Der Pazjent als Psychiater : Oskar Panizzas Weg vom Irrenarzt zum Insassen 3884142917

Vom Irrenarzt. Schriftsteller und Häftling zum Antipsychiater, Verleger und entmündigten Geisteskranken - kenntnisreich

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German Pages [243] Year 1999

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Der Pazjent als Psychiater : Oskar Panizzas Weg vom Irrenarzt zum Insassen
 3884142917

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Edition Das Narrenschiff

om Irrenarzt. Schriftsteller und Häftling zum Antipsychiater, Verleger und entmündigten Geistes­ kranken - kenntnisreich und mit vielen Detailinformationen zeichnet diese wissen­ schaftliche Biographie Oskar Panizzas Lebensweg nach: Noch während seiner Assistenzarztzeit unter Gudden, dem Leibarzt des Bayemkönigs Ludwigs II. nahm Panizza erste Symptome einer Geisteskrankheit bei sich wahr. I m diese zu bewältigen, wandte er sich dem Schreiben zu. für sein bekanntestes Werk. »Das Liebeskonzil«, erhielt Panizza ein Jahr Gefängnis wegen Gotteslästerung. Die meisten seiner Werke w urden beschlagnahmt, aber durch die Diagnose - Paranoia« schloss man die Verantwort­ lichkeit an seinen Schriften und Hand­ lungen aus. Die Geisteskrankheit verschlimmerte sich. Panizza hatte Täuschungen des Gehöruiid des Geruchssinns, fühlte sich vom Deutschen Kaiser verfolgt und beeinträch­ tigt. Er selbst beschrieb seine Krankheits­ zeichen ausführlich in Tagebucheinträgen und verfasste eine nahezu lückenlose Patientenautobiographie aus der Sicht des ehemaligen Psychiaters. In verschiedenen Veröffentlichungen kritisierte er die zeitgenössische Psychia­ trie und kämpfte gegen Stigmatisierung und gegen eine naturwissenschaftliche Betrachtung der Geisteskrankheit.

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Sein früherer Kollege Emil Kraepelin beurteilte ihn später und stellte an Panizzas Beispiel eine eigene diagnostische I ntereinheit der Schizophrenien vor. Die Panizza-Biographie wendet sich nicht nur an den psychiatrisch Interessierten. Jeder, der hinter der Diagnose den Lebensweg des Betroffenen sucht, findet in Oskar Fanizza einen Wegbereiter für eine Psychiatrie, die den Patienten in den Mittelpunkt stellt.

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ürgen Müller. Jahrgang 1963. Arzt für Neurologie und Psy chiatrie/Psychotherapie.

Psychiatriehistorische Promo­ tion in Würzburg. Herausgeber der »Imperjalja« von Oskar Panizza, Verfasser mehrerer Eachartikel über Panizza. Seit 1998 arbeitet er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter mit dem Schwerpunkt Aufbau einer Einheit für funktionelle Bildgebung an der psychiatrischen Unikiinik Regensburg.

Edition Das Narrenschiff Psychiatrie-Verlag 3-88414-291-7

»Oskar Panizza. Diesen Mann kennen heute nur noch ganz wenige, und auch seine Bücher sind größtenteils vergriffen, und er selbst lebt in Franken in einem Irrenhaus. Dahin brachte man im Jahre 1904 den Dr. Oskar Panizza, der wohl, als er noch bei Verstände war, der frechste und kühnste, der geistvollste und revolutionärste Prophet seines Landes gewesen ist.« Kurt Tucholsky1

Jürgen Müller

Der Pazjent als Psychiater Oskar Panizzas Weg vom Irrenarzt zum Insassen

Edition Das Narrenschiff im Psychiatrie-Verlag

Anmerkungen Literatur

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Personen- und Sachregister

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Vorwort

Im Lexikon des Deutschen Taschenbuchverlags Band 13 liest man lakonisch: »Panizza Oskar, Schriftsteller, geb. 12.11.1853 in Kissingen, gestorben am 30.9.1921 in der Irrenheilanstalt Bayreuth. Ursprüng­ lich Arzt in München, schrieb phantastische Erzählungen im Stil Poes, Dramen und Satiren. 1895 wurde er wegen Gotteslästerung, 1901 wegen Majestätsbeleidigung zu Gefängnis verurteilt.«

Damit wird in dürren Worten das zusammengefasst, was offenbar lexikalisch über das traurige Schicksal eines Gescheiterten um die Jahrhundertwende zusammengefasst werden kann. Ist er geschei­ tert? Er selbst würde sich dieses Charakteristikum wohl kaum zugelegt haben, wohl aber die Qualität des Verkanntseins, der Ver­ femung und Verfolgung. Das Schillernde und damit auch Unheim­ lich-Anziehende seines Schicksals wird noch dadurch unterstri­ chen, dass er sowohl Arzt als auch Dichter und schließlich Geisteskranker war. Dieses Triptychon musste aufmerksame Zeit­ genossen beeindrucken und hat es auch getan. Aber damit nicht genug. Auch heute noch ist Panizza umstritten. Seine drei Identi­ täten bieten reichlich Nahrung für Spekulationen. Es können Querverbindungen hergestellt werden, man kann sich darüber streiten, inwiefern die eine Schicksalslinie die andere beeinflusst hat. Panizza als Rebell, als Revolutionär: Da konnte es nicht aus­ bleiben, dass er als Opfer der Gesellschaft mit einem Glorienschein ausgestattet wurde und Verehrer ihm posthum huldigend in Ge­ danken Blumen auf sein Grab legten. Was aber für seine Zeit in höchstem Grade schockierend war, hat heute etwas vom Glanz des absolut Verrufenen verloren. Panizza als Opfer? Blicken wir zurück auf die Zeit um 1900. Die Psychiatrie feierte Triumphe, indem das ärztliche Monopol über das, was man bis heute Geisteskrankheit nennt, ausdrücklich gefestigt wurde. Die Psychiater wurden zu mächtigen Experten, welche entschie­ den, ob ein Abweichen von der sozialen Norm krankhaft sei und eine Behandlung in einem psychiatrischen Krankenhaus rechtfer­ tige oder nicht. Es muss allerdings bedacht werden, dass nicht so­ sehr die Psychiater selbst sich diese Rolle anmaßten, sondern dass

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es das Publikum, die Öffentlichkeit war, welche ihnen diese Kom­ petenzen als Akteure zuschob. Der Ordnungsfimmel spielte um 1900 eine mächtige Rolle im öffentlichen Leben. Devianz war auf alle Fälle verwerflich, und es blieb wenig Spielraum für abseitige und exzentrische Lebensentwürfe. Panizza war aber nicht nur Arzt, sondern auch Psychiater. Diese Tatsache kommt der geläufigen Meinung entgegen, dass alle Psychi­ ater ihren Beruf wählten, weil sie selbst ein gestörtes Seelenleben hätten. Diese etwas primitive Verallgemeinerung ist verwerflich, aber im Fall von Panizza mag es zutreffen, dass er aus einer Ah­ nung innerer Untiefen und seinem Vertrautsein mit dem Abgrün­ digen den Beruf erwählte. Panizza könnte also durchaus auch in die Reihe jener gestellt werden, über welche man zu Beginn des Jahrhunderts unter dem Titel »Genie und Irrsinn« viel geschrie­ ben hat. In der modernen Literaturgeschichte hat Panizza seine Stellung als aufrührerischer Zeitkritiker gehalten, ja es ist sogar zu einer ge­ wissen Panizza-Renaissance gekommen. Aber nicht nur das. Bio­ grafen wollen nachgewiesen haben, dass Panizza zu Unrecht als verrückt erklärt worden sei und dass es die Schuld der Psychiatrie sei, wenn er seine künstlerische Laufbahn nicht mit Erfolg gestal­ ten konnte. Wie bei anderen modernen Antipsychiatrie-Reporta­ gen haben solche wagemutigen Streiter für Panizza seinen eigenen Aufzeichnungen und Berichten blind geglaubt. Dass Panizza, ef­ fektiv unter Wahnvorstellungen leidend, seine Welt ganz einseitig wahmahm und Tatsachen subjektiv-wahnhaft umdeutete, blieb ih­ nen verschlossen. Nur am Rande sei hier erwähnt, dass dieses Phänomen die in den letzten Jahren in den Medien geführte Kampagne gegen angebli­ che Missbräuche in der Psychiatrie erklärt. Oft handelt es sich um »Tatsachenberichte« über ungerechtfertigte Internierungen oder Zwangsbehandlungen, die dadurch entstanden sind, dass die Jour­ nalisten die ehrlich vorgebrachten Äusserungen eines Kranken für bare Münze nahmen und dem Umsund nicht Rechnung trugen, dass viele Kranke auch heute noch ihre psychotische Vergangen­ heit skotomisieren, ausblenden, verdrängen. Sie tun dies nicht mit Absicht, sondern zu ihrem eigenen unbewussten Schutz. Dass das Sich-Uberschneiden der drei Rollen als Arzt, Schriftstel­ ler und Kranker den Biografen vor schwierige Probleme stellen

muss, ist einfühlbar. Von vielen Seiten her kann er kritisiert wer­ den. Vom fachlich-psychiatrischen Standpunkt, vom literarischen, aber auch vom historischen her. Oft wird der psychiatrische Bio­ graf auch der Ehrfurchtslosigkeit dem Genie gegenüber angeklagt. So konnte z.B. E. Kretschmer schreiben: »Während also mancher geniale Mensch Wahnsinn als den höchsten Vorzug des Ausnahme­ menschen preist, steht der Biograf mit erhobenen Händen vor ihm und schützt ihn vor dem Psychiater.« In die schillernde Literatur um und über Oskar Panizza bringt das vorliegende Buch eine heilsame Ordnung. Weder wird hier ein »Fall« klinisch-psychiatrisch abgehandelt noch geht es um ein li­ terarisches Abheben vom Boden der Tatsachen. Auf gründlichstem Quellenstudium basierend, bringt der Verfasser Licht in die ver­ schlungenen Wege Panizzas und seiner Kritiker wie Verteidiger. Das Buch zeichnet sich durch eine wohltuende Unparteilichkeit aus. Weder wird Panizza einfach als schuldloses Opfer einer bö­ sen Psychiatrie dargestellt noch als Schizophrener, dessen Werk nur von der Psychopathologie her Interesse erwecken könnte. Sorg­ fältig und nuanciert wird die Lebensgeschichte dieses skandalum­ witterten Exzentrikers aufgearbeitet und anhand bisher unbekann­ ter klinischer Fakten dargetan, dass Panizza schon lange vor seinem Tod an eindeutigen psychischen Störungen litt, die eine psychiat­ rische Betreuung rechtfertigten. Im Versuch den verschiedenen Ebenen dieses Schicksals gerecht zu werden, hat der Autor auch eine originelle Form der Darstellung gefunden. Die aufwendige Arbeit der Entmythologisierung hat sich gelohnt, und man kann dem Autor dafür dankbar sein. Nicht nur wird da­ durch vieles, das bis heute unklar im Leben und Wirken Panizzas war, aufgeklärt, sondern das Aufdecken der verschiedenen inein­ ander greifenden Erlebniswelten kann paradigmatisch für viele an­ dere Randexistenzen gelten, denen mit handfesten, einfachen kli­ nischen Modellen nicht beizukommen ist. Christian Müller

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Einleitung

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Ein 50-jähriger, der bis aufs Hemd entkleidet durch eine belebte Geschäftsstraße läuft, ist sich der öffentlichen Aufmerksamkeit gewiss. Will er hierdurch seine Einweisung in eine Irrenanstalt pro­ vozieren, um sich vor dem deutschen Kaiser in Sicherheit zu brin­ gen, liegen politische Motive nahe. War er bereits wegen Gottes­ lästerung und Majestätsbeleidigung verurteilt, glauben wir gerne, dass ein politischer Flüchtling im Irrenhaus seine letzte Zuflucht sucht. Wird der Verfolgte jetzt aber als Geisteskranker entmün­ digt und muss sein Leben in verschiedenen Kliniken beschließen, so sind wir erschüttert: schreit dies nicht nach einer politisch ge­ wünschten Gefälligkeitsentmündigung durch eine obrigkeitshö­ rige Gesinnungspsychiatrie? Vor beinahe 100 Jahren erzwang der Schriftsteller und Verleger Dr. med. Oskar Panizza auf diese spektakuläre Weise seine Auf­ nahme in die psychiatrische Klinik und wurde wegen Geistes­ krankheit entmündigt. Seither ranken sich schillernde Legenden um den mundtotgemachten Skandalautor: Walter Mehring habe Panizza in Bayreuth besuchen wollen, sei aber nicht zu ihm vor­ gelassen worden. Panizzas Münchener Kaffeehausschriftsteller­ kollegen vermuteten eine Familienintrige gegen das reiche, schwar­ ze Schaf in diesem »angeblichen« Wahnsinnsausbruch.2 Frank Wedekind war von seinem Vorwurf gegen die vermeintliche Gesinnungspsychiatrie so durchdrungen, dass er sich in Max Krells >Haberfeldtreiben< äußern durfte: »Ich habe gestern Panizza besucht. Es geht ihm ausgezeichnet. Er ist der vernünftigste Mensch auf dieser Erde. Und er arbeitet!«3

In den 70ern gesellte sich eine politische Dimension zu der psychiatriekritischen des »Falles Panizza«. Heiner Müller artiku­ lierte mit Oskar Panizza den kritischen Zeitgeist der 70er und 80er Jahre: »Oskar Panizza ist ein Opfer der deutschen Einheit, kein REICH wollte ihn haben ... Panizza ist ein Terrorist; wer kein Deutscher werden will, sollte ihn lesen.«4

Vom »Terroristen« Panizza war es letztlich nur noch ein kleiner Schritt bis auch die kühnsten Hoffnungen von Panizzas Lebens-

und Weltentwurf Protagonisten fanden. Der Panizzabiograf Mi­ chael Bauer überzeichnete die Bedeutung des wenig gelesenen Autors in einer Weise, dass für ihn ein Staats- und Familiennot­ stand drohte, der nur noch durch die Entmündigung Panizzas abzuwenden war. »Nicht zuletzt literarischer Ehrgeiz hatte Oskar Panizza zu einem der vehementesten Zeitkritiker in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende werden lassen. Wo Zensur, Beschlagnahme und Einzelhaft nur Trotz und Depressionen, nicht aber die intendierte Anpassung des Dichters bewirkt hatten, mußte konsequenterweise gerichtliche Entmündigung und Internierung den Ruf der Familie wie der literarisch attackierten Behörden wahren.«5

Ebenso wie die einen Panizzas wirkliche Bedeutung in wohlmei­ nender Weise überhöhten, ließen andere kaum ein gutes Haar an ihm. Als sich Oskar Panizza in seiner Schrift »Das Liebeskonzil« der Gotteslästerung schuldig gemacht hatte, brachte während der Gerichtsverhandlung ein Geschworener seine Meinung über Panizzas »Himmelstragödie« auf den Punkt: »Wenn der Hund in Niederbayern verhandelt würde, der kam’ nicht lebendig vom Platz.«6

Andere ließen Panizza zwar am Leben, vernichteten jedoch seine Schriftstellerei. Hanns Heinz Ewers hielt Panizzas Sprachbehand­ lung für so »jämmerlich«, für »so niederschmetternd schlecht«, dass er seinen Augen nicht traute. Leicht sei es »festzustellen, wie schon hier zeitweise irgend etwas im Gehirn aussetzte.«7 Für Otto Julius Bierbaum hatte »Oskar, der Geiferer« sein »groß Vermö­ gen ... schmählich vertan.«1 Hannes Ruch sah in Panizzas Gehirn zwar »ein Land unbegrenzter Möglichkeiten«, Panizza selbst aber mit »einem engen Horizont« geschlagen. Für ihn stand Panizza seiner Begabung selbst im Wege, sodass Ruch ihn allenfalls zum Epigonen, vielleicht gar nur zum Plagiator prädestiniert sah.’ Michael Georg Conrad, Panizzas früherer Freund und später umso erbitterterer Feind, hielt Panizzas »Liebeskonzil« 1895 noch für eine »würdige Weihegabe, denn es ist... trotz einzelner ästhetischer Makel, ein echtes, deutsches, modernes Kunstwerk.«10

Thomas Mann teilte diesen Eindruck nicht. Er kritisierte auch Michael Georg Conrad für seine panizzafreundliche Äußerung und hielt Conrad zu Gute, dass er doch mehr Politiker als Schrift­

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steiler sei. Immerhin, so Manns Ehrenerklärung, habe Conrad bei allem erkennbaren Wohlwollen Panizza gegenüber doch auch er­ wähnt, dass Panizzas Buch ihm selbst »persönlich widerliche Ge­ schmacklosigkeiten« enthalte. Thomas Mann selbst konnte dem >Liebeskonzil< gar nichts abgewinnen. Er hatte das Stück wohl nicht einmal gelesen, als er rhetorisch fragte: »Oder sind wirklich die Leute, die in der Kunst ein bischen guten Geschmack noch immer verlangen, nichts als zurückgebliebene Banausen?«11

