Der verbannte Stratege: Xenophon und der Tod des Thukydides 3805347553, 9783805347556

Der griechische Historiker Thukydides wird von einem athenischen Gericht zum Verlassen seiner Heimatstadt gezwungen, wei

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German Pages 144 [143] Year 2014

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Titel
Impressum
Inhalt
Einführung
Übersicht über den Inhalt der Erzählung
Die Erzählung
Namen und Begriffe
Literaturhinweise
Anmerkungen
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Der verbannte Stratege: Xenophon und der Tod des Thukydides
 3805347553, 9783805347556

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Rainer Nickel

Der verbannte Stratege Xenophon und der Tod des Thukydides

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Der Verlag Philipp von Zabern ist ein Imprint der WBG. © 2014 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Lektorat: Christoph Nettersheim, Nürnberg Satz: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a. d. Donau Einbandabbildung: Thukydides, hellenistische Porträtbüste aus Marmor, Louvre/Paris. © akg-images/Erich Lessing Einbandgestaltung: Katja Holst, Frankfurt am Main Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8053-4755-6 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8053-4778-4 eBook (epub): 978-3-8053-4789-1

Inhalt

Einführung 

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Übersicht über den Inhalt der Erzählung 

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Die Erzählung 

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Namen und Begriffe 

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Literaturhinweise 

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Anmerkungen 

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Einführung Thukydides war der Chronist des fast dreißigjährigen Peloponnesischen ­Krieges, der 404 v. Chr. mit dem Sieg Spartas über Athen sein Ende fand. Sein berühmtes Geschichtswerk ist erhalten, bricht aber mehrere Jahre vor dem Ende des Krieges abrupt ab. Jahrzehnte später wird es von Xenophon mit seiner „Griechischen Geschichte“, den Hellenika, fortgesetzt. Die wichtigste Quelle der vorliegenden Darstellung ist neben der Mono­ graphie des Thukydides über den Peloponnesischen Krieg und Xenophons Hellenika vor allem das Kriegstagebuch, das Xenophon unter dem Titel ­Anabasis herausgab. Die handelnden Personen sind historisch. Nur einige Nebenfiguren sind in Anlehnung an diese erfunden, dürften aber durchaus authentisch sein. Auch die Reden und Gespräche, die Xenophon in seinen fiktiven Erinnerungen wiedergibt, stützen sich auf historische Tatsachen und suchen den Anschluss an die Überlieferung. Schon die antiken Historiker bedienten sich dieses Darstellungsmittels, um ihre historiographischen Positionen und Reflexionen zu veranschaulichen und das Handeln der Akteure zu erklären. Die Verknüpfung und Verzahnung plausibler Konstruktionen und fiktiver Erinnerungsbilder mit historischen Tatsachen hat also eine bis in die Antike zurückreichende Tradition. Dieses Konzept kann auch heute noch Menschen einen Zugang zur Geschichte vermitteln, die ihr eher fremd, wenn nicht gar ablehnend gegenüberstehen.1 Es wird aber nicht im Sinne einer virtuellen Geschichtsschreibung darüber spekuliert, was geschehen wäre, wenn die Akteure anders gehandelt hätten, als sie tatsächlich gehandelt haben. Im Mittelpunkt steht vielmehr eine auf Indi­ zien gestützte Rekonstruktion von Situationen, in denen sich das faktische ­Geschehen abgespielt haben könnte. Aus den überlieferten Nachrichten wird eine zusammenhängende Erzählung herausgesponnen. Lücken oder Leerstellen in den Quellen werden mit Hilfe einer kontrollierten Fantasie gefüllt und gesicherte Informationen mit der fiktiven Erzählung vernetzt. So werden Motive des geschichtlichen Handelns nachvollziehbar, auch wo sie nicht nachweislich überliefert sind.2 Die Darstellung bewegt sich abwechselnd auf den Ebenen des Historischen [in schwarzer Farbe] und des Fiktiven [in blauer Farbe]: Die Dreißig Tyrannen, die unter dem Schutz des Siegers im Jahr 404 v. Chr. die Macht in Athen übernahmen, hatten Thukydides die Rückkehr aus seinem thrakischen Exil erlaubt. Es kommt zu einer Begegnung zwischen Xenophon und Thukydides. Xenophons

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Vater lädt den Geschichtsschreiber auf sein Landgut ein. Aber kurze Zeit später verschwindet Thukydides spurlos. Xenophon macht sich auf die Suche nach ihm – nicht nur weil er sich mit ihm angefreundet hatte, sondern weil er sich auch dazu verpflichtet fühlt, ihn vor dem Terrorregime der Dreißig Tyrannen zu schützen, soweit es ihm möglich ist.3 Außerdem hatte ihm Thukydides wichtige historische Dokumente anvertraut, die er vor der Vernichtung bewahren will. Aber Thukydides bleibt unauffindbar. Da trifft es sich gut, dass Xenophon von seinem Freund Proxenos 401 v. Chr. zu einer Reise nach Persien eingeladen wird. Diese „Reise“ ist aber in Wirklichkeit der Anfang eines militärischen Abenteuers, für das Kyros, der jüngere ­Bruder des persischen Großkönigs Artaxerxes, zahlreiche griechische Söldner angeworben hatte – unter ihnen eben auch Proxenos. Ahnungslos nimmt ­Xenophon die Einladung an. Denn er hofft, auf diesem Weg Kontakte zu dem berühmt-berüchtigten persischen Geheimdienst knüpfen und seine Suche nach Thukydides intensivieren zu können. Erst nach und nach erfährt Xenophon, dass er in eine gefährliche Verschwörung gegen Artaxerxes geraten ist. Aber er kann und will nicht mehr zurück. Denn Kyros gibt ihm den ehrenvollen Auftrag, ein Kriegstagebuch zu führen. In der Nähe von Babylon kommt es schließlich zu einer offenen Schlacht mit den Streitkräften des Großkönigs. Kyros fällt. Der Aufstand ist gescheitert. Die aus etwa zehntausend Mann bestehende griechische Söldnerarmee bleibt aber ungeschlagen und verweigert die Unterwerfung unter den persischen Großkönig. Die griechischen Offiziere werden in eine Falle gelockt. Als sie sich in das persische Lager begeben, um über ihren Rückzug zu verhandeln, werden sie heimtückisch ermordet. Xenophon ergreift die Initiative in dem führerlosen Heer, und die Soldaten wählen ihn überraschend zum Nachfolger des Proxenos. Es gelingt ihm schließlich, die Männer unter ständiger Bedrohung durch den Feind und nach Überwindung gewaltiger Strapazen bis an die Küste des Schwarzen Meeres zu führen und in Sicherheit zu bringen. Es ist zwar nicht überliefert, dass das Motiv für Xenophons Teilnahme am Zug der Zehntausend die Suche nach Thukydides war. Das ist ebenso fiktiv wie sein Versuch, den Geschichtsschreiber vor den Dreißig in Sicherheit zu bringen. Dass er mit seinem Einsatz für Thukydides seine Kollaboration mit dem Terror­ regime „wiedergutmachen“ wollte, ist zwar nachvollziehbar, aber nicht durch Quellen belegt. Es ist eine „Konstruktion möglicherweise geschehener Geschichte“.4 Wenn auch Xenophon bei seiner Suche nach Thukydides letztlich erfolglos bleibt, so findet er ihn schließlich doch noch auf eine andere Weise: Das Kriegstagebuch bestätigt die pessimistischen Analysen menschlichen Verhaltens, 5 die der Historiker aus den Erfahrungen des Peloponnesischen Krieges gewann: Die

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Anabasis setzt das historische Deutungsschema des Thukydides in Szene – wenn auch nur auf einer relativ kleinen und überschaubaren Bühne. Sie zeichnet ebenso wie das Werk des Thukydides ein Panorama des Scheiterns: Der Versuch des Kyros, mit Hilfe griechischer Söldner den persischen Thron zu erobern, scheitert, und auch Xenophons Suche nach dem vermissten Thukydides bleibt trotz allem erfolglos. Dieses Panorama wird durch Porträts wichtiger Zeitgenossen erweitert: So kommen u. a. Sokrates und die Sophisten, der Historiker Herodot, die Politiker Perikles, Kleon, Kritias, Theramenes und Alkibiades und auch der Komödiendichter Aristophanes ins Spiel. Ein idealisiertes historisches Bühnenbild, der berühmte Parthenonfries auf der athenischen Akropolis, wird kurz beschrieben: Xenophon „erinnert sich“, wie er diesen zusammen mit seinem Vater während eines Waffenstillstands mitten im Peloponnesischen Krieg zum ersten Mal bestaunen durfte. Literarisch überlieferte Themen und Motive, die mit bestimmten Orten verknüpft sind, dienen der Verlebendigung der Erzählung: In Ephesos erinnert sich Xenophon zum Beispiel an die berühmte „Witwe“, und Sardes liefert ihm den Anlass, eine Episode aus dem Leben des Kroisos, des letzten lydischen Königs, zu schildern. In Kelainai erwähnt Xenophon den Mythos von Marsyas, der einen musikalischen Wettkampf mit dem Gott Apollon verlor. Diese Essays sind nicht zuletzt kleine Beispiele für die Verknüpfung historischer Bericht­ erstattung mit literarischer Fiktion. Sie erweitern das Blickfeld.

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Übersicht über den Inhalt der Erzählung Der Friedensvertrag  Der Aufstieg der Dreißig  Platons Onkel  Theramenes  Xenophon von Athen  Mutmaßungen über Thukydides  Xenophon erinnert sich: Im Dienst der Dreißig  Alkibiades  Sokrates  Der Komödiendichter  Thukydides in Gefahr?  Die Sophisten  Erinnerungen an den Parthenonfries  Der Epitaphios des Thukydides  Der Befehl  Thukydides: Biographie und Geschichtswerk  Erste Begegnung  Leben auf dem Land  Das Gut des Gryllos  Philoktet  Schuldgefühle  Befehlsverweigerung  Amphipolis  Über die Verantwortung der Götter  Xenophons Hellenika  Angst um Thukydides  Kleon und Diodotos  Macht und Recht  Vermutungen über einen fehlenden Epilog  Thukydides und die Kleonisten  Die Kiste  Ein verschwundener Geschichtsschreiber  Das brennende Haus  Der Befreier  Waffenstillstand  Auf der Suche nach dem Vermissten  Das Orakel von Delphi  Orakel oder Geheimpolizei?  Eine Bienenkönigin  Der Brief  Die Entscheidung  Xenophons „Kleine Schriften“  Eine kurze Reise nach Delphi  Abschied  An Bord  Herodot aus Halikarnassos  Was wissen die Perser über Thukydides?  Ankunft in Ephesos  Weiter nach Sardes  Die alte Hauptstadt  Wiedersehen mit Proxenos  In der Residenz des persischen Prinzen  Kyros  Die Söldner  Das Kriegstagebuch  Der Aufbruch  Der Aufstieg  Epyaxa  Recherchen für das Tagebuch  Menon  Sinnlose Suche?  Meuterei  Kein Zurück mehr  Das wahre Ziel der Expedition  Informa­ tionsbeschaffung  Übergang über den Euphrat  Der Tross  Klearchos  Nachrichten über Thukydides?  Flussabwärts  Orontas  Wachsende Spannung  Kunaxa und die Folgen  Tissaphernes’ Verrat  Eine höchst bedroh­ liche Lage  Xenophons Entschlossenheit  Die Wahl zum General  Die neue Rolle  Außerordentliche Führungsqualitäten  Taktische Veränderungen  Wieder einmal belogen und betrogen  Ein erster Blick auf das Meer  Endlich am Ziel  Steinhaufen aus Dankbarkeit  Wie es weiterging

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Die Erzählung Der Friedensvertrag Es ist ein kühler Frühlingsmorgen. Auf der Mauerkrone stehen etwa hundert Männer mit Hacken und Brecheisen. Unten auf der Straße hatten sich einige Mädchen und Frauen versammelt: Flötenspielerinnen mit ihren Instrumenten. Die Spartaner hatten sie noch bei Dunkelheit aus den Bordellen und Kaschemmen der Stadt geholt. Ein Trompetensignal ertönt. Trommelwirbel. Die Musikantinnen stimmen das erste Lied eines langen Tages an.6 Steinbrocken stürzen in die Tiefe. Staub wirbelt auf. Sand und Erde rieseln nach. Entgeistert müssen die Athener die Zerstörung eines mächtigen Bauwerkes mit ansehen. Die Besonnenen unter den Zuschauern glauben, den ersten Tag der Freiheit für ganz Hellas zu sehen.7 Sie sind froh, die verheerenden Folgen einer maßlosen, aber restlos gescheiterten Großmachtpolitik überlebt zu haben. Die Athener erfüllen mit dem Abriss der Langen Mauern den ersten Teil der Friedensbedingungen, die ihnen die Lakedämonier nach der verheerenden Niederlage im Peloponnesischen Krieg diktiert hatten. Den genauen Wortlaut des Vertrags hält Xenophon später in seiner „Griechischen Geschichte“, den Hellenika, fest8: „Die Lakedämonier erklären sich bereit, unter folgenden Bedingungen Frieden zu schließen: Die Athener reißen die Langen Mauern und die Befestigungen des Peiraieus nieder. Sie liefern ihre Flotte bis auf zwölf ­Schiffe aus und lassen ihre Verbannten aus dem Exil zurückkehren. Sie haben dieselben Feinde und Freunde wie die Lakedämonier. Sie folgen ihnen zu Wasser und Lande, wohin auch immer sie geführt werden.“ Dem Friedensschluss waren dramatische Wochen vorausgegangen.9 Der spartanische Feldherr Lysandros10 hatte die Stadt Lampsakos besetzt. Bald ­darauf ergaben sich Byzantion und Kalchedon kampflos. Den athenischen Besatzungstruppen wurde der freie Abzug gewährt. Lysandros schickte die Angehörigen der athenischen Soldaten, die kapituliert hatten, und alle anderen Athener, die er irgendwo aufgriff, zurück nach Athen. Auch sie erhielten freies Geleit. Auf diese Weise wollte Lysandros Spartas Rivalin endgültig niederzwingen. Denn er rechnete damit, dass sich die Versorgungslage in der eingeschlossenen Stadt durch die Aufnahme der Flüchtlinge dramatisch verschlechtern würde. In Athen nahm die Angst vor den Lakedämoniern von Tag zu Tag zu. Denn die Menschen fürchteten, dass sie dasselbe erleiden würden, was sie ihren Kriegsgegnern in ihrer maßlosen Überheblichkeit angetan hatten. Also bereiteten sie sich auf eine lange Belagerung vor.

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Lakedämonische Kriegsschiffe blockierten bereits den Peiraieus, und zu Lande begannen die Lakedämonier mit einem Großangriff auf die Stadt, die jetzt von der Außenwelt vollständig abgeschnitten und eingekesselt war. Doch die Athener waren immer noch nicht bereit zu kapitulieren. Zahlreiche Menschen waren bereits verhungert. Erst als die Situation immer unerträglicher wurde, entschlossen sich die Athener, mit Agis, dem spartanischen Befehls­ haber der Blockadearmee, Kontakt aufzunehmen. Sie waren jedoch nicht bereit, die Bedingungen der Spartaner anzunehmen und die Langen Mauern und Hafenbefestigungen aufzugeben und zu zerstören. Die Verhandlungen wurden sogar für Monate unterbrochen und verschleppt. Aber unter dem Druck der katastrophalen Zustände in der Stadt sahen die Athener schließlich keinen anderen Ausweg. Sie waren schließlich bereit, bedingungslos zu kapitulieren. Unter den Verbündeten des Gegners wurden Stimmen laut, die verlangten, Athen vollständig zu zerstören. Glücklicherweise lehnten die Lakedämonier diese Forderung ab, die vor allem von den Korinthiern und den Thebaiern erhoben wurde: Die Lakedämonier waren nicht bereit, eine hellenische Stadt, die einst so große Leistungen vollbracht hatte, als die Perser nach Griechenland eindrangen und Hellas in größter Gefahr schwebte,11 dem Erdboden gleichzumachen.

Der Aufstieg der Dreissig Der Fall der Langen Mauern12 war also das Ende des Peloponnesischen Krieges. Die befohlenen Flötenklänge, die das Zerstörungswerk begleiteten, sollten den unterlegenen Gegner demütigen, der die Mauern einst unter gewaltigen Opfern als einen unüberwindbaren Schutzwall gebaut hatte. Führende Gegner der radikalen Demokratie hatten schon während der Belagerung auf einen Umsturz in Athen hingearbeitet. Eine besondere Rolle spielte dabei Theramenes, der deshalb die Kapitulationsverhandlungen mit Sparta hintertrieben hatte. Es ging ihm nicht darum, eine bessere Verhandlungsposition gegenüber den Spartanern zu erzielen. Er wollte vielmehr seine eigenen Landsleute durch Hunger in die Knie zwingen, um seine innenpolitischen Gegner zu vernichten und ein aristokratisches Regiment zu errichten. So nutzte er die Gunst der Stunde und stürzte mit Hilfe des lakedämonischen Oberbefehlshabers die demokratische Regierung. Auf spartanischen Druck hin beriefen die noch verbliebenen Mitglieder der athenischen Volksversammlung eine Kommission aus dreißig Männern, die als mehr oder weniger gemäßigte Gegner der Demokratie galten und den offiziellen Auftrag bekamen, die „Verfassung der Väter“ und damit die Ordnung in der Polis wiederherzustellen.

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Diesen Vorgang erwähnt Xenophon später in seinen Hellenika13: „Die Volksversammlung beschloss, dreißig Männer zu wählen, die die ‚Gesetze der Väter‘ wieder in Kraft setzen sollten. Im Sinne dieser Gesetze sollten sie die Polis lenken.“ Selbstverständlich legten die Oligarchen die Bestimmungen des Friedensvertrags in ihrem Sinne aus. „Unter dem Druck der Flotte des Lysander wurde im Hochsommer 404 die athenische Demokratie zu Grabe getragen. … Nachdem die Oligarchen zunächst ein ‚Aktionskomitee‘ von fünf Ephoren gebildet hatten, wurde eine Regierungskommission von dreißig Bürgern eingesetzt; Theramenes, ein kluger Mann und ein guter Redner,14 und der hochbegabte, aber gewalttätige Kritias (Platons Oheim) waren ihre Wortführer. Anstatt die neue Verfassung auszuarbeiten, rissen die Dreißig unter Duldung Lysanders die gesamte Macht an sich. Auf der Akropolis wurde eine spartanische Besatzung unter einem Harmosten15 stationiert, und bald entpuppte sich die Herrschaft der Dreißig als ein Schreckensregiment; alle unbequemen Elemente wurden mit Hilfe von Denunzianten aus dem Wege geräumt. Nicht weniger als fünfzehnhundert athenische Bürger wurden hingerichtet, zahlreiche andere, unter ihnen Thrasybulos,16 retteten ihr Leben durch die Flucht. Theben, Argos, Megara und andere Orte gewährten ihnen Asyl. Schließlich überschlug sich der Terror der Dreißig.“17 In seinen Hellenika schildert Xenophon die Vorgänge folgendermaßen18: „Die Dreißig wurden aber erst gewählt, als die Langen Mauern und die Befestigungsanlagen des Peiraieus zerstört worden waren. … Ihre Aufgabe, die alten Gesetze zu erneuern, erfüllten die Dreißig nicht. … Stattdessen begannen sie damit, diejenigen zu verhaften, die sich zur Zeit der Volksherrschaft als Gegner der Aristokraten erwiesen hatten. Die für die Verurteilung dieser Leute eigens gebildeten Sondergerichte griffen hart durch. Es wurde in zahlreichen Fällen die Todesstrafe vollzogen. Die meisten Menschen, die nicht unmittelbar davon betroffen waren, nahmen diese Vorgänge ohne Widerspruch hin. Um ihre Willkürmaßnahmen auch erfolgreich durchsetzen zu können, veranlassten sie Lysandros, eine spartanische Besatzung nach Athen zu verlegen. Die Männer unterstanden dem Harmosten Kallibios, den die Dreißig derart ­korrumpierten, dass er alles guthieß, was sie vorhatten. So standen ihnen bei all ihren Unternehmungen spartanische Soldaten zur Verfügung. Allmählich hatten sie es bei ihren Maßnahmen aber kaum noch auf kriminelle Elemente abgesehen. Sie ließen vielmehr jeden verhaften, von dem sie annahmen, er könne ihnen irgendwann einmal gefährlich werden.“

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Platons Onkel Kritias, Platons Onkel, spielte eine führende Rolle in diesem Treiben: Er ließ zahlreiche Menschen umbringen, die irgendetwas mit seiner Verbannung durch den Demos zu tun gehabt hatten. Denn er war kurz vor Kriegsende auf Antrag des demokratischen Kriegstreibers Kleobulos als Freund des Alkibiades verurteilt worden und musste nach Thessalien emigrieren. Dieser Kleobulos war übrigens auch schon während der spartanischen Blockade ein fanatischer Gegner der Verständigung mit Sparta. Kritias lehnte die Demokratie in Athen entschieden ab und war ein großer Freund der Spartaner. Seine Überzeugungen waren von den Sophisten und von Sokrates geprägt. Nach der Stationierung von 700 spartanischen Soldaten auf der Akropolis ging er mit blutigem Terror gegen die Demokraten vor. Er schaltete seinen gemäßigten Rivalen Theramenes aus.19 Bald darauf (403 v. Chr.) fiel er im Kampf mit den demokratischen Befreiern Athens unter Thrasybulos.20 Kritias hatte die sophistische Lehre vom „Recht des Stärkeren“ auf brutalste Weise verwirklicht. Man könnte meinen, seine Gräueltaten hätten nur die Richtigkeit dieser Lehre beweisen sollen. Wenn man Sokrates eines Tages vorwerfen würde, Kritias, der radikale Gegner der Demokraten, sei sein Schüler gewesen, konnte dies nicht ohne Folgen bleiben. Es lag durchaus nahe, Sokrates eine Mitverantwortung an Kritias’ Verbrechen zu geben21 oder ihm eine „Kontaktschuld“ vorzuwerfen. Er war übrigens auch ein prominenter Dichter und Schriftsteller.22 Unter anderem schrieb er ein Satyrspiel mit dem Titel „Sisyphos“, in dem er die Furcht vor den Göttern als eine Erfindung darstellte, mit der das menschliche Verhalten zu beeinflussen war. Recht und Gesetz seien nur dazu geeignet, eine äußere Ordnung zu gewährleisten. Um aber auch die „geheimen Freveltaten“ zu kon­ trollieren, habe ein kluger Kopf die Religion erfunden. Eine allwissende Gottheit könne sogar in das Innere der Menschen blicken. So würden sie aus Furcht vor den Göttern von bösem Tun abgeschreckt. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Kritias den Götterglauben auch selbst als Machtinstrument ­einsetzte. Selbst Xenophon bediente sich später religiöser Erscheinungen, um Menschen zu beeinflussen, indem er zum Beispiel Träume als Medien für göttliche Botschaften interpretierte und zur Durchsetzung seiner Absichten benutzte. Eine Schlüsselfunktion hatte etwa der Traum, mit dem er die griechischen Söldner dazu ermutigte, nach dem gescheiterten Putsch des Kyros gegen den persischen König nicht aufzugeben und ihren gefährlichen Rückzug zum Schwarzen Meer anzutreten.

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Theramenes Das politische Programm dieses athenischen Politikers war die Errichtung einer gemäßigten Oligarchie. Aber auch mit den Demokraten wusste er sich zu arrangieren. Das wurde ihm von Kritias als Verrat an der oligarchischen Sache ausgelegt. Der um 455 geborene Theramenes versuchte aber nur – so sahen es Thukydides23 und Xenophon24 –, einen Ausgleich zwischen Oligarchie und ­Demokratie herbeizuführen: „Ich habe immer diejenigen bekämpft, die die Ansicht vertraten, es könne nur dann eine gute Demokratie geben, wenn auch die Sklaven und die Mittellosen, die normalerweise für eine einzige Drachme ihre Polis verkaufen würden, an der Regierung beteiligt würden. Ich bin aber immer auch denen entgegengetreten, die meinten, eine gute Oligarchie lasse sich nur dann verwirklichen, wenn nur wenige die Polis beherrschen würden.“25 Der Mittelweg, den Theramenes vertrat, war die Forderung, dass denjenigen die Macht zustehe, die sich aus eigenen Mitteln angemessen bewaffnen könnten, um der Polis zu dienen.26 Demnach sollten also nur diejenigen stimmberechtigt sein, die über eine ausreichende ökonomische Basis verfügten. Xenophon27 lässt Kritias die politische Unzuverlässigkeit des Theramenes herausstellen und erwähnt seinen Spitznamen „Kothurn“,28der auf beide Füße gleich gut passt und den angeblichen Wankelmut des Politikers veranschaulichen sollte: Bald habe er mit der oligarchischen Partei, bald mit den Demokraten sympathisiert. Aristoteles29 dagegen beurteilte Theramenes sehr positiv – vielleicht unter dem Eindruck seiner philosophischen Heiterkeit, mit der er den Schierlingsbecher trank. Theramenes habe neben Nikias und Thukydides, dem Sohn des Melesias, der sich in der Mitte des fünften Jahrhunderts als Führer der oligarchischen Partei und als Gegner des Perikles profilierte, zu den tüchtigsten Politikern seiner Zeit gehört. Aristoteles verschweigt allerdings auch nicht, dass das Urteil über ­Theramenes nicht einheitlich positiv war, weil zu seiner Zeit der Staat von schweren Unruhen heimgesucht wurde. Wer aber genauer hinsehe, müsse zugeben, dass Theramenes keineswegs alle Staatsformen zerstört, sondern vielmehr alle gefördert habe, solange sie eine gesetzliche Grundlage hatten. Er habe in allen Systemen Politik treiben können, was ja auch die Pflicht eines guten Bürgers sei. Nur gesetzwidrige Staatsformen duldete er nicht. Das bewies er dann auch in seinem tödlichen Konflikt mit Kritias.30 Theramenes war übrigens auch ein Schüler des Sokrates und des Sophisten Prodikos, und Thukydides attestierte ihm eine hohe politische Begabung und große rhetorische Fähigkeiten.31 Weil Theramenes mit Kritias freundschaftlich verbunden war, versuchte er, diesen von seinem verbrecherischen Tun abzubringen. Es sei nicht hinnehm-

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bar – so Theramenes –, Menschen einfach zu ermorden, weil sie früher beim Volk angesehen waren, ohne aber einem Aristokraten jemals etwas zuleide getan zu haben. Doch Kritias ließ sich von seinem Kurs nicht abbringen. Er rechtfertigte seine Mordaktionen mit dem Zwang zum Machterhalt. Theramenes gab zu bedenken, dass die Machtbasis der Dreißig zu gering sei, um die Massen in Schach zu halten. Daraufhin stellten tatsächlich Kritias und die Übrigen aus der Clique der Dreißig eine Liste von dreitausend Bürgern auf, die an der Macht beteiligt werden sollten. Bis auf diese wurde die gesamte ­Bevölkerung mit Unterstützung der Lakedämonier entwaffnet. Nur wenig später ging die willkürliche Ermordung zahlreicher Bürger ­weiter – teils aus Feindschaft, teils wegen ihres Geldes. Denn um ihre spartanischen Freunde bezahlen zu können, verlangten die Dreißig, dass jeder der ­dreitausend Bürger einen reichen Metöken verhaften, ihn töten und sein Vermögen beschlagnahmen sollte.32 Theramenes weigerte sich als Einziger, dies zu tun. Es sei nicht hinzunehmen, dass Menschen, die sich als Aristokraten verstünden, Verbrechen begingen, die verwerflicher seien als die Taten der gewerbsmäßigen Denunzianten, der berüchtigten Sykophanten. Diese hätten ihre Opfer wenigstens nicht umgebracht. „Wir aber“, so Theramenes wörtlich, „sollen Leute, die nichts Unrechtes taten, ermorden, nur um an ihr Geld zu kommen? Ist das nicht ein erheblich größeres Verbrechen als die Taten der Sykophanten?“33 Dieser Schlag saß. Die Dreißig entschlossen sich, Theramenes zu beseitigen. Man verleumdete ihn als Staatsfeind, indem man behauptete, er wolle die neue politische Ordnung der Oligarchen zerstören. Daraufhin wurde eine Ratsversammlung einberufen, die über den Fall ­Theramenes eine Entscheidung fällen sollte. Um ihre Ziele notfalls mit Gewalt durchsetzen zu können, befahlen die Dreißig mehreren jungen Männern, die als besonders zuverlässig, mutig und verwegen galten, sich zu bewaffnen und im Ratssaal sichtbar anwesend zu sein. Einer dieser „besonders zuverlässigen, mutigen und verwegenen“ jungen Männer war auch Xenophon von Athen.34 So konnte er die Reden der beiden Kontrahenten mit anhören, ihre wichtigsten Aussagen anschließend rasch notieren und später in seine „Griechische Geschichte“ einfügen.35 Als Theramenes erschienen war, begann Kritias seine Rede vor den athenischen Ratsherren mit dem Hinweis darauf, dass es normal sei, wenn bei einem Wechsel der Staatsform viele Menschen stürben.36 Er machte kein Hehl daraus, alle Feinde der Oligarchie aus dem Weg schaffen und besonders entschlossen gegen die Gegner in den eigenen Reihen vorgehen zu wollen. Zu diesen gehöre eben auch Theramenes. Denn er bringe wie kein anderer die Maßnahmen der Oligarchen in Misskredit. Jedes Mal widerspreche er energisch, wenn es darum gehe, einen früheren Volksführer zu beseitigen. Er sei ein gefährlicher Verräter

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an der oligarchischen Sache und an den Interessen der befreundeten spartanischen Befreier. Er habe den Tod verdient. Theramenes verteidigte sich sehr geschickt, und es war zu erwarten, dass der Rat der Stadt ihn von aller Schuld freisprechen würde. Die Verhandlung wurde unterbrochen. Aber Kritias wollte einen Freispruch unbedingt verhindern. Nach kurzer Besprechung mit den übrigen Oligarchen befahl er den jungen Männern, ihre Waffen zu ziehen, sodass jeder sie sehen konnte. Darauf wandte er sich erneut an die Ratsversammlung: „Diese Leute, die hier an den Schranken stehen, würden es nicht hinnehmen, wenn wir einen Mann freilassen, der zweifellos die Oligarchie vernichten will.“ Er verlangte die Todesstrafe. Die Ratsherren waren so eingeschüchtert, dass sie nicht widersprachen. Theramenes wurde sofort verhaftet und unmittelbar darauf gezwungen, den Schierlingsbecher zu trinken. Nach seinem Tod hatten die Dreißig keine Bedenken mehr, ihre Willkürmaßnahmen noch weiter auszudehnen. Zahllose Athener verließen daraufhin Athen. Willkürliche Verhaftungen waren an der Tagesordnung. Die Oligarchen hatten es weiterhin auf das Vermögen und den Grundbesitz reicher Bürger abgesehen. Der geringste Verdacht genügte den Dreißig, die Eigentümer ganz offen umbringen zu lassen. Weder Demokraten noch Sympathisanten der Aristokratie blieben verschont. Selbst ausgewiesene Gegner der Demokratie, die Jahre zuvor von einem demokratischen Gericht dazu verurteilt worden waren, ins Exil zu gehen, und die nach dem Ende des Krieges zurückkehren durften, wurden Opfer des Terrors.

Xenophon von Athen Wir können heute davon ausgehen, dass Xenophon zwischen 430 und 425 in Athen geboren wurde und nicht vor 355 v. Chr. gestorben ist. Kurze Zeit nach der Vertreibung der Dreißig Tyrannen wurde er von seinem Freund Proxenos dazu eingeladen, nach Sardes zu kommen. Proxenos wollte ihn mit Kyros, dem jüngeren Bruder des Großkönigs, bekannt machen. „In den Freundeskreis einer derart außergewöhnlichen Persönlichkeit Einlass finden zu können, musste für einen philosophisch gebildeten und weltoffenen Mann wie Xenophon ein überaus reizvoller Gedanke sein. Daneben ist freilich noch ein zweites Motiv in Betracht zu ziehen; Xenophon hatte in den letzten Jahren des peloponnesischen Krieges offenbar in der athenischen Reiterei gedient, auch unter den Dreißig, deren Sympathisanten nach der Wiederherstellung der Demokratie 403 in Athen keinen leichten Stand hatten. Vielleicht wollte er also ohnehin gerne für eine Zeitlang aus Athen verschwinden und erhielt nun durch den Brief des ­Proxenos dazu eine gute Gelegenheit.“37

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Xenophon schloss sich also dem Feldzug des persischen Prinzen Kyros gegen seinen Bruder, den persischen Großkönig, an. Das Unternehmen scheiterte im September 401 mit dem Tod des Kyros in der Schlacht bei ­Kunaxa etwa 90 km nordöstlich von Babylon. Die zehntausend griechischen Söldner aber blieben ungeschlagen und waren nicht bereit, sich dem Perser­ könig zu unterwerfen. Nach der Ermordung der griechischen Feldherren durch den persischen ­Satrapen Tissaphernes wird Xenophon überraschend zum Strategen gewählt, um den toten Proxenos zu ersetzen.38 Er führt das Heer zur Küste des Schwarzen Meeres und unterstellt es im Frühjahr 399 in Pergamon dem spartanischen Feldherrn Thibron. In der Mitte der neunziger Jahre schließt er sich dann dem spartanischen König Agesilaos an, der in Kleinasien mehrere kriegerische Aktionen gegen Tissaphernes durchführt. In der Begleitung des Königs kehrt er 394 nach Griechenland zurück und nimmt auf Seiten der Spartaner an der Schlacht bei ­Koroneia in Böotien teil,39 in der die Spartaner unter Agesilaos das Heer der Boioter, Athener, Korinthier und anderer glänzend besiegen. Vermutlich führte die Teilnahme an dieser Schlacht auf Seiten der Spartaner dazu, dass Xenophon auf Antrag des athenischen Archonten Eubulos im Jahre 394 das Verbannungsurteil erhielt.40 Zwischen 399 und 387 heiratet er Philesia.41 Die Söhne Gryllos und Diodoros werden geboren. Anfang der achtziger Jahre überlassen ihm die Spartaner ein Stück Land und ein Haus in ­Skillus im Nordwesten der Peloponnes,42 um ihn für seine Verdienste um Sparta zu belohnen. Nach der Niederlage der Spartaner in der Schlacht bei Leuktra 371 muss Xenophon mit seiner Familie Skillus verlassen. Sein letzter Wohnsitz war wahrscheinlich Korinth.43 Im Zuge der Annäherung Athens an Sparta kam es im Jahre 368/367 auch zur Aufhebung des Verbannungsurteils – auf Antrag desselben Archonten, der das Urteil ursprünglich beantragt hatte.44 Xenophon erhielt sein Vermögen in Attika zurück. Seine Söhne Gryllos und Diodor, die in Sparta ihre Ausbildung erhalten hatten, dienten in der athenischen Reiterei. Gryllos fiel in einem Reitergefecht unmittelbar vor der Schlacht bei Mantineia 362, in der der legendäre Thebaner Epameinondas die Armee der verbündeten Athener und Spartaner besiegte. Es ist anzunehmen, dass Xenophon einige Zeit nach 355 im Alter von etwa 70 Jahren starb.45

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Mutmassungen über Thukydides Schon in der Antike kursierten unterschiedliche Berichte über den Tod des Thukydides. Man führte das abrupte Ende seines Geschichtswerkes über den Peloponnesischen Krieg allzu bereitwillig auf eine Gewalttat zurück. „Dass Thukydides eines ‚gewaltsamen Todes‘ starb, wie es der hoch­ gelehrte Didymos behauptet, war jedenfalls die übereinstimmende Über­ zeugung der antiken Tradition. Nach Didymos wurde Thukydides in Athen zur Zeit der Dreißig erschlagen, nach Plutarch wurde er auf seinen Besitzungen von Skapte Hyle nahe bei den Goldminen am Pangaios ermordet. Sein Grab entdeckte ein Archäologe, Polemon von Ilios, zwei Jahrhunderte später in Athen unter den Gräbern der Sippe des Kimon. Und damals begann man sich über die Art, den Ort und die Umstände des Todes des Thukydides ­Gedanken zu machen.“46 Verdächtig war auch, dass Xenophon, der das Werk des Thukydides fast an derselben Stelle fortsetzte, wo dieser aufgehört hatte zu schreiben, jahrzehntelang aus Athen verbannt gewesen war, ohne jemals selbst ein klärendes Wort darüber gesagt zu haben. „Nicht mehr als spekulieren kann man über die Todesumstände des Thukydides. Die antiken Quellen liefern zu diesem Thema so viele unterschiedliche Versionen, dass der Verdacht auf der Hand liegt, dass auch die Antike keine gesicherten Informationen mehr hatte. Markellinos, der die Angelegenheit am ausführlichsten diskutiert (31–33), führt Zeugen an, die von einem Tod in Thrakien wissen wollen. Gleichzeitig kennt er Überlieferungen, wonach Thukydides in Italien gestorben sein soll. Andere Traditionen lassen ihn bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen sein. Pausanias (1, 23, 8) behauptet, Thukydides sei nach der Rückkehr aus der Verbannung in Athen ermordet worden. Die (angeblichen) Mörder nennt er ebenso wenig wie Plutarch, der die Version von einem gewaltsamen Tod auch kennt, sie aber in modifizierter Form wiedergibt (Kimon 4): Thukydides sei in Thrakien, in der Stadt Skapte Hyle, gestorben, und zwar durch Mord, seine Gebeine aber wurden nach Attika gebracht, und sein Grabdenkmal wird unter den Kimon-Gräbern gezeigt, neben dem der ­Epinike, der Schwester Kimons. … Wie man darauf gekommen ist, dass Thukydides ermordet worden sei, ist nicht mehr rekonstruierbar und im Übrigen auch nicht auszuschließen. Immerhin war die politische Situation im Athen der Nachkriegszeit labil genug, um für einen kritischen Geist wie Thukydides ­gefährlich werden zu können.“47 Aber wer hätte ein Interesse daran gehabt, den Geschichtsschreiber umzubringen? Die Dreißig, die es auf sein Vermögen abgesehen hatten oder sich von ihm bloßgestellt sahen? Athenische Patrioten, die ihn als einen Sympathisanten

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der Spartaner ansahen? Denn er selbst weist im zweiten Proömium seines ­Geschichtswerkes darauf hin (5, 26), dass er zwanzig Jahre lang in der Verbannung leben musste, zu der er nach dem Scheitern einer Militäraktion bei ­Amphipolis verurteilt wurde.48 Natürlich hatte er zu dieser Zeit auch Kontakte zu den Peloponnesiern, die ihm Informationen für die Arbeit an seinem ­Geschichtswerk liefern konnten. Ein weiteres Motiv für seine gewaltsame Beseitigung könnte sich aus der negativen Darstellung des radikalen Demokraten Kleon ergeben haben.49 Thukydides hatte ihn immerhin als den „gewalttätigsten Mann“ in Athen bezeichnet. Auch dass der Historiker sehr selbstbewusst und mit einer gewissen Arroganz von seiner wissenschaftlichen Leistung sprach, könnte Neider und Missgünstige zu einer Gewalttat provoziert haben. So begründet er beispielsweise einmal eine seiner Analysen mit den Worten: „… weil ich es weiß und über genauere Kenntnis der Vorgänge verfüge als andere.“50 Sehr ernst zu nehmen ist zudem die Möglichkeit, dass er mit seinen sehr gründlichen Recherchen51 Vorgänge hätte zutage bringen können, die die Betroffenen mehr oder weniger schwer belasteten. Diese wollten mit allen Mitteln verhindern, dass er sein Geschichtswerk vollendete.52

Xenophon erinnert sich: Im Dienst der Dreissig Wegen meines martialischen Auftritts in der denkwürdigen Ratsversammlung, als es um das Leben des Theramenes ging, wurden mir später schwere Vorwürfe gemacht. Ja – ich gehörte zu jenen jungen Männern, die die Ratsversammlung auf Befehl des Kritias durch ihre Anwesenheit einschüchtern sollten. Das gebe ich zu. Aber dass ich jemals sonst in die Machenschaften der Dreißig verwickelt war, muss ich entschieden zurückweisen. Ich habe an keiner der vielen Verhaftungsaktionen teilgenommen, und mit dem Tod des Thukydides hatte ich selbstverständlich auch nichts zu tun. Das ist eine absurde Behauptung.53 Im Gegenteil. Ich habe alles unternommen, um ihn vor den Dreißig in Sicherheit zu bringen. Dass ich als Kavallerist an den Kämpfen gegen Thrasybulos teilnahm, verschweige ich nicht. Ich habe darüber als Augenzeuge in meinen Hellenika54 ausführlich berichtet und dabei auch erkennen lassen, dass ich Thrasybulos hoch achtete, obwohl ich auf der Gegenseite stand. Als die Dreißig nach der katastrophalen Niederlage die Macht in Athen übernahmen, hatte ich großes Glück, wie ich damals glaubte. Denn die Reiterabteilung, in der ich schon im Krieg als ganz junger Mann gedient hatte, wurde unmittelbar nach der Kapitulation den Dreißig unterstellt. So hatten es die

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Spartaner verfügt. Denn sie versuchten, die öffentliche Ordnung mit allen Mitteln wiederherzustellen. Wir waren froh, dass uns die Spartaner nicht einfach entließen. So durften wir unseren gewohnten Dienst – jetzt aber gefahrlos – fortsetzen. Es war mir gleichgültig – das räume ich ein –, von wem ich meine Befehle und meinen Lebensunterhalt bekam. Wir hatten die Kaserne bezogen, in der bis zum Ende des Krieges die Hippotoxoten, die berittenen Bogenschützen, untergebracht waren, wenn sie sich nicht im Einsatz befanden. Die erste Generation dieser Hippotoxoten – wir nannten sie die „Großväter“ – hatte man gleich nach dem Ende der Perserkriege in Skythien „eingekauft“. Im Laufe der Zeit wurden übrigens auch Theten – das sind besitzlose, aber freie attische Bürger – in die Truppe aufgenommen. Diesen Leuten stellte die Stadt Waffen und Pferde zur Verfügung. Sie hatten die Auf­ gabe, in Athen und Attika für Ruhe und Ordnung zu sorgen – vor allem in den Volksversammlungen, den Theateraufführungen und den Gerichtsverhandlungen. Sie trugen eine hohe, spitz nach oben zulaufende Mütze, einen Bogen, eine links an einem Gürtel befestigte Pfeiltasche aus Tierfell, einen kurzen ­Säbel, manchmal auch noch eine Axt und bis zu den Knöcheln reichende lange Hosen. Manche nannten sie deshalb nach diesem in Athen besonders auffallenden, aber sehr praktischen Kleidungsstück die „Hosen“. Eigentlich waren es gar keine Soldaten, sondern Polizisten. Im Krieg wurden sie allerdings wie Soldaten eingesetzt. Weil ihnen die richtige Kampfausbildung fehlte, waren sie den spartanischen Hopliten hoffnungslos unterlegen und erlitten schwere Verluste. Nach dem Friedensschluss wurden die Reste der „Hosen“ – es waren noch etwa vierhundert von ursprünglich eintausend Mann übrig – in unsere Reitertruppe eingegliedert. Ich war damals sehr froh, dass ich in Athen bleiben durfte, obwohl ich ein ruhiges Leben auf unserem Landgut in der Nähe der Stadt hätte haben können. Aber wer wollte damals nicht nach Athen? Wenn wir uns auch von unseren neuen Kameraden, den „Hosen“, die man offiziell „Anaxyriden“ nannte, deutlich unterschieden – nicht nur äußerlich, sondern auch aufgrund unserer Herkunft und Ausbildung als berittene Epheben –, verstanden wir uns mit diesen Leuten sehr gut. Es gab keine nennenswerten Schwierigkeiten. Im Gegenteil – bei unseren täglichen Paraden und ­Exerzierübungen waren die Anaxyriden immer eine besondere Attraktion. Sie glänzten mit waghalsigen akrobatischen Übungen und hatten stets zahlreiche begeisterte Zuschauer. Und es war schon bewundernswert, wie gut sie ihre Pferde beherrschten. Unsere zehn Schwadronen – jede attische Phyle stellte eine Schwadron – zeigten in größtmöglicher Ordnung und Disziplin ihr Können. Anders als die Hopliten hatten wir keine glänzenden Beinschienen aus Bronze, sondern hohe

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Lederstiefel, um die Flanken unserer Pferde nicht zu verletzen. Einen Hoplitenpanzer und einen Schild trugen wir nur während der Paraden. Der Säbel und zwei Speere gehörten zu unserer ständigen Ausrüstung. Ich will nicht bestreiten, dass wir uns dem Fußvolk der Hopliten überlegen fühlten. Das waren wir natürlich nicht. Doch wenn man vom Pferd herab auf die Soldaten zu Fuß blickt, lassen sich derartige Gefühle erklären. Aber hatte unser großer Komödiendichter Aristophanes wirklich Recht, als er uns in seinen „Rittern“, mit denen er ausgerechnet im Jahr meiner Geburt55 am Lenäenfest56 den ersten Preis gewann, als arrogante Aristokraten bezeichnete? Vielleicht ließ er sich auch von der kunstvollen Darstellung der Reiterepheben des Pheidias, unseres großen Bildhauers, beeinflussen? Die Vorwürfe, die mir wegen meiner Anwesenheit in der verhängnisvollen Ratsversammlung gemacht wurden, hatten mir zum ersten Mal bewusst gemacht, dass ich mich zum Handlanger eines verbrecherischen Regimes gemacht hatte. Sehr bald bekam ich aber Gelegenheit zu beweisen, dass ich kein willenloses Werkzeug der Dreißig war. Denn eines Abends wurde ich in dem Gebäude, in das sich die Dreißig zur Beratung zurückgezogen hatten, Zeuge eines Gesprächs. Was ich hörte, beunruhigte mich sehr: „Wir müssen ihn zum Schweigen bringen. Er weiß zu viel“, rief eine erregte Stimme hinter der fest verschlossenen Tür. Aber ich verstand die Worte genau. Es schien mir, dass ich sie hören sollte. „Warum haben wir ihn denn überhaupt nach Athen zurückgeholt?“, fragte einer der Dreißig, die sich seit Monaten regelmäßig und stets an einem anderen Ort zu ihren Sitzungen zusammenfanden. Niemand sollte erfahren, was sie besprachen – nicht einmal „unsere spartanischen Freunde“ auf der Akropolis, die in Athen nach dem verlorenen Krieg für Ordnung sorgten und zu diesem Zweck die Dreißig mit allen Mitteln unterstützten. Die Regierung in Sparta hatte dem hochverdienten Admiral Lysander57 im besetzten Athen die oberste Befehlsgewalt übertragen, um ihn für seine erfolgreichen Kapitulationsverhandlungen zu belohnen. Der Kriegsheld hatte im Winter des vierundzwanzigsten Kriegsjahres bei Notion nahe Ephesos zweiundzwanzig athenische Schiffe versenkt. Dafür bewunderte ich ihn insgeheim – mehr noch als für die Vernichtung der athenischen Flotte am Strand von Aigospotamoi.58 „Er hat doch zwanzig Jahre lang von seinem thrakischen Gold gut gelebt“, hörte ich nach einer Weile eine andere Stimme sagen. „Ja, in Skapte Hyle ist es ihm gewiss nicht schlecht gegangen.“ Einige lachten. „Wir werden ihn morgen nach Sonnenaufgang holen lassen“, erklärte Kritias mit fester Stimme, die keinen Widerspruch zuließ. „Lysimachos hat bereits entsprechende Befehle. Er wird einige seiner zuverlässigsten Leute zum Haus

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des Thukydides schicken. Sie werden ihn auffordern mitzukommen, aber ohne Gewalt anzuwenden. Dann wird die Sache in aller Stille erledigt.“ Jetzt wusste ich auf einmal, warum wir uns vor dem Sitzungssaal einfinden mussten. Im selben Augenblick ging die Tür auf. Kritias kam als Erster heraus. Hinter ihm drängten sich die Übrigen. Sie sprachen aufgeregt gestikulierend miteinander. Ich verstand aber kein Wort mehr. Ich hatte Kritias bisher erst ein- oder zweimal von weitem gesehen und wusste auch nicht besonders viel über ihn – abgesehen von seiner Rede gegen Theramenes in der Ratsversammlung. Man flüsterte seit Wochen hinter vorgehaltener Hand, er sei zwar wie damals Alkibiades eng mit Sokrates befreundet, aber von allen Oligarchen der habsüchtigste, gewalttätigste und mordlustigste – das Gegenstück zu Alkibiades, dem zügellosesten, übermütigsten und unberechenbarsten aller Politiker,59 dem es völlig gleichgültig war, wer ihn bezahlte, und der darum auch mehrfach die Fronten wechselte.

Alkibiades Der um 450 geborene Alkibiades war mit Perikles verwandt. Sokrates hatte ihm in der Schlacht bei Poteidaia (432 v. Chr.) das Leben gerettet. Acht Jahre später soll er Sokrates bei Delion vor dem sicheren Tod bewahrt haben. Er war an allen Aktionen des Peloponnesischen Krieges in einer führenden Rolle beteiligt. Unter anderem leitete er die sogenannte Sizilische Expedition, die für die Athener so katastrophal endete. Er wechselte mehrmals die Fronten, ging zuletzt nach Persien zu dem persischen Satrapen Pharnabazos und wurde dort 404/403 auf Betreiben des Spartaners Lysander und der Dreißig Tyrannen ermordet.60 „Aber das Wesentliche und im Hinblick auf ein etwaiges Streben nach ­Tyrannis Gefährliche seines Wirkens … lag darin, dass in diesem mit ungewöhnlichen Fähigkeiten und bestrickender Anmut begabten Manne eine Persönlichkeit auf den Plan trat, die im Geiste der Lehren radikaler Sophisten kein Bedenken trug, sich selbstherrlich über Brauch und Sitte hinwegzusetzen … Solange er mit dem Zauber seiner Persönlichkeit auf Richter und Volk ein­ wirken konnte, war er in der Tat unwiderstehlich … der Mann, der letztlich nur sich selbst Gesetz war.“61 Thukydides sah in dem maßlosen Ehrgeiz die eigentliche Antriebskraft des Alkibiades (5, 43, 2). Hinzu kamen eine übersteigerte Ichbezogenheit und Selbstliebe (6, 12, 2). Sein Lebenswandel war aufwändig und maßlos (6, 15).62 Faszinierend waren seine geistige Überlegenheit und seine militärischen Fähigkeiten (6, 15, 4). In seiner Rede, in der er sich für die Sizilische Expedition im

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Jahr 415 stark machte, bekannte er sich eindeutig zu einer aristokratisch-antidemokratischen Gesinnung: „Es ist auf keinen Fall ungerecht, dass für jemanden, der großartige Gedanken hat, das Prinzip der Gleichheit aufgehoben ist. Denn auch für denjenigen, der ganz unten ist, gilt dieses Prinzip nicht. Denn wie man unbeachtet bleibt, wenn es einem schlecht geht, so muss man es auch aushalten, von denen nicht beachtet zu werden, denen es gut geht“ (6, 16, 4).63 Für Alkibiades war die natürliche Ungleichheit also eine unumstößliche Tatsache. Politisch war sie das wichtigste Argument der aristokratisch-oligarchischen Partei gegen das demokratische Streben nach „Gleichheit“. Aber es bleibt zweifelhaft, ob sich Alkibiades überhaupt jemals einer bestimmten Partei wirklich verbunden fühlte. Nach allem, was über ihn bekannt ist, hatte er wohl ausschließlich seine eigenen Interessen im Auge, die er rücksichtslos durchzusetzen versuchte.64

Sokrates Sokrates (469 bis 399 v. Chr.) wurde von einem athenischen Gericht nach dem Abgang der Dreißig unter der Herrschaft der Demokraten zum Tod durch den Schierlingsbecher verurteilt. Die offizielle Begründung für das Todesurteil stützte sich auf den Vorwurf, Sokrates habe die Götter des Staatskultes abgelehnt, fremde Götter eingeführt und die Jugend auf Abwege gebracht.65 Was mit diesen Vorwürfen gemeint war, konnten schon Sokrates’ Zeitgenossen nicht recht nachvollziehen. Xenophon war die Anklage gegen Sokrates un­ begreiflich.66 Denn seine Freunde heben seine Gesetzestreue, seine moralische Standhaftigkeit und Glaubwürdigkeit immer wieder hervor. Platon67 lässt ihn erklären: „Ich hatte nie ein anderes Amt im Staat inne, sondern war nur einmal Ratsherr…, als ihr die zehn Heerführer, die die Schiffbrüchigen nach der Seeschlacht bei den Arginusen [einer kleinen Inselgruppe zwischen Lesbos und der kleinasiatischen Küste] nicht geborgen haben, in einem Kollektivverfahren gesetzwidrig verurteilen wolltet, wie ihr es auch später einsaht. Damals habe ich euch als Einziger unter allen Ratsherren widersprochen und euch beschworen, nichts gegen die Gesetze zu tun. Deshalb habe ich gegen das Verfahren gestimmt. Und obwohl eure Wortführer die Absicht hatten, mich offiziell anzuzeigen und unverzüglich verhaften zu lassen, und ihr es auch lautstark verlangtet, glaubte ich auf der Seite von Recht und Gesetz dieses Risiko eingehen zu müssen, statt euch aus Furcht vor dem Gefängnis oder dem Tod gehorchen zu dürfen. Denn ihr wolltet eine ungerechte Maßnahme durchsetzen. Das geschah, als die Stadt noch demokratisch regiert wurde [406 v. Chr.].“

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Auch Xenophon weist in seinen Hellenika darauf hin,68 Sokrates habe sich als Einziger geweigert, etwas Gesetzwidriges zu begehen, und Platon lässt Sokrates sagen69: „Als dann die Oligarchie kam, ließen mich die Dreißig mit vier anderen in ihren Versammlungsraum holen. Sie gaben uns den Auftrag, Leon, den Salaminier, aus Salamis zu holen, um ihn hinzurichten, wie sie es auch vielen anderen vielfach befahlen, weil sie eine möglichst große Anzahl von Menschen in ihre Untaten verwickeln wollten. Da zeigte ich ­a llerdings wiederum nicht nur durch Worte, sondern auch durch die Tat, dass mir der eigene Tod gleichgültig war, wenn euch diese Aussage nicht ­a llzu grob klingt, und dass es mir wichtiger war, nichts Unrechtes oder Gottloses zu tun. Denn die Macht der Dreißig konnte mich nicht dazu bringen, mag sie auch noch so gewalttätig gewesen sein, etwas Unrechtes zu tun. Aber als wir den Tagungsraum verlassen hatten, gingen die vier anderen nach Salamis und holten Leon, ich aber ging einfach nach Hause. Und wahrscheinlich wäre ich deswegen hingerichtet worden, wenn die Oligarchie nicht kurz darauf beseitigt worden wäre.“ Sokrates scheint aber nach wie vor mit dem verhassten Regime in Verbindung gebracht worden zu sein – eben auch aufgrund seiner Beziehungen zu Kritias. Und auch Platon, sein berühmtester Schüler, war alles andere als ein Freund der athenischen Demokratie. Man vergaß auch nicht, dass der junge Xenophon, dessen Nähe zu Sokrates kein Geheimnis war, dem Terrorregime gedient hatte und fern von Athen äußerst aktiv spartanische Interessen vertrat. Auch die Tatsache, dass Sokrates unter den Dreißig kein „Widerstandskämpfer“ war und nicht wie andere emigrierte, sondern unbehelligt in Athen blieb, musste den Philosophen kompromittieren.70 Man sollte auch den Vorwurf der fehlenden Religiosität des Sokrates nicht unterschätzen. Der Philosoph hat das Image eines „gottlosen“ Sophisten nie verloren. Man darf vielleicht auch nicht übersehen, dass in dramatischen Zeiten der Unsicherheit nach der Katastrophe eines Krieges die – vermeintliche – Verletzung religiöser Gefühle tödliche Folgen haben konnte. Zu fragen wäre aber auch, ob die von Thrasybulos forcierte „Amnestie“, in deren Genuss die Anhänger der Dreißig nach der Wiederherstellung der Demokratie kamen, wirklich allgemein akzeptiert wurde. Es wäre durchaus denkbar,71 dass unbefriedigte Rachegefühle für oligarchische Untaten die Verhandlungen gegen Sokrates beeinflussten. Sokrates wurde – so lässt sich schließen – vielleicht sogar stellvertretend für nicht bestrafte oligarchische „Täter“ verurteilt. Hätte ein fairer Prozess gegen die „Täter“ des oligarchischen Regimes stattgefunden, wäre Sokrates möglicherweise nicht vor Gericht gestellt worden.

