleibt dem Soldaten nur noch der Schutz des Eingrabens und Unsichtbarmachens.42 Das buchstäbliche Verschwinden des Gegners und die Aufgabe ihn zu „suchen“ wird zu einem Hauptproblem der militärischen Aufklärung: „Und das ist die immer wiederkehrende Litanei der deutschen Soldaten: wütendes Feuer von drüben und schreckliche Verluste, aber vom Gegner, der sich wie toll gebärdet, ist nicht das geringste zu sehen. Es scheint, dass die höhere Führung nie einen Gedanken daran verschwendet hat, wie sie den Soldaten beibringen könne, was man tun müsse, um den Gegner erst einmal ausfindig zu machen, ihn zu entdecken, zu erkennen, zu orten.“43
Einen Krieg ohne Gegner zu führen war psychisch schwer zu verkraften. Dem Dauerbombardement ausgesetzt, ohne jemals den Verantwortlichen dafür greifbar vor sich zu haben, zerrte an den Nerven. Technische ___________________ 40
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Keegan 1991, S. 304. Und an anderer Stelle: „Das menschliche Bindeglied zwischen dem Holocaust des Ersten Weltkriegs und dem der Konzentrationslager muss jedem, der zur Betrachtung der augenscheinlichen Gewissheit fähig ist, unleugbar erscheinen.“ (Keegan 2000, S. 446) In Deutschland dürfte eine solche Analogie, anders als für einen angelsächsischen Autor, wohl nicht möglich sein. Kaufmann 1996, S. 259. Zu den Techniken des Verschwindens vgl. Virilio 1995, S. 91-110. Eric Leed (1979, S. 138ff.) verweist auf die Verlagerung der Kriegführung unter die Erde und in die Nachtstunden. Der Stellungsbau findet ausschließlich im Schutz der Dunkelheit statt (zum Stellungskrieg und seiner Architektonik der Gräben und Anlagen, vgl. Seeßelberg 1926). Unruh 1986, S. 95.
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Vernichtungsmittel beherrschen das Schlachtfeld. George Soldan hat in diesem Zusammenhang auf die Verschiebung im Verhältnis des Menschen zur Technik hingewiesen: „Die Macht der Maschine zwingt den Menschen in die Erde. Es beginnt jener Kampfabschnitt des Weltkrieges, von dem niemand bestreiten kann, dass in ihm das Material nicht allein die ausschlaggebende, sondern die absolut beherrschende Rolle spielt. Die Materie triumphiert, der Mensch selber wird nur als Material gewertet. Wir erleben die mechanische Vernichtungsarbeit unserer Geistesschöpfung, der Maschine, stehen machtlos dabei und finden kein Mittel, wie wir es ändern können.“44
Die von Soldan beschriebene Übermacht der Maschine geht mit der Erfahrung der eigenen Nichtigkeit einher. Die Logik der industriellen Feldschlacht entpersonalisiert die kriegerische Auseinandersetzung. Selbst Soldaten, die vier Jahre ununterbrochen Krieg führten, haben oftmals keinen einzigen Gegner zu Gesicht bekommen. Die Techniken des Eingrabens und Unsichtbarmachens, Reflex auf die todbringende Wirkung der Maschinenwaffen, erzeugen eine Leere des Schlachtfeldes, das verlassen von Menschen, eine Atmosphäre der absoluten Bedrohung ausstrahlt. Dennoch halten Autoren wie Ernst Jünger, im Rekurs auf den Willen daran fest, dass der Mensch dem Ganzen immer noch Ordnung und Logik gibt. Der Mensch bleibt immer noch Herr über seine Erfindungen. Die von Günter Anders in den 70er Jahren beschriebene „protheische Scham“ des Menschen (Anders 1992) angesichts der Perfektion seiner Apparate, ist einem Autor wie Jünger noch gänzlich unbekannt. „Der Kampf der Maschinen ist so gewaltig, dass der Mensch fast ganz davor verschwindet. […] Der Kampf äußerte sich als ein riesenhafter, toter Mechanismus und breitete eine eisige, unpersönliche Welle der Vernichtung über das Gelände. Das war wie eine Kraterlandschaft auf totem Gestirn, leblos und sprühend vor Glut. Und doch steckt hinter allem der Mensch. Er gibt den Maschinen erst Richtung und Sinn.“45
Und in einem 1920 erschienen Beitrag für das Militärwochenblatt schrieb er: „Trotzdem liegt die letzte Entscheidung in der lebenden Kraft, immer noch kommt es in diesem Flammenwirbel von Sprengstoff und
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Soldan 1925, S. 35. Jünger 1922, S. 106.
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Eisen zuletzt auf den ‚Mann‘ an, auf seine Eigenschaften, seine Tüchtigkeit, seinen Geist, seine Schulung und seine Art, sich zu schlagen.“46 Mit dieser Auffassung steht er nicht allein. Die Betonung des Willens war eine allgemeine Verarbeitungsform(el) der eigenen Ohnmacht in den Materialschlachten. Die Vorstellung von der Überwindung des Materials durch Härte, Willenskraft oder seelische Geschlossenheit wurde aber nicht erst nachträglich, sozusagen als eine spätere Form der Verarbeitung der Erlebnisse an der Front, eingeführt. Die Fokussierung auf den Willen war eine zeitgenössische Erscheinung. Trotz der Erkenntnis der Übermacht der materiellen Mittel lautete der Schluss immer noch: der Wille wird letztendlich siegen. Denn der Mensch setzte das Material ja ein, war sein Schöpfer, also kam es auf ihn allein an. Auch Erich Ludendorff, der an entscheidender Stelle den Krieg leitete, hält in seiner Schrift Der totale Krieg am Primat des menschlichen Willens fest: „Der Mensch schien immer mehr zurückzutreten. […] Doch der Mensch wird immer an erster Stelle stehen. Er, der vom toten Material befördert wird, bringt totes Material an den Feind heran und gibt ihm feindzerstörende Kraft.“47 Es ist genau diese gedankliche Konzeption und die Betonung des Willens, die ein Massaker wie Verdun erst möglich machte. Denn diese Schlacht wurde, wie wir gesehen haben, im Wesentlichen mit psychologischen und ideelen Gründen von deutscher Seite begonnen. Frankreich konnte einen symbolisch hoch aufgeladenen Ort wie Verdun nicht kampflos aufgeben, es musste alle vorhandenen Kräfte zur Verfügung stellen. „Die bisher größte Materialschlacht des Krieges wurde nicht nur aus politischen, strategischen, sondern auch ideelen Begründungen heraus unternommen. Es war gerade der dialektische Umschlag vom Geist zur Materie, der das Geschehen vor Verdun so schrecklich tief in das Bewusstsein der Völker einbrennen ließ.“48
Nicht mehr ein kühner Plan, Überraschung und Massierung aller Kräfte auf einen kleinen Frontabschnitt stand, wie gesehen, im Mittelpunkt der militärischen Planung von Offizieren wie Falkenhayn. An Stelle der sakrosankten Figur des Durchbruchs trat die Ausblutung. Ziel war die „Zerstörung“ des Willens des Gegners, seine langsame und methodische Zermürbung, sein, wie es genannt wurde, „seelisches Niederringen“. Es standen sich nun Wille gegen Wille gegenüber und derjenige sollte sie___________________ 46 47 48
Ders. 1920b, S. 434. Zu den daraus resultierenden Ausbildungsvorschriften der Infanterie siehe ders. 1923. Ludendorff 1935, S. 53. Salewski 1976, S. 90.
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gen, dessen Wille härter und ausdauernder war. „Fortan handelte es sich nicht mehr um die Überraschung eines zahlenmäßig unterlegenen Gegners, sondern es sollte ein an Zahl und Material ebenbürtiger Feind kraft der höheren seelischen Stärke und Härte des deutschen Soldaten so bedrängt werden, dass er in Abwehr und Gegenstoß schwerste Verluste erlitt.“49 Selbstverständlich kann man in der Behauptung eines Primats des Willens oder in der Betonung des menschlichen Faktors den (verzweifelten) Versuch sehen, den traditionellen Krieg vor seiner vollkommenen Auflösung zu retten. Für eine professionelle Kaste wie die Offiziere musste sich ja allein aus Gründen der Selbstlegitimation eine Auffassung des Krieges durchsetzen, die die eigenen Fähigkeiten immer noch in den Mittelpunkt der Kampfhandlungen stellte, wollte man den Krieg nicht den Ingenieuren und Technikern überlassen. Zum anderen waren gerade Deutschland und die Mittelmächte in einer materiell weit unterlegenen Position, was geradezu zwangsläufig zu einer Inthronisation ideeller Faktoren wie etwa einen überlegenen Geist oder Willen führte. Trotz der durchaus wahrgenommenen Wirklichkeit des industriellen Schlachtfeldes folgte die Interpretation des Kampfgeschehens der entscheidenden Rolle des Willens und seiner Außerkraftsetzung aller materiellen Faktoren. Der materiell und zahlenmäßig Unterlegene neigt stets dazu, dem Mittel zu vertrauen, das immer im Übermaß zur Verfügung steht, da es keine Begrenzung kennt. Der später im Nationalsozialismus viel zitierte „fanatische Wille“ war nur die extreme Zuspitzung der Erfahrungen des Ersten Weltkrieges. Wenn Deutschland, trotz der materiellen Überlegenheit seiner Feinde, überhaupt so lange Stand gehalten hatte, so war es sein „eiserner Wille“, der dafür verantwortlich war. Insofern war die Niederlage im November 1918 nichts anderes als der Zusammenbruch des Willens, dessen Stärkung (Stichwort: Volksgemeinschaft) neben der materiellen Aufrüstung entscheidend für einen zukünftigen Krieg war. Aber es gab natürlich neben pazifistischen Stimmen auch Gegenstimmen im Militär selbst. Die faktische Unbeweglichkeit der Front, das Opfer von Hunderttausenden ohne selbst im militärischen Sinne irgendeinen taktischen oder operativen Nutzen, musste geflissentlich übersehen werden in der Betonung und Glorifizierung des menschlichen Willens. George Soldan, einer der kritischen Köpfe des Reichsheeres, sieht 1925 deutlich, dass der Kampf bereits 1914 in anachronistischen Formen geführt wurde, in denen der Wille immer noch als stärker galt als die Wirkung des Materials. Dieser Glaube kostete das Leben von Millionen. „Der Kampf vollzieht sich schon damals in überlebten ___________________ 49
Wienkowski 1937, S. 35.
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Formen. Es ist das Jahr des Ringens zwischen Mensch und Material, wo der Mensch mit seinem rücksichtslosen Vorstürzen sich dagegen aufbäumt, dass Maschinen, die er mit seinem Geist ersann, ihn beherrschen wollen.“ 50 Ähnlich auch Hans von Hentig in seinem 1927 veröffentlichten Buch Psychologische Strategie des großen Krieges: „Die Kinderregimenter, die im November 1914 gegen die flandrischen Stellungen der Engländer anliefen, konnten mit ihrer gläubigen Hingabe, mit brünstigem Gesang die Stacheldrähte nicht zerreißen, die Wassergräben nicht austrocknen, die schweigende eigene Artillerie nicht ersetzen. Angriffsgeist bildet und erhält sich im Rahmen physikalischer Angriffsmöglichkeiten und innerhalb der Grenzen der menschlichen Natur.“51
Damals schien es unbegreiflich, das militärische Tugenden wie Tapferkeit und Mut, aber auch die Überlegenheit an Zahl, nicht mehr ausreichen sollten, eine feindliche Stellung zu nehmen. Alle bis dorthin gültigen Werte und Auffassungen zerbrachen an der überwältigenden Kraft der maschinellen Waffen. Diesen konnte auf lange Zeit nichts anderes als ein ungeheurer Verschleiß von Soldatenleben entgegengesetzt werden. Aber trotz der Einsicht in die verheerenden Wirkungen dieser Konzeption hält Soldan, wie die meisten der nationalistischen Autoren, – aber im Gegensatz zum Nationalbolschewisten Hentig – an der Überlegenheit des Willens fest. Doch er präzisiert seine Auffassung anhand einer Differenzierung. Zwar siegt das Material über den gewöhnlichen Soldaten, aber es ist lediglich die „Menschenmasse“, die ihm nicht widersteht und die deshalb für den Krieg, so seine These, ganz überflüssig wird. Einige wenige Krieger dürfen für sich in Anspruch nehmen, das Material überwunden zu haben. Allein auf sie, so der elitäre Schluss, kommt es in den modernen Schlachten an: „Man muss diesen Hexensabbath, diesen titanenhaften Wahnsinn moderner Artillerietätigkeit, dieses verworrene Knäuel von Eisen, Feuer, Rauch, Lärm, Schrecken, Wildheit und Tod fühlen können und in der Lage sein, sich vorzustellen, dass unter diesem Wirbel Menschen lagen, die erst, nachdem sie das alles Stunden, Tage, ja Wochen ertragen hatten, zum Kampfe berufen waren. Man muss sich in den Seelenzustand dieser Menschen versetzen können. Denn das Wichtigste ist dieses: Was die Materialmassen an Menschen vernichten, ist weniger bedeutungsvoll als das, was sie in der Seele derer anrichten, die den Vernichtungsorkan lebend überstehen. Denn diese allein sind berufen, noch zu kämpfen. Und da stoßen wir auf eine bedeutsame Erscheinung
___________________ 50 51
Soldan 1925, S. 32. Hentig 1927, S. 38f.
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der Materialschlacht: Nicht mehr Massen sind es, die kämpfen, denn die Massen sind aufgerieben, bis es zum Kampfe kommt.“52
Die Massen erscheinen hier als reines Opfer einer verfehlten Kriegskunst, die im blinden Idealismus und Heroismus den höchsten Einsatz sieht, der aber nichts anderes als ein vergebliches Opfer bedeutet. „Mit Begeisterung gegen Material kämpfen, heißt nichts anderes als der Materialwirkung in die Hand arbeiten. Begeisterung macht blind. Gegen die kalte Macht des Materials gewinnt die Oberhand nur, wer mit offenem Auge kalt und sachlich abwägt.“53 Auf deutscher Seite wurde insbesondere der Einsatz von jungen Freiwilligenverbänden vor Langemarck zum Symbol dieses unbändigen (und sinnlosen) Opferwillens. 54 Von der bürgerlichen Rechten und den Jugendbewegungen in der Weimarer Republik kultisch verehrt, gab es doch schon bald nach dem Kriege kritische Stimmen, die die Vergeblichkeit des Opfers betonten, und die im heroischen, aber blinden Vorwärtsstürmen eine elementare Schwäche (nicht nur der deutschen Kriegführung) sahen. Langemarck war für manche Autoren blutiger Untergang und Abschluss einer historischen Phase, die sich nicht mehr wiederholen sollte. Leidenschaft sollte in „eisernen Willen“ übersetzt werden.55 Die Schlacht bei Langemarck selbst, militärgeschichtlich als Ypernschlacht bekannt, beschrieb Soldan als „diesen heute schon sagenhaft anmutenden Kinderkreuzzug, indem das Material zum ersten Mal in der Weltgeschichte restlos und kaltlächelnd Orgien feiert über Heldentum und Begeisterung.“ 56 Und der Militärschriftsteller Werner Beumelburg schrieb: „Auf dem Schlachtfelde bei Ypern zerschellten endgültig die überkommenen Begriffe von Tapferkeit, Mannesmut und Begeisterung. […] So steht die Ypernschlacht da als letztes, ungeheuerliches, blutrotes Fanal des Massensturmes gegen die verhundertfachte Macht der Maschine.“57 ___________________ 52 53 54 55
56 57
Soldan 1925, S. 36. Zum Verhältnis Masse und Elite vgl. Kapitel 6 dieser Arbeit. Ebd., S. 33f. Wie wir sehen werden, waren die „jungen Freiwilligenverbände“ eine ideologische Konstruktion. Adolf Hitler beschreibt die Transformation in Mein Kampf folgendermaßen: „Der Wille war endlich restlos Herr geworden. Konnte ich die ersten Tage mit Jubel und Lachen mitstürmen, so war ich jetzt ruhig und entschlossen. Dieses aber war das Dauerhafte. Nun erst konnte das Schicksal zu den letzten Proben schreiten, ohne dass die Nerven rissen oder der Verstand versagte. Aus dem jungen Kriegsfreiwilligen war ein alter Soldat geworden.“ (Hitler 1939, S. 181) Soldan 1925, S. 32f. Schlachten 1921ff., Band 10, Ypern 1914, S. 119.
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Die Kritik an der militärischen Strategie bei Langemarck wird schließlich nach 1933, der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, immer offener formuliert. Diese Kritik ging einher mit einer Glorifizierung der Rolle des Führers, der damals gefehlt, nun aber in Gestalt Adolf Hitlers erschienen sei. Gleichzeitig wird das Ende der monarchischen Ära mit der Enttäuschung über die mangelnde Führung im Weltkrieg in Zusammenhang gebracht. Exemplarisch dafür der Ruf von Wilhelm Dreysses: „Aber wo eine Division als Volk vorläufig nichts hatte als ihren zähen Siegund Wehrwillen, da kam der Ruf des deutschen Blutes nach dem Führer, wurde in der Schlacht, als die wenigen guten Offiziere gefallen waren, ein einziger verzweifelter Schrei, der durch die ganze Front von Langemarck ging: Volk, wo ist Dein Führer? Komm, Führer, oder wir sterben nutzlos dahin! Ja, es ist schon die Schlacht von Langemarck gewesen, die den Kaisergedanken aus dem Herzen Vieler auszubrennen begann.“58
Neben der fehlenden Führerfigur wird der kalte, sachliche und leidenschaftslose Krieger des industriellen Zeitalters für die Nationalsozialisten vielmehr zum Vorbild werden als der idealistische Freiwillige bei Langemarck. Deswegen ist Verdun als Metapher für die nationalsozialistische Anknüpfung an moderne Technik, abstrakte Moral und nüchterne Mitleidlosigkeit weitaus wichtiger als das emotional aufgeladene Thema Langemarck. Zwar gab es nach 1918 einen LangemarckTag, eine Langemarck-Spende, ein Langemarck-Studium und die Anknüpfung an die idealistische Tradition der Kriegsfreiwilligen wurde von den Nationalsozialisten auch politisch instrumentalisiert. Wichtiger war aber die implizite Bedeutung von Verdun für die Konzeption von Politik und Herrschaft. Bernd Hüppauf zieht deshalb in einem Vergleich beider Nachkriegsmythen eine Linie von den Vernichtungserfahrungen vor Verdun zu den Ausrottungspraktiken der nationalsozialistischen Eliteeinheiten. ___________________ 58
Dreysses 1934, S. 10. Kurt Hesse hat in seinem sehr erfolgreichen Buch Der Feldherr Psychologos. Ein Suchen nach dem Führer der deutschen Zukunft, 1922 erschienen, die mangelnde psychologische Kompetenz der Führung kritisiert, ein Mangel, den er bereits bei Clausewitz sieht, denn ihm fehle „das Seelische“ (Hesse 1922, S. 95). Hauptproblem für Deutschland sei gewesen, „dass sich niemand gefunden hat, der die Psyche des deutschen Soldaten in ein System gebracht hat.“ (Ebd., S. 56) Denn der Krieg habe sich gewandelt: „Dass dem Kriege, der sich uns für gewöhnlich als ein militärischer, politischer und wirtschaftlicher Vorgang darzustellen pflegt, in allen seinen Erscheinungen eigentlich nur ein letzter Begriff unterliegt: die menschliche Psyche.“ (Ebd., S. 172; Herv. A. M.) Diese wurde, so Hesse, von der Führung aber falsch behandelt.
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„Die von übergeordneten Zielen und universellen Idealen gelöste Destruktionsarbeit vor Verdun, im Mythos der Kampfmaschine aufgehoben, bildete das Modell für den ‚Dissoziationscharakter‘ der Täter im Ausrottungsprogramm. Deren habitualisierte Handlungsweisen entsprangen einer Mentalität des leeren Horizonts und der Abstraktionen, in der bloßer Aktionismus keine Grenzen fand.“59
4.3. Langemarck und Verdun Der Erste Weltkrieg hat drei bedeutende Schlachtenmythen auf deutscher Seite hervorgebracht. Langemarck, Verdun und Tannenberg. Der letztere Mythos, der von Tannenberg 60 , unterscheidet sich prinzipiell von den beiden erstgenannten darin, dass er im Unterschied zu Langemarck und Verdun, die den kämpfenden Soldaten im Zentrum haben, die militärische Führung in den Mittelpunkt stellt. Zudem markiert Tannenberg einen großen Sieg, während sowohl Langemarck als auch Verdun – wenn auch uneingestanden – Niederlagen waren. Tannenberg hat aber, außer den Berichten der beteiligten Generalstabsoffiziere, allen voran Hindenburg und Ludendorff, nur geringe literarische Spuren hinterlassen, und es wäre eine eigene Forschungsfrage wert, warum die Fronterfahrung im Westen eine Masse an Reden erzeugt, während der Osten kaum über einige wenige konventionelle Erinnerungen hinauskommt? Im Verhältnis zur geradezu inflationären Schriftmenge des westlichen Kriegsschauplatzes (und da vor allem zu Verdun) ist der Krieg an der Ostfront ein „vergessener Krieg.“61 Der Krieg im Osten besaß keine dem Westen vergleichbare, über Jahre hinweg homogene Front. Er zerfiel in ein Kaleidoskop unterschiedlichster Erfahrungen. „Im Vergleich zum traumatischen Grabenkrieg im Westen ist der Feldzug gegen Russland gänzlich konventionell: Es ist ein Bewegungskrieg mit großen Geländegewinnen und strategisch traditionellen Umfassungsschlachten, überschaubaren Gefechten und unmittelbarer Feindberührung. Im Vergleich zur ‚homogenen‘ Westfront ist die Ostfront ungeheuer lang und diffus, sie umfasst Besatzungsgebiete ebenso wie die unmittelbaren Kampfzonen, sie konfrontiert die Kriegsteilnehmer mit unwegsamen, von vielen als öde und archaisch ___________________ 59 60 61
Hüppauf 1996, S. 94. Siehe dazu auch Kapitel 7.4. Zu Tannenberg vgl. Kapitel 2, Fn. 49. So der Titel eines Aufsatzes von Christoph Mick (2004). Dasselbe lässt sich übrigens auch für die Wissenschaft sagen, die erst langsam beginnt, den Krieg im Osten systematisch zu behandeln (aktuell etwa Groß u.a. 2006). Insofern muss sich natürlich auch diese Arbeit den Vorwurf gefallen lassen, fast ausschließlich den Krieg im Westen zu analysieren.
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beschriebenen Geländen, extremen Witterungen und einer verwirrenden Vielfalt von Völkern und Sprachen.“62
Die Vorstellung des modernen Krieges orientiert sich seit dem Ersten Weltkrieg an der Dominanz der Technik. Der Krieg an der Ostfront ist dagegen „antimodern“. So fehlten etwa Panzer und schwere Artillerie, benutzbare Straßen und Eisenbahnen waren in den meisten Fällen nicht vorhanden. Der Osten war deshalb für die meisten deutschen Soldaten eine Begegnung mit einer vormodernen Welt. Bilder des Unheimlichen, des Unbestimmten, des unendlichen Raumes und gleichzeitig des Naturhaften prägen deshalb die wenigen schriftlichen Erinnerungen an den Osten. Die Ambivalenz des Ostens, einerseits Barbarenland, andererseits der Ort einer verlorenen „Echtheit“, bildet denn auch das Thema der meisten Freikorpsromane, die vom Baltikum oder Russland handeln. Die schnellen Bewegungsschlachten und raschen Veränderungen an der Ostfront haben kein kollektives Gedächtnis erzeugt, wie es für die Westfront mit ihren langen unveränderten Phasen so typisch ist. Vor allem aber wurde der Krieg im Westen entschieden und war im Osten trotz des Diktatfriedens von Brest-Litowsk im November 1918 nicht zu Ende. Russische Revolution, Nationalitäten- und Bürgerkriege, erfolgreiche und erfolglose Staatengründungen überlagerten das Kriegsende und verhinderten die Wahrnehmung eines abgeschlossenen Geschehens. Im Gegensatz dazu war insbesondere die Entstehung des LangemarckMythos an ein einzelnes Ereignis geknüpft, das politisch mit allgemeinen und „höheren Werten“ verbunden werden konnte. Der Mythos einer heroischen Jugend, opferbereit im Glauben an die Bedrohung der deutschen Kultur durch die Ideen von 1789, traf bei einem großen Teil des deutschen Bürgertums auf offene Ohren. Die berühmten Zeilen vom 11. November 1914, durch ein Kommuniqué der Obersten Heeresleitung der deutschen Öffentlichkeit präsentiert, lauteten: „Westlich von Langemarck brachen junge Regimenter unter dem Gesange ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ gegen die erste Linie der feindlichen Stellungen vor und nahmen sie. Etwa 2000 Mann französischer Linieninfanterie wurden gefangen genommen und sechs Maschinengewehre erbeutet.“63 ___________________ 62 63
Horn 2006, S. 222f. Zit. bei Unruh 1986, S. 9. Schon früh wurde darauf hingewiesen, dass die Truppen angesichts von 30 kg Gepäck und lehmiger Erde wohl kaum singend vorrücken konnten. Dennoch erfüllte dieser Teil des Heeresberichts eine wichtige Funktion, war es doch gerade der Gesang, in dem der Patriotismus seinen deutlichsten Ausdruck fand.
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Neben der vagen geografischen Angabe („westlich von“), die dem Leser suggerieren sollte, der Vormarsch Richtung Westen ginge planmäßig weiter, war es insbesondere die Betonung „jung“, die zur Legendenbildung von Langemarck maßgeblich beitrug. Karl Unruh verweist in seiner Studie Langemarck. Legende und Wirklichkeit auf die sprachlichen „Vorteile“, die ein Name wie Langemarck für deutsche Ohren haben musste. Dabei spielte es keine Rolle und wurde auch nicht nachgeprüft, dass die entscheidenden Ereignisse an einem anderen Ort stattfanden. „Was man zu berichten hatte, fand bei Bixschote statt, 5 km westlich von Langemarck gelegen. Aber Bixschote eignete sich wohl nicht zum Weitersagen. Man brauchte den Namen Langemarck, der wie Bismarck oder Königsmarck etwas Ehernes und Kerniges an sich hat, für die vaterländischen Feiern, die folgten, für die Studentenaufmärsche und Theaterstücke. Man sprach von jungen ‚Regimentern‘, man prägte den Begriff der ‚Jugend von Langemarck‘ und übersah, vermutlich in voller Absicht, dass auch die Angehörigen älterer Jahrgänge im Oktober und November an der flämischen Front schwer gelitten und geblutet haben.“64
Die allermeisten Bücher und Regimentsgeschichten über Langemarck gehen, soweit sie die Flandernschlacht 1914 thematisieren, auf den Ypern-Bericht von Werner Beumelburg zurück. Der erfolgreiche Militärschriftsteller hatte nach dem Krieg im Auftrag des Reichsarchivs mit „Ypern 1914“ den 10. Band der Schlachten des Weltkrieges verfasst. Fast alle späteren Autoren, die sich mit Langemarck beschäftigten, haben von Beumelburg abgeschrieben und seine (falschen) Zahlen und seine Interpretation der Ereignisse übernommen. Aber schon Jahre früher, nämlich 1918, noch während des Krieges, erschien im Auftrag des Generalstabes des Deutschen Feldheeres die Schriftenreihe Der große Krieg in Einzeldarstellungen. Der bayrische Hauptmann Otto Schwink veröffentlichte im Rahmen dieser Reihe einen Band mit dem Titel Die Schlachten an der Yser und bei Ypern.65 Schwink behauptete, was vollkommen falsch66, aber später von fast allen Autoren übernommen wurde, ___________________ 64 65 66
Ebd., S. 10. Schwink 1918. Unruh zeigt anhand von Zahlen und Regimentsstatistiken (ebd., S. 6169), dass, wie später so gerne verbreitet, von studentischen Freiwilligenregimentern nicht die Rede sein konnte. Die Mehrzahl der vor Langemarck eingesetzten Soldaten waren gediente Soldaten und Familienväter. Von den rund 120.000 in Flandern eingesetzten Soldaten konnten, bei positivster Schätzung, maximal 10-20% Studenten sein, denn im Jahr 1914/15 waren insgesamt nicht mehr als 40.000 Studenten im Wehrdienst
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dass 75% des neuen Korps, das vor Langemarck eingesetzt wurde, aus Kriegsfreiwilligen bestand. Beumelburg und nach ihm viele andere haben diese Behauptung keiner detaillierten Prüfung unterzogen, was für die Bedeutung des Mythos „jung“ im Zusammenhang mit Langemarck spricht. Militärisch war Langemarck als Teil der Flandernschlacht ein Fiasko.67 Die Verluste der 4. und 6. Armee betrugen 100.000 Soldaten, noch im Frühjahr 1915 sammelte man die Toten vom November des Vorjahres ein. Die neu aufgestellten Reservekorps waren weder nach Bewaffnung noch Ausbildung auf diese Schlacht vorbereitet. Karl Unruh kritisiert insbesondere die mangelnde Führung der Soldaten, die das flandrische Blutbad erst möglich machte. Die Aufklärung versagte völlig, die zur Ausbildung ausgewählten Offiziere hatten selbst keine Ahnung, wie der moderne Krieg alle bisherigen Erkenntnisse veränderte. Das Unvermögen, sich rasch auf die neue Situation an der Front einzustellen und das bedingungslose Offensivdenken kostete abertausenden das Leben. „Die Stabsoffiziere und Hauptleute, meistens ältere Herren und längst außer Diensten, zeigten sich durchaus noch schneidig und guten Willens, aber oftmals eben zu schneidig und in Bezug auf Taktik und Truppenführung einer Vorstellung verhaftet, die sich am 70er-Krieg orientierte, der über 40 Jahre zurücklag.“68 Erst sehr spät wurden fronterfahrene Offiziere, wenn sie nicht schon gefallen waren, in die Ausbildungskasernen gesendet. Sie konnten aber die ungeheuerlichen Verluste nicht mehr kompensieren. Keines der strategischen Ziele wurde erreicht. Die Front verfestigte sich, die französischen Kanalhäfen lagen in weiter Ferne, kleine Geländegewinne wogen nicht den Tod Tausender auf. Bedeutete Langemarck militärisch zwar eine Niederlage, so war es doch der erste erfolgreiche Versuch, eine Katastrophe in einen moralischen Sieg zu verwandeln. Fast unmittelbar nach der Verlautbarung der Obersten Heeresleitung fand sich Langemarck im kollektiven Bewusstsein der Deutschen als ein mythisches Ereignis verankert. Bereits 1915 wurde angeregt, die Erinnerung an den Tag von Langemarck zu bewahren, um die höchsten moralischen und nationalen Werte fortzuschreiben. 1919, ein Jahr nach Kriegsende, treffen sich Überlebende des XXII. ReserveKorps in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zu einer Langemarck und ___________________
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stehend. Und das gilt für ganz Deutschland und ergo für alle Frontabschnitte. (Ebd., S. 67) Allgemein zur Studentenschaft und Erstem Weltkrieg vgl. Hettling und Jeismann (1996). Übrigens wurde Langemarck selbst, anders als es der Heeresbericht suggeriert, zu keinem Zeitpunkt von deutschen Truppen eingenommen. Unruh 1986, S. 50.
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Dixmuiden-Feier. Zwei Jahre später rufen Jugendverbände und die Berliner Studentenschaft zu einer Zusammenkunft in der Potsdamer Garnisonskirche auf. Ergebnis ist die Gründung eines „LangemarckAusschusses Hochschule und Heer.“ 1924, zum 10. Jahrestag der Schlacht, findet eine Gedenkfeier auf der Wasserkuppe in Rhön statt. 1929, in einer Phase emotionaler nationalistischer Auseinandersetzungen, wird die Langemarck-Feier vor 15.000 Zuhörern im Berliner Sportpalast abgehalten. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wird die Hitlerjugend (HJ) mit der Pflege des Erbes von Langemarck betraut. 1937 wird ein „Langemarck-Ausschuß beim Jugendführer des Deutschen Reiches“, Baldur von Schirach, gegründet. 1938 wird ein Langemarck-Studium eingeführt, das insbesondere Kinder aus Arbeiterund Bauernfamilien ohne Abitur in einem dreisemestrigen Programm auf ein Universitätsstudium vorbereiten soll. Die Auswahlkriterien sind neben politischer Zuverlässigkeit vor allem biologische Kriterien wie rassische Reinheit. Langemarck war vor Beginn seiner politischen Instrumentalisierung durch die NSDAP das Versprechen auf die Zukunft der Nation, geboren aus dem Opfer seiner Jugend. Trotz der militärischen Erfolglosigkeit der Offensive bei Ypern und dem Tod von 20.000 Soldaten gelang es, die Niederlage in einen moralischen Sieg umzudeuten. Langemarck wurde so nach dem Ersten Weltkrieg zu einem der einflussreichsten deutschen Mythen. Der jährliche Gedenktag sollte sicherstellen, dass die Erinnerung an die Märtyrer des Vaterlandes in der Gegenwart bewahrt würde. „Langemarck wurde schließlich das herausragende Symbol nationaler Einigkeit: das Opfer des Lebens, der Nation von ihrer Jugend unter Gesang dargebracht, wurde als ein metaphysisches Band interpretiert, dessen Macht alle politischen, sozialen und militärischen Kräfte übertraf.“69 Aber dieses Opfer gab kurz nach dem Krieg durchaus Anlass zu kritischen und teilweise pazifistischen Stimmen. Für Friedrich Kreppel, der die Rede anlässlich der Langemarck-Feiern der Bündischen Jugend 1923 auf dem Heidelstein hielt, war Langemarck in seiner Bedeutung für die nachfolgende Generation eine Art von negativem Vorbild. Zwar betont auch der patriotische Kreppel den Opfermut der eingesetzten Soldaten, warnt aber fünf Jahre nach Kriegsende vor einer falschen Mythologisierung der Ereignisse: „Der Sturm bei Langemarck soll uns ein Weiser sein, wie unser Weg fürderhin nicht weitergehen darf. […] Wir wollen auch die bittere Frage nicht sparen: ‚Ihr
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Hüppauf 1996, S. 58.
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Offiziere von Langemarck – wo war euer Kopf als ihr den Sturm nicht hindertet? Wo sind eure Pistolen gewesen, dass ihr nicht den Ersten niedergeschossen habt, der zum sinnlosen Opfergang hätte vorgehen wollen?‘ […] Der Sturm bei Langemarck ist uns Symbol geworden, wie deutsche Jugend starb. […] Aber hüten wir uns, Kult zu treiben mit diesem Sturm und Fallen der Brüder. Langemarck, wie es war, darf nie wieder sein.“70
Aber diese Warnung, wenn sie denn eine war, blieb weitgehend ungehört je größer der Abstand zum Ereignis wurde. Für die mehrheitlich unpolitischen Jugendverbände und -bewegungen war Langemarck mit tragischem Pathos aufgeladen. Das heroische Opfer, die Annahme des Schicksals, das waren Bestandteile einer bürgerlichen Ideologie, wie sie im vorigen Jahrhundert stark verbreitet waren. Bernd Hüppauf macht deshalb in seinem aufschlussreichen Aufsatz Schlachtenmythen darauf aufmerksam, dass trotz der scheinbar aggressiven und politischen Komponente des Langemarck-Mythos, er doch eine Fortsetzung der unpolitischen Traditionen des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert darstellt. Heroische Ideale, losgelöst von der politischen Realität, mögen vielleicht den Wunsch nach einer glorreichen Zukunft mit Bildern besetzen, eine konkrete politische Strategie lässt sich dadurch aber nicht entwickeln. Langemarck war Metaphysik, nicht praktische Politik. Langemarck gab keine konkrete Handlungsanleitung, keine politische und individuelle Orientierung in den Wirren der Weimarer Republik. Diese Leerstelle besetzte die Mitte der 20er Jahre aufkommende NSDAP, die sich als „Bewegung“ verstand, die über allen Parteien angesiedelt war. Es gelang ihr ohne größere Schwierigkeiten, am Mythos anzuknüpfen und an seiner Transformation zu arbeiten. „Vor 1933 benutzte die nationalsozialistische Bewegung den Langemarck-Mythos als Modell für die Macht der durch Hingabe und Opferbereitschaft geleiteten Tat, eine idealistische Suche nach Identität und nationaler Stärke in politische Wirklichkeit zu transformieren.“71 Zu Hilfe kam der nationalsozialistischen Bewegung der glückliche Umstand, dass ihr Führer, Adolf Hitler, selbst als Soldat vor Ypern eingesetzt war. Als Angehöriger des Bayerischen Reserve-InfanterieRegiments Nr. 16 (Oberst List), aufgestellt in München, hatte sein Regiment die Aufgabe, den drohenden Zusammenbruch der Front im Norden zu verhindern. 72 Zwar nicht direkt vor Langemarck eingesetzt, kannte Hitler nach vier Jahren Westfront die Verhältnisse, wenn er sie ___________________ 70 71 72
Kreppel 1963, S. 436. Herv. A. M. Hüppauf 1996, S. 64. Die Bayern nannten ihre Regimenter gern nach den betreffenden Regimentskommandeuren. Hitler diente also im „Regiment List.“
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auch teilweise beschönigte. Die Ambivalenz, die von Langemarck für die NSDAP ausging, zeigt sich aber darin, dass Hitler in Mein Kampf, das ansonsten umständlich und weitschweifig geschrieben ist, nur eine vergleichsweise knappe Kommentierung der Ereignisse gibt. Im Verhältnis zur Bedeutung des Mythos für die Nachkriegszeit eine überraschende Tatsache. Sein „Bericht“ lautet folgendermaßen: „Und dann kam eine feuchte, kalte Nacht in Flandern, durch die wir schweigend marschieren, und als der Tag sich dann aus den Nebeln zu lösen beginnt, da zischt plötzlich ein eiserner Gruß über unsere Köpfe uns entgegen und schlägt in scharfem Knall die kleinen Kugeln zwischen unsere Reihen, den nassen Boden aufpeitschend; ehe aber die kleine Wolke sich noch verzogen, dröhnt aus zweihundert Kehlen dem ersten Boten des Todes das erste Hurra entgegen. Dann aber begann es zu knattern und zu dröhnen, zu singen und zu heulen, und mit fiebrigen Augen zog es nun jeden nach vorne, immer schneller, bis plötzlich über Rübenfelder und Hecken hinweg der Kampf einsetzte, der Kampf Mann gegen Mann. Aus der Ferne aber drangen die Klänge eines Liedes an unser Ohr und kamen immer näher, sprangen über von Kompanie zu Kompanie, und da, als der Tod gerade geschäftig hineingriff in unsere Reihen, da erreichte das Lied auch uns, und wir gaben es nun wieder weiter: Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt!“73
Das klingt nicht wie gelebte Erinnerung, sondern wie eine bloße Übernahme kollektiver Klischees, wie sie schon bei Beumelburg vorzufinden sind. Wichtig ist aber, was in Hitlers Bericht fehlt: von Idealismus, Opferbereitschaft und Jugend ist nicht die Rede. Seine Distanz zum offiziellen, innerlich als bürgerlich abgewerteten Langemarck-Mythos, ist unverkennbar. Hitler verwendete die Assoziationen rund um Langemarck rein machtstrategisch, da sie politisch opportun waren, spielte aber beispielsweise stets die Bedeutung von Jugend und Studenten zugunsten der Arbeiter herunter. An Stelle von Idealismus trat bei ihm Entschlossenheit, an Stelle von Begeisterung Härte, an Stelle von Jugend Erfahrung. Der Nationalsozialismus verachtete nichts mehr als den bürgerlichen Idealismus und seine Vertreter, die als „Schwätzerorganisationen“ galten. Dem Langemarck-Mythos und seinen Bildern steht ein anderer Mythos diametral entgegen, ein Mythos, der in der Kritik an der romantischen Vorstellung von begeisterten Angriffsoffensiven bereits angelegt ist. Tatsächlich sind für den Nationalsozialismus die Erfahrungen vor Verdun und nicht so sehr das Opfer bei Langemarck die zentrale Berufungsinstanz. Es lassen sich so zwei aufschlussreiche Mythen der Nachkriegszeit unterscheiden: ___________________ 73
Hitler 1939, S. 180f.
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„Ein traditioneller Mythos von Heldentum und Opferbereitschaft unter dem emotional aufgeladenen Namen ‚Langemarck‘ sowie ein aggressiver Mythos mit futuristischen und nihilistischen Zügen, der sich aus den Materialschlachten seit dem Jahre 1916 und vor allem der Erfahrung von Verdun entwickelte. Während der Langemarck-Mythos vor allem Konservative und Nationalisten begeisterte und trotz seiner intensiven Betonung von ‚Jugend‘ einer bürgerlichen Mentalität aller Alterstufen entsprach, war der Verdun-Mythos eng mit einer Faszination durch das Zeitalter moderner Technologie verbunden, enthielt radikale und auf seine Weise revolutionäre Elemente und hatte eine starke ästhetische Ausstrahlung […] Während der Langemarck-Mythos eine Vergangenheit mit den Idealen von Ritterlichkeit und heldenhaftem Opfer lebendig hielt und verherrlichte, entwarf der Verdun-Mythos den Menschen als Rohmaterial, das im hochorganisierten, amoralischen und mitleidlosen Kampf des Zeitalters der modernen Technologie auf eine Weise geformt werden müsse, dass es ohne Rücksichten auf Moral oder politische Folgen die Lehre der Front verwirkliche.“74
Was aber war die Lehre der Front? Neben der Erfahrung der Nichtigkeit der eigenen Existenz stand als sozusagen positive Utopie die Idee der Egalität und einer natürlichen Ordnung. Der Krieg erschien als großer Gleichmacher, der jedem Einzelnen seinen ihm tatsächlichen Rang zuordnete. In seiner bekannten Schrift Preußentum und Sozialismus schreibt Oswald Spengler zur Vorstellung einer Ordnung, orientiert an der Situation des Krieges und der Front: „Der einzelne dient dem Ganzen. Das Ganze ist souverän. Der König ist der erste Diener seines Staates (Friedrich der Große). Jeder erhält seinen Platz. Es wird befohlen und gehorcht.“75 Im Schützengraben und den Trichterstellungen der zerrissenen Front sahen die Fürsprecher eines Frontsozialismus das Prinzip einer Gemeinschaft von „Gleichen“ in die Wirklichkeit transferiert. So wie der August 1914 für die Einheit von Nation, Klassen und Religionen stand, blieb nach dem Zusammenbruch und den Wirren der Weimarer Republik das glorifizierte Erlebnis der Kameradschaft der Einsatzpunkt für die Idee einer Versöhnung widerstrebender Interessen. Hier an der Front, im Trommelfeuer der feindlichen Artillerie und der pausenlosen Bedrohung mit dem Tode, verschwanden alle sozialen Unterschiede der zivilen bürgerlichen Welt. Aus den Erfahrungen der schlammgefüllten Gräben sollte das Neue Deutschland auferstehen. Aber nicht aus den idealistischen Hoffnungen und Eigenschaften junger Freiwilliger, sondern aus den nüchternen Prinzipien der Materialschlachten und der ___________________ 74 75
Hüppauf 1996, S. 54. Spengler 1920, S. 15.
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Form(ier)ung eines „eisernen Willens.“ Die sich nach 1918 politisch betätigenden Frontsoldaten sehen sich so zur Führung der Nation berufen. Die Männer, die als Überlebende den Destruktionsmaschinen widerstanden und als „Unbesiegte“ heimgekehrt waren, fühlten sich als Vertreter einer zukünftigen Ordnung, die alle kleinlichen Streitigkeiten zugunsten einer Idee der nationalen Einheit überwinden wollte. Die radikalsten Gruppierungen sahen sich dabei immer über allen Parteien stehend.76 Für den Nationalsozialismus, dessen überwiegende Zahl der frühen Anhänger ehemalige Frontsoldaten bildeten, war die Front – und insbesondere die Ereignisse vor Verdun – die Geburtsstunde der Bewegung. So erklärte General Weissenberger nach dem erfolgreichen Westfeldzug 1940 auf der 1916 so umkämpften Panzerfestung Douaumont: „Aus der Blutskameradschaft im Schlamm und Dreck und in den Trichtern von Verdun ist der nationalsozialistische Geist geboren worden.“ 77 Gottfried Feder, Verfasser des 25-Punkte-Programms der NSDAP, verwies schon früh darauf, dass der Nationalsozialismus in seiner wahrsten Bedeutung die „Domäne der Front“ darstelle und Robert Ley, Führer der Deutschen Arbeitsfront (DAF), sprach davon, dass der Sozialismus im Nationalsozialismus dem „Männerbund der Schützengräben nachempfunden sei.“ Die Erfahrung der Front und des Krieges, ihre emotionale und intellektuelle Verarbeitung hat als ein wichtiges Ergebnis eine bestimmte Auffassung von Sozialismus hervorgebracht, der politisch schwerwiegende Folgen haben sollte. Vertraute Begriffe wie links und rechts wurden über Nacht obsolet. Bewegungen wie der Nationalsozialismus oder der Nationalbolschewismus 78 eines Ernst Niekisch sind Zeugen ___________________ 76 77 78
Zu den sogenannten Panbewegungen siehe die immer noch unübertroffene Analyse von Hannah Arendt 1991, insbesondere S. 358-366 Zit. nach Werth 1979, S. 353. „Unter ‚Nationalbolschewismus versteht man in Deutschland eine Verbindung von radikal sozialistischen und radikal nationalistischen Zielsetzungen, die auf dem Weg eines Bündnisses der beiden ‚proletarischen‘ Nationen Deutschland und Russland gegen den ‚kapitalistischen‘ Westen erreicht werden soll.“ (Mohler 1972, S. 47, vgl. auch Weißmann 1998) Ansätze für eine solche Annäherung gab es v.a. im militärischen Bereich. Die Zusammenarbeit von Reichswehr und Roter Armee in den 20er Jahren, unter der geistigen Führung des Chefs der Heeresleitung, General Hans von Seeckt, ist hierfür bezeichnend. Zu dieser, auch für die deutsche geostrategische Debatte, entscheidenden Kooperation, siehe das ausgezeichnete Buch Berlin, Kabul, Moskau von Hans-Ulrich Seidt, dem derzeitigen deutschen Botschafter in Afghanistan. An der Figur von Oskar Ritter von Niedermayer analysiert Seidt die Wendungen der deutschen Geopolitik seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts. Nieder-
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dafür. Die beiden bestimmenden Ideologien des 19. Jahrhunderts, Nationalismus und Sozialismus, sollten nun in einer einzigen politischen Kraft zusammengefasst werden. Es handelte sich dabei nicht um den gebräuchlichen Begriff des Sozialismus, wie ihn der Marxismus eingeführt hatte, sondern um eine zunächst rein negative Bestimmung: als sozialistisch galt alles, was gegen Kapitalismus und Liberalismus gerichtet war. Deutsches Heldentum und deutsche Kriegsorganisation stand gegen „englisches Händlertum“ und liberale Vorstellungen. Deutscher Sozialismus war nichts anderes als die Ordnung des Krieges übertragen auf die Zivilgesellschaft.
4 . 4 . F r o n ts o z i al i sm u s Für die überwiegende Mehrheit der aus der Aristokratie stammenden Offiziere war trotz der maschinellen Wirklichkeit Krieg noch immer ein Privileg ihres Standes. Das gemeine, bürgerliche Volk sollte daran möglichst nicht teilhaben und vielfach wurden die modernen, für die alte soldatische Elite unmilitärischen Kriegsformen mit dem Einzug der minderwertigen Massen und dem Geist des Materialismus in die Kampfhandlungen erklärt (vgl. Kapitel 6). Die Fortdauer und Logik des Krieges wischte aber die ständischen Unterschiede zwischen Offizier und gemeinem Soldaten immer mehr und zum Teil übergangslos vom Tisch. Vor Verdun, im Zeichen des Stahlhelms 79 und der Übermacht der technischen Mittel, wurde nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in apologetischer Manier dieses neue Deutschland verortet. Der Mythos des ___________________
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mayer war in den 20er Jahren „der wichtigste Mann der Zentrale Moskau“ (Seidt 2002, S. 182) und ein Befürworter einer Zusammenarbeit Deutschlands mit dem bolschewistischen Regime (ebd., S. 179-215). Eine Auffassung, die ihm letztendlich und ironischerweise das Leben in sowjetischer Gefangenschaft nach 1945 kostete. Der Stahlhelm ist vielleicht das prägnanteste Symbol des Ersten Weltkrieges. 1916 war er in der deutschen Armee fast überall eingeführt. Der Stahlhelm hat bereits während des Krieges eine ganze Ikonografie des Soldaten begründet. Er repräsentiert neben der technischen Wirklichkeit des Krieges auch die Erinnerung an mittelalterliche Rüstungen und frühes Heldentum. Erfunden wurde er aber von einem Maschinenbauingenieur ohne Kenntnis des mittelalterlichen Helmes. (Vgl. Hüppauf 1996, S. 80ff.) In der Zwischenkriegszeit sieht man immer wieder Bilder von Offizieren, die bei offiziellen Staatsakten im Stahlhelm neben bürgerlichen Zylinderträgern auftreten, eine Tatsache, die offensichtlich niemand besonders lächerlich fand. Mit dem Stahlhelm konnte sich der Soldat optisch und symbolisch vom verhassten Bürger bzw. Politiker abgrenzen.
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Frontkämpfers, die spätere nationalsozialistische Schicksalsgemeinschaft, verraten von der Heimat und verlassen von der Führung, nahm mit dem Namen Verdun in politisch folgenreicher Manier Gestalt an. Gemeinsam ist den Männern der Materialschlachten eines: das Erlebnis der Front. Der Kulturhistoriker Modris Ekstein merkt dazu in seinem Buch Tanz über Gräben an: „Aber in einem Punkt waren sich alle einig, nämlich, dass das Kriegserlebnis, das Erleben des ‚echten Krieges‘ in den Schützengräben, einen Mann vom Rest der Gesellschaft abhob. Man war, wie die Deutschen so treffend sagten, eine Schicksalsgemeinschaft. Sie alle waren eines Sinnes, wenn es um die Feststellung ging, dass für sie eine Epoche vorüber und eine Welt zu Ende war.“80
Das Erlebnis der Front unterschied die Grabenkämpfer fundamental von der sogenannten Etappe, den Führungsstäben und den hinter der Front operierenden Teilen der Armee wie auch der ahnungslosen Heimat. Im gemeinsamen Erdulden der Vernichtungssituation in den Gräben entstand retrospektiv der Mythos einer neuen Gemeinschaft. Gefahr verbindet. Während die Führung in den Materialschlachten der Wirklichkeit des Krieges ratlos gegenüberstand, lösten sich die Mannschaften und Frontoffiziere immer mehr von der Welt des Generalstabes, die den Krieg noch in den alten Formen und mit den traditionellen Konzepten weiterführen wollte. „Die Folge war, dass der Krieg den Generalen aus den Händen glitt und dass er schließlich wider jeden Sinn und jede Vernunft geführt wurde. Während man hinten die entsprechenden Befehle herausgab, rannten vorn die Armeen wie in blinder Wut frontal gegeneinander, ein paar lumpige Kilometer Geländegewinn, wenn sie überhaupt zustande kamen, mit gewaltigen Opfern bezahlend. Es bestand ein schrecklicher Zwiespalt zwischen der Welt der Generale, und der Welt der Frontsoldaten, und es ist verständlich, dass die Soldaten ihren Hass oftmals nicht gegen den Feind vor ihnen, sondern gegen die eigenen Stäbe in ihrem Rücken kehrte.“81 ___________________ 80 81
Ekstein 1990, S. 345. Unruh 1986, S. 46. Auch wenn die Generalität im Ersten Weltkrieg eine bemerkenswerte Indifferenz angesichts des massenhaften Sterbens ihrer Soldaten zeigte, ging ihr Zynismus doch nicht so weit wie der Napoleons, der angesichts der Verluste in der Schlacht von Austerlitz erklärte, „eine Nacht in Paris würde diese Verluste wieder wettmachen.“ Dass man aber bereit war, Opfer in großer Zahl zu bringen, zeigt eine Rede Wilhelm II. im August 1888, also lange vor Kriegsausbruch, bei einem Besuch des III. Armeekorps. „Ich glaube, dass wir sowohl im III. Armeekorps wie in der gesamten Armee wissen, dass darüber nur eine Stimme sein kann,
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Man kann sich vorstellen, wie die leitenden Stabsoffiziere aus ihren von kaum einer Gefahr bedrohten Büros immer neue Angriffsbefehle an die Front schickten, die bei ihrem Ankommen bei den Kampfoffizieren und Mannschaften auf Situationen traf, die längst nicht mehr der Wirklichkeit des Schlachtfeldes entsprachen oder zumindest zeitlich überholt waren.82 Unzureichende Aufklärung und langsame Informationsübermittlung waren die großen Schwachstellen aller Armeen. Die Stäbe beurteilten so die Kriegssituation meistens aufgrund veralteter Nachrichten und dementsprechend ratlos und oft verzweifelt saßen die Frontoffiziere vor ihren einlaufenden Befehlen. Die Führung von vorne, wie sie etwa im Zweiten Weltkrieg in den Panzerdivisionen der deutschen Wehrmacht gängig wurde, war noch keine Option: „Es ist nicht bekannt geworden, dass jemals ein höherer Führer in der vordersten Linie aufgetaucht wäre, um sich von der Lage zu überzeugen.“83 Gerechterweise muss hier aber angemerkt werden, dass die Generäle vorne auch nicht viel gesehen hätten. Im Niemandsland der von der Artillerie zerpflügten Landschaft dehnte sich nur Leere aus. Luftaufklärung und Funkverbindungen steckten noch in den Kinderschuhen, sind aber die unabdingbaren Voraussetzungen für neue Führungsprinzipien, die wieder „näher“ an das tatsächliche Geschehen rücken. Zudem mussten die sorgfältig geschulten Spezialisten geschont werden, denn ein Ausfall eines über Jahre ausgebildeten Stabsoffiziers wog schwer. Auch psychologisch gab es ein starkes Argument für das Fernbleiben der Kommandierenden von der Front: Ein General, der täglich mit ansehen müsste, wie seine Befehle Tausende in den Tod schicken, wäre über kurz oder lang nicht mehr handlungsfähig. Einzig der emotionale Abstand zum tödlichen ___________________
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dass wir lieber unsere gesamten 18 Armeekorps und 42 Millionen Einwohner auf der Walstatt liegen lassen, als dass wir einen einzigen Stein von dem, was Mein Vater und der Prinz Friedrich Karl errungen haben, abtreten.“ (Zit. bei Ferguson 1999, S. 285) Auch wenn diese Rede martialisch auf Effekt bei den Zuhörern zielte, die Realität war ab 1914 nicht weit davon entfernt. Die Arbeitsbedingungen für die Stabsoffiziere beschreiben Smelser und Syring (1997, S. 20f.) als eine von Managern, die komplexe Prozesse zu steuern haben: „Diese Entwicklung, die auch im militärischen Bereich mit einer sich immer weiter ausdifferenzierenden Arbeitsteilung einherging, entfremdete die meisten von ihnen weitgehend der Wirklichkeit des ‚totalen Krieges‘ an den Fronten. In gewisser Weise ähnelte ihr Arbeitsalltag – selbst dann, wenn sie ein Oberkommando an der Front führten – mehr demjenigen von Managern in den Führungsetagen der Wirtschaft unserer Tage als dem ihrer Berufsvorgänger noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.“ Für die „Männer der Front“ sah der Krieg anders aus. Unruh 1986, S. 44f.
