Der Psychiater als Gutachter [1 ed.] 9783896445353, 9783896735355

Das Überlappungsfeld zwischen Psychiatrie und Justiz hat sich in den letzten Jahren erweitert. Somit bietet diese Buch e

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German Pages 134 [135] Year 2010

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Der Psychiater als Gutachter [1 ed.]
 9783896445353, 9783896735355

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Peter Hartwich (Hrsg.)

Der Psychiater als Gutachter

Verlag Wissenschaft & Praxis

Peter Hartwich (Hrsg.)

Der Psychiater als Gutachter

Mit Beiträgen von: H. Berger, H. Dreßing, P. Hartwich, K. Hoffmann, N. Nedopil, M. Schmidt-Degenhard, W. Völker, H. Weigand-Tomiuk

Verlag Wissenschaft & Praxis

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN 978-3-89673-535-5 Wissenschaft & Praxis © Verlag Dr. Brauner GmbH 2010 D-75447 Sternenfels, Nußbaumweg 6 Tel. +49 7045 930093 Fax +49 7045 930094

Alle Rechte vorbehalten Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Wichtiger Hinweis − Produkthaftung: Der Verlag kann für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen keine Gewähr übernehmen. Da trotz sorgfältiger Bearbeitung menschliche Irrtümer und Druckfehler nie gänzlich auszuschließen sind, müssen alle Angaben zu Dosierungen und Applikationen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, daß solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Printed in Germany

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Vorwort Beim 15. Frankfurter Psychiatriesymposion wurden eine Reihe namhafter Wissenschaftler und praktisch Tätiger aus dem gemeinsamen juristischen Überlappungsgebiet mit dem psychiatrisch-psychotherapeutischen Bereich eingeladen. Es ging um aktuelle forensische Themen mit denen all diejenigen, die mit psychisch Kranken arbeiten, täglich konfrontiert sind. Dankenswerter Weise wurden uns die Manuskripte nach entsprechender Überarbeitung für die vorliegende Gesamtpublikation zur Verfügung gestellt. In dem Beitrag von HARTWICH werden die folgenden Aspekte diskutiert: Seit alters her ist der Psychiater derjenige, der die psychiatrisch Kranken, die im Rahmen ihrer psychotischen Symptomatik Gesetze übertreten haben, vor dem Gefängnis schützt und sie, statt dass sie bestraft werden, einer Therapie zuführt. Andererseits gibt es Einzelfälle, bei denen die Gesellschaft vor psychisch kranken Straftätern zu bewahren ist; diese werden dann in den forensischen Spezialeinrichtungen stationär oder ambulant psychiatrisch behandelt. Der Psychiater ist aber nicht nur Behandler und Psychotherapeut seiner Patienten sondern oftmals auch derjenige, der Bescheinigungen, Krankschreibungen, Atteste und Gutachten anfertigen muss. Hierbei kommt er in eine Rolle, die aufgrund ihrer erforderlichen Distanziertheit von der eigentlichen professionellen Helferrolle abweicht. Vielfach gerät der Psychiater, der gleichzeitig Gutachter ist, in das Spannungsfeld zwischen Politik, gesellschaftlicher Tradition, Norm und Justiz sowie bei totalitären Systemen mancher Länder einerseits und der Sorge um den einzelnen psychisch Kranken, der ihm anvertraut ist, andererseits in einen Konflikt. Dieser ist nur zu lösen durch Beharrlichkeit in der Neutralität hinsichtlich Psychopathologie, Psychodynamik und Diagnosestellung. Das „innere fachliche Referenzsystem“ an dem sich der Psychiater orientiert, sollte nicht ein selektiertes Klientel sondern die gesamte Breite der psychischen Erkrankungen sein. Infolgedessen besteht der Anspruch, dass neben den Kollegen in den Abteilungen für Forensik und Maßregelvollzug auch diejenigen, die in der allgemeinen Versorgung tätig sind, mit der Erstellung von Gutachten betraut werden. SCHMIDT-DEGENHARD beschreibt die psychiatrische Begutachtung im Strafrecht als eine auf das Verstehen der Täterpersönlichkeit zielende soziale Praxis, indem er das Verstehen als Sinn-Erfassend nimmt, welches zwischen den Ebenen lebensweltlicher Praxis und methodischer Reflexion, die sich in der konkreten Situation zwischen dem Psychiater und seinem Pati-

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enten bzw. Probanden untrennbar miteinander verschränken, oszilliert. In dem Versuch, eine Mordbeteiligung eines jungen Täters in der intrapsychischen Motivationsstruktur als Selbstkorrumpierung zu verstehen, eröffnet er eine Möglichkeit, dem Gericht ein solche Handlung besser verständlich zu machen, ohne das dies eine Feststellung bezüglich der Schuldfähigkeit impliziere. NEDOPIL trägt Wesentliches zu der häufig immer noch zu wenig beachteten und geklärten Frage der Simulation und Aggravation bei. Da allein von ca. 30% Simulation bei entschädigungsrechtlichen Begutachtungen und Rentenverfahren auszugehen ist, bedarf es einer genaueren Erforschung der Erscheinungsformen, Motive und vor allem der Merkmale für ein solches Verhalten. Bei der Abklärung auf Verdacht der Simulation werden Möglichkeiten zur Objektivierung, Plausibilitätsprüfung und des Einsatzes neuropsychologischer Verfahren erörtert. Bei der schriftlichen und mündlichen Erläuterung des Gutachtens empfiehlt er, die juristisch Beteiligten im Gerichtsverfahren auf die Diskrepanzen und Widersprüche hinzuweisen, denen der Gutachter nicht folgen kann. Die Feststellung, ob es sich bei der Darstellung des Probanden um Unwahrheiten oder nicht handelt, sei eine Wertung, die letztlich der Beweiswürdigung des Gerichtes obliege. DRESSING weist darauf hin, dass Stalkingverhalten offensichtlich so alt wie die Menschheit sei. Er stellt dar, wie und auf welchen Wegen heutzutage Stalker ihre Opfer belästigen einschließlich des Cyberstalkings. Seit im Jahre 2007 der eigenständige Straftatbestand „Nachstellung“ im Strafgesetzbuch (§ 238) geschaffen wurde, geht es mehr und mehr um die Fragen der Schuldfähigkeit und der Behandlung, wobei er betont, dass die große Mehrzahl der Stalker für ihr Tun voll verantwortlich sind. Er legt auch wissenschaftliche Studien vor, die im Rahmen eines Modellprojektes „Stop Stalking“ eine bessere Versorgung der Opfer zum Ziel hat. Die bisherigen Ergebnisse zeigen erfreuliche Effekte. VÖLKER befasst sich mit einem Thema, das jeden Arzt und insbesondere jeden Psychiater betrifft, nämlich den Kriterien, unter denen Arbeitsunfähigkeit, Erwerbsunfähigkeit und Berufsunfähigkeit medizinischerseits festgestellt werden können. Er weist darauf hin, dass psychische Erkrankungen als Hauptursache der Frühberentung gelten, so werden 65% der Frühpensionierungen bei Lehrern auf psychische Erkrankungen zurückgeführt. Die Bedingungen und die Frage des kausalen Zusammenhangs bei der Arbeitsunfähigkeitsbegutachtung werden dargestellt, zumal nach LINDEN 75 % der Arbeitsunfähigkeitsfeststellungen mit „psychosozialer Problematik“ einer kritischen Prüfung nicht Stand halten. Die Begutachtung der Erwerbsminde-

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rung wird hinsichtlich der gesetzlichen Definition und der Kriterien für die Prognose dargestellt. Auf spezielle privatrechtliche Verträge zur Berufsunfähigkeit wird hingewiesen. HOFFMANN stellt für die Grundlagen der Psychotherapie in forensischen Abteilungen heraus, dass im Unterschied zur Allgemeinpsychiatrie ein aktives Umgehen mit den gravierenden Anlassdelikten, die möglicherweise auch weitere Delikte nach sich ziehen können, gefordert ist. Zu berücksichtigen ist dabei die Multimorbidität und die besondere soziale Randständigkeit des forensischen Klientels, was eine Auseinandersetzung mit psychoanalytischen und kognitiv-behavioralen Konzepten erforderlich macht. Ausführlich geht er auf die Psychodynamik der Traumatisierung und der Identifikation der Therapeuten mit der Subjektivität der Täter, der Partner und der Opfer ein. Er betont, dass Supervision in der forensischen Psychiatrie unabdingbar sei. Eindrucksvoll ist die Darstellung der vielen positiven Effektivitätsstudien bei denen psychiatrisch Kranke, die straffällig wurden, in der forensische Psychiatrie eine adäquate Behandlung erfahren haben. BERGER stellt eine übersichtliche Zusammenstellung der strafrechtlich relevanten Aspekte bei der psychiatrischen Begutachtung vor. Er bemüht sich, die gemeinsame Schnittmenge des Denkens von Juristen und Psychiater darzustellen und zu erweitern, indem er die rechtlichen Grundlagen mit den entsprechenden Definitionen aufführt und diese mit psychopathologischen Sachverhalten und Benennungen abgleicht. Dazu werden die Fragen der Schuldfähigkeit nach §§ 20,21 StGB, die Unterbringung nach §§ 63, 64, 66 StGB erörtert. Eine aus Juristen und Psychiatern bestehende Arbeitsgruppe aus dem Jahre 2005 wird angeführt, die inhaltliche Mindeststandards für die Erstellung von Gutachten zur Beurteilung der Schuldfähigkeit formuliert haben. Die Kriterien werden aufgeführt und erläutert. Er stellt ferner die hohen Anforderungen an den Gutachter heraus, wenn es sich um die Beurteilung der Prognose eines Probanden handelt. Auch hierzu werden inhaltliche Mindestanforderungen, die die genannte Arbeitsgruppe aufgestellt hat, aufgeführt und diskutiert. Mahnend sind seine Schlussbetrachtungen, dass keine Handanweisung, die Erfahrung zu ersetzen vermag; die wiederkehrende Auseinandersetzung mit Menschen, die durch eigene Schuld oder psychische Erkrankung in die Lage geraten sind, eine Straftat zu begehen, schärfe den Sinn für die Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Denkens, Fühlens und Wollens. WEIGAND-TOMIUK skizziert zivilrechtliche Aspekte bei der Begutachtung psychisch Kranker. Dabei werden die Fragen der Geschäftsfähigkeit (§ 104

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BGB), Nichtigkeit der Willenserklärung (§ 105 BGB) und Testierfähigkeit (§ 2229 BGB) als Beispiele angeführt. Insgesamt stellt die in diesem Buch vorgelegte Darstellung der Tätigkeiten und Stellung des psychiatrisch Tätigen und des psychiatrischen Sachverständigen in der gemeinsamen Schnittmenge von Psychiatrie und Justiz eine moderne und prägnante Orientierung für den interessierten Leser dar. Hinzu kommen wichtige Informationen über die heutigen Ansätze der Therapien und deren Bezug zu psychoanalytischen Konzepten und Grundhaltungen. Peter Hartwich

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Inhalt Vorwort ...................................................................................................... 5 Inhalt .......................................................................................................... 9 Autoren..................................................................................................... 11 PETER HARTWICH Der Psychiater als Gutachter im Spannungsfeld zwischen Justiz, Gesellschaft, Politik und der Fürsorge um den individuellen psychisch Kranken .................................................................................... 13 MICHAEL SCHMIDT-DEGENHARD Mord und Selbstkorrumpierung ................................................................ 23 NORBERT NEDOPIL Manipulation bei der Begutachtung – Simulation, Aggravation und ihre Auswirkungen.................................................................................... 47 HARALD DREßING Stalking..................................................................................................... 59 WOLFGANG VÖLKER Arbeitsunfähigkeit, Erwerbsunfähigkeit, Berufsunfähigkeit bei psychischen Erkrankungen.................................................................. 65 KLAUS HOFFMANN Grundlagen der forensischen Psychotherapie ........................................... 73 HARTMUT BERGER Wegmarken der Begutachtung psychisch Kranker.................................... 99 HILDEGARD WEIGAND-TOMIUK Zivilrechtliche Aspekte bei der Begutachtung psychisch Kranker ............ 125

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Autoren Berger, Hartmut, Prof. Dr. med. Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Neurologie, Forensische Psychiatrie, Direktor der Walter-PicardKlinik Betriebszweig des Zentrums für Soziale Psychiatrie, Phillipshospital 7, 64560 Riedstadt Dreßing, Harald, Prof. Dr. med. Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Forensische Psychiatrie, Leiter der Abteilung Forensische Psychiatrie. Zentralinstitut für Seelische Gesundheit. J5, 68159 Mannheim Hartwich, Peter, Prof. Dr. med. Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Neurologie, Psychoanalyse, Forensische Psychiatrie, em. Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie-Psychosomatik Städtische Kliniken, Gotenstraße 6-8, 65929 Frankfurt am Main Höchst Hoffmann, Klaus, Prof. Dr. med. Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychoanalyse, Forensische Psychiatrie, Chefarzt der Forensischen Psychiatrie und Psychotherapie. Zentrum für Psychiatrie Reichenau. Feuersteilstrasse 55, 78479 Reichenau Nedopil, Norbert, Prof. Dr. med. Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Forensische Psychiatrie, Leiter der Abteilung für Forensische Psychiatrie, Psychiatrische Klinik der Universität München, Nußbaumstr. 7, 80336 München Schmidt-Degenhard, Michael, Prof. Dr. med. Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Forensische Psychiatrie, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Kaiserswerther Diakonie, Zeppenheimer Weg 7, 40489 Düsseldorf Völker, Wolfgang, Dr. med. Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Forensische Psychiatrie, Leitender Oberarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Ev. Krankenhaus Elisabethenstift, Landgraf-Georg-Str.100, 64287 Darmstadt Weigand-Tomiuk, Hildegard, Dr. med. Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychoanalyse, Forensische Psychiatrie, Oberärztin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie-Psychosomatik Städtische Kliniken, Gotenstraße 6-8, 65929 Frankfurt am Main Höchst

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Der Psychiater als Gutachter im Spannungsfeld zwischen Justiz, Gesellschaft, Politik und der Fürsorge um den individuellen psychisch Kranken Historisches Die psychiatrische Geschichtsschreibung zu dem Thema des Psychiaters als Sachverständigem vor Gericht zu bemühen, führt in ein sehr weites Feld, das zwischen Medizin und Justiz gelegen ist. Alte Schriften lehren uns, wie mit Rechtsbrechern im Altertum und im alten Rom umgegangen wurde. Es wurden nämlich die Menschen, die als geisteskrank galten, damals schon anders angesehen, als übliche Verbrecher. Die Frage der Schuldfähigkeit beschäftigt das römische Recht, das Mittelalter und unsere Zeit. NEDOPIL (2005) hat sich unter anderem mit der historischen Entwicklung dieses Bereiches, der zunächst eher außerhalb und später innerhalb der Psychiatrie angesiedelt wurde, befasst; er sei infolgedessen zitiert: „Fragen, die heute gewöhnlich an den forensischen Psychiater gestellt werden, wurden in Rechtsprechung und Gesetzgebung erörtert, lange bevor es eine Psychiatrie oder gar eine forensische Psychiatrie gab. Aristoteles (Nikomachische Ethik) entwarf wohl als erster die Idee, dass psychisch Kranke nicht bestraft werden sollten, wenn ihre Krankheit die Grundlage ihres Rechtsverstoßes war, wenn der Täter aufgrund eines Wahnes oder aufgrund von Desorientiertheit handelte. Im römischen Recht gingen ‚furiosi’ (die Rasenden), ‚mente capti’ (die Verblödeten) und ‚dementes’ (die Toren) straffrei aus. Bei ihnen war man der Meinung, dass sie durch ihr Schicksal genug gestraft seien. Diese Idee wurde in der Renaissance wieder aufgegriffen. In dieser Periode wurde erstmals von einem Arzt, Paolo Zacchia, vorgeschlagen, die Frage der krankheitsbedingten Aufhebung der Strafbarkeit von Medizinern entscheiden zu lassen. Es blieb aber bis ins ausgehende 19. Jahrhundert umstritten, wer über die Voraussetzungen für psychisch bedingte Schuldaufhebung entscheiden soll.“ NEDOPIL (2005 Seiten 23,24). JANZARIK (1972) zitiert Heinroth, der mit vielen Ärzten in den Anfängen des 19. Jahrhundersts die Meinung vertrat, dass sich der Arzt in erster Linie über Freiheit und Unfreiheit des Indivuduum quaestionis zu äußern habe. Bemerkenswert ist die Feststellung von JANZARIK, dass, abgesehen von

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Auswüchsen der Monomanienlehre, die ohnedies von den Gerichten korrigiert werde, die Praxis der Begutachtung in der Hand wirklicher Fachleute seit Anfang des 19. Jahrhundersts kaum zu anderen Ergebnissen geführt habe als in der Gegenwart. Die andersartige Terminologie, die etwa einen schizophrenen Residualzustand noch im Ausgang des Jahrhunderts als „sekundären Blödsinn nach Melancholie“ klassifiziert habe, schließe grundsätzliche Übereinstimmung nicht aus.

Zwei Fronten Als ich zu Beginn meiner Ausbildung als junger Arzt in der Psychiatrie vor 40 Jahren den eindrucksvollen Artikel über die Hebephrenie des Psychiaters HECKER aus dem Jahre 1871 gelesen habe, fiel mir auf, dass er die Erfahrung gemacht zu haben schien, dass diese jungen schizophrenen Menschen Gefahr laufen, als Simulanten angesehen zu werden. HECKER beschreibt einen Fall von KAHLBAUM; es handelt sich um einen jugendlichen Psychosekranken, bei dem es fünf sich widersprechende ärztliche Urteile gegeben habe. Dieser unzweifelhaft hebephrene Patient sei zunächst als gesund erklärt und infolgedessen verurteilt worden. Unter KAHLBAUMs Mitwirkung wurde vom Zuchthaus aus das Verfahren nochmals angestrengt und der Proband wurde für „blödsinnig“, wie man es damals – noch wertfrei – nannte, erklärt und in eine psychiatrische Einrichtung zur Behandlung überführt. In der Schilderung einer solchen Situation tauchen zwei Fronten auf, zwischen denen der Psychiater steht: Einmal geht es darum, psychisch kranke Menschen zu schützen, da sie im Gefängnis nicht am richtigen Platz sind. Wenn sie im Rahmen und infolge ihrer psychischen Erkrankung eine Straftat begangen haben, so sollte an erster Stelle die Behandlung ihrer psychiatrischen Störung stehen. Andererseits geht es darum, die Allgemeinheit vor der Gefährlichkeit Kranker – auch wenn sie selten ist – zu schützen, damit wir in unserem Gemeinwesen in Sicherheit, die jedoch immer nur eine relative sein kann, leben können. Scheinbar handelt es sich hier um gegensätzliche Fronten. Aber nur scheinbar: wenn wir nämlich unsere Psychopathologie pflegen und krank und gesund sowie klinisch relevantes Psychopathologisches detailliert differenzieren, dann stehen wir nicht für den Gegensatz sondern wir sehen beides als „Teil eines humanistischen Menschenbildes“ wie es NEDOPIL ausdrückt, „dem sich sowohl die Psychiatrie wie auch die Justiz verpflichtet fühlen“.

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Der Psychiater im totalitären System Es gibt aber noch einen weiteren Bereich, wo der Psychiater ebenfalls zwischen zwei Fronten geraten kann. Dazu ein eigener Eindruck: Ich bin im Jahr 1977 nach Honolulu auf Hawaii zum VI. Weltkongress für Psychiatrie gereist. Kaum im Kongresszentrum angekommen, hörte ich von der WPA-Sitzung (world psychatric association), in der die Russen, damals die Sowjets, heftig angegriffen wurden und aus dem Weltverband ausgeschlossen werden sollten. Der Grund war der Vorwurf des Missbrauchs der Psychiatrie und dieses war, wie John WING aus England mir mitteilte, auch nachgewiesen worden. WING vom Institute of Psychiatry der Universität London war einer derjenigen westlichen Psychiater, die vom Serbski-Institut (Serbski – Wissenschaftszentrum für Sozial- und Gerichtspsychiatrie, Moskau) 1973 in die UDSSR eingeladen worden waren, um die Krankengeschichten von Dissidenten anzuschauen und mit den dortigen Fachkollegen zu diskutieren. Den sowjetischen Psychiatern ging es darum, zu beweisen, dass es sich bei diesen Personen um schizophren Erkrankte handelte. Um die Tradition der sowjetischen Psychiatrie im Zusammenhang mit ihrem gesellschaftlichen Umfeld zu verstehen, sei die folgende Passage angeführt: Während der Vorstellung am Serbski-Institut bat WING um Erläuterung des nur in der Sowjetunion gebrauchten Terminus „Rekonstruktions- oder Reformierungswahn“, denn dieses war eine häufige Diagnose, mit der die Dissidenten belegt wurden und daraufhin jahrelang in psychiatrischen Einrichtungen der UdSSR festgehalten und mit Neuroleptika behandelt wurden. WING schreibt eindrucksvoll, dass ihm die Antwort von einem Assistenzarzt gegeben worden sei, was Charakteristisches für die Situation aussage: „Die Bezeichnungen Rekonstruktions- und Reformierungswahn beziehen sich auf soziale Probleme. Der Patient denkt, es sei notwendig, das System der Regierungskontrolle in diesem Land zu reformieren. Er glaubt, selber fähig zu sein, die Führung zu übernehmen; er glaubt, es sei notwendig, die theoretischen Probleme der Sozialwissenschaften zu hinterfragen, und dass er selber in der Lage sei, Theorie und Praxis des sowjetischen Aufbauwerkes und der Industrie zu erklären. Seine Ideen sind seiner Meinung nach so wesentlich, dass er die Sowjetunion verlassen möchte, um die Ideen in allen Ländern zu verbreiten.“ Den sowjetischen Psychiatern wurde vorgeworfen, bewusst die politische Unterdrückung zu fördern. Sie diagnostizierten Geisteskrankheiten, auch

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wenn sie vermutlich wussten, dass eine Erkrankung nicht vorlag. Kurz gesagt, es war ein Beispiel für den Missbrauch der Psychiatrie. Die darin tätigen Psychiater eliminierten politisch Andersdenkende aus dem öffentlichen Blickfeld, indem sie ihre Haltungen und Einstellungen dann als Wahn diagnostizierten, wenn sie nicht konform mit dem gesellschaftlichen „Konsens“ waren. Ähnliche Arten des Missbrauchs mit dem Ergebnis des Aussortierens und Abtransportierens bis in die Vernichtung gibt es auch in unserer deutschen Geschichte. Die nationalsozialistische Ideologie, insbesondere in der Zeit von 1933 bis 1945, formte bei denen, die davon ergriffen wurden, ein Menschenbild, das möglichst einer Idealnorm entsprechen sollte. Von einer verblendeten Rassenideologie unterstützt wurde dieses „Idealbild“ in einer Ausschließlichkeit verherrlicht, die dazu führte, dass zwangsläufig Abweichler in jeder Hinsicht mehr und mehr ausgegrenzt wurden. Das ging so weit, dass „Abweichende“ die körperlich und geistig nicht dem Idealtypus entsprachen, nicht nur nicht in die Gesellschaft integriert werden konnten, sondern sogar systematisch vernichtet wurden. Wo sich unreflektierte ideologische Einfärbung des wissenschaftlichen Denkens mit einer Tendenz zum Fanatismus paarten, wuchsen extremistische Haltungen im Umgang mit psychisch Kranken. Eine derartige Geisteshaltung führte zu Gesetzen wie „Zur Verhütung des Erbkranken Nachwuchses“ mit der ärztlich geleiteten Zwangssterilisation sowie „Die Ausmerzung unerwünschten Volkstums und unerwünschter Kranker durch Sonderbehandlung“. Für viele psychiatrisch Kranke und für die, die als solche fehldiagnostiziert wurden, bedeuteten diese Gesetze den Tod. Tausende von Geisteskranken und solchen Menschen, die für das herrschende System unliebsam waren und die psychiatrischerseits als geisteskrank „aussortiert“ wurden, sind damals umgebracht worden; es handelte sich um die Diagnosen: Schizophrenie, Epilepsie, senile Erkrankungen, therapierefraktäre Paralyse, Schwachsinn jeder Ursache, Enzephalitis, Chorea-Huntington, straffällige Geisteskranke und wenn Unheilbarkeit angenommen wurde (siehe auch die Dokumentation in Mitscherlich, Mielke 1960). Die Psychiater, die zum „Aussortieren“ und zur Kontrolle des „Abtransportes“ ihrer bis dahin betreuten Patienten und neuer zu diagnostizierenden Menschen herangezogen wurden, durchschauten vielfach die weitestgehend geheimgehaltenen Aktionen. Viele von ihnen – bis auf diejenigen, die selber von der Ideologie durchdrungen waren – kamen in schwere Konflikte zwischen ihrem ärztlich geprägten Gewissen und der staatlichen Exekutive mit all den Repressalien, zu denen ein totalitäres System fähig ist.

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In dieser befehlsnotstandsähnlichen Situation hat es neben anderen einige mutige Psychiater gegeben, die unter Einsatz ihrer eigenen Sicherheit und sogar ihres Lebens Wege fanden, die Tötung vieler Menschen zu verhindern. Sie schrieben Gutachten um, schützten Kranke und auch solche, die wegen ihrer „staatsfeindlichen Ideen“ als krank erklärt werden sollten, durch entsprechende Atteste. Sie fälschten Namen und Papiere, Scheintransporte wurden durchgeführt und Verlegungen in andere Heilanstalten vorgenommen (siehe auch Hartwich, 1982, S.231-232). Wenn wir uns heute in der Welt umschauen, dann begegnen wir mehr oder weniger vergleichbaren Phänomenen in allen Kontinenten, wo das Andersartige, das Nicht-Konforme, das nicht zur Herrschaftsideologie Passende Gefahr läuft, als geisteskrank bezeichnet zu werden. Es finden sich immer wieder einzelne Kollegen, die der Versuchung kaum widerstehen können, sich zu psychopathologischen und diagnostischen Benennungen hinreißen zu lassen mit den entsprechenden Folgen. Die oben erwähnten beiden weiteren Fronten, zwischen denen der Psychiater steht, sind somit die Folgenden: auf der einen Seite der erforderliche respektvolle Umgang mit dem subjektiven Erleben des anvertrauten Individuums, ob krank oder nicht, und andererseits der Druck, der von der ideologisch geprägten Gruppe mit der umgebenden Machtstruktur auf ihn ausgeübt wird. Der Gruppendruck einer tradierten Gesellschaftsnorm, die der Psychiater möglicherweise auch in sich trägt, ist ein nicht zu unterschätzender Faktor, wenn es darum geht, Normales bzw. Abnormales und Krankhaftes bewusst, sorgfältig und verantwortungsvoll voneinander zu unterscheiden. Um den persönlichen Standpunkt des Psychiaters in der jeweiligen Gesellschaft zu sichern und innerlich zu verankern, ist es wichtig, sich bei jedem einzelnen Diagnosefall so gründlich wie möglich in Psyche, Psychodynamik, Biographie und gegebenenfalls Psychopathologie des individuellen Menschen respektvoll zu vertiefen; denn gefragt ist eine unabhängige fachliche Beurteilung, besonders für die neutrale Gutachtertätigkeit, aber nicht nur dort.

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Übertragung und Gegenübertragung in der Begutachtungssituation Nach dem zweiten Weltkrieg kam auf die Psychiater in Deutschland eine neue Herausforderung zu. Es ging um die Begutachtung der in der Nazizeit verfolgten Menschen, die in Konzentrationslagern schwerste psychische und körperliche Traumatisierungen erleben mussten. Es ging um FrühSpät- und Dauerschäden; eine Psychopathologie und Psychodynamik extremer Belastungssituationen wurde ausgearbeitet, wie sie vor allem v. Baeyer, Häfner und Kisker (1964) ausführlich dargestellt haben. Von Baeyer, Häfner und Kisker schreiben zu der Situation des psychiatrischen Gutachters: „Die Begutachtung Verfolgter wird von nicht wenigen Fachkollegen als heißes Eisen angesehen. Es wird eine Politisierung der Psychiatrie befürchtet: Der Gutachter stelle sich in den Dienst der rechtspolitischen Idee der Wiedergutmachung, zumal der Psychiater halte als Lückenbüßer für jene psychologischen und allgemein-menschlichen Verfolgungswirkungen her, die in den übrigen Entschädigungssparten (Freiheitsschaden, Schaden am Vermögen, im beruflichen Fortkommen usw.) nicht angemessen berücksichtigt seien. In der Tat sieht sich der Psychiater nicht selten durch die begutachtenden Kollegen, welche den Anlagebegriff noch nicht auf das Bundesentschädigungsgesetz abgestimmt haben (Jacob, 1963) in diese Rolle gedrängt. Auch Entschädigungsbehörden und Gerichte, nicht zuletzt der Verfolgte selbst, sehen die Zuständigkeit des Nervenarztes, wenn alle medizinischen Gutachten ablehnend ausfielen und der „nervöse“ Charakter der Beschwerden in den Beurteilungen immer häufiger ausdrücklich wird. Der Psychiater bedarf unbeirrbarer Sachlichkeit, um dieser Dynamik gegenüber die Maßstäbe seiner Beurteilung zu wahren und seine Befunde gegen den nicht entschädigungsfähigen „immateriellen Schaden“ „normal“-psychologischer Verfolgungskonsequenzen abzugrenzen“ (S. 340). Die Autoren machen auf das spezielle Geflecht von Übertragung und Gegenübertragung aufmerksam, welches sich besonders bei solchen Untersuchten ergeben könne, welche zur Begutachtung erstmals nach der Emigration wieder deutschen Boden betreten hätten. Die Rolle des Gutachters sei für den ehemals Verfolgten doppeldeutig, er sehe in dem Gutachter auch einen Repräsentanten der Nation, von der ihm Schreckliches widerfuhr (S. 345). Kisker (1996) drückt die innere Konfliktlage des Gutachters noch prägnanter aus: „Dem explorierenden, also erkundenden Gutachter wird zumal

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dann, wenn er ein Deutscher und damit in einem nationalen Mitverantwortungs-Zusammenhang ist, hier ein hohes Maß an Sensibilität abverlangt. Es kann nicht ausbleiben, dass er durch den ‚Überlebenden’, den er untersucht, auf der Ebene unbewusster Phantasien und Wahrnehmungen mit den früheren Peinigern gleichgesetzt wird: in devoter Identifikation mit dem Verfolger, in argwöhnischer Abkehr, Angriffigkeit oder wie immer. Das gilt auch für den ‚nach Akten’ arbeitenden Gutachter. Er wirkt zwar vergleichsweise geschont, ist freigestellt aus dem emotiven Beziehungsgeflecht, das jede reale Untersuchung mit sich bringt; doch durch die Art, wie er das ihn durch behandelnde und persönlich vorbegutachtende Ärzte verfügbar gemachte informative ‚Eigentum’ des Verfolgten durchdringt und verwertet, werden Antworten des Verfolgten hervorgerufen, die den Distanz-Gutachter meinen, wenn sie ihn vielleicht auch nie oder nur in abgeschwächter Form erreichen. Letzteres etwa dann, wenn er – was sehr selten geschieht – Post vom Verfolgten bekommt, sei diese nun kritisch oder zustimmend. Oder er wird um Ergänzungen seiner Expertise gebeten, da es ‚Gegengutachten’ gibt und/oder Einwendungen der Anwälte.“ Vielfach ist zu bemängeln, dass der noch lernende und unerfahrene Gutachter sich mit dem Probanden, nicht nur in Entschädigungsverfahren sondern auch in strafrechtlicher und zivilrechtlicher Begutachtung, identifiziert und dann versucht, ihm zu seinem vermeintlichen Recht zu verhelfen. Diese unbewusste identifikatorische Gegenübertragung ist eine häufig anzutreffende Variante, die nur durch Supervision durch Erfahrene korrigiert werden kann. Dieses ist eine wichtige Aufgabe der erfahrenen Gutachter, damit dem Neuling unerwartete Angriffe, Kränkungen und Korrekturen bei seinem Vortrag in der Gerichtsverhandlung erspart bleiben. Mit besonderem Nachdruck weist Kisker auf das Problem der erforderlichen Distanzierungsfähigkeit des Gutachters, hier wieder im Rahmen des Entschädigungsrechts, hin, was aber grundsätzlich für alle Gutachtenerstellungen gilt: „Der Gutachter sollte sich nicht als behandelnder Arzt, zumal nicht als Psychotherapeut des ‚Untersuchten’ missverstehen. Die Versuchung, dies zu tun, ist zumal für den deutschen Gutachter groß; eine solche Einstellung mag bei ihm Schuldanwandlungen verringern, wie auch immer diese zustande gekommen sein mögen“. Für die allgemeine Begutachtung formulieren LANGELÜDDEKE und BRESSER (1976) in knapper und prägnanter Weise, dass die Aufgabe des Gutachters nicht an der Frage ausgerichtet sei, „Wie kann ich helfen“? sondern lediglich von der maßgebenden Zielsetzung bestimmt sein muss, „Was kann ich von der Warte meines Fachgebietes feststellen?“

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Spannungsfelder Einen weiteren Konfliktpunkt, der letztlich nicht ganz zu lösen ist, besteht in der Frage der Wissensvermittlung des sachverständigen Psychiaters an den Richter und dessen Mangel an eigener Sachkunde, der naturgemäß Grenzen gesetzt sind. GÖPPINGER (1972) formuliert diese Schwierigkeit in fast überspitzter Weise: „Die Konflikte, die sich für den Richter daraus ergeben, dass er trotz dieser Tatsache die Verantwortung für das Urteil zu tragen hat, führten einerseits zu der Forderung nach einer Spezialausbildung für Richter, andererseits zu dem Vorschlag, den Sachverständigen auf die Richterbank zu setzen und ihn mit richterlicher Verantwortung zu belasten“. Die Spannungsfelder, in denen wir uns als psychiatrische Diagnostiker und Gutachter befinden, habe ich zwar an teilweise drastischen Beispielen verdeutlicht. In mehr oder weniger „verdünnter Lösung“ geraten wir immer wieder in solche Spannungsfelder, auch wenn es „nur“ unsere Tätigkeit im Zusammenhang mit Gerichten, Anwälten, Parteien, der öffentlichen Meinung und der Presse sein mag. Nicht nur im strafrechtlichen sondern auch im zivil- und sozialrechtlichen Bereich ist die neutrale fachliche Erfassung von Schicksalen kranker Menschen besonders hervorzuheben. Zu denken ist dabei an die vielen familienrechtlichen Gutachten, in denen es um Unterhalt geht und der eine der beiden Ehekontrahenten wegen Depressivität nicht in der Lage sei, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Zank, Kränkung und Hass werden oft auf diese Weise über Anwälte und Gerichte mitunter jahrelang agiert. Oft wird versucht, dem psychiatrischen Gutachter eine Rolle zuzuschieben, bei der er als „Racheengel“ vonseiten der gekränkten Partei missbraucht werden soll. Zu denken ist auch dabei an Testamente, die angefochten werden und wo die Geschäftsfähigkeit bzw. Testierfähigkeit eines schon Verstorbenen im Nachhinein begutachtet werden soll. In einem Beispiel habe ich erlebt, dass das Erbe von mehreren Millionen nicht an die Verwandtschaft, die das erwartet hatte, sondern an den Verein für „bedrohte Tierwelt“ durch Änderung des Testaments kurz vor dem Tod des Erblassers erfolgte. Weiterhin zu denken ist beispielsweise an verschwenderische Autokäufe, die im Nachhinein ungültig gemacht werden sollen, weil die freie und vernünftige Willensbildung bei dem Betreffenden wegen eines pathologischen

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maniformen Gemütszustandes aufgehoben gewesen sein soll. Gegebenenfalls ist es Aufgabe des psychiatrischen Gutachters, dieses zu beweisen. Gelegentlich kommt es vor, die Frage der fahrlässigen Tötung bei einem angeklagten Kollegen zu begutachten, dessen Patient sich in suizidaler Absicht getötet hat. Auch hier sind eine profunde Sachkenntnis und eine unparteiische Erörterung des psychiatrischen Sachverhaltes als Vorlage für die Information des Richters im Verfahren unabdingbar. Bei all diesen Fragen steht für den Psychiater eines ganz im Vordergrund: die detaillierte Grundkenntnis von Psychopathologie und Psychodynamik der Gesamtheit unserer psychiatrisch und psychosomatisch Kranken, die wir alle zu versorgen haben. Er braucht für solche gutachtliche Beurteilungen ein inneres fachliches Referenzsystem, welches sich nicht nur an einem selektierten Klientel entwickelt haben darf. Infolgedessen sehe ich es als ganz wichtig an, dass neben den Kollegen in den Spezialabteilungen für Forensik und Maßregelvollzug auch die Kollegen, die in der allgemeinen psychiatrischen Versorgung tätig sind, Begutachtungen durchführen. Hier gibt es meines Erachtens kein Entweder-Oder sondern nur ein Sowohl-alsauch, bei dem unterschiedliche Schwerpunkte vertreten werden sollen, entsprechend dem, was der Einzelne am besten kann. Es wäre ein großer Verlust, wenn der klinische und niedergelassene Psychiater nicht mehr mit Gutachten beauftragt würde, mit der Begründung, dieses werde in der Forensischen Psychiatrie erledigt. Auch für die jungen Kollegen in der klinischen Facharztweiterbildung ist jedes Gerichtsgutachten eine Herausforderung und ein Lehrstück zum streng disziplinierten psychopathologischen und psychodynamischen Denken. An dieser Stelle sei noch einmal NEDOPIL zitiert mit seinem Satz: „Die gemeinsame Basis von klinischer Psychiatrie und forensischer Psychiatrie sollten wir nicht aufgeben“.