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Der Komödiendichter Sollte Kritias wirklich anderthalbtausend einflussreiche Demokraten ermordet haben,72 dann konnte man seinem Lehrer Sokrates vorwerfen, er habe die geistige Vorarbeit für dessen Verbrechen geleistet. Trotz fehlender Beweise für Sokrates’ Mittäterschaft an den Mordaktionen der Dreißig genügte diese ­ ­Unterstellung zu einer Anklage vor Gericht. Es kam noch hinzu, dass Sokrates von den politisch einflussreichsten Komödiendichtern – besonders von Aristophanes in den „Wolken“ – bei jeder nur denkbaren Gelegenheit als „Sophist“ diskriminiert und lächerlich gemacht wurde.73 Die Komödie, in der Sokrates die Hauptrolle spielt, hat ihren Titel vom Chor der Wolken, den Göttern der neuen Zeit, d. h. den Gedanken, Ideen, Begriffen und raffinierten Tricks der dialektischen Philosophie und der sophistischen Rhetorik: Der einfache Bauer Strepsiades steht vor dem finanziellen Ruin. Er kann seiner anspruchsvollen Frau und seinem verwöhnten Sohn das Leben, das sie zu führen wünschen, nicht mehr bieten. Aber er sieht einen Ausweg: Der junge Pheidippides soll bei Sokrates und Chairephon die Kunst lernen, vor Gericht „die schwächere Sache zur stärkeren zu machen“. Der Junge weigert sich. Daraufhin entschließt sich Strepsiades, selbst bei Sokrates in die Lehre zu gehen. Er wird als Schüler angenommen, ist allerdings kaum in der Lage, die Grundlagen der höheren Bildung zu begreifen. Deshalb muss an ­seiner Stelle nun doch der Sohn in die Schule gehen. In einem Redewettkampf bieten ihm „die gerechte Sache“ und „die ungerechte Sache“ an, sein Lehrer zu sein. Pheidippides gibt der „ungerechten Sache“ den Vorzug und lernt jetzt, wie er seinen Vater von den aufdringlichsten Gläubigern befreien kann. Doch dann kommt es zu einem Streit zwischen Vater und Sohn: Pheidippides verprügelt den eigenen Vater. Der muss sich von seinem Sohn sagen lassen, dass diese Behandlung vollkommen gerecht ist, die auch der Sohn einst von seinem Vater erfuhr. Dieses „Bildungsziel“ kann der Vater nicht mehr akzeptieren; er steckt die „Denkerbude“ kurzerhand in Brand. Die Komödie entstand aus dem Kampf des Dichters gegen die angeblich „verderblichen neumodischen Erziehungsideale, die durch das Wirken der sophistischen Aufklärung … in Athen immer größere Resonanz fanden“.74 Platon behauptet in seiner „Apologie“, das Sokrates-Bild des Aristophanes habe zu den Auslösern des Prozesses gegen den Philosophen gehört. Dennoch spricht nichts dafür, dass Aristophanes im Jahre 423 v.  Chr. die Absicht hatte, Sokrates in Schwierigkeiten zu bringen.

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Thukydides in Gefahr? Diese und ähnliche Gedanken gingen mir damals noch nicht durch den Kopf, als ich Kritias gegenüberstand. Ich ahnte nur, dass das Gerede über ihn und Alkibiades fatale Auswirkungen auf das Schicksal des verehrten Lehrers haben könnte. Als er sich mir zuwandte, hatte ich keine finsteren Gedanken dieser Art. „Ah, wen sehe ich denn da? Bist du nicht Xenophon, der Sohn des edlen Gryllos aus dem Demos Ercheia?“, rief Kritias mit gespielter Herzlichkeit. Ich wunderte mich, dass er mich mit meinem Namen ansprach – und dann auch noch so freundlich! Aber seine Überraschung war nur vorgetäuscht. Er wusste ganz genau, dass ich mit meinen Freunden Leontychos und Krinippos auf Befehl unseres Hipparchen Lysimachos hier warten sollte. Es war uns natürlich nicht klar, warum. Wir hatten zunächst nur den Auftrag, den Sitzungsraum vor unerwünschten Besuchern zu schützen und uns für weitere Aufgaben bereitzuhalten. Aber es war bisher nichts Besonderes vorgefallen. Wir hätten also in unser Quartier zurückgehen können. Doch dann hörte ich doch von der angeblichen Gefährlichkeit des Thukydides und von seiner geplanten Verhaftung! Was hatte das zu bedeuten? Sollten wir ausgerechnet dafür noch gebraucht werden? Aber das war – zunächst wenigstens – nicht der Fall. Wenn wir ihn wirklich am nächsten Morgen in aller Frühe hätten festnehmen sollen, dann würde man uns den Befehl dazu erst kurz vorher geben – „um die Geheimhaltung zu gewährleisten“, wie es hieß. Doch warum hatte uns Kritias schon heute Abend wissen lassen, was morgen geschehen sollte? Hatte er so laut über die heikle Angelegenheit gesprochen, damit wir seine Worte hörten? Was wollte Kritias? Sollten wir Thukydides etwa warnen, bevor es zu seiner Verhaftung kommen konnte? Oder sollten wir ihm nur zu verstehen geben, auf schnellstem Weg nach Thrakien zurückzukehren? Aber das stünde doch im Widerspruch zu seiner angeblichen Gefährlichkeit. Wie könnte man einen solchen Mann einfach laufen lassen? Vielleicht – so vermutete ich – war dies auch nur die Sprachregelung für die oligarchischen Amtskollegen des Kritias. In Wirklichkeit ging es ihm darum, nicht die Gefährlichkeit des Geschichtsschreibers zu beschwören, sondern die Gefahr anzudeuten, in der dieser selbst schwebte. Dann würde Kritias mit mir und meinen Kameraden gegen die Mehrheit der Dreißig konspirieren. Ein absurder Gedanke! Später erfuhr ich, dass sich in Thukydides’ Haus mehrere Kisten und Körbe mit Papieren, Akten, Briefen und Büchern befanden. Es handelte sich um Material für sein Geschichtswerk, das er noch nicht abgeschlossen hatte, obwohl er gleich nach Ausbruch des großen Krieges mit seiner Arbeit begonnen und in den zwanzig Jahren seiner unfreiwilligen Abwesenheit von Athen weiter daran gearbeitet hatte. Unmittelbar nach Kriegsende stand er kurz davor, das Werk zu vollenden.

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Ich begriff damals nicht, warum der Schriftsteller so „gefährlich“ sein s­ ollte, wie es Kritias laut und vernehmlich ausgedrückt hatte. Ebenso wenig konnte ich mir vorstellen, dass er den Mann hätte zur Flucht bewegen sollen, wenn dieser für das Regime der Dreißig wirklich so gefährlich war. Ich hatte keine Erklärung dafür und konnte nur Vermutungen anstellen: Kritias und Thukydides waren etwa gleichaltrig – fast sechzig Jahre. Jener war als Dichter nicht ganz unbedeutend. Er war bei den Sophisten in die Schule gegangen. Seine Nähe zu Sokrates war kein Geheimnis. Er kannte ebenfalls die prominenten Sophisten, unter ihnen Protagoras aus Abdera, der auch mit Perikles befreundet war. Dass er Sokrates schätzte, ist wohl kaum zu bezweifeln. Es wäre durchaus möglich, dass die beiden weit mehr verband als ihre aristokratische Herkunft und ihr Lebensalter. Könnte dieser unerwünschte Wahrheiten über die Leute um Kritias aufdecken? Sollte es zutreffen, dass die Dreißig in den nur acht Monaten ihres Regimes mehr Athener umgebracht hatten als sämtliche Peloponnesier in den letzten zehn Kriegsjahren, dann lebte man wirklich gefährlich, wenn man sehr viel mehr darüber wusste als die Öffentlichkeit.

Die Sophisten Die Sophisten, die Weisheitslehrer, gehörten zu den Ersten, die auf die politisch-gesellschaftlichen Auflösungserscheinungen nach den verheerenden, aber am Ende siegreichen Perserkriegen (490–479 v. Chr.) produktiv reagierten und die Fragwürdigkeit der noch bestehenden Ordnung aufdeckten. Sie lösten eine Aufklärung aus, die vor allem in der Kritik der herrschenden Theologie bestand und das traditionelle Wertesystem infrage stellte. Sie vertieften das Bewusstsein dafür, dass die Chancen des Menschen, sich in einer unstabilen Welt durchzusetzen, vor allem auf der Beherrschung der Sprache beruhten. Denn mit ihrer Hilfe sei der Mensch in der Lage zu begründen, was er vorhabe, oder abzu­ lehnen, was er nicht wolle. Die Überzeugung, dass der Mensch durch den zielgerichteten Gebrauch der Sprache durchsetzungsfähig und erfolgreich sei, ließ die Rhetorik, die Wissenschaft von der Verwendung der Sprache zur Durchsetzung politischer und sonstiger Ziele, zu einem wesentlichen Faktor der Jugenderziehung werden. ­Sokrates sah allerdings auch die Gefahr des Missbrauchs und machte immer wieder darauf aufmerksam, dass die Rhetorik nicht nur von seriösem Wissen, sondern auch von Verantwortungsbewusstsein getragen sein müsse. Das gemeinsame Merkmal der Sophisten war ihr eindeutiges Bekenntnis zum Anthropozentrismus, indem sie den Menschen mit dem Homo-mensura-

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Satz zum Brennpunkt des Weltgeschehens erklärten: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge.“75 Mit den „Dingen“ des Homo-mensura-Satzes war die Vielfalt der Welt in Relation zu den Menschen gemeint, die in ihr leben. „Dadurch, dass der Mensch den Dingen der Welt gegenübertritt, sie wahrnimmt, erfasst, näherhin im Gebrauch über sie verfügt, formt er sie zu seiner, d. h. zu der auf ihn bezogenen Welt um. Er wird zum Maßstab, zur Instanz über sie. … Dieses anthropogene Weltbild begriff den Menschen … als das Lebewesen, das die ihm vorliegende reale Welt in seinem Sinne zu einer ‚Welt‘ für sich umprägt, indem es von ihr … Gebrauch macht. … Mit dem Gedanken des Gebrauchs als der Kategorie, die das Verhältnis des Menschen zu den Dingen der Welt festlegt und den Status des Menschen als der seine Welt bemessenden Instanz bestimmt, hat Protagoras eine zentrale, später von Aristoteles, Xenophon, insbesondere aber von der Stoa und dem frühen Christentum ausgeformte und bereicherte und in der Folgezeit weitergereichte Denkfigur des Anthropozentrismus eingeführt.“76

Erinnerungen an den Parthenonfries Meine Verstrickungen in die Machenschaften der Dreißig nahmen in meiner Kindheit ihren Anfang, als noch niemand ahnen konnte, dass es dieses Regime einmal geben würde. Ich erinnere mich noch lebhaft daran, wie mir mein Vater Gryllos den Parthenonfries auf der Akropolis erklärte. Ich war gerade einmal zehn Jahre alt.77 Das Ende der Zwischenkriegszeit war schon abzusehen. Wir ritten nach Athen. „Bevor der Krieg wieder ausbricht …“, meinte mein Vater. „Seit sechs Jahren und zehn Monaten ruhen die Waffen. Wir wollen die Zeit nutzen, bevor es ­w ieder losgeht.“ In Athen brachten wir die Pferde bei einem befreundeten Händler in einem geräumigen Stall unter. Mein Vater achtete darauf, dass sie in trockenem Stroh standen und genug Heu zu kauen hatten. „Die Pferde kommen immer zuerst“, pflegte er zu sagen. „Erst die Tiere, dann die Menschen!“ Das habe ich nie vergessen. Der Stallbesitzer hatte natürlich vorgesorgt. Darauf gingen wir zu einem Steinmetz mit Namen Kresilas. Er war einst einer der Künstler gewesen, die unter Phidias’ Leitung den Schmuck des Parthenon geschaffen hatten. Offensichtlich kannte mein Vater den alten Mann. Nach kurzer Begrüßung erhielten wir von ihm eine Lederschürze und eine Filzmütze gereicht. Ich wunderte mich darüber – was sollte das? – und fühlte mich nicht ganz wohl. Denn mir war nicht nur die Mütze, sondern auch die Schürze viel zu groß. Aber mein Vater sagte nur: „Das muss jetzt sein; sonst

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kommen wir nicht in den Tempel. Den Kasten mit den Meißeln und den Hämmern müssen wir auch noch mitnehmen.“ Der Steinmetz führte uns zu einer Gruppe von Männern, die einen Karren mit irgendwelchen Geräten und Werkzeugen beluden. Wir wurden freundlich begrüßt und aufgefordert, unsere Sachen auf den Karren zu legen. Langsam begriff ich, dass wir uns den Arbeitern anschließen sollten. Aber warum? „Was sollen wir hier denn eigentlich tun?“, fragte ich leise meinen Vater. „Warte nur! Das wirst du gleich sehen“, antwortete mein Vater. Ich schwieg. Der Karren setzte sich in Bewegung. Wir folgten ihm zu Fuß zusammen mit den Arbeitern. Kresilas rief uns noch zu: „Viel Glück und viel Erfolg. Kommt heil zurück. Klopft euch nicht auf die Finger! Fallt nicht vom Gerüst.“ Nach einigen Schritten sah mich mein Vater lächelnd an: „Wir sind jetzt Bildhauer und helfen den Leuten bei ihrer Arbeit.“ Nun begriff ich, dass wir diese Verkleidung brauchten, um überhaupt in das Innere des Parthenon zu gelangen. „Das letzte Erdbeben hat auch auf der Akropolis seine Spuren hinterlassen“, sagte einer der Arbeiter zu mir, als ich ihn fragend ansah. Und dann fügte er noch scherzend hinzu: „Gut, dass du helfen willst, mein Junge.“ „Gern“, erwiderte ich etwas überrascht. „Wenn ich euch wirklich helfen kann.“ „Na, wir werden sehen.“ Schließlich hielt der Karren an. Wir mussten auf unendlich vielen Treppenstufen weiter nach oben steigen. Jeder trug dabei sein Werkzeug selbst. Schließlich erreichten wir den „Jungfrauentempel“, das Haus, das Perikles der Göttin Athene einige Jahre vor dem Ausbruch des großen Krieges hatte bauen lassen. Ich war ziemlich außer Atem und sehr aufgeregt. Im Innern des Tempels verläuft unterhalb des Dachgebälks der knapp vier Fuß hohe Fries über alle vier Wände. „Er ist fast ein ganzes Stadion lang“, sagte mein Vater, während ich staunend nach oben blickte. Unterhalb des Frieses war an einer Seite ein Baugerüst aufgestellt. Es war bestimmt dreißig Fuß hoch und half den Arbeitern, die Stellen zu erreichen, die auszubessern waren. Das taten sie dann auch mit großem Eifer. Um mich und meinen Vater kümmerten sie sich nicht weiter. Es war ja auch gar nicht vorgesehen, dass wir beide mit Hammer und Meißel an dem Fries herumklopften oder Gips und Zement nach oben brachten. „Du siehst hier die Prozession, die am Eleusis-Tor auf der Heiligen Straße beginnt und nach dem Umzug durch die ganze Stadt zur Akropolis geht. Da sind die Priester, die Ehrenjungfrauen, die Krugträger oder Hydriaphoren, die Führer der Opfertiere und die Musikanten“, beschrieb mir Gryllos den Fries. Ich hörte ihm stumm und andächtig zu.

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Wir gingen dann ein Stück weiter. Mein Vater zeigte wieder nach oben: „Und hier kommen die Reiterepheben, die den Umzug begleiten – es sind übrigens insgesamt vierhundert Menschen und zweihundert Tiere zu sehen!“ Ich wollte nachzählen, gab es aber bald wieder auf. „Stell dir jetzt noch vor, wie sich alles, was du da oben siehst, wirklich bewegt und wie die Pferde stampfen, schnauben und wiehern! Ist das nicht großartig!“, rief Gryllos begeistert aus. Ich stimmte ihm wortlos zu. Fasziniert betrachtete ich den Reiter, der seine linke Hand nach oben über seinen Kopf hinausstreckt und sein Pferd fast schon übertrieben versammelt. Man sieht und spürt, wie kraftvoll und gehorsam es fast auf der Stelle galoppiert. Ein herrliches Bild! „Du siehst hier, wie wichtig es ist, sein Pferd gut auszubilden, damit es seine Kraft willig in den Dienst des Reiters stellt. Nur wenn dieses Ziel erreicht ist, dürfen Pferd und Reiter zu Ehren der Göttin am Festzug teilnehmen.“ „Das würde auch ich gern können“, warf ich ein. „Ja, dass man das Ziel nur mit viel Mühe und Arbeit erreichen kann, ahnst du wohl. Aber du wirst es ganz bestimmt schaffen, wenn du so weitermachst!“ Über diese Worte meines Vaters freute ich mich sehr. Immer hat er mir Mut gemacht, wenn es darum ging, Schwierigkeiten zu meistern, und er ließ mich nie im Stich, wenn ich seine Hilfe brauchte. Wenn er dann meine Dankbarkeit fühlte, pflegte er nur kaum hörbar zu sagen: „Dein Großvater hat es mit mir genauso gemacht.“ Allerdings war es mir niemals vergönnt, an den Panathenäen im Festzug mitzureiten. Denn als ich meinen Dienst als Ephebe angetreten hatte, ging der längst verlorene Krieg gegen Sparta zu Ende, und in den Wirren der unmittelbaren Nachkriegszeit gab es keine festlichen Umzüge mehr. Stattdessen wurden wir Epheben zur berittenen Leibwache der Dreißig befördert. Ich weiß bis heute nicht, ob mein Vater es wirklich ernst gemeint hatte, als er mir damals im Parthenon meine ehrenvolle Teilnahme an den Festzügen vor Augen stellte. Ich zweifelte aber nie daran, dass es ein schönen Ziel war, für das es sich lohnte, seine ganze Kraft einzusetzen. Als wir dann immer noch in der Kleidung der Bildhauer die Stufen des Parthenon wieder hinabstiegen, war ich jedenfalls fest entschlossen, eine der Figuren des Frieses in meiner Person lebendig werden zu lassen. Aber die ­Götter hatten es anders bestimmt, und die Zeitumstände erlaubten es nicht. Doch das ahnte ich damals noch nicht. Den Fries habe ich kein zweites Mal gesehen. Erst viele Jahre später las ich den großartigen Epitaphios des Perikles im Geschichtswerk des Thukydides.78 Dabei traten mir die Figuren wieder lebhaft vor Augen.

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Der Epitaphios des Thukydides Im Winter 431/430 v.  Chr. erhielten die ersten im Peloponnesischen Krieg ­Gefallenen ein öffentliches Begräbnis. Aus diesem Grund wurde Perikles, der Sohn des Xanthippos, gewählt, um den Epitaphios, die Grabrede, zu halten. Es falle ihm schwer, das rechte Maß im Hinblick auf die Wahrheit der Worte zu finden. Bevor er auf die Taten der Gefallenen eingehe, wolle er darlegen, worauf die Größe der athenischen Polis beruhe und aufgrund welcher Lebensweise, mit welcher politischen Verfassung und mit welchen charakterlichen Voraussetzungen und Lebenseinstellungen die Athener ihre enormen Erfolge errungen hätten. Die athenische Verfassung heiße Demokratie, weil sie nicht in den Händen weniger, sondern bei der Mehrheit liege. Aber alle Einzelnen seien vor dem ­Gesetz gleich. Die Isonomie war das wichtigste Merkmal der athenischen Demokratie. Öffentliche Anerkennung erwachse nicht aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht, sondern beruhe auf eigener Leistung. Niemand werde aufgrund fehlender Mittel oder wegen seiner einfachen Herkunft daran gehindert, etwas Positives für die Gesellschaft zu leisten. In Freiheit wirkten alle Bürger am Gemeinwohl mit und nähmen im täglichen Leben aufeinander Rücksicht. „Wir Athener vertrauen im Gegensatz zu unseren Feinden weniger auf äußere Vorkehrungen und Täuschungsmanöver als auf den uns eigentümlichen Mut zum Handeln. Während sich die Spartaner im Rahmen ihrer Erziehung von Kindheit an durch strenge Übung an Tapferkeit gewöhnen, leben wir ohne Zwang und Zügel und wagen es trotzdem, die gleichen Gefahren auf uns zu nehmen. … Doch wenn wir uns lieber mit leichtem, unbeschwertem Sinn als mit mühseliger Anstrengung und weniger mit gesetzlich vorgeschriebenem Mut als mit natürlicher Tapferkeit in Gefahr begeben, dann hat das für uns den Vorteil, dass wir uns nicht mit der Erwartung eines kommenden Unheils ­abquälen, ihm aber mit nicht geringerer Entschlossenheit entgegentreten als diejenigen, die sich ständig damit abplagen …“79 Die Epheben auf dem Parthenon-Fries bringen dies meisterhaft zum Ausdruck. Scheinbar regellos, aber sprühend vor Lebensfreude und Selbstbewusstsein preschen sie dahin, die ungestüme Kraft ihrer Pferde fest im Griff, junge Männer, die in dem gesammelten Ausdruck ihres Gesichtes, im leisen Neigen ihres Kopfes spüren lassen, dass sie gleichsam unter den Augen der Götter reiten.80 Perikles setzte seine Rede mit folgenden Worten fort (2, 40): „Wir lieben das Schöne, ohne Verschwendung zu üben, und wir wollen die geistige Auseinandersetzung, ohne unsere Tatkraft zu verlieren. Materielle Mittel setzen wir ein,

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wenn es angebracht ist, etwas zu tun, und nicht um damit zu protzen. Mittellosigkeit einzugestehen, ist für niemanden eine Schande, aber nichts dagegen zu tun, das ist wirklich schändlich. Wir können private und öffentliche Interessen vereinbaren. Auch wenn wir uns mit anderen Dingen beschäftigen, vernachlässigen wir nicht unsere öffentlichen Aufgaben. … Wir treffen entweder politische Entscheidungen selbst oder denken sachlich darüber nach. Wir glauben nicht, dass das Reden für das Handeln schädlich ist, sondern dass es viel mehr Schaden bringt, wenn man sich nicht vorher aufklären lässt, bevor man handelt. …“

Der Befehl Gedankenversunken schaute ich noch einmal in den Stall. Alles war ruhig; nur das Kauen der Pferde war zu hören. Dann legte ich mich schlafen. Lysimachos weckte uns in aller Frühe: „Ihr kommt unverzüglich zu mir!“ Dabei deutete er auf mich, Leontychos und Krinippos. „Ich habe einen neuen Befehl für euch.“ Kurze Zeit später standen wir vor ihm, und er beschrieb uns unseren Auftrag, den wir längst kannten. „Aber keine Gewalt! So will es Kritias. Ich verlasse mich auf euch.“ Wir gingen zu Fuß los. Die Sache sollte kein Aufsehen erregen. Es war noch nicht ganz hell in den Gassen von Athen. Das Haus des Thukydides war nicht leicht zu finden. Denn es unterschied sich nicht von der Mehrzahl der athenischen Wohnhäuser. Sie bestehen aus einem großen Hauptraum, dem Oikos, von dem einige kleinere Zimmer abgehen. Diese dienen nur zum Schlafen, zur Zubereitung des Essens und zur Aufbewahrung der Vorräte. Dass die Athener so wenig Wert auf eine wohnliche Gestaltung ihrer Stadthäuser legen, ist mit ihrer Lebensweise zu erklären: Sie verbringen die meiste Zeit des Tages auf der Straße. Dort verrichten sie ihre Arbeit als Handwerker; dann gehen sie auf den Markt, besuchen die Gerichtssäle, die Theater, die öffentlichen Plätze, die Gymnasien. Thukydides hatte ­a llerdings, wie ich gleich sehen konnte, den Hauptraum in ein Studierzimmer verwandelt – mit einem Sessel, zwei Klappstühlen und einem ziemlich kleinen Tisch. Die Truhe mit seinen Papieren und Büchern, die er für seine Arbeit benötigte, gehörte nicht zu den Einrichtungsgegenständen. Sie stand in einem Vorratsraum hinter oder unter der Küche. Falls er etwas brauchte, verschwand er kurz, um die gesuchten Papiere und Rollen zu holen. Hinter einem athenischen Haus befindet sich auch meist ein kleiner Garten, den man durch eine enge Tür in der rückwärtigen Mauer betreten oder verlassen kann. Dass sich unter der Küche im Haus des Thukydides noch ein kleines

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Kellergewölbe befand, wo man Lebensmittel kühl lagern konnte, wusste ich damals noch nicht. Ebenso wenig war mir bekannt, dass man das Gewölbe durch eine in den Küchenfußboden eingelassene Klappe mit Hilfe einer Leiter erreichte, die einigermaßen sicher auf dem festgestampften Kellerboden stand. Wir hatten von der Straße aus die hohe Außenmauer erreicht. Eine niedrige Pforte führte in einen kleinen und nur teilweise überdachten Vorhof. Wir verabredeten, dass ich allein hineinging, um Thukydides möglichst freundlich dazu aufzufordern mitzukommen. Was aber wäre, wenn er sich weigerte? Das wusste ich nicht, hatte aber einen abenteuerlichen Plan, von dem ich meinen beiden Begleitern jedoch nichts erzählte: Ich beabsichtigte, den Schriftsteller auf jeden Fall dazu zu überreden, so schnell wie möglich Athen zu verlassen. Das war zwar gegen den offiziellen Befehl: Aber ich wollte doch etwas wiedergutmachen. Lysimachos brauchte ich nur zu sagen, wir hätten den Mann nicht angetroffen. Er sei anscheinend schon in der Nacht fortgegangen.

Thukydides: Biographie und Geschichtswerk Der etwa 460 v. Chr. geborene Thukydides (4, 104) lebte vermutlich noch, als der Krieg zu Ende war. Die zuverlässigsten Informationen über sein Leben bietet sein Geschichtswerk, die unvollendete Monographie über den Peloponnesischen Krieg (431–404 v. Chr.) in acht Büchern. Die Darstellung bricht mit den Ereignissen im Herbst 411 ab. Offensichtlich hatte der Sohn des Oloros gründliche historiographische Vorarbeiten zu seinem Werk betrieben und vor Beginn seiner Arbeit methodologische Überlegungen angestellt, die er dann in die sogenannte „Archäologie“, das Kernstück des Proömiums (1, 2–21), ein­arbeitete und im „Methodenkapitel“ (1, 22) vertiefte. Im Proömium weist Thukydides darauf hin, dass er gleich zu Beginn des Krieges mit seinen Aufzeichnungen anfing, weil er die alles übertreffende ­Größe der Katastrophe von vornherein erkannt habe. Im sogenannten zweiten Proömium (5, 26) stellt er fest, er habe die siebenundzwanzig Jahre des Krieges bewusst miterlebt. Als Angehöriger eines bedeutenden athenischen Adelsgeschlechts war der Sohn des Oloros aktiver Politiker und Militär, musste aber nach seinem Scheitern als Stratege in Nordgriechenland seit 424 für zwanzig Jahre in die Verbannung gehen. Die Gründe für das Verbannungsurteil nennt er im Zusammenhang mit seiner Schilderung der Einnahme von Amphipolis durch den Spartaner Brasidas (4, 104 f.).81 Erst nach dem verlorenen Krieg (404) durfte er nach Athen zurückkehren, hatte aber in der Zwischenzeit von seinen Erträgen aus seinen Bergwerken in Thrakien gut leben können. Es ist jedoch nicht sicher, ob er die

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Jahre seiner Verbannung tatsächlich in Thrakien verbrachte. In seinem Werk (5, 26) erwähnt er, in der Zeit seiner Verbannung habe er mit beiden Kriegsparteien in Kontakt gestanden, was für seine Arbeit von Nutzen gewesen sei. Dass das unvollständig überlieferte achte Buch seines Werkes von einer Tochter des Thukydides oder von Xenophon verfasst worden sei, wird von Markellinos (43) zwar erwähnt, aber ausgeschlossen. Seine Begründung ist allerdings mehr als fragwürdig: „Einige behaupten, das achte Buch stamme nicht von Thukydides. Vielmehr meinen manche, es sei von seiner Tochter verfasst, manche sehen in Xenophon den Verfasser. Darauf entgegnen wir: Es ist ausgeschlossen, dass das Buch von seiner Tochter geschrieben wurde. Denn es entspricht nicht der weiblichen Natur, ein solches Können und eine solche Kunst – wie sie sich in den anderen Büchern zeigte – nachzuahmen. Wenn es aber doch der Fall gewesen sein sollte, dann hätte die Frau sich nicht darum bemüht, hinter dem Werk verborgen zu bleiben, und auch nicht nur das achte Buch geschrieben, sondern noch vieles andere hinterlassen, womit sie ihre eigene Leistung hätte zeigen können. Dass das achte Buch aber auch nicht von Xenophon stammt, ergibt sich vor allem aus dem Stil (des achten Buches), der im Wesentlichen die Mitte zwischen einem schlichten und einem hohen Stil einhält.“ Das Leben des Thukydides war unter anderem von einem Ereignis geprägt, das er selbst in seinem Werk beschreibt: von der großen Seuche (2, 47–54), die im Jahr 430 zahllose Opfer in Athen forderte. Der Historiker war an dieser Seuche erkrankt (2, 48), die man im Allgemeinen als „Pest“ bezeichnet, ohne die Krankheit wirklich genau bestimmen zu können. Die Darstellung befasst sich zunächst mit dem zehn Jahre dauernden „Archidamischen Krieg“ (431–421).82 Allerdings gibt es auch in diesem ersten Teil des Werkes Hinweise darauf, dass er erst nach 404 v. Chr. geschrieben wurde, und im sogenannten „zweiten Proömium“ (5, 26) gibt der Verfasser zu erkennen, dass er den gesamten Krieg von 431–404 zwar als einheitlichen Gegenstand seiner Darstellung betrachte, aber sein Werk in zwei Schritten verfasst habe: einem ersten, der nur den Archidamischen Krieg betrifft, und einem zweiten, der den ganzen Krieg umfasst. Der philologische Streit über die thukydideische Frage zur Ent­ stehungsgeschichte des Werkes führte bisher allerdings nur zu der Feststellung, dass der bei weitem größte Teil des Textes der ersten Bücher sowohl vor oder auch nach 421 v. Chr. oder auch bald nach 404 v. Chr. verfasst sein kann. Thukydides beschreibt das historische Geschehen nicht nur mit einer Darstellung der Vorgänge, sondern auch mit Hilfe von Reden, die er den handelnden Personen in den Mund legt. Er unterteilt das Geschehen in jahreszeitlich definierte Abschnitte und unterbricht seine Darstellung mitunter durch Exkurse. Die Reden charakterisiert er als seine eigenen Schöpfungen (1, 22, 1). Unter Berücksichtigung der Gesamttendenz wirklich gehaltener Reden entwarf er

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neue Reden, die den Intentionen der Redner besonders nahekommen und die Ursachen der Geschehensabläufe sichtbar machen. So erweisen sich die über 40 Reden als ein wesentliches Kompositionselement des Werkes. Die berühmtesten Beispiele sind der Epitaphios des Perikles auf die Gefallenen (2, 35–46) und eine weitere Rede des Perikles anlässlich der Pest (2, 47–54 und 59–64). Außerdem nutzt Thukydides die Form des Redeagons. So lässt er z. B. Alkibiades und Nikias vor Beginn der sizilischen Expedition verbal aufeinandertreffen (6, 9–23). Die Jahreszeiten-Datierung ermöglichte es ihm, alle Ereignisse in die natürliche zeitliche Abfolge eines Jahres einzufügen. Dadurch wurde in einer Zeit, in der es noch keinen einheitlichen Kalender gab, größtmögliche Genauigkeit erzielt. Hinzu kam die Zählung nach Kriegsjahren. Der berühmteste Exkurs ist die Schilderung der sog. Pentekontaëtie, d. h. des etwa fünfzig Jahre dauernden Zeitraumes zwischen dem Rückzug des Perserkönigs Xerxes aus Griechenland und dem Beginn des Peloponnesischen Krieges (1, 118, 2). Es handelt sich dabei um eine Darstellung vieler Details aus der Geschichte Griechenlands zwischen 479 und 431, die den Anschein er­ wecken, Material für eine umfassende Geschichte Griechenlands zu sein. Für das Thema des Werkes gibt es keine literarischen Vorbilder. Erkennbar ist jedoch die Auseinandersetzung mit Herodots Auffassung von Historiographie: Der Athener distanziert sich entschieden von der Unterhaltungsfunktion des herodoteischen Geschichtswerkes, benutzt alle ihm zugänglichen Informationsquellen der Zeitgeschichte und kann auch die Ergebnisse seiner Autopsie verwerten. Er legt besonderen Wert darauf, „seinen“ Krieg als den größten aller Zeiten darzustellen (1, 21, 2) und die Bedeutung etwa der Perserkriege, wie sie Herodot beschrieben hatte, herunterzuspielen. Denn durch die Veröffentlichung des herodoteischen Geschichtswerkes wird die Erinnerung an einen ruhmvollen Abwehrkampf wieder lebendig, sodass der Peloponnesische Krieg in die historische Zweitrangigkeit abzurutschen droht. Angesichts dieser allgemeinen Einschätzung bleibt Thukydides gar keine andere Möglichkeit, als im Interesse seines Gegenstands die Bedeutung der Perserkriege als geringer einzustufen. Auch die berühmte Absichtserklärung des Autors, mit seinem Werk einen „Besitz für die Ewigkeit“ zu schaffen (1, 22, 4), ist vor dem Hintergrund seiner Polemik gegen Herodot zu sehen: „Nur mit Mühe wurden die Tatsachen ermittelt, weil die Zeugen der einzelnen Vorgänge nicht dasselbe über dasselbe aussagten, sondern wie jeder Einzelne in seiner individuellen Sichtweise von seiner Sympathie oder seinem Erinnerungsvermögen bestimmt wurde. Und diese nüchterne und sachliche Darstellung der Vorgänge wird den Zuhörern vielleicht weniger anziehend erscheinen; wenn aber irgendwelche Leute die Absicht haben, alles klar zu durchschauen, was tatsächlich passiert ist und was der menschlichen Natur gemäß irgendwann einmal wieder so oder ähnlich passie-

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ren wird, dann wird es mir genügen, dass sie meine Ausführungen für nützlich halten. Sie stehen ihnen als ein Besitz für immer zur Verfügung und nicht als ein Hörvergnügen für den Augenblick.“ Der Leser soll also die Darstellung als „nützlich“ erkennen, und ihre „Nützlichkeit“ soll auch in der Zukunft wirksam sein, da „der menschlichen Natur“ gemäß mit einer Wiederholung der geschilderten Vorgänge zu rechnen ist. Er soll daher etwas für den späteren Umgang mit ähnlichen Vorkommnissen lernen (vgl. auch 2, 48, 3). Das „Menschliche“, das sich nicht verändert, ist für Thukydides die geschichtsprägende Kraft. Er definiert es83 als ein konstantes Verhaltensmuster. Das steht im Gegensatz zu Herodots „theonomer“ Geschichtsdeutung. Aus der „typisch menschlichen“ Überzeugung vom „Recht des Stärkeren“ ergibt sich auch der Kriegsgrund: die Rivalität der Großmächte um die Vormachtstellung. Offensichtlich will Thukydides am Beispiel des Peloponnesischen Krieges – wiederum im Gegensatz zu Herodot – nachweisen, dass geschichtliche Abläufe durch die Wirksamkeit des „Menschlichen“ und nicht durch „höhere Mächte“ zu erklären seien. Der Krieg ist der „gewalttätige Lehrmeister“, der die zerstörerischen Elemente des „Menschlichen“ freisetzt. Aber Thukydides will auch das Leid bewusstmachen, das der Krieg immer wieder über die Menschen bringt. Ein erschütterndes Beispiel ist der „Melier­ dialog“ (5, 84–116), der die Verhandlungen zwischen Athen und der um Neu­ tralität bemühten Insel Melos und den totalen Machtanspruch der athenischen Polis drastisch veranschaulicht.84 Offensichtlich ist die Unveränderlichkeit des menschlichen Wesens, „das Menschliche“, gerade in der Dimension der Unmenschlichkeit das eigentliche Thema des Thukydides, das er an konkreten geschichtlichen Ereignissen als ein zeitunabhängiges, dauerhaftes Merkmal allen Geschehens veranschaulicht. So zeigt sich die „Nützlichkeit“ des Geschichtswerkes in der rückhaltlosen und zynischen Entlarvung des menschlichen Charakters.

Erste Begegnung Die Pforte in der Außenmauer war nicht verriegelt. Ich ging hindurch und klopfte an die Haustür. Es dauerte eine Weile, bis eine verschlafene weibliche Stimme rief: „Wer ist denn da? Wir schlafen noch!“ „Xenophon von Athen, Ritter der Garde des Kritias, im Auftrag unseres Hipparchen Lysimachos. Ich möchte mit Thukydides, dem Sohn des Oloros, sprechen.“

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Ich vermied es zu sagen: ‚Ich habe Befehl, Thukydides zu Kritias zu ­begleiten.‘ „Thukydides schläft noch, habe ich doch schon gesagt.“ Da rief eine dunkle, aber keineswegs verschlafene Männerstimme: „Wer ist denn da, Philesia, mitten in der Nacht?“ „Ein gewisser Xenophon von Athen. Er möchte mit dir sprechen.“ „Wie bitte? Zu dieser Zeit?“ „Ja. So scheint es“, erwiderte Philesia. Ich befürchtete, dass er mich einfach wieder fortschickte. Aber dann rief er: „Was will er denn mit mir besprechen? Frag ihn bitte, Philesia.“ „Xenophon, du hast es selbst gehört. Sag es also!“, forderte sie mich etwas ungeduldig auf. „Das kann ich deinem Herrn nur unter vier Augen sagen.“ Thukydides wollte die Angelegenheit offensichtlich schnell erledigt wissen, um weiterschlafen zu können: „War ich denn so lange fort, dass ich nicht bemerkt habe, wie sehr sich die Sitten hier verändert haben? Früher hat man seine Besuche erst am späten Vormittag gemacht. Nun gut, lass den Mann herein, Philesia!“ „Aber brauchst du nicht noch etwas Zeit?“ „Nein. Bringen wir es hinter uns. Du gehst wieder ins Bett und schläfst weiter.“ In diesem Moment ging die Haustür auf. Ich sah in die blauen Augen eines jungen Mädchens. Sie schien mir mit ihren hellblonden Haaren eine Thrakerin zu sein. Thukydides hatte sie bestimmt aus Skapte Hyle mitgebracht, dachte ich.85 Unmittelbar darauf stand er hinter ihr. Er schob das Mädchen mit einer sanften Handbewegung zur Seite. Man sah ihm die Strapazen der langen Reise noch an. Er war ja auch erst seit zwei Tagen aus Thrakien zurück. Ich hatte ­einen verbitterten Greis erwartet, aber er war ein schöner Mann mit edlen ­Gesichtszügen, sein Blick offen und freundlich. Ich stellte mich noch einmal vor. Er unterbrach mich freundlich: „Ich habe schon von dir gehört, Xenophon. Du bist ein treuer Gefolgsmann der Männer, die mir meine Heimkehr nach Athen erlaubt und mir dieses Haus zur Verfügung gestellt haben. Kommen wir gleich zur Sache.“ „Thukydides, ich bitte um Entschuldigung. Ich habe den Befehl, dich un­ verzüglich zu Kritias zu begleiten!“ „Ach, der liebe Kritias! Ich habe ihn seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen und wollte ihn sowieso einmal besuchen, um ihm zu danken. Da trifft es sich gut, dass du mich begleiten willst. Doch warum zu so früher Stunde? Warum hat er es so eilig?“

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Ich sagte ihm alles, was ich gestern Abend mitbekommen hatte. Er wurde plötzlich blass. Begriff er den Ernst der Lage? Ahnte er, dass er sich in höchster Gefahr befand? Denn die Dreißig pflegten mit Leuten, die ihnen nicht passten, kurzen Prozess zu machen. Sollte ich ihm lieber gleich raten, das Nötigste ­zusammenzupacken und die Stadt auf dem schnellsten Weg zu verlassen? Er sah mir meine Verwirrung an. Dennoch fragte ich ihn leise: „Hast du Freunde in der Stadt, auf die du dich verlassen kannst?“ „Junger Mann, willst du dir vorwerfen lassen, deinen Auftrag nicht ausgeführt zu haben? Weißt du nicht, was das für dich bedeuten könnte? Für mich kann es nicht so schlimm kommen. Kritias und ich kennen uns schon so lange! Geh ganz einfach zurück und sag ihm, ich hätte sowieso vor, ihn zu besuchen. Aber warum nur diese Eile?“, murmelte er noch. „Ich laufe ihm doch nicht weg.“ „Aber die Dreißig sind unberechenbar“, erwiderte ich. „Sie können von dir verlangen, Athen wieder zu verlassen, selbstverständlich freiwillig – wie sie ­sagen –, oder dich sogar einsperren.“ „Ausgeschlossen! Wieso denn? Ich bin doch erst seit zwei Tagen hier und will jetzt nicht gleich wieder abreisen. Die Fahrt müsste außerdem gründlich vorbereitet werden. Wenn du wüsstest, wie schwierig das ist! Die vielen Kisten und Körbe mit all meinen Büchern und Papieren! Das ist völlig unmöglich! Und das Wetter ist im Augenblick auch nicht gerade günstig!“ Ein heftiges, ungeduldiges Klopfen an der Haustür war nicht zu überhören. „Was ist denn das schon wieder?“ „Wir müssen los, Xenophon!“ Leontychos und Krinippos wollten nicht ­länger warten. Ich versuchte, Zeit zu gewinnen, um einen klaren Gedanken fassen zu ­können. Was sollte ich nur tun? Zunächst beruhigte ich meine Kameraden vor der Tür: „Thukydides ist ein alter Mann. Jetzt, am frühen Morgen braucht er etwas Zeit, um richtig wach zu werden.“ „Na gut. Wie lange dauert es denn noch?“ „Ein Weilchen. Machen die Kneipen nicht schon auf? Es wird langsam hell. Da könnt ihr euch doch noch einen Augenblick die Zeit vertreiben.“ „Gut, wenn du meinst Wir sind auch schon ziemlich durchgefroren. Trotzdem: Ihr müsst euch beeilen.“ Dieses Problem war also vorerst gelöst. Aber wie konnte ich Thukydides dazu bringen, die Gefahr wirklich zu sehen, in der er meiner Meinung nach schwebte, und sein Haus zu verlassen, um sich in Sicherheit zu bringen? Das schien mir aussichtslos zu sein, weil er die Lage nicht richtig einzuschätzen vermochte. Er wollte nur in sein warmes Bett zurück. Deshalb rief er die Thrakerin und forderte sie auf, mich hinauszubegleiten. Schnell verabschiedete er sich von

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mir und ging zurück in sein Schlafzimmer. Dann aber kam er zu meiner Überraschung plötzlich wieder zurück. „Ich habe es mir anders überlegt. Ich begleite den jungen Mann zu Kritias, Philesia. Was ist denn schon dabei? Schließ die Tür wieder. Xenophon sieht Gespenster. Was sollte mir Kritias schon anhaben können?“ Philesia brach plötzlich in Tränen aus: „Geh bitte nicht dahin. Lass uns ­lieber zum Hafen laufen und nach Thrakien zurückfahren. Du hast dort viele Freunde. Sie lieben und verehren dich.“ Ihr Gefühlsausbruch beeindruckte mich tief. Sie hatte große Angst. Auch für mich erhielten die Worte‚ die ich gestern Abend hinter der geschlossenen Tür gehört hatte, allmählich einen immer bedrohlicheren Klang: ‚Wir müssen ihn zum Schweigen bringen.‘ Hieß das nicht, man wollte ihn töten? Aber wie könnte ich den Mann, der endlich dazu bereit war, sein Haus zu verlassen, dazu überreden, Kritias nicht aufzusuchen, sondern sich in Sicherheit zu bringen? Ich war auf einmal fest entschlossen, ihn auf keinen Fall zu Kritias zu führen. Denn es würde kein freudiges Wiedersehen geben, befürchtete ich. Er bekäme seinen alten Freund vielleicht nicht einmal zu sehen. Man würde ihn in irgendeinem Kerker verschwinden lassen und womöglich gar dem Henker ausliefern. Dafür würde schon Lysimachos, der Vollstrecker, wie man ihn nannte, sorgen. Auf seinen unbedingten Gehorsam konnten sich die Dreißig verlassen. Keinen Augenblick dachte ich daran, dass ich mich selbst in höchste Gefahr bringen würde, wenn ich meine Absichten in die Tat umsetzte. Aber mich beschäftigte nur der eine Gedanke: Wie konnte ich Thukydides in Sicherheit­ ­bringen? Zumal ich ihn zuvor davon abbringen musste, Kritias’ Einladung zu folgen, die ich doch eben selbst überbracht hatte. Dann kam mir ein – wie ich glaubte – rettender Einfall. Zunächst weihte ich Philesia ein, während Thukydides noch damit beschäftigt war, eine Buchrolle zu suchen, die er Kritias als Geschenk mitbringen wollte. Darauf sprach ich ihn betont ruhig an: „Thukydides. Lassen wir doch Kritias noch ein bisschen warten. Kannst du nicht einen kleinen Umweg machen? Sei wenigstens einige Stunden lang Gast im Haus meines Vaters Gryllos! Unser Gutshof liegt ganz in der Nähe der Stadt. Es ist kein weiter Weg.“ Philesia kam auf dieses Stichwort hin aus der Küche und rief aufgeregt: „Ja, bitte, lass uns Xenophons freundliche Einladung annehmen!“ Man könne von unserem Gut aus unbemerkt zum Hafen gelangen und wohl auch ein Schiff nach Thrakien finden, hatte ich zu Philesia gesagt. Ob Thukydides diesen Plan damals durchschaute, habe ich nie erfahren. Aber zumindest konnte er nicht übersehen, dass das Mädchen so schnell wie möglich mit ihm nach Thrakien zurückwollte. Er nickte schweigend. Schließlich wollte er auch Gryllos, meinen Vater, den er von früher kannte, einmal wiedersehen.

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Den Weg zu unserem Gutshof brauchte ich ihm nicht zu erklären. Als ob er nun doch etwas Schlimmes befürchtete, bat er mich nur, so bald wie möglich einen zuverlässigen Mann in sein Haus zu schicken und einige seiner Aufzeichnungen holen zu lassen. Mein Vater Gryllos hatte es sich übrigens nicht nehmen lassen, unser Land in der Ebene des Kephisos mit eigener Hand zu bearbeiten. Er war stolz darauf, wenn man ihn als „Auturgos“ bezeichnete, als einen Bauern also, der seinen Acker selbst bestellte. Er hätte sich gewiss auf die Organisation der Arbeit auf unserem Gut beschränken können. Aber er wollte immer selbst mit anpacken – wie sein alter Freund Ischomachos, der sogar Sokrates immer wieder davon zu überzeugen versuchte, dass eine kluge Landwirtschaft die Quelle aller ­Tugenden sei. Allerdings war Sokrates nie bereit, das Land jenseits der Stadtmauern zu betreten, „weil er mit den Bäumen nicht sprechen konnte“.86

Leben auf dem Land In seiner Schrift über die Verwaltung eines landwirtschaftlichen Betriebs, dem Oikonomikos, legt Xenophon ausführlich dar, dass eine erfolgreiche Landwirtschaft auf einer wohlorganisierten und von einem liebevollen Vertrauen getragenen Zusammenarbeit von Mann und Frau beruht. Er entwirft hier ein deutliches Gegenbild zu der von respektloser Grobheit geprägten Beziehung zwischen Sokrates und seiner Frau Xanthippe. Er beschreibt darin aber nicht nur die Möglichkeiten einer produktiven Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern. „Wie sich in den vornehmen Persern soldatische und agrarische Art verbindet, so sieht Xenophon in dem ganzen Dialog den erzieherischen Wert des Landmannsberufes als dem des Soldatenlebens verwandt an. … Die Verbindung kriegerischer und landwirtschaftlicher Tüchtigkeit und Pflichtauffassung ist das Bildungsideal des Xenophon.“87 Darin unterscheidet er sich nicht von Aristophanes, der den Weinbauern ­Trygaios in seiner 421 v.  Chr. uraufgeführten Komödie „Eirene“ die Idylle des Landlebens preisen lässt.88 Der Komödiendichter zeichnet mitten im Peloponnesischen Krieg die Utopie eines ersehnten Friedens: „Männer, erinnert euch an das Leben in früheren Zeiten, das uns der Friede einmal ermöglichte. Denkt an das eingemachte Obst, die Feigen, die Myrtenbeeren, den süßen Most, die Veilchen am Brunnen, die Oliven, die wir so mögen. Dafür dankt jetzt der Göttin hier.“ Xenophons freundlicher Blick auf das Landleben verliert sich aber nicht in der Unerreichbarkeit eines ewigen Friedens. Er versteht die harte Arbeit auf dem Land als die sicherste Vorbereitung auf den Krieg, den er wie Thukydides für eine existenzielle Daseinsform des Menschen hält.