Fünf Jahre später hatte auch Conrad die literarischen Fronten ge­ wechselt. Als Panizza ihm 1901 seine Pariser Gesänge widmete, erklärte er die >Parisjana< zu einem »Verbrechen an der Zivilisati­ on«.12 Verständnis für Panizza und seine Schriften hatten Karl Kraus und Theodor Fontane. Sie schlugen selbst während der extrem pola­ risierenden Diskussion um >Das Liebeskonzil« noch moderate oder gar wohlwollende Töne an. Karl Kraus kommentierte: »Zu den wenigen Echten, denen Begabung und Ehrlichkeit, ich meine - die ehrliche, zugesprochen werden darf, ist auch Oskar Panizza zu zählen. Einer der abenteuerlichsten Kampfhähne, der geradeaus auf das Confisciert-werden auszugehen scheint, hat es in der letzten Zeit namentlich auf die Päpste abgesehen.«”

Auch Theodor Fontane konnte Panizzas Himmelstragödie >Das Liebeskonzil« gute Seiten abgewinnen. In einem Brief riet er Ma­ ximilian Harden: »Lesen Sie’s und wenn Sie können, schreiben Sie darüber; es ist sehr schwer (polizeischwierig) aber sehr lohnend. Es ist ein ganz bedeutendes Buch und >ein Jahr Gefängnis« sagt gar nichts. Entweder müßte ihm ein Scheiterhaufen oder ein Denkmal errich­ tet werden. Unser Publikum müßte endlich lernen, daß der Unglau­ ben auch seine Helden und Märtyrer hat.«14

Seit seinem Erscheinen beschäftigte Panizzas Himmelstragödie die Gemüter; und noch immer sorgt >Das Liebeskonzil« für öffent­ liches Aufsehen: In Tirol ist die Aufführung des Theaterstücks noch immer verboten. In Bern zeigte man sich toleranter. Dort wurde Panizzas >Liebeskonzil< 1997/98 von einer Theaterab­ schlussklasse aufgeführt. Die aufwogenden Emotionen mussten in mehreren Podiumsdiskussionen besänftigt werden. Die Strafan­ zeigen, die nach der Aufführung dennoch eingegangen waren,

wurden noch im Jahr darauf vor den Berner Gerichten verhan­ delt.15 An Oskar Panizza schieden und scheiden sich die Geister. Sein Schicksal polarisierte Schriftstellerkollegen, entzweite Freunde und Bekannte und führte die widersprüchlichsten Geister zueinander. Sogar die Nationalsozialisten konnten Panizza für ihre Zwecke ge­ brauchen. So bediente sich der NS-Kulturfunktionär Kurt Eggers der nationalistischen und der judenfeindlichen Phrasen, die sich wie vieles andere in Panizzas Werk finden um mit dem geisteskran­ ken Autor für die Rassenideologie zu werben. Den linken Intellek­ tuellen in der Bundesrepublik hatte es mehr der kritische Denker Panizza angetan. Sie schrieben gegen das Unrecht der Beschlag­ nahmung seiner Werke an und propagierten damit letztlich auch ihre Bücher. Als einer von wenigen erfasste Kurt Tucholsky im vorangestellten Zitat die Tragik des geisteskranken Schriftstellers und paranoid gewordenen Psychiaters. Als ihn Depressionen, Minderwertigkeitsgefühle und Größen­ ideen, Verfolgungswahn und Halluzinationen quälten, versuchte Oskar Panizza sich die hereinbrechende Krankheit von der Seele zu schreiben. Seine Schriften eckten an und sorgten für öffentlichen Aufruhr. An Panizzas Schriften entrüstete sich die Öffentlichkeit und erzwang einen der schillerndsten Lebensläufe des vergange­ nen Jahrhunderts: Als Arzt von der Oberbayerischen Kreisirren­ anstalt über die Münchener »Gesellschaft für Modernes Leben< in das Amberger Gefängnis; aus der Amberger Haft über Zürich und Paris in die Münchener Fronfeste am Anger und zurück in die Oberbayerische Kreisirrenanstalt, diesmal aber als »pazjent«. Von dort über Paris und erneut über die Kreisirrenanstalt in das Bayreuther »Refugium«. Oskar Panizza begnügte sich nicht da­ mit, die zweite Geige zu spielen oder sich mit Hinterbänklern ab­ zugeben. Jeder Abschnitt seines Schicksals ist mit bedeutenden Namen verknüpft: mit den Psychiatern Bernhard von Gudden und Emil Kraepelin; mit den Schriftstellern Michael Georg Conrad und Max Halbe; mit den modernen Literaten Karl Bleibtreu und Lud­ wig Scharf. In Panizzas Zeitschrift publizierten Karl Kraus, Léon Bazalgette, Ria Claaßen und die Gräfin Franziska von Reventlow. Panizzas Werke besprachen Kurt Tucholsky und Thomas Mann. Sein Schicksal fesselte Theodor Fontane, Walter Mehring und Walter Benjamin.

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Es ist die besondere Tragik Oskar Panizzas, dass er als Schriftsteller nur über die Beschlagnahmung seiner Werke, als Großdeutscher nur über seine Flucht nach Frankreich und als Psychiater nur über seine Entmündigung Aufmerksamkeit fand. Die besondere Bedeutung dieses psychotisch gewordenen Expsychiaters, der die Symp­ tome seiner Geisteskrankheit dokumentierte und mit seinen lite­ rarischen Krankheitsbewältigungsversuchen die Öffentlichkeit beschäftigte, wird so verkannt. Oskar Panizza hielt Vorträge über psychiatrische Themen, schrieb Abhandlungen und Satiren über die zeitgenössische Psychiatrie und warb um Toleranz für den »Pazjenten«. In Panizzas Weltanschauung war jede »Objektivität« nichts als eine bloße Übereinkunft zwischen den vielen subjekti­ ven »Wirklichkeiten«. Für ihn gab es auch keine Geisteskrankheit. Wenn es aber weder Geisteskrankheit noch Normalität gab, müss­ ten auch die »verrückten« Lebensentwürfe der »Patienten« als gleichberechtigt anerkannt werden. Denen, die sich nicht in die Normalität fügen wollten, müsste das »rothe Haus«, Panizzas Spielart des Irrenhauses, eine »Freistatt des Denkens« bieten. Als Insasse des »rothen Hauses« in Bayreuth war Oskar Panizza 1905 in seinem Lebensentwurf endlich am Ziel. Das Leben des »pazjenten« Panizza beunruhigt. Sein Bild vom Deutschen Reich und dem Wilhelminismus ist verzerrt durch Wahngedanken, und doch scheint es Michael Bauer und Rolf Düsterberg, den bekanntesten Panizza-Biografen, als so treffend, dass sie in ihm ein revolutionäres Programm erkennen. Noch heute bezweifeln sie die Geisteskrankheit Panizzas. Für sie ist der Läs­ terer wider Gott, Kaiser und Schulpsychiatrie seinen ärztlichen Standesgenossen wie den wilhelminischen Politikern unbequem geworden. Schließlich sei Dr. med. Oskar Panizza mit Hilfe obrigkeitshöriger und ebenso willfähriger wie inkompetenter Gut­ achter aus eigentlich politischen Gründen »aus dem Weg gesperrt« worden.16 Dadurch gerät auch die Psychiatrie unausweichlich ins Schussfeld. Vom Vorwurf der Gesinnungspsychiatrie bis hin zum offensiven Leugnen unübersehbarer Symptome, vom Wegdisku­ tieren psychischer Krankheiten bis zum Vorwurf mangelnder Für­ sorge: die gesamten, auch gegenwärtig noch allzu gebräuchlichen Verfahrensweisen im Umgang mit psychisch Kranken widerfuh­ ren auch Oskar Panizza. Ein ketzerischer Widerstandskämpfer, der Panizza ja gewesen sein soll, darf eben nicht wirklich geistes-

krank gewesen sein. Der durch die eigenen Belange getrübte Blick lässt keinen Raum für eine sachliche Beurteilung. Oskar Panizzas Leben und Schaffen sind von seiner Auseinander­ setzung mit der Geisteskrankheit durchdrungen: Als einer der ers­ ten in der Psychiatrie verfasste der wahnkranke Ex-Psychiater eine detaillierte Autobiografie, in der er seine Krankheitsentwicklung darstellte. In seinen weltanschaulichen und psychiatriekritischen Schriften rückte Oskar Panizza die Wirklichkeit des Patienten in den Mittelpunkt des psychiatrischen Blicks und des gesellschaft­ lichen Lebens. Seine Vision von einer patientenzentrierten Psychi­ atrie nahm die Anliegen der späteren Antipsychiatriebewegung vorweg. Der verfolgte Psychotiker wetterte in seinen Schriften gegen wirkliche oder nur vermeintliche Missstände. Das Bild von einem politischen Märtyrer, der bei bester Gesundheit entmün­ digt und aus dem Verkehr gezogen wurde, aber trifft ihn nicht. Natürlich liegt einer Entmündigung wegen einer Geisteskrankheit immer auch eine subjektive Beurteilung zu Grunde, dies ist trotz größter Mühe um Objektivität nicht anders möglich. Und doch gibt es wissenschaftliche, für eine Diagnose zu fordernde Sympto­ me ebenso wie juristische Voraussetzungen für eine Entmündi­ gung. Sind die zu fordernden Symptome vorhanden, so sprechen wir im Falle Panizzas von »Paranoia«, »Dementia praecox«, »Schi­ zophrenie« oder »Paraphrenie«, je nachdem welches Diagnosesys­ tem zugrundegelegt wird. Ist die Beeinträchtigung durch die Symp­ tome so erheblich, dass die Bewältigung des Alltages nicht mehr gelingt, erfolgt die Entmündigung bei einer Gefährdung des eige­ nen oder fremden Lebens zu Recht. Gerade über Oskar Panizzas Gesundheitszustand wurden viele Besorgnis erregende Fakten angehäuft und viele Symptome beschrieben. Wertvolle Zeugnisse bilden Panizzas Tagebücher, einige seiner Veröffentlichungen und manche seiner Handlungen, die er in seinen Aufzeichnungen wei­ ter erläuterte. Nicht zuletzt berichteten viele Bekannte und Freun­ de in Briefen und Publikationen über ihn. Die psychiatrische Re­ levanz der einzelnen Aussagen muss aber gerade bei Oskar Panizza natürlich kritisch abgewogen werden. Doch was, wenn sich hin­ ter diesen »kleinen Auffälligkeiten« psychotische Symptome ver­ bergen? Nicht von Belang ist beispielsweise, dass Oskar Panizza völlig freiwillig keinen Alkohol mehr trank, wie der Gutachter Dr. Ungemach berichtete. Interessanter wird dies schon, wenn die Ab-

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stinenz im Gegensatz zu seinen früheren Gewohnheiten stand. Natürlich liegt da die Frage nahe, warum er nicht mehr trank. Hell­ hörig muss der Gutachter aber spätestens werden, wenn Panizza erklärt, dass durch den Alkoholverzicht das »Pfeifen«, also die akustischen Halluzinationen und seine Verfolgungsgedanken ge­ linden werden sollen. Doch die psychischen »Auffälligkeiten« bei Panizza waren weit offensichtlicher, und auch nach allgemeineren Maßstäben war Oskar Panizza »reif für das Irrenhaus«. Bereits 1901 war er hilfsbedürftig: Aus Angst vor Vergiftung wagte er nicht mehr zu essen; von Verfolgungsgedanken getrieben und von Hal­ luzinationen gequält, floh Panizza von Stadt zu Stadt; in die Enge getrieben, attackierte er letztlich friedliche Passanten, die er als Verfolger verkannte. Äußerlich war Panizza bereits verwahrlost: Voller Löcher war die Unterwäsche, die er über Wochen nicht wechselte. Als er sich nicht mehr gegen die eigen- und fremd­ aggressiven Impulse, die ihn befielen, wehren konnte, erzwang Panizza seine Einweisung in die Psychiatrie - um sich und andere zu schützen. An der Geisteskrankheit bestanden zu diesem Zeitpunkt längst keine Zweifel mehr. Panizzas Entmündigung war gut begründet, sowohl aus Sicht der Schulpsychiatrie als auch aus juristischer Perspektive. Sie war von einem fürsorgerischen Standpunkt aus geboten und von Panizza selbst in seinem eigenen Weltentwurf, seiner >Skizze einer Weltanschauung< so vorgesehen. Und doch gibt Panizzas Geschichte zu kritischen Fragen Anlass: Nach der Eskalation einer Situation, die vielleicht zu vermeiden gewesen wäre! Nach der Hilfe, die einem Unbequemen solange vorenthal­ ten blieb, bis sie unumgänglich, damit aber auch wieder bequem geworden war! Nach der »materjalistischen« Schulpsychiatrie, der eine jammernde, um Hilfe schreiende Seele nichts galt. »Für Einen, dem die Vorstellung, dass sein gesamtes Dasein als Mechanismus beschlossen sei, unerträglich wäre, was bliebe ihm übrig? - Sich in sein Denken zu retten.«17

Die erneute Auseinandersetzung mit Oskar Panizza wirft Beden­ ken auf: Darf jemand nach 100 Jahren noch psychiatrisch beurteilt werden? Darf nach einem Jahrhundert noch eine Diagnose gestellt werden bei all der Verstrickung von Politik, Geld und Schriftstel­ lerei. Was bedeutet das überhaupt: »geisteskrank«, bei Panizzas be­ ruflicher Vergangenheit in der Psychiatrie und im Lichte seines

antipsychiatrischen Konzeptes, in dem er die Existenz einer »Geis­ teskrankheit« überhaupt leugnete? Es ist an der Zeit die Geisteskrankheit Oskar Panizzas zu entmy­ thologisieren. Weder ist er das Opfer einer Gesinnungspsychiatrie noch war seine Entmündigung politisch motiviert. Oskar Panizzas literarisches Schaffen, sein philosophische Entwurf und sein anti­ psychiatrisches Konzept sind eng mit seiner Biografie und seiner Geisteskrankheit verflochten. Sie darzulegen, ist Anliegen dieses Buches. Panizzas Leben soll aus psychiatrischer Sicht nachvollzo­ gen und das Wechselspiel der Krankheitsentwicklung mit der Re­ aktion der Behörden verstehbar gemacht werden. Es soll eine biografische Skizze entstehen, die lesbar bleiben soll, ohne auf wis­ senschaftliche Genauigkeit zu verzichten. Vieles hat Panizza selbst niedergelegt, und, wo immer möglich, werden die Originalzitate unverfälscht wiedergeben. Man kann das entstandene Buch fast ein Buch der Zitate nennen, die vom Biografen lediglich verbunden und erläutert wurden. In den Wendungen und der Wortwahl der Quellentexte und der Schreibweise der Autoren schimmern Intention und Entstehungs­ atmosphäre; sie reflektieren den Zeitgeist vor einem Jahrhundert.

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Ein »Flitzer«

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München, 19. Oktober 1904, es ist noch ganz hell: Gegen 5h Nach­ mittag verursacht ein etwa fünfzigjähriger Herr einen größeren Menschenauflauf, indem er von seiner Wohnung in der Freilitzstraße nur mit dem Hemd bekleidet im Laufschritt durch die Stra­ ßen eilt. Erst am Siegestor in der Leopoldstraße wird er angehal­ ten und in einen Hauseingang gedrängt. Ruhig gibt er dem Schutzmann an, dass er heute Ausgang aus der Irrenanstalt habe. Seine Kleider habe er im englischen Garten ausgezogen und weg­ geworfen. Ein Herr Hirschbiel kommt vorbei und bezeichnet ihn als Herrn Dr. Panizza, seinen Mieter. Der fast Nackte leugnet: Er kenne keinen Hirschbiel. Er heiße Ludwig Frohmann und habe heute Ausgang aus der Irrenanstalt. Bereitwillig lässt er sich von der Sanitätskolonne auf die Wache forttragen.18 Dr. von Weckbecker untersucht den »Neuen«, der hartnäckig be­ teuert, Frohmann zu heißen und Ausgang aus der Irrenanstalt zu haben. Im Streit habe er sich so aufgeregt, dass er in den Klein­ hesselloher See habe springen wollen. Deshalb habe er sich aus­ gezogen. Es wird in der Irrenanstalt angefragt: Es gebe keinen Pa­ tienten namens Frohmann. Der Festgenommene beteuert, dass er der Irrenanstalt nur lästig sei; man versuche jetzt ihn loszuwerden. Sein Freund, der Schriftsteller Ludwig Scharf habe ihn besucht, da hätten die Pfeifereien wieder begonnen. Dies habe ihn so aufge­ regt. Dr. von Weckbecker weist den Festgenommenen in die psych­ iatrische Abteilung ein. Später wird die Identität des Festgenom­ menen geklärt. Noch am 19.10.1904 wird Dr. med. Oskar Panizza auf die psychiatrische Abteilung des Krankenhauses links der Isar aufgenommen und später in die Oberbayerische Kreisirrenanstalt München verlegt. Richter Seidl vom Königlichen Amtsgericht München I vernimmt Oskar Panizza am 6.12.1904 in der psychia­ trischen Klinik. Gestützt auf die psychiatrischen Gutachten von Dr. Ungemach und Professor Dr. Gudden wird Oskar Panizza im März 1905 entmündigt und verbringt seinen Lebensabend in Bay­ reuth.

