Der Soziologische und der Juristische Staatsbegriff [2. Auflage]


320 13 43MB

German Pages [265] Year 1928

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Der Soziologische und der Juristische Staatsbegriff [2. Auflage]

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Map■'

r*

A

' -L't

-’5

' 5

L

;

:



?

r

HANS KELSEN

DER SOZIOLOGISCHE UND DER JURISTISCHE STAATSBEGRIFF ZWEITE AUFLAGE

I

:•

IU I

BL 1



M H

Ei

i

1

r DER SOZIOLOGISCHE UND DER JURISTISCHE STAATSBEGRIFF KRITISCHE UNTERSUCHUNG DES VERHÄLTNISSES VON STAAT UND RECHT VON

HANS KELSEN

ZWEITE, PHOTOMECHANISCH GEDRUCKTE AUFLAGE

VERLAG VON J. C. B. MOHR (PAUL SIEBECK) TÜBINGEN 1928

r

L.

1

-

HU 0146081



x:jj

I

1

Alle Rechte Vorbehalten

146081

i Druck von Oinnitgpie-Ges. Nachf. L. Zcdinall Stuttgart

■:

5

I

MEINEM FREUND

FRANZ WEYR ZUGEEIGNET.

I

I

V

Vorrede zur zweiten Auflage. Da diese Schrift schon seit längerer Zeit vergriffen, das Interesse für sie aber noch immer rege ist, hat sich der Verlag entschlossen, eine zweite Auflage zu veranstalten. Sie bringt keine Veränderungen gegen­ über der ersten, obgleich die Literatur sich seither mit dem Gegenstände des Buches: dem Verhältnis von Staat und Recht, sehr eingehend beschäftigt hat. Ihre Ergebnisse haben mich nicht ver­ anlassen können, meine. Anschauungen in irgendeinem Punkte zu re­ vidieren. Der Grundgedanke: daß der Staat eine spezifisch norma­ tive Einheit und kein irgendwie kausalgesetzlich zu erfassendes Gebilde, daß er als Ordnung die Rechtsordnung, als überindivi­ dueller Wille die Personifikation dieser Rechtsordnung ist, und daß der übliche D u alis m u s von Staat und Recht eine unzulässige Verdoppelung des Gegenstandes juristisch-normativer Erkenntnis dar­ stellt — ist nach meiner Ueberzeugung unerschüttert. Nur eine Ergänzung dieses Gedankens ist es, wenn ich in meiner „Allgemeinen Staatslehre“ (Berlin, 1925) gezeigt habe, daß neben diesem wesentlich formalen Begriff des Staates, der in den wichtigsten Problemen seiner allgemeinen Theorie die ent­ scheidende Rolle spielt, noch ein zweiter, wesentlich materiell er und engerer Begriff des Staates unterschieden werden kann, der aller­ dings den ersten zur Voraussetzung hat. Auf dieses Werk darf ich daher den geneigten Leser hier verweisen.

Wien, im November 1927. Hans Kelsen.

1



Inhalt. Soite

Einleitung. §

1.

Das Problem

1

I. Der Staat als soziale Realität. (Der soziologische Begriff des Staates.)

1.

Kapitel.

2.

§ 2. Wechselwirkung § 3. Psychische „Verbindung“ § 4. Parallelität psychischer Prozesse und Motivation . . § 5. Die „libido“ als Kriterium der sozialen Verbindung . § 6. Die sozialen „Gebilde“ Kapitel. Die normative Tendenz der Soziologie. § 7- Spencer § 8- Dürkheim § 9- Jerusalem § 10. Toennies, Spann § 11- Individuum und Gemeinschaft

Die Realität des Sozialen.

. .

4 12 15 19 33 46 51 59 64 67

II. Der Staat als Normensystem. (Der juristische Begriff des Staates.)

3.

4.

Kapitel. Staat und Recht. § 12. Sollen und Sein § 13. Der Staat als Zwangsordnung .... § 14. Dio Elemente des Staates § 15. Identität von Staats- und Rechtsordnung Kapitel. Wirksamkeit der Staatsideologie und Geltung der Staatsordnung. § 16. Die „Macht“ des Staates als Wirksamkeit einer Ideologie § 17. Beziehung zwischen Faktizität und Normativität . . . .

75 82 84 86

91 92

5. Kapitel.

Die Zwei-Seiten-Theorie. § 18. Die soziale (reale) u. die juristische (ideale) „Seite“ des Staates § 19. Die soziologische Zwei-Seiten-Theorie

105 106

III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht. A. Der Staat als Voraussetzung des Rechts.

6. Kapitel. § 20. § 21.

Soziallehre vom Staat und Staatsrechtslehre. Die juristische Zwei-Seiten-Theorie (Jellinek) Der Staat als „Verband“ (sozialer Staatsbegriff) u. als „Körper­ schaft“ oder Rechtssubjekt (juristischer Staatsbegriff) identisch

114 121

1 Inhalt.

VIII

Solto

7. Kapitel. Die Selbstverpflichtung des Staates. § 22. Die Selbstverpflichtung des Staates als Personifikation der Rechtsordnung § 23. Politischer Mißbrauch des metarechtlichen Staatsbegriffes

132 136

B. Das Recht als Voraussetzung des Staates.

8. Kapitel. Der Staat als Rechtsgemeinschaft. § 24. Die Naturrechtslehre (Kant) § 25. Der Staat als besondere Rechtsordnung (Stammler) . . . § 26. Der Staat als besondere Rechtsordnung (Wundt) . . . . § 27. Der Staat als Rechtsordnung in den Kategorien der »ver­ stehenden Soziologie“ (Max Weber) .... § 28. Der Staat als Rechtsverhältnis (Loening) . . 9. Kapitel. Die Ausscheidung des Gewaltelementes aus dem

§ § § §

Staatsbegriff. 29. Die Ueberflüssigkeit des Staatsbegriffs (Affolter) . . . . 30. Die Rechtsstaatstheorie (Krabbe) 31. Der Staat als Gesetzesgenieinschaft (Wenzel) 32. Staat und Recht als zwei Seiten desselben Gegenstandes (Somlo, Radbruch)

140 143 149 156 171

178 184 191 202

IV. Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik. 10. Kapitel.. Der Staatsbegriff als Substanzbegriff. § 33. :Der metarechtliche Staatsbegriff als verdoppelnde Fiktion (Vaihinger) 205 § 34. Die positivistische Kritik des Substanzbegriffes und der Be­ griff des Staates (Avenarius, Petzoldt) 208 § 35. Der kritische Idealismus und die Auflösung des Staatsbe­ griffes (Cassirer, Sander) 211 11. Kapitel. Staat und Recht: Gott und Natur. 219 § 36. Staat und Gott § 37. Die Transzendenz Gottes gegenüber der Natur, des Staates gegenüber dem Recht 222 § 38. Die Bezogenheit Gottes auf die Natur, des Staates auf das Recht: Menschwerdung Gottes, Selbstverpflichtung (Rechtwerdung) des Staates 226 § 39. Die „Zweiseitenstheorie in Theologie und Jurisprudenz . . 230 § 40. Theodizee und Staatsunrecht 233 § 41. Gott — Mensch, Staat — Individuum; die Willensfreiheit 237 § 42. Der theologische und der juristische Wunderglaube . . . 245 12. Kapitel. Pantheismus und reine Rechtslehre. 247 § 43. Die Ueberwindung der theologischen Methode 249 § 44. Der Staat als Gott §45. Der übernatürliche Gottesbegriff und der überrechtliche Staatsbegriff als Hypostasierung gewisser, den Natur- bzw. Rechtsgesetzen widersprechender Postulate .... 251

1

Einleitung. § i. Das Problem. Die Frage nach dem Begriff des Staates ist untrennbar ver­ bunden mit der Frage nach dem Begriffs Verhältnis zwischen Staat und Recht. Zwar ist es für die moderne Staatslehre, die keine bloße Staatsrechtslehre sein will, bezeichnend, daß sie einen metarechtlichen Staatsbegriff postuliert. Dennoch ist es ihr bisher nicht gelungen, sich von der rein juristischen Disziplin der Staats rechts lehre zu emanzipieren. Diese be­ hauptet nach wie vor und trotz des Umstandes, daß die Identi­ fikation der Staatslehre mit der Staatsrechtslehre nachdrücklichst abgelehnt wird, ihren Platz zumindest als ein wesentlicher und, wenn man näher zusieht, als der weitaus gehaltvollste Bestandteil der Wissenschaft vom Staate. Auch die neuere Staatsrechts­ lehre setzt einen metajuristischen, im Grunde eigentlich supra­ juristischen Staatsbegriff voraus. Indem aber zugegeben wird, daß der — unabhängig von Recht und Rechtserkenntnis bestimm­ bare — Staat in der Staatsrechtslehre doch irgendwie Gegenstand juristischer, d. h. auf das Recht gerichteter Erkenntnis sein kann, wird die Beziehung zwischen Staat und Recht in das Problem der Begriffsbestimmung des Staates (wie übrigens auch des Rechtes) wieder hineingezogen Daß die Begriffe „Staat“ und „Recht“ zwei voneinander ver­ schiedene Wesenheiten bezeichnen, kann heute als die herrschende Lehrmeinung aller mit diesem Gegenstand befaßten Disziplinen gelten. Nun sind über das Verhältnis von Staat und Recht sehr abweichende Anschauungen verbreitet; aber selbst dort, wo man die innigsten Wechselbeziehungen zwischen beiden sozialen Phänomenen anzu­ nehmen geneigt ist, hält man immer noch ein Verhältnis für gegeben und so grundsätzlich eine Zweiheit der Erkenntnisobjekte aufrecht. Kols on , Staatabogrlff. 2. Aufl.

1

I 2

-

i

Einleitung.

Trotz der außerordentlichen Mannigfaltigkeit der Lehren über das Verhältnis von Staat und Recht lassen sich doch die meisten als Spielarten eines Durchschnittstypus erkennen, dessen Grundgedanken sich etwa folgendermaßen darstellen: Der Staat ist — soferne nach seinem genus proximum die Frage ist — ein (näher zu bestimmender) menschlicher Verband, eine irgendwie geartete Vereinigung oder Verbindung, eine organisierte Gruppe von Menschen, die man gerne auch als Körperschaft bezeichnet. Als solche fällt er unter den Begriff der Gesellschaft im weitesten Sinne, ist eine soziale Tatsache und real, d. h. von der gleichen Realität wie soziale Tatsachen überhaupt. Die soziale Wirklichkeit des Staates ist Ge­ genstand einer sozialwissenschaftlichen, nach Kausalgesetzen — so wie die Naturwissenschaft — orientierten Erkenntnis, die man als Soziallehre vom Staat bezeichnet und neuestens als Bestandteil der Soziologie ansieht. Diese empirische Realität des Staates wird fast von allen Autoren ausdrücklich oder stillschweigend angenommen Und schon mit dieser Qualifikation tritt der Staat in einen gewissen Gegensatz zum Recht. Dieses fällt, unter den Begriff der Norm. Es wird als ein Inbegriff von Regeln, als ein Komplex von Geboten und Verboten, als ein System von durch Sollsätze oder Imperative ausdrückbaren Vorschriften, als eine Ordnung menschlichen Ver­ haltens aufgefaßt. Und die Existenz des Rechts wird nicht — wie jene des Staates — in der kausalen Realität, sondern in einer nor­ mativen Idealität angenommen. Es handelt sich dabei nicht um eine absolute, sondern nur um eine relative Idealität des Rechts. Sein Wert ist nur ein bedingter. Immerhin ist die Geltung des Rechts ihrem eigentlichen Sinne nach zunächst ein Sollen, das sich von der kausalen Wirksamkeit des Staates — als eines sozialen Fak­ tums — deutlich abhebf. Und wenn man auch leicht geneigt ist, die Sollgeltung des Rechtes — unter dem Gesichtspunkt seiner Positivität — in eine Seins Wirksamkeit übergehen zu lassen und auch das Recht als ein reales Faktum des sozialen Geschehens an­ zusehen (damit aber schon den Gegensatz zum Staat verwischend), so wird doch an der Sollgeltung des Rechts gerade dann festge­ halten, wenn dessen Verhältnis zum Staat in Frage kommt: Der Staat wird als das Seinsfaktum, als die wirkende Kraft und darum als Macht oder Gewalt behauptet, die „hinter“ dem Rechte steht, um dieses aus seiner Sphäre der Idealität in die Realität zu setzen, um es aus dem bloßen Sollen in das Sein zu überführen. Diese Grundvorstellung kommt in den verschiedenen Theorien über das Verhältnis von Staat und Recht bald mehr, bald weniger zum Aus­ druck; ob man nun lehrt, der Staat „erzeuge“ das Recht, oder der

k

§ 1. Das Problem.

3

Staat „garantiere“ das Recht, er sei die reale Kraft, die die An­ wendung und Befolgung des Rechts durchsetze, d. h. das Recht ver­ wirkliche (positiviere); der Staat sei der „Träger“ des Rechts, der äußere, materielle Zwangsapparat, der die ideelle Rechtsordnung realisiere, oder wie sonst die mannigfachen Bilder beschaffen sein mögen, in denen man sich das Verhältnis der beiden Wesenheiten anschaulich zu machen versucht: Stets geht die Tendenz dahin, den Staat sich ebenso real zu denken wie einen Menschen, als eine Art „Makroanthropos“ oder Uebermensch, der das Recht als ein Ideelles „setzt“, „trägt“, „realisiert“ usw. Das ist im großen und ganzen der Sinn, den die herrschende Lehre mit der Annahme verbindet, daß der Staat als Verband sich von dem Rechte als Norm unterscheiden müsse1). Allein es muß ernstlich bezweifelt werden, ob zwischen den Begriffen „Verband“ und „Norm“, „Körperschaft“ und „Regel­ komplex", „Organisation“ und „Ordnung“ ein solcher Unterschied besteht, daß man darauf irgendeinen Wesensgegensatz zwischen Staat und Recht als den besonderen unter diese Allgemeinbegriffe zu sub­ sumierenden Gegenständen begründen kann. Ja, es ist leicht zu zeigen, daß es sich dabei nur um verschiedene Namen für ein und denselben Begriff handelt. Dessen wird man sich bewußt, wenn man das Wesen der „Verbindung“ analysiert, die den Staat als soziale Realität ausmachen soll, wenn man die Frage untersucht: Wie ist der Staat als Verband von Menschen möglich? Dabei muß die Frage zunächst in dem Sinne gestellt werden, daß man die Mög­ lichkeit prüft, den Staat als Gegenstand einer kausalwissen­ schaftlich orientierten Soziologie zu bestimmen, die Einheit des Staates empirisch, d. h. in einer dem Bereich der Natur erfahrung zugehörigen sozialen Erfahrung zu begründen.

*) Als ein typisches Beispiel: Richard Schmidt, Allgemeine Staatslehre 1901, I. Bd., S. 7 ff. Hier wird der Staat als „Verband11, das Recht als „Regel“ oder „Norm“ charakterisiert. „Verbände und Regeln bilden somit von vornherein zwei verschiedenartige Brennpunkte des gesellschaftlichen Lebens.“ „Die Verbände stellen sich .... als Formen äußerer Organisationen . . . dar“; „das Recht bedarf seinerseits selbst der Aufrechterhaltung .... durch eine äußere Organisation“ (S. 9, 11, 16). Die Norm des Rechts wird „garan­ tiert“ durch den Verband des Staates, der die Norm des Rechts „im Falle ihrer Nichterfüllung zwangsweise durchführt“. A. a. 0. S. 175 ff.

1*

4

I. Der Staat als soziale Realität. (Der soziologische Begriff des Staates.) 1. Kapitel. Die Realität des Sozialen.

§ 2.

■* I

i ■

Wechselwirkung. Wenn dem Staate als einem möglichen Gegenstände der Sozio­ logie von dieser „ Realität“ zugesprochen wird, so soll dies nur jene Art von Wirklichkeit sein, in der das Soziale überhaupt sich der Erkenntnis darbietet. Der Staat ist offenbar eine soziale Wirk­ lichkeit. Das Wesen des Sozialen aber wird von den neuern Sozio­ logen in ziemlich weitgehender Uebereinstimmung nach zwei Rich­ tungen hin bestimmt: Erstlich werden soziale Tatsachen als psychische Prozesse, als Vorgänge in den menschlichen Seelen gegenüber den Körperbewegungen einer „Natur“ im engeren Sinn abgegrenzt. Dann aber erkennt man das gesellschaftliche Moment in einer spezifischen Verbindung, einem Verknüpftsein der Menschen untereinander, einem irgendwie beschaffenen ZusammenSein und glaubt diese Verbindung in der psychischen W e c h s e 1wirkung, d. h. also darin zu sehen, daß die Seele des einen Men­ schen auf die Seele des andern Wirkung übt und von ihr Wirkung empfängt. Nur weil die moderne Soziologie auch den Staat unter der Kategorie der „Wechselwirkung psychischer Elemente“ zu begreifen versucht, muß hier auf diese Grundfrage der Gesellschaftslehre nach dem Kriterium der sozialen Realität näher eingegangen werden. Es ist der vollendetste Ausdruck der in diesem Punkte auf­ fallend übereinstimmenden Anschauungen fast aller neueren Sozial­ theoretiker *), wenn Simmel in seinem umfangreichen Werke über

’) Vgl. dazu Spans, Untersuchungen über den Gesellschaftsbegriff, I. Bd., 1907, S. 141 u. 179 und Moede, Die Massen- und Sozialpsychologie im kri­ tischen Ueberblick. Zeitschrift für pädagogische Psychologie und experimen­ telle Pädagogik, 1915.

§ 2. Wechselwirkung.

5

„Soziologie“1) ausführt: Gesellschaft existiert, „wo mehrere Individuen in Wechselwirkung treten. Diese Wechselwirkung entsteht immer aus bestimmten Trieben heraus oder um bestimmter Zwecke willen . . . Diese Wechselwirkungen beweisen, daß aus den individuellen Trägem jener veranlassenden Triebe und Zwecke eine Einheit, eben eine »Gesellschaft« wird. Denn Einheit im empirischen Sinne ist nichts anderes als Wechselwirkung von Elementen: ein organischer Körper ist eine Einheit, weil seine Organe in engerem Wechseltausch ihrer Energien stehen als mit irgend einem anderen äußeren Sein, ein Staat ist einer, weil unter seinen Bürgern das en t s p r e ch e n de V er h ältni s gege nse i ti g e r Einwirkung besteht, ja, die Welt könnten wir nicht eine nennen, wenn nicht jeder ihrer Teile irgendwie jeden beeinflußte, wenn irgendwo die, wie immer vermittelte, Gegenseitigkeit der Ein­ wirkung abgeschnitten wäre. Jede Einheit oder Vergesellschaftung kann je nach Art und Enge der Wechselwirkung sehr verschiedene Grade haben, von der ephemeren Vereinigung zu einem Spaziergang bis zur Familie, von allen Verhältnissen »auf Kündigung« bis zu der Zusammengehörigkeit zu einem Staate, von dem flüchtigen Zusammensein einer Hotelgesellschaft bis zu der innigen Verbundenheit einer mittelalterlichen Gilde“ 2). Es ist von Wichtigkeit, sich alle Elemente des so bestimmten Gesellschaftsbegriffes, unter den auch der Staat subsumiert werden soll, deutlich zu Bewußtsein zu bringen. Zunächst, daß das durch psychische Wechselwirkung hergestellte „Zusammen“sein, diese „Vereinigung“ oder „Verbundenheit“ eine e m p i ri s c h e Einheit ist. Dann aber, daß diese Verbindung je nach ihrer „Enge“ oder Intensität verschiedene „Grade“ haben kann; und schließlich, daß die soziologische Einheit des Staates einen hohen, wenn nicht den höchsten Grad der Enge oder Intensität des durch Wechselwirkung Verbundenseins darstellt. Und es sei nochmals betont, daß diese Darstellung SlMMELs als durchaus typisch gelten darf, daß seine Theorie der Gesellschaft und die in ihr beschlossene soziologische Theorie des Staates nur die in allen wesentlichen Punkten konse­ quente Durchführung des als „psychische Wechselwirkung“ be­ stimmten Gesellschaftsbegriffes ist. Nach dieser von der herrschenden Lehrmeinung akzeptierten Bestimmung muß als die eigentliche Sphäre des Sozialen die Welt des Seelischen, nicht aber die Körperwelt gelten. Wieder kann Simmel als Kronzeuge, kann seine Formulierung als Idealtypus anl) 1908.

’) A. a. 0. S. 5, 6.

6

ä H

I. Der Staat als soziale Realität.

geführt werden. Es sei kein Zweifel, legt er dar, „daß alle gesell­ schaftlichen Vorgänge und Instinkte ihren Sitz in Seelen haben, daß Vergesellschaftung ein psychisches Phänomen ist und daß es zu ihrer fundamentalen Tatsache: daß eine Mehrheit von Elementen zu einer Einheit wird — in der Welt des Körperlichen nicht einmal eine Analogie gibt, da in dieser alles in das unüberwindliche Aus­ einander des Raumes gebannt bleibt“ 1). Ohne bei dem möglichen Einwand zu verweilen, daß auch im physischen Organismus — also doch wohl in der Körperwelt — eine Mehrheit von Elementen zu einer Einheit wird, und daß gerade diese räumlich körperliche Einheit nicht zuletzt von SlMMEL als Analogie zum Begreifen der sozialen Einheit herangezogen wird — sei vor allem festgehalten, daß die Welt des Sozialen, als Inbegriff von „seelischen Ereignissen, deren Inhalte sich nicht zu. einer selbständigen Raumeswelt zu­ sammenschließen“ 2), mit der Kategorie des Raumes nicht erfaßt zu werden braucht, ja, streng genommen nicht erfaßt werden kann. Soziale Tatsachen haben keine Ausdehnung. Demgegenüber dürfte es schwer fallen, die übliche Vorstellung vom Staate als einem — seinem Wesen nach — räumlich begrenzten Gebilde zu rechtfertigen. Wenn die herrschende Staatslehre einen fest abgegrenzten Teil der Erdoberfläche, das Staatsgebiet, als eines der wesentlichen Staats­ elemente, als ein Begriffsmerkmal des Staates behauptet, so ist dies keineswegs der■=• einzige räumlich-körperliche Bestandteil, der ihm zugesprochen wird. Auch das Element des Staats-Volks wird als eine Vielheit der Menschen gedacht, deren durchaus körper­ liche, raumfüllende Existenz und deren biologisch-physiologische Funktionen neben ihren seelischen als zum Staate gehörig von der üblichen Anschauung vorgestellt werden. Ja, in einem gewissen Sinne wird sogar gerade das äußere Verhalten der Menschen unter direktem Ausschluß ihres inner-seelischen Lebens, also gerade ihre biologisch-physiologische Funktion, ihr materielles Dasein als zum Staate gehörig angesehen 8). Nun ist hier noch nicht der Anlaß, die Stellung der sogenannten Elemente des Staates in dessen Begriff zu untersuchen. Nur muß betont werden, daß bei einer Auffassung des Staates als psycho­ logischer Tatsache die Raumlosigkeit der letzteren unverein­ bar bleiben muß mit der nicht wegzuleugnenden Raumhaftigkeit des ’) A. a. 0. S. 21. *) Simmel, a. a. 0. S. 22. 3) Als Typus dieser Auffassung könnte die Begriffsbestimmung Treitschkes angeführt werden: der Staat ist „ein Volk in seinem einheitlichen äußeren Zusammenleben*. Die Gesellschaftswissenschaft, ein kritischer Versuch. Leipzig 1859, S. 73.

§ 2. Wechselwirkung.

7

irgendwie ja doch zum Staate gehörigen Gebietes und Volkes. Schon daraus, daß sich dieses Problem vom Standpunkt einer psychologisch-soziologischen Theorie als unlösbar erweist, ergibt sich die Unmöglichkeit dieses Standpunktes! Will man die „Staat“ bezeichnete Verbindung von Menschen als psychische Wechselwirkung begreifen, darf man nicht übersehen, daß keineswegs jede Wechselwirkung eine „Verbindung“ der sozialen Elemente bedeutet. Jede soziologische Untersuchung stellt der die Ge­ sellschaft — als Einheit — erzeugenden Assoziation eine die Ge­ sellschaft zerstörende Dissoziation entgegen. Diese dissoziierenden „Kräfte" aber äußern sich durchaus als Wirkung und Wechselwirkung zwischen den psychischen Elementen. Damit, daß zwischen Menschen W echselwirkung aufgezeigt wird, ist noch keineswegs jene spezifische Verbindung erwiesen, die aus einer Vielheit von Menschen eine Gesellschaft macht. Es wäre ein leeres Spiel mit Worten, neben den anziehenden auch die abstoßenden Kräfte als „gesellschaftliche“ Tendenzen gelten zu lassen; ja es bedeutete einen offenkundigen Widerspruch, das Wesen des Sozialen darin zu sehen, daß aus einer Mehrheit von Menschen eine Einheit wird, die Gesellschaft als ein irgendwie geartetes Zusammen-, ein Verknüpft­ un d Verkettet-Sein zu erkennen, die Möglichkeit eines Zustandes zuzugeben, in dem Menschen zwar asozial räumlich nebeneinander, nicht aber gesellschaftlich miteinander, ja antisozial gegeneinander stehen, zuzugeben, daß der gesellschaftliche Zustand, die gesell­ schaftliche Einheit durch Kampf, Haß, Feindschaft, Konkurrenz, wirtschaftliche, religiöse oder sonstige Gegensätze gebrochen werden und so ein Zustand eintreten kann, dem nicht das Wesen des So­ zialen zukommt — und dabei dennoch die Wechselwirkung, die den sozialen ebenso wie den asozialen Zustand erzeugt oder erhält, als das spezifische Kriterium des Sozialen zu behaupten. Gewiß, dadurch daß A zu B, daß eine Vielheit von Individuen X zu einer andern Vielheit Y in Gegensatz gerät, muß weder A noch B, weder X noch Y aus der Gesellschaft überhaupt herausfallen. Aber A steht in Gesellschaft nicht wegen der von ihm zu seinem Wider­ sacher und von diesem zu ihm zurückführenden „Wechselwirkung“, sondern um jener Verbindung willen, die ihn mit andern zu einer andern Gruppe vereinigt, als jene ist, der sein Gegner kraft eben solch einer Verbindung angehört. Wer an der „Wechsel­ wirkung“ als Basis der Gesellschaft festhält, dem fällt die Aufgabe zu, die Besonderheit jener Wechselwirkungen aufzuzeigen, die „ver­ binden“, zum Unterschied von jenen, die „trennen“; wohl ein ganz aussichtsloses Beginnen, weil sich bei eingehender Analyse zeigen

8



X

I. Der Staat als soziale Realität.

muß, daß der eigentlichste Sinn dessen, was man mit der das Soziale darstellenden „Verbindung“ bezeichnet, durch den Gedanken der Wechselwirkung gar nicht erreicht wird, daß von dieser „Verbindung“ Eigenschaften ausgesagt werden müssen, die einer „Wechselwirkung“ gar nicht zukommen können. Wäre die soziale Verbindung identisch mit psychischer Wechselwirkung, dann gäbe es keine Gliederung und Differenzierung und es bestände nur eine einzige menschliche Gesellschaft’). Sieht man zunächst von dieser Schwierigkeit ab, die sich durch die Scheidung trennender und verbindender „Wechselwirkungen“ ergibt und geht man auf diese Vorstellung der Soziologie ein, dann muß sich der Staat offenbar als eine durch verbindende Wechsel­ wirkung hergestellte Einheit von Menschen darstellen. Verfügt man über kein anderes Kriterium als das der verbindenden Wechsel­ wirkung, ist es schlechterdings unmöglich, aus den zahllosen Grup­ pen, in die die Menschheit auf solche Weise zerfällt, jene be­ sondere Verbindung herauszuerkennen, die man den Staat nennt. Die Familie, die Nation, die Arbeiterklasse, die Religionsgemein­ schaft, sie alle wären durch Wechselwirkung verbundene Einheiten, und wenn sie sich untereinander und gegenüber der sozialen Einheit des Staates unterscheiden sollen, müßte ein durchaus außersozio­ logischer oder außerpsychologischer Begriff dieser Einheiten, ins­ besondere des Staates vorausgesetzt werden. Daß man in der modernen Soziologie, mit einem solchen von einer anderen Disziplin her geholten Begriff des Staates ausgerüstet, an die vermeint­ liche soziale Wirklichkeit herantritt, kann kei­ nem Zweifel unterliegen. Die hier in Betracht kommende Gedankenfolge ist doch wohl die: Wer zu einem Staate gehört, welche Menschen den Staat bilden, das ist aber: die Einheit des Staates, wird vorerst als gegeben vorausgesetzt; auch von den Soziologen, die empirisch die soziale Einheit des Staates aufzu­ suchen und zu bestimmen bemüht sind. Gegeben ist aber die auch von den Soziologen vorausgesetzte Staats­ einheit durch die Rechtswissenschaft und die Zu­ gehörigkeit zum Staat wird, durchaus juristisch, nach der einheitlichen Geltung einer als gültig

’) Rümelin, Reden und Aufsätze, I. Bd., 1875, S. 94. „Unser Drang geht nicht dahin, uns ins Unbegrenzte anzuschließen, sondern einer Gruppe anzu­ gehören, in einen bestimmten Kreis einzutreten, der sich geschlossen und ab­ gegrenzt gegen andere zu behaupten strebt. Dem Sich-anschließen-wollen ist untrennbar gleich das Sich-abschließen-wollen beigesellt.14

§ 2.

Wechselwirkung.

9

vorausgesetzten Rechtsordnung bestimmt. Diese Rechts- oder Staatsordnung aber stellt einen vom kausalgesetzlichen System der Natur gänzlich verschiedenen, spezifisch eigengesetzlichen Zusammenhang der Elemente dar. Alle, für die diese Rechts- oder Staatsordnung als gültig vorausgesetzt wird, werden als zum Staate gehörig angenommen. Nicht auf Grund empirisch-psychologischer Untersuchung der zwischen den Menschen bestehenden Wechsel­ wirkungen wird bestimmt, ob jemand zu einem Staate gehört — wie wäre denn solches möglich! Sondern es kann bestenfalls nur untersucht werden, ob diejenigen Menschen, die man juristisch als zu einem Staate gehörig ansieht, untereinander auch in jener Wechsel­ wirkung stehen, die man für das die reale Einheit der Gesellschaft konstituierende Element hält. Der Fehler dieser Methode ist offenkundig. Sonderlich dann, wenn sie sich — wie stets — bis zu der Fiktion ver­ steigt, daß die empirisch-kausale, soziologische Einheit mit der spezi­ fisch-juristischen Einheit des Staates zusammenfällt. Oder hätte jemals die empirische Soziologie die Behauptung aufgestellt, daß irgendwelche Individuen zwar soziologisch, nicht aber juristisch, oder zwar juristisch, nicht aber soziologisch zu einem bestimmten Staate gehören *)? Daß die zur juristischen Einheit des Staates zusammengefaßten Individuen — darunter Kinder, Wahnsinnige, Schlafende, und solche, denen das Bewußtsein dieser Zugehörigkeit gänzlich fehlt — in einer seeli­ schen Wechselwirkung stehen, die die innige Verbindung eines sozio­ logischen Verbandes darstellt, ist ebenso eine von der herrschen­ den Soziologie mit völliger Selbstverständlichkeit gemachte Annahme, wie eine gänzlich unzulässige Fiktion. Und man muß sich nur wundern, daß deren Resultat: die restlose Kongruenz von kausal-soziologischer und normativ-juristischer Betrachtung nicht einigermaßen verblüfft hat, und daß auch nicht einmal die Möglichkeit erörtert wurde, daß die soziologische Realität, die man Staat nennt, ihrem Umfang nach von dem juristischen Staat sehr verschieden sein könnte, in welchem Falle ernstliche Zweifel entstehen müßten, beide, nach so verschiedenen Methoden gewonnene Einheiten, deren Umfang nun ’) Ist nicht der angeblich nach naturwissenschaftlichen Methoden ver­ fahrenden Soziologie die kritiklose Uebernahme des juristischen Staatsbegriffs und dessen rein normativer Einheit so selbstverständlich, daß sie bisher auf eine selbständige Untersuchung des Staatsproblems so gut wie verzichtet hat? Tatsache ist jedenfalls, daß die Frage nach der soziologischen Einheit des Staates in den neueren Gesellschaftstheorien entweder nur sehr gelegentlich und oberflächlich gestreift wird oder — wo ausführliche Untersuchungen vor­ liegen — diese auf eine mehr oder weniger verhüllte Reproduktion einer juri­ stischen Staatstheorie hinauslaufen. Vgl. dazu die §§ 25, 26.

