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German Pages 144 [130] Year 2009
Hans-Peter Hasenfratz Der Tod in der Welt der Religionen
Hans-Peter Hasenfratz
Der Tod in der Welt der Religionen
Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart Einbandabbildung: Der Erzengel Michael als Seelenwäger, katalanisches Fresko aus dem 12. Jahrhundert (Ausschnitt), Museu Arqu. Episcopal, Barcelona; © akg-images.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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ISBN 978-3-534-22151-6
Für Mirjam
Inhalt Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Erster Hauptteil: Der Tod in der Welt der Religion I. Der Tod als rituelles Phänomen . . . . . . . . . . . . . . II. Der Tod in Brauchtum und Volksreligiosität A. Der selige Tod . . . . . . . . . . . . . . B. Der unselige Tod . . . . . . . . . . . . . a. Der Tod in der Ferne . . . . . . . . . b. Der unzeitige Tod . . . . . . . . . . . c. Der gewaltsame Tod . . . . . . . . . d. Der Vampir . . . . . . . . . . . . . . C. Der soziale Tod . . . . . . . . . . . . . . D. Restprobleme . . . . . . . . . . . . . .
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III. Der Tod als multi-lokales Phänomen . . . . . . . . . . . A. Der Mensch als Komplex seelischer Epiphanien . . . . B. Das multilokale “Jenseits der Seele” . . . . . . . . . .
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Inhalt
Zweiter Hauptteil: Der Tod in den Weltreligionen IV. Gelebte Religion und verordnete Elitereligion . . . . . . . V. Die Elitereligionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Altes Testament und Judentum . . . . . . . . . . B. Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Hinduismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. “Der Übergang vom linearen zum zyklischen Denken” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Die Philosophie der Reinkarnation . . . . . . . c. Das Samsara . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Die Kastenordnung und der soziale Tod . . . . e. Rückschau und Vorschau . . . . . . . . . . . . E. Buddhismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Der Mensch – das ‘seelenlose’ Wesen . . . . . . b. Schamanistische Sterbebegleitung und Reise ins “Zwischenreich” . . . . . . . . . . . . . . . . c. Ritueller Selbstmord . . . . . . . . . . . . . .
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Anstelle eines Schlusswortes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Anmerkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Literaturliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
Vorwort Vorwort
Das Wort ‘Tod’ deckt „ein weites Feld“ ab. Einmal kann es den Tod als Prozess bedeuten (Sterben), dann den Tod als Grenzmarkierung (Ende einer Daseinsform, Beginn einer neuen), schließlich den Tod als Zustand (nachtodliche Befindlichkeit). Dieses Büchlein soll das ganze Feld mit wechselnder Gewichtung thematisieren, und das – wie ihm aufgetragen – in gebotener Kürze. Das bedeutet, dass sich sein Verfasser, den die Thematik sein Forscherleben lang nicht losgelassen hat, beschränken muss auf das, was ihm wichtig ist. Und das bedeutet vielleicht auch, dass der Leser/die Leserin manches vermisst, was ihm/ihr wichtig ist. Dafür sei er/sie auf die (knapp gehaltene) Literaturliste verwiesen. Die Liste ist insofern selbstreferentiell, als sie Auskunft darüber gibt, was der Verfasser über das Thema zu wissen meint. Und das ist allemal mehr, als was er in diesem Büchlein zu wissen scheint. Zur Vermeidung von Schrägstrichen zwischen männlicher und weiblicher Form ist die männliche auch überall gebraucht, wo der Mensch (männlich/weiblich) als Gattungswesen im Blick ist. Weibliche Formen bleiben dann für Sachverhalte reserviert, die ausschließlich und ausdrücklich das weibliche Geschlecht betreffen. Unsere Transkriptionen verzichten auf Längenangaben (bei Vokalen) und diakritische Zeichen (bei Konsonanten), lehnen sich im Übrigen oft an einschlägige angelsächsische Fachliteratur an (j für dsch, ch für tsch, kh für ch, sh für sch, z für stimmhaftes s, ferner th, gh für die behauchten Verschluss- und die entsprechenden Reibelaute). Alif und Ayn sind weggelassen.
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Vorwort
Ich danke der WBG und Herrn Dr. Villhauer für Anstoß und Förderung des Projekts. Bochum, 17. 07. 2009
H.-P. H.
Erster Hauptteil
Der Tod in der Welt der Religion
I. Der Tod als rituelles Phänomen I. Der Tod als rituelles Phänomen
1. Wie viele Mythen zu berichten wissen, gehört der Tod nicht wesenhaft zur Natur, vor allem des Menschen, und zur Schöpfung. Gott hatte nämlich den ersten Menschen an einem Strick einen Stein und eine Banane vom Himmel herabgelassen. Anstelle des Steins, der ihnen Unvergänglichkeit gebracht hätte, griffen sie die Banane, womit ihr Schicksal, wie diese zu entstehen, zu reifen und zu vergehen, besiegelt war. Oder: Anfangs starben die Menschen nicht. Gott hatte den Tod nämlich in einen Topf eingeschlossen und der trägen Kröte zur Verwahrung gegeben. Doch dann begegnete die Kröte einem munter hüpfenden Frosch, der sich anerbot, ihr den Topf abzunehmen. Leichtfüßig und -sinnig sprang er mit seiner Last davon; der Topf zerbrach – und so kam der Tod in die Welt.1 Oder (Indien; siehe Kapitel V. D. a. 2., Abs. 1): Die ersten Menschen waren ein Zwillingspaar und unsterblich. Der Bruder, des ewigen Lebens überdrüssig, zog aus nach Süden und entdeckte als Erster das Totenreich, starb und wurde zum ersten Sterblichen. Seine Zwillingsschwester überredete ihn zum Inzest, damit das Leben auf Erden weitergehe. Daraus entstand das Geschlecht der Sterblichen, die auf Erden leben und alle ihrem Urahn ins Totenreich, wo er als König und Totengott regiert, nachfolgen müssen.
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I. Der Tod als rituelles Phänomen
Oder (Iran; siehe III. B. 4.): Der gute Gott hatte die Schöpfung ursprünglich immateriell geschaffen. Damit war sie zwar unsterblich, aber unvollkommen, ihr fehlte die Körperlichkeit. Also verlieh er ihr zusätzlich körperliche Beschaffenheit. Damit war sie zwar vollkommen, aber störanfällig geworden; denn nun konnte sie vom Widersacher des guten Gottes, dem bösen Gott, angefallen und verdorben werden. Seitdem ist sie der Schwäche, der Krankheit, dem Tod unterworfen. Oder: Das erste Menschenpaar, unsterblich von Gott geplant, übertrat ein göttliches Gebot. Dafür büßt es zur Strafe das ewige Leben ein (Adam und Eva). Oder: Der gute Vater des Lichts war – zufällig – vom Fürsten der Finsternis erblickt worden. Der wollte sich das Licht aneignen, was ihm teilweise gelang. Aus diesem Grund schuf der Vater des Lichts den Menschen, um in dessen sterblichem Leib die verlorenen Lichtteile einzuschließen und zurückzuerobern. Wenn sich das eingeschlossene Licht seines Ursprungs bewusst wird (Gnosis!), kann es sich vom sterblichen Körper nach dessen Tod lösen und ins Reich des Lichts aufsteigen, um so der göttlichen Lichtfülle wieder zugeführt zu werden.
2. Ist schon der Tod als kollektives Geschick aller Menschen vom Schöpfer eigentlich nicht gewollt, nicht ‘natürlich’, so steht erst recht jeder individuelle Todesfall unter dem Generalverdacht, ‘nicht natürlich’ zu sein: Hexerei konnte die Ursache sein, heimliche Feindschaft, Missgunst, Neid; aber auch verborgene Übertretungen des Verstorbenen selbst, Meineid, gebrochenes Versprechen, Inzest, rituelle Vergehen (Fällen heiliger Bäume, Trinken aus einem heiligen See). Manche Gemeinschaften unterzogen den Toten einem Befragungsritual, um hierüber Klarheit zu erlangen.2 Und selbst wo diese Klarheit ausblieb (wie meistens) und der Tod in unserem Sinne ein ‘natürlicher’ war, ist es nicht der biologische Tatbestand, der den Tod qualifiziert und markiert, sondern die gesellschaftliche Norm und ihr Ritual. Es konnte jemand, dessen Todesart gesellschaftskonform war (Tod im Schoße und Frie-
I. Der Tod als rituelles Phänomen
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den mit der Gemeinschaft), rituell zum seligen Toten avancieren, jemand durch eine bestimmte Todesart, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprach (Tod in der Fremde, gewaltsamer, unzeitiger Tod), rituell zum unseligen Toten ‘mutieren’. Ja, es konnte sich jemand (durch ein Verbrechen) außerhalb der gesellschaftlichen Norm positionieren und deshalb bei Leibes Leben rituell für tot erklärt werden (sozialer Tod). Es konnte sogar ein Lebender sterben und neu geboren werden (als Myste, als Getaufter: Röm 6,3 ff.); ein (biologisch) Toter ein zweites Mal sterben, wenn er im göttlichen Gericht nicht bestand (‘zweiter Tod’ im Alten Ägypten, in der Apokalyptik: Apk 20,14). In allen Fällen konstituiert das entsprechende Ritual als Ausdruck der gesellschaftlichen (religiösen) Norm den Tod und den Totenstatus, nicht die Biologie an sich. So jedenfalls in vormodernen Gesellschaften.
II. Der Tod in Brauchtum und Volksreligiosität II. Der Tod in Brauchtum und Volksreligiosität
Indem wir beschreiben, was „im Angesicht des Todes“3 in (religiösem) Brauchtum und Volksreligiosität4 und oft in zeitgenössischer Kunst ‘lebt’, beschreiben wir zugleich Handlungs- und Vorstellungsmuster vormoderner Gesellschaften. Hier soll nun zunächst einiges zum seligen Tod, zum unseligen (schlimmen) Tod und damit zusammenhängend zum sozialen Tod gesagt werden.
A. Der selige Tod A. Der selige Tod
Wer in Frieden mit der Gemeinschaft, der er angehört, stirbt und von ihr rite bestattet wird, ist ein ‘seliger Toter’. Er ‘lebt’ als solcher im Schoße der Gemeinschaft (aus Lebenden und Toten) weiter, wird von ihr erinnert (‘Totengedenken’), mit Nötigem versorgt (‘Totenspeisung’), besucht sie gelegentlich, besonders im dunklen Winterhalbjahr (‘Totenbesuchsfeste’), wirkt in seinem ‘anderweltlichen’ Zustand für ihr Gedeihen. ‘Im Frieden mit der Gemeinschaft’ bedeutet: in Übereinstimmung mit der in ihr geltenden Norm, was gelegentlich durch eine ritualisierte Totenbefragung vor dem Begräbnis zu vergewissern gesucht wird (siehe I. 2.). Am sichersten sind die im Zusammenhang
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II. Der Tod in Brauchtum und Volksreligiosität
mit einem Tod gültigen Normen an ihrem Gegenteil zu ermitteln: beim normenwidrigen, ‘unseligen Tod’ (siehe B., auch C.). Hierbei ist jederzeit das Reziprozitätsverhältnis zu beachten. Ein seliger Toter wird ein unseliger, fällt aus der Norm und wendet sich feindlich gegen seine Gemeinschaft, wenn sie das Totenritual nicht korrekt einhält (z. B. nicht ordentlich bestattet) oder die Totenpflege vernachlässigt (z. B. mit Totenopfern knausert, die Gastfreundschaft bei Totenbesuchsfesten verletzt). Da ist dann rasche Wiedergutmachung angesagt, wenn der Gemeinschaft nicht irreversibler Schaden durch den nun a-kosmischen (dem kosmischen Normenbereich der Gemeinschaft ‘entfremdeten’ und schädigenden) Toten entstehen soll. Der in Frieden mit der Gemeinschaft Verstorbene sucht die Gemeinschaft: die ‘Schicksalsgemeinschaft’ mit denjenigen, die er liebt und in sein Totendasein nachziehen möchte. Das kann und muss man verhindern, indem man etwa der Leiche die Augen zudrückt oder mit einer Binde bedeckt oder überhaupt vermeidet, ihr ins Gesichtsfeld zu kommen: Sie könnte sich das Erblickte ‘ausersehen’ und ‘nachholen’ (die Ehefrau, das Kind). War der Verstorbene unverheiratet, starb also ‘unzeitig’ und war deshalb im Begriff, ein ‘Unseliger’ zu werden, veranstaltete man eine ‘Totenhochzeit’: Man verheiratete den Toten pro forma mit einem lebenden Mitglied der Gemeinschaft, die weibliche Leiche kleidete man bräutlich ein oder legte ihr eine Puppe mit ins Grab. Der Tote als Mitglied der Gemeinschaft wollte von ihr auch ordentlich verabschiedet werden, entweder im Beisein der Leiche oder nach deren Bestattung. Die Feier konnte oder sollte orgiastische Züge annehmen (was sonst verboten war, ist jetzt erlaubt); Besäufnisse bis zur Bewusstlosigkeit und entfesselte Tänze gehörten dazu. Orgie und ‘Komasaufen’ können als Solidaritätsrituale verstanden werden: Auf bestimmte Zeit und rituell kontrolliert wird die ‘Anderwelt’ (als ‘verkehrte Welt’: III. B. 2.) und der Totenzustand (Totalrausch!) inszeniert. Der Tanz als extreme Vitalitätsentfaltung führt dem Devitalisierten (Toten) als Rekreativritual Lebensimpulse zu, die er für sein nachtodliches Leben benötigt. In dieselbe Kategorie gehören Leichenspiele, die sich in Rom als Zirkusspiele von ihrem ursprünglichen ‘Sitz im Leben’, dem Totenkult, gelöst haben und zur blutigen Volksbelustigung pervertierten.5 In unseren ‘Leidmahlen’, bei denen es oft noch sehr ‘leb-
A. Der selige Tod
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haft’ zuzugehen pflegt, erleben wir die domestizierte Form dieser Abschiedsfeierlichkeiten. Gottfried Keller schildert in seinem Grünen Heinrich ein Leichenmahl im vorletzten Jahrhundert, in dem noch Elemente der zeremoniellen Abschiedsfeier zu erkennen sind: reichlich Wein, Musik, ausgelassene Tanzerei der Jugend. Das Totengeleit zur Begräbnisstätte ist ehrenvolle Prozession und Veranstaltung, dem geleiteten Toten eine von der Gemeinschaft unkontrollierte Rückkehr zur Stätte der Lebenden zu ‘verbauen’. Wie das? Man schlägt eine Bresche in die Wand des Trauerhauses, die man gleich wieder vermauert, nachdem der Leichnam durch sie hinausgeschafft worden ist. Denn es ist „ein Gesetz der Teufel und Gespenster“ (wie Goethe in Faust I weiß), somit auch der Toten, an den einmal benützen Weg gebunden zu sein. Ob die Leiche mit den Füßen oder mit dem Kopf voraus weggetragen werden soll, wenn man die normale Tür benutzt, wird rituell kontrovers gehandhabt. Beide Varianten ‘machen Sinn’. Nach der einen kann der Tote nicht mehr zu seinem Haus zurückblicken und deshalb nicht mehr ungerufen zurückkehren, nach der anderen (‘ärschlichen’) blickt er gerade nochmals zurück und wird deshalb nicht mehr vom Heimweh zurückgetrieben. Die Grabstatt beschwert man mit Steinen (Grabstein!), umhegt sie mit Dornen und Giftpflanzen (Rosen, Taxus), ummauert sie (Friedhof!), erschwert ihr Verlassen durch die Friedhofstür mit der ‘Gätteri’, einem Beinbrecher, der dem Bergwanderer auch zur Sicherung von Viehweiden bekannt sein dürfte. Im einen Fall verhindert die mit einem weitmaschigen Gitter bedeckte Grube Streunen von Toten, im anderen von Kühen. Die Besuche der seligen Toten bei den Lebenden sind rituell limitiert: Das Leben soll durch ihren Besuch befördert, nicht gestört werden. Die dunkle Jahreshälfte, das Winterhalbjahr, ist die adäquate Zeit der Totenbesuchsfeste. Die Toten werden zeremoniell zu einer bestimmten und für eine bestimmte Zeit (heute Allerseelen, Weihnachten, Fastnacht) eingeladen, besuchen ihre Familien zu Hause und werden an ihren Gräbern aufgesucht, werden bewirtet und beschenken dafür die Lebenden mit Fruchtbarkeit von Mensch, Vieh, Acker (die Kinder mit Naschereien und Spielzeug); zum Schluss lädt man sie förmlich wieder aus („manes exite paterni!“, neunmal zu sprechen6). „Wessen Name ausgesprochen wird, der lebt“, lautet ein altägyptisches Sprichwort
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II. Der Tod in Brauchtum und Volksreligiosität
(seit dem Neuen Reich wörtlich belegt, der Gedanke ist jedoch viel älter). Da der Name eine ‘Außenseele’ des Menschen ist (III. A. 2., Abs. 4), bedeutet sein Erinnern Leben des ganzen Menschen, sein Kennen die Möglichkeit, den ganzen Menschen zauberisch zu manipulieren (‘Rumpelstilzchen-Effekt’): Fällt bei der gemeinsamen Mahlzeit (oder jeder anderen Gelegenheit) der Name des verstorbenen Familienangehörigen, so hat man ihn mit dabei. Umgekehrt bewirkt die römische damnatio memoriae, die ‘Vernichtung des Gedächtnisses’ (eines Toten), die strafweise Austilgung des Unerwünschten selbst aus der Gemeinschaft für immer. Die katholischen ‘Seelämter’ am 7., 30. des Monats sowie am Jahrestag gelten dem Gedächtnis des Verstorbenen, damit seinem Seelenheil, dem Heil der ganzen Persönlichkeit. Auf der Rückseite eines Abreißkalenderblattes zum 1. Juni 2008 lese ich: „La mort n’est pas la dernière fin, il nous reste encore à mourir chez les autres.“ Wie wahr: Der Tod ist nicht das letzte Ende, wir müssen auch im Gedächtnis der Nachwelt sterben! Das Gesetz der Reziprozität (s. o.) läuft auch in umgekehrter Richtung: Wird ein Ahn regelgemäß beopfert und hilft er seinen Hinterbliebenen trotzdem nicht, so stellt man die Opfer ein, erinnert sich seiner nicht mehr, lässt ihn dadurch aus der Ordnungswelt ans akosmische, unselige Nichtsein verfallen. Ungeachtet seines seligen Todes wird er durch sein gemeinschaftswidriges nachtodliches Verhalten ein unseliger Toter. Bevor man ihn vergisst, beschimpft man ihn: „Du bist kein Ahn, du bist nur ein Totengespenst!“7 Wie fein austariert die Ökonomie der Emotionen im Verkehr zwischen Lebenden und Toten ist, zeigt andererseits, dass ein Zuviel an Erinnern beide Teile beschwert: Unkontrollierte Trauer (‘Nachweinen’) bindet das Leben emotional allzu sehr an die Toten und wirkt lebenshemmend; die Toten lässt sie im Grab keine Ruhe finden, nicht ins Jenseits gelangen oder treibt sie von dort zurück ins Dasein (zum tödlichen Schaden der nachweinenden Lebenden). Märchen, Folklore, religiöse Überlieferung und Dichter verschiedenster Kulturen wissen darum, so z. B. Das Totenhemdchen der Brüder Grimm oder die zoroastrische Jenseitsvision eines Arda Viraz (erhalten in einer Pahlavi-Version): Er erblickt im Jenseits einen Strom, den die Seelen der Verstorbenen überqueren müssen, aber nicht können,
B. Der unselige Tod
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wenn um sie im Diesseits „viel Jammern und Klagen und Weinen gemacht“ wurde.
B. Der unselige Tod B. Der unselige Tod
Kein Tod gilt, wir sagten es schon (I.), als ‘natürlich’. Aber der Tod hat doch im normalen Lebenslauf seinen ‘natürlichen Ort’, nämlich da, wo der Mensch „alt und lebenssatt“ (wie Erzvater Abraham Gen 25,8) und im Kreise seiner Lieben stirbt. Aber er ist immer auch eine Katastrophe, weil er die Balance zwischen den zwei Hälften der (vormodernen) Solidargemeinschaft aus Lebenden und Toten stört. Als normaler Tod ist er im Lebensaufriss freilich absehbar und durch einen (wenn auch außergewöhnlichen) rituellen Aufwand zu bewältigen. Und so dient der rituelle Aufwand bei einem seligen Toten in erster Linie der Wiederherstellung des gestörten Gleichgewichts, der Schaffung von Bedingungen für personale Beziehungen zwischen dem Verstorbenen und seinen Hinterbliebenen. Und das wiederum beinhaltet rituelle Regulierung einer für beide Hälften gedeihlichen, erwünschten und unerwünschten Nähe und Ferne (A.). Anders verhält es sich mit dem Tod außerhalb des normalen Lebensaufrisses, dem sog. ‘schlimmen’ oder ‘unseligen’ Tod. Das ist im Besonderen der Tod in der Ferne (Fremde), der Tod zur Unzeit, der gewaltsame Tod. Die drei unglücklichen Todesarten sind oft miteinander vernetzt: Tod in der Fremde ist oft unzeitiger und gewaltsamer Tod (etwa im Krieg), gewaltsamer Tod (etwa Mord) oft auch unzeitig, unzeitiger oft gewaltsam (etwa Unfall). Hinzuzufügen ist noch, dass bei Bruch des Reziprozitätsverhältnisses ein seliger Toter zum unseligen Toten werden kann (A., Abs. 1) und dass ein unseliger Toter, obwohl selig gestorben, sich durch seinen akosmischen postmortalen Zustand (etwa als Vampir) als heimlicher Normen- und Tabubrecher zu Lebzeiten selbst ‘denunziert’. Oft spielt freilich persönliche Schuld (in unserem Sinn) gar keine Rolle: Es genügt, das jemand an einem a-kosmischen Ereignis (Ereignis außer der Norm: Un-Fall, Un-Glück) beteiligt war und als Opfer umkam, um ihn zum unseligen Toten zu machen.
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II. Der Tod in Brauchtum und Volksreligiosität
a. Der Tod in der Ferne a. Der Tod in der Ferne
1. Kosmos ist bei vormodernen Gesellschaften immer der von ihnen bewohnte und genutzte Raun. Altindisch loka meint ursprünglich die vom Menschen in den Wald geschlagene ‘Licht’-ung, dann ‘Welt’. Russisch mir bedeutet noch heute ‘Frieden’ und ‘Welt’, was ursprünglich die Welt auf den Bereich reduziert, in dem Frieden herrscht: die vormoderne Lager- und Dorfgemeinschaft. Außerhalb dräut in konzentrischen Kreisen von zunehmender Dichte Fremde, tödliche Un-Welt (sog. ‘duales Zwei-Sphären-System’ traditioneller Gesellschaften). In ihr hausen wilde Tiere (‘Wald’!), dämonische Wesen – und wenn Menschen, dann Barbaren mit verdrehten Sitten und unverständlicher Sprache, eigentlich gar keine ‘Menschen’, denn die ‘leben’ nur in der eigenen Binnensphäre, in der Mitte (althochdeutsch mitti-gart: Welt8). Nur wer der Binnenwelt angehört, ‘lebt’, sei er physisch lebendig oder ein seliger Toter. In der Exosphäre, draußen, ‘lebt’ man nicht, sei man physisch lebendig oder tot: In beiden Fällen ist man – immer aus binnensphärischer Perspektive – ‘tot’, ein a-kosmischer, unseliger Toter (I. 2.). Jedenfalls ist man aus dem Lebensbereich der eigenen Gemeinschaft gefallen und hat an ihr auch als Toter keinen Anteil mehr. Wird bei den sibirischen Tschuktschen (einem der sog. kleinen Völker des Nordens, wie die Ethnologen sagen) ein Jäger auf einer Eisscholle abgetrieben und kehrt bis zur Ankunft des Packeises mit Winterbeginn nicht zurück, so müssen für ihn Begräbniszeremonien abgehalten werden, seine Frau wird Witwe und wieder verheiratet. Überlebt der Verschollene und findet hernach wider Erwarten zur Siedlung zurück, dann hat ihn sein nächster Verwandter umzubringen, ihn und jede und jeden, die mit ihm freundschaftlich umgehen sollten (etwa seine ‘Witwe’, die ihn wiedererkannt hat). Denn für seine Gemeinschaft gilt er (I.) als wiederkehrender Toter: als fellbewachsenes, unmenschliches Ungeheuer, als ein Teryky – so die gleichnamige Erzählung von Juri Rytchëu, selber ein Tschuktsche. Nicht nur ist der in der Fremde Umgekommene mit dem Miasma der UnWelt infiziert, meist fehlt ihm – zumal, wenn er sich in der ‘Wildnis’
a. Der Tod in der Ferne
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verirrte – ein Grab. Unbegrabene, das ist universell verbreitete Überzeugung, können nicht (oder nur unter erschwerten Umständen) in die jenseitige Anderwelt eingehen. Und selbst wenn der in der Ferne Umgekommene mitleidige (oder vorsichtige!) Barbaren fand, die seinen Leichnam beisetzten, so ist die Art, wie Barbaren mit ihren verdrehten Sitten ihre Toten behandeln, nicht die heimische, und diese allein, weil einzig korrekt, hätte den Zutritt in die heimische Totenwelt und damit in die heimische Gemeinschaft der Lebenden und der Toten eröffnet. Gelegentlich machen sich einem Reisenden in der Fremde tote Landsleute bemerkbar. So passierte es (laut Bericht seines antiken Biographen Philostrat) dem neupythagoreischen Guru und Zeitgenossen Jesu, Apollonios v. Tyana, auf seinem ‘Indientrip’. Beim Durchzug durch parthisches Gebiet erreichte den hochsensitiven Weisen ein Traumbild: Von den Persern nach Medien deportierte und dort begrabene ‘Volksgenossen’ flehen ihn an, sich ihrer Grabstätten anzunehmen. Der Weise ändert daraufhin seine Route, findet die Gräber, stellt sie wieder her, fasst sie neu ein, gießt Trankopfer aus und legt Grabspenden nieder, wie es der ‘einheimische’, griechische Brauch vorsah (hopósa nómima). Dann zieht er fürbass. Wo es die Umstände erlauben, ist eine Gemeinschaft darauf bedacht, in der Fremde Verstorbene in den heimischen Sippenfriedhof zu überführen. Ist das unmöglich, errichtet sie ein Leergrab (Kenotaph) mit seinem Namen. So lebt er, unvergessen, in der Gemeinschaft weiter (A., Abs. 1).
2. Dem Tod in der Fremde kommt der Tod im fremden Element gleich. Denn falls das Element die Leiche nicht ländet, bedeutet Ertrinken Umkommen ohne ordentliche Bestattung. Und das führt zu bösartiger Wiedergängerei; die unbestatteten Ertrunkenen gehen um und drangsalieren ihre Hinterbliebenen. An der Goldküste glaubt man, die Seelen von Ertrunkenen würden im Seelenland ‘Sramanadzi’ trauern und sich an den Angehörigen für ihr fehlendes Begräbnis rächen. Es sei denn, man verfertigt für den in den Wellen Umgekommenen einen kleinen Sarg, gefüllt mit persönlichem Besitztum des Betroffenen (also
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II. Der Tod in Brauchtum und Volksreligiosität
‘Kontaktgegenständen’, die ihn selbst vertreten), den man mit den gewöhnlichen Bestattungsriten beerdigt. Damit ist dem Toten, dessen Leichnam unauffindbar blieb, ein Ruheplatz im Schoße der Gemeinschaft garantiert, an dem seine Seele (wenn schon nicht der Körper) jederzeit einkehren kann. In Ägypten gilt Ertrinken, gegen die allgemeine ‘Regel’, als ein seliges Todeslos. Der Ertrunkene heißt von den Göttern ‘gepriesen’, bezeichnet mit einem altägyptischen Wort (hsy), das die Griechen in Grabschrift und Papyrus mit hesies transkribierten. Der Grund für diese ägyptische ‘Spezialität’ ist der, dass Ertrunkene mit dem Erdgott Osiris identifiziert wurden, der ertrinken muss (Nilschwemme), um zu neuem Leben (wachsende Saat) wiederaufzuerstehen.
b. Der unzeitige Tod b. Der unzeitige Tod
1. „Die Seele, der im Leben ihr göttlich Recht Nicht ward, sie ruht auch drunten im Orkus nicht; Doch ist mir einst das Heil’ge, das am Herzen mir liegt, das Gedicht, gelungen: Willkommen dann, o Stille der Schattenwelt! Zufrieden bin ich, wenn auch mein Saitenspiel Mich nicht hinabgeleitet; einmal Lebt’ ich wie Götter, und mehr bedarf ’s nicht.“ So singt Hölderlin in seinem Parzenlied; und Recht hat er. Der ‘normale’ Tod hat nicht nur seinen richtigen Ort (auf heimischem Boden, im Schoße der Gemeinschaft), sondern seine richtige Zeit („alt und lebenssatt“). Unzeitiger Tod hat immer etwas Beschwerendes. In den Betroffenen hinterlässt er Neid gegenüber den Lebenden, die ihr ‘Lebenssoll’ erfüllen dürfen, aber auch Schuldgefühle, die eigenen ‘Lebensaufgaben’ nicht erfüllt haben zu können – Gefühle, die in Lebensgier und Hass umschlagen und auf perverse, d. h. für die Lebenden verderbliche, Weise ‘nachzuholen’ zwingen, was das normale
b. Der unzeitige Tod
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Leben vorenthielt. Das erträglichste postmortale Los für unzeitig Verstorbene ist noch dies, dass sie mit dem ‘Guottisheer’ (der gespenstischen Nachtschar der Toten) so lange umzufahren hätten, bis ihr ‘natürliches’ Sterbealter erreicht wäre. Der Luzerner Stadtschreiber Renward Cysat (gest. 1614) gibt diesen Volksglauben seiner Zeit so wieder, dass die Seelen der Menschen, die „vor der rechten zyt vnd stund“ verscheiden, so viel Zeit nach ihrem Tod auf Erden „also“ (mit der gespenstischen Nachtschar) wandeln müssten, „bis sy dieselbige stund nachmalen erreichtend“.