Die Familie Panizza

Die Panizzas in Lierna am Comersee waren »brave, kleine Fischer und Korbflechter. Manche gingen auch im Sommer in die Schweiz als Bergführer«.1’ Andrea Bonaventura Leopoldo Panizza verließ Lierna im 17. Jahrhundert um Maulbeerbäume zu pflanzen und Seidenraupen zu züchten. Er kam bis nach Würzburg und wurde dort zum Stammvater des deutschen Zweiges der italienischen Familie Panizza.20 Sein ursprünglicher Plan der Seidenraupenzucht scheiterte. Bonaventura Panizza handelte stattdessen mit Seiden­ stoffen und kam zu beachtlichem Reichtum. In Würzburg besaß er eine Schmuckhandlung, in der auch König Ludwig von Bayern Juwelen kaufen ließ. Panizza heiratete die vermögende Anna Schulz aus Augsburg, eine tüchtige Geschäftsfrau. Gemeinsam schuf sich die Familie Panizza in Würzburg einen ansehnlichen Reichtum: Sie wohnten gegenüber dem Kürschnerhof und besa­ ßen zwei Häuser in der Domstraße. Andrea Bonavenura Leopoldo Panizza und Anna Schulz zogen 14 Kinder groß, unter ihnen den Vater Oskar Panizzas, Karl Panizza. Am 30.9.1808 wurde Karl in Würzburg in diese streng katholische Familie geboren. Karl Panizza arbeitete sich vom Kellner empor und konnte 1844 das Kurhaus in Bad Kreuznach pachten. Im selben Jahr lernte Karl seine spätere Frau Mathilde Speeth kennen. Schon nach wenigen Tagen fand die Hochzeit statt. Seine um dreizehn Jahre jüngere Frau stammte aus dem adeligen Hugenottengeschlecht de Mesleres. Die de Mesleres waren 1685 aus Frankreich nach Sonneberg/ Sachsen geflohen und hatten dort den bürgerlichen Namen Mechthold angenommen. Das Hugenottenerbe schlug sich in der gan­ zen Familie nieder. Die Speeths waren kämpferische Protestanten. Besonders die mütterliche Linie war von der Neigung zu religiö­ sen Diskussionen beherrscht. Mathilde Speeths religiöser Fanatis­ mus sollte die gerade gegründete Familie ebenso prägen wie ihr eigenes Leben. Mathilde schrieb unter dem Pseudonym »Siona« protestantische Erbauungsschriften und suchte in ihren Memoi­ ren den Leser empfänglich zu machen für die Zeichen des Him­ mels, aus denen er Gottes Willen ersehen könne. Für Mathilde Speeth gab es keine Zufälle. Gottes Wille erfuhr sie in Losentschei-

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düngen, Träumen und Visionen. Mathildes Gott war ein Gott der Rache, der mit Krankheit, Tod und Geschäftsrückgang strafte. Sie vermutete Gottes gerechte Strafe für ihr frevlerisches Handeln sowohl im frühen Tod ihres eigenen Vaters als auch ihres Ehemanns: Beide waren Katholiken, die Protestantinnen geheiratet hatten. Beide hatten ihren Frauen versprochen, dass die Kinder evangelisch erzogen würden. Beide wurden wortbrüchig und lie­ ßen die Kinder katholisch taufen. In den Augen Mathildes wur­ den sie zu Recht von Gott mit einem frühen Tod bestraft. So wie­ derholte sich ihr eigenes Schicksal bei ihren Kindern: Ihr Ehemann, Karl Panizza, verhielt sich wie ihr eigener Vater. Von diesem war Mathilde entgegen dem Versprechen, das er ihrer Mutter gegeben hatte, katholisch getauft und erzogen worden. Erst als ihr Vater todkrank keinen Widerstand mehr leistete, wurde sie und mit ihr alle ihre sieben Geschwister umgetauft, der hugenottischen Ab­ stammung ihrer Mutter entsprechend. Das gleiche sollte sich in ihrer eigenen Ehe mit Karl Panizza zutragen. Die Heirat der Eltern

Am Dreikönigstag des Jahres 1844 war Mathilde Speeth Karl Panizza aufgefallen. Während eines Konzertes hatte Karl, ein statt­ licher, musikalischer Mann mit einem feurigen Wesen sie angespro­ chen. Mathilde gefiel besonders Karls südländisches Temperament. Bereits fünf Tage später, am 11. Januar, hielt Karl Panizza um Mat­ hildes Hand an. Mathilde Speeth hatte bereits davon geträumt, war in ihren Augen vom Schicksal vorbereitet und mit der Verlobung einverstanden. Die Brautmutter erinnerte sich an ihre eigene Ehe und hatte wegen der verschiedenen Konfessionen Bedenken. Wie ihr eigener Ehemann früher, gab ihr Karl Panizza das Versprechen die Kinder evangelisch erziehen zu lassen. Jetzt mischte sich Karls streng katholische Schwester Maria ein. Es entbrannte ein hefti­ ger Streit. Karl war auf die finanzielle Unterstützung seiner Schwes­ ter angewiesen. Mit ihrer Hilfe hatte er die Pfändung seines Gast­ hofs in Bad Kreuznach verhindern wollen. Die Verlobung drohte zu scheitern. Karl Panizza und Ferdinand Speeth, der Bruder sei­ ner Braut, einigten sich auf einen Kompromiss: Wenn das erste Kind ein Junge werden sollte, so sollten alle Kinder katholisch erzogen werden. Werde es aber ein Mädchen, so würden alle Kin­

der evangelisch erzogen werden. Die Hochzeitsgäste wurden ge­ laden. Maria bestand weiter auf eine katholische Erziehung. End­ lich beugte sich Karl Panizza ihrem finanziellen Druck. Seine Braut Mathilde wurde zu einer Alternativentscheidung gezwungen: ent­ weder eine sofortige Trennung oder ihre Einwilligung in die ka­ tholische Erziehung der Kinder. Mathilde Speeth beugte sich und unterschrieb den Ehevertrag. Zuvor hatte sie jedoch in einer Los­ entscheidung Gottes Willen befragt. Wenn Mathilde nachgab, so nur in der Gewissheit, dass sich Gottes Wille am Ende doch durch­ setzen werde. Das Brautpaar erhielt jetzt die benötigte finanzielle Unterstützung. Mit den Geldern von Maria Panizza und der Brautmutter konnte die drohende Pfändung des 70-Zimmer Gast­ hofs in Bad Kreuznach abgewendet werden. Aber die Einigkeit war nur von kurzer Dauer. Der konfessionelle Streit schwelte weiter und flackerte nach dem frühen Tod Karl Panizzas wieder auf. Schon mit der Hochzeit war also der Grundstein zum spektaku­ lären Kissinger Konfessionsstreit gelegt, der von der Presse auf­ gegriffen, zum Skandal aufgewertet und bis zum Hofe des Baye­ rischen Königs Maximilian II. ausgetragen wurde. Darauf soll später noch eingegangen werden. Vorerst aber verlief das Famili­ enleben trotz dieser religiösen Auseinandersetzungen geordnet. Mathilde hielt in ihren Memoiren fest: »So vergingen die Jahre gleichförmig mit Schulden, Prozessen, Lotteriespielen und Reisen.«21

Karl Panizza und Mathilde Speeth hatten fünf Kinder. Maria, ge­ boren am 3.6.1846, war die älteste. Sie wurde dem Kompromiss mit Ferdinand Speeth zum Trotz, wie auch die anderen Kinder, katholisch getauft. Maria überlebte alle ihre jüngeren Geschwister. Sie starb am 16.5.1925. Der älteste Sohn Felix, ein tüchtiger Kauf­ mann, kam am 18.3.1848 zur Welt. Felix wurde später der Vormund seines Bruders Oskar. Der Drittgeborene wurde nach dem Vater benannt. Karl kam am 15.2.1852 zur Welt. Der spätere Amtsge­ richtsrat hatte fünf Kinder und verstarb am 29.8.1916. Am 12.11.1853 folgte Oskar Panizza, dessen Lebensweg vom Psychia­ ter über den Schriftsteller und Verleger bis zum »Pazjenten« hier nachgezeichnet wird. Oskar Panizza verstarb am 28.9.1921 in Bay­ reuth an rezidivierenden Schlaganfällen. Ida, die Jüngste, kam am 7.6.1855 zur Welt und wurde eines der Sorgenkinder der Familie. Sie erblindete später und beging mehrere Selbstmordversuche, die

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ihr Bruder, der Psychiatrieassistent Oskar Panizza, als hysterisch mitverursacht einstufte. Oskar blieb ihr, der guten Sängerin, zeit­ lebens freundschaftlich verbunden. Der Lebensweg Idas spiegel­ te die Bedeutung religiöser Fragen in der Familie am deutlichsten wider: Katholisch getauft, konvertierte Ida nach dem Tod des Va­ ters wie ihre Geschwister zum evangelischen Glauben um später, umgeben von katholischen Betreuern, wieder katholisch zu wer­ den. Am 26.11.1855 starb der Familienvater Karl Panizza hoch verschul­ det an Typhus. Mit dem frühen Tod hatte Karl in den Augen sei­ ner Frau Mathilde Gottes gerechte Strafe für ein verwerfliches Leben ereilt. Schließlich hatte er erst auf dem Sterbebett gestattet die Kinder evangelisch zu erziehen und damit erst kurz vor sei­ nem Tod das vor der Hochzeit gegebene Versprechen eingelöst. Fortan stand die Erziehung der Kinder ganz im Zeichen der pro­ testantischen Mutter. Das Gottesvotum, das Mathilde vor dem Eheschluss erfahren hatte, schien sich zu erfüllen. Endlich konn­ te Mathilde alle Kinder umtaufen. Aber die katholische Kirche erhob Einspruch. Ein Aufsehen erregender Rechtsstreit entbrannte. Es wurden Urteile erlassen und Strafen gegen Mathilde verhängt. Doch anstatt nachzugeben bekannte sich Mathilde immer rück­ haltsloser zu ihrem Gott, als dessen irdische Exekutive sie sich fühlte. Der Streit um die Konfession der Kinder

Am 22.11.1855, zwei Tage vor seinem Tod unterzeichnete Karl Panizza ein Schriftstück, in welchem er sich mit der evangelischen Erziehung seiner Kinder einverstanden erklärte. Damit hatte Karl Panizza seiner Frau Mathilde die Grundlage gegeben, die Ausein­ andersetzung um die Konfession der Kinder wieder aufzunehmen. Drei Monate nach dem Tod von Karl Panizza teilte Mathilde den Inhalt des Schriftstücks, das sich in den Händen des protestanti­ schen Pfarrers Rothgangel befand, dem Geistlichen Anton Gut­ brod mit. Dieser bat das Bischöfliche Ordinariat in Würzburg um weitere Instruktionen. Karl Panizza habe ihn schließlich noch zehn Tage vor seinem Tod ersucht einen möglichen Konfessionswechsel der Kinder auf Betreiben ihrer einst ebenfalls katholischen Mut­ ter zu verhindern. In der folgenden langwierigen juristischen Aus-

einandersetzung entschied das Landgericht Bad Kissingen 1856, dass die Kinder katholisch zu erziehen seien, da der Sterbende zwei Tage vor seinem Tod nicht mehr voll zurechnungsfähig gewesen sein könne. Mathilde Panizza focht diese Entscheidung an. Ihre Einwände, Beschwerden und Klagen wurden nacheinander von verschiedenen Gerichten verhandelt. Letztlich wurde das Urteil durch das Landgericht der Regierung von Unterfranken am 3.8.1856, von der Kammer des Innern der Regierung von Unter­ franken und Aschaffenburg am 5.5.1857, durch das bayerische In­ nenministerium für Kirchen und Schulangelegenheiten am 21.2.1858 bestätigt. Mathilde Panizza weigerte sich ebenso die ver­ hängten Geldstrafen zu bezahlen wie der Weisung zu folgen, ihre Kinder weiter katholisch erziehen zu lassen. Richterliche Anord­ nungen blieben ohne Konsequenzen, da die Mutter ihre Kinder dem behördlichen Zugriff entzog und sie an verschiedenen gehei­ men Aufenthaltsorten verbarg. Dieser Streit beschäftigte in dieser Zeit die wohl durch Anton Gutbrod eingeschaltete Presse so in­ tensiv, dass die »Katholische Wochenschrift« schrieb: »Da die Sache bereits in weiten Kreisen bekannt ist und vielfach besprochen wird, so hielten wir es für unnütz, Orts- und Personen­ namen verschweigen zu wollen.*22

Nicht zuletzt aufgrund des durch die Prozesse gewonnenen In­ teresses der Öffentlichkeit florierte Mathildes Hotel, während die Schuldenlast schwand. In Mathildes Weltbild wurde das Befolgen des göttlichen Willens in florierenden Geschäften finanziell ho­ noriert, das Nichtbefolgen aber mit Geschäftsrückgang bestraft. Mathilde rechtfertigte ihren inzwischen erlangten Reichtum als ihren gerechten Lohn für den Kampf gegen die weltlichen Insti­ tutionen. Siegesbewusst und zutiefst von ihrer göttlichen Missi­ on überzeugt, wandte sich Mathilde Panizza schließlich an den bayerischen Staatsrat. Das Ministerium bekräftigte das ursprüng­ liche Urteil, bis König Maximilian von Bayern den Rechtstreit end­ gültig entschieden haben würde. Entgegen Mathildes Erwartun­ gen verwarf jedoch König Maximilian II. am 9.11.1858 den Einspruch und ließ damit alle vorherigen Urteile rechtskräftig wer­ den. Doch selbst dies konnte die von ihrer Mission überzeugte . Protestantin nicht zum Aufgeben bewegen. Mehr und mehr sah sie sich als Märtyrerin Gottes, die sich der staatlichen Entschei­ dung widersetzen musste. Erst Anfang 1859 wurde der weiter

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schwelende Konfessionsstreit endgültig gelöst: Der Kissinger Schneidermeister Reuss sollte die Kinder im Auftrag des Landge­ richts nach Kissingen schaffen, damit sie dort im Glauben des Vaters erzogen würden. Andreas Reuss durchsuchte dabei das Haus des Pfarrers Feez, eines Schwagers von Mathilde, und löste damit einen weiteren und letzten Skandal aus. Standen noch am 11.2.1859 gerichtliche Schritte gegen Mathilde Panizza und Pfar­ rer Feez an, so intervenierte nur einen Tag später das Innenmini­ sterium. Falls ohne Eingriff in das Privatleben der Familie eine katholische Erziehung nicht durchzusetzen sei, müsse man sich trotz der ergangenen Urteile mit der evangelischen Erziehung der Kinder abfinden. Im Herbst 1860 resümierte der resignierende Pfarrer Gutbrod: »Zwar wird gehorsamst Unterzeichneter nicht aufhören, darauf zu dringen, daß die Kinder der Frau Panizza katholisch erzogen werden, allein der Vollzug wird nicht stattfinden, so lange Frau Panizza nicht aufgibt ...«23

Und im Frühjahr 1861: »Geht die Angelegenheit in dieser Weise fort, so wird Frau Panizza wohl noch manchmal bestraft, die Kinder aber bleiben protestan­ tisch. Während also einerseits den gehorsamst Unterzeichneten der Vorwurf unablässiger Schikane trifft, wird Frau Panizza immer hartnäckiger ermuthigt durch den Erfolg seit fünf Jahren, mit dem sie de facto ihren Willen durchgesetzt und, wie sie es sah, >dem Willen Gottes zum Siege verholfen< hatte.«24

Die Familie im Lichte von Panizzas Selbstbiografie25

»Oskar Panizza, Schriftsteller, geb. 12/11 53, in Bad Kissingen, stamt aus belasteter Familie. Onkel lit an parzjellem, religiösen Wahnsinn & starb nach im Ganzen 13jährigen Irrenhausaufenthalt auf der Irrenabteilung des Würzburger Juliusspitals. Ein andrer Onkel beging in jugendlichem Alter Selbstmord. Eine Tante starb an Schlaganfall. Eine andere Tante, noch am Leben, ist psichisch sonderbar, teils gemacht geistreich, teils schwachsinnig.«

Alle belasteten Verwandtschaftsgrade, auf die Panizza in seiner Selbstbiografie hinwies, bezogen sich auf die mütterliche Seite. Seine Mutter zeichnete Panizza als »noch am Leben, jähzornig, energisch, starke Willensperson, fast

männliche Intelligenz. Väter starb an Tifus, war, von italjenischer Abstammung, leidenschaftlich, ausschweifend, jähzornig, gewanter Weltmann, schlechter Haushalter. Von den Geschwistern des Pat. sind die beiden jüngeren wie Pat. selbst, in früheren Jahren melankolischen Zufällen ausgesetzt gewesen. Jüngere Schwester beging zweimal Selbstmordversuch (vielleicht komplizirt mit Histerie). In der ganzen Familje besteht prävalirende [vorherrschende, d.V.J Geistestätigkeit mit Neigung zu Diskussion religiöser Fragen«.“ Oskar Panizzas Verhältnis zu seiner Mutter war von Anfang an be­ lastet und es blieb lebenslang schwierig. Mathilde hatte Oskar auserwählt Geistlicher zu werden; Oskar aber wurde zum Reli­ gionskritiker. Die Mutter drängte ihren Sohn zu einem bürgerli­ chen Beruf; Oskar aber brach jede Ausbildung nach kurzer Zeit ab und war selbst als Arzt nur knapp zwei Jahre beschäftigt. Mat­ hilde und Oskar waren Schriftsteller, manche Werke von Mutter und Sohn erschienen fast gleichzeitig. Doch Mathilde predigte, während Oskar »geiferte«. Mathilde glaubte ihren Reichtum mit Gottes Hilfe und als Lohn für ihr gottgefälliges Leben erworben zu haben. Oskar blieb zeitlebens finanziell von ihr abhängig und bestärkte damit noch Mathildes Weitsicht von einem mit Reich­ tum belohnenden und mit Armut bestrafenden Gott. Während der später hereinbrechenden Geisteskrankheit erwartete Oskar von ihr Rückhalt, doch die Mutter blieb berechnend. Wie die meisten Be­ kannten und Verwandten wurde auch Mathilde in Oskars Wahn­ system verwoben. In der Sicht Oskars steckte sie mit den Behör­ den unter einer Decke. Er empfing sie nicht einmal mehr im Gefängnis. Mathilde war es schließlich auch, die zu Recht die Ent­ mündigung anregte und den Vormund mit auswählte. Das Verhält­ nis von Oskar und Mathilde blieb zeitlebens zwiespältig. Oft ge­ nug hatte Oskar seine Mutter geschmäht, doch 1900 schrieb Oskar: »Wenn du noch eine Mutter hast, dann danke Gott und sei zufrie­ den.«27 In seiner Erzählung >Die gelbe KröteUber Myelin, Pigment, Epithelien und Micrococcen im Sputum«'10 zum Dr. med. mit der Auszeichnung summa cum laude. Im selben Jahr erhielt er die Approbation. Stolz schilderte Panizza: »Ich bin der allereinzige von allen hiesigen Medizinern (ca 60-80), der als Dr. ins’s Staatsexamen geht!«41