10

I



•.



- ■.

■f

I. Der Staat ala soziale Realität.

auch handgreiflich auseinanderfällt, als dasselbe Wesen unter dem­ selben Begriffe zu erfassen. Zieht man aber gar die dissoziierenden Kräfte, die trennenden Wechselwirkungen in Rechnung, dann bleibt es gänzlich unverständ­ lich, wie die durch wirtschaftliche, nationale, religiöse und sonstige Interessen miteinander in „Wechselwirkung“ zu sozialen Gruppen ver­ bundenen, außerhalb dieser Gruppen aber durch ebendiese feindlichen Interessen getrennten Menschen, die wohl in einer Rechts-, d. b. Soll- oder Norm-Einheit gedanklich zusammengefaßt werden können, auch realiter über diese trennenden Gegensätze hinweg „verbunden“ sein sollen. Ergibt soziologische Untersuchung innerhalb der — notabene juristischen, nichtempirisch-kausalen — Staatsgemein­ schaft eine Trennung nach wirtschaftlichen Klassen, dann be­ deutet die Behauptung einer gleichzeitigen „Staats“ ve r bind u n g der als getrennt erkannten Individuen einen unlösbaren Widerspruch. Weil es sich um psychologische Realitäten, um Bewußtseins­ vorgänge handelt, kann man nicht behaupten, Unternehmer und Arbeiter werden durch den Bewußtseinsgegensatz der Klasse ge­ trennt und zugleich durch die Bewußtseinsgenieinschaft des Staates verbunden. Man kann nicht zugleich Freund und Feind sein, kann nicht zugleich lieben und hassen. Der Klassengegensatz muß aus dem Bewußtsein verschwinden, wenn die Staatsgemeinschaft — als reale, soziologisch-psychologische Einheit — lebendig werden soll. Das ist ja der Sinn des Appells, den man im Augenblick der Gefahr an die politischen Parteien des Staates zu richten pflegt: Die die politische Gruppenbildung begründenden Gegensätze im Be­ wußtsein zurückzudrängen, damit für das Staatsbewußtsein Platz werde, d. h. damit die zum Staate juristisch Zugehörigen auch psychologisch-real eine Einheit, eine Verbundenheit bilden. Wie weit aber eine solche Forderung im konkreten Falle realisiert wird, ja überhaupt realisierbar ist, muß sehr zweifelhaft bleiben. — Wie könnte man ernstlich für möglich halten, daß die juristischen Staatsgrenzen auch für die empirisch psychologische Betrachtung jenes Netz verbindender Wechselwirkungen abscbließen, die allein den Staat zu einer soziologisch-realen Einheit machen ? Sollten nicht Klassen-, nationale und religiöse Interessen stärker sein können als Staatsbewußtsein, sollten sie nicht über die juristischen Grenzen hinweg Gruppen bildend wirken und so den Bestand einer mit der juristischen Staatseinheit zusammenfallenden Gruppe in Frage stellen? Gar wenn man die — zur Konstituierung der sozialen Ein­ heit auf Basis psychischer Wechselwirkung unerläßliche — An­ nahme macht, daß eine Vielheit von Menschen nur dann und nur

§ 2.

Wechselwirkung.

11

insoferne eine empirisch-soziale Einheit bildet, wenn die sie unter­ einander verknüpfenden Wechselwirkungen stärker, intensiver sind, als die sie mit andern verbindenden, wenn sie untereinander so wie die Organe eines lebendigen Körpers, — um mit Simmel zu sprechen — „in engerem Wechseltausch ihrer Energien stehen, als mit irgend einem äußeren Sein“. Denn wer könnte ernstlich in Frage stellen, daß etwa nationale Gemeinschaft zwischen Angehörigen verschiedener Staaten ein unendlich engeres Band schlingt oder doch schlingen kann, als die juristische Zugehörigkeit zu einem Staate? Ist die sozio­ logische Theorie der psychischen Wechselwirkung entschlossen, die Konsequenzen ihrer Lehre zu ziehen, die sich für den Staat ergeben, der, wollte man ihn auf ihr begründen, in den bodenlosen Ab­ gründen wirtschaftlicher, religiöser und nationaler Gegensätze ver­ sinken müßte1)? ’) Schon in dem 1863 erschienenen dreibändigen, so etwas wie eine Sozio­ logie des Staates intendierenden Werke von Josef Held, Staat und Ge­ sellschaft, wird die Frage aufgeworfen: Was ist ein Volk? und die Ant­ wortgegeben: eine .durch irgendein starkes Band zur Einheit gewordene größere Menschenmasse“. Diese Einheit, auf die sich die Problemstellung bewußt richtet, wird als »staatliche Einheit“ erkannt, das Volk des näheren als das »gesamte lebendige Substrat des Staates, die staat­ liche Einheit einer größeren Menschenmasse“ bezeichnet. Und im Anschluß daran heißt es: .Wenn man die unendliche Verschiedenheit der Menschen, die Mannigfaltigkeit ihrer Bestrebungen, ihre Freiheit und deren unmittelbare Richtung auf das individuelle Interesse, den fortgesetzten Wechsel in den Individualitäten, deren Sichwegziehen vom Staat und Hinausgehen über den­ selben bedenkt, so gibt es gewiß nichts Wunderbareres als die staatliche Einheit von vielen Tausenden und Millionen Menschen.“ Held glaubt dieses »Wunder“ der staatlichen Einheit als »Organismus“ be­ greifen zu können. »In jedem Organismus ist ein so inniger und lebendiger Zusammenhang, daß das diesem entsprechende Gefühl jedes organischen Gliedes nicht nur dieses ganz durchdringt, sondern auch mit den betreffenden Gefühlen aller übrigen organischen Glieder in beständiger Wechselwirkung sich befindet. Man kann auch sagen, daß nur soweit eine solche Einheit der Gefühle oder des Bewußtseins da ist, eine lebendige organische Einheit des Staates angenommen werden könne.“ Diese Auffassung des Staates als einer realen, natürlichen Einheit kann Held begreiflicherweise nicht aufrechthalten und er setzt sie auch — wie sich gleich zeigt — gar nicht ernstlich voraus. Wohin er eigentlich zielt — und das ist im höchsten Grade symptomatisch —, geht aus der Fol­ gerung hervor, die er aus dem Prinzip der organischen Einheit ableiten zu können glaubt: »Diese Einheit erfordert jedoch in jedem Organismus einen Punkt, in welchem sie gleichsam gipfelt, in welchem, da in ihm das staatliche Leben aller Glieder zusammenläuft, sie sich am höchsten potenziert. Dieser Punkt ist das Haupt, das Höchste usw.“ Kurz: der Monarch. Das Naturgesetz der organischen Einheit wird zu einem politischen Postulat und später zum Gesetz der Rechts einheit, einer bloß rechtsgesetzlichen Einheit:

1

I

12

I. Der Staat als soziale Realität.

§ 3. Psychische „V erbindun g“. Erblickt man das Wesen der sozialen Realität und sohin auch des Staates als eines Stücks der gesellschaftlichen Wirklichkeit in einer irgendwie näher zu charakterisierenden psychischen „Verbin­ dung“, dann ist es nicht überflüssig, sich den durchaus bildlichen Charakter dieser Vorstellung klar zu machen, mit der eine Raum­ relation auf unräumlich seelische Tatsachen übertragen wird. Das Mißliche, mit einer auf die Körperwelt zugeschnittenen Sprache psychische Vorgänge zu bezeichnen, macht sich hier besonders fühl­ bar. Und die Schwierigkeit wird noch dadurch erhöht, daß der volle Sinn des Sozialen offenbar nicht durch die Erkenntnis einer bloß psychischen Verbundenheit erschöpft wird, daß irgenwie auch ein räumlich körperliches Beisammen menschlicher Leiber auf einem Teile der Erdoberfläche als dazu gehörig angesehen wird. Der Be­ griff des Staates sei hier nur als Beispiel erwähnt. Und in der Tat, wenn man die gesellschaftlichen Phänomene, wie das in der neueren Soziologie behauptet aber nicht durchgeführt wird, als reine Seelenvorgänge betrachtet, ist es gänzlich ausgeschlossen, zu jenen „Gebilden“, jenen sozialen „Einheiten“ zu gelangen, die schließ­ lich und endlich sich jeder Soziologie als ihre eigentlichsten Objekte aufdrängen. Unterzieht man dasjenige, was eine soziale Verbindung ps y ch o1 ogi sch bedeuten kann, einer Analyse, so ergibt sich als der Sinn der Behauptung, daß A mit B verbunden sei, nicht etwa, daß beide als Körper in denselben Raum gebannt sind, keine — wie sich die



F k

i

»Diese ideale Einheit ist aber nie vollkommen dagewesen und wird es nie sein. Wo und soweit sie vorhanden ist, wird die Regierung nur ihr natürlicher Ver­ treter sein ; wo und soweit sie fehlt, da ist Kampf, Streit und Kollision“ — aber dennoch »Staat« 1 — »und nun tritt das Haupt in seiner besonderen Funktion auf, indem es durch die Entscheidung im Interesse der Einheit die dieselbe gefährdende Kollision und Verschiedenheit der Meinungen wenigstens äußer­ lich und insoferne jedenfalls endgültig aufhebt.“ Diese Einheit beschränkt sich aber offenkundig auf die Sphäre des Rechts! „Dies kann oder sollte ge­ schehen entweder nach einem feststehenden organischen Gesetz, welches selber das Produkt einer organischen Entwicklung ist“ — aber nichts anderes als ein Rechtsgesetz sein kann — „oder nach derjenigen eigenen Meinung des Hauptes, welche dieses, erfüllt von der Aufgabe seiner Stellung im Organis­ mus und geleitet von der daraus erwachsenden Pflicht, für die dem Organis­ mus am meisten entsprechende hält, halten darf und muß“ — was auch nur der Ausdruck eines Rechtsgesetzes ist, eines besonderen freilich, nämlich jenes der absoluten Monarchie. An Stelle des naturwissenschaftlichen (organischen) sind der politische und juristische Gesichtspunkt getreten. Die unklare Ver­ mengung beider ist das Charakteristikum der Staatslehre des 19. Jahrhunderts.

§ 3. Psychische „Verbindung“.

13

neuere Soziologie auszudrücken pflegt — äußerliche, sondern eine „innerliche“ Relation. Als psychische Tatsache ist das Verbundensein eine Vorstellung oder ein Gefühl in der Seele des A, der sich mit B verbunden weiß oder fühlt. So charakterisiert SlMMEL die soziale Verbindung einer Religionsgemeinschaft, „daß jeder sich mit dem andern im Glauben eins weiß“’); so ist das Wesen jenes Bandes, das die Liebe um zwei Menschen schlingt, dies, daß in dem einen die Vorstellung des andern mit einer spezifischen Gefühls­ betonung auftritt, die eben nur durch ein räumlich körperliches Bild: A ist an B gefesselt, mit B unlöslich verkettet, verbunden, Ausdruck findet. Auch der Staat erscheint — als soziale Verbindung — in dem Gefühl, das die Vorstellung einer gewissen Gemeinsamkeit: gemeinsamer Einrichtungen, gemeinsamen Gebietes usw. in der Seele des Einzelnen begleitet. Wieder muß ein außerpsychologischer Staats­ begriff vorausgesetzt werden, dessen — für sein Wesen irrelevanter — psychischer Reflex in den Seelen der den Staat erlebenden Menschen dieses Gefühl des „Verbundenseins“ erzeugen mag. Es ist, streng genommen, unrichtig, von einer Verbindung „zwischen“ den Men­ schen zu sprechen; ist Gesellschaft ein Psychisches, dann voll­ zieht sich die als Gesellschaft erkannte „Verbindung“ zur Gänze i n dem Einzelindividuum. Es ist nur eine hypostasierte, zu unrecht in die Außenkörperwelt verlegte, durchaus intra-individuelle Relation, wenn behauptet wird: Der A ist mit dem B verbunden. Verbunden, d. h. in bestimmter Weise gefühlsbetont ist in der Seele des A die Vorstellung des B. Und auch eine durchaus analoge „Verbindung“ in der Seele des B hinsichtlich der Vorstellung des A — eine Wechsel­ seitigkeit, die überdies zur Annahme einer Verbindung zwischen A und B gar nicht nötig ist — kann an dem durchaus intra­ individuellen Charakter der sozialen „Verbindung6 nichts ändern. Von Wechselwirkung braucht eigentlich gar nicht die Rede zu sein. Daß das Verbindungsgefühl in A entsteht, hat ge­ wiß seine Ursachen, unter denen auch ein Verhalten des B seine Rolle spielen mag. Aber die Verbindung besteht nicht in dieser von dem B auf den A geübten Wirkung. Ebensowenig wie die Wirkung eines leblosen Gegenstandes auf A diesen mit jenem zu einer Einheit verbindet. Die Frage, ob das Verbindungsgefühl nicht nur die Vorstellung eines Menschen, sondern auch die eines Gegen­ standes — etwa die Vorstellung der Heimat als Heimatsgefühl, Gefühl von Verbundenheit mit einem Stück Erde — begleiten kann, soll hier nicht weiter verfolgt werden. Nur erinnert sei an das Ge1 ) Schmollers Jahrbuch, Bd. 20, S. 579.

14

-

I. Der Staat als soziale Realität.

fühl der „Eingegrenztheit“, das sicherlich nur mit der Vorstellung eines Stück Erde assoziiert ist und vermutlich Bestandteil des psy­ chischen Tatbestandes ist, der als die psychische Tatsache des Staates gelten kann. Nur der innerhalb der Einzelseele lebendige Gefühlston, den man als „Verbindung“ bezeichnet, nicht aber die zwischen den Menschen spielende „Wechselwirkung“ kann jene „Grade“, jene Intensitätsstufen haben, die die Soziologie an dem gesellschaftlichen Grundphänomen zu erkennen glaubt, die für sie geradezu zum Krite­ rium des Sozialen, der sozialen Einheit werden. Eine zwischen Menschen angenommene Wechselwirkung kann keine bloß psychische sein, denn die in Betracht kommende Kausal­ reihe müßte, um von der Seele des A in die des B und wieder zurückzugelangen, zweimal den Weg durch beide Körper nehmen! Ist schon die Anwendung der Kausalität auf das Seelische proble­ matisch, muß die Konstruktion einer psychophysischen Kausalreihe vollends zu unlösbaren Schwierigkeiten führen. Diese scheinen aber unvermeidlich zu sein, wenn man das Soziale nicht auf das Psychische einschränken zu dürfen glaubt. Widersprüche sind hier kaum zu vermeiden. Simmel spricht von einem „Doppelsinn des Zwischen, daß eine Beziehung zwischen zwei Elementen, die doch nur eine, in dem einen und in dem andern immanent stattfindende Bewegung oder Modifikation ist, zwischen ihnen, im Sinne des räumlichen Dazwischentretens stattfinde“J). Sol! jedoch die Vorstellung einer zwischen den Menschen bestehenden (raumfüllenden) Beziehung nicht ein auf seine eigentliche Bedeutung einer innerhalb der Einzel­ seele beschlossenen, immanenten Modifikation zu reduzierendes Bild sein, dann bedeutet sie das Verlassen der psychischen Sphäre und die Verlegung des Sozialen in die Körperwelt. Dies muß Simmel entgegengehalten werden, wenn er fortfährt: „Das Zwischen als eine bloß funktionelle Gegenseitigkeit, deren Inhalte in jedem ihrer perso­ nalen Träger verbleiben, realisiert sich hier wirklich auch als Be­ anspruchung des zwischen diesen beiden bestehenden Raumes; es findet wirklich immer zwischen den beiden Raumstellen statt, an deren einer und andrer ein jeder seinen für ihn designierten, von ihm allein erfüllten Platz hat“2). Daß die soziologische Betrachtung nicht in jenem psychologischen Bereiche ihr Genüge finden kann, der ihr durch den als psychische Wechselwirkung bestimmten Gesellschaftsbegriff gesteckt ist, kann leicht verstanden werden. Schon aus dem Grunde, weil alle psycho’) Soziologie, S. 616.

*) a. a. 0. S. 616.

§ 4. Parallelität psychischer Prozesse und Motivation.

15

logische Untersuchung letztlich nur als individualpsychologische denkbar ist; denn wenn sie einmal in die Einzelseele hinabsteigt, führt sie kein Weg aus dieser heraus. Für die psychologische Be­ trachtung ist die Einzelseele wirklich eine fensterlose Monade. Und dabei ist alle Soziologie auf ein überindividuelles Ziel gerichtet, weil alles Soziale seinemWesen nach über das Individuelle hinausweist, ja, als ein durch und durch Andersartiges, geradezu die Ueberwindung und Negation deslndividu.ums zu bedeuten scheint.

§ 4. Parallelität psychischer Prozesse und Motivation.

Man vermeint im Bereiche des Psychologischen zu verbleiben und dabei dennoch das Ueberindividuelle zu erfassen, wenn man — als eine Form der gesellschaftlichen Verbindung oder sozialen Ein­ heit — eine Mehrheit von Individuen als Gemeinschaft da­ durch erkennt, daß man irgendeine inhaltliche Uebereinstimmung ihres Wollens, Fühlens oder Denkens annehmen zu dürfen glaubt. Man könnte hier von einer Paralle­ lität der psychischen Prozesse sprechen, und eine solche liegt immer vor, wenn von einem „Gesamtwillen“, einem „Gemeingefühl“, einem Gesamt- oder Gemeinbewußtsein oder -Interesse die Rede ist. Gerade den Staat pflegt man in solcher Weise als sozialpsycho­ logische Realität zu charakterisieren. Sieht man indes näher zu, zeigt sich, daß eine rein psychologische Bedeutung dieser „Gemein­ schaften“ diese keineswegs als soziale, überindividuelle Einheiten begreifen läßt. Denn die Anforderung, die man zu allererst an den Begriff einer sozialen Einheit stellt und die auch von allen Soziologen gestellt wird, ist die, daß dieser Begriff nicht das bloße Abziehen gleicher Merkmale von einer Mehrheit von Individuen, sondern eine irgendwie geartete Zusammenfassung, Verbindung dieser Individuen zu einer höheren Einheit darstellt. Der Begriff des Negers, als Inbegriff aller Menschen schwarzer Hautfarbe, be­ deutet ebensowenig eine soziale Einheit oder eine Gesellschaft, wie etwa alle Lebewesen, die durch Kiemen atmen, einen Organismus bilden. Dies gerade ist ja das unter allen Umständen gültige tertium comparationis zwischen Gesellschaft und Organismus, daß eine die bloße Abstraktion übersteigende Synthese der Elemente das die Einheit in der Vielheit hier wie dort konstituierende Moment ist. Daß man diese Synthese sozusagen in das Objekt selbst projiziert, die Gesellschaft als die durch Wechselwirkung zwischen den Men-

. T

16

I. Der Staat als soziale Realität.

sehen zusammengehaltene Einheit vorstellt, ist ein Irrtum, dessen Korrektur in einem späteren Zusammenhänge versucht werden soll. In der Tatsache, daß eine Vielheit von Menschen dasselbe wollen, fühlen oder vorstellen, liegt jedenfalls zunächst keine andere »Ge­ meinschaft8 als jene, die in dem Begriff eines gemeinsamen körper­ lichen Merkmals gedanklich vollzogen wird. Fügt man aber bei jedem Einzelnen noch das Bewußtsein oder Gefühl der Gemeinsam­ keit hinzu, so ist damit für die Struktur des Begriffes nichts Wesent­ liches gewonnen, eine „innere“ Verbindung dadurch zwischen den Einzelnen nicht hergestellt. Ganz abgesehen von dem Widerspruch, der in der Vorstellung einer „inneren“, d. h. doch wohl im Innern der Einzelseelen beschlossenen Verbindung „zwischen“ den Einzelnen also einer von Außenseite zu Außenseite wirkenden Verbindung, gelegen ist. Auch ist es sicherlich unbegründet, eine derartige Willens-, Gefühls- oder Vorstellungsgemeinschaft nur auf „Wechsel­ wirkung“ zu begründen oder gar als eine Form der „Wechselwir­ kung“ zu bezeichnen. Die in der Kirche versammelten Menschen, die von dem Priester durch Erzeugung gewisser, bei allen gleichen Vor­ stellungen in einen dem Inhalte nach gleichen Zustand von Andachts­ verzückung versetzt werden, die Menschen einer Volksmenge, die durch die aufreizende Rede eines Führers in revolutionärer Begeisterung von demselben Willen — etwa ein Regierungsgebäude zu zerstören, — erfüllt werden, sind vollendete Beispiele einer aktuellen Gefühls-, Vorstellungs- oder Willensgemeinschaft, die nicht durch Wechsel­ wirkung zwischen den Einzelnen, sondern durch eine gemeinsame Wirkung von außen, d. h. von dritter Seite her erzeugt wird. Neben dieser Wirkung spielt das Bewußtsein, daß die andern in gleicher Weise fühlen, denken oder wollen, eine sekundäre Rolle. Dieses durch Verständigung der Individuen untereinander in jedem Einzelnen entstehende Bewußtsein gleichartiger seelischer Inhalte kann unter gewissen Umständen eine Intensivierung des seelischen Grunderlebnisses der Einzelnen herbeiführen. Die aus irgendeinem Anlaß geweckte patriotische Begeisterung wird verstärkt durch die Wahrnehmung der gleichen Stimmung bei den andern und kann vielleicht in einem gewissen Verhältnis zu der Ausdehnung dieser Erscheinung in der Masse bei dem Einzelnen wachsen. Indeß ist auch das Umgekehrte möglich, wie schon die Weisheit des Sprich­ wortes erkennt: „Geteiltes Leid ist halbes Leid.“ Mit Rücksicht auf die in diesem Punkte sehr erhebliche Verschiedenheit der individu­ ellen Anlage und der nicht abzusehenden Begleitumstände, die für eine verstärkende oder abschwächende Wirkung des Gemeinsamkeits­ bewußtseins bestimmend sind, wird wohl eine allgemein gültige Regel

b’

§ 4. Parallelität psychischer Prozesse und Motivation.

17

kaum aufzustellen sein. Aber jedenfalls muß die Anschauung ab­ gelehnt werden, daß der Gesamtwille, das Gesamtgefühl oder die Gesamtvorstellung eine durch Summierung der einzelnen Wollungen, Gefühle oder Vorstellungen gewonnene und dementsprechend intensi­ vierte seelische Größe sei. Nur weil eine solche Anschauung mit­ unter von Sozialtheoretikern vertreten wird, muß noch ausdrücklich gesagt werden, daß sich seelische Elemente verschiedener Individuen nicht addieren lassen und daß eine solche Summe, selbst wenn sie sich ziehen ließe, kein Ausdruck für irgendeine seelische Realität wäre *). Gesamtgefühl, Gesamtwille und Gesamtvorstellung kann nie etwas anderes bedeuten als eine Bezeichnung für die Uebereinstimmung der Bewußtseinsinhalte einer Mehrheit von Individuen. Wollte man den Staat ernstlich als eine solche Bewußtseins­ gemeinschaft begreifen — und tatsächlich wird vielfach demjenigen, was man staatlichen Gesamtwillen oder staatliches Gesamtinteresse nennt, ein derartiger realistischer, empirisch-psychologischer Sinn beigelegt — dann müßte man — um unzulässige Fiktionen zu vermeiden — so~konsequent sein, wirklich nur jene Menschen den Staat bilden zu lassen, bei denen die erforderliche Uebereinstimmung ihrer Bewußtseinsinhalte erwiesen ist. Man müßte sich ver­ gegenwärtigen, daß Willens-, Gefühls- oder Vorstellungsgemeinschaft als psychologische Massenerscheinung zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten in äußerst schwankendem Umfang auftritt. *) Die Bildung eines Gesamt- oder Kollektivbewußtseins sucht KibtiaKOWSKI, Gesellschaft und Einzelwesen, 1899, 8. 150, unter anderem an fol­ gendem Beispiel darzustellen: „Das patriotische Gefühl von zwei Personen ist viel stärker als das patriotische Gefühl von einer; das patriotische Gefühl von hundert Personen ist noch stärker, von tausend noch stärker usw. Es findet hier also eine Anhäufung und Steigerung der individuellen Gefühle statt; die Zusammenfassung aber dieser einzelnen Vorgänge nennen wir das allge­ meine Gefühl. Wir können also behaupten, wenn wir vorläufig von der Un­ genauigkeit des Ausdrucks absehen, daß das allgemeine patriotische Gefühl einer Gesamtheit von Personen eine bestimmte psychische Größe bildet, welche die Summe der einzelnen Gefühle übersteigt.“ Ist nur zu fragen, wie bei der bloßen Konstatierung, daß mehrere Individuen dasselbe Gefühl haben, ein von diesen Einzelgefühlen verschiedenes, aus ihnen zwar zusammengesetztes, selbst aber „ein ganzes oder potenziertes Kollektivgefühl“ (S. 152) entstehen kann. Diese Hypostasicrung eines Abstraktionsproduktes ist so erstaunlich, daß der rätselhafte Zuschlag zur Summe aller Einzelgefühle beim Ausmessen des Kol­ lektivgefühls keine Rolle mehr spielt. Das von der neueren Sozialpsychologie angenommene, aber keineswegs ausnahmslose Gesetz der sogenannten „Affekt­ steigerung in der Masse“, auch „Summation der Gefühlsbewegung“ genannt, besagt nur: „Jedes Wachstum des Affektes in die Weite bedeutet zugleich auch einen Zuwachs von Gemütsbewegung im Bewußtsein des schon Ergriffenen.“ Vgl. Moede, a a. 0. S. 393 ff. 2 Kelsen, Staatsbegriff. 2. Aufl.

18

I. Der Staat als soziale Realität.

In dem Ozean des seelischen Geschehens mögen solche Gemein­ schaften wie Wellen im Meere auftauchen und nach kurzer Existenz in ewig wechselndem Umfang wieder versinken. Die übliche Vor­ stellung vom Staate als einem festumgrenzten, dauernden Gebilde dürfte keinen Bestand mehr haben. Und man müßte schließlich der Frage Rede und Antwort stehen: Welches der spezifische Inhalt jenes Wollens, Fühlens oder Denkens ist, dessen paralleles Erleben in einer Vielheit von Individuen gerade die staatliche Gemeinschaft ausmacht; da ja doch nicht jede beliebige Massenerscheinung nach Art der Parallelität psychischer Prozesse die staatliche Gemeinschaft darzustellen vermag. Und dabei dürfte sich wohl herausstellen, daß der Staat eben nur der spezifische Inhalt eines Bewußtseins ist, dessen realpsychologische Massenhäufung für seinen Begriff zunächst von problematischer Bedeutung bleibt. Aehnliches gilt im Prinzipe von jener Anschauung, die den Staat als eine Summe von Herrsch afts Verhältnissen psycho­ logisch zu charakterisieren versucht. Den Staat — was mitunter unternommen wird — als ein einziges Herrschaftsverhältnis aufzufassen, ist psychologisch nicht möglich, da die Einheit des Herrschenden ebensowenig wie die des Beherrschten realiter ge­ geben ist. Nimmt man dies für den Staat an, so setzt man eben voraus, was erst durch psychologische Untersuchung gewonnen werden soll, wobei die vorausgesetzte Einheit des Staates offenbar außerpsychologischen, und wie sich stets zeigen läßt, juristischen Charakters ist. Psychologischer Betrachtung liegt nur eine Vielheit von herrschenden und beherrschten Menschen vor, deren Einheit psychologisch nicht anders als durch den gleichen Inhalt des HerrschaftsVerhältnisses — also im Wege einer Abstraktion — be­ gründet werden kann. Auf den spezifischen Inhalt dieser Herr­ schaftsrelation kommt es somit auch hier an. Zumal Herrschaft psychologisch nichts anderes ist als Motivation: der Wille, die Willensäußerung des einen Menschen wird zum Motiv für den Willen oder das Handeln des andern Menschen, auf dessen Verhalten der Wille des ersteren gerichtet ist. Und bei näherer Betrachtung wird sich wohl jedes Verhältnis zwischen Menschen als Herrschafts­ verhältnis, zumindest aber: auch als Herrschaftsverhältnis heraus­ stellen. Selbst bei jener Beziehung, die solches auszuschließen scheint, bei Liebe und Freundschaft, wird eine feinere Analyse nicht völlige Gleichheit der beiden Elemente, sondern fast immer einen Führer und einen Geführten, einen Stärkeren und einen Schwächeren unterscheiden. Wenn aber jedes menschliche Verhältnis ein Herr­ schaftsverhältnis ist, dann ist die hier zur Verfügung stehende psycho-

§ 5. Die „libido“ als Kriterium der sozialen Verbindung.

19

logische Schablone so weit und nichtssagend, daß nicht einmal das den Inhalt des Staates tragende Gerüst seelischer Prozesse damit hin­ reichend charakterisiert wird.§ 5. Die „libido“ als Kriterium der sozialen Verbindung. Neben der Parallelität der psychischen Prozesse und der „Moti­ vation“ kann als dritte mögliche Form der sozialen Verbindung — soferne solche auf psychologischem Wege gesucht wird — jene eigen­ artige Beziehung angesehen werden, die darin besteht, daß ein Indi­ viduum ein anderes zum Objekt seines dementsprechend auf dieses andere Individuum gerichteten Wünschens, Wollens oder Begehrens macht. Während man bisher diese spezifische seelische Einstellung nur für die paarweise Verbindung des Liebes- und Freunds c h a f t s Verhältnisses (im engsten Sinne) als konstituierend an­ gesehen hat, versucht neuestens Freud, die für seine „Psychoanalyse“ grundlegende Theorie der „libido“ auch zur Lösung des Hauptpro­ blems der Sozialpsychologie, zur Beantwortung der Frage nach dem Wesen der sozialen „Verbindung“ zu verwenden x). Scheinbar geht dabei Freud nur von einem Spezialproblem der Sozialpsychologie, der durch die Untersuchungen SiGHELEs2) und Le Bons 3) geschil­ derten Phänomene der sogenannten Massenpsychologie aus. Allein das Problem der „Masse“ muß sich schon bei einiger Vertiefung als das Problem der sozialen „Einheit“ oder sozialen „Verbindung“ schlechtweg erweisen. Das gerade zeigt die Darstellung Freuds, in deren letzter Konsequenz es gelegen ist, auch den Staat als eine — wenn auch komplizierte — „Masse“, oder doch als ein Phänomen der Massenpsycho­ logie zu begreifen. Als eine Masse „im gewöhnlichen Wortsinne“ bezeichnet Le Bon „eine Vereinigung irgendwelcher Individuen von beliebiger Nationalität, beliebigem Berufe und Geschlecht und beliebigem An­ lasse der Vereinigung“ *). Es ist klar, daß damit keinerlei Begriffs­ bestimmung ausgesprochen ist. Denn das ist ja gerade die Frage, worin das Wesen dieser „Vereinigung“ besteht. Das Problem, das sich Le Bon stellt, ist aber dieses: Welche seelischen Veränderungen

’) Freud, Massenpsychologie und Ichanalyse, 1921, und Totem und Tabu, 2. Aufl., 1920. ’) La coppia criminale, 2. Aufl., deutsch von Kurella, Psychologie des Auflaufs und der Massenverbrechen, 1898. ’) Die Psychologie der Massen (Psychologie des foules). Uebersetzt von Dr. Rud. Eisler, 3. Aufl. 1919. 4) a. a. 0. S. 9.