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Aristophanes lässt Trygaios zu Zeus in den Himmel fliegen, wo er versuchen soll, das Ende des gerade wütenden Peloponnesischen Krieges herbeizuführen. Die Flugmaschine des Bauern ist ein riesiger Mistkäfer. Er erreicht sein Ziel. Doch die Götter haben sich bis auf Hermes zurückgezogen und die Griechen dem Polemos (dem Krieg) überlassen. Dieser hat Eirene, die Göttin des Friedens, in eine Höhle eingesperrt. Trygaios muss mit ansehen, wie der Krieg griechische Städte und die Produkte ihrer Arbeit in einem Mörser zerstampfen will. Glücklicherweise fehlt ihm jedoch noch der Stößel. Der Weinbauer nutzt die Zeit und ruft die Griechen aller Stämme herbei, die dabei helfen sollen, den Frieden aus der Höhle zu ziehen, bevor der Krieg seinen Stößel findet. Die Friedensgöttin wird befreit. Am Ende bekommt der Bauer seine Ernte, verkörpert durch Opora, ein hübsches Mädchen. Die Waffenproduzenten sind ruiniert, und die Hersteller landwirtschaftlicher Geräte haben steigende Umsätze. Als die Komödie aufgeführt wird, dauert der Peloponnesische Krieg bereits zehn Jahre. Wenige Tage nach der Aufführung beginnt der sogenannte NikiasFriede, der für fünfzig Jahre abgeschlossen wird. Er hält aber nur für kurze Zeit.

Das Gut des Gryllos Natürlich hatten wir auch schöne Ställe für Schafe, Ziegen und Schweine – und weiträumiges Weideland, das wir für unsere sehr erfolgreiche Pferdezucht benötigten. Der große Alkibiades siegte sogar einmal in Olympia − zwölf Jahre vor dem Ende des großen Krieges − mit einem Gespann aus der Zucht meines Vaters.89 Der Krieg hatte an unserem Gutshof seine Spuren hinterlassen. Unsere Weinstöcke und Olivenbäume waren teilweise vernichtet. Denn der große Perikles versuchte, aus Athen und dem Peiraieus eine Festung zu machen. Die Landbevölkerung sollte in der Stadt Schutz finden, und das Umland wollte man den Feinden preisgeben. Gryllos war trotz der feindlichen Angriffe dem Aufruf des Peri­ kles nicht gefolgt. Er erzählte immer wieder voller Stolz, er habe sich nicht wie die Acharner zwischen den Langen Mauern einsperren lassen, sondern sein Land mit seinen eigenen Händen gegen die Verwüstung durch den Feind geschützt und verteidigt. Er war so erfolgreich, dass in Athen erzählt wurde, die Spartaner hätten meinen Vater bewusst geschont – ein Anlass für vielerlei Gerüchte. Aber Gryllos hatte nur einige wirksame Schutzmaßnahmen getroffen. Er ließ unte­r­ irdische Gänge graben, natürliche Vertiefungen und Höhlen abdecken und ­tarnen, künstliche Hindernisse bauen, die die Feinde zwangen, ihre Marschrichtung zu ändern. Auf diese Weise schaffte er es, seine Felder und vor allem die Schuppen und Scheunen vor den Angreifern zu verbergen.

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Weil er es ablehnte, zwischen den Langen Mauern zu verhungern, wie er es ausdrückte, war Gryllos an zahlreichen kleineren Überraschungsangriffen gegen den Feind beteiligt, der dadurch spürbare Verluste erlitt. Die genaue Kenntnis des Geländes verschaffte unseren Leuten natürlich große Vorteile. Außerdem war es das eigene Land, das wir dem Gegner nicht kampflos überlassen wollten. Mein Vater erzählte immer voll Stolz von seinen nicht ganz ungefährlichen Einsätzen, die Perikles selbst befohlen und mit allen erdenklichen ­Mitteln unterstützt hatte.90 Es kam damals auch zu einem kurzen Reitergefecht bei Phrygioi. Hier schlug sich die athenische Abteilung, der mein Vater angehörte, mit der böotischen Reiterei. Die Athener wurden von thessalischen Reitern unterstützt. Erst als den Böotiern ihre Gepanzerten zu Hilfe kamen, mussten sich die Athener und die Thessalier zurückziehen. Ihre Verwundeten und Gefallenen konnten sie noch mitnehmen. Gryllos pflegte diese Niederlage zwar zuzugeben, erinnerte aber immer wieder daran, dass die Peloponnesier nur mit Hilfe der böotischen Hopliten gesiegt hätten. Das traf wohl auch zu. Wenn auch der Wiederanbau der Weinstöcke viel Zeit beansprucht und ein junger Ölbaum zehn Jahre braucht, bis man die ersten Früchte herunterschütteln kann, hatten wir doch sehr viel Glück im Unglück. Unser Gestüt blieb unangetastet. Jedes Mal, wenn sich gegnerische Truppen näherten, brachten wir die Pferde in einen geräumigen Felsenkeller, den wir mit einem großen Holztor verschließen konnten. Das Tor konnten wir mit einer gewaltigen beweglichen Dornenhecke völlig verdecken. Das war eine raffinierte Erfindung meines Vaters und auch in ruhigeren Zeiten ein Schutz gegen nächtliche Pferdediebe. Die üppigen Rosenbüsche wurzelten in großen Holzkästen, die sich auf Rollen hin und her ziehen ließen. Auch noch im Winter, wenn das Laub abgefallen war, waren die Büsche so dicht, dass sie ihren Zweck erfüllten. Die Rosenstöcke stammten ursprünglich aus dem Blumengarten meiner Mutter, den sie, solange sie lebte, ebenso sachkundig wie hingebungsvoll gepflegt hatte. Wir hatten immer die schönsten Blumen für alle öffentlichen und privaten Gelegenheiten. In dem Augenblick, als ich Thukydides dazu überredete, auf unserem Gutshof Zuflucht zu suchen, war mir nicht bewusst, dass ich mit dieser Einladung nicht nur ihn und mich selbst, sondern auch meinen Vater in höchste Gefahr brachte. Denn Kritias war durch seine zahlreichen Spione genauestens über jeden unserer Schritte informiert. Er wusste ganz genau, dass Thukydides nicht weit kommen würde, wenn er Athen heimlich zu verlassen versuchte. Denn es war unmöglich, in kurzer Zeit ein Schiff nach Thrakien zu bekommen, geschweige denn seine bewegliche Habe schnell und unauffällig verladen zu lassen.

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Selbstverständlich wussten Kritias und seine Leute genau, dass mein Vater unser Anwesen im Krieg zu einer Art Festung ausgebaut hatte, wo man leicht Unterschlupf fand. Er konnte auch damit rechnen, dass Gryllos ohne weiteres in der Lage war, einen Wagen nach Athen zu schicken, um die Habe des Thukydides zum Hafen zu transportieren. Natürlich war ihm klar, dass ich diese ­A ktion umsichtig planen und durchführen würde. Von Anfang an hatte er alles bedacht. Er, der Führer der Dreißig, war darauf vorbereitet, seinen ­Jugendfreund Thukydides in eine Falle gehen zu lassen. Ein perfides Spiel! Und ich spielte wieder einmal ahnungslos mit. Denn ich hatte aus meinem Bewusstsein verdrängt, dass Kritias der Kopf dieses brutalen Regimes war. Es kam mir überhaupt nicht in den Sinn, dass er mich nur benutzte, um Thukydides zu beseitigen und – was ich viel später begriff – dessen brisantes Archiv in die Hände zu bekommen. Diese Strategie glich dem Betrug, mit dem Odysseus den kranken Philoktet dazu brachte, nach Troja mitzukommen. Denn ein altes Orakel hatte verkündet, dass die Stadt nur mit den Pfeilen des Herakles zu erobern war, der seinen Bogen einst Philoktet geschenkt hatte, weil dieser den Scheiterhaufen, auf dem Herakles sterben wollte, angezündet hatte. Unser großer Sophokles hatte mit dieser alten Geschichte eine Tragödie geschaffen. Ich war gerade 16 Jahre, als mich mein Vater zur Aufführung des „Philoktet“ ins Theater nach Athen mitnahm. Damals ahnte ich noch nicht, dass ich im wirklichen Leben sechs Jahre später eine ähnliche Rolle spielen sollte wie der junge Neoptolemos, der Sohn des Achilleus, in der Tragödie des Sophokles.

Philoktet Der „Philoktet“ des Sophokles wurde 409 v. Chr. in Athen uraufgeführt. Die Griechen erfuhren erst im zehnten Jahr ihrer Belagerung, dass Troja nur mit den Pfeilen des Herakles erobert werden konnte. Aber Agamemnon und Menelaos hatten Philoktet auf der Insel Lemnos aussetzen lassen. Denn sein eiternder Fuß verbreitete einen unerträglichen Gestank. Ein Schlangenbiss hatte ihm eine nicht heilende Wunde zugefügt. Er hatte große Schmerzen, und niemand konnte die Schreie des Leidenden aushalten. Jetzt aber wird er als ­Retter gebraucht. Er lebt allein auf der Insel. Was ihm die Atriden angetan haben, kann er natürlich nicht verzeihen. Odysseus schätzt die Situation richtig ein und ersinnt eine Intrige. Er lässt sich von Neoptolemos, dem Sohn des getöteten Achilleus, begleiten. Dieser soll seine moralische Integrität zu einem Betrug verwenden, um der Sache der Griechen zu dienen. Er soll dem verbitterten

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­ lten erzählen, er sei um die Waffen seines Vaters betrogen worden und fahre A daher zurück nach Griechenland. Philoktet werde ihn daraufhin bitten, ihn mitzunehmen. Sobald er aber das Schiff bestiegen habe, solle er überwältigt und nach Troja gebracht werden. Alles geht zunächst nach Plan. Philoktet fasst Vertrauen zu Neoptolemos. Darum sieht sich dieser gezwungen, dem Alten die Wahrheit zu sagen, der daraufhin tief gekränkt ist und das Schiff nicht mehr besteigen will. Schließlich greift der inzwischen zu den Göttern erhobene Herakles ein und befiehlt ­Philoktet, nach Troja zu gehen, um den Krieg zu beenden.

Schuldgefühle Seit der Vertreibung der Dreißig nach Eleusis91 waren fünfzehn äußerst aufregende Jahre vergangen,92 und die Uraufführung des „Philoktet“ lag mehr als zwanzig Jahre zurück. Lange Zeit ließ mich die Frage nicht los, ob ich tatsächlich am Tod des Thukydides schuld war. War ich damals wirklich das ahnungslose Werkzeug des Kritias, so wie Neoptolemos das Werkzeug des listenreichen Odysseus? Habe ich mir das Vertrauen des Thukydides erschlichen, um den Ahnungslosen seinen Feinden auszuliefern? Ich weiß – jeder Vergleich hat seine Grenzen. Aber was mich von dem Sohn des Achill unterscheidet, macht die Sache nur noch schlimmer. Neoptolemos wurde für einen guten Zweck, für den endgültigen Sieg über Troja, gebraucht. Ich aber? Thukydides’ Tod und die Vernichtung seines Besitzes konnten kein guter Zweck sein! Neoptolemos durfte Philoktet für seinen ungewollten Vertrauensbruch um Verzeihung bitten. Ich aber hatte nicht die geringste Chance, einen ungeheuerlichen Betrug aufzudecken und zu sühnen. Mein einziger Trost: Ich hatte betrogen, ohne es zu wissen. Der fromme Sophokles brachte alles zu einem guten Ende. Er ließ den gött­ lichen Herakles eingreifen und eine Lösung herbeiführen. Aber wo war dieser Herakles, als es darum ging, Thukydides zu retten? Ich hoffte damals, Thukydides werde meine Einladung auf das Gut meines ­ aters annehmen, ohne seine erstaunlich rasche Zusage zu erwarten. Natürlich V wusste ich nicht, was in ihm vorging. Heute denke ich, er hatte niemals vor, seine Heimatstadt wieder zu verlassen. Auch Philesia, die unter großem Heimweh litt, hätte ihn wohl nicht dazu bewegen können, das Schiff nach Thrakien zu besteigen. Inzwischen stand die Sonne schon ziemlich hoch. Es wurde wirklich Zeit. Ich musste damit rechnen, dass Lysimachos, der Vollstrecker, nach uns schickte, um zu erfahren, warum wir seinen Befehl noch nicht ausgeführt hatten.

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Aber, beim Herakles, Lysimachos hatte uns anscheinend vergessen. Auch ­meine Kameraden Leontychos und Krinippos waren verschwunden und bestimmt wieder einmal in irgendeiner Weinschenke hängen geblieben. Wir, die Polizisten der Dreißig, waren also manchmal ein ziemlich undisziplinierter und unzuverlässiger Haufen! Ich konnte das Haus des Thukydides ganz unauffällig verlassen, um einen Wagen zu besorgen. Es dauerte nicht lange, und ich hatte Erfolg. Der Kutscher versprach mir, den Schriftsteller und die junge Thrakerin heil zu unserem ­Gutshof zu bringen. Abends wollte ich nachkommen. Zu Pferde war die Strecke in einer halben Stunde zu schaffen. Wie aber sollte ich Lysimachos erklären, warum wir ohne Thukydides zurückkamen? Ich hatte meine beiden Freunde nicht eingeweiht, konnte aber auch nicht einfach behaupten, er sei nicht zu Hause gewesen. Sie hatten ihn doch selbst gehört und gesehen, als er im Morgengrauen an die Tür kam. Ich behauptete also, der Schriftsteller sei heimlich über den kleinen ­Hinterhof entkommen. Philesia habe mich kurz abgelenkt, sodass ich nicht bemerkte, wie der Mann verschwand. Ich wollte so tun, als ob ich zerknirscht sei und mein vermeintliches Versagen bereute. Natürlich war alles erfunden – bis auf die bezaubernde Wirkung, die Philesia auf mich ausübte. Zu meiner Überraschung schien Lysimachos gar kein Interesse mehr an Thukydides zu haben. Offensichtlich war der Fall für ihn erledigt. Denn er gab keine weiteren Befehle. Ich durchschaute nicht, was dies bedeutete. Am frühen Abend ritt ich zum Gut meines Vaters. Die beiden Männer waren in ein anregendes Gespräch vertieft. Sie hatten gerade zu Abend gegessen. Charikleia, die Haushälterin meines Vaters, war damit beschäftigt, mit Philesias Hilfe die ­Reste der Mahlzeit in die Küche zurückzubringen. Es schien alles in guter Ordnung zu sein. Die Aufregungen des Tages waren vergessen. Gryllos und Thukydides freuten sich, als sie mich kommen sahen. Sie winkten mir fröhlich zu, während ich mein Pferd versorgte und in den Stall brachte. Dass mein Vater sich über meine Ankunft freute, ist eigentlich nicht erwähnenswert. Aber Thukydides? Warum war er so heiter gestimmt? Fühlte er sich in Sicherheit? Glaubte er wirklich, dass Kritias nicht wusste, wo er sich befand? Er hatte doch seine Spitzel überall. Dass ich den Abend und die Nacht zu Hause verbrachte, schien kein Misstrauen zu wecken. Ich musste nur am nächsten Morgen wieder pünktlich in Athen sein. Aber darauf konnte man sich verlassen. Ich nahm meine Pflichten immer sehr ernst.

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Befehlsverweigerung Nur ein einziges Mal gab es einen erwähnenswerten Zwischenfall93: Der demokratische General Thrasybulos hatte mehrere Aktionen zur Befreiung der Stadt von den Dreißig organisiert. Die Lage war äußerst gespannt.94 Wir Reiter verbrachten damals sogar die Nächte zusammen mit unseren Pferden draußen im Odeion.95 Selbstverständlich gab es dort zu dieser Zeit keine musikalischen Aufführungen. Aber das Zeltdach des Bauwerks, das noch Perikles hatte errichten lassen, bot uns etwas Schutz gegen Kälte und Regen. Wir hatten den Befehl, von morgens früh bis spät in die Nacht zu Fuß und zu Pferde an den Trümmern der Langen Mauern entlang zu patrouillieren. Wir rechneten mit einem Angriff der Demokraten aus dem Peiraieus. Denn sie hatten sich zunehmend stärker bewaffnet und unternahmen immer wieder kurze Streifzüge, um sich mit Lebensmitteln zu versorgen. Wir hatten die Aufgabe, entschlossen – wie es hieß – gegen die Plünderer vorzugehen. Dabei stießen wir einmal auf einige Leute aus Aixone, einem Demos an der Küste südlich von Athen. Sie versuchten, sich Nahrungsmittel zu beschaffen. Unser Hipparch gab uns den Befehl, diese Leute niederzumachen. Sie waren unbewaffnet und flehten um ihr Leben.96 Wir weigerten uns, den schändlichen Befehl auszuführen. Wir protestierten lautstark. Lysimachos schäumte vor Wut. Er war machtlos und konnte sich nicht einmal mehr auf einen höheren Befehl berufen, wie er es sonst in brenzligen Situationen tat, denn die Dreißig hatten sich längst nach Eleusis abgesetzt. Kritias und Hippomachos – aber auch noch viele andere Anhänger der Dreißig – waren schon im Kampf gegen die Männer aus dem Peiraieus umgekommen.97 Es herrschten allgemeine Verwirrung und überall tiefstes Misstrauen. Deshalb wagte Lysimachos nicht, uns als Verweigerer seines ­unrühmlichen Befehls zur Rechenschaft zu ziehen. Aber jetzt habe ich den Ereignissen erheblich vorgegriffen. Denn an jenem Abend, als Thukydides bei uns zu Gast war, befand sich Kritias noch im Besitz seiner unumschränkten Macht – wenige Wochen vor seinem Tod. Er war sich sicher, dass ihm Thukydides nicht schaden konnte, solange er sich bei meinem Vater aufhielt. Aber einige Kisten und Körbe mit seinen Papieren standen immer noch in seinem Haus in der Stadt, unbewacht und unbeaufsichtigt. Das blieb noch einige Zeit so. Es habe ihn ein Vermögen gekostet – so Thukydides im Gespräch mit meinem Vater –, an seine Informationen für sein Geschichtswerk zu kommen. „Ich lebte ja schon nach acht Kriegsjahren“,98 sagte Thukydides, „zwangsweise in Thrakien – weitab von den Zentren der Macht, wie ihr wisst.“

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Nein, ich wusste es nicht. Ich hatte nur gehört, dass Thukydides als Stratege bei Amphipolis in Thrakien Dienst getan hatte. Ich dachte, er habe sich dort niedergelassen, um die Arbeiter in seinen Goldminen besser beaufsichtigen zu können. Deshalb fragte ich: „Wieso zwangsweise?“ Mein Vater schaute mich streng an und schüttelte missbilligend den Kopf. Ich sollte nicht weiterfragen. Thukydides entging dieser Blick nicht. „Lass nur, Gryllos! Der Junge soll ruhig alles wissen.“ Dann erzählte er, dass er nach seiner Genesung von der Pest, die zu Beginn des Krieges in Athen ausgebrochen war und viele Todesopfer gefordert hatte,99 zum Strategen ernannt worden war.

Amphipolis Im Winter des achten Kriegsjahres100 erhielt der Lakedämonier Brasidas von der spartanischen Führung die Erlaubnis zu einer kriegerischen Aktion im chalkidisch-thrakischen Raum. Er wurde überall als Befreier von der athenischen ­Unterdrückung gefeiert, hatte beachtliche militärische Erfolge mit seinen Söldnern und Heloten vorzuweisen und plante einen Vorstoß auf Amphipolis am Strymnon.101 Er rückte im Schutz der Nacht und unterstützt von zahlreichen Bewohnern des Umlands gegen die unzureichend gesicherte Stadt vor. Niemand hatte wegen des schlechten Wetters mit einem Überfall gerechnet. Ohne nennenswerten Widerstand besetzte Brasidas den gesamten Raum vor der Stadt. In Amphipolis selbst kam es daraufhin zu einer Panik. Die Spartaner hätten die Stadt also ohne weiteres schnell einnehmen können. Doch die sparta­ freundlichen Kräfte in Amphipolis schafften es nicht, dem Gegner das Stadttor zu öffnen, und der athenische Stadtkommandant wollte sich nicht ergeben. Er schickte unverzüglich einen Boten zu Thukydides mit der Bitte um Hilfe. Denn dieser war mit seinen Kriegsschiffen ungefähr einen halben Tag von Amphipolis entfernt in der Nähe der Insel Thasos. Thukydides hatte sieben Schiffe und ließ sie so schnell wie möglich auslaufen. Die ganze Operation war jedoch von vornherein aussichtslos. Denn auf den sieben Trieren befanden sich außer den Ruderern und Steuerleuten nur noch insgesamt siebzig Soldaten, auf jedem Schiff also zehn. Und die Hälfte davon bestand aus thrakischen Bogenschützen, denen nicht über den Weg zu trauen war. Sie hätten sicherlich nicht gegen ihre eigenen Landsleute gekämpft. Thukydides hätte mit vielleicht dreißig zuverlässigen Männern keine Chance gegen die schlagkräftigen spartanischen Einheiten gehabt. Er erreichte Amphipolis auch gar nicht rechtzeitig, sondern konnte nur noch den Hafen Eion zu sichern versuchen.102 Die ganze Aktion war für den

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Verlauf des Krieges belanglos. Denn Brasidas hatte wegen der sieben schlecht ausgerüsteten Schiffe nichts zu befürchten. Aber er sah in Thukydides selbst den einflussreichen Goldminenbesitzer und einen der mächtigsten Männer des thrakischen Festlandes. Er befürchtete daher, dass dieser mit seinen finan­ ziellen Mitteln auf die Dauer in der Lage wäre, weitere Truppen anzuwerben, um die Stadt zu unterstützen.

Über die Verantwortung der Götter Ich glaubte, der Misserfolg des Thukydides sei der Wille der Götter gewesen, weil sie ihn vor einem ebenso gefährlichen wie sinnlosen Kampfeinsatz bewahren wollten. Der Schriftsteller lächelte freundlich über meine Bemerkung: „So einfach ist es nun doch nicht, lieber Xenophon. Dann müsste ich auch meine Verbannung für gottgewollt halten. Aber da bin ich mir nicht sicher. Man kann die Götter doch nicht für alles verantwortlich machen. Meistens sind die Menschen selbst an ihrem Unglück schuld.“ „Das sagt schon unser Dichter“, warf Gryllos ein und zitierte die Worte, die Homer den Vater der Götter und Menschen sprechen lässt103: „Ach, warum machen die Menschen uns Göttern immer nur alle möglichen Vorwürfe? Denn sie behaupten ständig, alles Übel in der Welt komme von uns. Dabei sind sie es doch selbst, die mehr durch ihre eigene Dummheit als durch das Schicksal Leid erfahren!“ Mein Vater hatte beileibe nicht die Absicht, Thukydides mit diesem Zitat zu verletzen und auf seine Schuld an der Katastrophe von Amphipolis hinzuweisen. Auch ich selbst hatte ihm nur sagen wollen, dass ich das Verbannungsurteil wegen Amphipolis für maßlos ungerecht hielt, weil doch die Götter letztlich für alles verantwortlich seien. Damals hatte ich aber nur eine dunkle Ahnung vom Eingreifen der Götter in die uns betreffenden Vorgänge. Erst im Laufe meines weiteren Lebens trat mir immer wieder vor Augen, dass die göttliche Macht im Großen wie im Kleinen die Führung nicht aus der Hand gab.104 Viele Ereignisse kann man aus gutem Grund dem Eingreifen der Götter zuschreiben.105 „Brasidas war ein hervorragender Stratege und mir weit überlegen“, sagte Thukydides. „Meine Aktion war schon deshalb von vornherein zum Scheitern verurteilt.“ Seufzend fügte er hinzu: „Knapp zwei Jahre danach besiegte er bei Amphipolis einen erheblich stärkeren Gegner106: Er schlug Kleon und seine ausgeruhten attischen Streitkräfte, erlag jedoch seiner schweren Verwundung. Zuvor konnte ihm aber noch der Sieg seiner Truppen gemeldet werden.“107 „Auch Kleon ist in dieser Schlacht gefallen“, warf Gryllos ein.

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„Nein, nicht in der Schlacht“, erwiderte Thukydides. „Der Stein eines Schleuderers aus Myrkinos traf ihn auf der Flucht am Kopf.“ „Und dann?“, fragte ich ungeduldig. Thukydides überhörte meine Frage. „Der Lakedämonier Brasidas wurde mit allen Ehren und unter großer ­Anteilnahme der Verbündeten bestattet. Er erhielt sogar ein Begräbnis mitten in der Stadt. Die Einwohner von Amphipolis bringen ihm bis heute jedes Jahr Opfer dar und veranstalten Festspiele, um ihn wie einen Heroen der Sage zu ehren. Die Amphipoliten sehen in ihm den Retter ihrer Stadt“, ergänzte mein Vater, der auf seinen Reisen nach Sparta in den Jahren des Nikiasfriedens108 von den Heldentaten des großen Brasidas immer wieder gehört hatte. „Einem solchen Gegner zu unterliegen ist doch eine große Ehre“, warf ich ein. „Zwanzig Jahre lang habe ich mich mit diesem Gedanken getröstet, mein lieber Xenophon. Doch ich hatte eben nicht nur Brasidas zum Gegner, sondern auch und vor allem die verheerende Machtpolitik meiner eigenen Landsleute, der Athener. Man kann verstehen, dass uns unsere Feinde deshalb weniger fürchteten als hassten. Amphipolis ist nur ein mehr oder weniger unbedeutendes Beispiel für die verfehlte und menschenverachtende Machtpolitik der Athener.“ Bei Amphipolis hat übrigens auch unserer Sokrates als Hoplit unter Kleon gekämpft, dachte ich, und zugleich schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass der verehrte Philosoph dann doch auch sein Leben für diese „menschenverachtende“ Politik unserer Landsleute aufs Spiel gesetzt hatte wie schon bei Delion109 und Potideia,110 als der Krieg noch gar nicht richtig angefangen hatte. Dann hörte ich Thukydides sagen: „Ich kann mir vorstellen, was dir jetzt durch den Kopf geht, Xenophon. Aber ich werfe Sokrates nicht vor, dass er als athenischer Hoplit seine Pflicht erfüllte. Im Gegenteil – er hat als tapferer Soldat sein Leben für seine Vaterstadt eingesetzt, ohne jedoch den Lauf der Geschichte beeinflussen zu können.“ Dann bekam seine Stimme einen harten Klang: „Aber wir dürfen darüber nicht vergessen, was unsere Landsleute im Sommer des sechzehnten Kriegsjahres den Meliern antaten.111 Diese haben damals unseren Leuten unmissverständlich erklärt, dass wir bedenken sollten, was die Sieger im Falle unserer Niederlage mit uns machen würden,112 wenn sie für unsere Verbrechen an ihnen Rache nehmen würden. Ich stelle in meinem Geschichtswerk dar, was damals geschehen ist, bin aber selbst noch nicht mit meiner Darstellung der Vorgänge zufrieden. Vielleicht entwerfe ich zwei Reden, in denen die gegensätzlichen Standpunkte erörtert werden. Dadurch lassen sich die Hintergründe der Ereignisse besser sichtbar machen. Sokrates wird es mir bestimmt nicht übelnehmen, wenn ich ihn nachzuahmen versuche und Athener und Melier einen Dialog führen lasse. Oder was meint ihr? Es ist noch alles offen.“ „Es wäre großartig, wenn du auf diese Weise die entgegengesetzten Standpunkte verständlich machtest“, warf ich kühn ein.

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„Na, wenn ich wieder an der Arbeit sitze, werde ich weiter darüber nachdenken, lieber Xenophon. Das verspreche ich dir“, sagte Thukydides lächelnd. Leider löste er sein damals gegebenes Versprechen, die Vorgänge auf Melos ausführlicher darzustellen, nur teilweise ein. „Darf ich dich noch etwas anderes fragen? Hätte der Krieg nach zehn Jahren nicht zu Ende sein können, als Kleon und Brasidas tot waren?“ „Richtig. Denn beide Seiten waren erschöpft. Sie wollten Frieden. Ich würde es noch etwas deutlicher sagen: Weil Brasidas und Kleon tot waren, hätte man endgültig Frieden schließen können. Denn sie kämpften am heftigsten gegen den Frieden – Brasidas, um seinen Kriegsruhm zu steigern, Kleon, um zu verhindern, dass nach einem Friedensschluss seine Schandtaten und Verbrechen aufgedeckt würden.113 Erst als – oder besser: weil – Kleon und Brasidas von der Bühne abgetreten waren, bekamen Pleistoanax, der Sohn des Pausanias, und Nikias endlich die Möglichkeit, Friedensverhandlungen zu führen und einen Vertrag zu schließen114 – nach zehn Sommern und ebenso vielen Wintern. Ich werde natürlich in meinem Buch darauf eingehen.“

Xenophons Hellenika In seinem Werk beschreibt Xenophon die Geschichte Griechenlands von 411 bis 362 v. Chr. Der erste Teil (1 – 2, 3, 10) reicht bis zum Ende des Peloponnesischen Krieges (404), der zweite Teil (2, 3, 11 – 7) reicht bis zur Schlacht bei Mantineia (362). „Die enge Verbindung von Hell. I und II mit dem thukydideischen Werk ist schon immer ein Gegenstand der Spekulation gewesen. …“115 Bei Diogenes Laërtius (2, 57) heißt es sogar, Xenophon habe das Werk des Thukydides herausgegeben und bekannt gemacht. Daran schließt sich auch die Annahme an, Xenophon habe für die ersten beiden Bücher seiner Hellenika Material des Thukydides benutzt. Auch wenn es dafür keine stichhaltigen ­Beweise gibt, sollte man diese Möglichkeit nicht ganz ausschließen. Es ist durchaus denkbar, dass Xenophon, auch wenn er erst lange Zeit nach dem Tod des Historikers mit seiner „Fortsetzung“ begonnen haben sollte, Material ­seines Vorgängers benutzt hat. Nach der Schilderung des Kriegsendes folgt in den Hellenika der Bericht über die Herrschaft der Dreißig Tyrannen und ihre Absetzung (2, 3, 11 – 2, 4). Dann berichtet Xenophon über die spartanischen Auseinandersetzungen mit Persien in den Jahren 401–386 und die gleichzeitigen Ereignisse im Mutterland (3, 1 – 5, 1). In 5, 2 – 7, 27 werden der Höhepunkt und der Fall der spartanischen Macht sowie das Erstarken Thebens bis zur Schlacht bei Mantineia im Jahre 362 geschildert.

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Bei Xenophon ist die griechische Geschichte nach dem Ende des Peloponnesischen Krieges also auf die Geschichte Spartas reduziert. Eine Ursache für dieses Ungleichgewicht dürfte darin liegen, dass sich Xenophon vor allem auf eigene Beobachtungen und Erinnerungen stützte, die er als Begleiter des spartanischen Königs Agesilaos gesammelt hatte. Außerdem scheint er abgesehen von seinen eigenen Aufzeichnungen kein weiteres Material benutzt zu haben, obwohl er seit dem Beginn der sechziger Jahre wieder Zugang zu athenischen Informationsquellen hatte. In den ersten beiden Büchern versuchte Xenophon so thukydideisch wie möglich zu sein. Er übernahm die Chronologie des Thukydides und bemühte sich auch stilistisch um eine Anpassung an den Vorgänger. Wahrscheinlich benutzte er außer privaten Aufzeichnungen und Augenzeugenberichten auch eine attische Lokalgeschichte, eine „Atthis“. Ein Leitgedanke des Werkes116 ist die Veranschaulichung des Niedergangs, den Sparta nach dem Sieg im Peloponnesischen Krieg erlebte. Der Machtverfall ist nach Xenophon auf den Zorn der Götter zurückzuführen; denn die Spar­ taner hatten den Schwur, den griechischen Städten ihre Autonomie zu lassen, gebrochen. Offensichtlich kam es Xenophon weniger auf die historiographisch umfassende Wiedergabe und Analyse der geschichtlichen Vorgänge an. Er wollte vor allem „ruhmvolle Taten“ schildern, ohne auf ihre historische Wichtigkeit in einem größeren Rahmen zu achten.117 Sein Ziel war es, die exemplarische Bedeutung menschlicher Leistungen unabhängig von ihrem historischen Gewicht herauszustellen. Daneben kam es ihm auf eine anschauliche Darstellung der Persönlichkeiten an, die mit ihren Taten aus der Masse herausragten. Dieses Interesse zeigt sich auch in anderen seiner Schriften (vor allem im Agesilaos und in der Kyrupädie).118

Angst um Thukydides Als ich eines Morgens mein Pferd sattelte, stand Philesia plötzlich neben mir. Sie sah mich sehr ernst und traurig an. Unvermittelt sagte sie mit gedämpfter Stimme, als ob es niemand anders hören durfte: „Xenophon, gestern erhielt Thukydides einen Brief. Er sagte nur: ‚Übermorgen muss ich nun doch nach Athen. Kritias hat mich erneut eingeladen – aber diesmal mit Nachdruck. Er muss etwas Wichtiges mit mir besprechen.‘ Das kann ich nicht für mich behalten, Xenophon. Ich habe Angst, dass Thukydides etwas passiert. Was soll ich nur tun?“ Ich brachte zunächst kein Wort heraus. Die kurze Freude, die ich empfand, als Philesia so plötzlich vor mir stand, war sofort verflogen. Ich war bestürzt,

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obwohl ich doch damit rechnen musste, dass die schönen Tage auf unserem Gutshof nicht ewig andauern würden. Ich sagte nur, bevor ich losritt: „Thukydides trifft seine eigenen Entscheidungen. Davon kann man ihn nicht abbringen. Er lässt sich nicht daran hindern, zu Kritias zu gehen.“ Philesia schwieg. Sie schien mir Recht zu geben. Denn sie kannte Thukydides besser als jeder andere. Warum das so war, erfuhr ich erst einige Zeit später. Eine seltsame Unruhe hatte die ganze Stadt erfasst. Wir mussten mit allem rechnen, hieß es. Lysimachos befahl uns, ab sofort die Stadt nicht mehr zu verlassen. Es sei mit Aufständen zu rechnen. Vielleicht würde es zu einem Bürgerkrieg kommen. Eine furchtbare Vorstellung! Es kursierten Gerüchte. Die Dreißig seien am Ende, hieß es. Die Leute auf der Straße verstummten, wenn sie uns kommen sahen, und blickten uns feindselig an. Ich aber hatte wie üblich keine Ahnung, um was es ging. Mir war die Gesundheit meines Pferdes wichtiger als die politische Lage. Früher wurden wir immer freudig begrüßt und sogar bejubelt. Und wir grüßten stolz zurück. Aber wenn die Dreißig wirklich am Ende waren, was hatte Kritias dann noch mit Thuky­ dides vor? Wollte er ihn vor den radikalen Demokraten vom Schlage eines Kleon schützen? Denn dieser hatte noch viele Anhänger, obwohl er schon so lange nicht mehr am Leben war.

Kleon und Diodotos Kleon, der Sohn des Kleainetos, war Lederfabrikant und Eigentümer einer Gerberei in Athen. Politisch tat er sich als radikaler Demokrat und leidenschaftlicher Gegner des Perikles hervor. Nach dessen Tod profilierte er sich zusammen mit dem Stoffhändler Eukrates und dem Schafhändler Lysikles als Volksführer. Thukydides119 bezeichnet ihn als den „gewalttätigsten Mann“120 der Stadt mit dem größten Einfluss beim Volk. Für ihn war er das Musterbild eines Demagogen, der vortäuschte, die Interessen des Volkes zu vertreten, dabei aber ausschließlich seine eigenen Ziele verfolgte. Das negative Bild, das Thukydides von Kleon zeichnete, findet sich übrigens auch bei Aristophanes, der den Lederfabrikanten in seinen „Rittern“ als paphlagonischen Sklaven auftreten lässt.121 Es wirft ein treffendes Bild auf Kleon, dass kein Schauspieler seine Rolle übernehmen wollte und der Dichter selbst den Paphlagonier122 spielen musste. Ein Jahr zuvor hatte Aristophanes den Chor in den „Acharnern“ (300f.) erklären lassen, er freue sich darauf, aus ­K leons Fell derbe Schuhe für die Ritterschaft herzustellen.

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Nach seinem Ende im Kampf gegen den Spartaner Brasidas – so Thuky­ dides123 – wurden seine Verbrechen ruchbar, und seine Reden erwiesen sich im Nachhinein als übelste Kriegshetze. Als im Jahr 427 die Stadt Mytilene auf der Insel Lesbos von Athen abgefallen war und dann aber von Paches zurückerobert wurde, hatte Kleon in Athen die Hinrichtung aller waffenfähigen Männer und die Versklavung der Frauen und Kinder verlangt. Ein entsprechender Beschluss der Volksversammlung wurde jedoch unter dem Eindruck der Rede des Diodotos – er war ein Sohn des Eukrates124– zurückgenommen. Stattdessen ließ man etwa eintausend Aristokraten – die Hauptschuldigen an dem Verrat an Athen – hinrichten.125 Der ansonsten unbekannte Diodotos hält Kleon vor, „Gegenredner und ­Zuhörer mit Verdächtigungen einzuschüchtern. Athen brauche die Redner, und es brauche die sachliche, von Verleumdungen freie Auseinandersetzung zwischen ihnen. Diese pflegten die Dinge eingehender und mit mehr Voraussicht zu studieren, als die Zuhörer es könnten. Sie stünden aber auch unter einer anderen Verantwortung als diese. Die Athener bestraften, wenn etwas fehlgehe, den, der es vorgeschlagen hätte – nicht die, die es beschlossen hatten. Sodann zur Sache: Die Todesstrafe schrecke keinen ab, denn Verlangen und Hoffnung zusammen brächten die Menschen immer wieder dazu, Gefahren auf sich zu nehmen. Wenn aber die Athener in diesem Fall neben den am Abfall Schuldigen das ganze Volk hinrichteten, hätten sie gar keine Freunde mehr, auf die sie zählen könnten. Schließlich habe das Volk von Mytilene den Abfall nur gezwungen mitgemacht und, sobald es Waffen in die Hand bekam, die Stadt den Athenern übergeben.“126 Für Diodotos127 verkörpert Kleon das Gegenteil von Besonnenheit. Er wirft ihm – ohne es direkt auszusprechen – übereiltes Handeln und Zorn vor, die gewöhnlich mit Dummheit, Mangel an Intelligenz und geistiger Beschränktheit verbunden seien. Und wer das Reden ablehne, weil es für das Handeln unwichtig sei, sei entweder unvernünftig oder eigennützig: Unvernünftig sei man, wenn man meine, man könne sich auf irgendeine andere Weise über Künftiges und Unklares verständigen, und persönliche Interessen verfolge man, wenn man etwas Schändliches plane und meine, man könne keine guten Argumente dafür bringen, etwas Schlechtes durchzusetzen, sei aber in der Lage, mit Verleumdungen seine Gegner und Zuhörer einzuschüchtern. Der vorbildliche ­Politiker müsse auf Augenhöhe mit seinen Gegnern seine Argumente als die besseren zu erweisen versuchen. Nur unter diesen Bedingungen sei ein fairer Umgang miteinander möglich. Nach dieser Vorrede erklärt Diodotos, bei allem, was er sage, gehe es um den Vorteil der Stadt Athen und um nichts anderes. Auf jeden Fall müsse man stets den Nutzen der Stadt im Auge haben. Das gelte auch für die Todesstrafe,

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die erfahrungsgemäß keine abschreckende Wirkung habe. Auch wenn man das Recht auf seiner Seite habe, solle man lieber ein Unrecht hinnehmen, statt diejenigen zu vernichten, die zu schonen für die Stadt nützlicher sei. Nach der Rede des Diodotos wurde noch hin und her diskutiert, bis sich das Prinzip der Nützlichkeit tatsächlich durchsetzte und man – gegen Kleon – beschloss, die Bevölkerung von Mytilene bis auf die „Hauptschuldigen“ ungeschoren zu lassen.

Macht und Recht Aber einige Jahre später lassen die Athener alle Männer der Insel Melos umbringen, weil sie sich ihnen nicht unterwerfen wollen, verkaufen deren Frauen und Kinder in die Sklaverei und verteilen das menschenleere Land an attische Bürger. Im Geschichtswerk des Thukydides verhandeln die Melier mit einer athenischen Gesandtschaft, um das Schlimmste abzuwenden.128 In dieser hochdramatischen Situation fehlte ein Mann wie Diodotos, der die Athener zu einem vernünftigen Verhalten hätte veranlassen können. Die Athener erklärten von vornherein, es könne zwischen Athen und Melos nicht um die Frage gehen, ob sie rechtmäßig oder unrechtmäßig handelten. Thukydides wollte mit dem Melierdialog wohl kein Beispiel für das von den Sophisten propagierte „Recht des Stärkeren“ geben oder dieses gar kritisieren. Er stellte einfach fest, es liege im Wesen des Menschen, dass „der Starke über den Schwachen herrscht“.129 Das Recht gelte dagegen nur unter Gleichen.130 Der Stärkere setze durch, was er könne, der Schwächere habe sich widerstandslos zu fügen. Die Athener verfügen über die unbegrenzte Macht. Die Unterwerfung der Melier ist beschlossene Sache. Es kann also nur darum gehen, wie die Melier mit ihrer Situation umgehen. Sie können sich nur unterwerfen oder vernichten lassen. Thukydides ist weit davon entfernt, die Argumente der Athener im Gespräch mir den Meliern moralisch zu beurteilen. Er lässt die Athener mit Nachdruck erklären, dass sie gar nicht anders handeln können: „Wir glauben nämlich, dass Götter vermutlich und Menschen ganz offensichtlich unter dem Zwang ihrer Natur bedingungslos über alles herrschen, worüber sie Macht haben. Und wir haben dieses Gesetz weder gegeben noch als Erste ­angewandt, seitdem es besteht. Wir bringen es nur zur Geltung. Denn wir haben es vorgefunden und werden es als ewig gültig hinterlassen. Wir wissen, dass auch ihr und andere, wenn sie dieselbe Macht haben wie wir, dasselbe tun dürften“ (5, 105, 2).

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Allerdings sind auch den Mächtigen vernünftige Grenzen gesetzt. Denn gerade das Prinzip der Nützlichkeit, das noch die Auseinandersetzung um die Maßnahmen gegen Mytilene beherrschte, erfordert den Verzicht auf Maßlosigkeit. Dazu ist „besonnenes Nachdenken“ erforderlich,131 das Fehlentscheidungen verhindert. Diodotos hatte darauf hingewiesen, es gehe in dem Konflikt mit Mytilene nicht um Recht und Unrecht – das sind für Thukydides keine historisch relevanten Größen –, sondern nur um das Handeln aufgrund „vernünf­ tiger Überlegung“, die nur das für den Handelnden auf Dauer Nützliche zulässt132: „Wir führen keinen Rechtsstreit mit Mytilene, um herauszufinden, was recht ist, sondern haben zu überlegen, was zu unserem Nutzen mit ihnen geschehen soll.“133 Diodotos fürchtet, dass der Nutzen aus dem Blick gerät, wenn das Maß verloren geht. „Es ist nicht notwendig, dass wir über Leute richten, die einen Fehler gemacht haben, und uns damit zweifellos selbst schaden, statt darauf zu achten, dass wir im Blick auf die Zukunft maßvolle Strafen auferlegen und dadurch den Städten die Möglichkeit erhalten, uns dienlich zu sein, und darauf zu achten, nicht mit der Strenge der Gesetze, sondern durch anständige Behandlung un­ sere Forderungen durchzusetzen.“134 Im Melierdialog bekennen sich die Athener zum Motiv des Maßes − um der Nützlichkeit willen, indem sie die Melier auf die „maßvollen Bedingungen“ hinweisen, deren Annahme sie von ihnen verlangen. Die Athener schließen eine programmatische Aussage über zwischenstaatliche Beziehungen an: „Diejenigen, die den Gleichen nicht nachgeben, die Überlegenen respektieren und den Schwächeren gegenüber maßvoll sind, dürften sich normalerweise auf dem richtigen Weg befinden.“135

Vermutungen über einen fehlenden Epilog Schon in der Vorgeschichte des Peloponnesischen Krieges hatten die Athener gegenüber den Spartanern deutlich gemacht, dass sie sich dem Maßhalten verpflichtet fühlten: „Wir verdienen sogar Lob dafür, dass wir der menschlichen Natur folgend andere beherrschen, aber dabei mehr Gerechtigkeit walten lassen, als es unserer tatsächlichen Macht entspricht. Wenn andere unsere Möglichkeiten hätten, dann würden sie – davon sind wir überzeugt – sehr schön beweisen, wie maßvoll wir im Vergleich zu ihnen wirklich sind. Uns brachte sogar unsere Anständigkeit unverständlicherweise eher einen schlechten Ruf ein als Anerkennung.“136 Im Falle der Melier hielten sich die Athener selbst nicht an das Prinzip des rechten Maßes, um auf längere Sicht das für sie selbst Nützliche zu verwirklichen.

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Wenn auch Xenophon mit seinen Hellenika unmittelbar an das unvollendete Werk des Thukydides anschließt, so ist es doch denkbar, dass Thukydides selbst schon einen Epilog konzipierte, der die Frage nach den Ursachen der athenischen Niederlage zu klären versuchte. In diesem Epilog hätte er seine Über­ legungen über das „rechte Maß“ weiterführen können. „Es ist wohl nicht zu kühn, wenn wir mutmaßen, dass in dem Teil des Werkes, den zu schreiben Thukydides nicht mehr vergönnt gewesen ist, gezeigt worden wäre, dass in der Situation von 416 es eigentlich und letztlich gar nicht um die Entscheidung der Melier gegangen ist, dass vielmehr die Athener sich vor den Verhandlungen ­bereits falsch entschieden hatten – insofern nämlich, als diese Entscheidung in einer falschen Einschätzung des wirklichen ξʋ´μφορον begründet lag, dass man in politischer Kurzsichtigkeit nur den augenblicklichen Nutzen, nicht aber den in fernerer ­Zukunft sich notwendigerweise ergebenden Schaden in das eigene Verhalten einkalkuliert hatte. Der verlorene Blick für das rechte Maß hatte die Einsicht verhindert, dass es letztlich gerade solche politischen Maßnahmen wie das Vorgehen gegen Melos waren, die zur Isolierung Athens und am Ende zu seinem Untergang die entscheidenden Anstöße gegeben hatten. 427 war dieses μετρια´ ζειν noch nicht verloren gegangen.“137 Das Nützliche oder Vorteilhafte ist als Ziel des Handelns akzeptabel, wenn es mit dem rechten Maß verbunden ist.138 Das dürfte auch der eigene Standpunkt des Thukydides gewesen sein: Er fordert vom Menschen die Einhaltung des rechten Maßes bei der Verwirklichung des eigenen ξʋ´μφορον; es ist verpflichtende Norm für den Staatsmann, bei seinen Entscheidungen ξʋ´μφορον und με´τρον in Einklang und zur Deckung zu bringen.“139 Mit seiner Sophrosyne, seiner Fähigkeit, das rechte Maß zu erkennen und einzuhalten, und seiner Besonnenheit kann ihm dies gelingen.

Thukydides und die Kleonisten Es war kein Geheimnis, dass Thukydides den skrupellosen Kleon zutiefst verachtete und sich insgeheim darüber freute, wenn unser Komödiendichter den gelernten Gerber lächerlich machte. Aber er ist seit zwanzig Jahren tot! Was hätte er dem Historiker noch anhaben können? Rein gar nichts. Doch es gab viele andere, die so waren wie Kleon: die – wie ich sie nannte – „Kleonisten“. Ein Aristokrat wie Thukydides war gewissermaßen ihr natür­ licher Feind. Sein Buch enthielt ohne Zweifel viele für Kleon peinliche Wahrheiten. So zum Beispiel die schmachvolle Niederlage und die Flucht des Demagogen vor dem Spartaner Brasidas, den Thukydides besonders schätzte.140 Das wusste auch Kritias. Deshalb war ich ihm dankbar, dass er – wie ich

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j­ edenfalls annahm – seine schützende Hand über ihn hielt. Aber Kritias’ Tage in Athen waren gezählt. Er konnte also gar nichts mehr für den Geschichtsschreiber tun, sondern ihm nur noch nahelegen, Athen ein zweites Mal schleunigst zu verlassen und sich vor den radikalen Demokraten in Sicherheit zu bringen. Aber wenn der Brief, den Philesia erwähnt hatte, eine Fälschung war und gar nicht von Kritias selbst stammte? Dann wollte jemand den Historiker in eine tödliche Falle locken. Vielleicht war sein Haus schon in der Gewalt der Kleonisten? Sie hatten schließlich allen Grund, seine Enthüllungen zu fürchten. Denn er pflegte seine Aussagen auf sehr gründliche Nachforschungen und Beweise zu stützen. Mit wenigen Strichen hatte er zum Beispiel das Bild, das der Komödiendichter von Kleon gezeichnet hatte, durch seine Arbeit bestätigt und – was das Schlimmste war – das Possenspiel der Komödie in bitterernste ­Geschichtsschreibung verwandelt. Die Möglichkeit einer Fälschung des Einladungsschreibens erwähnte ich gegenüber Philesia nicht. Das hätte ihre Angst nur noch vergrößert. Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, als sie noch neben mir stand und hoffte, dass ich einen Ausweg fände. Das Dilemma war nur, dass ich damals in Kritias den Freund und Verbündeten sah, Philesia aber den gefähr­ lichen Feind. Es wäre völlig sinnlos gewesen, dem Mädchen zu erklären, es solle sich keine Sorgen machen. Auch die Aussicht auf die ersehnte Rückkehr nach Thrakien wäre kein Trost gewesen. Da sie Thukydides in höchster Gefahr sah, konnte sie an nichts anderes denken, bis sie ihn wirklich in Sicherheit wusste. Ich befürchtete, dass ich ihn an diesem Tag das letzte Mal sehen würde. Daher bat ich Lysimachos, mir trotz des Ausgangsverbots noch ein einziges Mal Urlaub zu geben. „Mein Vater ist plötzlich krank geworden“, log ich. „Er erwartet, dass ich heute Abend an seinem Bett sitze.“ Natürlich war Gryllos nicht krank. Er war nie krank. Selbst den unerwarteten Tod meiner Mutter Diodora im vorigen Jahr hatte er einigermaßen verkraftet. So schien es jedenfalls. Wenn man ihn nach seinem Befinden fragte, erwiderte er immer nur: „Ich habe ja noch die alte Charikleia. Sie führt mir den Haushalt, die treue Seele.“ Dann fügte er lächelnd hinzu: „Na ja, mein Sohn wird hoffentlich bald für eine tüchtige Schwiegertochter sorgen. Wenn erst Enkelkinder da sind, wird sowieso alles anders.“ Leider hat er das nicht mehr erlebt. Er starb ganz plötzlich bei der Feldarbeit. Ich war damals schon auf dem Weg zu Kyros. Die traurige Nachricht erhielt ich in Ephesos. Erst Jahre später erzählte mir einer unserer damaligen Knechte, Gryllos habe noch im Tod den schweren Pflug fest umklammert gehalten. Die Maultiere standen regungslos auf dem schon zur Hälfte gepflügten Acker, als man ihn

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fand. Sie rührten sich nicht von der Stelle. Sie warteten wie üblich auf den ermunternden Zuruf ihres Herrn. Der starke Mann war kaum zusammengesunken, als er starb. Nur sein Oberkörper war leicht nach vorn gebeugt. Die Tiere schienen ihm für die unerwartete Pause dankbar zu sein. Auch die Leute konnten die Maultiere lange Zeit nicht von der Stelle bewegen, bis man Gryllos auf einer Bahre fortgetragen hatte. Immer wenn ich daran denke, dass ich nicht zu Hause war, als mein Vater starb, überkommt mich tiefe Wehmut. Nicht einmal beerdigen konnte ich ihn. An dem Abend durfte ich tatsächlich noch einmal nach Hause. Aber Lysimachos hatte mir eingeschärft, vor Morgengrauen zurück zu sein. Die Lage sei äußerst gespannt und völlig unübersichtlich. Es war noch hell, als ich wieder zu Hause ankam. Seltsamerweise wartete Thukydides schon vor der Tür auf mich. Gryllos war damit beschäftigt, das Zaumzeug der Wagenpferde und die Kutsche zu kontrollieren, die den Gast am nächsten Morgen nach Athen bringen sollte. Thukydides bat mich, wie er sagte, um ein ganz kurzes Gespräch unter vier Augen. Ich saß ab und überließ mein schwitzendes Pferd dem alten Lykos, der bei meinem Eintreffen sofort aus dem Stall gekommen war. Ich spürte eine ungewohnte Unruhe. Charikleia kam mit verweinten Augen auf mich zu und umarmte mich: „Gut, dass du da bist, mein Junge. Wir haben uns schon große Sorgen gemacht.“ „Aber wieso denn? Ich bin doch heute sogar noch früher gekommen als sonst. Was habt ihr denn?“ „Hast du denn nichts gehört?“ „Was soll ich denn gehört haben?“ „In der Stadt geht doch alles drunter und drüber. Du musst doch etwas davon gemerkt haben!“ „Nein, Charikleia, mir ist wirklich nichts aufgefallen.“ „Mein Gott, pass gut auf dich auf!“ Dann wandte sie sich schnell von mir ab und rief ins Haus hinein: „Wo bist du denn, Philesia? Hast du schon alles gepackt?“ Das Mädchen antwortete: „Was soll ich denn gepackt haben? Er wird doch spätestens morgen Mittag wieder zurück sein. Da braucht er doch eigentlich gar nichts mitzunehmen. Er hat mir auch ausdrücklich verboten, irgendetwas einzupacken. Bei seinem Freund Kritias werde er bestimmt alles bekommen, was nötig sei.“ Als Thukydides auf mich zukam und mich förmlich begrüßte, spürte ich eine leichte Ungeduld in seiner Stimme: „Ich muss jetzt wirklich dringend mit dir sprechen, Xenophon. Lass uns ein paar Schritte gehen. Das Abendessen ist sowieso noch nicht fertig.“

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Nach diesen Worten gingen wir zuerst schweigend nebeneinander her. Thukydides hatte noch nie allein mit mir gesprochen. Das fiel mir jetzt auf. „Xenophon, du weißt, dass ich morgen Vormittag zu Kritias fahre. Er hat mir gestern die Einladung geschickt. Eigentlich freue ich mich, ihn nach so langer Zeit wiederzusehen. Ich kann mich dann auch endlich bei ihm bedanken. Denn er war es doch, der mir nach all den Jahren meine Rückkehr nach Athen ermöglichte.“ Dann hielt er mir einen ausführlichen Vortrag über die Verpflichtung zur Dankbarkeit. Ich war beeindruckt. Er redete wie ein Sophist, dem die Wirkung der Worte wichtiger ist als ihre Bedeutung. So kannte ich ihn gar nicht. Aber er erreichte jedenfalls, dass ich mich schrecklich undankbar fühlte. Ich bildete mir ein, mein Leben lang die Pflicht zur Dankbarkeit sträflich vernachlässigt zu haben. Eine für mich damals grauenhafte Vorstellung! Denn wer undankbar ist, frevelt nicht nur gegen die Götter, sondern auch gegen seine Eltern und sein Vaterland! Es wurde auch immer gesagt, Undankbarkeit sei Schamlosigkeit und der Grund für viele Schandtaten.141 Warum sprach er ausgerechnet jetzt darüber? Was sollte dieses rhetorische Prunkstück, dieses „Agonisma für den Augenblick“?142 Wollte er mir demonstrieren, dass auch er die Kunst der Sophisten beherrschte? Und dass er ein guter Schüler des berühmten Gorgias mit seinem antithetischen Satzbau, eines Prodikos mit seiner Fähigkeit, ethisch-politische Begriffe zu definieren, und eines Protagoras mit seiner genialen Beweistechnik war? Ich erinnerte mich an meinen eigenen Rhetorikunterricht, in dem uns die großen sophistischen Aufklärer immer wieder als glänzende Vorbilder vor Augen gestellt wurden. Ich habe ihn natürlich gefragt: „Warum sprichst du mit mir so ausführlich und wortreich über die Dankbarkeit? Willst du mir sagen, dass ich es versäumt habe, dir dankbar zu sein?“ Ich bekam keine Antwort. Erst viele Jahre später fand ich eine Erklärung: Thukydides hatte Angst, die er im Fluss seiner wohltönenden Rede zu versenken vesuchte. Dass er ausgerechnet über dieses Thema sprach – als fleißiger Sophistenschüler hätte er über viele andere Themen aus dem Stegreif reden können –, hatte natürlich etwas mit Kritias zu tun. Denn ihm war er wirklich dankbar. Aber mein Besuch bei ihm vor ein paar Tagen im Auftrag der Dreißig hatte ihn stärker beunruhigt, als er zugeben wollte. Er ahnte wohl, dass er jetzt von zwei Seiten bedroht ­w urde: von den Dreißig und von den Kleonisten. Er wusste, dass die Dreißig am Ende waren, und entschloss sich trotzdem oder vielleicht gerade deshalb, der Einladung des Kritias zu folgen. Glaubte er wirklich noch an dessen Freundschaft? Er war natürlich sehr neugierig auf alles, was dieser Mann vorhatte. Schließlich war er ein leidenschaftlicher Historiker und Chronist. Damals argwöhnte ich, wie gesagt, dass Kritias ihn aus irgendwelchen mir unbekannten Gründen beseitigen lassen wollte. Sein Archiv – das war Kritias

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zweifellos bekannt – enthielt Unmengen an Material, das beinahe jeden politischen Akteur seiner Zeit belasten konnte. Das war den Dreißig ebenso unangenehm wie den Kleonisten und den gemäßigten Demokraten.