Von Hugo von Ziemssen mit zahlreichen Empfehlungen versehen, ging Panizza ein halbes Jahr nach Paris. Er besuchte dort aber nur wenig Spitäler. Stattdessen widmete er sich der französischen Li­ teratur. Doch auch in Paris wurde Panizza von den Gemüts­ schwankungen heimgesucht. Depressionen traten auf. Panizza schilderte: »In dem völkerreichen Paris verfiel ich, weit entfernt in den Zerstreuungen aller Art unterzugehen, in tiefsinnige Grübelei und vereinsamte sozusagen mit mir selbst.«42

Dr. Oskar Panizza kehrte nach München zurück. Seine Familie hatte es inzwischen zu einem ansehnlichen Reichtum gebracht. Das Hotel »Russischer Hof« in Bad Kissingen wurde verpachtet und Oskar Panizza, der sich eine beträchtliche Rente erhoffte, plante ein freizeitorientiertes Medizinerleben: Im Winter wollte Dr. med. Oskar Panizza in San Remo, im Sommer als Badearzt in Bad Kissingen praktizieren. Doch die ihm zustehende Rente aus der Verpachtung des Hotels in Bad Kissingen wurde zurückbehal­ ten. So kehrte Panizza nach München zurück und trat schließlich am 1.3.1882 eine der begehrten Assistentenstellen an der Ober­ bayerischen Kreisirrenanstalt München bei Professor Bernhard von Gudden an. Bernhard von Gudden, der Königsarzt und The­ rapeut Ludwigs II., wurde auch im Leben Oskar Panizzas zu ei­ ner zentralen Figur. Bei ihm wurde Panizza erstmals mit psychi­ atrischen Krankheiten konfrontiert. Den Krankheitssymptomen

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gegenüber waren die Ärzte weitgehend machtlos. Mehr betreuten sie die Kranken, als dass sie wirklich behandeln konnten. Gudden lenkte seine Energie wie die seiner Mitarbeiter auf die neurobio­ logische Grundlagenforschung. Alle seine Assistenten mussten sich an der Arbeit in Guddens Labor beteiligen, auf der Suche nach dem Sitz der Geisteskrankheiten oder, in den Augen Panizzas, bei der Entwürdigung der menschlichen Seele. Panizzas Arbeit an der von Gudden geleiteten Oberbayerischen Kreisirrenanstalt Mün­ chen, die Kollegen und der psychiatrische Alltag gewannen eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für Oskar Panizza und sind zum Verständnis seines weiteren Lebensweges unentbehrlich. Die Münchener Klinik wurde während Panizzas Assistentenzeit zur Wiege der modernen Psychiatrie: Bernhard von Gudden vertrat die biologisch orientierte Psychiatrie; Emil Kraepelin schuf eine psychiatrische Krankheitslehre, die bis heute gebräuchlich ist; Oskar Panizza selbst regten diese Erfahrungen ein halbes Jahrhun­ dert vor der Antipsychiatriebewegung der 60er und 70er Jahren zu einem ersten antipsychiatrischen Entwurf an. Es ist unerlässlich, zumindest kurz auf die bedeutende Klinik und ihre für Panizza relevanten Mitarbeiter einzugehen. Johann Bernhard Aloys von Gudden (1824-1886)

Nach dem Medizinstudium in Bonn und der Promotion in Halle über die Augenbewegungen »De motu oculi humani« 1848, dien­ te Bernhard Gudden 1848/49 als Militärarzt in Berlin. 1849 wur­ de Gudden approbiert und arbeitete anschließend an zwei heraus­ ragenden deutschen psychiatrischen Anstalten. Es war die Zeit, als die Notwendigkeit von Zwangsmaßnahmen bei der Betreuung der Anstaltsinsassen in Frage gestellt wurde. In England forderte John Conolly ganz auf Zwangsmittel zu verzichten. Bernhard von Gudden war einer der ersten, der dieses Postulat auch in Deutsch­ land umzusetzen versuchte. Seine beiden Lehrer Jacobi und Rol­ ler, die noch in der von der Zwangsmittelbehandlung geprägten Irrenbetreuung aufgewachsen waren, bemühten sich ebenfalls be­ reits um die moderneren Strömungen, wenn sie auch nicht gerade als »Erneuerer« bezeichnet werden konnten. Von 1849-1851 war Gudden »Hilfsarzt« Jacobis in Siegburg, an der damals einzigen psychiatrischen Anstalt des Rheinlandes. Karl Wiegand Maximi-

lian Jacobi gehörte zu den »Somatikern unter den frühen Irren­ ärzten«, die den Körper als das »Werkzeug der Seele« sahen, was hieß, dass sie intensiv nach den körperlichen Störungen dieses »Seelenwerkzeugs« suchten. Jacobi, der »deutsche Esquirol«43, verzichtete bereits weitgehend auf Zwangsmethoden bei der Irren­ pflege. 1851 wechselte Gudden zu Christian Friedrich Wilhelm Roller an die Anstalt Illenau in Achern. Die Illenau, die »erste Musteranstalt der Deutschen«, war die erste neu konzipierte und eigens hierfür errichtete Irrenanstalt im deutschen Sprachraum. Wenn Roller auch nicht gerade als Vorkämpfer des »No-Restraint« bezeichnet werden kann, so versuchte er doch zumindest eine gute Ernährung und eine sorgfältige Pflege der Insassen sicherzustel­ len. Seine Patienten erhielten Ablenkung, Beschäftigung und Un­ terhaltung, Anregung durch Theater und Geselligkeit sowie ein gewisses Maß persönlicher Freiheit. Vier Jahre arbeitete Gudden in der Illenau bis er, erst 31 Jahre alt, zum »dirigirenden Oberarzt« und Direktor der nach dem Illenauer Vorbild errichteten Kreis­ irrenanstalt Werneck ernannt wurde. Ausschlaggebend für die Wahl Guddens waren die Protektion durch Roller und Jacobi und vor allem seine praktische Erfahrung. »Diese praktische Auszeichnung des Dr. GUDDEN ist umso belangreicher, als sie in den beiden vorzüglichsten Irren- Heil- und Pflegeanstalten Deutschlands - unter der Leitung der Coryphäen in der Irrenheilkunde - des Dr. JACOBI und Dr. ROLLER - erworben ist.«4''

»Das ist aber ein junger Direktor«, so soll Gudden in Werneck begrüßt worden sein. Gudden habe gekontert: »Aber ein alter As­ sistent!« In Werneck setzte er John Conollys »No-Restraint« weit­ gehend um und wurde »zum eifrigsten, zielbewußtesten Vorkämpfer jener freien und humanen Richtung der Irrenbehandlung ... Sämtliche Zwangsmittel der alten Zeit wurden abgeschafft; der Arzt wurde ... zum allzeit hilfsbereiten Freund seiner Kranken.«45

Bernhard von Gudden richtete Wachstationen ein und beschäftigte die Insassen in einer »Arbeitskolonie freier Arbeiter«. »So haben die Kranken in Werneck ein Maß von Freiheit genossen wie sonst nirgendwo.«46 Doch Gudden bemühte sich nicht nur um eine Ver­ besserung der Patientenbetreuung. Auch wissenschaftlich sorgte er für »neuen Wind«. Gudden bekämpfte die bequemen Erklä­

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rungsfloskeln, hinter denen sich Brutalität und Desinteresse ver­ bargen. Er wies nach, dass die Rippenbrüche und das damals viel­ diskutierte Othämatom, also der Bluterguss an den Ohrmuscheln bei Geisteskranken, häufig die Folge von Streitigkeiten der Insassen untereinander waren. Sie zeugten von einer ungenügenden Be­ aufsichtigung oder rührten gar von Verletzungen durch die Pfle­ ger selbst her. Gudden erkannte auch die wahren Ursachen der »trophischen Neurose«, also des Wundliegens der Geisteskranken in der mangelnden Betreuung und der unzureichenden Pflege. Gudden prangerte organisatorische Mängel im Sinne der Insassen an und achtete darauf, dass sein Appell nicht ungeachtet verhall­ te. Die Früchte seiner Forschungen schlugen sich damit unmittel­ bar in einer verbesserten Insassenversorgung nieder. Vornehmlich jedoch widmete sich Gudden der Grundlagenforschung, der For­ schung nach den körperlichen Ursachen des geistigen Krankseins. Bereits in Werneck hatte er sich ein Labor eingerichtet und histo­ logische Arbeiten angefertigt. Die hirnanatomische, neurophysio­ logische Forschung bildete den wissenschaftlichen Schwerpunkt seiner Tätigkeit, die erst später in München ihren Höhepunkt er­ reichen sollte. Guddens Arbeit in Werneck war aber bereits 1859 so anerkannt, dass dem 35-jährigen die Leitung der oberbayeri­ schen Kreisirrenanstalt in München angetragen wurde. Gudden lehnte die Berufung ab um sein Aufbauwerk in Werneck fortzu­ setzen. Erst zehn Jahre später, 1869 nahm er den Ruf nach Zürich an und wurde dort zum ersten eigenständigen Psychiatrieprofessor ernannt. Gleichzeitig mit dem Ordinariat für Psychiatrie über­ nahm Bernhard von Gudden die Leitung des neu errichteten und modern konzipierten »Burghölzli«. In Zürich konnte Gudden auf das Werk von Wilhelm Griesinger aufbauen. Griesinger hatte in seinen psychiatrischen Vorlesungen bereits die Ansätze des »NoRestraint« vertreten und die Geisteskrankheiten den Gehirnkrank­ heiten gleichgesetzt.47 Als Griesinger 1865 zum Ordinarius für Psychiatrie in Berlin berufen wurde, wurde Bernhard von Gudden Griesingers Nachfolger in Zürich. Auch Gudden setzte sich für den somatischen Ansatz bei der Erklärung und Behandlung der Geisteskrankheiten ein und versuchte Zwangsmittel möglichst zu vermeiden. In Zürich baute Gudden seine neuropathologischen Forschungen aus, veröffentlichte Arbeiten zum Schädelwachstum und führte tierexperimentelle Untersuchungen durch. Als August

von Solbrig, der Leiter der Münchener Klinik, verstorben war, be­ warb sich Gudden auf Solbrigs Nachfolge. 1872 wurde ihm mit der Leitung der Oberbayerischen Kreisirrenanstalt auch das Ordina­ riat für Psychiatrie übertragen. Bernhard von Gudden führte auch in München die Prinzipien des »No-Restraint« weiter fort. Nur die unerreichbaren, dauerhaft Streit- und Tobsüchtigen verlegte er in separate Gebäudeteile oder »Filialanstalten«, da er in ihnen Hemmnisse für die Genesung der anderen sah. Franz Nissl, nach Emil Kraepelin »ein echter Schüler seines großen Meisters Gud­ den«, beschrieb in seinem unveröffentlichten Lebenslauf die Ober­ bayerische Kreisirrenanstalt München begeistert: »Die musterhafte Organisation und der Betrieb in der Kreis­ irrenanstalt machten gewaltigen Eindruck auf mich ... Bei Gudden lernte man, wie man mit Geisteskranken umzugehen hat. Unver­ gessen bleibt mir der tiefe Ernst, mit dem er seine Aufgabe als Irrenarzt auffaßte, seine hohe Achtung vor dem Menschen, den er auch im Geisteskranken erblickte, und die zielbewußte Leitung der großen Anstalt, durch die ein frischer und froher Geist wehte. Unbestritten war Gudden für uns Ärzte das ideale Beispiel, dem nachzueifern jeder einzelne bestrebt war.« 4S

Unter Guddens Leitung wurde die Oberbayerische Kreisirren­ anstalt zu einer der größten und fortschrittlichsten psychiatrischen Einrichtungen Deutschlands. Dabei galt Guddens Forschung auch in München keineswegs vorrangig der klinischen Psychiatrie oder der Patientenbetreuung. Franz Nissl bekannte: »Klinische Psychi­ atrie im wissenschaftlichen Sinne konnte man allerdings bei Gudden nicht lernen«. August Forel schrieb sogar: »Gudden war eine sonderbare Persönlichkeit, voll innerer Wider­ sprüche als Direktor der Anstalt theoretisch wunderbar, praktisch das Gegenteil. Bei ihm lernte ich daher, wie man eine Irrenanstalt praktisch nicht leiten soll aber mit uns Ärzten war er reizend.« 49

1886 ertranken Bernhard von Gudden und sein königlicher Pati­ ent Ludwig II. im Starnberger See. Die umstrittene Begutachtung und Behandlung des Bayerischen Königs überschattete Bernhard von Guddens gesamtes Lebenswerk. Trotz seiner Verdienste um eine Verbesserung der Patientenversorgung und die naturwissen­ schaftliche Psychiatrie blieb Bernhard von Gudden vorwiegend als düsterer Psychiater und als Arzt Ludwigs II. in Erinnerung.

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Guddens hirnanatomisches Labor

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In München setzte Bernhard von Gudden seine in Wemeck und Zürich begonnenen histologischen und neuroanatomischen Arbeiten fort. Er richtete ein mikroskopisch-hirnanatomisches Labo­ ratorium ein, in dem unter anderem Emil Kraepelin, August Forel, Hubert Grashey und Franz Nissl tätig waren. Gudden widmete sich vorwiegend der experimentellen Untersuchung des Schädel­ wachstums und dem Studium der sekundären Degeneration. Da­ bei extirpierte er Teile des Nervensystems zumeist am neugebo­ renen Tier und untersuchte die Auswirkungen des Entfernens von Hirnteilen auf das weitere Wachstum von Schädel, Sinnesorganen und Gehirn; dieses Vorgehen wurde als die »Gudden’sche Metho­ de« bekannt. Die Gehirne der neugeborenen Tiere wurden zuerst mit der freien Hand, später mit dem von Gudden hierzu konstru­ ierten Mikrotom in lückenlose Serien geschnitten. Emil Kraepelin schilderte den Forschungsalltag Guddens in seinem Münchener Laboratorium: »So erschien ihm als der einzige Zugang zu dem Labyrinth der Psychiatrie die in allen Feinheiten des Hirnbaues eindringende anatomische Zergliederung, nicht aber die trügerische, von tausend Fehlerquellen durchzogene klinische Beobachtung. Sein ganzes wissenschaftliches Streben richtete sich daher mit nie erlahmender Tatkraft auf das Kaninchenhirn, in dessen Bau er durch das von ihm ersonnene und planmäßig ausgedehnte Verfahren der sekundären Entartung Schritt für Schritt tiefere Einblicke gewann ... Den Mittelpunkt unserer wissenschaftlichen Tätigkeit bildete demgemäß das anatomische Laboriatorium, wo Gudden jede freie Stunde zuzubringen pflegte, die ihm sein außerordentlich zersplitterter Dienst übrig ließ. Hier konnte er viele, viele Stunden lang sitzen, während sich die Bretter mit Präparaten zu Bergen um ihn anhäuf­ ten, geduldig einen Schnitt nach dem anderen musternd.«50

Auf dem hirnanatomischen, neurophysiologischen Forschungsge­ biet erwarb sich Bernhard von Gudden große Verdienste. Neben der Entdeckung wichtiger neuroanatomischer Strukturen, legte Gudden den Grundstein zur Erforschung der Beziehung zwischen den tieferliegenden Hirnabschnitten und der Hirnrinde. Die mei­ sten seiner Mitarbeiter bekamen ein Forschungsgebiet zugewie­ sen: Sigbert Ganser untersuchte das Rückenmark der Tiere, die