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Mord und Selbstkorrumpierung* Ein kasuistischer Beitrag zum Problem des Verstehens in der forensisch-psychiatrischen Begutachtungssituation Zum Phänomen des Mordes Das Thema des Mordes konfrontiert direkt und schonungslos mit den Abgründigkeiten der Conditio humana, die wir in unserer Alltagserfahrung gerne ausklammern möchten und wohl auch verdrängen müssen, die aber in uns gleichwohl ein merkwürdiges Interesse, ja ein abstoßendes Fasziniertsein hervorrufen. Man denke an die oft reißerische und unseriöse Berichterstattung in Presse und Bildmedien über aufsehenerregende Mordprozesse, aber auch an den Nervenkitzel, den ein fiktives Verbrechen in Film oder Roman in uns zu erwecken vermag. Hans von Hentig beginnt seine klassische kriminologische Studie über den Mord mit der Überlegung, dass man das „leidenschaftliche Interesse“, das die Menschheit dem Mord entgegenbringe, nur so erklären könne, „als dass Töten und Getötetwerden an den innersten Kern ihrer Instinkte heranreichen“ (von Hentig 1956, S. 1). Mit dieser Tiefendynamik ist die archaische Destruktivität gemeint, die Entwicklung von Hassgefühlen und projektiven Abwehrmechanismen. Diese besitzen zweifellos eine ethologisch-biologische Präformation, im Individuum aber erreichen sie ihre deletäre Wirkmächtigkeit erst – etwa als Folge missglückender früher Beziehungen und einer defizitären Selbstbildung – in lebensgeschichtlichen Prozessen, die durch die Wertorientierung und Mitgestaltung der Person bestimmt werden. Der Mord – so von Hentig – hat „eine Reihe von archaischen und irrationalen Beziehungen zum Seelenleben des Menschen ..., im Spiegel des Mordes erblickt die Menschheit ihr unbewachtes Antlitz“ (l.c., S. 2). Jedes Tö* Wir danken dem Verlag Pabst Science Publishers für die freundliche Abdruckgenehmigung. Erstveröffentlichung: H. Duncker, M. Koller, K. Foerster (Hrsg.): Forensische Psychiatrie Entwicklungen und Perspektiven, Ulrich Venzlaff zum 85. Geburtstag, Pabst Science Publishers, Lengerich, Berlin, Bremen, Miami, Riga, Viernheim, Wien, Zagreb 2006, S. 185-208.

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tungsdelikt bedeutet einen jähen Bruch scheinbar stabiler Verhältnisse und gibt dem illusionären Glauben einen Stoß, dass wir unseren archaischaggressiven Ursprüngen entronnen sind und uns in einem unaufhaltsamen Prozess fortschreitender Humanisierung befinden. „Jeder Mord lässt uns vor eingebildeter Gottähnlichkeit bange werden“ (l.c., S. 3). Der Paragraph 211 StGB bestraft einen Menschen als Mörder, der „aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebes, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken“ einen Menschen tötet. Die qualifizierenden Merkmale des Mordes beschreiben demnach neben der heimtückischen, grausamen oder gemeingefährlichen Begehungsart die Beweggründe des Täters, die per se psychologische bzw. psychopathologische Vorfragen aufwerfen. In strafrechtlicher Hinsicht werden die Mordmerkmale als Gesinnungsmerkmale verstanden (Schmidhäuser 1958). Das subjektive Phänomen der Gesinnung eines Täters lässt sich jedoch nicht aus den äußeren Tatumständen entnehmen, ihre Erfassung und Erschliessung bedarf der Würdigung der Gesamtpersönlichkeit des Täters. Janzarik (1992) hat auf die vom allgemeinen Sprachgebrauch abweichende Verwendung des Begriffes „Gesinnung“ in Rechtsprechung und Strafrechtslehre hingewiesen: Während üblicherweise „Gesinnung“ eine dauerhafte seelisch-geistige Haltung meint, bezieht sich der strafrechtliche Wortgebrauch auf die juristisch maßgebliche „Einzeltatgesinnung“: Diese wird gebildet „durch die Gesamtheit der Handlungsmaximen, die dem Entschluss zur Tat zugrunde liegen. Gesinnung ist also nicht als dauernde Einstellung, sondern als aktuelles Gesonnensein bei der Bildung des Tatentschlusses zu verstehen“ (Jescheck, 1988, S. 379). Hinsichtlich der Systematik der Tötungsdelikte behandelt die Rechtsprechung seit der Entscheidung BGH St 1, 368 Mord (§ 211) und Totschlag (§ 212) als zwei selbständige Tatbestände mit verschiedenem Unrechtsgehalt, so dass die Mordmerkmale eine strafbegründende Funktion erfüllen. Die Strafrechtslehre hingegen sieht im Totschlag den Grundtatbestand der Tötungsdelikte, so dass der Mord als eine Qualifizierung, die Tötung auf Verlangen (§ 216) und die Kindestötung (§ 217) als Priviligierung des Totschlags gelten. In dieser Sicht erscheinen die Mordmerkmale als strafverschärfende Umstände (Janzarik 1992).

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Der gesellschaftliche Ort der Auseinandersetzung mit dem Täter eines Tötungsdeliktes ist der Strafprozess, in dessen Verlauf die Abgründigkeit destruktiven menschlichen Handelns unausweichlich gegenwärtig wird. Der strafrechtliche Diskurs über Gewalttaten verschränkt immer mehrere Diskurse: den Diskurs des Täters, den das Gericht nicht erzwingen kann, den Diskurs von Zeugen und etwaigen Überlebenden einer Gewalttat und den des Publikums, das in jeder gewaltsamen Tötung das mögliche Schreckliche in mitmenschlichen Beziehungen gleich einem Menetekel erblickt: „Die Kriminalität des Mordes stellt das reichste Laboratorium experimenteller Menschenkunde dar, dem das Leben selbst täglich Material zuführt“ (von Hentig 1956, S. 7). Dem Strafgericht kommt nun die Aufgabe einer Ordnung dieser unterschiedlichen Diskurse zu. Wie geht das Gericht also mit tödlicher Gewalt um? Auf der normativen Ebene scheint die Beurteilung einer Gewalttat einfach und eindeutig zu sein. Gewalt wird geächtet, der Gewalttäter wird bestraft. Sollte im Ergebnis der Hauptverhandlung ein Tötungsdelikt als Mord qualifiziert werden, so ist die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe obligat. Der Verlauf eines Strafprozesses zeigt nun aber, dass mit der Beurteilung von Gewaltanwendung oft auch gleichzeitig Gesten des Verständnisses einsetzen. Man sucht hinter dem Ereignis des Verbrechens nach etwas Anderem, dass vom Täter gemeint worden sein könnte und dass die Tötung nur eben das falsche Mittel war. Der Faktizität der tödlichen Gewalttat wird die Motivlage des Täters einschließlich seiner Schuldfähigkeit gegenübergestellt. Bereits die im Gesetzestext genannten qualifizierenden Merkmale des Mordes implizieren die Unverzichtbarkeit einer Beurteilung der Täterpersönlichkeit (Feldmann 1966). Der Richter ist also genötigt, die Entstehungsgeschichte der Tat mit Hilfe von Expertisen zu rekonstruieren: Zunächst etwa durch die Befragung von unmittelbaren Tatzeugen oder von Menschen aus der näheren Lebenswelt von Täter und Opfer. Zur Wahrheitsfindung zieht der richterliche Souverän aber auch Expertenwissen heran: Es dürfte heute kaum noch einen Schwurgerichtsprozess in Deutschland geben, der ohne einen psychiatrischen Sachverständigen auskommt. Wenn die Common-sense-Psychologie des Alltagslebens, die implizit auch das Strafrecht prägt, nicht mehr auszureichen scheint, um eine Motivlage zu verstehen, dann werden in der Regel Gutachten zur Schuldfähigkeit eines Angeklagten eingeholt. Damit aber kann die pure rohe Gewalt des Deliktes in einem subtilen Deutungsprozess andere Facetten ihrer Entstehungsgeschichte entfalten, in deren Licht der Täter vielleicht als ein emotional-labiles, innerlich-brüchiges, nicht nur rein böses Individuum erkennbar wird, das in Ausnahmefällen sogar an einer

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krankheitswertigen Persönlichkeitsstörung oder einer psychotischen Erkrankung leidet. In diskursanalytischer Hinsicht wird der forensische Psychiater demnach als jene Instanz im Strafprozess eingeführt, die beurteilt, ob mit den Maßstäben und Kategorien seines Expertenwissens eine andere als die alltagsübliche Sichtweise auf Täter und Tat eingeführt werden kann. Die Rekonstruktion und Reformulierung der Tatgeschichte geschieht im vorläufigen schriftlichen und dem gültigen mündlichen Gutachten des Sachverständigen in der Hauptverhandlung. Venzlaff (1986) hat zu Recht darauf hingewiesen, dass in einer Gerichtsverhandlung und natürlich auch in einem Sachverständigen-Gutachten in erkenntnistheoretischer Hinsicht kein rechnerischer oder experimenteller, sondern ein sog. historischer Beweis geführt wird. Diese idiographische Grundlegung eines psychiatrischen Gutachtens zur Frage der Schuldfähigkeit steht im Gegensatz zur experimentellen Überprüfbarkeit naturgesetzlicher Sachverhalte und lässt die abstrakten Fehlermöglichkeiten eines jeden historischen Beweises zwangsläufig offen. Evidenz und Plausibilität eines historischen Beweises besitzen somit keinen allgemeinverbindlichen Geltungscharakter, sie erschließen sich erst in einem situativ bestimmten Vermittlungsprozess zwischen allen Diskursteilnehmern, wie er etwa im Rahmen der Hauptverhandlung gegeben ist. Im Falle der Urteilsfindung über einen wegen eines Tötungsdeliktes angeklagten Straftäter überantwortet das Gericht dem psychiatrischen Sachverständigen häufig unausgesprochen einen Teil der Urteilskompetenz, auch wenn dem Gutachter diese implizite Überschreitung seiner Gehilfenrolle rechtsdogmatisch nicht zugebilligt wird. Aus diesem letztlich unvermeidbaren Spannungsfeld zwischen dem normativen Erfordernis strafrechtlicher Erkenntnis und dem Bemühen um menschenkundliche Plausibilität erwachsen nun aber hohe Anforderungen an die Persönlichkeit und die ethisch-moralische Verantwortung des psychiatrischen Sachverständigen, die nach Foerster (2003) ihr Fundament in dessen Vertrauenswürdigkeit besitzen.

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Das Verstehen als Methode der forensisch-psychiatrischen Begutachtung Die psychiatrische Begutachtung lässt sich als eine auf das Verstehen der Täterpersönlichkeit zielende soziale Praxis beschreiben. Verstehen stellt in einer allgemeinen Bedeutung eine Weise des SinnErfassens dar. Als Gegenstand und Ziel eines solchen hermeneutischen Vorgehens gelten die Auslegung des Sinnes und der Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken, Handlungen und menschlichen Kulturschöpfungen (Ineichen 1991). Verstehen gehört zu den Aufbaumomenten psychiatrischer Praxis und bezeichnet jenen sich im klinisch-therapeutischen Alltag vollziehenden zwischenmenschlichen und auf Wechselseitigkeit beruhenden Vorgang, bei dem wir uns auf unser Gegenüber, etwa den psychotisch gewordenen Anderen, einlassen und uns dabei von ihm irgendwie auch betreffen und bewegen lassen. Im Folgenden sei Verstehen als der Versuch bezeichnet, den Anderen in seiner biographisch gewordenen Individualität zu erkennen. Es geht bei diesem Verstehen um das Eigensein des Anderen in seiner Lebensgegenwart und in den Entwicklungen und Verstrickungen seiner inneren und äußeren Lebensgeschichte. Der Psychiater erweist sich bei diesem alltäglich von ihm geforderten verstehenden Umgehen mit seinen Patienten als ein Menschenkundler, als den ihn die Strafgerichte ja auch letztlich zur Begutachtung einer Täterpersönlichkeit heranziehen. Verstehen meint aber auch eine spezifische, wissenschaftstheoretisch als hermeneutisch zu qualifizierende Erkenntnismethode: Der Begriff „Verstehen“ oszilliert demnach zwischen den Ebenen lebensweltlicher Praxis und methodischer Reflexion, die sich in der konkreten Situation zwischen dem Psychiater und seinem Patienten bzw. Probanden untrennbar miteinander verschränken (Schmidt-Degenhard 2004). Das konkrete Verstehen stellt einen wesenhaft sozialen Akt dar, der sich als ein Prozess der Verständigung zwischen einem Verstehen-Wollenden und einem zu verstehenden Anderen beschreiben lässt, der eben dieses Verstandenwerden sucht oder aber sich diesem verschließt oder es gar verweigern mag. Das Gelingen des Verstehens ist einem mehr oder weniger großen Risiko des Missglückens ausgesetzt, so dass die Verstehensintention ungünstigenfalls in ein Nicht- oder Mißverstehen des Anderen einmünden kann. Zu bedenken bleibt auch, dass alles Verstehenwollen einen Bereich des Nichtverstehens belässt. Alles psychologische Verstehen wird von zwei Sphären des prinzipiell Unverständlichen eingekreist: dem der Existenz als dem unverfügbaren Ursprung des personalen Sich-Entwerfens und jenem

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anderen Unverständlichen, das in den kausalen Gegebenheiten des Leiblich-Organismischen liegt. Zwischen den Partnern eines Verstehensprozesses vollzieht sich unausweichlich und notwendig eine emotionale Dynamik. Diese unterscheidet sich in der Begutachtungssituation allerdings in wesentlichen Momenten von der Struktur eines therapeutisch intendierten Arzt-Patient-Verhältnisses. Gleichwohl entwickelt sich auch zwischen Gutachter und Proband nicht selten eine komplexe Beziehungsdynamik, deren Klärung, die wiederum einen weiteren, allerdings primär psychodynamisch intendierten Verstehensprozess erfordert, wesentliche Aspekte der Persönlichkeitsproblematik des Untersuchten erhellen kann. Somit vermag sie durchaus zur Beantwortung der Gutachtenfrage beizutragen. Als Voraussetzung einer gelingenden Begutachtung gilt allgemein ein Vertrauensverhältnis zwischen Proband und Gutachter. Ein solches Vertrauen wird aber nur entstehen und wachsen können, wenn die reale Beziehungsebene zwischen Gutachter und Proband wechselseitig reflektiert und zugelassen wird. Auch vom Gutachter muss eine gewisse, wenn auch ritualisierte Form der Begegnung mit dem Probanden zugelassen werden, sonst wird ihm niemals auch nur eine annähernde Erfassung von dessen Person gelingen. Die Festlegung des psychiatrischen Sachverständigen als einer objektiv diagnostizierenden Prozessfigur muss sich aus solcher Sicht als Fiktion, ja als Trugbild erweisen: „Der vertrauenswürdige Sachverständige ist nicht der vermeintlich in allen Fragen völlig objektive Sachverständige, sondern es ist der Sachverständige, der weiß, dass er selbst als Person bei der psychiatrischen Begutachtung auch ein Untersuchungsinstrument ist und der diese Tatsache reflektiert“ (Foerster 2003, S. 86). Für die konkrete Gutachtensituation, in der sich eine zwischenmenschliche Beziehung konstituiert, ist aber zu folgern, dass wir hierbei als Sachverständige unausweichlich in eine interpersonale Dynamik eintreten und uns keinesfalls emotional abstinent verhalten: Wir reagieren auf die Mitteilung des Probanden mit Ärger, Empörung oder mit Mitleid und Betroffensein, wir fühlen uns herausgefordert oder angerührt, empfinden Sympathie oder Antipathie, Widerwillen oder Abstoßung. Die geforderte Neutralität des psychiatrischen Sachverständigen kann aber angesichts dieser jedem Psychiater vertrauten Erfahrung nicht bedeuten, die eigenen Gefühlsreaktionen zu negieren und zu unterdrücken, da ja gerade die psychodynamische Reflexion unserer emotionalen Reaktionen und Übertragungsmuster wichtige diagnostische Rückschlüsse erlaubt. Es muss vielmehr darum gehen, dass wir uns schon frühzeitig im Begutachtungsverlauf unserer emotionalen Reakti-

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onen auf den Probanden und der Hintergründe ihres Zustandekommens bewusst werden und diese selbstkritisch und hinsichtlich der Begutachtungsfrage erkenntniserweiternd zu reflektieren versuchen. Der solchermaßen verstandene Neutralitätsanspruch an den psychiatrischen Sachverständigen impliziert also die Forderung nach reflektierter Versachlichung und Plausibilisierung seiner unausweichlichen emotionalen Stellungnahmen, um so der Person des Probanden – im wahren Sinn des Wortes – gerecht zu werden. In diesem Sinne betont Foerster (2003), dass der psychiatrische Sachverständige aufgerufen sei, auch in dieser besonderen Funktion als Gehilfe des Gerichtes die Integrität ärztlichen Handelns zu wahren. Die anthropologische Voraussetzung jener Geschehnisse, die den abgründigen Erfahrungsraum der forensischen Psychiatrie markieren, könnte man mit dem Philosophen P. Ricoeur als die Fehlbarkeit des Menschen bezeichnen. Es geht hier um Erfahrungen, in denen Menschen einander Böses tun, wir treffen auf missglückende interpersonale Prozesse und biographische Verwerfungen, die vor dem Hintergrund des Zusammenhanges von Lebensgeschichte, Lebensentwurf und Tatschuld (Janzarik 1995) untersucht und erhellt werden müssen. Die letztgenannten Begriffe sind aber als anthropologische Formeln für einen komplexen Sachverhalt aufzufassen, der in den Äußerungen einer Persönlichkeit und ihrem individuellen Handlungsstil aufgesucht werden muss. Zusammenfassend lässt sich daher die forensisch-psychiatrische Begutachtung der Schuldfähigkeit als ein in einer zwischenmenschlichen Beziehung fundierter Akt praktischer Hermeneutik betrachten, in dem es um die verstehende Erfassung biographischer Sinnzusammenhänge eines Straftäters einschließlich seines individuellen Wertgefüges und um die Rekonstruktion der deliktbezogenen Motivation geht.

Zum Phänomen der Selbstkorrumpierung Selbstkorrumpierung als eine prädeliktische und tatbegünstigende Veränderung zentraler Werthaltungen einer Persönlichkeit soll im folgenden an der Kasuistik eines lange vorgeplanten und in der Ausführung ungewöhnlich brutalen Tötungsdeliktes durch drei junge Menschen aufgezeigt werden. Das Geschehen ist einfach darzustellen: Ein Liebespaar, der von mir Begutachtete und seine Geliebte, eine verheiratete Frau, bringen den ihrer Beziehung im Wege stehenden Ehemann der

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Freundin um. Es gehen monatelange Planungen voraus, eine Erwägung verschiedener Tötungsmöglichkeiten, schließlich kommt es zur Entscheidung, zur Tatausführung und Tötung des Opfers. Der Ehemann, ein langjähriger Alkoholiker, wird nach einem gemeinsamen Abend mit seiner Ehefrau (am Hochzeitstag) in hochgradig alkoholisiertem Zustand zunächst mit einem Baseballschläger erschlagen und im Anschluss daran, möglicherweise bereits verstorben, aus dem 12. Stock eines Hochhauses gestürzt. Retrospektiv lässt sich die unmittelbare Todesursache nicht feststellen. Der Fenstersturz wird zunächst als Suizidhandlung bewertet, da das Opfer bereits früher suizidale Äußerungen gegenüber Dritten gemacht hatte. Erst im Rahmen umfangreicher Ermittlungsarbeiten wird dann der eigentliche Charakter des Tatgeschehens erkennbar. Dieses Tötungsdelikt geschieht unter Mithilfe eines Freundes des männlichen Partners, der keinerlei innere Bindung an die Geliebte seines Freundes besitzt. Bei ihm lässt sich daher keine aus der Beziehungsdynamik erwachsende Tatmotivation erkennen. Als einziger Beweggrund ist die ihm in Aussicht gestellte Beteiligung an einer beim Tod des Ehemannes frei werdenden hohen Lebensversicherung zu vermuten. All dieses ereignet und entwickelt sich nicht in einem kriminellen Milieu. Die beiden männlichen Täter entstammen dem eher kleinbürgerlichen Ambiente eines schwäbischen Kleinstädtchens, geprägt durch die milieutypischen Sekundärtugenden und Wertmaßstäbe wie Fleiß, Eigenheim, bescheidener Wohlstand und Rechtschaffenheit. Man könnte fast von einer akzentuierten Normalität sprechen, die sich vor allem durch eine Tendenz zur Abgrenzung und Ausschaltung von allen Einflüssen auszeichnet, welche die Integrität und Homogenität einer solchen in sich geschlossenen Lebenswelt in Frage stellen bzw. gefährden. Das, was sich in dem Tötungsdelikt dann als überlegtes, entscheidungsfundiertes Handeln zeigte, war den Tätern bis dahin wohl allenfalls aus Kriminalromanen oder Fernsehserien bekannt. Aus solchen fiktiven Verbrechen wird hier allerdings eine brutale Wirklichkeit. Ein solches Geschehen erweckt beim Betrachter zunächst den Eindruck des Unfassbaren, des Befremdenden und Nichtverstehbaren. In menschenkundlicher Hinsicht wird durch die hier geschilderte Tat die folgende Frage aufgeworfen: Welche interpersonalen Prozesse und innerseelischen Umorientierungen und Verwerfungen müssen sich entwickeln, aber auch welche Persönlichkeitsdispositionen müssen vorhanden sein, damit ein bis dahin in sozialer Hinsicht völlig unauffälliger, fast unscheinbarer Mann von 23 Jahren sich entschließt, an einem Tötungsdelikt entscheidend mitzuwirken, dessen Qualifizierung als Mord aus strafrechtlicher Hinsicht außer jeder Frage steht. Die subjektive Entwicklung zur Tatbereitschaft wird aber verstehbar, wenn wir eine tiefgreifende Verwerfung des

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biographischen Sinnzusammenhanges und des diesen bis zum Delikt tragenden und fundierenden Wertgefüges postulieren. Eine solche lebensgeschichtliche Verwerfung wird mit dem aus der Strafrechtswissenschaft stammenden Begriff der Selbstkorrumpierung umschrieben. Im Zusammenhang mit der Lehre vom sogenannten „Dolus eventualis“ beschreibt der Begriff eine solche Konstellation, wenn der Täter sich die Einsicht in die unrechtmäßige Bedeutung seiner Handlung versperrt (Schroth 1990). Er meint also eine bewusste Reflexion oder besser die Verweigerung einer ethisch-moralischen Reflexion. Janzarik hat den Begriff unter Hinweis auf seine strafrechtstheoretischen Ursprünge in einer Studie über die inter- und intrapersonalen Prozesse im Vorfeld affektiv-akzentuierter Delikte verwendet. Der Begriff bezeichnet bei ihm eine wesentliche subjektive Bedingung der Inklination zur Tat; diese lässt sich als Begünstigung des tatbezogenen Entscheidungsprozesses im situativen Vorlauf von Tötungsdelikten beschreiben, die wesentlich zur Unterminierung und schließlich Ausschaltung homizidaler wertgetragener Hemmungsmomente beiträgt. Selbstkorrumpierung bedeutet also eine subjektive Verfassung, in der emotional-intensive und voluntative Faktoren mit der Folge einer erniedrigten Hemmschwelle für delinquentes Verhalten konvergieren. Gleichwohl bleibt auch bei einer solchen Selbstkorrumpierung ein Spielraum für reflexive Überlegungen und Desaktualisierungsleistungen und damit die Einsichtssteuerung erhalten (Janzarik 1991). Begründend für einen solchen Selbstkorrumpierungsvorgang sind regelhaft heftige Gefühlsbewegungen. Intensive zwischenmenschliche Emotionen können über längere Zeiträume hinweg, in denen sie einer durch die Beziehungsdynamik bedingten Intensivierung ausgesetzt sind, die individuelle Struktur und das habituierte Wertgefüge eines Menschen verformen und somit über die veränderten Werthaltungen in die Entscheidungsprozesse hineinwirken. In solcher Hinsicht erweist sich Selbstkorrumpierung als ein existentieller Prozess, dem aber keinesfalls eine psychopathologische Valenz zugesprochen werden darf. Die Grundlagen von Einsicht und Steuerung brauchen durch die Selbstkorrumpierung der Täterpersönlichkeit nicht berührt zu werden. Nur sehr selten kann die Selbstkorrumpierung die Gesamtpersönlichkeit eines Täters in solchem Ausmaß beeinträchtigen, dass ernsthaft eine „schwere andere seelische Abartigkeit“ diskutiert werden muss. Gedacht sei etwa an wahnähnliche Erstarrungen des Weltbezuges mit Einschränkungen des selbstbezüglichen Reflexions- und Handlungsspielraumes, so z. B. bei einer schwerwiegenden Querulanz, aus der heraus es auch gelegentlich zu gewalttätigen Delikthandlungen kommen kann. Üblicherweise vollzieht sich Selbstkorrumpierung als eine Abfolge von bewussten, in starken Emotionen fundier-

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ten Abwägungs- und Entscheidungsprozessen. Die als Selbstkorrumpierung verstandenen Weisen der Verarbeitung emotionaler Beteiligung begünstigen ein sukzessives Nachgeben gegenüber devianten Impulsen und Phantasien, ein „Sich-gehen-lassen“ und schließlich ein „Sich-auf-die-Tat-einlassen“. Die damit einhergehende Deformation der Wertorientierung vollzieht sich unter dem bedrängenden emotionalen Einfluss einer leidenschaftlichen Beziehung: Es kommt zu einer wechselseitigen Verstärkung von Bedenkenlosigkeit zwischen den Partnern oder zu einer Quasi-Selbstaufgabe des einen Partners. Eine auf der Basis von Selbstkorrumpierungsvorgängen sich entwickelnde Straftat ist aber in jedem Falle als ein Beziehungsgeschehen zu verstehen. Der Begriff der Selbstkorrumpierung vermag also über den von Janzarik untersuchten Bereich der Affektdelikte i.e.S. hinaus, bei denen im Einzelfall ernsthaft eine erhebliche Verminderung oder gar Aufhebung der Schuldfähigkeit zu diskutieren ist, auch den motivationalen Hintergrund solcher Straftaten zu erhellen, bei denen sich keine psychopathologisch relevanten Aspekte der Täterpersönlichkeit feststellen lassen. Der ursprünglich der Strafrechtswissenschaft entstammende Begriff der Selbstkorrumpierung lässt sich also auch als ein verstehenspsychologisches Konzept begreifen und in den Kontext hermeneutischer Biographik einordnen. Der Begriff dient zur Beschreibung und Interpretation einer menschenkundlichen Erfahrung. In dieser Perspektive reicht Selbstkorrumpierung weit über den kriminologischen Kontext hinaus: beschreibt sie doch einen jedem Menschen möglichen Prozess weitgehender Anpassung an eine mit höchstem Begehren gewünschte Situation bzw. Position, der alle anderen Lebensbezüge untergeordnet werden, und der zu einer tiefgreifenden Veränderung zentraler individueller Werthaltungen führen kann. Wenn der psychiatrische Sachverständige bei einem Straftäter einen solchen Selbstkorrumpierungsprozess aufzuzeigen vermag, so impliziert dies keine Feststellung bezüglich der Schuldfähigkeit. Wohl aber eröffnet das Interpretationsschema Selbstkorrumpierung eine Möglichkeit, den motivationalen Hintergrund solcher Straftaten zu verstehen, die nicht aus einem dissozial-kriminellen Milieu heraus geschehen und die eine erhebliche Diskontinuität und gar Verwerfung des bisher gültigen Lebensentwurfes einer Persönlichkeit darstellen.

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Zur kasuistischen Veranschaulichung von Selbstkorrumpierung Im Folgenden sollen die Grundzüge der Schuldfähigkeitsbegutachtung des bereits erwähnten Straftäters skizziert und dabei das Phänomen der Selbstkorrumpierung kasuistisch veranschaulicht werden: Die bisherige Entwicklung des nicht vorbestraften, zur Tatzeit 23 Jahre alten Herrn T. weist keine psychiatrischen Vorerkrankungen oder krankheitswertigen seelischen Abnormitäten auf. Die biographische Anamnese entwirft das Bild eines noch jugendlich und eher unauffällig wirkenden, um Anpassung bemühten Mannes, der sich in seinen kommunikativen Grundzügen als eine weiche und passiv disponierte Persönlichkeit erweist. In seiner Selbstschilderung erscheint T. als ein aggressionsgehemmter, konfliktvermeidender und nachgiebiger Mensch mit einem nur gering entwickelten Selbstwertgefühl. Die bisherige persönliche Entwicklung des in seinem Verhaltensrepertoire weitgehend auf Normorientierung und soziale Erwünschtheit festgelegten Probanden weist bis zum Tatzeitpunkt keine antisozialen oder kriminogenen Verhaltenstendenzen auf. T. wurde als zweites Kind und erster Sohn von insgesamt drei Kindern seiner aus dem Ruhrgebiet stammenden Eltern in deren Heimat geboren. Wegen einer Atemswegerkrankung des damals 2-jährigen siedelte die Familie nach Schwaben über, wo man dann später ein eigenes Haus in einem dörflichen Ortsteil einer Kleinstadt bezog. Die frühkindliche Entwicklung von T. zeigt keine Auffälligkeiten. Nach dem Besuch der Grundschule absolvierte er die Realschule, die er mit der Mittleren Reife abschloss. Die nach dem Schulabschluss begonnene Lehre zum Elektroinstallateur beendete T. erfolgreich. Dem bei seiner Ausbildungsfirma gebliebenen und als Mitarbeiter geschätzten Probanden boten sich in den Monaten vor der Straftat gute Aufstiegs- und Weiterbildungsmöglichkeiten in seinem erlernten Beruf. T. entstammt einer in soziologischer Hinsicht dem soliden Handwerkermilieu zuzuordnenden Familie. Er schilderte seinen Vater als einen fleißigen, stets um das Familienwohl besorgten, aber auch die intrafamiliäre Atmosphäre dominierenden und bestimmenden Mann. Insbesondere seit seinem 14. Lbj., nachdem er in seiner Freizeit begonnen habe, vermehrt mit dem Vater zusammenzuarbeiten, verbinde ihn mit diesem eine nahezu freundschaftliche Beziehung. Die diesbezüglichen Äußerungen von T. machen deutlich, dass der Vater für ihn als wesentliches Vorbild und entscheidende Orientierungsfigur fungierte. Das von T. entworfene Bild seiner Mutter lässt diese als eine ihren drei Kindern zugewandte und um diese besorgte Frau erscheinen, die sich bei innerfamiliären Entscheidungsprozessen ihrem

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dominierendem Mann stets untergeordnet habe. Aus den Erzählungen von T. lässt sich ein – oberflächlich gesehen – harmonisch erscheinendes und keine auffallenden oder gar pathologischen Interaktionsmuster aufweisendes Familiengefüge rekonstruieren, das T. mit eigenen Worten als „ganz normal“ charakterisierte. Die durch eine solche Primärfamilie vermittelte Wertorientierung lässt sich mit den Begriffen Harmoniebedürfnis, Beziehungsstabilität, Verlässlichkeit und Fleiß umschreiben. Einen Riss in diesem intakt scheinenden Familiengefüge musste dann jedoch der Auszug der nahezu 18-jährigen Schwester von T. darstellen, den er selbst auch retrospektiv als einen Einbruch in die Familiengeschichte wertete. Anlass dieses tiefgreifenden Konfliktes war die Beziehung der Schwester zu einem nach Ansicht der Eltern unpassenden Freund, einem ehemaligen Straftäter, von dem sie sich trotz erheblicher Bedenken und Einwände nicht trennte und den sie bald darauf heiratete. Dieser Schritt hatte einen totalen Beziehungsabbruch zwischen Eltern und Tochter zur Folge; später wurde dann auch der Kontakt zu allen Verwandten abgebrochen, die sich um eine Wiederannäherung an die „gefallene Tochter“ bemühten. T. beschrieb die nach dem Auszug der Schwester in der Familie herrschende empfundene Gebrochenheit, der aber zunächst keine Schritte zur Annäherung und Versöhnung folgten. Erst das gemeinsame Betroffensein durch die Straftat des Sohnes und Bruders führte dann nach fast 10-jähriger Unterbrechung zu einem Wiedersehen der Eltern mit ihrer Tochter im Schwurgerichtssaal des zuständigen Landgerichtes. T., der seine Schwester in all diesen Jahren zwar mehrfach ohne Wissen seiner Eltern besucht hatte, stand nach eigenen Angaben in diesem Konflikt auf der Seite der letzteren. Die Radikalität dieses Beziehungsabbruches zu einem Familienmitglied erstaunt angesichts eines bis dahin um Harmonie und Konfliktvermeidung bemühten Kommunikationsstils und verweist auf eine latente, nicht reflektierte und daher umso mächtigere Spannung und Fragilität der intrafamiliären Beziehungsdynamik. In der Folge dieser Trennungserfahrung entwickelte sich bei dem damals 14-jährigen T. das andauernde Gefühl eines bleibenden Bedrohtseins der familiären Geborgenheit, die jetzt die verbleibende 4-Personen-Familie umschloss und ein umso stärkeres Bedürfnis nach ihn tragenden und stützenden Beziehungsmustern. Eine ausgeprägte familiäre Gebundenheit und die sich jetzt noch stärker entwickelnde Vorbildfunktion des Vaters lassen sich als Ausdrucksformen dieser emotionalen Anlehnungsdynamik begreifen. So erstaunt es nicht, dass sich in Pubertät und Adoleszenz von T. keine deutlichen Ablösungstendenzen oder tiefergehenden Konfliktfelder mit den elterlichen Autoritäten zeigten, in deren Haus er bis zur Inhaftierung ein eigenes Zimmer bewohnte. T. bezeichnete es bei

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der Begutachtung als seinen tiefsten Wunsch, einmal als Familienvater für eine Frau und Kinder verantwortlich zu sein. So könnte man bei ihm von einer weitgehenden Internalisierung und Idealisierung der Elternfiguren sprechen, deren Lebensform zum Vorbild des eigenen Existenzentwurfes wurde. Auch aus dieser familiengeschichtlichen Perspektive erweisen sich Anpassungsbereitschaft und Normorientierung als wesentliche Grundzüge der Persönlichkeit von T. Eine durch Minderwertigkeits- und Insuffizienzgefühle fundierte Selbstwertproblematik und eine daraus resultierende Bereitschaft zur Hingabe und Unterordnung in interpersonalen Beziehungen verweisen auf eine – in psychoanalytischer Hinsicht – depressive Persönlichkeitsstruktur des Probanden. Die damit einhergehende Gehemmtheit und Selbstunsicherheit wird auch in seinen Beziehungen zum anderen Geschlecht deutlich. Nach langer Zurückhaltung aufgrund seiner selbst angenommenen mangelnden Attraktivität geht T. mit 18 Jahren eine Beziehung zu einem 3 Jahre jüngeren Mädchen ein, mit dem es nach einem halben Jahr dann auch zu ersten sexuellen Erfahrungen kommt. Nach 3-jähriger Beziehung trennen sich beide Partner nach Angaben von T. auf undramatische Weise. Bis zur späteren Begegnung mit der Mittäterin D. ging Herr T. dann keine Intimbeziehung mehr ein. Dieses aus der lebensgeschichtlichen Entwicklung erschlossene Persönlichkeitsbild eines bis 1992 weitgehend unauffälligen und normorientierten Mannes mit einer depressiv-asthenischen Persönlichkeitsstruktur ließ sich auch durch die objektivierende Persönlichkeitsdiagnostik bestätigen: Diese ergab gleichfalls ein wenig akzentuiertes, durch soziale Orientierung und Selbstunsicherheit geprägtes Profil. Insbesondere ist hervorzuheben, dass die bisherige biographische Anamnese bei Herrn T. keine markanten aggressiven oder dissozialen Verhaltensbereitschaften erkennen lässt. Das aufgezeigte Persönlichkeitsbild des Probanden lässt sich gänzlich unter Anwendung normalpsychologischer Maßstäbe betrachten und verstehen; keinesfalls ist bei T. eine krankheitswertige Neurose oder schwerwiegende Persönlichkeitsstörung zu diagnostizieren, die unter die Kategorie der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ gemäß dem §§ 20/21 StGB zu subsumieren wäre. Das gemeinschaftlich begangene Tötungsdelikt von Dezember 1992 stellt somit eine Verwerfung des habituierten Lebensstiles von T. und einen Bruch mit dem bisher tragenden Wertgefüge dar. Die Tatbeteiligung von T. wird überhaupt erst vor dem Hintergrund seiner engen Beziehung zu seiner Freundin D.B. und letztlich nur aus dieser Paardynamik heraus verständlich.