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Geschehen, seine Reduktion auf abstrakte Ziffern und Statistiken, ermöglicht Befehle wie einen frontalen Angriff auf befestigte Stellungen. Als der französische Generalstabschef Joffre einmal an der Front Orden an verdiente Soldaten verlieh, trat auch ein erblindeter poilu (= ein einfacher Soldat) vor ihn. Nur mit äußerster Mühe hielt Joffre die Verleihung durch, tobte aber danach mit seinen Untergebenen und befahl, man dürfe ihm nie wieder zumuten so etwas zu tun, da er ansonsten nicht mehr arbeitsfähig wäre. Stab und Front entfernten sich im Laufe des Krieges immer mehr voneinander. In der Unübersichtlichkeit der zerstörten Landschaften des Stellungskrieges war die Einheit von Stäben und Mannschaften schließlich gänzlich aufgelöst: „Die Armee zerfiel in zwei scharf voneinander geschiedene Teile, die fast nichts miteinander gemein hatten: einerseits in die kämpfende Front, die Mannschaften und die Offiziere, die im Feuer standen und die eigentlich den Krieg führten; andererseits in die Stäbe und alles, was in Etappe und Heimat in sicheren Stellungen ein gefahrloses und vielfach bequemes und auskömmliches Leben führte. Der zweite Teil, der in der Hauptsache das aktive Offizierkorps, und zwar vor allem in seinen bevorzugten Schichten repräsentiert, kommandierte und führte den ersteren vom sicheren Hort der weit hinter der Front liegenden Stabsquartiere aus, ohne die wahren Bedürfnisse der Front zu kennen. Front und Stäbe schied eine unsichtbare, aber undurchdringliche Wand.“84
Die an der Spitze der Front in den Krieg Geworfenen fanden sich über das gemeinsame Erlebnis der Materialschlachten in neuen Beziehungen wieder. Beziehungen, die in mythischer Verklärung, aber mit durchaus realer Komponente, alle sozialen und ständischen Unterschiede vom Tisch wischten. Beziehungen unter Gleichen, bei denen aber jeder seinen Rang in einer „natürlichen Ordnung“ der Kämpfenden zugewiesen bekam. Keine Ordnung der Privilegien und der Herkunft, sondern der Leistung und des Ranges. Die historische Tatsache, dass der Militärdienst in der Neuzeit immer schon die Möglichkeit eines sozialen Aufstieges bot, muss als eine wichtige Voraussetzung für die Vorstellung ___________________ 84
Kuhl 1920, S. 200. Auch Michael Geyer (1984, S. 100) macht auf die Veränderung der Grundlagen militärischer Subordination aufmerksam, die mit der Materialschlacht einhergeht: „Es wurde wiederholt beobachtet, dass Offiziere und Mannschaften der Frontverbände näher zusammenrückten, während gleichzeitig die Distanz zur Etappe und den militärischen Führungsstellen wuchs. Das war der Ausgangspunkt der viel beschworenen ‚Frontgemeinschaft‘, jener scheinbar klassenüberspringenden Einheit der Frontkämpfer. Wenn diese Erfahrung auch nachträglich stilisiert und zum politischen Manifest mit fatalen Folgen erhoben wurde, war sie doch zu eindrücklich, als dass man sie als bloße ‚Männerphantasien‘ nur sozialpsychologisch erklären könnte.“
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eines Frontsozialismus betrachtet werden. Nicht erst in den Schützengräben entstand die Idee einer Ordnung des Krieges, die jedem eine Chance bot: „Die Frontkämpfer von der vordersten Linie bis zum Brigadestab einschließlich erkannten unter der Geißel kriegstechnischer Perfektion neue Wertungen und kamen – ob Offiziere, ob Mann – in Zerstörung und Vernichtung zu neuen mitmenschlichen Beziehungen. Der Frontsoldat, der als Typus im Stoßtruppmann fast einen Symbolwert erreichte, erlebte einen in ‚Stahlgewittern‘ entstandenen ‚Frontsozialismus‘, welcher zu einem unklar umrissenen, nebelhaften Begriff wurde und in die deutsche Nachkriegssituation hineingerammt, eine weiterzeugende Wirkung gehabt hat.“85
Das kollektive Bewusstsein des später so genannten „Soldatischen Nationalismus“ ist im eigentlichen eine Reaktion auf die imaginierte Situation in der Heimat und ihre psychische Bewältigung. Statt der erhofften und erträumten triumphalen Wiederkehr und der Bestätigung des eigenen Wertes, sieht sich der Frontkämpfer mit eisigem Schweigen und stummen Vorwürfen konfrontiert.86 Er kehrt als Geschlagener heim, dessen unerhörter Einsatz keinen nennbaren Erfolg und nicht einmal den Dank der Heimat verzeichnen kann. Erst die Vorstellung einer Ablehnung durch die zivile Gesellschaft – in der realen Heimkehrsituation praktisch nicht vorhanden – und die Schwierigkeiten, sich nach Kriegsende wieder in die „normale Welt“ zu integrieren, schaffen schließlich psychisch das Zusammengehörigkeitsgefühl, welches dann, mythisch überhöht, zum Frontkämpfererlebnis wird und die Teilnehmer am Kriege in ihren Augen von der Masse der anderen trennt. „Das Kollektivbewusstsein des Soldatischen Nationalismus ist nicht unmittelbar aus dem Krieg hervorgegangen. Erst der Bruch der Realitätserfahrung
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Hermann 1966, S. 327. „Unbesiegt in hundert Schlachten, ungebeugt im Zusammenbruch aller Werte, aber enttäuscht im letzten Innersten, ungläubig gegen jeden Schein, ohne Hoffnung – so kehrte der Frontsoldat heim. Geblieben war uns nur die blanke Ehre und der Trotz des Mannes, der sich nie beugt wo es um Ehre und Freiheit geht; geblieben war uns der Glaube an Deutschland und die Liebe zu einem unglücklichen Volk – die Kräfte, aus denen in jenem Zusammenbruch auch der größte Frontsoldat seinen unvergleichlichen Weg begann.“ (Mahnken, zit. bei Theweleit 1987, S. 76.) Die These der Unbesiegten und Hitlers Aufstieg aus dieser Anschauung heraus sind wesentliche Momente der Frontkämpferideologie. Zum Verhältnis zwischen der Realität und ihrer Verarbeitung in der Heimkehrsituation siehe Bessel (1996). Die Relativierung der Ablehnung des Frontsoldaten durch die Heimat wird in Kapitel 7 noch thematisiert.
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nach 1918, die plötzliche fehlende Akklamation und Bestätigung der gesamten Gesellschaft führt vom isolierten Subjektivismus zum Zusammengehörigkeitsgefühl mit jenen, deren Erlebnis ebenso strukturiert ist.“87
Aber erst Ende der 20er Jahre und v.a. ab 1929, der mit Remarques Buch Im Westen nichts Neues beginnenden Flut von Kriegsbüchern (in der Mehrzahl keine pazifistischen Romane), wird die „konservativ-revolutionäre Gruppe“ (Mohler) als Stimme vermehrt gehört (vgl. Kapitel 3.3). Das ist ein Hinweis darauf, dass es die gesellschaftlichen Bedingungen waren, die zum Erfolg der militanten Rechten führten. Dabei hat – neben dem Wunsch, endlich die politischen Wirren und Unsicherheiten Ende der 20er Jahre zu überwinden – sicher die ökonomische Krise eine entscheidende Rolle gespielt. In der prosperierenden Phase der Weimarer Republik (etwa von 1924-28) kann man bereits das langsame Entstehen einer „Konsumbürgerlichkeit“ als Alternative zur „heroischen Haltung“ erkennen. Der Zusammenbruch der Weltwirtschaft, die Ablehnung des parlamentarischen Systems auch durch die bürgerlichen Parteien und die dadurch verstärkte Krise des Weimarer Parteienstaates hat die Möglichkeiten einer „postheroischen Mentalität“ (Münkler) aber schnell wieder zerbrochen. Denn neben der KPD war auch die Stimme der rechten Agitatoren streng antikapitalistisch ausgerichtet. Auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise und der Verabschiedung des Youngplanes88 spricht etwa Gregor Strasser, Repräsentant des nationalbolschewistischen Flügels der NSDAP, von der „antikapitalistischen Sehnsucht“ des deutschen Volkes. Deutschland war, in den Augen der Nationalrevolutionäre, mit Versailles die proletarische Nation geworden, der Westen stand dagegen für die dekadente Bourgeoisie. „Die Vorstellung von Deutschland als dem Weltproletarier nahm im Denken der konservativen Revolutionäre (Moeller van den Bruck, Boehm, Jung, Jünger, Hielscher, Spengler, der Tatkreis) und der ihnen innerlich verwandten National___________________ 87 88
Prümm 1974, S. 131. Vielleicht setzt Prümm den Erfolg hier zu früh an. Denn erst in der Spätphase der Weimarer Republik wurde das Fronterlebnis für größere Schichten politisch wirksam. Am 7.6.1929 unterzeichnetes Programm zur Regelung der Reparationen aufgrund des Versailler Vertrages, benannt nach dem amerikanischen Bankier und Leiter der Verhandlungen Owen D. Young. Die Gesamthöhe der Reparationen betrug 34,5 Milliarden Mark, zu bezahlen in 59 Jahresraten. Entscheidend war, neben der Aufhebung der wirtschaftlichen Kontrollen durch die Alliierten, die innenpolitische Wirkung des Youngplanes. Das von der ‚nationalen Opposition‘ (NSDAP; DNVP) initiierte Volksbegehren gegen den Plan (über 4 Millionen Deutsche votierten dagegen) machten Hitler und die NSDAP einer breiteren Öffentlichkeit erst bekannt.
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bolschewisten (Niekisch, Lauffenberg, Wolffheim) eine zentrale Stelle ein.“89 Im Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stehen der Frontsoldat und das Erlebnis von 1914, das alle gesellschaftlichen Trennungen und Unterschiede in der Rückschau auflöste. Das Verhalten und die Bedingungen in den Schützengräben wurden darüber hinaus aber auch umstandslos auf die gesamte Gesellschaft übertragen. In den Gräben verwirklichte sich das, was Oswald Spengler 1920 den Preußischen Sozialismus als den einzig wahren Sozialismus beschrieb. Bernd Hüppauf merkt dazu an: „Diese Soldaten wurden nicht nur allein als neue, an die Bedingungen der Front ideal angepasste Wesen verherrlicht; vielmehr wurde ein geschlossenes und selbstbezogenes Modell der Front selbst als ein Paradigma des Lebens und die unter ihren extremen Bedingungen entwickelten Verhaltensmuster als ein Modell für die künftige Menschheit stilisiert.“90
Die Frontgemeinschaft als gelungene Inkarnation und Weiterleben der Situation im August 1914. Diese Auffassung steht im Zentrum aller republikfeindlichen Kräfte. Hier, an der Front, vielfachen Gefahren ausgesetzt, findet die Nation zu sich selbst, ja sie braucht die drohende Gefahr, um nicht zu verweichlichen: „Der Deutsche muss von Gefahren umrungen sein. Denn ohne Gefahr verkümmert und verflacht der Mensch und erfindet das Glück“,91 so Werner Sombart in seiner populären Propagandaschrift Händler und Helden. Schon deshalb muss Deutschland ein Volk von Kriegern sein. Letztere geben das leuchtende Vorbild für die ideale Gemeinschaft: „Die Ableitung des politischen Führungsanspruches gründet sich auf die Funktion des Kriegers als Subjekt des Weltkrieges, als Träger der geschicht-
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Schivelbusch 2003, S. 281. Neben dem Bündnis mit der Sowjetunion als der anderen proletarisierten Nation gab es in der Nachkriegszeit auch die Idee eines globalen Bündnisses mit allen vom Westen kolonisierten Völkern. Deutschland als Kämpfer für die Unterdrückten der Erde, das war ein schönes und hehres Bild für ihre Vertreter. Auch im Zweiten Weltkrieg, wie bereits im Ersten, lassen sich, etwa in der Behandlung der arabischen Völker, Spuren davon finden (Vgl. dazu exemplarisch Seidt 2002). Hüppauf 1996, S. 88. Nicht nur die Front, sondern auch das Augusterlebnis, galt als Sozialismus. In ihm kulminierte die Sehnsucht nach der Einheit der Nation. „Als idealer Bezugspunkt des wahren Sozialismus gilt dabei jedoch immer der zum Mythos gesteigerte August 1914, der in den Frieden zu transportieren, als eine der ausschließlichen Aufgaben […] bezeichnet wird.“ (Prümm 1974, S. 189) Sombart 1915, S. 127.
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lichen Bewegung. Die politischen Strukturen, in denen sich dieser Führungsanspruch verwirklichen kann, müssen denen des Krieges entsprechen. Der Soldatische Nationalismus geht aus von der naiven, unproblematischen Übertragung militärischer Prinzipien auf die gesamte Gesellschaft.“92
Zwei der bekanntesten Repräsentanten dieser Auffassung sind der Nationalökonom Werner Sombart und der Geschichtsphilosoph Oswald Spengler. Beide nahmen am Krieg nicht mehr teil, wurden aber zum Sprachrohr einer ganzen Generation. Gemeinsam ist ihnen, dass sie von zwei großen Prinzipien in der Weltgeschichte ausgehen, die den eigentlichen Motor des Krieges bilden. „Alle großen Kriege sind Glaubenskriege, waren es in der Vergangenheit, sind es in der Gegenwart und werden es in der Zukunft sein.“93 Mit diesem Satz beginnen Werner Sombarts „patriotische Besinnungen“ Händler und Helden. Der Hauptkrieg findet für ihn zwischen der „europäischen Zivilisation“ und dem deutschen Militarismus statt, ein Begriff, den Sombart mit Stolz einführt und den er als den „besten Geist“ des deutschen Volkes ansieht. Militarismus ist „Potsdam und Weimar in höchster Vereinigung. Er ist ‚Faust‘ und ‚Zarathustra‘ und Beethoven-Partitur in den Schützengräben.“94 Mit europäischer Zivilisation sind die Ideen von 1789 gemeint, Demokratie, Freiheit, Gleichheit. Dagegen stehen die Ideen von 1914, die bei Spengler zum preußischen Sozialismus werden, der an der Front annähernd verwirklicht scheint: Pflicht, Gehorsam, Aufopferung, Unterordnung für das Ganze. Als Träger der beiden Gegensätze gelten England und Deutschland, die beiden Antipoden des Weltkrieges. „Was im Kampfe steht“, so Sombart, „sind der Händler und der Held, sind händlerische und heldische Weltanschauung und dementsprechende Kultur.“ 95 Händler und Helden sind aber keine Berufsbezeichnungen, sondern Gesinnungen und so wird der Weltkrieg bei Sombart zur Auseinandersetzung dieser beiden Prinzipien. Für Spengler, der die enge Verwandtschaft von Deutschen und Engländern anerkennt, muss der deutsche Sozialismus von Marx und seinen „englischen Gedanken“ befreit werden. „Denn es gibt keinen anderen Sozialismus als den Deutschen.“96 Sozialismus ist bei Spengler ___________________ 92 93 94 95 96
Prümm 1974, S. 41. Sombart 1915, S. 3. Ebd., S. 85. Ebd., S. 4. Früher hatte Sombart, in seiner Geschichte des Kapitalismus, die psychische Disposition der großen Kapitalisten noch mit Wagemut und Abenteurertum in Verbindung gebracht. Spengler 1920, S. 4. „Der echte Sozialismus stand im letzten Ringen an der Front oder lag in den Massengräbern von halb Europa, der, welcher im August 1914 aufgestanden war, und den man hier (November 1918)
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nicht mit Marxismus gleichzusetzen. Marx ist für Spengler ein englischer Denker. Den „Instinktgegensatz“ der beiden germanischen Rassen übertrage Marx auf den materiellen Gegensatz zweier Schichten. Marx schreibe den „preußischen Gedanken“ des Sozialismus dem Proletariat und den des Kapitalismus der Bourgeoisie zu. Der Unterschied von Klasse und Stand sei bei Marx aber verkannt. Klasse als rein wirtschaftlicher Begriff werde der preußischen Realität nicht gerecht, seine Analyse führe so notgedrungen in die Irre: „In Preußen aber war es die Stellung, ein Mehr oder Weniger von Befehl und Gehorsam, das die Klassen schied.“97 Bourgeoisie und Proletariat sind in dieser Lesart des Kapitals „rein englische Begriffe.“ Marx hat, so Spengler, den Sinn des preußischen Arbeitsbegriffes nicht verstanden, „der Tätigkeit um ihrer selbst willen, als Dienst im Namen der Gesamtheit, für ‚alle‘ und nicht für sich, als Pflicht, die adelt ohne Rücksicht auf die Art der Arbeit.“ 98 Marx‘ Verachtung der Arbeit, seine Auffassung der Arbeit als Ware und nicht als Pflicht sei der (englische) Kern seiner Nationalökonomie. Der deutsche Sozialismus muss deshalb von Marx befreit werden, da er „wesensfremde Elemente“ enthält. Für Spengler sind preußische Tugenden und Sozialismus identisch, ja Preußen gilt ihm sogar als „Vaterland“ des Sozialismus: „Wille zur Macht, Kampf um das Glück nicht des einzelnen, sondern des Ganzen. Friedrich Wilhelm I. und nicht Marx ist […] der erste bewusste Sozialist gewesen.“99 Kapitalismus und Sozialismus sind bei Spengler zwei Prinzipien oder Ordnungen, die des Reichtums und die der Autorität. Zwei große Wirtschaftsprinzipien stehen sich deshalb in der modernen Welt gegenüber: die „Diktatur des Geldes oder der Organisation, die Welt als Beute oder als Staat, Reichtum oder Autorität, Erfolg oder Beruf. […] Die ewige Frage bleibt: „Milliardäre oder Generale, Bankiers oder Beamte von größtem Format.“ 100 Während Demokratie in England das größtmögliche Glück und individuellen Reichtum bedeute, das ganze Volk nach dem Unterschied von reich und arm eingeteilt sei, ist das preußische Volk nach dem Unterschied von „Befehl und Gehorsam“ aufgebaut. Als Modell dieses preußischen Sozialismus gilt die Situation des Kriegszustandes. Der „Reichssozialismus“ kennt nur die Unterordnung unter die Prinzipien des „preußischen Gesetzes“: Dienst, Pflicht und Verant___________________ verriet.“ Die wirkliche sozialistische Revolution „fand 1914 statt“ (Ebd., S. 9 und 12). 97 Ebd., S. 71 (Herv. im Orig.). 98 Ebd., S. 74. 99 Ebd., S. 42. Vgl. dazu Prümm 1974, S. 147f. 100 Spengler 1920, S. 65 und 67.
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wortung. „Demokratie bedeutet in England die Möglichkeit für jedermann reich zu werden, in Preußen die Möglichkeit, jeden vorhandenen Rang zu erreichen: damit wird der einzelne in die ein für allemal gegebene Schichtung durch seine Fähigkeiten und nicht durch eine Tradition eingereiht.“101 Unschwer lässt sich an dieser Beschreibung die idealisierte Situation der Front und die des August 1914 erkennen. Das Militär gilt als demokratisch, da jeder prinzipiell den ihm zustehenden Rang nach seiner Leistungsfähigkeit erreichen kann. Hier, im Feuer der Front, entscheiden nicht Privilegien oder bürgerliche Ordnung über den Rang eines Mannes. Hier zählt allein seine Kampfkraft, seine Bewährung in der Schlacht, seine „natürlichen“ Führungseigenschaften. Am Modell der Front und des Krieges orientiert, wird das Modell des preußischen Staates beschworen. So träumt Spengler vom preußisch-sozialistischen Staat als von einem Beamtenstaat, der alle (sozialen) Unterschiede auflöst und das funktionale Dienen in einer Hierarchie des Ganzen in den Mittelpunkt individueller Betätigung stellt: „Er [der Staat; A.M.] ist das ganze Volk, und seiner unbedingten Souveränität gegenüber sind beide Parteien [Proletarier und Bourgeoise; A.M.] nur – Parteien, Minderheiten, die beide der Allgemeinheit dienen. Jeder Arbeiter erhält letzten Endes den Charakter eines Beamten statt eines Händlers, jeder Unternehmer ebenso. Es gibt Industriebeamte und Handelsbeamte so gut wie militärische und Verkehrsbeamte.“ 102 Auch Werner Sombart formuliert bereits 1915 ähnliche Gedanken: „Der Staat sei weder von Individuen begründet oder gebildet, sei kein Aggregat von Individuen, noch habe er den Zweck, irgendwelche Interessen der Individuen zu fördern. Vielmehr sei der Staat die zur Einheit zusammengefasste Volksgemeinschaft, sei er die bewusste Organisation eines Überindividuellen, der die einzelnen Individuen als Teile angehören. […] Diese Staatsauffassung lehnt in folgerichtiger Durchführung ebenso die schematische, rein quantitative Gleichbewertung der Individuen ab und stellt als Ideal hin, die einzelnen nach ihren Fähigkeiten und Leistungen verschiedener Individuen in einer im Erfolge
___________________ 101 Ebd., S. 44. 102 Ebd., S. 76; (Herv. im Orig.) Deshalb beinhaltet der preußische Gedanke bei Spengler auch eine staatliche Festsetzung des Lohnes (wie bei den Beamten) für jede Form von Arbeit. „Das Prinzip der Beamtengehaltsordnung, auf alle Arbeiten angewandt, schließt auch das Recht auf Streik aus.“ (Ebd., S. 77) Diese Vorstellung erklärt sich daraus, dass im preußisch-sozialistischen Staat „Arbeit keine Ware, sondern eine Pflicht gegenüber der Gemeinschaft ist.“ (Ebd., S. 75)
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für das Ganze nutzbringenden Weise zur Entfaltung ihres Wesens kommen zu lassen.“103
Staatsmaschine und Militärmaschine werden eins. Gegen diese ersehnte Symbiose setzt Sombart die englische Ethik und ihre abgeleiteten Staatstheorien, die alle dem Händlergeist verschrieben seien. Die utilitaristische Ethik der englischen Moralphilosophen setze das größtmögliche Glück aller Bürger zum Ziel. Alles englische Denken ist auf praktische Zwecke ausgerichtet, alles Streben ziele auf materielles Behagen, kurz, auf Komfort. Eine vollständige Kommerzialisierung des englischen Volkes, auch des Adels, sei der Effekt eines tief sitzenden Händlergeistes. Alle Mittel der staatlichen Politik dienten nur dem merkantilistischen Geiste, dessen eigentliches Werkzeug der Vertrag sei. Ganz anders dagegen sieht Sombart die deutschen Staatstheorien in der Tradition Kants. Gewisse Widersprüche zwischen seiner propagandistischen Haltung und der Kant’schen Theorie kann er zwar nicht leugnen, macht daraus aber ein Nicht-Verstehen der Rezeption: „Kant aber insbesondere tut man sicher bitteres Unrecht, wenn man seine Staatslehre, weil sie das Vertragsmoment enthält, in einen Topf wirft mit den Händlertheorien, deren Grundgedanke ist, wie wir sahen: Die Nutzgründe festzustellen, derentwegen die Individuen ein Interesse am Staat haben können.“ 104 Im Mittelpunkt der Kantischen Geschichtsphilosophie steht unzweifelhaft der Staat. Die Entwicklung der staatlichen Verfassung ist das Thema der Geschichte, nicht die Kultur, die Erkenntnis, die Erziehung oder die Ästhetik. Der Staat selbst ist bei Kant doppelt definiert. Einmal als „die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ und zum anderen als Zwangsverhältnis. Seine Doppelnatur ist einmal Rechtsgemeinschaft und historisches Machtgebilde, das seinen Ursprung in den von Leidenschaften und Trieben bestimmten Zusammenleben der Menschen hat. Als Schnittpunkt zwischen der idealen Natur des Menschen und der unsittlichen Wirklichkeit, also seiner empirischen Natur, fungiert der Staat. Er ist für Kant der Ort an dem sich „Sittlichkeit verwirklicht“ und „Wirklichkeit versittlicht.“ Entgegen der Auffassung der Aufklärungsphilosophie und älteren, christlichen Vorstellungen dient der Staat bei Kant nicht der ___________________ 103 Sombart 1915, S. 76f. 104 Ebd., S. 73. Trotz des Lobes für Kant kann Sombart seine Altersschrift Zum ewigen Frieden, in der Kant versucht die Bedingungen für einen allgemeinen Frieden zu beschreiben, nicht leugnen. Dementsprechend abwertend ist sein Kommentar: „Die traurige Schrift des alten Kant über den ‚Ewigen Frieden‘, in der nicht der große Philosoph, sondern der über den Tod Lampes vergrämte, gnittrige und verärgerte Partikularier Kant aus Königsberg zu Worte kommt.“ (Ebd., S. 93)
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Wohlfahrt, sondern der Moralität der Staatsbürger. 105 Hier kommt er Sombart am Nächsten. Das große Thema der angelsächsischen Staatstheorien, der Aufklärung und der französischen Revolution: Das Glück des Menschen bzw. die Schaffung der Bedingungen dazu, spielen bei Kant tatsächlich keine Rolle. Die Förderung der Tugend und Sittlichkeit ist die Aufgabe und das Ziel des Staates und nicht individuelles Glück.106 Aus diesen theoretischen Einzelstücken konstruiert Sombart eine Idee des Staates, der in einem permanenten Kriegszustand die entwickelte Form der Kriegsorganisation darstellt. Insbesondere die Kriegswirtschaft dient als Vorbild für eine Form der Planwirtschaft, die zwar im Krieg entstanden, aber darüber hinaus weitergehende Verallgemeinerungen ins Zivile hinein erlaubt. Die gesellschaftlichen und ökonomischen Folgerungen aus dem Kriegssozialismus sind v.a. von Johann Plenge, ein Universitätskollege Sombarts, bereits 1915 in seinem Buch Der Staat und die Volkswirtschaft ausgeführt worden (vgl. dazu Kapitel 5.1.). Spengler nennt das Prinzip einer „organischen Staatsidee“ Preußischen Sozialismus. Unschwer können wir darin das militärische Prinzip von Über- und Unterordnung erkennen. „Befehlen und Gehorchen in einer streng disziplinierten Gemeinschaft, heiße sie nun Staat, Partei, Arbeiterschaft, Offizierkorps oder Beamtentum, deren Diener jeder Zugehörige ohne Ausnahme ist.“107 Diese, auf einen einzigen Zweck, die Macht des Staates, gerichtete Gemeinschaft mit autoritär-diktatorischen ___________________ 105 Kant 1984, S. 31 106 In Artikel 1 der Menschenrechte von 1793 ist die Herstellung des allgemeinen Glücks als Aufgabe der Staatsgewalt formuliert; Robespierre proklamierte in einer Rede das Glück als die neue Idee Europas; diese Idee war tatsächlich für die feudale Welt noch undenkbar, mit der bürgerlichen Revolution aber gewissermaßen ein Recht geworden. Autoren wie Sombart oder Spengler lehnen genau dieses Recht ab und stellen ihm die Pflicht gegenüber. 107 Spengler 1920, S. 46. „Jeder für sich, das ist englisch; alle für alle; das ist preußisch.“ Das englische Gemeingefühl sei das des Erfolges und des Glücks, nicht der Aufgabe wie das preußische. Und Spengler folgert daraus: „Der Engländer ist innerlich Sklave“. (Ebd., S. 34 und 38) Der Hass und die Rivalität mit England dienen oft dazu, die heimliche Bewunderung für die englische Weltmacht zu verdecken. Man könnte den Versuch machen, die Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus dieser Hassliebe zu rekonstruieren. Denn umgekehrt gab es auch in England eine unverhohlene Bewunderung der „deutschen Tugenden.“ Befremdend wirkt bis heute etwa die Glorifizierung der deutschen Wehrmacht und deutscher Generäle bei angelsächsischen Militärhistorikern. Die deutsche Wehrmacht gilt bei vielen immer noch als „die beste der Welt.“ Das dürfte kein deutscher Autor ohne den Vorwurf des Militarismus schreiben.
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Strukturen wird nach dem Krieg v.a. in einem Land verwirklicht: der Sowjetunion. Autoren wie Spengler und Sombart waren nach dem Krieg fasziniert von der Oktoberrevolution im zaristischen Russland. Sie wird bei den meisten konservativen Revolutionären nicht als Sieg des Bolschewismus, sondern als „nationale Revolution“ gefeiert. Insbesondere ihre totalitären Züge treffen auf mentale Muster, die sie in Gegensatz zu den Ereignissen im November 1918 stellen, diesem, wie es heißt, „aus Unrast geborenem Revolutiönchen.“108 Nirgends kommt der Hass der Besiegten so deutlich zum Ausdruck wie in der Aburteilung der Novemberrevolution: „Die unbeschreibliche Hässlichkeit der Novembertage ist ohne Beispiel. Kein mächtiger Augenblick, nichts Begeisterndes; kein großer Mann, kein bleibendes Wort, kein kühner Frevel, nur Kleinliches.“109 Die „Novemberverbrecher“, verantwortlich für die Schmach von Versailles, waren denn auch der wichtigste Begriff der Rhetorik Hitlers, wenn es darum ging, die Republik als eine „Totgeburt“ zu denunzieren. Für den Nationalsozialismus war demgegenüber die Front als positives Gegenstück zur zivilen Verrätergesellschaft Vorbild. War das Fronterlebnis für Hitler der Schlüssel für seine politischen Ambitionen, verwandelte er nach der Machtübernahme konsequenterweise immer mehr Teile der Gesellschaft in „Ableger“ der Front. Es gab die deutsche Arbeitsfront, sogenannte Frontarbeiter bauten den Westwall, der eine Invasion der Alliierten verhindern sollte, es war von der Bauernfront und Ernteschlachten die Rede und ganz am Ende des Krieges tauchte auch die Heimatfront als Begriff hartnäckig auf. 110 Die Front war nicht nur Vermächtnis, sondern Anruf an ihre Kämpfer, die Zerrissenheit der Heimat nach Kriegsende wieder rückgängig zu machen. „Aus dem Fegefeuer der Front hervorgegangen, betrachtete die Weltkriegsgeneration sich als zur Führung der Nation berufen. Ihre Mission war es, die im Krieg erhaltene Erziehung zurück in die noch im Zustand der Ahnungslosigkeit verharrende Heimat zu bringen. […] Das Bild des Marsches von der Front in die Hauptstadt steht daher im Zentrum der faschistischen Mythologie. Es
___________________ 108 Das am genauesten ausformulierte Konzept einer Revolution von rechts liefert Hans Freyer in seiner 1931 erschienenen gleichnamigen Schrift. Das Proletariat war das revolutionäre Subjekt des 19. Jahrhunderts. An seine Stelle tritt für Freyer im 20. Jahrhundert das Volk (siehe: Freyer 1931). 109 Spengler 1920, S. 11. 110 Zur Sprache des Dritten Reiches, insbesondere ihre Anleihen bei Kriegsmetaphern, vgl. die scharfsinnigen Analysen Victor Klemperers (1996) in seinem Buch LTI (Lingua Tertii Imperii). Zur Heimatfront und totalem Kriege siehe: Horn (2004).
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suggeriert die Wiederherstellung der Einheit der Nation nach ihrer Aufteilung in Front und Heimat bei Kriegsbeginn.“111
Dennoch dürfen wir den Soldatischen Nationalismus und die nationalrevolutionären Gruppierungen nicht mit dem Nationalsozialismus gleichsetzen. Die Differenzen zwischen konservativer Revolution und Nationalsozialismus sind nicht zu übersehen und können im Wesentlichen an drei Punkten festgemacht werden. Erstens das Fehlen eines biologischen Rassismus, auch wenn antisemitische Töne nicht unbekannt waren; zweitens die heimliche oder offene Sympathie für den Bolschewismus, den Todfeind der NSDAP, und drittens die kategorische Ablehnung eines Legalitätskurses, den Hitler nach dem gescheiterten Putsch 1923 einschlagen wird. So lieferte beispielsweise Oswald Spengler zwar viele Argumente für die NSDAP, hielt aber nach 1933 den Rassebegriff für „groben Unfug“. Seine berühmte Definition, der „Nationalsozialismus sei nichts anderes als die Organisation der Arbeitslosen durch die Arbeitsscheuen“, zeugt auch nicht gerade von unverhohlener Sympathie für die Bewegung. Die wichtigsten Autoren und Publizisten des nationalen Sozialismus (Spengler, Tönnies, Moeller van den Bruck, Niekisch oder Sombart) vertreten eigenständige Gesellschaftsmodelle, die sie aus der Kriegserfahrung und der preußischen Vergangenheit ableiten. Keineswegs sind ihre Visionen aber mit Hitlers NS-Staat als angestrebtem Modell der deutschen Zukunft identisch. Die militante Rechte und ihre politischen Positionen sind alles andere als homogen. Dafür waren ihre Protagonisten viel zu eigenständig, galten ihnen doch die „Verweigerung“ und eine Protesthaltung des „Dagegen“ als eine Form der männlichen Tugend.112 Festzuhalten bleibt aber, dass das Modell der Front, von Krieg und Gewalt, in einen Begriff des Sozialismus kulminierte, der nichts anderes als Macht bedeutete. Politik reduzierte sich so auf nichts anderes mehr als reine Machtpolitik. Hier trafen sich die rechten Visionäre mit dem späteren „Politikbegriff“ der NS-Bewegung, die Macht nur noch als reinen Funktionszusammenhang der Organisation verstand. In diesem Sinne schrieb Oswald Spengler 1920 in apologetischer Manier: „Wir brauchen Härte, wir brauchen eine tapfere Skepsis, wir brauchen eine Klasse von sozialistischen Herrennaturen. Noch einmal: Sozialismus bedeutet Macht, Macht und immer wieder Macht. Pläne und Gedanken sind nichts ohne Macht. Der Weg zur Macht ist vorgezeichnet: der wertvolle Teil der deutschen
___________________ 111 Schivelbusch 2003, S. 278f., Herv. im Orig. 112 Zur Heterogenität der rechten Diskurse und Konzepte vgl. die Studie von Christoph Werth (1996): Sozialismus und Nation.
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Arbeiterschaft in Verbindung mit den besten Trägern des altpreußischen Staatsgefühls. […] Wir sind Sozialisten. Wir wollen es nicht umsonst gewesen sein.“113
___________________ 113 Spengler 1920, S. 98f.
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5. D I E
TOTALE
MOBILMACHUNG
Das Wesen des totalen Krieges bedingt es, dass er nur dann geführt werden kann, wenn wirklich das ganze Volk in seiner Lebenserhaltung bedroht und entschlossen ist, ihn auf sich zu nehmen. Die Zeiten der Kabinettskriege und der Kriege mit beschränkten politischen Zielen sind vorüber. Sie waren oft mehr Raubzüge als ein Ringen von tief sittlicher Berechtigung, wie es der totale Krieg um die Lebenserhaltung des Volkes ist. Erich Ludendorff (1935)
5 . 1 . K r i e g sw i r ts c ha f t Die Veränderungen des Krieges und die insbesondere ab 1916 mit immer größeren Vernichtungspotenzialen geführten industriellen Feldschlachten zeigen vor allem eines: die Bedeutung der Wirtschaft für den Krieg. Mobilisierung und Ausnutzung wirtschaftlicher Ressourcen waren die entscheidenden Faktoren für den Sieg auf dem Schlachtfeld geworden. Der Krieg wurde nicht mehr allein von Armeen geführt, sondern von ganzen Volkswirtschaften und ihrem ökonomischen Potenzial. Die Materialschlacht war in diesem Sinne das tödliche Sinnbild für den Wettbewerb der Wirtschaft im Zeitalter der Industriegesellschaft. Diese Entwicklung erforderte auch neue Beziehungen zwischen den gesellschaftlichen Kräften: „Politik, Militär und Wirtschaft mussten unter diesen extremen Bedingungen neue Kooperationsformen und Entscheidungsstrukturen entwickeln.“ 1 Die bis dato gültigen Trennungen von Krieg und Zivilem, Soldaten und Arbeitern, Schlachtfeld und Fabrik lösten sich auf. Hatte die politische und militärische Führung (nicht nur) auf deutscher Seite zu Kriegsbeginn damit gerechnet, dass spätestens mit Jahresende 1914 die Prinzipien der Friedenswirtschaft wieder gelten ___________________ 1
Müller R.D. 2002, S. 43.
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würden, sah man sich mit Beginn des Abnutzungs- und Stellungskrieges einer vollkommen anderen Situation gegenüber. Der Krieg fraß sich sozusagen selbst. Die Anerkennung der Notwendigkeit einer Konzentration der ökonomischen Kräfte unter staatlicher Aufsicht ging erstaunlicherweise in Deutschland zunächst von der Privatwirtschaft aus. Die bereits im August 1914 geschaffene Kriegsrohstoffabteilung (KRA) war auf die Initiative eines leitenden Angestellten der AEG, Wichard von Moellendorff, zurückzuführen. Der Präsident der AEG und spätere Außenminister der Weimarer Republik, Walther Rathenau, überzeugte schließlich den preußischen Kriegsminister Falkenhayn – der wiederum nach der Ablösung Moltkes d.J. im September 1914 Generalstabschef wurde – von der Notwendigkeit einer zentralen KRA. Dessen Leitung übernahm Rathenau bis Mai 1915 zunächst selbst. „Auf der rechtlichen Grundlage des Ermächtigungsgesetzes für den Bundesrat und nach der Erklärung des Belagerungszustandes war diese erste für die zentrale Kriegswirtschaft gebildete Institution zuständig für die gesamte Rohstoffbewirtschaftung Deutschlands.“ 2 Aufgrund der englischen Blockade und der Abschneidung Deutschlands von wichtigen Rohstoffen kam der KRA v.a. im Hinblick auf die Entwicklung von Ersatzstoffen eine große Bedeutung für die Kriegführung zu. Die synthetische Stickstoffgewinnung, die das bis zum Kriegsausbruch aus Chile eingeführte Salpeter ersetzte und elementar für die Pulverproduktion war, sei hier nur als wichtigstes Beispiel genannt. Die Kriegswirtschaft sah sich v.a. mit vier zentralen Problemen konfrontiert: einmal mit dem veränderten Verhältnis von Staat und Wirtschaft, die ersterem eine weitaus größere Rolle als bisher beimaß. Das lässt sich etwa an der Staatsquote ablesen, also dem Anteil der öffentlichen Ausgaben am Sozialprodukt. In allen kriegführenden Ländern kam es zu einem massiven Anstieg der Staatsquote. Lag in Deutschland vor 1914 die Staatsquote schon bei beträchtlichen 17%, war sie bis 1917 auf über 70% angewachsen. Aber selbst in den USA, einem Land in dem staatliche Eingriffe verpönt und private Initiative alles waren, stieg der Anteil der Staatsausgaben von bescheidenen 1,4% vor Kriegsausbruch auf 22% im Jahre 1919. Das zweite große Problem der Kriegswirtschaft war die Umstrukturierung der Industrie auf die Rüstungsproduktion. Im kaiserlichen Deutschland waren die Versorgung mit Rohstoffen und der Arbeitskräftemangel dabei die größten Schwierigkeiten. Der Konflikt zwischen dem Heer, das ständig Nachschub an Soldaten benötigte, und der Industrie um qualifizierte Arbeits___________________ 2
Michalka 1997, S. 487.
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5. DIE TOTALE MOBILMACHUNG
kräfte hielt für die Dauer des Krieges an und war prinzipiell nicht zu lösen. Drittens blieb die Sicherung des Konsums eine dringende Aufgabe der Kriegswirtschaft. In Deutschland, das spätestens im Winter 1916/17, dem bekannten Steckrübenwinter, einen eklatanten Mangel an Lebensmitteln beklagte, war aber nicht nur die alliierte Seeblockade für einen Rückgang des privaten Konsums verantwortlich. Die Prioritäten der Wirtschaft waren einseitig auf Rüstung ausgerichtet und erreichten im Hindenburgprogramm ihren Höhepunkt. Die Regulierung des privaten Konsums begann bereits 1914 und führte zu einer staatlichen Zwangswirtschaft mit unabsehbaren Konsequenzen. So verfütterten etwa viele Bauern ihr Getreide lieber an ihre Tiere als es auf dem Markt zu staatlich festgesetzten Preisen zu verkaufen, die weit unter den eigenen Produktionskosten lagen. Die Folgen der Zwangswirtschaft waren ein blühender Schwarzhandel und eine zunehmende Unterernährung in den Städten. Schließlich und viertens blieb die Frage der Kriegsfinanzierung die drängende Frage für eine Kriegswirtschaft, die täglich Millionen auf den Schlachtfeldern verbrauchte. Da Steuererhöhungen ein unpopuläres Mittel waren, vertrauten alle Staaten auf Kreditaufnahmen. Deutschland legte z.B. bis 1918 neun Kriegsanleihen auf, die aufgrund der Siegeserwartungen eifrig gezeichnet wurden. Am Ende des Krieges war ein Schuldenberg von 156 Milliarden Mark entstanden, eine ungeheuere Summe vergleicht man sie mit den 5,4 Milliarden im Jahre 1914.3 Trotz der Versuche einer Zentralisierung der Wirtschaft durch den Staat während des Kriegsverlaufes blieben die privaten Unternehmen doch in viel größerem Maße eigenständig als allgemein angenommen wird. Von einer „totalen Organisation“ der Kriegswirtschaft kann deshalb nur in einem metaphorischen Sinne gesprochen werden. Dennoch hatte die Mobilisierung der staatlichen Kräfte und gesellschaftlicher Ressourcen einen bleibenden Eindruck auf viele Beobachter hinterlassen. In der Tatsache einer Zunahme staatlicher Eingriffe sahen manche ein Ende der kapitalistischen Marktprinzipien mit weitreichenden Konsequenzen für die Zeit nach Kriegsende. „Da die Kriegswirtschaft, allgemein gesprochen, dadurch charakterisiert war, dass die marktwirtschaftliche Selbstvermittlung durch administrative und ___________________ 3
Alle Zahlen finden sich bei Ullmann (2004). Die Steigerung der Kriegsproduktion zeigt auch folgende Tatsache: Das letzte Kriegsbudget in Deutschland lag um 505% höher als das erste. (Ebd., S. 228) Im Jahre 1914 betrug der Kriegsschatz lediglich 240 Millionen Mark, gerade genug für 2 Tage Kriegführung (Ebd., S. 462). Die Gesamtkosten des Krieges betrugen schließlich 160 Milliarden Reichsmark, davon wurden insgesamt 97 Milliarden aus Kriegsanleihen finanziert (Vgl. Fleming und Heinrich 2004, S. 104).
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korporative Regulierung von Produktion und Distribution zurückgedrängt wurde, lag es nahe, dieses Phänomen mit dem an den Staatssozialismus gemahnenden, ebenso schillernden Begriff ‚Kriegssozialismus‘ zu belegen. Dabei schwang die schon vor dem Kriege zu beobachtende Neigung mit, wirtschaftlicher Organisation per se sozialistischen Charakter zuzusprechen. Entscheidend war nun freilich, ob man im Kriegssozialismus nur eine vorübergehende kriegsbedingte Notmaßnahme oder ob man ihn als Wandel der Wirtschaftsordnung von bleibender Wirkung interpretierte.“4
Einer der Hauptvertreter des Kriegssozialismus, der seine „Vorzüge“ auch nach dem kommenden Sieg Deutschlands in den Frieden transferieren wollte, war der Nationalökonom Johann Plenge. Gleich zu Beginn seines viel gelesenen und erstmals 1915 veröffentlichten Buches Der Krieg und die Volkswirtschaft bringt Plenge das Verhältnis von Krieg und Wirtschaft auf eine einfache Formel: „Krieg und Wirtschaft gehören zu einander wie Aufbau und Vernichtung, wie Tod und Leben.“5 Aber die Wirtschaftsorganisation im Kriege ermögliche eine Zusammenfassung aller gesellschaftlichen Kräfte innerhalb eines staatlichen Gemeinwesens. Ähnlich wie Spengler geht Plenge dabei von einer Idee des Sozialismus aus, die er mit einem höheren Prinzip gleichsetzt. Dieses Prinzip bringt er auf die kürzestmögliche Formel: „Organisation ist Sozialismus.“6 Plenge sieht im Krieg und insbesondere in der Kriegswirtschaft die Möglichkeit des Sozialismus im deutschen Sinne als annähernd verwirklicht an. Als Nationalökonom ist für ihn die Zusammenfassung aller volkswirtschaftlichen Kräfte das entscheidende Merkmal eines Sozialismus, dessen Hauptelement in seiner staatlichen Organisiertheit besteht:
___________________ 4 5 6
Krüger 1997, S. 508. Herv. A.M. Plenge 1915, S. 9. Ebd., S. 99. Neben dieser ziemlich „trockenen“ Definition formuliert Plenge aber auch eine Eschatologie, die Deutschland zum Retter der Welt macht. Nur einige wenige Beispiele dafür: „Die Niederlage Deutschlands ist unmöglich. Der unentschiedene Krieg ist für alle gleich verhängnisvoll. Nur der volle Sieg Deutschlands ist ein Segen für alle unbeteiligten Länder. Er ist auch für die Gegner weniger gefährlich als die endlose Verlängerung der Gegensätze. Er sichert den neuen Aufstieg der Kultur und eine höhere Form des staatlichen Lebens. […] Wir müssen diesen Kreuzzug im Dienste des Weltgeistes bis zu Ende fechten. Gott will es. Uns und der Welt zum Heile.“ (Ebd., S. 202). „In uns ist das 20. Jahrhundert. Wie der Krieg auch endet, wir sind das vorbildliche Volk.“ (Ebd., S. 190) „Wir würden noch in unserem Untergange die Hoffnung Europas geblieben sein.“ (Ebd., S. 191)
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„Wir sind durch den Krieg mehr wie bisher eine sozialistische Gesellschaft geworden. Aber Sozialismus ist als gesellschaftliche Organisation nur die voll bewusste Gestaltung der Gesellschaft zur höchsten Kraft und Gesundheit; Sozialismus ist als Gesinnung nur die Befreiung des Einzelnen zur bewussten Einordnung in das begriffene Lebensganze von Staat und Gesellschaft. Mehr ist Sozialismus nicht.“7
Der so genannte Kriegssozialismus ist – nüchtern betrachtet – zunächst nichts anderes als eine Veränderung des Verhältnisses von Wirtschaft und Staat. Dabei spielt die gesellschaftliche Machtverteilung – anders als man vielleicht meinen könnte – eine sekundäre Rolle, solange von ihr die Kriegführung nicht gestört wird. So war das Entgegenkommen des Staates bei Arbeiterforderungen während des Krieges häufig zu beobachten. Zwar wurden deshalb nicht die weiterreichenden Ziele der Arbeiterbewegung anerkannt, aber den führenden Männern in Staat und Wirtschaft war klar, dass ohne die Zustimmung, insbesondere der Industriearbeiterschaft, kein Krieg im industriellen Zeitalter mehr geführt werden konnte. Selbst auf Seiten der Wirtschaft war man bereit, Zugeständnisse (etwa Lohnerhöhungen) zu machen, die man in Friedenszeiten stets abgelehnt hatte. Für Deutschland, von den Rohstoffmärkten der Welt weitgehend ausgeschlossen, musste ein neues Konzept der Wirtschaft im Kriege entwickelt werden, die sich von den Märkten in Übersee unabhängig machte. Ausgangspunkt bildete der Begriff der Organisation, ein quasi heiliges Prinzip, das selbst den Ausschluss vom Weltmarkt zu einer Aufgabe machte, die Deutschland am Ende „reicher“ aus der Prüfung des Krieges herauskommen ließ. Ziel war ein geschlossener Handelsstaat, eine Autarkie, die eine grenzenlose Unabhängigkeit suggerierte. „Organisation! Das war das Schlagwort der Zeit. Wie oft haben wir es in den letzten Jahren gebraucht, um die Geheimnisse unseres wirtschaftlichen Fortschrittes zu erklären und um die Ziele unseres Fortschrittes zu steigern. Jetzt haben wir uns als ein Volk von Organisatoren bewährt. […] Und weil wir ein Volk der Organisation sind, ist die Umstellung von den reichen Zusammenhängen des Weltwirtschaftsstaates zu der Selbstgenügsamkeit des geschlossenen Handelsstaates nicht bloß eine Verarmung oder Verengung unseres Wirtschaftslebens geworden, sondern eine unendliche Bereicherung: die Verheißung einer neuen Zukunft.“8
___________________ 7 8
Ebd., S. 172. Ebd., S. 94 und 96f.
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Plenge schrieb diese Zeilen 1915, zu einer Zeit, als Rohstoffmangel und Lebensmittelknappheit, insbesondere für die Zivilbevölkerung, noch nicht in dem Ausmaß zu spüren waren wie gegen Ende des Krieges. Bezogen auf die Vertreter der Nationalökonomie in Deutschland, hatte der Kriegssozialismus eines Plenge aber nur wenige Anhänger gefunden. Wollte dieser in staatlichen Direktiven das wirksamste Mittel der Kriegswirtschaft erblicken, sahen andere, wie etwa der Nationalökonom Ludwig Pohle, in der insgesamt doch sehr erfolgreichen Kriegswirtschaft mehr einen Triumph des Unternehmertums und seines Organisationsgenies. Die Folge waren allgemeine Forderungen nach einer freien Marktwirtschaft nach Kriegsende. „Insgesamt traten in der zweiten Kriegshälfte praktischere Überlegungen zur Bewältigung der enormen Staatsverschuldung und der Überleitung in die Friedenswirtschaft an die Stelle der bisherigen ‚Gesinnungs- und Erbauungsschriften.9 Plenges Bedeutung liegt so mehr in der Verallgemeinerung von Prinzipien, die in der deutschen Geschichte (und in der sowjetischen Planwirtschaft) gedankliche und organisatorische Spuren hinterließen. Zu Beginn des Krieges formulierte sich die Idee einer Kriegswirtschaft sozialistischer Prägung als Propaganda und in Pamphleten. Dennoch kann die Idee eines Kriegssozialismus als die Symbiose der bei Spengler und Sombart so antagonistischen Welt der Händler und Helden betrachtet werden: „Die Bezeichnung ‚Kriegssozialismus‘, die hierfür geprägt wurde, lässt sich als ökonomische Version der Volksgemeinschaft verstehen: Der Händler und der Krieger, bisher einander beziehungslos oder gar feindlich gegenüberstehend, fusionierten zum neuen Typus des Ingenieurs und Managers. Obwohl diese Vereinheitlichung beide Seiten erfasste, kostete sie das Militär doch mehr als die Wirtschaft, oder anders gesagt, die heroische Statur, die das Militär dabei verlor, gewann die Wirtschaft. Das war ihre Erhebung.“10
Die Organisation der Kriegswirtschaft und die Bündelung aller gesellschaftlichen Kräfte erhielt in Deutschland im Jahre 1916 einen konkreten Namen: Hindenburgprogramm. Mit einer letzten großen Anstrengung und der Zusammenfassung aller Kräfte sollte im Namen des verehrten Generalfeldmarschalls der militärische Sieg doch noch ___________________ 9 10
Krüger 1997, S. 517. Schivelbusch 2003, S. 305. Dass Selbstbewusstsein der technischen Intelligenz speiste sich aus ihrer seit der Jahrhundertwende angewachsenen Bedeutung und ihrer Überzeugung, die Gesellschaft mit ihren Methoden optimieren (sprich: produktiv machen) zu können. Die Technik verstand sich als neutrale Kraft zwischen Arbeit und Kapital und deshalb als frei von allen kleinlichen Klassengegensätzen.
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erzwungen werden. Ausgangspunkt für die Forderungen des am 31. August 1916 verabschiedeten Hindenburgprogramms waren die Bedingungen der Materialschlacht, auf die die 3. OHL mit einer massiven Ausweitung der Rüstungsproduktion antworten wollte. Dabei stand das Hindenburgprogramm nicht allein: Das Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst und die Bildung eines Kriegsamtes am 1. November 1916 unter Generalleutnant Wilhelm Groener waren ergänzende Schritte auf dem Wege einer angestrebten totalen Mobilmachung der deutschen Gesellschaft. Es ist bezeichnend für die deutsche Kriegführung, dass das Hindenburgprogramm in absurden Forderungen kulminierte, die mit der Realität nichts zu tun hatten. So waren etwa die Produktionsziele utopisch: Die Verdopplung des Munitionsausstoßes, die Verdreifachung der Produktion von MGs und Geschützen waren angesichts des Rohstoffmangels einfach nicht zu erfüllen. Die für die Steigerung der Rüstungsproduktion notwendigen Fabrikanlagen sollten neu gebaut werden, aber die vorhandene Materialknappheit führte in den meisten Fällen zu halbfertigen Rohbauten, die wiederum anderswo dringend benötigtes Material verschwendeten. Überall in Deutschland standen Fabrikruinen, steinerne Symbole einer hybriden Rüstungswirtschaft. Das Hindenburgprogramm krankte aber vor allem, neben dem Mangel an Rohstoffen, an einer sträflichen Vernachlässigung der Landwirtschaft, die fatale Folgen für die Stimmung in der Bevölkerung hatte. Hunger und Lebensmittelknappheit waren ab dem Winter 1916 ständige Begleiter für die Zivilgesellschaft. „Nichts hat den Autoritätsschwund des wilhelminischen Staates im Kriege so befördert und die Auflösung des inneren Burgfriedens so beschleunigt wie das Versagen auf dem Gebiet der Ernährung.“ 11 Schließlich waren der Zusammenbruch des Verkehrssystems und die Überstrapazierung der Arbeiterschaft Zeichen für die Überforderung der deutschen Kriegswirtschaft. Das Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst besagte, dass jeder männliche Deutsche zwischen 17 und 60 hilfsdienstpflichtig und damit zur Arbeit rekrutiert werden konnte. Auf den ersten Blick war dies eine staatliche Zwangsmaßnahme, die den Einzelnen in eine eiserne Pflicht nahm. Doch das Gesetz garantierte auch Arbeiter- und Schlichtungsausschüsse, die den Arbeitern und den Gewerkschaften durchaus Zugeständnisse machten.12 Zudem war die Erfassung niemals so lückenlos wie das ___________________ 11 12
Ullrich 2004, S. 459. Volker Ullrich sieht das Hilfsdienstgesetz als Kompromiss zwischen OHL und Gewerkschaften, ein Kompromiss, der letztere durchaus stärkte: „Zum ersten mal wurden die Gewerkschaften als gleichberechtigte Vertretung der Arbeiterschaft durch den Staat anerkannt.“ (Ebd., S.
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Programm selbst suggerierte. Eine Tatsache, die zu Ungerechtigkeiten führte, die wiederum die Stimmung in der Heimat verschlechterten. Die Bildung eines Kriegsamtes sollte die Rüstungsproduktion zentral bündeln, was aber niemals erreicht wurde. 1917 kam es nach sozialen Protesten und Streiks zur Entlassung Groeners und zu einer weitreichenden Krise des Kriegsamtes. Insgesamt war das Hindenburgprogramm seit Beginn gescheitert. Erst im Frühjahr 1917 wurde es den Realitäten angepasst – so wurden etwa keine neuen Fabriken mehr gebaut. 1918 wurden schließlich die Vorgaben annähernd erreicht.13 Entscheidend war aber folgendes: Mit dem Hindenburgprogramm gab das Militär die Rüstung an private Unternehmer ab. Trotz des Versuchs einer direktiven staatlichen Rüstungspolitik blieben die Strukturmerkmale einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung (privater Kapitalbesitz, Vermögens- und Erbrecht, Arbeitsteilung etc.) erhalten. Argumente für finanzielle Anreize und ein uneingeschränktes Unternehmertum setzten sich im Laufe des Krieges durch, obwohl die Ideologie des Kriegssozialismus an der Oberfläche virulent blieb. Die materialintensive Kriegführung schwächte aber die Stellung der Militärs und führte zu einer Dominanz der zivilen Industrie: „Das Militär wurde mit dem ‚Hindenburg-Programm‘ zum bloßen Abnehmer von Rüstungsgütern, die in der Selbstverwaltung der Industrie nach betriebswirtschaftlichen (statt haushaltsbezogenen) und ökonomischen (statt waffenspezifisch-ingenieurmäßigen) Gesichtspunkten angefertigt wurden. […] Doch entscheidend ist, dass sie [die Rüstungsindustriellen; Anm. A. M.] Kontrolle und Herrschaft über den Rüstungsprozess verlangten und diese in Deutschland auch erhielten.“14
Damit war das Militär endgültig von einer traditionellen Instanz mit quasi vorindustriellen Werten in ein neues Zeitalter eingetreten, in dem es nicht mehr autonom entscheiden konnte. Michael Geyer geht in seiner Studie zur deutschen Rüstungspolitik zwischen 1860 und 1980 von einer drastischen Wende in der Kriegführung aus, die mit der Berufung Ludendorffs und Hindenburgs ihren Anfang nahm: „Die 3. OHL vollzog den Übergang zum Maschinenkrieg und damit zur Industrialisierung der Kriegführung in Deutschland mit einer Radikalität, die
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13 14
463) Zu den negativen Folgen des Hilfsdienstgesetzes für die deutsche Rüstungsproduktion siehe Feldmann 1997, S. 475. Zur Bewertung des Hindenburgprogramms vgl. Ullrich 2004, S. 462ff. oder Kennedy 1997, S. 408ff. Geyer 1984, S. 104.