2. Bräute, die vor der Hochzeit gestorben sind, pervertieren (wenn man sie nicht ‘ersatzbefriedigt’: A., Abs. 1) zu gespenstischen, unersättlichen Ungeheuern. Einem slawischen volkstümlichen Prototyp, der Willi (vgl. tschechisch víla: Fee, Nixe), hat Heinrich Heine zu künstlerischem Nachruhm verholfen. Die Willis sind vor ihrer Hochzeit verstorbene Bräute. Sie können im Grab nicht ruhig liegen; in ihrem toten Herzen, ihren toten Füßen lebt noch jene Lebens- und Tanzlust, „die sie im Leben nicht befriedigen konnten“. Um Mitternacht entsteigen sie ihren Gräbern, versammeln sich an den Heerstraßen. Und wehe dem jungen Mann, der ihnen da in die Hände fällt! Sie umschlingen ihn mit ungezügelter Gier, und er muss mit ihnen tanzen, bis er entseelt hinstürzt. Die erotische Unersättlichkeit der ‘unbefriedigten’ Bräute ist hier zu verderblicher Tanzwut ‘verschoben’. Der symbolische Zusammenhang zwischen Tanzen und Geschlechtsverkehr ist der Psychoanalyse bekannt: Das eine kann im psychischen Geschehen (etwa im Traum) für das andere stehen. Den Zusammenhang ‘ahnte’ natürlich schon vor Freud Adolphe Adam, der in seiner Giselle die tanzwütige Schicksalsgemeinschaft der Gespensterbräute als erotisierendes Corps de Ballet agieren lässt.9
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II. Der Tod in Brauchtum und Volksreligiosität
3. Zu zwei Gattungen unzeitig Verstorbener verhält sich die Gemeinschaft ambivalent: zur Wöchnerin, die an der Geburt stirbt, und zum Soldaten, der im Kampf fällt. Beide lassen ihr Leben vorzeitig (der Krieger zusätzlich noch durch Gewalteinwirkung), erleiden also einen schlimmen Tod – aber in Wahrnehmung einer für das Überleben der Gemeinschaft kardinalen Funktion: Reproduktion und Schutz. Bei den Eskimos und Azteken rangieren sie deshalb unter den vornehmsten Toten und gelangen an einen privilegierten Ort im Jenseits. Im germanischen Bereich heftete man die Leichen von Mutter und Kind in ihrem gemeinsamen Grab mit einem Pfahl an die Erde (vom sog. Deutschen Bußbuch um 1000 als teuflische Praxis mit Kirchenbuße belegter Volksbrauch). Andererseits zieht man der toten Wöchnerin solides Schuhwerk an, ansonsten müsste sie ja „barfuß zu ihrem Kindlein kommen“, um es zu „geschweigen“ (so der Glaube im luzernischen Napfgebiet). Auf ehemaligen Schlachtfeldern ist es nicht ‘geheuer’. Hier müssen die Gefallenen nächtlicherweise oder am Jahrestag der Schlacht ihren Tod zwanghaft wiederholen (‘Geisterschlacht’). Andererseits tun die Regisseure der Macht und ihre gefügigen Handlanger alles, den schlimmen Tod des Soldaten zu verklären. Davon zeugen Gefallenendenkmale und Ehrentafeln in christlichen Kirchen.10 Bei Walter Flex wird gar der ‘Opfertod’ auf dem ‘Feld der Ehre’ zum „großen Abendmahl“: „Zum Altar ward das Feld der Völkerschlacht. Aus deutschem Blut ist Christi Wein bereitet, und in dem Blut der Reinsten wirkt die Macht des Herrn, der durch die heil’ge Wandlung schreitet!“11 Und wer (außer er sei ‘Germane’) wollte schon das postmortale Dasein der kampftoten germanischen Helden teilen, die im eddischen Walhall (der ‘Halle der Gefallenen’) ihre (öden!) Jenseitstage in mythischem Wiederholungszwang mit unaufhörlichen Einzelkämpfen durchbringen und, wenn dabei gefallen, immer unversehrt wieder aufstehen!?
c. Der gewaltsame Tod
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c. Der gewaltsame Tod c. Der gewaltsame Tod
1. Im normalen Lebensaufriss hat der Tod nicht nur seinen richtigen Ort und seine richtige Zeit („alt und lebenssatt“ im Schoße der Gemeinschaft), auch die richtige Art und Weise. Und diese schließt gewaltsamen Tod a limine aus: Tod durch Unfall, Mord, Selbstmord, Hinrichtung usw. Wer eines gewaltsamen Todes stirbt, findet (lange) keine Grabesruhe. Die Seelen gewaltsam zu Tode Gekommener spuken an den Stätten des Geschehens, indem sie es unter Zwang wiederholen, gerade so, als ob sie das ‘traumatisierende Erlebnis’ ‘abreagieren’ müssten. Persönliche, subjektive ‘Schuld’ im ‘forensischen’ Sinn spielt beim gewaltsamen Tod nicht die Rolle, die wir uns wünschten. Dieser ist ein objektives Verhängnis über den Betroffenen und seine Gemeinschaft und lässt ihn erst einmal aus dieser Gemeinschaft herausfallen, die allerdings versuchen kann, ihn durch integrative Veranstaltungen zurückzuholen, zu ‘erlösen’ (vgl. a.). Günstigenfalls (z. B. wenn sie des Mörders habhaft wird) bestraft eine Gemeinschaft die Mordtat: durch Hinrichtung oder Ausstoßung des Täters. Aber diese berühren – als unseliger oder sozialer Tod (C.) – den Delinquenten, nicht hingegen den ‘unseligen’ Tod seines Opfers!
2. Als die ‘interessantesten’ (weil von der Gemeinschaft mit extraordinärem rituellen Aufwand umgeben) fallen unter den Arten gewaltsamen Todes Selbstmord und Tod durch Hinrichtung auf. Nicht in allen Gesellschaften und unter allen Umständen gilt Selbstmord als Mord und damit als unseliger Tod. Für die indischen Jainas, die iranischen Manichäer und die europäischen Katharer war der freiwillige Tod (durch Verhungern) das Mittel, die Seele für immer vom Körper zu befreien und aus dem Kreislauf der Wiedergeburten zu erlösen. Und die Nordgermanen hielten dafür, dass Alte, die sich selbst töteten, um der Gemeinschaft nicht zur Last zu fallen (vgl. auch C. 2.), direkt zu Odin
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führen. Wer sich umbrachte, um nicht in Feindeshand zu geraten, wurde ohnehin vielerorts mehr als nationaler Märtyrer denn als Selbstmörder eingestuft. Anderswo (etwa bei den Völkern Indonesiens) wertete man Suizid als puren Wahnsinn, der nicht nur das Überleben der Gruppe, sondern auch den Täter selbst gefährdet. Selbstmörder lungern als gefürchtete Quälgeister am Grab umher, gelangen sie ins Jenseits, so steht dort ‘ihr Dorf ’ „voller giftiger Pflanzen“. Im christlichen Kulturkreis setzte man seit dem Mittelalter Selbstmord dem Mord gleich, bestrafte ihn peinlich, indem man am Toten die Bestrafung vollzog, die dem lebenden Mörder zugedacht war. Ein ‘ehrliches’ Begräbnis im Kirchhof blieb ihm (meistens) verweigert. Das Rügische Landrecht (des Matth. Norman, 1525–31) bestimmte über Selbstmörder: „Hängt sich einer innerhalb eines Hauses selbst auf, so haut man ihn los und gräbt (zur Abschreckung Anderer) ihn unter der Schwelle oder durch die Wand durch und bringt ihn so hinaus, lässt das Gericht über ihn sitzen und ihn besichtigen, bindet den Strick an eine Kufe mit einem Querholz und lässt ihn mit einem Pferde zum nächsten Kreuzweg hinschleppen, wo sich zwei oder drei Feldmarken scheiden, und gräbt ihn in den Grund und Boden der Herrschaft ein, unter der er sich umgebracht hat; man legt ihm das Haupt dahin, wo die christlichen Toten ihre Füße liegen haben, lässt ihm aber den Strick, mit dem er sich erhängt hat, um den Hals, und ist der Strick nicht lang genug, so verlängert man ihn in der Erde, sodass ein Ende 3 Schuh lang über der Erde liegen bleiben kann zum Zeugnis des begangenen Selbstmordes und zur Abschreckung.“ Das Ausschaffen der Leiche unter der Schwelle oder durch die ausgebrochene Hauswand hindurch verbaut dem Toten die Rückkehr (als Wiedergänger), denn diese Öffnungen werden hinter ihm sofort zugeschüttet und vermacht (A.). Normale Bestattungen waren bis in die Neuzeit hinein ‘geostet’: Die Leiche lag in West-Ost-Richtung mit dem Kopf im Westen (Todesrichtung) und Blick nach Osten (Lebensrichtung), schaute also gewissermaßen aus dem Reich des Todes auf die
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selige Auferstehung. Vergräbt man den Selbstmörder umgekehrt mit dem Kopf nach Osten und Blickrichtung nach Westen, so raubt man ihm Ausblick und Hoffnung auf eine selige Auferstehung: Er schaut geradewegs in den ewigen Tod. Das ist totale Ausstoßung aus dem Leben der Gemeinschaft.12 An Kreuzwegen endeten früher oft die Grundstücke, da die Wege häufig längs der Grundstücksgrenzen liefen. Kreuzwege sind, so gesehen, ‘Niemandsland’; wer dahin gebracht wird, ist rituell ‘ex-terminiert’. Das Verscharren an der Grenze zum Niemandsland, aber noch auf dem Territorium der „Herrschaft“, „unter der er sich umgebracht hat“, und das mahnend dem Grab entragende Strickende treffen auch die Herrschaft selber und geben ihr wenigstens symbolisch Anteil am unseligen Geschehen, das sich auf ihrem ‘Grund und Boden’ zugetragen hat (1.). Die archaischen Hinrichtungsarten, wie sie noch die Carolina (die Peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532, also aus der frühen Neuzeit!) vorschreibt, wenn auch um einige „besonders scheußliche“ durch Nichterwähnung vermindert13, bezwecken die Ausstoßung des Delinquenten aus der Rechtsgemeinschaft durch totale Annihilation. Zugleich ‘spiegelt’ die Art der Bestrafung oft die Art des Verbrechens (‘spiegelnde Strafen’): Der ‘windige’ Dieb stirbt am luftigen Galgen; der Sexualdelinquent durch den ‘phallischen Pfahl’; Ketzer und Hexen im ‘höllischen Brand’, dessen ‘Fürsten’ sie sich verschrieben; die Kindsmörderin, lebendig begraben, im ‘feuchten Schoss der Mutter Erde’; der Majestätsverbrecher mit ‘gebrochenen’ Gliedern am Rad als Sonnen- und ‘Herrschaftssymbol’. Zumindest aber verhindern sie für die Lebenden schädliche Wiedergängerei des Bestraften: getrennte Kopfbestattung (der Rumpf beim Schafott verscharrt, der Kopf noch 1846 an die Landeshauptstadt gesandt) oder ‘umgekehrtes’ Beisetzen (mit Kopf zwischen den Beinen) des Enthaupteten14. Die durch potentielle Wiedergängerei des Malefikanten (des Straftäters) am meisten Gefährdeten (Amtspersonen, Scharfrichter, Gaffer) bedürfen zusätzlichen Schutzes: die Armsünderglocke (Glockengeläut, überhaupt Lärm, verscheucht böse Geister und Tote), die Scharfrichtermaske oder das Verhüllen der Augen des Todeskandidaten (vereitelt, dass sich der Sterbende den Henker als Racheopfer ‘ersieht’ und in sein unseliges Totendasein ‘nachholt’). Bekundet der Täter auf sei-
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nem letzten Gang dem ihm beigegebenen ‘geistlichen Beistand’ Reue, so ist seine Seele gerettet, er stirbt mit der Gemeinschaft versöhnt. Sein Leib bleibt der Strafe verfallen, aber, was er hier erleidet, ist ihm im Fegefeuer erspart. Denn es gilt der Grundsatz „vel in hoc saeculo, vel in futuro in purgatorio“15: Dem reuigen Sünder sind die ewigen Höllenstrafen erlassen, zeitliche hat er ‘hier’ abzubüßen (oder abzulösen) durch die Pein der Exekution – oder ‘dort’ im Fegefeuer zu erleiden. So jedenfalls nach dem ‘alten Glauben’. Ohne Fegefeuer ‘trickste’ es der protestantische hin: Die Sünden sind zwar vergeben, aber die ‘irdische Gerechtigkeit’ muss ihren Lauf nehmen. Im Fall der Reue stand einem ehrlichen Begräbnis auf dem Kirchhof eigentlich nichts mehr im Wege. Der Volksglaube, unbeleckt von Theologie (und Juristerei), neigte dazu, in jedem Hingerichteten einen unseligen Toten und Wiedergänger zu sehen, dessen man sich besser zu erwehren hätte. Das galt auch für Selbstmörder; mochten bischöfliche Behörden eine Beisetzung in geweihter Erde auch zulassen, weil etwa der Suizidant kurz vor dem Freitod die Sakramente empfangen oder zu Lebzeiten an kirchlichen Riten teilgenommen hatte.
d. Der Vampir d. Der Vampir
1. Obwohl der Vampirglaube auch in anderen Kulturen ‘floriert’, beschränkt sich unsere Darstellung auf das ‘heimische’ Territorium. Hier hat er eine steile Karriere zu verzeichnen. Räumlich-zeitlich jedenfalls, künstlerisch mit Vorbehalten: von südosteuropäischer Folklore, orthodoxer ‘Seelsorge’ und Kirchenzucht über die romantische ‘Gothic Novel’ in die neuere Literatur, in den Film und die modernen elektronischen Medien. Für den schönsten Vampir-Roman hält der Verfasser Stephen Kings Salem’s Lot, für den schönsten Vampir-Film Polanskis Fearless Vampire Killers (Tanz der Vampire). Schweigen möchte er von den epigonalen Grusel-Elaboraten, die dem Fernsehkonsumenten so manchen Samstagabend veröden. Oder die er sich mit gleichem Resultat per Klick ‘runterlädt’. Genug davon!
d. Der Vampir
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Der Vampir ist der unselige Tote, der Un-Tote, der Wiedergänger par excellence. Seine ‘Un-Natur’ – die Art seiner Entstehung durch Tod ohne (ordentliche) Bestattung, vor der Zeit, infolge von Gewalt; seine wiedergängerischen Un-Taten; die Möglichkeiten, sich vor ihm zu schützen, ihn zu immobilisieren, zu annihilieren, von seinem akosmischen Nicht-Dasein zu ‘erlösen’ – teilt er mit allen unseligen Toten. Aber dazu kommt ein ‘Surplus’, das ihn von diesen unterscheidet, weshalb er hier vorgeführt wird; auch deshalb, weil sich an ihm (abzüglich dieses Surplus) wiedergängerisches Un-Wesen ohne ermüdende Wiederholung besonders deutlich erschließt. Ein Vampir ist ein Leichnam, der die Fähigkeit besitzt, (nachts) sein Grab zu verlassen oder seine ‘Seele’ aus dem im Grab liegenden Körper ausfahren zu lassen, um Lebenden Blut (Lebens-, Seelensubstanz: III. A. 2., Abs. 2) auszusaugen, die daran sterben und ihrerseits zu Vampiren werden und nach fremdem Blut ausgehen müssen. Der Vampir, der oder dessen Seele das Grab verlässt, erscheint den Lebenden als ‘lebender Leichnam’ (III. A. 3.). Als ‘Geister’ (A., Abs. 1) vermögen Vampire jede beliebige Gestalt (z. B. Wolf, Heuschober) anzunehmen, auf paranormale Art den Ort zu verändern (plötzliches Verschwinden, Auftauchen), zeigen sie kein Spiegelbild (das Spiegelbild weist Lebenden die eigene Seele als ‘Spiegelseele’16 – nicht aber ‘entseelten’ Toten). Gräbt man sie aus, präsentiert sich ihr Körper unverwest, glatthäutig und blutstrotzend (bis aufgebläht): Das fremde Blut verleiht ihnen eine Art Un-Leben. Ihrer Un-Taten sind viele. Abgesehen vom Blutsaugen verprügeln sie Menschen, hocken ihnen auf, erschrecken sie als Poltergeister, klopfen nachts an Türen und rufen einen Bewohner mit Namen – antwortet dieser, so stirbt er ebenfalls, denn mit dem Namen haben sie ihn selbst in ihrer Gewalt (A., Abs. 1). Besonders gern holen sie Familienangehörige aus per-versem Wunsch nach ‘Schicksalsgemeinschaft’ in ihren vampirischen Un-Tod nach und beschlafen ihre (aber auch fremde) Ehefrauen (sexuelle Potenz wird den Toten in vielen Kulturen zugetraut). Wer wird ein Vampir? Natürlich jeder Vampirisierte, also von einem Vampir Angezapfte. Dann praktisch alle Kandidaten, welche die Voraussetzungen für einen unseligen Tod erfüllen (s. o.). Dann durch vampirische ‘Ansteckung’: wer Fleisch eines Tieres isst, das ein Vampir
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gerissen hat. Dann durch eine Art vampirischer ‘Besitzergreifung’, über wessen Leiche eine Katze (Tier, in das ein Vampir sich verwandeln kann) springt. Dann, wer außerhalb der binnenweltlichen Normensphäre steht, nämlich jeder Ungetaufte (nicht orthodoxe Christ), jeder Türke (als ‘Erbfeind’), jeder Apostat (vom orthodoxen Glauben Abgefallene), jeder Exkommunizierte (von der orthodoxen kirchlichen Normengemeinschaft Ausgeschlossene). Damit sind wir in binnenperspektivische Endosphären-Optik (vgl. B. a. 1.) der griechisch-orthodoxen Kirche unter türkischer ‘Fremdherrschaft’ eingetreten – nur um das Folgende besser zu verstehen.
2. Vampir wird nämlich auch, wer unter dem Fluch seiner Eltern stirbt; wer seiner ‘Gevatterin’ beiwohnt; die von zwei Unehelichen unehelich Gezeugten; Kinder, die an einem großen kirchlichen Feiertag empfangen oder geboren wurden. Das sind ‘Vergehen’ aus dem ostkirchlichen Nomokanon. Unter türkischer Obrigkeit hatten Christen zwar die Möglichkeit, ihre ‘inneren Angelegenheiten’ selbst zu regeln. Aber nicht, sie auch mit staatlicher Gewalt durchzusetzen, da türkische (muslimische) Gerichte sich dafür nicht zuständig erklärten. Hier konnte die volkstümliche Furcht, ein Vampir zu werden, in die Lücke verweigerter staatlicher Rechtshilfe einspringen; und die Kirche hat diese Furcht für ihre Disziplinargewalt instrumentalisiert. Die kirchliche Bannformel drohte dem Betroffenen an, nach seinem Tod nicht verwesen zu können – also ein Vampir zu werden: „Mögest du nach dem Tod ewig unverweslich sein wie Gestein und Eisen!“ Löste der Priester den Fluch, weil kirchenrechtliche Gründe für eine Rücknahme sprachen oder weil Angehörige ausstehende zivilrechtliche Verpflichtungen oder Auflagen, die der Verstorbene zu Lebzeiten nicht mehr erfüllen konnte, stellvertretend für ihn übernahmen oder weil sich eine Verfluchung durch die Eltern (s. o.) als zu Unrecht ausgestoßen herausstellte; dann begann der lebende Leichnam zu zerfallen und sich aufzulösen – als Zeichen der ‘Erlösung’ des Vampirs und der Wiederaufnahme in den Normenkosmos der Gemeinschaft.
d. Der Vampir
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Wo Vampire nicht erlöst werden konnten (weil keine kirchliche Veranlassung dazu bestand), musste man sich ihrer erwehren. Dazu diente grundsätzlich das auch bei anderen Unseligen empfohlene Instrumentarium, das, gehörig ‘verdünnt’, zugleich die Anhänglichkeit Seliger abblockt. Erwähnt wird ferner Begräbnis auf einem Eiland im Meer (Wasser und Salz sind bewährte Antidämonika: Salzwasser ist unüberwindbare Barriere für alle Dämonen). Gegen vampirische Heimsuchungen schützt Knoblauch, schon im Alten Ägypten wirksam gegen die ‘Bewohner der Unterwelt’ (ntjw jm). Oder ein magischer Schutzkreis, den man rechtswendig (Sonnen- und Lebensrichtung) um sich zieht. Wo man den Vampir als Ausgeburt der Hölle betrachtet, wirkt Weihwasser oder Kreuz (das ‘Bannkreuz’17). Ein schon Vampirisierter, aber noch Lebender kann dann gesunden, wenn er Erde vom Grab eines Vampirs isst oder Vampirblut trinkt – nach dem magischen Grundsatz, dass dieselbe Sache heilt, die verletzt (sanat, quae sauciat ipsa). Aus der Welt geschafft ist das Übel dadurch freilich nicht. Das gelingt einzig, wenn man es nicht nur immobilisiert oder bannt, sondern total annihiliert: Man sticht dem (am Tag durch Licht immobilisierten) exhumierten Ungeheuer den Kopf ab und legt ihn ihm zwischen die Beine (c. 2., Abs. 2), treibt ihm einen Pfahl durchs Herz und verbrennt ihn gänzlich zu Asche (aber erst, wenn der Herzstich wirklich vorgenommen wurde). Dass bei der Pfählung auf Draculas Antlitz ein flüchtiger ‘look of peace’ aufleuchtet, der auf Erlösung hindeuten würde, ist sicher literarische Fiktion Bram Stokers. Volksbrauch und Volksreligiosität sind hier wieder unversöhnlicher als die Hochreligion! Die prädestiniertesten und geschicktesten Vampirbekämpfer, glaubte man übrigens, seien Abkömmlinge von Kindern, die ein Vampir mit seiner lebenden Ehefrau (s. o.) gezeugt habe; schon rein ‘genetisch’ mit dem ‘Verhaltensrepertoire’ ihrer ‘Verwandtschaft’ am intimsten vertraut!
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II. Der Tod in Brauchtum und Volksreligiosität
C. Der soziale Tod C. Der soziale Tod
1. Die Vernichtung (Annihilierung) eines unseligen Toten und das Erlöschen der Erinnerung an ihn bedeutet einen ‘zweiten Tod’ (vgl. Apk. 20,14) nach dem ‘ersten’. Umgekehrt bewirkt der ‘soziale Tod’18 einen Totenstatus noch vor dem ‘ersten’ (biologischen) Tod, also eine Totstellung schon bei Leibes Leben. Hiervon leiten sich zunächst zwei Prototypen von Totgestellten her. Prototyp 1: Wer sich außerhalb der gemeinschaftlichen Norm stellt, wird lebend zum Wiedergänger (Toten). Der biologische Tod kann dieser Befindlichkeit nichts hinzufügen; der Betroffene muss deshalb von der Gemeinschaft (biologisch lebendig oder tot) nochmals getötet (annihiliert) oder allenfalls erlöst werden. Der mittelalterliche Ächter (Geächtete) und der durch Kirchenbann Exkommunizierte gelten als Tote. In der Heidelberger Bilderhandschrift des Sachsenspiegels liegt der Gebannte vor dem ihn bannenden Priester am Boden (Gestus des Todes), seinem Mund entfährt die Seele in Gestalt eines Seelenmännleins (III. A. 3.) und wird vom Teufel sogleich in Empfang genommen, wiewohl er (biologisch) lebt; wenn der Kirchenbann durch die weltliche Acht bestätigt ist, muss der Ächter aber bei Antreffen (als Wiedergänger) erschlagen werden. Ein ehrliches (kirchliches) Begräbnis bleibt ihm versagt (Begräbnisverbot), sein Leichnam Tierfraß und Schändung überlassen. Prototyp 2: Wer sich außerhalb der gemeinschaftlichen Norm stellt und dadurch schon bei Leibes Leben ein Wiedergänger geworden ist, kann deshalb auch biologisch nicht sterben und muss bis zum Jüngsten Gericht weiterleben, wenn ihn nicht zuvor jemand erlöst (wodurch er stirbt). Sagengestalten wie der ‘Fliegende Holländer’, der, unerlöst, nicht zu sterben vermag, von Heine und Wagner (4.) mit den gespenstischen Farben eines ‘lebenden Leichnams’ gezeichnet (als „ein Sarg von Fleisch“, als bleicher [See-]Mann in schwarzer Kleidung, sein Schiff ein Totenschiff, seine Mannschaft eine Totenschar), rechnen zu diesem Typ. Dann sein ‘festländisches’ Gegenstück, Ahasver, der ‘Ewige Jude’ (alias Mr. Silvera in Fruttero & Lucentinis Roman L’amante senza fissa dimora).
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2. Außerhalb gemeinschaftlicher Norm stellt sich auch, wer sich aus dem Normenbereich gemeinschaftlichen Lebens räumlich entfernt, sei es freiwillig (als Eremit, Mönch), sei es unfreiwillig (als Verirrter, als Kriegsgefangener in Feindesland). Außerhalb des Lebensbereichs gemeinschaftlicher Norm stellt man sich ferner durch normenwidriges Verhalten (als Delinquent) und steht man durch normenwidrigen Stand (als Kastenloser, ‘Ehrloser’, Armer) oder Zustand (als Kranker, Alter). Wer außerhalb gemeinschaftlicher Norm befunden wird, der kann auch räumlich aus der Normengemeinschaft ausgegliedert (‘ex-terminiert’) werden. So der Ächter (Verbannte); so der Alte im Alten Indien, wenn er aus dem aktiven Leben ausscheidet, sein Erbe an die Nachkommenschaft verteilt hat und als Toter (was durch entsprechendes Ritual signalisiert wird) seine Heimstatt verlässt und auf die ‘Große Reise’ geht, d. h. in nördlicher oder nordöstlicher Richtung auf das Himalaya-Massiv (Göttersitz) zuwandert, bis ein Hindernis (Abgrund, undurchdringlicher Pflanzenbewuchs u. a.), Hunger oder Durst den Tod herbeiführen (vgl. auch B. c. 2., Abs. 1).19 So die Kranken, die in manchen Gesellschaften aus den Siedlungen in den Außenbereich geschafft werden. Je nach dem Normenkanon einer Gemeinschaft und der Kategorie des sozial Totgestellten werden die von der sozialen Totstellung Betroffenen bei leben digem Leib durch ein entsprechendes Totstellungsritual zu unseligen Toten ‘gemacht’ und als Wiedergänger getötet: der Ächter (1.) bei Antreffen (tot oder lebendig), der Verirrte bei seiner unzeitigen Rückkehr in die Gemeinschaft (B. a. 1.). Oder sie werden bloß durch Elemente aus dem Begräbnisritual als Tote ‘markiert’: Mönche durch die Exequienliturgie als Bestandteil des klösterlichen Aufnahmerituals; Kastenlose durch Leichentücher als Gewandung gewisser Outcasts in Indien; die sog. ‘Grabgangsleute’ im altnorwegischen Recht, d. h. Mittellose, die man in ein Grab setzte, wo sie umkamen, wenn nicht jemand sich ihrer erbarmte und sie herausholte. Oder sie müssen bei bestimmten Anlässen die Toten der Gemeinschaft vertreten und repräsentieren: Arme; die fromme Stiftung des ‘Seelbades’ erquickt sie in Vertretung der hierdurch begünstigen ‘Armen Seelen’ im Fegefeuer. Oder sie gelten juristisch als Tote: Kriegsgefangene in ihrem Herkunftsland. Das römische Recht behan-
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delt sie von dem Augenblick ihrer Gefangennahme an als Tote, ihre Ehe gilt als aufgelöst, ihr Besitz erlischt nach dem Grundsatz: is, qui reversus non est ab hostibus, quasi tunc decessisse videtur, cum captus est – wer nicht aus Feindesland zurückkehrt, gilt von dem Zeitpunkt an als verstorben, an dem er in Feindeshand geriet. Kommen sie wider Erwarten los, dürfen sie dabei nicht den normalen Hauseingang benützen (damit demonstrieren sie, dass sie keine Tote mehr sind, die an den einmal benutzten Weg – Hauseingang bei ihrem Auszug – gebunden bleiben: vgl. A.). Auch Vertreter ‘ehrloser’ Berufe firmieren rechtlich nicht eigentlich als Lebende: „Spielleute und Gaukler sind nicht Leute wie andere Menschen … und fast den Toten zu vergleichen.“ So stellt eine Glosse zum Sachsenspiegel (1556) fest. Es besteht zudem die Vorstellung, dass sozial Totgestellte im Jenseits, wenn es denn für sie überhaupt vorgesehen ist, eine von den normalen Toten geschiedene, mindere Sonderexistenz führen müssen (vgl. 1.: Hölle). Das gilt selbstredend nicht für „die Alten im alten Indien“20. Nicht für Mönche, Eremiten, Arme, Kranke im christlichen Kulturbereich. Sie alle leben ihr marginalisiertes Dasein in Übereinstimmung mit den religiösen Normen ihrer Gemeinschaft, sogar oft privilegiert. Dass die Nichtprivilegierten, ‘Ehrlosen’ durch ihre Berufe (Unraträumer, Dirnen, Müller, Leinweber, Spielleute, Bader, Henker, Abdecker, Schäfer, Waldhüter usw.) der Gemeinschaft, die sie diffamiert, dazu verhelfen, dass sie funktioniert, sei hier wenigstens registriert. Registriert sei auch, dass die Gewinnung neuen ‘Lebensraumes’, Eroberung ‘neuer Welten’, also die Erweiterung des heimischen Kosmos, oft auf das Konto der Verbannten, Desperados, Dissenters ging – von Nonkonformen, welche die ‘alte Welt’ von sich gestoßen hatte. Und dass diese Erweiterung des Lebensraums auf Kosten der ‘Autochthonen’ erfolgte, die als ‘Menschen’ anzusehen und zu behandeln das traditionelle Zwei-Sphären-Konzept (B. a. 1.) erschwerte und bis heute erschwert!
3. Den mit der Entfernung vom Mittelpunkt abnehmenden Anteil am Leben der Gemeinschaft zeigt der Plan der mittelalterlichen und
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frühneuzeitlichen Stadt (falls nicht Topographie oder Geschichte eine andere Bebauung bedingten). Der kosmische Nabel ist mit Kirche, zugehörigem Friedhof und Rathaus besetzt. Darum herum schließen sich die Patrizier- und Zunfthäuser an, in einem weiteren Umkreis die Häuser der zunftfähigen Bürger. Weiter vom Zentrum entfernt wohnen die einfacheren Bürger, längs der Stadtmauer siedeln die Angehörigen der verfemten Berufe, die ‘unehrlichen Leute’, ebenfalls in der Neustadt und vor dem Mauerring. Hier haben sich auch neu zugezogene Fremde und sonstiges ‘zwielichtiges Gesindel’ dauerhaft oder vorübergehend niedergelassen. Das Umland ist je nach politischer Lage bald territoriales Herrschaftsgebiet (noch Kosmos) oder Feindesland (schon Chaos). Entsprechend nimmt denn auch die Rechtsdichte (die Qualität des persönlichen Rechtsschutzes, damit die ‘Lebensqualität’) nach außen hin kontinuierlich ab und endet an den Grenzen des von der Stadt kontrollierten Territoriums. Patrizier und Zunftfähige (‘Eingezünftelte’) besitzen das volle Bürger- und Stadtrecht. Zwar nicht außerhalb des allgemeinen Rechtsschutzes, aber außerhalb der durch Zugehörigkeit zu Stand und Zunft bedingten Rechte und Ehren stehen die sog. Rechtlosen (Standeslosen), die ‘Ehrlosen’. Und außerhalb jeglichen Rechtsschutzes stellen sich die sog. Echtlosen (durch Bann oder ‘Acht’ aus der Gemeinschaft Ausgestoßenen, ferner gesuchte Kapitalverbrecher) und oft auch fremde Fahrende. Als Angehörige des exosphärischen Chaosbereiches galt ihr Leben für nichts: Unstet und flüchtig mussten sie den kosmischen Macht- und Lebensbereich der Städte meiden.
4. Richard Wagners Werk zeigt eine auffallende Vorliebe für sozial Tote vom Prototyp 2: Die Kundry, die den leidenden Heiland verlachte, und seitdem, ohne sterben zu können, fluchbeladen (und männerverderbend) ruhelos die Welten durchwandern muss, bis sie von Parsifal getauft im Anblick des heiligen Grals stirbt, erlöst von ihrem Fluch und mit der Gemeinschaft der Heiligen versöhnt. Den ‘Tannhäuser’, der sich der Frau Venus und ihren teuflischen Lüsten ergeben hat und des-
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halb verfemt bis zum Jüngsten Gericht im Hörselberg leben muss – bis ihn die Liebe eines Weibes erlöst21 und er stirbt. Den ‘Fliegende Holländer’, der sich als Kapitän bei allen Teufeln verschwor, ein bestimmtes Kap trotz heftigsten Sturmes umschiffen zu wollen, sollte er auch bis zum Jüngsten Tag segeln müssen, der nicht sterben darf („nirgends ein Grab“, „niemals der Tod“) – es sei denn, ein Weib gehe für ihn in den Tod. Die Opferbereitschaft einer liebenden Frau bewirkt in beiden Fällen die ‘Heimholung in den Schoß der Gemeinschaft’, Sterbenkönnen, Erlösung! – Keiner Erlösung bedurften die Leprösen. Sie sind Tote bei Leibes Leben, von den gesunden Lebenden zwar abgesondert: durch ihren Aufenthalt im Leprosenhaus vor den Toren der Stadt, durch ihren Habitus (dunkle Kleidung mit Kapuze), durch Meidungsverbote (Klapper zur Distanzierung von den Gesunden), durch ihren kirchlichen und bürgerlichen Totenstatus (sie waren von Eltern, Weib und Kind geschieden, mussten eine Totenmesse und eine Begräbniszeremonie auf dem Friedhof über sich ergehen lassen). Aber sie waren, um in unserer Terminologie zu bleiben, ‘selige Tote’: Glieder der communio sanctorum, teilhaftig des ihr verheißenen Heils (durch Empfang kirchlicher Sakramente). Nach Jes 52,13 ff. war Christus sogar einer der Ihren; oft wurde er in der mittelalterlichen Kunst als Leprakranker dargestellt (‘le Christ lépreux’). Ihr Leiden war sein Leiden, insofern hießen sie auch ‘Märtyrer Christi’. Es würde den Verfasser nicht wundern, wäre seine Leserschaft nach der Lektüre des ganzen Passus über den sozialen Tod konsterniert, da eine anfänglich so praktikable Scheidung von endosphärischem Normenbereich und Exosphäre, von seligem und schlimmem Tod sich mehr und mehr verwischt. Es bauen sich ‘Restprobleme’ auf, die nach Klärung rufen.