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Die Mitangeklagte D.B., 6 Jahre älter, in zweiter Ehe verheiratet, Mutter von 3 Kindern, ist als eine Herrn T. an Lebenserfahrung deutlich überlegene Frau anzusehen. Die Begutachtung dieser Mittäterin durch einen weiteren Sachverständigen konstatierte in deren Persönlichkeitsbild wohl histrionische Züge, verneinte aber das Vorliegen einer psychopathologisch relevanten Persönlichkeitsstörung. T. und D.B. begegneten sich erstmals 1989, ohne dass es hierbei zu einer Annäherung kam. 3 Jahre später, im April 1992 kommt es zu einer Wiederbegegnung mit D.B und ihrem Ehemann, einem US-Soldaten, in der Wohnung eines gemeinsamen amerikanischen Bekannten. Bei einem weiteren Treffen im Mai 1992 nahm T. dann eine Einladung des Ehepaares zu einem Wochenendbesuch in deren Wohnort an, bei dem der später getötete Ehemann wegen der Teilnahme an einem Manöver nicht anwesend war. Die Alkoholabhängigkeit des Herrn B. war T. wohl schon seit 1989 bekannt. Das gemeinsame mit D.B. verbrachte Wochenende, das von T. zunächst als ein zwar sympathiegetragener, aber unverbindlicher Besuch intendiert war, wurde nun zum Beginn einer von T. als eine überwältigende und leidenschaftliche Wunscherfüllung erfahrenen Intimbeziehung, als deren letzte Konsequenz die Tötung des Mannes von D.B. erfolgte. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass die Beziehung zu D.B. für T. das ersehnte Ziel seiner tiefsten Wünsche nach personaler Anerkennung als männlicher Partner und nach Akzeptanz als väterlicher Verantwortungsträger darstellte. Es wäre eine unzulässige Verkürzung der komplexen Beziehungsdynamik zwischen T. und D., diese allein auf die von T. als faszinierend und erregend erlebte Sexualität mit einer wesentlich erfahreneren Partnerin zu reduzieren. In psychodynamischer Hinsicht bedeutete diese Beziehung für T. eine radikale Aufwertung der eigenen Persönlichkeit und eine – quasi kurzschlussartig erfolgende – Pseudolösung seiner Selbstwertund Beziehungsprobleme. Die Beziehung zwischen beiden Partnern wurde allerdings durch eine erhebliche personale und emotionale Asymmetrie geprägt. Auch hier erwies sich T. als der passive und bestimmbare, sich den Vorgaben seiner Freundin bis zur Selbstaufgabe unterordnende Partner. Zum Zeitpunkt der Begutachtung vermochte T. die scheinbare Wunscherfüllung in der intensiven Liebesbeziehung zu D. als eine ihn rückblickend erschreckende Selbstaufgabe zu erkennen. Diese fortschreitende Selbstaufgabe lässt sich zunächst als eine fortschreitende Distanzierung und Entfremdung von den bis dahin als Vorbild und Autorität akzeptieren Eltern und deren Wertrepräsentanzen verstehen. Die Eltern von T. standen der plötzlich und unerwartet einsetzenden, sich stürmisch entwickelnden Liaison ihres Sohnes mit einer durchaus nachvollziehbaren Sorge gegenüber; dieser erlebte allerdings alle diesbezüglichen Bedenken und Warnungen,

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aber auch die insbesondere von der Mutter geäußerten Antipathiebekundungen gegen D. als eine persönliche Kränkung. In psychodynamischer Hinsicht lässt sich die emotionale Bindung von T. an seine Freundin D.B. als eine weitgehende und an Unterwerfung grenzende Identifikation mit dem Liebesobjekt verstehen: Die gemeinsame Zukunft mit der Geliebten wird zu einem absoluten Existenzwert, dem – in einem unaufhaltsamen fortschreitenden inneren Umorientierungsprozess – alle bis dahin als unverrückbar erscheinenden Normen und ethischen Bedenken untergeordnet werden. Mit einer eigenartigen Naivität erfuhr T. in den Monaten der intensiven Beziehung zu D. seine Lebensgegenwart nur noch als Vorform und Übergangsstufe zu der als Erfüllung seines Lebens angesehenen Ehe mit seiner Geliebten. Dieser von T. erträumten gemeinsamen Zukunft mit D. stand nun deren Ehemann entgegen. Bereits zu Beginn ihrer Beziehung hatte D. ihrem Geliebten die Zerrüttung ihrer Ehe durch die Alkoholabhängigkeit und Aggressivität ihres Mannes geschildert und ihm das Gefühl der sicheren Erwartung eines gemeinsamen Neuanfangs vermittelt. Die wohl anfänglich vom Ehemann seiner Frau zugestandene Scheidung erschien auch zunächst als eine unproblematische Lösung dieses Beziehungskonfliktes. Bereits nach wenigen Wochen wurde dann ein rückblickend nicht weiter erhellbarer Gesinnungswandel des Mannes in Richtung einer Ablehnung der zunächst in Aussicht gestellten Scheidung deutlich. Auffallend war nun, dass sich T. bereits nach kurzer Zeit weitgehend mit der Rolle eines neuen Lebenspartners von D. und der Vaterfigur von deren 3 Kindern identifiziert hatte. In den Monaten Juli bis Dezember entwickelte sich eine monatelange Dreiecksbeziehung, bei der T. für Außenstehende als ein Freund des Ehepaares erschien und das intime Verhältnis zwischen ihm und D. nur noch während der kurzzeitigen Abwesenheiten des Ehemannes fortgesetzt werden konnte. Aus der Schilderung von T. im Rahmen der Begutachtung wurde deutlich, dass ihm seine Freundin bei unverminderter Intensität ihrer Gefühle weiterhin die sichere Erwartung einer gemeinsamen Zukunft vermittelte. Die geschilderte Beziehungskonstellation musste sich umso zermürbender auf die seelische Verfassung von T. auswirken, der den Ehemann seiner Freundin immer mehr als den Menschen erlebte, der seinem Glück im Wege stand. Gleichwohl betonte T. bei den Explorationen mehrfach, dass er niemals eine primäre Antipathie oder gar Abneigung gegen seinen später getöteten Rivalen empfand. Nach den kriminalpolizeilichen Ermittlungsergebnissen äußerte D. erste Tötungsabsichten gegen ihren Ehemann im Sommer 1992, um diese dann

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kontinuierlich zu wiederholen und in unterschiedlichen Tatplänen zu konkretisieren, in deren Ausgestaltung T. einbezogen wurde. Es kann als sicher gelten, dass T. den Tötungsplänen seiner Freundin keinen aktiven Widerstand und keine ethischen Bedenken entgegensetzte. Bei der Begutachtung wurde deutlich, dass T. in seinen Zukunftsphantasien zwar die weitere Existenz des Ehemannes negierte, dabei aber keine imaginativen Vorgestalten eines eigenen Beteiligtseins an dessen Tötung entwickelte. Dass die von D. gegen ihren Mann gerichteten Tötungsabsichten bei T. aber keine Distanzierung oder emotionale Entfremdung von ihr auslösten, unterstreicht einmal mehr seine an Selbstaufgabe grenzende Gebundenheit an seine Geliebte. So muss davon ausgegangen werden, dass T. von Beginn an die Pläne zur Tötung des Ehemannes billigte und sich auch an Maßnahmen zur Realisierung beteiligte. Es erscheint plausibel und mit dem asthenisch-passiven Habitus von T. vereinbart, dass zunächst keine aktive Mitwirkung seinerseits an der Tötung des Ehemannes geplant war. Mit einem nur schwer einfühlbaren Ausblenden einer potentiellen Schuldbeladenheit im Falle der Verwirklichung der Tötung des Ehemannes lebte T. in diesen Monaten in einer absoluten Fixierung auf eine gemeinsame Zukunft mit seiner Geliebten, deren Gelingen für ihn außerhalb jeden Zweifels stand. Dieser Prozess einer inneren Wandlung des T. lässt sich als eine aus seiner Gebundenheit an D.B. resultierende Selbstkorrumpierung verstehen, die in einer Dialektik von Selbstverdeckung und Selbsttäuschung zu einer emotional fundierten Verformung der bis dahin für ihn maßgebenden Gerichtetheiten und Werthaltungen führte. Es wurde bereits erörtert, dass eine solche Selbstkorrumpierung, die einer personalen Umorientierung und Einstellungsänderung gleichkommt, der Persönlichkeit jedoch nicht die Möglichkeiten distanzierender Reflexion und des steuernden Innehaltens bei der Antizipation und Realisierung delinquenter Handlungen nimmt. Eine so verstandene Selbstkorrumpierung begründet daher keine erhebliche Minderung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit eines Täters; keinesfalls darf die Entwicklung einer solchen Selbstkorrumpierungsdynamik einem psychopathologischen Prozess i.S. einer expansiven Persönlichkeitsveränderung gleichgesetzt werden, der mit einer sich sukzessive steigernden Ich-Entmächtigung und einer emotional fundierten Unterminierung der Handlungssteuerung einhergehen kann. Damit verbietet sich aber eine Subsumierung des im Falle von T. beschriebenen Selbstkorrumpierungsprozesses unter die Kategorie der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ i.S. der §§ 20/21 StGB.

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T. gab bei der Begutachtung an, dass seine aktive Mitwirkung an der Tötung des Ehemannes von D. erst am Nachmittag des Tattages erforderlich wurde. Auch jetzt regte sich bei ihm kein reflexiver, aus ethischen Bedenken resultierender Widerstand. Seinen Angaben zufolge willigte T. mit der ihm eigenen Passivität in einer Haltung des „Wenn-es-denn-sein-muss“ in die Tatausführung ein. Das Tatvorgehen folgte einem vorher überlegten etappenförmigen Ablauf, in den D.B. auffordernd eingriff. So gab er später an, dass er sich bei der Ausführung der Schläge auf das Opfer durch seinen Freund S. abgewendet habe. Auf Verlangen seiner Freundin habe er geholfen, den Körper des Schwerverletzten oder bereits Sterbenden vor das Schlafzimmerfenster zu schleppen und über die Fensterbrüstung zu hieven. Sowohl bei seiner Beschuldigtenvernehmung wie auch bei der Begutachtung schilderte T., wie er den Körper des Opfers auf mündliche Aufforderung sowie einem körperlichen Signal von D. losließ. Unmittelbar zuvor habe er noch den Gedanken verspürt, das Opfer zurückzuziehen, um ihm am nächsten Morgen zu erzählen, dass er (der Ehemann) in seinem betrunkenen Zustand gestolpert sei und sich dabei verletzt habe. Man mag in dieser naiv anmutenden und während der aktiven Tatbeteiligung auftretenden Hemmungs- und Rücktrittsreflexion eine unter dem emotionalen Druck der Situation erfolgende Aktualisierung der primären Wertorientierung und Normgerichtetheit des Herrn T. erkennen. Den mit seiner Billigung und seiner Mitwirkung aktiv herbeigeführten Tod des Ehemannes seiner Geliebten erlebte er als den katastrophalen Verlust seiner eigenen Selbstachtung, den er gegenüber dem Gutachter mit dem Gefühl umschrieb, dass er – ebenso wie die beiden anderen Tatbeteiligten – mit der Tötung des Anderen „selbst gestorben“ sei. Bei der Begutachtung und auch während der Hauptverhandlung erweckte T. den Eindruck, dass er wohl zwischenzeitlich Einsicht in den fatalen Charakter seiner emotionalen Gebundenheit an D. gewonnen hatte, sich gleichwohl aber aufgrund seiner fortdauernden Ambivalenz nicht von ihr zu distanzieren vermochte. Seine Verfassung zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung war durch einen Verlust jeglicher positiver Lebensperspektive und durch eine an Selbstaufgabe grenzende Depressivität gekennzeichnet, die er mit in einer äußerlich zur Schau getragenen Unbekümmertheit und inadäquaten Flapsigkeit nur mühsam kompensieren konnte. Seine innere Befindlichkeit und die geschilderte Verhaltensfassade während der Hauptverhandlung unterstreichen einmal mehr die ihm nun einsichtig gewordene Selbstkorrumpierung infolge der Beziehung zu seiner früheren Geliebten. Die verstehenspsychologisch erhellbaren Wurzeln der Tatbeteiligung von T. liegen letztlich in seiner vorstehend aufgezeigten Persönlichkeitsproble-

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matik begründet: Bedeutete doch die Beziehung zu seiner Geliebten für T. eine radikale Aufwertung der eigenen Persönlichkeit und eine quasi kurzschlussartige Lösung seiner Selbstwert- und Beziehungsproblematik. In der emotionalen Fixierung auf seine Geliebte erschien ihm ein Rückzug aus dieser Beziehung als ein nicht zu bewältigender Verlust, für dessen Vermeidung er letztlich die Billigung und schließlich auch die Teilnahme an der Tötung eines anderen Menschen, der der Verwirklichung seines Glücks im Wege stand, in Kauf nahm. Die verstehenspsychologische Hinwendung auf Lebensgang, Persönlichkeit, Situation und subjektiven Tatzeitverfassung ergab keine Hinweise für die Annahme einer erheblichen Minderung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Angeklagten, so dass seine Schuldfähigkeit zu konstatieren war. Alle drei Angeklagten des geschilderten Strafverfahrens wurden vom regional zuständigen Schwurgericht wegen gemeinschaftlich begangenen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Das Urteil ist rechtskräftig.

Die Grenzen unseres Verstehens bei der Begutachtung von Tötungsdelikten Eine sich als menschenkundliche Expertise verstehende forensisch-psychiatrische Begutachtung eines Straftäters wird per se über die Beurteilung der Schuldfähigkeit hinaus ihre genuine Aufgabe in der Darstellung einer Persönlichkeit in ihrem lebensgeschichtlichen Gewordensein und dem Aufzeigen ihres strukturell-dynamischen Gefüges einschließlich der individuellen Wertorientierung erblicken. Erst vor einem solchen komplexen Hintergrund wird ein Tathandeln als eine durch personale Entscheidung bewirkte Situationsgestaltung überhaupt verstehbar; maßgeblich für die Frage der Schuldfähigkeit ist dann allerdings die psychische Verfassung der Täterpersönlichkeit zum Zeitpunkt der die Handlung in Gang setzenden Entscheidung. In dieser Hinsicht wird die Beurteilung der Schuldfähigkeit, die ja die Untersuchung individueller Freiheitsgrade erfordert, immer verstehenspsychologische Herangehensweisen beinhalten müssen. Aus strafrechtswissenschaftlicher Sicht erblickte Mezger (1951) in der Methode eines behutsamen Verstehens, dem es um das Aufdecken sinngesetzlich wirksamer Zusammenhänge in Biographie und Persönlichkeit geht, die wesentliche Grundlage der Zurechnung. In bewusstem Absehen von der aktuellen, stark zeitgeistgeprägten und idiologielastigen Debatte über die Willensfreiheit (Brücher, Gonther 2006), deren Gültigkeit von einigen Neurobiologen in Frage gestellt wird, erscheint

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es dennoch notwendig, auf eine anthropologische Grundannahme des strafrechtlichen Diskurses hinzuweisen, die auch für den forensischpsychiatrischen Gutachter eine unverrückbare Maxime darstellen wird: Der Mensch gilt hier im Spannungsfeld zwischen biologisch-organismischen Determinanten und kulturell-geschichtlicher Ambitioniertheit und Gestaltungsfähigkeit als Bildner seiner selbst, dem somit durchaus eine entsprechende Verantwortung für seine Lebensführung zugesprochen werden muss. Freiheit ist insofern als ein relatives Vermögen zu verstehen, sich in Denken und Handeln moralisch selbst zu bestimmen und in der Lage zu sein, devianten Handlungsimpulsen nicht zu folgen, also einen Handlungsvollzug hemmend kontrollieren zu können. In ideengeschichtlicher Hinsicht lebt dieses Konzept einer bedingten Freiheit von dem auf Kant zurückgehenden aufklärerischen Postulat der persönlichen Autonomie (Bormuth 2006, Hoff 2005). Im Strafrecht und dem auf ihm basierenden Gerichtsverfahren geht es also nicht um die abstrakte Frage der Freiheit menschlichen Wollens schlechthin, sondern über die einzelfallbezogene Feststellung von Unterschieden, die wir bei der Zumutbarkeit gesetzeskonformen Handelns machen wollen. Es ist daher Reemtsma (2006) zuzustimmen, wenn er solchen neurobiologischen Autoren, die aufgrund ihrer Erkenntnisse ein anderes wissenschaftliches Fundament des Strafrechtes postulieren, vorwirft, dass sie das Funktionieren moderner Gesellschaften nicht verstehen. Die mit einem verstehenden Zugang einhergehende vertiefte Hinwendung zur Täterpersönlichkeit impliziert, „dass der Sachverständige über die Frage der Schuldfähigkeit hinaus darüber nachdenken wird, wie die mit den Mordmerkmalen erfassten Situationen, Motivationen und Befindlichkeiten aus der eigenen menschenkundlichen Perspektive zu interpretieren wären. Die Praxis der Begutachtung wird stimmiger, wenn die an den Mordmerkmalen besonders deutlich hervortretenden Spannungen zwischen normativer und menschenkundlicher Betrachtungsweise gesehen und von den unterschiedlichen Ansätzen her verstanden werden“ (Janzarik 1992, S. 659). Der wesentliche Beitrag, den der Sachverständige gerade auch dann, wenn Auswirkungen auf die Schuldfähigkeit zu verneinen sind, innerhalb seines Gutachtens zur Frage der Mordqualifikation leisten kann, liegt in der Rekonstruktion der emotionalen Verfassung des Täters. Die Beurteilung einer Täterpersönlichkeit unter dem Gesichtspunkt der qualifizierenden Merkmale von Tötungsdelikten ist allerdings nicht auf krankheitsbedingte Einschränkungen bezogen, sondern ausdrücklich auf sozial-ethische Normen und Bewertungen, die in den Formulierungen

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„niedrige Beweggründe“, „Heimtücke“, „Grausamkeit“ u. ä. zum Ausdruck kommen. Die qualifizierenden Merkmale des Mordes umfassen damit nicht einfach die psychologisch zu verstehende und empirisch feststellbare Tatmotivation als solche, sondern es sind Merkmale, in die eine bestimmte Wertung eingeht, welche sie eben zu besonderen Schuldmerkmalen des Täters macht. Auch der psychiatrische Sachverständige wird diese wertimplizierende Funktion der strafrechtlichen Begriffe berücksichtigen müssen. So hat Feldmann unter Bezug auf Müller-Suur betont, dass es eine Illusion auf Seiten des psychiatrischen Sachverständigen sein dürfte, „wenn dieser glaubt, er könne bei der Beurteilung der Täterpersönlichkeit ganz auf seinswissenschaftlichem Gebiet verbleiben und wertneutral Stellung nehmen“ (1966, S. 207). Die Tötung eines anderen Menschen wird als der schwerste Verstoß gegen die sozialen Regeln verstanden. Verstehen impliziert nun üblicherweise die Toleranz, ja die Achtung des Anderen, sie enthält ein Moment der Billigung der zu verstehenden Person. Der Versuch, einen Menschen zu verstehen, der einen Anderen getötet hat, markiert hingegen einen Grenzfall, der zwei extreme Positionen zur Verstehensfrage zulässt: Die eine Position lautet etwa wie folgt: „Dass man alles versteht, braucht nicht zu heißen, dass man alles verzeiht; wohlmöglich wird durch das Verstehen die Empörung noch gesteigert.“ Das weitgehende Verstehen eines Verbrechens kann demnach sehr wohl die besondere Schwere der Schuld des Täters herausarbeiten. So hat Mezger (1951) darauf hingewiesen, dass auch durchaus negativ bewertete Vorgänge, etwa ein Mord aus glühendem Hass oder Eifersucht, sehr wohl verstanden werden können. Wir bedenken m.E. zu wenig, wie wir selbst als Sachverständige durch das erweiterte Verstehen eines Straftäters in unserer eigenen Toleranz und persönlichen Weltanschauung und Wertorientierung tangiert werden können. Die andere Position, die sich in gewissem Sinne als eine agnostische bezeichnen lässt, sagt folgendes: „Eine Tötung oder gar ein Mord bedeutet etwas, das in einem gewissen Sinne nicht zu verstehen ist, wenn wir unser Gefühl für das, was menschliches Leben bedeutet, beibehalten wollen.“ Zwischen diesen beiden ethisch-moralischen Positionen, 1. der Empörung, ja Missbilligung eines Täters aufgrund des Verstehens seines Motivationszusammenhanges und Tathandelns 2. der Verweigerung des Verstehens angesichts der offenkundigen Unmenschlichkeit einer Handlung

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bewegt sich das Spektrum unserer Einstellung zu einem Menschen, der einen Anderen getötet hat. Unser Strafrecht ist als ein Tatstrafrecht konzipiert, dessen Aufgabe die Wiederherstellung einer durch das Verbrechen gestörten Rechtsordnung ist. Primär wird daher vom Richter ein tat- und schuldbezogenes Vorgehen und Urteilen gefordert. Der aus der Sicht eines Täterstrafrechtes entwickelte Begriff der „Lebensführungsschuld“ (Mezger 1938) ist daher heute als obsolet anzusehen. Täterstrafrechtliche Einflüsse sind nach Roxin (1992) nur im allgemeinen Teil des StGB und bei den Maßregeln der Besserung und Sicherung zu sehen. Die forensische Psychiatrie muss dagegen den primären Bezug zur Täterpersönlichkeit wahren, sich mit seiner tatübergreifenden Lebensführung auseinandersetzen und die Tathandlung als Ausdruck eben dieser lebensgeschichtlich geworfenen Persönlichkeit begreifen. Zwischen tatbezogenem Strafrecht und täterbezogener Begutachtung besteht eine durchaus spannungsvolle Beziehung, wobei sich allerdings die Schuldbezogenheit des Strafrechtes als eine Brücke zwischen den Diskursen erweisen könnte, da Schuld ja immer eine persönlich-individuelle Kategorie darstellt. Wenn nun keine psychopathologisch relevante Einschränkung der Schuldfähigkeit eines Straftäters – wie im vorstehend skizzierten Fall – festgestellt wird, also Böses (im ethisch-moralischen Sinne) als Ausdruck menschlicher Freiheitsmöglichkeit sichtbar wird, kann in uns ein Betroffensein erwachsen, dem wir uns bei aller notwendigen Neutralität und Objektivität in Begutachtung und Prozessführung nicht gänzlich verschließen sollten. Dieses Betroffensein ist ja der Ansatz für ein Bemühen um das Verstehen der individuellen Schuld und der die Tat einleitenden und vorbereitenden Entscheidungsprozesse, die ja immer eine emotionale und biographische Fundierung besitzen. Die Grenze des Verstehens angesichts der ausgeführten Tat als einem Factum brutum markiert aber auch das bleibende Rätsel der Individualität eines schuldig gewordenen anderen Menschen, der mit dieser Schuld weiterleben muss. Interpersonale Verstehensprozesse sind sui generis mehrdeutig, sie eröffnen einen Interpretationsspielraum. So ist es eine wesentliche Aufgabe des psychiatrischen Sachverständigen, zwei sehr unterschiedliche Diskurse miteinander zu vermitteln und im Rahmen dieser Vermittlung eine gewisse Übersetzungsarbeit zu leisten: Es geht m.E. darum, in der Hauptverhandlung in einem interdisziplinären Verständigungsprozess die genuine Mehrdeutigkeit des psychiatrisch-menschenkundlichen Diskurses weitestgehend zu plausibilisieren und der geforderten Eindeutigkeit des strafrechtlichen Dis-

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kurses, soweit dieses möglich ist, anzunähern. Hier treffen also zwei unterschiedliche Bereiche hermeneutischen Erkennens aufeinander: Die verstehende Psychologie und Psychopathologie einerseits sowie die Disziplin der rechtlichen Auslegungslehre andererseits. Die Situation des forensischen Psychiaters ist also notwendigerweise und unhintergehbar eine dialogische – er muss sich als einen um Verständigung bemühten Brückenbauer zwischen Psychopathologie, Menschenkunde und Strafrecht begreifen. Schließen möchte ich mit einem literarischen Rekurs auf die Begrenztheit unseres Verstehenkönnens: Alfred Döblin, einer der größten Dichter der Moderne und auch Psychiater mit forensischer Erfahrung, hat 1924 mit der Novelle „Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord“ ein großartiges Beispiel literarischer Verarbeitung und Verdichtung eines Prozesses wechselseitiger Selbstkorrumpierung vorgelegt. Der Epilog dieses bemerkenswerten Textes schließt wie folgt: „Die Schwierigkeiten des Falles wollte ich zeigen, den Eindruck verwischen, als verstünde man alles oder das meiste an einem solch massiven Stück Leben. Wir verstehen es, in einer bestimmten Ebene.“

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Literatur Bormuth, M. (2006) Der Mensch als Bildner seiner Selbst – Kulturelle Ambition und biologische Realität, Vortragsmanuskript Salzburger Hochschulwochen 2005 (bisher unveröffentlicht) Brücher, K., Gonther, U. (2006) Zum Verhältnis von Willensfreiheit und Neurobiologie. Eine methodenkritische Untersuchung. Fortschr. Neurol. Psychiat. 74: 194-202. Döblin, A. (1992) Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord (Erstveröffentlichung 1924). Walter, Olten Feldmann, H. (1966) Zur Beurteilung der Täterpersönlichkeit im Hinblick auf die qualifizierenden Merkmale des Mordes. Mschr. Krim. 49: 204-211 Foerster, K. (2003) Von der Verantwortung des psychiatrischen Sachverständigen in: Amelung K et al (Hrsg) Strafrecht, Biorecht, Rechtsphilosophie. Müller, Heidelberg, S. 81-88 Hentig, H.v. (1956) Zur Psychologie der Einzeldelikte, Band 2 Der Mord. Mohr, Tübingen Hoff, P. (2005) Perspektiven der forensischen Psychiatrie. Eine psychiatriehistorische und aktuelle Bestandsaufnahme. Nervenarzt 76: 1051-1061 Ineichen, H. (1991) Philosophische Hermeneutik. Alber, Freiburg München Janzarik, W. (1991) Grundlagen der Einsicht und das Verhältnis von Einsicht und Steuerung. Nervenarzt 62: 423-427 Janzarik, W. (1992) Die Mordmerkmale aus der Sicht des psychiatrischen Sachverständigen. Nervenarzt 63: 656-667 Janzarik, W. (1993) Steuerung und Entscheidung, deviante Strukturierung und Selbstkorrumpierung im Vorfeld affektiv akzentuierter Delikte. In: Saß H (Hrsg) Affektdelikte – Interdisziplinäre Beiträge zur Beurteilung von affektiv akzentuierten Straftaten. Springer, Berlin Heidelberg New York, S. 57-76 Janzarik, W. Grundlagen der Schuldfähigkeitsprüfung. Enke, Stuttgart Jescheck, H.-H. (1988) Lehrbuch des Strafrechtes, 4. Auflage. Duncker und Humblot, Berlin Mezger, E. (1938) Die Straftat als Ganzes. ZStW 57: 675-701 Mezger, E. (1951) Das Verstehen als Grundlage der Zurechnung. Verlag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München Reemtsma, J.P. (2006) Das Scheinproblem „Willensfreiheit“. Ein Plädoyer für das Ende einer überflüssigen Debatte. Merkur 60: 193-206 Ricoeur, P. (1971) Die Fehlbarkeit des Menschen. Phänomenologie der Schuld I. Alber, Freiburg München Roxin, C. (1992) Strafrecht Allgemeiner Teil. Beck, München

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Schmidt-Degenhard, M. (2004) Verstehen als Methode und klinische Praxis. Überlegungen zur Situation der Psychiatrie. Schweiz. Arch. Neurol. Psychiat. 155: 5-15 Schmidhäuser, E. (1958) Gesinnungsmerkmale im Strafrecht. Mohr, Tübingen Schroth (1990) Die Rechtsprechung des BGH zum Tötungsvorsatz in der Form des „Dolus eventualis“ NStZ, 324-326 Venzlaff, U. (1986) Psychiatrische Begutachtung. Ein praktisches Handbuch für Ärzte und Juristen. 1. Auflage. G. Fischer, Stuttgart New York, S. 138-139

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Manipulation bei der Begutachtung – Simulation, Aggravation und ihre Auswirkungen Differentialdiagnose nicht objektivierbarer Befunde Simulation und Aggravation sind häufige bei der Begutachtung zu hinterfragende Phänomene. Es handelt sich dabei um Täuschungen des Untersuchten über das Vorhandensein oder um das Ausmaß einer Gesundheitsstörung. Unter Simulation versteht man die bewusste Vortäuschung von Krankheitssymptomen oder das bewusste Klagen über Beschwerden, die man tatsächlich nicht hat, unter Aggravation das demonstrative und übertriebene Klagen oder Darstellen von tatsächlich vorhandenen Störungen. Simulation und Aggravation sind abzugrenzen von einer Reihe anderer Wahrheits- oder Realitätsverfälschungen, mit denen Ärzte oder Gutachter konfrontiert werden. Dazu gehören auch Erinnerungsstörungen, Irrtum, Lüge, Konfabulation, Mythomanie, Pseudologie, Wahn, unbewusste Abwehrmechanismen, wie Verdrängung oder Verleugnung, aber auch Dissimulation. Unter den Gesichtspunkten der Begutachtung gehören zu den Abgrenzungsproblemen zwischen Simulation, neurotischer Symptombildung und finalen Verhaltensweisen auch das Münchhausen-Syndrom (ICD-10 Nr. F 68.1; DSM-III-R Nr. 301.51) und die Pseudologia phantastica. Beim Münchhausen-Syndrom täuschen die Patienten körperliche oder psychische Symptome vor und fügen sich absichtlich Verletzungen zu. Sie suchen damit Ärzte und Krankenhäuser auf, um sich versorgen, behandeln und sogar operieren zu lassen. Einen finanziellen Nutzen wollen sie daraus jedoch nicht ziehen. Oft steht ein unbewusster Wunsch nach Umsorgung und Anerkennung sowie eine Reinszenierung frühkindlicher, pathologischer Beziehungsmuster hinter diesem Verhalten. Die Pseudologia phantastica fällt durch pathologisches Lügen auf. Die Pseudologen lassen sich zu immer neuen und wunderlichen Darstellungen ihrer Lebensgeschichte induzieren. Im Gegensatz zu der Simulation beruht das Vorbringen bei diesen Störungen häufig auf unbewussten Motiven und ist wenig zielgerichtet. Deshalb werden sie in DSM-IV auch getrennt von der Simulation als vorgetäuschte Störungen (DSM-IV Nr. 300.16 u. 300.19) aufgeführt.

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Auch bei Konversionsstörungen und somatoformen Störungen, die zu den neurotischen Störungen gerechnet werden, klagen die Patienten über körperliche Symptome oder bringen psychische Reaktionen vor, ohne dass eine ausreichend erklärende organische Grundlage der Störungen besteht. Die Entscheidung, ob ein bewusstes Vortäuschen oder unbewusste Konflikte ein Leiden bedingen, ist im Einzelfall oft sehr schwierig. Weder Simulanten noch neurotisch Gestörte lassen sich in der Regel durch Konfrontation und Zweifel an der berichteten Symptomatik zu einer realitätsgerechten Darstellung objektivierbarer Beschwerden bewegen. Die Abklärung von Simulation bei psychischen Störungen bedarf des Einfühlungsvermögens und der Vermittlung eines professionellen Verständnisses. Neurotische Störungen sind in der Regel vor dem Hintergrund von Konflikten verstehbar. Eine Exploration der Konflikte sowie eine chronologische Darstellung ihres Verlaufs und der damit verbundenen Symptomatik erleichtern die Zuordnung zu einer neurotischen Störung. Bei Simulation wird in derartigen Explorationen häufig eine finale Tendenz des Vorbringens der Symptomatik erkennbar, da den Untersuchten der Leidensdruck durch die Konflikte fehlt.

Häufigkeit von Simulation Das Erkennen und die Beurteilung von Simulation hat in der psychiatrischen Ausbildung und in der Fachliteratur viele Jahre lang kaum eine Rolle gespielt, in den letzten Jahren aber wieder mehr Raum eingenommen. 2006 hat die amerikanische forensisch psychiatrische Zeitschrift Behavioral Sciences and the Law (Farkas et al., 2006; Felthous, 2006) ein Schwerpunktsheft über „malingering“ (Simulation) herausgegeben. In diesem Heft wurden auch Schätzungen darüber veröffentlicht, wie häufig bei verschiedenen psychiatrischen Untersuchungen Simulation vorkommt (Tabelle 1). Dabei ist anzumerken, dass solche Schätzungen oft fehlerbehaftet sind, weil einerseits gelungene Simulationen nicht aufgedeckt werden und in Statistiken nicht erscheinen und sich andererseits ein Simulationsverdacht später als Irrtum herausstellen kann, aber nicht mehr korrigiert wird.

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MANIPULATION BEI DER BEGUTACHTUNG

Allgemeine klinische Untersuchung Forensisch-psychiatrische Untersuchungen

7% 14 - 18 %

Strafrechtliche Begutachtung

19 %

Entschädigungsrechtliche Begutachtung

29%

Rentenverfahren

30%

Tabelle 1: Häufigkeit von Simulation in verschiedenen psychiatrischen Untersuchungssituationen (Schätzungen Mittenberg et al.,2002; Rogers,1997)

Erscheinungsformen und Motive bei Simulation Simulation kann verschiedene Formen annehmen, wobei die nachfolgenden besonders häufig sind: • Die Inszenierung eines Vorfalls, z. B. eines „Anfalls“ vor oder in unmittelbarer Nähe des gewünschten Beobachters. • Das Erfinden von Symptomen, z. B. Schmerzen, die nicht näher zu objektivieren sind. • Die Selbstbeschädigung, um ärztliche Intervention zu fordern oder dem Beobachter einen Schaden zu demonstrieren. • Die Fälschung ärztlicher Befunde, um dadurch das angestrebte Ziel zu erreichen. Die Motive von Simulation und Aggravation lassen sich in vier Kategorien einteilen: 1. Vermeidungsverhalten: Vermeidung von Gefahr und Schwierigkeiten, Verantwortung oder Strafe. 2. Sekundärer Krankheitsgewinn: Krankenhausbehandlung, Versorgung durch Familie, Medikamentengabe, Unterkunft (z. B. bei Obdachlosen), Berentung. 3. Vergeltung und Entschädigung: Nach Schädigung oder Verlust, z. B. durch Unfall oder Arbeitsplatzverlust, als Folge von Kränkungen. 4. Verwirklichung eines schon vorher gehegten Lebensziels, z. B. Rückzug aus dem Beruf, Befreiung von sozialem Zwang o. ä.