Die Kiste Dann hörte ich ihn plötzlich sagen: „Kommen wir zur Sache, lieber Xenophon. Geh bitte in mein Haus in Athen, während ich bei Kritias bin. Das wird niemandem auffallen. Achte trotzdem darauf, dass man dich nicht sieht. Du kennst die kleine Gartenpforte. Wo mein Arbeitszimmer ist, weißt du auch. Wir haben dort kurz gesessen. Erinnerst du dich, dass neben dem Sessel mit der hohen Lehne eine Kiste aus Zedernholz stand? Nimm sie mit nach Hause. Verstehst du? Du wirst sie schon tragen können.“ „Soll ich den Sessel nicht auch mitnehmen?“, fragte ich scherzhaft. „Nein, natürlich nicht, nur die Kiste. Darin liegen sieben Rollen mit meiner Darstellung des Krieges gegen die Peloponnesier bis zum Sommer des neunzehnten Jahres und eine achte vom Winter des neunzehnten bis zum Sommer des einundzwanzigsten Jahres.143 In der Nacht vor deinem Erscheinen bin ich vor Erschöpfung eingeschlafen. Die Feder ist mir mitten im Satz aus der Hand geglitten. Ich wollte dann am nächsten Morgen weiterarbeiten. Denn in der Kiste habe ich noch Berge von unbearbeitetem Material bis zum Ende des Krieges.144 Bring bitte die Kiste auf eurem Landgut in Sicherheit. Die achte Rolle liegt wahrscheinlich noch auf dem Fußboden, wenn Philesia sie damals nicht wieder in die Kiste zurückgelegt hat. Du musst die Unterlagen sorgfältig verwahren. Ich weiß, das ist nicht ganz so einfach. Aber du schaffst es bestimmt. Das noch nicht bearbeitete Material befindet sich in sieben Schachteln – für jedes Kriegsjahr eine Schachtel.“ Er erwartete keine weiteren Fragen. Denn er war überzeugt davon, dass ­a lles klappte wie geplant. Das war ja am Ende auch der Fall. Er hatte alles Notwendige gesagt – bis auf eine wichtige Kleinigkeit. „Ach, übrigens – was ich noch sagen wollte –, da ist noch etwas anderes. Ihr solltet es eigentlich schon längst wissen: Philesia ist meine Tochter. So, nun ist es heraus.“ Ohne meine Reaktion abzuwarten, fügte er hinzu: „Ich habe nur noch eine einzige Bitte: Wenn alles anders kommt als erwartet, bring Philesia in Sicherheit! Ich habe in der Gegend von Amphipolis noch viele Freunde. Du kannst sie ihnen anvertrauen. Man wird sie gern aufnehmen und beschützen.“ Ich war sprachlos. „Philesias Mutter ist vor fünf Jahren in Amphipolis gestorben – an einer Krankheit, die auch unsere sonst so tüchtigen hellenischen Ärzte nicht heilen konnten. Das Kind war damals erst zwölf. Es war furchtbar. Kümmere dich bitte um sie! Ich vertraue sie dir an.“ Ich nickte wortlos.

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„Gehen wir zum Essen“, sagte er und wandte sich mit einem heftigen Ruck von mir ab. Am nächsten Morgen sprang ich auf mein Pferd, bevor die Kutsche abfahrbereit war, die Thukydides zu Kritias bringen sollte. Es war noch dunkel. Wir waren alle früher aufgestanden als sonst. Ich traf noch vor Sonnenaufgang in unserem Quartier ein und meldete mich unverzüglich bei Lysimachos. Er grüßte nicht zurück und rief nur: „Es gibt neue Befehle. Haltet euch bereit!“ Wie sollte ich nur die Kiste aus dem Haus in Sicherheit bringen, wenn wir gleichzeitig auf einen Einsatz warten mussten? Was hatte sich der Schriftsteller eigentlich dabei gedacht? Wir waren seit Stunden marschbereit und dösten untätig vor uns hin. Es war heiß. Wir schwitzten. Das Warten war zermürbend. Einige fluchten fortwährend vor sich hin. Da preschte Lysimachos heran. „Die Sache ist abgeblasen. Bringt eure Pferde in den Stall! Gebt ihnen Wasser! Aber nicht zu viel. Und reibt sie ab. Dann legt euch aufs Ohr!“ Das verstand sich doch alles von selbst. Er hätte es uns nicht befehlen müssen, dachte ich. Aber mit einem Seitenblick auf mich – das bildete ich mir jedenfalls ein – fügte er noch hinzu: „Ihr bleibt in den Quartieren! Verstanden?“ Dann war er schon wieder verschwunden. Die Versorgung der Pferde, das Ablegen der Rüstungen, das ordnungsgemäße Verstauen der Sättel und des Zaumzeugs nahm ziemlich viel Zeit in Anspruch. Aber ich fand einen Vorwand, um ein Weilchen verschwinden zu können. „Die Futterkisten sind fast leer“, rief ich laut. „Ich hole ein paar Säcke.“ Das klang glaubwürdig. Denn die Kameraden wussten, dass ich mich immer hingebungsvoll – wie man mein Handeln bezeichnete – um das Wohl der Pferde kümmerte. So hatte ich es von Kindheit an gelernt. Und ich war davon überzeugt, dass die Pferde stets unsere treuesten Gefährten waren. Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft mir mein Pferd das Leben gerettet hat. Umso schlimmer war es damals für mich in Lampsakos: Ich musste mein Pferd verkaufen, um das Geld für meine Heimreise bezahlen zu können.145 Doch mit Hilfe des Zeus Meilichios, unseres „mildtätigen“ Gottes, bekam ich das Pferd zurück. Ich brauchte nicht einmal die fünfzig persischen Dareiken zurückzuzahlen!146 Biton und Nausikleides verzichteten damals auf das Geld. Sie wussten genau, dass ich mein Pferd niemals verkauft hätte, wenn ich nicht wirklich mittellos gewesen wäre.147 Aber das ist eine andere Geschichte. Ich nutzte also die Gelegenheit und eilte unbemerkt – es war inzwischen Mittag – zum Haus des Thukydides. Im Arbeitszimmer stand die Kiste mit den Buchrollen neben dem Sessel. Ich hob den Deckel an, um mich zu vergewissern,

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dass sie noch da waren. Es war genau so, wie er es beschrieben hatte. Obwohl ich das Haus schleunigst wieder hätte verlassen müssen, konnte ich nicht widerstehen und las den letzten Satz, den er geschrieben hatte: „Und dann kam er zuerst nach Ephesos und brachte der Artemis ein Opfer dar …“ Das war die Stelle, wo er übermüdet eingeschlafen war, wie er gesagt hatte. Und als ihm die Feder aus der Hand glitt, hatte sie einen langen schwarzen Strich hinterlassen. Der Papyrus war zu Boden gefallen und hatte sich dort von selbst wieder eingerollt, als ob er diese letzten Worte hätte schützen wollen. Ich legte die achte Rolle zu den anderen in die Kiste, schloss den Deckel und steckte sie in den vorsorglich mitgebrachten Sack. Dann rannte ich so schnell wie möglich zurück in unser Quartier, verstaute alles in der größten Futterkiste und schleppte anschließend mehrere Hafersäcke herbei, um die Futterkisten zu füllen. Die Rollen waren zunächst einmal sicher verwahrt. In der Nacht schaffte ich sie auf unser Gut und versteckte sie unter meinem Bett. Niemand merkte etwas. Alle schliefen fest. Das war nur mit göttlicher Hilfe möglich. Jetzt empfand auch ich tiefe Dankbarkeit – ganz im Sinne des seltsamen sophistischen Vortrags, den mir Thukydides gehalten hatte. Wie ich es aber nun schaffen sollte, auch die übrigen Dokumente aus dem Haus zu holen, war mir noch völlig schleierhaft. Ich ritt nach Athen zurück und kam noch im Schutz der Dunkelheit, aber völlig erschöpft in unserem Quartier an. Meine Abwesenheit war unbemerkt geblieben.

Ein verschwundener Geschichtsschreiber Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste – Thukydides war nach seinem Besuch bei Kritias tatsächlich nicht zurückgekehrt. War er überhaupt dort angekommen? Ich war mir nicht sicher. War passiert, was ich immer befürchtet hatte? Als ich am nächsten Abend zu Hause eintraf, herrschte eine bedrückte Stimmung im Haus. „Wo warst du gestern Abend?“, fragte Gryllos. Ohne m ­ eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: „Thukydides ist noch nicht zurück. Ich ­w usste es gleich. Da ist etwas passiert. Hast du etwas gehört?“ Ich verneinte die Frage, sprach aber auch nicht über die Kiste, die ich unter mein Bett geschoben hatte. Das sollte geheim bleiben. Ich merkte, dass Gryllos noch eine Antwort auf seine Fragen erwartete. „Ich war in der vergangenen Nacht hier“, sagte ich wahrheitsgemäß, „wollte aber niemanden wecken und bin dann vor Sonnenaufgang wieder zurückgeritten. Du weißt ja – die angespannte Lage!“

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„Da hast du ja auch nicht mitbekommen, was hier los war. Philesia konnte gar nicht aufhören zu weinen. Sie schluchzte immer nur: ‚Das musste so kommen. Das musste so kommen. Er wollte nicht auf mich hören.‘ Den ganzen Tag hat sie nichts gegessen. Selbst die alte Charikleia schaffte es nicht, sie zu beruhigen.“ Ich war ratlos. „Philesia hat aber schon nach dir gefragt, Xenophon.“ Aus den Worten meines Vaters klang die Hoffnung, dass ich Philesia beruhigen könnte. In dem Augenblick kam sie selbst herein, lief auf mich zu, und ich nahm sie in den Arm. „Ach, Xenophon, Xenophon! Wie froh ich bin! Wenigstens du bist ­w ieder da!“ Der Gedanke daran, dass das Mädchen die Tochter unseres Gastes war, ­hatte mich den ganzen Tag über beschäftigt, beflügelte mich aber auch, meinen Auftrag gewissenhaft auszuführen. Natürlich rechnete ich nicht damit, das Versprechen, das ich ihrem Vater gegeben hatte, jemals erfüllen zu müssen. Aber jetzt sprach alles dafür, dass dies schneller als erwartet eingetreten war. Das war zu viel für mich! Ich brauchte Gryllos’ Hilfe und wollte ihm alles erzählen. Ob Philesia von dem Wunsch ihres Vaters und von meinem Versprechen wusste? Wollte sie überhaupt, dass ich sie beschützte? Wie konnte ich das herausfinden? Philesia hatte sich etwas beruhigt. „Soll ich dir etwas zu essen bringen, mein Kind?“, fragte Charikleia. „Nein danke, ich komme mit dir in die Küche.“ Als die beiden Frauen gegangen waren, wandte ich mich sofort an Gryllos: „Vater, weißt du Bescheid?“ „Was meinst du?“ „Thukydides hat mir gestern Abend eröffnet, dass Philesia seine Tochter ist.“ Gryllos war fassungslos: „Wie? Was? Das ist doch nicht möglich! Ist das wirklich wahr?“ „Ja, Vater. Ich habe Thukydides versprochen, mich um Philesia zu kümmern und für ihre sichere Heimkehr mach Thrakien zu sorgen, wenn ihm etwas passieren sollte.“ „Eine sichere Heimkehr? In diesen schlimmen Zeiten? Sie bleibt doch am besten erst einmal hier. Außerdem kommt ihr Vater doch bestimmt bald wieder zurück.“ An diesem Abend bekam ich Philesia nicht mehr zu sehen. Charikleia kümmerte sich fürsorglich um sie. Anscheinend war sie nach dem Essen gleich schlafen gegangen.

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Das brennende Haus Als ich am nächsten Morgen nach Athen ritt, sah ich einen Feuerschein über der Stadt. Es war ganz in der Nähe unserer Unterkunft. Bald erkannte ich, dass es in dem Viertel brannte, wo sich Thukydides’ Haus befand. Kurz darauf hatte ich Gewissheit: Das Haus brannte tatsächlich lichterloh. Verkohlte Papyrusfetzen wirbelten in den Morgenhimmel. Seltsamerweise fand sich niemand, der das Feuer zu löschen versuchte. Ich war entsetzt. Doch es war zu spät. Die Nachbarn schienen sich nicht weiter darum zu kümmern. Sie hatten genug ­damit zu tun, die Flammen nicht auf ihre Häuser übergreifen zu lassen. Die meisten aber sahen nur zu. Sie schlossen Wetten darauf ab, wann das Haus endgültig zusammenstürzte. „Wie kam es denn dazu? Hat jemand das Haus angesteckt?“, fragte einer aus der gaffenden Menge. „Das waren die Schergen der Dreißig! Niemand sonst!“, behauptete jemand. Er schien nicht zu fürchten, dass ihn diese Worte in größte Schwierigkeiten bringen könnten. „Ganz bestimmt. Denn in dem Haus sollen sich Beweise für die Verbrechen dieser Leute befunden haben.“ „Aber was sollte ihnen das Feuer noch nützen? Sie sind doch sowieso schon dabei zu verschwinden. Im Peiraieus versammeln sich bereits die Tyrannenmörder, wie es heißt.“ „Dann waren es die radikalen Demokraten, die Kleonisten. Die haben auch genug auf dem Kerbholz. Aber wahrscheinlich wird man nie erfahren, wer es war.“ Da sagte ein alter Mann, der etwas abseits stand: „Ich habe gestern Nacht – oder war es vorgestern? – eine finstere Gestalt in das Haus schleichen sehen. Ich war wach wie immer um diese Zeit und sah, wie der Kerl durch die Gartenpforte ging. Nach kurzer Zeit kam er mit einem großen Sack auf dem Rücken wieder heraus. Dann verschwand er in der Dunkelheit.“ Ich erschrak, als ich begriff, dass der alte Mann mich gesehen hatte. Aber er hatte mich nicht erkannt, sodass er mich mit den Brandstiftern nicht in Verbindung bringen konnte. „Wer sollte das gewesen sein? Und was steckte in dem Sack?“, fragte jemand aufgeregt. – „Woher soll ich das wissen? Keine Ahnung. Aber das war bestimmt der Brandstifter.“ – „So ein Unsinn! Das ist doch viel zu lange her. Warum hat er denn nicht gleich Feuer gelegt, statt noch so lange zu warten?“ – „Der hat es nicht getan. Er wusste nur, dass das Haus angesteckt werden sollte. Deshalb hat er vorher noch rausgeholt, was wertvoll war.“ – „Ein elender Plünderer also!“ – „Hat denn der Hausbesitzer nichts gemerkt?“ – „Ich glaube, er hat den Einbrecher

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überrascht, der ihn ganz einfach umgebracht hat.“ – „War er denn überhaupt zu Hause?“ – „Ach was!“, rief ein anderer Mann und fügte erklärend hinzu: „Der war schon seit Tagen nicht mehr da.“ – „Woher willst du das wissen?“ – „Hat meine Frau erzählt. Und außerdem lebte er mit einem jungen Mädchen zusammen.“ – „Wirklich? Der alte Kerl?“ – „Dann war das Mädchen auch nicht mehr im Haus?“ – „Nein, natürlich nicht. Beide sind zusammen verschwunden, soviel ich weiß.“ – „Jemand hat sie in einer Kutsche abgeholt – sagt meine Frau.“ War es abwegig anzunehmen, dass Kritias und seine Leute etwas mit dem Brand zu tun hatten? Dann glaubte ich plötzlich einen Zusammenhang mit dem Verschwinden des Thukydides zu sehen. Ein absurder Gedanke. Aber vielleicht wurde er ermordet, weil man seine Papiere haben wollte und er sie nicht mehr herausgeben konnte, da ich sie doch in Sicherheit gebracht hatte. War er gezwungen worden, seine späteren Mörder in sein Haus zu führen, um ihnen die Dokumente auszuhändigen? Hatte man ihn aus Wut darüber, dass man die Papiere nicht bekam, umgebracht und ihm dann das Haus über dem Kopf angezündet? War ich jetzt auch noch schuld an seinem Tod? Wäre das Unglück nicht passiert, wenn ich seine Papiere nicht so schnell aus dem Haus geholt hätte? Nein, das ist nicht denkbar. Es wäre doch für die Dreißig ein Leichtes ge­ wesen, das Material schon vor Tagen aus dem Haus zu holen und beiseitezuschaffen. Niemand wäre misstrauisch geworden, wenn jemand mit einem Wagen vorgefahren wäre und die Rollen mitgenommen hätte. In Athen wurde ständig etwas aufgeladen und irgendwohin gefahren. Und wenn er gar nicht bei Kritias angekommen ist? Doch, er war dort. Der Kutscher hatte ihn vor der Haustür abgesetzt. Das ist sicher. Er wollte nur nicht, dass der Wagen auf ihn wartete. Er rechnete wohl damit, dass Kritias sich um seine Rückfahrt kümmern würde. Der Kutscher sollte allein losfahren und Gryllos ausrichten, er habe noch etwas in der Stadt zu erledigen und werde später schon jemanden finden, der ihn nach Hause bringen würde. Aber ob das stimmte? Hatte der Sklave die Wahrheit gesagt? Es gab nicht den geringsten Beweis dafür, dass er das Anwesen des Kritias wirklich verlassen hatte. „So ein Unsinn!“, sagte ich laut. „Was ist Unsinn?“, fragte der Mann, der neben mir stand und immer noch gebannt in das langsam verglimmende Feuer blickte. Einige Leute stocherten schon mit Stöcken in der Glut herum, um etwas noch Brauchbares zu finden. Aber erfolglos. Übrig waren nur glimmende Balken und ein paar Tonscherben. „Ach, ich war nur in Gedanken“, antwortete ich. In Wirklichkeit erschrak ich bei dieser Frage, weil ich mich entdeckt fühlte. Denn ich befürchtete, dass mich doch noch jemand als den Einbrecher erkennen könnte. Aber niemand schöpfte Verdacht. Ich fror, obwohl ich mich fest in meinen Reitmantel eingehüllt hatte.

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Die Leute liefen langsam auseinander. Sie hatten keine Lust mehr, in die allmählich erkaltende Asche zu starren. Eine alte Frau murmelte noch: „Das war ein Zeichen der Götter.“ Ich hätte gern gewusst, wofür. Aber dann wandte ich mich ab. Mein Pferd stand noch dort, wo ich es angebunden hatte. Das beruhigte mich. Ich trug keine Waffen bei mir. Niemand konnte also ahnen, dass ich zu den Bewaffneten der Dreißig gehörte, oder gar behaupten, ich hätte etwas mit dem Feuer zu tun. Die Kameraden warteten bestimmt schon, dachte ich und beeilte mich, den schrecklichen Ort zu verlassen. Wenn Kritias nichts mit Thukydides’ Verschwinden und der Brandstiftung zu tun hatte – wer dann? Die Kleonisten hatten gewiss schon wieder Namen unliebsamer Mitbürger auf ihren Listen stehen. Bei einem Machtwechsel konnten sie leicht an irgendwelchen persönlichen Feinden Rache nehmen. Es fehlte ihnen nur noch der skrupellose Demagoge, der wie Kleon, ihr großes Vorbild, die Massen aufzuputschen verstand. Einen Anlass gab es immer. Aber wie würden dann die spartanischen Besatzer reagieren? Bei gewalttätigen Auseinandersetzungen würde viel Blut fließen. Auf der einen Seite standen die Spartaner und wir, die Garde der Dreißig, auf der anderen Seite der stets gewaltbereite Demos, der sich schon längst wieder heimlich bewaffnet hatte. Wusste Thukydides vielleicht etwas von diesen Vorgängen? Hielt er sich irgendwo versteckt? Warum aber dann das Feuer? Ich sah keinen Zusammenhang. Das ungewisse Warten fand schließlich ein Ende. Wir erhielten den Befehl, außerhalb der Stadtmauern – soweit sie noch standen – auf Patrouille zu gehen und Lysimachos alle besonderen Vorkommnisse unverzüglich zu melden. Aber wir durften uns nicht in irgendwelche gewalttätigen Auseinandersetzungen verwickeln lassen. Das wurde uns ausdrücklich verboten. Wir sollten nur durch unsere Anwesenheit für Ruhe und Ordnung sorgen. Es war auf keinen Fall ­unsere Aufgabe, einen Aufstand der Massen niederzuschlagen. Doch es kam ganz anders als erwartet.

Der Befreier „Die Rettung kam der Stadt von außen. Eine kleine Schar athenischer Verbannter und Emigranten unter Thrasybul setzte sich von Böotien aus im Handstreich in den Besitz des Kastells Phyle auf den Vorhöhen des Parnes. Nach einem Erfolg über die spartanische Besatzung und nach der Einnahme der Munichia148 kontrollierte Thrasybul die Lebensader Athens, den Piräus. Kritias und Charmides fielen im Straßenkampf, die Herrschaft der Dreißig brach zusammen (Ende 404 oder Anfang 403).“149

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In seinen Hellenika150 lässt Xenophon nach der Niederlage der Dreißig im Peiraieus einen angesehenen Mann aus dem Organisationskomitee der Eleusinischen Mysterien (einen „Herold“) auftreten und die Bürgerkriegsparteien mit einer beeindruckenden Rede zur Versöhnung auffordern. An die Anhänger der Dreißig richtet er u. a. die beschwörenden Worte: „Hört nicht länger auf die Dreißig, die gottlosesten Menschen, die um ihres eigenen Vorteils willen in acht Monaten mehr Athener umgebracht haben als alle Peloponnesier in zehn Jahren Krieg. Obwohl es uns möglich war, in Frieden miteinander zu ­leben, veranlassen uns diese Leute, den allerschändlichsten, schlimmsten, gottlosesten und allen Göttern und Menschen am meisten verhassten Krieg gegeneinander zu führen. Dabei wisst ihr doch ganz genau, dass über die, die durch unsere Hand gestorben sind, nicht nur ihr, sondern auch wir selbst viele Tränen vergossen haben.“ Der hochverdiente und sehr angesehene Feldherr Thrasybulos hatte tatsächlich mit ganz wenigen ihm treu ergebenen Männern das attische Grenzkastell Phyle besetzt.151 Im Handstreich nahm er mit nur siebzig Mann die ­Zitadelle Munychia im Peiraieus ein und konnte sie halten.152 Die Spartaner waren von Thrasybulos so beeindruckt, dass König Pausanias darauf verzich­ tete, Gegenmaßnahmen einzuleiten. Er erreichte es schließlich, dass die gegnerischen Parteien die Waffen ruhen ließen und sich verständigten.153 Am Ende wurde sogar eine allgemeine Amnestie vereinbart. So wurde offiziell vergessen, wer auf welcher Seite gekämpft und was er getan hatte. Aber bis es zu diesem Frieden kam, gab es noch viele Tote.154 Noch mehr als siebzig Männer fanden in diesem Gemetzel den Tod. Den Gefallenen wurden die Waffen abgenommen. Aber man erwies ihnen alle Ehren, wie sie gefallenen Soldaten zu erweisen sind. Xenophons athenische Reiterabteilung war dem spartanischen König direkt unterstellt. Sie hatte den Auftrag, nur in Richtung Peiraieus vorzurücken und jede Berührung mit dem Gegner zu vermeiden. Dann kam es aber doch zu ­k leineren Zusammenstößen, die nach und nach in schwere Kämpfe ausarteten. Die Lakedämonier, die mit Xenophons Reiterabteilung ausgerückt waren, erlitten blutige Verluste, die Leute vom Peiraieus ebenfalls.

Waffenstillstand Es war ein Kampf Mann gegen Mann. Viele kannten ihre Gegner. Manche waren sogar miteinander verwandt oder lebten in normalen Zeiten als friedliche Nachbarn nebeneinander. Das war grausam und unerträglich.

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Endlich schienen die Götter ein Einsehen zu haben. Sie ließen die Kämpfer auf beiden Seiten bald so erschöpft sein, dass sie sich kaum mehr bewegen konnten. So kam es mir jedenfalls vor. Die meisten hatten nicht einmal mehr die Kraft, auf den Beinen zu stehen, auch wenn sie unverletzt waren. Wer sich nur noch einen Funken Vernunft bewahrt hatte, zeigte seine Bereitschaft, mit diesem Gemetzel einfach aufzuhören. Dadurch entstand zunächst aber eine ausgesprochen gefährliche Situation. Man wusste ja nicht, ob auch der Gegner bereit war, die Waffen sinken zu lassen. Dann aber hörte man auf beiden Seiten den Ruf: „Aufhören, Aufhören!“ Zuerst waren es nur wenige Stimmen. Nach und nach wurden es immer mehr, bis klar war, dass alle nichts anderes wollten. Und die Männer ließen tatsächlich voneinander ab und blieben einfach dort, wo sie sich gerade befanden. Beide Seiten sahen ein, dass eine Fortsetzung des gegenseitigen Mordens völlig sinnlos und barbarisch war. Dann ging alles ganz schnell. Lysimachos ließ uns in unser Quartier abrücken. Dort versorgten wir, so gut es ging, unsere Verwundeten. Für unsere Toten bereiteten wir eine ehrenvolle Bestattung vor dem Doppeltor nach Eleusis vor. Man verzichtete darauf, ihre Gebeine im Kerameikos beizusetzen. Vielleicht wollte man die dort übliche Leichenrede auf die Gefallenen vermeiden. Auf jeden Fall durfte nichts unternommen werden, was den so blutig erkämpften Frieden zwischen den bisherigen Gegnern gefährdete. Eine Leichenrede konnte unberechenbare Gefühle wecken und erneut Gewalttätigkeiten auslösen. Die Suche nach Vermissten wurde nicht sehr gründlich betrieben. Die allgemeine Amnestie verbot es auch, irgendwelche Leute aufzuspüren, die man bestrafen wollte. Die einen erwarteten, dass die Vermissten irgendwann wieder auftauchten. Die anderen befürchteten, bei gezielten Nachforschungen unliebsame Entdeckungen zu machen. Wieder andere waren froh, dass bestimmte Mitbürger auf Nimmerwiedersehen verschwunden waren. Nur die engsten Verwandten stellten Nachforschungen an. Aber in den meisten Fällen hatten sie keinen Erfolg. Im Laufe der Zeit überließ man es dem Schicksal, ob die Vermissten wieder auftauchten oder nicht. Es hieß, dass sich einige schon vor der Flucht der Dreißig auf die Peloponnes oder sogar nach Persien abgesetzt hätten, um für ihre Taten nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden. Persien bot unbegrenzte Möglichkeiten für einen Neuanfang. Die Satrapen freuten sich über jeden Einwanderer, besonders wenn er aus einer griechischen Polis kam. Dass auch Thukydides zu den Vermissten gehörte, war nicht zu bestreiten. Aber warum hätte er sich nach Persien absetzen und alle Spuren verwischen sollen?

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Auf der Suche nach dem Vermissten Philesia war vielleicht die Einzige, die nicht aufhörte, beharrlich nach Spuren ihres Vaters zu suchen. Sie wollte den Gedanken nicht zulassen, dass er möglichweise tot war. So gut es ging, half ich ihr bei der Spurensuche. Ich nahm Kontakte zu Menschen auf, die ihn kannten. Es waren nicht sehr viele. Niemand wusste etwas, und wir tappten im Dunkeln. Manche erinnerten sich noch an die Zeit vor seinem thrakischen Exil. Das brachte uns aber überhaupt nicht weiter. Ich war sogar einige Wochen unterwegs, um in Amphipolis und Umgebung Nachforschungen anzustellen. Mir wurden abstruse Mordtheorien präsentiert. Aber konkrete Anhaltpunkte gab es nicht. So soll er unter anderem von einem thrakischen Brüderpaar auf bestialische Weise umgebracht worden sein. Ein Racheakt? Aber warum? Er hatte tatsächlich einmal – das fand ich heraus – über einen Dieb in einer seiner Goldminen eine drakonische Strafe verhängt, bei deren Vollzug der Mann – es war der Vater der beiden vermeintlichen Mörder – gestorben war. Er soll den Mann an einen Baum gefesselt und dort mehrere Tage lang ohne Wasser und Nahrung allein gelassen haben. Leider waren die vermeintlichen Thukydides-Mörder, die Rächer des Verstorbenen, nirgendwo zu finden, und niemand wusste etwas über diese Vorgänge. Wahrscheinlich handelte es sich um eines der zahllosen Märchen, die aus Lust am Fabulieren erfunden und manchmal sogar aufgeschrieben wurden. Alle Spuren führten ins Nichts. Ein zweiter Homer hätte mehrere Buch­ rollen mit diesen phantastischen Geschichten füllen können. Dennoch überredete mich Philesia immer wieder, weiter zu forschen. Aber eines Tages wurde es mir zu bunt – es waren schon fast zwei Jahre seit dem Verschwinden ihres Vaters vergangen –, und ich fuhr sie mit barschen Worten an: „Es ist alles aussichtslos. Wir können nur noch auf göttliche ­Zeichen h ­ offen.“ Aber mit dieser nicht wirklich ernst gemeinten Bemerkung erreichte ich nur, dass Philesia neue Hoffnung schöpfte: „Warum fragen wir dann nicht einfach das Orakel in Delphi? Die Priesterin wird uns gewiss eine Antwort geben. Oder etwa nicht?“ Bei diesen Worten lächelte Philesia. Sie sah mich erwartungsvoll an. So ­hatte sie mich schon oft genug dazu gebracht, etwas zu tun, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte, während ich es für völlig sinnlos hielt.

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Das Orakel von Delphi Unter einem Orakel versteht man den Hinweis einer göttlichen Macht auf ein zukünftiges Ereignis oder die Bekundung eines göttlichen Willens. Auch der Ort, an dem ein Orakel erteilt wurde, wurde mitunter als Orakel bezeichnet. Das gilt auch für das „Delphische Orakel“, wo der Gott Apollon mit Hilfe einer Priesterin – in Delphi war es die Pythia – die Fragen der Menschen mehr oder weniger klar beantwortete.155 Die Orakelstätte in Delphi war eine Erdspalte, über der der große Apollontempel errichtet war. Unmittelbar über der Erdspalte stand ein großer Dreifuß mit einer durchlöcherten Metallpatte. Das war der Platz der Priesterin, die auf einem Sessel sitzend und berauscht von den aus der Erdspalte aufsteigenden Dämpfen die Orakelsprüche erteilte. Diese waren meist vieldeutig und dunkel; sie mussten also erklärt werden. Das war nicht nur Gottesdienst, sondern auch eine einträgliche Geldquelle. Die Gebühren und Spenden der Menschen, die Antworten auf ihre Fragen begehrten, flossen reichlich. Zum Personal der Orakelstätte gehörten zahlreiche Menschen mit unterschiedlichen Funktionen und Aufgaben: Priester und Ausleger der Sprüche, ferner dienstbare Geister, die für den Betrieb der Einrichtung erforderlich waren. Berühmt waren die Orakel, die den lydischen Königen erteilt wurden, wie Herodot erzählt. So wurde z. B. die Königsherrschaft des Gyges vom delphischen Orakel bestätigt (Herodot 1, 13). Er sandte daraufhin wertvolle Weihgeschenke nach Delphi. Ein besonderer Verehrer des delphischen Orakels war Kroisos, der diesem vor allen anderen Orakeln in Griechenland und in Nordafrika nach sorgfältiger Prüfung den Vorzug gab. Denn er war davon überzeugt, dass es nur in Delphi ein wahres Orakel gebe (Herodot 1, 48, 1). Er stellte auch die schicksal­ hafte Frage, ob er gegen die Perser zu Felde ziehen solle (Herodot 1, 46, 3). Zur Sicherheit wandte er sich damit nicht nur an Delphi, sondern auch an das Orakel des Amphiaraos: „Kroisos, der König der Lyder und anderer Völker, ist davon überzeugt, dass dies die einzigen wahren Orakel auf der Welt sind, und hat euch Geschenke geschickt, die euch für eure Weissagungen angemessen belohnen. Er fragt euch jetzt, ob er gegen die Perser zu Felde ziehen und dazu ein Heer von Verbündeten sammeln soll.“ Das war die Frage. Beide Orakel gaben dieselbe Antwort. Sie verkündeten Kroisos, wenn er gegen die Perser zu Felde ziehe, werde er ein großes Reich zerstören. Außerdem empfahlen sie ihm, sich mit den mächtigsten griechischen Städten in Freundschaft zu verbünden (Herodot 1, 53). Kroisos freute sich über diesen Spruch. Denn er war der festen Überzeugung, dass er das Königreich des Kyros vernichten werde. Wie immer hat Kroisos das Orakel und alle seine Diener für diese vermeintliche Gewissheit reich beschenkt.

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Orakel oder Geheimpolizei? „Wir können es versuchen, Philesia; aber die Antwort des Orakels hängt ganz von der Formulierung der Frage ab. Sonst bekommen wir nur die üblichen Sprüche wie ‚Erkenne dich selbst!‘, ‚Bedenke, dass du ein sterblicher Mensch bist!‘, ‚Halte Maß!‘, ‚Nichts übertreiben!‘ und so weiter.“ Sie wunderte sich über meine ärgerlich klingenden Bemerkungen. „Es passt aber gar nicht zu dir, Xenophon, dass du dich über unseren erhabenen Phoibos Apollon lustig machst!“ Sie war wieder einmal den Tränen nahe. Ich wollte ihr auf keinen Fall wehtun oder gar die Götter herausfordern. Sie hatte nur den tieferen Sinn meiner respektlosen Worte nicht verstanden. Selbst das delphische Orakel – das wollte ich ihr sagen – hätte uns jetzt nicht mehr weiterhelfen können. Aber sie gab nicht auf: „An wen können wir uns denn sonst noch wenden?“ Ich zuckte mit den Achseln und sagte ärgerlich, ohne meine eigenen Worte wirklich ernst zu meinen: „Fragen wir doch einfach die Geheimpolizei des persischen Großkönigs, die Spürhunde des Artaxerxes, die Augen und Ohren des Herrschers!“156 Erschrocken und ungläubig sah sie mich an. Ich wollte ihr auf diese Weise nur zu verstehen geben, dass ich die Suche nach ihrem Vater für völlig aussichtslos hielt. Aber plötzlich schien mir diese Überlegung gar nicht so abwegig zu sein. Ja, wenn es überhaupt jemanden gab, der etwas wissen könnte, dann die „Augen und Ohren“ des persischen Königs, der – so hieß es – über die beste Geheimpolizei der Welt verfügte und seine Agenten überall hatte. Sie hatte meine Worte von Anfang an ernst genommen. „Das ist doch noch eine Möglichkeit“, stieß sie freudig hervor. „Lass es uns versuchen. Aber wie?“, fragte sie mich erwartungsvoll. „Keine Ahnung. Ich weiß auch nicht, wer uns da weiterhelfen könnte.“ Philesia sagte nichts weiter. Sie war traurig, und das berührte mich sehr. In den kommenden Wochen und Monaten sprachen wir nicht mehr darüber.

Eine Bienenkönigin Philesia war Charikleia eine große Hilfe und wurde überall gebraucht. Alle liebten sie. Sie sorgte für die Ordnung im Haus, kümmerte sich um die Vorräte und die Disziplin der Mägde und Knechte. Sie war ungemein klug und tüchtig. Sie überwachte unter anderem die Zubereitung des Brotes und leitete die jungen Mädchen dazu an, den Webstuhl zu bedienen. Sie achtete darauf, dass diese sich möglichst häufig an der frischen Luft bewegten, und kümmerte sich sogar

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um die kleinen Kinder unserer Landarbeiter. Wenn jemand einmal krank war, wusste sie Rat. Kurz: Sie erfüllte alle Aufgaben, die die Götter der Frau eines Gutsbesitzers auferlegen.157 Mein Vater liebte sie wie seine eigene Tochter. Einmal verglich er sie – ich war zufällig in der Nähe und hörte seine Worte – mit einer Bienenkönigin. Daraufhin fragte sie ihn erstaunt: „Was meinst da damit? Was hat meine Arbeit mit den Pflichten einer Bienenkönigin zu tun?“158 „Das ist ganz einfach“, erwiderte Gryllos schmunzelnd. „Eine Bienenkönigin ist wie eine gute Hausfrau. Sie achtet darauf, dass die Bienen nicht faulenzen. Sie leitet sie an und schickt sie zur Arbeit. Sie weiß genau, was jede einzelne Biene mitgebracht haben muss, wenn sie von ihrem Flug zurückkommt. Sie nimmt es in Empfang und verwahrt es sorgfältig, bis es gebraucht wird. Sie überwacht den Bau der Waben und sorgt dafür, dass die Brut aufgezogen wird.“ „Dann muss ich also wie eine Bienenkönigin im Haus bleiben, während die anderen auf den Feldern arbeiten?“ „Ja, so ist es. Du schickst die Menschen, die draußen ihre Aufgaben erfüllen müssen, zur Arbeit, jeden an seinen Platz, und beaufsichtigst die anderen, die ihre Pflichten im Haus zu verrichten haben. Du sorgst dafür, dass die geernteten Früchte sachgemäß verarbeitet werden, legst Vorräte an und achtest darauf, dass diese nicht nach wenigen Wochen aufgebraucht sind und dass nichts verdirbt. Du sorgst dafür, dass aus der Wolle der Schafe am Ende die nötige Kleidung hergestellt wird …“ „Das alles wäre sicherlich nicht möglich“, warf Philesia ein, „wenn die Leute auf den Feldern und in den Ställen nicht fleißig arbeiten würden.“ „Ja, diese Arbeit wäre aber auch sinnlos und nutzlos, wenn nicht jemand da wäre, der die geernteten und gewonnen Erträge vernünftig verarbeitete und sorgfältig verwahrte“, entgegnete Gryllos freundlich. Dabei stand ihm das Bild meiner Mutter Diodora vor Augen. Er schwieg ein Weilchen mit einem stillen Lächeln. Aber dann fuhr er mit fester Stimme fort: „Das kommt dir vielleicht ziemlich schwierig und mühselig vor, liebe Philesia. Aber es gibt hier doch auch manche Tätigkeit, die viel Freude macht. Neulich erzählte mir Charikleia voller Bewunderung, wie du den jungen Mädchen beibringst, das Spinnrad zu bedienen, und ihnen zeigst, wie man gutes Brot backt, oder den Kindern Geschichten erzählst und Lieder vorsingst.“ Es kam mir so vor, dachte ich auf einmal, dass Gryllos diese Worte nicht nur an Philesia gerichtet hatte. Sie waren auch für mich bestimmt. Charikleia jedenfalls schien dies so zu verstehen und sah mich mit einem vielsagenden Lächeln an. „Warum lächelst du so?“, fragte ich Charikleia. „Ja, hast denn gar nicht verstanden, warum dein Vater in deiner Gegenwart so viele schöne Worte zu Philesia gesagt hat?“

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Charikleias Bemerkung brachte mich einen Augenblick lang aus der Fassung. „Wie meinst du das, Charikleia?“ Aber ohne ihre Antwort abzuwarten, ging ich schnell hinaus und rief nur noch: „Ich muss los. Es wird heute bestimmt spät.“ Der alte Lykos wartete schon mit meinem gesattelten Pferd. Er half mir beim Aufsitzen. Auf dem Weg nach Athen dachte ich über das Gespräch zwischen Gryllos und Philesia und über Charikleias Worte nach. Gewiss – ich mochte Philesia. Sie war nicht nur tüchtig, sondern auch sehr schön. Daran gab es keinen Zweifel. Aber Thukydides hatte sie mir gewissermaßen anvertraut, und ich hatte ihm versprochen, sie zu beschützen und für sie zu sorgen. Seitdem stand eine unsichtbare Wand zwischen uns. Das blieb Philesia nicht verborgen. „Was hast du eigentlich, Xenophon?“, fragte sie einmal. „Habe ich dir ­etwas getan? Warum bist du so abweisend? Sag es mir doch bitte! Ich verstehe es nicht.“ Ich fand nur eine nichtssagende Antwort: „Es ist gar nichts. Das kommt dir nur so vor.“ Ich mied ihre Nähe, so gut es ging. Denn ich wollte das Vertrauen, das ihr Vater in mich gesetzt hatte, nicht enttäuschen. Bei der Suche nach Thukydides half ich ihr nur noch mit halbem Herzen. Aber dann erinnerte sie mich eines Tages wieder an die „Augen und Ohren“ des Großkönigs: „Du wolltest da doch einmal nachfragen …“ In Wirklichkeit wollte ich es nicht. Aber da kam plötzlich der Brief meines Freundes Proxenos aus Theben.159 Es war im Spätherbst des Jahres, in dem Xenainetos das Amt des Archons innehatte, und etwa ein Jahr, bevor Sokrates starb.160

Der Brief Diogenes Laërtius (um 250 n. Chr.) schreibt in seinem Werk „Leben und Meinungen berühmter Philosophen“ (2, 49 f.): „Xenophon gewann die Freundschaft des Kyros auf folgende Weise: Er hatte einen engen Freund mit Namen Proxenos, einen Boioter, einen Schüler des Gorgias aus Leontinoi, der mit Kyros befreundet war. Während Proxenos als Gast des Kyros in Sardes war, schickte er Xenophon einen Brief nach Athen, um ihn dazu einzuladen, ein Freund des Kyros zu werden. Xenophon zeigte Sokrates den Brief und fragte ihn um Rat. Dieser schickte ihn gleich nach Delphi. Dort sollte er den Gott um Rat fragen. Er ging in den Tempel, fragte aber nicht, ob er die Reise überhaupt antreten dürfe, sondern nur wie er reisen solle. Darüber war Sokrates zwar ungehalten, empfahl ihm aber dann doch zu reisen. So kam er tatsächlich zu ­Kyros und wurde ebenso wie Proxenos sein Freund. Was sonst noch auf der Expedi­

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tion und vor allem auf dem Rückmarsch passierte, erzählte er uns ausführlich (in seiner Anabasis).“ Bei Xenophon heißt es dann: „Im Heer (des Kyros) befand sich auch ein gewisser Xenophon aus Athen. Er war weder als Feldherr noch als Hauptmann noch als einfacher Soldat mit dabei, sondern Proxenos, mit dem er seit langer Zeit in Gastfreundschaft verbunden war, hatte ihn von zu Hause holen lassen und ihm, wenn er komme, die Freundschaft des Kyros zu vermitteln versprochen.“161 Proxenos war sehr ehrgeizig. Er hatte von Jugend an den festen Willen, große Taten zu vollbringen. Deshalb wurde er auch Schüler des Sophisten Gorgias, dem er ein gewaltiges Honorar für seine Ausbildung gezahlt hatte. Um Macht ausüben zu können, suchte er die Nähe der Mächtigen. So ließ er sich auch auf die zunächst noch unbekannten Pläne des persischen Prinzen ein, in dessen Diensten er sich einen Namen machen und viel Geld verdienen wollte. Aber er versuchte niemals, eines seiner Ziele mit unlauteren Mitteln zu erreichen. Er war vielmehr davon überzeugt, dass man seine Absichten nur auf anständige Weise verfolgen dürfe. Ob er eine Führerpersönlichkeit war, ist fraglich.162 Denn er war nicht besonders durchsetzungsfähig, und seine Soldaten tanzten ihm mitunter auf der Nase herum. Dass Xenophon mit Sokrates über den Inhalt des Briefes sprach, erklärt er selbst mit der politischen Brisanz einer Reise nach Persien. Er könne, befürchtete Sokrates, durch die Nähe zu Kyros Schuld gegenüber der Stadt Athen auf sich laden, weil doch allgemein bekannt sei, dass der persische Prinz die Lakedämonier in der Schlussphase des Peloponnesischen Krieges tatkräftig unterstützt hatte.163 Die Sorge des Sokrates, dass Xenophon so kurz nach dem Krieg Schwierigkeiten bekomme, wenn er mit einem prominenten Perser, der noch dazu der Bruder des Großkönigs war, in Kontakt trete, war zweifellos nicht unbegründet. Allerdings dürfte seine Entscheidung, nach Persien zu gehen, für sein ­späteres Verbannungsurteil nicht ausschlaggebend gewesen sein.