Gudden nach der Geburt operiert hatte; Anton Bumm das Vogelund Emil Kraepelin das Reptiliengehirn. Unter der Leitung Bern­ hard von Guddens entsprangen an der Oberbayerischen Kreis­ irrenanstalt München die wesentlichen Strömungen der Psychia­ trie des 20. Jahrhunderts. Bernhard von Gudden selbst vertrat die hirnanatomische und neurophysiologische Forschungsrichtung. Dieser Ansatz fand in Franz Nissl, August Forel und Anton Bumm herausragende Repräsentanten. Als Teil der biologischen Psychiatrie wurde er der wirkungsmächtigste. Kliniker und klini­ sche Forscher aus der von Gudden geleiteten Klinik waren Sigbert Ganser, Melchior Josef Bandorf und nicht zuletzt Emil Kraepelin, dessen Systematik den Grundstock psychiatrischer Nosologie legte. Das geisteswissenschaftliche Gegengewicht zum hirnphysio­ logisch-neuroanatomischen Forschungsschwerpunkt an der ober­ bayerischen Kreisirrenanstalt bildeten psychiatriehistorische Ar­ beiten, wie sie Anton Bumm und Melchior Josef Bandorf verfassten. Bumm und Bandorf gelang es so, sich von dem erdrü­ ckenden Alltag zu entlasten. Oskar Panizza gelang dies nicht. Während seiner psychiatrischen Tätigkeit bemerkte Panizza, dass er selbst von der Geisteskrankheit bedroht war. In einem »psychistischen« Gegenentwurf zu den »Somatikern« brachte er die Not des persönlich betroffenen Individuums zum Ausdruck. Oskar Panizzas antipsychiatrisches Konzept wurde als notwendige Ge­ genbewegung zur »materialistischen« Forschungsrichtung im Sin­ ne Guddens nicht zufällig von einem Patienten formuliert. Die Assistenzärzte Emil Kraepelin und Oskar Panizza »Es scheint mir nach allem, was er mir selbst gesagt hat und was ich als Beobachter über ihn weiß, keinem Zweifel zu unterliegen, dass gerade diese irrenärztliche Tätigkeit verhängnisvoll für Panizza gewesen ist und nicht wenig zu seinem späteren Sturz ins GeistigBodenlose beigetragen hat.«51

Am 1. März 1882 trat Oskar Panizza die begehrte Stelle des IV. Assistenzarztes an der oberbayerischen Kreisirrenanstalt unter Bernhard von Gudden an. Zusammen mit Panizza arbeitete auch Emil Kraepelin an Guddens Klinik. Kraepelin war mit der Stelle bei Gudden sehr zufrieden. In seinen >Lebenserinnerungen< be­ schrieb Kraepelin sogar sein Glück sei dadurch

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»vervollständigt... daß ich von Anfang August an die heiß begehrte Stelle eines Assistenten an der Kreisirrenanstalt München unter Guddens Leitung für ein Jahr einnehmen sollte«.52

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Hochmotiviert und bereits psychiatrieerfahren war Emil Kraepelin nach München gekommen. Er hatte ein Jahr in der Irrenab­ teilung des Würzburger Juliusspitals gearbeitet und für seine For­ schungsarbeit über die Psychopathologie bei einem Fall von Typhusinfektion einen Preis errungen. Kraepelin war also psych­ iatrisch keineswegs ein unbedarfter Neuling, als er in München zu arbeiten begann. Trotzdem schrieb er erschüttert: »Die ersten Eindrücke ... waren entmutigend. Das verwirrende Gewimmel ungezählter verblödeter, bald unzugänglicher, bald zudringlicher Kranker ..., die Ohnmacht des ärztlichen Handelns, das sich meist auf Begrüßungen und gröbste körperliche Pflege beschränken mußte, die völlige Ratlosigkeit gegenüber allen diesen Erscheinungsformen des Irreseins, für die es keinerlei wissenschaft­ liches Verständnis gab, ließen mich die ganze Schwere des von mir gewählten Berufes empfinden.« 53

Während sich für Emil Kraepelin in München aber doch der Be­ ginn seiner großen psychiatrischen Laufbahn abzeichnete, hatte Oskar Panizza einfach einen Brotberuf ergriffen: »Übrigens erwartete mich im Irrenhaus ein ärztliches Gebiet und eine geistige Sparte, die mir so gut wie fremd war. Wen(n) ich nun in geistiger Vorbereitung zu einer neuen Stelle einem an sich wenig verlokenden Theil der Medizin ... Interesse abgewin(n)e, in 3 Teufelsnamen, das ist doch meine Sache.«54

Im Gegensatz zu Emil Kraepelin war Oskar Panizza psychiatrisch gänzlich unvorbelastet. Euphorisch schilderte er, dass er als Stati­ onsarzt 170 von insgesamt 650 Patienten betreue. Zur Visite ge­ nügten ihm zwei Stunden am Tag. Den Rest der Arbeitszeit nahm Forschung, also bestimmte Hirnteile herauszuschneiden, in An­ spruch, doch wurde ihm auch zur literarischen Arbeit Zeit und Freiheit gelassen. Emil Kraepelin lernte Panizza als Assistenten­ kollegen unter Gudden kennen. Das Verhältnis zwischen dem späteren Ordinarius und dem späteren »Pazjenten« war damals eher distanziert. Kraepelin erinnerte sich: »Die jüngeren Kollegen, unter denen sich auch der später schwer erkrankte Oscar Panizza befand, standen uns mit Ausnahme von Rehm ziemlich fern.«55

Kraepelin und Panizza sollten sich über 20 Jahre später in Mün­ chen wieder begegnen: der Ordinarius für Psychiatrie auf dem Hö­ hepunkt seiner Laufbahn und der endlich wegen der Geisteskrank­ heit eingewiesene Schriftsteller und Verleger. Ihr Schicksal blieb verwoben. Während seines Entmündigungsverfahrens wies Paniz­ za seine Gutachter auf die diagnostische Einschätzung ihres Vor­ gesetzten hin: Er habe keine Halluzinationen, das bestätige auch Kraepelin. Der Lehrbuchautor Emil Kraepelin stützte seine um­ strittene Krankheitseinheit der »Paraphrenien« auf die Vita seines früheren Kollegen: Oskar Panizzas Leben musste Kraepelins »sys­ tematische Paraphrenien« illustrieren. In seinen psychiatrischen Vorlesungen publizierte der damals namhafteste Psychiater eine umfassende psychiatrische Beurteilung des entmündigten Schrift­ stellers.56 1882 aber waren beide noch aufstrebende Assistenten Guddens. An der von Bernhard von Gudden geleiteten Klinik bewegte sich die somatische Forschung auf höchsten Niveau. Panizzas muster­ gültige histologische Dissertation bei Münchens geschätztem Pa­ thologen Hugo von Ziemssen hatte ihm den Weg bei Bernhard von Gudden geebnet. Gudden hatte die mikrobiologischen Färbe- und Nachweismethoden schon sehr früh in sein neuroanatomisches Laboratorium eingeführt. Mikrobiologie und Histologie beson­ ders auf dem Gebiet des Zentralen Nervensystems standen damals noch weitgehend am Anfang. Neue wichtige Resultate waren fast zu erwarten, schließlich hatte Robert Koch erst 1882 den Tuber­ kuloseerreger entdeckt. Der promovierte Histologe Oskar Panizza wurde mit der mikrobiologischen Diagnostik betraut. Zumindest anfänglich war Gudden mit Panizza auch äußerst zu­ frieden und schenkte ihm weitreichendes Vertrauen. Als sein Schwiegersohn Hubert Grashey, der Würzburger Ordinarius für Psychiatrie, unter Tuberkuloseverdacht stand, ließ Bernhard von Gudden Oskar Panizza die verdächtigen Speichelproben untersu­ chen. Auch als ein Herr R., ein ehemaliger Anstaltspatient, aus kurzer Entfernung mit einer Pistole auf seinen Hausarzt Dr. Hemmer und Bernhard von Gudden feuerte, war Oskar Panizza für R’s erneute Aufnahme zuständig. Gudden war bei dem An­ schlag unverletzt geblieben, Dr. Hemmer hatte einen Streifschuss am Arm erlitten. Clarissa von Gudden schrieb am 9.10.1883 an ihre Tochter Anna, verh. Grashey:

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Dann nach der Überwältigung des Patienten »untersuchte der Papa seinen Collegen u. fand mit diesem nebenan unter einer Serviette noch ein geladenes Doppel-Terzerol [= kleine, doppelläufige Damenpistole; d. V.], mit welchem der Kranke, wie er nachher dem Dr. PANIZZA bekannte, nachdem er die Arzte erschossen, sich selbst habe erschießen wollen«?7

Der Bruch

Oskar Panizzas Bruch mit Gudden kam ebenso abrupt wie voll­ ständig. Lapidar schilderte Panizza das Ende seiner psychiatrischen Tätigkeit: Er »... servirte daselbst [oberbayerische Kreisirrenanstalt München; d.V.J, inzwischen zum III Assistenzarzt vergerückt, während 2 Jahre. Beeinträchtigung seiner Gesundheit & wissenschaftliche & andere Differenzen mit seinem Schef ließen ihn 1884 diese Stelle aufgeben ...« 58

Panizza verließ die Irrenanstalt fluchtartig, befallen von der Angst selbst geisteskrank zu werden. Trotzdem gewann die Psychiatrie eine immer zentralere Bedeutung für ihn. Noch während seiner Assistentenzeit wurde seine Familie von psychiatrischen Erkran­ kungen befallen, und Oskar Panizza musste sie in psychiatrischen Fragen beraten. 1882 versuchte sich Ida, seine jüngere Schwester, umzubringen. Der Selbstmordversuch scheiterte. Panizza diagno­ stizierte eine hysterische Mitverursachung und riet seiner Mutter Ida psychiatrisch behandeln zu lassen. Ende April 1884 verstarb Panizzas Onkel Ferdinand Speeth in der Irren-Abteilung des Würzburger Juliusspitals im religiösen Wahn, nachdem er einer Marienskulptur den Kopf abgeschlagen hatte. Oskar Panizza er­ kannte die Bedeutung seiner erblichen Belastung. Er durchforstete seine Familie nach Krankheiten: Seine Mutter war auffällig, sie hatte einen »höchststreitbaren, unbeugsamen Charakter«; beim Onkel Ferdinand wurde eine Paranoia diagnostiziert; ein anderer Onkel hatte sich erschossen. Eine Tante hatte ein »absonderliches, schrullenhaftes und phantastisches Wesen«. Seine jüngere Schwe­ ster Ida hatte bereits zwei Selbstmordversuche unternommen. Os­ kar Panizza überfiel »panische Angst« selbst geisteskrank zu wer­ den. Als er seine Assistentenstelle bei Gudden kündigte, bemerkte er: Die Behandlung der Geisteskranken interessiere ihn zwar sehr, er fühle aber, dass sein Nervensystem auf die Dauer den steten Umgang mit Geisteskranken nicht ertragen könne. Panizza fühlte sich von Guddens neuroanatomischen Forschun­ gen geradezu körperlich bedroht. In Guddens Studien spürte er den Angriff auf seine Seele. Nur zu gut kannte er den Forschungs­

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alltag Guddens. Zu deutlich spürte er in Guddens Seziermesser den Angriff auf seine eigene Individualität und seine eigene Persönlich­ keit. Die göttliche Seele des Menschen sah Panizza durch Gudden entweiht. Wenn aber der Mensch entseelt wird, wenn das, was den Menschen ausmacht, zu einem toten Mechanismus gemacht wird, was bleibt dann noch? Cesare Lombroso, dessen >Genie und Irrsinn< Panizza später literarisch bearbeitete, schilderte treffend die Stimmung des sich bedroht fühlenden Oskar Panizza. Lombroso aber klagte nicht als Betroffener, sondern berichtete aus der Pers­ pektive des enttäuschten Forschers, der sich selbst wieder aufraf­ fen musste: »Wir haben mit dem Secirmesser der Analyse eines nach dem anderen, die zarten und verschiedenfarbigen Gewebe und Hüllen zu zerlegen und zu zerstören versucht, auf die der Mensch in seiner eitlen Nichtigkeit und hartnäckigen Selbsttäuschung so stolz ist; und zum Ersätze unserer Zerstörungsarbeit sind wir nicht einmal imstande, neue und höhere Ideale, schönere und sanftere Träume zu bieten. Dem Jammerrufe des Beraubten und Entblößten können wir nur antworten mit dem eisigen Lächeln des Zynikers![...J Der Physiologe darf nicht zurückbeben, wenn es sich darum handelt, langsam und methodisch, die Liebe auf das Spiel der Stempel und Staubfäden, den Gedanken auf mechanische Vibrationen der Moleküle zurückzuführen.«5’

Oskar Panizza suchte die gespürte Bedrohung durch literarische Arbeit abzuwehren. Der »Materjalist« Gudden wurde zu seiner ersten Zielscheibe. In Guddens Laboratorium wurden Gehirne se­ ziert. Von der Geisteskrankheit gezeichnet, sah Panizza sich selbst als Präparat in Guddens Labor. Panizza verfasste Gedichte gegen Gudden und versuchte, »jenes wimmernde Tier, welches nach Hülfe schreit« vor dem Gudden’schen Zugriff zu retten. Dichten und literarisches Schaffen wurden für ihn zum »Ableitmittel für psychopathische Anwandlungen.« Selbst »pazjent« - geriet der Schriftsteller und Reformorthograf mehr und mehr in Gegensatz zu den »Materjalisten« Gudden und Kraepelin und der von die­ sen verkörperten Schulpsychiatrie. In seinem Gedicht >An Gudden< erlebte sich Panizza selbst als Präparat und Versuchska­ ninchen.

>An Gudden< Du hast an Hunden - u. Katzen operiret Kaninchen hast Du manches geschlachtet Wie hast die Unschuld Thieren Du verachtet (das junge Thier, wie hast Du es verachtet mit derber Faust die Kehl ihm zugeschnürt) Am Hirn, an jenem Sphinx hast Du gerühret, Und vor Dir sank das Leben hin umnachtet. Du hast es als Dein Meisterwerk erachtet Vor Ehrgeiz und vor düstrem Drang verführet, Dich ich, ich bin kein Hund u. keine Katze einstmal“ Hunden hab ich schon gelitten -

Wie bin ich in Deinen Stall gekommen? In meinen Nacken schlugst Du Deine Tatzen Hast zwischen Deine Messer mich genommen Und aus der Brust mein rothes Herz geschnitten. Und meinen Kopf hast Du mir abgeschnitten! Und mir aus der Brust das Herz geschnitten.“ >Sonette an Gudden«

Ja, Ja, dein Messer hast du fein geführt, Aus seiner Höhl’ hast du das Auge’ genommen, Und hast mit Fingern, die von Blut geronnen Am Lebensnerv herumgestüret.

»Angriff aufs junge Thier, den zielbewußten« »Den Angriff auf das junge Thier bewußten« das war das catch ward deiner Mordenthat »Und Angriff« war nun bei deinen Schülern Mode Wie waren sie froh, dass sie ein Schlagwort wußten doch seltsam »Vom Angriff auf das junge Thier« sie plötzlich »Angriff an jenen jungen Menschen riefen, rief es Und tief im Leben spürte ich bald die Messer«.“

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Bernhard von Gudden, der Arzt von König Ludwig II. wurde für Oskar Panizza, dem Seelenverwandten Ludwigs, mehr und mehr zum Unmenschen. Als Bernhard von Gudden und König Ludwig II. von Bayern bei Schloß Berg im Starnberger See ums Leben gekommen waren, schilderte Panizza seinen Eindruck des Todes­ kampfes der Ertrunkenen:

>Der König und sein Narrenmeister«

Und der König ward auf seinem Schloß gefangen und dem Narrenmeister übergeben, welcher Gudden hieß, dass er über ihn wachen solle. Und der Gudden ergriff den König u. brachte ihn auf eine feste Burg, die an einem See lag. »Lieber Gudden, wir wollen spazieren gehn.«

Prosarefrain: Der König ersäuft seinen Gudden »Herr König, ich will nach den Wellen erst seh’n« dto: der Gudden ersäuft seinen König.

»Die Wellen sind ruhig, es hat keine Noth.« »Herr König, die Wellen schauen wie der Tod.

Die Wellen schluchzen wie Thränen und Leid, Ich glaubDas rothe Haus< verarbeitete Panizza seine Erfahrungen mit der Irrenanstalt. Panizza zeichnete eine Gegen­ welt Geisteskranker zur Normalität Gesunder: Das >rothe Haus< sei »geist’ge Freistatt«, befreie vom »Zwang und Gesetzes­ verhängnis« draußen und gewähre »Gedankenfreiheit«. Panizza sprach seine familiäre Belastung an, wenn er »Vater nebst Sohne« unter den Kranken erkannte. Panizzas Furcht vor Guddens For­ schung kam zum Ausdruck, wenn er die »erlesensten Gedanken­ träger« sezieren, ihr Gehirn untersuchen und in der »Collection der prächtigsten Exemplare« ausstellen ließ. Panizza sah sich schon als einen der Insassen, doch noch widerstand er der Verlockung durch das »rothe Haus«, weil er »noch [...] gesund«, »noch [...] gescheid« sei und »noch [...] die Liebe« habe.