D. Restprobleme D. Restprobleme
War schon die Unterscheidung von seligem und unseligem Tod nicht ohne Zugeständnis einer gewissen ‘Durchlässigkeit’ zu halten (selige Tote können sich in unselige wandeln, unselige erlöst, also selig wer-
D. Restprobleme
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den) und in einigen Fällen schwankend (Wöchnerin, Krieger, Selbstmörder), so präsentiert sie sich im Abschnitt über den sozialen Tod als geradezu verwirrend. Nicht nur, weil die beiden ‘Prototypen’ (C. 1.) lediglich unselige Tote treffen, also nicht das ganze Phänomen des sozialen Todes einbeziehen; denn der soziale Tod markiert auch selige Tote (bei Leibes Leben). Sondern auch, weil die genannte Unterscheidung sich hier in eine Art gleitende Skala auflöst, auf deren Endpunkte sie allenfalls zutrifft, und just das Normenwidrige (das Topographie, Verhalten, Stand, Zustand betrifft und den sozialen Tod konstituiert) auch der Aufrechterhaltung eben dieser Norm dienen muss. Klöster und Verbannte draußen erschließen neuen Lebensraum (also Kosmoserweiterung); ‘unehrliche’ Marginalisierte sorgen durch ihren Beruf für den Bestand des Zentrums; Alte verlassen den kosmischen Bereich zu Besitz und Nutzung durch die eigene Nachkommenschaft; Kranke selbst stellen durch ihren akosmischen Zustand ein kosmisches Prinzip sichtbar vor (den, der „unsere Krankheiten trug“: Christus). Und endlich, weil all diese verschiedenen Grade von Normenwidrigkeit durch totenkultische Rituale qualifiziert sind, deren Auswirkungen von Marginalisierung bis Exterminierung reichen. Die verzwickte und auch nur verzwickt darstellbare Phänomenologie des sozialen Todes zeigt, was man schon beim seligen und unseligen Tod ahnen konnte. Jeder Tod, auch der ‘normalste’, ist Einbruch des Chaos (vgl. B.), der ‘verkehrten Welt’ (A., Abs. 1) in die Normenwelt. Aber diese Normenwelt würde erstarren, der Bereich gemeinschaftlichen Lebens überlebensunfähig, ohne den provokativen, vitalisierenden und innovativen Kontakt mit der tödlichen, chaotischen Nichtwelt des Abnormen. Das Ritual gibt diesem Kontakt Struktur und Norm.
III. Der Tod als multi-lokales Phänomen III. Der Tod als multi-lokales Phänomen
A. Der Mensch als Komplex seelischer Epiphanien A. Der Mensch als Komplex seelischer Epiphanien
1. Wir sahen, dass der Tote (selig, unselig, sozial) sich in verschiedenster Gestalt zeigt, aus und an verschiedensten Orten erscheint. Als ‘lebender Leichnam’ aus dem Grab oder als ‘Seele’ aus dem Leichnam im Grab (der Vampir) mit der ‘feinstofflichen’ Fähigkeit, plötzlich zu verschwinden, mit der ‘grobstofflichen’, Ehefrauen zu beschlafen, und mit der ‘polyvalenten’, sich in Tiere oder Gegenstände zu verwandeln. Als Wiedergänger in offensichtlich menschlicher Gestalt, ruhelos und ohne Grab auf der Erde (II. C. 1.); mit Grab, aber als luftiges Mitglied einer nächtlichen Gespensterschar (Guottisheer). Ohne Grab als bösartiger Bewohner eines tristen Seelenlandes (Ertrunkener). Mit Grab und Insasse einer angenehmen jenseitigen ‘Anderwelt’, aber mit der Fähigkeit, von dort aus die lebendigen Angehörigen zu besuchen (Totenbesuchsfeste). Mit Grab, um von da aus noch eine Zeit lang ihr verwaistes Baby zu pflegen und zu stillen (tote Wöchnerin). Das alles mag verdeutlichen, dass wir es bei unseren Toten mit Phänomenen zu tun haben, die unser Verständnis von Menschsein, Personalität und Loka-
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III. Der Tod als multi-lokales Phänomen
lität nicht zu fassen bekommt. Dazu bedarf es des Einblicks in vormoderne Seelenlehre und Anthropologie. Der Seelenlehre und Anthropologie der Elitereligion (V.) genügt eine seelische Epiphanie, die beim Tod den Körper verlässt und als Trägerin personaler Verantwortung einem persönlichen Gericht Rechenschaft schuldet (jüdisch-christlich-islamische Tradition) oder die als ‘personale Illusion’ zu durchschauen und zu entzaubern ist, will man endgültige Erlösung, ‘Auflösung’ der Person und damit Befreiung aus dem karmischen Leerlauf der Seelenwanderung, erlangen (hindugene Tradition).22
2. Nach verbreiteter traditioneller (und vormoderner) Vorstellung von Zeugung und Empfängnis wird beim geschlechtlichen Verkehr eines Paares das mütterliche Menstrualblut durch das väterliche Sperma ‘koaguliert’: deshalb das Ausbleiben der Regelblutung. ‘Koagulationsresultat’ ist der Embryo. Belebt wird er durch die konzentrierte Vitalkraft des männlichen Spermas, welches die passive Vitalkraft des weiblichen Menstrualblutes aktiviert. Das geschieht durch fortgesetzten Verkehr mit der Schwangeren – das ‘Begießen’, wie man im tirolischen Nassereith noch vor nicht langer Zeit von alten Leuten hören konnte. Dadurch empfängt der Fötus seine Vitalseele. Eigentliches menschliches Leben verleiht ihm dann etwas später die Freiseele (Exkursionsseele). Sie stammt meist aus dem Reiche der Ahnen (Clan-Vorfahren) und wird im werdenden Kind neu verleiblicht, indem sie während der Zeit der Schwangerschaft bei einer günstigen Gelegenheit – etwa beim Bad der Schwangeren in einem ‘auratischen’ Gewässer (vgl. auch den ‘Kinderteich’) – in den Mutterleib eindringt und sich im schon belebten Fötus einnistet. Das deutsche Wort ‘Seele’ ist eine Ableitung von ‘See’ und meint ursprünglich: „die vom ‘See’ Stammende“. Ist also eine Freiseele, die in einem heiligen See (vgl. I. 2.) auf Einkörperung in ein neues Clan-Mitglied wartet und nach dessen Tod wieder dahin zurückkehrt, um da auf eine neue Gelegenheit zu ‘passen’. Die deutsche Sprache verrät noch mehr: Es ist (oft) der verstorbene Großvater, dessen Seele im werdenden Enkel fortlebt; denn ‘Enkel’ bedeutet ‘kleiner
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Ahn’ (althochdeutsch en-inklin ist die Verkleinerungsform von ano: ‘Ahn’23). Bei der Geburt oder im Pubertätsalter kommt dem Menschen eine weitere Seele zu: die Außen- oder Buschseele. Ein Alter Ego (Nagual), das sich im Normalfall getrennt vom Menschen, dem es zugehört, (in verschiedenster Gestalt) in der näheren oder ferneren Umgebung aufhält. Im Neugeborenen und Kleinkind ist die Vitalseele (‘animistisch’ gesprochen) oder Lebenskraft (‘dynamistisch’ gesprochen)24 noch schwach. Durch Bebänderung und Umschnürung verhindert man ihren Austritt, ihre ‘Abstrahlung’ nach außen (Wickelkind!). Überhaupt: Die Vitalseele verbraucht dadurch, dass sie den Menschen belebt, ständig Lebensenergie, die durch Zufuhr krafthaltiger Speisen und Getränke (Zerealien, Milch) ersetzt werden muss. Lebenskraft, Vitalseele, strahlt auch ständig vom Menschen in die Umgebung ab: durch seine verschiedenen Körperöffnungen und deren Ausscheidungen (Kot, Urin, Samen, Blut, Schweiß, traditionell auch der Atemhauch und der Blick). Körperausscheidungen galten noch in der Neuzeit als besonders krafthaltig und wurden offizinell eingesetzt (K. F. Paulinis berühmte Dreck-Apotheke von 1697, erweitert 1734) und sind Ausgangspunkte für den alchimistischen Wandlungsprozess (in stercore invenitur – im Kot wird man fündig). Geraten sie in falsche Hände, können sie zu schwarzer Magie gegen ihren ehemaligen Besitzer missbraucht werden, denn sie enthalten ja ‘Seele’ von ihm. Schwächende und pathogene ‘Strahlungsverluste’ erbringen auch die beweglichen und deshalb für ‘undicht’ gehaltenen ‘Nahtstellen’ der Körpergelenke. Kleidung und Körperschmuck offenbaren hier ihre magische Funktion: Kreuzungen und Knotungen des Gewebes über Körperöffnungen, Tätowierungen und Bemalung an ihnen, Leibriemen, Bänder und Ringe um biegsame Körperpartien, Glieder, Gelenke hemmen den Abfluss von Lebenskraft oder leiten gar neue zu, wenn vitalisierende Farben, etwa Rot als magisches Substrat für den Lebenssaft Blut (vgl. II. B. d. 1., Abs. 2), an entsprechenden ‘Schwachstellen’ aufgetragen oder krafthaltige Talismane aus Stein oder Knochen als ‘Akkus’ von Härte und Dauer umgehängt werden. Stirbt der Mensch, ist seine Vitalität ausgeschöpft, die Vitalseele vergeht. Allerdings bleiben ‘subliminale’ Reste von Vitalität im Leichnam zurück –
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bei plötzlichem oder frühem Tod sogar relativ viel ‘aufgestaute’ Lebensenergie (Wiedergänger!). Das im toten Körper gespeicherte ‘Leichen-Mana’ wurde und wird (durch Ausgraben von Leichen und Leichenteilen) in der Volksmedizin zu Heil- und Fruchtbarkeitszauber, von Nekromanten zur Beschwörung von Totenseelen nach dem pars-pro-toto-Prinzip (wer den Teil hat, hat das Ganze; vgl. II. A., Abs. 1: Name, auch B. a. 2.: Kontaktgegenstand) genutzt, auch von modernen sog. Okkultperversen ‘angezapft’. Die Freiseele verleiht dem Menschen Ich-Bewusstsein (Erkenntnis-, Erinnerungsvermögen, Willenskraft), befähigt ihn zu sozialem Zusammenleben. Im Tiefschlaf verlässt sie vorübergehend den Schlafenden (oft in Gestalt eines schnellen Tieres) und schweift raum- und zeitungebunden durch die drei Welten (Himmel, Erde, Unterwelt). Was sie auf ihren Exkursionen (darum auch Exkursionsseele geheißen) erlebt, träumt der Schläfer (vgl. Guntram-Sage). Einen Schlafenden plötzlich zu wecken oder von der Stelle zu rücken ist nach universell verbreiteter Ansicht verboten: Seine Seele auf Traumexkursion traut sich oder findet dann nicht mehr zurück, der Zustand des im Schlaf ‘entseelten’ Körpers wird definitiv – der Entseelte stirbt. Im Schlaf ist der Mensch auch sonst besonders gefährdet. Bei Abwesenheit der eigenen Freiseele ist es für die fremde Freiseele eines zauberischen Menschen besonders attraktiv, vom Leib des Schläfers Besitz zu ergreifen und ihn als ‘Reittier’ zum gefährlichen ‘Mahrtenritt’ zu zwingen oder als Alp zu drücken: Der Betroffene erlebt sich in ein Pferd verwandelt und von einer fremden Macht zuschanden geritten oder von einem Ungeheuer, das auf seiner Brust hockt, bis zum Ersticken gewürgt (dazu als phantastische Illustration Joh. Heinrich Füsslis Gemälde Der Nachtmahr). Durch geeignete Maßnahmen (Amulett, Spruch, Blockieren des Rückwegs) lässt sich die zauberische fremde Exkursionsseele (der Mahr, das Alp, das Toggeli) bannen oder fangen und unschädlich machen. Ist ihr der Rückweg zu ihrem schwarzmagischen Eigentümer (meist eine Eigentümerin) verbaut, denn sie muss nach dem Gesetz der Geister denselben Weg nehmen, den sie kam (II. A.), stirbt er (oder sein weibliches ‘Gegenstück’). Oder aber sie verwandelt sich in ein junges Frauenzimmer (die Urheberin des Spuks), das man sogar heiraten und mit dem man Kinder
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zeugen kann – solange die Öffnung, durch die sie als Geist hereinschlüpfte, verschlossen oder verpflöckt bleibt.25 Seelenexkursion und Gestaltwandel sind nur zwei Erlebnis- oder Beschreibungsvarianten parapsychischer oder paraphysischer Lebensmächtigkeit (der wandernden Exkursionsseele). An dieser Stelle sei auch gleich angemerkt (was wir schon ahnen können und künftig wissen sollen), dass Grobstofflichkeit und Feinstofflichkeit, Körperlichkeit und Unkörperlichkeit, Materialität und Immaterialität keine tauglichen Kriterien sind, das, was wir ‘Körper’ nennen, von dem abzugrenzen, was man ‘Seele’ heißt. Seele kann sehr körperlich erlebt werden: etwa das aufhockende Toggeli oder die gebärfähige Geisterfrau (s. o.). Bei den Südgermanen hieß eine solche zauberische wandernde Exkursionsseele ‘Geist’ (vgl. isländisch geysa: gewaltsam bewegen, antreiben, aufwallen; hierzu Geysir, Geiser). Zauberische Mägde lassen sie (in der Grimmschen Sage Der ausgehende Rauch) als Rauch aus ihrem Körper ausfahren mit den Worten: „Geist, tue dich entzücken und tue jenen Knecht drücken!“, worauf sie in tiefen Schlaf fallen. Geläufig ist die Vorstellung, dass jemand sterben müsse, dem sich die eigene Exkursionsseele in Gestalt seines Doppelgängers (als Abbild seiner selbst) zeige: Es ist seine Freiseele, im Begriff, sich endgültig von ihrem Körper zu trennen (Zentralmotiv in Hugo v. Hofmannsthals Reitergeschichte). Wohin zieht die Exkursionsseele, wenn sie sich definitiv von ihrem leiblichen ‘Wirt’ verabschiedet? Als Totengeist verweilt sie noch eine gewisse Zeit (drei Tage und Nächte werden ihr weltweit zugestanden; dem Vampir so viele, wie er sein Un-Wesen treibt: II. B. d.). Dann zieht sie (wenn nicht total annihiliert) als Totenseele in die Anderwelt (ins „andere Dorf“, wie es in Schwarzafrika heißt26) und harrt dort, so wird vielfach geglaubt, als Reinkarnationsseele auf Gelegenheit zu neuer Wiedereinkörperung in einen neuen Vertreter ihres Clans (s. o.) – oder bleibt, und was ihr da widerfährt, hängt am entsprechenden ‘religiösen Programm’ ihrer Gemeinschaft. Die Außenseele (‘external soul’) lebt in Tiergestalt (meist als Vogel) im Wald (‘Buschseele’); nachts kehrt sie bei ‘ihrem’ Menschen ein, der dann einschläft (‘Schlafseele’). Im Wald und in Vogelgestalt kann ihr vielerlei zustoßen, das ihr Eigentümer dann erleiden muss. Ein Jäger (unter Umständen sogar versehentlich ihr Besitzer!) kann sie abschie-
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ßen. Dann stirbt der Mensch. Fängt sie ein missgünstiger „Mensch, der Geister anfasst“, um sie zu töten, abzukochen und zu verzehren, wird ihr Eigentümer sterben – es gelänge denn dem Schamanen (vgl. B. 3., Abs. 1), die gefangene Seele dem Entführer rechtzeitig abzujagen. In diesem Fall wird der Todkranke wieder genesen. Die Außenseele stellt gewissermaßen die ‘Umweltkomponente’ der menschlichen Persönlichkeit vor und dokumentiert die vitale Verflochtenheit des Menschen mit seiner Umgebung, die in gewissen Kulturen das Leben und Überleben bestimmt. Mancherorts fungiert die Plazenta als Außenseele: Unter einem Fruchtbaum eingegraben und vor Tierfraß geschützt, garantiert sie dem Neugeborenen Gedeihen und langes Leben. Im Alten Iran besaß jeder Mensch eine anderweltliche Außenseele: die daena (zu altiranisch day-: anschauen; also Anschauungs-, Erscheinungsbild). Sie ‘erscheint’ der scheidenden Exkursionsseele (urvan) in weiblicher Gestalt, welche die moralische Beschaffenheit (gutes oder übles Denken, Reden, Tun) ihres Trägers oder ihrer Trägerin (also völlig geschlechtsunabhängig) zur ‘Anschauung’ bringt. Entweder als junges, wohlduftendes, hochbusiges Mädchen, welches die Guten ins himmlische Paradies (B. 2.) geleitet. Oder als übelriechende, alte Hexe, welche die Schlechten in die höllische Finsternis stürzt. Dichterische Gestaltung fand diese Art moralischer Außenseele durch Oscar Wildes Bildnis des Dorian Gray: Hier ist es das hässliche Spiegelbild (‘Spiegelseele’: II. B. d. 1., Abs. 2), das die innere Beschaffenheit seines Beschauers gegen den äußeren schönen Schein offenbart. Der Name ist eine Außenseele, denn wessen „Name erlischt“ (Dtn 25,6), der stirbt (II. A., Abs. 1). Noch heute lebt in gewissen Gebieten von romanisch Graubünden der Brauch, dass, wenn eine Familie ausstirbt, eine befreundete Familie den erloschenen Geschlechtsnamen als Vornamen für ihre Mitglieder übernimmt. So hieß der Hausarzt des Verfassers in Zürich Gondini Fravi, wobei Fravi sein Geschlechtsname, sein Vorname der Geschlechtsname der ausgestorbenen Familie Gondini war. So lebte der Name, und mit ihm die tote Familie fort. Georg Forster berichtet in seiner berühmten Reise um die Welt (1777) über Tanna, „auf allen Inseln des Süd-Meeres“27 würden Freundschaften durch gegenseitige Vertauschung des Namens geschlossen. Der Namentausch bindet die beiden Kontrahenten durch Hingabe der eigenen und Besitz
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der anderen Außenseele. Wer einen Gegenstand, ‘an dem sein Herz hängt’, als Geschenk weggibt, gibt damit ein Stück seiner selbst (richtiger: sich selbst) in andere Hand, denn eine Gabe enthält ‘Seele’ von dem, der gibt, ist Außenseele. Gabentausch (wie Namentausch) beruht auf dem Prinzip der Reziprozität und ist ein uraltes und verbreitetes und wirkungsvolles System sozialer Bindung: Wechselseitige Geschenke binden Geber und Nehmer aneinander. Die Außenseele kann dem Menschen auch erst in der Pubertät zuteilwerden: In der Abgeschiedenheit der Wildnis zeigt sich dem werdenden Krieger in Trance seine Außenseele in Gestalt seines ‘persönlichen Schutzgeistes’28 – Tier oder Gegenstand (Nagual, Individual-Totem), woran sein Leben von nun an untrennbar geknüpft ist. Eine Prestigeseele besitzen nur ‘Erwählte’ von Geburt oder durch Amt, Verdienst oder ‘Glück’. Sie bringt ihrem Träger Autorität, Ansehen, Erfolg bei Unternehmungen, eine gewisse ‘Ausstrahlung’ eben: Prestige. Man kann auch ohne sie leben. Hat man sie aber erst einmal und verliert sie, geht sie (als eine Art ‘Heiligenschein’ oder in Vogeloder Widdergestalt wie im Alten Iran) auf einen anderen über, bringt dem Verlassenen Unglück und Tod, dem Neuerwählten Glück und Macht. Wie viele Seelen der Mensch besitzt, ist kulturbedingt. Frauen werden gelegentlich weniger Seelen zugeschrieben, wobei dann nicht zu ermitteln ist, welche bei den Frauen fehlen soll. Indes scheint die Zahl bei den Männern ungerade nach dem pythagoreischen Grundsatz numero deus impare gaudet (der Gott erfreut sich an der ungeraden Zahl), bei Frauen gerade.29 Eine seelische Epiphanie mag (je nach Kultur) an mehreren Funktionen beteiligt sein, eine Funktion sich auf mehrere seelische Epiphanien verteilen oder auch entfallen. Oft wird neben der Exkursionsseele noch eine eigentliche Ichseele (Ego-Seele) angenommen, deren Funktion die Exkursionsseele außerhalb des Körpers (im Traumschlaf, bei Ekstase, mit dem Tod des Leibes) übernimmt. Elitereligionen tendieren nach einem einheitlichen Seelenbegriff aus den oben (1.) angeführten Gründen.
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3. Man kann seelische Epiphanien nach ihrer Funktion gliedern (s. o.). Man kann sie auch nach dem Verhältnis zu ihrem jeweiligen ‘Träger’ beschreiben oder nach ihrer Gestalt (Beschaffenheit), in der sie sich manifestieren.30 Seele kann (wie im Fall der Vital- und Ichseele) mit dem Körper (auch dem ‘lebenden Leichnam’ des Vampirs) oder seinen organischen Teilen (den ‘Seelenorganen’ Herz, Haar, Knochen usw.), als Leichen-Mana mit Leichenteilen (2., Abs. 2), oder mit seinen Ausscheidungen (den ‘Seelensubstanzen’ Blut, Speichel, Sperma, Atem) untrennbar verbunden sein. Sie kann (wie im Fall der Exkursionsseele) den Körper zeitweise verlassen und frei schweifen (bei Ohnmacht, nachts im Traumschlaf, als Nachtmahr, Vampir usw.), bei Tod (und Erlösung) definitiv quittieren (oder muss annihiliert werden). Sie kann (als Außenseele) ihren regulären Sitz außerhalb des Körpers haben (nachts als ‘Schlafseele’ bei ihm weilen). Sie kann als Reinkarnationsseele (Spezialform der Exkursionsseele) sich mit mehreren Körpern sukzessive verbinden. Seele kann ferner schon vor einem Körper als einmaligem Träger präexistiert haben und nach ihm ewig weiterleben (präexistente unsterbliche Seele, wie sie teilweise die Elitereligion postuliert: Origenes; vgl. IV. 2.). Seele in ihren verschiedenen Funktionen und Verhältnissen offenbart sich in mannigfacher Gestalt und Beschaffenheit: als Mensch im ‘Doppelgänger’, im Spiegelbild, als Frau (daena: siehe 2., Abs. 4), als ‘lebender Leichnam’ (II. B. d. 1., Abs. 2), als homunculus (II. C. 1.), als Tier, Gegenstand (z. B. Heuschober: II. B. d. 1., Abs. 2), als Element (die luftige Nachtschar des Guottisheeres: 1., die See-le: 2., Abs. 1, der göttliche Funke des Gnostikers: I. 1.), als optisches oder akustisches Phänomen (Spiegelbild, Name: 2., Abs. 4). Zu Gestalt und Beschaffenheit gehört auch die Wandelbarkeit (der Gestaltwandel) und die Illokalität (plötzliches Erscheinen und Verschwinden), die ‘Geistern’ im Allgemeinen, Wiedergängern im Besonderen zukommt (vgl. die diesbezüglichen Fähigkeiten der Vampire). Wiederholt sei: erstens, dass Gestaltwandel und Seelenexkursion nur zwei verschiedene Apperzeptionsformen seelischer Beschaffenheit darstellen; zweitens, dass Materialität (Gestalt, Körperlichkeit) und Immaterialität (Gestaltlosigkeit, Unkörperlichkeit) nicht dazu taugen,
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Seele und Körper gegeneinander abzugrenzen. Diese ‘Unschärfenrelation’ figuriert vielmehr als Markenzeichen vormoderner, volksreligiöser, ‘brauchtümlicher’ Sicht von Welt und Un-Welt.
B. Das multilokale “Jenseits der Seele” B. Das multilokale “Jenseits der Seele”
1. Der Abschnitt über das „Jenseits der Seele“31 handelt weniger von unseligen Toten, die ja (wenn nicht gänzlich annihiliert) durch ihr schlimmes Geschick ‘unerlöst’ an Irdisches gebunden bleiben – es sei denn, sie werden erlöst. Obgleich auch für sie in gewissen Kulturen ein (allerdings unerfreuliches) Jenseits vorgesehen ist (das ‘Seelenland’ Sramanadzi für Ertrunkene, das ‘Dorf ’ voll von giftigen Pflanzen für Selbstmörder: II. B. a. 2. und c. 2., Abs. 1), und obgleich das Grab (falls vorhanden) als ‘jenseitiger’ Ausgangspunkt für ihre diesseitigen malignen Unternehmungen nicht unterschätzt werden darf. Aber die Beschreibung verschiebt sich doch mählich auf jenseitige Aufenthaltsorte der Seligen, d. h. der rite Bestatteten, Beopferten, Bewirteten, Erinnerten; und auch die Aufenthaltsorte der ‘Guten’ und ‘Schlechten’ in unserem Sinne rücken ins Blickfeld und leiten so über zum Abschnitt vom Tod in den Elitereligionen, der ‘verordneten’ (im Unterschied zur ‘gelebten’) Religion (IV. und V.).
2. Wie sieht nun das „Jenseits der Seele“ des Verstorbenen aus? Wo ist es? Und – vor allem – wie ist es? Das Jenseits der Seele ist überall. Im Himmel (oder deren drei bis sieben und mehr), Vorstellung, die uns vielleicht am geläufigsten ist („wir kommen alle, alle in den Himmel“!). Totenseelen leuchten auch als Sterne am Himmel (‘Verstirnung’). Auf der Erde: hier besonders auf paradiesischen Inseln im Westen ‘jenseits’ des Meeres (‘Inseln der Seligen’32). In der Erde: im Grabhügel als Wohnung
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und ‘Aktionsbasis’ des ‘lebenden Leichnams’; in bestimmten Bergen (‘Totenbergen’), deren Form der Tumulus (der Grabhügel) und auch die Pyramide kopieren. In einem unterirdischen Totenreich (dem Hades der Griechen, der Scheol der alttestamentlichen Totenseelen). Oder an mehreren Orten: Die altindischen ‘Väter’ (Seelen seliger Toter) werden als „untere, obere und mittlere“ zum Ahnenopfer gerufen; offensichtlich sind ihre ‘Wohnsitze’ unter (oder auf) der Erde oder im Himmel oder im Luftraum gedacht. Oder an mehreren Orten zugleich (‘mehrfache Lokalisation’). Wir nehmen ja auch keinen Anstoß daran, uns unsere Verstorbenen im Himmel, im Grab (das wir besuchen) und ‘irgendwie um uns’ präsent zu denken und zu erleben. Die Annahme jedenfalls, den Menschen konstituiere eine Pluralität von Seelen, die sich im Tod je anders verhielten (A.), kommt einem ‘multilokalen Jenseits der Seele’ – wie immer gedacht – deutlich entgegen, wenn sie auch nicht zwingend notwendig ist. Nahes Grab und fernes Jenseits können als verschiedene Aspekte ein und derselben Sache zusammenfallen: Was man hier veranstaltet (z. B. Totenspeisung, Grabausstattung), kommt der Seele dort zugute. Diesseits und Jenseits entsprechen sich dann gelegentlich in einer strikten Symmetrie (‘Diesseits-Jenseits-Symmetrie’): Bei den Etruskern entsprach dem Zug der Leiche zum Grab die Fahrt des Toten (der Exkursionsseele hinthial; von hinthiu: unterweltlich, zu hinth: unten) ins jenseitige Reich, dem Geleit des Zuges durch die lebenden Angehörigen der jenseitige Empfang des Toten durch die verstorbenen Verwandten, dem Leichenschmaus und den Leichenspielen am Grab das Bankett und die Belustigungen in der Anderwelt (auf Vasen und Grabmalereien bildlich dargestellt). Indem die Hinterbliebenen dies alles inszenieren, muss jenes alles eintreffen (‘antizipatorische Imitations- und Bildmagie’).33 Damit sind wir beim Verhältnis Diesseits-Jenseits. Das Jenseits ist vielfach analog zum Diesseits ausgestattet: Die Verrichtungen, die man hier tut, tut man (innerhalb einer gewissen Variationsbreite) auch dort; den Rang, den man hier bekleidet, bekleidet man auch dort. Auch im Jenseits (im ‘Binsengefilde’) müssen die verstorbenen Ägypter Feldarbeit leisten, Kanäle ziehen und ausschachten. Deshalb gibt man der Mumie oft (Feldarbeit ist nicht jedermanns Sache!) Dienerfigürchen (Uschebtis) bei; und wenn der Tote dann aufgerufen und
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verpflichtet wird, „Arbeit zu leisten, die dort im Totenreich geleistet wird“, dann soll der Uschebti an seiner Statt ‘antworten’ (usheb): „Ich will es tun, hier bin ich!“ So ein ‘Spruch’ des Totenbuches, „zu veranlassen, dass ein Uschebti Arbeit leistet im Totenreich“. Das ‘Paradies’ (altiranisch pairi.daeza: umfriedeter Garten) gleicht einem ‘Garten’ (arabisch jannatun: Garten, Paradies), „schön und grün“, man trifft dort auf Menschen, die einem schon zu Lebzeiten lieb und teuer waren. Das Bild vom Jenseits als ‘grüner Garten’ scheint im Menschen archetypisch verankert. Eine Bekannte erzählte mir am 30. 10. 2007 einen Traum, den ich mit ihren Worten wiedergebe: „In der vergangenen Nacht hatte ich einen komischen Traum. Mit meiner Mutter bin ich durch einen dunklen Wald34 gegangen. Ein paar Sonnenstrahlen kamen bis auf den Boden. Alles war voll von braunem Laub. Da waren aber auch Erdhügel mit Grabsteinen. Es war wie ein Friedhof im Wald. Plötzlich kamen wir zu einem großen Loch im Boden. Es hatte kein Geländer oder eine Abschrankung … Meine Mutter und ich sahen in die Tiefe. Unten war eine grüne Wiese mit Blumen, und Sonnenschein erhellte die ziemlich große Fläche. Meine Mutter wollte besser hinuntersehen und machte einen Schritt. Ich rief ihr laut zu, dass sie meine Hand halten und aufpassen soll. Doch sie hörte mich nicht, sagte nichts und lief einfach weiter. Ich sah, wie sie hinunterstürzte. Sie bewegte sich noch am Boden. Sie hörte nicht, wie ich rief und schrie. Es gab für mich keine Möglichkeit, irgendwie zu ihr zu gelangen. Ich hätte auch springen müssen. Dann saß ich weinend am Boden und bin dann verwirrt aufgewacht.“ Dass das Jenseits doch auch ‘etwas anders’ ist als das Diesseits, zeigt z. B. im Alten Ägypten eine neue, den Toten auferlegte vegetarische Lebensweise: „Alles Vieh und alles Gewürm, das dieser große Gott geschaffen hat“, braucht den Menschen nicht mehr als Nahrung zu dienen (deutet eines der sog. ‘Unterweltsbücher’, das Pfortenbuch, an). Oder dass im Paradies die Gläubigen ‘gereinigte Gattinnen’ (azwajun mutahharatun) zu erwarten haben (Sure 2,25): frei von der irdischen
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„Plage“ ihrer Menstruation, während der sich die Männer den ‘unreinen’ Frauen nicht nähern dürfen (2,222). Oder was hier verboten ist, z. B. Wein (Sure 5,90), wird dort reichlich ausgeschenkt (83,25 f.). Und so schlägt denn die Analogie leicht in Andersartigkeit um und das aliter (anders) in totaliter aliter (total anders), das Jenseits als eine Art gesteigerten Diesseits in eine ‘verkehrte Welt’ (ein universal verbreitetes Jenseitsbild: II. A. und D.). Will man den Toten etwas ins Jenseits mitgeben, muss man es vorher unbrauchbar machen; denn was hier ganz ist, ist dort unbrauchbar; was hier unbrauchbar, ist dort ganz. Man legt den Toten ihre ehemaligen Kinderpuppen, die man lebenslang aufbewahrt, mit in den Sarg, denn im Jenseits läuft die Zeit rückwärts, die Toten werden ihre Puppen wieder brauchen (so Glaube und Brauch bei den Ugren um den nördlichen Ural). Wenn es im Diesseits hell ist, ist es im Jenseits dunkel und umgekehrt; denn die Sonnenbarke schifft nachts durch die Unterwelt, dann ist es logischerweise dort hell (so nach altägyptischem ‘Weltbild’). Oder es herrscht überhaupt ewige Düsternis, und es wechseln nicht wie auf der Erde Tag und Nacht einander ab. Oder umgekehrt – ewiges Licht (3., Abs. 2). Die Jenseitsbewohner gehen auf dem Kopf (‘Kopffüßler’), haben die Augen hinten statt vorn (‘Hinteräugige’), Aufnahme und Ausscheidung von Nahrung drehen sich um (die Menschen essen Kot und scheiden Nahrung aus). Was Bäume, Tiere, Pflanzen und Wasser im Diesseits von Menschen erleiden müssen, kehrt sich im Jenseits gegen sie: Bäume zerhacken, Tiere schlachten, Pflanzen essen, Wasser schlürfen Menschen. Diesem schrecklichen Geschick entgeht der Mensch nur, wenn er rite opfert (tägliches agni-hotra: Feueropfer) und an die Wirksamkeit des Opfers glaubt. So lehrt uns eine altbrahmanische Legende aus dem Indien wohl nach 1000 v. Chr.