I. Der Staat als soziale Realität.

20

I

!

i

. i

ergeben sich für den einzelnen aus der Tatsache seines Beisammen­ seins mit anderen? „Masse“ ist ihm zunächst der Ausdruck für eine spezifische Bedingung, unter deren Gegebenheit gewisse gleich­ artige individual-psychische Wirkungen bei einer Mehrheit von Indi­ viduen eintreten. Dieser Begriff erfährt aber sofort einen charak­ teristischen Bedeutungswandel. „Vom psychologischen Gesichtspunkt bedeutet der Ausdruck »Masse« etwas ganz anderes. Unter bestimmten Umständen und bloß unter diesen besitzt eine Versammlung von Menschen neue Merkmale, ganz verschieden von denen der diese Gesellschaft bildenden Individuen. Die bewußte Persönlichkeit schwin­ det, die Gefühle und Gedanken aller Einheiten sind nach derselben Richtung orientiert. Es bildet sich eine Kollektivseele, die, wohl transitorischer Art, aber von ganz bestimmtem Charakter ist.“ Le Bon spricht nunmehr von einer „psychologischen Masse“, zu der die Ge­ samtheit geworden ist und sagt von ihr: „Sie bildet ein einziges Wesen und unterliegt dem Gesetz der seelischen Einheit der Masse“ (loi de l’unite mentale des foules) 1). „Die psychologische Masse ist ein provisorisches Wesen, das aus heterogenen Elementen besteht, die für einen Augenblick sich miteinander verbunden haben, genau so wie die Zellen des Organismus durch ihre Vereinigung ein neues Wesen mit ganz anderen Eigenschaften als denen der einzelnen Zellen bilden“2). War „Masse“ ursprünglich der Ausdruck für die spezi­ fische Bedingung, ist er nunmehr der Ausdruck für die Folgen, die unter den vorausgesetzten Bedingungen eintreten. Dabei wird die Tatsache, daß diese Folgen bei einer Vielheit von Individuen gleichmäßig eintreten, dadurch vereinfacht dargestellt, daß die spe­ zifischen Eigenschaften und Funktionen des in die Masse eingereihten Individuums von der Masse selbst als einem von den die Masse bildenden Subjekten verschiedenen Subjekte ausgesagt wird. Neben den Seelen der — die Masse bildenden — Einzelmenschen erscheint plötzlich eine Massenseele (die Masse ist ja diese Seele). Zwar sagt Le Bon: „Die Hauptmerkmale des in der Masse befindlichen Individuums sind demnach: Schwund der bewußten Persönlichkeit, Vorherrschaft der unbewußten Persönlichkeit, Orien­ tierung der Gedanken’und Gefühle in derselben Richtung durch Sug­ gestion und Ansteckung, Tendenz zur unverzüglichen Verwirklichung der suggerierten Ideen. Das Individuum ist nicht mehr es selbst; es ist ein willenloser Automat. Ferner steigt durch die bloße Zu­ gehörigkeit zu einer Masse der Mensch mehrere Stufen auf der Leiter der Zivilisation herab. In seiner Vereinzelung war er viel’)

a. a. 0. S. 9.

’) a. a. 0. S. 12.

I

§ 5. Die „libido“ als Kriterium der sozialen Verbindung.

21

leicht ein gebildetes Individuum, in der Masse ist e r ein Barbar, d. h. ein Triebwesen. Er besitzt die Spontaneität, die Heftigkeit, die Wildheit und auch den Enthusiasmus und Heroismus primitiver Wesen. Diesen nähert er sich auch noch durch die Leichtigkeit, mit der er sich von Worten und Bildern, die auf jedes einzelne Individuum gänzlich ohne Wirkung wären, beeinflussen und zu Hand­ lungen, die zu seinen entschiedenen Interessen urid bekanntesten Ge­ wohnheiten in Widerspruch stehen, verführen läßt“ *). Allein aus dieser Feststellung einer Summe gleicher Eigenschaften der in der Masse befindlichen Individualseelen werden schließlich Aeußerungen einer von den Individualseelen verschiedenen „Massenseele“. Es wird behauptet, „daß die Masse stets dem isolierten Menschen in­ tellektuell untergeordnet ist, daß „die Masse oft verbrecherisch, oft aber auch heldenhaft ist“ 2), es wird von einem Gefühlsleben, einer Sittlichkeit der Masse gesprochen usw. Weil die Individuen in der Masse andere Eigenschaften haben als im Zustand der Ver­ einzelung, wird von „Eigentümlichkeiten der Massen“ gesprochen, welche die Individuen nicht besitzen“ s) und so ein Gegensatz zwi­ schen Individuum und Masse fingiert, der nicht besteht. Und diese Hypostasierung einer bloß abstraktiven Einheit, diese in der An­ nahme einer „Kollektivseele“ vollzogene Realsetzung eines Verhält­ nisses der Uebereinstimmung des Inhalts vieler Einzelseelen wird gelegentlich ganz bewußt betont, und die Annahme, daß es sich dabei nur um den abbrevierenden und veranschaulichenden Ausdruck für eine Summe gleicher Einzelerscheinungen handelt, direkt ab­ gelehnt. „Im Widerspruch mit einer Anschauung, die sich befremd­ licherweise bei einem so scharfsinnigen Philosophen, wie Herbert SPENCER es ist, findet, gibt es in dem eine Masse bildenden Aggre­ gat keineswegs eine Summe und einen Durchschnitt der Elemente, sondern eine Kombination und Bildung neuer Elemente, genau so wie in der Chemie sich bestimmte Elemente, wie z. B. die Basen und Säuren bei ihrem Zusammenkommen zur Bildung eines neuen Körpers verbinden, dessen Eigen­ schaften von denen der Körper, die an seinem Zustandekommen be­ teiligt waren, völlig verschieden sind“4). Weil die Individuen (in der Masse) neue Eigenschaften aufweisen, wird die Masse zu einem „Körper“, zu einem neuen Individuum — als Träger dieser neuen Eigenschaften — hypostasiert! Indem nun FREUD an Le Bons Schilderung der Massenseele anknüpft, verfällt er durchaus nicht in den Fehler dieser Hypo’) a. a. 0. S. 16, 17. 4) a. a. 0. S. 12.

•) S. 17.

3) S. 14.

22

I. Der Staat als soziale Realität.

stasierung. Er leugnet mit dankenswerter Schärfe gleich zu Beginn seiner Untersuchungen den Gegensatz von Individual- und Sozial­ psychologie und erklärt, daß der Gegensatz von sozialen und nicht sozialen („narzistischen“ oder „autistischen“, d. h. nicht auf einen anderen bezogenen) seelischen Akten „durchaus innerhalb des Be­ reiches der Individualpsychologie“ fällt1). Demgemäß formuliert FREUD die für Le Bon entscheidende Tatsache durchaus korrekt dahin: daß das „Individuum unter einer bestimmten Bedingung ganz anders fühlt, denkt und handelt als von ihm zu erwarten stand, und diese Bedingung ist die Einreihung in eine Menschenmenge, welche die Eigenschaft einer »psychologischen Masse« erworben hat“. Für FREUD gibt es keine anderen als Individualseelen und seine Psycho­ logie bleibt unter allen Umständen Individualpsychologie. Das ist gerade das Spezifische seiner Methode, daß er die Phänomene der so­ genannten Massenseele als Erscheinungen der Individualseele aufzeigt. Aber auch in anderer Hinsicht bedeuten Freuds Untersuchungen einen entschiedenen Fortschritt über Le Bon hinaus. Dieser begnügt sich im Grunde, einen psychologischen Tatbestand zu schildern; was er an Erklärung durch die Annahme einer „Kollektivseele“ versucht, kommt nicht weiter in Betracht. Freud aber dringt in den Kern dieses Problems, wenn er im Anschluß an Le Bons Darstellung der Einheit der in der Masse verbundenen Individuen — (als Ausdruck dieser Einheit tritt eben die — hypostasierte — Metapher der Kol­ lektivseele auf) — die bei Le Bon außer acht gelassene Frage stellt: „Wenn die Individuen in der Masse zu einer Einheit verbunden sind, so muß es wohl etwas geben, was sie aneinander bindet, und dieses Bindemittel könnte gerade das sein, was für die Magse charakteristisch ist“ 2). Zwar beschränkt sich schon Le Bon nicht darauf, die Masse als die Tatsache gleichartiger seelischer Reaktion einer Vielheit von Individuen, also als einen Fall der „Parallelität psychischer Prozesse“ zu beschreiben. Er spricht stets auch von einem „Verbundensein“ der gleichartig sich verhaltenden Individuen; und die Metapher des „Organismus“ und der „Kollektiv­ seele“ soll ja offenbar diese „Verbindung“ als etwas über das bloße Gleichgerichtetsein Hinausgehendes bezeichnen. Aber worin diese „Verbindung“ eigentlich besteht, fragt er nicht. Gerade mit dieser Frage aber zerreißt FREUD nicht nur den Schleier der Hypostasierung „Kollektivseele“, sondern er erhebt auch das Problem der „Masse“ zum Problem der sozialen Einheit, der sozialen Verbindung überhaupt. *) Massenpsychologie und Ichanalyse, S. 2. ’) a. a. 0. S. 7.

§ 5. Die „libido“ als Kriterium der sozialen Verbindung.

23

Wenn im folgenden der Versuch Freuds kurz skizziert wird, den Grundbegriff seiner Psychoanalyse, die „libido“ zur Aufklärung der Massenpsychologie zu verwenden, die Verbindung der Individuen zu der — allzu eng als „Masse“ bezeichneten — sozialen Einheit als eine G e f ü h 1 s bindung, als einen Fall der libido zu begreifen, so muß vorangeschickt werden, daß eine solche Skizze nur ein sehr unvollkommenes Bild der FREUDschen Sozialpsychologie geben kann. Die Lehre von der „libidinösen Struktur der Masse“ ist so innig mit der ganzen umfassenden psychologischen Theorie Freuds ver­ bunden, daß sie, losgelöst von dem Boden der allgemeinen Psycho­ analyse, ohne große Schwierigkeiten für das Verständnis und ohne die Gefahr, mißverstanden zu werden, nicht dargestellt werden kann. Indes kommt es in diesem Zusammenhänge nicht so sehr auf den spezifischen Wert der Psychoanalyse zur Aufklärung der Phänomene der Massenpsychologie, sondern vielmehr darauf an, ob und inwie­ weit dieser Versuch, die soziale Realität psychologisch zu bestim­ men, für Begriff und Wesen des Staates fruchtbar gemacht werden, ob der Staat als eine „psycho­ logische Masse“ der durch die FREUDsche Psycho­ analyse aufgehellten Struktur angesehen werden kann. Zu diesem Zwecke genügt aber eine die prinzipiellen Ge­ sichtspunkte festhaltende Darstellung und ist ein näheres Eingehen auf die Grundvoraussetzungen der allgemeinen Psychoanalyse nicht erforderlich. Wenn FREUD die Annahme macht, daß „libido“, „daß Liebes­ beziehungen (indifferent ausgedrückt: Gefühlsbindungen) auch das Wesen der Massenseele ausmachen“ *), so versteht er das Wort „libido“ oder „Liebe“ in einem weitesten, nicht bloß die Geschlechtsliebe umfassenden Sinne, etwa in der gleichen Bedeutung, in der der „Eros“ Platons auftritt. Freud sagt, er stütze seine Erwartung, daß Liebesbeziehungen auch das Wesen der sozialen Verbindung ausmachen, zunächst auf zwei „flüchtige Gedanken“: „Erstens, daß die Masse offenbar durch irgendeine Macht zusammengehalten wird. Welcher Macht könnte man aber diese Leistung eher zuschreiben als dem Eros, der alles in der Welt zusammenhält? Zweitens, daß man den Eindruck empfängt, wenn der einzelne in der Masse seine Eigenart aufgibt und sich von den anderen suggerieren läßt, er tue es, weil ein Bedürfnis bei ihm besteht, eher im Einvernehmen mit ihnen als im Gegensatz zu ihnen zu sein, also vielleicht doch »ihnen zuliebe«“2). Wenn das Wesen der Massenbildung, der sozialen

l) a. a. 0. S. 45.

2) a. a. 0. S. 45.

24

I. Der Staat als soziale Realität.

Verbindung überhaupt in „libidinösen Bindungen“ der Massen­ glieder, der die Gruppe bildenden Individuen bestehen soll, so wird doch zugleich mit Nachdruck betont, daß es sich dabei nicht um Liebestriebe handeln könne, „die direkte Sexualziele verfolgen“. „Wir haben es hier mit Liebestrieben zu tun, die, ohne darum minder energisch zu wirken, doch von ihren ursprünglichen Zielen abgelenkt sind“ *). Solche Ablenkung des Triebes von seinem Sexualziel beschäftigt die Psychoanalyse in vielfacher Richtung. Diese Erscheinung ist, wie die Psychoanalyse lehrt, mit gewissen Beeinträchtigungen des Ichs verbunden. Die Vermutung, daß sich die soziale Verbindung als eine derartige libidinöse Bindung be­ greifen lasse, wird zunächst dadurch bestärkt, daß ja als ein wesent­ liches Merkmal des in die Masse eingereihten Individuums das Schwinden des Selbstbewußtseins angegeben wird. „Solange die Massenbildung anhält oder soweit sie reicht“ — diese Anerkennung der bloß ephemeren, flüchtigen, in ihrem Umfang schwankenden Exi­ stenz der sozialen Gruppenbildung ist von größter Wichtigkeit! — „benehmen sich die Individuen als wären sie gleichförmig, dulden sie die Eigenart des andern, stellen sich ihm gleich und verspüren kein Gefühl der Abstoßung gegen ihn. Eine solche Einschränkung des Narzißmus2) kann nach unseren theoretischen Anschauungen nur durch ein Moment erzeugt werden, durch libidinöse Bindung an andere Personen. Die Selbstliebe findet nur an der Fremdliebe, Liebe zu Objekten, eine Schranke“3). Als eine Gefüblsbindung an eine andere Person, die nicht Geschlechtsliebe ist, hat die Psychoanalyse — schon vor ihrer Untersuchung des sozialpsychologischen Problems — die sogenannte „Identifizierung“ festgestellt. Auf den kompli­ zierten seelischen Mechanismus dieser „Identifizierung“, den die Psychoanalyse in eigenartiger Weise aufdeckt, kann und braucht hier nicht näher eingegangen zu werden. Festgehalten sei hier nur, daß die Identifizierung nach der Lehre Freuds die ursprünglichste Form der Gefühlsbindung an ein Objekt ist (sie ist noch vor jeder sexuellen Objektwahl möglich, z. B. wenn der kleine Knabe sich mit dem Vater identifiziert, indem er so sein möchte wie der Vater, in allen Stücken an seine Stelle treten möchte, kurz, den Vater zu seinem Ideal nimmt); und weiters, daß es nach den Ergebnissen der Psychoanalyse typische Fälle gibt, in denen die Identifizierung in der Weise erfolgt, daß das eine Individuum an einem anderen, das ’) a. a. 0. S. 64. *) Ein terminus technicus der Psychoanalyse für die Phänomene der Eigenliebe im Gegensatz zur Fremdliebe. 3) a. a. 0. S. 62.

§ 5. Die „libido“ als Kriterium der sozialen Verbindung.

25

nicht Objekt seines Sexualtriebes ist, eine bedeutsame Analogie zu sich selbst, eine Gemeinsamkeit in einem wichtigen Punkte wahr­ genommen hat. Das erstere Individuum identifiziert sich nunmehr — allerdings nur partiell, nur in einer bestimmten Hinsicht — mit dem letzteren, an dem die entscheidende Gemeinsamkeit wahrge­ nommen wurde. „Je bedeutsamer diese Gemeinsamkeit ist, desto erfolgreicher muß diese partielle Identifizierung werden können und so dem Anfang einer neuen Bindung entsprechen“2). Diese Gemein­ samkeit kann insbesondere affektiver Natur sein, in der affektiven Bindung beider Individuen an ein gemeinsames Objekt bestehen. Und nun behauptet Freud, „daß die gegenseitige Bindung der Massen­ individuen von der Natur einer solchen Identifizierung durch eine wichtige affektive Gemeinsamkeit ist“, und daß diese Gemeinsamkeit „in der Art der Bindung an den Führer“ liege2). Auch diese Bindung an den Führer beruht nach Freud auf einem von seinem Sexualziel abgelenkten Liebestrieb. Mit Recht hält Freud der bisherigen Sozial- oder Massenpsychologie vor, daß sie die außerordentliche Wichtigkeit des Führermomentes übersehen habe. Eine Masse — im weiteren Sinne: eine soziale Gruppe — ist psychologisch nach Freud ohne Führer gar nicht möglich, ob nun der Führer ein körperlicher Mensch wie bei der ursprünglichen, natürlichen, primitiven Masse, oder — als Führerersatz — eine Idee ist. „Viele Gleiche, die sich miteinander identifizieren können und ein einziger ihnen allen Ueberlegener, das ist die Situation, die wir in der lebens­ fähigen Masse verwirklicht finden.“ Der Mensch ist kein Herden­ tier — wie man zu sagen pflegt—, er ist vielmehr „ein Horden­ tier, ein Einzelwesen einer von einem Oberhaupt angeführten Horde“3). Das Verständnis der Beziehung zum Führer setzt aber die Erkennt­ nis eines wichtigen Phänomens voraus, das die psychoanalytische Forschung als in Verbindung stehend mit der Ersetzung direkter Sexualstrebungen durch zielgehemmte festgestellt hat: die Spaltung des Ichbewußtseins in ein Ich und ein Ichideal. Das letztere diffe­ renziert sich dem ersteren gegenüber dadurch, daß es die Funktionen der Selbstbeobachtung, der Selbstkritik, des Gewissens, der mora­ lischen Instanz ausübt. Das eigenartige Verhältnis zum Führer: die Hingabe des Ichs an das Objekt seines sexualgehemmten Triebes, das vollständige Versagen der dem Ichideal zugeteilten Funktionen, das Schweigen der Kritik, die von dieser Instanz ausgeübt wird, so­ weit es sich um Aeußerungen des Objektes handelt; — alles was das Objekt tut und fordert ist untadelhaft; das Gewissen findet keine ») a a. O. S. 66 ff.. S. 71/72. «) a. a. 0. S. 72.

’) a. a. 0. S. 98, 99.

26

I. Der Staat als soziale Realität.

Anwendung auf alles, was zugunsten des Objekts geschieht: „Diese ganze Situation läßt sich restlos in eine Formel zusammenfassen: das Objekt hat sich an die Stelle des Ichideals gesetzt“ x). Eine Masse, und zwar eine primäre, ursprüngliche Masse, ist demnach nach FREUD eine Anzahl von Individuen, die ein und dasselbe Objekt an Stelle ihres Ichideals gesetzt, ihr Ideal aufgegeben, gegen das im Führer ver­ körperte Massenideal vertauscht und sich infolge­ dessen miteinander identifiziert haben2). Den von Le Bon geschilderten für das in die Masse eingereihte Individuum charakteristischen Rückfall in den Zustand seelischer Primitivität, ja Barbarei erklärt FREUD durch Heranziehung seiner Hypothese von der Entstehung der menschlichen Gesellschaft. In Anschluß an eine von DARWIN ausgesprochene Vermutung nimmt Freud an, daß die Urform der menschlichen Gesellschaft die von einem starken Männchen unumschränkt beherrschte Horde war3). Dieser als Führer fungierende Mann ist ein gewalttätiger, eifer­ süchtiger Vater, der alle Weibchen für sich behält, die Männer aber, das sind die heranwachsenden Söhne, an der Befriedigung ihrer direkten auf die Weibchen gerichteten Sexualtriebe verhindert. Er zwingt sie zur Abstinenz und infolgedessen zu den Gefühlsbindungen an ihn und aneinander, die aus den Strebungen mit gehemmtem Sexualziel hervorgehen. Die Abhaltung der Söhne von den Weib­ chen der Horde führt zur Vertreibung. Eines Tages kommen die ausgetriebenen Brüder zusammen, erschlagen und verzehren den Vater und machen so der Vaterhorde ein Ende. An Stelle der Vater­ horde tritt der Brüderclan. Auf die sehr interessanten Details dieser Hypothese, die vor allem eine überraschende Erklärung der bisher rätselhaften Erscheinungen des sogenannten Totemismus bringt, kann nicht eingegangen werden. Hier ist nur die Behauptung Freuds festzuhalten, daß die Schicksale der Urhorde „unzerstörbare Spuren in der menschlichen Erbgeschichte hinterlassen haben“4). Speziell ’) a. a. 0. S. 83. Die Beziehung zum Führer ist eine ähnliche wie die des „Verliebten“, das ist des mit Verdrängung des Sexualziels Liebenden zu seinem Objekt oder die des Mediums zum Hypnotiseur. Die im Text angeführte Darstellung gibt Freud für die Beziehung des Verliebten zu seinem Objekt. ’) a. a. 0. S. 87/88, 113. 3) Totem und Tabu, S. 116 ff.; Massenpsychologie und Ichanalyse, S. 100 ff. *) An dieser Stelle muß Heinrich Schurtz erwähnt werden, der in seinem Werke .Altersklassen und Männerbünde“, 1902, die These vertritt, daß alle höheren sozialen Verbände, also insbesondere der Staat, auf Män n e r ver­ bände zurückgehen, die bei allen primitiven Völkern als Männerhäuser, klub­ artige Vereinigungen, Geheimbünde usw. beobachtet werden. Diese Männer-

§ 5. Die „libido“ als Kriterium der sozialen Verbindung.

27

die „Masse“ erscheint Freud als ein Wiederaufleben der Urhorde. „Die menschlichen Massen zeigen uns wiederum das vertraute Bild des überstarken Einzelnen inmitten einer Schar von gleichen Genossen, das auch in unserer Vorstellung von der Urhorde enthalten ist. Die Psychologie dieser Masse, wie wir sie aus den oft erwähnten Beschreibungen kennen — der Schwund der bewußten Einzelpersön­ lichkeit, die Orientierung von Gedanken und Gefühlen nach gleichen Richtungen, die Vorherrschaft der Affektivität und des unbewußten Seelischen, die Tendenz zur unverzüglichen Ausführung auftauchender Absichten —, das alles entspricht einem Zustand von Regression zu einer primitiven Seelentätigkeit, wie man sie gerade der Urhorde zuschreiben möchte“1). „Der unheimliche, zwanghafte Charakter der Massenbildung, der sich in ihren Suggestionserschei­ nungen zeigt“, müsse „auf ihre Abkunft von der Urhorde zurück­ geführt werden. Der Führer der Masse ist noch immer der ge­ fürchtete Urvater, die Masse will immer noch von unbeschränkter Gewalt beherrscht werden, sie ist im höchsten Grade autoritätssüch­ tig, hat nach Le Bons Ausdruck den Durst nach Unterwerfung. Der Urvater ist das Massenideal, das an Stelle des Ichideals das Ich beherrscht“2). „Die Masse erscheint uns so als ein Wieder­ aufleben der Urhorde. So wie der Urmensch in jedem einzelnen virtuell erhalten ist, so kann sich aus einem beliebigen Menschen­ haufen die Urhorde wiederherstellen; soweit die Massenbildung die Menschen habituell beherrscht, erkennen wir den Fortbestand der Urhorde in ihr“3). Unter der Voraussetzung, daß FreüDs Lehre vom Wesen der sozialen Verbindung als einer Gefühls b i n d u n g, seine Theorie der libidinösen Struktur der Masse gemäß der doppelten Bindung der Individuen untereinander (Identifizierung) und an den Führer (Ein­ setzung des Objekts an Stelle des Ichideals) richtig sei, geht die — für das Problem des soziologischen Staatsbegriffs maßgebende — Frage: ob auch der Staat eine psychologische Masse sei, dahin: ob auch die im Staat, durch den Staat verbundenen, den Staat bildenden Individuen in jener doppelten Bindung stehen, ob auch der Staat — als soziale Gruppe, als sozialpsychische Realität

bünde beruhen nach Schurtz auf einem spezifischen Gesellschaftstrieb, der zwar sympathischer Natur, dennoch aber von dem Geschlechtstrieb verschieden, ja gegen diesen gerichtet ist. Nur die Verdrängung des im Grunde anti-sozialen Geschlechtstriebes sei Bedingung für soziale Differenzierung und kulturellen Fortschritt. ’) a. a. 0. S. 111.. ») a. a. O. S. 101. ’) a. a. O. S. 102.

28

I. Der Staat ale soziale Realität.

aufgefaßt — jene „libidinöse Struktur“ aufweist. Freud selbst scheint geneigt, diese Frage zu bejahen. Er sagt: „Jeder einzelne ist ein Bestandteil von vielen Massen, durch Identifizierung vielseitig gebunden und hat sein Ichideal nach den verschiedensten Vorbildern aufgebaut. Jeder einzelne hat also Anteil an vielen Massenseelen, an der seiner Rasse, des Standes, der Glaubensgemeinschaft, der Staatlichkeit usw. und kann sich darüber hinaus zu einem Stückchen Selbständigkeit und Originalität erheben“1). Der Staat erscheint somit FREUD als eine „Massenseele". Freilich von etwas anderer Art als jene Massen, in denen die Urhorde unmittelbar lebendig wird. „ Diese ständigen und dauerhaften Massen­ bildungen fallen in ihren gleichmäßig anhaltenden Wir­ kungen der Beobachtung, weniger auf als die rasch gebilde­ ten, vergänglichen Massen, nach denen Le Bon die glänzende psychologische Charakteristik der Massenseele entworfen hat, und in diesen lärmenden, ephemeren, den anderen gleichsam superponierten Massen begibt sich eben das Wunder, daß dasjenige, was wir eben als die individuelle Ausbildung anerkannt haben, spurlos, wenn auch nur zeitweilig, untergeht“ 2). Allein der Unterschied zwischen den „vergänglichen“ und den „ständigen“ Massen ist — nach der eigenen Darstellung Freuds — ein so prinzipieller, daß die ersteren als „Massen“ oder gar als „Massenseelen“ zu bezeichnen, als gänzlich unzulässig und irreführend zurückgewiesen werden muß. Was man „Staat“ nennt, ist etwas gänzlich anderes als jenes Phänomen, das als „Masse“ von Le Bon geschildert und von Freud psychologisch erklärt wurde. Schon anläßlich der Tatsache, daß neben der Regression der in der Masse sich äußernden Individualpsyche auch „entgegen­ gesetzt wirkende Aeußerungen der Massenbildung“ festgestellt werden, daß neben den abfälligen Urteilen Le Bons auch eine „weit höhere Einschätzung der Massenseele“ vorkommt, spricht FREUD die Ver­ mutung aus, daß man als „Massen“ sehr verschiedene Bildungen zusammengefaßt habe, die einer Sonderung bedürfen3). „Die An­ gaben von SlGHELE, Le Bon und anderen beziehen sieh auf Massen kurzlebiger Art, die rasch durch ein vorübergehendes Interesse aus verschiedenartigen Individuen zusammengeballt werden. Es ist un­ verkennbar, daß die Charaktere der revolutionären Massen, besonders der großen französischen Revolution, ihre Schilderungen beeinflußt haben. Die gegensätzlichen Behauptungen stammen aus der Wür­ digung jener stabilen Massen oder Vergesellschaftungen, in

I

*) a. a. 0. S. 112. •) a. a. 0. S. 28.

’) a. a. 0. S. 113.



*

J

-

§ 5. Dio „libido* als Kriterium der sozialen Verbindung.

29

denen die Menschen ihr Leben .zubringen, die sich in den Insti­ tutionen der Gesellschaft verkörpern. Die Massen der ersten Art sind den letzteren gleichsam aufgesetzt wie die kurzen, aber hohen Wellen den langen Dünungen der See“ 1J. So bestechend dieses Bild sein mag, so sehr ist es geeignet, den prinzipiellen Unterschied zwischen den „kurzlebigen“.und den „stabilen“ Massen, die sich in den „Institutionen“ verkörpern, zu verdunkeln, einen Unterschied, den Freud zwar gefühlt, aber nicht deutlich genug erkannt hat. In der maßgebenden Differenzierung zwischen den beiden Arten von „Massen“ schließt sich Freud der Darstellung des englischen Soziologen Mc DOUGALL2) an, der zwischen primitiven, „unorgani­ sierten“ und „organisierten“, artifiziellen Massen unterscheidet. Da das Phänomen der Regression, insbesondere die Tatsache der kollek­ tiven Herabsetzung der intellektuellen Leistung nur bei den Massen ersterer Art zu konstatieren ist, führt er das Ausschalten der regres­ siven Wirkung auf das Moment der „Organisation“ zurück. Die einzelnen Elemente, in denen MC DOUGALL diese „Organisation“ erblicken zu sollen glaubt, kommen hier nicht weiter in Betracht. Das Entscheidende ist jedenfalls die Tatsache, daß in den Gliedern der Gruppe das Bewußtsein einer ihre Beziehungen regulierenden Ordnung, also eines Systems von Normen, besteht. Durch diese „Or­ ganisation“ werden — nach Mc DOUGALL — die psychischen Nach­ teile der Massenbildung aufgehoben. FREUD meint, daß man die Bedingung, die Mc DOUGALL als „Organisation“ beschreibt, anders beschreiben müsse. „Die Aufgabe besteht darin, der Masse gerade jene Eigenschaften zü verschaffen, die für das Individuum charak­ teristisch waren und die bei ihm durch die Massenbildung ausgelöscht wurden.“ Gemeint sind: Selbstbewußtsein, Kritik, Verantwortungs­ gefühl, Gewissen usw. „Diese Eigenart hatte es durch seinen Ein­ tritt in die nichtorganisierte Masse für eine Zeit verloren. “ Ziel der Entwicklung zur „organisierten“ Masse sei: „die Masse mit den Attributen des Individuums auszustatten“ 3). Sicherlich bedarf die Anschauung MC DoUGALLs von der „Organisation“ einer Korrektur. Allein auch jene Freuds muß befremden. Obgleich gerade er das individualpsychologische Prinzip aufs schärfste betont und in der Psychologie der primitiven Masse konsequent durchgeführt hat, bedient er sich jetzt einer Darstellung, die einen Bruch seiner indi­ vidualpsychologischen Methode zu verraten scheint. Die „Masse“ soll gewisse Eigenschaften des Individuums erlangen. Wie könnte das möglich sein, da es sich doch immer nur um Eigenschaften,

*) The group mind, Cambridge, 1920. ’) a. a. 0. S. 28.

2) a. a. 0. S. 35.