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als einmalig bezeichnet werden kann. […] Die Bildung einer militärischen Maschinenkultur mit ihren eigenen instrumentalen Zwängen, die dann von den Ideologen der Frontkämpferorganisation zur neuen Freiheit und Gleichheit stilisiert wurde, war die große Wende, mit der das deutsche Militär endgültig und unwiderruflich in das 20. Jahrhundert katapultiert wurde – nicht weil es sich als abgesonderte Organisation mit der Industriegesellschaft auseinanderzusetzen hatte, sondern weil es selber ein Ausschnitt aus dieser Industriegesellschaft war.“15
Nach der Niederlage im November 1918 stellte sich so für viele die Frage: Was lernen wir aus dem Kriegsverlauf? Nüchternen Betrachtern war klar, dass die Niederlage aufgrund der materiellen Überlegenheit der Alliierten unausweichlich war. Im Umkehrschluss hieß das: die Koordination und Konzentration der nationalen Kräfte war unzureichend gelungen, die Organisation der Kriegswirtschaft mangelhaft. Dass man aber trotzdem so lange durchgehalten hatte, war ein Hinweis darauf, dass die im Krieg gewonnenen Erfahrungen in den Frieden hinein transportiert werden mussten. Wirtschaft und Volksgemeinschaft fusionierten in einem Typus der „Gemeinwirtschaft“, die insbesondere von Walther Rathenau propagiert wurde. 16 Die innere Zerrissenheit nach 1918 ließ Stimmen für eine staatlich gelenkte Wirtschaft nicht verstummen: „Durch die innere Krise wurden Stimmen verstärkt, die in den kriegsbedingten Regulierungen und Veränderungen des Wirtschaftssystems eine zukunftsweisende Richtung für die Friedenswirtschaft zu erkennen glaubten. Es war der Versuch, die unterschiedlichen Zielsysteme zwischen Kriegsministerium und Industrie zu harmonisieren. Entwickelt und popularisiert wurden solche Vorstellungen von Männern wie Wichard von Moellendorff und Walther Rathenau, die gemeinsam führende Stellungen in der Kriegswirtschaftsorganisation einge-
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Ebd., S. 102. Rathenaus Konzept der Gemeinwirtschaft fand insbesondere in der revolutionären Sowjetunion großen Anklang. Lenin, Bucharin und ihre engsten Wirtschaftsberater bezogen sich ausdrücklich auf Rathenaus Konzept als Modell für die am weitesten entwickelte Mischform kapitalistischer Technik und organisatorischer Planung. Auch die Nationalsozialisten übernahmen die Ideen des Juden Rathenau. Albert Speer, ab 1942 Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion, ließ sich so etwa von der Kriegsrohstoffabteilung Rathenaus inspirieren und erreichte bei knapper werdenden Ressourcen bis 1944 enorme Produktionssteigerungen. (Vgl. dazu Michalka 1997, S. 500, Müller R.D. 2002, S. 47) Auf die Ähnlichkeiten zwischen dem New Deal Roosevelts und dem Konzept der Gemeinwirtschaft macht Wolfgang Schivelbusch (2005) in Entfernte Verwandtschaft aufmerksam.
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nommen hatten. Aufbauend auf ihren Erfahrungen wurde die Idee der ‚Gemeinwirtschaft‘ entwickelt. Hier sollten die Elemente der staatlichen Planung und der Selbstverwaltung der Wirtschaft in einer am Gemeinwohl orientierten Wirtschaftsordnung zu einer Synthese zusammengeführt werden.“17
Der Konflikt zwischen Befürwortern der Marktwirtschaft und staatssozialistischen Auffassungen bestimmte die unmittelbare zeitliche Periode nach Kriegsende. Zunächst trugen die Vertreter einer durch den Staat gesteuerten Wirtschaft den Sieg davon. „Nach der Novemberrevolution wurde der Staatssozialismus der Kriegszeit offizielles wirtschaftspolitisches Programm des Reichswirtschaftsministeriums unter dem Sozialdemokraten Rudolf Wissell und seinem Staatssekretär Möllendorff.“ 18 Aber das war nur eine kurze Episode bevor der Übergang in eine Marktwirtschaft, aufgrund des massiven Widerstandes der Privatwirtschaft, erfolgte. Der Krieg konnte für die Kritiker eines Kriegssozialismus kein Paradigma für die zivile Wirtschaft sein. Für sie war klar, „dass der Krieg kein normales wirtschaftliches Milieu darstellt und dass man ihn nicht als objektiven Prüfstein für ein Wirtschaftssystem betrachten kann.“ 19 Insbesondere die Erzeugung von Konsumgütern ist im Krieg – mit all ihren negativen Folgen – sekundär, da das höchste Ziel der Wirtschaft darin besteht, die Waffenproduktion in Gang zu halten. Hitler, der die Niederlage im November 1918 in der ihm eigenen Genauigkeit analysierte, hatte denn auch stets Angst vor einer übermäßigen Belastung der Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg. Wiederholt sprach er sich gegen eine „bolschewistische Planwirtschaft“ und eine allgemeine Frauenarbeit aus, selbst als der Arbeitskräftemangel in der deutschen Rüstungsindustrie eklatant geworden war und die hohe Zahl von Kriegsgefangenen und Fremdarbeitern diesen Mangel nicht mehr kompensieren konnte. So kann man die These vertreten, dass die deutsche Wirtschaft unter den Nationalsozialisten – zumindest bis 1942 – im Krieg weniger total organisiert war als unter der 3. OHL. Entscheidend sind der Begriff der Totalität und die von ihm abgeleiteten Forderungen. Zunächst war eine unmittelbare Folge der Ausdehnung des ___________________ 17 18 19
Müller R.D. 2002, S. 46. Zu den Vorstellungen Rathenaus, der einen ‚dritten Weg‘ zwischen Kommunismus und Liberalismus anstrebte, vgl. Michalka 1997, S. 485-505. Krüger 1997, S. 523. Feldmann 1997, S. 457. Der Autor führt dafür vier wesentliche Gründe an: 1) kommt es im Krieg zu einer Störung des Güterkonsums, der Krieg geht auf Kosten des privaten Konsums; 2) die freie Preisbildung ist gestört; 3) Wirtschaftswachstum wird verhindert, da Arbeitskräfte aus der Industrie abgezogen werden und 4) kommt es zu einer Geldentwertung. (Ebd.)
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Krieges auf die zivile Gesellschaft der Verzicht auf bisherige Annehmlichkeiten und die Forderung nach einer Einbeziehung aller in den staatlichen Verband. Niemand bleibt von den Kriegsmaßnahmen ausgenommen, jeder hat auf dem ihm zugewiesenen Platz seine Aufgabe zu erfüllen. Den Forderungen der Kriegführung müssen sich – wenngleich das in der Realität natürlich niemals vollständig der Fall sein kann – alle ohne Ausnahme unterordnen. „Kein Lehrer, kein Pfarrer, kein Arbeiterführer, überhaupt kein Volksfreund darf fehlen. Unser ganzer Wille muss dem Ziele gelten, dass wir wirtschaftlich unbedingt durchkommen müssen. Es darf niemanden geben, der das nicht weiß, der nicht danach handelt. Keine Frau und kein Kind! Keinen Landwirt und keinen Bäcker!“20 Auch George Soldan kam 1925 in seiner Schrift Der Mensch und die Schlacht der Zukunft zu ganz ähnlichen Überzeugungen wie der Volkswirtschaftler Plenge. Der Krieg, so seine Auffassung, kann militärisch nur gewonnen werden, „wenn die Heimat ihre Schuldigkeit tut“. „Der Soldat an der Front ist nicht weniger Kämpfer, als die Frau, die in der Heimat Kartoffeln setzt, als der Arbeiter in der Fabrik, als der Kaufmann im Laden, als der Redakteur am Arbeitstisch, als selbst die Jungen, die im Walde grüne Zweige als Futterersatz schlagen. [...] Dass der Schwerpunkt der Entscheidung sich immer mehr nach der Heimat verschoben hatte, das war zu neu und zu überraschend, als dass es erkannt werden konnte.“ 21
Soldan, wie auch Erich Ludendorff in seiner berühmten Schrift Der totale Krieg (vgl. Kap 5.2.), erkennen die veränderten Bedingungen der Kriegführung durch die industrielle Massenproduktion an. Die Entscheidungsschlacht fand nun in der Heimat statt als ein Messen der Industrien und der Arbeitsproduktivität. Beide Elemente verweisen auf die zivile Gesellschaft und die ihr immanenten kriegerischen Potenziale. Von dort her ist es nicht mehr weit zu der Forderung, den Krieg bereits im Frieden zu führen, eine Verschmelzung von Arbeit und Krieg, wie sie in den großen industriellen Feldschlachten zwar sichtbar wird, die in ihrem äußersten Grad der Steigerung aber nur als permanente Mobilmachung über Krieg und Frieden hinweg gedacht werden kann. „Dennoch wurden trotz der ebenso grandiosen wie furchtbaren Schauspiele der späten Materialschlachten, in denen das menschliche Organisationstalent seine blutigen Triumphe feierte, die letzten Möglichkeiten noch nicht erreicht. Sie sind, selbst wenn man sich auf die Betrachtung der rein technischen Seite
___________________ 20 21
Plenge 1915, S. 167. Soldan 1925, S. 101 und S. 95.
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dieses Prozesses beschränkt, auch nur zu erreichen, wenn das Bild des kriegerischen Vorgangs schon in die Ordnung des friedlichen Zustandes vorgezeichnet ist.“
Ebenso zeige „die bereits im Frieden angebahnte Zusammenarbeit zwischen dem amerikanischen Generalstab mit der Industrie [...] dass es hier kein Atom gibt, das nicht in Arbeit ist, und dass wir selbst diesem rasenden Prozesse im Tiefsten verschrieben sind.“ 22 Das, was Ernst Jünger hier als Militarisierung des Zivilen beschreibt, macht Krieg und Frieden letztendlich ununterscheidbar. Wirtschaft und Krieg werden beide als Formen von Arbeit begriffen (siehe Kapitel 5.3.). Der Erste Weltkrieg wurde in dieser Sichtweise nicht militärisch, sondern ökonomisch entschieden. Die Kunst der Strategie verschwand, und an ihre Stelle traten konkurrierende Produktionssysteme, bis die wirtschaftlich stärkere Seite zum Sieger erklärt wurde. Der Verlierer hatte sich erschöpft. Der Erste Weltkrieg war die Inthronisierung der Wirtschaft, eine Krönung, die sie vom Diener des Militärs endgültig zu seinem Regisseur machen sollte.23
5 . 2 . T o t al e r K r i e g Als im Herbst 1918, insbesondere durch den verstärkten Einsatz amerikanischer Truppen und die katastrophalen Versorgungslage der kaiserlichen Armee, der Zusammenbruch der deutschen Stellungen an der Westfront immer wahrscheinlicher wurde, verlor der Erste Generalquartiermeister und Verantwortliche für die Gesamtkriegführung, General Erich Ludendorff, buchstäblich die Nerven und erbat sich von der Reichsregierung die Beendigung des Krieges, was zum Waffenstillstand am 11. November 1918 führte. Die letzte große von ihm befohlene Offensive an der Westfront war ein Rennen gegen die Zeit und ___________________ 22
23
Jünger 1930b, S. 15. (Herv. A.M.) Es gehe nun darum, so E. Wolter in einem 1935 erschienenen Aufsatz mit dem Titel Die Organisation des Sieges, „durch sorgfältigste Vorbereitung im Frieden den Krieg schon vor dem Kriege zu gewinnen.“ Panajotis Kondylis (1988, S. 141) verweist aber mit Recht darauf, dass eine vollkommene Mobilmachung im Frieden an immanente Grenzen stößt: „Eine totale Mobilmachung in Friedenszeiten ist schon deshalb undenkbar, weil die bereits produzierten und gelagerten Kriegsgüter nicht schnell genug zerstört werden können, d. h. weil sich die Ersetzung der alten durch neue bzw. neu erfundene und wirksamere erheblich langsamer als zur Zeit eines ‚totalen Krieges‘ vollziehen muss.“ Vgl. Schivelbusch 2003, S. 348.
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nach ihrem Scheitern der entscheidende Faktor für die deutsche Niederlage: „Ludendorff verkannte nicht, dass die amerikanischen Truppen den Alliierten nach und nach eine unbezwingliche Überlegenheit sichern würden; er begann einen Lauf gegen die Uhr: entscheidend zu siegen, bevor sich das Kräfteverhältnis umkehrte. Er verlor die Wette und raubte Deutschland zugleich jedes Mittel, die Friedensbedingungen auszuhandeln; indem es den Waffenstillstand unterzeichnete, streckte es die Waffen. Dieser nach einem Ausdruck von Ferrero maßlose, hyperbolische Krieg endete in einem paradoxen, noch nie da gewesenen Stil; die deutsche Armee, die beste der Welt, beendete das Gefecht, ohne auf offenem Feld besiegt worden zu sein.“24
Mit der formellen Kapitulation durch die Reichsregierung, sprich: der politischen Repräsentantin des deutschen Staates, konnte sich das Militär von der Schmach der Niederlage schon sehr bald distanzieren. Es war, wie wir am Beispiel des Dolchstoßes gesehen haben, in den Augen der Generäle die Politik, die versagt hatte und den schändlichen Frieden schließlich aushandelte. Mit der Abschiebung aller Verantwortung für die entstandene Situation nach Kriegsende beginnt eigentlich – noch bevor sie real begonnen hatte – die Geschichte des Niederganges der Weimarer Republik, die für die nationalistischen und paramilitärischen Gruppierungen stets für die Schande der Kapitulation und des Versailler Vertrages verantwortlich gemacht wurde. Das Heer: unbefleckt; die Niederlage ein feiger Dolchstoß von Marxisten, „Kriegsgewinnlern“ und Juden in den Rücken der kämpfenden Front (vgl. Kapitel 3.5). Vollkommen vergessen blieb in den projektiven Anschuldigungen die fatale Fehleinschätzung der militärischen und ökonomischen Kräfteverhältnisse im Westen durch die Oberste Heeresleitung. Im Winter 1916/17 wurde das Fehlen von Nahrungsmitteln erstmals deutlich spürbar, der Hunger war von da an ein ständiger Begleiter der Zivilbevölkerung, insbesondere in den Städten. Zur Zeit der entscheidenden Offensive mit dem Codenamen „Michael“ im März 1918 war die amerikanische Armee bereits in der Lage, 300.000 Soldaten monatlich nach Frankreich zu führen, eine Zahl, die, ganz abgesehen von den Unmengen amerikanischer Waffenlieferungen nach Europa, die deutschen Stellungen irgendwann schier erdrücken musste. Insofern war ___________________ 24
Aron 1980, S. 377. Schivelbusch (2003, S. 229) schreibt zu diesem Paradoxon in seiner Studie Die Kultur der Niederlage: „Der deutsche Zusammenbruch 1918 war historisch einzigartig nicht nur seiner unerwarteten Plötzlichkeit wegen, sondern weil nie zuvor eine Nation die Waffen gestreckt hatte, deren Armeen so tief in Feindesland standen.“
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Ludendorffs Entschluss, eine entscheidende Offensive zu wagen, noch bevor die amerikanische Industrie ihre gewaltige Überlegenheit mobilisieren konnte, nicht unbedingt falsch. Er hatte, wie ein Spieler, der alles auf eine Karte setzt und dadurch die Bank zu sprengen hofft, alle vorhandenen Mittel in einer einzigen Offensive konzentriert und – wie es die einfache Wahrscheinlichkeit nahe legt – verloren. Im Frühjahr 1918 war klar, dass Deutschland und seine Verbündeten den Krieg militärisch und ökonomisch nicht mehr gewinnen konnten. Es war nach dem von Ludendorff geforderten Waffenstillstand aber gerade dieser selbst, der die Dolchstoßlegende (die Heimat hat das Heer verraten, jenes ist ungeschlagen) in aller Vehemenz und großer öffentlicher Wirkung verbreitete. Zugleich radikalisierte er die völkischen Auffassungen über den Zusammenhang von Kriegführung und Politik, in dem er – „als Feind aller Theorien“ 25 – die Clausewitz’schen Auffassungen des Verhältnisses von Krieg und Politik als einem vergangenen Zeitalter zugehörig verwarf. Bei Clausewitz geht der Krieg von Staaten stets von einem politischen Zustand aus und wird durch ein politisches Motiv hervorgerufen. Der „wirkliche Krieg“ ist bei Clausewitz immer ein „Halbding“, ein Widerspruch in sich, ein Teil eines Ganzen und dieses Ganze ist die Politik. Bei Ludendorff gibt es keine Verschiedenartigkeit der Kriege – abhängig von ihrem politischen Motiv – mehr. Alle staatlichen Auseinandersetzungen in Gegenwart und Zukunft werden, so seine Überzeugung, als totale Kriege geführt, wie ihn exemplarisch der Erste Weltkrieg der unmittelbar das Leben jedes Einzelnen berührt, hervorgebracht hat. Erich Ludendorff, mit dem späteren Reichspräsidenten Paul von Hindenburg ab August 1916 gemeinsam in der Obersten Heeresleitung für die Führung des Ersten Weltkrieges auf deutscher Seite verantwortlich, war nach Kriegsende 1923 als prominenter Teilnehmer des Hitlerputsches in München als überzeugter Gegner der Weimarer Republik aufgetreten. Im Gegensatz zu Hitler aufgrund seiner Popularität als Weltkriegsheld von der Justiz freigesprochen, war er Schirmherr des 1925 unter Mitwirkung des späteren Reichsarbeitsführers Konstantin Hierl gegründeten Tannenbergbundes. Gemeinsam mit seiner zweiten Frau Mathilde erhob er „deutsche Gottkenntnis“ und gleichzeitige „Abwehr der artfremden Christenlehre“ zum Programm. Das deutsche Volk habe im Christentum eine „Glaubensfremdlehre“ angenommen, dieser falsche Glaube sei die tiefste Ursache für den völkischen Zusammenbruch im totalen Krieg. Judentum, Freimaurer, Jesuiten, die kommunistische Internationale, am Ende sogar der Nationalsozialismus, ___________________ 25
Ludendorff 1935, S. 3.
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hatte sich gegen Deutschland verschworen. Vor allem Ludendorffs antichristliche und esoterische Positionen, die im Wesentlichen auf den Einfluss seiner zweiten Frau zurückzuführen waren, verhinderten in einem immer noch sehr religiös orientierten Deutschland eine größere Anhängerschaft. Neben seinen Kriegserinnerungen als Stabsoffizier an der Ostfront, und seinen später publizierten Erlebnissen als Erster Generalquartiermeister und Verantwortlicher für die Gesamtkriegführung, veröffentlichte er im Jahre 1935 seine programmatische Schrift Der totale Krieg in der er eine Umkehrung des an Clausewitz orientierten Verhältnisses von Krieg und Politik forderte. Militärische Belange allein, so die Quintessenz aus Ludendorffs soldatischen Erlebnissen des Weltkrieges und strategischen Erkenntnissen, sollten die staatliche Politik leiten. Der kommende Krieg muss, will der völkische Staat ihn erfolgreich bestehen, bereits im Frieden vorweggenommen werden und das kann nur dadurch erreicht werden, dass alle gesellschaftlichen Kräfte stetig und vereint darauf hinarbeiten. Konsequent sollte ein unumschränkt regierender Feldherr – Ludendorff dachte dabei als ehemaliger Militärdiktator sicher an sich selbst – an die Spitze des Staates gestellt werden. 1935, als Ludendorff diese Überzeugungen formulierte hatte aber bereits ein Mann die Führung des Staates übernommen, den Ludendorff, im Rang eines Generals, trotz zunächst gemeinsamer Ziele, stets mit Verächtlichkeit als „den Gefreiten“ bezeichnete. Sein Buch Der totale Krieg kann in diesem Sinne auch als eine (versteckte) Kritik daran gelesen werden, dass nun ein Politiker, nämlich Hitler, den Staat und damit auch das Heer souverän diktierte. Ludendorff hat wahrscheinlich mehr mit dem SA-Chef Röhm gemeinsam gehabt, als allgemein angenommen. Letzterer schrieb in seiner 1928 erstmals erschienenen Geschichte eines Hochverräters: „Für das dritte Reich deutscher Geltung, Kraft und Ehre erstrebe ich, dass der Kämpfer, der bereit ist, sein Leben einzusetzen und hinzugeben, die entscheidende Stimme hat. Um gar nicht missverstanden zu werden: nicht eine Stimme, sondern die entscheidende. Ich verlange, um es kurz zu sagen, das Primat des Soldatischen vor dem Politiker.“26 Röhm wollte zwar die Reichswehr mit den Sturmtruppen der SA verschmelzen, träumte letztlich aber auch von einer Diktatur der Militärs, zumindest so lange, bis Hitler ihn im Juni 1934 wegen angeblicher Putschpläne mit Zustimmung der Reichswehr ermorden ließ. Ludendorff hingegen, von der proletarischen Massenbewegung der Partei und der Wählergunst bitter enttäuscht und in Folge in persönlicher, aber stiller Opposition zur NSDAP, blieb als soldatische Gallionsfigur des Ersten ___________________ 26
Röhm 1934, S. 349.
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Weltkrieges von den Nationalsozialisten unbelästigt und erhielt 1937 ein pompöses Staatsbegräbnis. Von militärgeschichtlicher Seite wird meistens die Linie von Ludendorff zu Goebbels gezogen. Vor allem die berühmte Sportpalastrede Goebbels nach der Vernichtung der 6. Armee im Kessel von Stalingrad hat den Begriff des totalen Krieges populär gemacht. 27 Der Ursprung des Begriffes ist aber wesentlich älter. Als Ludendorff 1935 sein Pamphlet veröffentlichte, war der Totale Krieg bereits zum Schlagwort in Deutschland geworden. Seltsamerweise hinkte der Begriff aber der Konzeptualisierung hinterher. Schon kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges war die Entgrenzung des Krieges von vielen Beobachtern in Deutschland gesehen worden. Diese Steigerung und Eskalation wurde zunächst nicht im Begriff des Totalen Krieges ausgedrückt: „Kampf auf Leben und Tod“ oder „Existenzkampf“ waren die gängigen Schlagworte, die zwar schon die Totalität des Kriegsgeschehens reflektierten, den Begriff total aber noch nicht verwendeten. Die „Geburt“ des Begriffes ist eng an die zeitgenössischen Totalitarismusdebatten geknüpft, die sich im Wesentlichen aus zwei Quellen speisten: erstens aus Ernst Jüngers mehr geistigem als kriegswirtschaftlichem Prinzip der totalen Mobilmachung und zweitens aus Carl Schmitts Konzeption des totalen Staates, die sich, 1931 erstmals ausformuliert, explizit auf Jünger bezog.28 Markus Pöhlmann kommt in einer Untersuchung deutscher militärwissenschaftlicher Zeitschriften nach 1918 zu dem Ergebnis, das der Begriff Totaler Krieg erst im April 1934 explizit in der Zeitschrift Deutsche Wehr auftauchte, kurz danach aber von anderen Publikationen in rascher Folge aufgenommen wurde. 29 Ab 1936, also nach dem Erscheinen von Ludendorffs Buch wurde der Begriff inflationär. Pöhlmann macht auch darauf aufmerksam dass, anders als zu erwarten, die Ludendorffschen Thesen in den Fachzeitschriften nur ein einziges (!) Mal – und da auch noch anonym und sehr kritisch – rezensiert wurden. Der Grund dafür liegt in der Person des Autors und seinem Verhältnis zur Militärpublizistik. Ludendorffs Annäherung an völkische Positionen ___________________ 27
28 29
Der genaue Wortlaut der Rede findet sich in: Goebbels 1971/72, S. 172208. Zur Differenz von Vernichtungskrieg und Totalem Krieg vgl. Kapitel 7.3. Die wirtschaftliche Mobilisation des NS-Staates war denn auch nicht auf den totalen Krieg vorbereitet, selbst als er rhetorisch gefordert wurde. Der Vernichtungsgedanke, militärisch (nicht ideologisch) in den so genannten „Blitzkriegen“ umgesetzt, bestimmte lange Zeit die militärische und politische Planung. Jüngers Aufsatz zur totalen Mobilmachung erschien 1930 und wird uns in Kapitel 5.3. noch beschäftigen. Carl Schmitts entscheidende Schrift trägt den Titel: Die Wendung zum totalen Staat (Schmitt 1940). Siehe Pöhlmann 2002a, S. 348.
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und seine immer stärker zu Tage tretende Paranoia hatte eine Selbstisolation zur Folge. Noch stärker aber wog, dass Ludendorff in seiner Clausewitzkritik den Primat des Politischen genau zu einem Zeitpunkt bestritt, als „Politiker“, nämlich Hitler und die NSDAP, die Macht im Staate übernommen hatten. Das ließ seine Position nicht gerade opportun erscheinen. Dennoch haben wir das Paradoxon, dass Ludendorffs Thesen in den militärischen Debatten verbreitet wurden, ohne ihn zu nennen. Abschließend sei aber nochmals darauf hingewiesen, dass „sein Begriff des Totalen Krieges eine späte Synthese vergangener Debatten bildete.“30 In der Aufarbeitung der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges wurde Ludendorffs Schrift zumeist als Niedergang der preußischen militärischen Traditionen gedeutet. Wilhelm Ritter von Schramm, Offizier im Ersten Weltkrieg und nach 1918 Freikorpsmitglied, äußerte sich nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft in Europa über Ludendorffs Werk folgendermaßen: „Mit dieser 1935 erschienen Schrift [...] war die klassische Kriegstheorie auf den Kopf gestellt und zur völkischen Ideologie pervertiert. Sie wurde ohne Zweifel auch für Hitler die ideologische Grundlage seiner Kriegspolitik, die in ihrer Maßlosigkeit das deutsche Reich in den Untergang geführt und das deutsche Volk mitten entzwei gerissen hat.“31 Für Schramm, aber etwa auch für den französischen Autor Raymond Aron, beruhte die Ludendorff’sche Konzeption auf einem absoluten Missverständnis der Clausewitz’schen Theorie. Ludendorff erkannte vor dem Hintergrund der neuen Waffen- und Produktionsprinzipien den veränderten Charakter des modernen Krieges. Das Politische als Regulativ der militärischen Auseinandersetzung verflüchtigt sich bei ihm aber zugunsten einer alles umfassenden Kraftprobe der Völker unter___________________ 30
31
Ebd., S. 351. Zur Debatte in Frankreich um den Begriff des Totalen Krieges nach den Erfahrungen der großen Materialschlachten vgl. Segesser (2002). Während Frankreich auf die Frage, wie ein Krieg in der Zukunft führbar sein soll, die Antwort in der Defensive fand, kam es in England zu einer Fetischisierung der Technik, die in ihrer Radikalität die deutsche Position noch übertraf (Vgl. Baumann 2002). Dass sich in England Autoren und Militärexperten wie Fuller mit ihrem Konzept einer totalen Mechanisierung der Streitkräfte nicht durchsetzten, hatte v.a. finanzielle und politische Gründe. Fullers Schriften wurden aber dafür in Deutschland eifrig gelesen und fanden in Männern wie Heinz Guderian und anderen Befürwortern einer „technischen Offensive“ gelehrige Praktiker. Schramm 1960, S. 601. Der israelische Militärhistoriker Yehuda Wallach (1972, S. 192) beendet sein Kapitel über Ludendorffs Kriegskonzeption mit den Worten. „Es blieb Ludendorffs fragwürdiges Verdienst, zwischen beiden Weltkriegen die militärische Gedankenwelt mit einer Irrlehre bereichert zu haben.“
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einander, in der es keine Kompromisse geben kann. Ähnlich dem später von Hitler viel beschworenen Schicksalskampf der deutschen Nation, sah Ludendorff im Ersten Weltkrieg ein gewaltiges Ringen der Völker um die nationale Vorherrschaft in Europa und der Welt: „Ganz anderen Charakter als alle bisherigen Kriege der letzten 150 Jahre zeigte der Weltkrieg. Ihn führten nicht nur die Wehrmächte der am Kriege beteiligten Staaten, die gegenseitig ihre Vernichtung erstrebten, die Völker selbst wurden in den Dienst der Kriegführung gestellt, der Krieg richtete sich auch gegen sie selbst und zog sie selbst in Mitleidenschaft [...] Das Wesen des totalen Krieges beansprucht buchstäblich die gesamte Kraft eines Volkes.“32
Vom Totalitätsgedanken fasziniert, wurde in Ludendorffs Schrift selbst die Politik, die ja gerade auf Kompromiss und aushandelbaren Positionen beruht, total. „Da der Krieg die höchste Anspannung eines Volkes für seine Lebenserhaltung ist, muss sich eben die totale Politik auch schon im Frieden auf die Vorbereitung dieses Lebenskampfes eines Volkes im Frieden einstellen.“ Und die Schlussfolgerung daraus: „die Politik hat der Kriegführung zu dienen.“ 33 Im Wesentlichen bedeutet das, eine Reihe von Unterdrückungsmaßnahmen zu rechtfertigen, die von den Nationalsozialisten ab 1933 sukzessive und praktisch umgesetzt wurden. Ludendorffs Forderungen an die totale Politik betreffen Maßnahmen, „wie zum Beispiel schärfste Zensur der Presse, verschärfte Gesetze gegen den Verrat militärischer Geheimnisse, Sperrung des Grenzverkehrs gegen neutrale Staaten, Versammlungsverbote, Festnahme wenigstens der Häupter der ‚Unzufriedenen‘, Überwachung des Eisenbahnverkehrs und des Rundfunkwesens, weil ‚Unzufriedene‘ oder böswillige Saboteure, sei es aus sich selbst heraus, sei es auf Veranlassung kriegführender Feinde oder Vertreter der überstaatlichen Mächte, des Juden und Roms, oder unmittelbare feindliche Propaganda die Geschlossenheit des Volkes nicht aufkommen lässt oder gefährden wollen.“34
Die Vorstellung, die feindliche Propaganda wäre der eigenen weit überlegen und der eigentliche Grund der Niederlage sei die Zerstörung des deutschen Siegwillens durch die alliierte Propaganda gewesen, war in der militärischen und teilweise auch in der geistigen Elite weit verbreitet und fand in Ludendorff einen gewaltigen Fürsprecher. Konsens ___________________ 32 33 34
Ludendorff 1935, S. 4f. und S. 9. Ebd., S. 10. Herv. A.M. Ebd., S. 25. Die „Unzufriedenen“ wurden im NS-Jargon dann „Meckerer“ genannt. Darauf stand bald KZ oder die Todesstrafe.
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war, dass die deutsche Propaganda es nicht verstanden hatte, die Massen mit ihren Gefühlen, Leidenschaften und Triebkräften anzusprechen, sie war akademisch, „Professorenpropaganda“, wie Johann Plenge sie pejorativ nannte. Auch der eigentliche Trost, dass deutsche Kultur – im Gegensatz zu westlicher Zivilisation – nicht propagandafähig sei, verlor nach und nach an Bedeutung. Für Männer wie Ludendorff, fest entschlossen den kommenden Krieg nicht mehr unvorbereitet anzugehen und frei von traditionalistischen Auffassungen, wurde die Propaganda zu einer Art Heilslehre. „Wer durch Propaganda den Krieg verlor, musste durch Propaganda auch siegen können.“35 Ludendorff vertrat aber ein antiquiert anmutendes erzieherisches Modell. Die umfassende geistige Mobilmachung der Massen verlangt für ihn zunächst eine „seelische Geschlossenheit des Volkes als Grundlage für den totalen Krieg.“36 Denn letzterer, so ein Zeitgenosse, „fordert den ganzen Menschen, nicht nur sein äußeres Tun. Auch seine geistigen und sittlichen Kräfte müssen mobilgemacht und für den großen, alles beherrschenden Zweck eingesetzt werden.“ 37 Für Ludendorff war die militärische Niederlage im Wesentlichen eine moralische, verantwortlich dafür war das Fehlen einer ideologischen Geschlossenheit des Volkes hin auf die großen nationalen und rassischen Ideale. Aufgrund der Auflösung der sozialen Bindungen in der eigentlichen Zone des Krieges ist die seelische Festigung, „Manneszucht“ genannt, die entscheidende Voraussetzung für die Führung des totalen Krieges an der kämpfenden Front. Die Kriegsmaschine fordert unbarmherzig einen neuen Soldaten, die Stahlnatur, den „Sieger über das Material“, einen Kämpfer, der ohne äußeren Befehl imstande ist zu handeln, angefüllt mit innerer Motivation: „Der außerordentliche Materialeinsatz, der Einsatz ungeheurer Munitionsmengen aus vervollkommneten, schnellfeuernden Handwaffen, Maschinengewehren, Minenwerfern und Geschützen aller Art, hat auf dem Lande zu einer Lockerung der Verbände innerhalb des feindlichen Feuerbereichs und in der vordersten Kampflinie, damit zu einer Vereinsamung des Kämpfers daselbst, in bisher noch nicht dagewesenen Umfange geführt [...] Das Wesen solchen
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Schivelbusch 2003, S. 269. Die nationalsozialistische Propaganda verband von Beginn an in geschickter Weise die Strategien der englischen Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg, sozialistische Wahlkampfmethoden und die Werbestrategien kapitalistischer Warenproduzenten. Der Philosoph George Lukács sprach deshalb vom Nationalsozialismus als der „Verschmelzung deutscher Lebensphilosophie und amerikanischer Reklametechnik.“ Ludendorff 1935, S. 11. Wolter 1935, S. 219.
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Kampfes im totalen Krieg fordert in dem notwendig gewordenen selbständigen Handeln eine bisher noch nicht nötige, seelische Festigung des Kämpfers.“38
Diese Festigung ist „zu erreichen nur auf dem Wege der Einheit von Rassenerbgut und Glaube.“39 Die Aufgabe des Feldherrn besteht darin, „sich im Frieden zu überzeugen, dass die Geschlossenheit des Volkes auf gegebenen völkischen Grundlagen herbeigeführt, in ihnen die Jugend erzogen und das erwachsene Geschlecht gefestigt wird. [...] Der Feldherr hat zu prüfen, dass Finanzen und Wirtschaft den Anforderungen des totalen Krieges entsprechen.“ 40 Das Erziehungs- und Wirtschaftsdiktat, von Ludendorff 1935 gefordert, hat dann während der Herrschaft Hitlers zumindest eine Vorbildfunktion erfüllt. Die Frage bleibt, worauf die Anziehungskraft des von Ludendorff aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges abgeleiteten Totalitätsgedankens beruht? In keinem anderen Land außerhalb Deutschlands wurde die Vorstellung eines totalen Krieges in Gedanken und – weniger als allgemein gedacht – in politischer Praxis so weit entwickelt, ausgenommen vielleicht in Frankreich. So verweist Panajotis Kondylis mit Recht darauf, dass nicht die Vertreter des „preußischen Militarismus“ den totalen Krieg als Erste thematisierten, sondern die französische Presse und die Zivilbehörden bereits 1916 während des Ersten Weltkrieges solche Ideen entwickelten. Als Schlagwort wurde damit die vollständige Mobilisierung der französischen Ressourcen für den Krieg verlangt.41 In Deutschland handelte es sich offensichtlich bei der Ausarbeitung des Konzepts des totalen Krieges um den nachträglichen Versuch, der militärischen Niederlage eine Figur entgegenzustellen, die es erlaubte, lediglich einen Stillstand der Schlacht zu postulieren. Unter dem „Diktat des Friedens“ konnte die innere Rüstung so fortgeführt, die Mobilmachung der deutschen Gesellschaft für den kommenden Krieg sukzessive vorangetrieben werden. ___________________ 38 39 40 41
Ludendorff 1935, S. 55. Ebd., S. 20f. Ebd., S. 114f. So erschien bereits 1918 ein Buch von Daudet mit dem Titel: La guerre totale (Vgl. Kondylis 1988, S. 138). In Italien war es v.a. der Luftkriegstheoretiker und Faschist General Giulio Douhet, der den Totalitätsgedanken in den 20er Jahren formulierte, (v.a. in seiner Schrift Luftherrschaft, 1935 auf Deutsch erschienen; vgl. auch Wallach 1972, S. 328343). Ähnlich wie Carl Schmitt den Seekrieg immer schon als implizit totalen definiert, kennt auch der Luftkrieg keine Differenz mehr zwischen Kombattanten und Zivilisten. Der strategische Bombenkrieg, wie ihn Douhet entwickelt, hat vor allem die zivile und militärische Infrastruktur als Ziel.
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„Unter dem Einfluss des Traumas im Mehrfrontenkrieg erdrückt zu werden, sollte gleichsam in äußerster Radikalisierung der Schlieffenschen Konzeption der Aufmarsch schon im Frieden beginnen. Vor allem aber schienen die totale Mobilmachung im Frieden, der totale Staat und auch Ludendorffs Militärdiktatur, die die völkisch-rassische ‚Geschlossenheit‘ für den totalen Krieg erzwang, eine Lösung der Probleme der modernen deutschen Klassengesellschaft zu verheißen.“42
Orientiert an den Ideen des Frontsozialismus und der viel beschworenen Schicksalsgemeinschaft, verwandelten sich die militärischen Prinzipien in das Paradigma einer Zivilgesellschaft, in der es, orientiert an den Erlebnissen des August 1914, keine Differenzen mehr gab. „Im Banne einer autoritären Staatstradition und -ideologie glaubten ihre Verfechter, die ihnen zutiefst widerwärtigen Interessenkämpfe einer pluralistischen Gesellschaft durch die überschaubare Befehlsstruktur eines hierarchischen Kriegsstaates eliminieren zu können.“ 43 Gegen Ende des Ersten Weltkrieges war diese Struktur der Form nach mit der Militärdiktatur Ludendorffs etabliert. Am Schluss seines Buches Der totale Krieg gibt Ludendorff aber eine Antwort auf die Frage nach dem historischen Scheitern dieses Konzeptes. Wie Hitler kurz vor dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft im Frühjahr 1945 gegenüber Albert Speer äußerte, „es sei nicht notwendig, auf die Grundlagen, die das Volk zu seinem primitivsten Weiterleben braucht, Rücksicht zu nehmen. Im Gegenteil sei es besser, selbst diese Dinge zu zerstören. Denn das Volk hätte sich als das Schwächere erwiesen und dem stärkeren Ostvolk gehöre dann ausschließlich die Zukunft“,44 so kam auch Ludendorff zu dem für ihn angenehmen Schluss, dass Deutschland ihn nicht verdient hatte: „Nur dann verdient das Volk einen Feldherrn, wenn es sich in seinen Dienst, d.h. in den Dienst des Führers des totalen Krieges stellt, der um seine Selbsterhaltung geführt wird. In solchen Fall gehören Feldherr und Volk zusammen, sonst – ist der Feldherr für das Volk zu schade.“ 45 Diese Aussage kann man als private Dolchstoßlegende Ludendorffs lesen. Schuld an der eigenen Niederlage, das sind immer die anderen. ___________________ 42 43 44
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Wehler 1974, S. 306. Ebd., S. 307. Gilbert 1992, S. 394. In Mein Kampf hatte Hitler bereits 1925 geschrieben: „Unterliegt aber ein Volk in seinem Kampfe [...] dann wurde es eben auf der Schicksalswaage zu leicht befunden für das Glück der Forterhaltung auf der irdischen Welt“, denn „wenn die Kraft zum Kampfe [...] nicht mehr vorhanden ist, endet das Recht zum Leben.“ (Hitler 1939, S. 105, S. 282) Ludendorff 1935, S. 120.
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Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass der totale Krieg zumindest seiner Möglichkeit nach erst mit den industrialisierten Massenkriegen möglich wurde. Der totale Krieg steht auch im Zusammenhang mit der Entwicklung arbeitsteiliger Strukturen und der Verstaatlichung von Gewalt. Vorläufer totaler Kriege finden wir in den Revolutionskriegen Napoleons, dem amerikanischen Bürgerkrieg und den europäischen Kolonialkriegen, die neben herkömmlichen militärischen Taktiken und Strategien in den meisten Fällen auf die systematische Vernichtung der sozialen und wirtschaftlichen Grundlagen der feindlichen Gesellschaft zielten. Kann der totale Krieg aber nur von totalitären und undemokratischen Staaten geführt werden, die ihrer Bevölkerung jedes Opfer abverlangen und die in ihren Gegnern nicht gleichwertige Kontrahenten, sondern den „absoluten Feind“ (Carl Schmitt) sehen? Die historische Erfahrung spricht dagegen: So hat etwa Großbritannien unter Churchill im 2. Weltkrieg ein Höchstmaß an Mobilisierung erreicht, ohne deswegen aufzuhören ein demokratischer Staat zu sein. Die uns oft begegnende Gleichsetzung von zivilen Gesellschaften und humanen Kriegsmitteln ist sowohl historisch widerlegt als auch naiv. Vielmehr ist es die industrialisierte Massengesellschaft, die als gemeinsames Strukturmerkmal des totalen Krieges definiert werden kann und nicht verschiedene politische „Systeme.“ 46 Jedenfalls sprach der amerikanische Präsident Theodore Roosevelt in einer Rede an die Nation knapp eine Woche vor Goebbels berühmtem Auftritt im Sportpalast vom „totalen Kriegseinsatz“, der nun geleistet werden müsse. Die wesentlichen Bedingungen für die Führung totaler Kriege ist – bei aller Anrufung der „seelischen Geschlossenheit“ – in der sozioökonomischen Sphäre zu suchen: „Entwickelte Industrie, hohe Zerstörungsfähigkeit und Zerstörbarkeit von Waffen und Kriegsmaterial in großen Materialschlachten, Loslösung der Waffe von der Person des Kriegers und Mobilmachung der ‚Heimat‘ gehen miteinander einher und ergeben den ‚totalen Krieg‘. Nur eine industrielle Gesellschaft ermöglicht die rasche massenweise Produktion und Beförderung von Kriegsgütern, die anschließend von Massenheeren konsumiert werden.“47
___________________ 46
47
Auf die entscheidende Frage nach der Differenz des Vernichtungskrieges und des totalen Krieges in der nationalsozialistischen Kriegsstrategie wird in Kapitel 7.3. eingegangen. Mit Carl Schmitt können wir vermuten, dass Seemächte eine engere Affinität zum totalen Krieg besitzen als sie etwa Landmächte wie Deutschland haben. Letzteres hat denn auch im Zweiten Weltkrieg lange Zeit am Vernichtungsgedanken festgehalten, auch als die Situation ab der Jahreswende 1941/42 ein neues Prinzip der Kriegführung forderte. Kondylis 1988, S. 140.
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5. DIE TOTALE MOBILMACHUNG
5 . 3 . A r b e i t u n d K r i eg b e i E r n s t Jü n g e r Mit der 3. OHL unter Hindenburg und Ludendorff verbindet sich eine entscheidende Zäsur in der deutschen Militärgeschichte. Zwar stammte Hindenburg noch aus der aristokratischen Welt der preußischen Armee, ordnete sich aber in den allermeisten Fällen den Entscheidungen Ludendorffs unter. Manche Interpreten sehen ihn lediglich als den Erfüllungsgehilfen der Ludendorff’schen Befehle. Letzterer war ein Mann des Mittelstandes, ohne aristokratische Abstammung und ohne eine Ehrfurcht einflössende Genealogie. Ludendorff war – zumindest in militärischen Dingen – ein Praktiker und sah die Verhältnisse von einem pragmatischen und nüchternen Standpunkt aus. Trotz seines krampfhaften Bemühens, seine Herkunft durch betont militärisches Auftreten vergessen zu lassen, war er doch ein Mann ohne größere militärische Ressentiments und bereit, veraltete Prinzipien über Bord zu werfen, wenn sie militärischer Effizienz im Wege standen. Unter seiner Ägide verwandelte sich die deutsche Armee immer mehr zu einem streng arbeitsteiligen Organismus, geleitet von einem übermächtigen Generalstab, der zum De-facto-Herrscher in Deutschland wurde. Damit einher ging eine Transformation der militärischen Ordnung: „Das Militär wandelte sich von einem Organismus weitgehend unabhängiger Teilkräfte und militärischer ‚Herren‘, die durch einen aristokratisch durchtränkten und im Monarchen als oberstem Kriegsherrn gipfelnden Esprit du Corps zusammengehalten wurden, zu einem komplexen Betrieb zur möglichst effizienten ‚Produktion‘ von Gewalt. Dieser Betrieb wurde von funktionsorientierten Hierarchien gelenkt – der Generalstab wurde endgültig zur Schaltstelle des gesamten Militärapparates – und durch eine immer differenziertere, fremdbestimmte Arbeitsteilung in der Organisation der Kriegführung geprägt.“48
Bereits vor 1914 waren Stimmen laut geworden, die eine möglichst effiziente und radikale Ausnutzung der wirtschaftlichen Potenziale für eine umfassende Rüstung forderten. Der 1911 gegründete Deutsche Wehrverein trat für eine maximale Ausschöpfung des deutschen Rüstungspotenzials ein und agitierte erfolgreich die Massen. Diese nationalen „Rüstungsbewegungen“ formulierten sich außerhalb der Streitkräfte, auch wenn sie einige wenige Fürsprecher in der Armee besaßen. Selbst wenn der Begriff des Totalen Krieges zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt war, sein Prinzip war bereits in den Forderungen der nationalen Gruppierungen vorgegeben. Im Mittelpunkt ___________________ 48
Geyer 1984, S. 99.
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stand nichts anderes als eine radikale Umorientierung der deutschen Gesellschaft im Hinblick auf einen kommenden Krieg. „Eine neue Rüstungsideologie war im Wachsen. Der Nährboden dieser Rüstungsideologie lag außerhalb des wilhelminischen Elitenverbandes und – trotz eines Ludendorff – auch weitgehend außerhalb der Streitkräfte. Sie formte sich gegen die Regierung und gegen den Kaiser. […] Sie war weitgehend unabhängig, trotz der Absegnung des Kaisers und industrieller Finanzierung, und sie war radikal im wahren Sinne des Wortes: Sie forderte die Umgestaltung des Deutschen Reiches und der deutschen Gesellschaft in eine Rüstungsgesellschaft, um in einer internationalen Gewaltordnung zu überleben.“49
Militärisch reflektierten sich die unterschiedlichen Positionen bezüglich eines bevorstehenden Krieges in unterschiedlichen Konzeptionen des Heeres. Das Heeresgesetz von 1912 sah zwei konkurrierende Auffassungen miteinander um die Vorherrschaft ringen, aus der der Generalstab zunächst als Sieger hervorging. Der deutsche Generalstab wollte vor 1914 und im Wesentlichen bis zur Inthronisierung der 3. OHL eine „personal-intensive Rüstung“, ein Volk in Waffen. Die Ausbildung aller wehrfähigen Männer wurde dabei als das oberste Ziel festgesetzt. Auf einer allgemeinen Ebene der Machtorganisation zielte diese Form der Rüstung auf eine Subordination der Gesellschaft in den Herrschaftsanstalten und Kasernen des Kaiserreiches. Hier sollte der Staatsbürger in Gehorsam und Pflichterfüllung „eingeschult“ werden. Dagegen wies das Kriegsministerium schon früh darauf hin, dass die Masse der Wehrpflichtigen niemals sinnvoll verwendet werden könne, da es schon allein an den notwendigen Waffen für die Ausbildung fehlte. Zudem sollte ein nationaler Aderlass, den Deutschland niemals mehr kompensieren konnte, vermieden werden. Die Substitution von Menschen durch Maschinen war als eigentliches Ziel vorgegeben, was umfassende nationale Rüstungsanstrengungen bedeutete, beinhaltete aber auch eine Änderung in den Herrschaftsstrukturen selbst, „denn im Mittelpunkt dieser Konzeption stand die gewissermaßen betriebswirtschaftliche Organisation von Herrschaft, in der Offiziere nicht als ‚Herren‘, sondern als ‚Spezialisten‘ Herrschaft ausübten. In dieser Rüstungskonzeption war der Schritt von der anstaltsmäßigen zu einer technischen Organisation ___________________ 49
Ebd., S. 89. „Was um 1900 noch ein Klischee von ‚Flottenprofessoren‘ war, nämlich, die Notwendigkeit einer territorialen und militärischen Umverteilung von Ressourcen, wurde nun ebenfalls unter dem Druck des Wettrüstens zunehmend Realität: Die Forderung nach einer nationalen Kontrolle über wirtschaftliche Ressourcen gewann an Gewicht.“ (Ebd., S. 87)
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von Herrschaft enthalten.“ 50 Diese beiden militärpolitischen Konzeptionen können in einem etwas groben Schema auch dem Verhältnis von Adel und Bürgertum innerhalb der Armee gleichgesetzt werden. Die agrarkonservative Elite, die traditionell die Führungsschichten stellte, geriet schon vor 1914 verstärkt in Konflikt mit den nationalistischen Mittelschichten, die eine Radikalisierung der Rüstungsanstrengungen propagierten: „Auf der einen Seite stand die Absicht, die Armee weiterhin als Instrument zur Erhaltung der Privilegien der vorindustriellen Eliten zu missbrauchen. Demgegenüber forderten die bürgerlichen Imperialisten, dass die Streitkräfte rücksichtslos zu einem effizienten Machtinstrument ausgebaut würden, um sie als außenpolitisches Druckmittel einsetzen zu können.“51
Der zuvor genannte Konflikt zwischen Generalstab und Kriegsministerium endete im Wesentlichen im August 1916 in der Fusion durch die 3. OHL. Bei Kriegsbeginn setzte sich aber zunächst der Generalstab durch, und die personal-intensive Kriegführung bestimmte die Konzeption der preußisch-deutschen Heereskonstruktion von 1914-1916 und führte schließlich vor Verdun zu ihrem mörderischen Höhepunkt.52 Ludendorff ließ, wie wir gesehen haben, den Angriff auf Verdun einstellen und verfolgte eine weniger personalintensive Form des Kampfes. Aufgrund der hohen Verlustraten in den vorangegangenen zwei Jahren der Kriegführung und der Unmöglichkeit, adäquaten Ersatz zu erhalten, musste sich fast zwangsläufig eine Konzeption durchsetzen, die Menschen, wo möglich, durch Maschinen ersetzte. Dies bedeutet aber vermehrte Anstrengungen für Rüstungsindustrie und Heimat. Die Produktionsschlachten der Fabriken und nationalen Ökonomien wurden endgültig zum entscheidenden Ort des Krieges. Auch wenn die deutsche Armee im Frühjahr 1918 fünfzig Kilometer vor Paris stand, und ein großer Sieg in greifbarer Nähe schien, die industrielle Erschöpfung zeichnete ein realistischeres Bild der Kriegslage. Der Arbeiter gewann den Krieg und nicht mehr der Soldat. Diese schmerzliche Erkenntnis blieb nach 1918 zunächst nur wenigen kritischen Köpfen vorbehalten. Während der Dolchstoß eine negative Folie für die Bedeutung der Heimat für die Kriegführung vorgab, gingen andere von einer umfassenden Änderung im Verhältnis von Arbeit (Zivilgesellschaft) und ___________________ 50 51 52
Ebd., S. 92. Förster 1982, S. 137. „Die personal-intensive Kriegführung der deutschen Kriegsmaschinerie übertraf selbst die kühnsten Träume der Wehrfanatiker vor 1914 und verwandelte sich vor Verdun zum Alptraum.“ (Geyer 1984, S. 94)
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DER WILLE ZUR BEWEGUNG
Krieg aus. Einer davon, und vielleicht derjenige, der die Folgerungen aus dem veränderten Charakter des Weltkrieges am radikalsten zog, war der Frontoffizier und spätere Kriegspublizist Ernst Jünger. Im Jahre 1932, kurz vor der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler, erschien bei der Hanseatischen Verlagsanstalt in Hamburg eine umfangreiche Abhandlung mit dem Titel: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt. Ihr Verfasser kam nicht – wie die Auswahl der Begriffe vielleicht suggerieren könnte – aus der sozialistischen oder kommunistischen Bewegung. Auch wenn die Lektüre des Buches an manchen Stellen den Eindruck eines – zugegeben – ungewöhnlichen Manifests des Proletariats hinterlässt, so bildet der Gegenstand der Reflexion nicht die soziologische oder historische Kategorie des Arbeiters, sondern eine katastrophale Erfahrung: die Erfahrung des „Großen Krieges“, wie die Franzosen und Engländer den Ersten Weltkrieg heute noch nennen. Die Ideen und Gedanken in Der Arbeiter entwickelte der 1895 geborene Ernst Jünger im Wesentlichen aus seinen Kriegserlebnissen in den Schützengräben und Trichterstellungen der Westfront. Als Stoßtruppleutnant mit den höchsten militärischen Auszeichnungen dekoriert, war er einer der wenigen Überlebenden der großen industriellen Feldschlachten, für die bis heute die Namen von Ypern, Verdun und der Somme stehen. In einer zeitlich früheren Schrift mit dem Titel Das Wäldchen 125 hatte Jünger bereits auf den engen Zusammenhang des Materialkrieges mit der großen Industrie hingewiesen. Abstrakte Arbeit (Marx) und absoluter Krieg (Clausewitz) verschmelzen in seinen Betrachtungen zu einer alles umfassenden Bewegung. In Das Wäldchen 125, welches eines von der Artillerie zerschossenes und umgepflügtes Frontstück beschreibt, sinniert Ernst Jünger bei der Betrachtung der Wirkungen der Artillerie über die Symbolik der Landschaft, zerstört von der Gewalt der Maschinenwaffen: „Das ist das Material. Vor dem Blick tauchen weite Industriebezirke mit den Fördertürmen von Kohleschächten und dem nächtlichen Glanz von Hochöfen auf – Maschinensäle mit Treibriemen und blitzenden Schwungrädern, mächtige Güterbahnhöfe mit blinkenden Gleisanlagen, dem Gestöber bunter Signallaternen und der Ordnung der weißen Bogenlampen, die den Raum geometrisch erhellt. Ja, dort hinten wird es gefügt und geschmiedet in den peinlich geregelten Arbeitsgängen einer riesenhaften Produktion, und dann rollt es auf den großen Verkehrswegen an die Front als eine Summe von Leistung, als gespeicherte Kraft, die sich vernichtend gegen den Menschen entlädt. Die Schlacht ist ein furchtbares Messen der Industrien und der Sieg der Erfolg einer Konkurrenz, die schneller und rücksichtsloser zu arbeiten versteht.“53
___________________ 53
Jünger 1925a, S. 449f. Herv. A.M.
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5. DIE TOTALE MOBILMACHUNG
Um die von Jünger angesprochene enorme Bedeutung der Arbeitsproduktivität und der Konkurrenz für den Kriegsausgang auch in Zahlen zu dokumentieren, muss ich an dieser Stelle die einzige Tabelle in meiner Arbeit anführen, die eindrücklich zeigt wie unterschiedlich das industrielle Potenzial der feindlichen Mächtekoalitionen verteilt war – und das nur im Westen, also ohne Russland, das zwar ökonomisch im Verhältnis schwach, aber dennoch nicht zu unterschätzen war. Tabelle: Industrieller Vergleich54 Großbritannien/USA/
Deutschland
Frankreich
Österreich-Ungarn
51,7
19,2
798,8
236,4
44,1
20,2
472,6
178,4
Prozent der Weltindustrieproduktion (1913) Energieverbrauch (1913), Mill. Ton. Kohleäquivalent Stahlproduktion (1913) in Millionen Tonnen Industriepotenzial (Großbritannien im Jahr 1900=100)
Paul Kennedy, der in seiner Studie Aufstieg und Fall der großen Mächte stets das Verhältnis von militärischen und ökonomischen Kräften in den einzelnen Staaten analysiert, kommt angesichts der Kräfteverhältnisse im Ersten Weltkrieg zu folgendem Schluss: „Obwohl es falsch wäre zu behaupten, der Ausgang des Ersten Weltkrieges sei vorbestimmt gewesen, legen die hier dargestellten Fakten nahe, dass der generelle Ablauf des Konflikts [...] in enger Korrelation mit der den Bündnissen in verschiedenen Phasen des Konflikts zur Verfügung stehenden wirtschaftlichen und industriellen Produktivität und der effektiv mobilisierbaren Truppenstärke stand. [...] Was eine Seite, besonders nach 1917 [Kriegseintritt USA; A.M] in der Tat besaß, war eine markante Überlegenheit der produktiven Kräfte. Wie in früheren lang gezogenen Koalitionskriegen stellte sich dieser Faktor schließlich als entscheidend heraus.“55
In Jüngers ersten Publikationen wie etwa dem bekannten Tagebuch eines Stoßtruppführers, In Stahlgewittern, ist von diesen Zusammenhängen ___________________ 54 55
Kennedy 1996, S. 411. Ebd., S. 414f.