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NEDOPIL

Verdachtsmomente für Simulation Die vermutete Häufigkeit von Simulation bei der psychiatrischen Begutachtung und das verständliche Bedürfnis des Begutachteten, seine Interessen beim Untersucher verständlich zu machen, erfordern immer eine kritische Abwägung der vorgebrachten Beschwerden und der geklagten oder beobachteten Symptome. Dabei ist nicht notwendigerweise generelles Misstrauen angebracht sondern eine fundierte Kenntnis der Verdachtsmomente, die Simulation oder Aggravation nahe legen können: Sich ausweitende oder widersprüchliche Symptombeschreibungen, unterschiedliche Ergebnisse bei wiederholten Untersuchungen, ungefragtes und wiederholtes Hervorbringen von Symptomen, vage und unüberprüfbare Beschwerden, wie Kopfschmerzen, Schwindel, Angst oder Depression, ohne dass gleichzeitig die vegetativen Begleiterscheinungen oder typischen Folgereaktionen der Beschwerden mitgeteilt werden können, sollten den Verdacht auf Simulation lenken. Auch mehrere Beschwerden, die nicht oder allzu perfekt zu einem bekannten Krankheitsbild passen, nähren einen solchen Verdacht. Während die meisten Patienten mit organischen Psychosyndromen oder Demenzen, aber auch mit affektiven und schizophrenen Störungen bei der Erstexploration versuchen, ihre Symptome zunächst zu bagatellisieren oder zu dissimulieren, tragen Simulanten diese häufig ungefragt vor. In experimentellen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass Simulanten ihre Symptome wesentlich deutlicher demonstrierten als Patienten mit Hirnschädigungen und dass Intelligentere die Symptomatik besser vortäuschen konnten (Schwartz et al.,1998), aber auch, dass Simulation – insbesondere von Gedächtnislücken (Amnesien) – die tatsächliche Wahrnehmung und Erinnerung verändert (Bylin & Christianson, 2002). Auch wenn die Betroffenen gut über ihre Rechte und die ärztlichen Pflichten Bescheid wissen, oder sie in auffälliger Form von Rechtsanwälten beraten werden, erscheint eine sorgfältige Abklärung von Simulation und Aggravation sinnvoll. Häufig erleichtert der Zusammenhang, in welchem die Symptome vorgebracht werden, die Diagnose. Simulanten konsultieren Ärzte oft wegen eines äußeren Anlasses, der allerdings nicht immer sofort evident wird. z. B. wegen eines Unfalls, einer Kränkung, eines Arbeitsplatzverlustes, einer Partnertrennung o. ä. Bei strafrechtlichen Begutachtungen werden häufiger „Stimmenhören“ oder „Gedankeneingebungen“ als Grund für die Begehung eines Delikts angegeben, um als Psychotiker diagnostiziert zu werden und einer Haftstrafe zu

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entgehen. Die meisten Gesunden wissen jedoch zu wenig über psychotische Symptome, um sie wirklich nachzuahmen. Bei einer differenzierten Analyse unterscheiden sich simulierte akustische Halluzinationen deutlich von den Halluzinationen schizophrener Patienten (Pollock 1998). Bei detailliertem Nachfragen z. B. nach Art, Häufigkeit, Dauer, Identifizierbarkeit der Stimmen oder dem Kontext, in welchem die Halluzinationen auftreten, wird oft die Unsicherheit des Simulanten erkennbar. Andere typische Symptome, z. B. schizophrene Denkstörungen, sind Laien meist gänzlich unbekannt und schwierig nachzuahmen. Die Abklärung derartiger Symptome ist bei Zweifeln besonders wichtig. Eine Reihe von Autoren (Hausotter, 1995; Nedopil, 1996; 2007; Resnick, 1994; Winckler & Foerster, 1996) haben Listen von Merkmalen veröffentlicht, welche die Verdachtsmomente für Simulation zusammenfassen. Sie unterscheiden sich nur wenig von der ursprünglich von Yudorfsky (1985) verfassten Liste, die folgende Merkmale enthält: • Anamnese, Befund und klinische Daten stimmen nicht mit den geklagten Beschwerden überein. • Die vorgebrachten Beschwerden werden ungenau und wechselhaft beschrieben und passen nicht zu einem definierten Krankheitsbild. • Die Klagen und Symptome erscheinen übertrieben und werden dramatisch vorgetragen. • Die Probanden sind bei diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen wenig kooperativ. • Die Probanden wollen eine günstige Prognose ihrer Beschwerden nicht akzeptieren. • Die Verletzungen scheinen selbst zugefügt worden zu sein. • Bei Laboruntersuchungen werden toxische Substanzen oder nicht verschriebene Medikamente entdeckt. • Krankengeschichten oder Befunddokumentationen wurden geändert oder gefälscht. • Die Probanden haben auffällige Unfälle oder Verletzungen in der Vorgeschichte. • Die Probanden erhalten oder wünschen wegen ihrer Störung Entschädigung. • Die Probanden fordern Medikamente, die üblicherweise suchterzeugend sind oder häufig missbraucht werden.

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• Die Probanden können wegen ihrer Störung schmerzhafte, Angst auslösende oder anderweitig unangenehme Situationen vermeiden. • Die Probanden können wegen ihrer Störung rechtliche oder gesellschaftliche Verantwortung vermeiden oder einer Strafe entgehen. • Die Probanden leiden an einer dissozialen oder abhängigen Persönlichkeitsstörung. Auch aus der psychopathologischen Befunderhebung können sich Verdachtsmomente für Simulation ergeben. Glatzel (1998) nannte hierfür folgende Auffälligkeiten: • Ausweichen in nichtsprachliche Ausdrucksformen. • Lange Antwortlatenzen. • Wiederholter Themenwechsel. • Mehrdeutige Antworten. • Abbruch der Exploration oder der therapeutischen Beziehung unter dramatischer Darstellung der Symptome.

Abklärung bei Verdacht auf Simulation Allein die Tatsache, dass Verdachtsmomente für Simulation vorliegen und dass ein plausibles Motiv dafür erkennbar zu sein scheint, sollte noch nicht als Beleg für die bewusste Vortäuschung einer Störung angesehen werden. Weder ein einzelnes der beschriebenen Verdachtsmomente noch eine bestimmte Konstellation von Merkmalen sind beweisend für eine Simulation, sie machen jedoch eine sorgfältige Abklärung des Verdachts erforderlich. Objektivierung Zur Abklärung erscheint es zunächst sinnvoll, die subjektiven Angaben soweit als möglich zu objektivieren. Hierzu kann nicht nur die gezielte körperliche Untersuchung dienen, sondern auch die Überprüfung der vom Untersuchten angegebenen Medikamenteneinnahme durch Laboruntersuchungen und die Überprüfung weiterer Laborparameter, die bei bestimmten Krankheitsbildern charakteristisch sind. Aber auch die bewusste und gezielte Einnahme von Medikamenten, die zu psychischen Veränderungen führen (z. B. Benzodiazepine, um eine Verlangsamung und eine hirnorganisch bedingte Beeinträchtigung nach einem Unfall zu simulieren) kann durch Medikamentenscreenings bei der Begutachtung entdeckt werden.

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Die Objektivierung von Angaben und Befunden macht es manchmal auch erforderlich, Informationen von Dritten einzuholen, was bei Begutachtungen allerdings nie ohne die Genehmigung des Auftraggebers und des Untersuchten erfolgen sollte. Gelegentlich hilft auch die Beobachtung des Untersuchten außerhalb der üblichen Untersuchungssituation, z. B. im Warteraum oder nach Verlassen der Untersuchungsräume auf der Straße. Dabei sollte der Gutachter nicht als Detektiv dem Untersuchten folgen sondern diese Situationen möglichst unverfänglich in sein Untersuchungsschema einpassen. Plausibilitätsprüfung Selbst wenn eine Objektivierung von Befunden oder Angaben nicht möglich ist, gelingt es häufig, zumindest ihre Plausibilität zu überprüfen. Sie ist dann anzunehmen, wenn die Befunde auf unterschiedlicher Ebene (z. B. psychisch und vegetativ) übereinstimmen und wenn sie mit dem klinischen Wissen vereinbar sind. Dabei erscheint es jedoch wichtig, dass der Untersucher über ein Wissen verfügt, welches über die in den Klassifikationsschemata enthaltenen Kriterienkataloge hinausgeht, da diese auch von den Untersuchten gelesen und die Merkmale klagend hervorgebracht werden können. Ein genaues und detailliertes Hinterfragen von Beschwerden und Klagen kann die geschilderten Beschwerden mehr oder weniger plausibel machen. Dazu gehören gezielte Fragen z. B. nach • der Art der Symptomatik, • der Häufigkeit ihres Auftretens, • der Dauer und dem Aufeinanderfolgen der Einzelsymptome, • dem Verlauf der Symptomatik (gleich bleibend, zunehmend, abnehmend, phasenhaft, schubförmig), • der Kontextabhängigkeit der Symptomatik (Arbeitsbelastung, Urlaub, Stress, emotionale häusliche Belastung – wobei dem Untersucher bekannt sein sollte, dass manche Symptomatik bei Entlastung häufiger vorkommt als bei Belastung). Fragen nach Symptomen, die den meisten Laien nicht bekannt sind und Fragen nach Symptomen, die üblicherweise nicht bei der Störung vorkommen, können helfen sich ein Bild über die bewusste Gestaltung eines Beschwerdebildes zu machen. Die Frage nach einem subjektiven Erklärungsmodell der Symptomatik offenbart manchmal die wirklichen Wünsche und Bedürfnisse der Untersuchten, z. B. wenn darüber geklagt wird, wie un-

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gerecht es sei, dass ein Bekannter eine Rente erhalte, man selber, obwohl sehr viel länger im Beruf, noch tägliche Arbeit zu verrichten gezwungen werde. Neuropsychologische Verfahren Zur Plausibilitätsprüfung kann auch die Anwendung psychologischer Testverfahren, die eigens zum Zweck der Entdeckung von simulierten Leistungseinbrüchen entwickelt wurden, dienen. Das Phänomen von Simulation und Aggravation wird in der Neuropsychologie unter dem weniger pejorativen Begriff des „suboptimalen Leistungsverhaltens“ beschrieben (Brockhaus & Merten, 2004; Merten, 2004). Littmann (2005) fasst in einer Übersicht über die derzeit aus neuropsychologischer Sicht erkennbaren Verdachtsmomente für Simulation und Aggravation (insb. bei hirnorganisch anmutenden Beeinträchtigungen) folgende Auffälligkeiten zusammen • ein Versagen des Patienten selbst bei einfachsten Testanforderungen, die in der Regel selbst von (mittelschwer) geschädigten Patienten noch befriedigend gelöst werden können, • grobe Abweichungen der Testleistungen von klinischen und statistischen Norm- und Erwartungswerten, • Unstimmigkeiten zwischen neurologischen und neuropsychologischen Befunden, • Unstimmigkeiten zwischen Testbefunden und lebensalltäglichen Kompetenzen und Fähigkeiten des Untersuchten, • auffällig inkonsistente Testbefunde (z. B. bei Wiederholungsuntersuchungen mit dem gleichen Verfahren und/oder zwischen Verfahren mit vergleichbarer diagnostischer Zielsetzung, z. B. visuelles Gedächtnis). Littmann (2005) weist aber auch darauf hin, dass Simulation häufig nicht mit speziellen Testverfahren aufgedeckt werden kann, selbst wenn diese hierfür konstruiert wurden, wie der Rey – 15 Item – Gedächtnistest oder das Structured Interview of Malingering Symptomatology (SIMS) (Lewis et al., 2002); deutsch Strukturierter Fragebogen „Simulierter Symptome (Cima et al., 2003) und er warnt vor einem unkritischen Einsatz derartiger Verfahren durch unausgebildete oder unerfahrene Sachverständige, da dann leicht die klinischen Diagnosehinweise aus dem Blick geraten könnten. Allerdings lässt die rasante Entwicklung der Psychologie in diesem Bereich es sinnvoll erscheinen, in Fällen, die nicht eindeutig zuzuordnen sind, zusätzliche Tes-

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tungen durch ausgebildete und erfahrene Psychologen durchführen zu lassen (siehe auch Heinze, 2003). Bei ausreichender Erfahrung des Untersuchers gelingt es gelegentlich auch, den Simulanten zum Klagen über Symptome, die er vorher nicht gekannt hat, zu induzieren, indem man z. B. eine bestimmte Erwartungshaltung demonstriert, die vorgebrachte Symptomatik im Vergleich zu vermeintlich möglichen Symptomatik bagatellisiert oder die vorgebrachte Störung erläutert, dabei bisher nicht geklagte Symptome erklärt, und einige Zeit später sich noch einmal das Beschwerdebild schildern lässt.

Besondere Schwierigkeiten Besondere Schwierigkeiten ergeben sich öfter bei der Begutachtung von tatsächlichen oder vermeintlichen Opfern von Traumatisierungen, Verfolgung oder Folter, insbesondere wenn diese aus einem anderen Kulturkreis stammen als der Untersucher. In manchen Kulturkreisen sind andere, z. B. expressivere, Ausdrucksformen üblich, die dem Mitteleuropäer übertrieben oder gar simuliert vorkommen, in der Heimatkultur der Untersuchten aber als durchaus adäquat angesehen werden. Bei manchen Untersuchten sind Tabus zu berücksichtigen, wodurch eine plausible Auf- und Abklärung eines Schadens erschwert wird. Gleichzeitig ist vielen, die Asyl begehren, oder ein Versorgungssystem in Anspruch nehmen wollen, auch bekannt, welche Traumatisierungen und Leiden zum erfolgreichen Durchsetzen ihres Begehrens hilfreich sind. Gutachter, die sich dieses Personenkreises annehmen, sollten nicht nur Wissen über den Kulturkreis und die ethnisch bedingten Gepflogenheiten, über spezifische historische Vorkommnisse haben oder erwerben. Sie sollten gleichzeitig den Grundsatz bei Begutachtungen berücksichtigen, dass eine bestimmte Symptomatik noch nicht per se auf ein spezifisches Trauma rückschließen lässt und dass Traumata nicht zwangsläufig zu bestimmten Folgeschäden führen. Vielmehr muss Symptomatik und Genese unabhängig voneinander mit der gleichen Sorgfalt erkundet, beschrieben und erst zum Schluss in ein Beziehungsgefüge gebracht werden.

Schlussbemerkung Gutachter sollten sich der Möglichkeit einer Simulation bewusst sein und bei der Untersuchung auch immer wieder prüfen, ob die vorgebrachten Symptome simuliert sein könnten. Sie sollten den Untersuchten, die bei der

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Begutachtung eigene – durchaus berechtigte – Ziele verfolgen, jedoch nicht verübeln, wenn sie dies mit einer gewissen Nachhaltigkeit tun. Bei der schriftlichen oder mündlichen Erläuterung des Gutachtens empfiehlt es sich eher, auf die Diskrepanzen zwischen subjektiven Angaben und objektiven Befunden hin zu weisen und darzulegen, warum man den Angaben des Probanden nicht folgen kann, als ihm Simulation vorzuwerfen. Die Feststellung, ob es sich bei der Darstellung des Probanden um Täuschungen, Unwahrheiten oder um glaubwürdige Tatsachen handelt, obliegt letztendlich der Beweiswürdigung der Gerichte.

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Literatur Brockhaus, R., & Merten, T. (2004). Neuropsychologische Diagnostik suboptimalen Leistungsverhaltens mit dem Word Memory Test. Der Nervenarzt, 9, 882-887. Bylin, S. & Christianson, S.-A. (2002). Characteristics of malingered amnesia: Consequences of withholding vs. distorting information an later memory of a crime event. Legal and Criminological Psychology, 7, 45-61. Cima, M., Hollnack, S., Kremer, K., Knauer, E., Schellbach-Matties, R., Klein, B., et al. (2003). "Strukturierter Fragebogen Simulierter Symptome". Nervenarzt, 74, 977-986. Farkas, M., Rosenfeld, B., Robbins, R & Van Gorp, W. (2006). Do tests of malingering concur? Concordance among malingering measures. Behavioral Sciences & the Law, 24, 659-671. Felthous, A. (2006). Introducing to this issue: malingering. Behavioral Sciences & the Law, 24, 629-631. Glatzel, J. (1998). Über Simulation oder: von den Grenzen empirischer Psychopathologie. Fundamenta Psychiatrica, 12, 58. Hausotter, W. (1995). Aggravation und Simulation in der neurologischen Begutachtung. Der medizinische Sachverständige, 91, 10-13. Heinze, M. C. (2003). Developing sensitivity to disortion: utility of psychological tests in differentiating malingering and psychopathology in criminal defendants. The Journal of Forensic Psychiatry & Psychology, 14, 151-177. Lewis, J. L., Simcox, A. M., & Berry, T. R. (2002). Screening for feigned psychiatric symptoms in a forensic sample by using the MMPI-2 and the struchtured Inventory of Malingering Symptomatology. Psychological Assessment, 14, 170-176. Littmann, E. (2005). Forensische Neuropsychologie – Aufgaben, Anwendungsfelder und Methoden. In M. Steller & H.-L. Kröber (Hrsg.), Psychologische Begutachtung im Strafverfahren (2. Aufl., S. 61-117). Darmstadt: Steinkopf. Merten, T. (2004). Neuropsychologische Begutachtung und die Untersuchung einer angemessenen Leistungsmotivation. Der medizinische Sachverständige, 100, 154157. Mittenberg, W., Patton, C., Canyock, E. M., & Condit, C. (2002). Base rates of malingering and symptom exaggeration. Journal of Clincal and Experimental Neuropsychology, 24(8), 1094-1102. Nedopil, N. (1996). Forensische Psychiatrie. Stuttgart, New York: Thieme. Nedopil, N. (2007). Forensische Psychiatrie (3. Aufl.). Stuttgart, New York: Thieme. Resnick, P. (1994). Malingering. Journal of Forensic Psychiatry, 5(1), 1-4. Rogers, R. (Ed.). (1997). Clinical assessment of malingering and deception (2nd ed.). New York: Guilford Press.

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Schwartz, S. M., Gramling, S. E., Kerr, K. L., & Morin, C. (1998). Evaluation of intellect and deficit specific information on the ability to fake memory deficits. International Journal of Law and Psychiatry, 21, 261-272. Winckler, P. & Foerster, P. (1996). Zum Problem der "zumutbaren Willensanspannung" in der sozialmedizinischen Begutachtung. Der medizinische Sachverständige, 92, 120-124. Yudorfsky, S. C. (1985). Malingering. In H. J. Kaplan & B. J. Sadock (Hrsg.), Comprehensive Textbook of Psychiatry IV. (S. 1862-1865). Baltimore, London,: Williams & Wilkins.

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Stalking Anfang der 1990er Jahre wurde mit dem Begriff Stalking in den USA ein Verhaltensmuster beschrieben, das darin besteht, dass ein Täter einen anderen Menschen ausspioniert, verfolgt, belästigt, bedroht, unter Umständen auch körperlich attackiert und in seltenen Fällen sogar tötet. Durch diese Verhaltensweisen fühlt sich das Opfer des Stalkers in Angst versetzt (Dreßing et al. 2002, Dreßing und Gass, 2005). Ohne den Begriff Stalking zu verwenden, sind typische Stalking-Verhaltensweisen in der psychiatrischen Literatur bereits vor mehr als 100 Jahren unter dem Begriff des de Clérambault Syndroms beschrieben worden. De Clérambault beschrieb Personen, die an einem Liebeswahn erkrankt sind und aus diesem Wahnerleben heraus der geliebten Person nachstellen, ihr Geschenke schicken und unerwünschte Kontaktaufnahmen erzwingen. Es soll an dieser Stelle aber bereits betont werden, dass nur eine kleine Zahl von Stalkern an einem solchen Liebeswahn leiden. Selbst in den mythologischen Berichten der Antike sind Verhaltensweisen beschrieben worden, die man heute unter dem Stalkingkonzept subsumieren könnte. Bekannt ist z. B. die Geschichte von Apollon, der hartnäckig die Nymphe Daphne verfolgte, ohne dass diese die Liebesbekundungen Apollons erwidert hätte. Stalkingverhaltensweisen sind also offensichtlich so alt wir die Menschheit. Der innovative Aspekt des Stalkingkonzeptes ist darin zu sehen, dass sowohl psychisch gesunde Täter als auch Täter mit ganz unterschiedlichen psychopathologischen Syndromen aufgrund der typischen Verhaltensweisen als Stalker und die davon betroffenen Menschen als Stalkingopfer typologisiert werden. Typische Vorgehensweisensweisen von Stalkern bestehen darin, dass sie sich oft stundenlang vor häufigen Aufenthaltsorten ihrer Opfer auf die Lauer legen und unerwünschte Kontaktaufnahmen in deren Privatsphäre oder an deren Arbeitsplatz erzwingen. Häufig tätigen Stalker Telefonanrufe und verschicken Briefe, SMS oder e-mails, oftmals auch mit bedrohlichen Inhalten. Manchmal geben sie unter dem Namen und auf Rechnung ihrer Opfer Bestellungen auf oder lancieren gefälschte Annoncen in Zeitungen. Aggressivere Verhaltensweisen beinhalten Sachbeschädigungen wie Beschmieren oder Beschädigen von Eigentum ihres Opfers, am häufigsten Haus oder Auto. Darüber hinaus kann es auch gar nicht so selten zu körperlichen Atta-

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cken und sexueller Nötigung der Opfer kommen. Sogar Tötungsdelikte haben sich im Kontext von Stalking ereignet, sind aber insgesamt im Kontext von Stalking seltene Ereignisse. Die zunehmende Verbreitung elektronischer Medien und die Nutzung sozialer Netzwerke im World-Wide Web haben in letzter Zeit zu einer neuen und einer offensichtlich immer weiter verbreiteten Form des Stalking geführt, die unter dem Begriff „Cyberstalking“ diskutiert wird. Die empirische Forschung zum Thema Cyberstalking steht aber noch ganz am Anfang (Dreßing et al. im Druck). Obwohl das Stalkingkonzept erst Anfang der 1990-er Jahre entwickelt wurde, hat sich rasch die Erkenntnis durchgesetzt, dass die mit Stalking verbundenen Probleme verstärkte Aufmerksamkeit der Politik, der Justiz, der Medizin, des Polizeiwesens und vieler anderer gesellschaftlich relevanter Bereiche erfordern. Hierzu beigetragen hat sicherlich auch die Erkenntnis, dass Stalkingverhaltensweisen in der Bevölkerung weit verbreitet sind. In angelsächsischen Studien fand sich eine Lebenszeitprävalenz von Stalking von 4% - 7,2% bei Männern und von 12% - 17,5% bei Frauen. In der ersten deutschen Studie zur Prävalenz von Stalking – der so genannten Mannheim-Studie – fand sich eine vergleichbar hohe Lebenszeitprävalenz. In einer repräsentativen Stichprobe gaben 11,6% der Befragten an, mindestens einmal in ihrem Leben Opfer eines Stalkers gewesen zu sein (Dreßing et al. 2005a, 2005b). In Deutschland wurde erst im Jahre 2007 ein eigenständiger Straftatbestand „Nachstellung“ (§238 StGB) geschaffen. Der Einführung gingen längerfristige Diskussionen und Expertenanhörungen voraus. Die Ergebnisse der Mannheimstudie wurden in diesem Zusammenhang häufig zitiert und bei Expertenanhörungen diskutiert. Mittlerweile ergibt sich auch zunehmend das Problem der Begutachtung von Stalkern. Dabei geht es um Fragen nach Behandlungsmöglichkeiten für Stalker, um die Beurteilung der Gefährlichkeit von Stalkingfällen, aber auch um die Beurteilung der Schuldfähigkeit von Stalkern. Kenntnisse zum Thema Stalking sind auch eine unabdingbare Voraussetzung, um Fragen nach der Unterbringung von Stalkern in psychiatrischen Kliniken nach den Landesunterbringungsgesetzen kompetent zu beantworten oder die Voraussetzungen einer Einweisung von Tätern in den psychiatrischen Maßregelvollzug zu beurteilen. Es ist davon auszugehen, dass Psychiater und Psychotherapeuten in der täglichen Praxis zunehmend häufig mit den unterschiedlichen Facetten von Stalking konfrontiert werden und hierfür eine professionelle Haltung entwickeln müssen.

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Es ist vorab zu betonen, dass nur ein kleiner Teil der Stalker an einer schwerwiegenden psychiatrischen Erkrankung leidet, die eine Einweisung in die Psychiatrie rechtfertigen kann oder gar die Schuldfähigkeit erheblich beeinträchtigt. Die große Mehrzahl der Stalker ist für das von ihnen gezeigte Verhalten voll verantwortlich und fällt damit in den Kompetenzbereich der Strafverfolgungsbehörden. Das psychiatrische Fachwissen ist aber notwendig, um diese Weichenstellung korrekt und frühzeitig zu treffen. Hilfreich für die Bearbeitung dieser komplexen Fragestellungen sind Stalkertypologien, die die Motive und Psychopathologie der Stalker näher charakterisieren. Die bisher publizierten angelsächsischen Stalkertypologien berücksichtigten die deutsche Rechtssituation naturgemäß allerdings nur unzureichend, so dass von der Mannheimer Arbeitsgruppe eine multiaxiale Stalkertypologie entwickelt und publiziert wurde (Dreßing et al. 2007a, 2007b). Diese Klassifikation berücksichtigt die Psychopathologie des Stalkers – insbesondere auch im Hinblick auf die Zuweisung des Stalkers eher in die psychiatrische Behandlungskompetenz oder in die Verantwortlichkeit der Strafverfolgungsbehörden – die Täter-Opferbeziehung sowie die Motivation des Stalkers. Besonders herausgearbeitet wurde auch die so genannte psychopathologische Entwicklung, bei der es zu einer zunehmenden affektiven und kognitiven Einengung des Stalkers kommt, da bei dieser Konstellation das Risiko für eine gewalttätige Eskalation als besonders hoch einzuschätzen ist. Die Mannheimer Arbeitsgruppe konnte auch zeigen, dass Stalkingopfer eine signifikant schlechtere psychische Befindlichkeit haben als Nichtbetroffene, wobei besonders ängstlich depressive Störungen gehäuft vorkommen (Kühner et al. 2007). Auch gewalttätige Eskalationen sind ein häufiges Phänomen bei Stalking und in der Betreuung von Stalkingopfern immer zu beachten. Neben dem psychischen Leid, das Stalking für die Opfer in der Regel bedeutet, sind auch die gesundheitsökonomischen Kosten von Stalking beachtlich. Eine diesbezüglich durchgeführte gesundheitsökonomische Kalkulation auf der Basis der epidemiologischen Daten ergibt für Deutschland eine Summe von etwa 2,3 Milliarden Euro, die durch häusliche Gewalthandlungen gegen Frauen verursacht wird, davon 340 Millionen Euro alleine durch Stalkinghandlungen (Dreßing et al. 2007c). Diese wissenschaftlichen Studienergebnisse haben konkrete Interventionsansätze in Mannheim zur Folge gehabt. Es wurde das Mannheimer Modellprojekt Stopp Stalking (MMSS) ins Leben gerufen, das eine verbesserte Ver-

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sorgung der Stalkingopfer zum Ziel hat (Dreßing et al. 2008). Die Interventionen werden wissenschaftlich evaluiert, die Projekte werden dankenswerter Weise vom Weissen Ring finanziell gefördert. Wesentliche Ziele dieser Projekte sind: • Vernetzung vorhandener Institutionen, die mit Stalkingopfern in Kontakt kommen • Verbesserung der Risikoeinschätzung und Begutachtung der Stalker • Etablierung eines Stufenplans, der die jeweils notwendige Unterstützung der Stalkingopfer gewährleistet • Etablierung und Evaluation eines speziellen Betreuungsangebotes für schwerer betroffene Stalkingopfer Die bisherige wissenschaftliche Evaluation dieser Interventionsansätze zeigt erfreuliche Effekte. Nach einer Gefährderansprache durch die Polizei sistieren etwa 60% der angezeigten Stalkingfälle. Psychisch schwerer beeinträchtigte Stalkingopfer zeigen nach einer achtwöchigen Gruppenintervention eine signifikante Besserung der psychischen Befindlichkeit.

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Literatur Dreßing H., Henn F.A., Gass P.: Stalking behaviour – an overview of the problem and a case report of male-to-male stalking during delusional disorder. Psychopathology 2002; 35:313-318 Dreßing H., Gass P.: Stalking! Verfolgung, Bedrohung, Belästigung. Huber, Bern, Göttingen, Toronto, Seattle 2005 Dreßing H., Kühner C., Gass P.: Lifetime Prevalence and Impact of Stalking in a European Population: Epidemiological Data From a Middle-Sized German City. British Journal of Psychiatry, 187, 2005a, 168-172 Dreßing H., Kühner C., Gass P.: Prävalenz von Stalking in Deutschland. Psychiatrische Praxis, 32, 2005 b, 73-78 Dreßing H., Maul-Backer H., Gass P.: Forensische Begutachtung bei Stalking. Neue Strafrechtszeitung 5, 2007a, 253-255 Dreßing H., Kühner C., Gass P.: Multiaxiale Klassifikation von Stalkingfällen – ein Leitfaden zur Begutachtung von Schuldfähigkeit und Prognose. Nervenarzt, 78, 7, 2007b, 764-772 Dreßing H., Gass P.: Versorgungslücken und ökonomische Folgekosten von Stalking. Versicherungsmedizin, 4, 2007c, 163-165 Dreßing H., Bindeballe N., Gallas C., Gass P.: Aufgaben der Allgemeinpsychiatrie und der Forensischen Psychiatrie bei Stalking. Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 56, 2008, 111-119 Dreßing H., Klein U., Bailer J., Gass P., Gallas C.: Cyberstalking, Nervenarzt, im Druck Kühner C., Gass P., Dreßing H.: Increased risk of mental disorders among lifetime victims of stalking-Findings from a community study. European Psychiatry, 22, 2007, 142-145

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Arbeitsunfähigkeit, Erwerbsunfähigkeit, Berufsunfähigkeit bei psychischen Erkrankungen Nach den Daten des Bundes-Gesundheitssurvey von 1998/1999 erkrankt nahezu jeder zweite Bundesbürger (41 %) im Lauf seines Lebens wenigstens einmal an einer psychischen Gesundheitsstörung. Der Anteil psychisch bedingter Frühberentungen und Arbeitsunfähigkeiten hat seit Ende der 90er-Jahre deutlich zugenommen. Laut dem DAKGesundheitsreport von 2005 hat die Arbeitsunfähigkeit durch psychische Störungen im Vergleich zu 1997 um 68,7 % zugenommen. Laut Verband Deutscher Rentenversicherungsträger wurden 2004 31 % Frühberentungen aufgrund einer psychisch bedingten Erwerbsminderung vorgenommen. Damit sind die psychischen Krankheiten die Hauptursache der Frühberentung geworden. Außerdem scheiden psychisch Erkrankte fast 20 Jahre vor der gesetzlichen Altersgrenze und fast 13 Jahre vor dem tatsächlichen durchschnittlichen Rentenalter (derzeit 60,4 Jahre) aus dem Erwerbsleben aus. 65 % der Frühpensionierungen bei Lehrern waren auf psychische Erkrankungen zurück zu führen. Ähnlich sieht das Bild bei den Ursachen der Berufsunfähigkeit aus. Somatisierungsstörungen und Schmerzsyndrome gewinnen zunehmend an Gewicht. Affektive Erkrankungen sind mit einer Lebenszeitprävalenz zwischen 10 und 20 % die häufigste psychische Erkrankung geworden. Jeder Arzt, der mit der Behandlung psychisch Erkrankter befasst ist, wird deshalb auch mit dem Problem der Begutachtung der Arbeitsunfähigkeit konfrontiert, mit den Problemen der Beantragung von Rehabilitationsleistungen, den Problemen der Erwerbsminderung und der Berufsunfähigkeit. Je nach der Versicherungsart wird die Leistungsminderung unterschiedlich vom Kostenträger definiert. Die Arbeitsunfähigkeit bezieht sich auf die zuletzt ausgeübte Erwerbstätigkeit, die Berufsunfähigkeit auf den zuletzt ausgeübten Beruf. Dagegen bezieht sich die Erwerbsminderung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Die Schwerbehinderung ist durch die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft definiert. Eine Besonderheit besteht bei Beamten. Deren Dienstunfähigkeit wird durch den Dienstherrn definiert und auch festgelegt.

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Arbeitsunfähigkeit Die Arbeitsunfähigkeit ist im SGB V nach §92, Abs. 1, Satz 2, Nr. 7 – Arbeitsunfähigkeitsrichtlinien – festgelegt. Die letzte Fassung wurde im Bundesanzeiger Nr. 241 am 23.12.2006 veröffentlicht. Danach liegt Arbeitsunfähigkeit vor, wenn der Versicherte aufgrund von Krankheit seine zuletzt ausgeübte Tätigkeit nicht mehr, oder nur unter der Gefahr der Verschlimmerung der Erkrankung, ausführen kann. Bei der Beurteilung ist darauf abzustellen, welche Bedingungen die bisherige Tätigkeit konkret geprägt haben. Arbeitsunfähigkeit liegt auch vor, wenn aufgrund eines bestimmten Krankheitszustandes, der für sich alleine noch keine Arbeitsunfähigkeit bedingt, absehbar ist, dass aus der Ausübung der Tätigkeit für die Gesundheit oder die Gesundung abträgliche Folgen erwachsen, die Arbeitsunfähigkeit unmittelbar hervorrufen. Zwischen der Krankheit und der dadurch bedingten Unfähigkeit zur Fortsetzung der ausgeübten Tätigkeiten, muss ein kausaler Zusammenhang bestehen. Die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit setzt die Befragung des Versicherten durch den Arzt zur aktuell ausgeübten Tätigkeit und den damit verbundenen Anforderungen und Belastungen voraus. Die Arbeitsunfähigkeit muss ärztlich attestiert werden („Krankenschein“).

Pflichten des Arztes bei der Arbeitsunfähigkeitsbegutachtung Der Arzt muss den Patienten persönlich untersuchen und seinen Untersuchungsbefund dokumentieren. Es soll eine Therapieplanung ersichtlich sein, die Arbeitstätigkeit und die Leistungsanforderungen des spezifischen Arbeitsplatzes sind zu klären. Nach Linden (2005) halten 75 % der AU-Feststellungen „mit psychosozialer Problematik“ einer kritischen Prüfung nicht stand! In einer Studie von Hamer (1991) wurden 2000 Personen befragt. 30 % dieser Befragten erklärten, regelmäßig 5 bis 12 Tage pro Jahr krank zu feiern. Unter dem Stichwort „krank feiern“, können bei Google detaillierte Empfehlungen zur Täuschung des Arztes abgefragt werden.

ARBEITSUNFÄHIGKEIT BEI PSYCHISCHEN ERKRANKUNGEN

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Allerdings ist aufgrund der wirtschaftlichen Situation in den letzten Jahren der Krankenstand erheblich zurückgegangen und betrug im 1. Quartal 2009 nur noch 3,26 %. Bei der Arbeitsunfähigkeits-Häufigkeit nehmen psychische Störungen die vierte Stelle nach Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems ein. Bei der Arbeitsunfähigkeits-Dauer stehen sie mit 27,8 Tagen an der Spitze. Dabei ist die „depressive Episode“ die wichtigste Einzeldiagnose (3,1 %) nach den Rückenschmerzen (7,6 %) und nach akuten Atemwegserkrankungen (4,0 %). An zweiter Stelle der psychiatrischen Störungen und an neunter Stelle der Arbeitsunfähigkeitsdiagnosen überhaupt, stehen die „Anpassungsstörungen“ und „Belastungsreaktionen“. Frauen haben eine deutlich höhere Inzidenz für Arbeitsunfähigkeit durch psychische Störungen (affektive und neurotische Störungen). Männer haben dagegen eine deutlich längere Dauer der Arbeitsunfähigkeit. Es lässt sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen einer lang anhaltenden Arbeitsunfähigkeit (über sechs Monate) und der Frühberentung finden. Lange Arbeitsunfähigkeitszeiten führen zur sozialen Desintegration und zur Angst vor dem Arbeitsplatz. Die Abgrenzung der einzelnen Krankheitsbilder ist bei den psychischen Störungen deutlich schwerer als in der Somatik. Das führt dazu, dass die psychiatrischen Diagnosen oft nicht reliabel sind. Diese Tatsache wiederum führt dazu, dass es im Einzelfall schwer wird, den 78 Wochen-Zeitraum bis zur sogenannten „Aussteuerung“ abgrenzen zu können. Denn dabei spielt die Frage, ob es sich im gesamten Zeitraum der Arbeitsunfähigkeit um dasselbe Krankheitsbild gehandelt hat, eine wesentliche Rolle. Bei den depressiven Störungen können z. B. in den Folge-AU-Schreibungen vier verschiedene Diagnosen von depressiven Störungen auftauchen, die schwer zu differenzieren sind: • Anpassungsstörung, verlängerte depressive Reaktion (F 43.21) • mittelschwere depressive Episode (F 32.1) • Dysthymia (F 34.1) • (depressive) ängstliche Persönlichkeitsstörung (F 60.6).