Die Entscheidung „Philesia, Philesia“, rief ich aufgeregt, „es gibt etwas Neues!“ Ich lief mit dem Brief in der Hand zu ihr. Sie dachte, ich hätte endlich eine Spur ihres Vaters gefunden. Aber ich konnte ihr nur sagen, was mir Proxenos angetragen hatte. Etwas umständlich erklärte ich ihr: „Ich habe ihn während unseres gemeinsamen Studiums in Athen kennengelernt. Seitdem sind wir Gastfreunde, das heißt, dass ich sein Gast sein kann, wenn ich in Theben bin. Er kann das auch bei mir sein, wenn er hier ist. Er schreibt, ich soll zu ihm nach

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Sardes kommen. Er will mich Kyros, dem jüngeren Bruder des Großkönigs, vorstellen und mir dessen Freundschaft vermitteln.“ „Das ist ja wunderbar. Dann kannst du doch auch …“ „Ja, genau. Das kann ich … Wenn alles gutgeht, werde ich mit Kyros’ Hilfe etwas über deinen Vater erfahren.“ „Kannst du mich mitnehmen?“, fragte Philesia aufgeregt. „Warum eigentlich nicht? Aber das müssen wir uns gut überlegen.“ Ich vermied eine klarere Antwort. In Wirklichkeit hatte ich nicht die ­Absicht, sie nach Persien mitzunehmen. Ich erwartete eine spannende und vielleicht sogar gefährliche Reise, die im Peiraieus begann, in einer mehrtägigen Schiffsreise nach Ephesos führte und dann noch etwa drei Tage über Land ging, bis wir Sardes erreicht hatten.164 Ich wollte ungebunden sein und unterwegs keine Verantwortung für einen anderen Menschen übernehmen müssen – schon gar nicht für Philesia. Wenn ich sie mitnähme, so dachte ich, würde sie von mir erwarten, dass ich alle meine Tage in Sardes damit verbringe, nach Spuren ihres Vaters zu suchen. Gewiss – das hatte ich auch vor, aber nicht nur! Der persische Prinz sollte eine faszinierende Persönlichkeit sein. Proxenos sprach so begeistert von diesem außergewöhnlichen Menschen, dass auch ich ihn unbedingt sehen und möglichst viel Zeit in seiner Gegenwart verbringen wollte, ließ ich Philesia wissen. „Das verstehe ich“, erwiderte sie betont kühl. Sie ahnte, dass mir Kyros im Augenblick wichtiger war als sie und ihr Vater. Sie wollte auch gar nicht mehr, dass ich ihr den Brief weiter vorlas. „Aber Philesia, was hast du denn?“ „Ich spüre schon seit längerer Zeit, dass du nicht mehr richtig bei der Sache bist, bei unserer Sache. Manchmal glaube ich sogar, dass dir das alles völlig gleichgültig geworden ist. Mit den Dreißig Tyrannen ist dir wohl auch deine Zuneigung zu mir abhandengekommen.“ Sie war tief enttäuscht. Dass sie die Gefühle, die ich für sie empfand, mit dem Sturz der Dreißig verknüpfte, irritierte mich etwas. Das hatte doch wirklich nichts miteinander zu tun! Natürlich ließ mich der Machtwechsel in Athen nicht unberührt. Die Führung war eine andere, und wir wurden nicht mehr gebraucht. Unser Dienst bestand nur noch darin, die Pferde zu versorgen. Aber die allgemeine Amnestie gestattete wenigstens einen äußerlich fast schmerz­ losen Neuanfang. Zumindest sah ich es so. „Was hat der Machtwechsel in Athen mit unseren Gefühlen füreinander zu tun?“, fragte ich sie. „Wenn du dein Gesicht gesehen hättest, als ich sagte, ich wünschte mir, dich nach Sardes zu begleiten…!“

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Sie hatte mich durchschaut. Es stimmte, was sie vermutete. Ehrlich gesagt – Thukydides interessierte mich zur damaligen Zeit überhaupt nicht mehr. Ohne es zu wollen, hatte mich der Gorgiasschüler dazu gebracht, alles, was mir bisher wichtig war, hinter mir lassen zu wollen. Philesia, Thukydides, die Buchrollen in ihrem Versteck unter meinem Bett, Gryllos, Charikleia. Nachts konnte ich vor Aufregung nicht mehr schlafen. Immer wieder traten mir Sardes, Kyros, Proxenos, Persien vor Augen. Dann kamen mir auch wieder Bedenken. Mein Vater würde hoffentlich verstehen, wenn ich ihn für einige Wochen oder Monate allein ließe. Er hatte doch Philesia als tüchtige Helferin im Haus, und Charikleia war auch noch da. Die beiden Frauen hatten alles im Griff. Aber wie würde man es aufnehmen, wenn ich als Angehöriger der athenischen Reiterei die Freundschaft eines persischen Satrapen suchte? Zwischen Athen und dem persischen Reich hatte es nie einen richtigen Frieden gegeben. Schließlich hatte Persien zur athenischen Katastrophe im letzten Krieg erheblich beigetragen. Ohne die gewaltigen finanziellen Mittel der Perser hätten die Spartaner den Sieg nicht erringen können. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass damals viele Verfechter der Demokratie in Athen nur darauf warteten, einem „Sympathisanten“ der Dreißig, wie man mich und meine Kameraden nannte, etwas anzuhängen oder ihn wenigstens loszuwerden, weil sie ihn wegen der Amnestie nicht vor Gericht stellen konnten. In Sardes brauchte ich nicht mehr in die finsteren und oft hasserfüllten Augen meiner athenischen Mitbürger zu blicken. Das war unerträglich, und ich bewegte mich nur aus ganz dringendem Anlass in der Öffentlichkeit. Weil man nach dem Umsturz für uns keine wirkliche Verwendung mehr hatte, traten die meisten von uns in spartanische oder persische Dienste. Es war tröstlich, dass wir ihnen hochwillkommen waren. Doch deshalb wurden wir eben auch ganz unverblümt als Vaterlandsverräter beschimpft. Es war also Wasser auf die Mühlen der Demokraten, wenn ich nach Sardes ging. Man würde mir vorwerfen, dass ich nicht nur meinen Vater und unsere Landwirtschaft, sondern auch das Vaterland im Stich lasse! Denn ich würde mit dem Feind paktieren. Schließlich könnte es sogar dazu kommen – was ich allerdings am Anfang meines Persien-Abenteuers nicht ernsthaft in Erwägung zog –, dass man mich in Abwesenheit zu lebenslänglicher Verbannung verurteilen würde. Beweise für meine große Liebe zu Persien gab es genug. Man brauchte diese elenden Sykophanten165 nur gut zu bezahlen, und schon stand ich als Verräter da. Die Gründe für oder gegen das persische Abenteuer hielten sich die Waage, wie mir schien. Aber Philesia und mein Vater stellten sich mir nicht in den Weg. Die Entscheidung drängte. Ich konnte Proxenos nicht mehr lange hinhalten. In Athen fand ich meinen verehrten Lehrer Sokrates auf dem Markt. Er war wie

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üblich umringt von einer größeren Zahl zumeist junger Männer. Sokrates sah mich sofort und kam auf mich zu: „Wen sehe ich denn da? Xenophon, mein lieber Xenophon! Das ist ja schön, dich endlich einmal wiederzusehen. Was machen Ökonomie und Landwirtschaft, die Pferdezucht und die Jagd mit den Hunden? Und dann vor allem die Reitkunst?“

Xenophons „Kleine Schriften“ Als Sokrates diese Fragen stellte, hatte Xenophon zwar die erwähnten Interessen, aber darüber noch keine Schriften verfasst. Seine „Kleinen Schriften“ entstanden erst zwischen 390 und 355 v. Chr. Im Oikonomikos (nach 390) gibt Xenophon ein sokratisches Gespräch über Privatökonomie und Landwirtschaft wieder. Hier findet man Ratschläge für die Leitung eines landwirtschaftlichen Betriebs. Zunächst geht es um die Pflichten der Hausfrau und insbesondere um ihre Verantwortung für die Ordnung im Haus und die geschickte Verteilung der Arbeit. Zu den Pflichten des Hausherrn gehören u. a. die Rechtsprechung über die Sklaven und die Auswahl geeigneter Mitarbeiter. Danach konzentriert sich das Gespräch auf spezielle landwirtschaftliche Fragen. Ausführlich beschreibt der Autor die Führungsqualitäten des Gutsherrn, die sich von denen eines Feldherrn kaum unterscheiden. Die Verbindung landwirtschaftlicher und militärischer Tüchtigkeit ist Xenophons Bildungsideal. Der Hipparchikos (verfasst nach 362) gibt einen Überblick über die Pflichten eines Reiterführers. Es handelt sich nicht um eine systematische Lehrschrift, sondern um eine Sammlung von Regeln für den Praktiker: Auswahl der Pferde und Reiter für den Kampfeinsatz, Aufstellung der Truppe, taktische Anweisungen, Kriegslisten, Behandlung der Soldaten, Verteidigung einer Stadt, Ratschläge zur Vergrößerung der attischen Reiterei, Hinweise auf die Notwendigkeit der Einhaltung kultischer Vorschriften. Der Ratgeber für Kavalleristen „Über die Reitkunst“ (ca. 360) befasst sich mit Pferdekauf und Pferdehaltung einschließlich der Beschaffenheit des Stalles, der Pferdepflege und Dressur, die das Pferd auf den militärischen Einsatz vorbereitet. Der Autor geht u. a. auf Lauf- und Sprungtraining, Bergauf- und Bergabreiten und Kampftechniken ein. Die Schrift beweist sehr große Sachkenntnis und tierpsychologisches Einfühlungsvermögen. In den „Vorschlägen zur Beschaffung von Geldmitteln oder über die Staatseinkünfte“ (nach 355 verfasst) untersucht Xenophon die Frage, wie Athen trotz des Verzichts auf seine Expansionspolitik seine wirtschaftliche Versorgung ­sicherstellen kann. Er beschreibt die Ressourcen Attikas, weist auf die Nütz-

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lichkeit der Metöken (Ausländer) hin und macht Vorschläge für die Aufhebung ihrer Diskriminierung. Er äußert Überlegungen zur Erweiterung von Schifffahrt und Handel, zur Intensivierung der Silberförderung und zur Verstärkung einer Investitionspolitik in Hochkonjunkturzeiten. Die Schrift ist ein frühes Zeugnis für die Entwicklung wirtschaftlichen Denkens in der Politik.

Eine kurze Reise nach Delphi Sokrates’ Anspielung auf meine Interessen war für mich nicht besonders schmeichelhaft. Denn der Philosoph nahm diese Tätigkeiten eigentlich gar nicht ernst. Bei jeder nur denkbaren Gelegenheit machte er sich über körper­ liche Arbeit und technisches Können lustig. Das verletzte mich umso mehr, weil auch die anderen keine Gelegenheit ausließen, ihren Spott über meinen „Körperkult“ – wie sie es nannten – auszugießen. Der Einzige, der auf meiner Seite zu sein schien, war der leider mitunter recht zänkische Antisthenes. Der vornehme und ausgesprochen arrogante Platon konnte mich übrigens auch deshalb nicht leiden. Aber er war damals gerade nicht da. Sokrates nahm mich natürlich in Schutz, aber wahrscheinlich nicht aus innerer Überzeugung, sondern weil ihm das Benehmen der reichen Jünglinge nicht gefiel. Er fügte noch hinzu: „Unser Xenophon versteht es nicht nur, den Pflug zu führen und Pferde zu bändigen; er ist auch ein treuer Verehrer des Herakles. Man möchte fast sagen – ein zweiter Herakles, der sich für ein Leben in Mühe und Arbeit entschied. Ihr kennt doch alle die Erzählung des weisen Prodikos von dem jungen Herakles an der Weggabelung? Eine großartige Geschichte!“166 Dieses Mal blieben die spöttischen Bemerkungen meiner „Mitschüler“ aus. Niemand lachte. Man warf mir nur finstere Blicke zu. War es vielleicht Eifersucht? Weil Sokrates sich sichtlich über meine Ankunft gefreut hatte? Er umfasste meine linke Schulter und sagte nur leise zu mir: „Lass uns ein paar Schritte gehen!“ Ich erwähnte sofort den Brief meines Freundes Proxenos. Sokrates war nicht überrascht. „Ich habe schon von den Reizen des jungen Prinzen gehört. Auch ich würde ihn gern einmal sehen und mit ihm diskutieren. Aber du weiß ja, ich reise nicht gern in der Welt herum. Nur wenn ich meine Pflichten als Hoplit zu erfüllen habe.“ Er lächelte bei diesen Worten. Dann aber wurde er sehr ernst: „Kannst du dir nicht vorstellen, dass man es dir in Athen übelnimmt, wenn du nach Persien reist, um ein Freund des Kyros zu werden? Du weißt doch, dass der Perser die Lakedämonier im Krieg gegen Athen unterstützt hat?“ „Ja, ich weiß. Aber ich führe doch nichts gegen meine Vaterstadt im Schilde. Das wäre völlig abwegig. Mich faszinieren die Perser, und ich möchte die ­Chance wahrnehmen, eine neue Welt kennenzulernen.“

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„Das verstehe ich schon, lieber Xenophon. Ich rate dir aber sehr, bevor es ernst wird, nach Delphi zu gehen und den Gott wegen deines Vorhabens zu befragen. Ich wünsche dir von ganzem Herzen, dass alles gutgeht.“ Sokrates wandte sich rasch ab. Ich sah ihm nach, bis er in der Menge ­verschwand. Wieder zu Hause angekommen, erklärte ich meine Absicht. Ich wollte mich unverzüglich auf den Weg nach Delphi begeben und den Rat des Gottes ein­ holen. Mein Vater murmelte nur: „Hoffentlich rät er dir, zu Hause zu bleiben!“ Philesia schwieg. Sie wünschte sich aus dem bekannten Grund nichts sehn­ licher als die Zustimmung des Orakels. Am nächsten Morgen ritt ich allein, aber mit einem zweiten Pferd an der Hand nach Nordwesten. Delphi liegt in Phokis am Fuß der Phädriaden, die zum Parnassos gehören. Über die Heilige Straße gelangt man zum Apollontempel. Meine Frage hatte ich schriftlich formuliert. So war es üblich: „Welchem Gott soll ich opfern, um seine Unterstützung zu bekommen? Zu welchem Gott soll ich beten, damit meine bevorstehende Reise nach Persien gut und glücklich verläuft und ich heil zurückkomme?“ Ich suchte den zuständigen Priester auf und überreichte ihm das zusammengerollte und versiegelte Blatt mit meinen Fragen. Zugleich übergab ich ihm die übliche Geldspende. Glücklicherweise war ich zu einem günstigen Zeitpunkt im Tempel eingetroffen. Ich brauchte nur zwei Tage auf die Antworten des Gottes zu warten. Anschließend vollzog ich die vorgeschriebenen Opferhandlungen: Ich zog das Los, mit dem die Reihenfolge der Fragesteller geregelt wurde, und hatte Glück, denn ich kam recht bald an die Reihe. Der Priester nannte mir – ebenfalls schriftlich – den Namen des Gottes, zu dem ich zu beten hatte. Es war Zeus Basileus, der Beschützer der Polis. Sofort nach meiner Rückkehr in Athen suchte ich Sokrates auf und berichtete ihm von dem Orakel. Der Philosoph war sichtlich verärgert darüber, dass ich nicht gefragt hatte, ob ich überhaupt reisen dürfe. „Da du nun so gefragt hast, wie du gefragt hast, musst du tun, was der Gott befohlen hat.“167 Es tat mir leid, dass ich den Unmut des verehrten Meisters geweckt hatte. Aber daran war nun nichts mehr zu ändern. Ich vollzog weisungsgemäß das Opfer für Zeus Basileus. Ich habe diese Episode aus einem bestimmten Grund später in meine ­Anabasis eingefügt. Denn ich wollte vermeiden, dass man Sokrates für meine Entscheidung verantwortlich machen konnte. Niemand sollte jemals behaupten können, Sokrates habe mich zum Freund der Perser und der Spartaner gemacht!168

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Abschied Gryllos selbst fuhr mich zum Hafen. Auch Philesia wollte zusehen, wie ich das Schiff bestieg. Ich hatte nur wenig Gepäck, mietete mir aber einen Träger. Er legte meine Sachen an eine Stelle im überdachten Heck des Segelschiffes, die ihm der Kapitän angewiesen hatte. Zahlreiche Amphoren – es waren wohl zweitausend Stück – waren im Bauch des Schiffes mit Stricken festgezurrt. Sie standen in stabilen Holzgerüsten, hätten also auch ohne Stricke nicht umkippen können. Vermutlich enthielten sie Olivenöl oder Wein. Ich verabschiedete mich rasch von Philesia und meinem Vater. Beide sagten kein Wort mehr. Sie hatten Tränen in den Augen. Gryllos umarmte mich stumm. So tat er es immer, wenn ich ihn für längere Zeit verließ. Philesia griff nach meiner rechten Hand. Sie gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Ich atmete den Duft ihrer Haare und spürte ihre Traurigkeit. Es brach mir fast das Herz. „Ach, Philesia!“ Mehr brachte ich nicht heraus. Sie sollte nicht merken, wie gerührt ich war.

An Bord Außer mir kamen noch andere Passagiere an Bord. Die meisten waren in lange Mäntel gehüllt. Es waren finstere Gestalten darunter. Ob es persische Agenten waren? Jeder Einzelne bekam eine dicke Schilfmatte und sollte sich einen Schlafplatz suchen. Das war nicht besonders schwierig. Schnell fand auch ich einen Platz in respektvoller Entfernung von den vermeintlichen Agenten des persischen Großkönigs. Zwei Männer sprachen tatsächlich persisch miteinander. Meine Sprachkenntnisse waren damals noch nicht sehr ausgeprägt. Ich verstand also nur einzelne und für mich zusammenhanglose Wörter. Die beiden Perser hatten sich wohl aus geschäftlichen Gründen einige Wochen lang in Attika aufgehalten. Sie schienen mit dem Erfolg ihrer Geschäfte zufrieden zu sein. Einige Namen glaubte ich verstanden zu haben: Lysander, Kritias, Thrasybulos … Wahrscheinlich sprachen sie über die aufregenden Ereignisse der jüngsten Vergangenheit. Vielleicht waren sie auch in Athen gewesen, um die politische Lage zu erkunden, und jetzt auf dem Rückweg nach Susa, wo sie ihren Vorgesetzten über die Vorgänge zu berichten hatten. Erst am späten Nachmittag legte das Schiff ab. Philesia und Gryllos waren bestimmt längst zu Hause. Denn ich hatte nicht gewollt, dass sie warteten, bis das Schiff ablegte. Es war kühl. Ich wickelte mich in meinen langen Reisemantel

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und zog meinen Filzhut, den Petasos, tief ins Gesicht. Die breite Krempe ­schützte mich gegen den zunehmend stärker wehenden Westwind. In der Nacht fing es an zu regnen. Aber ich schlief bald fest und traumlos. Eine warme Frühlingssonne weckte mich.169 Ich aß ein Stück von dem Gerstenbrot, das mir Charikleia in die Reisetasche gepackt hatte. Die Perser waren wohl schon länger wach. Sie kauten lustlos an einem Stück Dörrfleisch und tranken irgendetwas aus einem Ledersack. Ich beobachtete sie unauffällig aus den Augenwinkeln. Sie schienen mich nicht zu beachten. Aber da konnte ich mir nicht sicher sein. Vielleicht gehörten sie wirklich zu den „Augen und ­Ohren“ des Großkönigs? Ob ich sie ansprechen sollte? Sie beherrschten gewiss die griechische Sprache. Sonst wären sie nicht nach Attika geschickt worden – aus welchem Grund auch immer. Ich brauchte noch den ganzen Tag, um mich meinen Mitreisenden zu nähern. Das war nicht so leicht. Als ich zwischen den Amphoren zu ihnen kroch, schauten sie mir belustigt zu. „Sei gegrüßt, fremder Mann aus Attika!“ Freudig überrascht hörte ich die Laute meiner Muttersprache. „Seid auch ihr gegrüßt, ihr Männer aus dem mächtigen Persien!“ Verlegen stellte ich die überflüssige Frage: „Wollt ihr auch nach Ephesos?“ „Wir wollen schon. Aber ob wir auch heil ankommen, wissen nur die Götter.“ Das Eis war gebrochen. Die scheinbar so finsteren Gesellen waren freundliche Leute. Sie freuten sich offensichtlich über die kleine Abwechslung auf einer ansonsten langweiligen Seereise. Mich störten nur die langen Dolche, die sie unter ihren Mänteln am Gürtel trugen. Aber auch ich beunruhigte sie wahrscheinlich mit meinem Krummsäbel, den ich vergeblich vor ihren Blicken zu verbergen suchte. Doch man ging eben nicht ohne einen angemessenen Schutz auf Reisen. Ein Säbel oder ein Dolch schreckte Räuber und Wegelagerer nachhaltiger ab als ein einfacher Wanderstock. „Bist du in Ephesos zu Hause, oder willst du noch weiter?“ War das ein Verhör? Sahen sie mir an, dass ich sie für Agenten des Großkönigs hielt? „Das ist kein Verhör“, sagte der Jüngere zu meiner Überraschung. „Wir sind keine Geheimagenten!“ Ich war sprachlos. Konnten die Männer Gedanken lesen? Natürlich nicht. Ich versuchte den Spieß umzudrehen und sie dazu zu bringen, sich vorzustellen: „Ich bin Xenophon aus Athen, der Sohn des Gryllos.“ Darauf der Ältere mit freundlicher Stimme:„Mich nennt man Autoboisakes. Ich stamme aus der Troas, genauer aus Dardanos am Hellespont. Wir sind Forschungsreisende im Auftrag unseres mächtigen Großkönigs. Wir tun also nichts anderes als euer berühmter Herodot aus Halikarnassos.“ Und der Jüngere: „Und ich heiße Bagaios aus Ephesos.“

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Herodot aus Halikarnassos Herodot aus Halikarnassos lebte von 484 bis etwa 430 v. Chr. Er kam aus einer bekannten karisch-griechischen Familie und beteiligte sich an den innenpoli­ tischen Kämpfen seiner Heimat, war u. a. an einer Verschwörung gegen den ­Tyrannen Lygdamis beteiligt, wurde verbannt und lebte längere Zeit auf der Insel Samos. Später kehrte er zurück und trug dazu bei, dass der Tyrann dann doch noch gestürzt wurde. Danach ging er nach Athen und hatte dort Verbindungen zu Perikles und dem berühmten Tragödiendichter Sophokles, mit dem er eng befreundet gewesen war. Herodot schrieb ein großes Geschichtswerk in neun Büchern. Er eröffnet sein Erzählwerk mit folgender Ankündigung: „Hier wird die Forschungsarbeit des Herodot von Halikarnassos dargestellt, damit die Taten der Menschen mit der Zeit nicht verloren gehen und die großen und bewundernswerten Leistungen, die sowohl die Griechen als auch die Barbaren erbracht haben, nicht in Vergessenheit geraten.“ In weitestgehend frei erfundenen wörtlichen und indirekten Reden im Rahmen der fortlaufenden Erzählung veranschaulicht Herodot seine Auffassung von den treibenden Kräften der Geschichte. So lässt er z. B. den griechischen Heerführer Themistokles vor der Schlacht bei Salamis im Jahr 480 sagen (8, 60g): „Wenn man einen vernünftigen Plan fasst, dann geht es fast immer gut aus. Wählt man aber einen unsinnigen, dann entzieht auch die Gottheit dem Denken der Menschen ihre Hilfe.“ Hier wird die Verwirklichung menschlicher Absichten von der Billigung durch die Götter abhängig gemacht: Diese lenken das Geschehen und unterstützen vernünftige Pläne; ansonsten aber herrschen sie nach nicht erkennbaren Regeln über die Welt. Herodot hatte nicht das Ziel, historische Fakten lückenlos aufzuklären und chronologisch zu fixieren. Er wollte den Gang der Geschichte ansprechend erzählen und zugleich ihren Sinn plausibel machen. Nicht selten musste er einräumen, dass sich die „Wahrheit“ des Ermittelten nicht beweisen lässt. Er versuchte auch in den novellistischen Teilen seines Werkes, seine Erkenntnisse über die Gesetzmäßigkeit geschichtlicher Abläufe anschaulich zu machen: Die Götter scheinen eine ausgleichende Gerechtigkeit zu gewährleisten, sind aber letztlich doch unkalkulierbar. Bei aller Offenheit für die Besonderheiten und Errungenschaften der fremden Völker bleibt es Herodots Überzeugung, dass den Athenern (nicht den Griechen insgesamt) in der Auseinandersetzung zwischen Persern und Griechen das historische Verdienst zukommt, die „Retter Griechenlands“ zu sein (7, 139). Denn die meisten Griechen waren nicht bereit, den Kampf der Freiheit gegen die Knechtschaft zu wagen, sondern blieben persisch gesinnt.

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Ein Beispiel für Herodots Berichterstattung ist seine Erzählung der Vorgänge, die zum Tod des Leonidas und der dreihundert Spartiaten führten (Historien 7, 201–233): Zunächst schildert er die militärische Lage. Die Griechen haben unter der Führung des Leonidas auf dem Thermopylenpass Stellung bezogen. Nördlich davon steht Xerxes; das Gebiet im Süden befindet sich noch in griechischer Hand. Unter Hinweis auf die Tatsache, dass der Angreifer kein Gott, sondern ein Mensch sei, der als Sterblicher eines Tages vom Gipfel seiner Macht stürzen würde, gewinnen die Griechen weitere Bundesgenossen. Leonidas zieht mit dreihundert ausgewählten Männern, die bereits Kinder hatten, wie es heißt, zu den Thermopylen. Laut Herodot sollte diese Maßnahme psychologisch wirken: Die Spartaner lassen Leonidas diese Stellung beziehen, damit die übrigen Bundesgenossen seinem Vorbild folgten und sich dem persischen König nicht kampflos ergäben. Der weitere Vormarsch des Xerxes veranlasst jedoch die Mehrheit der griechischen Truppen zum Rückzug, um weiter südlich eine Verteidigungslinie aufzubauen. Leonidas hingegen entschließt sich, die Stellung nicht aufzugeben, obwohl er genau weiß, dass er mit seinen Leuten nicht in der Lage ist, dem persischen Angriff standzuhalten. Der Perserkönig begreift das in seinen Augen unsinnige Verhalten der Spartaner nicht. Damaratos, der einstige spartanische König, der wegen seiner Perserfreundlichkeit abgesetzt worden war und am persischen Hof Asyl gefunden hatte, erklärt ihm ohne Umschweife: „Diese Männer sind gekommen, um mit uns um den Pass zu kämpfen, und ­darauf bereiten sie sich vor. Denn das ist so Sitte bei ihnen: Wenn sie vorhaben, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, dann schmücken sie ihr Haupt. Wisse aber: Wenn du diese Leute und die übrigen in Sparta unterwirfst, dann gibt es kein anderes Volk mehr unter den Menschen, das dir Widerstand leistet; denn jetzt greifst du das schönste Königreich in Griechenland und die tapfersten Männer an.“ Der persische König reagiert darauf mit Unverständnis; in seinen Augen ist die Standhaftigkeit der Spartaner nur ein Zeichen von Dummheit und Frechheit. Cicero (De legibus 1, 5) nennt Herodot später den „Vater der Geschichtsschreibung“. Von Herodot gingen in der Tat entscheidende Impulse aus. Denn er fand nicht nur eine literarische Form, in der sich Belehrung und Unterhaltung des Zuhörers verbinden ließen; er formulierte auch das Grundmotiv aller künftigen Geschichtsschreibung: die Erinnerung an die von den Menschen bewirkten Geschehnisse zu erhalten. Thukydides schließt sich zwar ausdrücklich Herodot an,170 distanziert sich aber in seinem Methodenkapitel (1, 22) entschieden von ihm, ohne ihn namentlich zu nennen: Er verzichtet ausdrücklich darauf, „hübsche Geschichten“ – wie Herodot – zu erzählen. Er will im Gegensatz dazu nüchterne Fakten liefern. Daher bekommt Herodot recht bald den Ruf, kein seriöser Historiker zu sein, und wird eigentlich nur noch in der Ethnogra-

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phie und in der Paradoxographie, der Kunst, unglaubliche Geschichten zu erzählen, ernst genommen. Heute sieht man in Herodot den wissbegierigen Weltreisenden und Journalisten, der seine Informationen durch Autopsie, durch Befragung der jeweils einheimischen Bevölkerung und durch Benutzung örtlicher Erzählungen gewinnt und mit eigenen Überlegungen, Urteilen und religiösen Überzeugungen anreichert. An einer ganz unspektakulären Stelle seiner Berichte aus Ägypten (2, 99, 1) schildert er seine journalistische Arbeitsweise: „Bisher habe ich meine Informationen durch persönliche Anschauung, eigenes Urteil und direkte Interviews gewonnen. Von jetzt an werde ich ägyptische Erzählungen wiedergeben, wie ich sie gehört habe. Doch auch dabei ist meine persönliche Anschauung mit im Spiel.“ Selbstverständlich war er sich der Tatsache bewusst, dass er mit Nachrichten, die er nicht selbst nachprüfen konnte, ein Element der Unsicherheit in sein Werk brachte. Aber er erklärt ausdrücklich (7, 152, 2): „Ich bin verpflichtet, das Berichtete zu berichten; es zu glauben, bin ich allerdings nicht verpflichtet, und diese Auffassung soll für meine gesamte Darstellung gelten.“

Was wissen die Perser über Thukydides? „Habt ihr Herodot noch kennengelernt?“, fragte ich aufgeregt meine persischen Reisebegleiter, obwohl ich wusste, dass er schon seit dreißig Jahren nicht mehr lebte. „Als Herodot in der griechischen Kolonie Thurioi in Unteritalien starb, war ich noch nicht geboren. Aber Autoboisakes …“ An seinen Begleiter gewandt fuhr er fort: „Die Frage solltest du beantworten.“ „Der Geschichtenerzähler“, sagte der Ältere, „war ein weitgereister Mann. Er kannte die ganze Welt: Asien, Ägypten, Griechenland und die Schlachtfelder unserer großen Kriege, das Land der Skythen, das Schwarze Meer, Thrakien, unser persisches Reich … In Athen hielt er Vorträge über seine Reisen. Dort konnte ich ihn hören. Da war ich gerade einmal fünfzehn Jahre alt. Ich durfte meinen Vater Tigranes nach Griechenland begleiten. Er war im Auftrag unseres damaligen Großkönigs Artaxerxes Makrocheir,171 dem Großvater unseres jetzigen Königs Artaxerxes Mnemon,172 in einer diplomatischen Mission unterwegs.“ Ich hörte staunend zu. Selbstverständlich ahnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass sein jüngerer Bruder Kyros ihn vom Thron stürzen wollte. „Ich bin jetzt sechzig Jahre alt“, fuhr der Perser fort, „und habe noch nie einen weiseren Mann als euren Herodot erlebt, weder einen Griechen noch ­einen Perser, wenngleich …“

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Ungeduldig unterbrach ich den Sohn des Tigranes. „Wenn du, Autoboisakes, Herodot, Perikles und Sophokles kanntest, dann ist dir doch wohl auch schon einmal unser Geschichtsschreiber Thukydides begegnet?“ „O, Schande!“, rief Bagaios dazwischen. „Jetzt reißt du eine tiefe Wunde auf!“ „Lass nur, Bagaios“, beruhigte ihn Autoboisakes milde lächelnd: „Ich will Xenophon gern antworten: Wenn ich an Thukydides denke, empfinde ich nichts als Trauer und Schmerz.“ „Was weißt du von ihm? Ist er etwa tot?“, stieß ich entsetzt hervor. „Nein, das nicht“, meinte der Perser. „Trauer überkommt mich, wenn ich daran denke, was ihm deine Vaterstadt antat: die zwanzig Jahre Verbannung und dann zuletzt die Bedrohung seines Lebens durch die radikalen Demokraten. Er hatte doch mit dem Regime der Dreißig überhaupt nichts zu tun. Sie ermöglichten ihm doch nur die Heimkehr aus Thrakien, damit er in Athen sein Werk über euren großen Krieg abschließen konnte.“ Dann kam er auf meine Frage zurück: „Ja, ich lernte ihn kennen, als ich vor fast vierzig Jahren das erste Mal in Athen war. Er ist etwas älter als ich. Vor dem Krieg trafen wir uns noch einmal mehr oder weniger zufällig. Er war bei dem Politiker Antiphon aus Rhamnus zu Gast, den er sehr mochte.173 Damals hörte ich von seiner schweren, aber glücklich überstandenen Krankheit. Ihr Griechen habt eben hervorragende Ärzte.“174 „Hast du denn auch von der Sache mit Amphipolis gehört?“ „Ja, selbstverständlich. Aber er war für das misslungene Unternehmen nicht verantwortlich. Deshalb hat man bei uns in Persien auch nicht verstanden, warum er nach der Eroberung von Amphipolis durch den legendären Lakedämonier Brasidas aus Athen verbannt wurde.“ „Warum bekam er denn sonst das Verbannungsurteil?“ „Ich glaube immer noch, die Athener wollten ihn einfach loswerden. Er hat zu viele Fragen gestellt und den Krieg von Anfang an so gründlich analysiert, dass die Athener die Wahrheit fürchteten. Er hieß bei uns auch der ‚Aufklärer‘. Das war gewissermaßen sein offizieller Titel am Hof unseres Großkönigs.“ „Stimmt es, dass er in den zwanzig Jahren seiner Abwesenheit von Athen häufig in Persien war?“, fragte ich neugierig. „Ja, er hat auch bei uns Ermittlungen über den Krieg angestellt. Er wollte alles über die Gründe, die Ursachen und die Folgen der Ereignisse herausfinden. Er muss eine Unmenge von Dokumenten und Papieren nach Thrakien geschafft haben! Unser Großkönig hat ihn immer unterstützt. Ich selbst hatte den Auftrag, ihm Informationen über alle möglichen Vorgänge zu geben. Er berichtete mir stets gern und ausführlich über den Fortgang seiner Arbeit.“ Dann schwieg er abrupt. Ich wollte aber noch mehr hören: „Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?“ „Ich bin ihm vor zwei Jahren in Athen begegnet. Die Dreißig waren noch an der Macht. Ich verhandelte wieder einmal im Namen unseres Großkönigs über

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die Zukunft der griechischen Städte an unserer westlichen Küste. Natürlich fragte ich ihn nach seiner Meinung und nach dem Stand seiner Arbeit. Er sagte damals nur, er brauche noch einige Wochen. Denn sein Material habe er beisammen.“ Auch wenn er kein Agent war, so verfügte Autoboisakes doch als langjähriger persischer Diplomat über die Informationen des Geheimdienstes. Das verstand sich von selbst. Aber wussten die Perser nicht doch noch mehr als dieser freundliche Diplomat? Bogaios schien auch jetzt wieder meine unausgesprochene Frage verstanden zu haben:„Die Augen und Ohren des Großkönigs wissen auch nicht mehr über Thukydides. Doch zu deiner Beruhigung: Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass er nicht mehr am Leben ist.“

Ankunft in Ephesos Anschließend sprachen wir nur noch über Belanglosigkeiten. Die weitere Fahrt war zwar beschwerlich, aber nicht unangenehm. Der leichte Westwind trieb uns langsam und ohne Zwischenfälle in weniger als vier Tagen nach Ephesos. Meine persischen Reisegefährten verabschiedeten sich von mir und stiegen in einen bereitstehenden Reisewagen. Vorher hatten sie mich noch förmlich eingeladen. Bei nächster Gelegenheit sollte ich nach Persepolis kommen und ihr Gast sein. Ich bedankte mich herzlich, konnte mir damals aber nicht vorstellen, jemals dorthin zu reisen. Die persische Kutsche war kaum abgefahren, als ein kleiner kräftiger Mann mit dunkler Hautfarbe vor mich hintrat und mich in griechischer Sprache ­fragte: „Herr, bist du Xenophon aus Athen?“ Ich nickte einigermaßen überrascht. Darauf erklärte er sofort: „Der thebanische General Proxenos schickt mich. Ich soll dich nach Sardes begleiten.“ Er warte schon seit drei Tagen. Auf allen Schiffen aus dem Peiraieus habe er nach mir gefragt. Ich wunderte mich: „Auf allen Schiffen? Wie viele waren es denn?“ „Na ja, zwei in drei Tagen“, antwortete er kleinlaut. Denn er fühlte sich bei einer gewaltigen Übertreibung ertappt. Ich ging nicht weiter darauf ein, fragte ihn aber nach seinem Namen. „Ich bin Xanthos, der Blonde. So jedenfalls nennt mich Proxenos.“ Dabei grinste er breit. Sein großer, runder Schädel war kahl geschoren. Zu sehen ­waren einige pechschwarze Stoppeln. Der kleine Blonde mit den schwarzen Haaren und der dunklen Haut gab mir zu verstehen, er habe eine Kammer für mich in einem großen Pandokeion gemietet. Dort könne ich die Nacht verbringen. Am nächsten Morgen solle es dann nach Sardes gehen. Wir würden wohl einige Tage unterwegs sein: „Aber für alles Notwendige ist gesorgt“, sagte er selbstbewusst.

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„Und wo wirst du heute Nacht bleiben?“, fragte ich Xanthos. „Mach dir keine Sorgen, Herr. Ich kenne eine Flötenspielerin. Sie nimmt mich gern für eine Achtelobole auf. Ein liebes Mädchen, das mich auch immer gern unter seine Bettdecke lässt, wenn ich noch einmal dasselbe darauflege“, sagte er breit grinsend. „Lass es dir gut gehen, Xanthos!“ „Vielen Dank, Herr.“ Xanthos begleitete mich noch in meine Herberge. Dann ging er eilig davon. Das Haus war völlig überfüllt. Es war dunkel und schrecklich laut. Das Zimmer mit dem Bett hatte keine Tür, sondern nur einen leichten und schon etwas zerschlissenen Vorhang, der mein Nachtlager vom Schankraum trennte. Ich hörte die Leute wild durcheinanderschreien. Sie riefen ständig dieselben Worte: „Mädchen, ich verdurste, bring mir noch einen Krug! Und hab dich nicht so!“ Mitunter hörte ich wie von Ferne die leisen, schmeichelnden Töne einer Doppelflöte. Ich dachte an Xanthos und seine Bettgenossin, das Mädchen für zwei Achtelobolen. Kurz bevor ich einschlief, hörte ich noch einen Mann sagen: „Kommt, wir holen den Geschichtenerzähler aus dem Bett! Er soll uns noch etwas von der schönen Witwe erzählen. Wir sind hier doch in Ephesos. Oder etwa nicht?“ „Hängt denn ihr toter Mann immer noch am Kreuz?“, hörte ich einen ­anderen fragen. „Wie? Ein Toter am Kreuz?“ „Ja, die Frau hat mit der Leiche ihres Mannes das Leben ihres Liebhabers gerettet.“ „Wie geht denn so etwas?“ „Sie saß schluchzend in der Grabkammer und wollte genauso mausetot sein wie ihr Mann. Das hörte der Wächter unter dem Kreuz eines frisch Hingerichteten. Er ging zu ihr in die Grabkammer und wollte sie trösten.“ „Trösten? Wie denn?“ „Na, ganz einfach: Sie war schon fast verhungert. Da brachte er ihr etwas zu essen. Sie wollte zuerst nichts anrühren. Dann nahm sie doch ein paar Bissen, und ihre Lebensgeister kehrten allmählich zurück. Ja, und dann hat er sie auf seine Weise weiter getröstet.“ „Was meinst du?“ „Mann, bist du blöd! Wie tröstet man denn eine junge Witwe?“ Alle ­brachen in ein schallendes Gelächter aus. „Das dicke Ende kommt aber noch.“ „Was ist denn passiert? Ist sie doch noch gestorben?“ „Nein! Aber um ein Haar hätte das kleine Abenteuer ihren Liebhaber das Leben gekostet!“

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Wieder lachten alle. Aber jetzt klang es schadenfroh. „Nein. Ich sagte doch nur ‚um ein Haar‘. Denn inzwischen war der Hingerichtete tatsächlich vom Kreuz verschwunden.“ „Wie hat er denn das geschafft?“ „Ganz einfach. Seine Angehörigen haben ihn heruntergeholt. Der Wächter war doch gerade mit der Witwe in der Gruft beschäftigt. Nach einiger Zeit kehrte er zum Kreuz zurück. Und da war das Kreuz genauso nackt wie die ­Witwe, als er sie getröstet verließ.“ „Ja, und dann?“ Alle warteten gespannt auf die Antwort. „Dann hat das verliebte Paar den toten Ehemann aus seinem Sarkophag gezerrt, ausgezogen und an das leere Kreuz gebunden – sozusagen als Ersatz für den Hingerichteten. Aber das wisst ihr doch schon.“ „Und das ist wirklich hier in Ephesos passiert?“ Anschließend legten sich alle zur Ruhe, und der Geschichtenerzähler brauchte nicht mehr geweckt zu werden.175

Weiter nach Sardes Am nächsten Morgen brachen wir nach Sardes auf. Xanthos hatte für alles gesorgt. In einem voll besetzten Wagen dauerte die Fahrt weitere drei Tage. Die Reisenden sprachen während der ganzen Zeit kaum miteinander. Man döste vor sich hin. Die Pferde mussten sich immer wieder ausruhen. Denn die Straße war vielerorts mit Steinen übersät. An manchen Stellen behinderten sogar dicke Felsbrocken die Weiterfahrt. In gewissen Abständen wurden die Pferde getränkt. Der Kutscher und sein Gehilfe spannten sie aus, um sie an eine Wasserstelle oder einen Bach zu führen. Wir konnten uns dann ein wenig die Füße vertreten. Der Winter war dort noch gar nicht richtig vorbei. Man spürte seine Kälte. Grauer, in sich zusammengesackter Schnee erinnerte an die Jahreszeit, in der man hier weder zu Fuß noch mit dem Pferdewagen vorankommen würde. Übernachtet haben wir Reisenden in schäbigen Zelten. Manchmal schneite oder regnete es. Glücklicherweise hatte ich meinen Mantel und meinen g­ roßen Hut. Am letzten Reisetag nahm ich ein göttliches Zeichen wahr176: Ich sah nicht weit vom Rand des Weges entfernt einen heftig schreienden Adler auf einem Stein sitzen. Unter uns Reisenden war zufällig ein Seher. Für ihn war der Vorgang ein bedeutsames Zeichen. Der Adler war schließlich der Vogel des Zeus. Er konnte also nicht auf ein alltägliches Ereignis hinweisen. Da ging es um mehr. Der Adler – so der Seher – verheiße Ruhm, aber auch gewaltige Anstrengungen. Denn der Vogel hatte große Mühe, einen Schwarm Krähen abzuweh-

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ren. Das Zeichen verheiße zwar Ruhm und Ehre, aber keinen materiellen Gewinn. Denn der Raubvogel fange seine Beute nur im Flug. Was wollte mir Zeus mit diesem Zeichen sagen? Eine überzeugende Antwort hätte ich nur bekommen, wenn ich ein Opfertier hätte schlachten können. Aber das hatte ich natürlich nicht zur Verfügung. So konnte ich mir nur meine eigenen Gedanken machen und hoffen, dass ich die verheißenen Schwierig­ keiten bewältigen würde. Auf materiellen Gewinn war ich sowieso nicht aus. Später sollte sich noch zeigen, dass mir die Götter, wie sie es von Anfang an getan hatten, durch ihre Zeichen immer wieder halfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Die alte Hauptstadt Sardes war die alte Hauptstadt des lydischen Reiches. Hier hatte einst der sagenhaft reiche und mächtige Kroisos geherrscht. Kyros der Große, der Gründer des persischen Reiches, hatte Lydien einst unterworfen, wie Herodot glaubhaft erzählt177: „Die Perser eroberten Sardes und nahmen Kroisos gefangen. Er war vierzehn Jahre König und wurde vierzehn Tage lang belagert. Dem Orakelspruch entsprechend hatte er ein großes Reich zerstört. Aber es war sein eigenes. Die Perser nahmen ihn gefangen und führten ihn zu Kyros. Dieser ließ einen großen Scheiterhaufen errichten und den besiegten König gefesselt hinaufsteigen und dazu noch zweimal sieben lydische Knaben, weil er die Menschen, den besten Teil der Kriegsbeute, irgendeinem Gott opfern oder auch nur ein Gelübde erfüllen wollte oder weil er wusste, dass der Lyder ein frommer Mann war. Denn er wollte ­w issen, ob einer der Götter den Besiegten davor bewahren würde, lebendig verbrannt zu werden. Das tat Kyros nun. Als Kroisos aber auf dem Scheiterhaufen stand, fiel ihm in seiner so unglücklichen Lage Solons Wort ein, das ihm ein Gott eingegeben hatte: Kein Mensch sei, solange er lebe, wirklich glücklich zu preisen. Als ihm dieses Wort eingefallen war, seufzte er tief – es war völlig ruhig um ihn herum – und stieß dreimal Solons Namen hervor. Kyros hörte es und ließ die Dolmetscher Kroisos fragen, wen er damit gemeint habe. Da erzählte er, wie der Athener Solon einmal zu ihm gekommen sei und seinen ganzen Reichtum unbeeindruckt betrachtet habe und dass er seine Geringschätzung nicht nur ihm, sondern auch allen Menschen gegenüber zum Ausdruck gebracht habe, die glaubten, glücklich zu sein. Alles sei nun eingetroffen, wie Solon es gesagt habe. Da besann sich Kyros, dass auch er nur ein solcher Mensch sei.“ Er wollte den Unglücklichen vom Scheiterhaufen herunterholen lassen. Das Feuer aber brannte schon. Deshalb flehte er Apollon um Hilfe an. Dieser ließ

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das Feuer verlöschen, indem er einen gewaltigen Regen schickte. In Zukunft hatte Kyros in Kroisos einen weisen Ratgeber.

Wiedersehen mit Proxenos In Sardes führte mich Xanthos in einen großen ummauerten Park. Ich war erstaunt. Zahlreiche Zelte standen auf beiden Seiten eines Weges, der zu einem stattlichen Palast führte. Vor den Zelten saßen Männer, die ihre Waffen putzten, Kleider und Schuhe flickten, Essen zubereiteten und dabei sehr laut mit­ einander redeten. Ich meinte auch Wörter meiner Muttersprache zu hören. Es war ein bunter Haufen von Menschen, die aus allen Gegenden der Welt hier zusammengekommen waren. Xanthos bemerkte mein Erstaunen. „Weißt du denn nicht, um was es hier geht?“, fragte er mich ungläubig. „Nein, Proxenos will mich dem persischen Prinzen vorstellen, von dem ich schon so viel gehört habe. Ich hoffe, dass er mir auch bei meiner Suche nach einem vermissten Athener helfen kann. Die Perser haben doch eine berühmte Geheimpolizei, die über alles unter der Sonne Bescheid weiß. Aber bring mich doch jetzt endlich zu Proxenos!“ „Jawohl Herr. Ich führe dich zu seinem Zelt.“ Er blieb vor einem besonders großen Zelt stehen, aus dem Stimmengemurmel nach draußen drang. Ich verstand zwar kein Wort, bemerkte aber eine große Aufregung. Xanthos meldete mich einem Posten, der vor dem Eingang stand. Gleich darauf erschien Proxenos. Er freute sich sichtlich, als er mich sah. Natürlich fragte er mich zunächst, wie es mir und meinem Vater gehe und wie meine Reise vom Peiraieus über das Meer nach Ephesos und die Fahrt von Ephesos nach Sardes verlaufen seien. „Ich werde uns gleich bei Kyros anmelden. Er freut sich, dich zu sehen. Ich werde nur noch die Männer in meinem Zelt fortschicken. Denn wir haben ­lange genug geredet.“ Er verabschiedete sich von den Leuten, die ich als Griechen erkannte. Es waren thebanische Offiziere.

In der Residenz des persischen Prinzen Proxenos und ich gingen anschließend in den Palast des persischen Prinzen. Xanthos eilte voraus, um uns anzukündigen. Wir setzten uns auf eine Bank und warteten. Nach einiger Zeit öffnete sich eine Flügeltür, und der jüngere

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Bruder des Großkönigs erschien. Er trug kein prächtiges Gewand, wie ich es von den Persern kannte, wenn sie Fremde oder Bittsteller empfingen. Er sagte nur: „Seid gegrüßt, ihr Männer aus Hellas. Ich freue mich, euch zu sehen, und heiße euch in unserer heiligen Stadt Sardes herzlich willkommen. Das ist also dein Freund aus Athen, der edle Xenophon.“ „Ja, mein Kyros. Er ist gerade angekommen und möchte dich begrüßen“, antwortete Proxenos. „Xenophon ist nicht nur ein hervorragender Reiter. Er ist auch ein erfahrener Pferdezüchter. Das Gestüt seines Vaters Gryllos ist bis nach Persien bekannt. Er kann uns in allem, was die Reiterei betrifft, ein guter Berater sein.“ „Ich freue mich immer“, sagte Kyros, indem er mich fest anblickte, „wenn ich jemandem begegne, der ein Fachmann in einer so wichtigen Kunst ist. Du wirst mir bestimmt ein wertvoller Helfer und Berater sein können. Schon morgen werden wir gegen die Pisider aufbrechen.178 Sie haben ihre Siedlungen südöstlich von hier und verweigern dem Großkönig bedauerlicherweise den Gehorsam. Zu diesem Zweck habe ich einheimische und griechische Soldaten mit ihren Führern hier versammelt.“ Ich war sehr überrascht. Denn für eine einfache Strafaktion gegen unge­ horsame Untertanen des Großkönigs war die Streitmacht, die sich um Kyros versammelt hatte und noch versammeln würde, unverhältnismäßig groß. Auch die Bewaffnung schien mir nicht angemessen zu sein. Alles deutete auf einen großen Feldzug hin. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Kyros ein kostspieliges griechisches Söldnerheer anwarb, um es gegen ein zwar räuberisches, aber ansonsten bedeutungsloses Bergvolk einzusetzen. Selbstverständlich sprach ich mit niemandem darüber – ich war ja hier in Sardes weder als Feldherr, noch als Hauptmann oder als einfacher Soldat.179 Aber ich vertraute Kyros. Denn die Perser lernten – wie es hieß – von Kindheit an drei Dinge: Reiten, Bogenschießen und die Wahrheit sagen. Das meinte schon unser Herodot.180

Kyros Kyros, der jüngere Bruder des persischen Großkönigs Artaxerxes, lebte von 423 bis 401. In seiner Anabasis (1, 9, 9–28) zeichnet Xenophon ein Porträt des Prinzen, in dem er den idealen König mit exzellenten Herrschertugenden sah.181 Proxenos hatte ihn dem Prinzen zwar vorgestellt,182 aber es ist kaum denkbar, dass daraus eine Freundschaft zwischen Xenophon und Kyros wurde. Es kam nur zu einem kurzen Wortwechsel zwischen den beiden Männern.183 Von

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­ enophon erfahren wir, dass Kyros zusammen mit seinem Bruder und weiteX ren Jungen am Hof des Großkönigs erzogen wurde. Dieser war ihr verbind­ liches Vorbild. Sie lernten dort vor allem Gerechtigkeit und die Fähigkeit zu gehorchen und zu befehlen.184 „Was Xenophon hier als besondere Vorzüge des persischen Erziehungswesens am Beispiel des jüngeren Kyros propagiert, setzt natürlich eine andere als die demokratische Staatsform voraus, nämlich die (ideale!) Monarchie mit den Repräsentanten einer kleinen aristokratischen Elite in den führenden Positionen – und es kann wohl keinem Zweifel unterliegen, dass Xenophon selbst im tiefsten Inneren weit mehr mit dieser Staatsform als mit der Demokratie sympathisierte.“185 Er hebt besonders hervor,186 dass der junge Kyros in jeder Hinsicht vertrauenswürdig war und Verträge und Vereinbarungen einhielt. Man habe sich grundsätzlich darauf verlassen können, dass man nie von ihm betrogen oder hintergangen wurde. Zudem sorgte er durch abschreckende Strafen dafür, dass sich die Menschen unbehelligt von kriminellen Elementen in seiner Satrapie bewegen konnten. Er schuf sich loyale Untertanen, indem er Handlungen, die in seinem Interesse waren, großzügig belohnte, und hielt es für gerecht, wenn die Menschen für gute Leistungen auch ausgezeichnet wurden. Xenophon betont ausdrücklich (Anabasis 1, 9, 20–28), dass Kyros eine wirkliche und immer wieder bewiesene Freundschaft für besonders wertvoll hielt. Diese hatte eine materialistisch-utilitaristische Grundlage. Sie beruhte auf gegenseitigem Nutzen und nicht auf gefühlsmäßigen Bindungen. Kyros hatte stets den starken Wunsch, seinen Freunden Gutes zu tun und sie auch in aller Öffentlichkeit zu ehren.

Die Söldner Schon im 7. Jahrhundert warb der ägyptische Pharao Psammetichos I. griechische Söldner an, die sich dann auch nach ihrer Entlassung in Ägypten – in Memphis und in Naukratis – ansiedelten. Im Peloponnesischen Krieg traten zahlreiche Söldner in den Dienst der griechischen Städte und verstärkten deren eigene Truppen. Die persischen Satrapen fochten ihre Kämpfe untereinander mit Hilfe griechischer Landsknechte aus. Die Perser sollen diese Kampfexperten später sogar gegen Alexander den Großen eingesetzt haben. Die Söldner des Kyros-Zuges waren also keine Ausnahmeerscheinung.187 „Wir haben gesehen, wie erstmals Brasidas im Jahre 424 für seinen Marsch auf die Chalkidike und nach Thrakien neben spartanischen Periöken griechische Söldner anwarb. Das Gleiche taten die Athener, wenn sie in den nördlichen

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Randgebieten Krieg führten. Vielfach stammten diese Söldner aus dem Einsatzgebiet selbst. Sie konnten anders als der Bauernhoplit auf unwegsamem ­Gelände kämpfen, über die Wintermonate in fernen Gebieten kampieren und kannten sich mit den dort herrschenden Bedingungen besser aus als der Bürger­ hoplit. Erst der Einsatz von Söldnern verschaffte so den Kommandeuren die Möglichkeit, raumgreifende Feldzüge zu Lande durchzuführen, bei denen ein Milizheer aufgrund seiner engen Bindung an die Heimatpolis scheitern musste.“188 Das berühmteste Beispiel für diese neue Art der Kriegsführung waren die zehntausend griechischen Söldner des Kyros, die sich nach dem Tod ihres Soldherren unter Xenophons Führung vom Euphrat bis zum Schwarzen Meer durchschlugen und von dort nach Griechenland zurückkehrten oder sich für neue Solddienste anwerben ließen.

Das Kriegstagebuch Als ich vor ihm stand, sagte Kyros nur: „Die Pisider sind raue, unbändige Gebirgsbewohner, die dem Großkönig dauernd Schwierigkeiten machen.“ Offensichtlich wollte er mit dieser Bemerkung jeden Zweifel an der angeb­ lichen Strafexpedition beseitigen. „Du verstehst also, dass ich jetzt sehr beschäftigt bin.“ Er wandte sich schon zum Gehen, als Proxenos fragte: „Kyros, mein Prinz, darf Xenophon mich begleiten? Ich könnte ihn gut in meiner Nähe gebrauchen.“ Kyros überlegte kurz. „Gut. Wenn du auf ihn aufpasst, dann soll er mitkommen. Aber eine besondere Aufgabe habe ich im Augenblick nicht für ihn.“ Dann fügte er noch hinzu: „Das heißt – wir nehmen ihn als Schreiber mit, der unsere Operationen schriftlich festhält. Seine Aufzeichnungen werden mir helfen, dem Großkönig einen angemessenen Bericht vorzulegen.“ Proxenos erwiderte freudig: „Ich werde mich darum kümmern, mein Kyros.“ Noch bevor ich dem Prinzen danken konnte, hatte er den Raum verlassen. Ich war überrascht, dass alles so schnell ging. Die ehrenvolle Aufgabe, Kyros als Schreiber zu dienen, würde es mir auch erheblich erleichtern, meine Nachforschungen nach Thukydides weiterzuverfolgen. Wie gern hätte ich dies jetzt Philesia gesagt! Proxenos sah meine Freude über diesen so sinnvollen Auftrag in meinem Gesicht. „Wenn die Expedition beendet ist, wird dir Kyros freistellen, entweder bei ihm zu bleiben oder nach Hause zurückzukehren.“189 Ich dankte meinem Freund. Denn ich freute mich sehr, dass ich nach Pisidien mitkommen durfte, auch wenn ich nicht erwartete, Thukydides bei den pisidischen Räubern zu finden. Aber man konnte ja nie wissen!