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DER WILLE ZUR BEWEGUNG
noch wenig die Rede. Die nach 1918 drängende Frage nach dem Sinn des Krieges steht im Mittelpunkt seines frühen literarischen Werkes. Ab den späten 20er Jahren wird die Frage nach der zukünftigen Rolle der technischen Mittel und den Möglichkeiten des Menschen, in einer offensichtlich destruktiven Welt zu bestehen, zu Jüngers zentralem Anliegen. Die Technik, symbolisiert in den Vernichtungsmaschinen des Krieges, wird Jünger zum Subjekt der abstrakten Arbeit und des absoluten Krieges. Als elementare Kraft von kultischem Range und Verneinung aller humanistischen Prinzipien bedrohe sie die bürgerliche Gesellschaft und ihre normativen Setzungen als Ganzes. Gerade der apokalyptische Zusammenbruch des Deutschen Reiches in den Flammen des Weltkrieges und die schmähliche Kapitulation ermögliche aber die Auferstehung einer neuen und totalitären Ordnung, in der Arbeit und Krieg zu einer einzigen großen Symphonie miteinander verschmelzen. Den „unwiderlegbaren Beweis“ für die Totalisierung der Arbeit findet Jünger in der Dynamik des Ersten Weltkriegs. Nicht nur die Intensivierung des Krieges, die von den zivilen Produktionsstätten und Verkehrswegen abhängig ist, steht dabei im Mittelpunkt, seine Aufmerksamkeit richtet sich darüber hinaus auf die Veränderungen des soldatischen Subjekts. Die Auflösung der traditionellen sozialen Ordnungen des 19. Jahrhunderts und die Zerstörung der hierarchischen Kommunikation der militärischen Führung, die endlose Routine und das Grauen der Schützengräben, die Einsamkeit und das Gefühl der Verlassenheit in den schlammgefüllten Trichtern erzeugt den grauen Arbeitersoldaten, der sich unendlich weit von den glanzvollen und heroischen Figuren früherer Kriege entfernt hat. Der unbekannte Soldat wird nicht umsonst zur Chiffre der Anonymität des modernen Krieges. Die fortschreitende Anhäufung von Artillerie, Granaten, Bomben und Menschenleibern, die den Gegner schier erdrücken wollen, ist nur durch die Ausweitung und Steigerung der industriellen Produktion und bürokratischer Verwaltung möglich. Nicht nur der Krieger verwandelt sich in einen Maschinen bedienenden Arbeiter, der Krieg selbst verschmilzt ununterscheidbar mit Produktion und Arbeit an sich. „So verschwindet mit der Verwischung der Stände und der Beschneidung der Privilegien des Adels zugleich der Begriff der Kriegerkaste dahin. […] So fließt auch das Bild des Krieges als einer bewaffneten Handlung immer mehr in das weiter gespannte Bild eines gigantischen Arbeitsprozesses ein. Neben den Heeren, die sich auf den Schlachtfeldern begegnen, entstehen die neuartigen Heere des Verkehrs, der Ernährung, der Rüstungsindustrie, – das Heer der Arbeit überhaupt. In der letzten, schon gegen Ende dieses Krieges angedeuteten Phase, geschieht keine Bewegung, und sei es die einer Heimarbeiterin an ihrer Nähmaschine, mehr, der nicht eine zum mindesten kriegerische Leistung
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innewohnt. In dieser absoluten Erfassung der potenziellen Energie, die die kriegführenden Industriestaaten in vulkanische Schmiedewerkstätten verwandelt, deutet sich der Anbruch des Zeitalters des vierten Standes vielleicht am sinnfälligsten an [...] Es ist eine Rüstung bis ins innerste Mark, bis in den feinsten Lebensnerv erforderlich.“56
Der Krieg an der Front wird zu einem Teilaspekt der Arbeit, die sich als Krieg versteht. Jünger hat für dieses neue Verhältnis von Arbeit und Krieg in einem Aufsatz von 1930 den äußerst präzisen Begriff der totalen Mobilmachung eingeführt: Der Krieg wird sozusagen in die Sozialstruktur der Gesellschaft als auch in die Sinne jedes einzelnen Individuums eingeschrieben. „Bis dahin hatte sich der Krieg zurückgehalten, war ein Ereignis gesonderter Zeiten, Räume und ausgezeichneter Krieger. Jetzt infiltriert der Krieg die Gesellschaft. Er kennt nicht mehr mehrere Ordnungen und Zeiten, sondern nur noch eine, die der Wehrfähigen. Die totale Mobilmachung wird auf dem Weg des Gesetzes und der Bürokratie zu einer Anforderung, die jeden betrifft. Das kriegerische Prinzip fließt in die Selbstinstrumentalisierung der einzelnen ein, es wird zum modernen Standard.“57
Albrecht Erich Günther fordert in diesem Zusammenhang in der von Ernst Jünger 1930 herausgegebenen Anthologie Krieg und Krieger, „dass das zivile Individuum in das Soldatentum eingeschmolzen werden soll.“58 Wenn es keine Differenz von Heer und Heimat mehr gibt, dann, so könnte man folgern, war, weniger in der Realität als in der Imagination, auch ein November 1918 nicht mehr möglich. Herfried Münkler kommentiert in seinem Essay Siegfrieden, der sich mit den Nibelungen als dem deutschen Nationalmythos auseinandersetzt, die Verschmelzung von Militärischem und Zivilem in genau diesem Sinne. Er zitiert aus einem 1933 erschienenen Roman von Max Braun mit dem Titel Nibelungenlied. In diesem Roman wird Siegfried als ein Arbeiter vorgestellt, der sein Schwert selbst in den Fabriken des Ruhrgebietes schmiedet. Es handelt sich hier zweifellos um eine literarische Übersetzung der Verschmelzung von Arbeiter und Krieger wie sie Ernst Jünger 1930 in seinem bereits öfters zitierten Aufsatz zur totalen Mobil___________________ 56 57
58
Jünger 1930b, S. 14, Herv. A.M. Haß 1993, S. 110. Die von Haß angesprochene Zurückhaltung des Krieges in früheren Zeiten ist in ihrer Verallgemeinerung nicht zu halten. Der 30-jährige Krieg hat etwa ganze Landstriche verwüstet und seine Soldaten und Marodeure haben über Jahre die Zivilbevölkerung in Europa, insbesondere Bauern, terrorisiert, gefoltert und umgebracht. Günther 1930, S. 91.
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DER WILLE ZUR BEWEGUNG
machung beschrieben hat. In dieser Siegfriedgestalt wird, so Münkler, mythisch präsentiert, was Jünger geschichtsphilosophisch propagiert und was im Dritten Reich als politische Utopie vorgestellt wird. Die Symbiose von Krieger und Arbeiter: „Siegfried, der Held, der das Schwert nicht nur führt, sondern es auch selbst geschmiedet hat, wird zur idealen Verkörperung für die Einheit von Arbeitsdienst und Wehrmacht. […] Auch die Essen und Kessel, Silos und Retorten waren Fronten, an denen Schlachten geschlagen wurden, und der heldenhafte Kämpfer an der Front war der Arbeiter, der die selbstgefertigten Waffen zum Einsatz brachte. Heer und Heimat waren nunmehr derart eins, dass ein neuerlicher Dolchstoß unmöglich war.“59
Der militärische Charakter des Krieges verliert so zunehmend seine Bedeutung, vielmehr nähert er sich dem abstrakten Begriff der Arbeit an, die Logistik triumphiert über die Taktik, eine Ermattungsstrategie ersetzt die heroische Offensive. Selbst in den Metaphern des militärischen Jargons wird die Verbindung zur Welt der Arbeit und insbesondere der Industrie deutlich sichtbar: so sprechen etwa die täglichen Heeresberichte häufig davon, dass wieder eine Division zu „Schlacke ausgebrannt“ sei. Als ob der Krieg ein Hochofen und der Soldat seinen unermüdlichen Lieferanten an stofflicher Substanz bildet. Der Arbeitscharakter des modernen Krieges erzeugt neben dem Ingenieur den grauen Arbeitersoldaten, der ununterbrochen das Menschenreservoir der Auseinandersetzungen stellt. „So kommt es, dass jedes einzelne Leben immer eindeutiger zum Leben eines Arbeiters wird, und so kommt es, dass auf die Kriege der Ritter, der Könige und Bürger die Kriege der Arbeiter folgen – Kriege von deren rationeller Struktur und deren hohem Grad an Unbarmherzigkeit uns bereits die erste große Auseinandersetzung des 20 Jahrhunderts eine Ahnung gegeben hat.“ 60 Jünger begnügt sich nicht damit, darauf hinzuweisen, dass die Logik des Materialkrieges eine radikale Veränderung aller bis dorthin gültigen militärischen und zivilen Werte und Maßstäbe mit sich bringt. Seine Reflexionen über den Zusammenhang von Arbeit und Krieg münden in eine geschichtsphilosophische Prognose der Zukunft, eine Zukunft, so seine Überzeugung, in der der Arbeiter, gedacht als immanente Gestalt des technischen Fortschritts, über das Bürgertum und seine zivile Ordnung triumphieren wird.61 ___________________ 59 60 61
Münkler/Storch 1988, S. 102f. Jünger 1930b, S. 14. Der französische Schriftsteller Marc Boasson, gefallen 1916, beschreibt in einem Frontbrief eindrücklich das Ende der bekannten Welt und das
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5. DIE TOTALE MOBILMACHUNG
Die „Herrschaft des Arbeiters“ ist folglich identisch mit der permanenten Mobilmachung, die in letzter Konsequenz die Unterscheidung von Krieg und Frieden auflöst. Die Kriegsfront wird durch die später von den Nationalsozialisten so genannte Arbeitsfront ergänzt, die Front wird ubiquitär. Waren die industriellen Schlachten der Westfront insbesondere ab 1916 zwar furchtbare Vorboten dieses Prozesses, so wird doch erst die ins Zivile übersetzte Mobilmachung die faktische Totalität der Arbeit erreichen. Die Dimensionen des Krieges erweitern sich zwar mit dem Fortschreiten der Waffen- und Sozialtechnologien, seine Totalität erreicht er aber erst in der unterschiedslosen Besetzung und Einbindung des Zivilen, wie von Jünger, Ludendorff und später von Goebbels gefordert.62 Diese Totalität bringt der Nationalsozialist Wolter 1935 auf den Punkt: „Totalität der Mobilmachung und Kriegführung heißt nicht, dass außer den Frontkämpfern nun auch diese oder jene Kategorie der Zivilbevölkerung für den Kriegszweck herangezogen wird, sondern Totalität heißt, dass mit dem Augenblick des Kriegsausbruchs alles bloß private Dasein aufhört und für die gesamte Nation nun bis zum Ende die Kriegführung den einzigen Lebensinhalt bildet, dass es darum eine Zivilbevölkerung der Idee nach überhaupt nicht mehr gibt. Totalität bedeutet Ausschließlichkeit. […] Eine wahre Monomanie des Krieges.“63
___________________
62
63
Prinzip der neuen Ordnung: „Der intellektuelle und moralische Rückschritt der Welt ist ebenso wenig vermeidbar, wie die absolute Niedrigkeit des Denkens, die sich in technische Perfektion und illusionsfördernde praktische Fertigkeiten hüllen wird. Das Elend, das auf diesen Krieg folgen wird, wird eine erstaunliche Industrialisierung bringen, eine Vielfalt nützlicher Erfahrungen. Jede menschliche Aktivität wird sich ausschließlich nach dem praktischen Nutzen richten [...] Die Tage unvoreingenommener Kultur sind gezählt. Die Menschheit macht dem Menschenmaterial Platz, ganz so, wie der Krieg es uns bereits vor Augen geführt hat. Es ist dies der Bankrott der Renaissance. Die deutsche Fabrik verschlingt die Welt.“ (zit. bei Ekstein 1990, S. 335) Im Dritten Reich ist es der Begriff des Dienstes, der den Arbeitsbegriff sukzessive ersetzen sollte. „Jede Arbeit, die weiter getan werden muss [nachdem alles Überflüssige, aller Luxus usw. weggefallen ist; A.M.], ist Kriegsdienst im strengsten Sinne. [...] Der totale Krieg lässt nicht bloß Waffendienst gelten, [...] er macht jede Arbeit in ihrer Eigenart zu einem Dienst, der mit der Waffe dem Range nach gleichsteht.“ (Baeumler zit. nach Fetscher 1998, S. 61.) Und Goebbels postulierte noch im Frühjahr 1945 kurz vor der deutschen Kapitulation, dass die neu aufgestellten Divisionen in den Krieg gehen würden, als handle es sich um einen Gottesdienst. Vgl. dazu auch den Arbeitsbegriff bei Spengler (1920, S. 41ff.), der Arbeit und Pflicht im preußischen Sozialismus gleichsetzt. Wolter 1935, S. 218 und 219. Dieses Zitat erinnert mit seinem Postulat, dass das private Dasein im totalen Krieg und seiner Vorbereitung ganz
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Jede Bewegung, jegliche individuelle Äußerung, das gesamte gesellschaftliche Leben, Krieg und Frieden, alles wird zum parziellen Ausdruck einer Totalität des Krieges und der Arbeit. Nichts soll mehr existieren, das nicht zugleich produktiv gemacht und Kräfte für die kommende große Auseinandersetzung bereitstellen kann. Das wichtigste Ergebnis besteht aber „in der Mobilisierung der Welt durch die Gestalt des Arbeiters“64, diese ist die Bedingung für einen unbegrenzten Einsatz der Technik. Die „technische Seite der totalen Mobilmachung ist indessen nicht die entscheidende. Ihre Voraussetzung liegt vielmehr, wie die Voraussetzung jeder Technik, tiefer: wir wollen sie hier als die Bereitschaft zur Mobilmachung bezeichnen.“65 Was 1918 fehlte war also ein Glaube oder eine Ideologie, eine innere Bereitschaft. Hitler hatte zu dem Zeitpunkt, als Jünger diese Zeilen schrieb, bereits Die Bewegung gegründet, die in der Tat die ganze Welt – und nicht nur Deutschland – mobilisieren sollte. Die NSDAP, die Organisationen der SA und SS – die meisten ihrer frühesten Mitglieder stammten, wie Hitler selbst, aus der „verlorenen Generation“ des Materialkrieges und der Freikorps, unfähig sich nach Kriegsschluss in die zivile Ordnung zu integrieren. Viele, später als dem Faschismus eigentümlich beschriebene Elemente waren in Ansätzen bereits im Ersten Weltkrieg vorhanden: die Vorstellung des Krieges als reinigende Kraft, die Kontrolle der Wirtschaft für die Kriegsindustrie, die Ausrufung von Arbeitsschlachten mit Hilfe ziviler Notstandsgesetze, die Mobilmachung der gesamten Bevölkerung für die Anstrengungen der Kriegshandlungen, das faktische Ende des Politischen als Regulativ des Militärischen, ja sein Ende als eigenständiger Bereich. Ulrike Haß hat in ihrer ausgezeichneten Arbeit Militante Pastorale darauf hingewiesen, dass der Begriff der Totalität, wie er nicht nur bei Jünger, sondern insbesondere auch in Erich Ludendorffs Schrift Der totale Krieg entwickelt wird, in diesem Zusammenhang entscheidend ist. Jüngers Thesen resümierend schreibt sie: „Die totale Mobilmachung zeige nichts Geringeres, als den Einbau des Krieges in die Zivilordnung der Arbeit, der Sinne und der Sozialverfasstheit der Gesellschaft. In diesem Sinne soll sie als Paradigma der Moderne aufgefasst ___________________
64 65
aufhört, an den Führer der Deutschen Arbeitsfront, Robert Ley. In einer 1942 gehaltenen Rede vor versammelten Arbeitern stellte dieser fest: „Privatleute gibt es nicht mehr im nationalsozialistischen Deutschland. Privatmann ist man nur noch, wenn man schläft. Sobald du in den Alltag, in das tägliche Leben hinein trittst, bist du ein Soldat Adolf Hitlers.“ (Ley 1938, 125) Jünger 1932, S. 165. Ders. 1930b, S. 16. Herv. im Orig.
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werden. Die Betonung liegt damit weniger auf der Mobilität und der Beschleunigung als auf dem Gesichtspunkt der Totalität und der radikalen Autonomie, die diese voraussetzt.“66
Innerhalb der arbeitsteiligen Prinzipien der modernen Schlacht ist der einzelne Soldat ein Element im großen Fließband des Todes. Der Aristokratismus der alten Kriegerkaste löst sich im Dreck der Schützengräben und dem pausenlosen Einsatz ununterscheidbarer Arbeiterheere auf.67 Im Arbeitscharakter des modernen Krieges offenbart sich das Ende der Individualität des Kriegers. Standardisierung und Massenproduktion als die Prinzipien der Industriegesellschaft verhalten sich schließlich komplementär zum militärischen Prinzip der Massenvernichtung in den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts.68 Die von ihren Befürwortern propagierte Mobilmachung zielt darüber hinaus aber auf einen Ort jenseits ökonomischer Verhältnisse und Beziehungen. Gerade weil die Maschinisierung des Krieges die Sinnfrage ad absurdum führt, Gott, Kaiser, Vaterland zu leeren Worthülsen verkommen, muss die rasende Bewegung des Krieges und der Arbeit selbst zur eigentlichen Göttin werden. Die von Marx konstatierte historische Tendenz der Arbeitsteilung, nämlich ihre sukzessive Befreiung der Arbeit von jeglichem Inhalt, hier als Mobilmachung um ihrer selbst willen gefordert, scheint mir für ein Verständnis des aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangenen nationalsozialistischen Deutschlands von entscheidender Bedeutung. Im Dritten Reich wird die abstrakte Arbeit, losgelöst selbst von allen ökonomischen, d.h. auf Profit orientierten Bestimmungen, zum gesellschaftlich propagierten Ideal. Am deutlichsten spricht diese Reinheit des Tätigseins Robert Ley, der Führer der Deutschen Arbeitsfront, aus. In seiner Schrift Schmiede des Schwerts äußerte er sich 1942 dazu in euphorischer Rede: Die höchste Ehre des Menschen ist die Arbeit an sich“ und bezogen auf den Staat: das „neue Deutschland [...] ist der Hort der Arbeit an sich.“69 Der Nationalsozia___________________ 66 67
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Haß 1993, S. 100 Arnold Zweig (1996, S. 180) schreibt über die Soldaten des ersten Weltkrieges in seinem Roman Erziehung vor Verdun: „Sie sahen aus wie die abgetriebenen Herden des Todes, Fabrikarbeiter der Zerstörung. Sie hatten alle die Gleichgültigkeit, die Industrie und Maschine dem Menschen aufprägen.“ In einer Gesellschaft, die mehr und mehr vom Prinzip der industriellen Massenproduktion abweicht und sich einer durch Wissen und Information basierenden Wirtschaft annähert, folgt auch der Krieg einer neuen Logik. Auf den engen Zusammenhang zwischen den Weisen, zu arbeiten, und den Formen, Krieg zu führen, verweist exemplarisch Alvin Toffler (1994). Ley 1942, S. 197, S. 311.
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lismus war die historisch perfekte Synthese von Ordnung und Bewegung, der leere Lauf der Mittel. Die abstrakte Seite der Arbeit kennt kein bestimmtes Ziel und keine Begrenzung, sie kennt keinen ihr äußerlichen Wert. Die reine Konkurrenz bestimmt die Produktion, die als Schlacht begriffen wird. Nochmals Robert Ley: „Ich werde den Wettbewerbsgedanken derart vorwärts treiben, dass keiner mehr davon loskommt. Alle werden in einem dauernden Wettkampf sein müssen, alle. Das ist der ewige Motor.“ 70 „Der Gedanke des Wettkampfes ist der Gedanke der Partei überhaupt. Die Partei ist eine Bewegung. Es bewegt sich etwas, wo die Partei ist.“71 Arbeit als Krieg wird zum Paradigma der Totalität, die sich als Mobilmachung versteht. Jünger verweist in diesem Zusammenhang auf den „Rüstungscharakter der modernen Welt“, die er in einem ununterbrochenen Zustand des Krieges betrachtet. Da jedes Arbeitsmittel zugleich Machtmittel ist, zeige der totale Krieg nur am unverhülltesten die Struktur der technischen Welt, in der die Gestalt des Arbeiters beginnt die Welt zu durchdringen. „Dieses Verhältnis tritt im Bestreben des Krieges hervor, sich aller, auch der ihm scheinbar fernstliegenden Gebiete zu bemächtigen. Ähnlich wie der Unterschied zwischen Stadt und Land tritt hier der Unterschied zwischen Front und Heimat, zwischen Heer und Bevölkerung, zwischen Industrie und Rüstungsindustrie in einen minderen Rang. Der Krieg als ein Urelement entdeckt hier einen neuen Raum – er entdeckt die besondere Dimension der Totalität, die den Bewegungen des Arbeiters zugeordnet ist.“72
Entscheidend ist, dass Jüngers Totalitätsgedanke zwar auch die ökonomische Welt in ihrer Mobilisierung beinhaltet, aber vielmehr ein „geistiges Prinzip“ meint. Nicht die äußere, sondern vielmehr die „innere Rüstung“ ist das entscheidende Element für die Anforderungen, die die Zukunft stellen wird. Die „geistige Mobilmachung“, im Wesentlichen durch Propaganda und Gleichschaltung vorangetrieben, war bei Erscheinen seiner Schrift bereits erfolgreich angelaufen. Im Nationalsozialismus kulminierte die Totalitätsauffassung von Denkern wie Jünger oder Schmitt in einem politischen System, das im Frieden konsequenterweise nur eine Vorbereitung für eine letzte große Auseinandersetzung ___________________ 70 71 72
Ebd., S. 159. Zur Idee des „ewigen Motors“ und seiner Verbindung zum „Todesfließband“ der nationalsozialistischen Vernichtungslager, siehe Meschnig 2000, S. 89f. Ley 1938, S. 211. Jünger 1932, S. 299.
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auf Leben und Tod sah. Krieg im Frieden, so lautet auf den ersten Blick die schlüssige und einfache Formel.73 Aber diese Formel muss doch in ihrer Essenz relativiert werden: die totale Mobilisierung der Kriegswirtschaft blieb auch im nationalsozialistischen Deutschland bis Anfang 1942 ein Lippenbekenntnis, schon allein deshalb, weil die Konzeption des Blitzkrieges keine umfassende Anstrengung der Wirtschaft für die Kriegführung verlangte. Erst nach dem Scheitern der Offensive in Russland vor den Toren Moskaus im Winter 1941 folgte die deutsche Rüstungspolitik dem bereits von den Westalliierten vorgezeichneten Weg. Hitler selbst, von den traumatischen Erfahrungen des Ersten Weltkrieges gezeichnet, wehrte sich lange gegen die Einsicht und die Notwendigkeit, den Krieg als „totalen“ zu führen. Auch wenn der Eindruck des Auslandes von einer Militarisierung der deutschen Wirtschaft schon lange vor dem Krieg vorherrschend war, er verkannte den tatsächlichen Gehalt der Mobilmachung: „Nicht nur fand keine umfangreiche Wirtschaftsplanung zwecks totaler Mobilmachung statt, sondern sie wurde auch praktisch von niemandem im Ernst vorgeschlagen. [...] und außerdem mündete die vorschwebende Kriegsbereitschaft der Wirtschaft in keine konkrete strategische Auffassung ein.“74
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Entscheidend für die Dynamik des Nationalsozialismus war die Konstruktion eines inneren Feindes. Der Kampf des Ariers gegen das Judentum kannte keine Phasen der Ruhe und des Friedens. Von Kriegsmetaphern durchzogen, verwandelte sich der im Nachkriegsdeutschland sich radikalisierende Antisemitismus in einen Krieg gegen die jüdische Bevölkerung ohne Kriegserklärung. Die innere Reinigung, die schonungslose Beseitigung der „zerstörerischen Elemente“ im Volkskörper war dabei für den Nationalsozialismus mindestens genauso wichtig wie die militärische Kriegführung. Dass der Antisemitismus der Nationalsozialisten von Anfang an ein kriegerisches Element in sich trug, betont Eberhard Jäckel in einer Studie zur Weltanschauung Hitlers: „sicher ist, dass Hitlers Antisemitismus, wie er in Mein Kampf vorgetragen wurde, kriegerische Züge trug. Er ging vom Kriege aus, verlangte kriegerische Methoden, sollte im Kriege verwirklicht werden, und es war daher folgerichtig, dass er im nächsten Kriege, der ja von Anfang an vorgesehen war, seinen blutigen Höhepunkt erreichte.“ (Jäckel 1991, S. 72) Kondylis 1988, S. 134f. Vgl. auch Kapitel 7.3. Der englische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze (2007) kommt in seiner Studie Ökonomie der Zerstörung demgegenüber zu der Auffassung, dass in Deutschland bereits vor Kriegsbeginn alle Ressourcen in die Aufrüstung gesteckt wurden, das Dritte Reich folglich schon sehr früh umfassend mobilisiert war. Das wiederum, so Tooze, war aber nur möglich bei Vernachlässigung des privaten Konsums. Diese These führte auch zu einer Kontroverse mit Götz Aly (2005), der in seinem Buch Hitlers Volksstaat
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DER WILLE ZUR BEWEGUNG
Selbst ein Autor wie Ludendorff, fasziniert vom Gedanken der Totalität, hat bei näherem Hinsehen eigentlich nichts Konkretes vorzuschlagen, wenn es darum geht seine Ideen praktisch auf die Ökonomie anzuwenden. So schreibt er in Der totale Krieg fast schon resigniert: „Welche Maßnahmen auf dem gesamten wirtschaftlichen Gebiet die einzelnen Länder zu treffen haben, ist natürlich nicht zu beantworten. Grundsätze lassen sich nicht aufstellen, es sei denn der, das es Volk und Heer an nichts fehlen darf.“ 75 Auch Robert Leys weiter oben zitierte Anrufung des „ewigen Motors“ und der „Bewegung“ verweist mehr auf den idealistischen Gehalt der ausgerufenen Arbeitsschlachten als auf ihre tatsächliche Steuerung und ihre Erfolge. In Wirklichkeit waren v.a. aus den technischen Berufen kommende Männer wie Albert Speer entsetzt von der unproduktiven Organisation der deutschen Kriegswirtschaft unter nationalsozialistischer Ägide. Mit Speers „rationaler“ und organisatorisch bemerkenswerter Leitung des „Reichsministeriums für Bewaffnung und Munition“ erreichte die deutsche Rüstungsproduktion 1944 die höchsten Ausstoßziffern – und das trotz pausenloser alliierter Bombenangriffe und stetiger Intrigen seiner mächtigen und eifersüchtigen Feinde in der NSDAP.76 Trotzdem bleibt unter dem Strich die totale Mobilmachung auch in der NS-Zeit eine mehr ästhetische oder existenzielle Kategorie, die im Nationalsozialismus vor allem in der Propaganda (aber in furchtbarer Weise in der Vernichtung der rassischen Feinde) ihren deutlichsten Ausdruck fand. Die „Totalität“ der Weltanschauung und des Anspruches einer Gleichschaltung des gesamten Volkes ging zeitlich und inhaltlich der totalen Kriegführung weit voraus.
5 . 4 . D a s g e i s ti g e P r i n z i p In seinem zentralen Aufsatz zur totalen Mobilmachung definiert Ernst Jünger die (technische) Entwicklung als Teil einer „tieferen Rüstung“, die weit über den Raum der äußerlich sichtbaren Grenzen und der Logik ___________________
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die Position vertritt, die deutsche Bevölkerung habe, was Lebensstandard und Konsum anbelangt, vom NS im allgemeinen profitiert. Ludendorff 1935, S. 30. Zwar verfügt Ludendorff über keine praktische Anleitung wie sein „totaler Krieg“ umzusetzen ist, eindeutig ist aber seine Ablehnung der Planwirtschaft, die er, als strammer Antisemit, mit dem „Juden“ Rathenau verbindet. Die Zentralisation der Wirtschaft, wie sie Rathenau im Krieg fordere, so Ludendorffs wirtschaftsliberale Argumentation, verhindere nämlich Selbstverantwortung und Initiative (Ebd., S. 47). Zu den Machtkämpfen zwischen den Rivalen Speer und Goebbels, Göring und Himmler vgl. Sereny 1995, insbesondere S. 353-395.
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5. DIE TOTALE MOBILMACHUNG
der bürgerlichen Gesellschaft hinausweist. Auch wenn man seinen Visionen und Szenarien einer technokratischen Welt des Arbeiters nicht folgen will, so beschreibt seine Analyse des totalen Arbeitscharakters doch wesentliche Momente der modernen Welt, exemplifiziert an seinen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg und der Weimarer Republik. Seine Akzeptanz der Technik, die er als „das wirksamste, das unbestreitbarste Mittel der totalen Revolution“77 definiert, begründet sich in Der Arbeiter auf seine Hoffnung, der Mensch könne in Zukunft die Technik beherrschen. Damit vermeidet Jünger eine vormoderne und reaktionäre Haltung, in der die Technik als Zerstörerin der alten Werte und Normen erscheint und deshalb in ihrer Dynamik aufgehalten werden muss. Da sich der totale Arbeitscharakter und die Steigerung der technischen Möglichkeiten nicht aufhalten lässt, so Jüngers Schluss, muss sich der Mensch den neuen Anforderungen stellen. Der „Sieg über das Material“ kann – wie die industriellen Feldschlachten für ihn deutlich zeigen – nur in der Anpassung an die technischen Imperative errungen werden. „Überall, wo der Mensch in den Bannkreis der Technik gerät, sieht er sich vor ein unausweichbares Entweder-Oder gestellt. Es gilt für ihn, entweder die eigentümlichen Mittel zu akzeptieren und ihre Sprache zu sprechen oder unterzugehen. Wenn man aber akzeptiert, und das ist sehr wichtig, macht man sich nicht nur zum Subjekt der technischen Vorgänge, sondern gleichzeitig zu ihrem Objekt.“78
Der Weltkrieg, der für ihn das 20. Jahrhundert eröffnet, wird ihm zum Mittel einer Selbsterkenntnis, der Rüstungscharakter des Arbeitskrieges zur Metapher der inneren Gerüstetheit. Die Mobilmachung meint so weniger eine wirtschaftliche und technische Totalisierung der Anstrengungen als eine „geistige Erneuerung“, die als eine Anrufung an die Nation vorgestellt wird. Die Figur des „Zeitalterkrieges“ (vgl. Kapitel 3.3.) kehrt hier in der Abwendung von den Werten des 19. Jahrhunderts wieder: „Bei uns heißt an seinen Werten [denen des alten Europa; A.M.] noch teilnehmen ein Reaktionär, ein Mensch von gestern, ein Mensch des 19. Jahrhunderts zu sein. Denn tief unter den Gebieten, in denen die Dialektik der Kriegsziele von Bedeutung ist, begegnete der deutsche Mensch einer stärkeren Macht; er begegnete sich selbst. So war dieser Krieg ihm zugleich und vor allem das Mittel, sich selbst zu verwirklichen. Und daher muss die neue
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Jünger 1932, S. 169. Ebd., S. 166.
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Rüstung, in der wir bereits seit langem begriffen sind, eine Mobilmachung des Deutschen sein, – und nichts außerdem.“79
Ähnlich wie Jünger forderte auch Kurt Hesse in seinem 1922 erschienenen und sehr erfolgreichen Buch Der Feldherr Psychologos eine Mobilmachung der ganzen Nation: „Weckt die Erinnerung an das große Erleben des Krieges, macht es allen bewusst, was das deutsche Sterben bedeutet hat! Heraus aus dem passiven Nihilismus zu einer neuen großen Mobilmachung aller Willen und Kräfte.“80 In einem Artikel in der Zeitschrift Deutsche Wehr von 1935, der sich die Frage nach der Organisation des zukünftigen Sieges stellt, wird die Kriegsbereitschaft als das wichtigste Moment der kommenden Kriegführung bezeichnet. In der „Übertragung der Heeresverfassung auf die ganze Nation“ wird jeder einzelne in „Form“ gebracht: „Durch die im Funktionssystem erreichte Organisierung der Kriegsbereitschaft als eines Dauerzustandes erfährt die Totalität der Mobilmachung eine Erweiterung um eine ganze Dimension – die Zeit – und damit die höchste überhaupt vorstellbare Steigerung, die in personeller Hinsicht zugleich eine grundlegende Veränderung ihrer ganzen Natur zur Folge hat: die Mobilmachung wird durch dauerndes Mobilsein, durch die ständige totale Bereitschaft der schon im Frieden auf den denkbar höchsten Stand der Wehrkraft gebrachten Volksgesamtheit ersetzt.“81
Diese Mobilmachung stieß im Ersten Weltkrieg auf Grenzen die, so die Auffassung Jüngers wie auch Hesses, in den Eigenschaften und der Charakteristik des wilhelminischen Deutschlands erkannt werden müssen. Die deutsche Gesellschaft war, so ihre These, einfach (noch) nicht bereit die vollen Konsequenzen einer totalen Mobilmachung auf sich zu nehmen. Demgegenüber treiben, so – aus ihrer Sicht – die frustrierende Bilanz, die „fortschrittlichsten Nationen“, wie die USA und Großbritannien, die Mobilmachung auf ein weit höheres Niveau als Deutschland oder die monarchischen Staaten Europas. Denn in ihnen wird der moderne Kult des Fortschritts am konsequentesten vollzogen; ganz nüchtern betrachtet sind sie einfach nur produktiver. Deutschland hat dem, so Jünger, nichts entgegenzusetzen, da „deutsche Kultur“ dem Fortschritt, im Gegensatz zur Zivilisation, beziehungslos oder feindlich gegenübersteht. ___________________ 79 80 81
Jünger 1930b, S. 30. Hesse 1922, S. 215. Wolter 1935, S. 220.
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5. DIE TOTALE MOBILMACHUNG
„Wir stellen nur fest, dass es Deutschland versagt geblieben ist, den Geist der Zeit, wie immer er beschaffen gewesen sein möge, in diesem Kampfe für sich überzeugend ins Treffen zu bringen. Ebenso blieb es ihm versagt, ein diesem Geiste überlegenes Prinzip vor dem eigenen Bewusstsein oder vor dem der Welt als gültig aufzustellen.“82
Jünger erkennt angesichts der katastrophalen Niederlage, die Grenzen der Mobilmachung in Deutschland an, interpretiert sie aber als eine „innere Schranke“, die überwunden werden kann. Nicht die materielle und ökonomische Überlegenheit der Siegerstaaten, sondern die mangelnde geistige Vorbereitung und eine nur halbherzig vorgenommene Totalisierung der Kriegsanstrengungen sind für ihn die Hauptgründe für die Niederlage. Die Kraftentfaltung stieß an Grenzen, die einem inneren Dispositiv entsprachen, dass einen Sieg von vornherein ausschloss, selbst wenn die entscheidenden Schlachten gewonnen worden wären. Deutschland war einfach (noch) nicht reif für den Sieg! Für eine totale Mobilmachung genügt es für Jünger nicht, Militärmacht zu sein, vielmehr muss eine kollektive Bereitschaft zur Mobilisierung vorhanden sein: „Schon in diesem Kriege kam es nicht auf den Grad an, in dem ein Staat Militärstaat war oder nicht, sondern auf den Grad, in dem er zur totalen Mobilmachung befähigt war. Deutschland aber musste den Krieg verlieren, auch wenn es die Marneschlacht oder den Unterseebootkrieg gewonnen hätte, weil es bei aller Verantwortung, mit der es die parzielle Mobilmachung vorbereitet hatte, große Gebiete seiner Kraft der totalen Mobilmachung entzog und weil es aus ebendemselbem Grunde, rein dem inneren Charakter seiner Rüstung nach wohl einen parziellen, nicht aber den totalen Erfolg zu erringen – und zu ertragen – imstande war.“83
Folgerichtig konnte nur eine große ideologische Offensive die Bedingungen für eine ökonomische und technische Mobilmachung erfüllen. Der „Primat des Willens“ begegnet uns hier wieder in einem Konzept des Zivilen, das nur als bloße Vorbereitung auf den Krieg dient. Die Nationalsozialisten haben schließlich in ihrer Propaganda und Politik, die mit ersterer gleichzusetzen ist, das Schlagwort der totalen Mobilmachung der rassisch reinen Volksgemeinschaft zu einer Parole erhoben, die im Ausland den Eindruck erweckte, die Realität des deutschen Staates und seiner Gesellschaft sei nicht weit davon entfernt. In Wirklichkeit fehlte aber ein differenziertes Konzept, das über bloße Anrufungen und Appelle ___________________ 82 83
Jünger 1930b, S. 21. Ebd., S. 18.
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DER WILLE ZUR BEWEGUNG
hinausging. Psychologie ist etwas anderes als Wirtschaft, Ideologie ersetzt nicht faktische ökonomische Stärke. „Viele im Ausland und in Deutschland verwechselten die Intensität dieser vielfach erfolgreichen psychologisch-ideologischen Anstrengung mit dem Ausmaß der deutschen wirtschaftlichen und militärischen Kriegsvorbereitung, andererseits betrachteten aber auch manche Befürworter der totalen Mobilmachung [etwa Ludendorff oder E. Jünger; A.M.] irrtümlicherweise ihr eigenes, vages, wenn auch nachdrückliches Plädoyer für Geschlossenheit und hohe Moral des Volkes als handfestes Programm, das strategischen Anforderungen genügen könnte.“84
Dennoch sind die Folgerungen aus dem Paradigma der totalen Mobilmachung für die Zukunft entscheidend. Über Versuche der Ideologisierung der Soldaten, der Anrufung der nationalen Einheit und Geschlossenheit, sollte eine neue Wehrmacht entstehen. Während für eine große Gruppe der aristokratischen Offiziere, allen voran Hans von Seeckt, die Massenheere mit dem Ersten Weltkrieg endgültig ausgedient hatten, sahen andere – wie die Nationalsozialisten – im Einbezug aller gesellschaftlichen Kräfte den Schlüssel zum Sieg.
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Kondylis 1988, S. 136.
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6. K R I E G E R
UND
BÜRGER
Deshalb sind auch jene Männer, welche am tiefsten im Kriege untertauchten und sich am stärksten als seine Träger fühlten, der entschiedenste Ausdruck der Zeit; ihr Antlitz zeigt am reinsten den Gehalt des um alle Bestände verantwortungsvoll ringenden Lebens. Der Krieg dauerte lange genug, um dieses letzte, reinste Gesicht zu hoher Vollkommenheit zu bilden, er zerschlug die Schlacke und schmolz das echte Metall heraus. Friedrich Georg Jünger (1930)
6 . 1 . D i e M a s se Mit der erstmaligen umfassenden Aufstellung von Bürgerheeren zur Verteidigung der nationalen Interessen und Werte der französischen Revolution beginnt das Zeitalter der Massenarmeen in Europa. Krieg zu führen, lange Zeit ein Privileg der aristokratischen Schichten und angeworbener Söldner, verwandelt sich in eine unterschiedslos angewandte staatsbürgerliche Pflicht für jeden männlichen Erwachsenen. Die aus dem Prinzip der bürgerlichen Gleichheit resultierenden Massenheere führen in der Folge zu einer ungeahnten Zunahme der destruktiven Energien der Kriegshandlungen. „Ein wichtiger Grund für diese Brutalisierung lag in der seltsamen Demokratisierung des Krieges. [...] Kriege, die auf beiden Seiten von Berufskämpfern oder Spezialisten oft gleicher sozialer Herkunft geführt werden, schließen gegenseitigen Respekt sowie die Akzeptanz von Regeln und sogar Ritterlichkeit nicht aus. [...] Kein Krieg, in dem die nationalen Gefühle der Massen
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DER WILLE ZUR BEWEGUNG
mobilisiert werden, kann geführt werden, als sei er ein Krieg zwischen Aristokraten.“1
Die Wahrnehmung einer Eskalation der kriegerischen Energie, die der englische Historiker Eric Hobsbawm in obigem Zitat ausspricht, findet sich in den allermeisten Reflexionen der militärischen Autoren nach dem Ersten Weltkrieg bestätigt. Der Volkskrieg wird allgemein als unmilitärisch abgelehnt. „Es kann aber für jeden, der die Dinge der Macht ihrem Wesen nach und ohne Vorurteil betrachtet, gar kein Zweifel sein, dass der Kabinettskrieg dem populären Kriege vorzuziehen ist. Er ist der wohlerwogene Krieg, der bestimmte Ziele besitzt, und dessen Zeitpunkt den sachlichen Umständen entsprechend gewählt werden kann. Vor allem aber ist er der moralischen Zone entrückt; und es ist daher die Erregung der niederen Instinkte und der Hassgefühle überflüssig, in die die Masse versetzt werden muss, um überhaupt zum Kampfe fähig zu sein.“2
In dieser (elitären) Kritik reproduziert sich eine Auffassung vom Charakter der Masse, die durch den französischen Arzt und Autor Gustave Le Bon auch in Deutschland populär geworden war. In seinem 1895 erschienenen Werk Psychologie der Massen, 1910 ins Deutsche übersetzt, steht die Masse für Unordnung, soziale Revolte und Irrationalität. 3 Die Masse gehorcht, so Le Bon (und später auch Freud), primitiven Trieben und versetzt den Einzelnen in ein vorgesellschaftliches Stadium. „Allein durch die Tatsache, Glied einer Masse zu sein, steigt der Mensch mehrere Stufen von der Leiter der Kultur hinab. Als Einzelner war er vielleicht ein gebildetes Individuum, in der Masse ist er ein Triebwesen, also ein Barbar.“ 4 Diese Überzeugung vom Charakter der Masse erfordert neue Prinzipien der politischen (und militärischen) Führung. Die mit Le Bon entstehende Massenpsychologie wird zur ___________________ 1
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Hobsbawm 1995, S. 72f. In seinem aufschlussreichen Aufsatz Krieg und Krieger kommt Friedrich Georg Jünger (1930, S. 55) zu einem ähnlichen Ergebnis: „Wo Völker sich bekämpfen, entschwindet der mildernde Geist der Courtoisie; der Kampf wird nackter, unverhüllter, erbarmungsloser geführt.“ Dass Aristokratie und Spezialisten sich nur ritterliche Kriege geliefert haben lässt sich aber nur mit Einschränkungen behaupten. Jünger 1934, S. 185. Damit ist die revolutionäre und ungeordnete Masse gemeint. Daneben gibt es einen Massentypus, der dem Militärischen näher ist und der durch Hierarchien, strenge Ordnung und Marschblöcke versinnbildlicht werden kann. Zur Differenz zwischen „molekularer“ und „molarer“ Masse vgl. Deleuze und Guattari 1974, 360-381. Le Bon (o.J.), S. 19.
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6. KRIEGER UND BÜRGER
„Wissenschaft“ einer neuen Politik, die sich mit dem Auftreten von Massen, hervorgerufen durch die Industrialisierung und der Zerstörung traditioneller sozialer Bindungen auseinanderzusetzen beginnt. Das Ende des 19. Jahrhunderts kann als der Beginn des Zeitalters der Massen definiert werden. Sozial atomisierte Individuen stehen sich in einer Gesellschaft beziehungslos gegenüber. Individuum und Masse sind beide an die Entstehung einer neuen Ordnung gebunden, die mit der Auflösung der alten Ständeordnung einhergeht. Bürgerliche Revolutionsmassen und die Arbeiterbewegung sind die zunächst vorherrschenden Massen, bevor der faschistische Mob und seine Führer die Straße erobern. Le Bon war der erste, der sich mit dem Phänomen einer Massengesellschaft im Detail auseinandersetzte und die praktische Anwendung der Massenpsychologie auf die Politik proklamierte. Obwohl er auch heute noch nicht gerne in wissenschaftlichen Abhandlungen erwähnt wird, hat er doch insbesondere die Sozialpsychologie und die Soziologie maßgeblich beeinflusst.5 Auch im Militär fanden die Erkenntnisse und Pamphlete Le Bons ihre Anwendung. Während des Ersten Weltkrieges wandte sich etwa das französische Oberkommando wiederholt an den Autor Le Bon, der Papiere erarbeitete, die für die militärische und politische Führung bestimmt waren. Die Vision eines Führers, der sich auf den direkten Willen der Nation stützen konnte, und die Kritik an einer Demokratie, die ohne Überzeugung regierte, trafen dabei auf offene Ohren. Die Führung der Massenheere war, wie wir schon anhand der Kommunikationsmittel gesehen haben, ein neuartiges und entscheidendes Problem der Kriegführung geworden. In der Materialschlacht verschärfte sich durch die räumliche Trennung von Offizier und Soldaten, dem Fehlen oder dem Ausfall von Kommunikationsmitteln, das Problem der Steuerung riesiger Massenheere. Der Zerfall militärischer Organisation und die tendenzielle Auflösung hierarchischer Prinzipien verlangten nach einer größeren Eigeninitiative des Einzelnen. ___________________ 5
Freuds bekannte, 1921 erschienene Schrift Massenpsychologie und IchAnalyse versucht die Erkenntnisse Le Bons dynamisch weiterzuentwickeln (Freud 1921). Sozialistische Schriftsteller wie Sorel, Gramsci, Kautsky, aber auch Adorno und Horkheimer beziehen sich in ihren Arbeiten ebenso auf Le Bon. Und auch Politiker wie Theodore Roosevelt, Poincaré oder Clemenceau waren große Bewunderer der Psychologie der Massen, versprach dieses Buch doch so etwas wie ein Machiavelli der Massengesellschaft zu sein. Die konsequenteste Umsetzung der Le Bon’schen Thesen finden wir aber auf der politischen Rechten: „Zwei Politiker haben Le Bon vor allen anderen geplündert. Sie haben seine Prinzipien in die Praxis umgesetzt und ihre Anwendung peinlich genau kodifiziert: Mussolini und Hitler.“ (Moscovici 1986, S. 89) Daneben muss man sicher noch Goebbels nennen, der Le Bon wahrscheinlich sehr genau gelesen hatte.
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DER WILLE ZUR BEWEGUNG
Sein Handlungsspielraum erweiterte sich in dem Maße, wie gefestigte Strukturen verschwanden. Das Gefühl, allein gelassen worden zu sein, konnte durch die neuen „Freiheiten“ aber nicht kompensiert werden. Zwar war man an der Front von den üblichen Schikanen der Vorgesetzten in der Etappe und im Ruheraum weitgehend verschont, aber man war auch abgeschnitten von den Ereignissen. Der einzelne Soldat war einfach nicht darauf vorbereitet, ein anonymes Rädchen in einer Maschinerie zu sein, deren Sinn und Wirkung sich ihm nicht mehr erschloss und die er nun selbst definieren musste. Aber nicht allein die Logik und Anonymität der Materialschlachten, sondern auch die Tatsache der Ausweitung der kriegerischen Handlungen auf den gemeinen Bürger sind für die politisch strikt antiegalitären, sprich: aristokratischen Krieger, verantwortlich für die Erfahrung der Sinnlosigkeit der modernen Schlacht und der aufgelösten (sozialen) Ordnung innerhalb der militärischen Welt. Die bürgerliche Welt, für diese Männer synonym mit Nutzen, Demokratie, Inbegriff von rationalem Kalkül und ökonomischen Interessen, bildet den äußersten Gegenpol zur Welt des Krieges, die als ideelle und metaphysische begriffen wird. Den Typus des heroischen Kämpfers, gereinigt im „Stahlbad“ der Granaten, geschaffen in der Wirklichkeit des modernen Krieges beschreibt Ernst Jünger 1922 in bewusster Abgrenzung gegen den bürgerlichen Dienstpflichtigen mit dem mittelalterlichen Begriff des Landsknechts: „Scharf, wie von einer ganz anderen Rasse, hob er sich ab von den in Waffen gesteckten Spießbürgern, dem in den Volksheeren, diesem militärischen Ausdruck der Demokratie, zuletzt überwiegenden Typ. Das waren Krämer oder Handschuhmacher, mehr oder minder soldatisch überschliffen, die Krieg ausübten als staatsbürgerliche Pflicht, brave Leute, die, wenn es sein musste, auch Helden waren. Aber eines war ihnen Lebensbedingung: Ordnung.“6
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Jünger 1922, S. 59. Der Hass des Kriegers gilt so wesentlich dem Bürger und weniger dem militärischen Feind, den er auf eine gleiche Stufe mit sich selbst stellt. Exemplarisch dafür Ernst Röhm, der den „Kampf auf Leben und Tod […] zwischen Zylinder und Stahlhelm“ (Röhm 1934, S. 61) toben sieht. Die Nationalsozialisten haben allgemein die Ressentiments gegen die Normen des Bürgertums fortgeführt. So findet man etwa in Hitlers Mein Kampf leidenschaftliche Anklagen gegen das Büro, als Stätte der verhassten bürgerlichen Regelmäßigkeit und Sekurität. Nach seiner Ernennung zum Reichskanzler hat Hitler konsequent alle Schreibtischarbeit verweigert. Er war in seinen Augen eben mehr Künstler als Politiker.
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6. KRIEGER UND BÜRGER
Jünger spricht an dieser Stelle eine ganz bestimmte Ordnung an: die, wie er meint, auf Sicherheit bedachte, auf Gleichheit beruhende vernünftige Ordnung der bürgerlichen Welt, ganz in die Sphäre der Ökonomie, der Akkumulation und des Nutzens eingebettet. Er und mit ihm die anderen antiegalitären Krieger träumen dagegen von einer „natürlichen Ordnung“, deren Prinzipien sie, im Widerspruch zu ihrer Kritik an der Masse, annähernd in den Schützengräben und Schlammtrichtern vor Verdun oder an der Somme verwirklicht sahen. Indem die Situation an der Front in aller Schärfe die Vereinzelung des Individuums in einer Massengesellschaft zeigt, wird eine neue Gemeinschaft jenseits der zivilen Ordnung beschworen. In den Schützengräben findet – zugespitzt – die bürgerliche Klassengesellschaft ihr Ende und wird die moderne Massengesellschaft Realität, eine unabdingbare Voraussetzung für den späteren Erfolg der NS-Bewegung. Die heroisierte Frontgemeinschaft ist der Ruf nach neuen Bindungen, nach Hierarchie und Klarheit in einer Zone absoluter Zerstörung und der Auflösung traditioneller Beziehungen. Das industrielle Schlachtfeld erscheint zwar als Symbol der Massengesellschaft, seine Beherrschung ist aber, so die allgemeine und paradoxe Formel der militärischen Elitenträumer, nur ganz wenigen bestimmt – natürlich meinen sie sich selbst –, die sich deutlich vom Rest der in die Zone des Feuers geworfenen abheben. Neben den als natürlich gedachten Voraussetzungen von Befehl und Gehorsam, Über- und Unterordnung, unterscheidet die Verbundenheit mit einem geistigen Prinzip den „Landsknecht“ vom bürgerlichen Dienstpflichtigen. An Stelle einer allgemeinen Wehrpflicht wollen sie ein besonderes Wehrrecht setzen. Denn nur der Krieger führt Krieg um des Krieges willen. „Sie [die Bürger; A.M.] müssen hassen, sie müssen einen persönlichen Grund zum Töten haben. Dass man den Gegner achten kann und ihn trotzdem bekämpfen, nicht als Menschen, sondern als reines Prinzip, dass man für eine Idee einstehen kann mit allen Mitteln des Geistes und der Gewalt bis zum Flammenwurf und zum Gasangriff, das werden sie nie verstehen.“7
Mit den Werten der bürgerlichen Welt, fälschlicherweise mit der Massengesellschaft gleichgesetzt, will der „soldatische Mann“ nichts zu tun haben. Er sucht im Krieg ein „höheres Gesetz“, seine Handlungen und Aktionen sind keiner klaren politischen Logik verpflichtet, der Sinn des Krieges liegt für ihn nicht in territorialen Eroberungen oder der Expansion der Nation, der Sinn des Krieges liegt für ihn einzig in ihm selbst. Die Frage nach dem Warum des Ganzen, die Frage nach den ___________________ 7
Jünger 1922, S. 92.
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Kriegsgründen, wird nicht gestellt oder als irrelevant abgetan. Praktisch nie wird in den literarischen Texten der militanten Frontkämpfer von den politischen oder sozialen Voraussetzungen des Krieges gesprochen, er findet in einem vollkommen leeren, asozialen und zugleich mythisch überhöhten Raum statt. So überschreibt etwa Ernst Jünger das Kapitel von In Stahlgewittern, welches die letzte und vergebliche deutsche Offensive im März 1918 beschreibt mit: Die große Schlacht. Nirgends findet sich in diesem Abschnitt ein konkreter Hinweis auf die objektive militärische und politische Situation, in der Deutschland kurz vor dem Zusammenbruch steht und in der die amerikanische Regierung bereits monatlich 300.000 Soldaten nach Europa sendet. Einzig das eigene Erleben, der persönliche Einsatz und Kampf, ist – losgelöst von allen äußeren Realitäten – Gegenstand der Reflexion. Der Krieg tritt als Selbstzweck auf, als eine höhere Bewegung, die jegliches instrumentelle und das heißt auch politische Verhältnis in eine existenzielle Auseinandersetzung auf Leben oder Tod verwandelt. Selbst das später viel beschworene Opfer für die Nation erscheint, im dem Maße wie die Dolchstoßlegende langsam Gestalt annimmt, zunehmend unwichtiger; was bleibt ist die rein narzisstische Schau auf das eigene Innere. In der Betonung des individuellen Wertes der Person wird die objektive Niederlage zu einer nebensächlichen Begleiterscheinung: „Gewiss, es ist vielleicht schade um uns. Vielleicht opfern wir uns auch für etwas Unwesentliches. Aber unseren Wert kann uns keiner nehmen. Nicht wofür wir kämpfen ist das Wesentliche, sondern wie wir kämpfen.“ 8 Ulrike Haß hat in ihrer Untersuchung Militante Pastorale auf die in diesem Zusammenhang entscheidende Verschiebung in der Selbstkonzeption der Krieger hingewiesen. Im Versuch, die eigene Individualität zu retten, wählen sie den Ausweg in eine transzendente Konzeption: „Um nicht in die anonyme, uniformierte Masse einzugehen [...] wählen sie den Glauben an die besondere kultische und metaphysische Funktion des Kriegers. Damit wird ihnen jedoch der Krieg selbst zur Existenzform, die nur noch auf sich selbst verweist. Außerhalb des Krieges ist ihnen nichts mehr heilig und kein Leben denkbar. Das heißt aber auch, dass die Funktion des Kriegers keine mehr ist. Sie verweist auf nichts anderes mehr als auf die Kriegerexistenz
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Ebd., S. 79. (Herv. A.M.) Erinnert sei in diesem Zusammenhang an Himmlers Devise für die SS, „dass man niemals um einer Sache selbst willen handeln soll.“ Der Inhalt des Handelns spielt keine Rolle, entscheidend ist das reine Funktionieren, abstrahiert von jeder normativen Setzung. Das ist die ideale mentale Voraussetzung für die Arbeit der SS in den Vernichtungslagern und den Erschießungskommandos hinter der Front.