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Begutachtung der Erwerbsminderung Es handelt sich dabei um eine sogenannte „finale“ Begutachtung, bei der es um die Feststellung von Schäden ohne Betrachtung der Ursache geht. Allgemeine Qualitätskriterien sozialmedizinischer Gutachten sind Plausibilität und Schlüssigkeit, Nachvollziehbarkeit und Neutralität. Es kommt vor allem darauf an, eine genaue biographische Anamnese mit detaillierter Arbeitsanamnese zu erheben. Die Freizeitaktivitäten, der Tagesablauf und die Behandlungsfrequenzen des zu Begutachtenden sind sorgfältig zu erheben. Diskrepanzen zwischen den subjektiven Angaben der Probanden und den Untersuchungsbefunden sollten herausgearbeitet werden. Subjektive Angaben über die Befindlichkeit sind kein psychischer Befund! Neben der Diagnosestellung ist die Einschätzung des Schweregrades der Funktionsstörungen durch die konkrete Erkrankung wichtig. Dabei reichen die Vorgaben der ICD-10 (z. B. Haupt- und Zusatzsymptome bei depressiven Episoden) nicht aus. Neben dem psychopathologischen Querschnittsbild ist der Längsschnitt der Erkrankung, d. h. der Behandlungsverlauf, zu erfassen und zu bewerten. Weiterhin muss in die Gesamteinschätzung einfließen, ob bisher eine suffiziente Therapie ambulant und/oder stationär durchgeführt wurde. Grundsatz: Reha geht vor Rente! Bei der Rentenbegutachtung von Probanden mit einer Schmerzerkrankung sollte auf Diskrepanzen zwischen den Schmerzangaben und der Schmerzbehandlung geachtet werden, weiterhin auf das Freizeitverhalten („Wer Schmerzen bei der Arbeit hat, hat sie auch in seiner Freizeit.“) und auf die sogenannte „Indizienliste“ nach Widder. In dieser Liste werden wichtige Kriterien der Untersuchung und Anamneseerhebung aufgeführt, die im Rahmen der Begutachtung erarbeitet werden sollen, z. B. die Handbeschwielung, die Muskelausbildung, das Gangbild, die Schmerzmittelanamnese u. a. Bei den Probanden mit einer Schmerzkrankheit ist die Gesamteinschätzung danach auszurichten, ob die Schmerzen den Lebensablauf und die Lebensplanung bestimmt haben oder ob eine „bewusstseinsnahe“ Steuerbarkeit vorgelegen hat. Kriterien für eine ungünstige Prognose (Foerster 1992, 2007): 1. 2. 3. 4.

Auffällige praemorbide Persönlichkeit Psychiatrische Komorbidität Chronische körperliche Begleiterkrankung Verlust der sozialen Integration

ARBEITSUNFÄHIGKEIT BEI PSYCHISCHEN ERKRANKUNGEN

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5. hoher primärer und sekundärer Krankheitsgewinn 6. primär chronifizierter Verlauf ohne Remission 7. mehrjährige Krankheitsdauer, unbefriedigende ambulante und/oder stationäre Behandlungsergebnisse Sind diese Fragen zu bejahen und liegt eine erhebliche Störung vor, so kann mit der Wiederherstellung der beruflichen Leistungsfähigkeit kaum gerechnet werden. In diesem Zusammenhang wird immer wieder der Begriff der „zumutbaren Willensanspannung“ der aus dem Urteil des Bundessozialgerichtes vom 01.07.1964 (BSGE 21, 189) stammt, aufgeführt. Gemeint ist damit, dass der Versicherte durch eine zumutbare Willensanspannung, d. h. aus eigener Kraft, seine Krankheit in ca. 6 Monaten überwinden kann. Sind die prognostischen Kriterien von Foerster insgesamt ungünstig, dann kann davon ausgegangen werden, dass eine „zumutbare Willensanspannung“ für den Versicherten nicht mehr zu einer Leistungsverbesserung führen kann.

Gesetzliche Definition der Erwerbsminderung Seit der Rentenreform 2000 sind einige wesentliche Änderungen für die sozialmedizinische Begutachtung eingetreten. Seit dem 01.01.2001 gibt es nicht mehr die Begriffe „Erwerbsunfähigkeit, Berufsunfähigkeit“, sondern nur noch den Begriff der „Erwerbsminderung“. Es muss die volle oder teilweise Erwerbsminderung festgestellt werden. Dann werden Renten grundsätzlich auf Zeit, d. h. befristet auf drei Jahre, gezahlt. Eine zeitlich unbefristete Rentenzahlung erfolgt nur dann, wenn unwahrscheinlich ist, dass die Erwerbsminderung nach neun Jahren behoben ist. Für die teilweise Erwerbsminderung wird vorausgesetzt, dass der Versicherte das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet hat und dass er in den letzten fünf Jahren drei Jahre Pflichtbeiträge eingezahlt hat. Die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren muss erfüllt sein. Der Gutachter hat festzustellen, dass der Versicherte keine sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann. Dieser ist bei Feststellung dieser Tatsachen berechtigt, eine Rente in halber Höhe der Vollrente zu beziehen. Die volle Erwerbsminderung hat zunächst die gleichen formalen Voraussetzungen, aber der Versicherte kann nicht mehr als drei Stunden auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erwerbstätig sein. Versicherte, die nach der alten Regelung berufsunfähig sind, erhalten ebenfalls eine teilweise Erwerbsminderung zugesprochen. Ausgenommen sind

VÖLKER

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Versicherte, die vor dem 02.01.1961 geboren wurden, d. h. Versicherte, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Rentenreform bereits 40 Jahre alt waren. Berufsunfähig ist ein Versicherter, der seine Erwerbsfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen gegenüber einer Vergleichsperson mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen bzw. Fähigkeiten, auf weniger als sechs Stunden ausüben kann. Die Berufsunfähigkeit gibt es noch bei privaten Versicherungen als Zusatzversicherung. Sie liegt dann vor, wenn der Versicherte seinen Beruf oder die zuletzt ausgeübte Tätigkeit wegen Krankheit, Körperverletzung, Kräfteverfall, nicht mehr ausüben kann. Die Leistungsfähigkeit ist dann unter 50 % gefallen und der Zustand muss über sechs Monate angedauert haben. Die Kriterien der Berufsunfähigkeit sind bei den Privatversicherern enger gefasst als die der Erwerbsminderung. Andererseits kann der Berufsunfähige weiter in einem anderen Arbeitsverhältnis tätig werden, obwohl er die ihm zustehenden Versicherungsleistungen erhält.

Soziales Entschädigungsrecht und Schwerbehindertenrecht Auch im Schwerbehindertenrecht muss der Schaden unabhängig von seiner Ursache festgestellt werden. Hierbei geht es nicht um die Funktionsbeeinträchtigungen in der beruflichen Leistungsfähigkeit, sondern um die Teilhabe der Betroffenen am gesellschaftlichen Leben. Die Voraussetzungen für eine solche Entschädigung sind in den „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2, SGB IX)“ festgelegt. Die Funktionsbeeinträchtigungen im Schwerbehindertenrecht, die früher als „Minderung der Erwerbsfähigkeit“ bezeichnet wurden, werden nach den neuen Richtlinien als „Grad der Schädigungsfolgen“ bezeichnet. In den Anhaltspunkten finden sich umfangreiche Tabellen zur Einstufung der Schädigungen. Nach dem Grad der Schädigungsfolgen wird der Grad der Behinderung (keine Prozentzahl!) ermittelt. Der Grad der Behinderung ist für eine Rentenleistung nicht maßgebend, da er einen anderen Bezugsrahmen hat.

ARBEITSUNFÄHIGKEIT BEI PSYCHISCHEN ERKRANKUNGEN

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Literatur Foerster K. (1992): Psychiatrische Begutachtung im Sozialrecht. Nervenarzt; 63: 129-136 Foerster K. (1998): Zur Beurteilung der zumutbaren Willensanspannung bei der sozialrechtlichen Begutachtung. In: Gaebel W., Falkai P. (Hrsg.) Zwischen Spezialisierung und Integration – Perspektiven der Psychiatrie und Psychotherapie. Springer; 142-146 Foerster K. (2007): Psychiatrische Begutachtung der Erwerbs(un)fähigkeit bei depressiven Störungen. Med Sach; 103: 48-51 Hamer E. (2000): Angaben über Resultate von dessen Studie. Der Spiegel 1991; 40-65 (Zit. aus Zeller) Hausotter W. (2002): Begutachtung somatoformer und funktioneller Störungen. Urban & Fischer, München, Jena Linden M. Weidner C. (2005): Arbeitsunfähigkeit bei psychischen Störungen. Nervenarzt; 76: 1421-1431 Suchenwirth R.M.A., Ritter G., Widder B. (1997): Neurologische Begutachtung bei inadäquaten Befunden. G. Fischer Ulm Stuttgart Jena Lübeck Widder B., Dertwinkel R. et al. (2007): Leitlinie für die Begutachtung von Schmerzen. Psychotherapeut; 5: 334-346 Zeller E. (2008): Ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen in der Sackgasse? – Ein Aufruf zur ärztlichen Besinnung auf Sachlichkeit. Med Sach;104:187-194

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Grundlagen der forensischen Psychotherapie* Zusammenfassung Entsprechend der Diagnosen- und Delikt-Struktur der Patienten spielen kombinierte psychotherapeutische, pharmakotherapeutische, arbeitstherapeutische, sporttherapeutische und sozial-rehabilitative Ansätze heute in der forensischen Psychotherapie eine wichtige Rolle. Im Unterschied zur Allgemeinpsychiatrie ist ein aktives Umgehen mit den gravierenden Anlassund möglicherweise weiteren Delikten gefordert. Ferner müssen die Multimorbidität und die besondere soziale Randständigkeit der forensischen Klientel berücksichtigt werden. Dies schränkt eine eins-zu-eins Umsetzung von manualisierten Tätertherapien aus dem Justizvollzug stark ein und erfordert eine Auseinandersetzung mit psychoanalytischen und kognitivbehavioralen Konzepten. Wesentliche Grundlagen sind Deliktbezogenheit, Arbeit mit erlittenen wie anderen zugefügten Traumatisierungen und eine Identifikation der Therapeuten sowohl mit der Subjektivität der Täter wie derjenigen der Partner und Opfer. Strafe- und Rache-Phantasien sollten analysiert werden. Supervisionen sind in der forensischen Psychotherapie unabdingbar. Der Beitrag zeigt, wie stark sich aktuelle kognitiv-behaviorale Konzepte auf lange bekannte psychoanalytische Ansätze stützen. Der Verhaltenstherapie mit multimodalen Ansätzen verdanken wir in den letzten Jahren empirisch gesicherte Befunde darüber, dass und was in der forensischen Therapie wirkt (z. B. MÜLLER-ISBERNER und GRETENKORD 2002). Die psychoanalytische Beschäftigung mit straffällig gewordenen Patienten hat eine lange Tradition und vermittelt Handlungsempfehlungen für alle Berufsgruppen. Mit ihrer Betonung der Einmaligkeit jeder biographischen Entwicklung und der Sinngebung auch pathologischer Prozesse wirkt sie einer einseitig strafenden Haltung entgegen, die durch Ausschließung Grenzüberschreitungen sowohl bei potentiellen Tätern als auch bei Täter überwachenden Gruppen wie Justizbeamten und Therapeuten fördert. Die * Wir danken dem Schulthess Verlag, Zürich für die freundliche Abdruckgenehmigung. Dieser Beitrag erschien erstmals in "Psychiatrie und Recht", 2005, S. 171-197 (herausgegeben von Ebner, G., Dittmann, V., Hoffmann, K., Raggenbass, R.).

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gruppenanalytisch geprägte therapeutische Gemeinschaft vereinigt soziologische wie psychoanalytische Methoden und Befunde. Sie entstand in Großbritannien und Frankreich und analysiert die individuellen ebenso wie die gesellschaftlichen Ebenen psychischen Erlebens und Scheiterns. In Straf- wie Maßregelvollzugseinrichtungen findet sie immer mehr Anwendung, ihre Ergebnisse werden zunehmend empirisch evaluiert (CULLEN et al. 1997).

I. Deliktbezogenheit Kennzeichnend für die forensische Psychotherapie ist die Untersuchung des Deliktes des Patienten in dessen kulturellen, gesellschaftlichen und individuellen Konstellationen. In dieser zentralen Bewertung der grenzüberschreitenden Handlung, die in nicht-forensischen Psychotherapien fast regelmäßig thematisiert und durchgearbeitet wird, liegt das Spezifikum forensischer Psychotherapie. Das bedeutet nicht, dass die Therapeuten in der Behandlung ständig auf das Delikt zu sprechen kommen, sondern dass sie bei Symptomentwicklung oder destruktiven Handlungen der Patienten im Alltag die Verbindung zur Delinquenz aufgreifen. Ziel ist, dass der Patient den realen und symbolischen Hintergrund seiner grenzüberschreitenden Handlung entdeckt und konstruktive alternative Konfliktlösungskompetenzen im zwischenmenschlichen Austausch realisiert. Jedes Delikt stellt auch für den Täter eine Zäsur, nicht selten auch ein Trauma dar, das seinen weiteren Lebensweg wesentlich bestimmt. Dies ist nicht immer leicht zu vermitteln, unterstellt man doch Tätern oft eine Lust bei Begehung der Tat, nicht die tatsächlich vorhandenen ungebremsten aggressiven Impulse (PFÄFFLIN 1997a). Forensische Psychotherapie setzt daher geschulte Selbsterfahrung und Arbeit mit der Gegenübertragung bei Therapeuten und Pflegenden voraus, die immer wieder ihre Scham- und Schuldgefühle wegen ihrer eigenen Aggressivität in Täterbehandlungen verleugnen und auf die Patienten projektiv zurückwenden. Die konkrete therapeutische Realität wird von allen gestaltet (ERMANN 1996). Über die Gestaltung deliktnaher Situationen und Phantasien in der therapeutischen Beziehung kann es dem Patienten möglich werden, Verdrängungen, Spaltungen und Amnesien aufzudecken und so die Wiederholungsgefahr zu reduzieren oder zumindest zu klären. Destruktivität ist häufig eine pervertierte Form der Erotik (STOLLER 1975), die nur in tragenden Beziehungen offensiv angesprochen werden kann, da die Inhalte schambesetzt sind und häufig mit frühen narzisstischen Kränkungserlebnissen zusammenhängen. In einer Erhebung aus dem britischen Straf-

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vollzug erinnerten sich etwa die Hälfte der nicht therapierten Mörder und anderer schwerer Gewalttäter nicht mehr an ihr Delikt (CORDESS und WILLIAMS 1996).

II. Arbeit mit Traumatisierungen Delikte sind aktiv zugeführte Traumatisierungen, häufig als Reinszenierungen erlittener Traumatisierungen in Umkehr der Täter-Opfer- Beziehung. Zur forensischen Psychotherapie gehört somit die aktive Auseinandersetzung mit erlittenen wie zugefügten Traumatisierungen in Vergangenheit und Gegenwart. Die entsprechenden Aussagen der frühen Psychoanalytiker Abraham und Ferenczi werden in der heutigen traumatologischen Forschung bestätigt (REDDEMANN und SACHSSE 2000): Häufige, wiederholte, länger dauernde, demütigende körperliche Misshandlung in Kombination mit emotionaler Vernachlässigung ist der ätiologisch wichtigste Faktor für Dissozialität und die Entwicklung der Antisozialen Persönlichkeitsstörung. Wesentlich ist in der Therapie eine klare Position aller Behandler wie auch der verantwortlichen Institutionen. Einerseits ist eine wohlwollende Haltung gegenüber den psychisch kranken Tätern unerlässlich, andererseits muss eine ebenso klare Distanzierung von Übergriffigkeit, Grenzüberschreitungen und Gewalt im Stationsmilieu und in den therapeutischen und pflegerischen Begegnungen erfolgen. Nur so kann eine «korrektive emotionale Erfahrung» (ALEXANDER und FRENCH 1946) im Patienten eine «umwandelnde Verinnerlichung» (KOHUT 1984) ermöglichen, die letztlich die Voraussetzung dafür darstellt, dass die psychische Situation, die zu erneuten Delikten führen würde oder könnte, relativiert wird. Hilfreich ist hierbei die von RACKER (2002) vorgeschlagene Differenzierung zwischen konkordanten, eher mit dem Patienten und seiner Subjektivität identifizierten Gegenübertragungen und komplementären Gegenübertragungen, die sich mit den Partnern und Opfern des Patienten und deren Subjektivität identifizieren. Beides in ihrem Wechsel zu realisieren, ist für Mitarbeiter in der forensischen Psychotherapie entscheidend. Dass dies ein aktives Vorgehen impliziert, wie es schulenübergreifend für forensische Psychotherapien gefordert wird (NEDOPIL 2000), liegt auf der Hand.

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III. Voraussetzungen für eine therapeutische Haltung Antisoziales Verhalten schreit in den Worten des englischen Psychoanalytikers WINNICOTT nach Beziehung, nach Nicht-Vernichtet-Werden: «Das Subjekt sagt gewissermaßen zum Objekt: ‚Ich habe dich zerstört‘, und das Objekt nimmt diese Aussage an. Von nun an sagt das Subjekt: ‚Hallo, Objekt! Ich habe dich zerstört! Ich liebe dich! Du bist für mich wertvoll, weil du überlebt hast, obwohl ich dich zerstört habe!‘» (AUCHTER 2000: 37). Es geht um ein ständiges Überprüfen, ob die Therapeuten und Pflegenden die fremd- und selbstdestruktiven Kräfte aushalten können. SCHORSCH und BECKER (2000) plädieren für ein psycho-dynamisches Verständnis sadistischer Handlungen, in dem weniger die perverse Lustbefriedigung als vielmehr die mit den sadistischen Handlungen verbundene Machtausübung im Mittelpunkt steht. Die Darstellung der Entstehung des Sadismus aus trieb-, ich- und selbstpsychologischer Sicht führt notwendigerweise dazu, in der forensischen Psychotherapie bei diesen Patienten die Liebesfähigkeit zu fördern. In der Alltagspraxis würden durch Verwahrung und Einschließung sadistische Haltungen begünstigt, wenn nicht sogar ausgelöst. Bei der offenen, im Setting aber konsequent und streng durchgeführten Behandlung sollten auch reale Begegnungen mit potentiellen Partnerinnen und Partnern möglich sein. Die Dynamik von Macht und Unterdrückung zwischen Patienten sowie zwischen Patienten und Mitarbeitern im Alltag stellt wichtige Anknüpfungspunkte für die Therapie dar: Was muss ich wem gegenüber verheimlichen, was muss ich wem gegenüber aushandeln, ohne es zuvor symbolisieren zu können oder zu wollen? Allmacht und Ohnmacht liegen ganz nah beieinander, erotischer Genuss ohne das Gefühl der Übermacht zur Kompensation der Unterlegenheit ist nur in langen intensiven Prozessen zu vermitteln. Ähnlich wie bei psychosomatisch Kranken (pensé opératoire) steht bei den dissozial Beeinträchtigten die Uneinsichtigkeit in die affektive Veränderung im Zentrum. Rein pädagogische Konzepte müssen sich fragen lassen, ob sie nicht in der Therapie die Innenwelt dieser Patienten ausschließen. Deren innere Verzweiflung führt zur Gestaltung unerträglicher Beziehungen, somit wird Verständnis verhindert. Es können inhumane Behandlungen folgen, da die Subjektivität der Patienten ignoriert wird, was auch die Art und Weise widerspiegelt, wie der Therapeut vom Patienten behandelt wird. Erfolgreiche Psychotherapie mit Dissozialen ist empathisch verstehend, aber nicht kritiklos. Man kann den pathologischen Stil der Patienten direkt aufgreifen und dessen Erfolglosigkeit für die langfristige innerpsychische Stabilität aufzeigen. Sie sollen aber auch ihre guten Seiten sehen können, zumal

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viele kaum realistische nicht strafende Rückmeldungen in ihrem Leben erhielten (STRASBURGER 1986). Therapeuten sollten nicht anti-autoritär sein, da dies ausgebeutet wird, auch sollten sie ihre Angst offen mitteilen «Man sollte die Fähigkeit zeigen, innerpsychisch auszuhalten, was der Patient nicht aushalten kann. Dies ist ein Modell für Identifizierung» (STRASBURGER 1986: 194). GIOVACCHINI (1972) betonte, wie wichtig Ehrlichkeit des Therapeuten gerade bei unehrlichen Patienten ist. Eine genaue Realitätsprüfung nimmt nicht nur den Patienten ernst, sondern die therapeutische Situation insgesamt, sie verweist darauf, dass der Therapeut keine irrationale Angst vor offenen Fragen hat. Therapiebedürftigkeit, Therapiefähigkeit und Therapiemotivation stellen Patienten- ebenso wie Therapeutenund Setting-Variablen dar (DAHLE 1998). Diese Haltung ist grundverschieden von Straf- und Rachewünschen in der Gesellschaft, aber auch in vielen Straftätern selbst, die in dem Teufelskreis zwischen zu strengem Über-Ich und Zwang, diese Fesseln zu durchbrechen, verhaftet sind, und viel zu wenig Ich-Stärke erreicht haben. Die intensive Durcharbeitung dieser Straf- und Rache-Phantasien ist andererseits vor allem für persönlichkeitsgestörte Straftäter entscheidend, da Sinngebung und Lustgewinn oft auf den «Kick» der gelungenen Ausbeutung anderer beschränkt sind – ein gesellschaftlich übrigens sanktioniertes Verhalten, solange es nicht zu relevanten Straftaten führt. In der forensischen Psychotherapie geht es ständig darum, durch innere destruktive Impulse verursachte Übergriffe in der Außenwelt konstruktiv zu bearbeiten. Hierbei sind äußere Schutzmaßnahmen immer wieder nötig, wirken aber per se sowohl für die Patienten als auch für die Mitarbeiter eher traumatisierend als schützend. Aus der forensischen Praxis ist lange bekannt, dass in Zeiten, in denen eine Einrichtung beispielsweise nach Zwischenfällen hermetisch abgeschlossen wird, der Innendruck erheblich hochschnellt und eine massive Verstärkung des therapeutischen Personals erfordert. Lockerungen und die Hoffnung auf Heilung und Entlassung sind wesentliche Bestandteile forensischer Psychotherapie (PFÄFFLIN 1997). «Jenseits der von vielen als schwierig und ideologisch überladen empfundenen psychoanalytischen Terminologie und Theorie liegen darum in diesem Ansatz grundsätzlich Chancen, ein besseres Verständnis von Delinquenz und Kriminalität zu erreichen» (EGG 2003: 46).

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IV. Ergebnisse der empirischen forensischen Psychotherapieforschung Die Frage: Was wirkt in Richtung Besserung bei psychisch kranken und gesunden Straftätern? findet mehr empirisch abgestützte Antworten als vor zwanzig Jahren. Insbesondere ist die von MARTINSON 1974 formulierte Resignation überholt, dass sowieso nichts helfe. Die universitäre Psychotherapie klammerte bis vor kurzen zwar forensische Fragestellungen weitgehend aus: In dem Standardwerk «Handbook of Psychotherapy and Behavior Change», das von 1971 und 1994 in vier Auflagen erschien, finden sich erst in der von LAMBERT 2004 herausgegebenen fünften Auflage Hinweise auf Psychotherapie im forensischen Setting, und zwar nur bei Kindern und Jugendlichen (KAZDIN 2004). Dasselbe gilt für die Zusammenfassung empirischer Psychotherapieforschung von GRAWE et al. (1994). Der Sammelband von LEUZINGER-BOHLEBER und STUHR (1997) über Methoden, Ergebnisse und Perspektiven der neueren Katamneseforschung psychoanalytischer Therapien enthält keine forensischen Behandlungen, ebenso wenig die ausführlichen neueren Katamneseforschungen zu psychoanalytischen Behandlungen (LEUZINGER-BOHLEBER et al. 2001, SANDELL et al. 1999, 2001, RUFF und LEIKERT 2003). Auf der anderen Seite liegen aus der Kriminologie inzwischen weltweit über 600 Evaluationsstudien zur Straftäterbehandlung vor, die zumindest einige methodische Kontrollen enthalten, allerdings handelt es sich überwiegend um Behandlungen von Jugendlichen und nicht von psychisch Kranken. Alle mittleren Effektstärken sind positiv. Dies spricht gegen das Schlagwort «Nothing works». Die Stärke der Effekte liegt im Durchschnitt bei 0,10, erreicht aber in einzelnen manualisierten Settings 0,30, das heißt die Rückfallrate liegt um 10 bis 30 % unter derjenigen ohne Behandlung. Bemerkenswert ist, dass Behandlungen von erwachsenen Tätern ähnlich wirksam sind wie bei Jugendlichen: 23 angloamerikanische EvaluationsStudien zur Behandlung erwachsener Straftäter ergaben eine Effektstärke von .12, 25 entsprechende europäische von .14 (PFÄFFLIN 2000, 2001). Dies widerspricht eindeutig dem verbreiteten Vorurteil, dass sich bei verfestigten Dissozialitätsproblemen keine Besserungen mehr erreichen lassen. Folgende klinische Konsequenzen der Therapieforschung (BERNER 1998, DAHLE 1994, KAZDIN 2004, MÜLLER-ISBERNER 2002, STELLER 1994) sind heute weitgehend unbestritten: Angemessene Straftäterbehandlung ist klienten- und nicht therapeutenorientiert, nimmt die Ergebnisse der Psychologie kriminellen Verhaltens (ANDREWS und BONTA 1994) ernst, was nur

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unter Einbezug der Beschäftigung mit der subjektiven Bedeutung von Delinquenz möglich ist. Folgende empirisch validierte Mindeststandards wurden formuliert (LÖSEL 1998, MÜLLER-ISBERNER 1998, 2002, SHUKER 2004), die im Übrigen dem psychoanalytischen Zugang in keiner Weise widersprechen: • Risikoprinzip – die Therapie muss sich am Grad der Gefährlichkeit des Patienten orientieren. Je höher das Deliktrisiko, umso intensiver sollte die Behandlung sein; • Bedüfnisprinzip – die Therapie muss sich auf die kriminogenen Bedürfnisse des Patienten konzentrieren. Ohne Reflexion der Gegenübertragung ist dies sehr schwierig, da diese Wünsche meist im zwischenmenschlichen Kontakt und den damit verbundenen Phantasien entstehen. Diese Bedürfnisse nach Grenzüberschreitung sind stets sehr indlividuell in der Lebensgeschichte begründet, oft scham- und schuldbesetzt. Spezifische Behandlung ist auf diese Biographie und weniger auf unspezifische theoretische Konzepte bezogen; • Ansprechbarkeitsprinzip – die Therapie muss ausgerichtet sein auf die Fähigkeiten der Täter, auf deren kognitive Struktur und deren Lerngewohnheiten. Da in diesen Studien multimodale Ansätze aus der kognitiv-behavioralen Therapieschule eingesetzt wurden, wurde verschiedentlich behauptet (z. B. EUCKER 1998, MÜLLER-ISBERNER 1998, 1998a, 2002), nur die kognitiv behaviorale Verhaltenstherapie sei bei Delinquenten wirksam. Unberücksichtigt blieb dabei die Tatsache, dass auch tiefenpsychologische, vor allem gruppenanalytische Ansätze wesentliche Bestandteile dieser Grundlagen seit langem verwirklichen. Diese Behandlungsteilziele nur der kognitivbehavioralen Psychotherapie zuzuordnen und der analytisch orientierten Psychotherapie abzusprechen, kann wohl nur «dem (geschickten und durchdachten, aber ignorant-vatermörderischen) Einverleiben psychoanalytischer Konzepte durch die Verhaltenstherapie und der nach wie vor weit verbreiteten Skepsis der Psychoanalytikerlnnen gegenüber empirischquantitativer Forschung» (ALBANI et al. 2003: 398) zugeschrieben werden. Psychotherapeutische Teilziele in der empirisch evaluierten Straftäterbehandlung sind Selbstkontrolle, Meta-Kognitionen, Verbesserung sozialer Fähigkeiten, Verbesserung interpersonaler Problemlösungsfähigkeiten, Erlernen kreativen Denkens, Förderung kritischen Denkens, Lernen, die soziale Perspektive zu übernehmen, Entwicklung von Werten, Emotionsregulation, Förderung der Empathie mit dem Opfer, Complianceverbesserung, Sucht-

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mittelkontrolle sowie die Beherrschung devianter Sexualität. Alle diese Teilziele lassen sich problemlos in psychoanalytische Terminologie übersetzen: Deviante Sexualität beherrschen – Triebsublimation Complianceverbesserung – therapeutische Beziehung Emotionsregulation – Ich-Stärkung, Impulskontrolle Kreatives Denken – Symbolisierungsfähigkeit Kritisches Denken – Auflösung von Projektionen Problemlösungsfähigkeit – Auflösung des Wiederholungszwangs Selbstkontrolle – Autonomie. Nur im trivialen Missverständnis von Psychoanalyse und Psychodynamik konzentriert sich die psychodynamische Behandlung auf ungelöste frühkindliche Konflikte. Sie findet im Hier und Jetzt statt, wobei nicht nur das Gesagte, sondern auch das Verschwiegene, das aktuelle unbewusste Erleben eine wichtige Rolle spielt. Dies zeigt sich im Verhalten, in Übertragungen auf den Therapeuten oder auf Mitpatienten, oder es manifestiert sich im Erleben dieser anderen in Form von Gegenübertragungen auf den Patienten, die Rückschlüsse auf das abgewehrte Erleben des Patienten zulassen und bezüglich ihrer Richtigkeit im Gespräch mit dem Patienten überprüft werden können (PFÄFFLIN 2000). In der aktuellen Diskussion wird bestritten, inwiefern die Verhaltenstherapie überhaupt ein neues wissenschaftliches Konzept darstellt, zumal sie gerade in der forensischen Psychotherapie mittlerweile die Beziehung zwischen Patient und Therapeut einschließlich Übertragung und Gegenübertragung ganz in den Vordergrund stellt (JONES 2004). Die frühen Aversionsbehandlungen, die nicht nur ethisch höchst problematisch waren, sondern sich auch in ihrer langfristigen Wirkung als nicht günstig erwiesen, wurden durch multimodale Ansätze abgelöst (EUCKER 2002). Diese operationalisierten Beziehungsprozesse nahmen wesentliche psychodynamische Befunde auf (PFÄFFLIN 2001). LÖSELS (1998: 44) Feststellung: «Wahrscheinlich bedeutsamer sind jedoch die Einstellung, Motivation und Kompetenz des Personals oder das Organisationsklima und die Kooperation mit anderen Einrichtungen» zeigt, dass die aktuelle empirische Forschung psychoanalytische und soziologische Befunde nicht explizit benennt, aber mittlerweile implizit anerkennt. Was beispielsweise KRÖGER (1997) und EUCKER (2002a) über ihre forensische Behandlung von Sexualdelinquenten aus verhaltenstherapeutischer Sicht beschreiben, zeigt neben dem Zielen auf die Deliktszenen einen Umgang mit Affekten und Widerständen in der Lebensgeschichte, der keineswegs bei kognitiven Umstrukturierungen

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stehen bleibt, allerdings Übertragungs- und Gegenübertragungsdynamiken ausklammert und die Psychoanalyse einseitig als non-direktiv einstuft, somit die Entwicklung der auch klar mit Direktiven arbeitenden Psychoanalyse mit psychotischen und persönlichkeitsgestörten Patienten gar nicht zur Kenntnis nimmt. Unstrittig ist, dass sich die therapeutischen Techniken im Umgang mit Straftätern seit 1950 verbesserten, sowohl in der psychodynamischen als auch in der Verhaltenstherapie. Insbesondere wurde immer deutlicher, dass man alltagsrelevante Gefühle mit Verhalten im Hier und Jetzt verknüpfen und zum Gegenstand therapeutischer Interventionen machen muss, um die deliktrelevante Dynamik zu bearbeiten. Gesellschaftliche und kulturelle Dimensionen sind hierbei eingeschlossen. Der Erfolg in der Täterbehandlung besteht nicht darin, aus dem Täter einen völlig neuen Menschen zu machen, sondern in einer begrenzten Zeit mit begrenzten Mitteln zu erreichen, dass der Täter keine erneuten Straftaten begeht. Auch in der heutigen Verhaltenstherapie, nicht nur in der Psychoanalyse, ist ein Weg dabei, dem Täter die Entscheidungen, die letztlich zu dem Delikt geführt haben, bewusst zu machen und ihm zu zeigen, wie er diesen Entscheidungsprozess selbst mit Hilfe von anderen steuern kann. Dies wäre das Prinzip des «No Cure, but Controll, «Nicht Heilung, sondern hinreichende Selbstkontrolle» (KRÖBER 2001: 155). Die aktuelle Diskussion führt die Ergebnisse des verhaltenstherapeutischen und des psychoanalytischen Diskurses in eine multiprofessionelle Haltung zusammen. Nur insoweit die Konkurrenz verschiedener Zugänge die Wahrnehmung schärft und zur Verbesserung von Therapiemethoden und -ergebnissen führt, lohnt sich die Auseinandersetzung. Es gibt keine Methode, mit der allein alle (forensisch) psychotherapeutischen Aufgaben zu lösen wären. Deutlich zeigen sowohl die empirische Forschung als auch die kriminologischen Rückfallstatistiken (JEHLE et al. 2003) die bereits von KRAEPELIN 1880 formulierte Sinnlosigkeit einer Strafe ohne Therapie. Dies widerspricht der aktuellen politischen Tendenz vor allem in den USA und Großbritannien hin zu mehr Bestrafung und weniger Rehabilitation. 2003 kamen in Deutschland etwa 75 Häftlinge auf 100.000 der Bevölkerung; in den USA waren es 750, das heißt zehn mal so viele. In Institutionen erleiden Gefangene häufig Re-Traumatisierungen und sexuelle Ausbeutungen. Delinquenz wird als Lebensstil perpetuiert. Es entsteht ein Teufelskreis aus steigender Kriminalität und steigenden Kosten für die Sicherheits-Institutionen. Für die USA zeigten CHRISTIE (1993) und GILLIGAN (1996), wie die Strafrechtspflege mittlerweile eine Gewalt perpetuierende Kontrolle der verarmten Schwarzen wurde. Diese Bevölkerungsgruppe ist im Prozentbereich inhaftiert.