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Der Aufbruch Von Sardes nach Sagalassos in Pisidien war es nicht weiter als von Ephesos bis nach Sardes. Man hätte das schwer zugängliche Land auch auf dem Seeweg ­erreichen können, wenn man es wirklich gewollt hätte. Aber dazu wären für eine Streitmacht von mehreren Tausend Mann ebenso aufwändige wie auf­ fällige Vorbereitungen notwendig gewesen. Daran dachte ich, als wir den Palast des Kyros verließen. Proxenos hatte mir in seinem geräumigen Zelt ein einfaches Nachtlager herrichten lassen; es sollte ja nur für eine einzige Nacht sein. Xanthos hatte sich seine Matte neben dem Zelt ausgerollt. Es war schon dunkel, als wir uns zur Ruhe legten. Vorher hatten wir noch etwas gegessen und getrunken. Brot und Käse waren uns von unsichtbaren Händen auf einem Klapptisch serviert worden. Die Nacht war ruhig. Im Morgengrauen wurden die Zelte abgebaut und auf Packwagen verstaut – auch unser kleines Gepäck. Dann ging alles sehr schnell. Jetzt hatte ich die Gelegenheit, die Leute zu zählen. Es waren deutlich mehr als eintausend Bewaffnete und ebenso viele Pferde. Hinzu kamen noch ungefähr zweihundert Diener und Hilfskräfte, die die Zelte auf die Wagen luden. Das Einspannen der störrischen Maultiere war nicht ganz so einfach. Aber schließlich schaffte man es. Die Wagenkolonne war marschbereit. Die Reiter, die unter dem Kommando des Proxenos standen, warteten ungeduldig. Mein Freund war offensichtlich lange vor mir aufgestanden. Als er mich sah, ermahnte er mich, unterwegs immer in seiner Nähe zu bleiben. „Wir reiten an der Spitze. Draußen werden noch weitere Leute zu uns ­stoßen und sich hinter uns einreihen. Es geht gleich los“, rief er mir zu. Mein Pferd hatte ich übrigens am Tag zuvor in Sardes gekauft. Xanthos hatte mich gleich nach unserer Ankunft zu einem Pferdehändler geführt, den er gut kannte. Acht Pferde standen im Stall. Er trieb mich zur Eile. Ich hatte also keine Zeit zu einer sorgfältigen Prüfung der Tiere und musste mich auf meinen ersten Eindruck verlassen. Aber der Händler war vertrauenswürdig. Er wollte es sich mit Kyros’ Stallmeister nicht verderben, mit dem er gute Geschäfte zu machen pflegte. Wir waren uns schnell einig geworden. Dann öffnete sich die große Tür des Palastes. Kyros bestieg unverzüglich seinen Schimmel, der von zwei Männern gehalten wurde. Er rief nur: „Seid ihr bereit?“ Seine Reiter riefen mit einer Stimme: „Wir sind bereit!“ In diesem Augenblick setzten wir uns in Bewegung, jeweils zwei nebeneinander. Denn die Gassen der Stadt waren eng. Auf der weiten Ebene vor dem Stadttor erwarteten uns Hunderte von Reitern und mehrere Tausend schwerbewaffnete Soldaten zu Fuß. Sie alle gehörten zum Heer des Kyros. Die meisten

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von ihnen waren gegen gutes Geld in den griechischen Städten angeworben worden. Sie hatten den Peloponnesischen Krieg überlebt und waren froh, dem persischen Prinzen dienen zu dürfen. Alte Feindschaften und Rivalitäten waren vergessen. Alle hofften auf reichen Lohn, sobald sie die Strafexpedition gegen die Pisider erfolgreich beendet hatten. Für einen kurzen Augenblick stellte ich mir erneut die Frage, ob es angemessen sei, eine so große Streitmacht gegen die Pisider in Marsch zu setzen. Außerdem erschien es mir ziemlich riskant, in einem noch im Frühling tief verschneiten Gelände mit solch großen Truppenmassen zu operieren. Aber ich sprach mit niemandem darüber, auch nicht mit Proxenos. Nur einmal ließ ich mich zu der Bemerkung hinreißen: „Hoffentlich liegt da oben nicht zu viel Schnee!“ Aber er hörte meine Worte nicht, und ich beruhigte mich bei dem Gedanken, dass es jeden Tag wärmer würde. Doch dann überwog meine Freude darüber, dass Kyros es geschafft hatte, einstige Kriegsgegner für eine gemeinsame Aufgabe zu begeistern. Athener und Spartaner, Böoter und Thessalier standen nicht mehr gegeneinander. Sie hatten ein gemeinsames Ziel. In meinem offiziellen Kriegstagebuch konnte ich später noch viele weitere griechische Stämme, Landschaften und Städte aufzählen, die im Heer des Kyros dienten.

Der Aufstieg In den ersten Wochen zog Kyros mit seinen Soldaten nach Südosten in Richtung Pisidien. Sie überquerten den Mäander über eine Schiffsbrücke. In Kolossai blieben sie eine Woche. Hier stieß der Thessalier Menon zu ihnen. Er be­ fehligte eintausend Schwerbewaffnete und fünfhundert Peltasten, die – wie üblich – nur mit einem kleinen Schild, einem Schwert und mehreren Speeren ausgerüstet waren. Dann ging es weiter nach Kelainai. In dieser großen und wohlhabenden Stadt in Phrygien blieben sie einen Monat lang. Hier hatte Xenophon genug Zeit, um an seinem Tagebuch, dem er den Titel Anabasis gegeben hatte, weiterzuschreiben: „In Kelainai besaß Kyros ein befestigtes Schloss. Da gab es auch einen großen Park mit vielen wilden Tieren, die er zu jagen pflegte, sooft er sich und die Pferde trainieren wollte. Mitten durch den Park fließt der Mäander. Seine Quellen findet man in der Nähe des Schlosses. Er fließt dann durch die Stadt Kelainai. Dort befindet sich aber auch eine Festung des Großkönigs. Sie liegt an den Quellen des Flusses Marsyas, der am Fuß der Burg entspringt. Auch dieser führt durch die Stadt und mündet schließlich in den Mäander.“190 So weit Xenophons Eintrag in sein Tagebuch. Während des Aufenthalts in Kelainai erkundigte er sich unter anderem bei den Einwohnern nach der

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­ erkunft des Flussnamens „Marsyas“. Man erzählte ihm, der Sage nach habe H an dieser Stelle der Wettstreit zwischen Apollon und Marsyas stattgefunden, und hier habe der Gott nach seinem Sieg dem Satyr die Haut abgezogen und in der Grotte aufgehängt,191 wo der Fluss entspringt. Die Sage, die man Xenophon erzählte, handelte von der Erfindung der Flöte durch die Göttin Athene, die dann aber das Musikinstrument trotz ihres schönen Klanges fortwarf. Denn sie glaubte, es entstellte ihr Gesicht, sobald sie hineinblies. Marsyas fand die Flöte und entlockte ihr gefällige Töne. Vor den Nymphen gab er mit seiner Kunst mächtig an. Schließlich forderte er sogar den Gott Apollon zum Wettstreit heraus. Dieser siegte und bestrafte den Unterlegenen auf grausame Weise. So schildert es der römische Dichter Ovid in seinem „Festkalender“ (6, 692–710). In den „Metamorphosen“ (6, 382–400) erklärt Ovid auch die Entstehung des Flussnamens. In Kelainai stieß dann auch noch der aus Sparta verbannte Söldnerführer Klearchos192 mit eintausend Schwerbewaffneten, achthundert thrakischen Peltasten und zweihundert kretischen Bogenschützen zu den Söldnern. Kyros führte darauf eine erste umfassende Musterung und Zählung durch. Es waren jetzt elftausend Schwerbewaffnete und rund zweitausend Peltasten.193 Darauf ging es zur Überraschung aller weiter nach Norden und einige Tage später nach Südosten. Pisidien war offensichtlich längst nicht mehr das Ziel der Expedition. Was hatte Kyros vor? Dass er die Konfrontation mit seinem Bruder, dem Großkönig, suchte, wusste − wie sich später herausstellte − allein der Söldnerführer Klearchos. Alle anderen fühlten sich mit Recht getäuscht. Dennoch trennten sie sich nicht von Kyros. Denn niemand wollte als Feigling erscheinen. Erst viel später erfuhren die Söldner übrigens, dass der persische Satrap Tissaphernes, der im Peloponnesischen Krieg die spartanische Seite massiv unterstützt hatte, die Streitmacht des Kyros ständig hatte verfolgen und argwöhnisch beobachten lassen. Denn die Vorbereitung auf die angebliche Expedition gegen die Pisider war ihm von vornherein als viel zu aufwändig erschienen. Er hatte sich deshalb mit fünfhundert Reitern an den Hof des Großkönigs begeben, um ihm über seine Beobachtungen zu berichten und ihn zu warnen. Artaxerxes begann daraufhin mit entsprechenden Gegenmaßnahmen. Seit dem Abmarsch der Truppen aus Sardes waren mittlerweile etwa drei Monate vergangen. Die griechischen Söldner schickten mehrfach Abordnungen in das jeweilige Quartier des Kyros, um den vereinbarten Sold zu verlangen. Er hielt sie mit irgendwelchen Ausreden hin, und es tat ihm offensichtlich sehr leid, dass er den berechtigten Wunsch der Soldaten nicht erfüllen konnte. Hätte er die notwendigen Mittel gehabt, hätte er sich nicht so verhalten.194 Er konnte seine Soldaten wenigstens mit den erforderlichen Lebensmitteln versorgen. Denn solange sich das Heer noch in seiner Satrapie befand, wurden diese einfach requiriert, und die Soldaten brauchten sie nicht mit ihrem eigenen Geld zu kaufen.

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Epyaxa Da traf eines Tages – die Truppe hatte inzwischen Kaystrupedion erreicht – eine Frau bei Kyros ein. Es war Epyaxa, die Gattin des kilikischen Fürsten Syennesis. Die Kilikierin war Kyros mit ihrer Leibwache entgegengeritten.195 Nach kurzer Begrüßung erklärte sie, ihr Mann habe sie beauftragt, Kyros zu ersuchen, nicht nach Kilikien einzumarschieren. Um dies zu erreichen, bot sie ihm eine größere Geldsumme an. So konnte er dem Heer endlich den Sold für vier Monate bezahlen.196 Dadurch verbesserte sich die Stimmung unter den Männern erheblich. Epyaxa war eine auffallende Erscheinung. Sie trug eine weite Hose aus Seide, darüber eine Art Hemd, das vom Kinn bis zu den Knien reichte und mit zierlichen Bändchen am Hals geschlossen war. Ihr winziger Hut schien bei jeder Bewegung ihres Kopfes auf ihren schwarzen, blau schimmernden Locken wie ein Stück Kork auf den bewegten Wellen des Meeres zu tanzen. Ihr wohlgeformtes Gesicht war unverschleiert, aber – wie es in Kilikien üblich war – stark geschminkt. Es erschien dadurch heller, als es in Wirklichkeit war. Sie hatte eine zierliche, aber kräftige Figur und glich den jungen Frauen in Sparta, die ihre Schönheit nicht zu verbergen suchten, weil sie ihren Körper wie die griechischen Athleten durch regelmäßige Übung und Anstrengung, durch Laufen, Reiten und Schwimmen gesund erhielten und sich nicht fürchteten, ihre Haut der Sonne auszusetzen. Die Kilikierin blieb fast zwei Wochen bei Kyros. Es gab natürlich Gerüchte über eine sehr enge Beziehung zwischen Kyros und Epyaxa. Sie sei schon seit längerer Zeit seine Geliebte und habe ihm darum auch das Geld für seine Soldaten beschafft. In Thyriaion äußerte Epyaxa eines Tages den Wunsch, das Söldnerheer zu sehen.197 Kyros befahl daraufhin den Führern der einzelnen Kontingente, die Soldaten in Schlachtordnung aufzustellen. Er besichtigte zuerst die einheimischen Truppen und darauf die Griechen, indem er auf seinem Kampfwagen an den Reihen der Soldaten entlangfuhr. Die Kilikierin begleitete ihn in einer leichten Kutsche. Darauf schickte er Pigres, den Dolmetscher, zu den griechischen Söldnerführern und ließ den Befehl geben, auf ganzer Linie vorzurücken. Auf ein Trompetensignal hin begannen die Soldaten einen Scheinangriff. Die Männer stürmten im Laufschritt in Richtung der Zelte und Marktstände. Da die Händler und die Trossknechte die wahre Absicht des Manövers nicht durchschauten, gerieten sie in panische Angst und verließen fluchtartig ihre Wagen und Stände. Auch die Kilikierin brachte sich mit ihrer Kutsche in Sicherheit. Die Griechen aber kehrten lachend zu ihren Zelten zurück. Die Frau staunte über den prachtvollen Anblick und die Disziplin des Heeres, und Kyros war stolz auf seine Söldner, die ihre Stärke und Geschicklichkeit so

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eindrucksvoll zu zeigen wussten. Zur Belohnung ließ er den Männern zusätzlichen Sold auszahlen. Für die griechischen Söldnerführer und die edlen Perser aus seiner engeren Umgebung hatte er ein Festmahl vorbereiten lassen. Es sollte nach ‚etruskischer Sitte‘, wie es hieß, stattfinden. Kyros wollte Epyaxa mit diesem Festmahl eine besondere Ehre erweisen. Denn sie war eine lydische Prinzessin, und die Etrusker, so hieß es, waren vor einigen Hundert Jahren aus Lydien nach Hesperien ausgewandert, um dort einen mächtigen Staat zu gründen. Epyaxa sollte ursprünglich mit Kyros vermählt werden. Sein Vater Dareios, der zwei Jahrzehnte über das persische Reich herrschte,198 gab aber dem Werben des kilikischen Fürsten Syennesis nach und befahl Epyaxas Vater, das junge Mädchen mit diesem zu verheiraten, obwohl er von der tiefen Zuneigung seines jüngeren Sohnes zu der lydischen Prinzessin wusste. Er aber wollte Syennesis enger an sich binden und Kilikien auf diese Weise in seinen Machtbereich zwingen. Dass Kyros seinem Vater diese Entscheidung nie verzieh, ist verständlich. Syennesis ließ seiner jungen Frau – er war fast vier Jahrzehnte älter als Epyaxa – alle nur erdenklichen Freiheiten und nahm es auch hin, dass sie, wann immer es möglich war, mit Kyros zusammentraf. Es wird erzählt, Kyros habe auf der Insel Kypros ein unauffälliges Haus besessen, wo das Liebespaar glückliche Tage verbrachte. Epyaxas Großmutter war übrigens Artemisia, die Tochter des Lygdamos von Halikarnassos. Diese bemerkenswerte Frau hatte am Feldzug des Xerxes gegen Griechenland teilgenommen und bei Salamis sogar als Befehlshaberin einer kleinen Flotte mitgekämpft, obwohl sie Xerxes dazu veranlassen wollte, die verhängnisvolle Seeschlacht zu vermeiden.199 Hätte der Großkönig auf Artemisia gehört, wäre er wahrscheinlich Sieger über Griechenland geworden. Kyros ließ es sich also nicht nehmen, für Artemisias Enkelin das ‚etruskische Festmahl‘ zu veranstalten. Die Etrusker – so heißt es – lebten in äußerster Völlerei und Sittenlosigkeit.200 Sie zwangen ihre Sklavinnen, die Männer beim Festmahl völlig nackt zu bedienen. Auch die Flötenspielerinnen traten nackt auf – bis auf eine Schleife im Haar. Die Frauen, die am Mahl teilnahmen, lagen gewöhnlich nackt neben den Männern und waren äußerst trinkfest. Immer wieder sollen sie ihren Sklavinnen befohlen haben, nicht nur Wein in die Trinkbecher zu gießen, sondern auch ihre Körper zur Kühlung mit Wein zu übergießen. Das ‚etruskische Festmahl‘, das Kyros mit Epyaxa feierte, verlief allerdings harmloser als bei den Etruskern selbst. Bis auf die Musikantinnen war niemand nackt. Es wurde zwar entsetzlich viel getrunken, aber die hemmungslosen Liebesspiele während des Gelages unterblieben. Das etruskische Fest unterschied sich demnach kaum von einem griechischen Symposion, nur dass es keine geistreichen Gespräche gab.

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Recherchen für das Tagebuch Die oft wochenlangen Marschpausen gaben mir reichlich Gelegenheit, in meinem Tagebuch festzuhalten, was ich selbst sah oder von anderen erzählt bekam. Schon in Sardes hatte ich mir bei einem Händler aus Pergamon „Pergament“ gekauft, das sich sehr gut beschreiben lässt. Dieses Material konnte ich weitaus besser in meinem Gepäck verstauen als die leicht zerbrechlichen Papyrusrollen. Deshalb benutzten ja auch vor allem die ionischen Griechen – auch Herodot – die haltbaren und gut beschreibbaren Ziegenhäute aus Pergamon für ihre Aufzeichnungen. Ich nahm jede Gelegenheit wahr, um mit den Soldaten zu reden und ihre Beobachtungen und Erfahrungen aufzuschreiben. So wollte ich unter anderem auch erfahren, warum sie eigentlich an diesem Feldzug teilnahmen. Die meisten Soldaten – das konnte ich mir notieren – hatten sich Kyros angeschlossen, weil sie von seiner Persönlichkeit fasziniert waren.201 Mancher hatte sogar noch Freunde und Verwandte mitgebracht. Einige waren ihren Eltern davongelaufen oder hatten ihre Frauen und Kinder verlassen. Aber alle hatten nur den einen Wunsch, reich und gesund nach Hause zurückzukommen und nicht etwa für immer in Persien zu bleiben. Das wollte ich natürlich auch. Aber ich hatte mir ja eine besonders schwierige Aufgabe gestellt: Ich suchte weiter nach Spuren des verschwundenen Thukydides, um Philesia nicht ­w ieder enttäuschen zu müssen. Doch je weiter wir in das Landesinnere vordrangen,202 desto unwahrscheinlicher wurde es, etwas über Thukydides zu erfahren. Wenn nicht einmal die Griechen ihn kannten, wie sollten dann die Perser etwas über ihn wissen? Proxenos war wahrscheinlich der Einzige im Heer des Kyros, der jemals etwas von dem Geschichtsschreiber gehört hatte. Aber gerade deshalb fühlte ich mich verpflichtet, meine Nachforschungen fortzusetzen. Sollte ich aber mit leeren Händen nach Hause zurückkehren, so könnte ich wenigstens die Teile seines Geschichtswerkes, die ich bisher sichergestellt hatte, veröffentlichen und verbreiten. Außerdem würde ich mit Hilfe seiner bisherigen Aufzeichnungen versuchen, das Werk ganz in seinem Sinne, so hoffte ich, abzuschließen. Wir erreichten drei Tage später Ikonion, die letzte Stadt auf phrygischem Gebiet. Dort blieben wir drei Tage und zogen dann nach Lykaonien und Kappadokien weiter. Noch bevor wir nach Tyana aufbrachen, verabschiedete sich Kyros von Epyaxa und schickte sie auf dem schnellsten Weg nach Kilikien zurück.203

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Menon Der Thessalier Menon und seine Leute sollten sie begleiten. Er hatte insgesamt eintausend Schwerbewaffnete und fünfhundert Peltasten, die in Kolossai zu uns gestoßen waren. Warum bekam ausgerechnet er diesen Auftrag? Konnte Kyros dem Thessalier besonders vertrauen? Es ging ja schließlich um seine Epyaxa, und Menon war keinesfalls ein vorbildlicher Soldat.204 Im Gegenteil – er war ein skrupelloser Verbrecher, dem jedes Mittel recht war, seine Macht und seinen Reichtum zu mehren. Er war häufig mit Sokrates in Athen zusammen und prahlte bei jeder Gelegenheit mit seinem „Talent zum Betrügen“ und seiner Kunst, „zum eigenen Vorteil zu lügen“. Er wollte einmal Geld von mir leihen. Ich wusste damals noch nichts von seinen üblen Künsten. Er sagte zu mir: „Ich gebe dir eine thessalische Zuchtstute als Pfand. Sie ist viel mehr wert als der Betrag, um den ich dich bitte.“ Ich fragte meinen Vater um Rat. „Bring das Pferd her, und ich gebe dir das Geld, das dein Freund braucht. Es ist ja nur für kurze Zeit.“ Ich händigte Menon den Betrag aus. Er versprach, alles mit Zinsen in zwei Monaten zurückzuzahlen. Aber nach zwei Wochen erschien ein älterer Mann mit seinen beiden Söhnen auf dem Hof meines Vaters. „Ich suche mein Pferd. Die Stute wurde mir nachts von der Weide gestohlen – und zwar von Menon und Tharypas, seinem bärtigen Lustknaben. Dafür gibt es Zeugen. Er streitet den Diebstahl auch gar nicht ab. Doch er schickt uns zu dir, Gryllos. Denn er behauptet, du hättest ihm das Pferd abgekauft, obwohl du genau wusstest, dass die Stute gestohlen war.“ Gryllos war sprachlos. Aber er gab das Tier unverzüglich seinem rechtmäßigen Besitzer zurück. An nächsten Tag stellte ich Menon zur Rede. Er sagte nur: „Siehst du, wie du auf mich hereingefallen bist. Es war ein Leichtes, dich und deinen Vater übers Ohr zu hauen. Das wollte ich nur beweisen.“ Mit hämischem Grinsen fügte er hinzu: „Dein Geld ist allerdings weg. Du hast schließlich keinen Zeugen dafür, dass du es mir jemals geliehen hast. Bin ich nicht ein ausgesprochen geschickter Schurke?“ Ich verachtete Menon zutiefst und fragte mich, was Sokrates an ihm fand; er hatte unter anderem ein Jahr vor unserem Feldzug ein Gespräch mit ihm geführt, weil er sich als Fachmann in Fragen der Tugend ausgab und damit ­prahlte, er habe schon mehrfach öffentliche Vorträge über die Tugend gehalten und viel Geld damit verdient.205

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„Seine nur vorgetäuschten Freundschaften dienten vor allem dazu, gefahrlos an das Vermögen der sogenannten Freunde heranzukommen. Schon am höhnischen Ausdruck seines Gesichtes konnte man jedoch erkennen, dass er sie in Wahrheit für Dummköpfe hielt. Vor Leuten seinesgleichen war er wie vor schwerbewaffneten Feinden auf der Hut, ehrliche und anständige Männer betrachtete er dagegen als Schwächlinge, die sich leicht ausnutzen ließen. Er brüstete sich öffentlich geradezu mit seinen Fähigkeiten, betrügen und Lügen erfinden und über die Freunde lachen zu können – ja er ging so weit, die Anständigen als ‚Ungebildete‘ zu bezeichnen. Bei einflussreichen Männern setzte er alles daran, die Rolle des engsten Freundes zu spielen, indem er sich den Weg in diese Vertrauensposition skrupellos durch die Verleumdung der wirklichen Freunde bahnte. … Für den verdorbenen Charakter Menons machte er (Xenophon) nicht nur dessen Veranlagung, sondern auch seine Erziehung verantwortlich; er ist nach seiner Darstellung das Musterbild eines durch die sophistische Erziehung entarteten und zum provokativem Zyniker gewordenen jungen Mannes, der die althergebrachten (von Xenophon selbst mit Überzeugung hochgehaltenen) W ­ erte wie Gottesfurcht, Aufrichtigkeit, Bescheidenheit aus tiefster Seele verachtete und dies auch offen verkündete; sie galten ihm als pure Dummheit und Naivität, und wer sie verteidigte, hatte nichts anderes verdient, als übers Ohr gehauen zu werden. … Menon verkörpert den Typus des damals wohl nicht ganz seltenen Sophistenschülers, der sein Interesse nur auf die radikalen Bestandteile der Lehre beschränkte und nicht in eine wirklich ernste Auseinandersetzung mit ihr eintrat. Solche ‚halbgebildeten‘ jungen Männer wurden dann leicht Revolutionäre und kompromisslose Verächter der traditionsgebundenen Gesellschaft, für deren Wertesystem sie nur noch Hohn und Spott übrig hatten. Dank ihrer Intelligenz und dialektischen Schulung konnten sie jedoch ihre persönlichen Ziele erreichen – mit Methoden, welche die anderen Menschen als Betrug und Verleumdung, sie selbst aber eher als das legitime Ausspielen ihrer geistigen Überlegenheit über die naiven ‚Ungebildeten‘ bewerteten. In diesem Sinn will Xenophon hier offenbar Menon bloßstellen – im Kontrast zu Proxenos, der zwar auch den Verheißungen der Lehre unkritisch erlegen war, sich aber doch das alte Wertesystem erhalten hatte.“206 Jeder aufmerksame Leser meines Tagebuches wird festgestellt haben, dass mein Porträt des Thessaliers Menon von Thukydides’ Analyse des menschlichen Wesens beeinflusst ist.207 In seinem Charakter fand ich alle negativen Eigenschaften, die der Geschichtsschreiber dem Menschen im Allgemeinen zuschrieb. Er war der lebende Beweis für die Richtigkeit des thukydideischen Menschenbildes,208 wie auch viele Ereignisse auf unserem Marsch durch Persien die Beobachtungen des Thukydides bestätigten. Auf diese Weise bin ich ihm während unseres Zuges vor und nach Kunaxa gewissermaßen immer wieder begegnet.

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Epyaxa traf fünf Tage vor Kyros in Tarsos ein. Menon hatte beim Übergang über das Gebirge einhundert Hopliten verloren. Man berichtete, sie seien von den Kilikiern beim Plündern niedergemacht worden. Andere behaupteten, die Männer hätten sich in den Bergen verirrt und seien dort umgekommen. Als ihre Kameraden davon hörten, plünderten sie die Stadt und die Burg. Syennesis, der Fürst, war in die Berge geflohen. Er war aber bereit, mit Kyros zusammenzutreffen, nachdem ihm seine Sicherheit garantiert worden war. Epyaxa hatte dies vermittelt.209 Kyros erhielt noch einmal viel Geld für seinen Feldzug. Die Frage, warum ausgerechnet Menon die Frau nach Kilikien begleiten durfte, ließ mich nicht los. Ich wandte mich an Proxenos. Mein Gastfreund antwortete, ohne lange zu überlegen: „Er hatte sich freiwillig gemeldet. Klearchos und die anderen hatten kein Interesse daran, diese Aufgabe zu übernehmen. Kyros war sogar ganz froh darüber. Er wusste, dass Menon Frauen nicht ausstehen konnte, und brauchte also nicht damit zu rechnen, dass er Epyaxa unterwegs belästigen würde.“ „Das verstehe ich nicht.“ „Da geht es noch um etwas anderes. Hast du schon einmal jemanden erlebt, dem man seine Geldgier so ansieht wie Menon?“ „Nein, Proxenos.“ „Er hoffte auf eine reiche Belohnung, wenn er Epyaxa sicher nach Tarsos bringen würde.“ „Diese Rechnung ging aber nicht auf“, sagte ich schadenfroh. „Er hat in den Bergen sogar noch hundert Hopliten verloren.“ „Das ist richtig. Aber sind wir nicht alle hier, um Geld zu verdienen?“, fragte Proxenos. „Ich nicht, wie du weißt“, erwiderte ich. „Ich glaube aber, Kyros wird nicht kleinlich sein, wenn du deine täglichen Aufzeichnungen dazu verwendest, ihn als großen Feldherrn zu rühmen. Er wird dich königlich belohnen.“ „Bis dahin ist es noch ein weiter Weg.“

Sinnlose Suche? „Was machen eigentlich deine Nachforschungen über Thukydides?“ „Wenn es etwas Neues gäbe, hätte ich es dir bestimmt erzählt.“ „Hast du schon mit den thrakischen Händlern gesprochen, die sich gestern unserem Tross angeschlossen haben?“ „Ja, Proxenos.“ „Und?“

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„Sie rühmen sich zwar damit, viele prominente Griechen zu kennen: In ­ bdera seien sie sogar dem Philosophen Demokrit begegnet, und der Sophist A Protagoras sei ihnen auch schon einmal über den Weg gelaufen. Aber von Thukydides hätten sie schon lange nichts mehr gehört. Es schien mir sinnlos zu sein, die thrakischen Handelsleute weiter zu fragen. Aber immerhin versicherten mir die Abderiten, sie würden mich sofort benachrichtigen, wenn sie etwas Neues hörten. Ich versprach ihnen eine gute Belohnung. Sie würden schon ­etwas herausfinden. Ich sollte nur guten Mutes sein. Das war ich auch: Denn wer kommt schon weiter in der Welt herum als Händler aus Abdera?“ Mehr konnte ich Proxenos nicht sagen. Er schien dies erwartet zu haben. Im Tross zogen gewiss genauso viele Zivilisten mit wie Soldaten. So kam es mir jedenfalls vor. Zählen konnte ich sie nicht. Immer wieder blieben einige in den Dörfern zurück, und andere kamen hinzu. Es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Das waren eigentlich sehr günstige Voraussetzungen für einen großen Nachrichtenfluss. Wenn man wollte, konnte man alles erfahren, was in der bewohnten Welt passierte. Aber über einen athenischen Geschichtsschreiber wusste nach wie vor niemand etwas. Er war einfach wie vom Erdboden verschwunden oder vom Meer verschlungen. Die Suche schien mir von Tag zu Tag aussichtsloser zu sein, und ich war dicht davor, aufzugeben und mich bei nächster Gelegenheit von Kyros und Proxenos zu verabschieden. Von Tarsos aus – wir hielten uns hier zwanzig Tage auf – könnte ich leicht ein Schiff finden, das den Peiraieus ansteuerte. Kyros würde bestimmt einen anderen Tagebuchschreiber finden.

Meuterei Auch die Söldner schienen nicht weiterziehen zu wollen. Denn es war das Gerücht aufgekommen, Kyros habe die Absicht, sie gegen den persischen Groß­ könig zu führen. Für ein so riskantes Abenteuer seien sie nicht angeworben worden.210 Die Soldaten des Klearchos leisteten offenen Widerstand. Er wäre beinahe gesteinigt worden, konnte seine Leute aber noch im letzten Augenblick beruhigen und dazu überreden, eine friedliche Versammlung abzuhalten.211 Klearchos hielt eine Ansprache an seine Soldaten. Xenophon nahm sie Wort für Wort in sein Kriegstagebuch auf, das er später übrigens unter dem Pseudonym „Themistogenes“ veröffentlichte.212 Der General stand lange Zeit schweigend vor seinen Männern und – vergoss bittere Tränen.213 Sie wunderten sich darüber sehr, waren tief beeindruckt und wagten nichts mehr zu sagen. Er weinte wie ein Angeklagter vor Gericht. Dort waren die Tränen ein bewährtes Mittel, die Richter milde zu stimmen.

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„Männer, Soldaten, wundert euch nicht, dass mich die gegenwärtige Lage sehr bedrückt. Denn Kyros wurde mein Gastfreund. Als ich aus meinem Vaterland verbannt wurde, nahm er mich in allen Ehren auf und gab mir darüber hinaus 10 000 Dareiken. Ich habe das Geld nicht für meine eigenen Zwecke ausgegeben und auch nicht verprasst, sondern ununterbrochen für euch ausgegeben. Und zuerst führte ich mit euch für Griechenland eine Strafexpedition gegen die Thraker und verjagte sie aus der Chersones, weil sie den griechischen Siedlern ihr Land rauben wollten. Als dann Kyros rief, ging ich zusammen mit euch zu ihm, um ihn, falls er es wünschte, zu unterstützen – aus Dankbarkeit für sein anständiges Verhalten mir gegenüber. Da ihr aber nun nicht weiter mitgehen wollt, bringt ihr mich in eine Zwangslage: Entweder muss ich euch verraten, um die Freundschaft mit Kyros zu erhalten, oder ich muss ihm gegenüber mein Wort brechen, um bei euch zu bleiben. Ob ich das Richtige tun werde, weiß ich nicht. Aber ich werde mich für euch entscheiden und zusammen mit euch alles ertragen, was sein muss. Dann wird niemals jemand sagen können, ich hätte die Griechen, die ich gegen die Barbaren führte, verraten und den Griechen die Freundschaft mit den Barbaren vorgezogen. Da ihr mir nun aber nicht gehorchen wollt, werde ich euch folgen und ertragen, was auch immer notwendig ist. Denn ich bin überzeugt davon, dass ihr alles für mich seid: Vaterland, Freunde, Kameraden, und nur mit euch zusammen – da bin ich mir sicher – finde ich Anerkennung, wo auch immer ich bin. Ohne euch aber – das glaube ich – dürfte ich nicht in der Lage sein, einem Freund zu nützen oder einen Gegner abzuwehren. Verlasst euch also darauf, dass auch ich dorthin gehen werde, wohin ihr gehen werdet.“214 Niemand zweifelte daran, dass Klearchos es ernst meinte und Kyros nicht weiter folgen wollte. Insgeheim blieb er jedoch mit ihm in Verbindung und ließ ihm ausrichten, dass er sich nicht zu beunruhigen brauche: Es würde sich schon alles regeln lassen. Die Soldaten erkannten recht bald, dass sie sich in eine äußerst schwierige Lage brächten, wenn sie Kyros den Befehl verweigerten. Da sie ja immer noch nicht genau wussten, was Kyros plante – vielleicht ging es auch gar nicht gegen den Großkönig –, beschlossen sie, mit Kyros zu verhandeln.215 Der Prinz erklärte den Soldaten, er beabsichtige, gegen den phönizischen Satrapen Abrokomas, mit dem er verfeindet war, vorzugehen. Der Phönizier, der sich angeblich am Euphrat, zwölf Tagesmärsche von Tarsos entfernt, aufhielt, war allerdings ein treuer Gefolgsmann des Großkönigs. Kyros konnte die Söldner umstimmen, indem er ihnen eine Solderhöhung um das Anderthalbfache versprach: „Sowohl in Tarsos als auch später in Thapsakos wurde die Zustimmung der Söldner zum Weitermarsch gegen den Großkönig im Grunde nur durch finanzielle Versprechungen erreicht. Tatsäch-

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lich verdingten sich die Söldnerhaufen ausschließlich zum Zweck des Geldverdienens an beliebige Soldherren und taten ihre Arbeit ohne inneres Engagement für die Sache. Im vorliegenden Fall verlangten sie gewissermaßen einen ‚Risikozuschlag‘ wegen der besonders gefährlichen und schwierigen Aufgabe, die sie bewältigen sollten (vgl. 1, 3, 19).“216 Später wurde bekannt, dass Kyros auch in Sparta offiziell um Unterstützung für seinen Feldzug gebeten hatte, ohne allerdings den Spartanern seine wirk­ liche Absicht zu verraten. Er behauptete damals, er benötige die spartanische Hilfe gegen die von Persien abgefallene Provinz Kilikien. In Issos, der letzten Stadt auf kilikischem Boden, trafen dann auch tatsächlich unter dem Kommando eines gewissen Pythagoras fünfunddreißig Schiffe aus der Peloponnes ein. Der Ägypter Tamos hatte sie von Ephesos aus mit weiteren fünfundzwanzig Schiffen begleitet. Auf diese Weise wurden siebenhundert Hopliten unter dem Befehl des Lakedämoniers Cheirisophos nach Tarsos verschifft. Diesen schlossen sich auch noch die vierhundert Söldner an, die dem Satrapen Abrokamas ihren Dienst aufgekündigt hatten. Mit dem Eintreffen des Cheirisophos, den Kyros – wie es hieß – „eingeladen“ hatte, und seiner beeindruckenden Streitmacht war allmählich nicht mehr zu übersehen, dass Sparta ein großes Interesse daran hatte, Kyros mit allen Mitteln gegen den Großkönig zu unterstützen. Offensichtlich waren auch unter den griechischen Söldnern, die nach dem großen Krieg überall für billiges Geld zu haben waren, die Spartaner in der Überzahl. Und nun beteiligte sich sogar die spartanische Flotte an dem Abenteuer! Obwohl die meisten Söldner immer noch daran glaubten, das Unternehmen werde nur eine räumlich begrenzte Aktion sein, hatte Kyros mit den Verantwortlichen in Sparta längst abgesprochen, mit welchen Mitteln die spartanische Seite den gewaltsamen Machtwechsel in Persien herbeiführen konnte.

Kein Zurück mehr Das kilikische Issos wäre für mich eine – wenn auch nicht die letzte – Möglichkeit gewesen, mit einem Handelsschiff nach Griechenland zurückzukehren. Ich hatte drei Tage Zeit, darüber nachzudenken.217 Kyros gegenüber war ich zu nichts verpflichtet. Eine Trennung von Proxenos hätte ich allerdings nicht rechtfertigen können. Kyros legte zwar Wert darauf, dass ich das Kriegstagebuch führte. Aber hatte er mir diese Aufgabe nicht nur gegeben, weil es keine andere für mich gab? Es war auch bisher nichts Aufregendes passiert, woran man die Nachwelt mit Hilfe meines Tagebuches erinnern müsste – wenn man einmal von den empfindlichen Verlusten absieht, die Menon durch seine unüberlegten Aktionen in den

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kilikischen Bergen verschuldet hatte. Aber wie hätte ich es Philesia erklären sollen, dass ich die Nachforschungen nach ihrem Vater so einfach abbrach? Ich hatte ihr doch auch meine Teilnahme an der abenteuerlichen Aktion mit meiner Hoffnung auf Nachrichten über Thukydides begründet. Wir überschritten die Grenze nach Syrien, ohne auf Widerstand zu stoßen. In der phönizischen Hafenstadt Myriandros lagen zahlreiche Handelsschiffe. Wir blieben sieben Tage dort – Zeit genug, um ein Schiff nach Hause zu finden. Aber ich verbannte diesen Gedanken sogleich aus meinem Kopf, als ich mitbekam, dass Xenias aus Arkadien und Pasion aus Megara sich über See in die Heimat absetzten.218 Denn Kyros fühlte sich von diesen Männern verraten. Er hatte ihnen lange Zeit vertraut und viele wichtige Aufgaben übertragen. Wegen ihrer früheren Verdienste verzichtete er trotz seiner Enttäuschung darauf, sie verfolgen zu lassen und zur Rechenschaft zu ziehen. Ich glaubte sogar, dass ihm die Flucht der beiden Griechen ganz recht war. Denn jetzt konnte er allen seine Großmut demonstrieren. In einer Rede vor den Söldnerführern erklärte er, es sei zwar nicht schwierig für ihn, die Männer zu verfolgen, aber er wolle darauf verzichten; denn niemand solle behaupten, er würde irgendwelche Leute, so­ lange sie da seien, ausnutzen und sie dann, wenn sie fort wollten, gefangen nehmen und bestrafen. Vielmehr sollten sie gehen – doch in dem Bewusstsein, dass sie an ihm schlechter gehandelt hätten als er an ihnen. Diese Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Wer bisher noch daran zweifelte, weiterzuziehen, hatte jetzt keine Bedenken mehr.219 Das traf auch auf mich zu. Ich hätte es mir nie verziehen, mich einfach aus dem Staub zu machen wie Xenias und Pasion. In meinem Tagebuch erklärte ich den Stimmungsumschwung mit der beeindruckenden Überlegenheit des Kyros, die er durch sein Handeln und Verhalten für alle sichtbar bewiesen hatte.

Das wahre Ziel der Expedition Erst als die Söldner im syrischen Thapsakos den Euphrat erreichten, rief Kyros die griechischen Feldherren zusammen – Xenophon durfte in seiner Eigenschaft als Kriegsberichterstatter seinen Freund Proxenos weiterhin begleiten – und eröffnete ihnen jetzt ohne Umschweife, die „Reise“ gehe nach Babylon. Was alle seit langem ahnten oder gar wussten, war endlich ausgesprochen. Für die Nachwelt notierte Xenophon: „Kyros ließ die griechischen Generäle zu sich kommen, um ihnen zu sagen, der Zug gehe gegen den Großkönig nach Babylon. Er befahl ihnen, dies ihren Soldaten mitzuteilen und sie zu überreden – ja, das war das Wort, das Kyros gebrauchte –, ihm zu folgen. Unverzüglich beriefen sie eine Versammlung ein und informierten die Soldaten.“220

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Sie fühlten sich wieder einmal von ihren Führern betrogen und protestierten lautstark. Es flogen vereinzelt sogar Steine. Aber dann trat allmählich Ruhe ein. Die Männer standen in kleinen Gruppen zusammen und fragten sich, was jetzt zu tun sei. Schließlich forderten sie ihre Hauptleute auf, den Feldherren ihre Bedingungen mitzuteilen, unter denen sie bereit seien weiterzuziehen. Die Hauptleute beschlossen, den Ältesten unter ihnen, einen gewissen Lykarios aus Sparta, einen umsichtigen und besonnenen Mann, zu Klearchos zu schicken. Er machte sich mit drei weiteren Hauptleuten auf den Weg. Ohne Umschweife ­teilten sie Klearchos die Entscheidung ihrer Soldaten mit: „Wir sind bereit weiterzumarschieren, wenn unser Sold erhöht wird – wie damals, als wir mit Kyros zu seinem Vater zogen, ohne jedoch kämpfen zu müssen.“221 Klearchos und die anderen Feldherren trugen Kyros die Forderung ihrer Männer vor. Er versprach jedem Einzelnen zusätzlich zu dem ihnen zustehenden Sold eine hohe Belohnung, sobald Babylon erreicht sei. Er wollte auch dafür sorgen, dass sie nach dem erfolgreichen Abschluss der Aktion gefahrlos zur ionischen Küste zurückgeführt würden. Daraufhin gaben die Soldaten – bis auf einige Ausnahmen – ihren Widerstand auf.222

Informationsbeschaffung Seit ich damit beauftragt war, das Kriegstagebuch zu führen, versuchte ich immer wieder, auch mit den einfachen Soldaten ins Gespräch zu kommen. In zahlreichen Interviews bemühte ich mich, die Stimmung im Heer und die Schwierigkeiten, Wünsche und Erwartungen der Männer kennenzulernen. Sie waren normalerweise gern bereit, mit mir zu sprechen. Es bedeutete für sie eine Abwechslung in ihrem meist ereignislosen und eintönigen Alltag. Umso mehr bedauerte ich, niemanden von denen gefunden zu haben, die sich damals am Ufer des Euphrat nicht der Mehrheit der Söldner anschließen wollten. Den Grund habe ich also nie herausgefunden. Gewiss, es waren Kranke darunter, die nicht mehr konnten, ­andere – so vermutete ich – wollten einfach in Thapsakos bleiben, warum auch immer. Wieder andere wollten zurück zum Meer, um auf einem Handelsschiff anzuheuern, weil man ihnen auch dort Reichtümer versprach. Mitunter konnte ich sogar den Dolmetscher Pigres dazu bringen, mich zu den persischen Soldaten zu begleiten, um zu hören, was diese Männer bewegte. Ich hatte übrigens den Ehrgeiz, irgendwann einmal ohne den Dolmetscher auszukommen, und bemühte mich, die aramäische Sprache zu lernen. Denn das Aramäische diente der allgemeinen Verständigung im persischen Weltreich. So konnte ich dann später auch die Inschriften lesen, die die Satrapen anfertigen ließen, um die Befehle des Großkönigs bekannt zu machen.

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In den Gesprächen mit den Soldaten erfuhr ich natürlich auch sehr viel über Kyros und die einzelnen Feldherren. Denn ich bemühte mich darum, möglichst anschauliche Persönlichkeitsbilder in meinem Tagebuch festzuhalten. Kyros selbst erschien mir zunehmend als ein vorbildlicher Feldherr. Er ­besaß alle Tugenden, die eine führende Persönlichkeit auszeichnen. Alle, mit denen ich sprach, waren sich darin einig, dass er in besonderem Maße die ­Fähigkeit besaß, in allen Situationen das rechte Maß zu bewahren. Er glich ­darin Kyros dem Großen, dem Begründer des persischen Reiches. Ich glaube sogar sagen zu können, dass unser Kyros ein Mann war, der nach dem älteren Kyros wie kein anderer zum König geeignet war und es am meisten von allen verdient hätte, die Herrschaft zu übernehmen.223 Selbstverständlich nutzte ich jede Gelegenheit, auch die Leute im Tross auszufragen. Die Verständigung war nicht besonders schwierig. Denn die Kauf­ leute waren in der Welt herumgekommen und beherrschten die griechische Sprache recht gut. Kyros freute sich sehr darüber, wenn ihm Proxenos über meine intensiven Recherchen berichtete. Er ließ mich auch wissen, dass ich mich an Glus, den Sohn des Ägypters Tamos, wenden könne, wenn ich besondere Fragen hätte. Glus gehöre zu seiner engeren Umgebung, besitze sein vollstes Vertrauen und wisse über alle Hintergründe bestens Bescheid. Auch wenn er jemanden für eine besondere Leistung loben und auszeichnen wollte, schickte er immer Glus, der dann im Namen des Prinzen die Anerkennung aussprach und eine ent­ sprechende Belohnung aushändigte. Das geschah auch, als Menon mit seinen Soldaten als Erster den Euphrat überschritt.224

Übergang über den Euphrat Die Überquerung des riesigen Flusses – man konnte kaum das andere Ufer erkennen – war äußerst schwierig. Aber mit Hilfe eines einheimischen Fischers fand man eine Furt. Dort war der Wasserstand so niedrig, dass der Fluss den Soldaten gerade bis zu den Knien reichte. Die Pferde und Wagen kamen ohne größere Schwierigkeiten hinüber. Noch nie – so sagten die Einwohner von Thapsakos – habe jemand zu Fuß den Fluss durchwatet. Die Soldaten waren dazu gezwungen, weil Abrokamas auf seinem Marsch zum Großkönig alle Boote am Ufer hatte verbrennen lassen, um Kyros am Übergang zu hindern. Dann aber geschah das göttliche Wunder: Der Fluss war tatsächlich vor ­Kyros zurückgewichen! Er brachte dem künftigen König auf diese Weise seine Ehrerbietung entgegen! Denn er fiel vor Kyros auf die Knie! Alle, die immer noch an Kyros zweifelten, verstummten.

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Niemand kam beim Übergang über den Euphrat ernstlich zu Schaden. Es gab nur einige kleinere Unfälle. Einmal versank ein schwer beladener Wagen in einem Schlammloch. Er war aus der Spur gekommen, weil er einen vor ihm fahrenden Wagen überholen wollte. Handelsgut ging verloren. Wir hatten einige Tage lang kein Salz. Das war alles. Allerdings dauerte die Überquerung des Flusses vom Morgengrauen bis in die Nacht. Aber die Stimmung war gut. Es wurden große Feuer aus Treibholz angezündet. So konnten wir unsere Kleider und alles andere trocknen lassen.

Der Tross Am Ufer fielen Fliegen und Mückenschwärme über Menschen und Tiere her. Nur wenige besaßen engmaschige Netze, mit denen sie sich hätten schützen können. Viele hüllten sich in Laken oder Decken, um sich der Plage zu erwehren. Überall wurde Holz gesammelt. Zahlreiche Feuer brannten bis tief in die Nacht. Das war das einzige Mittel gegen die unerträglichen Quälgeister. Weil ich das andere Ufer des Flusses mit Hilfe meines Pferdes schneller erreicht hatte als die meisten anderen, hatte ich zum ersten Mal die Möglichkeit, die gewaltige Größe des Zuges zu überblicken. Der Tross bestand aus Hunderten von zweirädrigen und vierrädrigen Wagen und Schlitten, die von Pferden, Maultieren und Ochsen durch den Fluss gezogen wurden. Niemand konnte sagen, wie viele Menschen den Tross begleiteten. Ihre Zahl schien mir aber immer noch die Zahl der Hopliten weit zu übertreffen. Es war ein bunter Haufen. Man hatte den Eindruck, als ob eine ganze Stadt unterwegs sei. Viele Männer hatten ihre Frauen und sogar ihre Kinder mitgebracht. Alle hofften für sich und ihre Angehörigen, in Persien ein besseres Leben zu finden. In Sardes waren es erst sehr wenige Wagen. Sie transportierten Proviant, Werkzeug und Waffen, die Geräte der Bäcker, Sattler und Schmiede … Die Fuhrleute waren keine Söldner, wurden aber wie diese bezahlt. Denn sie mussten genauso wie diese bei Laune gehalten und durch die Aussicht auf materiellen Gewinn dazu bewogen werden, Kyros zu folgen. Denn ohne diese Hilfskräfte wäre das Hoplitenheer auf die Dauer marschunfähig gewesen. Wie von selbst schlossen sich Händler und Huren, Künstler und Gaukler, Ärzte und Prediger an. Sie alle hofften auf das große Geld. Zur Aufrechterhaltung der Ordnung wurden sogar Richter gewählt, die die unvermeidlichen Streitigkeiten zu schlichten hatten. Es galten ungeschriebene Gesetze, die vor allem dazu dienten, den persönlichen Besitz der Menschen zu schützen. Es gab keine Strafen. Wer einen Schaden angerichtet hatte, musste ihn ­w iedergutmachen. Mitunter verjagte man einen Täter auch mit Schlägen oder

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Steinwürfen wie einen räudigen Hund. Niemand wollte etwas mit einem Dieb oder Betrüger zu tun haben. Wenn dieser etwas zurückließ, teilte man seinen Besitz untereinander auf. Auch wenn viele Leute sich ständig gegenseitig zu bestehlen und zu betrügen schienen, gab es jedoch auch immer wieder Beweise von Hilfsbereitschaft. Es gab Ärzte, die Kranke ohne Bezahlung behandelten, und Händler, die den Bedürftigen etwas schenkten. Kyros und seine griechischen Strategen griffen nur dann in den Lebenskreislauf des Trosses ein, wenn die Interessen der Soldaten gefährdet schienen. Das konnte der Fall sein, wenn Lebensmittel, die für die Soldaten bestimmt waren, nachts von den Wagen gezerrt wurden, oder wenn jemand als Spion des Großkönigs verdächtigt wurde. Klearchos ließ mehrmals Syrer am Ufer des ­Euphrat auf Pfähle spießen, denen er vorwarf, für Tissaphernes spioniert zu haben. Viele waren über diese Grausamkeit entsetzt. Aber nur Proxenos wagte es, ihn zur Rede zu stellen: „Klearchos, bist du dir sicher, dass alle Getöteten wirklich Spione waren? Du hast sie auf einen bloßen Verdacht hin zu Tode quälen lassen – aufgrund von Anschuldigungen einiger übler Gesellen, die man selbst hätte vor Gericht stellen müssen. Du hast sie nicht einmal befragt. Warum hast du keinen Dolmetscher geholt?“

Klearchos Klearchos,225 der seit langem in dem Ruf stand, die Disziplin der Soldaten mit strengen Strafen aufrechtzuerhalten, erwiderte achselzuckend: „Selbst wenn sie unschuldig gewesen sein sollten, schreckt ihr Anblick die anderen davon ab, an uns Verrat zu üben.“ Die Hinrichtung der vermeintlichen Spione – die Toten sollten auf Befehl des Klearchos auf den Pfählen stecken bleiben, bis sie verwesten oder von selbst herunterfielen und von irgendwelchen Tieren aufgefressen würden – bewies die Grausamkeit dieses Söldnerführers. Sein Verhalten schien auch damit zu tun zu haben, dass er das Leben und Treiben der „Schmeißfliegen“, wie er die Angehörigen des Trosses nannte, zutiefst verachtete. Die Syrer waren stellvertretend für dieses ganze „Pack“ gepfählt worden. Man glaubte aus seiner finsteren Miene ablesen zu können, dass er die ganze Aktion lieber heute als morgen wiederholen würde. Das ließ sich aus seinem abgrundtiefen Hass auf alles, was Vergnügen bereitete, erklären. Er schien alles zu verabscheuen, was Freude machte – bis auf den blutigen Taumel der Schlacht. Aber auch er konnte nicht verhindern, dass Akrobaten, Schlangenbeschwörer, Märchenerzähler aus dem Orient, Tänzerinnen, Musikanten und Zauberer das eintönige Leben der Soldaten aufzulockern versuchten.