3. Wie gelangt man ins Jenseits? Wohlgemerkt: Es geht hier in erster Linie um die (Exkursions-)Seele des Toten. Obwohl wir Beschreibungen von Jenseitsreisen schamanistischen Seelenexkursionen, also Lebenden, verdanken; denn Schamanen sind ausgewiesene Spezialisten, die durch
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bestimmte Techniken in der Lage sind, ihre Exkursionsseele nach Belieben aus dem Körper zu senden – und wieder zurückzuholen.35 Wie gelangt also die Seele des Toten in ihr Jenseits? Einmal natürlich durch die strikte Wahrung der Diesseits-Jenseits-Symmetrie, wo sie vorgeschrieben ist (2.), allgemein durch die ordentliche Bestattung (II. A., Abs. 1). Die Reise zum definitiven Aufenthaltsort der Seele ist beschwerlich und gefährlich. Die Wege dieses „Zwischenreichs“36 sind labyrinthisch verschlungen, die Dimensionen von Raum und Zeit verschoben. Oft holen Jenseitsnumina die Toten schon an der Schwelle des Todes ab: bei den Etruskern Charu mit seinem Hammer (Symbol der Endgültigkeit des Todesgeschicks), Vanth (f.) mit der Schriftrolle (Todesbefehl oder Verzeichnis der res gestae, das abgeschlossen ist) und Reisestiefeletten, in ihrer Linken eine Fackel (zur Wegbeleuchtung); bei den Indern der Feuergott Agni (im Fall der Kremation); in anderen Kulturen andere Seelengeleiter (Psychopompoi). Oft ist es der Schamane (s. o.) einer Gemeinschaft, dessen Exkursionsseele die des Toten führt, denn er kennt ex professo die verzwickte Jenseitstopographie. Oft stattet man den Toten mit genauen Jenseitsbeschreibungen und -karten aus: ägyptische Unterweltsbücher (2.); Inschriften auf den sog. ‘orphischen Goldplättchen’ mit Wegbeschreibung und ‘Passworten’ für den Hades und seine Wächter37. Oft mit ‘Totenpässen’; solche Totenpässe sah auch der russisch-orthodoxe Bestattungsritus vor, wie ihn uns Olearius in seiner Moskowitischen und persischen Reise (1656) mitteilt. Ein solcher Pass, vom Patriarchen in Moskau, an anderen Orten von den Metropoliten und Erzbischöfen oder in ihrer Ermangelung von den ansässigen Popen gegen Gebühr ausgefertigt, unterschrieben und versiegelt und vor dem Verschließen des Sarges dem Leichnam vom Geistlichen zwischen zwei Finger gesteckt, lautete: „Wir, XY, Bischof und Priester allhier zu Z, bekennen und bezeugen hiermit, dass dieser gegenwärtige A bei uns als ein rechter griechischer Christ gelebt, und obwohl er bisweilen gesündigt, hat er doch seine Sünden gebeichtet, die Lossprechung und das heilige Abendmahl zur Vergebung seiner Sünden empfangen. Er hat auch Gott und seinen Heiligen recht geehrt, gefastet und gebetet, wie sich’s gebührt; hat sich auch mit mir, als
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seinem Beichtvater, in allem wohl verglichen, dass ich ihm seine Sünden gänzlich vergeben habe. Darum haben wir ihm diesen Pass mitgegeben, dass er ihn dem heiligen Petrus und andern Heiligen zeige, damit er zur Tür der Freude ungehindert eingelassen werden möge.“ Oft muss die Seele einen Strom durchqueren, was nur mit Hilfe eines Jenseitsfährmannes38 möglich ist, der wiederum nur die übersetzt, deren Leichnam schon bestattet ist (II. B. a. 1.). Oft muss sie eine hohe Mauer überspringen. Oft über eine Jenseitsbrücke gelangen. Oft muss sie sich Wachhunde mit Geschenken (Nieren einer Kuh) ‘vom Leib’ halten. Oft ein Meer, auf einem Hippokampen (ein antikes mythisches Wesen in der Gestalt eines fischschwänzigen Pferdes) reitend, durchpflügen (Etrusker).39 Das alles, bis sie endlich aus dem Zwischenreich ins eigentliche Reich der Seele, ihre ‘wahre Heimat’, findet. Ob sie da für immer bleibt, allmählich schwindet, sich (in der Gruppe ihrer Hinterbliebenen) wiedereinkörpert, von einem jenseitigen Ort (etwa einem Reinigungsort, einem ‘Fegefeuer’) in einen andern (ins Paradies) wechselt, sich endlich mit ihrem leiblichen Substrat (Knochen; vgl. Ez 37,1–14) oder einem neuen „geistlichen Leib“ (1 Kor 15,44) zu einer neuen ‘moralischen Gesamtpersönlichkeit’ vereinigt (leibliche Auferstehung). Oder ob das alles nur ‘Gedankenspiele’ (Maya) falscher Ich-Befangenheit sind (so das tibetische Totenbuch Bardo Tödol), die enden, wenn diese aufgehoben wird. Dies hängt allein an den ‘Programmen’, die die verschiedenen Religionen, und an den ‘esoterischen Warenkörben’, die die ‘spirituellen’ Lehrsysteme, anzubieten haben. Ein Zusammenhang zwischen ‘moralischem’ Verhalten des Menschen (nach unserem Verständnis von Moral) im Diesseits und Ergehen (der Seele) im Jenseits besteht nach vielen religiösen Programmen nicht (vgl. dazu II.). Bei den Nordgermanen waren vor allem Todesart (‘seliger’ oder schlimmer Tod), Geschlecht und sozialer Status für die nachtodliche Befindlichkeit maßgebend: Wer im Kampf fiel, kam zu Odin (oder Freyja) in die Himmelswelt (II. B. b. 3.); wer an Alter oder Krankheit den sog. ‘Strohtod’ starb, zu Hel in ein unterirdisches Reich; wer im Meer ertrank, zur Meergöttin Ran; Jungfrauen kamen zu Gef-
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jon-Freyja, Frauen zu Hel (gelegentlich zu Freyja). Die Edlen kamen zu Odin, die Knechte zu Thor – es sei denn, sie folgten ihren Herren in den Tod nach (das gilt auch für Sklavinnen, die sich mit ihren toten Herren zusammen bestatten lassen), dann folgten sie ihnen auch zu Odin (oder ins ‘Paradies’) nach (sog. „Gefolgschaftsopfer“40 oder Totenfolge). Im ältesten Indien, also bevor dort die religiösen Ideen durch die Seelenwanderungslehre und die upanischadische Philosophie (vgl. V. D. b.) ihre spezifische Prägung gewann, eröffnete sich fleißigen Opferern und Genießern des berauschenden Opfertrankes Soma der Bereich ‘unversiegelten Lichts’, ein himmlischer Garten mit ewig strömenden Wassern, wo sich alle Wünsche erfüllen; während ‘gewöhnliche Sterbliche’ in einer unterirdischen Stätte der Dunkelheit freudlos dahindämmern.41 Zum ersten Mal historisch fassbar wird die religiöse Idee der adäquaten Vergeltung im Jenseits (für moralisch bewertbares Verhalten im Diesseits) im Alten Ägypten, hier spätestens seit ca. 2000 v. Chr. präsent – wenn auch nicht dominant. In ihrer klassischen (‘demokratisierten’42) Form ist sie auch im Bild festgehalten (Totenbuch 125 mit Vignette): Das Herz des Toten (s. u.) wird mit einem Symbol der Göttin Maat (Göttin der rechten Ordnung) auf einer Waage austariert; bleibt es im Gleichgewicht, darf der Tote als ‘Verklärter’ im Jenseits leben, neigt sich die Waage, erleidet er den ‘zweiten’ (endgültigen: II. C. 1.) Tod entweder im ‘Feuersee’ (vgl. Apk 20,14) oder durch den ‘Totenfresser’ (ein nilpferdartiges Ungetüm mit Krokodilschnauze). Auch muss er ein ‘negatives Bekenntnis’ ablegen, worin er erklärt, keine Sünden begangen zu haben: „Ich habe nicht krank gemacht, ich habe nicht weinen gemacht, ich habe nicht getötet, ich habe nicht zu töten befohlen … usw.“ Damit sein Herz, sein Gewissen, also hier in der Funktion der Ich-Seele (III. A. 2.; Abs. 6), ihn nicht verrät, wenn er sich dabei herauslügt oder beschönigt, bindet man der Mumie aufs Herz ein Amulett mit dem „Spruch, das Herz des NN sich nicht ihm widersetzen zu lassen im Totenreich“ (Totenbuch 30 A und B, Rubrik). Der Ägypter ersann also Tricks, ein negatives Urteil des Totengerichts und damit die adäquate Vergeltung magisch auszuschalten. Und dazu hatte er ein gewisses Recht, zählt doch zu den Wohltaten Gottes gegenüber den Menschen, dass er „ihnen Zauber (Plur.) gemacht“ habe „als Waffen zum Schutz gegen böses Widerfahr-
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III. Der Tod als multi-lokales Phänomen
nis (kheprit)“ (Papyrus Petersburg 1116 A). Ohne Lüge geht es, muss es gehen, im Hadokht Nask, einem heiligen Text des Zoroastrismus, dessen Vorstellungen in die Zeit des Propheten Zarathustra hinabreichen mögen, in ein kulturelles Ambiente um den Südfuß des Ural (noch) im zweiten vorchristlichen Jahrtausend, Siedlungsraum iranischer Stämme vor ihrem Aufbruch nach Süden in Richtung Hochland von Iran.43 Der Text beschreibt das Schicksal der Seele nach dem Tod eines Menschen, also die ‘individuelle Eschatologie’. Stirbt ein Mensch, so hält sich seine (Exkursions-)Seele (awestisch urvan) noch während dreier Tage (A. 2., Abs. 3 f.) beim toten Körper auf. Gegen Ende der dritten Nacht weht die Seele des Wahrhaftigen (ashavan) ein Wohlgeruch an, wie sie ihn noch nie wahrnahm. Zugleich erscheint ihr ein junges, schönes, ‘hochbusiges’, 15-jähriges (iranisches ‘Idealalter’44) Mädchen. Die Seele des Wahrhaftigen fragt sie, wer sie sei und warum so schön. Ihre Antwort lautet, sie sei seine daena und durch sein (des Wahrhaftigen) gutes Denken, gutes Reden, gutes Handeln so schön geworden. Sein gutes Denken, Reden, Handeln gewissermaßen als Stufen nach oben benutzend, führt sie seine Seele „in die anfangslosen Lichter“ (in die himmlische Welt). Auf Ahura Mazdahs (des ‘guten Gottes’: I. 1.) Geheiß wird ihr „Frühlingsbutter“ gereicht, d. h. besonders würzige Butter, sozusagen eine ‘Vitalitätsbombe’: Unsterblichkeitsspeise. Derselbe Lohn, das sagt Ahura Mazdah ausdrücklich, wird der Seele einer wahrheitsliebenden Frau zuteil. Der Seele eines Unwahrhaftigen, ‘Trügerischen’ (drug-vant) weht ein fürchterlicher Gestank entgegen, und mit ihm erscheint eine garstige daena, Resultat seiner bösen Gedanken, Worte, Taten. Über diese führt der Weg abwärts „in die anfanglosen Finsternisse“, wo Angra Mainyu (der ‘böse Gott’) sie stinkendes Gift trinken lässt. Derselbe Lohn wird einem unredlichen Weibe. Die daena wird man als anderweltliche Außenseele zu rubrizieren haben, deren ‘Erscheinungsbild’ (s. o.) der jeweiligen moralischen Qualität ‘ihres’ Menschen genau entspricht (so, wie das Spiegelbild als innerweltliche Außenseele Dorian Grays üblen Charakter widerspiegelt). Der Text bietet nicht nur den frühesten Beleg für die adäquate Vergeltung im Jenseits ‘ohne Wenn und Aber’ (nach ausschließlich moralischen Kriterien), sondern auch für die religiöse ‘Gleichberechtigung’ der Frau in dieser Hinsicht.
B. Das multilokale “Jenseits der Seele”
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4. Neben dem individuellen Gericht über die Seele des Verstorbenen kündet Zarathustras Botschaft auch von einem allgemeinen Gericht (über die Lebenden?) in Form eines Ordals durch geschmolzenes Metall in Anlehnung an zeitgenössische Gerichtspraxis. Diese ‘kollektive Eschatologie’ hat die Theologie zoroastrischer Gemeinden im Sinne ihres Stifters weitergedacht: Wenn dieses ultimate Gericht wirklich den endgültigen Sieg des guten Gottes über den bösen Gegengott, des Guten über das Böse, des Lebens über das Nichtleben bringen soll, dann muss es auch den Sieg des Todes über die sterblichen Leiber rückgängig machen (I. 1.). Dann wird die künftige Existenz der Freigesprochenen nicht nur geistig, sondern leiblich-geistig sein. Schon bald nach Zarathustra taucht in den Texten die Vorstellung der leiblichen Auferstehung der Verstorbenen auf (awestisch paiti us.hishta-: wiederaufstehen). Anknüpfen konnte dieser Auferstehungsglaube an den in Zentral- und Nordasien und bei indogermanischen Völkern verbreiteten Glauben an die Möglichkeit einer übernatürlichen (göttlichen) Wiederbelebung der toten Leiber von Mensch und Tier, einer Wiedervereinigung von Leib und Seele – unter der einen Voraussetzung, dass die Knochen (awestisch ast, vgl. lateinisch os aus ost45) vollzählig und intakt erhalten sind (dazu die Grimm’schen Märchen Von dem Machandelboom und Bruder Lustig). Auch vor der letzten Konsequenz scheuten zoroastrische Theologen nicht zurück: Soll Ahura Mazdahs Triumph über den Tod (und damit über Angra Mainyu) vollständig sein, dann kann sein zukünftiges und endgültiges Gericht über die Auferstandenen (und eventuell dann noch Lebenden) nicht den Tod der Bösen wollen, nur die Vernichtung alles Bösen an ihnen. Und das geschieht eben durch ein läuterndes Gerichtsordal, bei dem alle geschmolzenes Metall durchschreiten müssen. Die Guten werden es wie lauwarme Milch empfinden, die Schlechten wie sengendes Feuer. Dieses wird alles Böse an ihnen wegbrennen, sie selbst aber werden „gerettet werden, doch so, wie durch Feuer hindurch“ (1 Kor 3,15, wo sich Paulus offensichtlich an zoroastrische Vorstellungen anlehnt). Was passiert im Jenseits mit den Seelen derjenigen Menschen, deren gute und schlechte Taten im Leben sich die Waage hielten?
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III. Der Tod als multi-lokales Phänomen
Gestützt auf Andeutungen Zarathustras ist für diese ‘Gemischten’ bis zum Tag der allgemeinen Totenauferstehung eine ‘neutrale’ Sonderexistenz vorgesehen (im Limbus hammistagan: der ‘Gemischten’). – Und so hat denn der Zoroastrismus jenes ‘eschatologische Szenar’ und jenen eschatologischen ‘Fahrplan’ vorgedacht, die im Judentum, Christentum und Islam zum eschatologischen ‘Besitzstand’ geworden sind: individuelles Gericht über die Seele nach ihrer Trennung vom Körper, Seelenschlaf (im Grab) oder paradiesischer bzw. infernalischer (oder ‘limbischer’ bzw. ‘purgatorischer’) Zwischenzustand (individuelle Eschatologie); allgemeine Totenauferstehung am Ende der Zeit durch Wiedervereinigung der Seelen mit ihrem leiblichen Substrat zu neuen geistleiblichen Gesamtpersönlichkeiten, Endgericht über die Auferstandenen (und die dann noch Lebenden), Freispruch und ewiges Leben für die Guten bzw. Verurteilung zu ewiger Strafe oder zweitem Tod für die Schlechten, endlich (umstritten!) Rettung aller46: Apokatastasis – Allversöhnung (kollektive Eschatologie). Mit einigen Jenseitsvorstellungen (2. und 3.), eschatologischem Szenar und Fahrplan sind wir schon ins Gebiet der Weltreligionen vorgestoßen, also in den zweiten Hauptteil.
Zweiter Hauptteil
Der Tod in den Weltreligionen
IV. Gelebte Religion und verordnete Elitereligion IV. Gelebte Religion und verordnete Elitereligion
1. In Kulturen, in denen Elitereligionen, d. h. verordnete Religionen, dominieren, existiert immer daneben gelebte Religion, in anderen Worten: Neben religiös Verordnetem um das Phänomen Tod lebt dazu auch volkstümliches Brauchtum. Verordnetes und Gelebtes können dabei verschiedenste Verhältnisse eingehen: Sie laufen nebeneinander her, die Elitereligion verbietet oder unterdrückt Gelebtes (mit oder ohne Erfolg), die Elitereligion nimmt Gelebtes auf (transformiert oder interpretiert es in ihrem Sinn oder integriert es unverändert). Dies für jede Elitereligion, jede einzelne einschlägige Vorstellung, jeden Ritus und jedes Ritual zu untersuchen, übersteigt die Möglichkeiten eines Buches, sei es noch so dick. Einige Beispiele aus dem Umfeld ihrer jeweiligen Elitereligion müssen zur Veranschaulichung dessen, was gemeint ist, genügen, wobei die Entscheidung für eine der obigen Varianten oft misslingt.
2. Den christlichen Kirchen ist es z. B. ‘schnuppe’, ob die Leiche kopfoder fußvoran aus dem Sterbehaus getragen wird. Dagegen verbietet
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IV. Gelebte Religion und verordnete Elitereligion
(mittelalterliche) christliche Beichtpraxis ausdrücklich, Mütter, die bei der Geburt (zusammen mit ihrem Kind) sterben, mit einem Pfahl in der Erde zu fixieren. Islamische Gläubige tragen einen Leichnam kopfvoran aus dem Haus in die Moschee; die dabei rezitierte Sure (2,156) interpretiert den Tod als Geburt (kopfvoran!) zu neuem Leben: „Wir gehören Gott, und zu ihm kehren wir zurück.“ Der Islam verpönt Nachweinen; lässt im Wochenbett Gestorbene bei Auferstehung und Endgericht ungeschoren, ebenfalls die ‘Gotteskrieger’.47 Den unzeitigen und gewaltsamen Tod im Kampf vermeidet das Alte Testament, indem es zum Kriegsdienst Eingezogene, die frisch verlobt sind, durch ‘Amtleute’ wieder nach Hause entlässt, damit sie nicht im Kampf fallen und ein anderer die Braut heimführe (Dtn 20,7). Indien konnte die Furcht vor unversorgten Toten (unverändert) in seine Seelenwanderungstheorie einbauen.48 Und der tibetische Buddhismus bringt sogar das Kunststück fertig, schamanistische Sterbe- und Seelenbegleitung seiner Erlösungslehre dienstbar zu machen, die dem Menschen eine Seele rundweg abspricht.49 Wir könnten jetzt das Verhältnis zur Elitereligion anhand weiterer Phänomene ‘durchdeklinieren’, wollen es aber hier dabei bewenden lassen, weil wir im Folgenden ohnehin immer wieder einmal darauf gestoßen werden. Mit ‘Elitereligion’ (so viel dürfte hier schon aufgedämmert sein) meinen wir hier die dominanten und verschriftlichten kulturübergreifenden religiösen Systeme des jüdisch-christlich-islamischen Bereichs und solche hindugener Provenienz: also einerseits Judentum, Christentum, Islam; Hinduismus (im weitesten Sinne) und Buddhismus andererseits. Der ersten Gruppe gemeinsam sind eschatologisches Szenar und eschatologischer Fahrplan – letztlich iranischer Herkunft (III. B. 4.). Der zweiten Gruppe gemeinsam ist die Wiedergeburtslehre (III. A. 2., Abs. 1 und 3), bei der ersten Gruppe als gilgul (Umwälzung, Wandlung) nur im chassidischen Judentum ‘populär’ (wenn man den Chassidismus unter Elitereligion subsumieren kann), im Islam als taqammusun (etwa: ‘Hemdwechsel’; vgl. frz. chemise) eine der schiitischen esoterischen Extravaganzen (ghulatun), im Christentum dem Origenes (3. Jh.) zugeschrieben, jedenfalls 543 durch die Verurteilung des Präexistenzianismus (III. A. 3.) mit anathematisiert50, heute diskursiv ‘angedacht’.
V. Die Elitereligionen V. Die Elitereligionen
A. Altes Testament und Judentum A. Altes Testament und Judentum
1. Jahwäh, der Gott Israels, ist von Haus aus ein Berg- und Wettergott52 – allerdings mit gewaltigem ‘Entwicklungspotential’. „Ich will sein, der ich sein will“53, lautet seine Selbstpräsentation, zugleich sein ‘Entwicklungsprogramm’. Für den unterweltlichen Bereich fühlt er sich nicht zuständig. „Denn nicht lobt dich die Unterwelt, der Tod preist dich nicht; die zur Grube hinunterfahren, harren nicht auf deine Treue. Der Lebende, nur der Lebende, der lobt dich …“ (Jes 38,18 f.) Auch kultisch will er mit der Todessphäre nichts zu tun haben: Totenkult, Totenspeisung, Totenbefragung sind ihm ein Gräuel. Berührung eines Toten kontaminiert; der Priester Jahwähs darf sich nicht einmal um seine toten Eltern kümmern (Lev 21,11). Die Unterwelt wird denn auch mit dem Bildrepertoire des Alten Orients als freudloses Düsterreich wesenloser Schatten beschrieben (Jes 14,9–11). Schon Krankheit, Lebensminderung, erlebt der Betroffene als gott-fernen Zustand, als Tod (Ps 22,16; vgl. II. C. 2.). Und da Jahwäh ein Gott der Lebenden und nicht ein Gott der Toten ist (noch Jesu zugeschriebener Spruch:
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V. Die Elitereligionen
Mk 12,27), sorgt er auch nur im Leben des Einzelnen für den Gerechten und bestraft den Bösen. Offensichtlich funktioniert diese Form der ‘innerweltlichen Vergeltung’ nicht zur Zufriedenheit der enttäuschten Beter: „Warum, Herr, stehst du ferne, verbirgst dich zu den Zeiten der Not? Denn der Gottlose preist sein Gelüsten, wohl lässt sich’s sein der Räuber. Es verachtet den Herrn der Gottlose in seinem Hochmut. ‘Er ahndet’s nicht, es ist kein Gott!’ sind alle seine Gedanken.“ (Ps 10,1.3 f.) Zur Zeit der Makkabäerkriege ist der Monotheismus in Israel fest etabliert: Jahwähs ‘göttliche Kompetenzerweiterung’54 – „ich bin Gott und keiner sonst“ (Jes 45,22) – umfasst nun zwingenderweise auch Tod und Unterwelt. Angesichts der Märtyrer, die gegen die Seleukiden für Israel und um des Glaubens willen sterben, und ihrer Mörder, die weiterleben, drängt sich die Vorstellung auf (die zugleich die obige Frage des Psalmbeters beantwortet), es müsse ein Weiterleben der Blutzeugen nach dem Tod und ein postmortales Gericht über ihre Schlächter geben: „Und viele, die schlafen im Erdenstaube, werden erwachen, die einen zu ewigem Leben, die andern zu Schmach und ewigem Abscheu.“ (Dan 12,2) Das Szenenbild einer kollektiven übernatürlichen Wiederbelebung toter Leiber hatte schon Ezechiel geliefert, wohl aus zoroastrischem Umfeld (III. B. 4.), vom Propheten als Verheißung einer religiös-politischen ‘Auferstehung’ Israels gedeutet, das nach der Katastrophe von 587/586 v. Chr. (Eroberung und Zerstörung Jerusalems, Deportation der Oberschicht) zu existieren aufgehört hatte. „Ihr dürren Gebeine, hört das Wort des Herrn! So spricht Gott der Herr zu diesen Gebeinen: Siehe, ich bringe Lebensodem in euch, damit ihr wieder lebendig werdet. Ich schaffe Sehnen an euch und lasse Fleisch an euch wachsen, ich überziehe euch mit
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Haut und lege Odem in euch, dass ihr wieder lebendig werdet, und ihr werdet erkennen, dass ich der Herr bin.“ (Ez 37,4b–6) Die innere Logik der göttlichen Kompetenzerweiterung (Ps 139,8: „Stiege ich hinauf in den Himmel, so bist du dort; schlüge ich mein Lager in der Unterwelt auf – auch da bist du.“ – Jes 26,19a: „Deine Toten werden leben, werden auferstehen …“) und das religiöse Spielmaterial iranischer Machart haben zu dem Resultat geführt, dass sich im Judentum der Gedanke einer kollektiven leiblichen Totenauferstehung (nahe bevorstehend oder in ferner Endzeit) neben und nach einem individuellen Tod durchgesetzt hat und auf je verschiedene Weise vom Christentum und vom Islam ins ‘eschatologische Programm’ übernommen werden konnte. Nicht vergessen darf man dabei, dass Israel über 200 Jahre lang Provinz des persischen Großreiches war, die Perser als ‘Erlöser’ aus der Babylonischen Gefangenschaft pries und sich dem Einfluss iranischen Gedankengutes – im Unterschied eben zu dem des Hellenismus (Makkabäerkriege!) – aufgeschlossen erwies. Eine weitere Variante der göttlichen Kompetenzerweiterung in den Todesbereich hinein ist in Israel zwar ‘angedacht’, jedoch seit dem Frühjudentum nicht weiter verfolgt, hingegen im Christentum bestimmend geworden. Der ‘Chefankläger’ (im Hofstaat Jahwähs) (Sach 3,1) wandelt sich wohl nicht ohne Einfluss des zoroastrischen Dualismus (besser: Antagonismus; I. 1. und III. B. 4.) zum Prinzip alles Bösen und Verursacher des Todes (als „der Sünde Sold“: Röm 6,23), der am Ende der Tage als „letzter Feind“ „zunichte gemacht“ wird (1 Kor 15,26). Diese Lösung ‘entlastet’ die Theodizee-Frage (nach Gottes Gerechtigkeit) und lässt Gott doch schlussendlich „alles in allem“ (1 Kor 15,28), also uneingeschränkt Sieger sein.55 An der totalen ‘Berührungsmeidung’, alles betreffend, was mit der Sphäre des Todes zusammenhängt (s. o.), dürften auch die zoroastrischen Reinheitsgesetze ‘mitgestrickt’ haben.56 Im modernen jüdischen Brauchtum (Deutschland 1922, 1971) blieb davon nur noch das Verbot des Inhalts, dass ein Kohen (Priester) das Haus eines Toten nicht betreten darf.57 Im Christentum hat die jüdische Zeremonialgesetzgebung ohnehin ihre Gültigkeit verloren, nicht aber das Moralgesetz.58 Denn „die Liebe“ ist „des Gesetzes Erfüllung“ (Röm 13,10).
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2. Eine jüdische Sage59 aus dem 18./19. Jahrhundert erzählt, wie ein frommer Kabbalist, durch Kriegsläufte in einen dunklen Wald (III. B. 2. bei u. mit N 34) verschlagen, wo er sich verirrte und niemanden fand, mit dem er den Sabbat begehen konnte, auf sein Gebet hin in den Garten Eden (gan-edän) entrückt wurde. Wie er dort den Sabbat feierte mit „Erzvater“ Abraham, „seinem Knecht“ Elieser, mit „Erzmutter“ Sara, Isaak, Jakob und zwölf Jünglingen, die „waren die zwölf Stämme“. Zuerst gelangt er in einen herrlichen Palast. „Die Türen blitzten wie edles Gestein, und alles war von einem Licht übergossen, wie es die Sonne am Mittag spendet.“ „Wein, der noch in den Schöpfungstagen gekeltert und für die Gerechten, die da auferstehen sollen, aufgespart wurde“, Brote, „Fische und andere Speisen von elfhundertachtzig Arten“, und die „waren von dem Fleisch des Leviathan, das aufbewahrt wird für das Mahl des Jüngsten Tages“ – Speise, „nicht für den Körper bestimmt“, „sondern für die Seele“ – bildeten das Menü des Sabbatmahls. Das Bethaus war „voll von Büchern“, „alle auf Pergament geschrieben“; die Thorarolle aus dem Schrein „brannte lichterloh, aber die Flamme versehrte nicht den, der sie in Händen trug“. „Die Süße des (gottesdienstlichen) Gesanges war nicht wiederzugeben.“ Gärten erquicken den Frommen, goldene Bäume, behangen mit Früchten aus Edelstein, belebt von goldenen Vögeln, umlagert von goldenen Tieren. Auf einem Ruhebett lässt er sich von Blumen- und Kräuterduft umwehen und labt sich an Früchten, die man ihm reicht, bevor er sich im Lehrhaus dem Schriftstudium widmet. Der hier beschriebene Garten Eden lässt zwei Fragen offen. Ist es der paradiesische Ort des Zwischenzustandes zwischen individuellem Tod und allgemeiner Totenauferstehung? Dafür spräche, dass das üppige Sabbatmenü Speise „für die Seele“ genannt wird, also Nahrung für die Seele des Frommen, die sich im Tod vom Körper trennt und in einem paradiesischen Ambiente die allgemeine Totenauferstehung erwartet.60 Oder handelt es sich um den paradiesischen Aufenthaltsort und Zustand des Frommen nach bestandenem Endgericht in der ‘kommenden Welt’ (ha-olam hab-ba)? Dafür sprächen neben dem Wein die genossenen Speisen „von dem Fleisch des Leviathan“, das für
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das Große Mahl am Ende der Tage reserviert bleibt.61 Die ‘Unschärfe’ entspricht durchaus jüdischer Eschatologie, die den Lohn des Gerechten aufgrund individuellen Gerichts unmittelbar nach dem Tode in der ‘Aufenthaltserlaubnis’ für den Garten Eden bestehen lässt. Andererseits ist besagter Aufenthalt auch den leiblich auferstandenen Gerechtgesprochenen für die Endzeit verheißen; zumindest „lässt sich im Einzelfall nicht immer Klarheit gewinnen“62, welcher Lohn nun gemeint sei; der zeitlich-interstadiale oder endzeitlich-ewige.