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V. Multiprofessionelle Behandlung in der forensischen Psychiatrie und Psychotherapie — Therapeutische Gemeinschaft mit gruppenanalytischer Grundlage In der Einführung zu einer Monographie über therapeutische Gemeinschaften für Rechtsbrecher betonten MCMURRAN und HOLLIN 1997, dass nach der Ära der Bestrafungen in den 1970er und 1980er Jahren in den 1990rn wieder rehabilitative Ansätze in der Täterbehandlung gefordert sind, deutlich unterstützt durch empirische Belege ihrer Wirkung. Hier sehen sie den Ort für therapeutische Gemeinschaften, die in der US-amerikanischen Drogentherapie als strafrechtliche Auflage verbreitet und in ihren Erfolgen gut evaluiert sind, vor allem wenn eine strukturierte therapeutische Gemeinschaft innerhalb des Gefängnisses mit einer solchen nach der Entlassung kombiniert ist. Dies entspricht der Aussage KERNBERGS (2000: 226) aus psychoanalytischer Sicht «Schwere Charakterpathologien, Borderline-Persönlichkeitsorganisation, Patienten mit starken, chronischen regressiven Tendenzen, die zwar nicht psychotisch sind, aber keinen psychotherapeutischen Prozess auf ambulanter Grundlage durchhalten könnten, sind für die Behandlung in der therapeutischen Gemeinschaft ideal geeignet. Es ist ungemein vorteilhaft, wenn spezialisierte Dienste, die solche Patienten behandeln, mit therapeutischen Gemeinschaftsmodellen arbeiten». Aus kriminologischer Sicht sind die wechselseitigen Einflüsse zwischen institutionellen Voraussetzungen, der Organisationsstruktur von Anstalten, der fachlichen Qualifikation und dem beruflichen Selbstverständnis von Funktionsträgern mit den Behandlungsmöglichkeiten und -erfolgen ebenso unstrittig wie die engen Zusammenhänge zwischen dem methodischen Behandlungsinventar auf der einen und den persönlichen Voraussetzungen der Delinquenten auf der anderen Seite. Die für wissenschaftliche Analysen notwendige Isolierung von Teilbereichen muss immer vor dem Hintergrund ihrer wechselseitigen Verflechtung gesehen werden. Das «natürliche Experiment» ist im stationären Setting stets multiprofessionell. Die therapeutische Gemeinschaft macht dies zum Thema und zur Methode. Die Frage lautet heute: «What works how with whom under which conditions?» (STELLER 1994: 10).

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A. Historische Entwicklung der therapeutischen Gemeinschaft Schwing, die erste Krankenschwester, die auch Psychoanalytikerin wurde, beschrieb bereits 1940 die sinnvolle Verbindung zwischen einer psychoanalytischen Behandlung und einer parallelen intensiven Pflege. Es handelt sich um die erste Darstellung eines therapeutischen Paares, der Analytiker war mit Federn ein Mann, Schwing als Krankenschwester eine Frau (HOFFMANN 2004). Fünfzehn Jahre später zeigten STANTON und SCHWARTZ (1954) in einer soziologischen Studie in dem Sanatorium Chestnut Lodge bei Washington, D.C., das damals von Fromm-Reichmann geleitet und in seiner Milieugestaltung stark von Sullivan geprägt wurde, wie deutlich sich Haltungen aller Mitarbeiter einer Klinik auf die Befindlichkeit der Patienten auswirken. Je selbstreflektierter und je bezogener auf die Gruppenprozesse die Mitarbeiter aller Berufsgruppen sind, desto deutlicher sind Besserungen bei den Patienten zu erzielen – und desto besser ist das Betriebsklima der Institution. Das Konzept der Therapeutischen Gemeinschaft wurde ab 1945 in England parallel von der Tavistock-Gruppe (MAIN, FOULKES, BION UND RICKMAN) in Northfield und von JONES im Maudsley Hospital entwickelt und impliziert eine aktive Einbeziehung von Gruppenpsychoanalyse und alltagsorientierter pflegerischer Arbeit in die stationäre Psychotherapie (HILPERT et al. 1981, WHITELEY 1996). MAIN prägte den Begriff 1946 und verband damit eine Kultur des Hinterfragens zwischenmenschlicher und innersubjektiver Probleme im Alltag. In regelmäßigen Supervisionen werden Aufgaben der Pflege mit psychotherapeutischen Haltungen und Techniken verknüpft. Dies fördert eine therapeutische Haltung der gesamten Gruppe, die mit den Patienten arbeitet, und bekämpft Spaltungen, die stärker berufspolitisch determiniert sind, als dass sie auf wirklicher Sorge um den Patienten beruhen. Über viele Jahre hin war die therapeutische Gemeinschaft im deutschsprachigen Raum stärker in der Ausprägung vertreten, wie sie von JONES (1968) mit lerntheoretischen Vorgaben in London entwickelt worden war. Dass JONES‘ englischer Titel «Beyond the therapeutic community» (JONES 1968) von Heim mit «Prinzipien der therapeutischen Gemeinschaft» (JONES 1976) übersetzt wurde, weist auf die Programmsetzung dieser Form der therapeutischen Gemeinschaft in den 1970er Jahren im deutschsprachigen Raum hin, obwohl in der von JONES begründeten Einrichtung, dem Henderson Hospital, mittlerweile ein gruppenanalytisches Konzept zum Tragen

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gekommen war. Der Schwerpunkt der Klientel liegt dort seit vielen Jahren bei schwer persönlichkeitsgestörten Straftätern (WHITELEY 1996). Von daher war die Feststellung des namhaften Psychoanalytikers und Sozialpsychiaters WINKLER 1985 nur für den deutschsprachigen Raum korrekt, dass nicht das ursprüngliche psychoanalytisch fundierte Konzept der therapeutischen Gemeinschaft zum Tragen kam, sondern das von JONES vertretene Konzept, das von vornherein ganz auf die Belange der Sozialpsychiatrie zugeschnitten war. Auch die neue Arbeit URBANIOKS (2000) aus dem Psychiatrisch/Psychologischen Dienst des Justizvollzugs im Kanton Zürich, die sich überwiegend mit Täterbehandlungen befasst, weist im Titel («Teamorientierte Stationäre Behandlung») dem Team einen stärkeren Platz zu als dem Patienten. Die referierten Beispiele entsprechen der «Culture of Inquiry» (Kultur des Fragens), wie sie in der analytisch orientierten therapeutischen Gemeinschaft wesentlich ist. Dasselbe gilt für die von URBANIOK genannten Prinzipien der Offenheit, Transparenz und Akzeptanz, allerdings nicht für das von ihm geforderte Prinzip der Einheitlichkeit. Im gruppenanalytischen Verständnis ist auch nicht das Team der Therapeut, sondern die Therapeuten und Pflegenden in ihren unterschiedlichen Funktionen. In ihrer historischen Bezugnahme auf die Gemeinsamkeiten zwischen der Gruppendynamik Lewins und der Psychoanalyse stellten ELROD et al. (1990) die Umsetzung der analytischen therapeutischen Gemeinschaft in der Kantonalen Psychiatrischen Klinik in Wil im schweizerischen Kanton Sankt Gallen seit 1964 dar.

B. Praxis der therapeutischen Gemeinschaft im Maßregelvollzug — am Beispiel der Abteilung Forensische Psychiatrie und Psychotherapie im Zentrum für Psychiatrie Reichenau Zentral bei der psychoanalytisch orientierten therapeutischen Gemeinschaft in der forensischen Psychotherapie ist die gruppenanalytische Annahme, dass demokratisch und funktional geleitete Gruppen Gesundheit, Sicherheit und eine akzeptierende Kultur schaffen können. Dies stellt einen radikalen Bruch, eine existentielle Paradoxie dar. Der Maßregelvollzug ist aufgezwungen, retraumatisiert Patienten, die andere traumatisierten und die häufig selbst traumatisiert wurden. Therapeutische Gemeinschaft repliziert nicht einfach die reine Konkurrenz- und Konsumkultur vieler Milieus, sondern stellt sich gesellschaftlichen und kulturellen Grenzerfahrungen. Der westliche Individualismus ist in kriminellen Subkulturen häufig übertrieben

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karikiert vorhanden, die therapeutische Gemeinschaft trägt einiges von der Kultur des Kommunalismus, quasi als Gegengift gegen den Zeitgeist. Die unterschiedlichen Niveaus von Ich-Reifung und Symbolisierung bei den Patienten bedingen unterschiedliche expressive und supportive Schwerpunkte in den Einzel- und Gruppentherapien. Die Einzelpsychotherapie sollte nicht für Diskussionen über Lockerungen missbraucht werden, sie dient der Entfaltung der Innenwelt des Patienten auch in ihren schambesetzten Anteilen. Sie bezieht nicht nur die Lebensgeschichte vor der Einweisung, sondern auch die gegenwärtigen Beziehungsmuster sowohl gegenüber dem Psychotherapeuten, vor allem auch gegenüber den Mitpatienten sowie den anderen Mitarbeitern der Abteilung, in ihre Deutungsarbeit ein. Immer wieder machten wir gute Erfahrungen mit der von FrommReichmann in Chestnut Lodge eingeführten Trennung von Psychotherapeut und «Administrator», wie sie auch im Cassel-Hospital in Richmond praktiziert wird. Die Sozialarbeiter beraten den Patienten vor allem in finanziellen Angelegenheiten sowie bei der Ausgliederung in Arbeit und Wohnen außerhalb der Einrichtung, sprechen sich engmaschig mit Psychotherapie und Pflege ab, vermeiden eher Deutungen und bleiben auf der Handlungsebene. Die Krankenschwestern und -pfleger gestalten den Stationsalltag mit den Patienten, die sehr zur Selbstständigkeit angeregt werden, beispielsweise durch Koch- und Haushaltstrainings, in der Gestaltung ihrer Zimmer wie auch der Gemeinschaftsräume, ferner arbeiten sie zunehmend psychotherapeutisch in der individuellen Bezugspflege, beziehen sowohl die vergangenen als auch die momentanen Interaktionsmuster des Patienten mit ein (CORMACK 1983). Wesentlich in der psychoanalytischen Tradition der therapeutischen Gemeinschaft sind die klar abgegrenzten Funktionen, das heißt, dass in den bisher genannten Begegnungen keine Entscheidungen über Vollzugsänderungen getroffen werden, sondern in einer Gruppenversammlung der Behandler in der Letztverantwortung des in dieser Gruppe anwesenden Abteilungsleiters. Zentral sind ferner Gruppentherapien, in denen die Patienten unter fachkundiger therapeutischer Leitung offen ihre Probleme ansprechen können, wobei auf den Psychotherapiestationen der forensischen Abteilung in Reichenau die Abteilungs- und Stationsleiter auch die Gruppentherapien leiten. Dies fördert eine gemeinsame Verbindlichkeit der Stationskultur, die sich auf alle Bereiche positiv auswirkt (HOFFMANN et al. 1999). An der Bezugspflege nimmt jede Krankenschwester, jeder Krankenpfleger, teil, einschließlich der Stationsleitung. Die psychotherapeutische Qualifikation der Pflege wird somit gestärkt und dem Trend zum patientenfernen Management entgegengewirkt. Häufig erlaubt die Karrierehierarchie in der

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Pflege Mitarbeitern schnell, den direkten Kontakt mit den Patienten zugunsten administrativer Pflichten zu reduzieren. Die jüngsten und unerfahrensten Mitarbeiter bleiben oft im engsten Kontakt mit den Patienten. Ähnlich wie im Cassel-Hospital in Richmond arbeiten wir mit dem therapeutischen Paar aus Therapeut und Bezugsschwester als zentralen Übertragungsfiguren, wobei darüber hinaus nicht nur der Abteilungsleiter, sondern auch die Justiz reale und damit auch für die Übertragung wichtige Objekte darstellen (HOFFMANN 2003). Um die innere Welt des Patienten voll und ganz zu verstehen, müssen diese verschiedenen abgespalteten und über die Institution verstreuten Übertragungen zusammengebracht werden. Diese komplizierte Funktion des Zusammenfügens muss zunächst in den Teammitgliedern und als gemeinsamer Prozess zwischen ihnen stattfinden. Nur dann kann der Patient beginnen, eine integrierte Sichtweise seiner selbst zu introjizieren (SKOGSTAD 2001). Der gruppenanalytische Ansatz betont im Sinne des Netzwerkes die Einbettung forensisch-psychotherapeutischen Arbeitens in die Matrix sowohl der gesamten Institution als auch der Justiz und der lokalen wie überregionalen Öffentlichkeit. Vor allem letztere erwartet optimale Sicherheit, eine Erwartung, die übrigens auch die meisten Patienten voneinander haben. Immer wieder kommt in forensischen Gruppenpsychotherapien zur Sprache, dass die Prinzipien der Gewaltfreiheit, der Alkohol- und Drogenabstinenz und des offenen Ansprechens relevanter Probleme dort besser durchgehalten werden als in der Gesellschaft «draußen». Dass forensische Patienten bei Beginn der extramuralen Unterbringung, das heißt des Lebens und Arbeitens außerhalb der Institution, aber noch in unserer Behandlung und Pflege, ihren Arbeitgebern und Vermietern im Beisein eines Mitarbeiters der Abteilung offen sagen, dass sie forensische Patienten sind, dient der allgemeinen Sicherheit viel mehr als das öffentliche Vermelden von Tätern in der Gemeinde, wie es in anderen Staaten praktiziert wird. Sowohl der Patient als auch die Umgebung haben ein Sicherheitsinteresse – und Sicherheit wächst mit gegenseitiger Akzeptanz. Ein Mensch, der sich total ausgeschlossen und angeprangert erlebt, ist ähnlich stark rückfallgefährdet wie ein Mensch, der vor seiner unmittelbaren Umgebung viel von seiner wesentlichen Lebensgestaltung verbergen muss. Wesentlich ist in diesem Konzept die kontinuierliche Fort- und Weiterbildung sowie die Supervision aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, um eine therapeutische Grundhaltung der gesamten Institution zu erreichen. Als besonders antitherapeutisch sah MAIN (1975) im traditionellen KrankenhausSetting die gegenseitigen projektiven Prozesse an, in denen Personal und

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Patienten es unbewusst voreinander brauchen, hilflos bzw. hilfreich zu sein und so in gewissem Ausmaß gegenseitige Schöpfungen werden. In einer solchen kollusiv-projektiven Situation werden Patienten daran gehindert, gesündere Aspekte ihrer selbst, die sie projiziert haben, zu reintegrieren und können sogar vorhandene Fähigkeiten aufgeben und weiter regredieren. Das Krankenhaus muss selbst eine «therapeutische Institution» werden (MAIN 1946). Dafür ist eine Gesamtkultur des Hinterfragens notwendig, in der alle Aspekte der Behandlung und alle Beziehungen (nicht nur die der Patienten, sondern auch der Angestellten) hinterfragt werden können. Dies bedeutetet einen erheblichen Schritt weiter gegenüber Konzepten, die zwar die Klinik als Gesamtbehandlungsraum, gewöhnlich aber nur rein patientenbezogen sehen (SKOGSTAD 2001). Die Ansätze der Gruppenanalyse und der therapeutischen Gemeinschaft beinhalten nicht nur keinen Widerspruch zwischen den Zielen der Therapie und der Sicherheit, sondern eine enge Verbindung zwischen beiden. Dies setzt forensische Einrichtungen voraus, die ein nach außen orientiertes psychotherapie-freundliches Sicherheitskonzept vertreten, mit einem grundlegend anderen Rahmen, als ihn eine nicht forensische psychotherapeutische Einrichtung schon aus juristischen Gründen bieten darf und kann. Wesentlich ist – wie zu MAIN‘S Zeiten – die Vernetzung mit den Klinikstrukturen wie mit der Öffentlichkeit und den herrschenden Menschenbildern. Ein wichtiger Beitrag der Psychoanalyse für die forensische Psychotherapie besteht darin, Abwehr und Verleugnungen bei den Therapeuten und in den Institutionen zu analysieren. Dies ist einerseits mühsam, andererseits mit Gratifikationen verbunden, wie sie RACAMIER vor dreißig Jahren aufgrund seiner Erfahrungen in der Psychothérapie institutionelle in Frankreich beschrieb: «... häufig ist der berufliche Einsatz in einer masochistischen und insgeheim aggressiven Passivität (der aggressiven Inkompetenz) eingemauert, was die Situation durchaus effektiv unterhält. Zunächst wird der Umgangsstil zwischen den Mitarbeitern umgewandelt, zugleich auch der mit den Patienten – wobei das eine mit dem anderen zusammenhängt» (RACAMIER 1970: 202). Als Folgen einer therapeutischen Gemeinschaft beschrieb RACAMIER seltenere direkte Aggressionen, seltenere Fluchten und Behandlungsabbrüche, aber mehr verbale Aggressionen, deutlich bessere Eigeninitiative und eine größere Frustrationstoleranz, somit eine deutliche Verringerung der Abwehr und der Widerstände. Die Gruppenanalyse ist in besonderer Weise geeignet, den geschützten Rahmen dafür anzubieten, durch aggressives Agieren eine korrigierende Erfahrung sozialer Grenzsetzungen herauszufordern. Manches, was unter anderem Blickwinkel als aggressiver Widerstand oder negative therapeutische Reaktion betrachtet

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wird, kann im Licht der frühen Depravation als hoffnungsvoller Kommunikationsversuch angesehen und dementsprechend behandelt werden (AUCHTER 2000). Die Ergebnisse der Gruppenanalyse entsprechen den kriminologischen Befunden über Erziehungsstile, die zur Dissozialität prädestinieren: Eine demokratische Erziehung ist besser als eine übermäßig behütende, eine gleichgültige, eine antiautoritäre oder eine inkonsistente (SCHWIND 2001). Eine solche Gestaltung forensischer Arbeit setzt entsprechende bauliche wie personelle Ausstattungen voraus. In Baden-Württemberg liefern sowohl die Richtlinien für bauliche Mindeststandards als auch die Psychiatrie-Personalverordnung Maßregelvollzug zumindest bisher aktuelle und angemessene Grundlagen. Räumlich sollten die Patienten in Ein- oder Zwei-BettZimmern wohnen. Ein Therapeut sollte für etwa 8 Patienten zuständig sein. Der Pflegerschlüssel sollte bei etwa einer Pflegekraft für 1,8 Patienten liegen.

C. Praxis der forensischen Psychotherapie in der Behandlungskette vollstationär – teilstationär – ambulant Ähnlich wie in der Allgemeinpsychiatrie wird die Bedeutung der Behandlungskette vollstationär – teilstationär – ambulant von allen Therapieschulen übereinstimmend betont, wobei meist separate Forensik-Ambulanzen eingerichtet werden und damit die Therapeuten- oder Pflegekonstanz bei der extramuralen Unterbringung und in der Nachsorge nicht gewährleistet ist. In unserem Ansatz wird der Patient während der gesamten Zeit vom selben Team, damit im Idealfall denselben Therapeuten und Pflegenden wie im vollstationären Rahmen, betreut. Die ambulante Arbeit ist kein Fremdkörper, wird nicht auf eine spezielle Ambulanz verlagert, sondern ist Teil der Arbeit des gesamten Teams. Dies nimmt die Befunde der empirischen Forschung ernst, dass ohne weitere sozial-rehabilitative Maßnahmen nach der Entlassung aus der stationären Therapie die Wirksamkeit einer Maßregelbehandllung nur sehr begrenzt ist. Als besonders kritisch gelten die ersten zwei Jahre nach der Entlassung. Mehr als die Hälfte aller ehemaligen Patienten, die nach der forensischen Behandlung scheitern, tun dies in den ersten 15 Monaten (LEYGRAF und WINDGASSEN 1988). Gerade unsere Praxis entspricht den aktuellen Forderungen NORBERT SCHALASTS: «Konzepte der ambulanten und stationären sowie auch kombinierten Nachsorge für Forensik-Patienten haben inzwischen ein beachtliches fachliches Niveau erreicht. Wichtige inhaltliche Aspekte bestehen in der Vernetzung der beteiligten Helfer und Institutionen (runde Tische, Helfer-

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konferenzen), einer offenen Kommunikation der Beteiligten unter Einbeziehung des Patienten und gut überlegten und geplanten Strategien zur individuellen Krisenintervention. Dies trägt zu einer ausgesprochen geringen Rückfallquote bei entsprechend betreuten ehemaligen Maßregelpatienten bei» (SCHALAST 2003: 62).

D. Kasuistik Wie forensische Psychotherapie in der therapeutischen Gemeinschaft mit Gruppenpsychotherapie, Einzelpsychotherapie, Bezugspflege und fundiertem Eingehen auf den Lebens- und Arbeitsalltag zugleich lebensgeschichtlich heilsam wie kriminalpräventiv wirkungsvoll sein kann, zeigt folgende Falldarstellung eines bei der Aufnahme zwanzig Jahre alten Mannes, Herrn A. (HOFFMANN 2002). Er wurde wegen zahlreicher Brandstiftungen bei schwerer narzisstischer Persönlichkeitsstörung auf der Basis des deutschen § 21 StGB (Dekulpierung) nach § 63 StGB (Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus) untergebracht. Mit dem Einzelpsychotherapeuten, einem Mann, und mit der Bezugsschwester arbeitete er vor allem seine sexuellen Identitätsprobleme durch. Nach mehreren Monaten wurde in gemeinsamen Gesprächen mit der aus Italien stammenden Mutter klar, dass der Bruder ihres Vaters auch sein leiblicher Vater ist. Er schwängerte die Mutter, als sie 17 Jahre alt war, der Patient wuchs bei seiner Großmutter auf. Ein einheimischer Feuerwehrmann heiratete die Mutter, als Herr A. sechs Jahre alt war. Im Personalausweis wurde so aus einem jungen Italiener ein junger Deutscher. Mutter und Stiefvater bekamen zwei gemeinsame Mädchen, die Stiefschwestern des Patienten. Nach Bestehen des Hauptschulabschlusses absolvierte Herr A. eine Ausbildung zum Holzwerker, scheiterte in der theoretischen Abschlussprüfung, verschwieg dies aber seinen Eltern. Seine Herkunft wurde vor ihm verheimlicht, die Stiefschwestern erfuhren die Wahrheit vor ihm im Verlauf der forensischen Therapie des Patienten, was ihn sehr kränkte. Im Alter von zwölf Jahren hatte er mit einem gleichaltrigen Freund eine außerhalb des Ortes gelegene Scheune angezündet. Die beiden wollten Licht machen, die Scheune brannte ab, die beiden rannten so schnell sie konnten weg und retteten sich. Diese Brandstiftung wurde nie aufgeklärt. Schüchtern gegenüber Mädchen schloss er sich einer Jungengang an, die immer wieder Ladendiebstähle beging. Mit 17 Jahren verliebte er sich in ein gleichaltriges Mädchen aus Süditalien, die bei der Familie der Mutter zu Besuch war. Er fuhr mit dem Auto mehrmals nach Neapel, wagte aber nie,

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ihr direkt seine Liebe mitzuteilen. Das Mädchen verunglückte dann tödlich. Auf Empfehlung seines Stiefvaters wurde er wie dieser aktiver Feuerwehrmann in seinem Heimatort. Mit 17 Jahren begann er mit dem Legen von schließlich insgesamt mehr als zwanzig Bränden, bei denen nie Personen zu Schaden kamen, die aber großes Aufsehen erregten. Als Motiv gab er an, wie damals mit zwölf Jahren einen großen Triumph dabei zu empfinden, ein großes Feuer zu legen und nicht erwischt zu werden: «Ich gehe durch meine Heimatstadt, und niemand weiß, was ich getan habe.» Einige Brandstiftungen waren auch durch Rache an Lehrherren oder Lehrern motiviert. Er wie sein Stiefvater halfen aktiv beim Löschen mit. Die Einzeltherapie- und Bezugspflegesitzungen waren während der ersten Wochen durch langes gespanntes Schweigen gekennzeichnet. Sowohl mit der Bezugsschwester als auch mit dem Einzelpsychotherapeuten besprach er schließlich offen sein Leben, auch die schambesetzten Inhalte der sexuellen Unerfahrenheit und des Nicht-Wissens seiner Herkunft. Vieles hatte er weder der ermittelnden Polizei noch dem psychiatrischen Gutachter vor der Hauptverhandlung mitgeteilt. Auch seine Empfindungen bei den Brandstiftungen und bei den schon früh begonnenen kleineren Regelübertretungen sprach er von sich aus an. Sowohl die Einzelpsychotherapie wie die Einzelgespräche in der Bezugspflege fanden in der Regel zweimal pro Woche statt. Bei längeren Abwesenheiten vor allem der Bezugsschwester reagierte er meist mit Fieberzuständen, es wurde ihm innerlich warm, was er immer deutlicher mit seinen narzisstisch motivierten Brandstiftungen in Zusammenhang bringen konnte. Er lernte im Klinikgelände eine manischdepressive Patientin kennen, die beiden wurden ein Paar. Für den Patienten war es die erste sexuelle Beziehung. Die Bezugsschwester half bei der Einrichtung der gemeinsamen Wohnung. In der Einzelpsychotherapie wurde stärker die Bedeutung der kleinen Grenzüberschreitungen im Alltag als lebensgeschichtliche Wiederholung durchgearbeitet. Die Ängste, Hemmungen und Freuden in der neuen Liebesbeziehung waren starker Inhalt in der Bezugspflege. Beide dyadischen Beziehungsangebote waren von Übertragungs- und Gegenübertragungsdynamiken beherrscht. In der Gruppenpsychotherapie schwieg der Patient während der ersten sechzig Sitzungen beharrlich. Er gestaltete die forensische Behandlung umgekehrt wie seinen Eintritt ins Erwachsenenleben. Zuerst wollte er mit den Eltern in der Übertragung die Wahrheit über seine Herkunft erfahren, auch mit Unterstützung der Eltern eine Liebesbeziehung aufbauen, bevor er sich der Peer-Group stellte. Er wollte nicht nochmals in eine delinquente Rich-

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tung verführt werden. Als er seine Lebens- und Deliktgeschichte in Einzelpsychotherapie und Bezugspflege geklärt und mit seiner Freundin zusammen war, sprach er in der Gruppentherapie offen über seine Delikte und über seine Freundin, über seine Herkunft berichtete er in der Gruppe nichts. Während der forensischen Behandlung arbeitete er zunächst in der Arbeitstherapie, schließlich als Waldarbeiter. Seine narzisstische Haltung war hartnäckig, aber durch konsequentes Konfrontieren deutlich zu bessern. Immer wieder wusste er alles besser als seine Anleiter, häufig fehlte er zu Beginn wegen unklarer Beschwerden, er gestand dann ein, einfach keine Lust zu haben. Er wiederholte seine Lebensform aus der Pubertät, genoss den Triumph in der Abwesenheit von der Arbeit, im Rennrad-Fahren, immer wieder etwas länger und weiter als es von der Justiz jeweils erlaubt wurde. Diese kleinen Grenzverletzungen entsprachen denjenigen in der Pubertät, wir reagierten jeweils mit einigen Tagen Ausgangssperren. Einmal traf er den Einzelpsychotherapeuten auf dem Rennrad, er versuchte zu dealen, dass die unerlaubte Ausgangserweiterung ungeschehen gemacht werden könne, was wir ablehnten. Danach teilte er in einer Einzelpsychotherapiesitzung mit: «Als ich gemerkt habe, dass sie mir bei meinem unerlaubten Stadtausgang folgen, wollte ich ein neues Rennrad stehlen. Später beschloss ich dann, meine Freundin aufzusuchen. Während dieses Besuches sah ich mich mit zwölf Jahren in der Scheune. Ich wurde sehr traurig und weinte.» Damals hätte er konsequente Grenzen benötigt und nicht bekommen, irgendwie wurde er für unsere strenge Liebe doch dankbar. Wir billigten schließlich trotz unserer Bedenken seinen Wunsch, die Ausbildung im Forstbereich zu Ende zu bringen, obgleich eine Tätigkeit in diesem Bereich auch eine Nähe zum Feuer hat. Er gab sich und uns aber klar zu verstehen, dass er nicht mehr delinquieren müsse und wolle und für diese Tätigkeit gute Voraussetzungen und Interesse mitbringe. Die Ausbildung schloss er korrekt ab und lebt mittlerweile fünf Jahre deliktfrei mit seiner Partnerin in einer Großstadt. Er möchte es anders machen als seine Mutter und heiraten, bevor seine Partnerin und er Kinder bekommen. Den Justizbehörden, die Ausgänge außerhalb des Klinikgeländes bewilligen müssen, leuchtete ein, dass diese für forensische Verhältnisse sehr offene Behandlung notwendig war, um weitere schwere narzisstische Kränkungen zu minimieren und in einer Arbeits- und Liebesrealität ein deliktfreies Leben in Freiheit zu erproben, bevor eine definitive Entlassung mit einer positiven Kriminal- und Sozialprognose durchgeführt werden kann.

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Die Behandlung implizierte viele Grenzen setzende, pädagogische und trainierende Elemente, entscheidend war aber das Ernstnehmen der individuellen Lebensgeschichte des Patienten und das analytische Durchdringen der Wiederholungen der Affektbesetzungen. Fehlverhalten des Patienten wurde klar konfrontiert, allerdings nicht sadistisch, sondern im Rahmen einer therapeutischen Begegnung, die abgespaltene Affekte und ungeklärte historische Wahrheiten durcharbeitete.

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Wegmarken der Begutachtung psychisch Kranker Einleitung Die Bearbeitung der im Rahmen von Gutachtenaufträgen der Staatsanwaltschaften und der Gerichte gestellten Fragen beinhaltet eine Reihe von Tücken. Zum einen gilt es, den Inhalt der Gesetze zu verstehen, die im Rahmen der Begutachtung seelischer Erkrankungen von Bedeutung sind. In diesem Zusammenhang ist es für Psychiater und Psychologen in der Regel schwierig, das normative Denken der Juristen zu verstehen und dieses Beurteilungsraster mit dem in den medizinisch-psychologischen Wissenschaften üblichen Denken in Kontinuitäten in eine sinnvolle Übereinstimmung zu bringen. Weiter gilt es, die Sprache (und damit das Denken) der Psychiatrie so zu übersetzen, dass auch Laien verstehen und nachvollziehen können, was gemeint ist. Es darf nämlich nicht vergessen werden, dass selbst in Strafverfahren erfahrene Staatsanwälte, Richter und Verteidiger auf dem Gebiet der seelischen Störungen Laien sind, ganz zu schweigen von den Schöffen, welche in nicht unerheblichem Maße auf die Urteilsfindung Einfluss nehmen können. Die vorliegende Arbeit soll sich deshalb mit einigen ausgewählten Aspekten befassen, die bei der Begutachtung psychisch Kranker unabdingbar sind. Zunächst sollen die für die Begutachtung psychisch Kranker bedeutsamen Gesetzestexte erläutert und dann die Kriterien beschrieben werden, die eine Arbeitsgruppe von Juristen und forensischen Psychiatern in den Jahren 2005 und 2006 für die Erstellung von Gutachten im Rahmen der Beurteilung der Schuldfähigkeit und der Prognose erarbeitet haben. Die eingehende Kenntnis und Anwendung dieser Kriterien ist insbesondere deshalb von herausragender Bedeutung, weil die Gerichte zunehmend dazu übergehen, die in diesen Kriterien formulierten, so genannten Mindestanforderungen als Messlatte an die Bewertung der Güte eines Sachverständigengutachtens anzulegen. Diese Kriterien umfassen zum einen Anforderungen an Gutachten zur Schuldfähigkeit und zum anderen Anforderungen an Gutachten zur Prognose. Hieraus abgeleitet sollen dann in einem weiteren Kapitel allgemeine Prognosekriterien und Prognoseinstrumente vorgestellt werden. Da der Gesetzgeber im Jahre 2003 die Voraussetzungen zur Sicherungsverwahrung erweitert und ihre rückwirkende Verschärfung gebilligt hat, kommt auf Sachverständige in zunehmendem

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Maße auch die Frage nach den Voraussetzungen für das Vorliegen eines Hanges zu, weshalb im nächsten Kapitel die mit der Beurteilung der Prognose verwandten Kriterien für die Annahme eines Hanges erläutert werden sollen. In diesem Kontext soll auf die Frage eingegangen werden, wie Persönlichkeitsstörungen im Hinblick auf ihren möglichen Einfluss auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit zu bewerten sind. Vorauszuschicken ist, dass die hier vorgelegte Arbeit lediglich eine Einführung in die aufgeworfene Thematik sein kann und will und insoweit auf die angegebene weiterführende Literatur zu verweisen ist. Der kurz gefasste Überblick soll aber dazu beitragen, einige Mysterien der Begutachtung psychisch Kranker zu lüften und weiter dazu ermutigen, sich mit diesen Fragestellungen eingehender zu beschäftigen, insbesondere vor dem Hintergrund des wachsenden Bedarfs an forensisch-psychiatrischer Fachkenntnis einerseits und des unverkennbaren Mangels an kompetenten Sachverständigen andererseits.