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Obwohl Klearchos ein guter Soldat und ausgezeichneter Feldherr war, konnte er den Gehorsam seiner Leute nur durch äußerste Strenge erzwingen. Er handelte nach dem Grundsatz, ein Soldat müsse seine Vorgesetzten mehr fürchten als den Feind. „Das scheint mir das Verhalten eines Mannes zu sein, der nichts so sehr liebt wie den Krieg − er war eben ein leidenschaftlicher ‚Philopolemos‘. Obwohl es ihm möglich war, ein Leben in Frieden ohne Schande und Verlust zu führen, zog er es vor, im Krieg zu sein. Obwohl es ihm möglich war, sein Dasein in Ruhe zu genießen, wollte er lieber im Krieg Gefahren und Anstrengungen auf sich nehmen. Er hätte ein großes Vermögen ungefährdet genießen können, aber er verschwendete sein Geld für den Krieg wie ein anderer für eine Geliebte oder ein billiges Vergnügen. So sehr liebte er den Krieg. Dass er ein echter Krieger war, zeigte sich auch daran, dass er die Gefahr suchte, Tag und Nacht den Feind verfolgte und in gefährlichen Situationen Vernunft bewies, was alle, die dabei waren, immer und überall bezeugen konnten. Er galt als der geborene Führer, wie er nur aus einem solchen Charakter, wie er ihn besaß, hervorgehen konnte. … Er verstand es, seiner Umgebung beizubringen, dass man ihm gehorchen musste. … Sobald die Soldaten begonnen hatten, mit ihm gemeinsam über die Feinde zu siegen, wirkte sich dies dahingehend aus, dass sie mit ihm tüchtige Soldaten wurden. Das ließ sie gegenüber den Feinden tapfer sein, und die Furcht vor Bestrafung garantierte Ordnung und Disziplin.“226

Nachrichten über Thukydides? Während unseres fünftägigen Aufenthalts in Thapsakos am Euphrat setzte ich meine Nachforschungen nach dem Verbleib des Thukydides fort. Wieder ohne Erfolg. Ich befragte bei jeder Gelegenheit die Leute, die neu zu uns gestoßen waren. Auch in der Stadt selbst versuchte ich es. Aber ich fand kein Lebenszeichen des Gesuchten. Doch eines Tages – wir waren schon in der Nähe der verlassenen Stadt Korsote – kamen drei Männer aus dem Tross zu mir. Sie stammten von der Insel Thasos und behaupteten, sie hätten etwas für mich. Allerdings nur gegen eine angemessene Entschädigung, wie sie sagten. Ich ließ mich auf den Handel ein, machte aber die Höhe der Bezahlung von der Zuverlässigkeit der Informationen abhängig. Die Thasier waren einverstanden. Ein Mann aus Abdera habe von einem Freund aus Amphipolis gehört, vor einigen Wochen habe man Thukydides in einem seiner Goldbergwerke gesehen, berichteten sie. Er habe einen Streit unter einer Gruppe von Bergarbeitern schlichen wollen. „Worüber haben die Arbeiter gestritten?“, fragte ich.

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„Es ging um die schlechten Arbeitsbedingungen. Die Arbeiter weigerten sich, in einen Stollen hineinzukriechen. Einsturzgefahr!“, war die Antwort der Thasier. „Und was tat er dann?“, fragte ich. „Er befahl dem Vorarbeiter, den Stollen sichern zu lassen. Es gelang ihm, die Arbeiter zu beruhigen.“ „Aber woher wisst ihr denn, dass es wirklich Thukydides war?“ „Es hieß, der Eigentümer oder Pächter des Bergwerkes sei persönlich gekommen, um den Streit zu schlichten.“ Diese Antwort überzeugte mich nicht. Selbst wenn der Name des Thuky­ dides gefallen wäre, durfte man sich nicht darauf verlassen, dass es sich um den Gesuchten handelte. Genauso könnte jemand behaupten, er habe den anderen Thukydides, den Sohn des Melesias und politischen Gegner des großen Peri­ kles,227 in Thrakien getroffen. Oder noch einen anderen. Ich bedankte mich bei den Thasiern und gab ihnen einen kleinen Geld­ betrag, obwohl ich mit diesen Hinweisen nichts anfangen konnte. Sollte es wirklich unser Thukydides gewesen sein, so war es doch nicht ausgeschlossen, dass er diesen Streit schon vor seiner Rückkehr aus dem Exil geschlichtet hatte und nicht erst in jüngster Zeit. Die Thasier schworen jedoch Stein und Bein, der Vorgang liege erst wenige Wochen zurück. Ich wunderte mich, dass diese Leute überhaupt etwas von einem Mann namens Thukydides gehört haben wollten. Sie erklärten dazu: „Von Thasos aus ist es doch nicht weit zum Festland. Wir waren auf der Suche nach einem guten Geschäft, und da wurde uns empfohlen, doch einmal zu den Bergwerken auf dem Festland zu gehen; da sei immer etwas zu verdienen. Und dann kam die Rede auf die Gefahren des Bergbaus. Und so weiter.“ Das klang nicht ganz abwegig. Unter normalen Umständen wäre ich der Spur gewiss nachgegangen. Doch ich konnte mir nicht vorstellen, dass er mir nichts, dir nichts nach Thrakien hätte verschwinden sollen, ohne wenigstens eine Nachricht hinterlassen zu haben. Schließlich hätte er doch wenigstens seiner Tochter Philesia etwas sagen müssen, von Gryllos und mir ganz zu schweigen. Und warum hätte er seine Bücher und Papiere so einfach bei uns liegen lassen sollen? Sie waren ihm doch so wichtig. Das war alles unverständlich. Da musste etwas anderes passiert sein. Es wurde mir allmählich bewusst, dass es ganz und gar ausgeschlossen war, ausgerechnet am Ufer des Euphrat eine Spur des Geschichtsschreibers zu finden. Wieder und wieder hatte ich schon damals unseren Kutscher gefragt, ob er nicht doch etwas Auffälliges bemerkt habe, als Thukydides ihm vor dem Haus des Kritias gesagt hatte, er brauche nicht auf ihn zu warten oder ihn wieder abzuholen. Damals habe er sich nur gewundert, dass er so überraschend schnell im Hauseingang verschwunden sei, als ob ihn eine unsichtbare Hand mit

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­ ewalt hereingezerrt hätte. Aber warum nur? War Kritias überhaupt zu Hause? G Hatten vielleicht andere auf Thukydides gewartet? Fragen über Fragen, aber keine Antworten. Und dann kurz darauf das Feuer, das das Haus des Schriftstellers bis auf die Grundmauern niederbrannte? Jahre später erfuhr ich, dass man im Keller des verbrannten Hauses einen bis zur Unkenntlichkeit verbrannten menschlichen Körper gefunden hatte. Aber niemand hatte den schauerlichen Fund mit dem Besitzer des Hauses in Verbindung gebracht, obwohl diese Vermutung nicht ganz unbegründet war. Das Verbannungsurteil hinderte mich daran, meine Nachforschungen in Athen wieder aufzunehmen.228

Flussabwärts Am Ufer des Euphrat ließen uns die Fliegen und Mücken niemals in Ruhe. Nicht einmal bei Nacht. Herodot berichtet, dass die Ägypter gegen Mücken das folgende Mittel ersannen229: Sie stiegen nachts auf Türme, um dort zu schlafen. Weil die Mücken nicht hoch fliegen können, kommen sie den Schlafenden nicht zu nahe. Wir aber hatten am Ufer des Flusses keine Türme. Auch die Netze, die die Leute tagsüber zum Fischen benutzen und nachts um ihre Betten herum aufspannen, standen uns nicht zur Verfügung. Viele Männer bekamen plötzlich Fieber. Einige unserer Ärzte behaupteten, die Mücken brächten die Krankheit. Andere sahen die Ursache in dem verseuchten Wasser des großen Flusses. Es hieß sogar, der persische Satrap Abrokamas habe während seiner Flucht nach Babylon das Wasser vergiften lassen. Viele behaupteten, sie hätten Tierkadaver und menschliche Leichen im Wasser treiben sehen.230 Die griechischen Ärzte befahlen ihnen daraufhin, das Wasser aus dem Fluss abzukochen. Danach könne man es trinken. So kam es nicht dazu, dass jemand aus Angst vor dem Wasser verdurstete. Das Fieber verschwand nach wenigen Tagen genauso überraschend, wie es gekommen war. War es vielleicht ein göttliches Zeichen, das uns warnen sollte? Viele von uns brachten Zeus, Apollon und Asklepios Dankopfer dar. Sie bauten aus Steinen und Reisig kleine Altäre, an denen sie ihre Gebete murmelten. Kyros und seine persischen Begleiter beteten zu einem unsichtbaren Gott, dem Schöpfer und Lenker der Welt, den ihnen ein gewisser Zoroaster verkündet hatte. Dieser war der Enkel des letzten Mederkönigs Astyages, aber durch seine Mutter mit dem regierenden König und dann natürlich auch mit Kyros verwandt. Nach den Gebeten ließ Kyros das ganze Lager „reinigen“, die Menschen, die Tiere, die Waffen, das Gepäck: Die Magier berührten alles mit dem geweihten Feuer einer weiß brennenden Fackel. So wollten sie einem erneuten Aufflammen des Fiebers vorbeugen.

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Kyros hatte übrigens auch einen ägyptischen Arzt im Gefolge, der davon überzeugt war, dass die meisten Krankheiten nicht ausbrechen würden, wenn man auf die Reinlichkeit des Körpers und die Sauberkeit der Nahrungsmittel achtete. Er behauptete, es sei besser, das saubere Fleisch eines frisch geschlachteten Hundes zu essen als die Keule eines an irgendeiner Krankheit verendeten Rindes. Das war den Anhängern des Zoroaster ein abscheulicher Gedanke, weil bei ihnen der Hund ein heiliges Tier ist. Die griechischen Ärzte widersprachen dem Ägypter nicht, hielten aber auch nichts davon, die Krankheit als ein göttliches Zeichen zu deuten. Die Mücken und das faulige Wasser waren die Ursachen. Trotzdem konnten sie nichts dagegenhaben, den Göttern für das Abklingen des Fiebers zu danken. Ich kaufte bei einem syrischen Arzt, der sich uns in Thapsakos angeschlossen hatte, einige Wurzeln, die man kochen und dann auspressen sollte. So erhielt man eine Flüssigkeit, mit der man die Haut einreiben konnte. Dieses ­Mittel wirkte gegen die Mücken, stank aber entsetzlich. Man musste sich also entscheiden, ob man Menschen oder Mücken vertreiben wollte. Selbst die Pferde schienen angewidert zu schnauben, wenn der ekelhafte Gestank des Wurzelsafts in ihre Nüstern drang. Nachdem wir den Araxes, den Nebenfluss des Euphrat, überschritten hatten, hielten wir uns weiterhin, so gut es ging, dicht am Ufer des riesigen Flusses. Wir mussten oft tagelang durch unbewohntes Gebiet marschieren. Das Land war flach wie das Meer. Es gab nur duftendes Gras und viele scheue Tiere, Wildesel, Strauße, Trappen und Gazellen. Manchmal ging ich zusammen mit einigen persischen Reitern auf die Jagd.231 Aber wir hatten nur wenig Glück. Die Tiere waren einfach zu schnell für uns. Mir gingen nur einmal einige Wildesel ins Netz. Die Strauße waren überhaupt nicht zu fangen oder zu erlegen. Nach einigen Tagen sahen wir jenseits des Euphrat die Stadt Charmande.232 Dort wollten wir uns mit den notwendigsten Lebensmitteln versorgen. Um über den Fluss zu gelangen, nähten die Soldaten, die die Lebensmittel kaufen sollten, aus Fellen und Decken große wasserdichte Säcke, in die sie Heu hineinstopften. Auf diesen schwimmenden Kissen konnten sie den Fluss überqueren und die Lebensmittel holen.

Orontas Kurz bevor das Heer die Grenze nach Babylonien überschritten hatte, gab es einen seltsamen Zwischenfall. Im Gefolge des Kyros befanden sich auch zahlreiche Perser, die mehr oder weniger freiwillig dem persischen Prinzen gehorchten und alles taten, um jederzeit nach Lage der Dinge entweder Kyros oder dem Großkönig ihre Loyalität zu beweisen. Kyros sah diese Gefahr genau.

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Denn er schlichtete einmal einen Streit zwischen Klearchos und Menon – Proxenos hatte schon erfolglos versucht, die Streitenden auseinanderzuhalten – mit folgenden Worten: „Klearchos, Proxenos und ihr anderen Griechen, die ihr dabei seid, ihr wisst nicht, was ihr tut. Denn wenn ihr einen blutigen Kampf miteinander anfangt, dann muss euch klar sein, dass ich noch heute erledigt bin und ihr genauso – nur etwas später als ich! Denn wenn wir Schwäche zeigen, werden alle diese Perser hier vor euren Augen für uns schlimmere Feinde sein als die Leute, die sich beim Großkönig befinden.“233 Da trat auf einmal der persische Satrap Orontas auf die Bühne des Geschehens.234 Er näherte sich der Armee des Kyros mit zweitausend Reitern, hielt aber Abstand, um die weitere Entwicklung abzuwarten. Er wollte es so lange wie möglich offenlassen, auf wessen Seite er sich stellte. Denn er konnte noch nicht einschätzen, ob Kyros oder der Großkönig siegen würde. Selbstverständlich wollte er auf der Seite des Siegers stehen. Darum bot er Kyros seine Unterstützung an, schickte aber gleichzeitig einen Brief an den Großkönig, um ihm seine Treue zu versichern. Das doppelte Spiel flog rasch auf. Denn der Bote übergab Kyros den für den Großkönig bestimmten Brief. Orontas war als Verräter entlarvt. Er wurde vor ein Schnellgericht gestellt und zum Tode verurteilt. Aber nachdem er abgeführt worden war, sah man ihn nie wieder – weder tot noch lebendig. Niemand konnte sagen, ob oder wie er starb. Jeder vermutete etwas anderes. Ein Grab wurde nie gefunden. „Kyros rechnete nicht mit echter Solidarität und Einsatzbereitschaft seiner einheimischen Truppen, die zu einem Unternehmen, das sie nicht im Geringsten interessierte, zwangsweise aufgeboten worden waren. … Das Verhalten des Orontas entspricht der realistischen Lagebeurteilung durch Kyros (1, 5, 16). Vermutlich gaben nur wenige persische Würdenträger, die Kyros notgedrungen auf seinem Marsch begleiteten, dem Putschversuch eine echte Chance. Manch einer mag überlegt haben, wie er noch im letzten Augenblick aussteigen und dem Großkönig ein Zeichen seiner Loyalität geben könnte, um spätere Bestrafung zu vermeiden. Der offenbar spontan aus der Situation heraus entwickelte Plan des Orontas war an sich klug ausgedacht: Insbesondere schien es wichtig, die tatsächliche Ankunft der Kyros-Armee in Babylonien so lange wie möglich geheim zu halten, um den Überraschungseffekt ausnutzen zu können.“235 Orontas hatte aber nicht nur klare Machtinteressen. Sein doppeltes Spiel war wohl auch damit zu begründen, dass er – wie Xenophon berichtet236 – Kyros vernichten wollte, nachdem er mit ihm schon früher Krieg geführt, sich dann aber wieder mit ihm ausgesöhnt hatte. Es war dennoch verständlich, dass Kyros das Unterstützungsangebot seines alten Feindes annahm, weil er auf diese Weise verhindern wollte, dass seine Pläne zu früh in Babylon bekannt wurden, und weil er für seinen Endkampf gegen den Großkönig jede Unterstützung brauchte.

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Wachsende Spannung Die Spannung wuchs. Die Entscheidungsschlacht stand unmittelbar bevor. ­Kyros befahl eine letzte Musterung seiner Streitmacht und ließ die Zahl seiner Soldaten schätzen. Er war fest davon überzeugt, dass der Großkönig umgehend angreifen werde.237 Er rief die Feldherren und Hauptleute zusammen und hielt eine beeindruckende Rede, um ihren Kampfgeist zu stärken: „Ihr Griechen, ich habe euch nicht hierher geführt, weil ich zu wenige Perser auf meiner Seite ­hätte. Ich bin vielmehr davon überzeugt, dass ihr besser und stärker seid als viele Perser. Deshalb habe ich euch angeworben. Ihr werdet jetzt die Gelegenheit bekommen zu beweisen, dass ihr die Freiheit verdient, die ihr einst erworben habt und für die ich euch glücklich preise. Denn ihr sollt wissen, dass auch ich diese Freiheit allem anderen, was ich besitze, vorziehen würde.“238 Ob Kyros diesen Wunsch ernst meinte, lieber ein freier Grieche als ein ­reicher Perser zu sein, ist hier nicht die Frage. Beeindruckend aber war sein Hinweis auf die Freiheit, die sich die Griechen einst erkämpft hatten. Denn damit wollte er den griechischen Söldnern ihre heroischen Vorfahren als Vorbilder vor Augen stellen, hatten diese doch vor fast hundert Jahren eine gewaltige persische Übermacht in mehreren großen Schlachten siegreich abgewehrt. Die Schlacht bei Marathon (490 v. Chr.) mit ihrem Sieg über die persischen Inva­ soren verpflichtete die Nachfahren der siegreichen Kämpfer dazu, Gleiches zu leisten. Es war auch zu erwarten, dass die Perser dies ähnlich sahen und den Mut und die Kampfbereitschaft der Hellenen fürchteten.

Kunaxa und die Folgen Kunaxa lag fünfhundert Stadien239 nordöstlich von Babylon. Xenophon vermied es, den Namen des Ortes in seinem Tagebuch zu erwähnen. Er wollte ihn vergessen. Denn es war für ihn ein Ort des Scheiterns und der schmerzlichen Erinnerung. Kyros fiel im Kampf. Sein toter Körper wurde verstümmelt, sein Kopf auf eine Lanze gespießt. Xenophon schildert die Schlacht in seinem Tagebuch – soweit er sie über­b­licken konnte: Die griechischen Söldner blieben ungeschlagen und kampf­ bereit.240 Sie konnten aber die persischen Soldaten nicht daran hindern, das Lager des Kyros zu erobern. In dem allgemeinen Chaos fiel den plündernden Horden auch der Harem des Prinzen in die Hände.241 Die Frauen – unter ihnen befanden sich auch einige Griechinnen – wurden gefangen genommen und nach Babylon gebracht. Nur eine von ihnen konnte fliehen und suchte Schutz im erfolgreich verteidigten Lager der griechischen Söldner.

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Es verging nur wenig Zeit, bis eine Delegation des Großkönigs und des S­ atrapen Tissaphernes vor dem Tor erschien, um die Kapitulation der Söldner entgegenzunehmen. Ein einziger Grieche war darunter: Phalinos aus Zakynthos, ein Berater des Tissaphernes.242 Als die Unterhändler in Rufweite waren, verlangten sie, die Feldherren sollten zu ihnen kommen, um die Befehle des Großkönigs entgegenzunehmen. Er sei der Sieger; denn er habe Kyros getötet. Die Griechen sollten unverzüglich ihre Waffen ausliefern, um Schlimmeres zu verhindern. Klearchos lehnte dies entschieden ab: Es sei nicht Sache des Siegers, seine Waffen auszuliefern. Proxenos ergänzte spöttisch, er wolle zuvor wissen, ob der Groß­könig die Waffen als Siegesbeute oder als Geschenk unter Freunden betrachte. Phalinos erwiderte im Auftrag des Artaxerxes243: „Der Großkönig ist zweifellos der Sieger, da er Kyros getötet hat. Wer könnte ihm denn die Herrschaft streitig machen? Auch ihr seid jetzt sein Eigentum. Denn er hat euch mitten in seinem eigenen Land zwischen zwei Flüssen, die man nicht überschreiten kann,244 in seiner Gewalt. Und er kann solche Massen von Menschen gegen euch in Marsch setzen, dass ihr diese, selbst wenn er euch die Gelegenheit dazu geben würde, niemals vernichten könntet.“ Zur allgemeinen Überraschung ergriff daraufhin der Athener Xenophon das Wort – in seinem Tagebuch gab er sich selbst das Pseudonym „Theopompos aus Athen“,245 was so viel bedeutet wie „der von Gott Gesandte“: „Phalinos, wie du siehst, besitzen wir im Augenblick nichts anderes als unsere Waffen und unsere Tapferkeit. Wenn wir unsere Waffen behalten, sind wir davon überzeugt, unsere Tapferkeit beweisen zu können. Wenn wir sie aber abliefern, müssen wir damit rechnen, unser Leben zu verlieren. Erwarte also nicht, dass wir euch unsere einzigen Güter kampflos überlassen. Mit diesen werden wir vielmehr sogar um euren Besitz kämpfen.“246 Diese selbstbewussten Worte passten sehr gut zu der tatkräftigen Initiative, die Xenophon einige Zeit später bewies, als er die Soldaten nach dem Verlust ihrer Führer aus ihrer Verzweiflung und Mutlosigkeit herausriss und zum Handeln anspornte.247 Phalinos aber erwiderte mit spöttischem Lächeln: „Du redest wirklich wie ein Philosoph, junger Mann, und du sagst hübsche Dinge, doch sei dir darüber im Klaren, dass du sehr unvernünftig bist, wenn du glaubst, eure Tapferkeit könne der Macht des Großkönigs überlegen sein.“248 Phalinos bestand zwar darauf, dass die griechischen Söldner ihre Waffen auslieferten. Aber der Großkönig schien tatsächlich einlenken zu wollen und zum Abschluss eines Waffenstillstandsvertrags bereit zu sein. Denn nach einiger Zeit traf eine weitere persische Delegation ein, um Verhandlungen zu beginnen.249 Tissaphernes behauptete sogar, er sei dazu bereit, den Griechen sicheres

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Geleit zur kleinasiatischen Küste zu gewähren.250 Der Großkönig erwartete z­ uvor jedoch eine überzeugende Antwort auf die Frage, warum sie überhaupt gegen ihn zu Felde gezogen seien.251 Sie berieten sehr sorgfältig darüber und ließen Klearchos den Persern schließlich Folgendes mitteilen: „Wir haben uns nicht zusammengeschlossen, um mit dem Großkönig Krieg zu führen. Aber Kyros fand viele Vorwände, wie du es ja auch genau weißt, um uns hierher zu führen und euch unvorbereitet zu überraschen. Dann allerdings sahen wir, dass er sich in ernster Gefahr befand. Da schämten wir uns vor ­Göttern und Menschen, ihn zu verraten, weil wir es uns in der Vergangenheit gern gefallen ließen, von ihm Wohltaten zu empfangen. Aber jetzt ist Kyros tot, und wir machen dem Großkönig weder die Herrschaft streitig noch haben wir einen Grund, seinem Land zu schaden. Und wir wollen ihn schon gar nicht umbringen. Wir befinden uns auf dem Weg nach Hause, wenn uns niemand Schwierigkeiten macht. Sollte uns aber jemand angreifen, so werden wir versuchen, uns mit Hilfe der Götter gegen diesen zu wehren. Sollte uns aber jemand unterstützen, so werden wir es ihm nach Kräften angemessen vergelten.“252

Tissaphernes’ Verrat Der Großkönig garantierte den Griechen daraufhin freien Abzug. Tissaphernes bekam die Erlaubnis, die Männer bis an die kleinasiatische Küste zu begleiten. Sie hatten jedoch trotz dieser Vereinbarung größtes Misstrauen gegenüber dem Perser und seinem Gefolge. Eines Tages – sie hatten den Fluss Zapatas erreicht – ersuchte Klearchos den Satrapen um eine Unterredung. Diese kam zustande, und er versuchte zu verdeutlichen, dass ihm von den Griechen keine Gefahr drohe.253Auch Klearchos ließ sich davon überzeugen, dass Tissaphernes nichts gegen die Griechen im Schilde führe. Dieser ließ sogar durchblicken, er verfolge insgeheim die gleichen Ziele wie Kyros. Dennoch wollte Klearchos sichergehen und herausfinden, ob es unter den Griechen vielleicht einen Verräter gab, der mit den Persern gemeinsame Sache machte. Aus diesem Grund erklärte er sich dazu bereit, der Einladung des Tissaphernes zu folgen und mit fünf Feldherren und zwanzig Hauptleuten in dessen Lager zu kommen, um die Angelegenheit gemeinsam mit den Persern aufzuklären. Nur wenige der Soldaten hielten es für zu gefährlich, wenn ihre Hauptleute und Feldherren dieser Einladung Folge leisteten. Man dürfe Tissaphernes auf keinen Fall vertrauen. Aber diese Warnung blieb ungehört.

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Als die griechischen Offiziere schließlich vor seinem Zelt standen, wurden sie hereingerufen, sofort entwaffnet und gefangen genommen. Klearchos ­w urde gleich getötet, die anderen nach Babylon gebracht und dort hingerichtet 254 – bis auf Menon. Man hörte nie wieder etwas von ihm.

Eine höchst bedrohliche Lage Nach dem Verlust unserer Feldherren und Hauptleute waren wir dem Feind fast schutzlos ausgeliefert. Denn wir befanden uns mitten in Persien umgeben von Feinden, mussten ständig mit Überfällen rechnen und hatten kaum noch die Möglichkeit, uns Nahrungsmittel zu beschaffen. Wir waren zehntausend ­Stadien von zu Hause entfernt 255 und hatten keine ortskundigen Führer, die uns den Weg zeigen konnten. Große Flüsse versperrten uns den Weg. Die meisten von uns überfiel ein lähmendes Entsetzen. Niemand konnte begreifen, was passiert war. Der Wortbruch des Tissaphernes machte uns bewusst, dass wir von den Persern nichts als den Tod oder die Sklaverei zu erwarten hatten. Mir wurde sehr schnell klar, dass die Perser von der allgemeinen Mutlosigkeit nichts erfahren durften. Wir mussten ihnen weiterhin das Bild einer schlagkräftigen Armee bieten. Durch meine zahlreichen Gespräche mit den Soldaten in den vorausgegangenen Monaten und durch meine allgemein als wichtig anerkannte Rolle als Verfasser des Kriegstagebuches – Kyros hatte oft genug darauf hingewiesen und alle dazu aufgefordert, meine Arbeit zu unterstützen – hatte ich mir im Laufe der Zeit Respekt unter den Leuten erworben. Auch mein beherztes Auftreten gegenüber Phalinos konnte seine Wirkung nicht verfehlen. Man achtete mich. Daher fühlte ich mich in der gegenwärtigen Notlage verpflichtet, die Männer wenigstens mit Worten zu ermutigen. Ich musste sie davon überzeugen, dass wir uns auf keinen Fall aufgeben durften – trotz aller Hoffnungslosigkeit. Von meinen sophistischen Lehrern hatte ich etwas sehr Wichtiges gelernt: Man kann seine Worte als Waffe gebrauchen, um seine Ziele zu erreichen. Jetzt war der Ernstfall gekommen. Die sophistische Rhetorik musste beweisen, dass sie auch Leben retten konnte, indem sie die Bereitschaft zu entschlossenem Handeln weckte. Schon gegenüber Phalinos war ich mit Erfolg dafür eingetreten, den Persern auf keinen Fall unsere Waffen auszuliefern. So hatte ich doch erklärt, nur im Besitz unserer Waffen könnten wir unsere Tapferkeit beweisen.256 Jetzt war es an der Zeit, diese Behauptung zu bestätigen. Da kamen mir wieder die Götter zu Hilfe: Sie schickten mir einen Traum.257 Mir war bewusst, dass uns Träume göttliche Zeichen geben. Daher beschäftigte ich mich schon früh mit der Kunst, sie zu deuten und aussagekräftige von nichtigen Träumen zu unterscheiden. Ich habe das jedenfalls immer wieder versucht.258

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So war es auch jetzt: Ein Blitz schlug in das Haus meines Vaters Gryllos ein, das dadurch in ein helles Licht getaucht wurde. Diese Erscheinung war kein Hinweis auf einen Großbrand,259 wie ich zuerst glaubte, sodass ich noch im Schlaf heftig erschrak und sofort aufwachte. Ich hatte ein von Zeus gesandtes Licht gesehen. Das war ein Zeichen der Hoffnung. Aber es konnte auch etwas Schlimmes bedeuten: Wir waren ringsum von Feuer umgeben und konnten nicht mehr entkommen. Der Großkönig verhinderte unsere Flucht. Was einem ein solcher Traum aber tatsächlich sagen will, ergibt sich aus den Gedanken, die man sich unmittelbar nach dem Traum macht. Ich fragte mich: „Warum liege ich hier tatenlos auf dem Boden? Im Morgengrauen werden die Feinde angreifen. Wenn wir dem Großkönig in die Hände fallen, müssen wir wie unsere Offiziere jämmerlich zugrunde gehen. Worauf soll ich noch warten? Ich muss etwas tun!“260 Ich dachte nicht mehr daran, dass ich hier war, weil ich betrogen worden war. Auch Proxenos machte ich keinen Vorwurf. Er war ja selbst hintergangen worden.261 Ich rief die Hauptleute meines toten Freundes zusammen, weil ich diese am besten von allen kannte, und teilte ihnen die Gedanken mit, die der gottgesandte Traum in mir ausgelöst hatte. Ohne diesen hätte ich wahrscheinlich nicht den Anstoß dazu bekommen, die griechischen Söldner dazu aufzufordern, sich nicht aufzugeben, sondern um ihr Überleben zu kämpfen. Aber nicht ich habe sie am Ende gerettet, wie es später hieß, sondern es war Zeus, der mir den Traum geschickt hatte.

Xenophons Entschlossenheit Es war die „lebendige Vorführung der logischen Gedankenkette, welche der Traum in Xenophon auslöste, während er noch auf seinem Lager lag – für ihn ein Beweis der wirkmächtigen Bedeutung gottgesandter Träume, aber auch für den heutigen Leser die nachvollziehbare Darstellung eines ‚Erweckungserlebnisses‘, das einen Menschen aus einer lethargischen Ergebenheit in sein Schicksal plötzlich zu energischem Handeln aufgerüttelt hat. Die ersten Überlegungen führen folgerichtig zu dem Gedanken, dass die bisher so zielbewusst ihre Rettung betreibenden Griechen noch vor dem Morgengrauen die Verteidigung gegen den zu erwartenden Angriff der Perser organisieren müssen, wenn sie nicht – durch pures Nichtstun – selbst ihren schändlichen Untergang herbeiführen wollen. Dann tritt ihm – angesichts der allgemeinen Konzeptionslosigkeit verständlich – seine eigene Person vor Augen. Tatsächlich waren nur noch drei Generäle der ursprünglichen Führungsspitze im Heer.“262

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Aber diese waren ebenso verstört wie die einfachen Soldaten. Selbst der erfahrene spartanische General Cheirisophos ließ in dieser von lähmendem Entsetzen geprägten Situation nichts von sich hören. So fühlte sich Xenophon selbst durch den Traum zum Handeln aufgerufen. „Er gewährt uns hier einen überzeugenden Einblick in sein Denken. Auch wenn er die vorgetragenen Erwägungen in seinem Tagebuch gewiss nicht in der Form, wie wir sie lesen, notiert hatte, so stellen sie doch eine glaubhafte Rekonstruktion seiner damaligen Lagebeurteilung dar. Vermutlich vergrößert er seine eigene Rolle; aber es bleibt doch festzuhalten, dass er es war, der zunächst die Lochagen des Proxenos, später mit deren Hilfe auch die anderen Offiziere zu energischem Handeln bewog und damit die Voraussetzungen für einen geordneten Rückzug schuf. Dass es dazu zahlreicher Reden, Diskussionen und Abstimmungen bedurfte, entspricht der Wirklichkeit, ebenso aber auch, dass Xenophon wie wohl kaum ein anderer in dieser Söldnerarmee die Kunst der Rede beherrschte und ihr nicht zuletzt seinen von jetzt an erkennbaren Einfluss auf das Geschehen verdankte.“263

Die Wahl zum General Ich sagte den Männern nichts, was sie nicht selbst schon wussten: „Die Perser sind uns in jeder Hinsicht überlegen264 und haben nur das Ziel, uns zu vernichten. Aber die Götter sind mit uns. Die Perser brachen die Eide, die sie ihnen schworen. Und wir sind den Feinden weit überlegen, wenn es darum geht, Kälte, Hitze, ­Anstrengung und Entbehrung zu ertragen. Doch was das Wichtigste ist: Wir haben mit Hilfe der Götter die bessere Kampfmoral. Lasst uns jetzt auch die anderen zum Widerstand auffordern. Wenn ihr wollt, werde ich euch folgen; wenn ihr mich aber an die Spitze stellt, werde ich nicht sagen, dass ich zu jung dafür bin.“265 Meine Rede hatte eine starke Wirkung. Die Soldaten fassten wieder Mut. Sie besannen sich auf ihre Fähigkeiten. Es wurde ihnen bewusst, wie wichtig es war, überleben zu wollen. Es ging jetzt nicht mehr darum, irgendeinem Soldherrn Tapferkeit zu zeigen. Es ging nur darum durchzuhalten. Dann kam alles sehr schnell: „Xenophon soll uns führen!“, rief einer der Männer des Proxenos. „Xenophon war der Freund unseres toten Feldherrn. Er soll an seine Stelle treten. Das ist die Pflicht eines Freundes!“ Ich widersprach nicht, hatte ich doch die Männer zum Widerstand gegen das Schicksal aufgerufen und ihnen verheißen, dass wir alle Schwierigkeiten bewältigen könnten. Jetzt musste ich meinen Worten Taten folgen lassen. Wie in der athenischen Volksversammlung, der Ekklesia, sollte über diesen Vorschlag abgestimmt werden. Ich wollte ordnungsgemäß gewählt werden und wurde gewählt.

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Heute ist mir bewusst, dass ich die altgedienten Lochagen mit der Erklärung, ich sei bereit, sie zu führen, auch hätte abschrecken können. Aber es kam völlig anders: Die kampferprobten Männer waren bereit, den Schreiber ihres Kriegstagebuches, der keinen anderen Posten im Heer bekleidete, als ihren Vorgesetzten anzuerkennen. Damals dachte ich bei mir, dass den Offizieren vor allem meine Tatkraft imponierte, und außerdem waren sie das leidige Problem los, einen Befehlshaber aus ihren eigenen Reihen bestimmen zu müssen. Unverzüglich fanden sich die Männer zu einer allgemeinen Heeresversammlung ein. Man forderte mich auf, noch einmal eine Ansprache halten. Vor allem appellierte ich an die unbedingte Pflicht der Offiziere, den Soldaten mit gutem Beispiel voranzugehen. Ich verlangte aber auch, die verlorenen Führer durch Neuwahlen zu ersetzen, damit wieder Ordnung und Disziplin einkehrten. Wie schon vor den Lochagen beschwor ich vor allen Soldaten unsere moralische Überlegenheit, die uns unangreifbar mache. Nach mir ergriff der Spartaner Cheirisophos das Wort und dankte mir. Er sorgte dafür, dass meine Vorschläge ohne weitere Erörterung in die Tat umgesetzt wurden. Durch die Anerkennung, die mir der Spartaner in aller Öffentlichkeit erwies, wurde ich in den Kreis der Befehlshaber aufgenommen. Ich war zum legitimen Nachfolger des toten Proxenos geworden.266 Jetzt musste so schnell wie möglich gehandelt werden. Das Ziel war klar. Wir wollten nicht einfach nur überleben, sondern nach Hause zurück. Der ­direkte Weg nach Sardes und Ephesos war uns verschlossen. Die Perser hätten uns mühelos daran hindern können, diesen Weg zu nehmen. Mein Plan war es, am Ufer des Tigris den Weg nach Norden, zum Pontos Euxeinos, dem „gastlichen Meer“, einzuschlagen. Das war zwar immer noch gefährlich, aber eine andere Möglichkeit gab es nicht. Mein taktisches Ziel war es, überraschende Überfälle zu verhindern oder erfolgreich abzuwehren. Weiterhin musste ich für mehrere Tausend Soldaten die Versorgung mit Lebensmitteln sicherstellen. Dafür gab es zwei Möglichkeiten: Wir konnten diese unterwegs auf irgendwelchen Marktplätzen einkaufen oder in den Dörfern, durch die wir zogen, einfach requirieren. Dabei mussten wir mit Gegenwehr rechnen. Konflikte drohten auch an den Wasserstellen. In den regenarmen Gebieten gab niemand gern größere Mengen Wasser ab. Der noch verbliebene Tross musste gegen Überfälle geschützt werden. Wir konnten es uns nicht leisten, Zelte, Futter für die Pferde und wertvolles Material zu verlieren. Allerdings war es auch nicht ausgeschlossen, in den Dörfern Lebensmittel für irgendwelche Gegenleistungen zu bekommen: Ich dachte an die Kunst unserer Ärzte und den Sachverstand unserer Handwerker. Auf diese Weise könnten wir die notwendigen Lebensmittel bezahlen.

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Die neue Rolle Nach seiner Wahl zum Nachfolger des Proxenos berief Xenophon wieder eine Heeresversammlung ein, um über das weitere Vorgehen beraten zu lassen. Im Schmuck seiner neuen attischen Rüstung brachte er noch einmal seine Gewissheit zum Ausdruck, dass die griechischen Söldner mit göttlicher Hilfe alles überstehen würden, wenn sie jetzt ihre Entschlossenheit und Tatkraft bewiesen. Bei diesen Worten nieste ein Mann, und alle, die das hörten, dankten den Göttern für dieses gute Vorzeichen.267 In seinem Tagebuch hielt Xenophon fest: „Ich hatte das große Glück, dass in dem Augenblick, als ich die Hilfe der Götter beschwor, einer der Soldaten laut nieste und damit die ganze Truppe in einen religiösen Taumel versetzte.“ Weil Niesen als ein gutes Vorzeichen galt, durch das ein Gott seine Hilfe ankündigte, forderte Xenophon die Soldaten dazu auf, unverzüglich Dankopfer abzuhalten. Auf diese Weise brachte er das ganze Heer hinter sich. Einen besseren Einstand in sein neues Amt hätte er sich gar nicht wünschen können.268 Xenophon wies mehrfach darauf hin, er habe stets über seine Vorschläge für das weitere Vorgehen abstimmen lassen – wie in einer athenischen Volksversammlung – und den Griechen immer wieder Mut zugesprochen, indem er sie an die gewaltigen Leistungen ihrer Vorfahren erinnerte.269

Ausserordentliche Führungsqualitäten Dass Xenophon auf die siegreich beendeten Perserkriege der Vergangenheit hinwies, ist aus verschiedenen Gründen bemerkenswert. Die Angesprochenen waren Söldnerführer und Söldner, die sich Kyros nicht aus patriotischen Gründen angeschlossen hatten, um für ihr Vaterland zu kämpfen. Söldner waren und sind keine Patrioten. Es ist daher zu fragen, ob die Erinnerung an die Siege gegen die Perser wirklich einen hohen emotionalen Wert besaß. Xenophon wollte den Söldnern wenigstens vor Augen führen, dass auch zahlenmäßig Unterlegene einen mächtigen Gegner besiegen können. Nach dem Verlust ihrer Führer mussten die Söldner nicht nur befürchten, vernichtet oder versklavt zu werden. Sie konnten auch nicht mehr damit rechnen, ihren Sold oder andere Belohnungen zu bekommen. Wenn man außerdem bedenkt, dass Söldner zu Disziplinlosigkeit oder Aufkündigung ihrer Dienste neigen, sobald ihre Erwartungen nicht erfüllt werden, ist Xenophons Leistung beeindruckend. Er verfügte nicht nur über ein besonderes organisatorisches Geschick und natürliche Führungsqualitäten. Er hatte auch ein stabiles Selbstvertrauen und eine überragende rhetorische Begabung, die ihm eine bemerkenswerte Autorität verschafften.

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Noch zu Lebzeiten des Kyros ließ „schon sehr bald die Disziplin nach, wobei sich verschiedene Stufen verfolgen lassen: Nicht nur vergreifen sich die Söldner an durchzogenen Städten und sonstigem Besitz, sondern sie murren auch gegen ­Kyros und seine Strategen, und mehrmals grenzt ihr Verhalten fast an Meuterei. Die aus der Poliswelt weitgehend gelösten Elemente können sich eben auch in eine neue Gemeinschaft oder Gesellschaft kaum einfügen oder wollen jedenfalls ihre persönlichen Wünsche auf Beute und ein bequemes Leben, das häufig auch in der Mitführung von Familie oder Sklaven bestand, nicht zugunsten einer bewussten Disziplin zurückstellen. Die Anführer können sich ihnen gegenüber nur schwer durchsetzen, zumal Strafmittel auch nur im begrenzten Maß angewandt werden dürfen. Lieber arbeitet man … mit dem Mittel der Überredung und vor allem mit zahlreichen Versprechungen. … Eine Treueverpflichtung gegenüber den ‚Kameraden‘ gibt es kaum – sodass in den entscheidenden, krisenhaften Momenten jeder nur sich zu salvieren sucht. Zeigt Thukydides das am Ausgang der syrakusanischen Expedition oder an einzelnen Ereignissen des Dekeleischen Krieges, so ist es bei Xenophon nach der Ankunft der 10 000 in Trapezunt noch deutlicher sichtbar; eigentlich erstaunlich, da die Hauptgefahren überwunden waren – aber im Charakter der Söldner eben wohlbegründet, die nun nur noch an Bereicherung (auch durch Piraterie), Heimkehr oder Eingehen neuer günstiger Soldbedingungen denken! Im Grunde ist das weitgehende menschliche Versagen der Söldner natürlich nicht nur auf die Situationen des Krieges, die Unstetheit des Lebenswandels oder das meist schlechte Verhältnis zum Soldherrn zurück­zu­ führen. Vielmehr drängt meist schon die Herkunft und der Charakter dieser ­Soldaten dazu, handelt es sich doch durchweg um deklassierte Elemente, um Abenteurer, Verbannte, Verbrecher oder Leute, die eben in der Heimat keinen Lebensunterhalt gefunden hatten; also Menschen, die aus der natürlichen Gesellschaftsformation, der üblichen sozialen Verzahnung herausgerissen waren.“270 Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass Xenophon seine eigene Begründung für seine Teilnahme am Zug der Zehntausend so stark hervorhebt271: Er war kein Söldner, hatte also ursprünglich keine militärische Funk­ tion, sondern nahm eben nur die Einladung eines Freundes zu einer Reise nach Persien an. Er legte Wert darauf zu betonen, dass er anders als die gewöhn­ lichen Söldner kein gesellschaftlich entwurzelter Abenteurer war. Er hob seine Sonderstellung in seinem Kriegstagebuch deutlich hervor und wählte seine Worte darüber sehr sorgfältig.

Taktische Veränderungen Der angesehene spartanische General Cheirisophos forderte nun die Soldaten auf, Xenophons Vorschläge anzunehmen. Das taten sie dann auch. Ohne zu

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murren, vernichteten sie alles Überflüssige. Nur so war die größtmögliche Marschgeschwindigkeit zu erzielen. Das leuchtete jedem ein. Xenophon ließ die Marschformation der Armee verändern: Die Zehntausend marschierten nicht mehr in einer langgezogenen und daher leicht angreifbaren Kolonne, sondern bildeten ein kompaktes Karree. Den noch verbliebenen Tross nahmen sie in die Mitte, die Hopliten bildeten gewissermaßen den Rahmen des Karrees, soweit das Gelände es zuließ. Um Angriffe besser abwehren zu können, ließ Xenophon leicht bewegliche Einheiten bilden. So konnte er eine Abteilung aus etwa 200 Schleuderern und eine kleine Reitertruppe von immerhin noch fünfzig Mann zusammenstellen. Während die Zehntausend zunächst auf verhältnismäßig leichtem Gelände zügig vorankamen, nur gelegentlich von den Persern angegriffen wurden und kaum Verluste zu beklagen hatten, änderte sich die Lage grundlegend, als sie in das Land der Karduchen272 eindrangen. In seinem Tagebuch hielt Xenophon fest, dass die Söldner fast ununterbrochen in Kämpfe verwickelt waren, während sie durch das Gebirge zogen. Sie hatten damals Schlimmeres auszuhalten als zuvor gegen den Großkönig und Tissaphernes.273

Wieder einmal belogen und betrogen Bevor wir den Punkt erreichten, von wo aus man das Meer sehen konnte,274 hatten wir noch einige Schwierigkeiten mit den Bewohnern der dortigen Gegend zu überstehen. So stellten uns zum Beispiel die Skythenen einen Führer zur Verfügung, der uns unbehelligt durch ihr Gebiet geleiten sollte. Dann aber forderte uns dieser dazu auf, einige Dörfer zu plündern und niederzubrennen. Der Skythenenhäuptling hatte uns den Mann offensichtlich nicht aus Freundlichkeit mitgegeben: Wir sollten ihm ungehorsame Untertanen unterwerfen oder gar vernichten helfen. Wir ließen uns also für eine blutige Strafaktion missbrauchen. Auch wenn wir uns seit Monaten daran gewöhnt hatten, Gewalt auszuüben, auszuhalten und abzuwehren, hielten viele von uns es für unerträglich, wieder einmal hintergangen und betrogen worden zu sein! Es gehört offensichtlich zum Wesen des Menschen, durch Lügen und Betrügen Macht auszuüben. Als ich später das Geschichtswerk des Thukydides las, wurde mir schlagartig klar, dass unser Handeln nicht nur im Siedlungsgebiet der Skythenen, sondern auch vor und nach Kunaxa die zentrale Aussage seines Werkes bestätigte: Wir haben zahlreiche Beispiele von Boshaftigkeit und Unmenschlichkeit nicht nur erlebt, sondern auch selbst geliefert. Wir waren Opfer und Täter zugleich. Was sich nach Thukydides in dem mörderischen Krieg zwischen Athenern und Sparta-

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nern abspielte, haben auch wir während der vielen Monate vor und nach ­Kunaxa – nur in einem kleineren Rahmen – Wirklichkeit werden lassen. Thukydides hatte recht: Solange der Mensch existiert, wird es den Unmenschen geben.275 Der Unterschied zwischen dem großen Peloponnesischen Krieg und dem Zug der Zehntausend bestand nur in der Anzahl der Menschen, die daran beteiligt waren und den Krieg als „einen gewalttätigen Lehrmeister“ erlebten.276 Dieser hatte ein leichtes Spiel, weil er nur die natürliche Veranlagung des Menschen freizusetzen brauchte. In einer Zeit des Friedens wären die bösen Eigenschaften nicht hervorgetreten und wirksam geworden. Der Zug der Zehntausend gab mir also nicht nur die Möglichkeit, Thukydides zu suchen, sondern am Ende auch zu finden, indem ich seine Gedanken zu verstehen begann, aber erst als ich mein Kriegstagebuch in Skillus abschloss, 277 in ihrer ganzen Tragweite begriff. Obwohl wir bei Kunaxa scheiterten, ohne geschlagen worden zu sein, blieb doch in den Monaten danach die ständige Angst vor den Persern die treibende Kraft. Auch darin hatte Thukydides recht. „Nach den Perserkriegen – so die Athener – sahen wir uns gezwungen, unsere Macht bis zum gegenwärtigen Umfang auszudehnen, und zwar vor allem aus Angst, dann um der Anerkennung willen und schließlich zu unserem Nutzen.“278 Das waren auch bei uns Kyreern die treibenden Kräfte.

Ein erster Blick auf das Meer 279 Dann geschah etwas Merkwürdiges. Die Spitze unserer Truppen hatte den Berg Theches erreicht.280 Als die Ersten oben angekommen waren und das Meer sahen, brachen sie in ein gewaltiges Geschrei aus. Wir, die Männer der Nachhut, hörten dies und befürchteten einen Überraschungsangriff. Denn eine Gruppe möglicher Angreifer verfolgte uns seit längerer Zeit. Sie wollten sich dafür ­rächen, dass wir ihre Dörfer in Brand gesteckt und einige von ihnen getötet oder gefangen genommen hatten, nachdem wir sie in einen Hinterhalt gelockt hatten. Wir hatten ungefähr zwanzig Schilde erbeutet, die aus den dicht behaarten Häuten frisch geschlachteter Rinder angefertigt waren. Als das Geschrei noch zunahm und die jeweils Nachrückenden möglichst schnell zu den Schreienden hinzulaufen versuchten, sprang ich auf mein Pferd und galoppierte mit Lykios und den anderen Reitern an den Übrigen vorbei, um Hilfe zu leisten. Kurz darauf verstanden wir, was die Soldaten immer ­w ieder aus Leibeskräften schrien: „Thalatta! Thalatta!281 Das Meer! Das Meer!“

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Endlich am Ziel Der Kreis schloss sich. Die Kyreer waren am Endpunkt ihrer abenteuerlichen Expedition angekommen. Ihre „Odyssee“ war – wenigstens vorläufig – zu Ende und die Heimat in Sichtweite. Dabei ist es gleichgültig, ob es das Schwarze oder das Mittelländische Meer war: Hauptsache das Meer. Denn: „Es ist unsere ­große, süße Mutter.“282 „Mit dem Schwarzen Meer, an dessen Ufern so viele griechische Kolonialstädte liegen, grüßt die hellenische Heimat über die Berge hin jene fast ver­ lorene heimwehkranke Schar. Denn an Heimweh leiden sie seit dem Tode des Kyros und der Ermordung der Strategen, ausgeliefert den Gefahren der Fremde: ‚Sie konnten nicht schlafen vor Trauer und Sehnsucht nach der Heimat, den Eltern, den Frauen, den Kindern, die sie nie wiederzusehen meinten‘ (3, 1, 3). … Das Meer ist ihnen heimatlich vertraut, mehr noch, es verheißt Heimkehr, Sicherheit, Ende aller Mühen. Als die Griechen dann nahe am Meer vor Trape­ zunt eine Soldatenversammlung halten, da gibt Leon aus Thurioi der allgemeinen Stimmung Ausdruck, als er sagt: ‚Ich habe das Packen, Marschieren, Laufen, Waffentragen, in Reih und Glied und auf Wache Stehen und das Kämpfen satt. Wo wir doch am Meer sind, möchte ich den Rest des Weges ohne Strapazen mit dem Schiff fahren und bequem ausgestreckt wie Odysseus nach Griechenland kommen‘ (5, 1, 2). Wohl wird hier nur auf die letzte Phase der Irrfahrten angespielt, wie Odysseus, vom Phäakenschiff heimgebracht, im Schlaf Ithaka erreicht, das Ziel, nach dessen Anblick er sich so lange gesehnt hatte. Aber das Bewusstsein, eine ‚Odyssee‘ erlebt zu haben, ließ nicht nur auf günstigen Ausgang des Abenteuers, sondern auch auf Ruhm hoffen, ‚der bis zum Himmel reicht‘ (Od. 9, 20). Dass solche literarischen Reminiszenzen gut ‚ankamen‘, zeigt Xenophons Mahnrede an die Söldnerführer vor Beginn des Rückmarsches, wo er das erste Abenteuer des Odysseus bei den Lotophagen erwähnt, als die Gefährten im Genuss den Heimweg vergaßen (3, 2, 25).“283 In der Odyssee beschreibt Homer die von Leon aus Thurioi erwähnte Abfahrt von den Phäaken folgendermaßen284: „Als sie aber zum Schiff und an das Meer kamen, verstauten die Männer, die Odysseus begleiteten, alles an Bord, seinen gesamten Proviant. Auf dem Deck im hinteren Teil des gewölbten Schiffes breiteten sie ihm eine Decke und ein Tuch aus, damit er ungestört schlafen konnte. Darauf stieg er selbst ein und legte sich schweigend hin. Die Männer setzten sich der Reihe nach ordentlich auf die Ruderbänke und lösten das Tau vom durchlöcherten Stein. Dann lehnten sie sich zurück und schlugen das Meer mit ihren Rudern. Ihm selbst fiel ein tiefer Schlaf auf die Augenlider, der nicht unterbrochen wurde. … So fuhr das Schiff schnell dahin und durchschnitt die Wogen des Meeres. Es trug den Mann mit seinen göttergleichen Gedanken, der bisher sehr viele Leiden in seinem Herzen ertragen hatte, als er

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die Kriege der Männer und die schmerzhaften Wogen durchlebte. Jetzt aber schlief er fest und hatte alles vergessen, was ihm jemals zugestoßen war.“ Die Nähe zur homerischen Odyssee hat Xenophon in seiner Anabasis bewusst gesucht. Vor den Phäaken hatte er ja auch schon die Lotophagen erwähnt. Indem er ausgerechnet diese Abenteuer des Odysseus erwähnt, lenkt er den Blick auf die „orientalische Märchenwelt“ des persischen Reiches, die auch die Kyreer wenigstens zeitweilig vor Augen zu haben schienen. Weitere Verbindungslinien zwischen den Irrfahrten des Odysseus und dem Rückmarsch von Kunaxa zum Schwarzen Meer lassen sich ziehen.285 Dass Xenophon so wie später James Joyce Homers Odyssee als mythische Folie für seine Schilderung der Vorgänge nach Kunaxa benutzte, ist offensichtlich.

Steinhaufen aus Dankbarkeit Der Freudenschrei „Thalatta! Thalatta!“ löste eine gewaltige Bewegung aus. Alle liefen nach vorn und trieben Zugtiere und Pferde zur Schnelligkeit an. Als sie den Aussichtspunkt erreicht hatten, umarmten sie sich gegenseitig und vergossen Ströme von Tränen – auch die Feldherren und die Hauptleute. Dann sammelten sie Steine und schichteten sie zu einem großen Hügel auf. Anschließend legten sie die Häute frisch geschlachteter Rinder darauf, ihre Stöcke und die erbeuteten Schilde, und der Führer selbst, der ihnen den Weg gezeigt hatte, zerschnitt die Schilde und forderte die anderen auf, ihm zu helfen.286 Warum die Soldaten den gewaltigen Steinhaufen aufschichteten, konnte man damals nur vermuten: Sie wollten ein Denkmal errichten, das für alle Zeiten an ihre Taten und Leiden erinnerte.287 Aber es waren auch die Steine, die ihnen von den Herzen fielen, als sie sahen, dass sie es geschafft hatten.