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selbst. [...] Die nach 1918 zu Kriegern werden verlängern nur mehr die ‚Lehren‘ der Vernichtungsarbeit des Maschinenkrieges.“9
Nicht Masse sein, hervorzuragen, das ist die psychisch wichtigste Figur der Verarbeitung des Kriegserlebnisses durch die Mehrzahl der nationalistischen Kriegsliteraten. Die Gewalt der technischen Destruktionsmittel und die Erfahrung der eigenen Ohnmacht werden zwar nicht durchweg verleugnet, dennoch wird eine (uralte) Figur des Kriegers angerufen, der auch den neuen Bedingungen standhalten soll. Im Verlauf des Krieges wird er für seine Propheten langsam, aber immer deutlicher in den Überlebenden der Materialschlachten sichtbar. Friedrich Georg Jünger hat den Krieger der Zukunft im Frontkämpfer des Jahres 1918 gesehen. Zugleich kommt in folgendem Zitat auch die Abwehr der gegenteiligen Wirklichkeit, die von Artillerie und Granaten zerfetzten und verstümmelten Gesichter, die so genannten „Kriegsfressen“, zum Ausdruck: „Der Wandlung des Kampfes entspricht die Wandlung der Kämpfenden. Sie wird sichtbar, wenn man die geschwungenen, schwerelosen, begeisterten Gesichter der Soldaten des August 1914 mit den tödlich ermatteten, hageren, unerbittlich gespannten Gesichtern der Materialschlachtkämpfer des Jahres 1918 vergleicht. Hinter dem Bogen dieses Kampfes, der, steiler gespannt, endlich zerspringt, erscheint unvergesslich ihr Gesicht, geformt und bewegt von einer gewaltigen, geistigen Erschütterung, Station um Station eines Leidensweges, Schlacht um Schlacht, deren jede das hieroglyphische Zeichen einer angestrengt fortarbeitenden Vernichtungsarbeit ist. Hier erscheint jener soldatische Typus, den die hart, nüchtern, blutig und pausenlos abrollenden Materialschlachten durchbildeten. Ihn kennzeichnet die nervige Härte des geborenen Kämpfers, der Ausdruck der einsamen Verantwortung, der seelischen Verlassenheit. [...] Der Weg, den er ging, war schmal und gefährlich, aber es war ein Weg, der in die Zukunft führt.“10
Diese Zeilen, 1930 geschrieben, nehmen das nationalsozialistische Menschenbild vorweg. Hart, mitleidlos, einsam und verlassen war einzig der Frontsoldat imstande, die großen Aufgaben für Deutschlands Zukunft zu lösen. Folgerichtig erscheint die Einbeziehung der Massen, gemessen ___________________ 9 10
Haß 1993, S. 95. Herv. im Orig. Jünger, F. G. 1930, S. 65. Diese Krieger fühlen sich dem Material gewachsen, sie nehmen Haltung an. „Das haben wir auch kennen gelernt, dieses Gefühl, dass der Mensch dem Material überlegen ist, wenn er ihm die eigene Haltung entgegenzustellen hat, und dass sich kein Maß und Übermaß der äußeren Gewalten ausdenken lässt, das den Widerstand eines mutigen Herzens brechen kann.“ (Jünger 1925b, S. 451)
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an den Anforderungen der modernen Materialschlachten, als ein verhängnisvoller Fehler der militärischen Gesamtkonzeption. Die Masse hat dem blutigen Spiel des Krieges wieder fernzubleiben. Der Krieg muss, so der Schluss aus Erfahrungen wie Verdun, wieder an die Spezialisten übergeben werden: „Das Fiasko der Millionenheere gehört der Weltgeschichte an. [...] Nach den Erfahrungen des Weltkriegs muss der Weg des Heerwesens der Zukunft zu kleineren Frontheeren führen, die technisch vorzüglich ausgestattet, das beste Menschenmaterial in sich vereinigen. [...] Die Menschenmasse ist in der Materialschlacht nichts mehr, sie ist sogar ein Übel. [...] Die Elite des Heeres, seine Garde, der Mann mit Nerven wie Stahl, die haben es geschafft. Sie allein können den Ruhm für sich in Anspruch nehmen, Sieger über das Material geblieben zu sein.“11
Aufgrund dieser Überzeugung kommt der zitierte Major George Soldan zum eindeutigen Schluss: „Die Massenheere haben im Zeitalter der Materialschlachten ausgespielt.“ 12 Dass diese Position nicht auf einige militärische Außenseiter beschränkt war, zeigt sich daran, dass der nach dem Kapp-Putsch 1922 zum Chef der Heeresleitung ernannte Generaloberst Hans von Seeckt (1866-1936) dieselbe Auffassung vertrat. Seeckt befürwortete nach den Erfahrungen des Krieges ein kleines Berufsheer aus qualifizierten Spezialisten gegenüber einem Massenheer. Colmar von der Goltz (1899) und Friedrich von Falkenhausen (1909) hatten schon vor dem Weltkrieg kritische Gedanken zu Massenheeren geäußert. Ähnlich waren auch Seeckts Überlegungen: „Der innere Wert des Heeres hat mit ihrer Vergrößerung durch die allgemeine Wehrpflicht gelitten, der rein militärische ebenso wie der moralische.“ 13 Angesichts des Stellungskrieges an der Westfront ist es für Seeckt die Masse, die der Bewegung als entscheidende Kraft des Angriffs eine starre Grenze setzt. „Die größere Masse hatte schließlich die geringere erdrückt; aber es hatte Zeit und auch einen für die Sieger verderblichen Verbrauch an Kräften gekostet. Es war ein Ermattungs-, kein Vernichtungserfolg geworden. Hierfür lagen die Gründe auf der Hand. Die Qualität der Heere hatte mit ihrem Anwachsen nicht Schritt halten können. Die Masse hindert die Beweglichkeit. [...] Dass dieser Erkenntnis gegenüber die Frage entsteht, ob der bisherige Kult der Masse noch berechtigt ist, erscheint natürlich.“14 ___________________ 11 12 13 14
Soldan 1925, S. 37. Ders., S. 40. Seeckt 1930, S. 44. Ders., S. 35f. (Herv. A. M.) Und an anderer Stelle schreibt er: „Vielleicht hat sich das Prinzip des Massenheeres, des Volksaufgebotes schon heute
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Dass verbesserte Waffentechnik und Industrie im Wesentlichen die Bewegung an der Westfront einschränkten, wird von Seeckt an dieser Stelle unterschlagen. Seine Vorschriften für die Reichswehr beschäftigten sich dann auch konsequenterweise gar nicht mehr mit dem Stellungskrieg. Sein Interesse gilt der Führung von vorne, der Beweglichkeit und dem Einsatz von Luftflotten. Der Schluss aus seinen Studien und seinen Überlegungen zum vergangenen Krieg lautete: „Auf Grund der gemachten Erfahrungen des Krieges wird sich allmählich die Erkenntnis durchsetzen, dass die Zeit der Massenheere vorüber ist und dass die Zukunft kleine hochwertige Heere bringen wird, welche geeignet sind, schnelle und entscheidende Operationen durchzuführen und damit dem Geist wieder über die Materie zu verhelfen.“15 War die Reichswehr Seeckts aufgrund des Versailler Vertrages nach 1918 mit ihren 100.000 Soldaten ein wirkliches Eliteheer, hat Hitler mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht dem Gedanken einer kleinen Heereselite schließlich eine Absage erteilt. Nicht, dass er dem Gedanken der Elite fremd gegenüberstand, in einzelnen, insbesondere den motorisierten Divisionen der Waffen-SS und der Wehrmacht, findet man elitäre Verbände, und auch Hitlers rassentheoretische Visionen spiegeln ein Elitedenken wider. Aber er war vor allem ein Massen- oder Volksführer und nur als solcher in seiner politischen Wirksamkeit verständlich. Er verachtete die Masse, die er als weiblich und passiv kennzeichnete zwar ebenso wie die Kriegeraristokraten, war sich aber ihrer Wichtigkeit für seinen eigenen Erfolg im Klaren. Er erkannte und betonte zwar die Bedeutung moderner Waffen, die dann zu Kriegsende zu grotesken Erwartungen hinsichtlich ihrer Wirkungen führte (etwa bei den Raketengeschossen V1 und V 2), verblieb aber dennoch in der
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überschlagen, die fureur e nombre steht am Ende. Die Masse wird unbeweglich; sie kann nicht mehr manövrieren, also nicht siegen; sie kann nur erdrücken.“ (Ders. 1929, S. 86, Herv. im Orig) Dennoch kam es während der Führung Seeckts, unter der Umgehung des Versailler Vertrags, ab 1919 zu einer geheimen Heeresverstärkung die unter dem Namen „Schwarze Reichswehr“ bekannt geworden ist. Sie war offiziell nicht anerkannt, erhielt aber bis 1924 Waffen und Ausbildner von der Reichswehr. Ders. 1930, S. 67. Der von jüngeren Reichswehroffizieren wie Guderian, Manstein oder Rommel schließlich umgesetzte Bewegungskrieg war ganz dem Geiste Seeckts verpflichtet. Dieser wurde, für viele Anhänger bedauerlicherweise, 1926 vom damaligen Reichskanzler Marx entlassen, da er einen Hohenzollern-Prinzen an Reichswehrübungen ohne Genehmigung teilnehmen ließ. In den 30er Jahren war Seeckt militärischer Berater des chinesischen Generals Chiang-Kai-shek.
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Massen- und Tonnenideologie des Ersten Weltkriegs. 16 Große Zahlen beeindruckten und berauschten ihn immer, und nirgends findet sich in Mein Kampf die Forderung nach einem aristokratischen Berufsheer von Spezialisten. Vielmehr sollte das ganze Volk auf den kommenden Rassenkampf vorbereitet werden. Deutschland gegen den Rest der Welt, Riesenmassen, die aufeinander trafen – das waren seine Lieblingsvisionen. Das unterschied ihn von aristokratischen Offizieren wie Seeckt oder Männern wie Salomon und Jünger. Die von den Nationalsozialisten spätestens nach dem gescheiterten Putsch 1923 umworbene Masse verkörpert für die soldatischen Autoren der Weimarer Republik die Schrecken der bürgerlichen Lebenswelt schlechthin. Lohnarbeit, Arbeitsplatz, Mietschulden, Ehe, Regelmäßigkeit, kurzum, das Zivilleben als Ganzes wird zum Gegenstand der Abscheu. Bürgerliche Gesinnung und bürgerliche Werte, das war die Negativfolie für ihre eigene Abgrenzung von der bestehenden Welt. Antibürgerlich zu sein war aber darüber hinaus eine Art Modeerscheinung unter der jüngeren Generation der Weimarer Republik geworden und traf deshalb auf breite Resonanz. Die Verachtung alles Bürgerlichen bringt der Freikorpskämpfer Ernst von Salomon exemplarisch in seinem Aufsatz Die Versprengten auf den Punkt: „Die Versprengten waren antibürgerlich aus Instinkt. Die Haltung des vergangenen Jahrhunderts hatte vor ihrer einzig ernsthaften Probe, vor der Härte des Weltkrieges, nicht bestanden. Darum musste dem Krieger diese Haltung verächtlich sein. Darum musste er die Ordnung, die von dieser Haltung geschaffen wurde, verneinen.“17
Immer wieder stellt der imaginierte Held und „stählerne Einzelne“ den Gegenpol zum Bürger und Massenmenschen dar. Die Masse, das ist in den Augen ihrer soldatischen Kritiker der „reine Physiologismus“ der Wehrpflicht, der, so könnte man sagen, die neuen instrumentellen Machttechniken einer beginnenden Moderne unmittelbar ausspricht. Das Zeitalter der kriegerischen Symbole, die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Elite, die Repräsentanzfunktion des Kriegers, alle ___________________ 16
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Vgl. dazu Keegan (2000, S. 436), der zustimmend Albert Speer zitiert: „Sein [Hitlers; A.M.] technischer Horizont schloss allerdings, wie sein Weltbild, seine Kunstauffassung und sein Lebensstil, mit dem Ersten Weltkrieg ab.“ Salomon 1929, S. 113. Plakativ und zynisch zugleich formuliert Ernst Röhm diese Tatsache in seiner Geschichte eines Hochverräters: „Da ich ein unreifer und schlechter Mensch bin, sagt mir der Krieg und die Unruhe eben mehr zu als die brave bürgerliche Ordnung.“ (Röhm 1934, S. 363.)
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diese qualitativen Zeichen und Zuordnungen sind nun verschwunden. Mit ihrem Verschwinden entsteht ein Vakuum bei der Selbstverortung, eine Ratlosigkeit, die sich nur noch auf ein vergangenes Zeitalter berufen kann. Die moderne Welt zerstört für den elitären Krieger die alten Werte und verändert die Idee des Krieges. Die Tauglichkeit, einst Ausweis von Mut und Tugend des Soldaten, wird so zur rein medizinischen Indikation: „Es war eine natürliche Erscheinung der Massenaufgebote, dass der innere Gehalt der Heere schlechter wurde. Soldat wurde, wer vom Militärarzt als diensttauglich befunden war. Diese Diensttauglichkeit aber war rein körperlicher Art.“18 In der unterschiedslosen Aufnahme aller in das kaiserliche Heer, der Gleichsetzung der Massenheere mit den Eigenschaften des biologischen Körpers, sieht der Krieger einen endemischen Fehler der militärischen Führung. „Menschen des Nutzens“ (Salomon) können keinen Krieg nach moralischen Grundsätzen führen. „Die bürgerliche Gesinnung des letzten Jahrhunderts, die alles gleich gemacht hatte, besaß keinen Sinn, kein innerliches Gefühl für die Grenze mehr, keinen Takt vor dem Kriege.“19 Nur hatte sich der Krieg stärker gewandelt, als es Männer wie Salomon wahr haben wollten. Der Soldatentod, einst das heroische Opfer für das Vaterland und Verbindung zur transzendenten Welt des Krieges, wird zu einer anonymen Vernichtung von in den Krieg geworfenen Körpern. Mit den gesellschaftlichen und psychischen Strukturen des 19. Jahrhunderts löst sich auch der bis dato bekannte Raum in Nichts auf. „Die Schlacht bedient sich nicht nur in steigendem Maße der Maschine, sie wird auch als Ganzes vom Geist durchsetzt, der die Maschinen schafft.“20 Die menschlichen Sinne können der veränderten äußeren Welt nicht mehr folgen, sie bleiben blind für die neuen Realitäten des Krieges. „Materialschlacht bedeutete den Verlust optischer Zusammenhänge, die Zertrümmerung geometrischer Strukturen, das Fehlen wahrnehmbarer räumlicher Kohärenz.“21 Der unermüdliche Terror der Maschine zerstört alle menschlichen Bindungen, die immer auch auf einem Minimum von gesicherten Orten und Räumen beruhen. Die von den Überlebenden oft zitierte Einsamkeit des Frontkämpfers ist nur die erstmals in aller Konsequenz sichtbare Vereinzelung des modernen Menschen in einer atomisierten Gesellschaft. In einen vollkommen asozialen Raum ___________________ 18
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Soldan 1925, S. 79. „Krieger ist man nicht mehr durch seinen Status, seine Position, seine Herkunft, seinen Beruf. Sondern Krieger ist man nur mehr durch ‚Männlichkeit‘, die Geschlechtsfähigkeit im physischen Sinn.“ (Haß 1993, S. 117.) Salomon 1930, S. 121. Jünger 1930a, S. 120. Kaufmann 1996, S. 258.
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geworfen, muss der Soldat an diesem „Nicht-Ort“ seine Existenz verorten. Und auch wenn er überlebt, wird er kaum mehr imstande sein, normale Räume, sprich: die zivile Welt, zu bewohnen. Exemplarisch dafür die Gedanken von Remarques Protagonist, des Soldaten Paul Bäumer, in Im Westen nichts Neues: „Wären wir 1916 heimgekommen, wir hätten aus dem Schmerz und der Stärke unserer Erlebnisse einen Sturm entfesselt. Wenn wir jetzt zurückkehren, sind wir müde, zerfallen, ausgebrannt, wurzellos und ohne Hoffnung. Wir werden uns nicht mehr zurechtfinden können. [...] Ich bin sehr ruhig. Mögen die Monate und Jahre kommen, sie nehmen mir nichts mehr, sie können mir nichts nehmen. Ich bin so allein und so ohne Erwartung, dass ich ihnen entgegensehen kann ohne Furcht. Das Leben, das mich durch diese Jahre trug, ist noch in meinen Händen und Augen. Ob ich es überwunden habe, weiß ich nicht.“22
Ähnlich wie Remarque thematisiert auch Ernst Jünger seine zunehmende Unsicherheit im Verlauf des Krieges: „Ich habe mich sehr verändert durch den Krieg und glaube, dass es wohl der ganzen Generation so gegangen ist. Mein Weltbild besitzt nicht mehr jene Sicherheit; wie sollte das auch möglich sein, bei der Unsicherheit, die uns seit Jahren umgibt.“23 Die an vielen Stellen zum Ausdruck kommende Arroganz des elitären Kriegers und Landsknechts zeigt an dieser Stelle eine massive Verunsicherung. Die Wirklichkeit des Schlachtfeldes und des Krieges entspricht einer Realität, die Heroismus und Individualität zu lächerlichen Phrasen machen. Pausenlos Tod und Zerstörung ausgesetzt, schwankt der einfache Soldat zwischen Fatalismus und dem Gefühl eines Verlustes. Nach Jahren des Ausharrens, der Sturmangriffe, des Grabenkampfes, ist der Tod ein ständiger Begleiter geworden. Nicht die Tatsache des Todes, sondern die unzähligen Möglichkeiten des Sterbens und Leidens werden für den Soldaten unerträglich. Die Arbeit der Vernichtungsindustrie, Artillerie, Mörser, Minen, teilt und zerkleinert den Körper und vermischt ihn mit dem Boden des Schlachtfeldes. Der Soldat stirbt nicht mehr nur einfach oder fällt im Felde, er wird buchstäblich aufgerieben und aufgelöst. Die Gegend um Verdun war (wie viele andere an der Westfront) ein einziger Friedhof mit immer wieder von den Artilleriegeschossen freigelegten Massengräbern, Schichten von Toten und Verwesenden. Bis dahin nie gesehene Wunden und grausam verstümmelte Körper zeugen von der Zerstörungswirkung der neuen Waffentechnologien und ihrer Konzentration auf vergleichsweise kleine Frontabschnitte. Die Zerstückelung des Körpers bis zu ___________________ 22 23
Remarque 1993, S. 262f. Jünger 1922, S. 82.
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seiner buchstäblichen Auflösung anonymisiert den Tod des Einzelnen, der nun nichts Heroisches mehr besitzt. „Seine Kampfkraft ist kein individueller, sondern ein funktionaler Wert; man fällt nicht mehr, sondern man fällt aus.“ 24 Zugleich besitzt auch das Töten keinen metaphysischen Wert mehr, der über den bloßen Akt hinausweist. Gott, Kaiser, Vaterland sind zwar in aller Munde, aber für den einfachen Soldaten zunehmend leere Worthülsen. So gibt es keine Entschuldung für das Töten mehr, die einem tieferen Sinn unterstellt wäre. Die alte Kriegerkaste, und damit eine bis dorthin geltende gesellschaftliche Ordnung, hat in den Abnutzungsschlachten des Ersten Weltkriegs endgültig aufgehört zu existieren. Manchmal kommt sogar Autoren wie Ernst Jünger die Einsicht, dass das bereits verzweifelt angerufene Heldentum damit endgültig Geschichte ist: „Hier deckt das Zeitalter, dem wir entstammen, seine Karten auf. Die Herrschaft der Maschine über den Menschen, des Knechts über den Herrn wird offenbar, und ein tiefer Zwiespalt, der schon im Frieden die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnungen zu erschüttern begann, tritt auch in den Schlachten tödlich hervor. Hier enthüllt sich der Stil eines materialistischen Geschlechts, und die Technik feiert einen blutigen Triumph.“25
Zugleich produziert die Kriegslogik eine Erosion des Sozialen, das eine radikale Umgestaltung erfährt. Stand, Klasse, soziale Lage werden belanglos in dem Maße, wie die Technik den einzelnen atomisiert und das Gefühl der „grenzenlosen Einsamkeit“ produziert. Es ist, wie Hannah Arendt in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft ausführt, die „eigentümliche Individualisierung und Atomisierung der modernen Massengesellschaft“26, die jene ermöglicht. Gerade die radikale Autonomie stellt die Grunderfahrung nach 1918 dar. Die Integrationswirkung der alten Symbole verliert in der Kontaktierung von als übermächtig erfahrener Technik und vereinzeltem Individuum ihre Plausibilität und Wirksamkeit. In den meisten Texten der späten 20er- und 30er Jahre, in denen aristokratische Offiziere und Schützengrabenliteraten versuchen, ihre militärische und soziale Stellung in einem zukünftigen Krieg zu sichern, ___________________ 24 25
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Ders. 1932, S. 111. Herv. A.M. Ders. 1925a, S. 450. Ähnlich Wilhelm von Schramm (1930, S. 40): „So hat kein einzelnes Volk mehr, sondern die ganze Zeit, die Gesinnung und Weltanschauung des ganzen 19. Jahrhunderts, im Westen wenigstens, eine furchtbare Niederlage erlitten. Millionen Erschlagener haben die Irrreligion und die Herzenshärte ihrer Väter und Großväter im Richterfelde Verduns, der Somme und Flanderns sühnen müssen.“ Arendt 1991, S. 515.
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finden wir den (ambivalenten) Versuch, eine alte Ordnung zu reproduzieren. Ihre Kritik reagiert auf die Wahrnehmung der Massengesellschaft, für die sie, wie Hitler, aber ohne seine politische Konsequenz, die Masse zu „gewinnen“, und trotz mancher rhetorischen Betonung einer Inklusion der Volksmassen, nur Verachtung übrig haben. Während die NSDAP von Beginn an versucht, die Masse zu organisieren und ihr eine Richtung zu geben, hält sich der aristokratische Krieger in den meisten Fällen konsequent von ihr fern. Aber auch die NSDAP war letztlich eine revolutionäre Ordens- und Elitebewegung, die zwar die Massen für ihre Ziele mobilisierte, sie aber auf keinen Fall politisch verantwortlich zu beteiligen dachte. Für einen Offizier wie Wilhelm von Schramm wird mit dem Einbezug der Masse in den Krieg eine die ganze Geschichte des Abendlandes hindurch gültige Ordnung entweiht und sie zerstört die große Idee des Krieges. In selbstherrlicher Pose, die die Stellung des Kriegers für die Zukunft retten will, beschreibt er sich selbst und seine Gleichgesinnten, in Abgrenzung zu den „Plebejern der Massengesellschaft“, als direkten Nachfolger einer alten militärischen Elite: „Die vermeintlichen Volksheere sind bald zu Massenheeren geworden. Das Ritterliche, die hohe Gesinnung des echten Soldaten, der Geist [...] hat in der Masse des Militärs nicht gedeihen können. Die Gesinnung der Zeit, die alles andere als groß, gläubig, heroisch war, drang immer bestimmender in die Militärmassen herein. Man hat, ganz im Sinne des gleichmachenden Materialismus und ohne Instinkt für die Unterschiede und Eigenschaften des Blutes, die kriegerische Auseinandersetzung zwischen den Völkern zur Sache aller machen wollen, aber man hat damit nur den hohen Geist des soldatischen Streites nivelliert. Man hat nicht mehr vermocht, die Auseinandersetzung einer Elite, der dazu durch Blut, Gesinnung, ererbter Neigung bestimmten Ober- und Führerschicht der Nation und Ihrer Gefolgschaft zu überlassen.“27
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Schramm 1930, S. 40. Herv. A.M. Auch das Kriegsministerium widersetzte sich bis in die letzten Vorkriegsjahre „aus Gründen des gesellschaftlichen Konservatismus drastischen Heeresvergrößerungen; Denn diese hätten die Dominanz des Adels im Offizierkorps und der Bauernschaft bei den Rekruten erschüttert.“ (Radkau 2000, S. 446) Der erwartete Krieg setzte diesem Zögern schließlich ein Ende, da es sich das deutsche Heer nicht leisten konnte bei der Mobilmachung hinter Frankreich und Russland zurückzufallen.
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6 . 2 . D i e E l i te Blut ist nicht nur für den zitierten Wilhelm von Schramm das Kriterium der Auswahl und Besonderheit. Seine Kritik an der unterschiedslosen Einberufung der Männer aus Stadt und Land in die Zone des Feuers reagiert unbewusst auf den zunehmenden Bedeutungsverlust der sozialen Zeichensysteme. Wie der französische Sozialphilosoph Michel Foucault in Der Wille zum Wissen ausführt, verdrängt und überlagert die Analytik des Sex, hier: des Körpers in seinem rein physiologischen Sinne, im 19. Jahrhundert sukzessive die alte Symbolik des Blutes. Aus der Sorge um den Stammbaum wurde die Besorgnis um die Vererbung. Während das Blut auf der Seite des Gesetzes, des Todes, der Überschreitung und der Souveränität steht, gehört die Sexualität dem Bereich der Norm, des Wissens, der Disziplin und der Regulierung an. Der aristokratische Krieger fordert nun in gewisser Weise eine Unterbrechung dieses Überganges, das Zerreißen einer Kontinuität, die bereits tief in den gesellschaftlichen Normalisierungspraktiken verankert ist. Er beschwört wieder die Metapher des Blutes und ruft die alten Mächte und ihre metaphysischen Kräfte an. Das Blut ist für ihn die letzte Ordnung der Zeichen, entzieht sich aber allen Erklärungen. 28 Nur nimmt der aristokratische Krieger im Gegensatz zum späteren Staatsrassismus der Nationalsozialisten keine allgemeine Überlegenheit des (arischen) Blutes an. Blut ist für ihn kein Massensymbol. Es ist das „Blut seiner sozialen Herkunft“, das Privileg seines Standes, dass den Adligen zum Krieger prädestiniert. In der Ideologie der Freikorps und Landsknechte, zumeist Männer aus den mittleren Schichten der Bevölkerung, ist die Metapher des Blutes zwar auch noch vorhanden, aber nur „noch als ideeller Rest aus der Figur des Kriegeraristokraten zu erkennen.“29 Auch der Landsknecht und Freikorpskämpfer wehrt sich gegen die Dominanz der Masse, fühlt das Blut aber mehr als er es von Geburt an besitzt. Vor allem fühlt er es durch seine „stereometrische Figur“ (Canetti) fließen, es ist der Strom, der ihn am Leben und in Bewegung ___________________ 28
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Beispielhaft kann hier der manchmal als Chefideologe der NSDAP überschätzte Alfred Rosenberg zitiert werden. Wir müssen, schreibt Rosenberg, in seinem Mythos des 20. Jahrhunderts, „ehrfürchtig anerkennen, dass die Auseinandersetzung zwischen Blut und Umwelt, zwischen Blut und Blut die letzte uns erreichbare Erscheinung darstellt, hinter der zu suchen und zu forschen uns nicht mehr vergönnt ist.“ (Rosenberg 1943, S. 23. Herv. im Orig.). Das Spezifische des Rassismus eines Chamberlain oder Rosenberg bestand nicht in der biologischen, sondern genau in der mystischen Bestimmung des Blutes als Träger der Rassenseele. Haß 1993, S. 99, Herv. A.M.
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hält. Blut ist so weniger eine symbolische Kategorie als eine seines Körpers, eine energetische Kategorie, der Treibstoff, der den Krieger am Leben hält. Im Freikorpsmann findet der Kriegeraristokratismus seinen letzten Repräsentanten, der die symbolischen Restbestände der alten Idee des Privilegs des Krieges in sich vereinigt. Nach der Niederlage des „besten Blutes“ muss der Dolchstoß in den Rücken die Erklärung für die Niederlage liefern. Aber so lange noch etwas von der Energie und der Kraft des Blutes da ist, so der Glaube, ist nicht alles verloren. Doch noch fehlt der Ausdruck, die Übersetzung des körperlichen Attributs in geistige Überlegenheit. In diesem Sinne schreibt Heinz Schauwecker 1934 – die Nürnberger Rassegesetze sind gerade verabschiedet worden – über die Elite der Frontsoldaten, die als Repräsentanten der nationalsozialistischen Idee gelten: „Sie haben das im Instinkt, was andere nicht mal in ihrer Intelligenz besitzen. Sie haben es im Blut. Es ist ja unsere Tragödie heute, dass wir alles Notwendige nur im Blut haben. Das ist das wichtige, das es noch da ist. Aber es ist nur im Keim da. Und es scheint mir unsere große Aufgabe zu sein, es weiter zu treiben mit allen Mitteln, damit es aus dem Blut in den Geist hinüberschlage, damit es ins Bewusstsein eingehe. Wir müssen das denken können, was wir heute nur fühlen.“30
Nach der Niederlage 1918 ist noch niemand da, der diese Übersetzung leisten könnte. So bleibt für einen großen Teil der militanten Kräfte nur die Fortsetzung des Krieges an anderen Orten, gegen neue Gegner. Ihr blinder Aktionismus ist wohl das beste Zeichen für den Verlust aller sozialen und politischen Sicherheiten und Überzeugungen. Der Freikorpsmann als gewalttätiges Symbol der Frontgeneration sucht nach einem Ort, einer Existenz, er braucht die Gruppe und nicht zuletzt das Gefühl einer Aufgabe. All das findet er im Krieg, so wie er ihn erträumt, aber die Wirklichkeit der modernen Welt und ihre Prinzipien holen ihn unerbittlich ein. Die Masse, die Technik, die Wegnahme des Raumes – all das muss er erleben. Nach Kriegsende kämpfen Freikorps im Baltikum gegen die „Roten“, eine kurzfristige Befreiung vom Druck der neuen Realitäten. Aber der Untergang der alten Welt ist nur noch eine Frage der Zeit. „Einmal stand sie mit uns noch auf, die alte Zeit, in dreifachem Sinn stand sie noch einmal auf! Zum ersten im Soldatischen: Einmal noch tat hier im Osten der Krieg so, als ob es kein Verdun gegeben hätte. Einmal noch kämpften wir als echte Reiter, ließen eine schon fast vergessene Waffe glänzen, unsere alte ___________________ 30
Schauwecker 1934, S. 378.
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Lanze. Aber die Tanks rasselten heran und unsere Pferde brachen zusammen [...] Zum zweiten im Materiellen. Einmal noch lebten wir in weiten Räumen, trafen wir fast täglich Menschen, denen Fürstentümer eigen waren. Aber der Raum wurde uns genommen und die baltischen Fürsten fielen [...] Zum dritten im Geistigen: Einmal noch konnte jeder von euch hier Individuum sein, zwängte seinen Geist nichts ein. Aber schon meldet sich die Masse an, will sich von Ost und West auf uns wälzen [...] Zu Ende das ritterliche Soldatentum, zu Ende die Weite des irdischen Raumes, zu Ende die Grenzenlosigkeit des Einzelgeistes.“31
Es scheint paradox, dass gerade die Freikorps als militärische Organisation den Geist des Einzelnen herbeirufen. Aber für ihre Sprecher brachten die großen Materialschlachten des Krieges die Bedeutung des individuellen Kämpfers nicht zu Fall, im Gegenteil, gerade weil die Masse der neuen Realität nicht standhalten kann, müssen Einzelne das Geschehen überragen. Der Weltkrieg brachte immer mehr den tiefen Riss im kaiserlichen Heer von 1914 zum Vorschein, der die gesellschaftliche Kluft zwischen den aktiven Berufsoffizieren von Adel und den aus ihren bürgerlichen Berufen eingezogenen Reservisten zeigte. Im Grabenkampf spielen diese sozialen Unterscheidungen in den Augen der radikalen Krieger immer weniger eine Rolle. „Der Krieg, in dem der Geringste der Söhne Deutschlands mit mir das gleiche Schicksal teilte, mit mir Schulter an Schulter im Kampf stand und dem Tod ins Auge blickte, hat die Schranken, die die bürgerliche Gesellschaftsordnung zwischen ihm und mir einst aufgerichtet hatte, für immer niedergerissen“, so der spätere SA-Führer Ernst Röhm.32 Die Differenz Offizier vs. Soldat wird nun durch die Unterscheidung Front vs. Etappe ersetzt. Selbstverständlich muss man die ideologische Komponente und die nachträgliche Idealisierung all dieser Beschwörungen berücksichtigen.33 Aber es wäre zu einfach, hier eine rein fiktive Erfahrung zu unterstellen, die den August 1914 und die Front quasi nur retrospektiv zum Vorbild wählt. Ein Stück weit formuliert sich in diesen Erfahrungen die allgemeine historische Situation der beginnenden Moderne, in der neue soziale Bindungen und Gruppierungen im Entstehen sind. Die Mate___________________ 31 32 33
Dwinger 1935, S. 436. Röhm 1934, S. 307. Theoretisch präziser wäre es hier, vom Gesetz und nicht von Ideologie zu sprechen. Denn die „alte Ordnung“, auf die sich die Krieger beziehen, ist Gesetz und Bestimmung, nicht Ideologie. Deswegen bleibt ihr Handeln stumm, aber folgerichtig, wie Ernst von Salomon (1934, S. 11) in seinem Aufsatz Die Gestalt des deutschen Freikorpskämpfers schreibt. Die Gewalt, die daraus hervorgeht, kann man in den Romanen der Freikorpsmänner deutlich sehen.
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rialschlacht spitzt die Erfahrung der Anonymität und die Zerstörung traditioneller Bindungen nur zu, und deswegen finden wir in ihren politisierten Protagonisten und Teilnehmern die lautesten Rufer nach der Bedeutung des Einzelnen in einer neuen Gemeinschaft. Im Versuch, den Einzelnen die kriegsgeschichtliche Bedeutung zurückzugeben, wird der Tod der Masse auch billigend in Kauf genommen. Sie ist, so die zynische Auffassung, ohnehin nur eine statistische Zahl, die auf die Kampfkraft in den Trichterlandschaften nur eine geringe Wirkung hat. So kommentiert Ernst Jünger den 1918 allgemein durchgeführten Befehl, die Stollen in der vordersten Linie nicht mehr tiefer als 2 Meter zu graben, um schneller auf die feindlichen Offensiven reagieren zu können, mit den Worten: „Ein solcher Befehl, der Hunderttausende bloß und schutzlos ins Feuer wirft, schließt eines der größten Todesurteile in sich, die je verhängt worden sind. Aber die Zeit arbeitet mit gewaltigen Mitteln, und es kommt im Kampf um ein grauenhaftes Trümmerfeld, auf dem sich zwei Weltbilder begegnen, nicht auf die tausend Menschen an, die vielleicht vor dem Verderben zu retten sind, sondern darauf, dass das überlebende Dutzend so rechtzeitig zur Stelle ist, dass es seine Maschinengewehre und Handgranaten entscheidend ins Treffen bringen kann.“34
Die Masse ist nichts, der einzelne Kämpfer entscheidet die Schlacht. Jünger schrieb diese Zeilen 1925 und wir haben gesehen (Kapitel 5.3.), dass diese Auffassung einer anderen weichen wird, die spätestens ab 1930 versucht, der Realität der industriellen Feldschlacht näher zu kommen. In oben zitierter Schrift hält er aber an der Differenz von Freiwilligem vs. Wehrpflichtigem fest. Dem bürgerlichen Prinzip der Pflicht hält auch er den Krieg als Vorrecht Einzelner entgegen. Eine radikale Version der Individualisierung, die keine Bindung an gesellschaftliche Organisationen und Normen mehr kennt. Selbst die propagierte Gemeinschaft der Front bleibt exklusiv. Der antimoderne Reflex der aristokratischen Krieger ist deshalb in einem entscheidenden Punkt nicht vereinbar mit dem späteren Staatsfaschismus. Der heroische Typus bleibt letztendlich Einzelgänger. „Wir sind sehr einsam geworden“, schreibt 1930 Wilhelm von Schramm, der wie Ernst von Salomon nie in die NSDAP eingetreten ist, „ohne anderen Halt, als den wir uns selbst errungen haben – aber dies ist der echt soldatische, ja der heroische Hintersinn dieser Zeit. Versuchen wir nicht, uns wieder künst-
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Jünger 1925a, S. 317.
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lich zu binden oder zu organisieren, selbst dann wenn manches leichter erscheint.“35 Aber wenn auch die elitäre Gedankenwelt der Krieger, ihre Weigerung, Masse zu sein, von den Nationalsozialisten in Teilen als reaktionär verworfen, ihre Überzeugung von der Kraft des Blutes ubiquitär wurde, so haben sie doch wesentlich zur Glaubensform des Krieges beigetragen. Ihre heroische Ästhetik, die in der Angleichung des Körpers an die Maschine gipfelt, spricht in deutlicher Weise den kaum verhüllten Menschheitstraum der faschistischen Bewegungen aus. 36 Im Gegensatz zu den zitierten Autoren will der Nationalsozialismus aber die Mobilmachung der Massen, eine umfassende Entfaltung der gesellschaftlichen Energien für eine letzte große Auseinandersetzung auf Leben und Tod. Das, was man als die Spezifik des Nationalsozialismus und seine Anziehungskraft bezeichnen könnte, besteht vielleicht in der „Adelung eines ganzen Volkes“. Die von den Nationalsozialisten viel zitierte Volksgemeinschaft als biologische Fiktion war natürlich in der Propaganda nur das Gegenstück zur klassenlosen Gesellschaft der Marxisten. Aber der Begriff war wesentlich erfolgreicher, konnte er doch für sich in Anspruch nehmen, bereits „Realität“ zu sein. Hannah Arendt merkt dazu an: „Für die Bewegung war von großer Bedeutung, dass im Unterschiede zu der klassenlosen Gesellschaft, deren Realisierung von objektiven Bedingungen außerhalb der Bewegung abhing, die Volksgemeinschaft als eine ‚geschworene Sippengemeinschaft‘, geeint durch den Kampf gegen den eigentlichen Hauptfeind, den Juden, sofort innerhalb der Bewegung realisiert werden konnte, und zwar durch die Einebnung aller sozialen Unterschiede einerseits,
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Schramm 1930, S. 47. Historisch wird der Typus der „Stahlnatur“ erst mit dem Krieg von 1914 annähernd Wirklichkeit. Zwar ging bereits aus den deutschen Freiheitskriegen ein neues und heroisches Ideal des Männlichen hervor, doch Empfindsamkeit und Sinn für Poesie waren im 19. Jahrhundert noch weit verbreitet. „Im Laufe der wilhelminischen Ära begann ein neues, hartes und unsentimentales Leitbild von Männlichkeit bis in die Körpersprache hinein zu wirken; aber erst im Weltkrieg ging das Kriegertum, das lange eine bloße Rhetorik geblieben war, vielen Männern wirklich ‚unter die Haut.‘“ (Radkau 2000, S. 423) Auch der Körper des „Normalmannes“ in Deutschland war vor Kriegsbeginn alles andere als heroisch: im Korpsstudenten mit Hängebacken, leicht gerötetem Gesicht, schweren Tränensäcken und Schmerbauch fand er seine Karikatur. Eine große Rolle für ein neues Körperbewusstsein spielte aber schon vor 1914 der von der englischen Oberschicht ausgehende Sport.
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und durch den geforderten Judenhass andererseits. Volksgemeinschaft wurde damit der Name für die fiktive Welt der Bewegung selbst.“37
Das Gefühl und die Überzeugung von der eigenen Überlegenheit, eine Art „Geburtsadel des Deutschen“, war unmittelbar nach Kriegsende eine beliebte Figur für die Verarbeitung der Niederlage geworden. Die Vorstellung der Überlegenheit des Deutschen über alle anderen Nationen war aber wesentlich älter und fand im Topos des „auserwählten Volkes“ – eine (unbewusste?) Replik auf das Judentum – seinen prägnantesten Ausdruck. 38 Der Deutsche als Ganzer, so seine Bewunderer, charakterisiert durch Idealismus, Tapferkeit, Treue, Rasse und Opferbereitschaft, war allen anderen Völkern weit überlegen und verkörpert eine Elite, die auf allgemeinen nationalen Charaktereigenschaften beruht. Am Deutlichsten bringt diese Auffassung Friedrich Altrichter in seiner 1933 erschienenen Schrift Seelische Kräfte des deutschen Heeres in Frieden und im Weltkrieg zum Ausdruck. Auch bei Altrichter wird die militärische Niederlage zu einer reinen Nebensache: „Alle diese Umstände [die den Deutschen als überlegen ausweisen; A. M.] wirkten dahin zusammen, dass der Verlust des Krieges ohne die sonst übliche Begleiterscheinung der militärischen Katastrophe eintrat, ein Ereignis, das die weitreichendsten psychologischen Folgen für das Heer und das deutsche Volk enthielt. Denn es war die Ursache, dass das persönliche Überlegenheitsgefühl des deutschen Soldaten über seinen Gegner erhalten blieb. Wohl erkannte er die Unterlegenheit der deutschen Kriegsrüstung im Ganzen. Jeder sah ein, dass der gigantischen Machtentfaltung der Welt das wirtschaftlich erschöpfte und an den wichtigsten Rohstoffen Mangel leidende Deutschland schließlich so gut wie hilflos gegenüberstehen musste. Aber alles das hatte mit dem persönlichen Überlegenheitsgefühl als Mensch, Soldat und Kämpfer nichts zu tun. Die Mitnahme dieses Überlegenheitsgefühls aus dem Krieg ist aber für die deutsche Zukunft von höchster Bedeutung.“39
Im militanten Frontkämpfer, im Innersten „unbesiegt“, fand dieses Überlegenheitsgefühl nach 1918 seinen für die Nachkriegszeit verhängnisvollen personalen Repräsentanten. Die Tatsache der Millionen von in den Krieg Geworfenen und von ihm vernichteten und verkrüppelten Soldaten ___________________ 37 38 39
Arendt 1991, S. 571. Zu dieser Gleichsetzung, vgl. Künzli 1996. Altrichter 1933, S. 171f. (Herv. A.M) Im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher kam der Angeklagte Hermann Göring angesichts der vorgeworfenen Verbrechen zum Schluss, „die Amerikaner wären einfach nicht gebildet genug den deutschen Standpunkt zu verstehen.“ (Gilbert 1992, S. 377)
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wurde einfach beiseite geschoben. Wichtig waren allein die übrig gebliebenen Kämpfer, die „Sieger über das Material und die Masse.“ Der Frontkämpfer symbolisiert aber darüber hinaus die Verschmelzung des Kriegers mit der technologischen Struktur des Krieges, er wird zum Funktionselement der Kriegsmaschine, zum Transmissionsriemen der kriegerischen Energie. Im Widerspruch zur Betonung des Wertes des Einzelnen wird die Assimilation des Kriegers an die Maschine gefeiert. Er muss sich ihr anpassen um überleben zu können, d.h. seine Individualität auflösen. Das impliziert eine radikale Neubewertung des Subjekts, die Ernst Jünger in seinen Schriften der 30er Jahre am radikalsten vorantreibt. In seinem großen Aufsatz Über den Schmerz liest er fasziniert die Meldung über einen neuen japanischen Torpedo: „Das Erstaunliche an dieser Waffe liegt darin, dass sie nicht mehr durch mechanische, sondern menschliche Kraft gesteuert wird, und zwar durch einen Steuermann, der in eine kleine Zelle eingeschlossen ist und den man zugleich als ein technisches Glied und als die eigentliche Intelligenz des Geschosses betrachten kann. Der Gedanke, der dieser seltsamen organischen Konstruktion zugrunde liegt, treibt das Wesen der technischen Welt ein wenig vor, indem er den Menschen selbst, und zwar in einem buchstäblicheren Sinn als bisher, zu einem ihrer Bestandteile macht.“40
Der Krieger mutiert, in den Worten des französischen Dromologen Paul Virilio, zu einer „pyrotechnischen Apotheose, bei der das ProjektilSubjekt mitsamt seinem Ziel zerfällt.“41 In der Zusammenschaltung von Körper und Technik entsteht ein neues Subjekt des Krieges: die „Stahlnatur“, eine Symbiose von Technischem und Organischem, die nicht mehr innerhalb der Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft verortet werden kann und auch nach der staatlichen Kapitulation nicht aufhört, Krieg gegen den Rest der Welt, zunächst: die Weimarer Republik, zu führen. In geradezu groteskem Pathos (und schlechtem Deutsch!) beschreibt Erich Limpach 1930 in seinem Buch Die Front im Spiegel der Seele den neuen „Menschen der Tat“, hervorgegangen aus den Materialschlachten des Krieges: „Todüberwinder im Taumel der Begeisterung, wenn Fahnen flattern und Signale jauchzen, wenn nervenpeitschend die Schlegel auf dem Kalbfell dröhnen, die hat die Welt schon tausendfach gesehen. Doch die Überwinder des Grauens und der Furcht, die in schmalen Gräben ausharren, wenn alle Höllen toben, von giftgelbem Gas umschwelt – ohne den Feind zu sehen –, die
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Jünger 1934, S. 166. Virilio 1995, S. 103.
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wuchsen aus des Weltkriegs dunklen Gefilden titanenhaft empor zu einer Heldenschar, wie nimmer sie ein Volk sein eigen nannte.“42
Dieser neue Mensch wurde für seine Visionäre im Feuer der Artillerie und im Schlamm der Gräben geschaffen. Bewusst wird unterschlagen, dass in der Realität weder die Führung noch die Soldaten psychisch auf eine solche Situation vorbereitet waren. Für einen großen Teil der Massen der bäuerlichen Bevölkerung, die den höchsten Prozentsatz an Soldaten stellte 43 , bedeutete dieser Krieg den ersten Kontakt mit der technischen Welt, der Industrieproduktion der Vernichtung und ihrer täglichen Demonstration am lebendigen Körper. In der Technisierung des Krieges und der von ihr produzierten Notwendigkeit der autonomen Handlungen und Entscheidungen der Einzelnen kommt exemplarisch ein neuer Machttypus zur Erscheinung, der sich auf Einzelorganismen stützt und sie in ihrem instrumentellen Charakter anspricht. Der deutsche Faschismus wird sich diesen Mechanismus später zu eigen machen, von dem etwa der nationalsozialistische Autor Kurt Schuder 1940 schreibt: „Und das gehört ja zu den großen Leistungen des neuen Deutschland, das Hineinführen der Technik in die Seele.“44 Nur in der Angleichung an die Maschine vermag der einzelne zu überleben. Die in den Krieg Gezogenen werden von seinen Mechanismen umgestaltet oder gehen zugrunde. In den Trichtergruben der Artilleriegeschosse existiert keine geordnete Kommunikation mehr, die militärische Hierarchie wird hier zugunsten eines „Einzelkämpfertums“ aufgelöst, das nun keine Bindung an traditionelle und normative Werte mehr kennt. Die Masse der Krieger fällt, während der neue Typus „eins mit dem Material“ wird. Er amalgamiert mit der Technik, die, so Ernst Jüngers scharfsinnige These, zur neuen Uniform des abendländischen Mannes wird.45 Der neue Typus des Kriegers steht einsam gegen den Persönlichkeitstyp des bürgerlichen Individuums, dessen Einbeziehung in die Kriegshandlungen der soldatische Mann als einen elementaren Fehler der Geschichte interpretiert: „Der letzte Krieg wurde nicht von ehrwürdigen Helden gemacht; er ist auch nur von den Krämern entschieden – oder vorläufig beendet worden.“46 Der Bürger will aus dem Krieg als derje___________________ 42 43 44 45 46
Limpach 1930, S. 56. 65 Prozent der Rekruten sind 1914 Bauern- oder Häuslersöhne, 22 Prozent kommen aus kleinen Städten. „Damit sind 87 Prozent der Wehrpflichtigen vom Land und aus der Provinz.“ (Haß 1993, S. 79) Schuder 1940, S. 14. Jünger 1934, S. 180. Zwar schreibt Jünger an dieser Stelle „zur Uniform des abendländischen Menschen“, gemeint ist aber ausschließlich der Mann. Schramm 1930, S. 48.
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nige zurückkommen, der er vorher war. Im Gegensatz dazu mutiert der verherrlichte Krieger zu einer neuen Identitätsform, die Voraussetzung dafür ist, der Welt eine neue Gestalt zu verleihen. Diese zwei unterschiedlichen Vorstellungen führen ins Zentrum der Unterscheidung von instrumentellem und existenziellem Krieg: „Nicht die Frage der Unterstellung des Krieges unter die Direktionsgewalt der Politik bildet also das Differenzierungskriterium zwischen instrumenteller und existenzieller Auffassung des Krieges, denn als ein politisches Mittel werden Krieg und Gewalt in beiden Fällen angesehen. Die Differenz zwischen beiden Auffassungen des Krieges bildet die Frage nach der Identität des den Krieg handhabenden Subjekts: Heißt Subsumtion des Krieges unter die Politik im Falle der instrumentellen Kriegsauffassung, dass dieses Subjekt durch den Krieg selbst nicht verändert wird, so setzt die existenzielle Kriegsauffassung gerade auf solche Transformations- und Konstitutionsprozesse, die durch Krieg und Gewalt angestoßen und beschleunigt werden sollen.“47
Für die politisch siegreiche Bewegung nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Zusammenbruch der Weimarer Republik, die NSDAP, unter ihrem Führer und ehemaligen Weltkriegsteilnehmer Adolf Hitler, fielen Politik und Krieg, Rassenkampf und Reinigung des „Volkskörpers“ zusammen. Im Krieg sollte der Deutsche zu sich selbst finden und sich als überlegene Rasse bewähren und konstituieren. Eine tatsächliche Elite musste er aber erst werden. Das glorifizierte Vorbild für den NS-Soldaten und die propagierte Rassen- und Volksgemeinschaft bildeten der Frontsoldat und die Situation des August 1914.48 Beschränkte sich zwar auch 1933 der Jubel der Massen wie 1914 auf bestimmte Teile der Bevölkerung, wurde die Stimmung auf der Strasse von vielen – auch neutralen Beobachtern – mit dem August 1914 verglichen. Das zentrale Parteiorgan der NSDAP, der Völkische Beobachter, brachte diese Ansicht ein halbes Jahr nach der Übernahme der Regierungsgewalt durch die Nationalsozialisten auf den Punkt. Zugleich kommt im folgenden Zitat in komprimierter Weise der Zusammenhang von Frontkämpfer, Politisierung des Kriegers, neuer Elite und nationalem Sozialismus auf seinen ideologischen Nenner: „Am 2. August 1914 begann der Marsch des deutschen Soldaten in das Dritte Reich. Niemals hat sich das soldatische Opfer in solchem Grade als Gestalter aller Dinge erwiesen. In den tausend Tagen und Nächten des endlosen
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Münkler 1992, S. 109f. Herv. A.M. Zur Herkunft der Volksgemeinschaft aus dem Geist von 1914, siehe: Bruendel (2004)
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Frontkampfes wurden die Ideen geboren zu einer neuen Welt und mehr noch als dies: Der Wille, sie durchzusetzen. Schöpfer ist das Fronterlebnis gewesen einer neuen geistigen Haltung, die in den kämpfenden Seelen entstand, die der Krieg mit seiner Pflugschar umwühlte, unerhört brutal und mitleidlos wie nie zuvor. [...] Naive Träger schwächlicher Bürogewalten glaubten, es wäre möglich, den Frontsoldaten, der täglich den Weltuntergang im Kleinen erlebt hatte, wieder einzuschieben in die ungefährlichen Geleise des Alltags. Stattdessen begann der politisch gewordene Soldat des Weltkrieges seinen zähen, verbissenen Kampf um die Seelen seiner Volksgenossen und um die staatliche Neuordnung aller Dinge. [...] Wie auch im Krieg alles ungewiss war und doch der Glaube an den Sieg die Kämpfer im Banne hielt, so hat auch nach dem Kriege der Frontsoldat als führender Träger des Nationalsozialismus sich in seinem Kampf nicht beirren lassen. Aus dem Sozialismus der Front, den der Soldat praktisch erlebte, erwuchs der Nationalsozialismus als neue Lebensform für das ganze Volk.“49
Im abschließenden Kapitel wird der Versuch gemacht die beschriebenen und analysierten Verarbeitungsformeln und Wahrnehmungsmuster auf den Nationalsozialismus zu beziehen. Für den Nationalsozialismus bildet der Krieg eine Art von Lernprogramm, der in der Metapher der Bewegung kulminiert, die den Stillstand als Ausdruck bürgerlicher Saturiertheit und eines „falschen Krieges“ überwinden will. Dabei sind drei Ebenen besonders bedeutsam: 1. politisch definierte sich der Nationalsozialismus als eine Bewegung über allen Parteien und Klassen stehend, als Volksgemeinschaft bei Ausschluss einzelner Gruppen (Juden, Kommunisten etc.). Zugleich kommt es zu einer Verschmelzung von bis dorthin gegensätzlichen Begriffen: NSDAP ist gleichzeitig national und sozial, Deutsch und Arbeiter sind kein Widerspruch mehr; 2. militärisch muss der Stillstand als Grunderfahrung des Grabenkrieges überwunden und der Krieg in dauernder Bewegung gehalten werden. Das ist die Konzeption des Blitzkrieges, eine Idee, die die Stoßtrupps des Ersten Weltkrieges vorwegnehmen und die von den Truppen der SA mit terroristischen Mitteln auch auf die „Innenpolitik der Straße“ übertragen wird; 3. rassenhygienisch darf es bei der Auslese, wie Himmler in Bezug auf die SS immer wieder postuliert, keinen Stillstand geben. Die Bewegung ist niemals am Ende und kennt auch kein Ende. Der Nationalsozialismus ist - so könnte man schließen - in letzter Konsequenz Bewegung um ihrer selbst willen, verhasst ist der Stillstand ___________________ 49
Völkischer Beobachter vom 2. August 1933. Herv. A.M.
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oder wie Robert Ley, der Führer der DAF, es in einer Rede vor versammelten Arbeitern auf den Punkt brachte: „Es bewegt sich etwas, wo die Partei ist. Die Partei ist Bewegung.“ Die Konsequenzen dieser Bewegung werden im nächsten Abschnitt in ihren katastrophalen Folgen untersucht.
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7. N A T I O N A L S O Z I A L I S M U S Ein Feuer war entzündet, aus dessen Glut dereinst das Schwert kommen muss, das dem germanischen Siegfried die Freiheit, der deutschen Nation das Leben wiedergewinnen soll. Und neben der kommenden Erhebung fühlte ich die Göttin der unerbittlichen Rache schreiten für die Meineidstat des 9. November 1918. Die Bewegung nahm ihren Lauf. Adolf Hitler (1925)
7.1. Linien und Brüche Wie in der Einleitung zu dieser Arbeit bereits betont ist der Nationalsozialismus nicht notwendig aus dem Krieg der Jahre 1914-18 als politische Bewegung hervorgegangen. Die kaiserliche Politik und Kriegführung, schließlich die Niederlage und der Versailler Vertrag – alle diese Elemente waren zwar entscheidend, sind aber für sich genommen nicht alleiniger Auslöser für den Aufstieg Hitlers und der NSDAP. Die Wurzeln des Nationalsozialismus sind wesentlich älter und reichen weit in das 19. Jahrhundert zurück. Die Wendung des zunächst liberalen Nationalismus zum radikalen Imperialismus und Rassismus sowie die gegen den Marxismus gerichtete Doktrin eines nationalrevolutionären Sozialismus der reinen Volksgemeinschaft sind Produkte des 19. Jahrhunderts. Aus historischer Perspektive sind in Deutschland insbesondere ein Sonderbewusstsein gegenüber der französischen Revolution, das Scheitern der eigenen Revolution 1848 und in Folge die Bismarck’sche „Revolution von oben“ sowie die inneren Strukturprobleme des neuen Reiches (1871) und seine daraus gipfelnde Wendung unter Wilhelm II. hin zu einer Weltmachtpolitik als Ausgangspunkte zu nennen. Die militärische Komponente des Nationalsozialismus, das, was oft seine preußische Seite genannt wird, muss durch die völkische Konzeption österreichisch-großdeutscher Provenienz ergänzt werden. Hier, an der deutsch-tschechischen Peripherie des Habsburger Reiches,
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finden wir die frühesten Vorläufer der NSDAP. Und nicht zufällig setzte sich das spätere Führungskorps der Nationalsozialisten in großer Zahl aus Österreichern, Auslands- und Süddeutschen zusammen. Preußen und Norddeutsche findet man verhältnismäßig wenige. Ohne das Vorbild der preußisch-militärischen und bürokratischen Staatstradition wäre aber der Aufbau eines totalen Staates nach 1933 wiederum nicht denkbar gewesen.1 Der wichtigste Bezugspunkt und die entscheidende Komponente für den Sieg des Nationalsozialismus über alle anderen politischen Kräfte war und ist aber, trotz aller notwendigen Relativierungen, der Krieg und die mit ihm verbundene Niederlage. 2 Die Enttäuschung über den verlorenen Krieg war die emotional stärkste und zeitlich nächste Empfindung und in ihrer Wirkung wohl am radikalsten. Für den Nationalsozialismus war das Kriegserlebnis der zentrale Ausgangspunkt für das Entstehen der Bewegung und der Politisierung seiner Führer. „Der Nationalsozialismus war“, so der Historiker Karl Dietrich Bracher in seinem Standardwerk Die Deutsche Diktatur, „wie Hitler ein Produkt des Ersten Weltkrieges.“ 3 Ähnlich Wolfgang Schivelbusch: „Für den Faschismus und den Nationalsozialismus war das Kriegserlebnis der alles bestimmende Schöpfungsakt.“ 4 Der Erste Weltkrieg und die Niederlage Deutschlands symbolisierte für die „Männer der Front“ und für einen Teil der bürgerlichen Jugend, die das Kriegserlebnis nicht mehr machten, aber die politische Militanz sozusagen „erbten“ – Michael Wildt nennt sie in seiner Untersuchung der SS-Eliten im Reichssicher___________________ 1
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Arthur Seyß-Inquart, österreichischer Nationalsozialist der ersten Stunde und im Krieg Reichskommissar für die besetzten Niederlande, hat im Nürnberger Prozess gegenüber dem US-amerikanischen Gerichtspsychologen Gilbert den Nationalsozialismus als Verschmelzung dieser zwei Typen definiert: „Das System übernahm die preußische Tradition gleichfalls und verschmolz den süddeutschen emotionellen Antisemitismus mit dem preußischen gedankenlosen Gehorsam. […] Wenn fanatische Ideologie mit autoritärer Staatsform kombiniert ist, dann gibt es keine Grenze für die Exzesse, zu denen es kommen kann.“ (Gilbert 1992, S. 278) Dass die Faschisten Italiens unter Mussolini sich ebenso wie ihre deutschen Pendants als Verlierer fühlten, scheint mir eine entscheidende Voraussetzung für ihre politische Dynamik und die Machtübernahme in Rom. Zwar gehörte Italien zu den Siegern des Ersten Weltkrieges, doch für die Faschisten blieb es ein „verstümmelter Sieg“ (vittoria mutilata), da die Ententemächte ihre Gebietszusagen gegenüber Italien nach Kriegsende nicht einhielten. So fühlten sich Mussolinis Squadristen ebenso als Verlierer und Zu-kurz-Gekommene wie die deutsche Frontgeneration. Tatsächlich hatte Italien aber weit mehr Gebiete bekommen, als seine Armeen in Wirklichkeit eroberten. Bracher 1993, S. 49. Schivelbusch 2005, S. 42.