Rechtliche Grundlagen Im Strafrecht spiegeln sich nach Weigend die wesentlichen Grundregeln für das Zusammenleben der Gesellschaft wider. Der Gesetzgeber bringt mit der Androhung von Strafen für ein definiertes Verhalten das herausgehobene Interesse der Gesellschaft an der Einhaltung bestimmter Regeln zum Ausdruck. Die Strafe dient einerseits der Sanktion eines von den Regeln abweichenden Verhaltens und andererseits der Verhütung intendierter Straftaten. Die Strafe wird gemäß dem deutschen Verfassungsrecht als äußerstes Mittel der Kontrolle verstanden. Von grundsätzlicher Bedeutung ist hierbei, dass eine Strafe nur dann durch ein Gericht ausgesprochen werden darf, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt ist, das heißt, nur der Gesetzgeber bestimmt in Deutschland, was strafbar ist und was nicht. Er muss zudem den Straftatbestand so genau fassen, dass es für den Bürger ohne zumutbare Mühe zu erkennen ist, welche Handlungen mit einer Strafe bewehrt sind. Der Gesetzgeber setzt weiterhin die individuelle Verantwortlichkeit des Täters voraus, das heißt, das deutsche Strafrecht beruht auf dem Grundsatz, dass nur derjenige bestraft werden kann, dem die Straftat als persönlich zurechenbares Unrecht zugeordnet werden kann. Daraus folgt aber unmittelbar, dass ein Täter dann nicht der Strafgewalt ausgesetzt werden kann, wenn es ihm nicht möglich war, die strafrechtliche Norm einzuhalten, also wenn er zum Beispiel zum Tatzeitpunkt an einer seelischen Störung litt. Aus diesem Prinzip leiten sich nun die entsprechenden Gesetze

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ab, welche die Schuldfähigkeit näher bestimmen. Im Einzelnen sind dies die §§ 19, 20 und 21 des Strafgesetzbuches, die hier dem Wortlaut nach wiedergegeben sind: § 19 Schuldunfähigkeit des Kindes Schuldunfähig ist, wer bei Begehung der Tat noch nicht 14 Jahre alt ist. § 20 Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. § 21 Verminderte Schuldfähigkeit Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden. Der Gesetzgeber legt also zunächst einmal fest, dass Menschen unter 14 Jahren generell nicht bestraft werden können, unabhängig davon, welche Straftat sie begangen haben mögen. Er bestimmt weiter in § 20 StGB, dass bestimmte seelische Störungen eine Schuldunfähigkeit begründen können. Diese seelischen Störungen fasst der Gesetzgeber in vier Kategorien, nämlich in die so genannte krankhafte seelische Störung, die tiefgreifende Bewußtseinsstörung, den Schwachsinn und die schwere andere seelische Abartigkeit. Diese so genannten biologischen Eingangsvoraussetzungen nach § 20 StGB erscheinen dem mit der Materie nicht befassten Psychiater zunächst als wenig verständlich, zumindest nicht als deckungsgleich mit den Kategorien, die beispielsweise das Diagnostic and Statistical Manual (DSM IV) oder die internationale Klassifikation psychischer Störungen (ICD 10) vorgeben. Sind sie auch nicht, und dies hat in erster Linie damit zu tun, dass das Gesetz eben von Juristen und nicht von Psychiatern verfasst wurden und eine lange Rechtsgeschichte aufweist, die deutlich älter ist als die oben genannten psychiatrischen Klassifikationssysteme. Zunächst ist es also erforderlich, gedanklich diese biologischen Eingangsvoraussetzungen mit den Kategorien der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD 10) in Übereinklang zu bringen. Hierbei haben sich nun in der forensisch-psychiatrischen Literatur folgende Zuordnungen entwickelt:

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Zu den krankhaften seelischen Störungen zählen nur Störungen der Kategorie F0, also alle organischen psychischen Störungen, ferner alle akuten Störungen des Kapitels F1, also Intoxikationen, delirante Zustände, psychotische Störungen, ausgeprägte Entzugssyndrome, das amnestische Syndrom und ausgeprägte so genannte Restzustände. Nicht unter die krankhafte seelische Störung zu subsumieren sind der schädliche Gebrauch und die Abhängigkeit selbst. Weiterhin sind der krankhaften seelischen Störung zuzuordnen Störungen des Kapitels F2, also die Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen sowie alle Störungen der Kategorie F3, also affektive Störungen, allerdings nur dann, wenn sie in einer besonders schweren Ausprägung vorliegen. Unter einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung versteht der Gesetzgeber nicht etwa einen stupurösen oder komatösen Zustand, der ja per definitionem ein strafrechtlich relevantes Handeln in aller Regel ausschließt, sondern vor allem seelische Störungen, die sich in einem heftigen Affekt äußern und aus diesem Affekt heraus zu einer Straftat führen, was gemäß der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD 10) am ehesten unter dem Kapitel F43, also den Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen zu subsumieren ist, aber in einzelnen Fällen auch unter der Kategorie F44.2, also eines dissoziativen Stupors oder gemäß dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM IV) der Kategorie 312.34, dem so genannten intermittent explosive disorder. Die dritte Eingangsvoraussetzung des § 20 StGB, der Schwachsinn, lässt sich unschwer mit dem Kapitel F7 der ICD 10, der Intelligenzminderung namentlich in ihren schweren Ausprägungen gleichsetzen. Unter der vierten Kategorie, der schweren anderen seelischen Abartigkeit, werden dann die Abhängigkeit von psychotropen Substanzen, also die Kategorie F1x.2 sowie die Kategorien F4, also alle neurotischen, Belastungsund somatoformen Störungen, und F6, die Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen, gefasst, während die unter der Kategorie F5 genannten seelischen Störungen, also Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren wie u. a. Essstörungen in der forensisch-psychiatrischen Praxis in aller Regel keine Rolle spielen. Der § 20 StGB setzt also zur Annahme einer Schuldunfähigkeit zunächst einmal voraus, dass eine der vier genannten Eingangsvoraussetzungen bei dem Betroffenen vorliegt. Der Gesetzestext setzt weiter voraus, dass eine der in diesen Eingangsvoraussetzungen genannten Störungen zum Tatzeitpunkt vorliegt, was sich aus der im Gesetzestext herausgehobenen Formulierung erschließt, dass die Beurteilung auf die Tat abgestellt ist und nicht

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auf die allgemeine seelische Verfassung des Täters. Schließlich geht das Gesetz als zweite notwendige Voraussetzung zur Annahme einer Schuldunfähigkeit davon aus, dass der Betroffene unfähig war, das Unrechte seines Handelns zu sehen. Die Formulierung „oder nach dieser Einsicht zu handeln“ hebt auch auf den Sachverhalt ab, dass es im Einzelfall auf dem Hintergrund der Besonderheit der seelischen Störung möglich sein kann, dass der Täter zwar das Unrechte seines Handelns einzusehen vermochte, infolge der Störung aber außerstande war, dieser Einsicht zu folgen, mithin sich entsprechend zu steuern. Zur Beurteilung, ob die Voraussetzungen des § 20 StGB gegeben sind, müssen also von dem psychiatrischen Sachverständigen drei Fragen beantwortet werden: 1. Liegt eine der in § 20 StGB genannten Eingangsvoraussetzungen zum Tatzeitpunkt vor. 2. Ist diese Störung so schwerwiegend, dass der Täter nicht in der Lage war, das Unrechte seines Handelns einzusehen. 3. War er trotz der Störung zwar in der Lage, das Unrechte seines Tuns zu erkennen, aber nicht fähig, dieser Einsicht zu folgen, mithin also sein Verhalten sachgerecht zu steuern. Es ist nun von Bedeutung zu wissen, dass der Sachverständige nur diese drei Fragen zu beantworten hat und nicht etwa daraus schließen sollte, dass aus seiner Sicht die Voraussetzungen des § 20 StGB gegeben sind. Die Entscheidung darüber, was aus den von dem Sachverständigen genannten Voraussetzungen folgt, obliegt nämlich allein dem erkennenden Gericht. Nur das Gericht hat zu entscheiden, ob im Einzelfall die Voraussetzungen des § 20 StGB gegeben sind oder nicht. Wenn das Gericht aber zu diesem Schluss kommt, dann heißt dies, dass der Täter schuldunfähig war und mithin die Tat nicht bestraft werden kann. Der § 21 StGB spricht von einer verminderten Schuldfähigkeit. Eine verminderte Schuldfähigkeit ist demnach dann anzunehmen, wenn zwar eine der in § 20 StGB genannten biologischen Eingangsmerkmale zum Tatzeitpunkt nachzuweisen war, die Störung aber nicht so ausgeprägt war, dass der Täter unfähig war, das Unrechte der Tat zu erkennen oder nach dieser Einsicht zu handeln. Die Störung muss aber gemäß dem Gesetzestext gleichwohl so ausgeprägt sein, dass die Fähigkeit des Täters, das Unrechte des Handelns einzusehen oder dieser Einsicht gemäß zu handeln, erheblich vermindert war. Für den Sachverständigen gilt es also ebenso drei Fragen zu beantworten: 1. Liegt eines der so genannten Eingangsmerkmale zum

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Tatzeitpunkt vor. 2. War die Störung so schwerwiegend, dass die Fähigkeit des Täters, das Unrechte der Tat einzusehen, erheblich vermindert war. 3. War die Störung von einer solchen Beschaffenheit, dass der Täter zwar um das Unrechte seines Tuns wusste, aber seine Fähigkeit, dieser Einsicht zu folgen, erheblich vermindert war. Die Beantwortung der Frage, ob die Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB gegeben sind, umfasst also zwei Stufen: 1. Die Untersuchung und Beantwortung der Frage, ob eine der vier Eingangsvoraussetzungen des § 20 zum Tatzeitpunkt vorgelegen hat. 2. In welchem Maße sich diese seelische Störung auf die Fähigkeit des Betroffenen zur Einsicht ausgewirkt hat, alternativ auf seine Fähigkeit, dieser Einsicht zu folgen. Hieraus folgt eine große Bandbreite der Beurteilungsmöglichkeiten, die dem Sachverständigen einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Urteilsfindung in die Hand gibt. Dieser hohen Verantwortung sollte sich der Sachverständige stets bewusst sein. Wenn das Gericht nun zu der Auffassung gelangt, dass der Täter die Anlasstat im Zustand der Schuldunfähigkeit oder verminderten Schuldfähigkeit begangen hat, dann kann es anstatt oder neben der Bestrafung Maßregeln der Besserung und Sicherung verhängen, die das Ziel haben, die Gesellschaft vor drohenden weiteren Straftaten zu schützen. Dies kann entweder in Gestalt einer Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik oder in einer Entziehungsanstalt geschehen. Weitere Maßnahmen der Sicherung und Besserung sind die Sicherungsverwahrung, die Einrichtung einer Führungsaufsicht, die Entziehung der Fahrerlaubnis oder das Berufsverbot. Für die psychiatrische Begutachtung sind vor allem die Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik bzw. einer Entziehungsanstalt sowie die Sicherungsverwahrung von Bedeutung, weil das Gericht verpflichtet ist, zur Beurteilung dieser Fragen einen Sachverständigen hinzuzuziehen. Im Einzelnen sind hierbei beachtlich die §§ 62, 63, 64 und 66 StGB. § 62 Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Eine Maßregel der Besserung und Sicherung darf nicht angeordnet werden, wenn sie zur Bedeutung der vom Täter begangenen und zu erwartenden Taten sowie zu dem Grad der von ihm ausgehenden Gefahr außer Verhältnis steht.

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§ 63 Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit oder der verminderten Schuldfähigkeit begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. § 64 Unterbringung in einer Entziehungsanstalt Hat jemand den Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, und wird er wegen einer rechtswidrigen Tat, die er im Rausch begangen hat oder die auf ihren Hang zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil seine Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt an, wenn die Gefahr besteht, dass er infolge seines Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird. § 66 Unterbringung in der Sicherungsverwahrung Wird jemand wegen einer vorsätzlichen Straftat zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt, so ordnet das Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, dass er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer körperlich oder seelisch schwer geschädigt werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, für die Allgemeinheit gefährlich ist. Der in § 62 StGB zum Ausdruck gebrachte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bringt zum Ausdruck, dass die Anordnung einer Maßregel der Besserung und Sicherung nur dann zulässig ist, wenn das Interesse der Allgemeinheit an der Verhütung weiterer Straftaten schwerer wiegt als die Einschränkung der Freiheit des Betroffenen. Voraussetzung der Unterbringung gemäß § 63 ist die rechtswidrige Tat. Weitere Voraussetzung ist die Feststellung des Gerichtes, dass der Täter die Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit oder verminderten Schuldfähigkeit begangen hat. Hierbei ist von Bedeutung, dass die verminderte Schuldfähigkeit zweifelsfrei feststehen muss. Die Annahme, dass eine verminderte Schuldfähigkeit nicht auszuschließen ist, reicht nicht aus, um eine Unterbringung gemäß § 63 StGB anzuordnen. Weitere Voraussetzung der Unterbringung ist die Gesamtwürdigung des Täters, die insoweit über die aus-

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schließliche Feststellung der seelischen Störung hinausgeht und unter anderem auch entsprechende Persönlichkeitsdispositionen des Täters zu berücksichtigen hat, also etwa seine Krankheitseinsicht und seine Kooperationsbereitschaft. Abgeleitet aus dieser Gesamtwürdigung muss dann geprüft werden, ob infolge des krankhaften Zustandes weitere erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten stehen. Hierbei liegt die Betonung auf der Erheblichkeit der Straftat, wobei die Rechtssprechung hierfür keine eindeutigen Kriterien vorgibt. Weiterhin muss eine Gefährdung der Allgemeinheit gegeben sein, wobei die Rechtssprechung als Allgemeinheit auch durchaus eine einzelne Person versteht, die dann gewissermaßen die Allgemeinheit vertritt. Der Sachverständige hat also dann, wenn das Gericht eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit oder eine Schuldunfähigkeit als sicher annimmt, zu prüfen, ob die der Exkulpation zugrunde liegende seelische Störung und im Zusammenhang hiermit die Gesamtwürdigung des Täters erwarten lassen, dass er weitere erhebliche für die Allgemeinheit gefährliche Straftaten begehen wird oder nicht. Beispielhaft sei hier der Fall eines 26-jährigen an einer chronisch produktiven Schizophrenie leidenden Mannes genannt, der im Rahmen akuter psychotischer Exacerbationen immer wieder zu unvermittelten Gewaltausbrüchen neigt, in denen er nicht unerhebliche Körperverletzungen an unbeteiligten Dritten begeht. Wenn nun die Vorgeschichte ergibt, dass er wenig Krankheitseinsicht aufbringt und deshalb die ihm anempfohlene Behandlung immer wieder unterlässt, andererseits aber aus der Vorgeschichte erkennbar ist, dass er bei einer regelmäßigen medikamentösen Behandlung in der Lage ist, seine Affekte hinreichend zu kontrollieren und dadurch weitere aggressive Durchbrüche vermieden werden können, dann sind die Voraussetzungen des § 63 StGB eindeutig gegeben: Er hat einerseits erhebliche rechtswidrige Straftaten begangen und wird dies aller Wahrscheinlichkeit nach wieder tun, wenn er die Behandlung unterbricht, was er in der Vergangenheit unter Beweis gestellt hat. Insoweit müsste der Sachverständige in diesem Fall die Voraussetzungen des § 63 StGB als gegeben unterstellen und damit den Weg frei machen für eine entsprechende gerichtliche Anordnung der Unterbringung des Täters gemäß § 63 StGB. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB geht zwar ebenfalls von einer rechtswidrigen Tat als Voraussetzung der Maßregel aus. Der Täter muss aber nicht zwingend im Zustand der Schuldunfähigkeit oder erheblich verminderten Schuldunfähigkeit gehandelt haben. Voraussetzung der Unterbringung gemäß § 64 StGB ist neben der aufgehobenen oder erheblich verminderten Schuldfähigkeit auch der Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen. Unter einem Hang versteht die Rechtssprechung die den Täter treibende Nei-

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gung, regelmäßig den Konsum von Alkohol oder anderen Rauschdrogen fortzusetzen. Diese Neigung muss aber in einem Übermaß vorliegen, das heißt, es müssen bereits erkennbare biopsychosoziale Folgeschäden eingetreten sein. Man wird also einen Hang, im Übermaß alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel zu konsumieren immer dann annehmen können, wenn gemäß der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD 10) eine Abhängigkeit festzustellen ist. Ein schädlicher Gebrauch im Sinne der ICD 10 schließt hingegen in aller Regel einen Hang im Übermaß aus. Jenseits der Annahme eines Hanges verlangt der § 64 StGB aber auch, dass zwischen dem Hang und der Tat ein ursächlicher Zusammenhang bestehen müssen, das heißt also, dass die Tat in einem inneren Zusammenhang mit der Abhängigkeit besteht, was etwa bei Beschaffungsdelikten oder im Rausch begangenen Taten angenommen werden kann. Weiterhin gilt im Hinblick auf die zukünftige Prognose für den § 64 das Gleiche wie bereits für den § 63 StGB dargelegt: Es müssen auch in Zukunft infolge des Hanges erhebliche rechtswidrige Straftaten zu erwarten stehen. Eine der Voraussetzungen zur Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 StGB ist ebenfalls der Hang, diesmal aber der Hang zu erheblichen Straftaten. Wie dieser Hang in Abgrenzung zu dem Hang, berauschende Mittel zu sich zu nehmen zu verstehen ist, ist Gegenstand eines späteren Kapitels. An dieser Stelle hervorzuheben ist aber, dass in § 66 StGB jetzt die Erheblichkeit einer Straftat genauer definiert ist als in den §§ 63 und 64 StGB: Es ist nämlich zu lesen, dass zu erheblichen Straftaten namentlich solche zu zählen sind, durch welche die Opfer körperlich oder seelisch schwer geschädigt werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird. Hierdurch gibt der Gesetzestext dem Gericht Anhaltspunkte zur Beurteilung der Erheblichkeit zu erwartender Straftaten an die Hand. Bei der Beurteilung der Frage, ob die Voraussetzungen des § 66 StGB aus psychiatrischer Sicht gegeben sind, sollte sich der Sachverständige trotz aller von ihm verlangten Unparteilichkeit immer bewusst sein, dass eine Sicherungsverwahrung einen zeitlich unbefristeten Freiheitsentzug nach sich zieht, was mithin eine besonders sorgfältige und verantwortungsbewusste Untersuchung und Abwägung aller dafür und dagegen sprechender Anknüpfungstatsachen verlangt.

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Die Beurteilung der Schuldfähigkeit In dem Bestreben, die doch sehr heterogene Qualität psychiatrischer Gutachten anzuheben, hat – wie eingangs bereits erwähnt – eine aus Juristen und Psychiatern bestehende Arbeitsgruppe im Jahre 2005 formale und inhaltliche Mindeststandards für die Erstellung von Gutachten zur Beurteilung der Schuldfähigkeit formuliert, die im Hinblick auf den erforderlichen Aufbau in Tabelle 1 zusammengestellt sind und die im folgenden erläutert werden sollen. Tabelle 1

• Gutachtenauftrag • Fragestellung • Erkenntnisquellen • Untersuchungsmethoden • Rechtliche Belehrung • Sachverhalt nach Aktenlage • Eigene Untersuchungen

- Angaben zur sozialen Vorgeschichte - Kindheit und Jugend - Familiäre Beziehungen - Schulische Entwicklung - Berufliche Entwicklung - Freundschaften und Hobbys - Entwicklung der Persönlichkeit - Aktuelle Lebenssituation - Lebensplanung - Krankheitsvorgeschichte - Entwicklung der Delinquenz - Fremdanamnestische Angaben (durch wen?) - Angaben zur Anlasstat - Psychischer Befund - Testpsychologische Befunde - Körperlicher und neurologischer Befund - Zusatzuntersuchungen - Zusammenfassende Bewertung • Diagnose und Differentialdiagnose • Darlegung der Funktionsbeeinträchtigungen, welche im Allgemeinen durch die

vorliegenden Störungen bedingt werden • Diagnose zum Tatzeitpunkt • Zuordnung der Diagnose zu den gesetzlichen Eingangsmerkmalen

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• Darlegung, ob und in welchem Ausmaß die festgestellten Funktionsbeeinträchti-

gungen zum Tatzeitpunkt vorlagen • Tatrelevante Funktionsbeeinträchtigung unter Differenzierung zwischen Einsichts-

und Steuerungsfähigkeit • Alternative Beurteilungsmöglichkeiten

Gemäß diesen Mindestanforderungen soll zunächst einmal der Gutachtenauftrag benannt werden, das heißt also die auftraggebende Behörde mit Datum des Auftrages bzw. Beschlusses und Datum des Eingangs. Im Folgenden soll die Fragestellung des Auftrages formuliert werden. Die Heraushebung der Fragestellung ist bedeutsam, damit allen Verfahrensbeteiligten von vorneherein klar ist, mit welcher Fragestellung der Sachverständige befasst ist oder eben nicht. Im weiteren sollten alle Erkenntnisquellen benannt werden, also Akten des Gerichtes, beigezogene Krankenakten sowie Zeitpunkt und Umfang der durchgeführten Untersuchungen, ebenso der Vermerk, ob etwa Verteidiger oder Betreuer bei der Untersuchung anwesend waren und befragt worden sind. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass der Gutachter selbst nicht befugt ist, Ermittlungen auf eigene Faust durchzuführen, also etwa Angehörige, behandelnde Ärzte oder gar mit der Tat in Verbindung stehende Personen zu befragen. Wenn der Sachverständige sich aus solchen Befragungen neue Erkenntnisse verspricht, so hat er dies vorab dem Auftraggeber mitzuteilen, zu begründen und eine entsprechende Einvernahme durch die Staatsanwaltschaft oder das Gericht anzuregen. Im weiteren sollten die Untersuchungsmethoden beschrieben werden, also welche Untersuchungen im Einzelnen durchgeführt wurden, so zum Beispiel die körperliche und neurologische Untersuchung, die Erhebung des psychopathologischen Befundes sowie testpsychologische Untersuchungen und die Art dieser Untersuchungen, ferner Zusatzuntersuchungen wie MRT oder EEG, wobei darauf zu achten ist, dass Zusatzuntersuchungen welcher Art auch immer einschließlich testpsychologischer Untersuchungen vorab vom Auftraggeber zu genehmigen sind. Weiterhin ist ein Vermerk darüber anzufertigen, dass der Proband rechtlich belehrt wurde, das heißt, dass ihm mitgeteilt wurde, dass für die Untersuchung die Schweigepflicht nicht gilt und der Untersucher alle Sachverhalte dem Gericht mitteilen muss, woraus für den Probanden folge, dass es ihm frei stehe, sich insgesamt oder in Teilen nicht zur Sache zu äußern, um nicht Gefahr zu laufen, sich selbst zu belasten. Es ist auch zu vermerken, dass dem Probanden freigestellt wurde, vor der Untersuchung seinen Anwalt zu befragen und/oder zu dem Gespräch hinzuziehen. Um das Verfahren zu beschleunigen empfiehlt es sich gerade im Hinblick auf den zuletzt genannten Sach-

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verhalt, den Anwalt des Probanden rechtzeitig vor der geplanten Untersuchung davon zu unterrichten, dass und wann die Untersuchung stattfindet. Zur Niederschrift über die rechtliche Belehrung gehört auch der Vermerk, dass der Proband die Belehrung verstanden hat und in welchem Umfang er sich zu äußern gedenke. Der Sachverhalt nach Aktenlage wird sinnvollerweise nach den Aktenkonvoluten geordnet, also nach Gerichtsakten, beigezogenen Krankenakten und anderen Dokumenten, wobei jeweils die Quelle deutlich zu machen ist, also das Aktenzeichen sowie bei paginierten Akten die Seitenzahlen, damit die Verfahrensbeteiligten verfolgen können, auf welchen Erkenntnisquellen der Sachverständige seine Beurteilung aufbaut. Der Bericht über die eigenen Untersuchungen beginnt sinnvollerweise mit einer strukturierten Darstellung der sozialen Vorgeschichte, im Einzelnen Angaben zu Kindheit und Jugend, zu den familiären Beziehungen, zu der schulischen Entwicklung, der beruflichen Entwicklung, den Freundschaften und Hobbys, der Entwicklung der Persönlichkeit, der aktuellen Lebenssituation und der Lebensplanung. Insbesondere aus der Einschätzung des Probanden zu seiner aktuellen Lebenssituation und seiner Lebensplanung wird man wertvolle Rückschlüsse auf seine Realitätstüchtigkeit ziehen können. Im Weiteren sollte die Darlegung der Krankheitsvorgeschichte erfolgen und zwar getrennt nach somatischer sowie psychiatrischer/suchtspezifischer Vorgeschichte. Daran anschließen sollte sich die Darlegung der Vorgeschichte der Delinquenz, wobei dies nicht allzu selten ein heikles Kapitel ist, da sich manche Angeklagten sträuben, ihre Kriminalvorgeschichte vor dem Untersucher auszubreiten, um nicht in einem allzu schlechten Licht dazustehen. Danach sollten alle fremdanamnestischen Angaben referiert werden. Diese Vorgehensweise hat sich für den Aufbau des Gutachtens ebenso wie für den Gang der Untersuchung bewährt: Durch den Bericht des Probanden über weitgehend tatferne Sachverhalte aus seinem Leben gewinnt der Untersucher einen ersten Eindruck über die Person und im besten Fall auch so viel Vertrauen des Probanden, dass die weiteren Fragen ergiebig beantwortet werden können. Wobei natürlich nicht zu verkennen ist, dass die Herstellung eines vertrauensvollen Verhältnisses zu dem Probanden in der besonderen Untersuchungssituation im Rahmen einer Begutachtung immer ein zweischneidiges Schwert ist: Einerseits ist eine vertrauensvolle Beziehung zu dem Probanden conditio sine qua non, um möglichst viel Hintergrundwissen zu der Anlasstat zu ermitteln. Andererseits kann eine solche vertrauensvolle Atmosphäre den Probanden dazu verführen, dem Untersucher Sachverhalte mitzuteilen, die er im Sinne seiner Verteidigung besser nicht mitteilen sollte. Es ist deshalb die Aufgabe des Sach-

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verständigen, möglichst behutsam mit den Informationen des Probanden umzugehen und ihn dann, wenn solche vertraulichen Informationen zu befürchten stehen, auf die damit möglicherweise in Verbindung stehenden Gefahren hinzuweisen. Auf keinen Fall darf sich der Sachverständige zu heimlichen Verbündeten der Ermittlungsbehörden berufen fühlen, er gerät dann nämlich unter Umständen in die Zwickmühle, vom Sachverständigen zum Zeugen zu werden. Wenn nun also die Erhebung der sozialen, der somatischen, psychiatrischen und der kriminellen Vorgeschichte abgeschlossen ist, ist es an der Zeit, die Anlasstat zum Thema zu machen und dem Probanden erst einmal ungefiltert seine Sicht der Dinge darlegen zu lassen. Erst dann, wenn der Proband alles berichtet hat, was ihm wesentlich erschien, wird der Sachverständige Verständnisfragen stellen, soweit ihm Sachverhalte unklar geblieben sind und erst danach den Probanden mit Sachverhalten konfrontieren, die sich aus seiner Kenntnis der Akten ergeben, aber nur insoweit diese Konfrontation sinnvolle Rückschlüsse auf die Fragestellung zulässt. Gerade hier gilt es im besonderen Maße darauf zu achten, dass der Sachverständige eben nicht der verlängerte Arm der Ermittlungsbehörden ist, sondern sich ausschließlich auf die Frage zu konzentrieren hat, ob und welche seelischen Störungen das Handeln des Probanden zum Tatzeitpunkt und nur zu diesem beeinflusst haben könnten und in welchem Ausmaß diese so festgestellte Störung im Hinblick auf die Schuldfähigkeit wirksam gewesen sein könnte. Nach Abschluss dieses Kapitels sollte die Darlegung der objektiv erhobenen Befunde erfolgen, also des psychischen Befundes, etwaiger testpsychologischer Befunde sowie des körperlichen und neurologischen Befundes einschließlich aller vom Sachverständigen veranlassten Zusatzuntersuchungen wie zum Beispiel Labor, EEG, MRT. Der Abschnitt über die eigenen Untersuchungen sollte mit einer ersten zusammenfassenden Bewertung abgeschlossen werden, in der der Untersucher dem Auftraggeber noch vor Nennung der Diagnose und der eigentlichen Beurteilung einen ersten Überblick über die psychosozialen Hintergründe, das Persönlichkeitsbild und die erhobenen Befunde geben sollte. An diese Zwischenbilanz und auf diese aufbauend sollte dann im nächsten Kapitel die Diagnose und die Differentialdiagnose benannt werden, wobei es heute unerlässlich ist, sich der Validierung durch die internationale Klassifikation psychischer Störungen (ICD 10) zu befleißigen. Manche Gutachter neigen dazu, ihre Weltläufigkeit durch eine diagnostische Einordnung gemäß der DSM IV unter Beweis zu stellen, was jedoch deshalb nicht rat-

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sam ist, da die DSM IV eine Klassifikation darstellt, die spezifisch auf den nordamerikanischen Kulturraum abgestellt ist und insofern Beurteilungsparameter einschließt, die im europäischen Kulturraum keine Bedeutung haben. Die von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebene ICD 10 erhebt hingegen den Anspruch, global gültig zu sein und verzichtet daher auf die Benennung kulturspezifischer Besonderheiten. Dies bedeutet letztlich aber für die Diagnostik seelischer Störungen keinerlei Verlust. Die Nennung der Diagnose und Differentialdiagnose bedarf einer besonderen Sorgfalt bei der Formulierung, weil sie besonders leicht dazu verführt, in das übliche psychiatrische Kauderwelsch zu verfallen. Hier ist es ein zwingendes Gebot des Respektes vor dem Auftraggeber, diesem Begriffe wie paranoid-halluzinatorisch in ein landläufiges und verständliches Deutsch zu übersetzen, wobei es ratsam ist, jeglichen belehrenden oder dozierenden Unterton zu unterlassen. Wie es insgesamt bei der Abfassung des Gutachtens nicht darum gehen darf, dem staunenden Publikum die eigene Gelehrsamkeit vorzuführen, sondern vielmehr darum, die eigene Gelehrsamkeit so verständlich zu machen, dass sie auch von allen Prozessbeteiligten verstanden wird. An die Nennung der Diagnose schließt sich dann die ausführliche Darstellung der Funktionsbeeinträchtigungen an, welche im Allgemeinen durch die vorliegende Störung bedingt werden. Hier ist also Platz darzulegen, welche Folgen etwa eine schizophrene Psychose, hirnorganische Veränderungen oder eine Abhängigkeit im Leben eines Menschen anrichten können. Die Darlegung dieser allgemeinen Funktionsbeeinträchtigungen ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil sie gewissermaßen die Basis darstellt, von der aus dann in dem besonderen in Rede stehenden Fall die konkreten zur Tat hinführenden Funktionsbeeinträchtigungen abgeleitet werden können. Im nächsten Schritt ist die Frage zu beantworten, ob die genannte Diagnose auch zum Tatzeitpunkt Gültigkeit hatte. Es ist ja durchaus denkbar, dass ein unter einer schizophrenen Störung leidender Mensch sich zum Tatzeitpunkt in Remission befunden hat oder ein Alkoholabhängiger justament zum Tatzeitpunkt nachweislich abstinent war. Wenn man also davon ausgeht, dass die diagnostizierte seelische Störung zum Tatzeitpunkt bestanden hat, dann ist es an dieser Stelle auch von Bedeutung, die Beweismittel zu benennen, die zu belegen vermögen, dass die Störung zum Tatzeitpunkt auch wirksam war, also zum Beispiel zu beschreiben, dass der Angeklagte, wenn er unter einer Schizophrenie litt, zwei Wochen vor der Tat nachweislich von Zeugenaussagen die Medikamente weggelassen hat, für die Umgebung erkennbar krank wurde, bis zur Tat sich nicht mehr behandeln ließ und unmittelbar um die Tat herum und auch danach

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belegbar psychisch auffällig war. Man darf also keinesfalls auf die überkommene Einstellung „einmal verrückt, immer verrückt“ zurückgreifen, sondern muss an dieser Stelle sehr genau belegen, ob zum Tatzeitpunkt eine seelische Störung vorgelegen hat oder eben nicht. Wenn nun die Diagnose formuliert worden ist, folgt als nächster Schritt die Zuordnung dieser Diagnose zu den in § 20 StGB genannten Eingangsmerkmalen. Es ist also jetzt die Frage zu beantworten, ob zum Tatzeitpunkt eine krankhafte seelische Störung, eine tiefgreifende Bewußtseinsstörung, ein Schwachsinn oder eine schwere andere seelische Abartigkeit bestanden hat. Wenn diese Frage beantwortet ist, muss im nächsten Schritt untersucht werden, in welchem Ausmaß die genannte Störung zum Tatzeitpunkt vorgelegen hat und welche Funktionsbeeinträchtigungen diese nach sich zog. Hier ist also detailliert zu beschreiben, welche aus der Störung abgeleiteten Funktionsbeeinträchtigungen zum Tatzeitpunkt bestanden haben, soweit dies aus der Rekonstruktion dessen, was zu diesem Zeitpunkt bekannt ist, möglich ist. Aus dieser Beschreibung der Funktionsbeeinträchtigungen leitet sich dann im nächsten Schritt die Beantwortung der Frage ab, ob die Einsichtsfähigkeit und/oder die Steuerungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt aufgehoben oder erheblich vermindert war. Schlussendlich ist noch die Frage zu beantworten, ob alternative Beurteilungsmöglichkeiten denkbar sind, welche die bisherige Beurteilung in Frage stellen könnten. Diese Frage ist sehr einfach zu beantworten, wenn man sich bei der diagnostischen Bewertung und den hieraus abzuleitenden Schlussfolgerungen sicher ist. Bestehen indes Unsicherheiten, so sollte man sich der Frage nach alternativen Beurteilungsmöglichkeiten nur mit größter Vorsicht nähern. Man sollte sie aber dann, wenn solche in Frage kommen, auf jeden Fall beantworten, um auf kritische Fragen der Verfahrensbeteiligten vorbereitet zu sein und solchen Fragen auch im Vorfeld schon den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Die Beurteilung der Prognose Die Beurteilung der Prognose stellt an einen Sachverständigen hohe Anforderungen. Verlangt wird nichts anderes als ein belastbarer Blick in die Zukunft und die damit verbundenen Risiken auf der Basis der Beurteilung des Verhaltens in der Vergangenheit und in der Gegenwart. Biographisches Material lässt sich nun im Hinblick auf kriminogenes Verhalten relativ gut beschaffen, wenn man sorgfältig genug recherchiert. Schwieriger ist aber die Beurteilung des aktuellen klinischen Zustandes und der hieraus abzuleiten-

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den Einschätzung über zukünftiges Verhalten, da die Probanden sich zum Untersuchungszeitpunkt in aller Regel in Institutionen wie Justizvollzugsanstalten oder Kliniken für forensische Psychiatrie aufhalten und ihr Verhalten dort kaum verlässliche Rückschlüsse darauf zulässt, was sie denn tun würden, wenn sie sich selbst überlassen blieben und nicht mehr der Kontrolle durch die Institutionen unterworfen wären. Zudem verführt der Gutachtenauftrag – die Entscheidung über zukünftige Freiheit – die Probanden zu einem besonderen Wohlverhalten dem Untersucher gegenüber. Nicht selten wird man damit konfrontiert, dass die Probanden den eigenen Anteil an dem Geschehen klein und ihr zukünftiges Verhalten schön zu reden versuchen. Um bei der Beantwortung dieser besonders heiklen Frage nach zukünftig rechtswidrigem Verhalten einen festeren Boden unter die Füße zu bekommen, hat eine Arbeitsgruppe aus Juristen und Psychiatern im Jahr 2006 ebenso wie bei den Kriterien zur Begutachtung der Schuldfähigkeit einen Katalog von formalen und inhaltlichen Mindestanforderungen erstellt, aus dem der in der Tabelle 2 zusammengefasste formale Aufbau entnommen ist und der im Folgenden erläutert werden soll. Weiterhin sind in dem Bemühen, die Vorhersagegüte zu verbessern, in den letzten Jahren eine ganze Reihe standardisierter Fragebögen und Interviewleitfäden zur Einschätzung der Prognose entwickelt worden, auf die dann im nächsten Abschnitt kurz eingegangen werden soll. Tabelle 2

• Gutachtenauftrag • Fragestellung • Erkenntnisquellen • Untersuchungsmethoden • Rechtliche Belehrung • Sachverhalt nach Aktenlage • Eigene Untersuchungen

- Prädeliktische Entwicklung - Angaben zur sozialen Vorgeschichte - Kindheit und Jugend - Familiäre Beziehungen - Schulische Entwicklung - Berufliche Entwicklung - Freundschaften und Hobbys - Entwicklung der Persönlichkeit - Aktuelle Lebenssituation - Lebensplanung - Krankheitsvorgeschichte - Entwicklung der Delinquenz - Anlassdelikt

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• • • • • •

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- Aktueller klinischer Zustand - Psychischer Befund - Körperlicher und neurologischer Befund - Zusatzuntersuchungen - Standardisierte Prognosebewertung - Sozialer Empfangsraum - Zusammenfassende Bewertung Diagnose und Differentialdiagnose Darlegung der Funktionsbeeinträchtigungen, welche im Allgemeinen durch die vorliegenden Störungen bedingt werden Bewertung der allgemeinen aus der Störung resultierenden Risiken Auseinandersetzung mit den Vorgutachten Beurteilung der Prognose Maßnahmen zur Verbesserung der Prognose

Die Mindeststandards zur Prognosebeurteilung umfassen im Kern vier Themenfelder, die zu bearbeiten sind. Im Einzelnen sind dies die prädeliktische Entwicklung, eine rückblickende Bewertung des Anlassdeliktes, die Beurteilung des aktuellen klinischen Zustandes und die Beurteilung des sozialen Umfeldes, wenn eine Entlassung in Betracht käme. Im Abschnitt prädeliktische Persönlichkeitsentwicklung sollte zunächst gründlich auf die soziale Vorgeschichte einschließlich Kindheit und Jugend, den familiären Beziehungen, der schulischen und beruflichen Entwicklung, der Freundschaften und Hobbys, der sexuellen Entwicklung und Partnerschaften eingegangen werden. Insbesondere ist hier das Augenmerk zu richten auf Faktoren der sozialen Integration bzw. Desintegration und daraus abzuleitender Ressourcen für soziale Kompetenz bzw. die Art und Weise, wie mit Belastungssituationen in der Vorgeschichte umgegangen wurde, also über welche Coping-Strategien der Proband verfügt. Schließlich ist die Entwicklung der Persönlichkeit bis hin zu der heutigen Persönlichkeitsgestalt zu beschreiben. Danach erfolgt die Beschreibung der Krankheitsvorgeschichte insbesondere auch im Hinblick auf den Umgang des Probanden mit seiner Erkrankung. Im nächsten Abschnitt soll das Anlassdelikt beleuchtet werden und zwar im Einzelnen der inhaltliche Kontext der psychiatrischen Erkrankung und der Persönlichkeitsstruktur mit dem Delikt, der situative Kontext und besondere motivationale Hintergründe der Tat. Es geht also im Kern darum, die Tat auf einer Skala ihres Bedingungsgefüges einzuordnen: An deren einem Ende steht die Tat, die ausschließlich aus der Situation heraus und völlig unabhängig von einer etwaigen seelischen Erkrankung oder einer Persönlich-

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keitsstörung entstanden ist. An deren anderem Ende steht eine Tat, die sich ausschließlich durch die seelische Störung erklären lässt, etwa bei einem Tötungsdelikt infolge einer wahnhaften Personenverkennung. Die Bewertung des inneren Zusammenhanges zwischen der Erkrankung und der Anlasssituation einerseits sowie der Tat andererseits ergibt für sich genommen schon wertvolle Hinweise für die Beurteilung der Prognose. Ganz wesentlich ist natürlich an dieser Stelle auch eine eingehende Auseinandersetzung mit der aktuellen Sicht des Probanden auf das Anlassdelikt. Sieht er jetzt die eigene Schuld, zeigt er Reue, den Willen, zukünftige Straftaten zu vermeiden und wie will er dies umsetzen. Diese Frage leitet über zu dem nächsten Abschnitt, der Bewertung des aktuellen klinischen Zustands. Hier geht es zunächst einmal um die Frage, inwieweit sich die das Anlassdelikt begründende seelische Störung in der Zwischenzeit entwickelt hat. Gibt es also Zeichen der klinischen Besserung der Erkrankung sowie Zeichen der Entfaltung der Persönlichkeit oder persistieren deliktspezifische Persönlichkeitszüge und Konfliktbereitschaft. Zeigt sich eine Einsichtsfähigkeit in die Erkrankung und ein damit verbundener Kooperationswille sowie die Bereitschaft, sich den therapeutischen Anordnungen zu unterziehen? Haben sich in der Zwischenzeit soziale Fertigkeiten entwickelt, insbesondere auch soziale Anpassungsleistungen und die Fähigkeit zu Bewältigungsstrategien, um möglichen zukünftigen Konflikten aus dem Weg zu gehen? Die Frage nach Entwicklung von Bewältigungsstrategien stellt sich natürlich im besonderen Maße, wenn eine Abhängigkeit, also ein Hang, tatkonstituierend war. Schließlich sollte im letzten Abschnitt erklärt werden, wie es um das soziale Umfeld bei einer etwaigen Entlassung bestellt ist. Gibt es konkrete Aussichten auf eine sinnvolle Beschäftigung und Arbeit? Besteht die Möglichkeit, in einem störungsfreien Umfeld zu wohnen. Gibt es verlässliche Bezugspersonen, auf die der Proband zurückgreifen kann und bestehen entsprechende soziale Kontrollmöglichkeiten in Gestalt von verantwortlichen Nachsorgeeinrichtungen? Jetzt sollte eine erste zusammenfassende Bewertung aller bisher erhobenen Befunde erfolgen, bevor im nächsten Abschnitt Diagnose und Differentialdiagnose formuliert werden. Auch jetzt gilt wie bei Gutachten zur Frage der Schuldfähigkeit, die Diagnose in verständlichen Worten zu erläutern und im nächsten Schritt daraus abzuleiten, welche Funktionsbeeinträchtigungen im Allgemeinen aus der beschriebenen Störung resultieren. Im Hinblick auf die Frage nach der Prognose leitet sich dann aus der Schilderung der allge-

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meinen Funktionsbeeinträchtigungen die Bewertung ab, welche besonderen kriminogenen Risiken auf diesen Funktionsbeeinträchtigungen erwachsen. Nach dieser zwar auf die Erkrankung des Probanden bezogenen aber letztlich allgemeinen Risikoabschätzung ist es notwendig, sich mit den Beurteilungen der Vorgutachter auseinanderzusetzen und deren prognostische Einschätzung kritisch zu würdigen. In einer Zusammenschau all dieser aus den verschiedenen genannten Informationsquellen gespeisten Fakten ist dann Stellung zu beziehen zu der Frage, ob die in dem Anlassdelikt zutage getretene Gefahr in dem konkreten Fall weiterhin besteht oder nicht. Hierbei sollten die allgemeinen Prognosedaten, die uns aus der wissenschaftlichen Literatur zugänglich sind, als Beurteilungsraster hinterlegt werden. Schließlich ist zu benennen, welche therapeutischen und rehabilitativen Maßnahmen erforderlich sind, um die Prognose zu verbessern.