3. Bezüglich des erwähnten Zwischenstadiums zwischen individuellem Tod und allgemeiner Totenauferstehung gingen die Meinungen auseinander. Neben der Auffassung, dass die Seelen der Frommen im gan-edän den Geschmack des ewigen Paradieses (III. B. 2.), dagegen die der Verworfenen in der ge-hinnom (ursprünglich Bezeichnung eines Tales vor den Mauern Jerusalems mit einer ‘heidnischen Opferstätte’, dann ein unterirdischer Strafort) die Schrecken der ewigen Verdammnis vorkosten werden, vertrat eine andere Schule eine Art ‘Seelenschlaf ’ bis zur allgemeinen Totenauferstehung und zum anschließenden Endgericht. Im ersten Fall hatte das zwiefache Gericht (nach dem individuellen Tod, bei der allgemeinen Totenauferstehung) den Vorteil, dass der erste Spruch noch überprüft und gegebenenfalls aufgehoben werden konnte. Dem ‘Handicap’, dass, wer außerhalb Israels stirbt, nicht auferstehen wird (so Rabbi Eleasar), bot man dadurch Paroli, „dass die Gebeine der Verstorbenen auf unterirdischen Wegen nach Erez Jisrael wandern und dort an der Totenbelebung teilhaben werden“63. Sympathisch muten universalistische Theorien über das Schicksal von Nichtjuden im Endgericht an: „Die Frommen der Völker der Welt haben Anteil an der kommenden Welt“, lautet die Mehrheitsmeinung in talmudischer und nachtalmudischer Zeit.64 Weniger sympathisch ist die Aussicht, dass sich die Geretteten im ewigen Paradies an den Qualen der Frevler im Feuerpfuhl erfreuen – wenn sie wollen.65 Aber dieser Art von Schadenfreude werden wir auch im Christentum wieder begegnen (B. 2., Abs. 1). Also
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kein Grund für christliche Häme! Im Übrigen wird eine Ausmalung des Endzustandes (der Gerechten), da sich sein Wesen irdischem Begreifen entzieht (vgl. III. B. 2.: totaliter aliter), teilweise überhaupt abgelehnt, teilweise körperliche Auferstehung, endlose Strafe und Belohnung, Gehenna und Eden, Hölle und Paradies verworfen, mit Seelenwanderung, Präexistenz und Unsterblichkeit der Seele (IV. 2.) gerechnet. So schließt eines der berühmtesten Dramen der jüdischen Literatur mit präexistenzianischen Versen von der Wanderung der Seele (zurück) zu ihrer himmlischen Heimat: „Warum denn, warum denn Stürzet die Seele Von höchster Höhe Hinab in den tiefsten Grund? Im Sinken liegt Steigen. Gestürzte Seelen ringen sich wieder empor …“66
B. Christentum67 B. Christentum
1. Wer getauft wird, dessen Erbsünde und begangene Tatsünden sind nach römisch-katholischer Lehre ‘abgewaschen’, getilgt. Stürbe er gleich danach oder würde von jetzt ab ein ‘heiligmäßiges’ Leben führen und dann sterben, gelangte seine Seele sofort ins Paradies. Da aber nach der Taufe eine Disposition zur Sünde bleibt, ein „Sündenzunder“ (fomes peccati), der jederzeit wieder zu Tatsünden ‘aufflammen’ kann (nicht muss), ist der ‘Normalmensch’, der kein Heiliger ist, auf das Sakrament der Buße (Beichte) angewiesen. Die begangenen und gewussten Todsünden sind vor dem Priester zu bekennen, die lässlichen Sünden dagegen nicht (die Scheidung beider Sündengattungen ist eine ‘innerkatholische’ Angelegenheit und sah schon Luther überfordert). Kraft des unendlichen Verdienstes, das sich Christus für seine Kirche erworben hat, befreit die Beichte von der ewigen
B. Christentum
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Höllenstrafe; es bleiben aber noch zeitlich begrenzte Strafen, die in der vom Priester auferlegten Buße (Gebete, fromme ‘Extrawerke’, Almosen, Fasten, Geldspenden, Kreuzzüge usw.) abzuleisten sind. Und was ‘hier’ nicht abgeleistet wird, ist ‘dort’ im Fegefeuer ‘nachzuholen’ (II. B. c. 2., Abs. 2). Die Fegefeuerqualen können durch Messopfer (Christi Opfertod wirkt pro vivis et defunctis: für die Lebenden und die Verstorbenen seiner Kirche) und Gebete der Angehörigen (deren Adressaten ‘dort’ sich ihrerseits durch Gebete für die Lebenden ‘revanchieren’) verkürzt werden, worauf dem durch das läuternde Fegefeuer verkürzten schlussendlichen Aufenthalt der jetzt ‘reinen Seele’ im Paradies nichts mehr entgegensteht. Über den Ablass (päpstlicher Erlass zeitlicher Strafen), das Sterbesakrament (letzte Ölung, welche die unfreiwillig verpasste Beichte ersetzen kann), den Status eines Toten, der die letzte Ölung nicht innerhalb von zwei Stunden nach seinem Ableben (Frist, innerhalb der ein Verstorbener noch als Sterbender gilt68) appliziert bekommt, soll hier nicht diskutiert werden. Aber die Entstehung der Fegefeuervorstellung wollen wir hier nicht übergehen. Zumal wir dabei auf einen Text verwiesen werden, den wir schon kennen (III. B. 4.): „Denn einen andern Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher Jesus Christus ist. Wenn aber jemand auf den Grund [d. h. Christus] Gold, Silber, Edelsteine, Holz, Heu, Stroh baut, so wird eines jeden Werk offenbar werden, denn der Tag (des Gerichts) wird es kundmachen, weil er sich in Feuer offenbart; und wie eines jeden Werk beschaffen ist, wird das Feuer erproben. Wird jemandes Werk, das er darauf gebaut hat, bleiben, so wird er Lohn empfangen. Wird jemandes Werk verbrennen, so wird er Schaden leiden; er selbst aber wird gerettet werden, doch so, wie durch Feuer hindurch.“ (1 Kor 3,11 ff.) Wahrscheinlich will Paulus sagen: Wer auf Christus baut, wird gerettet; nur sein Tun wird entweder im Feuer des Gerichtstages geläutert (wenn gut) oder ganz verbrannt (wenn schlecht). (Über die iranische Herkunft von Vorstellung und Bild ist schon gesprochen.) Im Christentum war der Paulustext maßgeblich an der Entstehung des Purga-
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toriums beteiligt69, wie es katholischer Frömmigkeit sich darstellt: ein materielles Reinigungsfeuer im Erdinnern, das die ‘armen Seelen’ der Gläubigen ‘paradiesreif ’ läutert.
2. Bleibt das Problem der ungetauft gestorbenen Kinder, die noch keine Tatsünden begangen haben können, lediglich mit der Erbsünde behaftet sterben. Für sie hat die katholische Kirche einen (unterirdischen) Aufenthaltsort reserviert, den limbus infantium, dessen ‘Negativqualität’ nicht in einer eigentlichen Bestrafung (wofür denn?) besteht, sondern nur im Fehlen der seligen Gottesschau. Die gerechten ‘Väter des Alten Bundes’, die, ebenfalls ungetauft und mit der Erbsünde behaftet, verdienstvoll (sündlos) lebten und glaubten (Propheten), sind von Christus in einer postmortalen Expedition (dem descensus ad inferos70: Abstieg in die ‘Hölle’ in der Zeit zwischen Tod und Auferstehung) aus ihrer milden Gefangenschaft im limbus patrum, einer Art ‘Vorhölle’, befreit und zu Paradiesesbewohnern befördert worden. An fünf jenseitigen Aufenthaltsorten hat die katholische Dogmatik bis in unsere Zeit festgehalten: Hölle für die Verdammten; Himmel (Paradies) für die Seligen; Fegefeuer für die Läuterungsfähigen und letztlich des himmlischen Paradieses Gewürdigten; ‘unterirdischer’ Aufenthaltsort für die ungetauft verstorbenen Kinder; ‘Vorhölle’ für die alttestamentlichen Väter, jetzt durch den erlösenden Abstieg Christi leer. Damit ‘steht’ auch der eschatologische Fahrplan: individuelles Gericht über die Seele nach dem Tod (Trennung von Leib und Seele) – himmlischer (paradiesischer) oder höllischer (infernalischer) oder limbischer oder purgatorischer Zwischenzustand (der für die ‘Väter’ und die Insassen des Fegefeuers im Paradies endet) –, allgemeine Auferstehung zu neuen geist-leiblichen Gesamtpersönlichkeiten, kollektives Endgericht, ewiges Leben für die Freigesprochenen, ewige Verdammnis (‘zweiter Tod’) für die Verurteilten, wobei das Endgericht den individuellen Spruch lediglich bestätigt (Himmel, Hölle, limbus für ungetauft gestorbene Kinder) oder noch (limbus für ‘Väter’, Fegefeuer) ‘nachbessert’. Beschreibungen und bildliche Darstellungen von Paradies, Hölle
B. Christentum
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und Fegefeuer sind Legion. Eines der gewaltigsten Werke der Weltliteratur ist ihr gewidmet: Dantes Divina Commedia mit ihren drei Teilen Inferno, Purgatorio, Paradiso.71 Und eine der rätselhaftesten Malereien: das Triptychon, genannt Der Garten der Lüste, von Hieronymos Bosch (gest. 1516) mit Garten Eden (Inneres des linken Flügels; Evangelienseite), Paradies (Mittelteil), Hölle (rechter Flügel; Epistelseite).72 Dazwischen existiert eine Fülle von volkstümlicher und geistlicher Visionsliteratur73 und die unzähligen mit Holzschnitten bebilderten Drucke des Volksbuches von der ‘wundersamen Meerfahrt’ des Sankt Brandan (gest. 576), die ihn vielleicht schon 500 Jahre vor den Wikingern nach Amerika gelangen, aber auch paradiesische, infernalische und purgatorische Regionen ‘erfahren’ ließ74. Und das Jüngste Gericht mit dem wiederkehrenden Christus als Weltenrichter, die Seligen (rechts) und die Verdammten (links; vgl. Mt 25,33) gehörten zum Bildprogramm mittelalterlicher Kirchenportale (der Westfassaden).75 Den psychoseverdächtigen Phantasien bei der Erfindung von Höllenqualen scheinen keine Grenzen gesetzt. Besonders widerwärtig sind die Strafen für ‘sündhafte’ Mönche und Nonnen in der Visio Tundali (Vision des irischen Ritters Tundal) aus dem Jahr 1149: Er schaut in der Unterwelt eine feuerspeiende Bestie mit eisernem Schnabel und ebensolchen Krallen. „Diese Bestie saß über einem Sumpf aus gefrornen Eis [sic!]. Die Bestie verschlang alle Seelen, die sie finden konnte, und nachdem sie in ihrem Bauch vernichtet worden waren, gebar sie sie in den Sumpf aus gefrorenem Eis [sic!], und dort wurden sie wiederum zur Qual erneuert. Es wurden aber alle Seelen, die in den Sumpf hinabstürzten, schwanger, sowohl Männer als auch Frauen, und so erwarteten sie die Zeit ihrer Niederkunft. Innen aber wurden sie in den Eingeweiden nach Schlangenart von der empfangenen Nachkommenschaft gebissen, und so vegetierten sie armselig in der stinkenden Woge des durch das feste Eis toten Meeres dahin. Und als es Zeit war, dass sie gebären sollten, erfüllten sie schreiend die Hölle mit Geheul und gebaren so Schlangen. Es gebaren nicht nur die Frauen, sondern auch die Männer (durch alle Glieder). Es hatten aber die Bestien, die ge-
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boren wurden, glühende Eisenköpfe und schärfste Schnäbel, mit denen sie die Leiber, wo sie herauskamen, zerfetzten … Und so brüllte alles zusammen: das Knirschen des überschwemmenden Eises und das Heulen der leidenden Seelen und das Stöhnen der herauskommenden Bestien …“76 Offensichtlich handelt es sich um die ‘interstadiale’ Hölle, da Seelen gequält werden, und nicht um die endzeitliche über die restaurierten Gesamtpersönlichkeiten verhängte ewige Verdammnis. Ein schon im Judentum konstatiertes endzeitliches ‘Vergnügen’ der Seligen (A. 3.) soll in der Betrachtung der ewigen Qualen der Verdammten bestehen. Thomas v. Aquin schreibt im Supplementum (q. 94, a. 3 c.) seiner theologischen Summa: „Etwas kann auf zwiefache Weise Inhalt der Freude (gaudii) sein. Einmal an sich, wenn über etwas um seiner selbst willen Freude empfunden wird. Und so erfreuen sich die Heiligen nicht an den Strafen der Verworfenen (impiorum). – Ein andermal ‘qua Nebeneffekt’ (per accidens), d. h. wegen etwas Zusätzlichem (alicuius adiuncti). Und so (nur) werden die Heiligen sich an den Strafen der Verworfenen freuen, indem sie an ihnen den Gang (ordinem) der göttlichen Gerechtigkeit und ihre eigene Freisprechung betrachten, über die sie sich freuen werden. Und solchermaßen werden die göttliche Gerechtigkeit und ihre Freisprechung an sich Grund der Freude der Seligen sein, die Strafen aber der Verworfenen (nur) ‘qua Nebeneffekt’.“77 Da verschlägt es auch nichts, wenn man diese Stelle nicht dem Thomas, sondern Reinhold v. Piperno, „seinem Genossen und Verleger“78, zuschreibt: Sie wird dadurch weder besser noch schlechter. Wir werden uns nicht wundern, wenn in der eschatologischen Bilder- und Vorstellungswelt des christlichen Kulturbereichs zwei alte Bekannte auftauchen: die Jenseitsbrücke und die Gerichtswaage (III. B. 3.). Jene ist ursprünglich beim Übergang der Seele ins Jenseits angesiedelt, erfüllte da lediglich ‘Brückenfunktion’, erscheint zusätzlich ins Partikulargericht eingebaut, indem sie die Seele des Guten (Heiligen: 1.) ins
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Paradies leitet, des Schlechten (Unbußfertigen) direkt in die Hölle stürzen lässt.79 Die Gerichtswaage wird als Seelenwaage in die Hände des Erzengels Michael80 gelegt. Wo der Waagebalken durch die in der Waagschale sitzenden Seelen (dargestellt als homunculi: III. A. 3.) nach unten kippt, sind die Seelen für die Hölle bestimmt, wo er nach oben steigt, für das Paradies. Oft helfen Teufelchen nach, indem sie sich an die Waagschale hängen, um sie schwerer zu machen, oft Engel, indem sie eine Seele einer Waagschale entreißen81. Die Waage hat aber auch als Gerichtswaage Einzug in Darstellungen des Jüngsten Gerichts gehalten, etwa im Tympanon von Saint-Lazare in Autun.82 Was auffällt, ist das Fehlen des Fegefeuers bei der Darstellung von Jenseitsbrücke und Seelenwaage. Aus pädagogischen Gründen und um ihres Machterhaltes willen, konkreter, zur Menschenführung durch ‘biographische Rundumbetreuung’ war die Kirche an einer drastischen Gegenüberstellung von Himmel und Hölle interessiert. Aus denselben Erwägungen konnte ihr wenig an einer genauen Unterscheidung von Hölle und Fegefeuer (lässlichen Sünden und Todsünden) gelegen sein; nur so war der Heilsstatus ihrer Glieder, die nun lebenslang kirchlich verwalteter Gnadenmittel bedurften, im Ungewissen zu halten.
3. Wo sich die Kirche nicht als Heilsverwalterin und -mittlerin, sondern als (schriftgemäße) Wortverkündigerin versteht, kann sie auf das Fegefeuer verzichten. Sie darf auf eine „völlige Reinigung durch Christus“ (purgationique plenae per Christum) vertrauen. Weshalb denn auch der Protestantismus die Lehre vom ‘zwischenzustandlichen’ Fegefeuer für ‘menschliche Erfindung’ hält. Nach dem Tod (Trennung der Seele vom Leib) gelangen die Seelen derer, die im Glauben verharrten (animarum perseveranter fidelium), zur Seligkeit im Himmel (status … beatus in coelo), die Seelen der Ungläubigen (animarum infidelium) zur Verdammnis in der Hölle (status … damnatus in inferno).83 Am Tag des Jüngsten Gerichts bestätigt Christus den zu neuen geist-leiblichen Gesamtpersönlichkeiten Auferstandenen das über ihre Seelen ergangene Urteil; die dann noch Lebenden judiziert er nach denselben Kriterien.84
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Da zwar der Glaube nach Luther selig macht, aber von den Werken so wenig geschieden werden kann, „als Brennen und Leuchten vom Feuer mag geschieden werden“85, trägt er sich mit dem Gedanken einer nach Werken abgestuften Seligkeit der Glaubenden.86 In der berühmten Torgauer Osterpredigt (1533) schildert er den descensus (2. bei u. mit N 70) triumphalistisch: dass Christus „mit Leib und Seele … zur Hölle gefahren“ sei und „die Hölle zerstöret und den Teufel gebunden“ habe87. Später scheint er geneigt, mit Melanchthon bei der Hadesfahrt Christi „an eine Erlösung der edelsten Heiden zu denken“88. Und das, obwohl er die Taufe für heilsnotwendig hält, weil sie dem Täufling den Glauben eingieße! Die Reformierten, die der Taufe keine konstitutive Bedeutung für den Glauben beimessen, weil Gott in seiner Gnadenwahl frei ist, können auch mit der „Seligkeit erwählter Heiden“ leben.89
4. Am Ende der Tage wird der Tod „als letzter Feind“ „zunichte gemacht“ werden, „damit Gott alles in allem sei“ (1 Kor 15,26.28; vgl. A. 1., Abs. 2). Soll man diesem letzten Feind beim Sterben des Menschen seinen Triumph lassen oder ihn ihm vielmehr gründlich ‘vermiesen’? Indem man den qualvollen Sterbevorgang abkürzt und schmerzfrei hält – natürlich immer den eindeutigen Wunsch (ausdrückliche Einwilligung) des Moribunden vorausgesetzt? Schon in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat der evangelische Theologieprofessor Wilhelm Knevels die Maxime aufgestellt: Leiden, um anderen Leid zu ersparen oder zu lindern, ist christlich – Leid um des Leidens willen ist dämonisch.90 Von da her ergäbe sich nicht nur das Recht des Patienten auf direkte und indirekte aktive Sterbehilfe, sondern die Pflicht der ärztlichen Betreuer zur Hilfeleistung, wenn vom Patienten gewünscht.91 Sterbebegleitung als Betreuung sterbender Menschen ist in den meisten Kulturen und Religionen Sitte oder religiöse Pflicht.92 Mit der Säkularisierung wandeln sich traditionelle Formen der Sterbebegleitung in Richtung auf Professionalisierung, Medikalisierung, Institutionalisierung: Sterbebegleitung wird ‘Sterbetherapeuten’ überlassen, wird zur medizinischen Disziplin (‘Palliativmedizin’) und findet
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in Spitälern oder spitalähnlichen Einrichtungen (Hospizen, deren Insassen ‘Gäste’ genannt werden) statt. Und da diese ‘moderne’ Form des säkularen, ‘qualitätskontrollierten Sterbens’ ‘kostenintensiv’ ist, wird sich das Problem der direkten aktiven Sterbehilfe nicht nur aus theologischer Warte, sondern auch aus ökonomischer Perspektive nicht so leicht vom Tisch wischen lassen.93
5. Der Gedanke einer schlussendlichen Versöhnung des Teufels, einer Vernichtung des „letzten Feindes“, „nicht um (künftig) nicht zu sein, sondern um (künftig) nicht (mehr) ‘Feind’ und ‘Tod’ zu sein“94, dem Origines zugeschrieben; die täuferische Ansicht, die Bestrafung von Menschen und Teufeln werde einmal ein Ende haben95; die Leugnung jeglicher Verwerfung durch den reformierten Theologen Samuel Huber (gest. 1624), da nach Tit 2,11 („denn erschienen ist die Gnade Gottes, die allen Menschen zum Heil dient“) alle erwählt seien96; Karl Barths ‘Erwählungslehre’, die in Christus die ganze Menschheit erwählt, Gott selber stellvertretend für alle verworfen sein lässt97 – würde schlussendlich die Hölle als ewigen Strafort überflüssig machen (III. B. 4.). Schade um sie wär’s nicht.
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1. Bei den geopolitischen Verhältnissen in und um die arabische Halbinsel zur Zeit des Auftretens von Muhammad (jüdische Kolonien im Yemen und in der Oase Yathrib, die christlichen Reiche von Byzanz und Äthiopien, das zoroastrische Persische Großreich) werden wir uns nicht über den jüdischen, christlichen und zoroastrischen Einfluss auf die eschatologischen Vorstellungen des Islam sonderlich wundern, eher schon, wenn solche Einflüsse fehlen würden. Im Un-
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terschied zu den mehr bigotten Beschreibungen des endzeitlichen Paradieses der Juden und Christen erfreut uns hier (wenn wir Männer sind) die sinnliche Ausgestaltung endzeitlicher paradiesischer Freuden. Das Paradies ist (wir wissen es: III. B. 2.) ein Garten (arabisch jannatun). Die Seligen werden das Tor des Gartens erreichen, dessen Türklopfer aus rotem Rubin besteht. Das Tor wird sich öffnen und die Huris (arabisch-persisches Mischwort hur-i bihishti, etwa: Gazellenäugige des Paradieses) werden sie gleich dort in Empfang nehmen. Eine jede Huri wird auf ihren ‘Meister’ zugehen, ihn umhalsen und ihn anreden: „Du bist mein Geliebter. Du gefällst mir sehr, und ich werde dich auf immer lieben.“ Im Haus des Gartens befinden sich siebzig (heilige Zahl der Vollkommenheit98) Ruhebetten, auf jedem Ruhebett siebzig Bettdecken, auf jeder Bettdecke liegt eine Huri, bekleidet mit siebzig Gewändern. Das Mark ihrer Beine ist durch ihre feinen Gewänder sichtbar. Jeder Mensch des Gartens trägt siebzig Gewänder, deren jedes jede Stunde seine Farbe wechselt in bis zu siebzig Schattierungen. Einem einzigen Mann ist bei der sexuellen Befriedigung wie auch beim Essen und Trinken die Kraft von einhundert Männern gegeben. So gibt er sich der körperlichen Liebe hin: Diese Zeit beträgt achtzig Jahre, und es erfolgt kein Samenerguss noch ein Verlangen. Alles wird im Überfluss vorhanden sein: Siebzig Teller und siebzig Becher aus Perlmutter und Rubin werden den sättigen, den hungert, mit Speisen, die weder das Feuer berührt noch ein Koch gekocht hat. Denn Gott wird nur sprechen: „Sei!“ Und es ist. Vögel in gewünschter Färbung werden auf die Tafel fallen, bereits gebraten, und gegessen werden sie erneut zu Vögeln des Gartens.99 Wir fügen bei: Wein, sonst verboten (Sure 5,90: Wein ist ein Gräuel und Satans Werk), wird das Herz der Frommen erfreuen (83,65 f.: edler Wein, dessen Siegel aus Moschus besteht).100 Die Märchenmotive des ‘Tischleins-deck-dich’ und des Schlaraffenlandes mit seinen gebratenen Tauben, die den Nimmersatten ins Maul fliegen, weisen auf ein Ambiente, in dem Überfluss nicht an der Tagesordnung war (vgl. dagegen Sure 2,25: die Seligen erhalten von jedem Gericht ‘Nachschläge’). Auch das uralte Motiv einer ‘verkehrten Welt’ spielt hinein in den paradiesischen islamischen ‘Garten’ (Wein ‘hier’ verboten, ‘dort’ erlaubt; Frauen hier ‘unrein’, dort ‘regelfrei’: III. B. 2.). Dass sich kör-
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perliche Liebe ohne Samenerguss und Verlangen ereignen wird, verweist auf eine himmlische Erotik, die weltliche Sinnlichkeit transzendiert. Und in der Tat: Das Paradies ist „mehr (als all dies)“. Kein „(leeres) Gerede“ wird seinen Frieden stören (88,11), kurz: Es ist „das große Glück“ (9,72: al-fawzu ’l-azimu). Den gläubigen Frauen im Paradies wünschte man (falls sie es auch wünschen) aus Symmetriegründen glanzäugige Jünglinge zum Liebesspiel. Diese sind aber nur als ‘Stewards’ für die Gläubigen vorgesehen, um ihnen Trank und Speise zu servieren (56,17 ff.). Den Gattinnen ist es nun vergönnt, mit ihren Männern im Schatten auf Ruhebetten zu liegen, mehr nicht (36,56). Die Männer haben (wie gesagt) ‘mehr’: zusätzlich „großäugige Huris“ (hurun inun), „wohlverwahrten Perlen zu vergleichen“ (56,22 f.). Ist die Hölle ewig? Nicht für den Muslim, der einmal im Leben die Schahada, das Glaubensbekenntnis, gesprochen hat: „Ich bekenne: Es gibt keinen Gott außer Allah. Ich bekenne, dass Muhammad der Gesandte Allahs sei (ashhadu an la ilaha illa ’llah; ashhadu anna Muhammadan rasulu ’llah101).“ Und für den als Glied seiner Gemeinde (ummatun) der Prophet bei Gott Fürbitte einlegen wird.102 Neuerdings melden sich prominente Stimmen, dass die Hölle, die nicht der Bestrafung der Sünder dient, sondern ihrer Zubereitung für das Paradies, „ein Ende finden wird“, „das Paradies unbegrenzt ist“, weil alles andere dem Wesen Gottes widerspreche, der „der Gnädige und Barmherzige“ (ar-rahmanu ’r-rahimu – so der Anfang jeder Sure außer einer) ist.103 Das wäre ein Heils-Universalismus, der christlicher ApokatastasisLehre locker das Wasser reichen könnte. Im Zentrum konventionellerer Höllenvorstellungen stehen der Baum Zaqqum (az-Zaqumu), dessen Früchte die gefesselten Verdammten hinunterschlingen (zaqama: in einem Zug verschlucken) müssen und die „wie flüssiges Metall“ im Bauch der Sünder kochen (44,43–48; 40,71 f.), und „das Höllenfeuer“, dem die Verdammten als Brennmaterial dienen. Im Unterschied zur Seelenwaage des Michael, wo die Neigung nach unten die Seele in die Hölle zieht (B. 2., Abs. 3), wird im Koran die Waage nur Requisit beim Jüngsten Gericht; und hier führen die schwereren Waagschalen die Gewogenen direkt ins Paradies, wohl wegen ihrer mitgewogenen guten Taten (101,6–9). Auch die Jenseitsbrücke, die
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ursprünglich den Übertritt der Seele ins Jenseits ermöglichte, scheidet im Endgericht die Bösen, die von ihr ins höllische Feuer stürzen, von den Guten, die über sie ewigen Freuden entgegenwandeln. Die Brücke heißt Sirat (as-Siratu: der Weg). Sie mag eine spätere Weiterentwicklung des Weges sein, den jeder Muslim aus der von ihm als eine Art ‘islamischen Unservaters’ gebeteten Eröffnungssure, der Fatiha, kennt: „Führe uns den geraden Weg (as-sirata ’l-mustaqima) … und nicht (den Weg) derer, die irregehen (wa-la ’d-dallina)!“ Damit sich der Mensch beim ultimaten Gericht nicht herauslügen kann (III. B. 3., Abs. 2), werden seine Taten zu Lebzeiten von „Engeln“ beobachtet und dokumentiert (82,9–12), in einer Schrift (kitabun: Buch) gesammelt und an einem Ort (in der Hölle oder im Himmel) archiviert (83,7– 21), damit sie Allah für seinen Richterspruch zur Hand sind (vgl. auch 58,6: Gott hat nichts vergessen). Auch der Christengott richtet am Ende der Tage aufgrund von Büchern (Apk 20,12: die Toten werden gerichtet „auf Grund dessen, was in den Büchern geschrieben war, nach ihren Werken“). Der Gedanke ist im Frühjudentum bezeugt, das sogar einen himmlischen Schreiberengel (Metatron, von lat. metator: Feldmesser) benennt, Gestalt für mancherlei Spekulation (die den Namen auch Gott selber beilegt).104 Was ist mit solchen Auferstandenen, deren gute und schlechte Taten sich ausgleichen? Sie bewohnen einen Ort zwischen Paradies und Hölle, genannt al-arafu (7,44–48). Die Bezeichnung meint ursprünglich vielleicht die (höchsten) Höhen des Paradieses (denn dieses ist schon „hochgelegen“: 88,10) mit Überblick über die beiden Bereiche Paradies und Hölle. Aber da arabisch arafa auch „genau unterscheiden“ bedeuten kann, wird daraus ein Aufenthaltsort solcher, die von den Guten wie den Bösen geschieden sind („eine Art islamisches Fegefeuer“105 mit ‘Aussichten’ auf das Paradies – aber eben von Auferstandenen bevölkert und nicht von Seelen). Dieser endzeitlichen ‘Pufferzone’ zwischen Garten und Höllenfeuer dürfte der zoroastrische Ort der ‘gemischten’ Seelen (hammistagan: III. B. 4.) Pate gestanden haben.
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2. Im Islam ist der Tod nicht der Sünde Sold (A. 1., Abs. 2), sondern eine Rückkehr (IV. 2.) zu Allah. „Zu deinem Herrn kehrt alles zurück“, lesen wir schon in der vielleicht ältesten Botschaft Allahs an seinen Gesandten (96,8). Einen Sterbenden in seiner letzten Stunde nicht allein zu lassen (also Sterbebegleitung: vgl. B. 4.) gilt als religiöse Pflicht und gutes Werk.106 Praktizierende Gläubige möchten gern, das Gesicht Richtung Mekka auf der rechten Seite liegend (vgl. B. 2., Abs. 2), mit dem Glaubensbekenntnis auf den Lippen sterben (wodurch ihnen das Paradies letztlich sicher ist: 1., Abs. 2) oder sterbend sich das Glaubensbekenntnis von jemandem vorsprechen lassen. Zur Zeit des Todes eines geliebten Menschen ist es gebräuchlich, die Sure Ya Sin (36) zu rezitieren.107 Ich zitiere daraus: „Wir (allein) machen die Toten (wieder) lebendig. Und wir schreiben auf, was sie früher getan, und die Spuren, die sie (mit ihrem Lebenswandel) hinterlassen haben. Alles haben wir in einem deutlichen Hauptbuch aufgezählt. Hat denn der Mensch nicht gesehen, dass wir ihn aus einem Tropfen (Sperma) geschaffen haben? Er sagt: ‘Wer wird Knochen (wieder) lebendig machen, nachdem sie (bereits) morsch geworden sind?’ Sag: Der wird sie (wieder) lebendig machen, der sie erstmals hat entstehen lassen, und der über alles, was mit Schöpfung zu tun hat, Bescheid weiß. Hat denn nicht der, der Himmel und Erde geschaffen hat, (auch) die Macht, ihresgleichen zu schaffen? Bei ihm ist es so: Wenn er etwas will, sagt er dazu nur: Sei! Dann ist es. Gepriesen sei er, in dessen Hand die Herrschaft (malakutu: Königsherrschaft, Reich; vgl. die Doxologie des Unservaters: ‘Denn dein ist das Reich …’) über alles (kulli) liegt (was existiert), und zu dem ihr (dereinst) zurückgebracht werdet!“ Nach dem Tod, der in einer Trennung von Leib und Seele (ruhun) besteht, erlebt die Seele ihr künftiges endzeitliches Schicksal als Vorgeschmack von Paradies bzw. Hölle. Für kurze Zeit wird der Leichnam wieder mit der Seele verbunden und von zwei Engeln, Munkar und
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Nakir, inquiriert nach Gott (Allah), seinem Propheten (Muhammad), der Religion (Islam), der Gebetsrichtung (Mekka). Antwortet er nicht richtig, setzt es im Grab Prügel. Die Tradition weiß auch von einem „Mann mit einem schönen Gesicht und einem schönen Gewand und von angenehmem Duft“, den der Tote fragt, wer er sei und warum so schön. Antwort: „Ich bin deine rechten Taten.“ Und von einem anderen „mit einem hässlichen Antlitz und einem Modergeruch“, der, vom Toten befragt, antwortet: „Ich bin deine schlechten Taten.“ Bis in die Wortwahl ist hier die zoroastrische daena-Gestalt ‘kopiert’ (III. B. 3., Abs. 2), die allerdings einen Geschlechtswandel über sich ergehen lassen muss.108 Über die Wartezeit der Seelen bis zu Auferstehung und Endgericht gehen die Meinungen auseinander.109 Aufenthalt bei ihren Leichnamen im Grab und Schau von Himmel resp. Hölle werden traditionell gerne angeführt. Ein den Guten angenehmer, den Bösen unangenehmer ‘Seelenschlaf ’, der den Betroffenen kurz erscheint, kann sich am ehesten auf den Koran stützen (79,46: die Dauer des Aufenthalts im Grab währt ihnen einen Abend, allenfalls bis in den Morgen). Die Selbstmordattentäter, die durch ihren Tod nicht nur Ungläubige, sondern oft mehr Gläubige in den Tod reißen, glauben, durch ihren Märtyrertod am Jüngsten Tag ohne Gericht direkt ins Paradies zu kommen (IV. 2.), und berufen sich auf Sure 47,4 ff.: „Und denen, die um Gottes willen (fi-sabili ’llahi: auf dem Kriegspfad Gottes) getötet werden, wird er ihr Werk nicht fehlgehen lassen … und sie ins Paradies eingehen lassen, das er ihnen zu erkennen gegeben (oder für sie bestimmt) hat.“ Sie wähnen sich in einer Situation, in der das Leid des Individuums in Kauf genommen werden darf, um gesellschaftliches Leid abzuschaffen – und können sich auf einen islamischen Grundsatz stützen, der auch im Christentum nicht unbekannt ist, dass nämlich das bonum commune (Gemeinwohl) dem bonum privatum (Wohl des Einzelnen) vorgeordnet ist.110 Was aber ist in ihren Augen das bonum commune? Ein islamischer Gottesstaat?