»Das rothe Haus
Die beginnende Psychose* als Resultat ausgiebiger Forschun­ gen analysiert. Wesentlich früher, über ein halbes Jahrhundert vor dieser systematischen Erforschung der Psychosestadien, schilderte der betroffene Psychiater und Schriftsteller Oskar Panizza diese Erlebnisformen aus der Sicht des »Pazjenten«. Von England reiste Oskar Panizza über Holland, Norddeutsch­ land und Berlin zurück nach München. Er besuchte die Gemäl­ degalerien in Amsterdam und Berlin. Berlin stieß ihn ab, es wirkte »kalt, frostig, unbehaglich, - überall die Zeichen eines grossartigen Verstandes aber absoluter Mangel eines kleinen, feinen, behaglichen Gemüthlebens«.70 Panizza war fasziniert von der Prostitution und von den Cabarets. Panizzas Frauenbild kannte nur Huren und Hetären, so formu­ lierte Michael Bauer Panizzas Unvermögen eine konventionelle Frauenbeziehung einzugehen. Reisen nach Italien folgten. Panizza beschäftigte sich intensiv mit Sprachen und Literatur. Seitenweise zitierte er Originaltexte in seinen Tagebüchern. Hannes Ruch be­ wunderte Panizzas »phänomenale Literaturkenntnis«, sein »tadel­ loses« und »ungewöhnliches« »Gedächtnis« und Panizzas »stu­ pende Belesenheit«. Panizzas Fähigkeit, alles in Originalsprache zu zitieren und auch sofort mustergültig aus dem Stegreif zu übersetzen oder zu kom­ mentieren, löste allenthalben Erstaunen und Bewunderung aus.71

Die Rettung der Persönlichkeit oder Konstruktivist aus Betroffenheit

»Das stärkste Beispiel von dem Verfahren, dass wir die Welt nach unserem Gehirn, psichisch gesprochen, nach unserem primär in uns vorhandenen Bild, nach unserem Dämon, nach unserem Spuk konstruiren, ist - Don Quijote. Er reitet in die Welt hinaus und sieht, was in ihm ist, nicht was in der Welt ist.«72

Die literarische Arbeit entlastete den von der Geisteskrankheit gezeichneten Oskar Panizza von seinen psychotischen Erlebnis­ sen. Eine allgemein verbindliche Wirklichkeit, die alle Menschen unverändert abbilden konnten, gab es für Panizza nicht. Ziehe man, so die Auffassung Panizzas, die Leistung der Sinne ab, so bleibe doch nur das Denken, der Geist oder der Dämon übrig. Erst das Denken schaffe die Wirklichkeit, die ein »Normaler« wie ein »Geisteskranker« selbst hervorbringe. »Alles stekt in mir, und ist mein persönliches Spielzeug, mein Spuk, mein Stuss, wie jeder Irrenhäusler seinen Stuss hat, nur, dass ich den meinen mit Hunderttausenden teile und darauf eine Welt- und Staats-Ordnung gründe.«7’

Panizza wollte die Ebenbürtigkeit jeder Wahrnehmung systema­ tisieren und eine auf der Einzigartigkeit der Menschen beruhen­ de Weltanschauung begründen. Wenn die Gesunden die Halluzi­ nationen, die das Erleben des Geisteskranken mitbestimmten, nicht einmal nachvollziehen konnten, so war deren Erfahrungs­ horizont eben weiter als der der »Gesunden«. Für Panizza war das Bewusstsein des Psychotikers reichhaltiger als das der auf Objek­ tivität pochenden »Normalen«. Das empfindende Subjekt war für Panizza der einzig gültige Maßstab für philosophische Betrachtun­ gen wie für die psychiatrische Wissenschaft. In Panizzas Sicht schloß eine auf der Gleichberechtigung jeder Wahrnehmung be­ ruhende Psychiatrie einen Unterschied zwischen gesund und krank aus. Panizzas (anti-)psychiatrischer Entwurf, der noch zu bespre­ chen sein wird, basierte auf seiner >Skizze einer Weltanschauung«. Die Thesen dieses philosophischen Enwurfs leitete Panizza aus Stirners Werk >Der Einzige und sein Eigentum« ab. Max Stirners philosophisches System lehnt jede überindividuelle Wahrheit ab. Der Philosophiehistoriker Post interpretierte dies als eine egozen­

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irische Trotzreaktion auf antiindividualistische Verallgemeine­ rungstendenzen.74 Die Annahme einer egozentrischen Trotzreak­ tion vermag die Beweggründe eines Gesunden zu fassen, die Mo­ tive Oskar Panizzas aber waren defensiver. Mit Hilfe seiner subjektivistischen Weltanschauung warb der von Geisteskrankheit bedrohte Oskar Panizza für sein Selbstkonzept als Psychotiker und versuchte den Wert seiner Persönlichkeit zu retten. Panizza sah für sich nur die Wahl: entweder seine einzigartige Persönlich­ keit aufzugeben, sich als Kranken zu akzeptieren und auf seine »Normalisierung« durch die Fortschritte der psychiatrischen For­ schung zu hoffen oder aber Objektivität und Normalität abzu­ schaffen. Panizza stieß auf die Gedanken Stirners: »... da las ich Stimer; Stimer diesen Lazarus unter den Filosofen, der ... uns gezeigt hat, dass Denken ... mehr ist, als Mikroskopiren, Schädelmessen, Gehime-Wiegen und experimentelle PsichologieTreiben.,.*7i

Unter dem Pseudonym Max Stirner hatte Kaspar Schmidt mit dem Werk >Der Einzige und sein Eigentum< eine individualistische Weltanschauung geschaffen. Stirners Werk wurde von Karl Marx und Friedrich Engels in ihrer »Deutschen Ideologie« heftig kriti­ siert. In den Augen von Marx und Engels hatte Max Stirner, den sie Sankt Max nannten, eine imaginäre Freiheit des Geistes geschaf­ fen, welche nichts als die allertrivialsten Selbstbeschönigungen des deutschen Kleinbürgers darstellte.76 Von Marx und Engels hatten gerade Geisteskranke eine besondere Beachtung oder gar eine Wertschätzung nicht zu erwarten. Umso mehr fühlte sich Panizza von Stirner verstanden. Oskar Panizza sah durch Max Stirner sei­ ne eigenen Gedankengänge geradezu bestätigt. In der Sicht Os­ kar Panizzas zollte schließlich auch die naturwissenschaftlich ori­ entierte Psychiatrie ihren geisteskranken Patienten zu wenig Respekt. Die »Materjalisten«, allen voran Bernhard von Gudden versuchten die Seele auf molekularer und histologischer Ebene zu erforschen, das Wohl ihres Patienten kümmerte sie dabei in den Augen des Ex-Psychiaters Panizza zu wenig. Max Stirner aber er­ hob jedes geschmähte und ins Abseits gedrängte Individuum und stellte den Einzelnen in den Mittelpunkt. Max Stirners Werk »Der Einzige und sein Eigentum« wurde für Oskar Panizza zum Pro­ gramm, wie bereits der Titel von Panizzas Variante widerspiegelt: »Der Illusionismus und die Rettung der Persönlichkeit. Skizze ei-

ner Weltanschauung^ In dieser Schrift übertrug Oskar Panizza Stirners Weltanschauung auf sich und auf alle Geisteskranken. Panizza machte seine kritische Sicht der Psychiatrie zum Aus­ gangspunkt seiner Erörterung: Das Joch der Naturwissenschaften lasse keinen Raum für den Menschen, schon gar nicht für einen von der Geisteskrankheit bedrohten. Wissenschaftliche Versuche eine Seele im Wechselspiel der Atome zu finden, mussten bestür­ zen: Das hieße ja, dass das Gehirn die Gedanken produziere wie die Leber die Galle. In einem »materiellen Gehirnreflex« sollte das ganze Dasein des Menschen beschlossen sein. So seien aber weder eigenständiges Denken, noch Subjektivität oder kulturelle Werte denkbar. Für Panizza müsste ein jeder echte Materialist das Den­ ken überhaupt leugnen. Im Forschungslabor Guddens werde der Mensch entschleiert und entseelt und bleibe als toter Mechanis­ mus neben den Körpern der zerlegten Tiere zurück. Der Mensch werde zum reinen Automaten reduziert. Ein Psychotiker wäre für den forschenden Materialisten nichts als ein fehlerhaftes Modell, bei dem er sich auf Fehlersuche begeben müsste um ihn zu repa­ rieren, also die Halluzinationen und Wahninhalte abzustellen. Ir­ gendwann werde man Visionen, Größenideen und Exstase einfach abschalten können, so hofften doch die materialistischen Psych­ iater. Ihr Ziel sei der als höherwertig verstandene Gesunde. So interpretierte zumindest Oskar Panizza die hirnanatomisch-neu­ rophysiologische Richtung der Psychiatrie. Wie Cesare Lombroso war Panizza enttäuscht über die Entgöttlichung des Menschen. Lombroso, dem gesunden Forscher blieb aber zumindest das ei­ sige Lächeln des Zynikers! Panizza, dem erblich Belasteten und von der Geisteskrankheit Gezeichneten, blieb nur die Angst. Li­ terarisch in seinen Werken und philosophisch in seiner >Skizze einer Weltanschauung< setzte sich Panizza zur Wehr. Wenn die na­ turwissenschaftliche Forschung den göttlichen Funken des Men­ schen wegzuerklären versuche, dann müsse sie eben abgestellt werden; wenn die menschlichen Biologie (s)eine Seele überflüssig mache, dann müsse eben alle Biologie, ja die gesamte Außenwelt von der Seele abgeleitet werden. Der Naturwissenschaftler versu­ che Religiosität und Spiritualität zu nichts als einem gottlosen Spiel der Atome zu reduzieren. Er lege sich ein Leben ohne Transzen­ denz zurecht. Je intensiver der Materialist forsche, umso mehr werde der Mensch zum Tier. Der Mensch verliere dabei seine See­

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le und seine Vorstellung von der Unsterblichkeit. Oskar Panizza kam es nicht auf eine naturwissenschaftliche Erklärung des Be­ wusstseins an, sondern auf die Rettung seiner eigenständigen Per­ sönlichkeit. 64

Was »bliebe angesichts dessen für Jemanden, der den baroken Gedanken fasste, sein Denken nicht für die Nebensache, sondern für die Hauptsache zu halten, übrig? - Sein Denken. - Für Einen, dem die Vorstellung, dass sein gesamtes Dasein als Mechanismus beschlossen sei, unerträglich wäre, was bliebe ihm übrig? - Sich in sein Denken zu retten«.77

Trotzig zog sich Panizza in sich zurück und vertrat seine »illusio­ nistischen« Thesen umso entschiedener. Offensiv fragte Panizza: »Wie steht es überhaupt mit dieser Aussenwelt? Wie kommt es, dass ich die Aussenwelt nicht als /nnen-Welt empfinde ...?« 78

Ein Halluzinant halte seine Wahrnehmung doch auch für real. Ob dieser Wahrnehmung überhaupt etwas in der Außenwelt entspre­ che, sei doch für das Erleben nebensächlich. Auch der Baum, den jemand sehe, befinde sich nicht in seinem Kopf und sei dort ebenso wenig greifbar wie der halluzinierte Baum. Eine tatsächlich gehörte Stimme schalle ebenso wenig durch das Gehirn wie die halluzi­ nierte. Für den Wahrnehmenden sei doch alles identisch: »Ich muss Idee einer Sache und die Sache selbst als einen Prozeß in meinem Innern sezen. Also der Baum in der Aussenwelt und die Idee des Baumes in meinem Innern sind identisch ... und die gesamte Aussenwelt stekt in meinem Innern.« 79

Für den Erlebenden sei es gleichgültig, ob seiner Wahrnehmung tatsächlich etwas entspreche oder nicht. Sinneseindrücke werden in der Sicht Panizzas nach außen projiziert und schaffen damit erst die Außenwelt. Wenn Halluzinationen und normale Sinneswahrnehmungen aber gleichermaßen in die Außenwelt projiziert wür­ den, werde die Wirklichkeit überflüssig. »... denn der Baum dringt doch nicht in meinen Kopf - so ist die Welt Halluzinazion*.'®

Damit hatte Panizza den Spieß umgedreht. Wenn ihm die natur­ wissenschaftliche Erforschung der Objektivität die Seele zu neh­ men versuchte, so schaffte Panizza die Objektivität eben ab. Die gesamte Welt war für ihn nichts als eine Projektion. »Das Stärkste, was der Mensch besitzt, ist seine Fähigkeit, krumm grad zu machen, schwarz weiß, Alles, was ihm vorkomt einer

bestirnten Idee unterzuordnen, Nicht-Paßendes bei Seite liegen zu laßen. Diese Kraft ist es, die Berge versezen kann.«81

Für PanizZa gab es keine Objektivität. Der Mensch projiziere sei­ ne Welt. Alles entstehe durch den schöpferisch tätigen Menschen selbst. Mit diesen Worten machte Panizza aus jedem Menschen einen allmächtigen Gott. Es gebe nur noch ihn selbst, auch der Mit­ mensch sei ja projiziert. Panizzas Weltanschauung führte zu einem alles schaffenden, alles erklärenden, dabei aber eigentümlich machtlosen und solipsistischen Schöpfer. Jeder blieb mit sich al­ leine. Niemand hatte mehr ein Gegenüber. Es gab nichts verbin­ dendes, keine gemeinsame Basis. Jeder war der einsame Schöpfer seiner Welt. Das bedeutete für Panizza aber keineswegs, dass sich jeder seine Idylle schaffe: Vollauf mit dem unablässigen Schöpfen und dauernden Projizieren beschäftigt, blieb keine Zeit sich lange um die Konsequenzen zu scheren. So wurden eben nicht nur gute und zweckmäßige Projektionen geschaffen. Auch Schlechtes, Un­ erträgliches und Grausames konnte so entstehen. Einmal in der Welt verankert, blieb jedoch alles Geschaffene wirkungsmächtig und unveränderbar. Einmal mit dem Projizieren begonnen, ent­ stand die gesamte bekannte Welt durch die naiv und spontan ab­ laufende, sich verselbstständigende Gewohnheit des Projizierens. Unreflektiert wurde so eine Welt hervorgebracht, für die ihr Schöp­ fer vielleicht nur »Mitleid und Verachtung« empfinden konnte, wenn er darüber nachdachte. Doch einmal projiziert, konnte in Panizzas System auch der alles verursachende Schöpfer seine Krea­ tur nicht mehr rückgängig machen. Panizza blieb in seiner Schöp­ fung gefangen. Die Welt war nichts als eine Bühne für die Projek­ tionen, die Menschen waren nichts als die Marionetten auf ihr, bewegt von unsichtbaren Händen. Auf dieser Bühne konnte sich Panizza aber benehmen, als sei alles wirklich: »Ich frage meinen Nachbarn, wieviel Uhr es ist, mit der Reservazion: Nehmen wir einmal an, die Uhr, der Nachbar und ich existirten als Erscheinung wirklich in der Aussenwelt.«82

Wenn er auf der Bühne auch auf Mitmenschen traf, so blieb Panizza doch allein in seiner Schöpfung. Die Last seiner Projektion ruhte alleine auf ihm. Wo aber fand nun er, der Schöpfer seinen Rück­ halt? In Panizzas System wieder in seinem Schöpfer, den Panizza transzendentales Prinzip, Gott oder Dämon nannte. Der Dämon, der ihn bei der Erschaffung der Welt leitete, war der eigentliche

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Grund für Panizzas Projizieren und damit für die gesamte proji­ zierte Welt. Panizza war nichts als die selbstbewusste Exekutive des Dämons. So war Panizza zugleich allmächtiger Schöpfer der Welt und dennoch unschuldig an den Konsequenzen seines Tuns. Die Verantwortung trug alleine der Dämon. Je unglücklicher Panizza in seiner Welt war, umso stärker wandte er sich also zu­ rück zu seinem Dämon, den Panizza auch Gewissen, innere Stim­ me, Impuls oder Eingebung hätte nennen können. Die Überein­ stimmung mit dem Dämon war das einzige verpflichtende Prinzip. Solange Panizza nur mit seinem Dämon einig war, konnte er die blöde dumme Welt, für die er vielleicht nur Mitleid und Verach­ tung empfand, herausfordern und verlachen. »Handle, wie Dir Dein Dämon vorschreibt. Schrekst Du vor Konsequenzen in der Welt der Erscheinungen zurük, dann ist sie stärker als Du. Sezt Du Dich durch, dann bist Du Obsiegender. Du gehst vielleicht zu Grund. Aber zu Grunde zu gehn in der Welt der Erscheinungen, ist ja das Loos von uns Allen.«”

Der Dämon, Panizzas innere Stimme, wurde zur Triebfeder jeder Handlung. Der Dämon lenkte und steuerte alles. Ihm zu gehor­ chen wurde für Panizza zum Lebenszweck. »Wir sind nur Marjonetten, gezogen an fremden und unbekanten Schnüren.... Das brutalste Glük und die schmählichste Täuschung ...: die erotische Beziehung zwischen Mann und Weib, wo wir meinen zu empfinden, zu handeln, und nur die Arbeit eines Höheren verrichten, dem an Multiplizirung und Proliferirung sinlicher, illusion-erzeugender Aparate liegt. Nur der Tod macht dem Spuk ein Ende.... Der Dämon zieht sich zurük.«”

Jedes Erleben war für Panizza nur Illusion, lediglich vorüberge­ hend von Bedeutung, keineswegs von Dauer. Alle Erlebnisse wa­ ren nur eine Momentaufnahme, beziehungslos zwischen Vergan­ genheit und Zukunft erfahren, ohne überdauernde Bedeutung. Bruchstückhaft reihten sich in Panizzas Sicht die einzelnen Erfah­ rungen aneinander. Beispielhaft sei die sexuelle Begierde: Das Entzücken, das Begehren vor dem Geschlechtsakt sei nichts als eine Täuschung. Das Gegenüber sei nur das fleischliche Objekt egoistischer Begierde. Nach dem Akt blieben »zwei gleich im Be­ gehren, für sich egoistische, stumpfsinnige Leiber... zurück«85 So wurde in Panizzas Sicht die Illusion zerstört, damit erlosch die Begierde. Der Zweck des Lebens war für Panizza die Desillusio-

nierung, welche jeden einzelnen Augenblick als Hürde nahm und dabei zerstörte. Zerstörte Illusionen waren für Panizza Geschichte. »Die reichste Geschichte hat derjenige, der die meisten Illusionen aus sich herausschleudert.«86