I. Der Staat a)s soziale Realität.

30

i

Funktionen der Individualseele handeln kann? Hier liegt nicht eine bloße metaphorische Darstellungsform vor, hier vollzieht sich eine Verschiebung in der Begriffsbildung. Denn wenn man das Bild von der „Masse, die die Eigenschaften des Individuums erhält“, auflöst, zeigt sich, daß überhaupt keine Masse — auch nicht eine von der primitiven verschiedene Masse — gegeben ist! Das Wesen der Masse liegt — darin gipfeln die ganzen Untersuchungen Freuds — in der spezifischen Verbindung, die sich als eine doppelte affektive Bindung der Glieder aneinander und an den Führer herausstellt. Eben auf diesem ihrem psychischen Charakter beruht der spontane, ephemere Charakter, der schwankende Umfang dieser Erscheinung, den FREUD selbst wiederholt betont. Freud ist nur konsequent, wenn er erklärt, man müsse „von der Feststellung ausgehen, daß eine bloße Menschenmenge noch keine Masse ist, solange sich jene Bindungen in ihr nicht herge­ stellt haben“1). Auf diese Bindungen allein führt er die charakteristischen Erscheinungen der Regression zurück, deretwegen er die Masse als ein Wiederaufleben der Urhorde erklärt! Bei dem Individuum, das als Glied der von MC DOUGALL und FREUD so ge­ nannten „organisierten“ oder „artifiziellen“ Massen auftritt, fehlen eben jene Bindungen, denn es mangelt an jener charak­ teristischen Regression, zu deren Erklärung allein jene affek­ tiven Bindungen, jene libidinöse Struktur herangezogen werden mußten. Wäre man sich bewußt geworden, daß hinter dem Schein der positiven Behauptung einer „mit den Eigenschaften des Indi­ viduums ausgestatteten Masse“ die durchaus negative Feststellung steht, daß das Individuum — als Glied der hier in Frage kommen­ den sozialen „Gebilde“ — nicht in jener Bindung auftritt, die die spezifische Massenwirkung der Regression auslöst, daß das Individuum hier alle diejenigen Eigenschaften hat, die es „für sich“, die es „vereinzelt“ hat und deren Mangel ja gerade das spezifische Problem der Massen- oder Sozialpsychologie ist — dann hätte man sich nie­ mals veranlaßt gesehen, die fraglichen sozialen „Gebilde“ auch als „Massen“ zu bezeichnen. Dann hätte man vielleicht auch bemerkt, daß die Eigenschaften, die man diesen „Massen“ zuerkannte und derzufolge man sie als „stabile“, „dauernde“, „feste“ Massen be­ zeichnete, im Widerspruch zu der Natur desjenigen Objektes stehen, das aller psychologischen Untersuchung gegeben ist. Weshalb denn auch Freud seine psychologische Charakterisierung der Masse: „eine Anzahl von Individuen, die ein und dasselbe Objekt an die

l) a. a. 0. S. 57.

§ 5. Die „libido“ als Kriterium der sozialen Verbindung.

31

Stelle ihres Ichideals gesetzt und sich infolgedessen in ihrem Ich miteinander identifiziert haben“ — ausdrücklich nur auf die „pri­ märe“, d. h. eine solche Masse bezieht, die „nicht durch allzu viel »Organisation« sekundär die Eigenschaften eines Individuums erwerben konnte“1). Wenn die Be­ griffsbestimmung der Masse auf die artifizielle „Masse“ nicht zutrifft, dann ist diese letztere eben keine Masse im Sinne einer sozialpsycho­ logischen Einheit. Und daß die Charakteristik der psychologischen Masse speziell auf den Staat nicht zutreffen kann, das bedarf eigentlich keines weiteren Beweises. Vielleicht ist es aber — aus methodischen Gründen — nicht überflüssig, auf das folgende hinzu­ weisen: Wäre der Staat eine psychologische Masse im Sinne der Freud-Le BONschen Theorie, dann müßten die zu einem Staat ge­ hörigen Individuen sich miteinander identifiziert haben. Der psychische Mechanismus der Identifikation setzt aber voraus, daß das eine Indi­ viduum an demjenigen, mit dem es sich identifiziert, eine Gemeinsamkeit w a h r n i m m t. Man kann sich nicht mit einem Unbe­ kannten, niemals Wahrgenommenen, nicht mit einer unbestimmten Zahl von Individuen identifizieren, Die Identifikation ist von vornherein auf eine ganz begrenzte Zahl von sich wahrnehmenden Individuen beschränkt und daher — ganz abgesehen von allen anderen Einwänden — für eine psychologische Charakterisierung des Staates unbrauchbar. Nichtsdestoweniger besteht sicherlich eine Beziehung zwischen den zu Unrecht als stabile „Massen“ bezeichneten sozialen Gebilden und den psychologischen Massen im wahren Sinne. Welcher Natur eigentlich diese letzteren sind, zur Beantwortung dieser Frage findet sich bei FREUD selbst eine Andeutung, die auf den richtigen Weg zu führen scheint, insbesondere eine korrekte Darstellung des Ver­ hältnisses zwischen den konstanten und den variablen Massen ermög­ licht. Freud unterscheidet „zwischen Massen, die einen Führer haben, und führerlosen Massen“ und spricht die Vermutung aus, „ob nicht die Massen mit Führer die ursprünglicheren und vollständigeren sind, ob in den andern der Führer nicht durch eine Idee, ein Abstraktum ersetzt sein kann Das Abstrakte könnte sich wiederum mehr oder weniger vollkommen in der Person eines gleichsam sekundären Führers verkörpern . . .“ 2). Wenn nicht alle Anzeichen trügen, fällt die Unterscheidung zwischen den primitiven, variablen und den artifi­ ziellen, stabilen Massen mit jener in Massen mit unmittelbarem Führer und solchen, bei denen der Führer durch eine Idee ersetzt und die Idee ’) a. a. 0. S. 87.

’) a. a. O. S. 58.

32

I .

I. Der Staat als soziale Realität.

dann durch die Person eines sekundären Führers verkörpert wird, zu­ sammen. Vor allem scheint der Staat eine solche „Masse“ der letzteren Art zu sein. Sieht man aber näher zu, dann ist der Staat nicht diese „Masse“, sondern die „Idee“, eine „führende Idee“, eine Ideologie, ein spezifischer Sinngehalt, der sich nur durch seinen besonderen Inhalt von anderen Ideen — wie die Religion, die Nation usw. — unterscheidet. Bei der Realisierung dieser Idee, bei dem Realisierungs­ akt, der — zum Unterschied von der in ihm realisierten Idee selbst — ein psychologischer Prozeß ist, kommt es zweifellos zu jenen massenpsychologischen Phänomenen, die Le Bon so treffend geschil­ dert und Freud individual psychologisch zu erklären versucht hat, zu jenen libidinösen Bindungen und den damit verbundenen Regressionen. Nur daß eben der Staat nicht eine der zahlreichen, ephemeren, in ihrem Umfang sehr schwankenden Massen libidinöser Struktur, sondern die führende Idee ist, die die zu den variab­ len Massen gehörigen Individuen an Stelle ihres Ichideals gesetzt haben, um sich dadurch miteinander identifizieren zu können. Die verschiedentlichen Massen oder real-psychischen Gruppen, die sich bei der Realisierung ein und derselben Staatsidee bilden, umfassen durchaus nicht alle jene Individuen, die — in einem ganz anderen Sinne — zum Staate gehören. Die durchaus juristische Idee des Staates kann nur in ihrer spezifisch rechtlichen Eigengesetzlichkeit, nicht aber — wie die psychischen Prozesse der libidinösen Bindungen und Verbindungen, die den Gegenstand der Sozialpsychologie bilden — auf psychologischem Wege erkannt wer­ den. Der psychische Vorgang, in dem sich die Bildung der führer­ losen, d. h. solcher Massen vollzieht, bei denen die sich gegenseitig identifizierenden Individuen an Stelle ihres Ichideals statt der Vor­ stellung einer konkreten Führerpersönlichkeit eine abstrakte Idee setzen, ist in allen Fällen der gleiche, ob es sich um die Idee einer Nation, einer Religion oder eines Staates handelt. Wäre die psychologische Masse das soziale Gebilde, nach ctem die Frage geht, dann wäre — da nur der psychologische Prozeß in Be­ tracht kommt — zwischen Nation, Religion, Staat kein relevanter Unterschied. Als differenzierte Gebilde treten diese sozialen Phänomene nur unter einem auf ihren spezifischen Inhalt ab­ gestellten Gesichtspunkt auf, nur sofeme sie als ideelle Systeme, als spezifische Gedankenzusammenhänge, als geistige Inhalte und nicht, sofeme die diese Inhalte realisierenden, tragenden seeli­ schen Prozesse erfaßt werden ®). •) Der französische Soziologe Tarde (La logique sociale, 1895 und Les lois de l'imitation, 2. öd. 1895) geht bekanntlich von der Tatsache der sug-

§ 6. Die sozialen „Gebilde“.

33

Mit der Einstellung auf die sogenannten stabilen, organisierten Massen vollzieht die soziologische Untersuchung eine auffallende Richtungs ander ung. Nach welcher Richtung aber diese Wendung führt, soll später geprüft werden. Für diese Prüfung sei nur aus den hier behandelten Resultaten der Massenpsychologie fest­ gehalten, daß als das Charakteristikum der sogenannten stabilen Massen die „Organisation“ erblickt und daß angenommen wird, daß sie sich „in Institutionen verkörpern“. „Organisation“ und „In­ stitution“ sind aber Normenkomplexe, Systeme von menschliches Verhalten regulierenden Vorschriften. § 6. Die sozialen „Gebilde“.

Die entscheidende Richtungsänderung, die bei jeder psychologisch orientierten Soziologie zu konstatieren ist, tritt ausnahmslos an jenem Punkte ein, wo die Darstellung aus der allgemeinen Sphäre der Wechselwirkung zwischen psychischen Ele­ menten zu jenen sozialen „Gebilden“ aufsteigt, die sich aus den Wechselwirkungen irgendwie ergeben und schließlich zu dem spezi­ fischen Gegenstände der Soziologie werden. Von einer prinzipiellen Richtungsänderung muß gesprochen werden, weil mit der Erfassung dieser Objekte die wissenschaftliche Betrachtung in eine gänzlich neue, von der bisherigen verschiedene Methode eintritt. Den meisten Soziologen freilich unbewußt und in der Meinung, den alten Weg fortzusetzen, wird der Bereich psychologisch - empirischer Unter­ suchung verlassen und ein Gebiet betreten, dessen Begriffe, weil man sie mit einem ihnen gänzlich wesensfremden Sinn, nämlich dem psychologischen, zu belasten sucht, die seltsamsten Verfälschungen erdulden müssen. Der für die psychologische Soziologie typi­ sche Sprung aus derPsychologie heraus manifestiert sich in den mit aller Psychologie unvereinbaren Eigenschaften, die von den sozialen „Gebilden“ ausgesagt werden und ausgesagt werden müssen, will man nur einigennaßen jene Vorstellungen erfassen, die sich in unserem Bewußtsein als soziale Wesenheiten, als Kollektiva vor­ finden. Da ist vor allem die bei jedem Soziologen wiederkehrende gestiven Nachahmung als der sozialen Grundtatsache aus und charak­ terisiert die soziale Gruppe als einen Inbegriff von Wesen, die einander nach­ ahmen. Es ist klar, daß der Staat als eine soziale Gruppe im Sinne der TARDEschen Bestimmung nicht angesehen werden darf. Daß es aber bei der Realisierung der Staatsidee zu solcher Gruppenbildung kommen kann, das soll prinzipiell zugegeben werden. 3 Kela en, StaaUbogrlff. 2. Aufl.

34

ü

I



%

|

I. Der Staat als soziale Realität.

Behauptung, daß die sozialen „Gebilde“, die sich aus den Wechsel­ wirkungen zwischen psychischen Elementen „verfestigen“, „kristalli­ sieren“, „zusammenballen“, einen „überindividuellen“ Charakter haben. Da Seelisches nur i m Individuum, d. h. in den Seelen der Einzel­ menschen möglich ist, muß alles Ueberindividuelle, jenseits der Einzelseele Gelegene metapsychologischen Charakter haben. Schon die „Wechselwirkung“ zwischen den Individuen ist ebenso überindividuell wie roetapsychologisch; und nur sofern man sich dessen nicht bewußt wird, glaubt man, ohne das Psychische zu verlassen auf der Zwischenstufe der „Wechselwirkung“ zu der Ueberindividualität, als einer Art höherer Form des Psychischen, aufsteigen zu können. In Wahrheit liegt eine vollständige p-eraßacc? ei$ yi'JOQ vor. Es wäre denn, daß man außer der Einzelseele noch eine den Raum zwischen den Einzelnen erfüllende, alle Einzelnen um­ fassende Kollektivseele annehmen wollte; eine Vorstellung, der gerade die neuere Soziologie — wie bereits gezeigt — nicht allzuferne steht, und auf die später noch zurückzukommen sein wird. In demselben Sinne, in dem die sozialen „Gebilde“ als über­ individuell bezeichnet werden, sprechen ihnen alle Soziologen in dem verschiedensten Wendungen „Objektivität“ zu. Es ist ein durchaus typischer Ausdruck für die in Frage stehende Vorstellung: daß die psychischen Wechselwirkungen zwischen den Individuen „nach ihrem. Erstarren und Stabilwerden zu objektiven Mächten wer­ den“1). Man spricht von den sozialen Wesenheiten als von „Objektivationen“ oder geradezu von „ Objektivationssystemen“2). In allen diesen Wendungen drängt ein Gegensatz zu den subjektiven, d. h. in der Einzelseele spielenden psychischen Prozessen, den mole­ kularen Bewegungen des sozialen Lebens, nach Ausdruck. Diese intraindividuellen, subjektiven Seelenvorgänge sind jedoch das allein Reale, d. h. von jener psychologischen Realität, die allein für eine sozialpsychologisch orientierte Soziologie in Betracht kommen dürfte. Wie die reale Subjektivität durch ihre bloße An­ häufung oder Vervielfachung zu einer ebenso realen Objektivität werden kann, muß rätselhaft bleiben. Hier schlägt die Quantität in Qualität um oder mit andern Worten: Hier ist ein Wunder, glaubet nur. Ebenso wie die Objektivität setzt auch die Dauer oder Kon­ stanz, die man von den sozialen Gebilden aussagt, diese in einen prinzipiellen Gegensatz zu der fluktuierenden, blitzartigen Existenz der individualpsychischen Tatsachen, aus denen sie auf irgendeine Weise entstehen sollen. Gerade beim Staat wurde hier schon auf­ merksam gemacht, wie unvereinbar die ihm wesentliche Gleichmäßig‘) Eisler, Soziologie, S. 55, vgl. auch S. 9. *) Vgl. Spann, a. a. 0. S. CO ff.

§ 6. Die sozialen „Gebilde“.

35

keit und Ununterbrochenheit seines spezifischen Seins, die feste Umgrenztheit seines Umfangs — die ja nur die Permanenz einer scharf umrissenen Geltung ist — mit der wellenartig schwankenden, ewig intermittierenden, sich bald ausdehnenden, bald sich zusammen­ ziehenden Realität jener psychischen Massenphänomene ist, unter die eine psychologisch-naturwissenschaftliche Theorie dieses soziale Gebilde vergeblich zu subsumieren bemüht ist. Es ist eine naive Selbsttäuschung, wenn die Soziologie als Sozialpsychologie glaubt, in den sozialen Gebilden sozusagen gefrorene Wellen, erstarrte see­ lische Massenbewegungen vor sich zu haben, an denen die Gesetze des Psychischen bequemer und sicherer abgelesen werden könnten als an den ewig oszillierenden Phänomenen der Einzelseele. Wenn ein Soziologe meint, daß „die geistigen Gebilde, mit denen es die Soziologie zu tun hat, eine gewisse Objektivität und Konstanz be­ sitzen, die sie der Beobachtung und Analogie in ganz anderer — (nämlich intensiverer!) — Weise fähig macht, als die flüchtigen Vor­ gänge im Einzelbewußtsein es erlauben“1), so muß er wohl die Ant­ wort darauf schuldig bleiben, wie denn eigentlich diese Metamor­ phose möglich sein soll, kraft der aus einer Masse subjektiver „flüch­ tiger Vorgänge im Einzelbewußtsein“ — denen notabene allein Realität zukommt — Gebilde von „Objektivität und Konstanz“ wer­ den, die trotz dieser Wesenswandlung den psychischen Charakter ihres Ursprungs nicht nur nicht verlieren, sondern sogar noch in er­ höhtem Maße behaupten. Der Grundirrtum dieser — als herrschend zu bezeichnenden — Anschauung liegt darin, daß die sozialen Gebilde, die das Resultat einer außerpsychologischen Synthese sind, einer psycho­ logischen Betrachtung gegenüber, die notwendigerweise auf die „flüchtigen Vorgänge im Einzelbewußtsein“ zurückgreifen muß, gar keinen Bestand haben können. Wenn die Soziologie immer wieder den synthetischen Charakter der sozialen „Gebilde“ hervorhebt, wenn man sie als „Zusammenballungen“, „Verkettungen“, „Verfestigungen“ psychischer Einzelphänomene bezeichnet, wenn man mit Nachdruck betont, daß diese überindividuellen, objektiven und konstanten Wesen mehr sind als eine bloße Summe von andersartigen psychischen Elementen, mehr als ein Aggregat von Vorstellungen, Empfindungen oder Wollungen, wenn man auf das „schöpferische“ Element ver­ weist, das in ihnen enthalten ist, und wenn man gar diese „Gebilde“ den sie zusammensetzenden Elementen als ein „höheres“ Ganze üb er ordnet, so sind dies alles nur sprachliche Wendungen, die den

’) Eisleb,

a. 0. S. 9. 3*

36

I. Der Staat als soziale Realität.

Szenenwandel der Methode mehr zu verraten als zu verdecken im­ stande sind. Die Konsequenzen, zu denen das Festhalten an der psycho­ logischen Basis in diesem Stadium der Begriffsentwicklung führen muß, lassen sich leicht ad absurdum führen. Die aus individual­ psychischen Phänomenen „zusammengesetzten“ sozialen „Gebilde“ wirken, da sie zwar nicht in der Einzelseele existent, aber doch psychischen Charakters sind, in der Sphäre eines „objektiven“ Geistes, einer „Volksseele“ oder „Gesamtbewußtseins“. Es ist mehr als eine Analogie, wenn man dieses „Gesamtbewußtsein“ in eine Linie mit dem Individualbewußtsein stellt und argumentiert: Wie aus der schöpferischen Verbindung aller einzelnen psychischen Vor­ gänge das Ichbewußtsein als ein übergeordnetes Ganze entsteht, dessen Eigenschaften in den Bestandteilen, aus denen es sich auf­ baut, nicht enthalten sind, so entsteht das „Gesamtbewußtsein“, die „Volksseele“ oder der „objektive Geist“ in dem durch Wechsel­ wirkung zwischen den Individualseelen hergestellten Zusammenhang. Dieser „objektive Geist“ ist ebenso wie die Individualseele ein durch die psychologische Betrachtung bedingtes Substanz- oder dingartiges Wesen. Nun pflegt man wohl für gewöhnlich den objektiven Geist als den Inbegriff aller überindividuellen Wechselwirkungen, aller sozialen Beziehungen anzusprechen. Nichts hindert jedoch, jedes einzelne soziale Gebilde als solch einen „objektiven Geist“, solch eine soziale oder „Kollektiv-Seele“ gelten zu lassen. Ja, mit Rück­ sicht darauf, daß nur innerhalb dieser „ Gebilde“ jene „innige“ Wechsel­ wirkung, jene enge Verkettung besteht, die eine Synthese zur Ein­ heit rechtfertigt und allein der Einheit der individuellen Seele ent­ spricht, könnte man, strenggenommen, überhaupt nur von objektiven Geistern, nicht aber von einem objektiven Geiste sprechen. So wie es ja nicht nur eine Volksseele, sondern ebenso viele Volks- und Staatsseelen geben muß, als es Völker oder Staaten gibt. Dabei ist es, im Grunde, inkonsequent, bei der Konstruktion eines ob­ jektiven sozialen Geistes oder Kollektivgeistes stehenzubleiben, ohne die nunmehr unvermeidliche Annahme der dazugehörigen so­ zialen Körper zu vollziehen. Denn wenn schon im allgemeinen keine Seele ohne Leib möglich und insbesondere die Einheit und Individualität einer Seele an die Einheit und Individualität eines Körpers gebunden ist, so muß das den Raum füllende soziale Ge­ bilde, zu dem ja die Individualseelen nicht ohne ihre Körper ge­ hören können (zumal ja die das soziale Gebilde konstituierende Wechselwirkung, eben weil sie „zwischen“ den Einzelseelen spielt, auch durch die Einzelkörper gehen muß), aus demselben Grunde und mit demselben Rechte als sozialer Körper wie als soziale Seele

§ 6.

Die sozialen „Gebilde“.

37

vorgestellt werden. Sonderlich dann, wenn man — wie dies in der Regel geschieht — den sozialen Gebilden eine Eigenwirksamkeit zu­ spricht, sie als selbständige von außen an die Einzelmenschen heran­ tretende Ursachen eine soziologische Wirkung üben, von ihnen somit eine die Körperwelt zumindest schneidende Kausalreihe ausgehen läßt. In diesem Punkte, wo die unausweichliche Konsequenz der psycho­ logischen Soziologie bis zu einer ins Mythologische ragenden Hypostasierung führen muß, setzt die organische Gesellschaft s- und Staatstheorie ein. Sie erblickt in den sozialen Gebilden, insbe­ sondere im Staate nicht bloß eine Verbindung der Seelen, sondern auch der dazugehörigen Körper. Sie läßt die Staatsseele in einem Staats­ körper wohnen, dessen „äußere Gegenständlichkeit“ sie ausdrücklich behauptet und gegen falsche Schlüsse verteidigt, die man aus seiner infolge der „Unzulänglichkeit der Sinne“ nur teilweisen Wahr­ nehmbarkeit („wir bezweifeln ja auch nicht, daß die Erde ein kugel­ förmiger Körper ist, obschon wir nur winzige Stücke davon un­ mittelbar wahrnehmen“) ziehen könnte1). Was immer gegen diese Ungeheuerlichkeit vorgebracht werden kann und auch schon vorge­ bracht wurde, das eine muß anerkannt werden, daß die Organismustheorie selbst in ihren extremsten Hypostasierungen nur die folge­ richtige Fortführung der mechanistisch-psychologistischen Soziologie ist. In der die sozialen Gebilde begründenden „ Wechselwirkung“ steckt der Keim des Staatskörpers wie der Staatsseele. Und es ist nicht uninteressant zu beobachten, wie die psychologische Soziologie zwar vor den Konsequenzen der mythologischen Organismustheorie zurückscheut, immer wieder aber die Vorstellung des Organismus in einem die Analogie weit überschreitenden Sinn heranziehen muß, um die „reale“, „objektive“ Verbindung der Menschen zu sozialen Einheiten im Wesen der Wechselwirkung begreiflich zu machen. In den verschiedensten Wendungen wird immer wieder — auch von jenen, die die organische Theorie ablehnen — betont, daß die eine Gesellschaft darstellende Verbindung von Menschen eine „mehr als mechanische“ sei2). „Eine unorganische Masse, ein Aggregat kör­ perlicher Elemente ist nur eine äußere Einheit“3); die innere Verbindung in der Gesellschaft muß schließlich doch eine irgendwie organische sein. Es ist eine Selbsttäuschung, wenn man sich

*) Gierke, Das Wesen der menschlichen Verbände, 1902, S. 17. Vgl. dazu auch meine Bemerkungen zu Kjellens, „Der Staat als Lebensform“ in meiner Schrift: Das Problem der Souveränität und dio Theorie des Völkerrechts, 1920, S. 19, 76. Die Sichtbarkeit und Greifbarkeit des Staates, als eines biologischen Organismus, vertritt neuestens auch: Üxküll, Staatsbiologie, 1920. *) Eisler, a. a. 0. S. 38, 90. 3) Eisler, a. a. O. S. 90.

38

I. Der Staat als soziale Realität.

damit beruhigt, daß es nur ein Vergleich sei, dessen man sich mit der Vorstellung des Organismus bediene. Und es sei nochmals hervorgehoben, daß die ganze Differenz zwischen der organischen und der anorganischen Soziologie psychologischer Richtung nur die ist, daß die erstere durchaus folgerichtig neben dem Organismus einer sozialen Seele den eines sozialen Körpers annimmt, während die anorganische sich mit der Konstruktion eines durchaus organi­ schen Kollektivgeistes begnügen zu können glaubtx).



*) Zu der für die organische Staatstheorie charakteristischen Vorstellung des Staates als eines beseelten Körpers kommt man nicht nur auf dem oben im Texte angedeuteten Weg, indem man, von einem psychologischen Stand­ punkt ausgehend, zuerst eine Staatsseele annimmt, zu der man dann nolens volens einen Staatskörper hinzudenken muß, sondern auch umgekehrt: indem man defi Staat zuerst als eine körperliche Einheit behauptet, zu der dann unvermeidlich ein seelisches Moment hinzutritt. Ein sehr charakteristisches Beispiel für diesen letzteren Gedankengang bietet die Staatstheorie, die Ratzel in seiner »Politischen Geographie* (2. Aufl., 1903, S. 3—23) entwickelt: Der Staat ist hier »eine Form der Verbreitung des Lebens auf der Erdoberfläche“ und trägt — als eine solche Form — „alle Merkmale eines be weglichen Körpers, der im Vorschreiten und Zurückweichen sich ausbreitet und sich zu­ sammenzieht ... »Jeder Staat ist ein Stück Menschheit und ein Stück Bo­ den.6 Das die Einheit konstituierende Moment ist nicht etwa irgendeine sozial­ psychische Bindung der das Staatsvolk bildenden Menschen, sondern der Boden. Der Staat ist eine räumliche körperliche Einheit! Das Volk ist eine Vielheit von »Einzelmenschen, die weder stamm- noch sprachverwandt zu sein brauchen, aber durch den gemeinsamen Boden auch räumlich verbunden sind*. In den Organismus „Staat“ geht ein Teil der Erd­ oberfläche so ein, »daß sich die Eigenschaften des Staates aus denen des Volkes und des Bodens zusammensetzen“. »Der Staat ist uns nicht ein Organis­ mus bloß weil er eine Verbindung des lebendigen Volkes mit dem starren Boden ist, sondern weil diese Verbindung sich durch Wechselwirkung so sehr befestigt, daß beide eins werden und nicht mehr auseinandergelöst gedacht werden können, ohne daß das Leben entflieht.“ „Das stofflich Zusammen­ hängende am Staat ist nur der Boden, und daher denn die starke Nei­ gung, auf ihn vor allem die politische Organisation zu stützen, als ob er die immer getrennt bleibenden Menschen zusammen­ zwingen könnte. Je größer die Möglichkeit des Auseinanderfallens, desto wichtiger wird allerdings der Boden, in dem sowohl die zusammen­ hängende Grundlage des Staates, als auch das einzige greif­ bare und unzerstörbare Zeugnis seiner Einheit gegeben ist.“ Ratzel konstatiert die Vorstellung — und anerkennt ihre Richtigkeit —, ein bestimmter, offenbar geographisch irgendwie einheitlicher Boden „sei nur fähig, einen ganzen, vollen Staat zu tragen, der eine Staat müsse sich mit dem einen Boden decken“. Dieser aus einem geographisch einheitlichen Boden und den darauf lebenden, durch die Einheit des Bodens verbundenen Menschen gebildete Körper braucht aber eine Seele. Diese Seele ist die „politische Idee“. Die geographische Karte eines Staates zeige nur das Schema des lebendigen Kör­ pers, »das gar nichts ahnen läßt von der politischen Idee, die ihn

§ 6.

Die sozialen „Gebilde“.

39

Sehr treffend hat SlMMEL den „Mystizismus“ jener soziologischen Geisterlehre charakterisiert, die „von einer Volksseele, einem Be­ wußtsein der Gesellschaft, einem Geist der Zeiten als von realen, beseelt. Auch diese hat ihre Entwicklung. In jenem einfachen Staat ist diese Idee wohl nur ein Herrscherwille und so vergänglich wie ein Menschen­ leben, in diesem Kulturstaat ist das ganze Volk ihr Träger. Damit erneuert die Seele des Staates unablässig ihr Leben, wie die Generationen aufeinander folgen. Die kräftigsten Staaten sind die, wo die politische Idee den ganzen Staatskörper bis in alle Teile erfüllt. Teile, wo die Idee, die Seele nicht hin­ wirkt, fallen ab, und zwei Seelen zerreißen den Zusammenhang des politischen Leibes." Auf den Inhalt dieser „Idee", die die Seele des Staates bildet, geht Ratzel nicht weiter ein. Und doch droht sich ihm der Staat auf diese „Idee“ zu reduzieren, zeigt sich die Tendenz, den Staat nicht so sehr als Körper, denn vielmehr als „Seele“ zu begreifen! Als ein Stück Boden, das mit einem Stück Menschheit in Verbindung steht, ist der Staat ein körperlicher Organis­ mus wie irgendein anderer. Das ist ja der ursprüngliche Gedanke Ratzels. Aber gerade an dem Problem der Staats s e e 1 e wird ihm „die Grenze des Organismus im Staat“ bewußt. Gegenüber den Algen und Schwämmen ist der Staat nur ein unvollkommener Organismus; „denn seine Glieder bewahren sich eine Selbständigkeit, wie sie schon bei niederen Pflanzen und Tieren nicht mehr vorkommt". „Was nun diese als Organismus unvollkommene Vereinigung von Menschen, die wir Staat nennen“ — in dem Sinne wie Algen und Schwämme ist aber der Staat eben wegen der Selbständigkeit seiner Glieder überhaupt kein Organismus! —, „zu so gewaltigen, einzigen Leistungen befähigt, das ist, daß er ein geistiger und sittlicher (!) Organismus ist“. Man beachte die prinzipielle Wendung, die die Darstellung nimmt! „Der geistige Zusammenhang verbindet das körperlich Getrennte, und darauf paßt aller­ dings dann kein biologischer Vergleich.“ Aber als das die getrennten Menschen Verbindende wird doch in anderem Zusammenhänge das körperliche Moment des Bodens bezeichnet! Und der Staat wird als Form der „Verbreitung des Lebens“, also durchaus biologisch charakterisiert, wenn er als „ein Stück Menschheit und ein Stück Boden“ definiert wird. „Was den Staatsorganismus geistig führt und leitet, das ist eben das über die Welt der übrigen Organismen Hinausliegende.“ Und schließlich: „Je höher ein Staat sich entwickelt, desto mehr wird ja seine ganze Entwicklung ein Herauswachsen aus der organischen Grundlage, und so paßt also der einfache Vergleich (!) des Staates mit einem Organismus mehr auf die primitiven als die fortge­ schrittenen Staaten.“ Ist der Staat also kein „organischer“ Organismus, so kann man ibn doch als einen „sittlichen Organismus“ bezeichnen. Das heißt: Der Staat ist überhaupt kein Organismus im eigentlichen Sinne des Wortes, und zwar wegen der Selbständigkeit seiner Glieder, sondern ist die sittlich-politische „Idee“, die ursprünglich nur als seine Seele, die ihm als Körper, als körperlichem Organismus innewohnende Seele bezeichnet wurde. Es ist ganz die gleiche Denkmechanik, die wir schon bei dem Versuche kennen gelernt haben, den Staat als „Masse“ zu begreifen. Das Wesen der „Masse“ liegt ebenso in der .Bindung“, wie das Wesen des Organismus in der „Unselb­ ständigkeit“ der Glieder. Der Staat wird hier wie dort trotz des Mangels des entscheidenden Kriteriums als „Masse“, bzw. als „Organismus“ zu verstehen gesucht, indem man neben der primitiven eine artifizielle Masse, neben dem

40

I. Der Staat als soziale Realität.

produktiven Mächten“1) spricht. Er skizziert den zu solchen Hypo­ stasierungen führenden Gedankengang etwa derart: daß die soziale Psychologie in den sozialen Gebilden „Produkte von unbestrittener Seelenhaftigkeit, in der Gesellschaft existierend und doch nicht von Individuen als solchen abhängig“ vor sich sieht und so zu dem Schlüsse kommt, daß „wenn sie nicht vom Himmel gefallen sind, nur die Gesellschaft, das seelische Subjekt jenseits der Individuen, als ihr Schöpfer und Träger anzusehen ist“. „Diesen Mystizismus, der seelische Vorgänge außerhalb von Seelen, die immer einzelne sind, stellen will“, glaubt SIMMEL dadurch vermeiden zu können, daß er „die konkreten geistigen Vorgänge, in denen Recht und biologischen einen sittlichen Organismus zu unterscheiden versucht. Allein der Bedeutungswandel ist ein solcher, daß er keinen gemeinsamen Begriff mehr zuläßt. — Welcher ethisch-politische Sinn übrigens auch schon in der angeblich ganz geographisch-naturwissenschaftlichen Einheit des Staates liegt, kann man aus den Folgerungen ersehen, die Ratzel gelegentlich aus ihr ableitet. Aus der Tatsache, daß ein geographisch einheitlich qualifizierter Boden nur einen Staat tragen könne, wird geschlossen: »Auf einem Boden kann daher auch immer nur eine politische Macht so aufwachsen, daß sie den ganzen politischen Wert dieses Bodens in sich aufnimmt. Rechte eines Staates auf den Boden eines andern vernichten dessen Selbständigkeit.“ Es ist der Ver­ such, die durchaus normative Ausschließlichkeit der Geltung einer Staatsordnung geographisch zu begründen! In Wahrheit erweist sich hier die angebliche geographische Einheit des Bodens als die Einheit der Gel­ tung des als Staat bezeichneten Normensystems. Vgl. dazu die Ausführungen der §§ 12 und 13. — Aus der Tatsache der organischen Einheit des Bodens folgert Ratzel »die Verurteilung der mechanischen Gebietsverteilungen, die einen politischen Körper wie den Leichnam eines geschlachteten Tieres behandeln, aus dem Stücke unbekümmert wo und wie groß heraus­ geschnitten werden ....“. Und behauptet demnach gegenüber einer konkreten »das organische Wachstum" der deutschen und französischen Kolonien ver­ hindernden, durch die Politik Englands bewirkten Gebietsabgrenzung »das Recht“ der benachteiligten Staaten, eine Ausdehnung zu verlangen. Die naturwissenschaftlich geographische Einheit des Gebietes entpuppt sich so als das politische Postulat einer von irgendeinem Gesichtspunkt aus wünschenswerten Gestaltung und Ausdehnung des Staatsgebietes. Ratzels Grundanschauung vom Staate als einem bodenständigen Organis­ mus akzeptiert Gümplowicz in seinem Werk »Die soziologische Staatsidee“, 2. Aufl., 1902. Auf Gumplowioz ebenso wie auf Ratzel stützt sich die Sozio­ logie des Staates, die Franz Oppenheimer in seiner Schrift »Der Staat“ (Sammlung »Die Gesellschaft“, herausgegeben von Martin Eurer) unter­ nimmt. Ein näheres Eingehen auf diese beiden Schriften ist darum hier nicht nötig, weil sie sich im wesentlichen darauf beschränken, eine Hypothese der Entstehung des Staates aus dem Zusammenstoß wirtschaftlich hete­ rogener »Gruppen“ oder »Horden“ zu geben. J) a. a. 0. S. 557.