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Im Judentum, Christentum und Islam bedeutet ‘Erlösung’ die Wiederherstellung des durch den Tod dissoziierten Individuums zu einer neuen geist-leiblichen Gesamtpersönlichkeit, frei von irdischen Restriktionen. Vollkommenheit aller Lebensäußerungen, ‘Spiritualität’, Leidlosigkeit, strahlende Schönheit (sanctitas vitae perfecta, spiritualitas, impassibilitas, claritas) zeichnet die Erlösten und ‘Verklärten’ im ‘neuen Äon’ aus. So beschreibt es eine protestantische Dogmatik von 1707.111 Vertreter von Judentum und Islam würden daran wenig auszusetzen haben. Ganz anders verhält es sich in hindugener Religiosität: ‘Erlösung’ meint hier Befreiung vom Personsein, Aufgehen des Individuums in einem un- und über-persönlichen Göttlichen, ‘Erlöschen’. Untersuchungen von Sterbeverhalten bei Indern und Amerikanern ergaben, dass Inder ‘schwerer’ sterben als Amerikaner. Man mag das so deuten, dass Inder die Angst vor der Wiedergeburt, also möglicher neuer personaler Fortexistenz, beschwert; während Amerikaner (religiös sozialisiert im Christentum) personale Weiterexistenz im Jenseits an sich nicht schreckt.112 Auch Seelenwanderung, allerdings in der ‘westlichen’ Form der ständigen Höherentwicklung, also Fortsetzung personaler Existenz auf evolutionistisch ‘höherem Level’, schreckt den eventsüchtigen Westler natürlich wenig.113 Im hindugenen religiösen Bereich ist Erlösung als Befreiung vom personalen Sein schon zu Lebzeiten möglich; das biologische Leben läuft dann noch eine Weile weiter, so wie ein Wagen ausrollt, wenn seine Antriebsenergie wegfällt. Das Verständnis von Erlösung bildet somit die grandiose Zäsur, welche die beiden großen religiösen Kulturbereiche dieser Welt trennt: den monotheistischen (jüdisch-christlichislamischen) und den pantheistischen (hinduistisch-buddhistischen). Beide Formen der Sehnsucht nach Erlösung sind Ausdruck der condition humaine; und wir tun gut daran, sie nicht ethnozentrisch zu bewerten. Hindugener Religion gelingt es spielend, Totenbrauchtum und Jenseitsvorstellungen und personale Gottheiten in ihr Erlösungsschema einzubauen: Es sind Handlungen, Vorstellungen, Personen im Kreislauf (‘Rad’) der Wiedergeburten, den man durchschauen, ent-
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zaubern („Schleier der Maya“!) und aus dem man ‘total aussteigen’ muss.
a. „Der Übergang vom linearen zum zyklischen Denken“114 a. „Der Übergang vom linearen zum zyklischen Denken“
1. Im Alten Indien wurden die Toten entweder verbrannt oder erdbestattet. Verbrennung bedeutet hier nicht Totalannihilierung (II. B. d. 2., Abs. 2), sondern Übergabe an den Feuergott Agni (vgl. lateinisch ignis), den ‘Eilboten’ zwischen Menschen- und Götterwelt. Erdbestattung bezweckt Überstellung ins Reich des Totengottes Yama („Zwilling“, weil er eine Zwillingsschwester Yami besitzt). Auch gibt es Kombination von Verbrennung und Bestattung (‘Sekundärbestattung’): Die Gebeine werden nach der Verbrennung zusammengelesen (Ossilegium) und dann zur Erde bestattet, wobei man die Knochen so anordnet, dass sie im Grab eine menschliche Figur bilden, was eine Voraussetzung für Wiederbelebung ist (III. B. 4.). Zur Verbrennung oder Erdbestattung entfernt man den Verstorbenen in südlicher oder südöstlicher Richtung aus der Siedlung: in Richtung Totenreich, das sich die aus Norden oder Nordwesten einwandernden Arier im noch uneroberten ‘nichtarischen’ Feindesland dachten (II. B. a. 1., auch C. 3.). Um eine Rückkehr des Toten in seine vertraute Umgebung zu verhindern, treffen die Hinterbliebenen magische Vorkehrungen (II. A.): Sie verwischen die Fußspuren des Leichenzuges (damit der Tote den Rückweg zu den Lebenden nicht mehr findet), auf dem Heimweg von der Bestattung dürfen sie nicht zurückblicken (um den Toten nicht zurückzuziehen und von ihm ‘nachgeholt’ zu werden); man setzt einen Grenzstein zwischen Grabstätte und Heimstätte (der dem Toten das Überschreiten seines Bereichs verunmöglicht) u. a. m. Bei der Brandbestattung bedeckt man den Toten mit dem Fell und Fleisch einer eigens zu diesem Zweck geschlachteten Kuh, genannt Vaitarani („die Hinüberbringerin“; auch Name des Unterweltsstromes an der Grenze des Totenreichs; vgl. III. B. 3., Abs. 1), und legt in seine Hände die Nieren der Kuh. Agni, das Feuer des Leichenbrandes, soll
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das Fleisch verzehren, dafür den Toten unversehrt ins Jenseits senden. Die Nieren sollen die zwei vieräugigen Wachhunde des Totenreichs beschwichtigen, damit sie den Neuankömmling an sich vorbeilassen zu Yama, dem Herrscher über die Jenseitigen. Stirbt ein Ehemann, so muss sich seine Witwe neben den Toten auf den Scheiterhaufen legen; vor dem Anzünden heißt ein naher Verwandter (Schwager?) sie sich wieder zu erheben „zur Welt der Lebenden“. Dieser symbolische Mitverbrennungsritus hat sich zum tatsächlichen Mitverbrennen der Witwe, zum Brauch der ‘Suttee’ (sanskrit sati: die Gute, Wahrhaftige), entwickelt. Er ist seit der Zeit Alexanders d. Großen für den Norden Indiens bezeugt, wurde 1829 durch den britischen Generalgouverneur verboten, ist aber auch heute noch nicht ausgestorben. Durch die geringfügige Änderung des einschlägigen Rig-Veda-Textes konnte die Sitte, als deren Träger der Kriegeradel der Kshatriyas auszumachen ist, auch religiös sanktioniert werden. Aus der Anweisung, die Witwe solle „zuerst das Lager“ (yonim agre) ihres Mannes auf dem Scheiterhaufen besteigen, um sich nachher vor dem Verbrennen wieder von ihm zu erheben, ließ sich durch eine leichte Abänderung des Textes die Aufforderung gewinnen, „die Stätte des Feuers“ (yonim agneh) zu besteigen, um mitverbrannt zu werden – und schon ‘steht’ der ‘fromme Betrug’. Das Los einer Witwe, die sich nicht verbrennen lässt, ist erbärmlich: Sie gilt als ‘sozial Tote’ (vgl. II. C., auch D.), ist der Familie des verstorbenen Mannes, bei der sie leben muss, schutzlos ausgeliefert (und wird hier oft auch sexuell ausgebeutet). Sie darf sich nicht wiederverheiraten, sich nicht einmal schmücken. Es kommt vor, dass sie ihren Lebensunterhalt durch Prostitution bestreiten muss. Schon ihr Anblick gilt als ungünstiges Vorzeichen. Ein indischer Bundesstaat hat für jeden, der eine Witwe heiratet, eine Prämie ausgesetzt, um das Los dieser verfemten Frauen zu erleichtern. Ein Ablösungsritus, der diese Mitverbrennung ersetzt, ist der Brauch des Niyoga (niyoga: Verpflichtung): die ‘Verpflichtung’ der hinterlassenen und ohne männlichen Nachwuchs überlebenden Witwe, mit einem nahen Verwandten ihres toten Mannes einen Sohn zu zeugen, der dann als Sohn des Verstorbenen gilt und ihm die vorgeschriebenen Totenopfer spenden soll. Dieser Verwandte (meist der Schwager) soll die Witwe nachts besuchen, schweigend, weil die Stelle des Toten vertretend, und mit ihr einen
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Sohn, keinesfalls einen zweiten, zeugen. Diese Sitte genießt allerdings weit weniger Ansehen als die der ‘Suttee’.115 Ein Jahr lang wird dem Verstorbenen von den Nachkommen ein Einzeltotenopfer dargebracht. Während dieser Zeit weilt der Tote als Gespenst (preta: „Dahingegangener“, Toter; aus pra-ita: fort-gegangen) in der Nähe der Lebenden, wenn auch durch magische Vorkehren von ihrem Bereich getrennt. Nachweinen (II. A., Abs. 2) lässt die beweinten Toten Speichel, Schleim und Tränen genießen, welche die Weinenden von sich geben. Vermischung der Kasten bekommt dem Toten auch nicht gut, denn nur innerhalb der Kaste ist Speisegemeinschaft möglich.116 Nach Ablauf eines Jahres wird der Tote ein Ahnengeist (pitar: „Vater“, Ahn) und geht in die jenseitige Väterwelt ein. Von jetzt ab erhält er zusammen mit den anderen ‘Vätern’ der Familie Ahnenopfer (Kollektivtotenopfer). Hat jemand keinen Nachkommen, der ihm die entsprechenden Opfer spendet, bleibt er ein Gespenst (preta) und von der Väterwelt ausgesperrt und muss sich als ‘Hungergespenst’ auf der Erde herumtreiben und von Abfällen ernähren, wird dadurch schrecklich anzuschauen, bösartig, aber oft zu schwach, Böses zu tun.117 Beim Ahnenopfer (Einzeltotenopfer verliefen analog) stellen sich die ‘Väter’ (unsichtbar) am Opferplatz ein und sitzen an seiner südlichen Seite (kommen also von Süden, wo das Totenreich liegt). Für sie wird soma ausgegossen – ein narkotischer Pflanzensaft, als Krafttrunk von den Göttern geliebt und als Unsterblichkeitsgetränk kultisch verehrt –, und sie erfreuen sich am Duft von Reisklößen (pinda). Man ruft sie um Reichtum, Segen und Beistand, besonders um starke Söhne an (vgl. II. A., Abs. 1). Die Ahnenopfer finden an Neumonden statt, also wenn die Nächte am dunkelsten sind: ‘kongeniale’ Zeit der Toten.
2. Die Wohnsitze der Väter dachte man sich unter oder auf der Erde, im Himmel oder Luftraum (vgl. III. A. 3.). Denn man ruft sie beim Ahnenopfer ‘untere, obere, mittlere’ (III. B. 2.). Fleißige Trinker von Soma (s. o.), also besonders Priester zu Lebzeiten, weilen als ‘Väter’ im Himmel, wo „unversiegliches Licht“ herrscht. Der jenseitige Aufent-
a. „Der Übergang vom linearen zum zyklischen Denken“
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haltsort für ‘gewöhnliche Sterbliche’ erscheint als unterirdisches oder terrestrisches Totenreich, eine Art altindischer Hades. Darüber und überhaupt über alle ‘Väter’ regiert Gott Yama. Yama und seine Zwillingsschwester Yami waren die ersten Menschen und unsterblich. Yama wird des ewigen Lebens überdrüssig, zieht nach Süden und entdeckt als Erster das Totenreich, wo er stirbt. Yami folgt ihm und überredet ihn zum Inzest, „damit es auf Erden weitergehe“. Daraus entsteht das Geschlecht der Sterblichen, die alle ihrem Urahn ins Totenreich nachfolgen, wo er als Totengott und König residiert (I. 1.). Die Vorstellung postmortaler Bestrafung von Bösen und Übeltätern ist in dieser ältesten vedischen Literatur nur sehr schwach, wenn überhaupt, bezeugt. Eine altbrahmanische Legende (III. B. 2.) erzählt: Bhrigu, der sich klüger als sein Vater Varuna (Himmelsgottheit) dünkt, wird von diesem ins Jenseits geschickt, um sich das anzusehen. Da sieht er an einem Ort Menschen, die anderen Menschen Glied um Glied zerhacken und die Stücke unter sich verteilen. An einem anderen Ort sieht er Menschen, die anderen Menschen Glied um Glied abschneiden und die Glieder unter sich verteilen. An einem anderen Ort sieht er schweigende Menschen, die schweigende Menschen essen; wieder an einem anderen Ort laut schreiende Menschen, die laut schreiende Menschen essen. Bhrigu ist entsetzt und für diesmal am Ende seiner Weisheit. Er fragt seinen Vater. Der sagt: Die Menschen zerhacken Bäume, zerschneiden (schlachten) Tiere, verzehren Pflanzen, schlürfen Wasser. Im Jenseits wird es ihnen vergolten: Die Menschen werden von den Bäumen zerhackt, von den Tieren geschlachtet, von den Pflanzen gefressen, vom Wasser geschlürft. Auf des Bhrigu Frage, wie dieses jenseitige Schicksal von den Menschen abzuwenden sei, belehrt ihn sein Vater: Durch das tägliche Gussopfer in das Feuer (das agnihotra); denn wenn man Brennholz in das Opferfeuer lege, mache man sich die Bäume untertan; wenn man Milch (als Ersatz für Tieropfer) wärme und ins Feuer opfere, mache man sich das Vieh untertan; wenn man mit einem brennenden Strohhalm in den Topf (in dem die Opfermilch erhitzt wird) hineinleuchte, um zu sehen, ob die Milch schon aufsteige, mache man sich die Pflanzen untertan; wenn man einen Schuss kaltes Wasser in die aufsteigende Milch gieße, um sie am Aufkochen zu hindern, mache man sich das Wasser untertan. Bhrigu sieht auch zwei Frauen: eine
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schön (kalyani) und eine hässlich (atikalyani; wörtlich: über die Schönheit hinaus). Die Schöne sei der Glaube (Vertrauen auf das Opfer), die Hässliche sei der Unglaube. Wer solches (all dieses) wisse und das Agnihotra darbringe, mache sich alles untertan.118 Die schöne und die hässliche Frau sind offensichtlich Verwandte der iranischen daena (III. B. 3., Abs. 2), aber moralisch deutlich ‘unterentwickelter’ als diese (statt gut – böse: Glaube an die magische Effizienz des Opfers – diesbezüglicher Unglaube). Das Jenseits trägt hier deutliche Züge einer ‘verkehrten Welt’ (III. B. 2.), die man durch magisches Opferwissen („wer solches weiß“) ‘aushebeln’ kann: Indem der Mensch Bäume, Tiere, Pflanzen und Wasser am Opfer partizipieren lässt, fällt die jenseitige Vergeltung für das, was Menschen Bäumen, Tieren, Pflanzen und Wasser antun, dahin. Um Opferwissen geht es auch in folgender Legende: Um unsterblich zu werden, opfern die Götter das tägliche Feueropfer, Neu- und Vollmondopfer, Tier- und Somaopfer; aber sie erlangen keine Unsterblichkeit. Gott Prajapati (Herr der Nachkommenschaft, Herr der Schöpfung) lehrt sie, den Feueraltar richtig zu bauen: Zur Schichtung des Altars benötige es 360 Umfassungssteine, 360 plus 36 Ziegelsteine, 10 800 weitere Ziegelsteine. Dadurch würden die Götter die Nächte des Jahres gewinnen, die Tage (360) und den periodisch eingeschobenen Schaltmonat (36) und die Stunden des Jahres (10800 = 360 mal 30119). Wer so verführe, gewinne die Stunden des Jahres, das Jahr (mit Nächten und Tagen) und werde nach seinem Tod unsterblich. Die nicht so verführen, würden sterben und wieder leben und „wieder und wieder“ (punahpunar) Speise des Todes. Diese letzte Aussage wäre der früheste Beleg (wohl nach 1000 v. Chr.) für die Vorstellung der Wiedergeburt, die für die Zukunft ‘hindugenes’ Denken prägen sollte (Hinduismus im weitesten Sinne, Buddhismus120).
b. Die Philosophie der Reinkarnation b. Die Philosophie der Reinkarnation
Die Träger philosophischen, upanischadischen (upa-nishad: geheime ‘Séance’) Spekulierens sind nun nicht mehr in erster Linie die Brahmanen (Priester), sondern die Kshatriyas (Kriegeradel, Fürsten, Könige). Im Zentrum des religiös-philosophischen Denkens der Upanischaden
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steht denn auch nicht mehr das Opfer und seine Ausdeutung (a. 2., Abs. 2), sondern der Mensch, vorzugsweise der Wissende der beiden höchsten Kasten, und sein Wesen (atma). Der Mensch (der Wissende) forscht nach seiner eigentlichen ‘Identität’, die das wandelbare Erscheinungsbild seiner Körperlichkeit überdauert. Auf dieser ‘Suche nach sich selbst’ mustert er nun verschiedene Machtphänomene, psychische Kräfte und Fähigkeiten, die er an sich selbst und anderen erfährt, auf ihre Tauglichkeit hin durch, dieses Selbst zu sein. Und er vergleicht diese Kräfte mit den göttlichen Kräften des Kosmos (devatah; wörtlich: Göttlichkeiten), d. h. den makrokosmischen Elementen (Luft, Wasser, Feuer). Zugleich setzt er das, was er dabei als sein eigentliches Selbst (atma) entdeckt zu haben glaubt, in Beziehung zur letzten und höchsten Urkraft hinter allen Erscheinungen, zum brahma, dessen Bedeutung sich schon vom magischen Opferspruch, den nur die ‘Brahmanen’ kannten, zum universalen ‘Zauberwort’ ausgeweitet hatte, das alles erschaffen hat und durchdringt. Damit hat der upanischadische Denker alle Einzelteile beisammen für seine grandiose Konstruktion der ‘Einheitslehre’ und für den Mechanismus von Wiedergeburt und Erlösung.
1. Das Alte Indien benannte Mächtigkeiten, Kräfte, die die (nach seinem Verständnis) psychischen Funktionen des Körpers regulieren: Redekraft (vac; lateinisch vox), Sehkraft (cakshus), Hörkraft (shrotra), Denkkraft (manas; lateinisch mens), Atemkraft (prana), welche letztere die Inder als Vitalkraft dem psychischen Bereich zurechnen (III. A. 2., Abs. 2). Die Upanischaden untersuchen nun in einem Gedankenexperiment, welche dieser Mächtigkeiten die wichtigste sei. Offenbar die, ohne welche die restlichen vier nicht funktionieren und der Körper nicht zu leben vermag. Dieses Gedankenexperiment ist als ‘Rangstreitfabel’ in mehreren Fassungen überliefert, wovon hier eine aus der Chandogya-Upanishad zugrunde gelegt ist: Einst gerieten die fünf Kräfte miteinander in Streit, wer unter ihnen am größten sei. Ihr Vater, Prajapati (a. 2., Abs. 2), von ihnen als Schiedsrichter eingesetzt, schlägt ein Experiment vor. Sie sollen einzeln aus dem Körper des
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Menschen ausziehen; und am größten solle die Lebenskraft sein, bei deren Auszug die übrigen und der Körper sich am übelsten befinden. Nun ziehen nacheinander für eine bestimmte Zeit Rede, Sehen, Hören, Denken aus. Der Mensch mit den jeweils zurückgebliebenen Lebenskräften wird in der Folge stumm, blind, taub, blöd – aber er lebt weiter. Nun zieht der Atem aus. Da werden die übrigen Lebenskräfte auch mitgerissen, so, wie wenn ein edles Pferd beim Durchgehen die Pflöcke, an die es gekoppelt war, mit sich fortschleift. Jetzt erkennen die übrigen Lebenskräfte den Atem (prana) als Größten unter ihnen an und heißen fortan nach ihm ‘Lebenshauche’ (pranah; wörtlich: ‘die Atem’). Auch beim Sterben konnte man beobachten, wie mit dem Atem auch alle anderen Lebenshauche (Reden, Sehen, Hören, Denken) aus dem Leib abgehen. Dem stand allerdings eine andere Beobachtung entgegen, dass nämlich der tote Leib sich aufbläht. Daraus konnte man auch schließen, dass die Lebenshauche vorerst im toten Körper bleiben, später sich in ihre makrokosmischen Entsprechungen auflösen (die Rede ins Feuer, das Sehen in die Sonne121, das Hören in die Himmelsrichtungen, das Denken in den Mond122, der Atem in den Wind). Jedenfalls: Da sich die Lebenshauche nach dem Tod des Menschen früher oder später in alle Richtungen hin zerstreuen und auflösen, können sie nicht das eigentliche unzerstörbare Selbst, der atma des Menschen, sein. Damit ist nicht nur die Rangfolge der Lebenshauche geklärt, sondern auch der psychologische Dualismus zwischen ihnen und dem Selbst, zwischen bloß psychischen Funktionen (‘psychischem Organismus’) des Körpers und der Seele als einer von ihnen (und ihm) gesonderten Entität zementiert.
2. Nun der Unterschied zwischen seelischem Selbst und psychischem Organismus feststand, konnten die upanischadischen Denker darangehen, mehr über die ‘substantielle’ Beschaffenheit des atma zu erfahren. Sie verfahren so, dass sie ihn mit den makrokosmischen Elementen (den devatah) vergleichen: mit dem Wasser und mit dem Feuer.123 Auch Denk- und Redekraft sind ja schon mit diesen beiden Elementen in Zu-
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sammenhang gebracht worden (s. o.). Sie kommen dem ‘inneren Zustand’ des atma am nächsten (der ‘reines Erkennen’, ‘Erkennen ohne ein Erkanntes’ ist124). Das ist ja das ganze Elend des Unwissenden, dass er psychischen Organismus mit Atma verwechselt und so in immer neue Wiedergeburt ‘hineinschlittert‘! Doch davon später. Dass die Seele wasser- oder feuerartig sei, entspricht einer Grunderfahrung des Menschen. Dichter haben sie geteilt und ausgedrückt. Zum Beispiel Goethe: „Des Menschen Seele Gleicht dem Wasser: Vom Himmel kommt es, Zum Himmel steigt es. Und wieder nieder Zur Erde muss es, Ewig wechselnd.“ Oder Nietzsche: „Ja! Ich weiß, woher ich stamme! Ungesättigt gleich der Flamme Glühe und verzehr ich mich. Licht wird alles, was ich fasse, Kohle alles, was ich lasse: Flamme bin ich sicherlich!“ Eine sehr altertümliche Geheimlehre, in der Kaushitaki-Upansihad tradiert, gibt Auskunft über das Schicksal der Seele nach dem Tode, auch über deren elementare Beschaffenheit. Sie ist offensichtlich wasserartiger Natur: Wer stirbt, geht zum Mond. „Durch deren Seelen schwillt er in der ersten Monatshälfte an, und durch die zweite Monatshälfte lässt er sie (wieder) geboren werden.“ Der Mond ist das Tor zur Himmelswelt. „Wer ihm antwortet, den lässt er an sich vorbei.“ „Wer ihm nicht antwortet, den regnet er hier (auf Erden), zu Regen geworden, herab. Er wird hier (auf Erden) als Wurm oder als Motte oder als Vogel oder als Tiger oder als Löwe oder als Fisch oder als Nashorn oder als Mensch oder als anderer an den entsprechenden Stellen
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wiedergeboren, je nach seinen Handlungen, je nach seinem Wissen (yatha-karma yatha-vidyam).“ Was fragt der Mond den Ankömmling? Er fragt: „Wer bist du?“ Man soll antworten: „Ich bin du.“ „Den lässt er an sich vorbei.“ So weit (teilweise wörtlich, teilweise gekürzt) unsere Geheimlehre, die sog. Wasserlehre. Die Seelen der Verstorbenen fahren vom Leichenbrand als feuchter Rauch zum Mond; denn der Mond gilt als allgemeiner Aufenthaltsort der Toten, als Seelenbehälter und als himmlisches Wasserreservoir, aus dem Tau und Regen herstammen. Zugleich gilt er als Pforte zur Himmelswelt, die sich periodisch öffnet und schließt. Wer zu Lebzeiten den (hier verkürzt) vorgeführten Text gehört und memoriert hatte, der wusste, dass sein Selbst göttlicher Natur, dem Mond wesensverwandt, mit ihm identisch sei. Dies ist denn auch der Sinn der mystischen ‘Passworte’, durch die das Selbst sich dem Mond als seinesgleichen zu erkennen gibt und die ihm Einlass in die Himmelswelt verschaffen, wo es ewig bleibt. Das ist der eine Weg. Alle, die sich das erlösende Wissen nicht erwerben konnten, deren Seelen verweilen zunächst als wässrige Substanz auf dem Mond. Hat der sich durch den Andrang vieler solcher Seelen bis zum Überlaufen gefüllt (Vollmond), dann ergießt er seinen wässrigen Seeleninhalt als Regen auf die Erde, bis er leer wird (Neumond) und aufnahmebereit für neuen Seelennachschub. Vom Regen gelangen die ausgegossenen Seelen als Saft in die Pflanzen und über die Nahrungskette in Tiere und Menschen und durch deren Samenflüssigkeit in einen neuen Mutterschoß. Und es sind die Handlungen (das karma) und der Grad des Wissens (vidya) im früheren Leben, die die Art der neuen Einkörperung determinieren. Und zwar so: Besaß der Mensch nicht genügend Wissen, also keine Möglichkeit zur Aneignung der Geheimlehre über Wesen und Weg der Seelen, dann wurde seine Seele nach dem Tod je nach seinen Werken wieder eingekörpert. Das ist der andere Weg. Er war normalerweise den Angehörigen der Unterschicht (den Vaishyas: Bauern, Handwerkern; auf jeden Fall den Shudras: Dienern) vorbestimmt, denen der Zugang zu den heiligen Texten, und damit zu ‘esoterischem’ Wissen, per se verschlossen blieb. Sie mochten immerhin darauf hoffen, dass ihre Seele aufgrund guter Handlungen in einen Menschen höherer Kastenzugehörigkeit transmigrieren werde. Für einen solchen aber war es möglich, durch Erlangung besagten Wissens
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den Seelenkreislauf aufzuhalten und seinem Selbst den Eingang in die himmlische Welt zu erwirken. Es gibt nach der Wasserlehre als zwei Seelenwege: den Weg über den Mond als Seelenpforte in die himmlische Welt kraft esoterischen Wissens und den Weg über den Mond als Wasserbehälter und Seelenauffangbecken zu neuer Einkörperung zurück auf die Erde durch das Werk. Die beiden Wege zeigen, dass dem Inder Wissen noch höher steht als moralisches Handeln, ganz im Gegensatz zur Prädominanz des Moralischen im (iranisch bestimmten) jüdisch-christlich-islamischen Kulturbereich (A.–C.).
3. Die Wasserlehre hinterließ gewisse Unstimmigkeiten, was die ElementNatur des atma betrifft. Für den Weg der Seele via Mond zurück auf die Erde zu neuer Einkörperung war eine wässrige Natur der Seele plausibel zu machen. Für den Weg der Seele via Mond als Himmelspforte ins himmlische, strahlende Lichtreich würde sich eher der Gedanke an eine feurige Beschaffenheit der Seele anbieten. Diese Unbestimmtheit hat die Feuerlehre beseitigt. Das Feuer, personifiziert als Feuergott Agni, offenbart dem Menschen des Alten Indien (und nicht nur ihm) viele Aspekte. Einmal war Agni das Herdfeuer in jedem Haus und das Opferfeuer. Im Luftraum war der Blitz, am Himmel die Sonne seine Erscheinungsform; die Sonne wiederum galt (neben dem Mond) als Himmelstor. Feuer brannte aber auch in allen Menschen: Bei der Berührung der Haut spürte man seine Wärme, der Atem und der Hauch der Rede (1.: Lebenshauch vac) verrät innere Glut; hielt man sich die Ohren zu, hörte man Prasseln wie von Feuer. Verfiel der Kranke in Fieber, so gingen alle Lebenshauche (außer dem Atem) in diese Glut ein: Der ohnmächtig Fiebernde redet, sieht, hört, denkt nicht mehr, atmet nur noch; ging auch der fiebrig heiße Atem in die Glut ein, so starb der Mensch. Und da der Leichnam erkaltete, musste die Glut ausgezogen sein. Solche Erwägungen legten es nahe, dem atma Feuernatur zuzuschreiben. Sie legte auch eine Verknüpfung mikrokosmischen Feuers mit seiner makrokosmischen Erscheinungsform nahe. Die Feuerlehre ist in zwei parallelen Fassungen überliefert und gibt sich als Kshatriya-
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Wissen, d. h. als Lehre eines Königs an einen Brahmanen. Wir resümieren hier die Version der Chandogya-Upanishad und ergänzen aus der Brihadaranyaka-Up.125 „Der ganze Welt- und Lebensprozess ist ein Opferfeuer. Ins Opferfeuer des Himmels gießen die Götter den als wässrige Seelensubstanz gedachten Glauben des Verstorbenen (sein Verdienst, das er durch seine Handlungen erlangt hat und das von ihm nach seinem Tod weiterlebt) als Gussspende. Daraus entsteht als wässrige Seelenflüssigkeit auf dem Mond, der auch als Trinkbecher der Götter gilt, Soma (a. 1., Abs. 3). Ins Opferfeuer des Gewitters (Luftraum) gießen die Götter den Soma aus dem Mondbecher als Opferspende. Daraus entsteht der Regen. Ins Opferfeuer der Erde gießen die Götter den Regen als Gussspende. Daraus entstehen die saftreichen Pflanzen als Speise. Ins Opferfeuer des Mannes opfern die Götter die Speise als Opferspende: Seine Rede ist das Brennholz, der Atem der Rauch, die Zunge die Flamme. Daraus entsteht die Samenflüssigkeit. Ins Opferfeuer der Frau lassen die Götter den Samen des Mannes als Gussspende fließen: Der Schoß ist das Brennholz, die aufreizenden Liebesworte der Rauch, die Vulva das Feuer. Daraus entsteht ein (neuer) Mensch. Und wenn der gestorben ist, opfern sie ihn ins Opferfeuer des Leichenbrandes (ins Feuer, aus dem er entstanden ist). Daraus entsteht wieder jene wässrige Seelensubstanz, der Glaube, dessen Beschaffenheit seine Handlungen im vergangenen Leben speichert und die Art der neuen Wiedereinkörperung präformiert. Wer so weiß (2.) und wessen Glaube die Askese (tapas; wörtlich: Hitze, magische Energie) im Wald (vgl. II. C. 2.: Eremit) ist, der gelangt aus der Flamme des Leichenbrandes über den Tag, die Zeit des zunehmenden Mondes und des größeren Sonnenbogens (Sommerhalbjahr), die Sonne, den Blitz zum brahma (vor 1.), von wo er nicht wiederkehrt. Das ist der Götterweg (deva-yana). Dann, wessen Gabe Opfer und Pflichterfüllung (ishta-purta) im Dorf (vgl. II. B. a. 1.) ist, der gelangt aus dem (feuchten) Rauch des Leichenbrandes über die Nacht, die Zeit des abnehmenden Mondes und des kleineren
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Sonnenbogens (Winterhalbjahr), den Mond, den Regen in Pflanzen und über die Nahrung, den Samen in einen (neuen) Mutterschoß. Wobei der mit erfreulichem Lebenswandel in einen Brahmanen-, Kshatriya- oder Vaishya-Mutterschoß gelangen mag; der mit ‘stinkendem’ Lebenswandel in einen ‘stinkenden’ Mutterschoß, einen Hunde-, Schweine- oder Unberührbarenmutterschoß. Das ist der ‘Väterweg’ (pitri-yana). Die weder den ersten noch den zweiten Weg kennen, die werden zu jenen kleinen immer wiederkehrenden Wesen mit Namen ‘Werde! Stirb!’ (Kriechtiere, Insekten usw.).“ Damit endet der Textabschnitt. Die Feuerlehre lehrt also drei Wege: Erstens den Väterweg, nämlich den Weg der Werke, für diejenigen, die in der Gemeinschaft (‘im Dorf ’) ihre religiösen und sozialen Pflichten erfüllen. Er führt zu neuer Geburt, die dem Werk entspricht. Die Beschreibung dieser Lehre ist im Großen und Ganzen der Wasserlehre entliehen. Zweitens den Götterweg, nämlich den Weg des Wissens, für denjenigen, der die Lehre von den fünf Feuern (Himmel, Luftraum, Erde, Mann, Frau) und den drei Wegen kennt und der in esoterischer Isolation (‘im Wald’) Askese betreibt, magische Energie, Glut (tapas) in sich aufspeichert, die die Seele erhitzt und aus ihrer wässrigen Beschaffenheit in die feurige wandelt, so dass sie als Feuerseele den Weg in die himmlische Lichtwelt des brahma nehmen kann, den Weg ohne Wiederkehr. Dann den dritten Weg, nämlich den Weg für diejenigen, die weder den Weg des Wissens noch den der Werke beschreiten können, weil sie durch Kastenordnung vom Kult ausgeschlossen sind, und der zum dem werden lässt, „was da kreucht und fleugt und was da beißet“.