In der Schrift >Der Illusionismus und die Rettung der Persönlich­ keit. Skizze einer Weltanschauung« legte Panizza seine Lebensauf­ fassung nieder, die sich in allen seinen Lebensbereichen nieder­ schlug. Sie war die Basis seines antipsychiatrischen Konzeptes, das weder Gesunde noch Kranke kannte. Für den Psychotiker waren seine Halluzinationen »echte« Wahrnehmungen, die das Erleben mindestens genauso prägten wie die Wahrnehmungen »wirkli­ cher« Gegenstände. Wichtig war nur, wie das Subjekt die eindrin­ genden Reize verarbeitete und hieraus seine Wirklichkeit erzeug­ te. Ich glaube, dass unsere sinliche Existenz und die uns umgebende Aussenwelt nur insofern den Anspruch auf Realität haben, als sie das Resultat unserer Sinne sind. Für unser Denken, welches eine höhere Daseinsform gegenüber unserer sinlichen Perzeption und der auf diesem Wege gewonnenen Aussenwelt darstellt, ist die Gesamtsumme unserer sinlichen Erfahrung Illusion.87

Mit diesen Thesen konnte Panizza, die Ebenbürtigkeit des Psychotikers und das Selbstbewusstsein des Halluzinanten in ei­ ner auf Objektivität pochenden Umgebung bewahren. Sie erläu­ terte die Motive zu Panizzas »Entlastungsschreiben« und war die treibende Kraft zu seinen literarischen Werken: »Ich bin kein Künstler, ich bin Psichopate, und benuze nur hie und da die künstlerische Form, um mich zum Ausdruck zu bringen. Mir ist es durchaus nicht um ein Spiel von Farbe und Form zu tun, oder dass sich das Publikum amüsiert, oder dass es sich gruselt ich will mir meine Seele offenbaren, dieses jammernde Tier, welches nach Hülfe schreit.«88

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Der Schriftsteller

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Vor seinem Eintritt in die Münchener »Gesellschaft für Moder­ nes Lebern schrieb Panizza vorwiegend Gedichte, naturalistische Novellen und Kurzgeschichten mit mäßigem Erfolg. Dennoch schätzen die Kritiker diese frühen Werke besonders. Diese wur­ den nicht konfisziert. Die christliche Religion, die Sexualpatho­ logie der Bürgerwelt und die Normalität im Wahnsinn wie auch der Wahnsinn in der Normalität waren Panizzas Hauptthemen, die sich häufig vermengten und überschnitten. Der Ich-Erzäh­ ler war Psychiater und registrierte die Auswüchse der menschli­ chen Deformation, oder: der Ich-Erzähler war »pazjent«, der seine Biografie und Teile seiner Krankengeschichte niederschrieb, wie im »Corsettenfritzc »... das ist die Geschichte eines durch einen bigotten Onkel von allen weltlichen Anfechtungen abgeschirmten Gymnasiasten, der eines Tages in einem Schaufenster Korsettpuppen sieht, glaubt, eine neue, kostbare Menschenrasse entdeckt zu haben, und seine ganze bisher verdrängte Sexualität auf diesen Fetisch richtet. Als Theolo­ gie-Student besucht er ... in einer mitteldeutschen, wegen ihres jovialen Charakters berühmten Residenzstadt erstmals ein Bordell und findet hier ein Geschöpf, angetan mit ebenjenem orangenen Korsett, das ihm schon seit zehn Jahren im Traum erscheint: »Wie bist Du aus jenem Schaufenster herausgekommen. Wo hast Du diese wunderschöne, orangene Hülse her?... Kann man Dich kaufen? Du bist der Inbegriff alles Glücks auf dieser Erde. Ich würf’ die ganze Theologie zum Teufel, wenn ich Dich besitzen könnte ...» Bei der ersten Predigt, die der Corsettenfritz nach glänzend bestandenem Examen halten soll, bricht die Geistes­ krankheit aus. Im Irrenhaus schreibt er - wie zehn Jahre später Panizza selbst - auf Wunsch des Direktors seine Lebensgeschichte nieder. Ein Report über die sexuelle Verirrung, vor allem aber eine Attacke gegen das Korsett der bürgerlichen Erziehung.«8’

Panizzas Erzählungen verarbeiteten seine persönlichen Erlebnis­ se oder waren gar ganz autobiographisch. Das Ungewöhnliche, das er berichtete, hatte er zum Teil so erlebt. Die verzerrte Wirklich­ keit, auf die er den Blick freigab, war seine eigene. 1890 traf Panizza

Der Außenseiter Panizza im Kreise seiner Freunde (v. links nach rechts): Bierbaum, Schaumberg, Panizza, Conrad, v. Gumppenberg, Schaumberger. Abb. aus: Panizza (1979), S. 2

auf Michael Georg Conrad, den Gründer der »Gesellschaft für modernes Lebern. Wie Emil Kraepelin auf psychiatrischem Ge­ biet, so sollte der erfolgreiche Schriftsteller Conrad Panizzas Weg in die Geisteskrankheit begleiten. Panizza sollte seine Pariser Kampfschrift >Parisjana< Conrad widmen und ihn sich dadurch zum erbitterten Feind machen. Wütend sollte Conrad illustrieren, wie die von Dr. Ungemach diagnostizierte Geisteskrankheit, lite­ rarisch Niederschlag gefunden hatte. Zehn Jahre früher aber wa­ ren Conrad und Panizza noch befreundet und standen gemeinsam in der literarischen Opposition. Am 29. Januar 1891 hielt Michael Georg Conrad die Einführungs­ rede zur Gründung der »Gesellschaft für modernes Lebern. Conrads heftig kritisiertes Referat wurde als erste Nummer der »Münchner Flugschriften« veröffentlicht und fand reißenden Ab­ satz. Zielsetzung des Gründungsaufrufs zur »Gesellschaft für mo­ dernes Leben«, welcher von Michael Georg Conrad, Detlev von Liliencron, Otto Julius Bierbaum, Julius Schaumberger, Rudolf

Maison, Georg Schaumberg und Hans von Gumppenberg unter­ zeichnet wurde, war die

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»Pflege und Verbreitung modernen, schöpferischen Geistes auf allen Gebieten: Soziales Leben, Literatur, Kunst und Wissenschäft.«90

Kurz nach ihrer Gründung trat Oskar Panizza der Gesellschaft bei und vervollständigte mit Heinrich von Reder und Michael Georg Conrad ein fränkisches Triumvirat, das schon bald eine Vormacht­ stellung in der »Gesellschaft für modernes Leben« genoß. Die Künstler der »Gesellschaft« versuchten den künstlerischen Erfolg zu erzwingen. Pseudoprovokationen sollten für Skandale und Bekanntheit sorgen. Fast alle Annalen der »Gesellschaft« wurden beschlagnahmt. Das nicht unbeträchtliche Aufsehen, das die »Ge­ sellschaft« erregte, beruhte »letztlich auf schriftstellerischer Eitelkeit und kommerziellem Erfolgsstreben ... - Oskar Panizza zu dieser Zeit keineswegs ausgeschlossen«.91

Auch Oskar Panizza griff nach allem, womit er für seine Werke werben konnte: Religiöses, Verrücktes, Sexuelles; er stilisierte sich wiederum als Mephistopheles und Syphilitiker. An dieser Stelle muss auch der Antisemit Panizza erwähnt werden. Der Antisemi­ tismus war in den 80er und 90er Jahren des vergangenen Jahrhun­ derts sowohl im konservativen wie auch im anarchistisch-opposi­ tionellen Lager verbreitet, und Panizzas Erzählung »Der operierte Jud« gehört zu den »übelsten antisemitischen Pamphleten, die es in der deutschen Literatur gibt«.92 Panizzas antisemitische Hal­ tung war ebenso wenig dauerhaft wie seine anderen skandalösen Standpunkte. Während seiner Emigration nach Zürich und in Frankreich rückte er deutlich von seiner antisemitischen Position ab und bezeichnete Antisemiten als »kulturfeindliche Schreier«. Wie auch die anderen skandalträchtigen Inhalte, die Panizza ver­ trat, muss auch der Antisemitismus unter die Funktion des Pro­ vozierens, des Aufgreifens von Skandalthemen und der schriftstel­ lerischen Effekthascherei eingegliedert werden. Posthum wurde Panizza damit aber auch für den Nationalsozialismus attraktiv. So wurden die Werke des entmündigten Geisteskranken zur offiziell unterstützten NS-Literatur. Während des einjährigen Vorsitzes wurde Michael Georg Conrad von den jüngeren Modernen, einer radikalen Avantgarde, in eine

gemäßigtere Defensive gedrängt. Am 12. November 1891 verließ Conrad die Gesellschaft und begründete diesen Schritt mit dem elitären Gebaren der jungen Künstler, denen er durch sein erneu­ tes Bekenntnis zum Christentum untragbar geworden war. Der Polizeidirektion machte er die »gehorsamste Anzeige«, dass er der »radikalen Unterströmung« der »konsequenten« Modernen wei­ che. Oskar Panizza nahm den enormen Prestigeverlust durch Conrads Austritt zum Anlass sich ebenfalls aus der Vorstandschaft zurückzuziehen. Trotzdem arbeitete Panizza aber noch verstärkt mit. Die »Gesellschaft für modernes Lebern fand dennoch kaum mehr öffentliche Resonanz.93 Nie war Oskar Panizza ein erfolgreicher und berühmter Schrift­ steller; im München kurz vor der Jahrhundertwende erlangte er jedoch eine gewisse Bekanntheit. Die moderne Avantgarde war geradezu auf der Suche nach einem genialisch-verrückten Syphi­ litiker; Oskar Panizza erfüllte, ja übertraf all ihre Erwartungen. Hans Richard Weinhöppel, der später unter dem Pseudonym Hannes Ruch der Hauskomponist der »Elf Scharfrichter« wurde, schilderte die Faszination, die damals von Panizza ausgegangen war.94 »Dieser erzgescheite Mensch mit dem scharfen Blick geistiger Überlegenheit und großer Welterfahrung, mit dem vitalen Gehirn, dem Hautgout einer dekadenten Weltanschauung und den blasphe­ mischen Kühnheiten übte auf uns denselben Reiz aus wie die verbotene Lektüre eines Boccaccio oder Casanova, Anno dazumal, als wir noch die Schulbank drückten. Seine Schriften kannten wir fast ausnahmslos; sie fesselten uns in demselben Grade, wie sie uns befremdeten. Schon damals fanden sich zahlreiche Gegner der Panizzaschen Muse. Und wahrlich: bei dieser ungewohnten, schwerverdaulichen Mischung von bäurischer Derbheit und raffiniertester Feinschmeckerei konnte kein Alltagsmensch auf seine Kosten kommen. Wir aber, die wir das Ungewohnte, Neue suchten, liebten ihn.«95

Panizzas literarische Arbeit diente seiner psychischen Entlastung. Eine aufgekommene Inspiration musste zu Papier gebracht wer­ den. Der spontane Einfall wurde dranghaft in einem Zuge nie­ dergeschrieben und später nicht mehr verändert. Lange Umände­ rungen und Überlegungen verfälschten für Panizza nur die Spontaneität. Ebenso verfuhr er mit der Sprache. Dies veranlasste

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Hanns Heinz Ewers, Panizzas Sprache folgendermaßen zu cha­ rakterisieren: »Oskar Paiiizza erscheint mir groß genug, selbst seine schlimmsten Mängel schonungslos zu zeigen. Also: seit Luther hat nie ein Dichter seine Sprache so mißhandelt, wie Oskar Panizza! Seine Sprachbehandlung ist so jämmerlich, so niederschmetternd schlecht, dass man oft seinen Augen nicht traut!... Er schreibt, wie er spricht - und er spricht abscheulich! Salopper wie Panizza hat nie ein anderer gearbeitet, dazu hat er nie Korrektur gelesen,... Sätze von drei Seiten sind nichts Ungewöhnliches, dazu wechselt Objekt und Subjekt wie Kraut und Rüben. Die abenteuerlichsten Fremdwörter übersteigen sich und sie sind zum Überfluß noch häufig falsch geschrieben. Die Interpunktion ist oft ganz sinnwid­ rig, die Tempora sind stets falsch angewandt, die Grammatik ist in der schlimmsten Weise mißhandelt. Für einen Freudianer mögen diese Panizza=Ausgaben eine Fundgrube sein: es ist gewiß leicht, an Einzelheiten festzustellen, wie schon hier zeitweise irgend etwas im Gehirn aussetzte.«

Ewers fuhr fort: Nur die Änderungen, die jeder gute Setzer von sich aus hätte machen müssen, habe er vorgenommen: »Und es scheint mir, daß jetzt erst der eigentliche »Stil« Panizzas in seiner oft lapidaren Wucht, seiner breiten holzschnittartigen Kraft voll herausgekommen ist.«96

Das dialektische Lob, dass aus Panizza durchaus »etwas hätte werden können, wenn nur...« durchzieht fast alle Besprechungen Oskar Panizzas. Jede Eigentümlichkeit und jede Abweichung wird hart kritisiert, dann aber wegen des prinzipiell guten Ansatzes wie­ der gelobt. Dies trifft natürlich auch auf Panizzas Schreibweise zu. Seit den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gab Oskar Panizza nämlich auch wegen seiner Orthografie zu Beanstandun­ gen Anlass. Er begann eigenwillig phonetisch zu schreiben: Ver­ dopplungen sparte er aus und schrieb phonetisch: der Materialist wurde zum Materjalisten, der Patient zum P(p)azjenten. Seine Ver­ stöße gegen die konventionelle Schreibweise setzte Panizza auch gezielt ein. Seine späteren Publikationen waren durchweg phone­ tisch. Damit machte er es nicht nur seinen Verlegern, die er ohne­ hin bald vergrault haben sollte, noch schwerer. Auch in wesent­ lich späteren Publikationen aus den 70er Jahren wurden Panizzas »Fehler« gelegentlich wohlwollend korrigiert. Dies geschieht im-

mer seltener, doch noch immer findet sich fast in jeder Publikati­ on eine geistreiche Erklärung, die den roten Faden in Panizzas Schreibvariationen gefunden zu haben glaubt.97 Panizza, der durch das Unkonventionelle aufzufallen suchte, soll damit möglichst wie­ der in ein griffiges Korsett gezwungen werden. Das Spontane bei Panizza soll möglichst wieder mit der Vernunft fassbar werden. Als Mitglied der »Gesellschaft für modernes Leben« hielt Panizza auch Vorträge und Referate. In den Münchner Centralsälen trug er 1891 »Genie und Wahnsinn« vor. Diesen Aufsatz hatte Panizza fast wörtlich von Cesare Lombroso übernommen, was ihn aber nicht davon abhielt, Lombroso inhaltlich zu attackieren, und zwar für Thesen, die Lombroso in »Genio e Follia« gar nicht vertreten hat. Panizza machte sich die Publizität, die Lombrosos Schriften damals besaßen, zu Nutze. Dabei vergaß Panizza sogar, den eigent­ lichen Urheber seines Vortrags namentlich zu erwähnen. Doch auch Skandalthemen griff Panizza auf: »Haben Sie heute schon etwas Konfiszierbares geschrieben?« wurde er von anderen gefragt. »Das Verbrechen in Tavistock-Square« war etwas Konfiszierbares; es wurde im »Sammelbuch der Münchener Modernen« veröffent­ licht und brachte ihm eine gerichtliche Anklage wegen Vergehens gegen die Sittlichkeit ein, die aber von der Strafkammer des Amts­ gerichts München I eingestellt wurde. 1892 erschien das TragiHumoristikum »Aus dem Tagebuch eines Hundes«, das Panizza dem Andenken Swifts widmete. Es ist eines der harmloseren Stükke Panizzas, das aus der Hundeperspektive den Menschen und sei­ ne Gewohnheiten beschreibt. Panizza gestaltete seine Hunde so menschlich, dass er auch sie nach der Seele fragen ließ. Als ein Hundekamerad gestorben war, blieb die Angst des »Mithundes«: »Jenes Denk=Wesen, jenes Tier, welches in unserem Kopfe steckt, und uns Alles befiehlt, zu riechen, zu fressen, zu laufen, auch gegen unseren Willen, hatte offenbar meinen armen Kameraden verlassen! [...]« Giebt es einen Platz, wo sich die Denk=Tiere versammeln, vielleicht am Mond, und plauschend unterhalten, wie sie jetzt wieder einen Hundekörper gefoppt und dann elend liegen gelas­ sen?«98

1893 erschien die Novellensammlung »Visionen«. Panizza war zu dieser Zeit verzweifelt, denn der erhoffte großartige künstlerische Durchbruch blieb weiter aus. Max Halbe stellte fest: »Dies stolze, verschlossene Herz dürstete nach Lob, nach Beifall,

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Ruhm, wie der Verschmachtende nach dem rettenden Trunk ... Der vierzigjährige Mann sah das mit verbissener Leidenschaft erstrebte Ziel seines Lebens ferner und ferner entweichen. Er mußte hinter ihm her, sei es auf dichterischem Pfade, sei es auf dem des Streiters, des Bekenners entgegen der feindlichen Gewalt der Zeit. Er mußte es einzuholen suchen, koste es, was es wolle; koste es ihm auch sein Leben oder seinen Verstand.«”