§ 6. Die sozialen .Gebilde“.

41

Sitte, Sprache und Kultur, Religion und Lebensformen“ — also die sozialen „Gebilde“ — „entstehen und wirklich sind, von den ideellen, für sich gedachten Inhalten derselben unterscheidet“1). Er sagt speziell vom Staate, dessen Entwicklung weit über jede Einzelseele hinausrage, er sei einer jener „seelischen Inhalte“, an denen die Einzelnen wohl „teilhaben“ können, „ohne daß aber das wechselnde Maß dieses Teilhabens den Sinn oder die Notwendigkeit jener Gebilde alteriert“2). In dieser Wendung, die tatsächlich zum Wesen des Staates und vermutlich auch der übrigen sozialen „Ge­ bilde“ zu führen scheint, liegt jedoch das vollständige Aufgeben der von SlMMEL — in Uebereinstimmung mit der herrschenden Anschauung — ursprünglich für die Soziologie akzeptierten psycho­ logischen Basis. Wenn der Staat*— wie alle anderen sozialen „Ge­ bilde“, die den eigentlichen Gegenstand der Gesellschaftslehre bilden — der Inhalt eines seelischen Vorganges, nicht aber dieser Vor­ gang selbst ist, wenn sich die Soziologie nur mit diesem Inhalt, nicht aber mit dem diesen Inhalt tragenden Seelenvorgang zu be­ fassen hat — (von welch letzterem sie abstrahiert), so wie ein Drei­ eck, ein Säugetier oder ein Planet zwar auch eine Vorstellung, d. h. also Inhalt eines menschlichen Seelenaktes ist, als Gegenstand der Geometrie, Biologie oder Astronomie jedoch nur als dieser von sei­ nem psychischen Vehikel losgelöste Inhalt in Betracht kommt, dann ist die Soziologie als Sozialpsychologie ebensowenig imstande das Objekt „Staat“ — oder sonst ein soziales Gebilde — zu erfassen, wie Psychologie außerstande ist, die Erkenntnisse der Geometrie, Biologie oder Astronomie zu ersetzen. Dann sind psychologische Untersuchungen in einer „Soziologie“ ebensowenig am Platze wie in einer Physik und für die Bestimmungen der sozialen Begriffe ebenso bedeutungslos wie für den pythagoräischen Lehrsatz, der auch ein geistiger Inhalt ist, an dem die Einzelnen teilhaben, ohne daß aber das wechselnde Maß dieses Teilhabens den Sinn und die Geltung desselben alteriert. Den Staat als empirisch-reale Einheit psychi­ scher Wechselwirkungen zu begreifen, hätte etwa dieselbe Bedeu­ tung wie der Versuch, die Eigenart der Ellipse aus irgendeiner psychischen Besonderheit — etwa dem Gefühlston — zu er­ klären, der mit der Vorstellung dieses Gebildes verbunden ist. Daß der Staat und alle anderen sozialen Gebilde in den „kon­ kreten geistigen Vorgängen“ „entstehen und wirklich sind“, das kann kein Grund sein, diese psychischen Prozesse zu untersuchen, um sie zum Substrat der Begriffe des Staates und der andern so-

0 a. a. 0. S. 557/8.

2) a. a. 0. S. 557.

L

42

I. Der Staat als soziale Realität.

zialen Einheiten zu machen, wenn der Staat eben ein geistiger In­ halt und somit nicht der diesen Inhalt tragende Prozeß ist. Jeder „Begriff“ entsteht und ist wirklich — wenn man psychologisch betrachtet — in konkreten seelischen Vorgängen. Könnte aber psychologische Forschung seinen spezifischen geistigen Gehalt zutage fordern? Obgleich auch er ein geistiges „Gebilde“ ist, zu dem sich seelische Prozesse »verfestigen“, obgleich er eine „starr ge­ wordene“ Verbindung von Vorstellungen, eine sozusagen intra-indi­ viduelle Assoziation, d. h. Vergesellschaftung psychischer Elemente ist. Ist aber mit all dieser psychologischen Erkenntnis über den geistigen Inhalt, den er darstellt, das geringste gesagt1)? Ebensowenig wie über den Staat, wenn man ihn als eine durch Wechselwirkung her­ gestellte Verbindung psychischer Elemente, als ein objektives Gebilde bezeichnet, zu dem sich die „nur der psychologischen Mikroskopie zugängigen Wechselwirkungen zwischen den Atomen der Gesellschaft verfestigen “. Indem SlMMEL, um den Mystizismus der Annahme sozialer Seelen oder Geister zu vermeiden, „die konkreten geistigen V orgänge“, in denen die sozialen Gebilde entstehen und wirklich sind, von den »ideellen für sich gedachten Inhalten derselben“2) unterscheidet, bezeichnet er die spezifische Existenz dieser „Inhalte“ als ein „Gel­ ten“. Was Simmel ausdrücklich nur von den als Recht, Sitte,


; § 25. Der Staat al? besondere Rechtsordnung (Stammler).

145

menschlichen Seelen vor sich geht, dennoch nicht der menschlichen Leiber entbehren kann J). Angesichts dieses Umstandes muß es un­ verständlich bleiben, wie STAMMLER, der das Gebiet als ein wesent­ liches Element des Staatsbegriffs bezeichnet, in anderem Zusammen­ hang durchaus zutreffend „das räumliche Bestehen der menschlichen Verbände“ verwirft, weil es sich unter den bleibenden Bestimmungen nicht findet, die den Begriff jener Verbände festlegen z). Stammler behauptet hier auch den Staat als eine unräumliche Wesenheit, ob­ gleich er an anderer Stelle die nichtstaatliche Rechtsgemeinschaft von der staatlichen gerade dadurch unterscheidet, daß die letztere eine „feste Beziehung zu einem bestimmten Territorium“ habe. Der Staat hat zwar keinen räumlichen Bestand, aber — ein be­ stimmtes Territorium ! Ganz ähnlich steht es auch mit dem Element des Staats v o 1 k s. Volk definiert Stammler als „die Gesamtheit der unter einer Rechtsordnung vereinigten Menschen“ 3) (so wie Kant den Staat!). Eine Gesamtheit von Menschen aber ist ein raum­ füllendes Ding. — Nicht aber die Verbindung oder die Ordnung, die eine „Vielheit von Menschen“, oder richtiger: menschliches Ver­ halten in ihrem Inhalt zu einer Einheit zusammenfaßt! Daß aber der Staat eine Rechts Ordnung sei, das zeigt gerade die Argumentation Stammlers, die das Recht als Voraussetzung des Staates im Hinblick auf das für den Staat wesentliche Element des Territoriums nachweisen will. Er sagt, der Begriff des Rechtes sei „das logische Prius“ für den Begriff des Staates und führt dies so aus: „Man kann die Rechtsordnung definieren, ohne auf die staat­ liche Organisation im geringsten Bezug zu nehmen; nicht aber ist es möglich, von einer Staatsgewalt zu reden, es sei denn, daß man rechtliche Bindung von Menschen dabei in Gedanken hätte. So wie der Begriff einer Organisation menschlichen Zusammenlebens überhaupt nur durch Bezugnahme auf menschlich gesetzte regelnde Normen gegeben werden kann, so muß dieses bei dem Staate gerade durch Hinweis auf rechtliche Sätze geschehen, durch welche der Begriff einer staatlichen Gemeinschaft allererst konstituiert wird“4). Was soll es nun bedeuten, daß man von Staatsgewalt nicht reden könne, ohne dabei rechtliche Bindung von Menschen in Gedanken zu haben? Doch wohl nur das, daß Staatsgewalt nichts anderes als rechtliche Bindung sei! Was die Behauptung, daß ein Begriff staatlicher Or­ ganisation nur durch „Bezugnahme“, durch „Hinweis“ auf Rechtsnormen gegeben werden könne? Doch wohl nur dies, daß staatliche Organisation eine Rechtsordnung sei! Und dies >) Vgl. dazu oben S. 35 ff. ’) Theorie, S. 392. Kelson, Staatsbcgrift. 2. Aufl.

s) Theorie, S. 390. 4) Wirtschaft und Recht, S. 117. 10

i

|l

'r

1

146

III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

sagt Stammler ausdrücklich in seiner „Theorie der Rechtswissen­ schaft“: „Der Staat ist eine besonders geartete Rechtsordnung “ *). Als die Besonderheit dieser Rechtsordnung kann Stammler, nur das Merkmal des Staatsgebiets anführen, das er freilich hinsichtlich seiner Stellung im Staatsbegriff gerade in diesem Zusammenhänge seltsamerweise als „nur konventional angenommene Denkweise“2) charakterisiert! Dies könnte nur ein Grund sein, den Begriff des Staates von diesem „nur konventionalen“ Elemente zu befreien, worauf er mit dem der Rechtsordnung zusammenfällt. Und daß dies den eigentlichen Sinn des Staatsbegriffs trifft, das zeigt die Ueberlegung, daß niemand, der sich des Staatsbegriffs bedient, bei einer Analyse dieses Begriffs sich bewußt werden dürfte, daß das besondere Element, wodurch sich der Staat von andern Rechts­ gemeinschaften unterscheidet, in jener eigenartigen und höchst kom­ plizierten Geltungsbeschränkung auf ein bestimmtes Terri­ torium gelegen sei. Das in allen Staatsvorstellungen dominierende Charakteristikum einer höchsten G ew alt reduziert sich auf die Vorstellung einer obersten Rechtsordnung. Zumal, wenn man weiß, daß jede Rechtsordnung für irgendeinen Raum gilt, daß — um in der anschaulichen Vorstellung der populären Denkweise zu bleiben — jede höchste Gewalt auf irgendeinem Gebiete ein Volk beherrscht daß also der ganze Unterschied auf die mehr oder weniger präzise Bestimmtheit der Abgrenzung dieses Gebietes — das ja nur ein Geltungsgebiet ist — hinausläuft. Wenn das Recht als die Voraussetzung des Staates behauptet wird, so stützt sich solche Annahme nicht so sehr darauf, daß der Staat als besondere Rechtsordnung den Begriff einer Rechtsordnung übexjmupt voraussetze — ist doch die „Besonderheit“ der als Staat bezeichneten Rechtsordnung recht unsicher —, sondern vielmehr darauf, daß der Begriff der Rechtsordnung durch den des Rechtes bedingt sei. In solcher Weise differenziert STAMMLER diese beiden Begriffe. Allein es muß bezweifelt werden, ob mit Erfolg. „Das Recht tritt überall als eine über dem Einzelnen stehende Ordnung auf“ 3), sagt STAMMLER selbst und identifiziert hier — indem er das Recht als Ordnung bezeichnet — diese Ordnung, die, zum Unter­ schied von anderer Ordnung, eben die Rechtsordnung heißt, mit dem Recht. Auch in anderem Zusammenhänge verwendet er die Ausdrücke „Recht“ und „Rechtsordnung“ als Synonyma4); so insbesondere in „Wirtschaft und Recht“ bei der These, daß das Recht die logische ») S. 397. ’) a. a 0. S. 396. 3) Stammler, Theorie, S. 101; vgl. auch a. a. 0. S. 110 und 233. 4) Wirtschaft und Recht, S. 117.

§ 25.

Der Staat als besondere Rechtsordnung (Stammler).

147

Voraussetzung des Staates sei, die er dadurch beweist, daß er zu zeigen versucht, man könne „die Rechtsordnung definieren ohne auf die staatliche Organisation Bezug zu nehmen, nicht aber umgekehrt. Allein in anderem Zusammenhänge operiert er mit einem von dem Begriff des Rechtes verschiedenen Begriff der Rechtsord­ nung; indem er behauptet, daß zum Begriffe des Rechtes „dessen besondere Erscheinung in abgegrenzten R>echtsordnungen und Staaten“ nicht gehöre1). Es ist nicht klar ersichtlich, was unter dieser Begrenztheit der Rechtsordnung zu verstehen ist. Vermutlich dasselbe, was Stammler in dem dem Begriff der Rechtsordnung be­ sonders gewidmeten Abschnitt in dem Satze sagt: „Der Begriff des Rechtes und der einer einzelnen Rechtsordnung sind zu unter­ scheiden“2). Dann entstünde die fragliche Differenzierung nur da­ durch, daß dem allgemeinen Begriff des Rechtes der eines beson­ deren, eines nur durch seinen besonderen Inhalt als „einzelnen“ bestimmbaren Rechtes, etwa des preußischen, des spanischen, des schweizerischen Rechtes, bzw. der so individualisierten Rechtsord­ nungen entgegengesetzt würde. Allein dem Begriff „einer einzelnen Rechtsordnung“ oder dem Begriff der „besonderen Erscheinung des Rechts“ in einer solchen „abgegrenzten“ Rechtsordnung muß ein allgemeiner Begriff einer inhaltlich unbestimmten Rechtsordnung überhaupt logisch vorausgehen, der mit dem des Rechts, mit dem Begriff der als Recht bezeichneten Ordnung identisch ist. Und wenn der Staat eine Rechtsordnung ist, dann muß vor dem Begriff eines besonderen Staates der allgemeine Begriff des Staates stehen, der mit dem ebenso allgemeinen Begriff der Rechtsordnung zusammen fällt. Indes verwendet Stammler den Begriff der Rechtsordnung in einer Bedeutung, die er nach zwei Richtungen dem Begriff des Rechtes gegenüber einschränkt, „ Die Rechtsordnung will eben selbst wieder anderes Recht ordnen, Sie bedeutet daher .... den Rechtsgrund für anderes Recht.“ Und dazu tritt, daß die Rechtsordnung nur „objektives Recht“ darstellt, so daß die Definition dieses Begriffes lautet: „Eine Rechtsordnung ist der Inbegriff von objektivem Rechte, der in seiner Einheit als Rechtsgrund alles darunterstehenden recht­ lichen Wollens gedacht ist“3). • Daß die Rechtsordnung nur objektives Recht darstellt, ist selbstverständlich. Daraus kann jedoch kein Argument gegen die Identität von Staat und Recht geholt werden. Denn es geht nicht an, das subjektive Recht als einen neben dem objektiven existenten Bestandteil des Rechts gelten zu lassen; vielmehr ist es als in der *) Theorie, S. 239. «) a. a. 0. S. 386, 387.

I • 1;.!

2) a. a. 0. S. 484.

10*

i

—-—

148

III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Rocht.

Rechtsordnung enthalten vorzustellen. Ist das Recht seinem Wesen nach Ordnung, dann kann jede besondere Erscheinungsform des Rechts nur als T e i 1 Ordnung gedacht werden. Ein „ unter“ der Rechtsordnung stehendes einzelnes „Wollen“ ist eben — da wie Stammler sagt: das Recht „überall als eine über dem Einzel­ nen stehende Ordnung“ auftritt, und in dieser Stellung die Selbst­ herrlichkeit als ein Wesens merkmal des Rechtsbegriffs liegt1) — kein Recht. Was aber das den Begriff der Rechtsordnung gegenüber dem des Rechtes zu differenzieren bestimmte Moment betrifit: die Rechts­ ordnung wolle anderes Recht ordnen, sie sei der Rechtsgrund für das letztere, so steht auch dieses im Widerspruch zu den anderen Ausführungen Stammlers. Denn abgesehen davon, daß Recht als Ordnung nicht selbst wieder geordnet werden kann und die Vor­ stellung eines unter der Rechtsordnung stehenden, von dieser ge­ ordneten Rechts notwendigerweise dahin aufgelöst werden muß, daß dieses untergeordnete „Recht“ in die eine und einheitliche, alles Recht umfassende, richtiger: alles Recht seiende Rechtsordnung ver­ legt werden muß, gerät die Charakterisierung der Rechtsordnung als Rechts gründ für darunterstehendes Wollen auch noch in direkten Widerspruch zu der an anderer Stelle aufgestellten Behauptung Stammlers, daß der Staat — der ja eine Rechtsordnung sein soll — ein R e c h t s i n s t i t u t sei2). Denn das Rechtsinstitut bestimmt Stammler als „die Wiedergabe des in verschiedenen Rechtssätzen inhaltlich gleichmäßig auftretenden Rechtsverhält­ nisses“3). Läßt man die unklare und ganz überflüssige „Wieder­ gabe“ weg — könnte der Staat die „Wiedergabe“ eines Rechtsver­ hältnisses sein? — bleibt als Begriff des Rechtsinstitutes: ein in verschiedenen Rechtssätzen inhaltlich gleiches Rechtsverhältnis, was so ziemlich auf dasselbe hinausläuft wie die von STAMMLER bekämpfte Begriffsbestimmung WlNDSCHEIDs: die Gesamtheit der aüf ein Rechts­ verhältnis sich beziehenden Vorschriften. Jedenfalls ist das Rechts­ institut nach STAMMLER ein — irgendwie qualifiziertes — Rechts­ verhältnis. Das Rechtsverhältnis ist aber nach STAMMLER eine Art Teil kategorie des Rechts; in ihm kommt nicht der ganze Rechtsbegriff zum Ausdruck. Er knüpft vielmehr an eine bestimmte Eigenschaft des Rechtes an; und zwar, wie Stammler sagt, an die Eigenschaft des Rechtes als verbindendes Wollen. Allein gerade im Begriff des Rechtsverhältnisses kommt nicht der Gedanke zum Ausdruck, daß das Recht ein über dem Einzelnen stehendes, Theorie, S. 101. a. a. 0. S. 335.

’) Theorie, S. 335.

I. § 26. Der Staat als besondere Rechtsordnung (Wundt).

149

die Einzelwollungen verbindendes Wollen ist, dieser Gedanke wird . im Begriffe des Rechtsgrundes erfaßt; sondern im Begriff des Rechtsverhältnisses kommt der Gedanke der verbundenen W i 11 en s i n h a 11 e zum Ausdruck. „ Rechtsverhältnis ist das recht­ liche Bestimmtsein mehrerer Willensinhalte als Mittel füreinander“ J). Nun soll also der Staat als Rechtsordnung ein Rechts­ grund und zugleich als Rechtsinstitut gerade das dem Rechtsgrund gegenübergestellte Rechtsverhältnis sein. So fällt mit dem Versuche, die Begriffe Recht und Rechtsordordnung zu differenzieren, auch diese Möglichkeit, 4as Recht als Voraussetzung des eine Rechtsordnung darstellenden Staates zu behaupten, und cs bleibt kein anderes Verhältnis beider Begriffe als das der Identität.

in I

§ 26. Der Staat als besondere Rechtsordnung (Wundt). Die Anschauung, daß Staat und Recht zwar nicht identisch, daß aber der Staat eine bestimmt qualifizierte Rechtsordnung sei, wird neuestens auch von WüNDT vertreten. Dieser Gedanke ist das Ergebnis der im Rahmen seiner „Völkerpsychologie“ durchgeführten Untersuchungen über „Die Gesellschaft“ (Bd. VII und VIII) und „Das Recht“ (Bd. IX). Im Gegensatz zu anderen Soziologen hat WUNDT das Problem des Staates ausführlich behandelt; ja man kann es geradezu als das Kernproblem seiner Gesellschaftslehre bezeichnen, die vom Staate ausgeht und in der Darstellung des Wesens des Staates mündet. Es ist bedeutsam genug, daß ein durchaus psychologisch orientierter Soziologe zu einer so ausgesprochen juristischen Staatstheorie gelangt, daß seine Ergebnisse hier nur im Zusammen­ hänge mit denen juristischer Theoretiker behandelt werden müssen. Und dieses Symptom kann durch den Einwand nicht in seiner Be­ deutung geschmälert werden, daß ja auch das Recht und die Rechts­ ordnung als sozialpsychische Realität aufgefaßt werden können. Denn WüNDTs Staats- und Rechtslehre ist im Wesen die leider nicht sehr kritische Wiedergabe gewisser, zum Teil sogar schon überholter, spezifisch juristischer Theorien. In seiner Gesellschaftslehre sagt WUNDT zwar, „daß Staat nicht bloß eine »Idee«, sei es im platonischen, sei es im modernen empirischen Sinne, sondern ein reales Gebilde ist, das konkrete Menschen als seine Träger umfaßt“2). Der Staat ist ein „Gesamt­ wille“ und als solcher „weder jemals mit einem durch Unterwerfung ij~a. a. 0. S. 204/5. *) Die Gesellschaft, I. Bd., S. 66.

I|H P

r Hl

>

I

i

I

150

III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

der Staatsgenossen zur Herrschaft gelangten Einzelwillen identisch, wie HOBBES voraussetzte, noch ist er die bloße Summe der Einzel­ willen der zur politischen Gesellschaft vereinigten Staatsgenossen, wie ROUSSEAU verlangte, sondern er ist eine psychische Result a n t e ganz im selben Sinne, in welchem überall im geistigen Leben die zusammengesetzten Gebilde nicht Additionen ihrer einzelnen Ele­ mente, sondern Resultanten der als seelische Kräfte mit­ einander in Wechselwirkung tretenden Faktoren sind“1). Allein in seiner R e c h t s theorie treten an Stelle dieser psychologischen juristische Kategorien auf. »Der Gesamtwille“ ist hier »in erster Linie eine Willens o r g a n i s a t i o n , die als ihre Träger oder, bildlich gesprochen, ihre Organe mannigfach abgestufte Gruppen individueller Willen und beschränkter Kollektivwillen in sich schließt“ 2). Wenn die Rechtsordnung als ein einheitlicher Wille aufgefaßt wird, so liegt dieser „Begriff eines einheitlichen Rechts­ willens“ in der Forderung der „ Widerspruchslosigkeit der verschie­ denen Bestandteile einer gegebenen Rechtsordnung“ enthalten3). Bei solcher Auffassung des „Gesamtwillens“ ist es nur selbstver­ ständlich, daß der Staat als Willensorganisation, Organisation des Rechtswillens, die Rechtsordnung sein muß. Wenn WüNDT dennoch Staat und Recht nicht für identisch erklärt und Staats- und Rechts­ ordnung als zwei verschiedene Wesenheiten betrachtet, so ist dies nur darauf zurückzuführen, daß er im Banne der herrschenden juri­ stischen Anschauungen und speziell der herrschenden Rechtstermino­ logie befangen bleibt. WUNDT beginnt seine Rechtslehre charakteristischerweise mit einer Wesensbestimmung des Staates. Dabei geht er von zwei, von allen Teilen der Gesellschaft nur dem Staate zustehenden Eigen­ schaften aus: der Autonomie und der Autarkie. Unter „Auto­ nomie“ des Staates versteht WüNDT dasselbe, was man als Sou­ veränität zu bezeichnen pflegt: die Eigenschaft, „vermöge deren er in seinem Bestand von keiner äußeren Willensmacbt abhängig ist“4). „Autark“ ist der Staat, weil ihm „die genügenden Mittel zur Aus­ führung seiner Entschlüsse aus eigener Kraft zu Gebote stehen“6). „Eine weitere Eigenschaft“, „die erst der Staat gegenüber den ihm vorangegangenen Gemeinschaftsformen in deutlich ausgeprägterWeise darbietet und die zumindest erst innerhalb des Staates zu ihrer vollen Ausbildung gelangt“, ist: „der einheitliche Charakter, der das Handeln der Einzelnen wie der unter-

’) a. a. 0. II. Bd., S. 333. *) Das Recht, S. 327. *) a. a. 0. S. 6.

3) a. a. 0. S. 333/34. 6) a. a. 0. S. 6.

§ 26. Der Staat als besondere Rechtsordnung (Wandt).

151

geordneten Verbände regelnden Rechts Ordnungen“. Die Rechtsordnung erscheint hier als ein Attribut oder als Funktion des souveränen und hinreichend mächtigen Staates, innerhalb dessen sie zur Ausbildung kommt. Jedenfalls sind Staat und Rechtsordnung noch als zwei verschiedene Wesen anzusehen, denn sonst hätte WüNDT ja gleich von Anfang an Autonomie und Autarkie statt der Staats­ ordnung der Rechtsordnung zusprechen können. Später tut er dies ja. Einstweilen aber sagt er: „Demnach ist es nicht das Recht an sich, welches den Staat kennzeichnet, sondern eben jene Verbin­ dung der in der Gemeinschaft geltenden Rechte, also die all­ gemeine Rechtsordnung, die erst mit dem Staat in die Geschichte ein tritt“1). Staat und Rechtsordnung stehen also nebeneinander, sind miteinander irgendwie verbunden. Dafi WUNDT zwischen einzelnen Rechten und der Rechtsordnung unter­ scheidet, das geht darauf zurück, dafi er eine als naturrechtlich heute beinahe schon allgemein fallengelassene Anschauung älterer Juristen noch als selbstverständlich voraussetzt. Dafi es nicht erst subjektive Einzelrechte gibt, und dafi sich nicht erst später aus der zusammen­ fassenden Regelung dieser subjektiven Rechte die allgemeine Rechts­ ordnung bildet, daß vielmehr ein subjektives Recht nur aus der Rechtsordnung stammen, nur durch eine Rechtsordnung statuiert, ein­ geräumt werden kann, darf heute wohl als communis opinio angesehen werden. Das ist nur eine, wenn auch verhältnismäßig spät eingesehene Konsequenz des Positivismus. Mit der Vorstellung eines subjektiven, von der positiven Rechtsordnung, dem objektiven Recht, unabhängig existenten Rechtes bringt das Individuum nur eine andere Rechtsordnung, eine aus der Natur der Sache oder der Vernunft abgeleitete oder sonstwie angeborene Rechtsnorm an das positive Recht heran. Läßt man diese Vorstellung fallen, dann ist das sog. subjektive Recht — so wie es heute bestimmt wird — das durch das objektive Recht, die Rechtsordnung, geschützte Interesse, die von der objektiven Rechtsordnung eingeräumte Willensmacht, jedenfalls etwas, was vor der Rechtsordnung, ohne das objektive Recht kein subjektives Recht wäre. Indes haften auch dieser Fassung des subjektiven Rechts noch naturrechtliche Elemente an, auch das subjektive Recht kann, wenn es Recht sein soll, wie das „objektive“ nur Norm sein. Es geht nicht an, das „Recht“ einmal als schützende Norm, das andere Mal als geschütztes Substrat, einmal als Ordnung, das andere Mal als Geordnetes gelten zu lassen. Zudem ist die „Objek­ tivität“ so sehr ein Wesensmerkmal des Rechtes, daß ein „subjek-

’) a. a. 0. S. 10.

I

|u

'iiI

I

i ii! i!

152

III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

tives“ Recht, wenn damit die Aufhebung der objektiven Rechts­ geltung gemeint wäre, ein Widerspruch in sich selbst wäre. Das sog. „subjektive“ Recht kann daher im System der reinen Rechts­ lehre, wenn überhaupt, nur als die individuelle Rechtsnorm gegenüber der als „objektives“ Recht bezeichneten generellen oder allgemeinen Rechtsnorm sein. Dem sei indes wie ihm wolle; ein subjektives Recht, ein Einzelrecht vor — sei es logisch oder zeitlich — einer Rechtsordnung ist eine unvollziehbare Vor­ stellung. Sie gerade liegt der WüNDTschen Theorie zugrunde. „Einzelne Rechte können nicht nur, sie müssen notwendig schon zuvor vorhanden sein, da jede Ordnung ein zu Ordnendes als ge­ gebenes Material voraussetzt.“ Das zu ordnende Material sind aber nicht „Rechte“, sondern menschliche Handlungen. Wundt glaubt, daß „die Rechtsordnung aus der allmählichen Verbindung von Einzel­ rechten entspringt, wobei dieser Prozeß stetig der Vereinheitlichung zustrebt“. «Der vom Einzelrecht zur einheitlichen Rechtsordnung reichende Prozeß bildet auf diese Weise eine Entwicklung, bei der die beiden in jedem Recht enthaltenen Momente, die man als sub­ jektives und objektives Recht zu unterscheiden pflegt, eine Kette wechselnder Beziehungen darstellen“ *). Innerhalb der Staaten also vollzieht sich die Vereinheitlichung und Verbindung der einzelnen Rechte zu einer allgemeinen Rechtsordnung. Dazu ist zu sagen, daß es sich bei dem von WUNDT genannten Prozeß nur um die Ver­ bindung und Vereinheitlichung kleiner Rechtskreise, d. h. Rechts­ ordnungen von territorial und personal geringem Geltungsumfang, zu einer weiteren Rechtsordnung, von kleinen Rechtsgemeinschaften zu größeren handeln kann, da Recht und Rechtsgemeinschaft identische Begriffe sind, „Recht“ nur als Ordnung einer Mehrheit von Menschen, menschlicher Verhaltungen denkbar ist. Vor ihrer Verbindung und Vereinheitlichung zu größeren Rechtssystemen sind diese kleineren Rechtsordnungen aber ebenso „autonom“ wie die größeren; und ihre „Autarkie“ ist ebenso nur relativ vorhanden wie heute selbst beim größten Staat. Auch ist der Prozeß der Verschmelzung kleiner Rechtskreise zu größeren noch im vollen Zuge und der Umstand, daß man eine Rechtsordnung als „Staat“ bezeichnet, kein Grund dafür, sie einer Verbindung mit andern Rechtsordnungen oder „Staa­ ten“ nicht mehr für fähig oder bedürftig zu halten. Bundesstaat und Völkerrechtsgemeinschaft sind hinreichende Beispiele. Weil erst im Staate die Vereinheitlichung der vor dem Staat existenten „Rechte“ erfolge, sei es nicht zutreffend, meint WUNDT,

’) a. a. 0. S. 17.