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7. NATIONALSOZIALISMUS
heitshauptamt die Generation des Unbedingten (mehr in Kapitel 7.4.) – im Wesentlichen den endgültigen Bankrott und den Tod der liberalen Idee. Der Kapitalismus in seiner marktradikalen Form galt als historisch gescheitert, die Demokratie als politisches System noch vor ihrer Institutionalisierung in Deutschland als eine Totgeburt. Der Krieg, und nur er allein, hatte im Fegefeuer der Front das Neue hervorgebracht: Eine Gemeinschaft jenseits aller Klassenschranken und kleinlichen (Partei)Interessen. Der Krieg an seiner äußersten Front bedeutete in den Augen seiner Apologeten einen „echten Sozialismus“, der sich in spezifischer Weise mit nationalistischen Auffassungen verbinden ließ. Der nationale (oder preußische) Sozialismus sah im Gegensatz zum Marxismus im Arbeiter aber nicht länger eine soziale Kategorie oder eine politische Klasse, der Begriff des Arbeiters wurde vielmehr zum „Ehrentitel aller Schaffenden.“ Der Sozialismus wurde sozusagen entproletarisiert. Krieg und Arbeit, Arbeiter und Krieger folgen in dieser Lesart, wie insbesondere in den Schriften Ernst Jüngers thematisiert (vgl. Kapitel 5.3.), einer totalitären Logik der inneren und äußeren Mobilmachung. Im Mittelpunkt der Suche nach einem „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Bolschewismus stand nach 1918 ohne Zweifel der Krieg. Seine Erfahrung bildete das Raster für die kommende Bewegung und ihre politische Dynamik: „Vom Kriegserlebnis leiteten sich die Formen der politischen Bewegung ab. Führerprinzip, Uniformierung, Sturmtrupps, der Kampf als Zentralbegriff anstelle der politischen Auseinandersetzung, die Rede von den vielfältigen Aufbau-Schlachten. Die Machtergreifung wurde als der siegreiche Abschluss des langen Marsches von der Front zurück in die Heimat interpretiert; als die Rückbewegung der Nation und ihre Befreiung von der Herrschaft des Liberalismus; als die Vertreibung der Händler durch die Krieger; als die Wiederherstellung jener nationalen Einheit, die im August 1914 […] in Deutschland so inbrünstig erlebt worden war. Nach der Machtergreifung wirkte der Kriegsmythos fort in der Umwandlung des liberal-parlamentarischen Staates in den nach militärischem Vorbild organisierten Führerstaat.“5
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Schivelbusch 2005, S. 42f. (Herv. im Orig.) Ähnlich argumentiert der Autor (2003, S. 284) in einem zeitlich früheren Buch: „Der Sozialismus der Volksgemeinschaft: ein Produkt des Krieges. Der Arbeiter: Weiterentwicklung des Frontsoldaten, eine Vorstellung, die im Zentrum des so genannten soldatischen Nationalismus Ernst Jüngers und anderer stand. Und schließlich der Mann, der an der Spitze der national-sozialistischen Arbeiterpartei die Nation so zu erneuern versprach, wie sie eigentlich bereits 1918 hätte erneuert werden müssen: der Frontsoldat Adolf Hitler. Ohne diese Gleichungen bleibt der Zusammenhang von Krieg, Niederlage, nationaler Wiedergeburt und abermaligem Krieg in der NS-Mythologie so dunkel wie im Frühjahr 1933 die wirkliche Bedeutung der
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Nach 1918 entstand ein Sinnvakuum, das diejenigen auf längere Sicht positiv zu füllen vermochten, die die Kriegserfahrung in die Zukunft projizierten. Kapitulation, Revolution, Versailler Vertrag, Weimarer Republik, Demokratie – alle diese Erscheinungen waren nichts als Betrug an der gemeinsam ausgefochtenen Sache. Der Krieg als Erziehungsinstrument und die Aufgabe der Front, die Heimat zu erobern, sie aus dem Zustand der Ahnungslosigkeit zu befreien, sind die immer wiederkehrenden Themen, aus denen eine starke Sehnsucht nach der Überwindung der verhassten Friedensordnung spricht. Als Rekurs dient immer wieder der August 1914 und die Gemeinschaft der Gräben: „Wir wollen zum Erlebnis zurück. Wir suchen aus dem Geschehen, das hinter uns liegt, den Sinn, den es nicht mehr zu geben scheint. Wir suchen ihn in der Zukunft. Wir stellen die Frage an das Schicksal und wollen die Antwort. Wir brauchen uns ihrer nicht zu schämen; denn: was geschehen, war gut, […] eine Jugend, die mit Skeptizismus, Bitterkeit, Verachtung und Langeweile das Leben verneint hatte, fand, zwischen Leben und Tod geworfen, in der Einsamkeit der langen Schlachten Glaube und Vaterland wieder. […] Aber der Betrug wird erst enden, wenn wir zu dem großen Erlebnis der mit Blut bezahlten Schicksalsgemeinschaft zurückfinden, als die wir den Krieg begannen.“6
Selbstverständlich gab es nach 1918 eine Menge Gegenstimmen, die den Krieg als sinnlose Vernichtung von Menschen ansahen, als Unglück für Deutschland und die ganze europäische Welt. Eine pazifistische Haltung, aus Sozialdemokratie, Gewerkschaften und Liberalen hervorgehend, konkurrierte mit einer nationalistischen und militaristischen Strömung, die sich aus Veteranenverbänden wie dem Stahlhelm, patriotischen Gruppen, Pangermanen, studentischen Verbindungen und rechten Publizisten zusammensetzte. Hitler hat übrigens zu Beginn seiner Regierungszeit beide Strömungen bedient, in dem er immer wieder bis 1938 öffentlich vom Frieden sprach. Später hatte er zynisch von der „Friedensplatte“ gesprochen, die er auflegen musste. Zwar gab es am Ende der Weimarer Republik noch große Kundgebungen und Demonstrationen gegen Krieg und Kriegspropaganda, politisch verloren die besonnenen Kräfte aber, insbesondere mit der Verschlechterung der ökonomischen Lage ab 1929 in Deutschland, immer mehr an Einfluss. Ihr Nachteil war, dass sie keine positive Sinndeutung anbieten konnten und in der Verneinung blieben, die ___________________
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nationalsozialistischen Machtergreifung für die Mehrzahl der liberalen Kommentatoren.“ Wirths 1922, S. 76ff.
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7. NATIONALSOZIALISMUS
psychisch niemals dieselbe Stärke hat wie das „positive Bekenntnis.“ 7 Zudem versuchten die demokratischen Kräfte, die Massen mit rationalen Argumenten zu überzeugen, etwas, das die nationalsozialistische Propaganda von vornherein als wirkungslos ablehnte. Und so blieb die Aufklärung über Ursache und Wirkung des Krieges nur für eine kurze Zeitspanne ein Instrument der Beeinflussung: „Die Mythologisierung des Fronterlebnisses und damit der Versuch, ihm nachträglich einen bejahenden Sinn zu verleihen, war in erster Linie eine Sache der Weimarer Rechten. Die republikanische Linke war dagegen vor allem in der ‚Zeit der Erkenntnis’ [1918-1922; A.M.] in erster Linie um Aufklärung über das erlittene Leiden und Unrecht bemüht. Damit mochte man in der unmittelbaren Nachkriegszeit zwar auch die Emotionen der Veteranen ansprechen. Mit wachsender Distanz zum Geschehen überließ man dadurch aber die suggestive Beeinflussung der Öffentlichkeit dem politischen Gegner.“8
Nimmt man etwa die Kriegsliteratur als Maßstab, so wird die zunehmende Dominanz der positiven, den Krieg als wichtige Erfahrung für die Zukunft postulierenden Stimmen deutlich sichtbar. Allein von den Bänden der Schlachten des Weltkrieges (ab 1921 herausgegeben) wurden pro Heft bis zu 50.000 Exemplare verkauft. Neben militärischer Taktik und Strategie boten sie v.a. „naturalistische“ Schilderungen des Krieges. Sie seien „unentbehrlich, um das Verständnis für das Wesen der modernen Schlacht zu fördern“, so der bekannte Militärschriftsteller und Weltkriegsteilnehmer Werner Beumelburg. 9 Eine Bibliografie der Kriegsromane zeigt die rasante Zunahme kriegsbezogener Schriften mit größerem Abstand zum Geschehen: wurden zwischen 1914 und 1925 fünfundfünfzig Romane veröffentlicht, waren es im Zeitraum zwischen ___________________ 7
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Modris Ekstein (1990, S. 455) geht in seinem Buch Tanz über Gräben von einer generellen Haltung im Nachkriegsdeutschland aus, die mit den radikalen rechten Positionen zumindest innerlich übereinstimmte. „Während die meisten Deutschen über ein Jahrzehnt lang zwar keine praktikable Alternative zur Hinnahme der Niederlage zu sehen vermochten, neigte im Grunde ihres Herzens fast die ganze deutsche Nation dazu, mit den radikalen Elementen zu sympathisieren, die wenigstens den Mut hatten, die Kriegsanstrengungen nicht für vergeblich zu halten und dies auch in aller Öffentlichkeit vehement zu vertreten.“ Ulrich/Ziemann 1997, S. 161. Nur bis etwa 1923 entfaltete der „Blick von unten“ seine demaskierende Seite. Der liberale Offizier und Militärschriftsteller Franz Carl Endres (1924, S. 369) bezeichnet diese Zeitspanne in seinem Buch Die Tragödie Deutschlands als die „kurze Spanne der Erkenntnis von 1918-1922.“ Schlachten 1921ff., Band 10 (Ypern 1914), S. 145. In der Frühphase der Weimarer Republik gab es noch durchaus Absatzschwierigkeiten für nationalistische und den Krieg verherrlichende Literatur.
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1926 und 1935 einhundertachtundneunzig. Allein zwischen 1926 und 1930 erschienen zweiundsiebzig Kriegsromane im engeren Sinne, in der überwältigenden Mehrheit keine expliziten Anklagen gegen den Krieg.10 Auch wenn der größte Erfolg, an den Verkaufszahlen abgelesen, Remarques Im Westen nichts Neues war, der politische Einfluss des Buches und sein Stellenwert innerhalb der Kriegsliteratur darf nicht überbewertet werden, auch wenn die Erregung damals groß war. Die Masse der Literatur über den Krieg war nicht pazifistisch und selbst die kritisch-pazifistische Literatur musste – wahrscheinlich gezwungenermaßen – in Kameradschaft oder gemeinsamem Erleben von Leid ihren Referenzpunkt finden. Im Westen nichts Neues etwa ist ein gutes Beispiel für die – vom Autor vielleicht nicht intendierte, aber doch aus den Zeilen sprechende – Glorifizierung des gemeinen und opferwilligen Soldaten und der Unfähigkeit der politischen und militärischen Führung. Remarques Buch steht, wie die Literatur seiner Gegenspieler auf der Rechten, für die Idee der Schicksalsgemeinschaft der Gräben über nationale Grenzen hinweg. Entscheidend für die ganze militärische Erinnerungsliteratur war aber die „Subjektivierung“ des Kriegserlebnisses (vgl. Kapitel 3.4.), die den Autor und seine Empfindungen zum Maßstab der „Wahrheit“ über den Krieg machten. Da der Krieg als Ganzes keinen objektiven Sinn mehr machte, verdichtete sich Geschichte allgemein in das Erlebnis eines jeden einzelnen. Die nicht hintergehbare persönliche Perspektive verband sich dabei mit weitgehenden politischen Forderungen: „Besonders in Deutschland als dem Land der militärisch Unterlegenen wurden dabei die individuellen Wahrnehmungen und Verarbeitungen des Krieges stringent in ein Raster politischer Sinndeutungen und Zukunftshoffnungen gezwängt und gegeneinander ausgespielt. […] Gerade die autobiografischen Elemente nahezu aller etwa 300 zwischen 1918 und 1933 veröffentlichten Kriegsromane […] gerieten in den Mittelpunkt der Kritik, oder ins Zentrum des ‚Prozesses‘. Der Autor wurde zum Zeugen gemacht oder stilisierte sich selbst, kraft seiner Zeugenschaft, zum Richter und Ankläger in einer Person.“11
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Zahlen in: Ulrich/Ziemann 1997, S. 99. Ebd., S. 15. „Keines der erfolgreichen Kriegsbücher erzählte seine Geschichte von der Warte einer gesellschaftlichen Einheit oder gar der ganzen Nation aus, sondern ausschließlich vom Standpunkt des Individuums. […] Der Krieg war weit mehr Sache des individuellen Erlebens als der kollektiven Interpretation. Und damit fiel er nicht mehr in den Bereich der Geschichtsschreibung, sondern in den der Kunst.“ (Ekstein 1990, S. 431)
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7. NATIONALSOZIALISMUS
Mit Hitlers Machtantritt ist die von Werner Wirths 1922 geforderte Rückbindung an den Krieg („der Betrug wird erst enden, wenn wir zu dem großen Erlebnis der mit Blut bezahlten Schicksalsgemeinschaft zurückfinden“) dann für diejenigen „Realität“, die sich explizit auf die Erfahrung der Frontgemeinschaft berufen. Der Baltendeutsche Alfred Rosenberg stellte nach der Machtübernahme exemplarisch dafür fest: „Die Front von 1914 ist heute das ganze Volk. Aus Frontsozialismus ist deshalb Nationalsozialismus geworden.“12 Ein Sozialismusbegriff, der in der Volksgemeinschaft seine äußerste Verkörperung findet, verweist auf eine neue Ordnung von Führer und Gefolgschaft, orientiert am militärischen Modell von Frontoffizier und Soldaten, bringt aber auch ein neues Element hinein, das unmittelbar aus dem Fronterlebnis abgeleitet wird: die Egalität und die Gleichheit der Interessen. Der Staatsrechtler Ernst Forsthoff fasst die daraus idealisierte Vorstellung der Einheit von Führer und Volk in seinem 1933 erschienenen Buch Der totale Staat in folgenden aufschlussreichen Worten zusammen: „Das Neue und Entscheidende der Führerverfassung [ist], dass sie die demokratische Unterscheidung zwischen Regierenden und Regierten in einer Einheit überwindet, zu der Führer und Gefolgschaft verschmolzen sind.“13 Dieser Auffassung liegt die Vorstellung zugrunde, der Führer sei vom Willen des Volkes am tiefsten durchdrungen, er verkörpere die Interessen des Volkes konzentriert in seiner Person. Der namenlose Soldat (Hitler) steht stellvertretend für alle, die in der Anonymität verbleiben, durch den Führer aber ihre Stimme erhalten. Masse und Führer bedingen sich gegenseitig. Letzterer bildet den Kristallisationspunkt der stärksten Wünsche der Allgemeinheit. Das Volk übt deshalb – so die Argumentation der nationalsozialistischen Rechtstheoretiker – seine Macht direkt über den Führer aus. Indem es ihm Gehorsam schwört, folgt es nur sich selbst. Der Führer beansprucht, in seiner Person die Einheit und die Interessen des Volkes wie ein Gefäß in sich aufzunehmen, er ist der vollkommene Repräsentant des Volkswillens. In einem – zugegebenermaßen pervertierten – juristischen Sinne bedeutet das: der Wille des Führers schafft Recht und ist Recht, sein Wille kann sich überall verkörpern und ist von keinen Instanzen abhängig oder an diese gebunden. Führerwille ist stets Volkswille, seine Handlungen orientieren sich immer am „gesunden Volksempfinden“, das als Referenzpunkt gilt.14 ___________________ 12 13 14
Zit. in: Zentner und Bedürftig 1993, S. 197 Forsthoff 1933, S. 37 Die Folgen einer solchen Rechtsvorstellung waren selbstverständlich eine vollkommene Auflösung aller Rechtssicherheiten und –verfahren. Und da keine Instanz im vorhinein sagen konnte, wie und wo der „Wille des
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DER WILLE ZUR BEWEGUNG
Die Idee der Volksgemeinschaft als Verschmelzung von Führer und Gefolgschaft, als ein einziger Wille, der unbesiegbar ist, verarbeitet in totalitärer Weise die Erfahrung der Zersplitterung der politischen Kräfte, der Auflösung der Armee und den Zerfall der Front. Der November 1918 war in diesem Sinne keine richtige Niederlage, sondern die Weigerung der Soldaten (also des Volkes), ihren (seinen) falschen Führern weiter zu folgen. Hans von Hentig kommentiert die Niederlage 1927 in diesem Sinne als eine Aufkündigung der Gefolgschaft: „Der deutsche militärische Zusammenbruch ist deshalb ein ganz singulärer Vorgang, weil die typischen Formen der militärischen Niederlage eigentlich ganz fehlen. Es war eine Streikbewegung der Armee, maskiert durch den Befehl der politischen und militärischen Leitung. Die Armee scheidet aus dem Krieg aus, indem sie sich weiteren Kämpfen entzieht.“15
Die fast religiöse Erwartung eines Erlösers, eines nationalen Führers in Deutschland muss in diesem Kontext gelesen werden. Das angebliche und reale Versagen der eigenen Führung im Krieg war mit ein Hauptgrund für die Weigerung, die neue Führung der Weimarer Republik zu unterstützen, waren doch viele Regierungsmitglieder schon im verlorenen Krieg an der Macht gewesen. Von solchen Männern, die schon einmal versagt hatten, wollte man sich nicht regieren lassen. Der Nationalsozialismus kann in diesem Kontext als die Revolte der Söhne gegen die „Niederlagenväter“ gelesen werden, als juveniles Unternehmen der Front- und Freikorpskämpfer, die in der real erfahrenen Gewalt des Krieges das Prinzip von Herrschaft ins Zivile übersetzen wollten. Diese Verlierer-Söhne waren die Kinder eines industrialisierten Krieges, der die liberalen Werte des 19. Jahrhunderts mit den Mitteln einer technischen Moderne endgültig vernichtete. Was nach dem verlorenen Krieg blieb, war die Sehnsucht, eine große Aufgabe zu erfüllen, die das einzige Ziel vorgab: ___________________
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Führers“ sich als nächstes manifestierte, waren Willkür und Anarchie Tür und Tor geöffnet. So konnten etwa vor ordentlichen Gerichten freigesprochene Angeklagte nach ihrer Verhandlung von der Gestapo in ein Konzentrationslager gebracht werden. Dasselbe galt für Vollzugshäftlinge, die ihre Strafe abgesessen hatten. Die so genannte Schutzhaft stand sogar ausdrücklich außerhalb der normalen Justiz (allgemein zum Verhältnis von Führerprinzip und Staat: Bracher 1993, S. 370-381). Hentig 1927, S.134. Und zum Zusammenbruch: „Aber all das war keine Armee mehr, sondern ein uniformierter, in mechanischen Disziplinformen fortrollender Haufen, der innerlich Frieden gemacht hatte und nur noch um eins zu kämpfen entschlossen war: um ein sauberes Bett und ein warmes Bad, und drei Tage lang schlafen, bis wieder etwas Menschenähnliches da war.“ (Ebd., S. 13)
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7. NATIONALSOZIALISMUS
„Dieser Aufgabe des Krieges als Umwerters der Werte, des großen Zerstörers des Gewordenen und des Vaters der zukünftigen Dinge entspricht im Menschlichen die Aufgabe des Kriegers – also des Frontsoldatentums. […] Er ist das Sinnbild des modernen Arbeiters und Kämpfers, der Träger eines neuen Aufbruchs in der Welt.“16
„Deutschland, erwache!“ wurde nicht zufällig zu einem Kampfruf der militanten Kräfte. Der im Stellungskrieg erfahrene Stillstand als Effekt der Maschinenwaffen konnte nur durch eine erweiterte Mobilmachung überwunden werden. Dafür bedurfte es einer starken Führung und einer dynamischen politischen Bewegung (siehe Kapitel 7. 2.). Wenngleich es schwer fällt, die Kriegsmetaphorik und die Politikkonzeption des Nationalsozialismus nicht in eine direkte Linie mit den Erfahrungen von 1914-18 zu stellen, so müssen doch einige entscheidende Differenzen festgehalten werden. Der auf den ersten Blick größte Unterschied besteht in dem, was man den Primat des Politischen nennen könnte. Anders als im Ersten Weltkrieg, in dem sich die Oberste Heeresleitung (OHL) von der Politik weitgehend „emanzipiert“ und alle wesentlichen Entscheidungen zunehmend unabhängig von der Reichsregierung trifft, kehrt der Nationalsozialismus das Verhältnis von Krieg und Politik geradezu um. Nun ist es wieder die Politik, die die Kriegführung bestimmen wird, und zu keiner Zeit wird das Militär im Zweiten Weltkrieg eine ähnliche Macht erlangen wie etwa Hindenburg oder Ludendorff. Selbst auf dem Höhepunkt der militärischen Erfolge hatte die Generalität zu den entscheidenden Fragen der Kriegsstrategie praktisch nichts zu sagen. Aber die Übernahme der Kriegsplanung und führung durch die Politik, im eigentlichen durch Hitler, bedeutet nicht, das instrumentelle Verhältnis von Krieg und Politik im Sinne der Clausewitz’schen Auffassung in Vom Kriege zu reinstitutionalisieren.17 Clausewitz’ nicht gänzlich eindeutiger Begriff der Politik ist auf den Nationalsozialismus nicht anzuwenden. Die Rassenpolitik als oberste Prämisse des nationalsozialistischen Staates führte von Beginn an eine existenzielle Note in den Krieg ein, die auch und zunächst vor allem die Zivilgesellschaft im Inneren erfasste. Bevor der Terror des nationalsozialistischen Regimes das Ausland erreicht, richtet er sich auf die eigenen Bürger. Der schließlich von Goebbels nach der Niederlage von Stalingrad geforderte „totale Krieg“ zielt deshalb nicht allein auf den militärischen Gegner, sondern insbesondere auf die innere Struktur des ___________________ 16 17
Jünger 1929, S. 6 (Herv. A. M.). Diese Auffassung ist vergleichbar mit Mussolinis Idee einer „trincerocrazia“ (einer Herrschaft der Grabenkämpfer), die die Elite des italienischen Faschismus bilden sollte. Zu Clausewitz und Hitler, vgl. Raymond Aron (1980, S. 401-409).
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Staates. Auf diese entscheidende Differenz von Erstem Weltkrieg und nationalsozialistischer Politik verweist Jan Phillip Reemtsma: „Hier geht der NS-Staat über die Ludendorffsche Militärdiktatur hinaus, denn die Vorstellung einer Heeresführung, die ein Volk in den Dienst des Krieges stellt, ist in dem Augenblick obsolet, wo die totale Mobilmachung die Gesellschaft wirklich totalisiert. Es ist dann wieder die Politik, die bestimmend wird, aber dennoch wird der Krieg nicht wieder zum Instrument, denn Politik und Krieg werden eins. […] Die Vernichtung ist nicht mehr ein Mittel, den Krieg zu gewinnen, sondern der Krieg besteht in der Vernichtung ganzer Bevölkerungen, mindestens ihrer Unterjochung und Versklavung. Die Ludendorffsche Dienstpflicht setzt sich nicht nur im nationalsozialistischen Arbeitsdienst, sondern auch in der Vernichtung von KZ-Häftlingen und Kriegsgefangenen durch Arbeit fort.“18
Dass Hitler zwischen Politik und Krieg keinen Unterschied machte, stimmt auf jeden Fall für die Außen- und Rassenpolitik. Die Eroberung von Raum und die Vernichtung der Juden blieben all die Jahre die einzigen wirklichen Ziele, die der Nationalsozialismus verfolgte: „Der Staat und seine Verfassung, die Innen-, Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Partei, ihr Programm, ihre Ideologie – alles war nur Mittel zu diesem doppelten Zweck.“19 Politik existiert nur noch als Machtpolitik, und es wäre eine eigene Untersuchung wert, den nationalsozialistischen Politikbegriff in Bezug auf die Kriegführung zu analysieren (vgl. dazu ansatzweise Kapitel 7.3.). Neben der „Rückübernahme“ des Krieges durch die Politik blieb die Berufung auf den August 1914, den imaginierten Punkt der Geschlossenheit der Volksgemeinschaft, ein immer wiederkehrendes Ritual. Die Szenen des Januar 1933 wurde von vielen – auch ausländischen Beobachtern – mit dem August 1914 gleichgesetzt, als ob der glorreiche Tag der Kriegserklärung sich mit der Machtübernahme wiederholte. Mehr als der 30. Januar gab aber der Tag von Potsdam am 21. März 1933, genau 62 Jahre nach der Eröffnung des ersten Reichstags durch Bismarck, der Idee einer klassenlosen Gemeinschaft symbolische Gestalt. Die politische Inthronisation des Frontsoldaten und Gefreiten Adolf Hitler durch den Generalfeldmarschall und Reichspräsidenten Hindenburg kann als der sichtbarste Ausdruck der Realisierung der Volksgemeinschaft und ___________________ 18
19
Reemtsma 1997, S. 396 (Herv. A. M.) Der von mir im Sinne von Clausewitz und Delbrück verwendete Begriff der (im eigentlichen militärischen) Vernichtung ist streng von der rassenideologischen Konzeption der Vernichtung zu unterscheiden und darf nicht mit ihm verwechselt werden. Vgl. dazu Kapitel 7.4. Jäckel 1991, S. 93.
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der Auflösung sozialer Grenzen betrachtet werden. Dass der „unbekannte Soldat“ hier ein Gesicht bekam, sprach dafür, dass im neuen Reich alles möglich geworden war. Zudem wurde mit dem Händedruck zwischen Hitler und Hindenburg die Vermählung alter Größe und neuer Kraft politisch erfolgreich inszeniert. Das reale Bündnis mit den konservativen Eliten hatte seine Inthronisierung zum Reichskanzler ja auch erst ermöglicht. Auch wenn der Augenblick der Gefahr und des Kriegsausbruchs 1914 zum zentralen Anrufungspunkt der nationalsozialistischen Bewegung wurde, darf man dabei die Unterschiede zur kaiserlichen Politik nicht übersehen. Der Nationalsozialismus beruhte von Anfang an auf einer Ausgrenzung bestimmter Teile der Gesellschaft (Kommunisten, Juden, Demokraten etc.) – die viel zitierte Einheit der Volksgenossen hatte auf der anderen Seite den gewalttätigen Ausschluss der „Volksfeinde“ zur Folge: „In der Tat, die zum Mythos erhobene Kriegsstimmung der Augusttage wurde später zur konkreten Utopie der NS-Bewegung: Es war diese nationale Einheitseuphorie, die man wiedergeben wollte. Die Nationalsozialisten suchten diese Einheit jedoch auf gewaltsamerem und ausgrenzenderem Wege als Wilhelm II. mit jenem Wort, das die Einbeziehung auch der Sozialdemokraten signalisierte: ‚Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche’. Für Hitler war das der Sündenfall des Kaisers, dass er ‚den Führern des Marxismus die Hand zur Versöhnung’ reichte. In diesen Zusammenhang stellte Hitler seinen fatalen Entschluss, ‚Politiker zu werden’: Zuallererst das wollte er radikal anders machen. Mochte der Mythos von 1914 ein Kernstück der NSIdeologie werden, so sollte man die reale Kontinuität nicht überbetonen.“20
Ebenso sind die viel zitierten „Ideen von 1914“ von ihrer nationalsozialistischen Variante zu unterscheiden, denn ihnen fehlten weitgehend zwei wesentliche Elemente die für das NS-System bestimmend waren: völkisch-biologische und antisemitische Töne. Diese Differenz gilt ebenso für die Boden- und Raumpolitik, die auf den ersten Blick enge Kontinuitäten hat. Sowohl Militärs als auch Konservative träumten bereits im Ersten Weltkrieg – v.a. in Ludendorffs Ostplänen sichtbar – von einer Erweiterung des Deutschen Reiches in Richtung Russland. Riesige Räume wurden nach dem Frieden von Brest-Litowsk besetzt und unter deutsche Kontrolle gebracht. Dieselben Gruppierungen verlangten auch in der Weimarer Zeit, die verlorenen Gebiete – es gab bezeichnenderweise auch von besonnenen politischen Kräften keine Grenzgarantie nach Osten – und weit mehr wieder zurückzugewinnen. Diese Konzep___________________ 20
Radkau 2000, S. 462.
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tionen unterscheiden sich auf den ersten Blick kaum von Hitlers Raumhunger, aber es war das rassenideologische Moment, das der nationalsozialistischen Bodenpolitik eine neue, vorher nicht da gewesene Qualität gab. Rassenhygienische Vorstellungen von Auslese und eschatologische Sendung in einem, die Schaffung eines Weltreiches in ferner Zukunft gegen Asien und Amerika, das waren Hitlers genuine Pläne. Die Kontinuität der Vorkriegsimperialisten mit Hitler war denn nur eine scheinbare: „Hitlers Äußerung, der Zweite Weltkrieg sei die Fortsetzung des Ersten, war denn auch nicht der imperialistische Gemeinplatz, für den sie vielfach gehalten wird: sie bezeichnete vielmehr den Versuch, sich in eine Kontinuität einzuschleichen, die er gerade nicht weiterführen wollte, und den Generälen und konservativen Mitspielern zum letzten Mal vorzuspiegeln, er sei der Sachverwalter ihrer unverwirklichten Großmachtträume, der Restitutor des verlorenen, gestohlenen Sieges von 1918, der ihnen nun doch gehören sollte. In Wirklichkeit hatte er nichts weniger im Sinn, die revisionistischen Affekte gaben ihm nur einen idealen Anknüpfungspunkt. Vor dem Hintergrund eines undialektischen Kontinuitätsbegriffs verfehlt man leicht den Charakter der Erscheinung; Hitler war nicht Wilhelm III.“21
Ähnlich aber wie Wilhelm II. war Hitler von technischen Neuerungen fasziniert, v.a., wenn sie für die Kriegführung nutzbar waren. Nach einer Vorführung der Panzerwaffe war er, wie Guderian in seinen Erinnerungen eines Soldaten berichtet, begeistert: „Das kann ich gebrauchen! Das will ich haben!“22 Gegen den Widerstand der konservativen Teile des Generalstabs setzte er auf die von Guderian vorgeschlagene Konzentration von Panzern in eigenen Panzerdivisionen. Der Verlauf der Feldzüge gegen Polen und Frankreich sollten ihm in diesem Punkt Recht geben. Die Rolle der Technik und die Bedeutung der Maschine für die Kriegführung hat der Nationalsozialismus – trotz seiner vehementen Betonung des Willens – nicht verleugnet. Im Gegenteil: Hitler war von den neuen technischen Mitteln wie Panzer oder Flugzeug begeistert, vertraute aber letztlich dennoch den bereits im Ersten Weltkrieg entwickelten, und in Ansätzen bereits 1918 sichtbaren, Waffensystemen. Der erste Messerschmidt-Düsenjäger und die Raketengeschosse V1 und V2 waren zwar qualitativ neue Entwicklungen auf dem Gebiet der Kriegführung, konnten aber die in sie gesteckten Erwartungen bei weitem nicht erfüllen und gingen aufgrund des Kriegsverlaufes auch nur ___________________ 21 22
Fest 1992, S. 847; Herv. im Orig. Guderian 1996, S. 24.
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noch mit großen Verzögerungen und Störungen in die Massenproduktion. Die wirklich revolutionären technischen Neuerungen, wie etwa die Nutzung der Kernenergie für die Atombombe, fristeten in Deutschland dagegen ein stiefmütterliches Dasein. Maschinenkult und Technikgläubigkeit fanden sich im Nationalsozialismus v.a. in der Apotheose der Arbeit wieder, die als ein ununterbrochener Kampf des Arbeiters für die nationale Kraftentfaltung glorifiziert wurde. Die im Ersten Weltkrieg erfahrene und erlebte industrielle Feldschlacht als ein gigantischer Arbeitsprozess verlangte nach der Unterstützung der Masse und ihrer lebendigen Arbeitskraft. Der militärische (und politische) Stillstand blieb in dieser Lesart ein Effekt des Materialkrieges und seiner Massierung technischer Vernichtungsmittel. Wird also der vergebliche Versuch, sich aus den Gräben und Trichtern zu befreien, das Trauma der Niederlage und des Stillstandes, zum psychischen Ausgangspunkt einer gewalttätigen und unbändigen Sucht nach Bewegung? „Könnte es sein“, so Wolfgang Schivelbusch in seiner Kultur der Niederlage, „dass die Sehnsucht nach Bewegung bei der Verarbeitung des nationalen Niederlagentraumas das zentrale Moment ist?“23
7.2. Die Bewegung Die zentrale Vorstellung des 19. Jahrhunderts und des Industriezeitalters ist die Bewegung. Die Lokomotive als Symbol der Geschwindigkeit und der Beschleunigung wurde zum Emblem der industriellen Revolution, nicht allein die Fabrik und ihr rauchender Schlot. So nannte sich das wachsende Proletariat und seine Organisation nicht zufällig: Arbeiterbewegung. Bewegung ins Militärische übersetzt hieß: Angriff, Sturm, Initiative. Bewegung und Fortschritt, Bewegung und Leben wurden nicht nur im militärischen Diskurs untrennbar in eins gesetzt. Der Stillstand, das Erstarren, musste um jeden Preis vermieden werden. Alles militärische Trachten zielt stets auf die Wiederaufnahme der Bewegung, die im Wesentlichen durch das Feuer als Gegenkraft aufgehalten werden kann. Der Stellungskrieg an der Westfront 1914-1918 war die konkrete Übersetzung der Angst vor Stillstand in die Realität eines Krieges, den niemand in dieser Weise führen wollte. Das Feuer verhindert die Bewegung. Alle Absichten der Militärs, ihr ganzes Denken, alle ___________________ 23
Schivelbusch 2003, S. 343. Der Begriff der Sehnsucht wirkt angesichts der Millionen von Opfern „der Bewegung“ etwas harmlos. Es ist die Verbindung von Bewegung und Vernichtung, die den Nationalsozialismus kennzeichnet, eine Gleichung, auf die ich noch zurückkomme werde.
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Strategie, zielte darauf wieder Bewegung zu ermöglichen, Fluss in die Operationen zu bringen. Eine rein passive Kriegführung gibt es auf Dauer auch nicht, sie wäre in den Worten von Clausewitz auch nur ein „reines Erdulden.“ Krieg führen heißt letztlich: beweglich sein. Wie in den vorigen Kapiteln gesehen, gelang es nur in Einzelfällen, die Stellungen des Gegners zu überwinden, Panzer und Flugzeug waren noch keine Waffen geworden, für die der Generalstab eine adäquate Verwendung fand. Die deutsche Armee kapitulierte im November 1918 denn auch in einer gefestigten Stellung, von der bis heute unklar ist, ob die Alliierten sie tatsächlich – trotz horrender industrieller Überlegenheit – rasch einnehmen hätten können. Zumindest hätte es großer Opfer bedurft. Nach Kriegsende kam es in Deutschland zur Übersetzung des militärischen Sehnens nach Bewegung durch das Trauma der Westfront in die Welt des Politischen. Für die Führer der NSDAP hatte Politik nichts mit einem Kompromissprozess gemein: Politik war für sie gleichbedeutend mit Kampf, es konnte gar kein Aushandeln von Interessen geben, da sich prinzipiell unversöhnliche Kräfte gegenüberstanden. Die NSDAP nannte sich, wie viele andere zum Teil kleine und unbedeutende Parteien schon sehr früh: die Bewegung. „Jede neue politische Gruppe glaubte“, so beobachtete Siegmund Neumann 1932, „sich nicht besser vor den umworbenen Massen legitimieren zu können als durch die klare Betonung, dass sie nicht ‚Partei’, sondern Bewegung sei.“24 Nicht nur, dass der Begriff Partei (pars = Teil) Partikularinteressen suggerierte, die Bewegung versprach neben der Abkehr von kleinlichen Einzelinteressen auch eine neue Dynamik. Am 30. Januar 1933 war die von vielen ersehnte Bewegung an ihrem vorläufigen Ziel angekommen. Der greise Reichspräsident und Weltkriegsheld, der mythische Sieger von Tannenberg, Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg, hatte, nach langem Widerstand und politischen Intrigen der Konservativen, Hitler zum Reichskanzler ernannt. Entgegen der Absicht der konservativen Kabinettsmitglieder, Hitler und die NSDAP durch den Regierungseintritt quasi einzumauern, sollten innerhalb weniger Monate die letzten demokratischen Reste in Deutschland eliminiert werden. Die Bewegung hatte gerade einmal 10 Jahre gebraucht, um den mächtigsten Staat Europas von innen zu erobern, eine lächerliche Zeitspanne, wenn man ihre Ausgangssituation in den frühen 20er Jahren betrachtet. Als eine der unzähligen bayrischen Bierzeltgruppen war die in ihren Anfängen als Deutsche Arbeiterpartei bekannte Gruppierung zur stärksten Partei Deutschlands geworden. Das „Dritte ___________________ 24
Neumann 1932, S. 99.
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Reich“ entstand aus dem Dunst der Bierhallen Münchens und sollte mindestens – so seine Herolde – 1000 Jahre bestehen.25 Die Vorgänger der nationalsozialistischen Bewegung, die imperialistischen und antisemitischen Parteien des 19. Jahrhunderts, traten alle mit dem Anspruch auf, „über den Parteien und über allen Klasseninteressen zu stehen“. Sie behaupteten ganz einfach, die Gesamtinteressen der Nation oder der Menschheit schlechthin zu vertreten. Die NSDAP konstituierte sich rund um den Begriff der rassisch reinen Volksgemeinschaft und der (rhetorischen) Absage an alle herkömmlichen Parteistrukturen, ihre Ziele und Visionen transzendierten alle ökonomischen und sozialen Differenzen zugunsten einer nebulösen Idee der arischen Berufung. 26 Als Vorbild und Anrufung für die Volksgemeinschaft fungierte die imaginierte Einheit des August 1914. Ohne das Augusterlebnis bleiben der Nationalsozialismus und seine Anziehungskraft für die Massen unerklärlich. Den ständigen ökonomischen und sozialen Unsicherheiten in der Ära der Weimarer Republik stand der August 1914 als positiver Pol der Einheit und der Sinngebung gegenüber. Die Bewegung versprach, diese Einheit wieder herzustellen, damit gab sie eine Antwort auf die Sehnsucht derjenigen, die die Zerrissenheit und Ambivalenzen der Moderne psychisch am eigenen Leib verspürten. Die Erfolgsgeschichte der NSDAP ist daneben untrennbar mit dem erstaun-
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Die biblische Konzeption des Reich Gottes und der Glanz des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation verbinden sich im Reichsbegriff des Nationalsozialismus. 1923, im Jahr des „Hitlerputsches“ in München, hatte Arthur Moeller van den Bruck ein Buch mit dem Titel Das Dritte Reich veröffentlicht. In seiner Interpretation der deutschen Geschichte gab es bis dorthin zwei große deutsche Reiche: das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und das von Bismarck im 19. Jahrhundert geschaffene. Dem ersehnten und erwarteten Dritten Reich, das als 1000jähriges Reich imaginiert wurde, fehlte nur noch ein Führer. Dieser sollte aber laut Moeller van den Bruck – in unverkennbarer messianischer Anrufung – bald kommen. 1933 war es dann soweit. Zum Verhältnis von Partei und Bewegung, bzw. der Herkunft der NSDAP aus den Panbewegungen des 19. Jahrhunderts, vgl. die immer noch einzigartige Analyse von Hannah Arendt (1991, S. 358-422). Eines der großen Vorbilder Hitlers war der österreichische Pangermane und Antisemit Georg Ritter von Schönerer, der schon vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges einen umfassenden Einheitsstaat in Europa auf arischer Grundlage forderte. Zur Vorgeschichte des Nationalsozialismus: vgl. Bracher (1993, S. 1-53). Bracher betont aber zu recht, dass Hitler – trotz aller Bewegungsmetaphern – stets die parteiförmige Organisation der NSDAP betrieb (Ebd.; S. 108). Rhetorik und Praxis, Propaganda und Realität müssen auch hier unterschieden werden.
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lichen Aufstieg eines Mannes verknüpft, für den der Krieg die größte Erfahrung seines Lebens bleiben sollte.27 Der Erste Weltkrieg hatte die starren Klassenschranken – auch wenn wir diese Auflösung in bestimmten Grenzen relativieren und ihre politische Mythenwirkung betonen müssen – im unmittelbaren Raum der Front aufgeweicht. Die moderne, industrielle Massengesellschaft hatte ihren für die Mehrzahl der Soldaten bedeutsamen Ausgangspunkt in der allen gemeinsamen Erfahrung der anonymen Macht des Krieges und seiner maschinellen Wirklichkeit. Das wesentliche Merkmal des Individuums in einer Massengesellschaft ist sein Entwurzeltsein oder seine Atomisierung, eine Tatsache, die des Öfteren mit der Einsamkeit des Frontkämpfers umschrieben wurde. Der Krieg als größte bis dorthin erfahrene Massenaktion, eine Mobilmachung, bei der die traditionellen gesellschaftlichen und sozialen Differenzen sich aufzulösen begannen, ließ – neben der Idee einer idealen Gemeinschaft – die antiliberalen und antihumanistischen Auffassungen als „eherne Prinzipien“ erscheinen, in deren Logik man sich vier Jahre ununterbrochen bewegt hatte. Der Kampf aller gegen alle, die Existenz überpersönlicher Mächte 28 , die technischen Destruktionsmaschinen des Krieges, die Idee der Expansion als notwendiger Natur des Menschen – Macht und Brutalität als politische Losungen – fanden ihre Wirklichkeit und Bestätigung in der allgemeinen Erfahrung des Krieges. Der Aktivismus und die Härte, die Aufopferungsbereitschaft und der fanatische Glaube an eherne Gesetze, alle Formen von Leidenschaftlichkeit und Selbstlosigkeit, auf die wir bei einem Teil der Nachkriegsgeneration stoßen, machte die Attraktivität der Bewegung für die breiten Massen (nicht nur der Kriegsteilnehmer) aus. Gewalt wurde zu einem legitimen Mittel der Politik, ja, sie erschien geradezu als Quintessenz der eigenen Erfahrung: „Die Anziehungskraft der totalitären Bewegungen auf diese Menschen bestand und besteht in dem, was man oft ihren ‚Aktivismus’ genannt hat, und das heißt,
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Der Aufstieg Hitlers ist nicht allein, wie so oft behauptet wird, durch Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit zu erklären. Der Untergang der Weimarer Republik ist im Wesentlichen durch die Entschlossenheit der militanten Rechten zustande gekommen, die den parlamentarischen Staat von Anfang an zugunsten eines nebulösen, autoritären Staates abschaffen wollten. Hitler hat diese Absicht im politischen Ränkespiel Anfang der 30er Jahre in der ihm eigenen Weise für sich ausgenutzt. Man kann vermuten, dass die Idee einer jüdischen Weltverschwörung, die Anwesenheit dunkler, fremder Mächte in der Welt, auch ein Reflex auf die Anonymität des Krieges und der Niederlage war. Mit der Verschwörungstheorie fand man eine befriedigende Erklärung für das Geschehen.
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in jener nur scheinbar widerspruchsvollen Amalgamierung einer von allen Bedenken ‚gereinigten’ brutal-reinen Aktion mit dem Glauben an die überwältigende Macht einer allem menschlichen Verstehen entzogenen, brutalreinen Notwendigkeit. Denn diese Mischung entsprach aufs Genaueste dem wesentlichen Kriegserlebnis der Frontgeneration, der Erfahrung einer ständigen, zerstörerischen Aktivität im Rahmen einer durch keine Aktion abzuwehrenden Fatalität. Dass dieses Fronterlebnis sich in der gesteigerten Technisierung und Automatisierung der Nachkriegswelt immer neue Impulse seiner Gültigkeit holen konnte, hat ihm eine erstaunliche Langlebigkeit gesichert.“29
Es ist wahrscheinlich nicht zuviel gesagt, wenn wir feststellen, dass der Krieg für eine ganze Generation von jungen Männern das entscheidende Moment ihres Denkens und Handelns blieb. Wie wir gesehen haben, war Frontliteratur Jugendliteratur. Der Krieg und seine Schrecken war ihre Schule, das einzige Handwerk, das viele erlernt hatten, das Töten, das einzige Wissen das um die Nichtigkeit und Belanglosigkeit der eigenen Existenz. Mit den pazifistischen Parolen oder der bürgerlichen Ordnung hatten diese Männer nach Kriegsende wenig gemein. Zumindest konnten der Pazifismus und die demokratischen Parteien für sie keine positive Sinnstiftung des Kriegserlebnisses anbieten. Das Zivilleben erschien als eine Lüge, das versuchte, den Krieg und seine Folgen zu verdrängen, als ob nichts geschehen wäre. Der gemeine Soldat sah sich von einer Umwelt umgeben, die ihn verschämt zur Kenntnis nahm, oder er glaubte zumindest an eine Zurückweisung durch die zivile Welt. Der Glaube an eine triumphale Rückkehr entpuppte sich als Chimäre. Wie in Kapitel 3 bereits dargestellt, hat erst diese Ablehnung der Zivilgesellschaft, die selbst wiederum eine politische Konstruktion darstellt, den Mythos der Frontgemeinschaft geschaffen.30 Umsonst oder für das Falsche gekämpft ___________________ 29
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Arendt 1991, S. 534. Diesen Aktivismus verkörperte zu Beginn am besten die SA, die der Bewegungsideologie des Nationalsozialismus eine sichtbare Form gab. „Die Ideologie der SA war Aktivität um jeden Preis vor dem Hintergrund einer allgemeinen, gänzlich undifferenzierten Glaubensbereitschaft, und die Verführungskraft, die allein von diesen Voraussetzungen auf die Generation der vom Kriege aus der Bahn Geworfenen ausging, wurde noch gestützt durch die bewusst entwickelte und zu werbendem Einsatz gebrachte Romantik des ‚Verlorenen Haufens‘, der für sich beanspruchte, in einer Zeit nationalen Ehrvergessens und sozialer Eigensucht Wert und Würde des Volkes gegen eine Welt von Feinden zu verteidigen.“ (Fest 1993, S. 200) Zum Realitätsgehalt des Bildes der entwaffneten Helden, die von einer höhnischen Heimat empfangen werden, vgl. Bessel (1996). Nach Bessel kann von einer massiven Ablehnung der Rückkehrer nicht gesprochen werden, im Gegenteil „schien die Zivilbevölkerung auf das äußerste bemüht, ihrem Dank und ihrer Hochachtung Ausdruck zu verleihen.“ (Ebd., S. 262) Die Stärke der politischen Botschaft des ausgestoßenen
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zu haben, danach zur Tagesordnung überzugehen, Millionen von Toten zu vergessen, der persönliche Einsatz umsonst, die Anerkennung durch die Daheimgebliebenen versagt – diese Einsichten und Überzeugungen waren für viele Rückkehrer nicht zu verarbeiten, insbesondere dann, wenn zunehmend keine zivile Alternative zur Verfügung stand. Die NSDAP und die radikale Rechte gab dagegen eine positive Deutung des Krieges und des Soldaten. Die Mentalität der Schützengräben, der ersehnte Moment der Aktivität in der Dauerpassivierung der Stellung, die Abfolge von Sturmangriffen als isolierte Sequenzen, die Erfahrung des Krieges ohne klares Ziel oder Richtung, diese Erfahrungen wurden in eine Art von „Programm“ übersetzt, das eine (nebulöse) Zukunft versprach. Die Partei als Bewegung existierte dabei ebenso wie die erfahrene Richtungslosigkeit des Krieges um ihrer selbst willen. Was sie brauchte, waren Losungen und Parolen, die die Massen elektrisierten – und vor allem organisierten. Entscheidend war denn auch die Aktivierung und nicht so sehr der spezifische Inhalt der Ansprache. Das unmittelbare Bild von straffer Organisation und militärischer Disziplin, getragen von einem als metaphysisch getarnten Willen zur Macht, das war das Argument des Krieges übertragen auf die Straße. Niemand hat das besser verstanden als Joseph Goebbels, vielleicht der einzige intellektuelle Mitstreiter der Partei. Von Hitler selbst ins „rote Berlin“ gerufen, hat Goebbels wie kein anderer die Straße zum Aufmarschplatz der Bewegung gemacht. Wichtig war, den Stillstand, Inbegriff bürgerlicher Saturiertheit und eines verlorenen Krieges, um jeden Preis zu vermeiden. Die „Soldaten der SA“ werden von Goebbels im Rückblick deshalb in mythischer Verklärung als willenlose Werkzeuge der Bewegung vorgestellt, die im Sinne der Clausewitz’schen Definition des Angriffs wie „ein Uhrwerk“ funktionieren: „Der ideale Militante ist ein Kämpfer in der braunen Armee als Bewegung […], der einem Gesetz gehorcht, das er manchmal selber nicht kennt, aber das er im Traum aufsagen kann, […] so haben wir fanatische Wesen in Marsch gesetzt.“ 31 Paul Virilio, der französische Theoretiker der Geschwindigkeit, merkt in diesem Zusammenhang an: ___________________
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Veteranen bestand aber darin, auszusprechen, was viele später zunehmend glauben wollten und eine Vergangenheit zu konstruieren, die der Erinnerung eine individuelle Größe und politische Stoßkraft gab. Goebbels 1934, S. 86. Das erstmals 1931 erschienene Werk Kampf um Berlin war von Goebbels ausdrücklich der alten Berliner Parteigarde gewidmet, in der der Mob und die kriminelle Unterwelt wie in keiner anderen Stadt Deutschlands versammelt waren. Selbst Hitler hatte mit diesen Reihen seine Schwierigkeiten, insbesondere mit der Berliner SA, von deren Führern 1934 im Zuge der Ermordung Röhms viele hingerichtet wurden. Die Aggressivität der NS-Bewegung spiegelte sich
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„Die deutschen Nationalsozialisten, die Feinde der Bourgeoisie waren oder dieses zumindest vortäuschten, um die Dromomanen der ‚Sturm-Abteilungen’ zu mobilisieren, eroberten erst den deutschen Staat, Stadt für Stadt, besser Straße für Straße, bevor sie sich Autobahn für Autobahn in Richtung auf die Nachbarländer ausbreiteten, als ob nach den dynamischen Deklamationen ihrer Führer die deutschen Massen nicht mehr gebremst werden könnten.“32
Der Nationalsozialismus verstand sich von Anfang an als Bewegung, er war mit seinen sorgfältigen Inszenierungen, den Marschtritten, Reden und Massenornamenten viel mehr Ereignis (oder Erlebnis) denn eine Partei herkömmlichen Typs. Insofern war er modern, denn er begründete die heutigen Formen der Politik, die als Event gestaltet sind. Inhaltlich gab es zwar ein Parteiprogramm, die berühmten 25 Punkte Gottfried Feders, die Hitler selbst am 24. Februar 1920 verkündete, aber bei genauer Prüfung wird klar, dass die meisten Forderungen – sieht man von den antisemitischen Paragraphen ab – kaum einmal tatsächlicher Gegenstand der praktischen Politik waren. In seiner Autobiografie Mein Kampf machte Hitler deutlich, dass ein Programm sowieso nicht für Debatten und Diskussionen gemacht wird, sondern nur zur Integration der Gefolgschaft. Programmdiskussionen sind schon deshalb schädlich, weil sie den blinden Glauben an eine Lehre verunsichern. Wie Hitler sich nach eigenem Bekunden seit seiner Zeit in Wien niemals mehr geändert habe33, so blieb das Programm der NSDAP stets dasselbe, von Hitler je nach Lage der Dinge unterschiedlich angewandt. Die nationalsozialistische Propaganda, die von Anfang an auf Organisation zielt, verwandelte die Bewegung in der Tat in eine permanente Massenversammlung. Sie ist das stärkste Element der Propaganda, weil, wie Elias Canetti in seiner großen Untersuchung Masse und Macht betont, in der Einheit der Masse jeder Unterschied verschwindet, jeder einzelne gleich den anderen ist und ein gesteigertes Selbstbewusstsein und Machtgefühl erhält. Das Massenerlebnis knüpft psychisch an das Fronterlebnis an, indem es eine Gleichheit der Vielen suggeriert, die auf einen Führer, eine Aufgabe verpflichtet sind. Die von ___________________
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auch in den Pressetiteln wider. Der Angriff war der Name für die von Gauleiter Goebbels seit 1927 herausgegebene Zeitschrift der nationalsozialistischen „Kampfpresse“. 1944 betrug die Auflage über 300.000 Exemplare (Zahl in: Zentner/Bedürftig 1993, S. 24). Virilio 1980, S. 33. Herv. A.M. „In dieser Zeit [in Wien, A.M.] bildete sich mir ein Weltbild und eine Weltanschauung, die zum granitenen Fundament meines derzeitigen Handelns wurden. Ich habe zu dem, was ich einst mir so schuf, nur weniges hinzuzulernen gemusst, zu ändern brauchte ich nichts.“ (Hitler 1939, S. 21)
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den Nationalsozialisten „lebendige Organisation“ genannten Gruppierungen (SA, SS, Gestapo, SD) waren die stärksten propagandistischen Elemente. Ihre Energie, Vitalität und Brutalität findet ihre Verkörperung zu Beginn am besten in den Sturmabteilungen der SA. Der Marschtritt ihrer Stiefel hat sicher mehr zum Sieg des Nationalsozialismus beigetragen als alle rhetorische Kunst. Hannah Arendt merkt in diesem Sinne scharfsichtig an: „Totalitäre Propaganda hat ihr Ziel nicht erreicht, wenn sie überzeugt, sondern wenn sie organisiert.“34 Der unbestrittene Meister der Propaganda, Joseph Goebbels, hat das nur zu genau gewusst. Programme oder die Schrift allgemein, so Goebbels, taugen wenig zu Propagandazwecken, das Lesen impliziert immer noch eine Verzögerung, ein Innehalten oder Nachdenken. Für eine fanatische Bewegung ist aber die unmittelbare Überwältigung des Mobilisierten entscheidend. „Die Propaganda muss direkt durch das Wort und das Bild gemacht werden, nicht durch die Schrift.“35 Deshalb die Betonung der Funktion der Rede, die Expansion der Wochenschauen, der Rundfunk mit seinen Parolen, der dazu dient, die Gesellschaft in Formation zu bringen, die unzähligen Kinoproduktionen, die nächtlichen Aufmärsche und Werbeplakate. In der Flut der Worte und Bilder sollte das Nachdenken erst gar nicht mehr zustande kommen. Ein „permanenter Beschuss“, sozusagen das Trommelfeuer der Nationalsozialisten, richtete sich auf den Willen der Angesprochenen. Diese Propaganda zielte auf die Masse der demobilisierten ehemaligen Soldaten, die Kleinbürger, die Arbeitslosen und Deklassierten, aber auch auf die Arbeiter, die nicht erst nach 1933 scharenweise der NSDAP zuliefen – und das nicht nur aus Opportunismus. Ein Funktionär der KPD erzählt dazu folgende aufschlussreiche Geschichte über die Begegnung mit ehemaligen deutschen Genossen im Herbst 1932. Auf seine Frage nach ihrem Übertritt in die NSDAP antworten die Arbeiter und früheren KPD-Mitglieder: „Wir sind die Alten und bleiben die Alten. Aber bei euch [den Kommunisten; A.M.] geht es zu langsam. Adolf macht es schneller.“ 36 Der Nationalsozialismus als Rausch und Symbol der Geschwindigkeit, als reine Energie, wird in den Panzerdivisionen der Wehrmacht und den Formationen der SS ein Stück weit zerstörerische Wirklichkeit. Die frühesten Anhänger Hitlers wie auch diejenigen, die den italienischen Faschismus prägten, konnten für sich in Anspruch nehmen, die Front auf die Ebene der Politik zu heben. Das, was der Krieg sie gelehrt hatte, wurde nun unmittelbar auf die politische Auseinandersetzung der Nachkriegszeit angewandt: ___________________ 34 35 36
Arendt 1991, S. 571. Zur Geschichte der SA, siehe Longerich (1989) Goebbels 1934, S. 18. Faschismus 1977, Anhang S. VIII.
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„Die Sturmabteilung (SA) der NSDAP und die Arditi der Faschistischen Partei [Italiens; A.M.] waren in doppeltem Sinne Nachfolger der Stoßtrupps. Sie bestanden anfangs aus ehemaligen Stoßtruppsoldaten, und sie sahen in der Stoßtrupptaktik den direktesten Weg, die im Weltkrieg gemachten Erfahrungen auf den Bürgerkrieg zu übertragen.“37
Der Stoßtrupp folgte den Prinzipien der Überraschung, Geschwindigkeit, Paralyse. Er tauchte an der Front an einer Stelle auf, wo er nicht vermutet wurde. Die Überraschung unterläuft das Feuer und verwirrt den Gegner. Im Bürgerkrieg gegen die parlamentarische Demokratie und „die Roten“ setzten die Kämpfer der SA auf ähnliche Taktiken. Der Bewegung als Todfeind gegenüber stand neben der anderen revolutionären Kraft (den Kommunisten) die alte bürgerliche Ordnung, die nur noch als Störung bei der Entfesselung der gesellschaftlichen Kräfte empfunden wird. In Hitlers Worten war „das deutsche Bürgertum am Ende seiner Mission“, die nationale Rechte der 20er Jahre nicht mehr als ein „gähnender Kartenspielklub“, zusammengesetzt aus „aufgeblasenen Vereinspatrioten und spießbürgerlichen Kaffeehauspolitikern“.38 In der Übertragung vulgärdarwinistischer Vorstellungen, die bereits im Krieg als „eherne Tatsachen“ wahrgenommen wurden und vom immerwährenden Kampf der Nationen und Rassen untereinander ausgingen, wird auch die eigene Bewegung vor der Sättigung im Erfolg gewarnt. „Die Größe einer Bewegung wird ausschließlich gewährleistet durch die ungebundene Entwicklung ihrer inneren Kraft und durch deren dauernde Steigerung. […] Ja, man kann sagen, dass ihre Stärke und damit ihre Lebensberechtigung nur so lange in Zunahme begriffen ist, so lange sie den Grundsatz des Kampfes als die Voraussetzung ihres Werdens anerkennt, und dass sie in demselben Augenblick des Höhepunkts ihre Kraft überschritten hat, in dem sich der vollkommene Sieg auf ihre Seite neigt.“39
___________________ 37 38
39
Schivelbusch 2003, S. 449. Heinrich Himmler bezeichnete „seine SS“ denn auch konsequent als „Stoßtrupp des Blutgedankens.“ Hitler 1939, S. 774, 538, 718. Ich möchte hier darauf hinweisen, dass es nach wie vor keine kritisch kommentierte Neuauflage von Mein Kampf in Deutschland gibt. Die Regierung des Freistaats Bayern, die die Verlagsrechte hat, hält an ihrer Auffassung fest, eine Neuauflage könne dem deutschen Ansehen im Ausland schaden. Absurderweise gibt es in zahlreichen anderen Ländern von Wissenschaftlern herausgegebene und kommentierte Übersetzungen, während man den deutschen Originaltext nur in Bibliotheken oder von den eigenen Großvätern oder –müttern bekommt. Selbst wenn viele ihre Bücher aus Angst vor den Alliierten verbrannt haben, einige müssen übrig geblieben sein, betrug die Auflage von Mein Kampf bis 1943 doch immerhin 10 Millionen Exemplare. Ebd., S. 385.