4. Die Lehre von den fünf Feuern und den drei Wegen war eine Art Kompromiss, darin bestehend, dem atma des Wissenden Feuernatur, dem des Handelnden Wassernatur zuzuerkennen. Dem widersprechen eigentlich die Beobachtungen am lebenden wie am toten Menschen
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(3.), welche aus der Körperwärme auf feurige Beschaffenheit des Selbst schließen ließen – unabhängig vom Erkenntnisstand (‘Erleuchtungszustand’) seines Trägers. Dieser Gedanke wurde weiterverfolgt. Die Feuer-, Lichtnatur des brahma war in der Wasser- und Feuerlehre unbestritten (Mond und Sonne galten als Zugangstore zur feurigen, strahlenden, himmlischen Lichtwelt). Akzeptierte man die feurige Beschaffenheit jedes Selbst aufgrund der Wärme in jedem Menschen, so musste gelten: „Was jenseits jenes Himmels als Licht leuchtet auf den Rücken von jedem, auf den Rücken von allem in diesen allerhöchsten Welten, das wahrlich ist das, was dies Licht innen im Menschen ist.“126 Damit war die Licht-, Feuernatur des brahma wie des atma und beider substantielle Identität ausgedrückt. Es fehlte eigentlich nur noch die ‘griffige’ Formel. Eine empirische (physikalisch-anatomische) Beobachtung hat sie geliefert: die Beobachtung der ‘Ähnlichkeit’ zwischen Sonne und Herzen. Die Sonne sendet ja feinste farbige Strahlen aus. Ebenso sendet das Herz nach allen Seiten hin seine farbigen Strahlen, die Adern, aus. Die feinsten Verzweigungen der Adern einerseits und die ‘Enden’ der Sonnenstrahlen andererseits dachte man sich (auf der Haut) ineinandermündend. Und da man den Sitz des feurigen Selbst, den atma, im Herzen (III. A. 3.) lokalisierte, so war dieses über die Sonne als Himmelstor mit dem göttlichen Licht nicht nur wesenseins, sondern auch unmittelbar verbunden. Das ergab die ‘Einheitsformel’: „Dieser atma (dieses Selbst) in meinem Herzen, kleiner als ein Senfkorn, ist größer als diese Welten, ist das brahma; zu diesem werde ich, von hier abgeschieden, werden.“127 Wer um die Identität seines Selbst (atma) mit der un- und überpersönlichen göttlichen Wirklichkeit, der höchsten kosmischen Kraft in allen und allem (brahma) weiß, für den gibt es keine Wiedergeburt mehr. Warum nicht? Wiedergeburt setzt Individualität voraus. Wessen Selbst aber als eins mit dem universellen Prinzip erkannt ist, ist in die Sphäre des Überindividuellen eingegangen und endgültig in ihm aufgegangen. Das Rad der Wiedergeburt steht still. Indem man atma und brahma als Feuer, Licht identifizierte, bestimmte man ihren ‘inneren Zustand’ (siehe 2.) als Erkenntnis (vijnana), die erleuchtet und erhellt, Licht ins Dunkel der Unkenntnis bringt. Was aber erkennt diese Erkenntnis? Sich selber. Wo aber die Subjekt-Objekt-Spaltung aufgehoben ist, ist auch Erkenntnis auf-
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gehoben. Wo aber keine Erkenntnis ist, ist Unbewusstheit. Mit diesem mystischen Paradox muss Indien leben. Wir auch. Dazu noch folgende Verse: „Wo ja gleichsam eine Zweiheit ist, … da erkennt einer den anderen. Wo aber für ihn das All zum Selbst alleine geworden ist, … wodurch sollte er da wen erkennen? … Den Erkenner, womit sollte er denn den erkennen?“128 „So wie einer, von einem lieben Weibe umarmt, nichts Äußeres weiß, nichts Inneres, ebenso weiß auch dieses Selbst im Leibe, von dem ‘Erkenntnis’-Selbst (prajna atma; wohl: das als Selbst erkannte brahma) umarmt, nichts Äußeres, nichts Inneres.“129 Fügen wir den Schluss von Wagners Tristan hinzu – „in des Weltatems wehendem All – ertrinken – versinken – unbewusst – höchste Lust“ –, dann ist der Bogen zu uns geschlagen, das Paradox auch nicht aus der Welt.
5. Erinnern wir uns: Bei den Lebenshauchen wurden zwei widersprüchliche Beobachtungen anlässlich des Todes eines Menschen gemacht (1.). Der Sterbende haucht seinen letzten Atem aus, die vier anderen Lebenshauche mit sich reißend, also sind sie aus dem Leib ausgezogen. Der tote Körper bläht sich auf, also bleibt der Atem, in den die übrigen Lebenshauche eingegangen sind, zumindest vorerst im Leichnam zurück. Die upanischadische Lehre vom feinstofflichen Leib nimmt diese Beobachtung auf und ist damit in der Lage, sich die Vorgänge zu erklären, die zu Wiederverkörperung oder Erlösung führen. Wenn der Mensch stirbt, dann zieht der atma, der im Herzen wohnt, aus dem Körper. Zusammen mit ihm ziehen die Lebenshauche aus. Dabei wird der atma „mit Erkenntnis behaftet“ (sa-vijana), denn zu den Lebenshauchen hinzu heften sich das zu Lebzeiten erworbene und das frühere (angeborene) Wissen (vidya und purva-prajna) und die vergangenen Handlungen (karma) an ihn.130 Das heißt: Wenn einer ohne Kenntnis der mystischen Einheitsformel (atma = brahma) stirbt, so wird der ausziehende atma von einem feinstofflichen Leib (linga; etwa: individuelles Kennzeichen) umhüllt, bestehend aus Lebenshauchen, erworbenem und angeborenem Wissen, Karma (Summe aller Handlungen). Dieser
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feinstoffliche Leib ist Träger der Individualität eines (menschlichen) Wesens zwischen zwei Einkörperungen und Vehikel des atma von einem gestorbenen, früheren zu einem neu gezeugten Leib. Er stellt einen mit Vitalimpulsen (Lebenshauche!) begabten Speicherorganismus dar, in den die gesamte Vorvergangenheit und Vergangenheit eines Wesens einprogrammiert ist, Prinzip der Individualität und Individuation. Als Speicher individueller Lebensdaten und des ‘karmischen Lebensprogramms’ besitzt er Erkenntnis (vijnana131).
Die upanischadische Geheimlehre kulminiert in der zusammenfassenden Aussage: „Genau diesen feinstofflichen Leib (linga) erreicht der (daran) Hängende (zusammen) mit seinem Handeln (karma), woran sein Denken (Lebenshauch manas) verhaftet ist. Nachdem er das Ende der Handlung erlangt hat, die immer er hier getan hat, kehrt er aus jener Welt in diese Welt zurück zu (neuer) Handlung … Dann vom Begierdelosen: Wer ohne Begierde (kama), wer frei von Begierde ist, wessen Begierde gestillt, wessen Begierde das Selbst (atma) ist, dessen Lebenshauche ziehen nicht (aus dem sterbenden Leib) aus. Er ist brahma und geht zum brahma.“132 Das heißt: Wer seinen Sinn nur auf die wechselvollen Erscheinungen dieser Welt richtet und sich darauf einlässt, den führt sein feinstofflicher Leib zu neuer Wiedergeburt entsprechend den schon beschriebenen ‘Mechanismen’. Zwischen Tod und neuerlicher irdischer Existenz scheint eine Phase jenseitiger Vergeltung eingeschoben – Ausgleich ‘alter’ Jenseitsvorstellungen (vgl. a. 2.) und ‘neuer’ Wiedergeburtslehre.
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Andererseits: Wer seinen Sinn nur noch auf das unwandelbare Selbst richtet, jede Begierde nach der veränderlichen Erscheinungswelt ablegend, weil er um die ‘substantielle’ Identität von atma und brahma weiß, dessen Lebenshauche ziehen nicht aus, wenn das Selbst den sterbenden Körper verlässt. Sie bleiben im Leichnam, mögen sich später wie dieser in die entsprechenden Elemente auflösen. Warum können sie sich nicht an das ausziehende Selbst anhängen? Der atma eines solchen Menschen hat ja als (durch den feinstofflichen Leib!) individuell bestimmte Größe zu existieren aufgehört, er ist im überindividuellen brahma aufgegangen. Damit existiert für die ausziehenden Lebenshauche auch kein ‘Substrat’ mehr, um das sie sich mit den übrigen Faktoren des feinstofflichen Leibes (angeborenes und erworbenes Wissen, Karma) als feine Hülle lagern und das sie in eine neue personale Existenz hineinziehen können. Damit ist die Kette der Einkörperungen abgerissen.
c. Das Samsara c. Das Samsara
1. Durch die Philosophie der Upanischaden wird der Reinkarnationsgedanke Gemeingut und Grundlage aller hindugenen Religiosität – wie verschieden sich die Systeme im Einzelnen auch darstellen (Vedanta, Tantrismus, Samkhya-Yoga, Jainismus; Buddhismus). Deshalb – und nur deshalb – unsere Ausführlichkeit. Nicht unmöglich übrigens, dass auch der Manichäismus und seine westeuropäische mittelalterliche Form, der Katharismus, in Indien Anleihen gemacht haben.133 Dass
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sich die östliche Wiedergeburtslehre in Moderne und Postmoderne steigender Beliebtheit erfreut, besonders in einer evolutionistisch ‘aufgemixten’ und für eventsüchtige Westler häppchengerecht servierten Form, wurde schon erwähnt (vor a.). Wir verbleiben im Rahmen unserer Beschreibung im genuin hindugenen Bereich. – Ob jemand zu einem bestimmten Zeitpunkt im Universum ein Gott, ein Mensch, ein Tier, eine Pflanze, ein Ahnengeist (pitar), ein Gnom, ein Dämon, ein Gespenst (preta), ein Höllenbewohner, ja, eine bewegliche oder unbewegliche Sache (Strauch, Berg) ist, wird determiniert durch sein Tun in vergangenen Daseinsformen im Kreislauf der Wiedergeburten (samsara: Zusammenlauf, Kreislauf) und ist die Frucht seines individuellen karma. Karma bedeutet: Tun, Tat, Folge einer Tat; Summe der Taten, die ein Individuum begeht; Gesetz von Tat und Ergehen, die Vergeltungskausalität. Jede moralisch bewertbare Handlung eines Wesens (karma) legt den Keim (bija) zu ihrer Frucht (phala): zu der ihr entsprechenden Vergeltung. Die Reifungszeit (vipaka) kann dabei sehr kurz sein, dann trifft die Vergeltung noch zu seinen Lebzeiten ein. Oder auch lang, dann wirkt sie erst in einer folgenden Existenz. Oder beides zugleich, dann erfolgt die Vergeltung ‘hier und dort’. Jedenfalls: Die Summe der Taten eines Individuums präformiert sein Ergehen in einer neuen Existenz. Und zwar zwiefach: Einmal bestimmt sie die neue Gattung (gati: Gang, Bewegung; Platz, den man durch die Bewegung erreicht), ob jemand als Gott, Mensch, Tier usw. wiedergeboren wird. Dann wirkt die gati der vorhergehenden Existenzweise auch insofern nach, als sie das Temperament in der neuen festlegt. Jemand war z. B. eine Gazelle. Aufgrund des friedlichen Wandels dieses Tieres wird er als Frau wiedergeboren. Die alte gati (Gazelle) zeigt ihre Wirkung aber noch daran, dass diese Frau friedlich, scheu, ‘fluchtbereit’ ist. Oder einer war ein Löwe und hat einst einen Menschen verschont. Dafür wird er als Mensch wiedergeboren, aber als Mensch wird ihm dann immer etwas Löwenhaft-Herrscherliches anhaften. Oder einer war ein gutmütiger, lenkbarer Elefant und wird deshalb als Mann wiedergeboren, aber er bleibt als Mensch ein unverbesserlicher ‘Elefant im Porzellanladen’. Menschen, deren Charakter Klarheit und Güte (Temperament sattva) ist, werden als Götter wiedergeboren; deren Charakter Erregbarkeit, Leidenschaft (Temperament rajas; eigentlich: Farbe)
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ist, als Menschen; deren Charakter Unempfindlichkeit, Dumpfheit (Temperament tamas; eigentlich: Finsternis; vgl. lateinisch tenebrae) ist, als Tiere.134 Besonders schlechte Menschen gelangen zuerst in eine unterirdische Hölle (naraka: Unterwelt), wo sie Pein erleiden müssen, bevor sie wiedergeboren werden. Für Gute kann die jenseitige Welt der ‘Väter’ eine Zwischenstation vor neuer Einkörperung sein. Für die meisten erfolgt die Wiedergeburt unmittelbar nach dem Tod ohne vorherigen jenseitigen Zwischenaufenthalt. Bestimmte Taten bedingen nicht nur eine neue Geburt, sondern verursachen eine ganze Kette genau bestimmter nächster Geburten. Besonders schlimm dran ist jemand, der als preta für Vergangenes und Begangenes büßen muss: als Hungergespenst, das keinen männlichen Nachkommen hat, der für es die Totenopfer darbringt (a. 1., Abs. 2 f.). Wenn es nicht einen barmherzigen und ‘kastenverträglichen’ Menschen findet, der die Totenrituale für es vollzieht – darüber existiert erbauliche Exempelliteratur –, kommt es aus dieser Daseinsform bis zum nächsten Weltuntergang nicht mehr heraus. Immer gilt: Jedes Wesen kann im Samsara bei entsprechendem Karma zu jedem Wesen werden – vom verworfensten Unterweltdämon zum bis zum höchsten Gott. Und sind Verdienst oder Strafe in einer Lebensform abgegolten, dann geht die Seelenwanderung weiter – nur Erlösung stoppt sie. Aber nicht einmal ein Weltuntergang kann sie endgültig aufhalten. Die zyklischen Weltschöpfungen und -untergänge könnten nur dann definitiv zur Ruhe kommen, wenn mit dem Ende einer Weltperiode auch die Früchte sämtlicher Taten aller Wesen gleichzeitig ausgereift und das gesamte Karma abgetragen wäre. Diese Gleichzeitigkeit kann bei der Verschiedenheit des individuellen Karmas nie auftreten. Es ist also letztlich das nie erledigte Karma, das das brahma ewig zu neuen Entfaltungen treibt.
2. Dem Menschen kommt unter allen Daseinsformen im Wesenskreislauf des Samsara eine besondere Stellung und Bedeutung zu. Denn nur innerhalb der gati ‘Mensch’ ist die Möglichkeit endlicher Befreiung vom Gesetz der ‘ewigen Wiederkehr’, ist totaler Ausstieg, ist Erlö-
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sung gegeben. Die Götter sind zu selig, als dass ihnen der Sinn nach Erlösung stünde; Höllenbewohner zu verworfen; Tiere, Pflanzen, Sachen überhaupt ohne Erlösungsbewusstsein. Die Menschen aber sind nie so selig in ihrer irdischen Verfassung, um nicht ihrer Erlösungsbedürftigkeit sich bewusst zu sein. Und unter den Menschen haben natürlich die Bewohner Indiens und unter diesen die Angehörigen der brahmanischen Priesterkaste die günstigsten spirituellen Voraussetzungen, Erlösung zu realisieren. Sind Himmelsbewohner auch zu selig für tätiges Mitleiden? Vipashcit, König von Videha (heute Bezirk im nordindischen Bundesstaat Bihar), hatte sich durch tadellose Regentschaft großes Verdienst erworben und zu Lebzeiten nur eine Sünde begangen: Er hatte seiner Gemahlin einmal während ihrer für Empfängnis besonders günstigen Tage (ritu) nicht beigewohnt, war also ein ‘Embryonenmörder’ geworden. Wegen dieses einen Vergehens sollte er kurz durch die Hölle geführt werden und dann nachher vor neuer Wiedergeburt ins Paradies zu himmlischen Freuden eingehen. Auf der höllischen ‘Stippvisite’ aber linderte der bloße Anblick des guten Königs auf wunderbare Weise die Qualen der Höllenbewohner. Daraufhin erklärte der König, in der Hölle bleiben zu wollen, um die Leidenden weiter erquicken zu können. Yama (a. 2., Abs. 1; hier als ‘Höllenfürst’) und Götterkönig Indra versuchten es ihm auszureden. Doch er bat, auf den Genuss seiner Verdienste im Himmel verzichten und sie den Hölleninsassen zugutehalten zu dürfen. Indra willigte schließlich in diese ‘Verdienstübertragung’ ein. Des Königs Verdienste waren so groß, dass sie allen derzeit einsitzenden Höllenbewohnern sofortigen Straferlass und vorzeitige Entlassung und Wiedergeburt erwirkten. Dem König aber wurde seine Barmherzigkeit noch zu seinen Verdiensten hinzugerechnet. Indra kutschierte ihn auf seinem Streitwagen höchstpersönlich ins himmlische Paradies zu langem Verweilen. Die Legende ist bemerkenswert, weil sie die Übertragbarkeit überschüssiger Verdienste, wenn auch als wunderbare Ausnahme, predigt, wodurch das eherne Gesetz des Karma durchbrochen, die Weltordnung (1.), letztlich das Fundament indischer Religiosität zerstört wird. Jeder Mensch ist hier durch sein eigenes und nur sein eigenes Karma unabänderlich determiniert. Das war es auch, was Gandhis Reserve gegenüber dem Christentum – bei aller Bewunderung – begründete: Christi
d. Die Kastenordnung und der soziale Tod
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Kreuzestod mochte er als Vorbild für andere, aber nicht als Sühnetat für andere gelten lassen. Der Buddhismus des Großen Fahrzeugs aber hat den Gedanken aufgegriffen (E. a. 2.). Über die Seidenstraße kam das ‘Große Fahrzeug’ auch mit christlichem Gedankengut in Kontakt – in seiner nestorianischen Form gelangte das Christentum bis nach China, wie die ‘Inschrift von Singanfu’ aus dem 8. Jh. beweist – und wohl auch mit volkstümlichem christlichen Legendenstoff vom Abstieg Christi zum Hades (B. 2.), z. B. folgenden Inhalts: „Er rettete Adam und seine Nachkommen. Er vergab ihre Sünden … und führte alle aus der Gefangenschaft zum Himmel.“135 Damit sind wir schon tief ins Gebiet des Buddhismus hineingeraten und wollen diesen Faden erst wieder aufnehmen, wenn die ‘Textur’ dazu stimmt.
d. Die Kastenordnung und der soziale Tod136 d. Die Kastenordnung und der soziale Tod
1. Die indische Verfassung von 1949 enthält in § 46 folgende ‘Soll-Bestimmung’: „Der Staat soll mit besonderer Sorgfalt sich der erzieherischen und wirtschaftlichen Belange der schwächeren Schichten der Bevölkerung annehmen, vornehmlich derjenigen der ‘Scheduled Castes’ (der Dalits, von Sanskrit dalita: ausgestoßen) und ‘Scheduled Tribes’ (adivasi: Ureinwohner), d. h. der zu besonderer Berücksichtigung ausgesonderten (unberührbaren) Kasten und (primitiven) Stämme, und sie gegen soziale Ungerechtigkeit und jede Form der Ausbeutung schützen.“137 Dass die Soll-Bestimmung an der Kastenordnung nicht rütteln wollte und konnte, zeigt die Tatsache, dass immer mehr Dalits dem Hinduismus des Rücken kehren und zu Religionen konvertieren, die keine Kastenordnung, deshalb auch keine Diskriminierung aufgrund bloßer Kastenzugehörigkeit, kennen (Christentum, Islam, Buddhismus). Das wiederum hat auf indischer Seite zur ‘Antikonversionsgesetzgebung’ geführt, welche „die Bekehrung zu einer anderen Religion unter Strafe stellt, wenn sie durch Bestechung oder mit Hilfe von Druckmitteln oder gar Gewaltmaßnahmen stattfindet“.138 Mit der Aufhebung der Kastenordnung würde tatsächlich das Fundament
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(dharma) der indischen Gesellschaft, das Hindutum (hindutva) zerstört (c. 2.). Die Kastenordnung zementiert die Undurchlässigkeit des Systems zwar für das Individuum einer lebenden Generation, aber nicht für die Seele im Kreislauf der Wiedereinkörperungen: Durch gutes karma ist ja die Möglichkeit des Aufstiegs in eine höhere Kaste, durch schlechtes die des Abstiegs in eine niedrigere gegeben. Also nicht durch ‘Gleichberechtigung’ nach westlichem Naturrecht, sondern durch eine Weltordnung, die mit einem ewigen und zyklischen Wesenskreislauf rechnet, gesteuert von einem moralischen Prinzip: dem Karma. Erlösung allerdings ist transmoralisch, jenseits der Kastenordnung, aber bedingt durch diese (b. 2.).
2. Danach ist am erstrebenswertesten eine Wiedergeburt in brahmanischer Kaste. Denn – wir erwähnten es schon (c. 2.) – bei den Angehörigen des Brahmanenstandes sind die Rahmenbedingungen für die Erlösung, den totalen Ausstieg aus dem Kreislauf der Geburten, am besten, da sie gewissermaßen professionell mit den Wegen spiritueller Erleuchtung befasst sind, nämlich Wissen durch Studium heiliger Texte und um meditative sowie asketische Praxis. Sie sind die eigentlichen ‘Götter in der Menschenwelt’. Und nun das pure Gegenteil: Jemand, der gegen die in seiner Kaste geltenden Ordnungen und Regeln verstößt, wird nach seinem Tod ein ruheloses Gespenst (preta), das sich von Abfällen ernähren muss (c. 1.), weil er am Ahnenopfer seiner Familie keinen Anteil hat – nur innerhalb der Kaste ist Speisegemeinschaft möglich (a. 1. bei u. mit N 116) – und deshalb auch nicht in die Welt der Väter eingehen kann. Ein solcher wird schon zu Lebzeiten aus seiner Kaste ausgestoßen (tyaga), was seinen ‘sozialen Tod’ bedeutet: Niemand darf mit ihm sprechen, neben ihm sitzen, in irgendeiner Weise mit ihm verkehren. Die Ausstoßungszeremonie (ghatasphota: Topfzerbrechen) ist dem Begräbnisritual angeglichen, bei dem Erben einen Topf zertrümmern (vgl. III. B. 2.: ‘verkehrte Welt’), um den Ausgestoßenen als Toten schon zu Lebzeiten zu ‘outen’.
e. Rückschau und Vorschau
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3. Neben den Menschen, die einer Kaste angehören oder aus ihr ausgestoßen wurden, gibt es auch Kastenlose von Geburt: Outcasts, ‘Unberührbare’, die als so unrein gelten, dass man sie nicht berühren darf. Zuallerunterst auf der Stufe der Unberührbaren, der Dalits oder Scheduled Castes, „der zu besonderer Berücksichtigung ausgesonderten Kasten“ (wie die Verfassung euphemistisch daherlügt), steht der Feger oder Unratreiniger (persisch Mihtar: Oberer, Anführer – ein Tabu-Name also). Die Feger stammen von den Candalah ab, die der Legende nach Produkt einer Verbindung von Brahmanenfrau und Shudra-Mann sein sollen (shudra: Diener, Angehöriger der vierten, untersten Kaste), also Resultat der verpönten ‘Kastenmischung’. Die Candalah mussten früher außerhalb der Städte hausen (II. C. 3.), Leichentücher als Gewandung tragen und aus zerbrochenen Gefäßen essen.
e. Rückschau und Vorschau e. Rückschau und Vorschau
Es mag Lesende konsternieren, dass in diesem Abschnitt so viel über das Leben zu lesen war, relativ wenig über den Tod. Sie seien daran erinnert, dass sowohl in gelebter wie in verordneter Religion das Leben durch Regeln, Rituale, Ideologie und Praxis weit in den Bereich des Todes hineingreift wie umgekehrt der Tod weit in den des Lebens. Dass Tod durch das Leben definiert wird, wo biologische Fakten zwar nicht zu übersehen sind, aber nicht die Hauptrolle spielen. Dass – und jetzt reden wir von Indien – nicht der Tod „als letzter Feind“ (B. 4.) gefürchtet ist, sondern das Leben in einer neuen Existenzform. Wer z. B. Honig gestohlen hat und mit der Aussicht, eine Stechfliege zu werden, stirbt139, den schreckt nicht der Tod als solcher, sondern die religiös angedrohte Wiedergeburt. Religiösen Systemen, in deren Fundament der Wiedergeburtsglaube rangiert, steht das Horrorszenario einer unendlichen Kette von Lebensformen vor Augen, nicht das Intermezzo des Todes (vor a.). Da Wiedergeburt und Erlösung im Buddhismus den gleichen Stellenwert besetzen wie im Hinduismus,
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V. Die Elitereligionen
könne wir uns im folgenden Abschnitt zu diesem Thema kürzer fassen und uns eher auf ‘Extravaganzen’ kaprizieren.
E. Buddhismus140 E. Buddhismus140
a. Der Mensch – das ‘seelenlose’ Wesen a. Der Mensch – das ‘seelenlose’ Wesen
1. Braucht der Mensch zur Wiedergeburt eine ‘Seele’? Nein. Braucht der Mensch zum Ausstieg aus dem Wiedergeburtskreislauf eine ‘Seele’? Nein. Für den Buddhismus ist der Mensch ‘seelenlos’ (an-atta = anatma: ohne atma). Für Menschsein, Personsein (pudgala: Person, Ich) genügt es, dass aus der Unzahl von vergänglichen Daseinsfaktoren (dharmah; hier etwa: was zusammenhält) sich einige temporär verbinden: die dharmah, welche die Körperlichkeit ausmachen, die dharmah der Empfindung (durch Berührung von Körperlichem), die dharmah der Gestaltwahrnehmung und Vorstellung (Resultat einer Summe von Empfindungen), die dharmah der Triebkräfte und Willensregungen (verursacht durch Gestaltwahrnehmung und Vorstellung), schließlich die dharmah des Bewusstseins (Ich-Bewusstsein = Ergebnis von Körperlichkeit, Empfindung, Wahrnehmung, Vorstellung, Trieb- und Willensregungen). Was aber bindet diese fünf Gruppen von Daseinsfaktoren zum Komplex ‘Person’ mit Bewusstsein eines individuellen ‘Ich’ zusammen? Es ist die Begierde, die Lebensgier, der ‘Durst’ (trishna). Durch Kontakt von Körperlichkeit mit Körperlichkeit entsteht Empfindung: angenehme und unangenehme. Und hier setzt der ‘Durst’ ein: das Bestreben, unangenehme Empfindungen zu meiden, angenehme sich wiederholen, steigern, verlängern zu lassen. Verschiedene Empfindungen setzen sich zu Gestaltwahrnehmung und Vorstellung zusammen, nämlich Wahrnehmung und Vorstellung von Unangenehmem und von angenehmen Dingen. Diese Wahrnehmungen und Vorstellungen lösen (unbewusste) Triebkräfte und (bewusste) Willensregungen aus, nämlich nach Ausschaltung von Unangenehmem und nach Ge-
a. Der Mensch – das ‘seelenlose’ Wesen
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nuss von Lust und Besitz von Angenehmem. Meiden von Unangenehmem und Unlust, Streben nach Lust und Besitz von Angenehmem ‘benötigen’ Bewusstheit, Ich-Bewusstsein, ein personales Zentrum, von dem sie ausgehen und auf das sie sich richten (‘ich’ will nicht, ‘ich’ will, ‘ich’ genieße, ‘ich’ besitze). Dieses Zentrum, vijnana, aber will nicht untergehen, will mehr Lust erleben, will Dauer. Denn „alle Lust will Ewigkeit – will tiefe, tiefe Ewigkeit“, wie Nietzsche im ‘Nachtwandler-Lied’ seines Zarathustra sagt – zu Recht bei der Masse von Unlust, die das ‘Ich’ im Verlauf des Daseins erfahren muss. Wenn die fünf Gruppen von Daseinsfaktoren mit und nach dem Tod des Individuums auseinanderfallen, verbindet sich die fünfte (das vijnana), die durch ihre Bewusstheit die Engramme der vier übrigen ‘gespeichert’ hat und deshalb nach Dauer dürstet, mit vier neuen Gruppen zu einer neuen Fünfheit, einer neuen Persönlichkeit (mit der karmischen ‘Altlast’ der vorhergehenden). Das vijnana übernimmt hier für das Zustandekommen der Wiedergeburt die Funktion eines feinstofflichen Körpers, der ja nach upanischadischer Lehre „mit vijnana begabt“ (sa-vijnana) ist (D. b. 5. mit N 131). Jedenfalls – da das Leben Leiden ist, so der Kernsatz der Benares-Predigt des Buddha (des ‘Erleuchteten’), setzt sich auch das Bestreben zur Vermeidung von Leid und Erlangen von Lust fort. Und damit die fortlaufende Kette von Tod und Wiedergeburt. Erlösung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten wäre nur durch Auslöschung der Lebensgier, des ‘Durstes’, zu erreichen. Denn der ‘Durst’ ist es ja, der die fünf zusammenhängenden Gruppen, die ‘Person’, zusammenhält. Wird der Durst ausgelöscht, so findet nirvana statt: ‘Auslöschen’, ‘Erlöschen’ der Person für immer. Die Lehre des Buddha macht sich anheischig, den Weg zum Auslöschen des Lebensdurstes zu weisen: einen ‘mittleren Weg’ zwischen ruinöser Askese und hemmungslosem Lebensgenuss, die beide nur Leiden erbringen. Damit gibt es eben noch eine weitere Ursache für den Zusammenhalt der fünf Gruppen von Daseinsfaktoren: die Unkenntnis der Lehre. So tritt neben den ‘Durst’ (trishna) das Nicht-Wissen (a-vidya). Nichtwissen und Begierde waren auch in den Upanischaden die zwei Ursachen für die Verstrickung in den Wesenskreislauf: Frei wird der Wissende, der „ohne Begierde“ (ohne kama) ist (D. b. 5.). So zeigt sich der Buddhismus upanischadischem Denken verhaftet, auch wo er bewusst andere Wege geht als es.
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Für den buddhistischen Erlösungsweg spielen z. B. die Kasten keine Rolle. Als äußeres Zeichen markiert die orangegelbe Kutte des Mönchs – Gewandung des zum Tode Verurteilten – die ‘Hauslosigkeit’, den sozialen Tod ihrer Träger (vgl. D. d.).