§ 26. Der Staat als besondere Rechtsordnung (Wundt).

153

.wenn der Staat als Schöpfer des Rechts bezeichnet wird, sondern es beruht die Auffassung sichtlich auf der Verwechslung von Recht und Rechtsordnung“1). Dafi aber diese Unterscheidung un­ möglich sei, wurde gezeigt; doch dies kommt hier nicht weiter in Betracht. WüNDT fährt nun in der Weise fort, daß er — ganz unmotiviert — den Staat als Rechtsordnung bezeichnet: „Vielmehr ist der Staat selbst nicht nur eine Rechtsord ­ nung, sondern es ist keineswegs ausgeschlossen, daß ihm in den vorstaatlichen Formen der Gesellschaft bereits partielle Ordnungen ähnlicher Art vorausgehen.“ Warum nur „partielle“ Ordnungen? Waren es nur Teil Ordnungen, dann muß m i t ihnen das Ganze — der Staat — bestanden haben. Das „Merkmal“, „in welchem sich die staatliche von solchen vorausgehenden Ordnungen scheidet“, bestehe darin: „daß sie in dem ausgebildeten Staat eine umfas­ sende geworden ist, indem sie alle solche teilweise Ordnungen als von ihr abhängige Glieder in sieh schließt, dagegen keine ihr übergeordnete zuläßt. Damit ist eben erst jene Autonomie und Autarkie des Staates gegeben, die sein Wesen ausmacht“2). Der offen­ bare Fehler der Argumentation, die im wesentlichen der herrschenden Staatslehre folgt, liegt in dem Versuch, den S$aat — den souve­ ränen Staat — als Absolutum zu setzen. Als ob die ihm voran­ gehenden Ordnungen vor ihrer Vereinigung zu allgemeineren nicht ebenso relativ autonom wären, wie auch der heutige Staat nur relativ autonom ist. Für WUNDT scheint allerdings tatsächlich — ganz im Sinne der heutigen Souveränitätstheorie — der Staat, d. h. die heutigen konkreten Einzelstaaten, die absolut höchste und letzte Stufe des Prozesses der Rechtsvereinheitlichung darzustellen. „Allgemein mufi aber die Frage nach dem Verhalten von Recht und Staat dahin beantwortet werden, daß sie sich miteinander entwickeln, und daß der Staat nur insofern die Rechtsentwicklung abschließt, also das spätere darstellt, als er die gesamte Entstehung der Rechtsordnung im Laufe seiner eigenen Entwicklung zu Ende füh rt“3). Konsequent lehnt WüNDT jede über die souveränen Einzel­ staaten hinausgehende Entwicklung zu einer höheren Rechtsgemeinu schäft ab: „Ein Universalstaat dagegen, mag er in der Form des Einzelstaates oder des Staatenbundes gedacht werden, ist kein wirk­ licher Staat, sondern ein Phantasiegebilde, dessen glücklichste Eigen­ schaft darin besteht, daß er unmöglich ist“4). Dabei bezeichnet er den Staat selbst nur als „eine Rechtsordnung ausgebildetster Form“6), obgleich er allerdings vorher die Rechtsordnung „innerhalb“ des q a. a. 0. S. 11. ’) a. a. 0. S. 11. *) Die Gesellschaft, II. Bd., S. 835.

*) a. a. 0. S. 13. 5) Das Recht, S. 12.

i

11 •

,’f r ”» 11

151

IIT. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

Staates zur Entwicklung kommen ließ. „Autonomie“ sagt er erst vom Staate aus, dann aber auch von der Rechtsordnung, die „keine ihr übergeordnete zuläßt“ x). Damit sei ja die Autonomie des Staates gegeben! Dann aber heißt es wieder, die vereinheitlichte Rechts­ ordnung sei die „Vorbedingung der Autonomie und Autarkie des Staates“2). „Aber auch auf die Entstehung einer einheitlichen und autonomen Rechtsordnung“ sei der Staat nicht zurückzuführen, es sei denn, daß man diese Entstehung als „Entwicklung“ begreift und die Beziehung des Staatsganzen zu den in ihm enthaltenen relativ autonomen Gesellschaftseinheiten nicht ignoriert. Immerhin scheint es doch, daß der Staat als nichts anderes denn als eine höchste, den Abschluß des Vereinheitlichungsprozesses darstellende, also auto­ nome Rechtsordnung ausgebildetster Form anzusehen sei. Allein in einem „Der Staat und die Rechtsordnung“ überschrie­ benen Kapitel führt WüNDT folgendes aus 3): „In einer langen, den größten Teil der politischen Geschichte einnehmenden und in dem allgemeinen Bewußtsein wahrscheinlich nie ganz zur Vollendung gelangenden Entwicklung schiebt sich der Einheit der Rechtsordnung die Einheit einer Einzelpersönlichkeit unter, die als deren Träger gedacht wird.“ Man ‘Sollte meinen, daß mit dieser anthropomorphen Personifikation der Rechtsordnung, mit ihrem „Träger“ der Staat gemeint sei. Allein dies ist nicht der Fall. „Hierdurch tritt aber diese Substitution eines Einzelwillens an Stelle einer der Rechtsord­ nung selbst innewohnenden Willensmacht in enge Verbindung mit einer anderen, analogen Substitution, an die sie ohnehin durch das ihr entsprechende Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft geknüpft ist. Sie besteht darin, daß der Rechtsordnung der Staat substituiert wird. Zwar trennt auch ihn noch ein weiter Abstand von dem Individuum. Aber diese Kluft ist ungleich leichter zu überbrücken, weil sie hier tatsächlich auf einer langen Strecke poli­ tischer Entwicklung in der Tendenz zur monarchischen Staatsform sich ausspricht. Hier empfängt dann diese Uebertragung eine reale Grundlage in jener Autonomie und Autarkie des Staates, die über seine Macht, Träger der in ihm bestehenden Rechtsordnung zu sein, wesentlich hinausreicht, indem er nicht nur diese Macht, namentlich in seinem Verkehr mit anderen Staaten in besonderen zu einzelnen Zwecken entstandenen Vereinbarungen oder selbständig getroffenen Maßregeln betätigt, sondern, indem er außerdem seine eigene Rechtsordnung verändern kann.“ Von allen anderen Unklar­ heiten abgesehen, bedenke man nur dieses: der Staat, der eben früher ’) a. a. 0. S. 11. s) a. a. 0. S. 20.

’) a. a. 0. S. 12.

§ 26. Der Staat als besondere Rechtsordnung (Wundt).

155

als eine Rechtsordnung bezeichnet wurde, wird nunmehr als „Träger“ einer „in ihm“ bestehenden Rechtsordnung behauptet; die Eigen­ schaft, „Träger“ der Rechtsordnung zu sein, wird seltsamerweise als .Macht“ bezeichnet. Der Staat hat aber plötzlich eine noch weiter­ gehende Macht; diese soll in der Autonomie und Autarkie bestehen, Eigenschaften, die früher auch von der Rechtsordnung selbst aus­ gesagt und dahin bestimmt wurden, keine höhere Rechtsordnung über sich zuzulassen. Diese „Macht“ betätigt der Staat — der eine Rechtsordnung ist! — nicht nur durch Abschluß von Verträgen und selbständig getroffene Maßregeln, sondern insbesondere dadurch, daß er — die Rechtsordnung (!) — seine eigene Rechtsordnung verändern kann. Man erwartet, daß Wundt all dies als Konse­ quenzen einer unzulässigen Hypostasierung der Rechtsordnung ab­ lehnt; leider vergebens. „Darin kommt zur Geltung, daß die Rechts­ ordnung zwar ein notwendiges Attribut des Staates“ — den WüNDT einige Seiten vorher als eine »Rechtsordnung ausgebildetster Form« bezeichnet hat! —, „aber keineswegs mit diesem identisch ist.“ Vordem wurde nur die Identifikation des Staates mit dem Rechte, nicht aber mit der vom Recht angeblich verschiedenen Rechtsordnung abgelehnt! „Als solche ermangelt sie selbst eben jener Autonomie und Autarkie, die den Charakter der Gesamtpersönlichkeit nur dem Staate und teilweise nur solchen Unterverbänden innerhalb des Staates verleihen, die eine durch die staatliche Rechtsordnung gleichzeitig geschützte und beschränkte Autonomie besitzen“1). Die Autonomie, die eben früher der Rechtsordnung zuerkannt wurde, wird ihr also jetzt wieder aberkannt und nur dem Staate zugesprochen; freilich aber sofort wieder zurückerkannt: „Hiermit beantwortet sich nun schließlich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Staat und Recht. Da der Staat eine oberste, auf den höheren Stufen der politischen Entwicklung allen anderen übergeordnete Rechts­ ordnung ist“ -— also der Staat wieder eine autonome Rechtsord­ nung! —, „so kann er unmöglich das Recht ursprünglich geschaffen haben, sondern er setzt Einzelrechte und die Möglichkeit beschränk­ terer, vor ihm vorhandener teilweiser Recht .Ordnungen voraus. In der Tat ist es ja nicht das Dasein einer Rechtsordnung überhaupt, die den Staat kennzeichnet, sondern dessen wesentliche Merkmale bestehen in jener Autonomie des staatlichen Willens, die ihm erst den Charakter einer Gesamtpersönlichkeit verleiht“. Hier sei daran erinnert, daß vor kurzem behauptet wurde, in der Eigenschaft der Rechtsordnung, keine übergeordnete zuzulassen, sei *) a. a. 0. S. 20.



I

i

• lli ?! j

156

III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

ja die Autonomie und Autarkie des Staates gegeben! — „Durch diese erscheint speziell die staatliche Rechtsordnung als die Schöpfung dieses einheitlichen Willens.“ Also der Staat doch Schöpfer der Rechtsordnung, nachdem die Vor­ stellung des Staates als Schöpfer des Rechts abgelebnt und ge­ legentlich behauptet wurde, daß Staat und Recht sich beide gleich­ zeitig entwickeln, daß Staat und Recht gleichzeitig entstehen: „der Augenblick, wo das Recht aus der Sitte entspringt, fällt mit dem zusammen, wo aus den vorangehenden Entwicklungsformen der Staat entsteht“1). Wohlgemerkt: „Recht“ und Staat entstehen gleich­ zeitig, nicht „Rechtsordnung“ und Staat; von der „allgemeinen Rechtsordnung“ wird in diesem Zusammenhänge gesagt, daß die Staatsgewalt ihre Trägerin sei und daß „die staatliche Ordnung ein wesentlicher Bestandteil der allgemeinen Rechtsordnung“ sei2). Schließlich heißt es: „Hiernach ist das Recht nicht als solches, sondern eben in dieser sich mit ihm verbindenden Vereinheitlichung als das psychologische Merkmal der juristischen Seite der Staatsordnung anzusehen, und darin liegt zugleich der entschei­ dende Unterschied der Staatsverfassung von der Stammesverfassung“8). Daß das Recht die „juristische Seite“ des Staates sei, ist die bekannte These der Zweiseitentheorie, die WüNDT hier gleichfalls akzeptiert zu haben scheint. Während aber diese Theorie das psychologisch­ reale Merkmal des Staates seine andere „Seite“ sein läßt, wird bei WUNDT das Recht zu einem „psychologischen“ Merkmal der juri­ stischen Seite des Staates! Damit ist wohl der Gipfelpunkt der Verwirrung erreicht. § 27.

Der Staat als Rechtsordnung in den Kategorien, der „verstehenden Soziologie“ (Max Weber). Auch die bedeutendste soziologische Leistung, die seit SlMMELs „Soziologie“ erschienen ist, Max Webers geistvolle Untersuchungen über „Wirtschaft und Gesellschaft“4), bestätigt, daß alle Bemühungen, das Wesen des Staates auf außerjuristischem, speziell soziologischem Wege zu bestimmen, immer wieder auf eine mehr oder weniger ver­ steckte Identifikation des gesuchten Begriffes mit dem Begriff der Rechtsordnung hinauslaufen. Bei Max Weber ist dieses — un­ beabsichtigte — Ergebnis durch die Eigenart seiner soziologischen ’) Die Gesellschaft, I, S. 67. ’) a. a. 0. S. 67. 3) Das Recht, S. 21. *) Grundriß der Sozialökonomik, III. Abt. 1. Teil: Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Tübingen, 1921.

1

§ 27. Der Staat als Rechtsordnung (Max Weber).

157

Methode eigentlich, schon von allem Anfang an vorherbestimmt, ob­ gleich der Gegensatz seiner „verstehenden Soziologie* zur juristischen Erkenntnis immer wieder mit Nachdruck betont wird. Soziologie soll — nach der spezifischen Auffassung WEBERS — soziales, d. h. seinem Sinne nach auf das Verhalten anderer bezogenes Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären *). Indem nun diese Betrachtung auf den immanenten Sinn menschlichen Verhaltens gerichtet ist, dieses Verhalten durch Ermittlung seines Sinnes deuten will, muß sie sich notwendig auf andere — von dem. eigenen als „Soziologie“ bezeichneten Standpunkt aus verschiedene — Er­ kenntnissysteme beziehen. Denn wenn die Menschen mit ihrem Handeln einen Sinn verbinden, wenn ihr Handeln rational ist, so muß sein Inhalt mit dem Inhalt bestimmter Gedanken korrespon­ dieren, die ihren Platz in bestimmten, voneinander verschiedenen Gedankensystemen haben. Der Physiker, der. ein Experiment macht, der Händler, der eine Ware verkauft, sie lassen ihr Handeln von einem bestimmten Wissen oder Denken leiten, dessen Zusammenhang nachdenken, reproduzieren muß, wer ihr Handeln „deutend ver­ stehen“ will. Das eine Mal sind es physikalische Gesetze, das andere Mal Rechtsnormen, auf die sich die „Deutung“ beziehen muß, ja durch die allein die „Deutung“ erfolgen kann. Ob es ein vom Stand­ punkt solchen „deutenden Verstehens“ immanentes, somit wesent­ liches (wesensgemäßes) Kriterium ist, das zur Abgrenzung gerade der verstehenden „Soziologie“ führt: die Bezogenheit einer Handlung gerade auf die Handlung eines anderen Menschen und nicht etwa auf das Verhalten eines beliebigen Objekts, kann hier dahingestellt bleiben. Es genügt, festzustellen, daß „deutendes Verstehen“ keines­ wegs ein Spezifikum der von WEBER postulierten „Soziologie“ ist, und daß diese „Soziologie“, weil sie ihr Deutungsprinzip, richtiger ihre Deutungsprinzipe aus anderen Gebieten holen muß, einen durch­ aus unselbständigen Charakter hat. Der „Sinn“ einer Handlung, in dessen Ermittlung die Deutung der „verstehenden“ Soziologie besteht, ist entweder der vom Han­ delnden tatsächlich gemeinte Sinn oder der „in einem begrifflich konstruierten reinen Typus von dem oder den als Typus gedachten Handelnden subjektiv gemeinte Sinn“ 2). Im letzteren Falle kon­ struiert die Soziologie einen Idealtypus streng zweckrationalen Handelns, sozusagen als Deutungsschema. Alles zweckwidrige, irra­ tionale Verhalten der Menschen wird dann als „Abweichung *) a. a. 0. S. 1.

’) a. a. 0. S. 1.

*

’M

I x

H

158

III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

von dem bei rein rationalem Verhalten zu gewärtigenden Verlaufe“ verstanden. Genau genommen: „verstehen“ kann man menschliches Verhalten nur, soweit es irgendeinen Verstand, d. h. Zweck hat, sofern es irgendeinem Zwecksystem entspricht. Die „Abweichung“ von dem einen System kann Entsprechung einem anderen Zweck­ system gegenüber bedeuten. „Verstehen“ kann man also eigentlich nur ein Zwecksystem, einen logischen Zusammenhang. Dies muß Weber gegenüber nur darum bemerkt werden, weil der „Staat“ im Sinne der „verstehenden Soziologie“ offenbar ein „Idealtypus“, eine begriff­ liche Konstruktion streng zweckrationalen Handelns, d. h. ein ge­ dachtes Zwecksystem ist, das man als Deutungsschema menschlichen Handelns benützt. „Verstehen“, und zwar als „Staat“ verstehen kann man menschliches Verhalten nur insoweit, als es diesem „kon­ struierten“, gedachten System entspricht. Man geht mit diesem System als mit einem Deutungsschema an das tatsächliche Verhalten der Menschen heran, als ob die Menschen im allgemeinen nur zweckrational und den spezifischen Zwecken des hier als Deutungs­ schema fungierenden Systems im besondern entsprechend handeln würden. Sofern dies nicht der Fall, erklärt man es als „Abweichung“. Die „verstehende Soziologie“ ist, wie Weber immer wieder betont, auf das reale Verhalten der Menschen gerichtet. Aber „verstehen“ kann man dieses Verhalten — zumindest dort, wo mit dem Idealtypus gearbeitet wird — nur, soweit es inhaltlich dem idealen, ge­ dachten Zwecksystem entspricht. Schließlich läuft alles auf die Ein­ sicht in dieses Zwecksystem hinaus; und speziell beim Problem des Staates kommt es einzig und allein darauf an, festzustellen, welches eigentlich das als Deutungsschenia, als Idealtypus fungierende Zweck­ system ist. Dies scheint trotz Webers nachdrücklichem Hinweis auf die Tatsächlichkeit als Gegenstand der Soziologie der Kernpunkt zu sein. Von den sozialen „Gebilden“ im allgemeinen und dem Staat im besonderen sagt Weber, sie seien für die verstehende Deutung des Handelns durch die Soziologie lediglich „Abläufe und Zusammen­ hänge spezifischen Handelns einzelner Menschen, da diese allein für uns verständliche Träger von sinnhaft orientiertem Han­ deln sind“ ’). Das „Spezifische“ dieses Handelns liegt offenbar in dem Sinn, der mit diesem Handeln tatsächlich verbunden wird oder — mit Hilfe der Konstruktion eines Idealtypus rationalen Handelns — verbunden werden kann. Welches ist aber der Sinn, an dem die Handlungen orientiert sind, deren Ablauf eben wegen dieses Sinnes „Staat“ heißt? WEBER nennt ein „seinem Sinngehalt nach aufein*) a. a. 0. S. 6.

§ 27. Der Staat als Rechtsordnung (Max Weber).

159

ander eingestelltes und dadurch orientiertes Sich verhalten mehrerer“ sozinle „Beziehung“ ’) und sagt speziell in bezug auf den Staat: „Die soziale Beziehung besteht, auch wenn es sich um sogenannte »soziale Gebilde« wie Staat, Kirche, Genossenschaft, Ehe usw. han­ delt, ausschließlich und lediglich in der Chance, daß ein seinem Sinngehalt nach in angebbarer Art aufeinander eingestelltes Handeln stattfand, stattfindet oder stattfinden wird. Dies ist immer festzu­ halten, um eine »substantielle« Auffassung dieser Begriffe zu ver­ meiden“ 2). Das Wesen des „Staates“ — zum-Unterschied von der „Kirche“ oder „Ehe“ — liegt offenbar in dem spezifischen Sinngehalt gewisser Handlungen, nicht in den körperlich-mechanischen, ohne Bezug auf ihren „Sinn“ nur Muskelkontraktionen darstellenden Hand­ lungen selbst. Der Staat ist der spezifische Sinn gewisser Hand­ lungen, nicht irgendeine Handlung oder auch nur ein Komplex von tatsächlichen Handlungen. Gewiß ist es von Bedeutung und Wichtig­ keit, die Chance oder Wahrscheinlichkeit festzustellen, mit der Hand­ lungen eines gewissen Sinnes tatsächlich erfolgen. Aber die Chancen der Tatsächlichkeit solcher Handlungen sind wohl zu unter­ scheiden von dem Sinngehalt dieser Handlungen. Nur durch diesen Sinngehalt unterscheiden sich die Handlungen für die auf das Wesen der sozialen „Gebilde“ gerichtete Betrachtung; ja nur auf diesen Sinngehalt und nicht auf die äußeren, an sich „sinnlosen“ Hand­ lungen muß eine Betrachtung gerichtet sein, die das Wesen von Staat, Kirche, Ehe usw. erfassen will. Es ist darum zumindest eine irreführende Terminologie, wenn nicht eine unzulässige Begriffsver­ schiebung, wenn Weber fortfährt: „Ein »Staat« hört z. B. sozio­ logisch zu »existieren« dann auf, sobald die Chance, daß be­ stimmte Arten von sinnhaft orientiertem sozialem Handeln ablaufen, geschwunden ist.“ Denn nunmehr hat WEBER den Begriff des Staates von dem spezifischen „Sinngehalt“, der „bestimmten Art sinnhaft orientierten“ Handelns auf die Tatsächlichkeit des Handelns ver­ schoben. Der Staat ist nicht mehr der Sinn eines Handelns, son­ dern dieses an sich sinnlose Handeln selbst, bzw. die Wahrschein­ lichkeit dieses Handelns. Weber hat dem Sprachgebrauch des täglichen Lebens ein verhängnisvolles Begriffsopfer gebracht. Dieser spricht wohl von einer „Existenz“ des Staates ebenso wie von der Existenz irgendeines sinnlich wahrnehmbaren Dinges oder Vorganges. Allein als Sinngehalt, als Zwecksystem oder Deutungsschema, als welches allein der Staat gerade für eine auf den Sinn des Handelns gerichtete „verstehende“ Soziologie in Betracht kommt, „existiert“

’) a. a. 0. S. 13.

’) a. a. 0. S. 13.

•I q K

160

III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

der Staat ebensowenig oder ebensosehr wie der pythagoräische Lehrsatz: seine „Existenz“ ist seine Geltung, und darum ist er wese ns verschieden von der Tatsächlichkeit der Handlungen, deren Sinn er ist. Diese haben als Vorgänge allerdings jene „Existenz“, von der WEBER spricht. Nur daß sich ihre „Existenz“ zur Geltung des „Staat“ genannten Sinngehaltes prinzipiell ebenso verhält wie das Denken, Aussprechen, Zeichnen des pythagoräischen Lehrsatzes zu diesem als gedachtem Sinngehalt. Und ebensowenig wie die „Chance“, daß die Menschen oder gewisse Menschen dieses mathe­ matische Gesetz denken und irgendwie zum Ausdruck bringen, mit dem Gesetz selbst identisch ist, darf der Staat mit der Chance identi­ fiziert werden, daß Handlungen solchen Sinngehaltes erfolgen. Er­ kennt man, daß die Rechtsordnung das Zwecksystem oder der Ideal­ typus zweckrationalen Handelns ist, der als Deutungsschema ver­ wendet werden muß, um jenen Sinn des sozialen Handelns zu erfassen, der das soziale Gebilde „Staat“ ausmacht, daß nur die Rechtsordnung als der Sinngehalt jener Handlungen angegeben werden kann, deren wahrscheinlichen Ablauf Weber die soziologische Exi­ stenz des Staates nennt, dann bedeutet diese letztere „Chance“ nichts anderes als dasjenige, was hier als Faktizität des Rechts — im Gegensatz zu seiner Normativität — bezeichnet wurde ’). Und es findet sich bei Weber die gleiche Tendenz, die auch sonst fest­ gestellt werden konnte, den Staat als Verwirklichung des Rechts, als seine Faktizität oder doch mit besonderer Berücksichtigung dieser Faktizität zu bestimmen. Zu ihrer Kritik bedarf es keiner weiteren Ausführungen mehr. Daß aber die Rechtsordnung der Sinngehalt jener Handlungen ist, deren Ablaufchance bei Weber die sozio­ logische Existenz des Staates heißt, daß es die Rechtsordnung ist an der diese Handlungen orientiert sein müssen, ja daß schließlich der Staat — als Sinngehalt — mit der Rechtsordnung identisch oder doch zumindest eine bestimmt qualifizierte Rechtsordnung ist, das läßt sich aus der Darstellung Webers selbst leicht nachweisen. Als „Recht“ bezeichnet Weber eine bestimmt qualifizierte Ordnung2). Ordnung aber ist ein bestimmter „Sinngehalt“

*) Weber hebt mit Recht von der „Chance“ eines bestimmten Handlungs­ ablaufes und insbesondere auch von der soziologisch als „Staat“ bezeichneten Chance hervor, daß sie verschiedene Grade haben könne, während ein Rechtssatz entweder bestehe oder nicht bestehe (a. a. 0. S 13, 14). Allein kann man wirklich von einem Staate, von jener Ordnung, die den Durchschnittsinn der meisten Urteile über den Staat bildet, sagen, daß er bald mehr, bald weniger existiere? Für den Staat, der den Gegenstand der Staatslehre bildet, gilt durchaus die Alternative, die Weber für die Soziologie ablehnt und für die Geltung der Rechtsnormen feststellt. 2) a. a. 0. S. 16 ff.

l! § 27. Der Staat als Rechtsordnung (Max Weber).

161

sozialer Beziehungen. Und dieser Sinngehalt kann — wenn man all das berücksichtigt, was Weber von ihm aussagt — kaum anders und deutlicher charakterisiert werden als durch den Begriff des Sollens, der Sollregel oder Norm. „Gelten“ einer Ordnung betont Weber, soll „mehr bedeuten als eine bloße durch Sitte oder Interessenlage bedingte Regelmäßigkeit eines Ablaufs sozialen Handelns“. Natürlich, denn „verstehende“ Soziologie geht auf den „Sinn“ des Handelns, jenen Sinn, den der Handelnde mit seiner Handlung verbindet oder doch verbinden muß, wenn diese rational deutbar sein soll. „Gelten einer Ordnung“ liegt nur insofern vor, als der Handlungsablauf (der Ablauf des an der Ordnung orientierten Handelns) garantiert ist „durch das »Gelten« der Ordnung als Gebot, dessen Verletzung nicht nur Nachteil brächte, sondern — normalerweise — auch von seinem (des Handelnden) »Pflicht­ gefühl« wertrational (wenn auch in einem höchst verschiedenen Maße wirksam) perhorresziert wird“. Der durch den steten Bezug auf die Faktizität des Handlungsablaufes stark verdrängte Grundgedanke ist wohl der: Der Sinngehalt, den wir geltende Ordnung nennen, ist: Soll norm oder Pflicht. Der Handelnde muß mit seiner (sozialen) Handlung den Sinn verbinden: ich handle so, weil ich so handeln soll, man muß sich an einer Ordnung als an einem Gebot orien­ tieren. Darauf laufen auch die weiteren Ausführungen Webers hinaus. „Einen Sinngehalt einer sozialen Beziehung wollen wir a) nur dann eine »Ordnung« nennen, wenn das Handeln an angebbaren »Maximen« . . . orientiert wird.“ (Diese Maximen sind doch wohl gleichbedeutend mit „Normen“ und stellen als solche die „Ord­ nung“ dar; eingangs des Paragraphen ist davon die Rede, daß Han­ deln an der Vorstellung von dem Bestehen einer bestimmten Ordnung orientiert sein könne und wiederholt wird von einem Handeln ge­ sprochen, das an einer Ordnung orientiert ist.) „Wir wollen b) nur dann von einem Gelten dieser Ordnung sprechen, wenn diese tatsäch­ liche Orientierung an jenen Maximen mindestens auch . . . deshalb erfolgt, weil sie als irgendwie für das Handeln geltend: verbind­ lich oder vorbildlich angesehen werden. Tatsächlich findet die Orientierung des Handelns an einer Ordnung naturgemäß bei den Beteiligten aus sehr verschiedenen Motiven stattx). Aber der Uml) Darum ist nicht — wie in der Definition des Begriffs „Soziologie“ be­ hauptet wird •— das deutende Verstehen einer Handlung mit ihrer ursächlichen Erklärung identisch. Indem ich die Rechtsordnung als Deutungsschema ver­ wende, kann ich zahlreiche Handlungen — als an der Rechtsordnung orien­ tiert, der Rechtsordnung entsprechend — deutend verstehen. Das Deutungs­ prinzip ist ein einheitliches, die Motive aber — die Ursachen also —, aus Kelsen, Staatsbcgriff. 2. Aufl.

H

i

I

162

III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

stand, daß neben den anderen Motiven die Ordnung mindestens einem Teil der Handelnden auch als vorbildlich oder ver­ bindlich und also als gelten sollend vorschwebt, steigert , naturgemäß die Chance, daß das Handeln an ihr orientiert wird, und zwar oft in sehr bedeutendem Maße.“ Sofeme nach dem Sinngehalt des Handelns die Frage ist — und das ist nach WEBERS eigenen Worten beim Begriff der Ordnung der Fall —, ist eigentlich die Chance des Handlungs­ ablaufs nebensächlich. Worauf es ankommt, ist dies: damit der Sinngehalt eines Verhaltens als „Ordnung“ bezeichnet werden kann, muß der Handelnde mit seiner Handlung die Vorstellung einer Norm verbinden, die diese Handlung als gesollt setzt. Ist Ordnung als Sinngehalt identisch mit Norm, dann ist die „Geltung“ dieser Ordnung identisch mit Sollen. In der Vorstellung, die der sich an der Ordnung orientierende Handelnde mit seiner Handlung verbindet, ist die „Geltung“ der Ordnung ihr Sollen. Davon verschieden die mehr oder weniger große Chance, daß man sich tatsächlich an einer Ordnung orientiert. Diese Chance findet ihren Ausdruck in einer Seinsregel mit mehr oder weniger Ausnahmen; ich nenne sie — im Gegensatz zur Geltung — Wirkung oder Wirksamkeit einer Norm. Es ist wiederum eine unzulässige Begriffsverschiebung, wenn WEBER eben jene Wirksamkeitschance als„Geltung“ der Ordnung bezeichnet, obgleich er diese Ordnung als Sinngehalt und diesen Sinngehalt als Sollnorm charakterisiert. Auch sonst zeigt sich der durchaus normative Charakter des Ordnungsbegriffes der „verstehenden“ Soziologie. Von dieser Ordnung wird gesagt, daß sie aus „Regeln“ besteht, noch deutlicher, daß sie „Normen“ enthalte1), daß sie „gesatzt“ werde, was nur einen Normativakt, die Sollsetzung von Normen bedeuten kann ; es wird immer wieder von „Innehaltung“ und „Verletzung“ der Ordnung gesprochen, was sinnlos wäre, wenn „Ordnung“ nur der Ausdruck für eine tatsäch­ liche Regelmäßigkeit wäre. Vor allem aber wird der spezifische Sinn der Ordnung wiederholt dahin charakterisiert: daß sie „Gel­ tung in Anspruch nehme“, „gelten wolle“ 2), was ja nur die üb­ liche ■— psychologistische — Umschreibung des Sollens ist. Dieser durchaus normative Begriff der Ordnung ist aber einer der Haupt­ bestandteile, einer der tragenden Begriffe des Systems der ver­ stehenden Soziologie, und zwar darum, weil diese gemäß ihrer spedenen die Menschen sich ordnungsgemäß verhalten, können sehr verschiedene sein und bleiben bei dieser Deutungsmethode völlig unbekannt, ja sind im Grund genommen gleichgültig. *) a. a. 0. S. 26. ’) a. a. 0. S. 27, 28.

i' I

I j Hi| § 27. Der Staat als Rechtsordnung (Max Weber).