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Heinrich Himmler, der Reichsführer SS und ab 1936 Chef der deutschen Polizei, hat diese Vorstellung in Bezug auf die rassische Auslese der SS mit der Forderung ausgesprochen, „dass es bei dieser Bewegung niemals einen Stillstand geben kann“. 40 Am nie erreichbaren Ende stand die rassereine Volksgemeinschaft, in immer höherer Züchtung, eine „Aufnordung“ oder ein „Herausmendeln“, wie Himmler – manchmal unfreiwillig komisch – das rassenhygienische Programm nannte. Die nun propagierte rassische Volksgemeinschaft war dabei nur die ins Zivile und Metaphysische übersetzte Frontgemeinschaft der Schützengräben des Ersten Weltkriegs. Insbesondere der August 1914 galt als vollendete Volksgemeinschaft. Die Schicksalsgemeinschaft der Gräben wurde, insbesondere gegen Ende der Weimarer Republik, als Lösung (und Losung) für die zerrissene deutsche Gesellschaft präsentiert. Klasse, soziale Lage, Bildung, alles wird belanglos gegenüber der gemeinsamen Herkunft des Leidens und des Blutes. Politisches Ziel muss die Wiederherstellung der im Rückblick verklärten Einheit von 1914 sein. Dafür wird auch ein neuer Krieg in Kauf genommen, ja er ist geradezu die Vorbedingung dafür. Der in Kapitel 5 eingeführte Begriff der totalen Mobilmachung, die ins Zivile übersetzte Bewegung, zielt dabei nicht allein auf die Beschleunigung des Krieges und das Überwinden der festgefahrenen Fronten, er will mehr: Eine totale Erfassung und Aktivierung aller gesellschaftlichen Kräfte für die kommende große und unausweichliche Auseinandersetzung von Staaten, Rassen und Kulturen. Die Richtung dieses Konfliktes wird nicht nur in Ludendorffs Schrift Der totale Krieg deutlich angesprochen: Rassen werden in einem Kampf auf Leben und Tod einander gegenüberstehen, einzig die seelische (sprich: rassische) Geschlossenheit der Nation kann in diesem gewaltigen Ringen alle benötigten Kräfte für den Sieg frei machen.41 Voraussetzung dafür, so die Lehre des verlorenen Weltkrieges, war neben der inneren Geschlossenheit die wirtschaftliche Autarkie. Landwirtschaftlicher Boden und Rohstoffe, Zugang zu den Weltmeeren – das waren die Voraussetzungen für einen längeren Krieg gegen eine zu erwartende große Koalition von Gegnern. Der Traum vom Bodengewinn für eigene staatliche Stärke klingt dabei wie der Traum von Fronteinbrüchen und Geländeeroberungen in einer gefesselten Position, eine politische Übersetzung geplatzter militärischer Träume. Ökonomischer Reichtum wird noch mit ___________________ 40 41
Himmler 1939, S. 21 Zwar hat der Nationalsozialismus im Rassenkrieg seine mörderische Rhetorik unmittelbar in die Praxis übersetzt, für den Aufruf zur totalen Kriegführung lässt sich die Übereinstimmung von Absicht und Umsetzung aber nicht ohne weiteres behaupten. (siehe dazu Kapitel 7.3.)
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Raumvolumen gleichgesetzt. Die Tonnen- und Massenideologie des Ersten Weltkrieges findet sich hier in der Verabsolutierung abstrakter Größe wieder. Die Vorstellung, Deutschland sei bei der Verteilung der Welt zu kurz gekommen, die Bevölkerung zu zahlreich, um sie in naher Zukunft ernähren zu können, knüpft an malthusianische Vorstellungen von Überbevölkerung und Hungersnöten an. Der Begriff des fehlenden Lebensraumes kommt bereits zur Zeit der Einigung Deutschlands 1870/71 als politisches Schlagwort auf. Damit wurden, wie in Kapitel 2 gesehen, aber nur die imperialistischen Ansprüche der neuen Großmacht in Europa ausgesprochen. In traditioneller Weise war im Kaiserreich an Kolonien in Übersee gedacht worden, die Deutschland, seinem wirklichem Potenzial gerecht werdend, mit England und Frankreich gleichstellen sollten. Die Bevölkerungszunahme und die dadurch entstehende „Raumlosigkeit“ wird auch in Mein Kampf als die größte Gefahr für das Überleben der deutschen Nation gesehen: „Deutschland hat eine jährliche Bevölkerungszunahme von nahezu 900.000 Seelen. Die Schwierigkeit der Ernährung dieser Armee von neuen Staatsbürgern muss von Jahr zu Jahr größer werden und einmal bei einer Katastrophe enden, falls eben nicht Mittel und Wege gefunden werden, noch rechtzeitig der Gefahr dieser Hungerverelendung vorzubeugen.“42 In Mein Kampf werden vier verschiedene Wege aus diesem vermeintlichen Dilemma aufgezeigt: die Geburtenkontrolle (als französischer Weg gekennzeichnet), die innere Kolonisation (Gewinnung von Neuland, Intensivierung der Landwirtschaft), Forcierung von Industrie und Handel für fremden Bedarf und schließlich der Erwerb neuen Bodens. Wir wissen, für welchen Weg Hitler sich entschieden hat. Dennoch war – neben allen traditionellen Forderungen der Vorkriegszeit – ein neues Element in seiner Bodenpolitik. Die Alldeutschen der Wilhelminischen Epoche träumten zwar ebenfalls von einer deutschen Weltmacht und neuem Boden, sie dachten dabei aber an ein großes Kolonialreich in Afrika, gestützt auf die Vormachtstellung Deutschlands in Europa. Statt kolonialer Ausrichtung in Übersee tritt bei Hitlers Bodenpolitik der Osten Europas in den Vordergrund. Legitimiert durch den Begriff „Volk ohne Raum“, liegt das Ziel der Bewegung im Krieg um Lebensraum: „Demgegenüber müssen wir Nationalsozialisten unverrückbar an unserem außenpolitischen Ziel festhalten, nämlich dem deutschen Volke den ihm gebührenden Grund und Boden auf dieser Erde
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Hitler 1939, S. 143f.
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zu sichern. Und diese Aktion ist die einzige, die vor Gott und unserer deutschen Nachwelt einen Bluteinsatz gerechtfertigt erscheinen lässt.“43 Die Lebensraumkonzeption wird 1926 in Mein Kampf in einem Kapitel zur deutschen Bündnispolitik der Zukunft entwickelt. Nach einigen allgemeinen Überlegungen zur deutschen Bündnispolitik vor dem Ersten Weltkrieg folgen die eigenen Vorstellungen von der zukünftigen deutschen Außenpolitik. Neben der Revanche gegen Frankreich – im Sommer 1940 mit der französischen Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde verwirklicht – sieht der spätere Führer und Reichskanzler den einzig möglichen Expansionsraum im Osten. Als ob ein leeres, staatenloses Gebiet zur Verteilung vorläge, geht der Blick auf das „Riesenreich im Osten“. Allein die Sowjetunion kann Garant für die Bodenpolitik der Zukunft sein: „Damit ziehen wir Nationalsozialisten bewusst einen Strich unter die außenpolitische Richtung unserer Vorkriegszeit. Wir setzen dort an, wo man vor sechs Jahrhunderten endete. Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land im Osten. Wir schließen endlich ab die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft. Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Russland und die ihm untertanen Randstaaten denken. […] So unmöglich es dem Russen an sich ist, aus eigener Kraft das Joch des Juden abzuschütteln, so unmöglich ist es dem Juden, das mächtige Reich auf die Dauer zu erhalten. Er selbst ist kein Element der Organisation, sondern ein
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Ebd., S. 739. Der Kampf um Raum als das Movens der Menschheitsgeschichte fand Eingang in die politische Geografie durch Friedrich Ratzel (1844-1904). Die Geschichte aller Kulturen definierte er als einen immerwährenden Kampf um Boden und Raum. Ratzel, ursprünglich Biologe, war aber mehr ein Theoretiker oder Geschichtsphilosoph. Aus seinen Ausführungen zog er noch keine politischen Folgerungen. Erst die als deutsche Geopolitik bekannte Wissenschaft von Karl Haushofer, dessen bekanntester Schüler und „Wahlsohn“ der spätere Stellvertreter des Führers, Rudolf Heß, war, leitete unmittelbare politische Ziele für die deutsche Politik daraus ab. Auf der Grundlage eines mythischen Bodenbegriffes entwickelte die von Haushofer gegründete Geopolitik eine imperialistische und antisemitische Theorie und forderte, im Notfall durch militärischen Einsatz, die Bildung eines mitteleuropäischen Kontinentalblockes unter deutscher Führung. Antibritische Ressentiments und die Vorstellung einer Einkreisung Deutschlands sind die schon öfters erwähnten Faktoren für die Idee einer expansiven Ausrichtung der deutschen Politik. Literarischen Niederschlag fanden diese Ideen, in dem 1922 erschienenen Roman von Hans Grimm, Volk ohne Raum, dessen Titel zum nationalsozialistischen Schlagwort wurde. Zur deutschen Geopolitik und ihren strategischen Kontroversen vgl. Seidt 2002.
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Ferment der Dekomposition. Das Riesenreich im Osten ist reif zum Zusammenbruch. […] Wir sind vom Schicksal dazu ausersehen, Zeugen einer Katastrophe zu werden, die die gewaltige Bestätigung für die Richtigkeit der völkischen Rassentheorie sein wird.“44
Damit war der seit 1919 verfochtene Revisionismus zugunsten der viel weiter greifenden Bodenpolitik preisgegeben. Zugleich verklammerten sich bereits Mitte der 20er Jahre die Themen Antisemitismus und Raumeroberung, denn in den Augen Hitlers war die Sowjetunion ein von Juden regierter Staat. Zwei Dinge verbinden sich denn auch in der nationalsozialistischen Doktrin miteinander. Krieg um Lebensraum, also der Gedanke einer „germanischen Expansion“, und zum anderen die Vernichtung des inneren Feindes, der zugleich als Weltfeind vorgestellt wird: „der Jude“. Die Bewegung steuert im Laufe ihrer Existenz auf diese beiden Ziele zu, die Verwirklichung bzw. der Versuch ihrer Verwirklichung erfolgt fast gleichzeitig. Spätestens ab Ende 1941 geraten sie miteinander in Konflikt und Hitler wird sich, als die Eroberung von Lebensraum im Kampf gegen die Rote Armee unerreichbar wird, für sein zweites Kriegsziel, das rassenpolitische, entscheiden. Es war ihm letztendlich wichtiger als der Krieg um Lebensraum. „Kurz, im Dezember 1941, innerhalb weniger Tage, traf Hitler zwischen den beiden nicht miteinander zu vereinbarenden Zielen, die er von Anfang an verfolgt hatte, der Weltherrschaft Deutschlands und der Ausrottung der Juden, eine endgültige Entscheidung: Er gab das erste als unerreichbar auf und konzentrierte sich ganz auf das zweite. […] Der Politiker Hitler dankte im Dezember 1941 endgültig ab zugunsten des Massenmörders Hitler.“45 Am Ende werden Bewegung und Vernichtung identisch, eine Koinzidenz, die immer schon in den beiden Begriffen angelegt ist. Im Massenmord an Juden, Zigeunern, Bolschewisten oder „Asozialen“ als affektfreie „reine Bewegung“ (= abstrakte Arbeit) hat die Gleichsetzung ___________________ 44
45
Hitler 1939, S. 742f. Später, angesichts der Schwierigkeiten des Kriegsverlaufs, hat Hitler in seinen Tischgesprächen immer wieder das Schicksal beklagt, in den Osten gehen zu müssen. Russland sei ein furchtbares Land, das Ende der Welt, die dantesche Hölle. „Nur die Vernunft gebietet uns, nach dem Osten zu gehen.“(Picker 1993, S. 102; vgl. dazu auch Fest 1992, S. 928) Haffner 1999, S. 165. Diese Fokussierung erklärt auch die ansonsten vollkommen unverständliche Kriegserklärung an die USA im Dezember 1941, auf die nicht einmal die verbündeten Japaner gedrängt hatten. Damit besiegelte Hitler die militärische Niederlage, hielt sie aber noch lange Zeit auf, um Raum und Zeit für seine Vernichtungsaktionen zu haben.
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von Bewegung und Vernichtung schließlich ihre furchtbarste Entsprechung gefunden. 46 Man lese etwa die Abschnitte in denen Rudolf Höß, der Kommandant von Auschwitz, sein Verhältnis zur „Arbeit“ beschreibt: „Ich kann wohl mit Fug und Recht behaupten, dass ich weiß, was arbeiten heißt, und dass ich Arbeitsleistung wohl abzuschätzen vermag. Mit mir selbst zufrieden war ich stets nur, wenn ich wieder ein gut Stück Arbeit vollbracht hatte. […] Von vornherein war mir klar, dass aus Auschwitz nur etwas Brauchbares werden könne durch unermüdlich zähe Arbeit aller, vom Kommandanten bis zum letzten Häftling. […] Ich sah nur noch meine Arbeit, meine Aufgabe. Alle menschlichen Regungen wurden dadurch zurückgedrängt. […] Wollte ich meiner Aufgabe gerecht werden, so musste ich der Motor sein, der unermüdlich, rastlos zur Arbeit am Aufbau antrieb, der immer und immer wieder alle vorwärts treiben und mitreißen musste, ganz gleich, ob SS-Mann oder Häftling.“47
Ob der Inhalt der Arbeit dabei die Errichtung neuer Lagerabschnitte oder die Vergasung von Menschen bedeutete, war prinzipiell gleichgültig. Es galt, die „gestellte Aufgabe“ so gut als möglich zu erledigen. Stückzahl, ein Begriff der Akkordarbeit, war bezeichnenderweise der SS-Terminus für die in Auschwitz ermordeten Juden. Die „Bewegung“ mündet in die Vernichtung ganzer Menschengruppen und Bevölkerungsteile, in letzter Konsequenz aber in die eigene Selbstvernichtung. 48
7.3. Ambivalenzen Adolf Hitler war vier Jahre an der mörderischsten Front des Ersten Weltkriegs eingesetzt. Seine spätere Kriegführung und der totale Untergang des Dritten Reiches legen die Vermutung nahe, dass Hitler ___________________ 46 47 48
Vgl. dazu Jürgen Langenbachs (1984) Überlegungen zur Identität von abstrakter Arbeit (Technik) und Faschismus. Höß 1992, S. 64f., S. 91, S. 97, S. 98. Zum Übergang des Vernichtungskrieges in die Selbstvernichtung: Meschnig 1997. Zur implizit selbstmörderischen Logik des Genozids merkt der amerikanische Medizinhistoriker Robert J. Lifton in seiner Untersuchung der ärztlichen Funktion im 3. Reich an: „Man heilt sich durch Selbstzerstörung, denn dann und nur dann ist die Gefahr der ‘inneren Judaisierung‘ und der geheimen Infektion auf immer gebannt. Reinigung und Opfer werden total. Es lässt sich durchaus denken, dass die Selbstzerstörung die einzig logische Konsequenz eines wirklich begangenen Genozids bildet.“ (Lifton 1991, S. 592; Herv. im Orig.)
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aus den Materialschlachten der Westfront nichts gelernt oder falsche Schlüsse gezogen hatte. Wie hingen seine politische und seine militärische Konzeption zusammen? War Hitler ein Politiker oder doch mehr Soldat? Und was war eigentlich seine militärische Konzeption? Vertrat das Dritte Reich, um in den Begriffen dieser Arbeit (Kapitel 1.5.) zu bleiben, eine Vernichtungs- oder Ermattungsstrategie? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir zunächst sehen, was für militärische und politische Strategien nach 1918 und den Erfahrungen insbesondere der Westfront blieben. Herfried Münkler benennt die drei wesentlichen Richtungen, in denen die Nachkriegsgeneration versucht, den Krieg zu denken: „Unter dem Eindruck der Material- und Abnutzungsschlachten des Ersten Weltkrieges haben sich drei unterschiedliche Strategien entwickelt. […] Es sind dies die offensive Strategie des Blitzkrieges, die defensive Maginotdoktrin und schließlich die Strategie des indirect approach, die von der Wirtschaftsblockade bis zum strategischen Bombenkrieg reicht.“49 Deutschland, Frankreich und die angelsächsischen Länder (Großbritannien, USA) stehen im Zweiten Weltkrieg paradigmatisch für diese drei Strategien.50 Der deutsche Blitzkrieg, die französische Maginotlinie und die englische Seeblockade bzw. das anglo-amerikanische „moral bombing“ stehen für unterschiedliche Verarbeitungen der Kriegserfahrung (bzw. Reagieren auf die aktuelle Lage) und ergeben die daraus folgenden Konzepte. Die Sowjetunion unter Stalin kann nicht eindeutig einem der oben genannten Prinzipien zugeordnet werden, da sie ihre militärischen Niederlagen zu Beginn des Feldzuges Barbarossa im Sommer 1941 erst langsam in ein dann stringentes und erfolgreiches Konzept verwandelte, das im Wesentlichen den zunächst erfolgreichen deutschen Gegner kopierte. Aber auch das nationalsozialistische Deutschland musste aufgrund unvorhergesehener militärischer Niederlagen seine Konzeption im Laufe des Krieges verändern. Der Blitzkrieg blieb so nur für die Frühphase des Zweiten Weltkriegs eine erfolgreiche und mögliche Option. In den Materialschlachten des Ersten Weltkrieges wurden – wie in den vorherigen Kapiteln gesehen – alle führenden Militärs von der Wirkung der Maschinenwaffen überrascht. Dennoch sind die maßgeblichen technischen Entwicklungen für die Überwindung des Raumes, d.h. ___________________ 49 50
Münkler 2002, S. 212 (Herv. im Orig.). Ganz eindeutig ist diese Zuordnung nicht. So hat etwa das nationalsozialistische Deutschland zunächst mit der Errichtung des Westwalls und im späteren Kriegsverlauf mit dem Atlantikwall, der eine feindliche Invasion an der französischen Atlantikküste verhindern sollte, auch auf die Defensive gesetzt.
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für die Wiederaufnahme der Bewegung, bereits rudimentär entwickelt: der Panzer, der aus dem alten linearen Verlauf von Straßen und Eisenbahnen ausbricht, das Flugzeug, das keine von der Geografie des Bodens erzeugten räumlichen Hindernisse mehr kennt und – auf kommunikationstechnologischer Seite – der Rundfunk, der nun wirklich jede räumliche und d.h. vor allem nationalstaatliche Grenze überschreitet. Das damit in Ansätzen bereits im Ersten Weltkrieg erreichte Kriegsniveau bestimmte die Geschichte des Zweiten Weltkrieges zu Beginn auf deutscher Seite in doppelter Weise: einmal im taktischoperativen Bereich durch Panzer und Flugzeug in Kombination mit UKW-Sprechfunk und zum zweiten in einem durch Rundfunk, also Radio, gesteuerten gesamtstrategischen Kriegsmanagement, in dem Propaganda und ideologische Vorbereitung auf den Krieg in den Mittelpunkt rückten. Der Nationalsozialismus hat diese beiden Möglichkeiten zu Beginn des Zweiten Weltkrieges am weitesten entwickelt. Hatte der Erste Weltkrieg der Massenkommunikation ihre moderne Form gegeben, so korrelierte das Radio (Funk) mit der neuen strategischen Gesamtkriegführung unter Hitler: einer – zumindest als Ideal gedachten – „totalen Mobilmachung“ oder „In-Formation“ aller Teile der Gesellschaft, ausgeschlossen aber die politischen und rassischen Gegner. Dem Geschwindigkeits- genauer: Beschleunigungsrausch der deutschen Wehrmacht, der auf eine Paralyse des Gegners zielte51, war bis vor Moskau (auch das eine Parallele zu Napoleon) niemand gewachsen. Dafür wurde schon sehr früh von westlicher Seite der Begriff des „Blitzkrieges“ geprägt, der inhaltlich drei Dimensionen hat. Taktischoperativ: den ohne vorherige Kriegserklärung durchgeführten blitzartigen Überfall durch motorisierte Panzerdivisionen in Begleitung der Luftwaffe; strategisch: die Machtposition durch einzelne Schläge auszu___________________ 51
Das bekannteste Beispiel dafür ist die vom späteren Generalfeldmarschall Erwin Rommel im Frankreichfeldzug befehligte 7. Panzerdivision, die entgegen allen bis dorthin verbindlichen militärischen Lehren in der Nacht angriff. Zusätzlich feuerten die Panzer während der Fahrt, etwas was die traditionelle Panzerführung ablehnte, da die Treffsicherheit dadurch enorm abnahm. Rommels These, dass die moralische Wirkung beim Gegner dafür verheerend sein würde, stellte sich als richtig heraus. Die völlig überraschte französische Armee sah Rommels Panzer an den unmöglichsten Stellen auftauchen und verlor vielfach die Nerven. Rommels Division bekam von französischer Seite sofort den bezeichnenden Namen „Gespensterdivision“ verliehen (Vgl. Zentner 1994, S. 83). Zur Unfähigkeit der französischen Führung, den Bewegungskrieg zu verstehen, vgl. Bloch (1995, S. 70-180). „Der Triumph der Deutschen“, so der französische Historiker, „war im Wesentlichen ein intellektueller Sieg, und das ist vielleicht das Gravierendste an ihm gewesen.“ (Ebd., S. 81)
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weiten und ökonomisch: die Aufrüstung von Fall zu Fall voranzutreiben, also keine Tiefenrüstung, d.h. eine langfristige Umstellung der Produktion für die Kriegführung zu forcieren. Dieses Konzept trug mit zu den schnellen Siegen über Polen und die Westmächte in den Jahren 1939/40 bei. Die Panzerdivisionen der Wehrmacht hatten – im Zusammenspiel mit der deutschen Luftwaffe – in weniger als einem Jahr fast ganz Europa in ihre Gewalt gebracht. Die Feldzüge waren gegen jede nüchterne Voraussage in wenigen Wochen entschieden. Die drei Elemente: Überraschung, Konzentration der Kräfte und Geschwindigkeit stellten sich in ihrer Verbindung als entscheidend heraus.52 Das, was die Stoßtrupps im Ersten Weltkrieg ansatzweise versuchten, wurde durch die neuen Waffensysteme zwanzig Jahre später in militärische Erfolge übersetzt. Doch man darf nicht übersehen, dass der Blitzkrieg ebenso sehr aus einer „Not“ der deutschen Seite entstand. Trotz der Wiederaufrüstung der Nationalsozialisten konnte nur ein Ignorant glauben, dass Deutschland ökonomisch einer Allianz der Westalliierten (plus der Sowjetunion) Paroli bieten konnte. Die in den industriellen Feldschlachten ab 1916 sichtbare ökonomische Schwäche der deutschen Kriegführung verlangte nach einem noch radikaleren Modell, als es der Schlieffenplan bereits implizierte. Beispielhaft kann hierfür der Feldzugsplan gegen Frankreich 1940 genannt werden, ein sozusagen umgekehrter Schlieffenplan, der als „Sichelschnitt“ und „Drehtüreffekt“ in die Militärgeschichte eingegangen ist. 53 Gegen jede militärische Vernunft und gegen den Rat der meisten Generalstabsoffiziere hatte Hitler einen vom späteren Generalfeldmarschall Erich von Manstein entwickelten Angriffsplan unterstützt und sich zu eigen gemacht. Die Umsetzung des Sichelschnittplanes sollte den Höhepunkt der deutschen Kriegsmaschinerie bilden und Frankreich in gerade einmal 6 Wochen besiegen, ein Land, in dem die Generation der Väter jahrelang im Stellungskrieg der Westfront festsaß. Die Schmach von Versailles wurde danach auch symbolisch aufgelöst, indem die französische Seite im eigens herangeschafften historischen Eisenbahnabteil (dem Ort, an dem ___________________ 52
53
Der in den deutschen Sprachgebrauch eingegangene Satz: „Nicht kleckern, sondern klotzen“ war ein Bonmot von Generaloberst Heinz Guderian, der damit eine Konzentration von Panzern in eigenen Panzerdivisionen meinte. Diese einheitliche Verwendung war eine wichtige Voraussetzung für die anfänglich großen Erfolge der deutschen Wehrmacht (Vgl. dazu Guderians 1937 erschienene Instruktionsschrift Der Panzerangriff in Bewegung und Feuer, in: Guderian 1996, S. 32-39). Zur Entstehung des Sichelschnittplanes und den ihn begleitenden Kontroversen vgl. Militärgeschichtliches Forschungsamt (1989, S. 4361).
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Deutschland 1918 die Kapitulation unterschrieb) ihrerseits die Kapitulation unterzeichnen musste. Die bis im Winter 1941 erfolgreiche Kriegführung war eine „von Fall zu Fall“ vorwärts gehende Bewegung, die versuchte, einen totalen Krieg gegen mehrere Feinde unter allen Umständen zu vermeiden. Dass schließlich doch wie im Ersten Weltkrieg eine riesige Staatenallianz gegen das nationalsozialistische Deutschland stand, war dann ein Effekt der massiven und unerwarteten Gegenwehr (insbesondere Churchills England und Stalins Russland) und keineswegs von Anfang an eingeplant. Politisch kann man von einem totalen Versagen der NSFührung sprechen, die keinerlei Gespür für die mentale Verfassung ihrer Hauptgegner hatte. Die Konzeption des Blitzkrieges bildete insgesamt eine Strategie des „armen Mannes“, die über kurzfristige Siege massenpsychologisch wirksam war. „Die Blitzkriegsstrategie ist lange Zeit nur als taktische oder operative Methode der überfallartigen militärischen Vernichtung des Gegners verstanden worden, doch sie war weit umfassender gedacht: Ein Rezept der Gesamtkriegführung, das die spezifischen Schwächen und Vorzüge der deutschen Lage in Rechnung stellte und ingeniös zu einer neuartigen Eroberungspraxis verband. Indem sie die Zeiträume zwischen den verschiedenen Feldzügen zu jeweils neuen Rüstungsanläufen nutzte, konnten die Vorbereitungen nicht nur auf die einzelnen Gegner abgestellt, sondern die materiellen Belastungen der Wirtschaft wie der Öffentlichkeit auch relativ gering gehalten werden, ehe von Zeit zu Zeit die Fanfarenstösse massierter Triumphe für psychologische Stimulans sorgten.“54
Einige Beobachter betonen auch zu Recht den immanenten Opportunismus des Blitzkrieges, der mehr auf Effekt zielt als andere militärische Strategien. Seine Logik erinnert sehr an General Ludendorffs „Strategie“ für die Märzoffensive im Jahre 1918. Die berühmte Antwort auf die Frage, was denn nach erfolgreicher Anlaufoffensive geschehen soll: „Wir hauen ein Loch hinein, alles andere ergibt sich von selbst“, erinnert an die Ratlosigkeit Hitlers nach der siegreichen Westoffensive. Offensichtlich besaß die nationalsozialistische Führung keinen allgemeinen Plan für die Gesamtkriegführung. Für Michael Geyer war der Blitzkrieg in diesem Sinne geradezu das Gegenteil einer militärischen Doktrin, vielmehr verkörpert er die sinnlose Steigerung kriegerischer Energie für sich selbst, in der allein der (kurzfristige) Erfolg zählt.
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Fest 1992, S. 842.
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„The core of these operations did not consist in any particular use of the new means of warfare, but in a kind of operational opportunism that knew no preset and standardized methods, only the fullest possible exploitation of success with all available means in the pursuit of the ultimate goal of overthrowing the enemy. Blitzkrieg lived off the destruction of a systematic approach to military command decisions. It was the opposite of a doctrine. Blitzkrieg operations consisted of an avalanche of actions that were sorted out less by design than by sucess.“55
Neben diesem prinzipiellen Opportunismus stand die psychologische Seite der Kriegführung für eine Antwort auf die Versäumnisse, die man 1914-18 begangen zu haben glaubte. Die Wirkung der Waffensysteme auf die Psyche der Gegner und der Zivilisten wurde oft höher eingeschätzt als ihre militärische Komponente. Überraschung, Verwirrung, Schockzustände erzeugen, Lähmung – das waren die Prinzipien einer Kriegführung, die dem Trauma der Westfront entkommen wollte. Da der Dolchstoß die Idee des Zusammenbruchs der Heimat implizierte und das Fanal der Niederlage bildete, galt es als militärisch sinnvoll, die gegnerische Zivilbevölkerung zu terrorisieren. Dafür eignete sich der Bombenangriff auf offene Städte ausgezeichnet, eine Erkenntnis, die beide Seiten teilten, und die ab 1942/43 von den anglo-amerikanischen Bombergeschwadern täglich vorexerziert wurde, allerdings ohne den versprochenen psychologischen Erfolg. 56 Aber auch im unmittelbaren Kampfgeschehen spielte die Psychologie zu Beginn der Feldzüge eine entscheidende Rolle: „Selbst als Kriegsherr dachte er [Hitler; A.M.] eher an die psychologische als an die militärische Seite einer Waffe. Das zeigte sich schon, als er die Sirene für die Stukas erfand und die demoralisierende Wirkung des Geheuls höher einschätzte als die Sprengkraft der Bomben.“57 Nach den ersten Niederlagen an der Ostfront wurden die Sirenen bezeichnenderweise nicht mehr eingebaut, ihr Triumphgeheul verstummte und sollte in diesem Krieg auch nicht mehr ertönen. Der Blitzkrieg setzt auf die Vermeidung der Abnutzungsschlacht und sucht die Entscheidung wieder auf dem Schlachtfeld. „Rückverlegung ___________________ 55 56
57
Geyer 1986 S. 585 (Herv. A. M.). Zur Logik und den Folgen des alliierten strategischen Bombenkriegs, der spätestens seit Herbst 1944 mit dem Zusammenbruch der deutschen Jagdwaffe nur noch auf die Zerstörung deutscher Städte ohne großen militärischen Nutzen mehr zielte, vgl. die akribische und umstrittene Arbeit von Jörg Friedrich (2002): Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940-1945. Weiters v.a. die 2004 erschienene militärgeschichtliche Arbeit von Rolf-Dieter Müller: Der Bombenkrieg 1939-1945. Speer 1978, S. 278f.
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der Kriegsentscheidung auf das Schlachtfeld hieß zugleich, das Militär wieder in die Funktion der dominierenden und kontrollierenden Macht des Krieges einzusetzen und den Einfluss, den Zivilisten und Wirtschaftsfachleute seit Herbst 1914 erlangt hatten, zurückzudrängen.“58 Neben dieser Wiedereinsetzung des Militärs als führender und entscheidender Kraft, durch Hitler vielfach unterlaufen und im weiteren Kriegsverlauf konterkariert, war der Blitzkrieg das implizite Produkt einer ökonomischen Not, die trotz Mobilmachungsgetöse der Industrie immer deutlicher wurde. Der Blitzkrieg wurde aber auch aus politischen und psychologischen Gründen gewählt. Ängstlich auf die Stimmung in der Bevölkerung fixiert, die anders als 1914 keine Begeisterung für den neuerlichen Krieg zeigte, bildete ein schneller Krieg die einzige politische Option, in der die Zivilbevölkerung möglichst wenig von den Kriegsauswirkungen spüren sollte. Er kommt der Idee des Vernichtungskrieges am nächsten, da er eine rasche Entscheidung in einigen siegreichen, zeitlich nacheinander geführten Schlachten sucht. Der schnelle Offensivkrieg dient gewissermaßen einer perversen Hegung des Krieges. Den Gegner überrumpeln, ihn einkreisen und schlagen, das war das Konzept einer Kriegführung, die psychologisch auf dieselbe Situation wie 1914 zielte und trotz aller Beteuerungen in den engen Kategorien von 1914 dachte. Der Schlieffenplan antwortete auf die Umzingelung feindlicher Mächte und setzte dieser Vorstellung eine quasi spiegelbildliche Einkreisung der Gegner entgegen. „Die aus der geografischen Mittellage gespeiste deutsche Einkreisungsangst reagiert folgerichtig mit dem Umkehrdrang. Den Gegner einkesseln heilt die Klaustrophobie.“59 Einen Gegner, der auf einer Insel lebte (England), und ein Land von der Größe der Sowjetunion konnte man aber nicht einkesseln. 60 Mit dem ___________________ 58 59 60
Münkler 2004, S. 213. Friedrich 1995, S. 498. Schon Clausewitz hielt es für unmöglich, Russland in einem Feldzug zu erobern. In Vom Kriege schreibt er: „Das russische Reich ist kein Land, was man förmlich erobern, d.h. besetzt halten kann. […] Ein solches Land kann nur bezwungen werden durch eigene Schwäche und durch die Wirkungen des inneren Zwiespaltes.“ (Clausewitz 1994, S. 703) Dafür war die Eroberung der Hauptstadt Moskau eine wichtige Voraussetzung. Im Zweiten Weltkrieg kam es im Herbst 1941 zum Konflikt, als der Generalstab für einen konzentrierten Angriff auf Moskau plädierte, während Hitler eine Südoffensive aus wirtschaftlichen Gründen bevorzugte. Psychologisch war vielleicht auch eine Aversion Hitlers gegen die Einnahme Moskaus vorhanden, da er das Schicksal der Armee Napoleons 1812 vor Augen hatte. Erst nach der Besetzung der Ukraine erfolgte auf Druck des OKHs (Oberkommando des Heeres) dann Anfang Oktober der Angriff auf Moskau, Deckname Taifun. Mitte Dezember war die Offen-
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Beginn des Unternehmens Barbarossa willigte die deutsche Führung unbewusst in die Ermattungsstrategie des Ersten Weltkriegs ein. In den Weiten Russlands endete der Blitzkrieg, selbst wenn manche Wehrmachtsgeneräle nach 1945 den Sieg greifbar nahe und nur durch Hitlers falsche Direktiven den Gesamtkriegsplan verdorben sahen. Die Sommeroffensive 1942 zeigt am deutlichsten die Ambivalenz und das Schwanken der deutschen Kriegführung zwischen der Idee einer Entscheidungsschlacht (im Wesentlichen der Vernichtungskonzeption geschuldet) und der Akzeptanz einer Ermattungsstrategie, die eine längere Kriegführung überhaupt erst denkbar machte. In den Plänen für das Frühjahr 1942 hatte es den Anschein, als hätte Hitler aus dem Scheitern des Barbarossa-Konzepts gelernt. Nunmehr sollten nicht, wie noch vor einem Jahr, entlang der ganzen Front Angriffe geführt werden, sondern, neben der Eroberung des belagerten Leningrads61, lediglich im Bereich der Heeresgruppe Süd mit einem konzentrierten Vorstoß in den Kaukasus und zu den sowjetischen Erdölgebieten um Majkop und Grosny. Zuvor mussten aber in einzelnen Teilschritten die Bedingungen für den Vorstoß in den Kaukasus erfüllt werden. Eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür war die Ausschaltung des Rüstungs- und Verkehrszentrums Stalingrad. „In der Tat sprach viel für diese Option. Von den rund 30 Millionen Tonnen Erdöl, die 1938 in der Sowjetunion gefördert worden waren, stammten fast drei Viertel aus dem Raum um Baku, weitere 16 Prozent aus den nordkaukasischen Ölfeldern um Majkop, Grosny und Dagestan. Selbst wenn sich, wie zu erwarten war, diese Relationen zwischenzeitlich leicht verschoben hatten, glaubte die deutsche Führung davon ausgehen zu können, dass eine Besetzung des kaukasischen Raumes die – in ihrer Landwirtschaft und ebenso in ihrer Kriegsmaschinerie hochgradig mechanisierte und somit ölabhängige – Sowjetunion über kurz oder lang zur Einstellung des Krieges zwingen würde.“62
Diese Überlegung war umso plausibler, als mit dem Vormarsch in den Kaukasus auch das für die Industrieerzeugung entscheidende Gebiet des Donezbeckens ausfallen musste, als auch die Sperrung des Transport___________________
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sive endgültig gescheitert. Ob die Einnahme Moskaus am Kriegsverlauf etwas verändert hätte, bleibt aber bloße Spekulation. Leningrad und Stalingrad standen beide für die ideologischen Hauptfeinde Hitlers. Diese Städte sollten dem Erdboden gleichgemacht werden, ohne Rücksicht auf die darin zurück belassenen Zivilisten. In Leningrad verhungerten so während der dreijährigen Belagerung der deutschen Wehrmacht über eine Million Menschen, v.a. Zivilisten. Wegner 1992, S. 18f. Zur Schlacht um Stalingrad und ihrer Vorgeschichte siehe etwa: Wette und Ueberschär (1993) oder Piekalkiewicz (1992).
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weges an der Wolga zu erwarten war. Letztlich gab, so Hitlers diesmal rationelle Überlegung, nur der Zugewinn an industrieller Kapazität und vor allem an Erdöl die Möglichkeit einen längerfristigen Krieg überhaupt führen zu können. Bei einem Besuch der Heeresgruppe Süd brachte Hitler diese Einsicht auf die prägnante Formel: „Wenn ich das Öl von Majkop und Grosny nicht bekomme, dann muss ich diesen Krieg liquidieren.“63 Diese viel zitierte Aussage suggeriert eine wirtschaftliche Logik in der Kriegführung Hitlers, die insbesondere nach den Winterschlachten des Jahreswechsels 1941/42 zur strategischen Notwendigkeit wurde. Eine rein militärische Kriegführung war nun nicht mehr möglich. Der Kampf um Rohstoffe wurde nun zentral: „In der Ukraine sollte das Reich die Kornfelder finden, die es gegen die Rückkehr einer Hungersnot wie 1918 schützen würden, im Kaukasus die Ölfelder, ohne die eine motorisierte Armee gelähmt ist. Hitler führte den Krieg ständig als politischen.“64 Zu Recht verweist Raymond Aron hier auf die politische Komponente der Kriegführung. Aber im eigentlichen meint Aron hier eine auf ökonomische Parameter und wirtschaftliche Stärke zielende rationale Strategie. Nur waren insbesondere für die Schlacht in Stalingrad letztendlich weder politische noch ökonomische Überlegungen für Hitler ausschlaggebend. Politisch war der Angriff auf die verbündete Sowjetunion ein Wahnsinn, ökonomisch Deutschland auf den Ermattungskrieg nicht vorbereitet. Der alte Grabenkämpfer und fanatische Ideologe brach im Fortlauf der Operationen im Sommer 1942 vielmehr wieder durch. Voller Ungeduld wollte Hitler alle Unternehmen auf einmal stattfinden lassen. Seine Fixierung auf eine entscheidende Schlacht um Stalingrad zersplitterte die deutschen Kräfte und führte zur militärischen Katastrophe. Je länger der Krieg im Osten dauerte, umso mehr wurde er wieder zum Abnutzungs- und Stellungskrieg, mit Hekatomben von Toten und Unmengen von Material. Stalingrad verkörpert, wie Verdun im Ersten Weltkrieg, die Massierung und Konzentration des Krieges auf kleinstem Raum. Die Landkarte im Maßstab 1:1.000.000 mutierte zum Stadtplan: ___________________ 63
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Laut Aussage von Generalfeldmarschall Paulus im Nürnberger Prozess, die von anderen Zeugen bestätigt wird (Nürnberger Prozess, Band VII, S. 290). Paulus, der in seiner Aussage auf die Bedeutung wirtschaftlicher Ziele für die Kriegführung Hitlers verweist, nennt auch das genaue Datum und den Ort: 1. Juni 1942 in Poltawa während einer Oberbefehlshaber-Besprechung. Aron 1980, S. 406. Zu Hitlers Politik, Strategie und Kriegführung in den entscheidenden Jahren 1940-41, vgl. Hillgruber 1982; zu Hitler als Feldherr: Keegan 2000, S. 341-449.
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„Der Krieg hatte die unendliche Steppe gegen die jäh abfallenden, von Schluchten durchschnittenen Ufer der Wolga, gegen die Industrieviertel von Stalingrad getauscht. Er tobt jetzt in einer von Betonklötzen, Eisenträgern und Steinen übersäten Mondlandschaft. Man zählte nicht mehr nach Kilometern, sondern nach Metern, im Hauptquartier hing nur noch eine einzige Karte, die der Stadt Stalingrad.“65
Diese Reduktion entspricht dem Stellungskrieg des Ersten Weltkrieges, wo einzelne Hügel, Bergkuppen oder kleine Dörfer Hunderttausenden das Leben kosten. Plötzlich sah man sich – wie nach der Marneschlacht 1914 – mit der Realität eines Krieges konfrontiert, den niemand führen wollte. Moskau war das Ende der Blitzkriegführung gewesen. Danach kannte Hitler nur noch Halten um jeden Preis. Es war, als komme „in Hitler der alte Grabenkämpfer zum Vorschein. Als wäre der gequälte Geist des unseligen Falkenhayn in ihn gefahren, erlebte man ab 1942 den eiligsten der Blitzkrieger, der mit Vorliebe stehen blieb, sich verschanzte und keinen Fußbreit Boden, sondern das Leben der Truppe preisgab. Seitdem zerschmolz die Russlandarmee.“66 Alle Biografen Hitlers, ob Joachim Fest, Allan Bullock oder Ian Kershaw, beschreiben seine Konflikte mit der Generalität, insbesondere nachdem der Blitzkrieg vor den Toren Moskaus ins Stocken kam. Dabei war Hitlers Verhältnis zur Wehrmacht nie ganz ungetrübt, wenn nicht in manchen Fragen schwer belastet. Den deutschen Offizier gab es selbstverständlich als eine homogene Erscheinung auch nicht. So lässt sich etwa eine scharfe Trennung innerhalb der Wehrmacht zwischen den Heeresoffizieren der traditionellen Schule und den schnellen Bewegungskriegern, den (meist) jüngeren Panzergenerälen um Manstein, Guderian, Kleist oder Rommel ausmachen. 67 Hitler, anfangs begeistert von ihren ___________________ 65
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General Doerr, zit. bei Masson 2000, S. 262f. Auch der bekannteste englische Militärhistoriker, John Keegan (1991, S. 339f.), verweist darauf, dass der Krieg an der Ostfront mit Beginn des Scheiterns des Barbarossa-Planes sich den Abnutzungsschlachten des Ersten Weltkrieges annäherte. Die Vorstellung eines „schnellen Krieges“ mit Panzerverbänden und motorisierten Divisionen entspricht im allgemeinem nicht der Realität des Zweiten Weltkrieges. Insbesondere am russischen Kriegsschauplatz wurde ab Jahresende 1942 der Stellungskrieg mit horrenden Verlustzahlen und gewaltigen Materialeinsätzen zur alltäglichen Erscheinung. Friedrich 1995, S. 467. Bildeten schon die Heeresoffiziere keine homogene Kaste, so waren die Differenzen zwischen den Waffengattungen erwartungsgemäß noch größer. Heer, Luftwaffe und Marine trennten unterschiedliche politische und strategische Konzeptionen. West-, Süd- oder Ostorientierung: alle politischen und militärischen Optionen hatten ihre Vertreter und Strategen in den einzelnen Abteilungen. Land- und Seekriegführung waren so
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Konzeptionen, wird mit der Wendung des Kriegsverlaufs dann einen anderen Typus von Offizier bevorzugen. Exemplarisch dafür seine Verabschiedung des Generalfeldmarschalls von Manstein, lange Zeit der Genius des deutschen Feldheeres, am 30. März 1944: „Im Osten sei die Zeit der Operationen größten Stils, für die Manstein besonders geeignet gewesen sei, abgeschlossen. Es komme jetzt hier nur noch auf starres Festhalten an. Diese neue Führung müsse mit einem neuen Namen und einer neuen Parole eingeleitet werden. […] Model sei hierfür besonders geeignet.“68
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etwa niemals koordiniert oder in ihren Zielen kompatibel. Die Marineleitung sah in England den Hauptfeind, was geostrategisch den Angriff auf Ägypten und Vorderasien nahe legte. Die mangelnde Unterstützung des Deutschen Afrikakorps unter Rommel zeigt beispielhaft, wie wenig Hitlers Aufmerksamkeit diesem Kriegsschauplatz galt. Russland war ab 1941, bei Vernachlässigung aller anderen Schauplätze, sein Krieg. Mit England wollte Hitler, siehe die nur halbherzige Planung des Invasionsunternehmens „Seelöwe“, wahrscheinlich immer eine „Verständigung“. Die Biografie Oskar Ritter von Niedermayers zeigt exemplarisch die Differenzen der strategischen Ausrichtung auch innerhalb der Heeresführung. In der Tradition Seeckts, und der historisch engen Verbindung von Preußen und Russland, plädierte Niedermayer für eine Zusammenarbeit mit der Sowjetunion, musste aber nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten durch eine opportunistische Haltung seine Stellung im neuen System „retten“. Gegen Kriegsende kam dann aber doch wieder der „Ostler“ in ihm zum Vorschein, was, ausgelöst durch unvorsichtige und kritische Äußerungen gegen das Regime, zur Verhaftung durch die Gestapo führte (Seidt 2002, S. 365ff.). Allgemein zum ambivalenten Verhältnis der Generäle zu Hitler, siehe die Arbeit des englischen Militärschriftstellers Basil Liddell Hart (1964), der nach dem Krieg mit einigen der bekanntesten Offiziere und Admirale der deutschen Wehrmacht Interviews geführt hat, vielfach aber ein übertrieben wohlwollendes Bild seiner „soldatischen Gegner“, in Abgrenzung zu Hitler, zeichnet. Manstein 1955, S. 615; Herv. A.M. Generalfeldmarschall Walter Model war einer von Hitlers Lieblingsoffizieren und galt als „Meister der Defensive.“ Im April 1945 beging der überzeugte Nationalsozialist Model Selbstmord. Der Übergang von der Bewegung zum „Halten“ zeigt sich auch in gegen Kriegsende aufkommenden Begriffen wie „Alpenfestung“ oder „Festung Europa.“ Ein besonders absurdes Beispiel für die Abkehr von der Bewegung ist Hitlers persönlicher Auftrag an Ferdinand Porsche, einen überschweren Panzer, Codename „Maus“, zu konstruieren, der mehr eine rollende Festung als ein beweglicher Panzer sein sollte. Mit 3000 Liter Verbrauch auf 100 Kilometer und 188 Tonnen Gewicht hätte „Maus“ praktisch keine einzige Brücke in Europa überqueren können und sich in jedem Gelände festgefahren. So blieb es lediglich bei der Produktion zweier Prototypen.
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Hitlers nach Kriegsende oft bemängelter Starrsinn, standzuhalten bis zum letzten Mann, geht auf den Grabenkrieg der Jahre 1915 bis 1918 zurück. Die Bereitschaft des Grabenkämpfers, den teuer gewonnenen Boden um jeden Preis zu halten, nahm von ihm Besitz, als die Offensive vor Moskau im Dezember 1941 scheiterte. Die militärische Dynamik des Zweiten Weltkrieges war auf deutscher Seite u. a. ein Konflikt zwischen dem ehemaligen Frontkämpfer Hitler und Teilen der professionellen Wehrmachtführung, die das Prinzip der Bewegung verinnerlicht hatten. Das zunehmende Misstrauen Hitlers gegenüber seinen früheren Lieblingsoffizieren war das des Meldegängers, der sich von seinen Führern verraten und verlassen fühlte, hatte er doch im Ersten Weltkrieg des Öfteren erleben müssen, dass die von oben gegebenen Befehle zum Zeitpunkt ihres Ankommens an der Front veraltet und sinnlos waren. Nur handelte er jetzt in derselben Weise und verbot jeglichen Rückzug. Die schon früh im Verhältnis zum Generalstab angelegten Konflikte (strategische Orientierung, Zeitpunkt der kriegerischen Auseinandersetzungen, politische Überlegungen) wurden zunächst durch die siegreichen Kriege gegen Polen und Frankreich verdeckt. Dennoch blieben die Differenzen virulent und führten nach den ersten Niederlagen zu ständigen Querelen. Nach einer Auseinandersetzung im Führerhauptquartier über das Stocken der Kaukasusoffensive im September 1942 isst Hitler nicht mehr gemeinsam mit seinen Generälen. Er kann sie, wie er Goebbels anvertraut, nicht mehr sehen: Alle Generäle lügen, sind treulos und feige, gegen den Nationalsozialismus eingestellt, Reaktionäre. Kurzum: sie verstehen ihn einfach nicht. Gegen Ende des Krieges steigert er sich schließlich in maßlose Beschuldigungen, die weit in die Vergangenheit reichen: „Als ich noch Reichskanzler war, habe ich gemeint, der Generalstab gleiche einem Fleischerhund, den man fest am Halsband haben müsse, wie er sonst jeden anderen Menschen anzufallen drohe. Nachdem ich Reichskanzler geworden war, habe ich feststellen müssen, dass der deutsche Generalstab nichts weniger als ein Fleischerhund ist. Dieser Generalstab hat mich immer daran gehindert, das zu tun, was ich für nötig halte. Der Generalstab hat der Aufrüstung, der Rheinlandbesetzung, dem Einmarsch in Österreich, der Besetzung der Tschechoslowakei und schließlich sogar dem Kriege gegen Polen widersprochen. Der Generalstab hat mir abgeraten, gegen Russland Krieg zu führen. Ich bin es, der diesen Fleischerhund erst antreiben muss.“69
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Schlabrendorff 1959, S. 60. Zum Verhältnis Heer und Hitler siehe auch: Klaus-Jürgen Müller (1969).
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Nachdem er den Generalstab lange Zeit „angetrieben“ hatte (ein Bild, das in der Realität nur begrenzt Gültigkeit besaß), will er ihn nun zum Stehen bringen. Die von Offizieren wie etwa Manstein praktizierte flexible Verteidigung, die Rückwärtsbewegungen einschloss, lehnt er generell ab. Allein im Winter 1941 werden über 30 Generäle wegen „Ausweichen vor dem Feind“ ihrem Kommando enthoben. Zu den Opfern der Entlassungswelle gehören die Generalfeldmarschälle von Bock und von Rundstedt, aber auch die Panzergeneräle Guderian und Hoepner müssen gehen. Die nun befohlenen „Igelstellungen“ und Kessel, wie später in Stalingrad, sind Konzepte, die an die Trichter- und Grabenkämpfe des Ersten Weltkriegs erinnern. Von Bewegung ist längst keine Rede mehr, wenngleich einzelne Offensiven noch versuchen, die Initiative wieder an sich zu reißen. Vergeblich, denn nun ist der Abnutzungskrieg im vollen Gange. Der nun mehr und mehr sich entwickelnde totale Krieg (als eine Form des Ermattungskrieges) lag nicht in der Absicht der nationalsozialistischen Führung. Er ist ihr durch die Ergebnisse ihrer eigenen, rassenideologisch motivierten Kriegführung aufgezwungen worden. Erst nach der Katastrophe von Stalingrad (Februar 1943) wird der Begriff des totalen Krieges als Schlagwort eingeführt. Nur die äußerste Not ließ die Bekanntgabe einer umfassenden Kriegswirtschaft und die Erfassung der Zivilgesellschaft opportun werden. Doch die totale Mobilmachung blieb vielfach nur Rhetorik: „Die deutsche Führung rief zu einer Kraftanstrengung bis zum letzten auf. Und doch gab es, verglichen mit anderen kriegführenden Nationen, keine totale ‚Mobilisation’ und keine vorausschauende Planung, um die Kriegsanstrengungen auf das wirklich erreichbare Maximum zu bringen. Die zivile Produktion wurde nur in bescheidenem Maße eingeschränkt; es gab noch keinen größeren Einsatz von Frauen und keine bedeutende Arbeiterverlagerung von nichtkriegswichtigen Industriebetrieben.“70
Auch wenn manche Interpreten nach dem Krieg von einer „Emanzipation“ der Frauen durch die Mobilisierung von Arbeitskraft sprechen, ___________________ 70
Fischer W. 1961, S. 44. Marlies Steinert (1970, S. 359) kommt in ihrem Buch Hitlers Krieg und die Deutschen zu ähnlichen Ergebnissen. Für Steinert „liefen die so großartig angekündigten Totalisierungsmaßnahmen in der Heimat nur schwerfällig an, und der erwartete Erfolg entsprach keineswegs dem lautstarken Propagandarummel.“ So betrug die Zahl der beschäftigten Frauen im Frühjahr 1943 über 8,6 Millionen, davon waren aber lediglich 900.000 in der Rüstungswirtschaft tätig. Vollkommen undenkbar blieb auf deutscher Seite auch der Einsatz von Frauen in Kampfeinsätzen wie in der Roten Armee, etwa im 588. Nachtbomberregiment („Nachthexen“), einer reinen Frauenstaffel.
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die Wirklichkeit der Lebensrealität der Frau im Nationalsozialismus entsprach dieser Vorstellung weitaus weniger. Der Nationalsozialismus war strikt antifeministisch. Das zeigt etwa der Ausschluss von Frauen aus der Führung der Partei. Bereits im Januar 1921 hieß es bei der ersten Generalversammlung unmissverständlich: „Eine Frau kann in die Führung der Partei und den leitenden Ausschuss nie aufgenommen werden.“ 71 Dieser gewollte Ausschluss von Frauen war ein wichtiges ideologisches Hindernis für die Forderung nach einer umfassenden Mobilisation aller Kräfte in Deutschland. Denn trotz aller lauthals verkündeten Propaganda hinkte die tatsächliche Mobilmachung der Wirklichkeit hinterher. Im Unterschied zu aller herkömmlichen Propaganda hat der Nationalsozialismus auch den Stand der Rüstung bereits in der Vorkriegszeit nicht untertrieben, sondern weit übertrieben. Waren und sind ansonsten alle Staaten an möglichst „kleinen Zahlen“ ihres Rüstungsstandes gegenüber der Weltöffentlichkeit interessiert, drehte der NS-Staat diese Logik um. Er protzte geradezu mit seinen Kriegsvorbereitungen und wurde in gewisser Weise zum Opfer seiner eigenen Propaganda. Als Hitler später von seinen eigenen Mitarbeitern Schätzungen zur riesigen monatlichen Panzerproduktion der Sowjetunion vorgesetzt bekam, verbat er sich „solch idiotisches Geschwätz.“ Vielleicht dachte er dabei an die eigene Propaganda, die mit der Wirklichkeit nicht Schritt halten konnte, und übertrug diese Diskrepanz auf Stalins Sowjetunion.72 Karl Dietrich Bracher verweist ebenfalls auf den Widerspruch zwischen Anspruch und Verwirklichung, merkt aber zu Recht an: „Ebenso falsch wäre es, umgekehrt aus der offenkundigen Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität den Schluss zu ziehen, die Mobilisierung für den Krieg sei nur ein großes Täuschungsmanöver für die Außenwelt gewesen.“ 73 Dennoch hat sich die Öffentlichkeit und die militärische Führung der gegnerischen Allianz über die wahre Stärke der deutschen Rüstungsanstrengungen täuschen lassen. Alliierte Fachleute bestätigten nach dem Krieg, dass selbst zum Zeitpunkt des ausgerufenen ___________________ 71 72
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Bracher 1993, S. 93. Zur „Übertreibung“ und ihrer Logik für die NS-Kriegskonzeption vgl. Langenbach (1983, S. 101-123). Für die Wirklichkeit der Verhältnisse hier nur eine Zahl: von 1942-1944 produzierte die sowjetische Industrie 82.200 Panzer, die deutsche aber „nur“ 56.400, das war eine Überzahl von 25.800 Panzern zugunsten der Roten Armee (Zahlen in: Friedrich 1995, S. 559). Diese Differenz wird plastisch, wenn man weiß, dass eine deutsche Panzerdivision im Herbst 1942 eine Sollstärke von ca. 200-250 Panzern besaß. Nimmt man die Produktionszahlen der Westalliierten, insbesondere der US-amerikanischen Industrie hinzu, wird die Überlegenheit noch weitaus deutlicher. Bracher 1993, S. 364.