2. An mystische Paradoxe schon durch die Upanischaden gewöhnt (höchste Bewusstheit – Unbewusstheit als Erlösungszustand des mit dem brahma identischen atma: D. b. 4., Abs. 2), werden wir auch die Beschreibung des nirvana verkraften: ‘Bereich’ (ayatana) der Erlösung, die ohne Annahme einer ‘Seele’ (atma) auskommt. Es spricht der Buddha: „Es gibt, ihr Jünger, jenes Reich (ayatana), wo weder Erde, noch Wasser, noch Feuer, noch Luft, … nicht die Sphäre des Nichts …, nicht die Sphäre jenseits von Bewusst und Unbewusst, wo nicht diese Welt und nicht jene Welt, wo weder Sonne noch Mond ist; dort, so sage ich euch, ist kein Hingehen, kein Fortgehen und kein Verweilen, kein Austritt und kein Wiedereintritt, keine Grundlage, keine Fortentwicklung, keine Stütze: Das ist das Ende des Leidens.“141 Es bleibt die fatale Unstimmigkeit, die es den Hindu-Theologen leicht machte, den Buddhismus aus seinem Stammgebiet Indien zu exilieren: Wenn es am vijnana liegt, durch Wissen (Lehre) und Verneinung der Triebstruktur (durch die Lehre) die Daseinsfaktoren auszuschalten, sind sie dann keine objektiven Wirklichkeiten, sondern nur Projektionen des Bewusstseins?142 Wenn es nur an der verschiedenen Einstellung des Bewusstseins hängt, sind dann Alltagswelt und nirvana nicht wesensmäßig, nur ‘perspektivisch’ verschieden?143 – Der Buddhismus hat im Verlauf seiner Entwicklung nicht nur Hindu-Mythologie integriert (Plastik: N 146), sondern während seiner Geschichte und Ausbreitung immer mehr (lokales) Brauchtum und indigene Religiosität mitgenommen, darunter natürlich auch totenkultische Vorstellungen
b. Schamanistische Sterbebegleitung und Reise ins “Zwischenreich” 107
und Rituale.144 Und hierher gehört auch der Glaube an die Herabstiege der Bodhisattvas und ihr stellvertretendes Leiden für andere aufgrund der Übertragbarkeit überschüssiger Verdienste, möglicherweise beeinflusst von christlichem Gedankengut (stellvertretendes Leiden Christi, Höllenfahrt: D. c. 2.) in nestorianischem Gewand. Ein bodhi-sattva (dessen Wesen Erleuchtung ist) bezeichnet im Buddhismus des ‘Großen Fahrzeugs’ (maha-yana) ein Wesen, das die höchste Stufe der Erleuchtung erlangt hat145, darin bestehend, dass seine ‘Ich-Illusion’ so gering ist, dass es zwischen sich und anderen keinen Unterschied machen kann. In ihrer Barmherzigkeit verzichten die Bodhisattvas, deren es unzählige gibt, für Hilfeflehende auf ihren ‘Schatz an guten Werken’ um ihnen zu helfen, und steigen für sie sogar in die tiefste Hölle146 hinab.
b. Schamanistische Sterbebegleitung und Reise ins “Zwischenreich” b. Schamanistische Sterbebegleitung und Reise ins “Zwischenreich”
In schamanistischen Kulturen Sibiriens, des Himalaya-Gebiets, Zentral- und Südostasiens ist es der Schamane, der als ‘Ortskundiger’ die Seele des Verstorbenen sicher ins Jenseits geleitet (III. B. 3., Abs. 1). Das Tibetische Totenbuch148, Bardo Tödol (Bar-do Thos grol: „die große Erlösung durch Hören über Zwischenzustände“), stellt nichts anderes vor als die ‘buddhisierte’ Form dieser schamanistischen Praxis. Es geht darum, das vijnana eines Sterbenden und Gestorbenen, das im Begriff steht, sich von seinem toten Körper zu lösen und in einen anderen einzugehen (d. h. entsprechend seinem karmischen inneren Zustand sich mit vier neuen Gruppen von Daseinsfaktoren zu einer neuen Person zu verbinden), durch drei ‘Zwischenzustände’ (bar-do), das ‘Zwischenreich’ zwischen zwei Lebensformen, zur Erlösung oder mindestens in eine für künftige Erlösung günstige Wiedergeburt zu führen. Der Sterbende oder klinisch Tote soll dem Vorleser – am besten ein Lama und Guru des Moribunden – gegenüber aufrecht hingesetzt und so mit der Belehrung ‘konfrontiert’ werden. Das nach dem Aufhören der Atmung aufscheinende Licht soll als die wahre Natur der Dinge, nämlich ‘Leerheit’ (shunyata), aufgefasst werden. Ist das vijnana dazu imstande, ist es endgültig erlöst. Wenn nicht, erlebt es nun friedvolle und zornige Gott-
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heiten und Zustände. Erkennt das Bewusstsein sie als eigene Projektionen (a. 2. bei u. mit N 142), wird es erlöst. Wenn nicht, ersteht vor ihm der Totenrichter Yama. Folgt das Bewusstsein den Anweisungen des Totenbuches und seines Vorlesers, erkennt er auch das Totengericht als Projektion, die ihn in eine karmische Wiedergeburt zwingen will, dann wird er direkt erlöst. Wenn nicht, bleibt dem Bewusstsein nur noch übrig, mit einem neuen Leib verbunden zu werden. Es sieht männliche und weibliche Wesen in sexueller Vereinigung. Widersteht es dem Drang, sogleich in einen Mutterschoß einzugehen, nicht als Himmelsbewohner, Tier, Hungergespenst (preta), Höllengeist, sondern als Mensch wiedergeboren zu werden, am besten an einem Ort, wo Buddhas Lehre herrscht – dann ist nicht auszuschließen, „dass er mit einem Lama zusammentrifft, mit einem Guru, und dieser Lama wird ihn wiederum darin unterweisen, was er tun muss, um die Erlösung zu erlangen“149.
c. Ritueller Selbstmord c. Ritueller Selbstmord
1. Selbstmord meint (bewusste) aktive Selbst-Tötung. Aber die Grenzen sind offen in Richtung auf aktives Herbeiführen einer Situation, in der der Tod unausweichlich ist: z. B. ruinöse Askese150 oder die ‘Große Reise’ im klassischen Aufriss eines Hindu-Lebens (II. C. 2.). Sogar in Richtung auf passives, aber gewolltes Erdulden von Tod: z. B. das christliche Martyrium151. Die volkstümliche Einstellung zum Selbstmord variiert beträchtlich (II. B. c. 2., Abs. 1). Für verordnete monotheistische Religionen lässt sich feststellen: Der Selbstmord wird verboten, verpönt, beargwöhnt. Im Christentum galt Selbstmord (aber nicht Martyrium) als Mord (Ex 20,13: Tötungs-, besser Mordverbot) und unterlag dem Begräbnisverbot, wobei die Kirche hier Ausnahmen tolerierte, wenn „der Verstorbene kurz vor dem Freitod die Sakramente empfangen hatte“ oder wenn „die Betroffenen zu Lebzeiten an kirchlichen Riten teilgenommen“ oder „in verwirrtem Zustand Hand an sich gelegt hatten“. Und oft war hier die ‘gelebte Religion’ intoleranter.152 Heute ist ein
c. Ritueller Selbstmord
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theologisch begründetes Recht auf direkte und indirekte Sterbehilfe schwer zu trennen von einem Recht auf selbst-bestimmten Tod.153 Im Islam steht Sure 3,145 („keiner kann sterben, außer mit Gottes Erlaubnis“) für Verbot von Selbstmord; dagegen berufen sich Selbstmordattentäter auf Sure 47,4 ff. (C. 2., Abs. 3). Das Judentum verbietet Selbstmord mit Hinweis auf Gen 9,5 (eigenes vergossenes Blut ist rechenschaftspflichtig), lässt aber private Trauer um Selbstmörder zu154; doch käme es keinem Israeli in den Sinn, die jüdische Besatzung der Festung Masada zu verurteilen, die sich umbrachte, um nicht in Römerhand zu fallen. Für hindugene Religiosität gilt zunächst einmal der Grundsatz der Nichtschädigung (ahimsa) von Lebewesen, der Selbsttötung karmischer Wiedervergeltung durch Wiedergeburt unterstellt. Die obigen ‘Unschärfen’ bleiben natürlich; auch die indische Witwenverbrennung (D. a. 1., Abs. 2) gehört hierher (aber ist diese wirklich Selbstmord und nicht eher Mord?). Im Jainismus schließen sich freiwilliges Verhungern als Mittel zur Erlangung endgültiger Erlösung (kaivalya: Isolation) und strengster Gewaltverzicht (ahimsa) nicht aus. Und wie verhält es sich im Buddhismus?155
2. Die Selbstverbrennung buddhistischer Mönche rückte das Thema während des Vietnam-Krieges in den Horizont weltweiter Öffentlichkeit. Wir können diese Form religiösen Selbstmordes als Martyrium (im Wortsinn) abbuchen, allerdings nicht als passiv gewolltes, sondern aktiv gewolltes ‘Zeugnis’ gegen eine buddhismusfeindliche Politik eines bestimmten Regimes. Diese politisch motivierten Selbstmorde beantworten aber unsere Frage nicht: Wie kommt es, dass im Buddhismus mit seinem strikten Verbot, Leben zu vernichten, eine Praxis einreißt, die dem widerspricht und den ‘mittleren Weg’ verlassen hat? Man könnte es sich einfach machen und feststellen: durch eine Vertauschung der Positionen von Erlösung zu Lebzeiten und danach noch auf sein Ende im Tod zulaufendem biologischen Leben (sanskrit vega: ‘Lebensschwung’). Dieses Ausschwingen nach der Erlösung zu Lebzeiten (D. vor a.) wird zum Weg für Erlösung mit dem und durch den Tod.
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V. Die Elitereligionen
Das klingt plausibel als ‘phänomenologisches Datum’, dem man noch hinzufügen könnte, dass ritueller Selbstmord als Erlösungsweg erst im Buddhismus des ‘Großen Fahrzeugs’, mit seinem Ausgreifen in den ostasiatischen Raum (China, Japan), den großen Auftritt feiert. Uns interessieren mehr als die schiere Tatsache die religiösen Motive. Einige nennen wir im Bewusstsein, nicht das ganze Spektrum vorgeführt zu haben. Psychologische Deutungen müssen wir uns versagen; ausschließen wollen wir egoistische Suizide und solche unter moralischem Druck einer Gemeinschaft (ähnlich der Witwenverbrennung im Hinduismus), mögen sie Hagiographen noch so religiös beweihräuchern. Warum aber sollte dieser illusionäre Körper (a. 2.), der ja nichts anderes ist als eine temporäre Kombination von flüchtigen Konstituenten (dharmah), am Leben erhalten werden? Warum sollte er, wenn seine Erhaltung nicht anzustreben ist, nicht im Tod noch anderen Wesen als Nahrung (Subsistenzgrundlage) dienen, etwa einem Tiger, Würmern, Insekten, ähnlich wie im indischen Jainismus156? Warum sollte ein Erleuchteter nach Art eines Boddhisattvas seinen Leib nicht als heilkräftige Reliquie (‘Leichen-Mana’: III. A. 2., Abs. 2) opfern, wenn Not es erforderte? Warum sollte man nicht aus Loyalität seinem Gefolgsherrn, Buddha, nach Art eines Samurai freiwillig in den Tod folgen (“Nachfolgeopfer”, dazu III. B. 3., Abs. 2: Totenfolge)? So hat der Buddhismus auf seinem ‘langen Marsch’ durch Asien nicht nur den ‘einheimischen’ Hinduismus und ‘fremde’ Elitereligiosität, sondern auch gelebte Religion mitgenommen und je auf seine Weise integriert. Das war ja auch nicht anders zu erwarten.
Anstelle eines Schlusswortes Anstelle eines Schlusswortes
An die Stelle eines Schlusswortes setze ich das Gedicht Frage und Antwort von Werner Bergengruen, Zeitgenosse zweier todbringender Weltkriege: „Der die Welt erfuhr, faltig und ergraut, Narb an Narbenspur auf gefurchter Haut, den die Not gehetzt, den der Dämon trieb – sage, was zuletzt dir verblieb.“ „Was aus Schmerzen kam, war Vorübergang. Und mein Ohr vernahm nichts als Lobgesang.“ Wer in dieses Lied einstimmen kann, wird das Leben – trotz allem – lieben. Wird er auch den Tod lieben können? …
Anmerkungen Anmerkungen
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Vgl. Thiel 1984, 91. Vgl. Rudy 1962, 203 f., 223 N 52. So der Titel eines Sammelbandes: Becker u. a. 1987. Vgl. Dinzelbacher 2003, 23 ff. Volksreligiosität und religiöses Brauchtum gehören beide zur religion vécue („gelebte Religion“) – im Gegensatz zur jeweiligen kanonisierten und etablierten „Elitereligion“ qua religion préscrite („verordnete Religion“). Religiöses Brauchtum unterscheidet sich dabei von Volksreligiosität darin, dass es diese tradiert und praktiziert, ohne darüber zu reflektieren. Eine Differenz, die wir getrost vernachlässigen können. Religiöser Evolutionismus bleibt hier „außen vor“. Auch moderne und ‘postmoderne’ Gesellschaften entwickeln neues Brauchtum, neue populäre Religiosität. Andererseits sind alle Elitereligionen (von denen hier die Rede sein wird) in vormoderner Zeit entstanden. Hinzu kommt, dass die Formen des Umgangs mit Tod und Jenseits äußerst konservativ und zählebig sind. Mehr dazu vgl. Hasenfratz 2004b, 25, 51 ff. Ovid, Fasti, 5,443: „Geht hinaus, Seelen der Väter!“ Thiel 1978, 45. Köbler 1992, 694. Der Willi-Stoff taucht auch als „Oper in 2 Akten“ auf: Puccini, Die Willis. Vgl. Beyer 2008, 142 f., 194. Flex 1921, 5. Der Rechtstext könnte auch so verstanden werden, dass man den abgeschlagenen Kopf zwischen die Füße legt. Diese Form der „umgekehrten Bestattung“ ist zur Verhinderung oder Bekämpfung gefährlicher Wiedergängerei häufig belegt. Schwierigkeit macht in unserm Fall der Strick (wo soll er haften?). Aber diese Schwierigkeit ist nicht unüberwindlich.
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Anmerkungen Vgl. Schreiber 1962, 263. Vgl. oben N 12. Loofs 1902, 298. Vgl. dazu Hasenfratz 1994b, 67. Siehe auch III. A. 2., Abs. 4. Vgl. Weissmann 2002, 163. So der Untertitel von Hasenfratz 1982b. In einem theologischen (Schuld, Sühne) und ethnologischen (traditionelle Gesellschaften im außereuropäischen Bereich) und kulturgeschichtlichen Kontext (Entwicklung der Todesstrafe, Verhältnis zwischen Toten und Lebenden) ist die Thematik immer noch lesenswert abgehandelt von Maag 1966. Vgl. Sprockhoff 1979, 395, auch 394, 417, 425. So der Titel von dems. (N 19). Bei Wagner – nicht so im Volkslied in Des Knaben Wunderhorn, das auch hier wieder (B. d. 2., Abs. 2) unversöhnlicher bleibt. Auch die Erlösung des „fliegenden Holländers“ hat Wagner wohl Heines Phantasie zu danken. Mehr über die Entstehung dieser beiden Traditionen: Hasenfratz 2004a und 1994b. Vgl. Krahe/Meid 1967, 218. Man kann seelische (animistische) Phänomene auch ‘energetisch’ (dynamistisch) interpretieren. Vgl. Hasenfratz 2005, 35 f. Vgl. Niederberger/Hirtler 2000, 66 f. Thiel 1983, 61, 82. Forster 1983, 746. Müller 2002, 45. Vgl. Rudy 1962, 187. Vgl. Hasenfratz 1986 u. 2002a. Unserer wissenschaftlichen Terminologie entsprechen in den verschiedenen Kulturen einzelsprachliche Äquivalente. „Vom Jenseits der Seele“ lautet der Titel eines berühmten Buches von Max Dessoir (1917), der die Bezeichnung „Parapsychologie“ für das Wissensgebiet vorschlug, das heute so heißt. Über dieses Gebiet aus der Sicht eines Vertreters der historischen Ethnologie vgl. Müller 2002. Schön beschrieben bei Horaz, Epoden, 16,41 ff. Zum „magischen Universum“, so der Anfang des Titels von Müller 1987, vgl. Hasenfratz 2004b, 55 f(f). Man erinnert sich vielleicht, dass Dante sich „in einem dunklen Wald“ (per una selva oscura) verirrt hatte, bevor er seine Reise durch die Unterwelt antrat. Mehr (alles) über Schamanen: Müller 1997; einiges auch bei Hasenfratz 2000a. Über Jenseitsreisen vgl. auch Hasenfratz 2006.
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Deutscher Titel des Werkes von Amadou (1957). Vgl. Pfohl, Nr. 38 (Petelia, 4./3. Jh. v. Chr.). Vgl. Vergil, Aeneis, 6,295 ff. Ob auch die späteren sog. „Meerwesensarkophage“ die Reise des Toten zu den „Inseln der Seligen“ (2.) thematisieren? Wohl ja. Vgl. Koch 2007, 247. Herrmann-Pfandt 2007, 56 f. Vgl. Rig-Veda IX, 113, 7–11, woraus sich der Aufenthalt für ‘gewöhnliche Sterbliche’ leicht erschließen lässt. Vgl. auch I. 1. Die erschwinglichere Verschriftlichung auf Papyrus ermöglichte, die entsprechenden Texte einem größeren Kreis von Verstorbenen mitzugeben als bisher. Vgl. Hasenfratz 1992, 10 ff., 17 f. Ich datiere mit Mary Boyce, Altmeisterin der Iranistik, Zarathustras Auftreten noch ins 2. Jt. v. Chr. zurück (bin also in bester, wenn auch kleiner Gesellschaft). Hasenfratz 1982a, 149. Vgl. Walde/Pokorny 1973, 185 f. Im Zoroastrismus frasho. kereti (frashgird) genannt: Tauglichmachung (Beseitigung des Bösen am Menschen), Wiederherstellung (des Idealzustandes körperlicher Beschaffenheit ohne Störanfälligkeit; I. 1.). Vgl. Reintjens-Anwari 2000, 245; Rahim 1981, 64 f., 115. Die ausführlichsten Geschichten über solche Tote (pretah: s. u. V. D. a. 1., Abs. 3) bringt die altbuddhistische Überlieferung: das Petavatthu (Sanskrit preta-vastu; etwa: das Wichtigste über die Gespenster). Vgl. Oldenberg 1923a, 560 bei u. mit N 3. Auch der Gespensterglaube ist in die buddhistische Wiedergeburtslehre integriert, s. o. N 48. Vgl. Hasenfratz 2000b, 3; a. M. Nocke 2004, 285 f., dessen ganze Arbeit die „Vereinbarkeit“ von „Glauben an die Auferstehung“ und „Idee der Reinkarnation“ diskutiert. Aus der Fülle einschlägiger Literatur zum Thema seien zwei ältere und zwei neuere Sammelpublikationen erwähnt, aus denen der Verf. viel gelernt hat: Klimkeit 1978, Khoury/Hünermann 1985; Barloewen 2000, Elsas 2007a. Vgl. auch das „Lesebuch“ Beck 1995. Vgl. Kessler 2007, 198. Die hebräischen Verba tertiae jod haben im Indikativ und Kohortativ (Energicus) dieselbe Endung, ihr Modus ist also nicht zu entscheiden. Vgl. Gesenius/Kautzsch 1909, 331 FN 1. Kessler 2007, 201. Vgl. Hasenfratz 1983, 240 f.; Haag 1983. Vgl. Boyce 1982, 189 ff.
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Anmerkungen
57 Vgl. Friedländer 1971, 396. Das Ausschütten des Wassers im Trauerhaus (es wird durch die Anwesenheit des Toten unrein) ist auch nichtjüdischer Brauch (die „Seele“ des Toten hat sich darin gereinigt). 58 Vgl. Schulz 1987, 147 ff. 59 Bin Gorion 1973, Nr. 6. 60 Vgl. Hasenfratz 1986, 81. 61 Bin Gorion 1962, 27. – Das Fleisch Leviathans und des „großen Stiers“ (schor hab-bor) wird den Gerechten „zum großen Mahle“ (am Jüngsten Tag) dienen. Das Fett eines geschlachteten mythischen Stiers ist Ingrediens eines Unsterblichkeitstrankes für die Auferstandenen der zoroastrischen Endzeit. Auch hier wieder Altiran als eschatologischer Fleisch-, will sagen Ideenlieferant (1.). 62 Hoheisel 1978, 107. 63 Vetter 1985, 96. Vgl. Strack/Billerbeck 1969, 840. 64 Vetter 1985, 90. 65 Vgl. Hoheisel 1978, 106. 66 An-ski, Der Dybuk, Ende des 4. Aktes. Vgl. auch die Seelenwanderungsund Präexistenzpassagen im 2. und 3. Akt. 67 Vgl. Himmel, Hölle, Fegefeuer 1994 (Katalog und Ausstellung); Niesel 1960 (Sachverzeichnis, s. vv. Eschatologie, Fegfeuer, Hölle, und die einschlägigen Passagen in den Hauptteilen: Katholizismus, orthodoxe Kirche, Kirchen der Reformation); Loofs 1902 (Register und § 41 ff. über den römischen Katholizismus). Für neuere Ansätze (u. a. die „GanztodHypothese“, die nicht mit einer „Unsterblichkeit“ der Seele rechnet) vgl. Lüke 2004. 68 Vgl. Niesel 1960, 79 N 9. – Man beachte auch hier die rituelle Fixierung des „Todespunktes“ über das biologische Phänomen hinaus (I. 2.). 69 Vgl. Loofs 1906, 449. 70 So der Titel von Herzog 1997, der alle Spielarten, orthodoxe und heterodoxe, dieser Expedition durchmustert (von „heilsuniversalistischer“ Befreiung aller Höllenbewohner, vergangener und künftiger, bis zur „triumphalistischen“ Machtdemonstration über Tod, Teufel und Verdammte). – Vgl. D. c. 2. 71 Die schönste metrische (und kommentierte) Übertragung für mich ist die von König Johann v. Sachsen alias Philaletes (gest. 1873). 72 Immer noch lesens- und ansehenswert ist Rothe 1955. 73 Vgl. Dinzelbacher 1989 (darin auch Strukturvergleich mit rezenten NDEs). 74 Vgl. Unbehaun 1994, 11 ff. (Übertragung), 49 ff. (zeitgeschichtliche Einführung, Kommentar).
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93 94 95 96 97 98 99 100
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Vgl. Beyer 2008, 56 f. Dinzelbacher 1989, 46 f. Übersetzung des Verfassers. Durant, 229 FN; vgl. auch 249 FN. Dinzelbacher 1989, 35, 45 (65 f.), 91 (Holzschnitte). Dazu mit religionsgeschichtlicher ‘Grundierung’ und Bebilderung Tanner 1994. Unbehaun 1994, 98 (Holzschnitt). Fehrmann 2007, 298 Abb. 7. Müller 1903, 217 (reformiert); Hollatz 1971, III/2, 379 (lutherisch). Vgl. auch II. B. c. 2., Abs. 2. Vgl. Hollatz 1971, III/2, 400, 406 f. Loofs 1906, 764. Vgl. aaO. 769 bei u. mit N 4 (769 f.) AaO. 781: homiletische Vorwegnahme der finalen ‘Ausschaltung’ von Teufel und Tod im „Feuersee“ (Apk 20,10.14). AaO. 780 N 8 (779 f.) Vgl. Hasenfratz 2003b, 63 ff. Vgl. Knevels 1975, bes. 24 u. 36. Vgl. Knevels u. a. 1975. Direkte aktive Sterbehilfe hieß früher „Euthanasie“ (gezielte Tötung zur Verkürzung des Leidens anderer Menschen), indirekte aktive Sterbehilfe „passive Sterbehilfe“ (der Tod des Leidenden wird durch die Medikation in Kauf genommen, aber nicht direkt bewirkt: „terminale Sedierung“); passive Sterbehilfe meint heute Abwesenheit oder Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen. Vgl. Reformierte Presse Nr. 43 (26. Okt.) 2007, 3, 2 f. Es gibt Ausnahmen, wo man den Patienten aus dem gemeinschaftlichen Bereich entfernt und sich selbst überlässt. Vgl. Hasenfratz 1999b, 16 f. (Rus, Ibos). Sie fallen unter die Rubrik „sozialer Tod“ (II. C. 2.). Vgl. Gronemeyer 2007; auch Eidam 2007. Origines, De principiis, III, 6,5(ff.); vgl. auch den Anathematismus 9 von 543 und 12 von 553. Vgl. Hollatz 1971, III/1, 561. Vgl. Frey u. a. 1993, 200. Vgl. Hasenfratz 2003b, 65, mit den Verweisungen in N 8 u. 9. Vgl. Lurker 1985, 778,2. So fast wörtlich aus Rahim 1981, 185 ff. (eingeklammerte Erläuterungen von mir). Im Folgenden zitiert nach Paret 1982; Parallelstellen und Kommentar bei dems. 1977.
118
Anmerkungen
101 Wiedergegeben ist die Form des Bekenntnisses im morgendlichen Gebetsruf des Muezzins. Man beachte die indirekte Rede im zweiten Teil (eingeleitet durch anna), wodurch Muhammad nicht einmal grammatikalisch Gott gleichgestellt erscheint – im Unterschied zu Christus als göttlicher „Person“ nach christlichem Bekenntnis. 102 Vgl. Rahim 1981, 168. 103 Vgl. Öztürk 2000, 46 ff.: Hier sogar der Gedanke, dass das Höllenfeuer „die Seelen vom Schmutz“ reinigen wird, „so wie das Feuer das Gold reinigt“. Siehe B. 1.: 1 Kor 3,11 ff. 104 Vgl. Bousset/Gressmann 1926, 258, 353 f. 105 Paret 1977, 160. 106 Vgl. Elsas 2007b; Khoury 1990. 107 Vgl. Rahim 1981, 189. 108 Vgl. aaO. 73 f. 109 Vgl. aaO. 87 ff. 110 Vgl. Hasenfratz 2007, 168; Öztürk 2000, 228. 111 Hollatz 1971, III/1, 543 ff. 112 Vgl. Hasenfratz 1994b, 27 f. 113 Vgl. ebd.; ferner ders. 2000b, 3. 114 Meisig 1985, 59. 115 Gesetzbuch des Manu, 9,65 (Doniger/Smith 1991, 205). 116 Dies der Sinn von Bhagavadgita 1,41 f.: Kastenmischung (varnasamkara) zerstört die Familie; denn nun brechen die Ahnengeister (pitarah) zusammen, der Reis- und Wasseropfer beraubt. Vgl. d. 3. 117 Vgl. Oldenberg 1923a, 558 ff. 118 Nach der Übersetzung bei Lommel 1964, 36 ff. 119 Der Tag zu 30 ‘Stunden’ nach indischer Zeiteinteilung. 120 Samkhya und Yoga, Jainismus rechne ich zu den „heterodoxen“ hinduistischen Systemen, die hier nicht behandelt werden, weil sie alle den Glauben an karmisch verursachte Wiedergeburt mit dem „orthodoxen“ Hinduismus teilen. Zu ihnen gehört auch der Buddhismus, der aber ‘Weltreligion’ geworden ist wie Christentum und Islam. Vgl. Hasenfratz 1994b, 129 f., 140 f(f)., 147 ff. 121 Vgl. aus Goethes „Zahmen Xenien“ (3. Buch): „Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt’ es nie erblicken …“ Der Gedanke taucht bereits in seiner Farbenlehre auf. 122 Der Mond gilt als Seelenbehälter (Sitz der Ahnenseelen und Geister) und als Wasserreservoir (für Regen und Tau). Das hängt damit zusammen, dass man sich die Seelensubstanz wässrig vorstellen konnte (III. A. 3. u. unten 2.).
Anmerkungen
119
123 Atma ist mit Atem nicht sprachverwandt! Mit Luft und Wind haben die Griechen und Römer die Seele verbunden: psyché (Hauchen), anima/ animus (Wehen). Vgl. auch III. A. 3. 124 Vgl. Hasenfratz 1994b, 186 N 8. Der atma ist sat-cit-ananda: reines Sein, reines Denken ohne Gedachtes, reine Wonne. Vgl. 4., Abs. 2. 125 Mit geringen Abweichungen wörtlich aus: aaO. 74 f. 126 Chandogya-Up. 3,13,7. 127 AaO. 3,14,3 f., von mir zusammengezogen und auf das Wesentliche reduziert ohne Veränderung des Wortlauts. 128 Brihadaranyaka-Up. 4,5,15, von mir zusammengezogen und auf das Wesentliche reduziert ohne Veränderung des Wortlauts. 129 AaO. 4,3,21; dazu Hasenfratz 1986, 129 N 32 und 33. 130 Vgl. aaO. 4,4,2. 131 Steht im Begriff, als Wesensbestimmung (‘innerer Zustand’) des atma in den Bereich des psychischen Organismus überzuwechseln. Im älteren Buddhismus wird vijnana zum eigentlichen Träger der Wiedergeburt im Kreislauf der Existenzen (E. a. 1.). 132 Brihadaranyaka-Up. 4,4,6. 133 Vgl. Hasenfratz 1994b, 144 ff. Mani unternahm übrigens einen IndienTrip. 134 Gesetzbuch des Manu, 12,40 (Doniger/Smith 1991, 282). Das ganze Kap. 12 ist der Wiedergeburt gewidmet. 135 Hasenfratz 2006, 34. 136 Vgl. Gesetzbuch des Manu, Kap. 10 (Doniger/Smith 1991, 234 ff.). 137 Glasenapp 1986, II, 319 (die Kursivierung im Text und die zwei ersten Einklammerungen vom Verf., ebenfalls die Einfügung des letzten Kommas). 138 Nehring 2004, 4. Auch Verfolgungen von Christen und Muslimen durch Hindu-Fundamentalisten werden gemeldet: Publik-Forum Nr. 17 (12. Sept.) 2008, 34 (www.publik-forum.de). 139 Glasenapp 1986, I, 157. 140 Vgl. Hasenfratz 1994b, 147 ff.; zusätzlich zur dort angemerkten Literatur: Schneider 1992, Oldenberg 1923b. Man vgl. auch die schönen Übertragungen buddhistischer Pali-Texte von Karl Eugen Neumann (verschiedene Auflagen). 141 Klimkeit 1990, 201 (Udana 80). Rechtschreibung von mir angepasst. 142 So die Yogacara-Schule des (frühen) ‘großen Fahrzeugs’: vgl. Zimmer 1961, 467 ff. 143 So das moderne Zen: vgl. Wöhrle-Chon 2001, 152 f. u. pass. 144 Vgl. Analayo 2007, 111 bei u. mit N 2. Zu Japan lese man die wundersamen Novellen in Lafcadio Hearns Kwaidan.
120
Anmerkungen
145 Vgl. Sagaster 1978, 178; Wöhrle-Chon 2001, 159. 146 Vgl. die plastische Darstellung des karmischen Kreislaufs (Himmel, irdisches Dasein, Hölle) in Borobudur (8./9. Jh., Java): Zimmer 1968, II, Pl. 479, dazu I, 303 f. 147 Siehe oben III. B. 3. bei u. mit N 36. 148 Beste und kürzeste Darstellung des komplexen Inhalts bei Vetter 2000, 387 f.; zum Tibetischen Totenbuch: 385 ff. 149 Sagaster 1978, 187. 150 Maharaj 1980, 9 ff. 151 Vgl. Butterweck 1995, (besonders interessant: 90 ff.). 152 Illi 1992, 63 f. (hier die Anführungen). Siehe auch II. B. c. 2, Abs. 2. 153 Vgl. Eibach 2001, 1575, Z. 23 ff.; auch B. 4. 154 Vgl. Strack/Billerbeck 1969, 1027 f. 155 Vgl. dazu Kleine 2003. 156 Vgl. Zimmer 1961, 254. Siehe auch oben 1.
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