163

zifischen Methode auf den Sinngehalt des Handelns gerichtet ist, d. h. den Sinn ermitteln muß, den die Handelnden mit ihrem Verhalten verbinden, dieser Sinngehalt aber — sofern es sich um ein an einer „Ordnung“ orientiertes Verhalten handelt — zugegebener- * maßen ein „Gebot“, eine „Pflicht“, ein „Sollen“ ist. Ohne den steten Bezug auf diesen Sinngehalt wäre Soziologie unmöglich, denn alles Soziale ist in dem Sinngehalt menschlichen Handelns beschlossen, demgegenüber die Faktizität oder Regelmäßigkeit des Handelns an sich nur sekundären Charakter hat. In der eigenartigen Dop­ pelheit des Gegenstandes und der Blickrichtung dürfte das Wesen der — als Wissenschaft darum so problematischen — Soziologie, zumindest der „verstehenden“ Soziologie, liegen. Darum ist es keine bloß terminologische Pedanterie, wenn den folgenden Ausführungen Webers nicht ganz zugestimmt wird: „Zwischen Geltung und Nicht­ geltung einer bestimmten Ordnung besteht also für die. Soziologie nicht, wie für die Jurisprudenz (nach deren unvermeidlichem Zweck), absolute Alternative. Sondern es bestehen flüssige Uebergänge zwi­ schen beiden Fällen und es können, wie bemerkt, einander wider­ sprechende Ordnungen nebeneinander »gelten«, jede — heißt dies dann — in dem Umfang, als die Chance besteht, daß das Handeln tatsächlich an ihr orientiert wird“ ’)• Richtig ist: daß der Aus­ schließlichkeit der (normativen) Geltung einer Ordnung die Ver­ einbarkeit der Wirksamkeit zweier verschiedener Ordnungen (genauer: des Vorstellens, Wollens, Handelns nach zwei verschiedenen Ordnungen) gegenübersteht. Unrichtig aber ist, daß für die ver­ stehende Soziologie die Soll geltung einer Ordnung und somit der normative Ordnungsbegriff überhaupt nicht in Betracht und daß darin ihr Unterschied gegenüber der Jurisprudenz zum Ausdruck kommt. Dieser Unterschied, den Weber bezeichnenderweise nicht oft genug betonen kann, ist aber mehr als zweifelhaft. Die „ver­ stehende“ Soziologie muß, da der von ihr zu ermittelnde Sinn des sozialen Handelns sehr häufig eben das Recht ist, auch Juris­ prudenz sein oder doch mit den Augen des Juristen seheü, um überhaupt etwas zu sehen. So vor allem, wenn es gilt, das Phänomen des Staates zu begreifen. Eine „Ordnung“ ist nach WEBER dann „Recht, wenn sie äußerlich garantiert ist durch die Chance (physischen oder psychi­ schen) Zwanges, durch ein auf Erzwingung der Innehaltung oder Ahndung der Verletzung gerichtetes Handeln eines eigens darauf eingestellten Stabes von Menschen“2). Der Unterschied dieser

’) a. a. 0. S. 17.

’) a. a. 0. S. 17.

11*

J

164

i

III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

„soziologischen“ Definition des Rechts von der üblichen juristi­ schen ist kaum zu bemerken. Die Betonung der Faktizität („Chance“) füllt um so weniger ins Gewicht, als das gewisse Mini•mum von Faktizität — wie hier in anderem Zusammenhänge gezeigt wurde — auch vom Standpunkt normativer Betrachtung, nämlich in den Inhalt der Norm selbst aufgenommen, dem Rechtsbegriff bei­ gefügt werden kann. Auffallend ist, daß sich diese soziologische Rechtsdefinition nicht begnügt, das Recht als Zwangsordnung über­ haupt zu bestimmen, sondern daß „für den Begriff »Recht« die Existenz eines Erzwingungsstabes entscheidend sein“ ’) soll. „Eine soziale Beziehung .... soll nach außen »offen« heißen, wenn und insoweit die Teilnahme an dem an ihrem Sinngehalt orientierten gegenseitigen sozialen Handeln, welche sie konstituiert, nach ihren geltenden Ordnungen niemand verwehrt wird, der dazu tatsächlich in der Lage und geneigt ist. Dagegen nach außen »ge­ schlossen«, insoweit und in dem Grade, als ihr Sinngehalt oder ihre geltenden Ordnungen die Teilnahme ausschließen oder be­ schränken oder an Bedingungen knüpfen.“ Das Recht muß wohl — obgleich dies nicht direkt gesagt ist — als eine „geschlossene“ soziale Beziehung angesehen werden. Falls die Geschlossenheit einen bestimmten Charakter hat, nämlich wenn die Beteiligung an der sozialen Beziehung „reguliert“ ist, nennt Weber die Beteiligten geradezu „Rechtsgenossen“ 2). „Verband soll eine nach außen regulierend beschränkte oder geschlossene soziale Beziehung dann heißen, wenn die Innehaltung ihrer Ordnung garantiert wird durch das eigens auf deren Durch­ führung eingestellte Verhalten bestimmter Menschen: eines Leiters und eventuell eines Verwaltungsstabes, der gegebenenfalls normalerweise zugleich Vertretungsgewalt hat“ 3). Danach muß das Recht als ein Veiband gelten. Zwar fehlt in der Begriffsdefinition des Verbandes die ausdrückliche Erwähnung des Z wan gsmomentes, bzw. des „Erzwingungsstabes“. Aber die folgenden Ausführungen Webers lassen keinen Zweifel darüber, daß der „Verwaltungsstab“ ein „Erzwingungsstab“ ist. „Das Vorhandensein eines »Leiters«: Familienoberhaupt, Vereinsvorstand, Geschäftsführer, Fürst, Staats­ präsident, Kirchenhaupt, dessen Handeln auf Durchführung der Verbandsordnung eingestellt ist, soll genügen, weil diese spezifische Art von Handeln ein nicht bloß an der Ordnung orien­ tiertes, sondern auf deren Erzwingung abgestelltes Handeln, soziologisch dem Tatbestand der geschlossenen »sozialen Beziehung* ’) a. a. 0. S. 18. 3) a. a. 0. S. 26.

a) a. a. 0. S. 23.

§27. Der Staat als Rechtsordnung (Max Weber).

165

ein praktisch wichtiges neues Merkmal hinzufügt.“ „Durchführung“ und „Erzwingung“ der Ordnung durch einen eigens dazu bestimmten (soziologisch: darauf eingestellten) „Stab“ ist also identisch. Von Be­ deutung ist ferner der Begriff des „Verbandshandelns“, das ist „das Handeln des Verwaltungsstabes selbst und außerdem alles planvoll von ihm geleitete verbandsbezogene Handeln“1). Verbandsbezogenes Handeln ist „an der Verbandsordnung orientiertes Handeln der sonst Beteiligten“ (außer den den Verwaltungsstab bildenden Menschen). „Eine Ordnung, welche Verbandshandeln regelt, soll Verwaltungs­ ordnung heißen. Eine Ordnung, welche anderes soziales Handeln regelt und die durch diese Regelung eröffneten Chancen den Han­ delnden garantiert, soll Regulierungsordnung heißen. Insoweit ein Verband lediglich an Ordnungen der ersteren Art orientiert ist, soll er Verwaltungsverband, insoweit lediglich an solchen der letzteren, regulierender Verband heißen“ 2). Zunächst muß festgestellt werden, daß das Recht eine Verwaltungsordnung sein muß, denn es regelt das Handeln des Erzwingungsstabes, der ein Verwaltungs­ stab ist, und somit Verbandshandeln. Die Rechtsordnung ist dem­ gemäß eine Verwaltungsordnung, der Rechtsverband ein Verwaltungs­ verband. Dann aber muß nachdrücklichst betont werden, daß die von Weber versuchte Unterscheidung von Verwaltungs- und Regu­ lierungsordnung unvollziehbar ist. Anderes soziales Handeln (als das Handeln des auf Erzwingung der Ordnung eingestellten Stabes und das vom Stab planvoll geleitete an der Ordnung orientierte Handeln) kann eine Ordnung garantiert nur dadurch regeln, daß sie Verbandshandeln, Handeln eines Erzwingungs stabes regelt. Nur dadurch, daß die Rechtsordnung z. B. das Handeln des Richters und Exekutionsbeamten regelt, regelt sie das Verhalten des Schuld­ ners, der ein empfangenes Darlehen zurückerstattet. Gerade dieses Handeln des Schuldners, das dem Gläubiger nur dadurch von der Rechtsordnung garantiert wird, daß diese das Handeln des Er­ zwingungsstabes regelt, scheint aber WEBER im Auge zu haben, wenn er neben dem Handeln des Verwaltungsstabes und dem ver­ bandsbezogenen Handeln von einem „verbandsgeregelten“ Handeln spricht: „Die geltende Ordnung kann auch Normen enthalten, an denen sich in anderen Dingen das Verhalten der Verbandsbe­ teiligten orientieren soll, z. B. im Staatsverband das »privatwirt­ schaftliche «, nicht der Erzwingung der Geltung der Verbandsordnung, sondern Einzelinteressen dienende Handeln: am »bürgerlichen« Recht“3). Allein die Normen des bürger*) a. a. 0. S. 26. 3) a. a. 0. S. 26.

’) a. a. 0. S. 27/28.

H il!

166

11! :

111. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

liehen Rechts können von den Exekutionsnormen, ihren Erzwingungs­ normen, gar nicht losgelöst werden, sie bilden nur in wesentlicher Verbindung mit ihnen Rechtsnormen, sind ohne sie rechtlich Frag­ mente, eben weil das Recht, auch das sog. bürgerliche Recht, seinem Wesen nach Zwangsordnung ist. Und weil jede Rechtsnorm als letzte Einheit der Rechtsordnung die Eigenschaften des ganzen Rechtes oder alle Eigenschaften des Rechtes aufweisen muß (so wie das kleinste Stückchen Gold alle Eigenschaften dieses Metalles), muß jede Rechtsnorm das Zwangsmoment enthalten und dementsprechend muß die Formulierung des Rechtssatzes erfolgen. Darum ist ja die übliche Trennung zwischen materiellem und for­ malem (Prozeß-, Exekutions-) Recht unhaltbar. Diese falsche juri­ stische Anschauung ist allerdings der von einer soziologischen Ter­ minologie umhüllte Kern der WEBERschen Theorie vom Unterschied zwischen verbandsbezogenem und verbandsgeregeltem Handeln, zwi­ schen Verwaltungsordnung und Regulierungsordnung, Verwaltungs­ verband und Regulierungsverband. Bei dem Versuche, diesen Unter­ schied durch konkrete Beispiele zu illustrieren, kommt es allerdings zu einer argen Begriffsverwirrung. „Ein lediglich regulierender Ver­ band wäre etwa ein theoretisch denkbarer reiner »Rechtsstaat« des absoluten laissez faire.“ Rechtsstaat ist, herkömmlicher Wort­ bedeutung nach, eine Ordnung, die sich darauf beschränkt, das Ver­ halten der Gerichte, also eines Erzwingungs- bzw. Verwaltungs­ stabes, also Verbandshandeln zu regeln, müßte demnach nach der WEBERschen Definition nur Verwaltungs-, kein Regulierungsverband sein. (Daß sie eben dadurch auch Regulierungsordnung ist, indem sie indirekt das zwangsvermeidende Verhalten der Genossen reguliert, ist hier nebensächlich 1) Den Ausführungen Webers scheint hier — unbemerkt — ein anderer als der von .ihm (allerdings recht will­ kürlich) geschaffene Verwaltungsbegriff, nämlich der in der Juris­ prudenz übliche Begriff der Verwaltung sich eingeschlichen zu haben: Verwaltung im Gegensatz zu Gerichtsbarkeit, der Rechtsstaat im Gegensatz zum Verwaltungs-, d. h. nicht nur Straf- und Zivilgerichts­ barkeit, sondern auch andere Funktionen versehenden Staat. Daß es sich auch bei diesen Funktionen letztlich um einen nur nicht durch Gerichte, sondern technisch anders organisierte Behörden zu übenden Zwang, um Verwaltungszwang handelt, ist ja selbstverständlich. Die traditionelle systematische Verwirrung der Jurisprudenz, die dadurch entsteht, daß sich das formale Moment des Zwangs mit dem mate­ riellen des durch die Zwangsandrohung zu erzielenden Erfolges, des zwangsvermeidenden Verhaltens, kreuzt, und die sich insbesondere auch in der systematisch unhaltbaren Scheidung zwischen dem sog.

I

§ 27. Der Staat als Rechtsordnung (Max Weber).

167

öffentlichen und dem sog. privaten Recht ausdrückt, ist bei Weber leider einfach ins Soziologische übertragen. „Im allgemeinen . . . . fällt die Grenze der Verwaltung^- und Regulierungsordnung mit dem zusammen, was man im politischen Verband als »öffentliches« und »Privatrecht« scheidet“1). Die verstehende Soziologie bildet ihre Begriffe im engsten Anschluß an die Jurisprudenz. „Betrieb soll ein kontinuierliches Zweckhandeln bestimmter Art, Betriebsverband eine Vergesellschaftung mit kontinuierlich zweckharidelnden Verwaltungsstab heißen“2). Demnach muß das Recht wohl auch als ein Betriebsverband gelten, da ja die Kontinuität des Verbandshandelns des Erzwingungsstabes bei einer auf die Chance des Handlungsablaufs eingestellten Betrachtung selbst­ verständlich ist. „Anstalt soll ein Verband heißen, dessen gesalzte Ordnungen innerhalb eines angebbaren Wirkungsbereiches jedem nach bestimmten Merkmalen angebbaren Handeln (relativ) erfolgreich oktroyiert werden kann.“ „Oktroyiert“ heißt: eine „nicht durch persönliche freie Ver­ einbarung aller Beteiligten zustande gekommene Ordnung“3). Die Rechtsordnung ist demnach — sofern sie gesatzt ist — eine Anstalt und mit Beziehung auf die Kontinuität der Tätigkeit des Erzwingungsstabes: ein Anstaltsbetrieb. (Nebenbei bemerkt, scheint es recht willkürlich, den Anstaltscharakter von der Enstehungsart: Satzung oder Gewohnheit, abhängig zu machen; ist nicht gerade die traditionale, nicht gesalzte, sondern gewohnheitsmäßig gewordene Rechtsordnung ihrem Wesen nach „oktroyiert“?) „Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl be­ stimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“ 4). Da jede Ordnung — ihrem Sinninhalt nach, in der Vorstellung des sich nach der Ordnung Orientierenden — als Befehl auftritt, müßte, streng genommen, jede Ordnung Herrschaftsordnung und insbesondere jeder Verband ein Herrschaftsverband sein. Weber sagt nur: „Ein Verband ist vermöge der Existenz seines Verwaltungsstabes stets in irgendeinem Grade Herrschaftsverband“ 5). Und demnach muß das Recht ein Herrschaftsverband sein. In dem Begriff des „politischen Verbandes“ im allgemeinen und dem des Staates im besonderen gipfelt die Begriffspyramide der verstehenden Soziologie. „Politischer Verband soll ein Herrschafts­ verband dann und insoweit heißen, als sein Bestand und die Geltung seiner Ordnungen innerhalb eines angebbaren geographischen Ge­ biets kontinuierlich durch Anwendung und Androhung physischen *) a. a. 0. S. 28. ‘) a. a. 0. S. 28.

») a. a. 0. S. 28. c) a. a. 0. S. 29.

II

i

I

i

Hl

’) a. a. 0. S. 27. H

!| *



168

1

l

TU. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

Zwangs seitens des Verwaltungsstabes garantiert werden“ x). Das Recht ist demnach — zumindest in der Regel — ein politischer Verband; denn daß der Erzwingungsstab den Bestand und die Gel­ tung der Rechtsordnung nur „innerhalb eines angebbaren geographi­ schen Gebiets“, also in räumlicher Beschränkung garantiert, das ist schon wegen des beschränkten Wirkungsradius jeder empirischen Machtquelle unvermeidlich. Man vergesse nicht, daß Weber die Faktizität im Auge behalten will und daher selbstverständlich eine unbegrenzte Wirksamkeit ausschließen muß. Im übrigen ist auch mit dem rein normativen Rechtsbegriff irgendeine räumliche Gel­ tun gs beschränkung keineswegs unvereinbar. „Staat soll ein politischer Anstaltsbetrieb heißen, wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legi­ timen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt“ 2). Und so ist das Recht schließlich identisch mit dem Staat, zumindest aber: der Staat eine Rechtsordnung. Denn „das Monopol legitimen physischen Zwanges“ muß auch der für das Recht charakteristische Erzwingungsstab in Anspruch nehmen. „Monopol“ ist nämlich nur das dem Bereich der Wirtschaft ent­ nommene Bild für „Souveränität“, die Rechtsordnung aber tritt ihrem Wesen nach als eine souveräne Ordnung auf, soferne sie eine höchste, von keiner anderen ableitbaren und darum ausschließ­ lich geltende, d. h. jede andere Ordnung ausschließende Ordnung zu sein beansprucht. Daß dieser Monopolcharakter die Eigenschaft jedes selbständigen Normensystems ist, habe ich in anderem Zu­ sammenhänge nachgewiesen. Das gleiche gilt von der Eigenschaft der Legitimität. Ihrem Sinngehalte nach muß jede Ordnung als „legitime“ gelten wollen. Das liegt im Begriffe des Geltens und zwar im normativen ebenso wie in dem „Wirksamkeit“ bedeu­ tenden faktischen. Im übrigen identifiziert WEBER selbst „Legi­ timität“ mit „Vorbildlichkeit oder Verbindlichkeit“ 3), also mit einem dem Begriff jeder Ordnung wesenhaft inhärierenden Moment und subsumiert das Recht unter die Kategorie von Ordnungen, deren Legitimität garantiert ist4). WEBER stellt die Unmöglichkeit fest, einen politischen Verband durch Angabe des Zwecks seines Verbandshandelns und erweist die Notwendigkeit, ihn „durch das — unter Umständen zum Selbstzweck gesteigerte — Mittel zu definieren, welches nicht ihm allein eigen, aber allerdings spezifisch und für sein Wesen unentbehrlich ist: die Gewaltsamkeit“6), d. h. den Zwang. Und fährt dann fort: „Den ’) a. a. 0. S. 29. «) a. a. 0. S. 17.

’) a. a. 0. S. 29. °) a. a. 0. S. 30.

3) a. a. 0. S. 16.

§ 27. Der Staat als Rechtsordnung (Max Weber).

169

Staats begriff empfiehlt es sich, da er in seiner Vollentwicklung durchaus modern ist, auch seinem modernen Typus entsprechend — aber wiederum unter Abstraktion von den, wie wir ja gerade jetzt erleben, wandelbaren inhaltlichen Zwecken — zu definieren. Dem heutigen Staat formal charakteristisch ist: eine Verwaltungs- und Rechtsordnung, welche durch Satzung abänderbar sind, an der der Betrieb des Verbandshandelns des (gleichfalls durch Satzung geord­ neten) Verwaltungsstabes sich orientiert und welche Geltung bean­ sprucht nicht nur für die — im wesentlichen durch Geburt hinein­ gelangenden — Verbandsgenossen, sondern in weitem Umfang für alles auf dem beherrschten Gebiet stattfindende Handeln (also: ge­ bietsanstaltsmäßig). Ferner aber: daß es »legitime« Gewaltsamkeit heute nur noch insoweit gibt, als die staatliche Ordnung sie zuläßt oder vorschreibt (z. B. dem Hausvater das »Züchtigungsrecht« beläßt, einen Rest einstmaliger eigenlegitimer, bis zur Verfügung über Tod und Leben des Kindes oder Sklaven gehender Gewaltsamkeit des Hausherrn). Dieser Monopol Charakter der staatlichen Gewaltherr­ schaft ist ein ebenso wesentliches Merkmal ihrer Gegenwartslage wie ihr rationaler »Anstalts«- und kontinuierlicher >Betriebs«charaktera’)• Aus der hier durchgeführten kritischen Analyse der relevanten Grund­ begriffe der „verstehenden Soziologie“ geht hervor, daß WEBER sich nicht hätte vorsichtig — die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Recht offen lassend — darauf beschränken müssen, zu sagen: für den Staat ist eine Verwaltungs- und Rechtsordnung charakteri­ stisch; sondern der ganze Aufbau des WEBERschen Begriffssystems drängt geradezu zu der Erkenntnis: der Staat ist eine Rechtsordnung. Damit ist die Staatssoziologie als Rechtslehre enthüllt. Daran kann der stete Bezug auf die Faktizität, die spezifische Einstellung auf die Frage nach der Chance eines Ablaufs von Handlungen mit dem Sinngehalt „Staat“ (oder Recht) nichts ändern. Die primäre, wahr­ haft grundlegende Bedeutung des normativen Rechtsbegriffs ist gerade in der Methode der „verstehenden“ Soziologie unverlierbar festgehalten. Denn diese ist auf den Sinngehalt des Handelns gerichtet, und der stellt sich dort, wo die Untersuchung auf den Staat zielt, immer wieder nur als der Gedanke des Rechts als einer Zwangsnorm heraus. In diesen immanenten Sinn muß sich die verstehende Soziologie versenken, den spezifischen Stand­ punkt der Rechtsbetrachtung muß sie sich zu eigen machen, soll sie die Handlungen deuten können. In diesem immanenten, spezifisch juristischen Sinne liegt alles beschlossen, was diese Soziologie über

’) a. a. 0. S. 30.

11

J 1

•'.H ,!

4•

J i d.



1

T 170

III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Rocht.

das Wesen des Staates aussagen kann; es ist nicht um ein Wörtchen mehr als die normative Rechtstheorie lehrt. Fügt die Soziologie noch die Frage hinzu: unter welchen Bedingungen und in welchem Maße ein an der „Staat“ benannten Rechtsordnung, also an einer bestimmten Ideologie orientiertes Handeln wahrscheinlich ist, so begibt sie sich allerdings in eine von normativer Rechtserkenntnis verschiedene Sphäre. Aber dieses Problem ist sekundären Charakters, d. h. es ist erst nach Er­ mittlung des Sinngehalts stellbar und keinesfalls liegt in Seinem Bereiche die Lösung der Frage nach dem Wesen des sozialen Ge­ bildes „Staat“. Wie sehr gerade der juristisch-normative Gesichtspunkt für die Erkenntnis des Staates entscheidend ist, das zeigen gerade die letzt­ zitierten Ausführungen Webers. Der „Monopolcharakter“ des Staates, bzw. der staatlichen Zwangsordnung, d. h. in die Rechtssprache übersetzt: die Souveränität des Staates ist natürlich nur für den Bereich normativer Betrachtung gegeben. Daß es einen legitimen Zwang nur insoweit „gibt“, als die staatliche Ordnung ihn zuläßt oder vorschreibt, das ist gerade nur von einem spezifisch juristisch­ normativen Standpunkt, d. h. in dem immanenten Sinne des Systems von Rechtsnormen, richtig. Soziologisch, d. h. bei Betrachtung des tatsächlichen Verhaltens des Menschen „gibt“ es natürlich neben dem staatlichen Zwang innerhalb, des Rechtsbereiches der staatlichen Zwangsordnung faktisch auch anderen legitimen Zwang, d. h. Zwangs­ akte, die die handelnden Menschen tatsächlich an einer anderen als der staatlichen Rechtsordnung orientieren. WEBER selbst hat ja diesen Unterschied zwischen seiner soziologischen und der juristischen Betrachtung hervorgehoben J) und erkannt, daß die Ausschließlich­ keit der Geltung einer Ordnung nur im spezifisch juristischen, d. i. normativen Sinn gegeben ist, während im Bereich des Tatsächlichen die Wirksamkeit zweier verschiedener Ordnungsvorstellungen neben­ einander möglich ist. (Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, daß das ganze Problem einer Ordnungskonkurrenz nur von einem spezifisch normativen Standpunkt aus einen Sinn hat und in der Sphäre der Seinserkenntnis nur sekundär und eigentlich ganz de­ naturiert, weil nicht mehr auf gültige Ordnungen, sondern auf das Vorstellen von Ordnungen und auf das dadurch motivierte Handeln bezogen, auftritt.) Indem WEBER den Monopolcharakter als zum Wesen des Staates gehörig behauptet, faßt er den Staat wesentlich als eine normative Rechtsordnung. x) Vgl. das oben S. 160 angeführte Zitat.

■ §28. Der Staat als Rechtsverhältnis (Loening).

171

§ 28. Der Staat als Rechtsverhältnis (Loening).

Verhältnismäßig sehr nahe einer Identifikation von Staat und Recht sind jene Theoretiker gekommen, die den Staat als Rechts­ verhältnis erklären. Als ihr typischer Repräsentant kann EDGAR Loening gelten, dessen kurze Darstellung der Allgemeinen Staatslehre (unter dem Schlagwort „Staat“ im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. VII) zu dem besten gehört, was die neuere Literatur aufzuweisen hat. Er sagt, der Begriff des Staates „kann nur ein Rechtsbegriff sein. Denn was den Staat zum Staat macht, sind Rechtsnormen, durch welche die Herrschergewalt und das Volk im Verhältnis der Ueber- und Unterordnung verbunden sind. Denken wir uns diese Rechtsnormen weg, so fällt der Begriff des Staates in sich zusammen“ x). Aus dem System der Rechtsbegriffe wählt LOENING den des Rechtsverhältnisses und nicht, wie etwa Jellinek und Laband die Rechtsperson, zur Charak­ terisierung des Staates. Der Staat „ist ein reales Rechtsver­ hältnis zwischen dem Herrscher und dem Be­ herrschten“. Unter den zahlreichen Rechtsverhältnissen, die die Rechtsordnung statuiert, ist der Staat somit ein spezielles, offen­ bar durch seinen besonderen Inhalt charakterisiertes Rechtsverhältnis. In der Sprache einer reinen Rechtslehre, auf die ja Loenings Ge­ dankengänge unbewußt gerichtet sind, bedeutet dies den Versuch, den Staat als Teilrechtsordnung, als einen speziellen Komplex von Rechtsnormen zu bestimmen. Denn das „Rechtsverhältnis“ ist für eine juristische Betrachtung nichts von den es „begründenden“ Rechts­ normen verschiedenes. Wenn LOENING meint, „ein Rechtsverhältnis aber ist eine durch Rechtsnormen geordnete Beziehung von Menschen zu Menschen, zwischen Berechtigten und Verpflichteten“ 2), so ver­ fällt er in den allgemein begangenen Fehler, zu dem die Sprache verführt: das Recht als eine von ihrem Inhalt verschiedene Form, als ein von seinem Prädikat (oder Objekt) verschiedenes Subjekt zu isolieren. Als ob es auf der einen Seite eine Rechtsnorm gäbe und auf der andern Seite einen Gegenstand, der durch die Rechtsnorm geordnet würde. Das Recht ist aber mit dem „von ihm“ geordneten Wesen eins, kann ohne dieses Element gar nicht gedacht werden, das als sein Inhalt notwendig mitgedacht werden muß. Es ist darum ein Irrtum, neben dem Recht eine von ihm geordnete- „Beziehung“ zu unterscheiden. Dieser Irrtum ist verhängnisvoll, denn er führt ‘) a. a. 0. S. 694.

i

I) i

’) a. a. 0. S. 702.

|. i

, -

172

III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

schließlich zu dem Dualismus von Recht und Staat, der ein Spezial­ fall dieses Dualismus von Recht und rechtlich Geordnetem ist. Das ,Rechtsverhältnis“ wird nicht, wie man zu sagen pflegt, durch die Rechtsnorm „geschaffen“, sondern ist die Rechtsnorm. Und wenn der Staat ein spezielles Rechtsverhältnis sein soll, dann ist er nicht ein vom Recht geordnetes besonderes Lebensverhältnis, was ja zu der Annahme führt, der Staat sei ein vom Recht unabhängiges, „reales“ Wesen, ein Seinsfaktum, zu dem das Recht — später — ordnend hinzutritt; sondern dann ist er ein Komplex von durch ihren besonderen Inhalt charakterisierten Rechtsnormen und nicht die totale Rechtsordnung selbst. Es ist leicht zu zeigen, daß LOENING ebensowenig imstande ist, die Abgrenzung der Teilrechtsordnung, die er allein als „Staat“ gelten lassen will, durchzuführen, wie daß er in die Vorstellung des Staates als einer dem Recht gegenüber­ stehenden Seinstatsache ausgleitet und sich so in Selbstwidersprüche verwickelt. Die Besonderheit jenes Rechtsverhältnisses, als welches sich der Staat darstellt, besteht nach LOENENG darin, daß es ein Gewalt­ verhältnis ist. Die Gewaltverhältnisse stellt er — in üblicher Weise — den Vertragsverhältnissen gegenüber, „in denen der Schuldner nur zu denjenigen Handlungen oder Unterlassungen verpflichtet ist, zu denen er in freier Willensbestimmung im Vertrage sich selbst verpflichtet hat. In dem Gewaltverhältnis aber hat der Gewaltunterworfene nach dem Willen des Gewalthabers Handlungen vorzunehmen oder zu unterlassen“. Diese Unterscheidung — sie fällt im großen und ganzen mit dem Gegensatz von öffent­ lichem und privatem Rechte zusammen — ist aber unhaltbar. Nie­ mals — auch im privatrechtlicben Vertrag nicht — verpflichtet sich jemand selbst. Verpflichten kann nur die Rechtsordnung. Es ist einer der gefährlichsten Irrtümer, den Grund der Rechtsverpflichtung in dem Willen des Rechtsunterworfenen zu sehen. Das Wesen des Rechtes ist seine Objektivität, d. h. seine von dem Willen der Unterworfenen unabhängige Geltung. Auch wenn die Rechts­ norm unter den von ihr aufgestellten Bedingungen des rechtlichen Sollens eine Willensäußerung des zu Verpflichtenden aufweist, ist die Rechtsnorm, nicht die Willensäußerung das Verpflichtende. Dies zeigt sich am deutlichsten darin, daß eine Willens ä n d e r u n g des Verpflichteten keineswegs eine Aufhebung der Pflicht bewirkt. Gibt man aber die Vorstellung von dem Willen des Verpflichteten als Verpflichtungs g r u n d auf, dann verliert die Einteilung der Ver­ pflichtungen in Selbst- und Fremd Verpflichtungen jede Bedeutung: zumal wenn sich zeigt, daß auch in den sog. Gewaltverhältnissen

inI ‘I < ;; § 28. Der Staat als Rechtsverhältnis (Loening).