Prognoseinstrumente Auch wenn durch die beschriebene strukturierte Vorgehensweise schon ein gutes Maß an Beurteilungssicherheit gewonnen werden kann, kann es als Hilfsargument nützlich sein, standardisierte Prognoseinstrumente zu verwenden, weil mittels dieser Instrumente die eigene Einschätzung falsifiziert oder verifiziert werden kann und in letzterem Falle die Konvergenz der Indizien die Aussagesicherheit zu erhöhen vermag. Es sind nun in den letzten Jahren einige Prognoseinstrumente entwickelt worden, teils in Gestalt von Leitfäden wie zum Beispiel die Kriterienliste nach Dittmann, teils in Gestalt von operationalisierten Fragekatalogen wie FOTRES (Forensisches operationalisiertes Therapie-Risiko-Evaluations-System), VRAG (Violence Risk Appraisale Guide) und HCR-20. Auch wenn der Reiz dieser Instrumente darin besteht, dass sie zu einer operationalisierten Risikoabschätzung führen, so bleibt doch das Problem, dass die diagnosespezifische Prognoseleistung dieser Verfahren relativ niedrig ist und deshalb nicht dazu verführen darf, sich von deren Aussagen in der Beurteilung wesentlich leiten zu lassen. Man sollte gleichwohl aus den eingangs genannten Gründen diese Prognoseinstrumente zur kritischen Abwägung und Absicherung der eigenen Bewertung heranziehen. Letztendlich bleibt es aber dem Gutachter nicht erspart, ein eigenes Urteil zu fällen und dies mit guten Argumenten zu vertreten.

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Die Beurteilung des Hangs Die Entscheidung des Gerichtes, einen Straftäter mit einer Unterbringung in der Sicherungsverwahrung zu sanktionieren, setzt neben anderen Vorschriften gemäß § 66 Abs. 3 StGB voraus, dass die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, dass er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, für die Allgemeinheit gefährlich ist. Hier wird im Gesetzestext eine andere inhaltliche Bestimmung des Hangs eingeführt als in § 64 StGB. Während dort der Hang als Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, definiert wurde, also im psychiatrischen Sinn als Abhängigkeit von psychotropen Substanzen, ist hier der Hang zu erheblichen Straftaten gemeint. Zur Beurteilung der Frage, ob ein solcher Hang zu kriminellem Verhalten vorliegt, ist der psychiatrische Sachverständige aufgefordert, von dem in der Beurteilung der Fragen zur Schuldfähigkeit und zur Prognose gewohnten Bewertungsschema völlig abzuweichen. Geht es doch jetzt nicht mehr nur um die Frage, ob eine seelische Störung vorliegt, in deren Folge Funktionsbeeinträchtigungen auftreten, die es dann in ihrer Art und ihrem Ausmaß zu bewerten gilt. Es stellt sich jetzt vielmehr auch und insbesondere die Frage nach krankheitsunabhängigen persönlichen Wesenszügen, welche in besonderem Maße zu kriminellem Verhalten disponieren. Zur Beantwortung dieser Frage empfiehlt es sich, die drei im Gesetz genannten Merkmalskategorien Gesamtwürdigung des Täters, Erheblichkeit der Straftat und Gefährlichkeit für die Allgemeinheit getrennt zu betrachten. Während die Beantwortung der beiden letztgenannten Kategorien wesentlich dem Gericht obliegt, ist die Gesamtwürdigung des Täters die eigentliche Domäne des psychiatrischen Gutachtens. Hier hat es sich nun bewährt, die Persönlichkeit des Probanden analog der Prognosebeurteilung in drei Dimensionen zu betrachten und zwar einmal die Vorgeschichte namentlich unter dem Gesichtspunkt der kriminellen Entwicklung, dann das aktuelle Querschnittsbild und schließlich die möglichen zukünftigen Perspektiven. In der Vorgeschichte gilt das besondere Augenmerk der Frage, welchen sozialen Verhältnissen der Proband entstammt und wie sich sein soziales Verhalten entwickelt hat, das heißt also, wie er seine Beziehungen gestaltet, wie sich sein Arbeitsverhalten darstellt, ferner ob es Hinweise auf Abhängigkeit oder Missbrauch gibt. Weiterhin ist danach zu fragen, in welchem Lebensumfeld sich der Proband bewegt und inwieweit er Kontakte im kriminellen Milieu pflegt, wie es um seine bisherige kriminelle Karriere beschaffen ist. Insbe-

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sondere ist die Frage nach dem Einstiegsalter, der Art der Straftaten und der Rückfallgeschwindigkeit zu stellen. Prognostisch ungünstig zu werten wäre eine Gleichförmigkeit der Delikte über die Jahre hinweg, also ein immer gleiches, sich zur Gewohnheitsbildung entwickelndes Deliktverhalten, eine hohe Rückfallgeschwindigkeit und wenig innere Distanz zu der bisherigen kriminellen Karriere einschließlich der etwaigen Neigung, die Verhältnisse zu beschuldigen und den eigenen Anteil an der Entwicklung klein zu reden. Wichtig ist hierbei auch die Klärung der inneren Beziehung zwischen dem Täter und seinen Taten, insbesondere die Frage, ob sich die frühere Delinquenz eher durch persönlichkeitsgebundene oder situationsgebundene Faktoren erklären lässt. So wird man die Prognose anders zu bewerten haben, wenn die Delinquenz die Folge einer dissozialen Persönlichkeit war, als wenn sie in einer Abhängigkeit begründet ist. Selbstverständlich ist auch zu klären, ob seelischen Störungen eine konstituierende Bedeutung zukommt. Nicht allzu selten verbergen sich nämlich hinter Seriendelikten unter anderem bislang nicht entdeckte wahnhafte Entwicklungen oder hirnorganische Störungen. Neben diesen im Längsschnitt wie im Querschnitt zu ermittelnden seelischen Störungen sollte im Zentrum der Betrachtung die Beschreibung der Persönlichkeit stehen. Drei Konstrukten der Persönlichkeitsstörungen kommt hierbei ein besonders negativer prädiktiver Wert zu, nämlich der dissozialen Persönlichkeitsstörung, der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typus und dem so genannten psychopathy construct, wobei das letztere Konstrukt Überschneidungen mit dem Konzept der dissozialen Persönlichkeit hat. Diagnostisch ungünstig zu bewerten wären demnach einzelne Dimensionen wie mangelnde Empathie und damit verbunden ein Unbeteiligtsein gegenüber den Gefühlen der anderen, eine deutliche und andauernde Verantwortungslosigkeit und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen, ein Unvermögen zur Beibehaltung längerfristiger Beziehungen, eine sehr geringe Frustrationstoleranz und eine niedrige Schwelle für aggressives, gewalttätiges Verhalten, eine Unfähigkeit zum Erleben von Schuldgefühlen oder eine Unfähigkeit, aus Erfahrungen insbesondere der Bestrafung zu lernen sowie eine Neigung, andere zu beschuldigen oder vordergründige Rationalisierungen für das eigene Verhalten anzubieten. Ferner eine ausgeprägte Neigung zu impulsivem Handeln ohne Berücksichtigung von Konsequenzen verbunden mit einer wechselnden, instabilen Stimmung und einem Mangel an Fähigkeiten, vorauszuplanen sowie eine hohe Irritierbarkeit, eine Augenblicksverhaftung und ein geringes Selbstwertgefühl. Weitere negative Prädiktoren können sein Haltlosigkeit, eine Neigung, sich dem Augenblick hinzugeben

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und Arbeitsscheu. Aus dem Bereich des psychopathy construct wären zu nennen ein arroganter und betrügerischer interpersoneller Stil, gekennzeichnet von Oberflächlichkeit und einem großspurigen, betrügerischmanipulativem Auftreten. Schließlich ein defizitäres affektives Erleben verbunden mit einem Fehlen von Reue und Schuldgefühlen, einem Mangel an Empathie und persistierender Verantwortungslosigkeit. Zuletzt ein impulsiver und unverantwortlicher Lebensstil, der gekennzeichnet ist durch impulsives, an die Befriedigung augenblicklicher Bedürfnisse gebundenes Verhalten, fehlende Lebensziele und ein gering ausgeprägter Bindungswille. Vice versa lassen sich aus der aufgeführten Liste prognostisch günstige Faktoren ablesen. Positiv in die Waagschale zu werfen wäre etwa ein stabiles soziales Herkunftsmilieu, eine eher situationsgebundene kriminelle Entwicklung, fehlende Hinweise für Persönlichkeitsstörungen der genannten Art, eine behandelbare seelische Erkrankung, hohe Empathiefähigkeit, das Vorliegen von echten Schuldgefühlen, die Fähigkeit, seine Handlungen zu kontrollieren, ein entwickeltes Selbstkonzept und die Fähigkeit zu Toleranz und zwischenmenschlichem Engagement. Zuletzt sollte die Frage beantwortet werden, was wäre, wenn der Proband zum jetzigen Zeitpunkt sich selbst überlassen bliebe. Wäre er aufgrund seiner charakterlichen Disposition zu einem straffreien Leben in der Lage und verfügt er über einen tragfähigen sozialen Empfangsraum wie eine Familie und ferner realistische Möglichkeiten zum Wohnen und Arbeiten. Wenn man nun eine der oben beschriebenen Persönlichkeitsstörungen diagnostiziert und sich die kriminelle Karriere aus dieser Persönlichkeitsstörung ableiten lässt, dann trifft sich diese Einschätzung mit der juristischen Definition eines so genannten Hangtäters, wonach dieser in der Regel ein Berufskrimineller ist, welcher dem ihm innewohnenden Hang zu strafbarem Verhalten in Situationen nachgibt, in denen Andere Auswege finden oder den Anreiz zur Tat zu überwinden vermögen. Diese Definition legt auf den ersten Blick eine durch den Hang bedingte Einschränkung der freien Willensbildung nahe. Das ist aber gerade nicht gemeint. Die Rechtssprechung setzt bei dem Hang zu Straftaten eben gerade die Fähigkeit, sich so und nicht anders zu entscheiden, voraus. Wenn man nun aus psychiatrischer Sicht zu dem Schluss kommt, dass dieser Hang etwa in einer dissozialen oder einer emotional-instabilen Persönlichkeit begründet und daher eine schwere andere seelische Abartigkeit anzunehmen ist, heißt dies aber nicht, dass damit eine erhebliche Minderung oder gar Aufhebung der Schuldfähigkeit in Betracht käme. Dies kann nur dann diskutiert werden, wenn die Persönlichkeitsstörung so schwer ausgeprägt ist, dass sie mit Defiziten vergleichbar ist, die infolge schwerer krankhafter seelischer Störun-

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gen, etwa einer Schizophrenie, auftreten. Indizien für die besondere Schwere der Persönlichkeitsstörung können im Einzelfall sein erhebliche Auffälligkeiten der Affektregulation, denen der Betroffene trotz nachweisbarer Willensanstrengung nichts entgegenzusetzen vermag, eine ausgeprägte Stereotypisierung des Verhaltens, wenn also Straftaten nur noch nach einem Reiz-Reaktions-Schema und ohne Beachtung des persönlichen Gewinns ablaufen, eine deutliche Schwäche der Abwehrmechanismen und auffällige Störungen der Realitätsprüfung, daraus abzuleitende Einschränkungen des Selbstwertgefühls und der Ich-Fähigkeit, eine durchgängige Beeinträchtigung der Fähigkeit, Beziehungen zu gestalten und ein unflexibler, unangepasster Denkstil, der zu unangemessenem und abweichendem Verhalten führt. Die Richtschnur hierbei muss das Ausmaß der Störung und der damit verbundenen Funktionsbeeinträchtigungen sein, welches durch krankhafte seelische Störungen ausgelöst wird. Dem Lebensstil eines Sonderlings, der sich nicht um soziale Normen schert und sich zum Außenseiter hochstilisiert, aber genau weiß, wie er sich auch ohne geregelte Arbeit durchs Leben schlägt, ist keineswegs ein schuldmindernder Einfluss zuzumessen.

Schlussbetrachtungen Die aufgezeigten Eckpunkte bei der Begutachtung psychisch Kranker zur Frage ihrer Schuldfähigkeit, der Prognose, des Hanges, im Übermaß Alkohol oder andere berauschende Drogen zu sich zu nehmen sowie in Abgrenzung hierzu des Hanges zu erheblichen Straftaten sollen einen ersten Einblick vermitteln in die Praxis der psychiatrischen Begutachtung und Wegmarken der Beurteilung setzen. Eines darf aber nicht vergessen werden: Keine Handanweisung vermag die Erfahrung zu ersetzen. Erst die immer wiederkehrende Auseinandersetzung mit Menschen, die durch eigene Schuld oder seelische Erkrankung in die Lage geraten sind, eine Straftat zu begehen, schärft den Sinn für die Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Denkens, Fühlens und Wollens, mithin der entscheidenden Voraussetzungen, so oder eben anders handeln zu können. Mit anderen Worten: Die menschliche Erfahrung, die verständnisvolle Einfühlung in die Denkund Erlebenswelt des anderen – und sei sie noch so absonderlich – ist durch keine Theorie zu ersetzen. Letztere verhilft aber dazu, aus den vielgestaltigen Erfahrungen einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu titrieren, der Orientierung zu geben vermag bei der keineswegs leicht zu beantwortenden Frage danach, was krank ist oder nicht und was hieraus für die Verantwortlichkeit und für die Zukunft des zu beurteilenden Menschen folgt.

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Zivilrechtliche Aspekte bei der Begutachtung psychisch Kranker Im Folgenden sollen einige zivilrechtlichen Aspekte in der psychiatrischen Begutachtung psychisch Kranker dargestellt und diskutiert werden. Besondere Beachtung finden hierbei die Bereiche Geschäfts- und Testierfähigkeit.

Rechtsstellung in Abhängigkeit vom Lebensalter Von der Kenntnis der altersabhängigen Änderungen der Rechtsstellung eines Menschen wird bei der psychiatrischen Begutachtung ausgegangen. Detailliert dargestellt findet man dieses u. a. bei Schüler-Springorum. Entsprechend dem Lebensalter ändert sich für eine Rechtsperson im Laufe seiner Entwicklung von Geburt bis zum Erwachsenenalter seine Rechtsstellung mit den damit verbundenen Rechten und Pflichten. Vollendung der Geburt

Rechtsfähigkeit, Grundrechtsfähigkeit, Zivilprozessuale Parteifähigkeit

6 Jahre

Schulpflicht

7 Jahre

Beschränkte Geschäftsfähigkeit Beschränkte Deliktfähigkeit

12 Jahre

Beschränkte Religionsmündigkeit

14 Jahre

Volle Religionsmündigkeit, Bedingte Strafmündigkeit, Beschwerderecht (FGG), Anhörungsrecht,

15 Jahre

Ende der allg. Schulpflicht

16 Jahre

Bedingte Ehemündigkeit, Testierfähigkeit, Eidesmündigkeit

18 Jahre

Volljährigkeit (Zivilrecht), Heranwachsender

21 Jahre

Ende des Jugendstrafrechts

(Modifiziert nach Schüler-Springorum)

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Zivilrechtliche Fragestellungen für den psychiatrischen Gutachter Für den psychiatrischen Sachverständigen umfassen die zivilrechtlichen Fragestellungen ein weitgespanntes Spektrum. Sie beziehen sich auf Fragen des Ehe-, des Sorge-, des Betreuungs-, sowie des Transsexuellengesetzes. Mit eingeschlossen sind ebenso die Delikt- und Prozessfähigkeit, wie die Geschäfts- und Testierfähigkeit und Haftungs- und Entschädigungsfragen. Der Gutachter wird insbesondere bei folgenden Fragestellungen hinzugezogen. • Geschäftsunfähigkeit (§ 104 BGB) • Nichtigkeit der Willenserklärung (§ 105 BGB) • Testierunfähigkeit (§ 2229 BGB) • Prozessunfähigkeit (§ 51 ZPO ) • Nichtigkeit der Ehe (§ 18 EheG ) • Betreuung (§§ 1896ff BGB und §§ 280 FamFG ) • zivilrechtliche Entschädigung • zivilrechtliche Haftung

Geschäftsunfähigkeit § 104 BGB/ Nichtigkeit der Willenserklärung §105BGB Einen zentralen Punkt in der zivilrechtlichen Begutachtung nimmt die Frage nach der Geschäftsfähigkeit ein, da sie in viele andere Rechtsbereiche hineinwirkt, wie z. B. im Rahmen der Delikt-, Prozess-, und Ehefähigkeit sowie des Betreuungsrechts. Nach dem Gesetz ist eine Person ab dem achtzehnten Lebensjahr naturgemäß geschäftsfähig. Geschäftsunfähigkeit muss dann von dem, der dies behauptet, positiv bewiesen werden. Der Gesetzgeber definiert Bedingungen, die die Voraussetzungen zur Annahme der Geschäftsunfähigkeit bzw. der Nichtigkeit der Willenserklärung beinhalten. Diese sind in den §§ 104-113 BGB festgelegt. Das Bürgerliche Gesetzbuch formuliert die Voraussetzungen zur Annahme der Geschäftsunfähig gemäß §104 BGB: • (1) wer nicht das 7. Lebensjahr vollendet,

ZIVILRECHTLICHE ASPEKTE BEI DER BEGUTACHTUNG PSYCHISCH KRANKER

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• (2) wer sich in einem die freie Willensbildung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistesstätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist Demgegenüber ist die Nichtigkeit der Willenserklärung (§105 BGB) gemäß den gesetzlichen Voraussetzungen zu beurteilen: • Die Willenserklärung eines Geschäftsunfähigen ist nichtig. • Nichtig ist auch eine Willenserklärung, die im Zustande der Bewusstlosigkeit oder vorübergehender Störung der Geistestätigkeit abgegeben wird. Wie bereits in der Übersicht nach Schüler-Springorum dargestellt, gibt es Sonderformen der Geschäftsfähigkeit. So ist ein Kind ab dem 7. Lebensjahr bedingt geschäftsfähig. Es kann nur für sich vorteilhafte Rechtsgeschäfte tätigen, ansonsten bedarf es der Einwilligung des gesetzlichen Vertreters. Daneben gibt es die partielle Geschäftsunfähigkeit, z. B. des Wahnkranken, insofern sich der Wahn monothematisch darstellt. Für den Bereich des Wahns, z. B. des Eifersuchtswahns, kann der Betreffende geschäftsunfähig sein. Eine graduelle/relative Geschäftsfähigkeit bzw. Geschäftsunfähigkeit gestaffelt nach dem Schwierigkeitsgrad des Rechtsgeschäftes gibt es nicht. Diese wird mit dem Hinweis auf die notwendige Rechtssicherheit im Zivilrecht abgelehnt. Durch die Einführung des Betreuungsrechtes ist jedoch eine Relativierung eingetreten. Mit dem Konstrukt des Einwilligungsvorbehaltes kann eine „Geschäftsunfähigkeit“ für einzelne Angelegenheiten für den Betreuten formuliert werden. Sie ist nicht mit der Geschäftsunfähigkeit nach §104 BGB gleichzusetzen, da der Betreute auch bei einem Einwilligungsvorbehalt Rechtsgeschäfte tätigen kann. Er braucht für die Rechtsgültigkeit die Zustimmung des Betreuers. Darüber hinaus sind höchstpersönliche Rechtsgeschäfte für den Betreuten weiterhin möglich. Für die Beurteilung des psychiatrischen Sachverständigen, das eine psychische Störung zur Annahme der Geschäftsunfähigkeit führt, muss eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit des Intellektes, des Willens, des Gefühls oder des Trieblebens vorliegen, welche eine derartige Funktionseinbuße mit sich bringt, dass es hierdurch zu einem Ausschluss der freien Willensbildung durch Fehlen der normalen Bestimmbarkeit durch vernünftige Erwägungen oder das Fehlen von Willensbildung durch vernünftige Motive kommt. So formulierten Habermeyer und Saß (2002) Kriterien, nach denen die Voraussetzungen einer „freien Willensbestimmung“ aus psychiatrischer Sicht nicht mehr gegeben sein können.

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So z. B. wenn: • Die Kognitive Voraussetzungen der Intentionsbildung und die Prozesse der Intentionsinitiierung und -realisation beeinträchtigt sind. • Die motivationalen Voraussetzungen der Willensbildung verändert sind, indem sie den Zugang zu Wertvorstellungen bzw. Wertgefügen oder affektive dynamische Grundlagen von Entscheidungsprozessen verformen. Sie benannten psychopathologische Auffälligkeiten, die eine Beeinträchtigung der Willensbildung beinhalten können: • Bewusstseinsstörungen • Orientierungsstörung zu Person und Situation • Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörung • IQ (unter 60) • formale Denkstörung wie Gedankenabreißen • Halluzinationen, wahnhafte Realitätsverkennung, Personenverkennung • Fremdbeeinflussungserleben, gravierende Ich-Störungen • Affektstörung • Schwere Persönlichkeitsstörungen Besondere Bedeutung, ob eine psychische Erkrankung die psychiatrische Voraussetzung zur Annahme der Geschäftsunfähigkeit darstellt, kommt somit der Beurteilung des Ausschlusses der freien Willensbestimmung zu. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass ein Ausschluss der freien Willensbestimmung vorliegt, wenn die Person • nicht mehr in der Lage ist , ihre Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen( BGH NJW 170,1681), • das Unvermögen, die Tagweite der abgegebenen Erklärung zu erfassen, reicht nicht aus (BGH NJW 1961, 261), • sich in krankhafter Weise von dem Willen eines Anderen beherrschen lässt. Für die Annahme des Ausschlusses der freien Willensbestimmung reicht es jedoch nicht aus, wenn bei der betreffenden Person eine bloße Willensschwäche oder leichte Beeinflussbarkeit vorliegt. Als Beispiel sei folgender Fall angeführt. Eine Person, die, um einen Konflikt aus dem Weg zu gehen,

ZIVILRECHTLICHE ASPEKTE BEI DER BEGUTACHTUNG PSYCHISCH KRANKER

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einen Vertrag unterzeichnet und anschließend Geschäftsunfähigkeit für sich reklamiert. Beispielhaft lassen sich zu einigen Diagnosen die zur Geschäftsunfähigkeit führenden Symptome wie folgt darstellen: Diagnose

Aufhebung der Geschäftsfähigkeit, wenn Handlung erfolgte aufgrund:

Schizophrene Störung

Wahn, imperative Stimmen, psychotische Ambivalenz, Antriebsstörung, die unfähig macht, eigene Rechte wahrzunehmen

Manische Episode

Größenwahn, erhebliche psychotische Selbstüberschätzung

Depressive Episode

Schuld- und Verarmungswahn

Demenz

Wahn, Desorientiertheit zu Situation, zur Person

Testierfähigkeit §2229 BGB Eine Sonderform der Geschäftsfähigkeit ist die Testierfähigkeit. Sie wird im §2229 des BGB definiert: • Ein Minderjähriger kann ein Testament erst errichten, wenn er das 16. Lebensjahr vollendet hat. • Der Minderjährige bedarf zur Errichtung eines Testamentes nicht der Zustimmung seines gesetzlichen Vertreters. • Wer wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit, wegen Geistesschwäche oder wegen Bewusstseinsstörung nicht in der Lage ist, die Bedeutung einer von ihm abgegebenen Willenserklärung einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln, kann ein Testament nicht errichten. • Der Minderjährige kann nur ein öffentliches Testament errichten (Notar). • Der Blinde, Taube und des Lesens Unkundige kann nur ein öffentliches Testament errichten. • Personen mit natürlicher Geschäfts- und Erklärungsunfähigkeit können kein Testament errichten.

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Dies bedeutet nicht, dass ein Betreuter kein Testament verfassen kann. Vielmehr hat eine gesetzliche Betreuung nach dem BGB keine direkt rechtlichen Auswirkungen auf die Testierfähigkeit. Besteht ein Einwilligungsvorbehalt, hat dieser keine über den Tod hinaus reichende Rechtskraft. Die Testierfähigkeit erfordert somit, dass der Erblasser • weiß, dass er ein Testament errichtet, • den Inhalt der letztwillige Verfügung kennt, • bei der Erstellung nicht dem Einfluss Dritter erliegt, • seinen letzten Willen formulieren kann, • die Tragweite seiner Bestimmung in wirtschaftlicher und persönlicher Hinsicht erfassen kann und • die sittliche Berechtigung seiner Verfügung beurteilen kann Eine besondere Schwierigkeit in der Begutachtung besteht für den Sachverständigen darin, dass die Überprüfung der Testierfähigkeit eines Erblassers erst nach dessen Tod erfolgen kann. Die Rechtskräftigkeit tritt erst mit dem Tod ein und kann erst dann angefochten werden. Somit muss der Gutachter seine Begutachtung auf die Aktenlage und etwaige (meist subjektive) Zeugenaussagen stützen. Häufig wird er dann mit der Angabe von Zeugen konfrontiert, der Erblasser habe zum Zeitpunkt der Testamentserstellung einen „lichten Moment“ gehabt.

Luzides Intervall Handelt es sich um eine psychische Erkrankung, die periodisch auftritt, schubweise oder sonst in Abständen, besteht in den nicht kranken Zwischenzeiten oder sogenannten luziden Intervallen Geschäftsfähigkeit. In den Zeiten in denen die Krankheit unterbrochen oder durch Behandlung „geheilt“ ist besteht Geschäftsfähigkeit. Der Begriff des luziden Intervalls sollte – wie Habermeyer ausführt – kritisch hinterfragt werden (E. Habermeyer, 2009). Es bedarf der medizinisch begründeten „ernsthaften Möglichkeit“, dass ein luzides Intervall vorgelegen habe. Dies müsse durch die Feststellung und Beweislast nachgewiesen werden.

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Testierunfähigkeit Die Beurteilung der Testierunfähigkeit bedarf eines/einer • klaren psychiatrischen Krankheitsbildes, • unzweifelhaften Verlaufs, • prägnanter psychopathologischer Funktionseinbußen zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung. Nach Wetterling et al. (1996) bestehen Hinweise auf das Vorliegen einer Willensschwäche mit der Möglichkeit der Einflussnahme, wenn: • Einschränkung der Urteilsfähigkeit aufgrund kognitiver Beeinträchtigung bestehen, • die Person, die einen Einfluss ausüben könnte, dem Erblasser nahe steht, • der Erblasser von der Person abhängig ist. • sich aufgrund von Zeugenaussagen Hinweise auf Beeinflussbarkeit ergeben, insbesondere auf wechselnde wertende Urteile innerhalb kurzer Zeit.

Von Testierunfähigkeit kann ausgegangen werden, wenn die Erwägungen und Willensentschlüsse des Testamentverfassers durch krankhafte Vorstellungen oder Empfindungen derart beeinflusst werden, dass man sagen kann, dass sie davon beherrscht werden. Gleichwohl kann sich der Erblasser im Rahmen der Testierfreiheit von „unvernünftigen“ Erwägungen leiten lassen (B.-R. Kern, 2009), solange seine Entscheidungen durch eine freie Willensentscheidung entstanden sind. Die Testierunfähigkeit muss von dem, der sie behauptet, positiv bewiesen werden. Die volle Beweislast besteht auch dann, wenn eine Betreuung besteht. Das Gericht ist an die rechtliche Beurteilung der Geschäftsfähigkeit durch den das Testament beurkundenden Notar nicht gebunden; die von dem Notar über die Testierfähigkeit des Erblassers getroffene Feststellung nimmt nicht an der Beweiskraft öffentlicher Urkunden teil. Man bedenke, dass der Gutachter auf fachlich fundierte Beurteilungskriterien zurückgreifen kann, die einem Notar nur in begrenztem Umfang zur Verfügung stehen. Daher

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kann eine detaillierte, fachlich fundierte Beurteilung des Sachverständigen zur Testierfähigkeit zu einem anderen Ergebnis führen. Im Gegensatz zur Geschäftsfähigkeit gibt es keine beschränkte oder partielle Testierfähigkeit. Bei der Begutachtung von Erbverträgen muss die Geschäfts- und nicht die Testtierfähigkeit beurteilt werden. Gerade in der oft schwierigen Beurteilung der Geschäfts- und Testierfähigkeit sollte sich der Gutachter seiner neutralen Rolle als Gehilfe des Gerichtes bewusst sein.

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Literatur BGB Beck Texte im dtv 50. Auflage 2002 Habermeyer, E., Handbuch der Forensischen Psychiatrie. Bd. 5, (Hg) Kröber, Dölling, Leygraf, Sass, S. 51 ff, Steinkopff 2009 Habermeyer, E., Saß, H., Die überdauernde krankhafte Störung der Geistestätigkeit als Voraussetzung der Geschäftsfähigkeit. Nervenarzt 2002, 73: 1094-1099 Habermeyer, E., Saß, H., Voraussetzungen der Geschäftsfähigkeit – Anmerkungen aus psychopathologischer Sicht. Medizinrecht, 2003, 21:543-546 Habermeyer, E., Saß, H., Ein am Willensbegriff ausgerichteter symptomorientierter Ansatz zur Prüfung der Geschäftsfähigkeit. Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie , 2002, 70: 5-10 Kern, B.-R., Handbuch der Forensischen Psychiatrie, Bd. 5, (Hg) Kröber, Dölling, Leygraf, Sass, S. 3 ff, Steinkopff 2009 Nedopil, N., Forensische Psychiatrie, Thieme Verlag, 2007, S. 644 ff Rasch, W., Konrad, N., Forensische Psychiatrie, Kohlhammer Verlag, 2004 , S. 305 ff Schüler-Springorum, H., Rechtswissenschaften. In: Remschmidt, H.,Schmidt, M.H. (Hg) Kinder- und Jugendpsychiatrie in Klinik und Praxis (Bd.1), Thieme, Stuttgart, 2001, S.107-117 Wetterling, T., Neubauer, H., Neubauer, W., Testierfähigkeit bei Dementen. Psychiatrische Praxis, 1996, 23: 213-218

Frankfurter Psychiatrie-Symposion Peter Hartwich (Hrsg.)

Peter Hartwich ♦ Steffen Haas (Hrsg.)

Der Psychiater als Gutachter

Sexuelle Störungen und Probleme bei psychisch Kranken 2002, 160 S., € 18,00 ISBN 978-3-89673-148-7

2010, 134 S., € 18,00 ISBN 978-3-89673-535-5 Peter Hartwich ♦ Arnd Barocka (Hrsg.) Psychisch krank Das Leiden unter Schwere und Dauer 2009, 136 S., € 18,00 ISBN 978-3-89673-503-4 Peter Hartwich ♦ Arnd Barocka (Hrsg.) Von der Kindheit zum Erwachsenenalter. Typische psychiatrische und psychosomatische Erkrankungen 2008, 132 S., € 18,00 ISBN 978-3-89673-452-5 Peter Hartwich ♦ Arnd Barocka (Hrsg.) Schizophrene Erkrankungen: Prophylaxe, Diagnostik und Therapie 2007, 208 S., € 18,00 ISBN 978-3-89673-427-3 Peter Hartwich ♦ Arnd Barocka (Hrsg.) Organisch bedingte psychische Störungen. Diagnostik und Therapie 2006, 174 S., € 18,00 ISBN 978-3-89673-291-0 Peter Hartwich ♦ Arnd Barocka (Hrsg.) Schizoaffektive Psychosen. Diagnostik und Therapie 2005, 202 S., € 18,00 ISBN 978-3-89673-255-2 Peter Hartwich ♦ Arnd Barocka (Hrsg.) Wahn. Definition – Psychodynamik – Therapie 2004, 204 S., € 18,00 ISBN 978-3-89673-208-8 Peter Hartwich ♦ Steffen Haas (Hrsg.) Suizidalität. Diagnostik und Therapie 2003, 120 S., € 18,00 ISBN 978-3-89673-186-9

Peter Hartwich ♦ Steffen Haas (Hrsg.) Aggressive Störungen psychiatrisch Kranker. Umgang und Therapie 2001, 156 S., € 18,00 ISBN 978-3-89673-107-4 Peter Hartwich ♦ Steffen Haas ♦ Konrad Maurer Burkhard Pflug ♦ Sabine Schlegel (Hrsg.) Posttraumatische Erkrankungen. Konvergenz psychischer und somatischer Veränderungen 2000, 136 S., € 18,00 ISBN 978-3-89673-085-5 Peter Hartwich ♦ Steffen Haas ♦ Konrad Maurer Burkhard Pflug (Hrsg.) Affektive Erkrankungen und Lebensalter 1999, 164 S., € 18,00 ISBN 978-3-89673-062-6 Peter Hartwich ♦ Steffen Haas ♦ Konrad Maurer Burkhard Pflug (Hrsg.) Alkohol- und Drogenabhängigkeit: Konzepte und Therapie 1998, 120 S., € 18,00 ISBN 978-3-89673-034-3 Peter Hartwich ♦ Steffen Haas ♦ Konrad Maurer Burkhard Pflug (Hrsg.) Persönlichkeitsstörungen: Psychotherapie und Pharmakotherapie 1997, 144 S. € 18,00 ISBN 978-3-89673-012-1 Peter Hartwich ♦ Steffen Haas (Hrsg.) Pharmakotherapie und Psychotherapie bei Psychosen 1996, 112 S., € 18,00 ISBN 978-3-928238-81-6

Verlag Wissenschaft & Praxis