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totalen Krieges die deutsche Wirtschaft nicht bis zur Grenze ihrer Leistungsfähigkeit ausgeschöpft war. Ein Bericht des strategischen Bomberkommandos im Herbst 1945 kommt zu dem Schluss: „Ob man nun den Fraueneinsatz, die Verlagerung von Arbeitskräften in die Kriegsindustrie oder die Länge der Arbeitswoche als Beispiel nimmt, aus allem wird deutlich, dass Deutschland seine Arbeitskräfte nicht so ausgenutzt hat, wie es möglich gewesen wäre, nicht einmal nach den viel propagierten Mobilisierungsprogrammen vom Jahre 1943 und 1944.“74
Auch als am 27. Juli 1944 der radikalste Vertreter einer totalen Mobilmachung, Joseph Goebbels, zum „Reichsbevollmächtigten für den totalen Kriegseinsatz“ ernannt wird, gibt es kaum eine Änderung. Es sieht fast so aus, als sei der totale Krieg mental und politisch nicht gewollt oder möglich gewesen. Denn die Wirtschaft blieb, trotz aller Beteuerungen und Reden eines Ley oder Goebbels und den Anstrengungen eines Speer, das Stiefkind der deutschen Kriegskonzeption, was im Wesentlichen auch einer vollkommen anarchistischen Organisation der Wirtschaftskräfte geschuldet war, selbst dann noch, als mit Speer ein fähiger Mann Rüstungsminister wurde. Militär und Wirtschaft konnten zu keiner Zeit den ideologischen Prämissen etwas Gleichwertiges entgegensetzen. Rassen- und Bodenpolitik beherrschten Hitlers Gesamtkriegführung. Insofern können wir von einem Primat des Politischen sprechen, aber ganz anders als das Clausewitz in seinem Buch Vom Kriege verstanden wissen wollte. Denn das rationale Element der Politik, das auf Ausgleich und Kompromiss zielt, war von 1933-1945 zwar nicht gänzlich, aber doch immer mehr ausgeschlossen. Der politische Stratege Hitler scheiterte in dem Moment, indem die Außenwelt nicht mehr bereit war, seine „Coups“ unwidersprochen hinzunehmen. Auch Demokratien kommen an die Grenze ihrer Toleranz. Und trotz aller Propaganda blieb ___________________ 74
Fischer W. 1961, S. 46. Albert Speer, ab 1942 Rüstungsminister, führte erst die Fließbandproduktion ein, die den Einsatz ungelernter Arbeitskräfte ermöglichte. Die Kapazität der Maschinen wurde aber niemals voll ausgenutzt. In der Regel wurde nur in einer (!) Schicht gearbeitet, drei Schichten gab es, v.a. bei Kriegsbeginn, fast nirgends. Die relativen Erfolge Speers und die enormen Steigerungsraten in der Produktion waren deshalb nach alliierter Auffassung lediglich das Ergebnis der vorherigen Rückständigkeit in den Methoden der Massenproduktion und nicht das Ergebnis eines durchdachten und genialen Planes Speers. Auch wenn hier die Abwertung des Feindes als psychologisches Motiv mitgedacht werden muss, die deutsche Rüstung – verglichen etwa mit der US-amerikanischen Mobilisierung – war alles andere als total und erreichte erst 1944 ihren Höhepunkt. Kritisch zur These einer zögerlichen Mobilisierung des NS-Staates: Tooze (2007).
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die Wirtschaft sekundär im Verhältnis zur ideologisch gebundenen Politik. „Der Wille zum Krieg war eine Realität, wie unzulänglich die ökonomische Vorbereitung auch sein mochte. Gerade die Tatsache, dass eine kapitalistische Wirtschaft auf so antiökonomische Weise in den Krieg hinein dirigiert werden konnte und erst im Krieg selbst (seit 1941/42) voll mobilisiert wurde, beweist den absoluten Primat der politischen Zielsetzungen.“75
Clausewitz hatte seine Überlegungen zum Verhältnis von Krieg und Politik zu einer Zeit formuliert, in der noch eine „Mangelwirtschaft“ herrschte. Die Vorstellung einer stetigen Ersetzung eingesetzter und verbrauchter Waffen, wie sie entwickelte Industriegesellschaften über lange Zeit vornehmen können, musste ihm noch fremd sein. Der durch das Anwachsen der Produktionspotenziale ermöglichte und erweiterte Gedanke der Vernichtung gab der Kriegführung eine unerwartete Wendung, wie sie im Ersten Weltkrieg erstmals in aller Konsequenz sichtbar wurde. „Es ist seit langem aufgefallen, dass Clausewitz die ‚Vernichtungssphären‘ des ideologischen und des Wirtschaftskrieges in seine Überlegungen nicht einbezieht, und dass dementsprechend sein Begriff vom Vernichtungskrieg nur den politischen Niederwerfungszweck bedeutet, nicht aber die besonders intensive Zerstörung von Leben und Gütern vor dem Hintergrund einer ‚totalen Mobilmachung‘, also das, was später ‚totaler Krieg‘ genannt wurde.“76
Die erfolgreichen Feldzüge Preußens von 1866 und 1870/71 waren noch Vernichtungskriege im Dienste begrenzter politischer Ziele. Eine totale Mobilmachung fand nirgends statt und war auch nicht von Nöten. „Das preußische Militär stellte damals diesen politischen Gebrauch der Vernichtungsstrategie nicht mit dem Zweck der Auslöschung der politischen Existenz des Feindes und verlangte auch keine Anstrengungen, die über das Ziel der Vernichtung der feindlichen Streitkraft hinausgingen; eine wirtschaftliche Kriegführung gab es nicht, und das Heer führte den Krieg losgelöst von der Heimat.“77 Auch der Schlieffenplan ist noch in dieser Tradition zu sehen. Nur sein Scheitern hat dann die Konzeption vollkommen verändert. Aus dem Vernichtungskrieg wurde der Abnutzungskrieg mit seinen verheerenden Wirkungen, und es ___________________ 75 76 77
Bracher 1993, S. 364. Kondylis 1988, S. 118 (Herv.; A.M.). Ebd., S. 119.
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war gerade die gedankliche Fixierung und der sakrosankte Glaube an die Entscheidungsschlacht, die ein Umdenken lange verzögerte: „Der Vernichtungskrieg fand nicht statt, und gerade der Glaube an seine Unvermeidlichkeit hatte seiner ausreichenden Vorbereitung im Wege gestanden. Im Hinblick auf unsere Fragestellung können wir den Ersten Weltkrieg in zwei Perioden einteilen: eine erste kurze Phase, die im Zeichen des – nicht realisierten – Vernichtungsgedankens gestanden hat, und eine zweite, viel längere, die durch die Materialschlachten und die bis dahin unbekannte und unvorhergesehene Anstrengung der Kriegswirtschaft in der Heimat gekennzeichnet wurde.“78
Für den Zweiten Weltkrieg kann eine ähnliche Periodisierung vorgenommen werden, wobei die erste Phase, die Niederwerfungsstrategie in Form des Blitzkrieges, viel länger als im Ersten Weltkrieg dauerte. Fakt bleibt aber, dass sich in beiden Weltkriegen – im Ersten von der Marneschlacht an und im Zweiten nach dem Stehenbleiben des deutschen Heeres vor Moskau – herausgestellt hat, „dass die deutsche Seite wirtschaftlich auf einen ‚totalen Krieg‘ unvorbereitet war, und zwar gerade infolge des Glaubens an die Möglichkeit eines schnellen Vernichtungssieges“. 79 Vielleicht führte auch die Tatsache, dass Deutschland traditionell eine Landmacht bildete, mit zu einer gedanklichen Schwäche in der politischen und militärischen Führung. Zwar versuchte die Admiralität ähnlich wie im Ersten Weltkrieg strategische Verschiebungen anzumahnen (etwa einen starken Angriff auf Ägypten), doch blieb die Marine mit Ausnahme der U-Boote ein Stiefkind der Planung. In beiden Kriegen können wir See- und Landmächte gegeneinander antreten sehen. Wie Carl Schmitt in Land und Meer betont, hat der Seekrieg – wie später der Luftkrieg – immer schon eine Affinität zum totalen Krieg, in dem er durch eine Wirtschaftsblockade die Zivilgesellschaft des Gegners erfasst. Landmächte neigen zur Vernichtungsschlacht und versuchen die Ermattung zu vermeiden, die den Krieg in die Länge zieht.80 Diese Mentalität hat in beiden Kriegen maßgeblich zur Niederlage Deutschlands beigetragen. Nur Seemächte, in Sombarts Begriffen: ___________________ 78 79 80
Ebd., S. 130. Ebd., Herv. A.M. Im Buch Hiob wird die Konfrontation zwischen See und Land durch den Konflikt zwischen dem Leviathan und Behemoth symbolisiert. Letzterer (Stier) will den Leviathan mit Hörnern und Klauen zerreißen, der Leviathan hält ihm mit seinen Fischflossen Maul und Nase zu, sodass das Landtier nicht mehr essen und atmen kann. Ein präzises Bild für eine „Blockadepolitik.“
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Händler, haben bis dato den Sieg in lang gezogenen Ermattungskriegen davongetragen. „Im Lauf der Geschichte hat die Seemacht, sofern sie in genügendem Ausmaß über das verfügte, was man heute ‚projection of power‘ nennt, immer gewonnen, die Landmacht nur dann, wenn es ihr gelang, stark und erfolgreich auf See zu gehen. Das hat Deutschland in beiden Weltkriegen vergeblich zu erreichen versucht.“81
Der Nationalsozialismus will den Vernichtungskrieg und ermattet. Die Seemächte (GB, USA) tragen den Sieg davon. Die Händler siegen über die Helden, da sie – auf einen einfachen Nenner gebracht – vorurteilsfreier und ökonomisch rationaler Krieg führen können. Insofern waren die Folgerungen aus dem Krieg der Jahre 1914-18 nur halbherzig gezogen worden. In einer einseitigen Radikalisierung des Offensivprinzips, das ganz auf Geschwindigkeit und Überraschung setzte, „vergaß“ man den Krieg in seiner Dauer zu denken. Der verhasste Stillstand, das Abwarten, die langsame und unheroische Forcierung der Produktion, all das sollte in einer Blitzoffensive vermieden werden. Der Vernichtungskrieg wurde der Realität der industriellen Kriegführung nicht mehr gerecht. Sein Scheitern führt in der Konsequenz zum totalen Krieg, der aber etwas vollkommen von ihm Unterschiedenes darstellt. In beiden Weltkriegen hatte die deutsche Führung den Versuch unternommen, einen Vernichtungskrieg zu führen. Der Nationalsozialismus hat dort, – und das ist die entscheidende Einschränkung – wo seine ideologische und rassistische Komponente (vgl. Kapitel 7.4.) es erlaubt hätte, den totalen Krieg nicht gewollt.82 Der Blitzkrieg setzt auf die Vermeidung der Abnutzungsschlacht und sucht die Entscheidung wieder von der Ökonomie auf das Schlachtfeld ___________________ 81
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Kielmannsegg im Vorwort zu Masson (2000, S. 12). Historisch gibt es unzählige Beispiele für die These der Überlegenheit der Seemacht. So hat das römische Reich erst in dem Moment, in dem es fähig war, die überlegenen karthagischen Schiffe massenhaft zu kopieren und nachzubauen, sein Imperium begründet. Noch Napoleon beklagt sich bitter über die englische Seekriegführung, die er – ein Landkrieger – als unmilitärisch betrachtet. Auch die militärisch allen anderen Nationen heute weit überlegene USA darf nicht als Seemacht unterschätzt werden. Der militärische Wert der amerikanischen Streitkräfte beruht im Wesentlichen auf ihrer maritimen Vorherrschaft, die es, v.a. mit Hilfe ihrer Flugzeugträger und U-Boote, erlaubt fast überall auf der Welt präsent zu sein. Zur Erinnerung sei hier nochmals betont, dass mit „totaler Krieg“ immer nur die empirische Erscheinung der beiden Weltkriege gemeint ist. In seinem idealen Sinne ist er nicht möglich. Dennoch sind einzelne Elemente (Vgl. die Bestimmungen in der Einleitung dieser Arbeit) in den Kriegen 1914-1918 und 1939-1945 annähernd verwirklicht worden.
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zu verlagern. Daneben hat der Blitzkrieg aber auch eine politische und psychologische Seite. Als Massenführer war Hitler sehr auf die Stimmung in der Bevölkerung fixiert. Ein schneller Krieg blieb nach seinen Erfahrungen von 1914-18 die einzige politische Option, in der die Zivilbevölkerung möglichst wenig von den Kriegsauswirkungen spüren sollte. Der Blitzkrieg entspricht der Idee des Vernichtungskrieges, da er eine rasche Entscheidung in einigen siegreichen, zeitlich nacheinander geführten Schlachten sucht. Den Gegner überrumpeln, ihn einkreisen und entscheidend schlagen, das war das Konzept einer Kriegführung, die in den Stoßtrupps des Ersten Weltkriegs ihren Anfang nahm. Eine Logik, die die Sturmtruppen der SA und die Arditi der faschistischen Partei Italiens auf die Straße übertrugen und der Bewegung den Sieg brachte. Der Blitzkrieg war insofern die Übertragung politisch erfolgreicher Konzepte auf den neuen Krieg. Ganz anders der „totale Krieg“: „Die Entwicklung zum ‚totalen Krieg‘ im Laufe des Ersten und Zweiten Weltkrieges ergab sich nicht aus dem Versuch, die Vernichtungsstrategie in dieser oder jener Form anzuwenden, sondern ganz im Gegenteil daraus, dass die Vernichtungsstrategie nicht konsequent und bis zum Ende angewandt werden konnte; den ‚totalen Krieg‘ aus dem Vernichtungsgedanken ableiten zu wollen, ist logisch und historisch falsch. Verwandelt sich der Krieg in eine praktisch ununterbrochene Materialschlacht, an der sich auch die zivile Bevölkerung teils direkt (z.B. Partisanentum), teils indirekt (arbeitende Etappe), wesentlich beteiligt, so wird eben die eine große und entscheidende Vernichtungsschlacht unmöglich, die nur dann stattfinden kann, wenn ein ‚totaler‘ bzw. langer Krieg schon aufgrund der verfügbaren Mittel nicht in Frage kommt. Denn die ‚totale‘ Mobilmachung vor dem Krieg und während des Krieges ruft materielle und menschliche Kräfte ins Leben, die sich nicht in einer Schlacht oder in wenigen vernichten lassen.“83
Mitte des 20. Jahrhunderts war der Vernichtungssieg gegen einen etwa gleichstarken Gegner, der den Willen besaß, den Krieg auch nach Niederlagen weiterzuführen, eine Illusion geworden. Dass Frankreich in sechs Wochen besiegt werden konnte, lag v.a. daran, dass es psychologisch und mental – nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs – nicht mehr bereit war, einen verlustreichen Krieg zu führen. Die Maginotlinie stellte sich angesichts der neuen Waffen (Panzer, Flugzeug) als wirkungslos heraus. Der Wille zum Kampf war nach den Erfahrungen der Westfront 1914-18 nicht mehr vorhanden. Darauf hatte Hitler politisch richtig spekuliert. ___________________ 83
Kondylis 1988, S. 136f. Herv. A. M.
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Am Ende brachte, wie im Ersten Weltkrieg, erst die totale wirtschaftliche und militärische Erschöpfung des Gegners den Sieg. Anders als Ludendorff hat aber Hitler bis zum katastrophalen Untergang durchgehalten und dadurch den Krieg auf deutschen Boden geführt. Der Traum von schnellen Siegen und eingekesselten Gegnern wurde zum Alptraum eines von überlegenen Feindkräften belagerten Reichs, das apokalyptisch zugrunde ging.
7 . 4 . Ra s s e n k r i e g Die von mir getroffene Unterscheidung von Vernichtungs- und Ermattungskrieg folgt der Clausewitz’schen Definition der zwei Arten des Krieges, wie sie Hans Delbrück Anfang des 20. Jahrhunderts in seinen Schriften aufnehmen wird. Beide konnten die Dynamik eines Krieges hoch industrialisierter Staaten im Zeichen nationaler Kraftanstrengung noch nicht voraussehen. Der seit Juni 1941 geführte Krieg der Wehrmacht gegen die Sowjetunion, als Rassenkrieg geplant, darf nicht mit Clausewitz’ Konzeption des Vernichtungskrieges verwechselt werden. Hier, am östlichen Kriegsschauplatz und den Geschehnissen im Hinterland der Front, scheint die These einer Totalität der Kriegführung zumindest in einigen Komponenten schlüssig. Aber diese Vorstellung setzt etwa voraus, dass die Vernichtung der europäischen Juden Kriegshandlungen darstellten. Eine Auffassung, die man durchaus bezweifeln kann, denn die durch die Einsatzkommandos und in den Vernichtungslagern ermordeten Juden, allesamt Zivilisten, stellten nun wirklich keine militärische oder politische Gefahr dar. Der Rassenkrieg folgt einer anderen Logik des Krieges, die ihre mentalen Voraussetzungen aber im Ersten Weltkrieg und der Nachkriegszeit hatte und die im Folgenden zumindest ansatzweise umrissen werden soll. Für die nationalistische Rechte war der Krieg aufgrund mangelnder weltanschaulicher Schulung, fehlender rassischer Geschlossenheit und dem Nichtvorhandensein eines charismatischen Führers verloren gegangen. Der wirkliche Feind wurde vom System des Wilhelminismus nicht erkannt, die eigene Propaganda sträflich vernachlässigt. Die innere Reinigung, die schonungslose Beseitigung der zerstörerischen Elemente des Volkskörpers, blieb in dieser Lesart ein mindestens genauso wichtiges Ziel wie die militärische Kriegführung. Die Ausschaltung der politischen Opposition wie auch die Nürnberger Rassengesetze gingen dann der nationalsozialistischen Machtübernahme der äußeren Kriegführung voraus. Dennoch: es handelte sich hier um eine Übersetzung politischer Entscheidungen in Begriffe des Kampfes, ein Erbe der
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Schützengräben und des Krieges. Doch dieser nicht-militärische Kampf war, wie der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, stets betonte, „viel schwerer zu führen“ als der rein militärische. Ein kleiner Rest an Einsicht in die verbrecherischen Handlungsweisen kommt in dieser Betonung der Schwere zum Vorschein. In einer Rede am 7. September 1940 vor der Leibstandarte SS erklärte Himmler: „Es ist bedeutend leichter in vielen Fällen, mit einer Kompanie ins Gefecht zu gehen wie mit einer Kompanie in irgendeinem Gebiet eine widersetzliche Bevölkerung kulturell tief stehender Art niederzuhalten, Exekutionen zu machen, Leute herauszutransportieren, heulende und weinende Frauen wegzubringen. […] Dieses stille Tun-müssen, die stille Tätigkeit, dieses Konsequentsein-Müssen, Kompromißlos-sein-Müssen, das ist an manchen Stellen viel schwerer.“84
Der hier von Himmler angerufene und geforderte „Soldat“ hatte nichts mehr mit dem idealistischen Freiwilligen des Jahres 1914 zu tun. Der ideale SS-Mann brauchte keinen wirklichen Feind mehr. Die Formel „Juden sind minderwertig“ muss nicht erklärt werden, sondern wird im Idealfall von einer Willenskundgebung in eine Tatsachenhandlung überführt. Härte um der Härte willen, Gehorsam ohne inhaltliche Festlegung, ein von allen normativen Werten losgelöster Heroismus der Selbstüberwindung. Nichts hat zur Entstehung einer solchen Mentalität mehr beigetragen als die Destruktionserfahrungen des Materialkrieges, der in der Leere des Schlachtfeldes keinen konkreten Feind mehr kannte, ihn weder sah noch erfuhr. Dass das Leben jedes Einzelnen im buchstäblichen Sinne nichts wert war, blieb die prägende Erfahrung einer Generation. Neben einer Feindbildkonstruktion („Jude“ oder „Bolschewist“) bildete die Zurichtung der Täter die andere entscheidende Seite des Genozids. Für Bernd Hüppauf führt eine mentale Linie von Verdun zu den Einsatzkommandos der Ostfront und in die Krematorien von Auschwitz. In Bezug auf die psychischen Voraussetzungen der Täter schreibt er: „Für die Ausführung ihrer Todesmissionen war es notwendig, sich von der Wahrnehmung eines Feindes ebenso unabhängig zu machen, wie der Soldat im Graben, der den Feind kannte, ohne ihn zu sehen. […] Aus moralischen Bindungen gelöst, durch entleerte Rituale an die Allgegenwart von Gewalt und
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Zit. in Buchheim 1965, S. 338f.
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Töten gewöhnt, brauchten die Täter weder Emotionen wie Hass oder Angst noch die Erfahrung einer unmittelbaren Bedrohung.“85
Der Kriegsfreiwillige von Langemarck gehört hier schon einem anderen Zeitalter an. Härte statt Idealismus hatte bereits das Bild des Soldaten vor Verdun und der Materialschlachten bestimmt. Die Stahlnatur als Ideal eines Menschentums, das Mitleid in Nüchternheit transferiert, mag ein fiktives Bild geblieben sein. Kein Mensch ist ein Monolith. Aber die mit Maschinengewehren in offene Gruben mit Schichten von wehrlosen Menschen feuernden Einsatzkommandos hatten eine Lehre des Krieges verinnerlicht, die in der Nachkriegsgesellschaft verfestigt wurde: dass der Destruktion keine Grenzen gesetzt sind und dass alles möglich sein kann. Die dafür notwendige Mentalität war ein Ergebnis der Verarbeitung des Kriegserlebnisses durch diejenigen, die auch nach 1918 nicht aufhören konnten, Krieg zu führen, „es war die ins Ungeheuerliche gesteigerte Ideologie und Mentalität der Freikorps- und Fememörder, die um einer ‚Idee‘ willen zu allem bereit waren, die den Gehorsam gegenüber dem ‚Führer‘ über alles setzten, die sich im ‚höheren Gesetz‘ einer permanenten Revolution, des permanenten Ausnahmezustandes über alles Recht und Moral erhaben, gerechtfertigt glaubten. Sie folgten nicht nur einem militärischen, sondern einem ‚weltanschaulichen‘ Befehl. […] Ihre ‚Moral‘ war die heroische Selbstüberwindung als Überwindung aller moralischen oder religiösen Skrupel.“86
Diese von Bracher beschriebene Mentalität war nicht allein auf die Generation der Frontkämpfer beschränkt. So hatten etwa die von Michael Wildt analysierten Hauptakteure des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), die er die Generation des Unbedingten nennt, aufgrund ihres Alters das Fronterlebnis nicht mehr gemacht. Es war im Wesentlichen die Kriegsjugend, der die Bewährung an der Front fehlte, aus denen der ___________________ 85
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Hüppauf 1996, S. 94. Vgl. dazu etwa die Beteuerungen von SS-Leuten wie Adolf Eichmann oder Rudolf Höß, niemals Juden gehasst zu haben. Auch wenn man die Situation der Gefangenschaft und dadurch erzeugte sozial „erwünschte“ Aussagen ins Kalkül ziehen muss: Der Kommandant von Auschwitz wäre als emotionaler und affektiver Mörder niemals in der Lage gewesen ein mechanisch ablaufendes Fließband des Todes zu dirigieren. „Das Gefühl Hass sei ihm auch gar nicht eigen“, so der Kommandant von Auschwitz gegenüber dem Gerichtspsychologen Gilbert in Nürnberg. Himmler hat manchmal Morde und Grausamkeiten gegenüber KZ-Häftlingen von SS-eigenen Richtern untersuchen und streng bestrafen lassen - und das in Lagern wie Auschwitz, wo täglich Tausende ermordet wurden. Bracher 1993, S. 457.
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Chef des RSHA, Reinhard Heydrich, seine Führungskräfte rekrutierte. Die meisten von ihnen waren nach 1900 geboren und sie kamen keineswegs von den sozialen Rändern der Gesellschaft, wie vielfach die jungen Männer der SA, sondern waren Teil der bürgerlichen, akademisch ausgebildeten Elite. Für sie war Politik, ähnlich wie für Oswald Spengler, eine „Arena des Willens“, der Krieg die Probe der Männlichkeit. „Obwohl oder womöglich gerade weil diese junge Elite das Schlachtfeld nicht mehr aus eigener Erfahrung kannte, konnte sie den Krieg als heroisches Erlebnis stilisieren und das Soldatische, das Kämpferische, das Harte und Erbarmungslose zu ihren Tugenden erheben.“87 Auch Sebastian Haffner sieht in seiner Autobiografie, Geschichte eines Deutschen, die Wurzeln des Nationalsozialismus weniger im Fronterlebnis als im Kriegserlebnis des deutschen Schuljungen, des „Jahrgangs 1902“, wie er genannt wurde.88 „Die eigentliche Generation des Nazismus“, so Haffner, „sind die in der Dekade 1900 bis 1910 Geborenen, die den Krieg, ganz ungestört von seiner Tatsächlichkeit, als großes Spiel erlebt haben.“89 Aber der verherrlichte Frontkämpfer und die Kriegsjugend haben einen gemeinsamen Anknüpfungspunkt. Letztere versuchte, das fehlende Fronterlebnis und die Erfahrung der Niederlage durch einen umso entschiedeneren Nationalismus, gepaart mit einer militanten Haltung, zu kompensieren. Sie wartete ungeduldig darauf, sich auch „bewähren“ zu können, in Abgrenzung gegen eine bürgerliche Welt, die sie im Zerfall erlebte. Verstärkt wurde diese Mentalität dadurch, dass Kinder und Jugendliche – auch das ein Effekt des totalen Krieges – als vollwertige Akteure des Krieges betrachtet wurden und alle kriegführenden Nationen den Versuch unternahmen, sie zumindest symbolisch in die Kriegsanstrengungen mit einzubeziehen. 90 Michael Wildt fasst den Komplex von versäumter Bewährung, Involviertheit der Jugend und das Moment des Krieges als Spiel, folgendermaßen zusammen: „Für die heranwachsenden jungen Männer jedoch – zu jung, um noch eingezogen zu werden, und zu alt, um den Krieg nur als ferne Kindheitszeit zu erinnern – wurde der Krieg zum bohrenden Stachel der verpassten Chance der Bewährung, die den Älteren zuteil geworden war. Obwohl der Kriegsjugendgeneration das existenzielle körperliche Erlebnis von Gewalt und Tod fehlte, fand der Krieg doch nicht fern jeder eigenen Erfahrung statt. Der Begriff der
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Wildt 2003a, S. 45. Jahrgang 1902 ist der Titel eines 1928 erschienen Kriegsromans von Ernst Glaeser. Haffner 2000, S. 22. Vgl. für Frankreich dazu Audoin-Rouzeau (1996).
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‚Heimatfront‘ war nicht allein eine propagandistische Erfindung, sondern bezeichnete auch die tatsächliche Einbeziehung von Frauen, Alten und Jugendlichen in die Kriegsanstrengungen. […] Vor allem aber wurden die fernen Schlachten durch die Medien, allen voran die bis zu dreimal täglich erscheinenden Zeitungen, herangeholt. Hier erschien der Krieg als Reißbrettspiel, als Aufstellung von Armeen von Zinnsoldaten. […] Der Krieg wurde für die Kriegsjugendgeneration zum Spiel, zum Abenteuer […] zu einem großen Feld für Imaginationen, Wünsche und Phantasien, ohne je eine reale körperliche Erfahrung mit ihm machen zu müssen.“91
Sebastian Haffner, politisch ganz unverdächtig, hat in seinen Erinnerungen beschrieben, wie er als Schuljunge täglich aufmerksam den Heeresbericht studierte, den Krieg als eine Art von Sport mit täglichen Rekordleistungen begriff und sich selbst als Teil der kämpfenden Nation verstand. Der tiefe Schock und der Schmerz über die Niederlage als das „Endergebnis von lauter Siegen und Siegen“ (Haffner) ließ bei ihm aber dort Zweifel aufkommen, wo andere anfingen die Wiederholung des Krieges vorzubereiten. In einem Aufsatz, der den Zusammenhang von Kriegserfahrung und NS-Militanz anhand einiger Biografien von nach 1900 geborenen SS-Führungskräften nachgeht, kommt Christian Ingrao zu folgendem Schluss: „Es ist so, als hätte der junge Student [Werner Best; A.M.] nie aufgehört, sich im Krieg zu befinden, beziehungsweise als hätte die Kriegskultur nie aufgehört, in seinem geistigen Universum präsent zu sein. […] Die Militanz war für ihn die Fortsetzung des von Deutschland 1914 begonnenen Kampfes. Militanz war offensichtlich ein wichtiges Element, das zur Aufrechterhaltung der Kriegskultur beitrug. Denn nicht nur für Werner Best, sondern auch für zahlreiche Studenten bedeuteten ihre ersten militanten Erfahrungen die Fortsetzung des 1914 begonnenen Kampfes; sie sprachen im gleichen Atemzug und mit den gleichen Worten von der Militanz und vom Krieg. […] Militanz wurde als ein defensives Verhalten begriffen, das eine nahtlose Fortführung des Ersten Weltkriegs darstellte.“92
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Wildt 2003a, S. 848. Ingrao 2003, S. 150f., S. 158. Der SS-Obergruppenführer Werner Best, 1903 geboren, war der wichtigste Mitarbeiter Heydrichs beim Aufbau des Sicherheitsdienstes (SD) der SS. Vgl. zu Best die ausgezeichnete Biografie von Ulrich Herbert (1996): Best. Biografische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903-1989. In der hier öfters zitierten Anthologie Krieg und Krieger hatte Best bereits 1930 einen Beitrag geliefert, der insbesondere das Wie und nicht das Was der weltanschaulichen Haltung betonte: „Die Sittlichkeit der neuen Haltung kann kein ‚was‘ vorschreiben, weil sie kein solches kennt. Sie ist nicht auf ein Ziel eingestellt. […] Jeder Augenblick stellt den vorhergehenden
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Im Begriff der Militanz sind die entscheidenden Elemente verdichtet: das Gefühl einer permanenten Bedrohung, Gewaltbereitschaft, apokalytische Ängste des Unterganges und ein (zunächst) richtungsloser Aktivismus, der alle Werte der Zivilgesellschaft und der Republik verneinte. Der Nationalsozialismus gab diesen Gefühlen eine Heimat sowie eine Stoßrichtung, und er verwandelte die Angst in eine Heilserwartung, die versprach, große Aufgaben für den Einzelnen bereitzustellen. Der „Aufbruch der jungen Generation“ wurde hier politisch folgenreich instrumentalisiert, hatte aber auch einen Anknüpfungspunkt in der realen Nachkriegssituation. Für einen Teil der Generation der „Nachgeborenen“ stand – wie für die militante Frontgeneration – die Forderung nach einer Abrechnung mit „dem Alten“ und der Entwurf einer neuen Welt im Mittelpunkt ihres Wollens. „Zukunft hieß für die Kriegsjugendgeneration, die bis dahin nur Instabilität, Diskontinuität und Zusammenbruch erlebt hatte, vor allem radikale Kritik am bürgerliche Mummenschanz, an den hohlen Versprechungen liberaler Politiker, hieß Misstrauen in die Steuerungsmedien bürgerlicher Gesellschaft, wie parlamentarische Demokratie, Gewaltenteilung und durch Gesetz verbürgtes Recht. Zukunft konnte in den Augen dieser Generation nur ein Gegenmodell zum Bestehenden, eine neue, radikale andere Ordnung sein, die ‚wahre‘ Gemeinschaft stiftete und dem einzelnen einen verlässlichen Sinn seiner selbst gab.“93
Diese Generation hatte die „Härte“, die vom Frontkämpfer gefordert wurde, mental verinnerlicht und in der sogenannten „Kampfzeit“ in vielen Fällen einer ersten Bewährungsprobe unterzogen. In der Verbin___________________
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in Frage. Kein Wert, für den jeweils gekämpft wird, hat Anspruch und Aussicht auf Sicherheit und Dauer. So bleibt als Maß der Sittlichkeit nicht ein Inhalt, nicht ein was, sondern das Wie, die Form.“ (Best 1930, S. 135) Diese Haltung nennt Best „heroischen Realismus“. Wildt 2003a, S. 850. In diesem Zusammenhang muss die Hyperinflation von 1923 hervorgehoben werden, die einen bleibenden Eindruck auf viele Zeitgenossen hinterließ. Für Elias Canetti ist die Inflation der Hauptgrund für das bleibende Gefühl der Entwertung der eigenen Person und der Erniedrigung der Masse. Der Reflex im Nachkriegsdeutschland bestand für ihn darin, ein Objekt zu finden, dass noch wertloser war: „In der Behandlung der Juden hat der Nationalsozialismus den Prozess der Inflation auf das genaueste wiederholt. […] Es ist diese Inflation als Massenphänomen, die von ihnen auf die Juden abgewälzt wurden.“ (Canetti 1992b, S. 207) Deshalb, so seine Folgerung, konnte man sie auch nach Millionen ermorden, da sie buchstäblich „nichts wert“ waren. Im Begriff des, insbesondere von Teilen der Psychiatrie und der Justiz geprägten, „unwerten Lebens“ wird der von Canetti angesprochene Zusammenhang ebenfalls sinnfällig.
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dung von weltanschaulichem Fanatismus, konzeptioneller Radikalität, Institutionen wie dem RSHA und nach 1933 einer unbegrenzten Machtpraxis, konnte ein Prozess der Entgrenzung von tradierten Normen freigesetzt werden, der – als nicht von Anfang an feststehendes Ergebnis – im Kriegsverlauf in den systematischen Völkermord mündete. Die Fähigkeit zur Hingabe an den absoluten Wert einer Idee, die Glorifizierung des Willens und persönlicher Härte waren Produkte der Kriegsverarbeitung, die auch einen Teil der nachkommenden Generation, wenn auch ohne unmittelbare Kriegserfahrung, entscheidend radikalisierte. „Die Jugend ist auf unserer Seite“, so Hitler – und das war sie auch tatsächlich zu großen Teilen, wie ja auch der Nationalsozialismus selbst die jüngsten politischen Führer aller Parteien besaß. In der bürokratischen Organisation der sogenannten Endlösung der Judenfrage, von Hannah Arendt als „Verwaltungsmassenmord“ bezeichnet, und dem Krieg an der Ostfront wurde die Moral der Weltanschauungskrieger in furchtbarer Weise sichtbar. Die Koinzidenz von Bewegung und Vernichtung, Rassenkrieg und militärischem Krieg, Antisemitismus und Raumpolitik wird im Krieg gegen den „Bolschewismus“ und das „Judentum“ grausame Realität. War die „Endlösung der Judenfrage“ ein nicht offiziell erklärter Krieg gegen eine Gruppe, die weder im politischen noch militärischen Sinne eine Bedrohung war94, bildete das Unternehmen „Barbarossa“ ein neuartiges Konzept des Krieges als Ausrottungs- und Vernichtungskrieg. Es ist aber nicht mehr die Clausewitz’sche Idee der Vernichtung, sondern eine ins Maßlose gesteigerte Eskalation destruktiver Energien. Im Rassenkrieg wird der totale Krieg in einigen Aspekten zum mörderischen Faktum. Der Feldzug gegen die Sowjetunion – von vornherein als Rassenkrieg konzipiert – verkörpert, so wie die Materialschlachten des Ersten Weltkrieges, den Beginn einer neuen Ära in der Geschichte der militärischen Auseinandersetzungen. Franz Halder, von September 1938 bis September 1942 Generalstabschef des deutschen Heeres, notierte im Mai 1941 anlässlich einer Besprechung im Führerhauptquartier über den bevorstehenden Angriffskrieg im Osten: ___________________ 94
Es gab trotz Hitlers vor dem Reichstag mehrmals angekündigter Vernichtung der Juden keine offizielle Kriegserklärung. Dies schon einmal deswegen, weil es keinen staatlichen Repräsentanten gab, der als Adressat fungierte. Zudem war die Endlösung, wie viele Informationen auch nach außen gedrungen sein mögen, ein Geheimprojekt. So gab es etwa kein offizielles Budget, das die Kosten für Transporte, Lager, Bewachung etc. bezahlte. Zynischerweise mussten die Opfer auch noch die Kosten für ihre eigene Ermordung zu großen Teilen selbst bezahlen. Die Reichsbahn verrechnete etwa die Todeszüge, allerdings nur die „einfache Fahrt“!
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„Unsere Aufgabe gegenüber Russland: Wehrmacht zerschlagen, Staat auflösen, […] Kampf zweier Weltanschauungen gegeneinander. Vernichtendes Urteil über Bolschewismus, ist gleich asoziales Verbrechertum. […] Wir müssen von dem Standpunkt des soldatischen Kameradentums abrücken. Es handelt sich um einen Vernichtungskampf. […] Der Kampf wird sich sehr unterscheiden vom Kampf im Westen. Im Osten ist Härte mild für die Zukunft.“ 95
Ähnlich äußerte sich auch Heinrich Himmler im Februar 1942 in einer Rede vor SS- und Polizeiführern in Berlin. Er sprach ebenfalls vom Krieg gegen die Sowjetunion als einer besonderen Form des Kampfes: „Wir haben hier die Auseinandersetzung zwischen einem germanischen Reich und dem Untermenschen. Diese haben wir zu gewinnen, und wir werden sie gewinnen. Wie, ist absolut gleich. Wie viel Opfer das kostet […] ist gleichgültig. Es handelt sich um das Leben der ganzen Nation. […] Dies ist ein Weltanschauungskampf, wie es der Kampf im ganzen Mittelalter mit den Hunnen war, wie es der Kampf im ganzen Mittelalter mit dem Islam war, wo es ja nicht um Religion, sondern wo es um einen Rassenkampf ging.“96
Himmlers mythologische Auffassungen der nordischen Rasse und des Germanentums ließen ihn an einen ewigen Kampf um Lebensraum gegen das „Untermenschentum“ glauben. Historische Relativierungen waren Himmler unbekannt, die Dynamik der Geschichte konstituiert sich im unabänderlichen Krieg der Rassen. Aber das ist nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass Himmler, wie auch Adolf Hitler, in der Einschätzung des „Unternehmens Barbarossa“ eine spezifische Form des Kampfes erblickten, der mit dem Angriff auf die Sowjetunion alle bis dato bekannten und konventionellen Formen kriegerischer Auseinandersetzungen in großem Maßstab verrückte. Dieser Krieg sollte, in Grundzügen bereits im Polenfeldzug und auf dem Balkan angewandt, von vornherein auf die Liquidierung ganzer Menschengruppen, insbesondere der jüdischen Bevölkerung und der bolschewistischen Führungsschicht zielen. Ein totaler Vernichtungskrieg, wie Halder, der preußische Offizier, nicht ohne ein leises Schaudern, in sein Tagebuch notierte.97 ___________________ 95 96 97
Halder 1962/64, Band II, 335ff. Himmler 1974, S.149ff. Zur Verdeutlichung: Der Angriffsplan gegen die Sowjetunion wurde bereits im Juni 1940 beraten. Es wurde weder ein Ultimatum gestellt noch ein Friedensvertrag ins Auge gefasst. In Begleitung der Wehrmacht wurden mobile Mordkommandos von SS und Polizei, die sogenannten Einsatzgruppen aufgestellt, die die Liquidierung aller politischen Kommissare, Saboteure, „Asozialen“ und Juden zum Ziel hatten. Allein von Juni 1941 bis Juni 1942 erschossen die Einsatzgruppen (oft mit Hilfe der
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Die deutsche Expansion nach Osten und die Ausdehnung des deutschen Einflussgebietes hatten bereits im Ersten Weltkrieg nach dem Friedensschluss von Brest-Litowsk zur Besetzung großer Teile Russlands geführt. Insofern war die NS-Expansion nichts vollkommen Neues. Das von Hitler in Mein Kampf fixierte Fernziel, ein deutsches Ost-Imperium in der besiegten Sowjetunion aufzubauen, war nicht nur eine aus bloßen Wunschphantasien gewachsene Vision. Das Ziel einer Eroberung und Kolonisierung des Ostens besaß einen konkreten Vorläufer in dem 1918 schon einmal Erreichten. Ein deutsches Ost-Imperium war, trotz des Friedensvertrages von Brest-Litwosk – wenn auch nur für begrenzte Zeit – bereits Wirklichkeit gewesen. Hier, im Krieg an der östlichen Front der Jahre 1914-18, wurde ein spezifisches Bild des Ostens geprägt, das – obwohl bisher kaum untersucht – weitgehende Wirkungen besaß. Denn dieses Erlebnis bildete, neben seiner rassistischen Verarbeitung, eine Grundlage für eine neue deutsche Identität und die Idee einer Mission im Osten. Denn der Osten sollte durch deutsche Ordnung und Planung zivilisiert werden. Ziel war eine Kultivierung des Ostens aus einem tiefen Gefühl der Überlegenheit heraus. Insofern waren die Ostfronterlebnisse des Ersten Weltkrieges für den späteren Rassenkrieg, neben den Erfahrungen der Materialschlachten, eine weitere entscheidende und bis dato wenig untersuchte Voraussetzung. Denn, „sie schufen den wichtigen kulturellen und psychologischen Hintergrund sowie die Mentalität, die ___________________ Wehrmacht und einheimischer Hilfstruppen) ca. 1.000.000 russische Juden und verscharrten sie in Massengräbern. Auch die Haager Konvention für die Behandlung Kriegsgefangener war außer Kraft. So wurden die ersten Versuche von Massenvergasungen in Auschwitz mit russischen Kriegsgefangenen durchgeführt. Insgesamt starben über 3 Millionen russische Soldaten in deutscher Gefangenschaft. Der Massenmord an den europäischen Juden ist mit dem rassenideologischen Vernichtungskrieg im Osten direkt verknüpft. Neben der ideologischen Konzeption des Ostfeldzuges müssen aber auch seine realen Bedingungen als Grund für die Eskalation genannt werden: der Kampfwille des russischen Infanteristen, Partisanenüberfälle, die Infrastruktur des Landes (kaum Straßen, riesige Räume, Kälte und Schlamm), das oftmalige Abgeschnittensein von den eigenen Linien, Versorgungs- und Nahrungsengpässe, die Drohung der Kriegsgefangenschaft, die äußersten Widerstand nahe legte, etc. – alle diese Faktoren haben wesentlich mit dazu beigetragen, dass die Ostfront zu einem Kampfplatz wurde, an dem keine traditionellen militärischen Regeln mehr galten. Für den einzelnen Soldaten spielte die Rassenideologie wohl mehr eine untergeordnete Rolle: „Entscheidend ist, wie eine Millionenarmee, auf Gedeih und Verderb gestellt, ihre Vorstellungen aufbaut. Angesichts täglicher Verluste von weit über tausend Mann ist der Daseinskampf für viele überzeugender als Hitler.“ (Friedrich 1995, S. 295) Zur Kriegführung im Osten vgl. neben Friedrich exemplarisch Bartov (1995), Heer und Naumann (1997) bzw. aus der Sicht des einfachen Soldaten:Reese (2004).
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sich die Nationalsozialisten zu Eigen machten und auf dem sie aufbauen konnten. Das Scheitern der Kriegsoption im Osten sollte weitreichende Folgen haben, denn die daraus gezogenen Lehren tauchten – in radikaler Ausprägung – in der nationalsozialistischen Ideologie wieder auf.“98 Dennoch muss man die Ausrottung ganzer Bevölkerungen und die beinahe unbegrenzte Realisierung eines rassischen Vernichtungskrieges, der alle politischen Fesseln abstreifte, von der Politik der Obersten Heeresleitung im Ersten Weltkrieg deutlich unterscheiden. Ludendorff war, trotz aller rassistischen Anteile, nicht Hitler. Letzterer radikalisierte eine Konzeption des Krieges, die aber auf eine längere Geschichte zurückblicken konnte. In einem Aufsatz zur Entstehungsgeschichte des modernen Rassismus charakterisiert der französische Sozialphilosoph Michel Foucault die moderne Version des Krieges, die mit zu den verlustreichen Schlachten ganzer Staatenallianzen führte: „Kriege werden nicht mehr im Namen eines Souveräns geführt, der zu verteidigen ist, sondern im Namen der Existenz aller. Man stellt ganze Völker auf, die sich im Namen der Notwendigkeit ihres Lebens gegenseitig umbringen. Die Massaker sind vital geworden.“99 Nicht mehr die juridische Existenz des Königs oder Kaisers, als vielmehr die nackte, biologische Existenz einer ganzen Bevölkerung steht jetzt in der kriegerischen Auseinandersetzung auf dem Spiel, eine Entwicklung, die bereits Clausewitz in den Volkskriegen vorhergesehen hatte. Das einfache und kriegerische Verhältnis, das Elias Canetti in seiner Figur des Überlebens 100 analysiert hat, nämlich: „Töten, um zu Überleben“, wird zur bestimmenden Figur einer gesamtgesellschaftlichen Dynamik. Das Postulat des Überlebens wird insbesondere durch die Fiktion einer latenten Todesdrohung zum stärksten Handlungsregulativ. Die zionistische Weltverschwörung, der Versailler Vertrag, die „Lebensraumknappheit“: Hitler hat von Anfang an ständig auf einer Klaviatur der (physischen) Bedrohungen gespielt, der Deutschland ausgesetzt sein sollte. Und gerade die ständige Todesdrohung hat, bei aller Absurdität der Anschuldigungen, seine aggressive Politik geleitet: die Nürnberger Gesetze erscheinen in dieser Logik als staatliche Notwehr gegen einen inneren Feind, der die Vernichtung und Auslöschung der arischen Rasse zum Ziel hat; der Angriff auf Polen nur als Reaktion auf den Überfall des Senders Gleiwitz und der polnischen Grenzverletzungen; der Krieg gegen die Sowjetunion als ein Präventivschlag gegen den bevorstehenden Angriff Stalins und des „asiatischen Untermenschentums“. Und unter all diesen Rechtfertigungen bildet der Rassenkampf die Basis der ___________________ 98 Liulevicius 2002, S. 20f., vgl. auch S. 313. 99 Foucault 1986, S. 163. 100 Canetti 1992b, S. 249ff.
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hegemonialen Ansprüche. Im Krieg konnten sich die einzigen beiden Fixpunkte nationalsozialistischen Denkens, nämlich der Antisemitismus und die Lebensraumidee, in einer Strategie vereinigen. Vernichten und Erobern werden Synonyme. 101 Aber es ist gerade für den Nationalsozialismus signifikant, dass die Beziehung zu dem absolut gesetzten Gegner (den Juden) nicht mehr eine des politischen oder militärischen Typs darstellt, sondern eine biologischer Art. Exemplarisch dafür ein Auszug aus einer geheimen Himmler-Rede im Jahre 1943 bezüglich der „Endlösung der Judenfrage“: „Wir [die SS; A.M.] haben die Blutsfrage als erste wirklich durch die Tat beantwortet, wobei wir unter Blutsfrage natürlich nicht den Antisemitismus verstehen. Mit dem Antisemitismus ist es genauso wie mit der Entlausung. Es ist keine Weltanschauungsfrage, dass man Läuse entfernt. Das ist ein Reinlichkeitsgebot. […] Dieser Prozess ist konsequent, aber ohne Grausamkeit durchgeführt worden. Wir quälen niemanden, aber wir wissen, dass wir um unsere Existenz und die Erhaltung unseres nordischen Blutes kämpfen.“102
Je mehr „minderwertige Elemente“ folglich liquidiert werden, desto stärker, gesünder und widerstandsfähiger wird man sein. Der Tod des Anderen erhält nun eine medizinisch-therapeutische Begründung. Nicht der politische Gegner, nicht der Oppositionelle ist der Gegenstand „therapeutischer Eingriffe“. Die vollständige Auslöschung jeglicher Individualität gelingt erst bei den sogenannten „objektiven Gegnern“ (Hannah Arendt), also den völlig Unschuldigen, deren Tod überhaupt nichts mehr mit einer politischen oder militärischen Opposition zu tun ___________________ 101 Man könnte einwenden, dass auch der Antibolschewismus ein spezifisches Merkmal der NS-Ideologie bildete. Aber Hitler hat noch in seinem „Testament“, das er kurz vor seinem Selbstmord im Führerbunker diktierte, im Bolschewismus eine „Spielart des Judentums“ gesehen. Der letzte Satz in Hitlers Testament, den er im Führerbunker des bereits von der Roten Armee eingeschlossenen Berlins diktierte, lautete: „Vor allem verpflichte ich die Führung der Nation und die Gefolgschaft zur peinlichen Einhaltung der Rassengesetze und zum unbarmherzigen Widerstand gegen den Weltvergifter aller Völker, das internationale Judentum.“ (zit. bei Jäckel 1991, S. 78) 102 Himmler 1974, S.200f. Himmlers Reden lassen sich allgemein in zwei Gruppen einzuteilen: 1) in offizielle und 2) in geheime Reden, die nur für ein ausgesuchtes Publikum (SS, Partei, Wehrmacht) bestimmt waren. Insbesondere die „Endlösung der Judenfrage" war eines jener Themen, die Himmler geheim halten wollte, gemäß seiner Überzeugung, dass das deutsche Volk noch nicht „reif" für eine solche Mitteilung sei. Die SS habe deshalb die Verantwortung für diese Taten zu übernehmen, da nur sie weltanschaulich so gefestigt sei, diese Aufgabe „anständig" zu lösen (Vgl. Himmler 1974, S. 170f.).
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hat. 103 Daraus leitet sich auch die Tatsache ab, dass Propaganda oder Weltanschauungsunterricht in den Konzentrationslagern verboten war. Die Existenz einer politischen Opposition ist nur ein Vorwand, um eine medizinisch-therapeutische Version der Vernichtung durchzusetzen. In diesem Sinne muss neben dem Holocaust auch der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion gelesen werden. Er verfolgte weder abgegrenzte politische Absichten und Ziele noch rein militärische Zwecke. Als Rassen- und Weltanschauungskrieg konzipiert, gab es keine andere Alternative als Sieg oder Untergang. Und so wurde dieser Krieg auch dann noch weitergeführt, als er längst verloren war, weil es keinerlei Begrenzung der ideologischen Vision der „totalen Therapie“ geben kann. Dieser Kampf ist als eine Art von umfassender Reinigung codiert, der nicht nur die äußeren Feinde der Vernichtung zuführt, sondern auch der Selbstreinigung dienen soll. Die Vernichtung der anderen Rassen ist also nur eine Seite des Projekts. Die andere Seite war, die eigene Rasse der absoluten Todesgefahr auszusetzen. Der nationalsozialistische Staat trägt so, wie in den Kriegsvisionen Hitlers deutlich herauszulesen, selbstmörderische Züge. Dies hat v.a. Albert Speer, Hitlers Architekt und später Reichsminister für Bewaffnung und Munition, im Nürnberger Prozess betont. Die von Hitler befohlene Zerstörung der gesamten industriellen, kommunikationstechnischen Versorgungs- und TransportInfrastruktur wäre, hätten nicht Speer und andere diese Befehle sabotiert, einer Selbstzerstörung schon recht nahe gekommen. In seiner Verteidigungsrede in Nürnberg zitiert Speer aus einer Unterredung mit Hitler Anfang 1945: „Wenn der Krieg verloren geht, wird auch das Volk verloren sein. Dieses Schicksal ist unabwendbar. Es sei nicht notwendig, auf die Grundlagen, die das Volk zu seinem primitivsten Weiterleben braucht, Rücksicht zu nehmen. Im Gegenteil sei es besser, selbst diese Dinge zu zerstören. Denn das Volk hätte sich als das Schwächere erwiesen und dem stärkeren Ostvolk gehöre dann ausschließlich die Zukunft.“104
Angesichts von Rassen, die vollständig ausgerottet oder endgültig versklavt sein werden, gibt es keine (politische) Alternative mehr. Entweder Sieg oder Untergang. Erst der Rassenkrieg macht den Krieg wirklich zum totalen Krieg im Sinne einer Dualität der Gegner, deren gemeinsame Existenz nicht zugelassen werden darf. Alle vertrauten Begriffe der militärischen und politischen Sprache sind außer Kraft gesetzt. Unterhalb der militärischen Kriegshandlungen und hinter der ___________________ 103 Vgl. Arendt 1991, S. 654ff. 104 Gilbert 1992, S. 394
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7. NATIONALSOZIALISMUS
Front wirken Kräfte, die teilweise die Kriegführung behindern und einzelne Offiziere zu Protesten veranlassen. Der Rassenkrieg kennt keinen Kompromiss. Standen sich im Ersten Weltkrieg noch Händler und Helden gegenüber, so sind es jetzt Arier und Untermenschen – Oppositionen, die nicht weiter voneinander entfernt sein könnten. Und auch wenn der Erste Weltkrieg im Osten durch Ludendorff und andere bereits rassistische Elemente enthielt, blieb das Verhältnis doch mehr paternalistisch. Ganze Völker auszurotten hielten nicht einmal die Alldeutschen in der Praxis für denkbar, und selbst Himmler hatte noch zu Kriegsbeginn davon gesprochen, eine solche Idee wäre „gänzlich ungermanisch.“ Die verhängnisvolle Seite des Ersten Weltkrieges, die sein Erleben und seine Verarbeitung strukturierte, war die Tatsache, dass in der als Übermacht erfahrenen Maschine ein psychisches Pendant steckte, das in der Mimesis quasi ein Überleben versprach. Aus den Erfahrungen der maschinellen Vernichtung wird ein politisches „Programm“ konstruiert, das sich aus dem Gefühl der Verlassenheit, der Passivität der Gräben und einem (zunächst) richtungslosen Willen zur Aktion zusammensetzt. Der Ausweg aus der unerträglichen Situation des Stillstandes besteht in einer ersehnten und gleichsam unbestimmten Bewegung, die in der Nachkriegszeit Gestalt annimmt und ihre destruktive Wirkung ab 1933 voll entfaltet. Losgelöst selbst von politischen und militärischen Sinnkonstruktionen war es die Bewegung um ihrer selbst willen, die den Nationalsozialismus definiert. Entscheidend für die Vernichtungslogik war eine Mentalität, die ihren Ausgangspunkt in einer allgemeinen Erfahrung der Zerstörung hatte, für die die Materialschlachten des Ersten Weltkrieges prägend waren: „Es war wohl eher die Dissoziationsmentalität des Verdun-Kriegers, der den radikalen faschistischen Umbau der deutschen Gesellschaft und den kommenden Krieg ermöglichte. […] Die Mentalitätsstruktur des ‚Neuen Menschen‘ musste ihn vom Muster des traditionellen Kriegers unterscheiden und ihn zu einer jederzeit einsatzfähigen Kampfmaschine machen, die keine äußere Bedrohung und keinen bewaffneten Feind nötig hat, um Tod und Zerstörung zu verbreiten. Das massenhafte Morden von Zivilisten im Osten setzte den Krieg lediglich in einem vordergründigen Sinn voraus und hatte keine im engeren Sinn verstandene politische Drohung nötig. Die Destruktionserfahrung des Ersten Weltkriegs war nun in ein jederzeit abrufbares Handlungsmuster verselbstständigt worden.“105
Auch wenn Bernd Hüppauf hier vielleicht den Zusammenhang des Abnutzungskrieges vor Verdun mit den nationalsozialistischen Vernich___________________ 105 Hüppauf 1996, S. 93 und 73
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tungspraktiken in eine zu direkte Linie stellt: Ohne das Erlebnis der Front, ihre Bilder, gewaltförmige Verarbeitung und Verallgemeinerung wäre etwa die fabrikmäßige Organisation der NS-Todesfabriken oder die Kriegführung im Osten ab 1941 nur schwer denkbar. Ronald Smelser und Enrico Syring betonen deshalb die Bedeutung des Abnutzungskrieges durch die Generation derjenigen Offiziere, die den Zweiten Weltkrieg an führender Stelle leiteten: „Diese Erfahrung prägt ihre persönliche Anschauung und ihr Verhalten in den Jahren zwischen 1939 und 1945. Der massenhafte anonyme Tod, den der Erste Weltkrieg mit sich brachte, bahnte den Weg zum späteren NS-Genozid.“ 106 Dieser Konnex ist zwar für sich alleine genommen keine ursächliche Erklärung für den Genozid, benennt aber ein entscheidendes Element seiner Voraussetzung. Auch der britische Militärhistoriker John Keegan betont den Zusammenhang von industrieller Feldschlacht und Vernichtung: „Wie hätte man ohne vorherige Konditionierung in den Schützengräben, wo Männer mit der physischen Tatsache der industrialisierten Tötung vertraut gemacht wurden, genug Personal zur Überwachung der Ausrottungsverfahren finden können?“ 107 Auch wenn das Personal der SS-Totenkopfverbände sowie die SS-Eliten des RSHA den Krieg mehrheitlich nicht mehr persönlich erfahren hatten, er blieb doch der wichtigste Ausgangs- und Bezugspunkt für eine Mentalität, die als Selbstzweck auftrat und in der die Abspaltung jeglichen Gefühls Empfindungen zu reinen Klischees oder Propaganda machten. Das Leitbild des nach 1918 „politisch gewordenen Soldaten“ oder „weltanschaulichen Kriegers“ hob so alle normativen Begrenzungen tendenziell auf und konnte für (fast) alles instrumentalisiert werden. In fataler Weise verschmolzen Frontkämpferideologie, nationalrevolutionäre Tendenzen, militärische Professionalität und politischer Führerglaube. Diese Amalgamierung ist das Ergebnis einer spezifischen Verarbeitung des Kriegserlebnisses und seiner politischen Instrumentalisierung durch einen Teil der Front- und Nachkriegsgeneration, die sich zur „Sendung der Nation“ aufgerufen fühlten. Der erfahrene Stillstand des Grabenkrieges, die Unmöglichkeit einer Akzeptanz der Niederlage und die gesellschaftlichen Dynamisierungsprozesse der Nachkriegszeit werden schließlich in eine militante und totale Bewegung überführt, die die ganze Welt mobilisieren und Verbrechen im bis dorthin unbekannten Maßstab begehen wird.
___________________ 106 Smelser und Syring 1997, S. 15 107 Keegan 2000, S. 446
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Jürgen Martschukat, Olaf Stieglitz (Hg.) Väter, Soldaten, Liebhaber Männer und Männlichkeiten in der Geschichte Nordamerikas. Ein Reader
Alexander Meschnig Der Wille zur Bewegung Militärischer Traum und totalitäres Programm. Eine Mentalitätsgeschichte vom Ersten Weltkrieg zum Nationalsozialismus
2007, 398 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-773-8
2007, 432 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-664-9
September 2008, 352 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-955-8
Nicole Colin, Beatrice de Graaf, Jacco Pekelder, Joachim Umlauf (Hg.) Der »Deutsche Herbst« und die RAF in Politik, Medien und Kunst Nationale und internationale Perspektiven September 2008, 232 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN: 978-3-89942-963-3
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de