173

es nicht der Wille des Gewalthabers, sondern wiederum nur der .Wille“ der Rechtsnorm ist, der verpflichtet. Sagt doch LOENING selbst: „Das Gewaltverhältnis ist ein rechtliches, wenn der Gewalt­ unterworfene hierzu durch Rechtsnormen verpflichtet ist und der Gewaltinhaber zur Ausübung der Gewalt berechtigt oder nach Rechts­ normen sie auszuüben verpflichtet ist.“ „Unterworfen“ ist man eben — der Gewaltunterworfene ebenso wie der Gewalt„inhaber“ — den Rechtsnormen und diese Unterordnung ist das juristischer Betrach­ tung allein relevante „ Gewalt “Verhältnis. Wenn sich auch in dem von LOENING sogenannten „ Gewalt “Verhältnis nach LOENTNGs eigener Darstellung nur Verpflichtete und Berechtigte gegenüberstehen, wenn auch der sog. Gewaltinhaber in diesem Verhältnis nur als Ver­ pflichteter, das heißt eben Unterworfener, der Rechtsordnung Unter­ worfener, in Betracht kommt, dann sind Gewaltinhaber und Gewalt­ unterworfener — sub specie juris — koordiniert; das relevante Ueber- und Unterordnungsverhältnis besteht nicht zwischen ihnen, sondern beiden gemeinsam der Rechtsordnung gegenüber. Will man — nach dieser Einsicht — tatsächlich einen Unter­ schied zwischen Rechtspflichten machen, deren Inhalt, nicht deren Geltung durch den Willen des zu Verpflichtenden mitbestimmt wird und solchen, bei denen dies nicht der Fall ist, und will man die letzteren als „ Gewalt “Verhältnisse bezeichnen, so ist ja gegen eine solche Einteilung der Rechtsinhalte nichts einzuwenden. Allein mau muß dann als „Gewaltverhältnisse“ gelten lassen, was mit der eigent­ lichen Bedeutung nichts zu tun hat, in der dieser Begriff bei LOENING wie überhaupt in der neueren Theorie auftritt. Alle sog. „dinglichen“ oder „absoluten“ Rechte müßten dann als „Gewalt“Verhältnisse gelten. Denn der Inhalt der unzweifelhaften Rechtspflicht, gewisse konkrete Handlungen in bezug auf einen bestimmten Gegenstand, etwa einem Hause gegenüber, zu unterlassen, kommt ohne den Willen der hiezu Verpflichteten zustande. Indem jemand — der Eigentümer — auf seinem Grundstück ein Haus errichtet, verpflichtet „er“ alle anderen zur Unterlassung gewisser StörungsakteJ). Man wird einwenden, die Verpflichtung gehe nicht von dem Eigentümer, sondern von dem Eigentumsrechtssatz aus. Das ist richtig. Nur daß eben die „öffent­ lich-rechtliche“ Verpflichtung, etwa einem Polizeibefehl zu gehorchen, ebensowenig oder ebensosehr von dem befehlenden Polizeiorgan, dem

*) Da — in der üblichen Terminologie gesprochen — der Staat durch die Klage des Gläubigers — und zwar einseitig, nicht vertragsmäßig — ver­ pflichtet wird, gegen den säumigen Schuldner Exekution zu führen, bestünde zwischen Kläger und Staat ein „Gewaltverhältnis“, in welchem Gewaltunter­ worfener — der* Staat wäre!

{

174

III. Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht.

„zur Ausübung der Gewalt Berechtigten“ ausgeht. Die Willens­ äußerung ist ebenso nur die von einer Rechtsnorm gesetzte Be­ dingung für eine Pflicht wie die Errichtung eines Hauses oder irgendein Ereignis, an das die Rechtsordnung Pflichten knüpft. Der konkrete Inhalt der Rechtspflicht, gerade dieses Haus zu respek­ tieren, ist in der gleichen Weise durch die Entstehung dieses indi­ viduellen Hauses bestimmt wie der konkrete Inhalt einer Polizei­ verpflichtung durch die Satzung des konkreten Befehlsaktes. Nur wenn man den Verpflichtungsgrün d in die bloß inhaltsbestimmende Bedingung verlegt — das ist ja die nur aus politischen Motiven erklärbare Irrlehre vom Wesen des Staats(verwaltungs)aktes —, ent­ steht jene schiefe Einteilung in Gewalts- und Vertragsverhältnisse. Alle Rechtsverhältnisse sind Gewaltverhältnisse, wenn man nur die Rechtsgewalt, d. h. die Verbindlichkeit oder Geltung des Rechts im Auge hat. Oder kein Rechtsverhältnis ist ein Gewaltverhältnis, weil Recht und Gewalt einander ausschließen, wenn man nämlich eine andere als die Rechtsgewalt, eine von der Rechtsordnung verschie­ dene, die faktische Gewalt im Auge hat. Die Vorstellung von dieser faktischen Gewalt ist es auch, die bei LOENING schließlich doch durchbricht, wenn er von der „Herrschergewalt des Staates“, die er eben als ein Rechtsverhältnis behauptet hat, erklärt: sie stehe „hinter“ den verschiedenen rechtlichen Gewaltverhältnissen, „um die Gewaltunterworfenen zum Gehorsam zu zwingen“. Dieser Staat steht aber nicht nur „hinter“ den „ Gewalt “Verhältnissen, er steht hinter allen Rechtsverhältnissen, denn bei allen Rechtsverhältnissen ist Gehorsam erforderlich. Daß der Staat nicht mehr als Rechts­ verhältnis, sondern als faktische Gewalt auftritt — wie sollte ein Rechtsverhältnis „hinter“ Rechtsverhältnissen stehen, um die Ver­ pflichteten zum Gehorsam zu zwingen? —-, das geht auch aus an­ deren Stellen bei Loening hervor; z. B. wenn er die Identität des Staates für nicht aufgehoben erklärt, „wenn die Rechtsnormen, sei es auf rechtlichem Wege, sei es infolge eines Rechtsbruches verändert werden“, soferne nur die selbständige Herrschergewalt über die auf dem Gebiete lebenden Beherrschten fortdauert“ 1). Was nur dann einen Sinn hat, wenn die Herrschergewalt als ein von den Rechtsnormen verschiedenes und unabhängiges Seinsfaktum voraus­ gesetzt wird, was wiederum mit der LOENENGschen Begriffsbestimmung des Staates in Widerspruch steht. („Denken wir uns die Rechts­ normen weg, so fällt der Begriff des Staates in sich zusammen, ebenso wie ein konkreter Staat aufhört zu existieren, sobald Herr’).a. a. 0. S. 709.

r1 rij

TI

§ 28. Der Staat als Rechtsverhältnis (Loening).

175

scher und Volk nicht mehr durch geltende Rechtsnormen zusammen­ gehalten werden“) *)• Denn wie das Rechtsverhältnis dasselbe bleiben kann, wenn die Rechtsordnung durch Bruch geändert, d. h. wenn an Stelle der einen Rechtsordnung diskontinuierlich eine andere tritt, muß rätselhaft bleiben. Als Rechtsverhältnis aber muß sich der LOENlNGsche Staats­ begriff aus dem Begriff eines speziellen Rechtsverhältnisses zum Be­ griff des Rechtsverhältnisses überhaupt, d. h. zum Begriff der Rechts­ ordnung, aus weiten. Ist schon dadurch eine durchgängige Beziehung des Staates zu allen Rechtsverhältnissen behauptet, daß der Staat als eine „hinter“ den Gewaltverhältnissen und sohin konsequenter­ weise hinter allen Rechtsverhältnissen stehende, den Rechtsgehorsam garantierende Macht vorgestellt wird, so wandelt sich der Staat ganz ausdrücklich zur Rechtsordnung, wenn LOENING fortfährt: »Alle diese Gewaltverhältnisse“ — gemeint sind alle Gewaltverhältnisse mit Aus­ nahme des Staates — „sind nur insoweit Rechtsverhältnisse, als sie vom Staate anerkannt sind und geschützt werden“. So wie die Gewaltverhältnisse, so müssen konsequenterweise auch alle anderen Rechtsverhältnisse als wirtschaftliche, religiöse oder sonstige Lebensverhältnisse angesehen werden, die dadurch zu Rechtsver­ hältnissen werden, daß sie der Staat anerkennt und schützt. Man darf hier LOENING nicht mehr einwenden : Und wie wird der Staat, der ja ursprünglich als ein spezielles Gewaltverhältnis bezeichnet wurde, zum Rechtsverhältnis? Auch dadurch, daß der Staat dieses Verhältnis anerkennt und schützt? Denn inzwischen ist der „Staat“ zur Rechtsordnung geworden, die alle besonderen „Verhältnisse“ in ihren Inhalt aufnimmt und so zu Rechtsverhältnissen macht! Da LOENING den Staat als ein besonderes Rechtsverhältnis, nämlich als ein Gewaltverhältnis und zwar wiederum mir als ein spe­ zielles Gewaltverhältnis bestimmt, indem er auch andere Gewaltver­ hältnisse — die elterliche Gewalt, die Gewalt des Lehrherrn über den Lehrling, des Schiffskapitäns gegenüber der Schiffsmannschaft — unterscheidet, hätte er die Aufgabe, das Besondere des staatlichen Gewaltverhältnisses aufzuzeigen. Er sagt: die staatliche Gewalt sei „nicht die einzige rechtliche Gewalt im Staatsgebiete“; allein warum bezeichnet er das Gebiet, für das alle Gewalt, ja alle Rechts­ verhältnisse gleicherweise Geltung beanspruchen, gerade mit dem Namen eines speziellen Rechtsverhältnisses? Das Staatsgebiet ist offenbar das Rechts gebiet und Staat und Recht offenbar identisch, wenn LOENING damit den Geltungsbereich benennt. Diese Identi-

’) S. 694.

I

) a. a. 0. S. 287. ’) a. a. 0. S. 310.

*) a. a. 0. S. 307.

§ 43. Die Ueberwindung der theologischen Methode.

247

nicht begriffen werden kann, sondern auf Grund einer anderen, überoder außerrechtlichen Ordnung, der Ordnung des staatlichen Willens als eines metarechtlichen Machtphänomens bestimmt wird, er ist das Rechtswunder x). Keineswegs das einzige, sondern nur das typische. Die theologische Methode des Operierens mit zwei Systemen, die Methode des doppelten Bodens oder der doppelten Wahrheit läßt auch das Rechts wunder in mannigfaltigen Gestalten auftauchen. Wie diese spezifisch theologische Methode bis ins Detail die heutige Staats- und Rechtslehre beherrscht, das zeigt, daß auch die theo­ logische Regel, nach der die beiden verschiedenen Ordnungen im konkreten Fall heranzuziehen sind, in der Staats- und Rechtslehre praktiziert wird. Die katholische Dogmatik lehrt: „Weil der Schöpfer am Anfänge der Dinge nicht nur die Natur, sondern auch die Natur­ gesetze begründet hat, so soll man die Zuflucht zu Wundern mög­ lichst vermeiden und, wo immer es angeht, die natürlichen Erklärungen des Schöpfungsvorganges bevorzugen“ 2). Gewiß: wenn irgend mög­ lich, soll man juristisch konstruieren; wenn es aber nicht mehr angeht — das heißt, wenn gewisse, vom jeweiligen Standpunkt allerdings verschiedene politische Interessen es gebieten, dann darf man zu dem metarechtlichen System seine Zuflucht nehmen. Dann darf man einen Akt, den keine Norm des positiven Rechts auf die Einheit des Rechtssystems beziehen läßt, der „außerhalb des Rechtes steht“, also rechtlich Nichts, ein Willkürakt oder viel­ leicht sogar ein Unrecht ist, auf das eine Strafe gesetzt ist (den „nichtigen“ oder „rechtswidrigen“ Akt), dennoch als Staatsakt gelten lassen, also doch irgendwie nicht dem physisch Handelnden, sondern einem „hinter“ ihm gedachten Subjekt zurechnen, das heißt aber: auf die Systemeinheit des Rechts beziehen3).

12. Kapitel. Pantheismus und reine Rechtslehre. § 43. Die Ueberwindung der theologischen Methode. Die Aufhebung der theologischen Methode, die Herstellung der Systemeinheit, das ist der von der Theologie so gefürchtete P a ntheismus. „Der Pantheismus, im Grunde nur Atheismus, gipfelt >) Daß mit dieser Charakterisierung des außerrechtlichen Staatsaktes nur der wesentliche Inhalt der modernen Theorie des Verwaltungsaktes wieder­ gegeben ist, so wie sie besonders durch Otto Mayers Deutsches Verwaltungs­ recht ausgebaut wurde, dürfte Kundigen nicht verborgen bleiben. 2) Pohle, a. a. 0., I. Bd., S. 445. 8) Vgl. dazu oben S. 136 ff.

i

I

I I

248 W. Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.

im Grundgedanken: Gott und Welt sind einer Wesenheit (ßv xat rcav). Jenachdem er Gott oder die Welt voranstellt, läßt er sich in zwei Hauptformen fassen: Gott ist alles, und: alles ist Gott. Die erste Form kann man den kosmologischen, die zweite den ontologischen Pantheismus nennen“ ’)• Der erstere lasse Gott in der Welt auf­ gehen, der letztere die Welt in Gott. Darum führe der erstere zum „Pankosmismus“, der letztere zum „ Akosmismus“ ; der eine negiert Gott zugunsten der Welt, der andere die Welt zugunsten Gottes. Nur der erstere, der Pankosmismus, ist der eigentliche Feind der Theologie, und nur als Pankosmismus hat der Pantheismus historische, wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung erlangt, indem auf dem Wege dieses Pantheismus die Naturwissenschaft sich aus den Banden der Theologie befreite. Bei der Tendenz, den Dualismus von Staat und Recht zu über­ winden und die Systemeinheit herzustellen — eine Tendenz, die der Staatstheologie stets verdächtig war, weil sie ihre Methode und da­ mit sie selbst zu vernichten droht —, lassen sich gleichfalls die beiden Richtungen unterscheiden, von denen die eine das Recht im Staat, die andere den Staat im Recht aufgehen lassen will. Indes spielt hier diese Richtungsverschiedenheit keine entscheidende Rolle. Worauf es ankommt, ist vor allem die Erkenntnis, daß, solange • Staat und Recht als zwei voneinander verschiedene Wesenheiten be­ hauptet werden, für die Staats- und Rechtstheorie die gleiche Alternative gilt, vor die Feuerbachs Kritik des Gottesbegriffs die Theologie stellt: Weil Gott die Natur und die Natur Gott aufhebt, darum: „Entweder Gott oder Natur! Ein drittes, Mittleres, ein beide Vereinigendes gibt es nicht“ 2). Weil selbst dem blödesten Auge ersichtlich sein muß, daß der vom Recht wesensverschiedene Staat das Recht, das vom Staat wesensverschiedene Recht aber den Staat aufhebt, muß die Staats- oder Rechtslehre, will sie den Forderungen der Logik, der Wissenschaftlichkeit genügen, entweder das Recht im Staat aufgehen lassen, das heißt: die jeweilige Rechtsordnung als Staatsordnung erkennen oder den Staat im Recht aufgehen lassen, d. h. die jeweilige Staatsordnung als Rechtsordnung erkennen. Es kann sich dabei nur um eine Verschiedenheit des geistigen Werde­ gangs handeln, der zur Erkenntnis der Identität führt, je nachdem ob man von der Ueberwindung des naturrechtlichen oder des macht­ politischen Standpunkts herkommt. Im ersteren Fall sagt man: Das Recht, die jeweilige Rechtsordnung ist der Staat, das heißt ist positiv, im zweiten Fall: Der Staat, der jeweilige Staat ist das Recht. ’) Pohle, I. Bd, S. 403.

’) a. a. 0. S. 207.

i § 44. Der Staat als Gott.

249

§ 44. Der Staat als Gott. Zwischen „Gott“ und „Staat“ sowie ihren beiden Widerparten „Natur“ und „Recht“ besteht nicht nur eine logische Parallele, sondern auch manche reale Beziehung. Vor allem muß daran erinnert werden, daß die erste Naturerkenntnis mythologisch-religiösen Charakters ist, und daß sie die natürlichen Erscheinungen bewußt nach Analogie der durch Staat oder Recht geordneten menschlichen Verhältnisse zu begreifen sucht. Der die Menschen durch Gesetzes­ befehl leitende König ist das Urbild für die die Natur lenkende Gottheit. Politisch-juristisches Denken geht naturwissenschaftlicher Erkenntnis nicht nur voran, sondern weist ihr auch die ersten Wege. Der Begriff des Gesetzes tritt zuerst als Rechtsgesetz auf und wird zunächst unverändert von der Naturerkenntnis übernommen, um erst in einem langwierigen Bedeutungswandel sich als Naturgesetz seinem Ursprung, dem Rechtsgesetz, entgegenzustellen l). Das System von Staat und Recht ist das bestimmende Vorbild für das System von Gott und Natur. Auf einer gewissen Stufe der religiösen und politischen Entwicklung fallen die Vorstellungen von Gott und Staat geradezu zusammen: Der Nationalgott ist einfach die in der Personi­ fikation vergöttlichte Nation; es ist der Zustand, in dem die religiöse und die rechtliche Organisation, in der Kirche und Staat identisch sind. Daß diese Entwicklungsstufe in der Regel polytheistischen Charakter hat, ist kein ernstlicher Einwand. Denn auch die Vielheit der Götter bildet irgendwie eine göttliche Einheit, die sich in der Unterordnung unter einen Hauptgott oder auf andere Weise darstellt. Andererseits geht die Loslösung des Gottesbegriffes von der nationalen Gemeinschaft, die Ausbildung eines übernationalen, anationalen Gottes Hand in Hand mit der Bildung eines Menschheits- oder Weltbewußt­ seins, einer überstaatlichen Gemeinschaft. Trotzdem das Christentum einen „kosmopolitischen Gott“ aufgerichtet hat, läßt sich dennoch die Tendenz feststellen, auch diesem Gottesbegriff eine nationale, einzelstaatliche Färbung zu geben, ihn zu einem Staatsgott zu machen. Schon Feuerbach hat auf die Beziehungen zwischen Staatsgefühl und religiösem Gefühl, zwischen Patriotismus und Religion aufmerk­ sam gemacht. „Haben doch selbst die Franzosen das bprichwort: Der liebe Gott ist gut französisch, und schämen sich doch selbst in unseren Tagen nicht die Deutschen, welche doch wahrlich keinen Grund haben, wenigstens in politischer Hinsicht, auf ihr Vaterland stolz zu sein, von einem deutschen Gott zu sprechen .... so

’) Vgl. dazu meine „Hauptprobleme“ S. 4.

I



i

I

H

! = •:

250 IV. Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik.

lange es viele Völker gibt, so lange gibt es auch viele Götter; denn der Gott eines Volkes, wenigstens sein wirklicher Gott, welcher wohl zu unterscheiden ist von dem Gott seiner Dogmatiker und Religions­ philosophen, ist nichts anderes als sein Nationalgefühl“J). Er hätte ruhig sagen können: nichts anderes als sein „Staat“. Das zeigt sich auch in der Tatsache, daß in demselben Maße, als bei zunehmender religiöser Skepsis und Indifferenz die Ideologie Gottes zurücktritt, die Ideologie des Staates an ihre Stelle tritt und als Ersatz im Bewußt­ sein der Menschen eine Reihe von Funktionen übernimmt, die sonst die Ideologie Gottes versieht. Das Anbetungsbedürfnis, das Bedürf­ nis, sich einem Höheren, Heiligen zu unterwerfen, sich aufzuopfern, kurz alle auf die Verkleinerung, Selbstentäußerung, ja Selbstver­ nichtung gerichteten Instinkte des Menschen, sie finden ihre Be­ friedigung in jener Vergöttlichung des Staates, in jenem bis ins Sinnlose gesteigerten Staatsfetischismus, dessen menschen- und kultur­ feindliche Wirkungen wir aus nächster Nähe konstatieren können. Andererseits sucht aber auch der Wille zur Macht, der sich vordem auf dem Wege der Identifikation des Einzelnen mit seinem Gotte, im Kampfe für diesen speziellen Gott, für einen Sieg dieses Gottes manifestierte, der doch nur als der Sieg der eigenen Persön­ lichkeit befriedigte, mit dem Verblassen des Gottesgedankens nun­ mehr allein im „Staat“ seine Maske. Wenn man bedenkt, daß die Nation nur im Staate konkrete Gestalt annimmt, und daß gerade Staaten, die sich keineswegs mit der nationalen Gemeinschaft decken, über die wirksamste Ideologie verfügen — man denke an Großbritannien —, dann ist an Stelle der religiösen nicht, wie man heute sagt, die nationale Idee, sondern die Idee des Staates getreten2).

’) a. a. 0. S. 49. 2) In diesem Zusammenhänge, wo die psychologischen Beziehungen zwischen der Staats- und der Gottesideologie in Frage stehen, möchte ich auf die sehr interessanten Ergebnisse aufmerksam machen, zu denen Freud bei seinem Versuche, die Anfänge der Staats-(Gesellscbafts-) und Religions­ bildung aufzuhellen, gelangt ist. In der bereits zitierten Schrift „Totem und Tabu“, die sich zur Aufgabe setzt, die Erscheinungen des Totemismus psycho­ logisch zu erklären, knüpft er an die Untersuchungen des englischen Forschers Robertson Smith (The religion of the Semits, Second Edition, London, 1907) an. Dieser nimmt an, daß eine eigentümliche Zeremonie, die sog. TotemMahlzeit, das Töten und gemeinsame Verzehren eines Tieres von besonderer Bedeutung, des Totem-Tieres, von allem Anfang an einen integrierenden Be­ standteil des totemistischen Systems gebildet habe. Später, als „Opfer“, eine Darbringung an die dadurch zu versöhnende Gottheit, bedeutet es ursprünglich einen „Akt der Geselligkeit, eine Kommunion der Gläubigen mit ihrem Gott“ („an act of social fellowship between the deity and bis worshippers“). Durch das Essen eines und desselben Opfertieres wird die Stammesgemeinschaft, die



§ 45. Der übernatürliche Gottesbegriff und der überrechtliche Staatsbegriff. 251

§ 45. Der übernatürliche Gottesbegriff und der über­ rechtliche Staatsbegriff als Hypostasierung ge­ wisser, den Natur- bzw. Rechtsgesetzen wider­ sprechender Postulat e.

In seiner berühmten Kritik erklärt FEUERBACH die Religion im allgemeinen wie die Idee Gottes im besonderen als ein Produkt wunscherfüllender Phantasie. Der übernatürliche, an die Schranken der Naturgesetze nicht gebundene, wunderwirkende Gott soziale Einheit — nach der Vorstellung der Primitiven — hergestellt. Wer mitißt, der gilt als zugehörig. „Warum wird aber dem gemeinsamen Essen und Trinken diese bindende Kraft zugeschrieben? In den primitivsten Gesell­ schaften gibt es nur ein Band, welches unbedingt und ausnahmslos einigt, das der Stammesgemeinschaft (kinship). Die Mitglieder dieser Gemeinschaft treten solidarisch füreinander ein, ein Kin ist eine Gruppe von Personen, deren Leben solcherart zu einer physischen Einheit verbunden sind, daß man sie wie Stücke eines gemeinsamen Lebens betrachten kann . . . Kinship bedeutet also: einen Anteil haben an einer gemeinsamen Substanz . . .“ »Wir haben gehört, daß in späteren Zeiten jedes gemeinsame Essen, die Teilnahme an der nämlichen Substanz, welche in ihre Körper eindringt, ein heiliges Band zwischen den Commensalen herstellt; in ältesten Zeiten scheint diese Bedeutung nur der Teilnahme an der Substanz eines heiligen Opfers zuzukommen. Das heilige Mysterium des Opfertodes rechtfertigt sich, indem nur auf diesem Wege das heilige Band hergestellt werden kann, welches die Teilnehmer untereinander und mit ihrem Gotte einigt.“ »Die durchaus realistische Auffassung der Blutsgemeinschaft als Identität der Substanz läßt die Notwendigkeit verstehen, sie von Zeit zu Zeit durch den physischen Prozeß der Opfermahlzeit zu erneuern.“ Dieses Opfer hat eben »die heilige Substanz zu liefern durch deren Genuß die Clangenossen sich ihrer stofflichen Identität untereinander und mit der Gottheit versichern.“ Freud, a. a. 0. S. 123 ff. Die hier angeführten Stellen sind für die im Texte behaupteten Beziehungen zwischen Gott und Staat in zweifacher Hinsicht von Bedeutung. Erstlich, daß dem primitiven Denken die soziale Einheit, die Verbindung einer Viel­ heit von Individuen zur Einheit in der sicht- und greifbaren Substanz des gemeinsam verzehrten Opfer-(Totem-)Tieres zum Ausdruck kommt. Dann aber, daß die soziale Einheit von vornherein religiösen Charakter hat, daß die soziale Verbindung gleichsam vermittels der Verbindung mit der Gottheit zustande kommt, ja daß beide Verbindungen — als seelische Bindungen — im Grunde von allem Anfang an identisch sind, was sich darin zeigt, daß das geopferte Totem-Tier, dessen gemeinsame Verzehrung die soziale Ver­ bindung herstellt, die Gottheit selbst ist. Gerade nach dieser Richtung führt die PREUDsche Psychoanalyse zu der bedeutsamen Erkenntnis einer gemein­ samen seelischen Wurzel der Staats- und Gottesidee, der sozialen und reli­ giösen Einstellung des Menschen. Diese überaus interessanten Gedankengänge zu verfolgen, die die eigentliche Arbeit der Psychoanalyse darstellen, fällt jedoch schon außerhalb des Rahmens dieser Arbeit.

I



:■

! I

•4



252 IV. Der Dualismus von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik. ist nur ein Ausdruck für die über die Grenzen des Wirklichen und Notwendigen „über die Grenzen der Natur und Welt hinausgehenden“1) Wünsche der Menschen. „Gott erfüllt, was der Mensch wünscht; er ist ein den Wünschen des Menschen entsprechendes Wesen“2). Im Wunder wirkt der supranaturale Gott die Erfüllung aller Wünsche, auf die verzichten muß, der sich im Bereiche der Natur bescheidet. Mit dieser treffenden Psychologie des überweltlichen Gottesbegriffes ist zugleich der Schlüssel zu dem überrechtlichen Staatsbegriff gegeben. Er ist ein Ausdruck bestimmter, in der Rechtsordnung nicht anerkannter politischer Postulate, er soll die Befriedigung von politischen Interessen ermöglichen, die die Rechtsordnung nicht gelten läßt, die im Widerspruch zur Rechts­ ordnung stehen. Hier muß an all das erinnert werden, was früher 3) über die Entstehung des vom Begriff des Rechts verschie­ denen, gegen das Recht gerichteten Begriff des Staates und sein Eindringen in die deutsche Rechtswissenschaft, was insbesondere von dem die heutige Rechtssystematik beherrschenden Gegensatz von öffentlichem und privatem Recht gesagt wurde: Daß schon diese logisch unhaltbare Grundeinteilung des Rechtes auf einer politischen, gegen das positive Recht gerichteten Tendenz, auf dem Wunsche beruht, die gegebene Rechtsordnung stellenweise durch eine andere, den politischen Wünschen des Interpreten entsprechende Ordnung zu er­ setzen. Die Fernhaltung aller Politik ist zwar eine heute allgemein anerkannte Forderung der positivistischen Rechtswissenschaft. Allein erfüllt kann sie nur werden, wenn auf den Begriff eines metarecht­ lichen Staates verzichtet wird. Und dieser Verzicht ist, weil er das Operieren mit zwei beziehungslosen Erkenntnissystemen aufhebt, nicht nur eine logisch-erkenntnistheoretische, er ist auch eine ethische Notwendigkeit. An Stelle der theologischen Methode der „doppelten Wahrheit“ tritt mit der System e i n h e i t das dem logischen Ideal der einen Wahrheit immanente Ideal der Wahrhaftigkeit. Die Aufhebung des hier als das Wesen der Theologie bezeich­ neten Dualismus der beiden miteinander unvereinbaren Systeme „Gott — Natur“ führt zur reinen Naturwissenschaft; kann aber auch zu einer „reinen“, das heißt in keiner Weise auf das System „Natur“ bezogenen Theologie führen, die dann freilich nicht mehr Theologie im bisherigen Sinne, sondern reine Ethik wäre. Sofern in dem Dua­ lismus „Staat — Recht“ zwei verschiedene Normsysteme, nämlich Politik und positives Recht (und nicht wie in dem Dualismus „Gott

’) a. a. 0. S. 306 ff. 8) Vgl. oben S. 138 ff.

2) a. a. 0. S. 410.

§ 45. Der übernatürliche Gottesbegriff und der überrechtliche Staatsbegriff. 253

— Natur“ ein Normensystem und ein System der Naturgesetze) einander gegenüberstehen, führt die Aufhebung dieses Dualismus innerhalb der heutigen Staatslehre zu einer reinen Rechtslehre einer­ seits und einer reinen Politik andererseits. Die „Reinheit“ der Rechtslehre berührt natürlich durchaus nicht ihren Charakter einer Normenlehre. Es kann nicht darauf ankommen, die Rechtswissen­ schaft zu einer Naturwissenschaft zu machen, sondern sie — un­ beschadet ihres Charakters als Nonnenlehre — von ethisch-politischen und naturwissenschaftlichen Elementen zu befreien. Sofern im System „Staat“ dem System „Recht“ nicht ein anderes Normensystem, son­ dern die Natur Wirklichkeit eines sozialen Geschehens gegenüber­ zustellen versucht wird — und auch diese Tendenz wurde ja auf­ gezeigt —, führt die Aufhebung dieses Dualismus zu einer reinen Rechtslehre einerseits und einer naturwissenschaftlichen Staats- und Rechtssoziologie andererseits. Inwieweit diese letztere möglich ist, bleibt eine andere Frage. Die Forderung, daß die Staatslehre aufhören müsse, Staats­ theologie zu sein, richtet sich ausschließlich gegen den für die Theologie charakteristischen Systerndual i s m u s. Aus ihm ergibt sich die eben aufgezeigte Parallelität der Scheinprobleme und Antinomien, deren Unzulässigkeit es vor allem zu erkennen gilt. Soferne die Theologie als bloße Theorie eines Systems religiöser Normen auftritt (in welchem Falle sie frei­ lich nichts als eine Ethik ist), soll und kann ihre methodische Ver­ wandtschaft mit der Rechtsnormenlehre nicht geleugnet werden. Wenn die Absorption des supranaturalen Gottesbegriffes durch den Begriff der Natur die Voraussetzung für eine echte, von aller Metaphysik freie Naturwissenschaft war1), so ist die Reduktion des überrechtlichen Staatsbegriffes auf den Begriff des Rechtes die unerläßliche Vorbedingung für die Entwicklung einer echten Rechtswissenschaft als einer von allem — als Politik oder Soziologie verkleideten— Naturrecht gereinigten Wissenschaft vom positiven Recht. Auf sie zielt die „reine Rechtslehre“, die zugleich die reine Staatslehre ist, weil alle Staatslehre nur als Staatsrechtslehre mög­ lich, alles Recht aber Staatsrecht, wie jeder Staat Rechtsstaat ist. *) Es ist bezeichnend, daß die Emanzipation der Naturwissenschaft von der Theologie im Zeitalter der Renaissance in den Formen des Pantheismus einsetzt. Hier liegt die große Bedeutung Giordano Brunos. Indem er — im Kampfe gegen die Theologie — Gott aus der theologischen Hypostase eines von der Natur verschiedenen Wesens gleichsam entzaubert und als bloße Einheit des gesetzlichen Zusammenhangs der Natur selbst erkennt, wird er zum Be­ gründer der modernen Naturwissenschaft, üeber den Pantheismus Giordano Brunos vgl. JÄSCHE, Der Pantheismus, 1828, II. Bd., S. 184 ff.

I • fl

I

i

o

K299

0146081



1

b

I

[•

;■

r 1

Hlllllllllll 0146081

i



k •