Wie es weiterging Im März 401 hatte die Expedition in Sardes begonnen. Die eigentliche Anabasis dauerte sieben Monate bis zur Schlacht bei Kunaxa im September. Dann begann Xenophons Odyssee: Die griechische Kolonie Trapezunt wurde nach acht Monaten – also nach insgesamt 15 Monaten – im Mai des Jahres 400 v. Chr. erreicht. Die Mehrheit der Söldner gelangte im Oktober 400 nach Byzanz. Die Männer wurden jedoch nicht in die Stadt eingelassen, und Xenophon konnte gerade noch verhindern, dass sie mit Gewalt eindrangen und die Stadt plünderten.288 Das Heer zeigte erste Auflösungserscheinungen. Viele setzten sich ab, um auf eigene Faust nach Hause zu kommen.289

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Da trat glücklicherweise der Thraker Seuthes auf den Plan.290 Er bot den mittellosen Kyreern Verpflegung und Sold, wenn sie ihn bei seinen eigenen kriegerischen Auseinandersetzungen unterstützten. Die Soldaten diskutierten wie üblich darüber. Es wurde abgestimmt, und alle waren dafür, Seuthes zu folgen. Obwohl die Kyreer die Operationen in Thrakien erfolgreich abschließen konnten, wurde ihnen der versprochene Lohn zunächst verweigert. Erst nach zähen Verhandlungen bekamen die Soldaten ihr Geld. Xenophon führte die inzwischen erheblich reduzierte Truppe zurück nach Kleinasien. In Pergamon, der Residenzstadt des Gongylos, entschlossen sich die Kyreer, einen Raubzug gegen den Perser Asidates zu unternehmen. Auf diese Möglichkeit, Beute zu machen und Lösegelder zu erpressen, wurde Xenophon von Hellas, der Mutter des regierenden Fürsten Gongylos, hingewiesen.291 Er schilderte diese letzte Aktion vor der Übergabe der Truppe an den spartanischen Feldherrn Thibron ausführlich. Der mit etwa tausend Mann unternommene, aber militärisch völlig bedeutungslose Überfall diente offensichtlich nur dem Zweck, den Kyreern noch einmal eine Möglichkeit zu bieten, nicht mit leeren Händen nach Hause zurückzukehren. Der Überraschungsangriff auf den befestigen Gutshof des reichen Asidates scheiterte zunächst.292 Die Kyreer konnten sich nur unter großen Schwierigkeiten und Verlusten zurückziehen. Erst zwei Tage später wurde der missglückte Überfall zu einem erfolgreichen Beutezug. Xenophon hatte in der Nacht das gesamte Heer in Marsch gesetzt, um den Abzug der Griechen vorzutäuschen. Doch Asidates versuchte sich mit seiner Familie in Sicherheit zu bringen, wurde aber von Xenophon und seinen Leuten gefangen genommen und gezwungen, seine gesamte Habe herauszugeben.293 Im März 399 unterstellte Xenophon die auf fünftausend Mann zusammengeschmolzene Truppe in Pergamon dem Spartaner Thibron,294 der sie sogleich gegen die persischen Statthalter Tissaphernes und Pharnabazos einsetzte. ­Xenophon blieb offensichtlich der Kommandeur der Kyreer. Dafür spricht ein Hinweis in seiner Darstellung der militärischen Operationen des Thibron und Derkylidas in Kleinasien.295 Dann wurde er wohl erst 395 durch den Lakedämonier Herippidas abgelöst,296 um im Generalstab des Agesilaos eine neue Funktion zu übernehmen. In der Anabasis notierte er dazu nur, dass er zusammen mit dem Spartaner Kleinasien verließ, um nach Böotien zu marschieren.297 Es kam zu der siegreichen Schlacht gegen die Böoter, Athener, Argeier und Korinthier in der Ebene von Koroneia.298 Voller Stolz erwähnt Xenophon die herausragende Tapferkeit „seiner Söldner“ unter der Führung des Herippidas.299 Dass ihm durch das Koroneia-Abenteuer die Rückkehr in die Heimat für Jahrzehnte verschlossen blieb, ahnte er damals noch nicht.

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Namen und Begriffe Abdera: griechische Stadt an der thrakischen Küste des ägäischen Meeres (→ Thrakien) 104, 112 Abrokomas: persischer Satrap in Phönizien, Gegner des Kyros 106, 109, 114 Agesilaos: König von Sparta (reg. 401–361 v. Chr.) 52, 130 Alkibiades: athenischer Politiker und Feldherr zur Zeit des Peloponnesischen Krieges (in Persien ermordet 404 v. Chr.) 9, 14, 23 f., 36, 42 Amnestie: „Vergessen“ von Taten, Verzicht auf Strafverfolgung 25, 68 f., 76 f. Amphipolis: griechische Stadt an der thrakischen Küste des Ägäischen Meeres 20, 34, 48 ff., 61, 70, 86, 112 Antiphon: attischer Redner (480–411 v. Chr.) 86 Antisthenes: Schüler des Sokrates und geistiger Vater des Kynismus (440–366 v. Chr.) 79 Aristophanes: griechischer Komödiendichter (ca. 445–386 v. Chr.) 9, 22, 26, 41 f., 53 Aristoteles: griechischer Philosoph und Platons Schüler (384–322 v. Chr.) 15, 29 Artaxerxes: persischer Großkönig, Bruder des Kyros (reg. 404–359 v. Chr.) 72, 85, 92, 97, 118 Babylon: eine der Hauptstädte der Perser am Euphrat 8, 18, 107 f., 114 ff., 120 Besitz (für immer): Bezeichnung des Thukydides (1, 22, 4) für die unvergängliche Bedeutung des Geschichtswerkes 36 f. Bildungsideal: Summe der Bildungs- und Erziehungsziele 41, 76 Brasidas: erfolgreicher spartanischer Feldherr (422 gefallen) 34, 48 ff., 57, 86 Cheirisophos: spartanischer Söldnerführer 106, 122, 125

Dankbarkeit: Wertbegriff der antiken Ethik 31, 60, 105, 129 Delphi: Stadt in Griechenland (Phokien) mit einem Apollonheiligtum, wo man Prophezeiungen bestellen und bekommen konnte 70 ff., 79 f. Demokratie: Gesellschaftsform, in der Mehrheiten und nicht einzelne Personen Entscheidungen herbeiführen 12 ff., 17, 25, 32, 77, 93 Didymos: griechischer Gelehrter im 1. Jh. v. Chr. 19 Diodotos: Kleons Gesprächspartner und Gegner im Werk des Thukydides (3, 41–48) 59 ff. Diogenes Laërtius: griechischer Schriftsteller im 3. Jh. n. Chr. 51, 74 Dreißig Tyrannen: oligarchisches Regime in Athen von 404 bis 403 v. Chr. 7 f., 12 f., 16 f., 19 ff., 24 ff., 39 f., 44 ff., 51, 53, 60 f., 65 ff., 76 f., 86 Epheben: zum Kriegsdienst verpflichtete 18-jährige junge Männer in Athen 21 f., 31 f. Ephesos: kleinasiatische Hafenstadt 9, 22, 58, 63, 76, 82, 87 ff., 95, 106, 123 Epitaphios: Grabrede (Thukydides 3, 35–46) 31 f., 36 Erweckungserlebnis: Xenophons Traum (Anabasis 3, 1, 11 f.), der ihn zum Handeln veranlasste 121 Etrusker: Angehörige eines Volkes, das in Mittelitalien lebte und zeitweilig auch die Römer beherrschte 99 Eubulos: athenischer Ratsherr 18 Euphrat: etwa 2700 km langer Fluss in der heutigen Türkei, Syrien und Irak mit Mündung in den Persischen Golf 34, 105 ff., Exil: durch ein Gerichtsurteil herbeigeführte Verbannung 7, 11, 17, 70, 113

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Freiheit 11, 32, 83, 117 Friede 41 f., 51, 68 f., 77, 127 Friedensvertrag 11, 13, 21, 51 Gebrauch 28 f., 45, 120 Geheimdienst 8, 87 Glus: Ägypter, Vertrauter des jüngeren Kyros 109 Gorgias: prominenter Sophist (483–375 v. Chr.) 60, 74 f., 77 Götter 14, 24, 26, 31 f., 43, 45, 49, 52, 55, 60, 67 ff., 72 f., 83, 90, 115, 119 f., 122, 124 Hellenika: Xenophons Geschichtswerk 7, 11, 13, 20, 25, 51, 57, 68 Herakles: Sohn des Zeus und der Alkmene 44 ff., 79 Herodot: griechischer Geschichtsschreiber (484–425 v. Chr.) 9, 36 f., 71, 82 ff., 90, 92, 100, 114 Homer: Dichter der Epen Ilias und Odyssee 49, 70, 128 f. Hopliten: schwerbewaffnete Soldaten zu Fuß 21 f., 43, 103, 106, 110, 126 Ischomachos: Gutsbesitzer und Gesprächspartner in Xenophons Schrift über die Landwirtschaft (Oikononikos) 41 Isonomie: Gleichheit vor dem Gesetz 32 Kimon: athenischer Feldherr (510–450 v. Chr.) 19 Klearchos: spartanischer Söldnerführer unter Kyros 97, 103 ff., 111 f., 116, 118 ff. Kleon: radikaler demokratischer Politiker in Athen (gest. 422 v. Chr.) 9, 20, 49 ff., 57 f., 67 Kontaktschuld: Schuld, die sich aus der Verbindung mit einem verbrecherischen Regime ergibt 14 Koroneia: Stadt in Böotien, wo → Agesilaos die Böoter und ihre Verbündeten 394 v. Chr. besiegte 18, 130 Krieg: ein gewalttätiger Lehrmeister (Thukydides 3, 82 ff.) 97 Kritias: Führer der Dreißig Tyrannen in Athen (gefallen 404 v. Chr.) 9, 13 ff., 20, 22 ff., 26 ff., 37 ff., 44 ff., 52 f., 57 ff., 66 f., 81, 113 f. Kroisos: König von Lydien im 6. Jh. v. Chr., von Kyros dem Großen unterworfen 9, 71, 90 f.

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Kunaxa: Ort der Entscheidungsschlacht (90 km nordöstlich von Babylon) zwischen Kyros und Artaxerxes 18, 102, 117, 126 f., 129 Kyros der Große: Gründer des persischen Reiches (gest. 529 v. Chr.) 71, 90 f. Kyros der Jüngere: Bruder des persischen Königs Artaxerxes (gefallen 400 v. Chr. in der Schlacht bei Kunaxa) 8 f., 14, 17 f., 58, 74, 76 f., 85, 90 ff., 95 ff., 100 ff., 105 ff., 110 f., 114 ff., 124 f., 128 Lakedämonier: Bewohner von Lakedaimon/Sparta 14 f., 16, 48, 50, 68, 75, 79, 86, 106, 130 Lange Mauern: Befestigungsanlage zwischen Athen und dem Peiraieus 11 ff., 42 f., 47 Leonidas: spartanischer Feldherr zur Zeit der Perserkriege, 480 v.  Chr. bei den Thermopylen gefallen 84 Lydien: Land in Kleinasien mit der Hauptstadt Sardes 90, 99 Lysander/Lysandros: erfolgreicher spartanischer Admiral während des Peloponnesischen Krieges 11, 13, 22 f., 81 Lysimachos: Offizier im Dienst der Dreißig Tyrannen 22, 27, 33 f., 37, 40, 45 ff., 53, 58 f., 62, 67, 69 Marathon: eine Ebene in Attika. Hier siegten die Griechen über die Perser 490 v. Chr. 117 Markellinos: Biograph des Thukydides (5./6. Jh. n. Chr.) 19, 35 Marsyas: Satyr, ein Wald- und Naturgeist 9, 96 f. Maß/Maßlosigkeit: Prinzip erfolgreichen/ misslingenden Handelns in der Geschichtstheorie des Thukydides 23, 29, 32, 56 f., 72, 109 Melierdialog: ein Abschnitt im Werk des Thukydides (5, 85–113) 37, 55 f. Melos: griechische Insel 37, 51, 55, 57 Menon: griechischer Söldnerführer unter Kyros 96, 101 ff., 106, 109, 116, 120 Menschliche, das: zentrales Thema des Thukydides (3, 82 f.; 3, 45; 3, 82, 2) 8, 14, 36 f., 56, 102 Methodenkapitel: Thukydides 1, 22: 34, 84 Metöken 16 Munichia: Burg auf einem Hügel zum Schutz der athenischen Hafenanlagen 67

Mytilene: Hauptstadt der Insel Lesbos 54 ff. Nützlichkeit: Handlungsziel im Geschichtsbild des Thukydides (3, 35–50) 37, 55 f. Odyssee: homerisches Epos von den Abenteuern des Odysseus 123 f. Odysseus: Held des Troja-Mythos: Thukydides 5, 1, 2: 44 f., 128 f. Oligarchie: Gesellschaftsform, in der nur wenige Personen Entscheidungen herbeiführen 13, 15 ff., 23 ff. Orakel: Prophezeiung und Ort der Verkündigung der Prophezeiung 44, 70 ff., 80, 90 Orontas: persischer Satrap, in der Anabasis (1, 6, 1–11) mehrfach erwähnt 115 f. Parthenonfries: Kunstwerk des Pheidias im Tempel der Athene auf der Akropolis 9, 29 Pathologie: Bezeichnung eines zentralen Textabschnitts im Werk des Thukydides (3, 82–85) Anm. 5, 204, 275 Pausanias: spartanischer König (reg. 408– 394 v. Chr.) 68 Peiraieus (Piräus): Hafen von Athen 11 ff., 42, 47, 65, 68, 76, 87, 91, 104 Peloponnesischer Krieg: 431–404 v.  Chr. zwischen den Großmächten Sparta und Athen 7 ff., 19, 23, 32, 37, 42, 51 f., 56, 75, 93, 97, 127 Perikles: athenischer Politiker und hervorragender Staatsmann (495–429 v. Chr.) 9, 15, 23, 28, 31 f., 36, 42 f., 47, 53, 83, 86, 113 Perserkriege: ausgelöst durch eine persische Invasion nach Griechenland, 490– 479 v. Chr. 21, 28, 36, 124, 127 Pest: Schilderung einer Seuche in Athen während des Peloponnesischen Krieges (Thukydides 2, 47–54) 35 f., 48 Phalinos: griechischer Berater des Satrapen Tissaphernes 118, 120 Pheidias: athenischer Bildhauer im 5. Jh. v. Chr. 22 Philesia: Tochter des Thukydides und Xenophons spätere Frau 18, 38 ff. Philoktet: Held des Troja-Mythos und einer Tragödie des Sophokles 44 f. Pisider/Pisidien: kleinasiatischer Gebirgsstamm 92, 94 ff.

Platon: athenischer Philosoph, Schüler des Sokrates (427–347 v.  Chr.) 13 f., 24 ff., 79 Prodikos: Sophist, u. a. Lehrer des Euripides 15, 60, 79 Protagoras: berühmtester Sophist des 5. Jh.s v. Chr. 28 f., 60, 104 Proxenos: General unter Kyros und Xenophons Freund: An. 2, 6, 1–29: 8, 17 f., 74 ff., 87, 91 f., 94 ff., 100, 102 ff., 109, 111, 116, 122 ff. Recht des Stärkeren 14, 37, 55 Rhetorik: Kunst der Beeinflussung mit Mitteln der Sprache (Thukydides 3, 37–40) 26, 28, 60, 120 Sardes: Stadt in Kleinasien 9, 17, 74, 76 f., 87, 89 ff., 95, 100, 110, 123, 129 Satrap: hoher persischer Beamter, Verwalter einer Provinz mit umfassenden Befugnissen, nur dem Großkönig verantwortlich 18, 23, 69, 77, 93, 97, 105, 108, 116, 118 f. Schwarzes Meer: Ziel der „Zehntausend“ nach der Schlacht bei Kunaxa 5, 14, 18, 85, 94, 128 f. Seuthes: thrakischer Fürst und Soldherr der Kyreer 130 Skapte Hyle: Stadt im östlichen Makedonien (Thessalien) am Pangaiosgebirge 19, 22, 38 Skillus: kleiner Ort in der westlichen Peloponnes, Xenophons Wohnsitz in der Zeit seiner Verbannung 18, 127 Söldner: gegen Bezahlung (Sold) angeworbene Krieger 8, 14, 18, 92 ff., 104 ff., 111, 117 f., 122 ff. Sokrates: athenischer Philosoph (469–399 v. Chr.) 9, 14 f., 23 ff., 41, 50, 74 f., 77 ff., 101 Solon: athenischer Staatsmann und Gesetzgeber (geb. um 640 v. Chr.) 90 Sophisten: Lehrer der „Weisheit“ 9, 14 f., 23 ff., 28, 55, 60, 75, 102 Sophokles: athenischer Tragödiendichter (497–406 v. Chr.) 44 f., 83, 86 Spartaner → Lakedämonier Syennesis: Ehemann der Epyaxa 98 ff. Sykophanten: gewerbsmäßige Denunzianten 16, 77

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Thasier/Thasos: griechische Insel in der nördlichen Ägäis, Thrakien vorgelagert 48, 112 f. Themistogenes: Xenophons Pseudonym 104 Themistokles: erfolgreicher athenischer Feldherr in den Perserkriegen, Sieger in der Seeschlacht bei Salamis (480 v. Chr.) 83 Theopompos: Xenophons Pseudonym 118 Theramenes: athenischer Politiker, gemäßigter Angehöriger der Dreißig Tyrannen, 404 v. Chr. hingerichtet 9, 12 ff., 23 Thibron: spartanischer Feldherr, dem Xenophon 399 v.  Chr. die Kyreer unterstellte 18, 130 Thrakien: Land südlich der Donau an der Westküste des Schwarzen Meeres 19, 27, 34 f., 38, 40, 43, 45, 47 f., 58, 64, 85 f., 93, 113, 130 Thrasybulos: Gegner der Dreißig Tyrannen, demokratischer Befreier Athens im Jahr 403 v. Chr. 13 f., 20, 25, 47, 68, 81 Tigris: der 1950 km lange Fluss entspringt in der Türkei, bildet streckenweise die Grenze zwischen Syrien und der Türkei,

durchquert den Irak und mündet mit dem Euphrat in den Persischen Golf 123 Tissaphernes: persischer Satrap, der die Söldnerführer ermordete und die Kyreer zu unterwerfen versuchte 18, 97, 111, 188 ff., 126, 130 Trapezunt/Trapezus: Hafenstadt am östlichen Schwarzen Meer, wohin Xenophon die Kyreer führte 125, 128 f. Träume: Zeichen der Götter 14, 120 ff. Verbannung → Exil Xanthippe: sprichwörtlich zänkische Frau des Sokrates 41 Xerxes: persischer Großkönig zur Zeit der → Perserkriege 36, 84, 99 Zeichen, göttliche: natürliche Vorgänge, die auf übernatürliche Ursachen zurückgeführt und als handlungsbestimmend gedeutet werden 67, 70, 84, 89 f., 114 f., 120, 124 Zoroaster/Zarathustra: persischer Religionsstifter um 600 v. Chr. 114 f.

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Anmerkungen Abkürzungen: An. = Anabasis; D. L. = Diogenes Laërtius; Hell. = Hellenika; Her. = Herodot; Kyr. = Kyrupädie; Mem. = Memorabilien; Oik. = Oikonomikos; Th. = Thukydides; Xen. = Xenophon 1

Vgl. Christian Meier: Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte, München 2004, 695. 2 Vgl. Gregor Weber, in: Kai Brodersen (Hg.): Virtuelle Antike. Wendepunkte der Alten Geschichte, Darmstadt 2000, 11–23. 3 Zu den Dreißig: Karl-Wilhelm Welwei: Das klassische Athen. Demokratie und Machtpolitik im 5. und 4. Jahrhundert, Darmstadt 1999, 247–257. 4 Weber 2000, 20. 5 Zur „Pathologie“ menschlichen Handelns und Verhaltens in extremen Situationen: Th. 3, 82 f. 6 „Man machte sich daran, die Mauern unter Flötenbegleitung abzubrechen“ (Hell. 2, 2, 23). 7 Hell. 2, 2, 24. 8 Hell. 2, 2, 20. 9 Hell. 2, 2, 1 ff. 10 D. Lotze: Lysander und der Peloponnesische Krieg, Berlin 1964. Vgl. auch die Lysander-Biographie des Plutarch. 11 Hell. 2, 2, 20. 12 Es handelte sich zunächst um zwei Mauern, deren Bau um 459 v. Chr. begonnen wurde. Die eine verband Athen mit dem Peiraieus (etwa 7 km), die andere verlief von Athen nach Phaleron (etwa 6 km). Später wurde noch eine dritte Mauer parallel zu der Mauer zwischen Athen und dem Peiraieus gebaut. Zusammen mit dem Mauerring um Athen und den Peiraieus waren 26 km zu verteidigen. Dazu Meier 2004, 367 ff.

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13 Hell. 2, 3, 1 ff. 14 Th. 8, 68, 4. 15 Harmosten waren die Militärbefehlshaber, die die Spartaner zur Durchsetzung ihrer Interessen in den eroberten Städten einsetzten. 16 Thrasybulos war ein verdienstvoller athenischer Feldherr und demokratisch gesinnter Staatsmann. Seine Leistungen bei der Befreiung Athens von der Herrschaft der Dreißig beschreibt Hell. 2, 4, 10–22. 17 Hermann Bengtson: Griechische Geschichte von den Anfängen bis in die römische Kaiserzeit, München 1965, 231. 18 Hell. 2, 3, 11. 19 Hell. 2, 3, 50–56. 20 Hell. 2, 4. 21 Kritias hatte Sokrates sogar verboten, mit Menschen unter dreißig Jahren zu sprechen oder ihnen Fragen zu stellen. In Mem. 1, 2, 29–38 versucht Xen. darzustellen, dass das Verhältnis zwischen Sokrates und den Dreißig ausgesprochen gespannt war. 22 Die Fragmente seiner Werke finden sich in der Vorsokratiker-Sammlung von Diels/Kranz (Nr. 88). 23 Th. 8, 92. 24 Hell. 2, 3, 48. 25 Hell. 2, 3, 48. 26 Hell. 2, 3, 49. 27 Hell. 2, 3, 31. 28 So auch Aristophanes, Frösche 534 ff. 29 Staat der Athener 28, 5. 30 Hell. 2, 3. 31 Th. 8, 68. Vgl. auch Cicero, De oratore 2, 22 und Brutus 7. 32 Hell. 2, 3, 21. 33 Hell. 2, 3, 21. 34 Auch in An. 2, 4, 19 bezeichnet Xen. sich selbst als einen „jungen Mann“, der

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in einer kritischen Situation einen sehr vernünftigen Gedanken äußert. Xen.s Wiedergabe der Reden des Kritias und des Theramenes (Hell. 2, 3, 24– 49) macht es sehr wahrscheinlich, dass er beide selbst gehört hat. Hell. 2, 3, 25. Otto Lendle: Kommentar zu Xenophons Anabasis (Bücher 1–7), Darmstadt 1995, 148. An. 3, 1, 47. An. 5, 3, 6. Hell. 4, 3, 15–21. Xen. Agesilaos 18. Vgl. dazu Lendle 1995, 315 f. Zu Xen.s Verbannung: Hans Rudolf Breitenbach: Xenophon von Athen, Stuttgart 1966 (= RE IX A 2), 1575. Xen.s Teilnahme an der Schlacht bei Koroneia im Jahre 394 auf spartanischer Seite ist für Breitenbach zweifelsfrei der Grund für das Verbannungsurteil, nicht die Teilnahme am Feldzug des Kyros. Auch aus An. 5, 3, 7 geht eindeutig hervor, dass die Verbannung erst ausgesprochen wurde, als Xen. mit Agesilaos aus Asien zurückkehrte (396). Dazu auch Lendle 1995, 315. Es ist durchaus möglich, dass Xen. bei der Darstellung von Frauen in seinem Werk Züge seiner eigenen Frau abbildet: So kann z. B. die Erwähnung der Frau des Armenierprinzen Tigranes Reminiszenzen an Xen.s Frau Philesia enthalten (Kyr. 3, 1, 36. 41. 43. Vgl. Eduard Schwartz: Fünf Vorträge über den griechischen Roman, Berlin 21943, 70). Pausanias 5, 6, 5. D. L. 2, 53. D. L. 2, 59. Breitenbach 1966, 1573. Luciano Canfora: Die verlorene Geschichte des Thukydides, Berlin 1990, 93. Canfora stützt sich auf die Th.-Vita des Markellinos (17 und 31–34) aus dem 5./6. Jh. n. Chr. Holger Sonnabend: Thukydides, Hildesheim 2004, 15 f. Vgl. Th. 4, 108.

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Th. 3, 36; 4, 21. Th. 6, 55, 1. Vgl. Th. 1, 22. Th. hat sein Geschichtswerk zwar nicht vollendet, aber auch noch nach dem Ende des Peloponnesischen Krieges daran gearbeitet. Das gilt z. B. für die Perikles-Rede (2, 60–64). Nach Th. war die Niederlage u. a. darauf zurückzuführen, dass die Athener die Ratschläge des Perikles nicht berücksichtigten (65). Dazu auch Manfred Fuhrmann: Ein Mordfall? Luciano Canfora über Thukydides, in: M.  F.: Europas fremd gewordene Fundamente. Aktuelles zu Themen aus der Antike, Zürich 1995, 32–35. Canfora scheint in Xen. den Mörder des Th. zu sehen. Hell. 2, 3. Es ist durchaus möglich, dass Xen. im Jahr 424 v. Chr. geboren wurde. Das Lenäenfest wurde mehrere Tage lang zu Ehren des Gottes Dionysos gefeiert. Wesentliche Inhalte des Festes waren ein Festzug und die Aufführung von Komödien im dramatischen Wettbewerb (Aristoteles, Staat der Athener 57, 1). Der etwa 455 v. Chr. geborene Lysander trug maßgeblich zum spartanischen Sieg im Peloponnesischen Krieg bei. Er sorgte für die Machtergreifung der Dreißig in Athen. Hell. 2, 1, 27  f. Diodor, Universalgeschichte 13, 106. Diese Charakterisierung der beiden Politiker findet man in Mem. 1, 2, 12. Eine wichtige Informationsquelle für Alkibiades ist abgesehen von Th. (in den Büchern 5–8 seines Geschichtswerkes) und Xen. in den Hell. (vor allem im 1. Buch) die Biographie des Plutarch aus dem 1. Jh. n. Chr. Helmut Berve: Die Tyrannis bei den Griechen, München 1967, 208 f. Alkibiades wird ausführlich charakterisiert durch Ferdinand Broemser: Größe und Niedergang im Geschichtswerk

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des Thukydides, in: Der altsprachliche Unterricht 9, 3, 1966, 30–71. Das steht in einem scharfen Gegensatz zu der Aussage des Perikles in der Gefallenenrede (2, 37, 1). Broemser 1966, 54. Platon, Apologie 24b und Xen. Mem. 1, 1, 1; ferner D. L. 2, 40. Robin Lane Fox: Die klassische Welt. Eine Weltgeschichte von Homer bis Hadrian, Stuttgart 32010, 193: Sokrates habe die jungen Menschen nicht „verdorben“; er „war nur insofern schuldig, als er sie nicht eines Besseren belehrte“. Mem. 1, 2. Apologie 32b. Hell. 1, 6, 27 ff. und 1, 7. Apologie 32c–d. Zu den Gründen für den demokratischen Sokrates-Prozess: Jürgen Malitz: Sokrates im Athen der Nachkriegszeit (404–399 v. Chr.), in: H. Kessler (Hg.): Sokrates. Geschichte, Legende, Spiegelungen. Sokrates-Studien II, Kusterdingen 1995, 11–38. Frédéric Pagès: Frühstück bei Sokrates. Philosophie als Lebenskunst, Darmstadt o. J., 31 ff., spricht von „Sokrates, dem Kollaborateur“. Unter dem Regime der Dreißig habe der „wahre Bürgersinn“ darin bestanden, ins Exil zu gehen. Auf diese Möglichkeit wies Malitz 1995 hin. Zum Regime der Dreißig, das anfangs allgemein begrüßt wurde und bald zu einem Terrorregime entartete: Aristoteles, Staat der Athener, 35–40. Die „Wolken“ des Aristophanes wurden 423 v. Chr. in Athen uraufgeführt. E. Schmalzriedt in: Kindlers neues Literatur-Lexikon, München 1988, Bd. 1, 679. Fragmente der Vorsokratiker 80 B 1. Dieter Lau: Der Mensch als Mittelpunkt der Welt. Zu den geistesgeschichtlichen Grundlagen des anthropozentrischen Denkens, Essen 2000, 34  f. Siehe dazu auch Rainer Nickel:

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Besitzen und Gebrauchen. Spielarten einer Gedankenfigur vor und bei Aristoteles, Marburg 2012. Das fiktive Datum wäre dann 415 am Ende der Zwischenkriegszeit 421–415 v. Chr. Th. 2, 35–46. Th. 2, 39. Zum Epitaphios: Broemser 1966, 30–71. Vgl. Werner 1977, 20. Knapp, aber anschaulich geschildert von Albin Lesky: Geschichte der griechischen Literatur, Bern 31971, 513. Der Krieg ist nach dem spartanischen König Archidamos benannt, der anfangs den Oberbefehl innehatte. 1, 76, 2; 4, 61, 5; 5, 105, 2. Vgl. Bruno Bleckmann: Der peloponnesische Krieg, München 2007. Herwig Görgemanns: Macht und Moral. Thukydides und die Psychologie der Macht, in: Humanistische Bildung 1, 1977, 64–93. Vgl. auch Werner Jaeger: Paideia 1, 496–513, bes. 500 ff.: Th. gebe mit dem Melierdialog eine unverhüllte Darstellung der reinen Machträson. Skapte Hyle war eine Stadt im östlichen Makedonien (Thessalien) am Pangaiosgebirge. In ihrer Nähe befanden sich Goldminen (Her. 6, 46), die später in athenischen Besitz fielen. Hier soll Th. ein Goldbergwerk besessen, an seinem Geschichtswerk geschrieben haben und auch ermordet worden sein (so Plutarch, Kimon 4). Platon, Phaidros 230d. Jaeger, Paideia 3, 247. Aristophanes, Eirene 571–579. Über den 416 v. Chr. erfochtenen Olympia-Sieg des Alkibiades: Th. 6, 16, 2. Laut Th. 2, 22 vermied Perikles in der Anfangsphase des Krieges die offene Konfrontation mit den Peloponnesiern, obwohl sie zum Beispiel das Gebiet der Acharner im nördlichen Attika nur noch zwei Stunden von Athen entfernt besetzten und verheerten. Perikles sicherte die Stadt und ließ nur Einzel­ aktionen gegen den Feind zu.

91 403 v. Chr. 92 Seit etwa 388 lebte Xen. in Skillus. 93 Dass Xen. die Vorgänge als Augenzeuge miterlebt hat, stellt auch Breitenbach 1966, 1679, fest. 94 Im Winter 404/403 v. Chr. 95 Das Odeion war ein überdachtes Konzerthaus, das deutlich kleiner war als ein übliches Theater. 96 Xen. erwähnt diese Episode Hell. 2, 4, 26. 97 Xen. Hell. 2, 4, 19. 98 Seit dem Jahr 423. 99 Th. 2, 47–54. 100 424/423 v. Chr. 101 Th. 4, 102–108. 102 Th. 4, 106, 3 ff. 103 Homer, Od. 1, 32 ff. 104 Vgl. z. B. Hell. 6, 4, 3. 105 Ein Beispiel: Hell. 7, 5, 12 f. 106 422 v. Chr. 107 Th. 5, 3 ff. 108 421–413 v. Chr. 109 424 v. Chr. 110 432 v. Chr. 111 416 v. Chr. Th. 5, 84–116. 112 Th. 5, 90. Möglicherweise schrieb er diesen Satz nach der tatsächlich erfolgten Niederlage im Jahr 404 v. Chr. Aber der kategorische Imperativ ist im Krieg außer Kraft gesetzt. 113 Th. 5, 16. 114 Th. 5, 18 f. 115 Breitenbach 1966, 1670. 116 Vgl. Hell. 5, 4, 1. 117 Vgl. 7, 2, 1. 118 Zu den Hell.: Breitenbach 1966, 1569– 1928. 119 Th. 3, 36, 6. 120 Kleon ist der „gewalttätigste Bürger“ der Stadt, der Krieg ist dagegen nur ein „gewalttätiger Lehrer“ (3, 82, 2). 121 Die „Ritter“ wurden 424 v. Chr. aufgeführt und errangen den ersten Preis. 122 Paphlagonien lag an der Südküste des Schwarzen Meeres. Seine Einwohner galten als primitiv und unkultiviert. An der Küste lagen mehrere griechische Kolonien, so z. B. auch Sinope, die Heimatstadt des Kynikers Diogenes.

Th. 5, 16, 1. Th. 3, 42–48. Th. 3, 50. Meier 2004, 562 f. Vgl. auch schon Alfred Heubeck: Gedanken zu Thukydides, in: Friedrich Hörmann (Hg.): Die alten Sprachen im Gymnasium, München 1957, 115–129. 127 Th. 3, 41–48. 128 Sie führten den sogenannten „Melierdialog“: Th. 5, 85–113. 129 So Heubeck 1957, 126. 130 Th. 5, 89. 131 Th. 3, 42, 1. 132 Th. 3, 44. 133 Th. 3, 44, 4. 134 Th. 3, 46, 4. 135 Th. 5, 111, 4. 136 Th. 1, 76, 3 f. 137 Heubeck 1957, 127 f. 138 Th. 3, 46, 4. 139 Heubeck 1957, 129. 140 Th. 4, 81 hebt das gerechte und maß­ volle Auftreten und die vornehme Haltung des Lakedämoniers Brasidas im Krieg hervor. 141 Vgl. Kyr. 1, 2, 7. 142 Th. 1, 22, 4. 143 410 v. Chr. 144 404 v. Chr. 145 An. 7, 8, 2. 146 Der Monatslohn eines griechischen Hopliten im Söldnerheer des Kyros betrug einen Dareikos aus Gold (benannt nach dem Großkönig Dareios I.). 147 An. 7, 8, 6. 148 Die Munichia war die Zitadelle, die zum Schutz des Hafens diente. 149 Bengtson 1965, 231 f. Die wichtigste Informationsquelle für diese Vorgänge ist Hell. 2, 4, 10–22. 150 Hell. 2, 4, 20 ff. 151 Hell. 2, 4, 2. – In der Thrasybulos-Vita (1, 2 und 2, 4) des römischen Autors Cornelius Nepos (etwa 100–25 v. Chr.) soll der Leser eine direkte Linie von der Tyrannis der Dreißig in Athen zu den Machtverhältnissen in Rom zur Zeit 123 124 125 126

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der Abfassung der Feldherrn-Porträts (35–32 v. Chr.) ziehen. Thrasybulos – so Nepos 2, 4 – habe bei seinen Umsturzvorbereitungen nicht den von ihm selbst erwarteten Zulauf gefunden, da man schon damals tapferer für die Freiheit geredet als gekämpft habe (8, 2, 4). Es liegt nahe anzunehmen, dass Nepos hiermit sogar Ciceros weitgehend passives Verhalten angesichts der Bedrohung der alten Republik bzw. der Senatsaristokratie durch Caesar kritisiert: In einem Brief erinnert Cicero selbst an Thrasybulos und charakterisiert dessen Handeln als „vielleicht besser“ als seine eigene Anpassung an die politischen Verhältnisse. Am Anfang seines Thrasybulos-Porträts (1, 2) hatte Nepos festgestellt, das Vaterland von einem einzigen Tyrannen zu befreien hätten viele gewünscht und wenige auch vermocht. Thrasybulos sei es aber sogar gelungen, die von dreißig Tyrannen unterdrückte Stadt aus der Knechtschaft in die Freiheit zu führen. Er war für Nepos nicht nur ein Beispiel für Patriotismus (8, 1, 1), sondern auch für Klugheit und Tapferkeit: Denn er gab den Befehl, die flüchtenden Anhänger der Dreißig nicht zu verwunden, weil er es für recht und billig hielt, dass Bürger ihre Mitbürger schonten. Bemerkenswert sei auch das Verhalten des Thrasybulos nach Beendigung des Bürgerkrieges gewesen: Er habe nach dem Friedensschluss auf dem Höhepunkt seiner Macht ein Gesetz eingebracht, niemanden aufgrund seiner Taten in der Vergangenheit anzuklagen und zu bestrafen. Dieses Gesetz nannten die Athener „AmnestieGesetz“. Wenn Nepos hiermit das Verhalten des Thrasybulos rühmt, der das AmnestieGesetz auch tatsächlich anwandte, dann ist anzunehmen, dass er dieses Verhalten auch dem Sieger im römischen Bürgerkrieg als vorbildlich vor

Augen führen wollte. Vielleicht sollte das Thrasybulos-Porträt ein „Fürstenspiegel“ für Octavian sein. Cicero hatte schon in seiner Rede „Pro Marcello“ Caesars Milde und Nachgiebigkeit gelobt, um ihn in seiner Versöhnungspolitik zu bestärken. Dass Caesar anderthalb Jahre später – am 15. März 44 – ermordet wurde, ahnte Cicero möglicherweise voraus. Daher erhält erst Octavian die Gelegenheit, die gewal­ tige Aufbau- und Erneuerungsleistung zu erbringen, die Cicero von Caesar erwartet. Insofern reicht die Bedeutung der Marcellus-Rede weit über ihren Anlass hinaus und konnte Nepos in seinem Versuch, zur Erneuerung der politischen Moral beizutragen, bestärken. 152 Hell. 2, 4, 10–22. 153 Hell. 2, 4, 30–39. 154 Hell. 2, 4, 19. 155 Schon in Homers Odyssee wurde das delphische Orakel erwähnt (8, 79). 156 Kyr. 8, 2, 10 ff. 157 So schildert Xen. in seinem Oikonomikos die Tätigkeiten der tüchtigen Gutsherrin. 158 Oik. 7, 32 ff. 159 An. 1, 1, 11; 2, 6, 16. 160 D. L. 2, 55. 161 An. 3, 1, 4. 162 Zu Proxenos: An. 2, 6, 15–20. 163 Vgl. Raimund Schulz: Athen und Sparta. Darmstadt 22005, 125 ff. Der jüngere Kyros engagierte sich gegen Ende des Peloponnesischen Krieges für Sparta und seinen Gastfreund Lysander: Th. 2, 65. Hell. 1, 5, 1–10. Kyros trug dadurch nicht unwesentlich zur athenischen Niederlage bei. 164 Her. 5, 54 weist darauf hin, dass die Straße von Ephesos bis Sardes 540 Stadien lang ist. Das entspricht knapp 100 km. 165 Sykophanten waren gewerbsmäßige verleumderische Ankläger, die vor allem im 4. Jh. v. Chr. ihr Unwesen trieben und viel Geld verdienten. Sie wurden für

falsche Zeugenaussagen und Spitzeldienste gebraucht. 166 Xen. erzählt den Herakles-Mythos in Mem. 2, 21–34. 167 An. 3, 1, 7. 168 Dazu auch Breitenbach 1966, 1774. 169 Die Dreißig waren im Herbst 403 entmachtet worden; die Expedition des Kyros begann im Mai 401. Xen.s Persienreise begann etwa zehn Tage vorher. 170 Das gilt für die Vorgeschichte des Peloponnesischen Krieges: Th. 1, 89–146, 171 Er regierte von 465 bis 424 v. Chr. 172 Dieser Artaxerxes war der ältere Bruder des Kyros. Er regierte von 403 bis 359. 173 Th. 8, 68, 2. 174 Einer der prominentesten griechischen Ärzte in persischen Diensten war Ktesias von Knidos, der Leibarzt des Großkönigs Artaxerxes II. Er war auch Verfasser einer romanhaften persischen Geschichte von den Anfängen bis 398/7 v. Chr. (Persika). An der Schlacht bei Kunaxa nahm er auf Seiten des Großkönigs teil: An. 1, 8, 26  f. Er behandelte auch eine Verwundung des Großkönigs. – Her. 3, 125 und 129  ff. erwähnt auch den erfolgreichen Arzt Damokedes aus Kroton, der im Dienst des Dareios (reg. 521–486) stand. 175 Die in vielen Variationen nacherzählte Novelle von der „Witwe von Ephesos“ hat u. a. der römische Autor Petronius, Sat. 111  f., überliefert. Sie wurde aber aufgrund ihres frivolen Charakters ohne Zweifel schon Jahrhunderte früher erzählt. 176 An. 6, 1, 23. Vgl. 3, 1, 13 f. 177 Her. 1, 86. 178 An. 1, 2, 2 berichtet Xen., mit der Militäraktion gegen die Pisider habe Kyros nur von seinem tatsächlichen Vorhaben, dem Putsch gegen seinen Bruder, ablenken wollen. 179 An. 3, 1, 4. 180 Her. 1, 136. 181 Ivo Bruns: Das literarische Porträt der Griechen im fünften und vierten Jahr-

hundert vor Christi Geburt, Berlin 1896, 142 ff., wies mit Recht darauf hin, dass Xen. Kyros frei von negativer Kritik schildert. So ist der Hochverrat, den Kyros an seinem Bruder, dem legitimen Herrscher, übt, für Xen. kein Problem. 182 An. 3, 1, 8. 183 An. 1, 8, 15 ff. 184 In Kyr. 1, 2, 2–16, geht Xen. ausführlicher auf das persische Erziehungssystem ein. 185 Lendle 1995, 78. 186 An. 1, 9, 7–10. 187 Wilhelm Bernhard Kaiser: Zur Anabasislektüre, in: AU 3, 3, 1957, 37–51, bes. 37–40 über „griechische Landsknechte“. H. W. Parke: Greek mercenary soldiers from the earliest times to the bat­ tle of Ipsus, Oxford 1973. Darin auch ein Kapitel über die Zehntausend. 188 Schulz 22005, 143. 189 Vgl. An. 3, 1, 8 f. 190 An. 1, 2, 7 f. 191 Die Marsyassage erzählt der römische Dichter Ovid in den „Metamorphosen“ 6, 382–400 und den „Fasten“ 6, 692–710. 192 Zu Klearchos, der sich auch schon als Tyrann von Byzanz einen Namen gemacht hatte: Helmut Berve: Die Tyrannis bei den Griechen, München 1967, 214  f. Xen. verschweigt die Tyrannis des Klearchos in seinem ehrenden Nachruf (An. 2, 6, 1–15). Vgl. auch Hubert Trümpner: Klearchos, Militarist oder Soldat? Ein Beitrag zur Politischen Gemeinschaftskunde, in: AU 10, 3, 1967, 5–20; Edgar Klauk: Die Charakteristiken des Klearchos, Proxenos und Menon in Xenophons Anabasis (II 6, 1–29), in: AU 10, 3, 1967, 21–39. 193 An. 1, 2, 9. 194 An. 1, 2, 11. 195 Zur Reisetätigkeit hochrangiger persischer Frauen vgl. das Begleitbuch zur Ausstellung „Pracht und Prunk der Großkönige – Das persische Weltreich“ im Historischen Museum der Pfalz Speyer, Stuttgart 2006, 93  ff. Frauen

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traten in Persien viel stärker in die Öffentlichkeit als die griechischen Frauen; vgl. ebd, 89. 196 An. 1, 2, 12. 197 An. 1, 2, 14. 198 Dareios herrschte von 424 bis 404 v. Chr. über Persien. 199 Her. 8, 68. 200 Athenaios 12, 517 d. 201 Vgl. An. 6, 4, 8. Xen. führte offensichtlich eine systematische Befragung durch. Vgl. auch Egon Römisch: Xenophon, in: Griechisch in der Schule. Didaktik, Plan und Deutung, Frankfurt 1972, 65–84, bes. 73 f. 202 Die Perser verfügten über ein gut ausgebautes Straßennetz: Josef Wiesehöfer: Das antike Persien. Von 550 v. Chr. bis 650 n. Chr., München / Zürich 1994, 115–119. 203 An. 1, 2, 20. 204 An. 2, 6, 21–29. Das Menon-Porträt könnte Xen. in Anlehnung an die „Pathologie“ des Th. entworfen haben, wie er auch sonst in der Anabasis Beispiele für „pathologisches“ menschliches Verhalten liefert. 205 Vgl. Platon, Menon 80b. 206 Lendle 1995, 141 f. 207 Th. 3, 82 f. 208 Vgl. Breitenbach 1966, 1643 f. 209 An. 1, 2, 26. 210 An. 1, 3, 1. 211 An. 1, 3, 29. 212 In Hell. 3, 1, 2 weist Xen. darauf hin, dass er die Anabasis unter diesem Pseudonym veröffentlichte – wahrscheinlich um größtmögliche Objektivität bei der Darstellung der Ereignisse zu demonstrieren. Vgl. dazu auch Plutarch, De gloria Atheniensium 345 E. 213 Vgl. Kaiser 1957, bes. 48 f. 214 An. 1, 3, 3–6. 215 An. 1, 3, 20. 216 Lendle 1995, 33. 217 An. 1, 4, 1. 218 An. 1, 4, 6 ff. 219 An. 1, 4, 8 f.

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220 An. 1, 4, 11. 221 An. 1, 4, 12. 222 An. 1, 4, 12 f. 223 Eine ausführliche Beschreibung der Persönlichkeit des Kyros findet man An. 1, 9, 7–31. 224 An. 1, 4, 13–17. 225 Xen. porträtiert Klearchos An. 2, 6, 6–15. 226 An. 2, 6, 1–15. 227 Mehr über diesen Th. findet man in der Perikles-Vita des Plutarch, bes. Kap. 8. 228 Xen. wurde wohl 394 v. Chr. als „Verräter“ seiner Heimatstadt mit der Verbannung bestraft, weil er auf spartanischer Seite an der Schlacht bei Koroneia teilgenommen hatte. 229 Her. 2, 95. 230 Strabon 15, 3 16  ff. berichtet, dass die Perser normalerweise nicht in einen Fluss urinieren, sich nicht darin waschen und auch nichts Totes hineinwerfen. 231 Xen. erwähnt An. 1, 9, 6, dass Kyros ein begeisterter Jäger war und auch die Gefahren bei der Jagd auf wilde Tiere liebte: „Einmal griff ihn eine Bärin an. Er zitterte nicht, sondern stürmte ihr entgegen. Er wurde vom Pferd gerissen und verwundet. Davon blieben Narben zurück. Aber am Ende erlegte er sie doch noch.“ Mit dieser Tat bewies er seinen besonderen Mut. 232 An. 1, 5, 10. 233 An. 1, 5, 16. 234 Über Orontas: An. 1, 6, 1–11. 235 Lendle 1995, 50 f. 236 An. 1, 6, 1. 237 An. 1, 7, 1. 238 An. 1, 7, 3. 239 Kunaxa lag zwischen Euphrat und Tigris. Die genaue Lage ist unbekannt. Wahrscheinlich lag der Ort 90 km (= 500 Stadien) nordöstlich von Babylon. Zur Schlacht bei Kunaxa: Otto Lendle: Der Bericht Xenophons über die Schlacht von Kunaxa, in: Gymnasium 13, 1966, 429–452. – Plutarch, Artaxer-

xes, Kap. 8, erwähnt die Schlacht bei Kunaxa am 3. 9. 401. Er rühmt Xen.s Schilderung: An. 1, 8, 8–29. 240 An. 2, 1, 4: „Wir haben den Großkönig besiegt; niemand kämpft noch gegen uns.“ 241 An. 1, 10, 2 f.; Lendle 1995, 80. 242 Zu Phalinos: Lendle 1995, 92 ff. 243 An. 2, 1, 11. 244 Phalinos meint Euphrat und Tigris. 245 An. 2, 1, 12. Erst in 3, 1, 4 stellt er sich unter seinem richtigen Namen vor. Auch in Hell. 3, 1, 2 benutzt Xen. bei der Erwähnung seiner Anabasis ein Pseudonym: Themistogenes. 246 An. 2, 1, 12. 247 An. 3, 1, 11–25. 248 An. 2, 1, 13. 249 An. 2, 3, 17. 250 An. 2, 3, 18. 251 An. 2, 3, 20. 252 An. 2, 3, 21 ff. 253 An. 2, 5, 3–15. 254 An. 2, 6, 6. 255 An. 3, 1, 2: 10 000 Stadien = 1800 km. 256 An. 2, 1, 12. 257 An. 3, 1, 11. 258 Vgl. An. 4, 3, 8. 259 Vgl. Lendle 1995, 151. 260 An. 3, 1, 13 f. 261 An. 3, 1, 10. 262 Lendle 1995, 152. 263 Lendle 1995, 152 f. 264 Die Perser verfügten u. a. über ein vorzügliches Nachrichtensystem. Wiesehöfer 1994, 115  ff. Her. 8, 98: Die berittenen persischen Boten sind die schnellsten der Welt. 265 Vgl. An. 3, 1, 15–25. 266 An. 3, 1, 47. 267 An. 3, 2, 9. 268 Vgl. Lendle 1995, 159 f. 269 An. 3, 2, 10–39. 270 Hans-Joachim Diesner: Das Söldnerproblem im alten Griechenland, in: Das Altertum 3, 1957, 4, 213–223. 271 An. 3, 1, 4. 272 Die Karduchen sind die Vorfahren der heutigen Kurden.

273 An. 4, 3, 2. 274 An. 4, 7, 19. 275 Die anthropologische Skizze des Th. findet sich in Form der sogenannten „Pathologie“ in seinem Geschichtswerk: 3, 82  f. Dazu auch Herwig Görgemanns 1977, 64–93. Vgl. auch Karl Büchner: Sallust, Heidelberg 21982, 334 f. 276 Th. 3,82, 2. 277 Die Abfassungszeit der An. setzt Breitenbach 1966, 1639–1644 nach gründlicher Diskussion aller zur Verfügung stehenden Anhaltspunkte auf die 80er Jahre des 4. Jh.s., als Xen. in Skillus lebte (zwischen 390 und 371). 278 Th. 1, 75, 3. Dazu auch Görgemanns 1977. 279 Im März 401 waren die Zehntausend in Sardes aufgebrochen. Im September 401 kam es zur Schlacht bei Kunaxa. Im Mai 400 erreichten die Zehntausend Trapezunt am Schwarzen Meer. Die gesamte Expedition dauerte von Sardes bis Trapezunt also fünfzehn Monate. Im Oktober 400 erreichten die Zehntausend Byzanz. Im März 399 übergab Xen. das auf 5000 Mann geschrumpfte Söldnerheer dem Spartaner Thibron. 280 An. 4, 7, 21. 281 Römisch 1972, 65–84, bes. 76–79. 282 James Joyce: Ulysses (1922), London 3 1963, 3, zitiert Xen.s „Thalatta! Thalatta!“: „She is our great sweet mother.“ – Heinrich Heine stellt im Rahmen seiner „Reisebilder“ der „Nordsee“ Xen. An. 4, 7 als Motto voran. In der Zweiten Abteilung der „Nordsee“ beginnt Heine das Gedicht „Meergruß“ (1826) mit Xen.s „Thalatta! Thalatta!“. Dazu auch: Rainer Nickel: Die Berühmten. Griechische Schriftsteller, Mainz 2010, 164–174. 283 Römisch 1972, 78. Dass die Kyreer glücklich in ihre Heimat zurückkehrten, berichtet auch Plutarch in seiner Artaxerxes-Biografie (Kap. 20). 284 Odyssee 13, 73–92.

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285 Manfred Lossau: Xenophons Odyssee, in: Antike & Abendland 36, 1990, 47–52. 286 An. 4, 7, 21–26. 287 So verstand es später Diodor 14, 29, 4. 288 An. 7, 1, 25–31: Xen.s Rede an die Soldaten. 289 An. 7, 2, 8. 290 Die Verhandlungen mit Seuthes schildert Xen. An. 7, 2, 17–7, 3, 2. 291 An. 7, 8, 8. 292 An. 7, 8, 14 f.

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293 An. 7, 8, 20–23. 294 An. 7, 8, 23 f.; Hell. 3, 1, 6. 295 Hell. 3, 2, 7. 296 Hell. 3, 4, 20. Herippidas führte die Kyreer auf Seiten der Lakedämonier in der Schlacht bei Koroneia 394 gegen die Böoter, Athener und andere: Hell. 4, 3, 15. 297 An. 5, 3, 6. 298 Hell. 4, 3, 15–20. 299 Hell. 4, 3, 17.