Max Halbe traf Panizza im Frühling 1893 in Rottach, wo er den Eindruck gewann »... daß Panizza entschlossen war, für die Verwirklichung seiner ehrgeizigen dichterischen Träume jeden Preis zu zahlen - sei es auch den der Märtyrerkrone. Ich schloß aus seinen Andeutungen, daß er es mehr und mehr aufgab, auf einem normalen, üblichen Wege das Ziel seiner Wünsche, den erträumten Dichterruhm zu erreichen. ... Aber wenn es so nicht ging, wenn dichterische Mittel versagten, warum sollte es nicht mit außerdichterischen gelingen? Wenn der Verfasser die Schranken des Dichterischen durchbrach und mit seiner Lanze gegen die religiösen Gefühle einer Glaubensgemeinschaft anrannte, sie verwundete ... und dann dem Gegenstoß einer feindli­ chen Übermacht erlag: wenn also der Dichter zum Märtyrer seiner Überzeugung wurde, mußte da nicht diesem die Krone des Lebens zufallen, die jenem versagt blieb? Der Dichter als Märtyrer. Der Märtyrer als Dichter. Wo war da noch ein Unterschied?«100

Panizza wollte den literarischen Erfolg, und er wollte ihn sofort. Am besten erschien es ihm, ein religiöses, katholisches, ketzeri­ sches Thema aufzugreifen. In schneller Folge veröffentlichte Panizza gleich drei antikatholische Schriften: In >Die unbefleckte Empfängnis der Päpste< dehnte Oskar Panizza das von Pius IX im Jahr 1894 proklamierte Dogma der unbefleckten Empfängnis der Jungfrau Maria auf die Päpste aus. Diese Schrift wurde gericht­ lich beschlagnahmt und im sogenannten »objektiven Verfahren« für das ganze Deutsche Reich verboten. Panizza ließ sich davon allerdings nicht beeindrucken. 1894 veröffentlichte Panizza »Der teutsche Michel & der römische Papst< trotz heftiger Kritik durch die Kirche und trotz öffentlicher Warnungen diese Schrift zu kau­ fen. Auch dieses Werk wurde 1895 beschlagnahmt. Aber Panizza war unbelehrbar. Noch 1894 erschien die Himmelstragödie »Das Liebeskonzil«; sie war der krönende Abschluss einer antireligösen Trilogie, von der Panizzas scheinheilig behauptete eine Gottesläs-

terung eigentlich nie beabsichtigt zu haben. Nicht einmal die gött­ lichen Personen, so Panizza, habe er ursprünglich einbeziehen wollen. Später, so räumte Panizza ein, habe er aber gemerkt, dass dies nicht zu umgehen gewesen sei. Karl Kraus resümierte Anfang Dezember 1894: »Zu den wenigen Echten, denen Begabung und Ehrlichkeit, ich meine - die ehrliche, zugesprochen werden darf, ist auch Oscar Panizza zu zählen. Einer der abenteuerlichsten Kampfhähne, der geradeaus auf das Confisciert-werden auszugehen scheint, hat es in letzter Zeit namentlich auf die Päpste abgesehen.«101

Panizza hatte das »mittelalterliche Mysterienspiel umfunktioniert zur bösen Travestie.«102 Den Inhalt des >Liebeskonzil< fasste Han­ nes Ruch 1914 in hundertfünfzig Wörtern zusammen: »Gottvater erfährt von der sittlichen Verworfenheit am Hofe des Papstes Alexanders II. In höchstem Zorn beschließt er furchtbare Bestrafung. Christus, Maria, Maria Magdalena und der Heilige Geist helfen mitberaten; der Teufel, vor den Thron zitiert, muß ein Mittel zur Geisselung der sündigen Menschheit erfinden. Der wählt die Verruchteste unter allen Frauen, Salome, zeugt mit ihr ein himmlisch schönes Weib und schickt es auf die Erde, das Blut der Menschheit zu vergiften. Die Höllentochter erscheint einer Ver­ sammlung der päpstlichen Familie während der heiligen Messe ... In trüber Morgendämmerung verläßt sie mit halb entblößter Brust, übernächtig, hohläugig, den päpstlichen Palast. Der Teufel herrscht sie an: Jetzt zu den Kardinälen! Dann zu den Erzbischöfen! Dann zu den Gesandten! Dann zum Camerlengo! Dann zu den Neffen des Papstes! Dann zu den Bischöfen! Dann durch alle Klöster durch! Dann zu dem übrigen Menschenpack! - Tummle Dich und halte die Rangordnung ein! - (Weib langsam ab. Der Vorhang fällt.)« 105

Hannes Ruch fuhr fort: »Als ich mich von meiner ersten Betäubung erholt hatte, schrieb ich an Panizza: »Mensch, wie konnten Sie die Tollkühnheit besitzen, ein solches Buch der Öffentlichkeit anzuvertrauen?! Tausende werden es nicht zu Ende lesen können, man wird Sie mit Haß und Verachtung überschütten. Keiner wird an Ihren Ernst glauben. Man wird Sie, den Gotteslästerer, bespeien und ans Kreuz schlagen. Der Heiland und der Schächer mußten des gleichen Todes sterben!« Ich prophezeite ihm als Minimum ein Jahr Gefängnis.« 104

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»Das Liebeskonzil« brachte Panizza zwar endlich die ersehnte Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, doch nur um den Preis einer Verurteilung wegen Gotteslästerung. Noch kurz vor der Verhand­ lung glaubte Panizza, dass er die Bekanntheit durch die Anklage für sich würde nutzen können. Mitte Februar 1895 schrieb Oskar Panizza an Max Halbe: »Meine Sache steht ziemlich aussichtslos.... Meine Freunde und einige Juristen raten mir fort zugehen. Aber die kennen einen deutschen Schriftsteller von heute nicht, die meinen, der ließe sich die Gelegenheit zu einer - Rede vor den Aßisen entgehen, Ich werde mich wehren wie eine Hyäne. -«*“

Die Verhandlung um »Das Liebeskonzih

»Wenn der Hund in Niederbayern verhandelt würde - der kam’ nicht lebendig vom Platz!« (Ein Geschworener im Prozess gegen Panizza 1895)'06

Panizza war so von einem Ruhm- und Bekanntheit verheißenden öffentlichen Auftritt überzeugt, dass er die realistischeren Gefah­ ren beiseite schob. Endlich hatte er die Chance erzwungen, die breite Öffentlichkeit für sich und seine Werke zu begeistern. Panizza formulierte eine Verteidigungsrede, in der er sich juristisch aus formalen Gründen unangreifbar machen wollte und sich künstlerisch in die Tradition Huttens, Hogarths und Voltaires ein­ reihte. Panizza berief sich auf einen Paragrafen im deutschen Reichsstrafgesetzbuch, »wonach eine im Auslande begangene und dort nicht strafbare Handlung auch im Inland nicht verfolgt wer­ den kann«: »Das Buch ist gar nicht in Deutschland erschienen. Es ist in der Schweiz erschienen ... Wenn Sie nun ein Buch, das im Ausland gedruckt ist, weil es im Inland mit den Gesetzen in Konflikt geraten könnte, so behandeln, als wäre es im Inland gedruckt, so kehren Sie damit die Intention des Verfassers in ihr Gegenteil um und schädigen ihn in einem Punkt, in dem er gar nicht in der Lage war, sich zu schützen, d.h. Sie fügen ihm eine Ungerechtigkeit zu.«107

Auf dieses juristische Fundament baute Oskar Panizza seine literaturhistorischen Argumente. »Das Liebeskonzil« sei notwen­ dig, besonders für Deutschland. Schließlich sei die Satire »stets eines der mächtigsten Förderungsmittel auf geistigem Gebiet«

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Titelseite der dritten Auflage, 1897. Abb. aus: Boeser (1989), S. 5

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gewesen, eine »in der menschlichen Natur begründete Anlage«, die daher auch nicht ausgemerzt werden könne. Wie Panizza selbst jetzt Deutschland, so bereicherten früher Voltaire und Rabelais Frankreich und Hogarth England. Gegen die Werke von Hutten, Savonarola, Rabelais, Fischart, Hogarth, Parny und Seiler müsse sich sein >Liebeskonzil< »wirklich verkriechen«. Ihm sei es aber gar nicht »auf gotteslästerliche Dinge und Unflätigkeiten« ange­ kommen: »Ich habe die christlichen Götter herabgewürdigt, und habe Sie voller Absichtlichkeit herabgewürdigt, weil ich sie im Spiegel des fünfzehnten Jahrhunderts sah; weil ich sie durch das Papstglas Alexanders VI. anschaute.«10’

Panizzas Hang zum Märtyrertum war ebenso groß wie seine Un­ fähigkeit, die Tragweite des Prozesses zu erkennen.109 Er hoffte idealistisch, all die, die er brüskiert hatte, von seiner hehren Ab­ sicht überzeugen zu können. Wie einst Savonarola in Venedig, wollte auch er selbst durch kämpferisches Bekennertum einen Sturm entfachen. Wie seine Mutter wollte er ein metaphysisches Ideal in der Welt verwirklichen. Panizzas Freunde schätzten die Situation realistischer ein. Otto von Grotes, Panizzas Mentor, schrieb an Michael Georg Conrad: »Es ist tragisch, denn, wie Sie befürchten, wird Panizza wohl... in’s Irrenhaus übersiedeln! - Durch seine Haltung vor Gericht wird Alles aufgeklärt! Seine Naivität und Verbissenheit hinsichtlich seines Kampfes gegen die gesetzlichen Windmühlenflügel; seine Blindheit gegenüber den Gefahren u.s.w.«110

Panizzas Verteidigungsrede ist ebenso umstritten wie sein »Liebeskonzih selbst. Die wenigsten hatten damals die Himmelstra­ gödie wirklich gelesen. Der Skandal eskalierte dennoch. Thomas Mann, Karl Kraus, Kurt Tucholsky und Walter Mehring äußer­ ten sich zum >LiebeskonzilDas Liebeskonzil« polarisierte nicht nur Gläubige. Wie weit dürfe provozierende Kunst eigentlich gehen, fragte Thomas Mann und ob es denn zuviel verlangt sei, wenn man ein bisschen Geschmack von einem Künstler erwarte. War >Das Liebeskonzil« nichts als ein plump inszenierter Skandal durch eine entwürdigen­ de Gotteslästerung oder hatte Panizzas Himmelstragödie doch einen künstlerischen Wert? Panizzas Skandalstück schied die Gei­ ster. Noch immer sorgt die Provokation durch das >Liebeskonzil< für Zündstoff: Erst 1969 wurde das Liebeskonzil im Théâtre de Paris uraufgeführt und animierte eine rechtsradikale Organisati­ on zu einem Krawall während der Aufführung. »... der Rezensent des konservativen >Figaro< entleerte anläßlich dieser Premiere sein ganzes Arsenal an Schimpfworten: >Das ist dumm, langweilig, unziemlich, zotenhaft, widerlich, gemein, pöpelhaft, schmierig, schändlich, beleidigend, unflätig, niederträch­ tig, skandalös und jämmerlich.««113

>Das Liebeskonzil« wird seither in unregelmäßiger Folge reinszeniert und entzweit noch heute die Gemüter. Theatergruppen, die ein schnelles Aufsehen gebrauchen können, führen die Himmels­ tragödie gerne auf und wissen, dass ihnen ein paar Schlagzeilen gewiss sind. So führte die Abschlussklasse einer Berner Schauspiel­ schule >Das Liebeskonzil« 1997/98 auf und provozierte hierdurch den vorhersagbaren Skandal. Noch im Herbst 1998 beschäftigte diese Ausführung die Berner Gerichte.11,1 Das Aufsehen, das Oskar Panizza 1895 mit dem >Liebeskonzil< erregt hatte trug ihm eine Gefängnisstrafe ein. Seine Verteidigungs­ rede konnte die Haftstrafe - natürlich - nicht mehr abwenden. Im Frühjahr 1895 wurde Oskar Panizza nach § 166 des Strafgesetz­ buches mit einem Jahr Gefängnis bestraft. Kein Schriftsteller des Wilhelminischen Reiches wurde für eine Veröffentlichung auch nur annähernd so hart bestraft wie Oskar Panizza. Sofort nach seiner Verurteilung wurde Panizza am 30. April in die Münchener Fron­ feste am Anger eingeliefert. Dort tauschte er Anzug und Filzhut gegen die Gefängniskleidung. Eine Kaution von 80000 Reichs-

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mark, die seine Mutter in Form von Wertpapieren hinterlegte, brachte Panizza vorübergehend auf freien Fuß. Trotz der Inter­ vention zweier Arzte, die zumindest einen Haftaufschub zu erzie­ len hofften, wurde Panizza am 8.8.1895 erneut inhaftiert und verbüßte seine einjährige Gefängnishaft in voller Länge bis zum 8.8.1896 in Amberg. Die Beurteilung der Haftfähigkeit

»Pat verbüsste seine Strafe im Gef. zu Amberg, woselbst auf nachträgliche Geltendmachung des Einwurfs des Verteidigers auf Geisteskrankheit (ohne Befragen des Gefangenen) eine sumarische Untersuchung desselben quoad psychen in tactam erfolgte - »Sind Sie geisteskrank?« - »Nein« - die zu einem negativen Resultat führte.«"5

Am 30.8.1895 begründete Panizzas Rechtsanwalt Dr. Georg Kugelmann ein Gnadengesuch an den bayerischen Ministerpräsi­ denten Luitpold von Bayern mit der Geisteskrankheit Oskar Panizzas. Panizza leugnete zwar, etwas von den Gesuch gewusst zu haben, schloß sich dann aber doch dem Gnadengesuch an: Er leide wie alle vorwiegend geistig Arbeitenden zeitweilig an Depres­ sionen, habe »Das Liebeskonzih aber nicht im Zustand der Un­ zurechnungsfähigkeit geschrieben. Bereits zuvor hatten Dr. Ostermeier und Dr. Nobiling versucht einen Haftaufschub zu erwirken. Panizzas früherer Studienkollege Dr. Paul Ostermeier, inzwischen praktischer Arzt in München, behandelte Panizza bereits seit zehn Jahren wegen »zeitweise auftretender Cardialgien«. Am 17. 7.1895 stellte Dr. Ostermeier fest: »In den letzten Wochen haben sich diese Erscheinungen in ganz besorgniserregender Weise gesteigert, wofür zweifellos als einzige Ursache seine jüngst überstandene mehrwöchige Haft anzuspre­ chen ist, und, da der Abschluß von frischer Luft besonders deletär auf obengenannten Krankheitsprozeß wirkt, so wird Herr Dr Panizza zu einem Strafaufschub auf einige Monate dringendst begutachtet.«116

Dr. Ostermeier begründete den Haftaufschub mit Oskar Panizzas Herzbeschwerden, also mit einer körperlichen Erkrankung. Am selben Tag forderte auch der Königliche Hofstabsarzt Dr. Nobiling einen Haftaufschub:

»Herr Dr. Oscar Panizza befindet sich gegenwärtig in einem Zustande hochgradiger Aufregung. Ein Antritt der Strafe dürfte für den Genannten sehr schlimme Folgen bezüglich seines geistigen Zustandes haben. Es erscheint daher geboten, daß Herr Dr. Panizza einen Aufschub des Strafantrittes um circa zwei Monate erhalte.«117

Dr. Nobiling begründete sein Gesuch mit einer psychischen Stö­ rung Panizzas. Den Zustand der Aufregung stufte er als vo­ rübergehend ein. Eine Geisteskrankheit stellte auch er nicht fest. Das Gericht gab den Anliegen der ärztlichen Atteste nicht statt. Nicht einmal der geforderte zeitliche Aufschub wurde gewährt. Drei Wochen später wurde Panizza erneut inhaftiert. In Amberg hoffte Panizza auf eine Haftverkürzung: »Ich warte hier - ein paar Monate hinauf oder hinunter - auf Begnadigung.« Doch trotz tadelloser Führung wurden seine Gnadengesuche abgelehnt. Auch seine religiös fanatische Mutter Mathilde, die Gotteslästerungen gewiss nicht billigte, hielt das Strafmaß für überzogen. Sie stellte fest, dass ihr Sohn für seine Freunde, die »Modernen* mitbüßen musste.118 Oskar Panizza war bereits seit 8.8.1895 in Amberg inhaftiert, als Dr. Ostermeier und Dr. Nobiling erneut Atteste einreichten. Am 21.8.1895 argumentierte Dr. Nobiling erstmals mit psychopathologischen Befunden.11’ »Herr Dr. Oscar Panizza ist nicht allein in hohem Grade erblich belastet, sondern nach der festen Überzeugung des Unterfertigten schon seit vielen Jahren eine geistig unfreie Persönlichkeit. Diese Ansicht hegen auch mehrere hiesige Ärzte, welche mit dem Genannten lange Zeit verkehrten u. ihn genau zu beobachten Gelegenheit hatten. Es ist mit größter Wahrscheinlichkeit anzuneh­ men, daß die Einzelhaft für einen geistig unfreien Menschen wie Panizza eine bedeutende Verschlimmerung seines psychischen Zustandes zur Folge haben wird.«120

Drei Tage später rückte auch Dr. Ostermeier psychische Symp­ tome in den Vordergrund. Er kenne Panizza bereits seit 19 Jahren und habe »seit dieser Zeit viel mit dem Rubrikaten sowohl gesellschaftlich als auch wissenschaftlich verkehrt und ist seit vielen Jahren zur Überzeugung gekommen, daß derselbe psychisch hochgradig krankhaft veranlagt ist und für alle seine Reden und Handlungen nicht zur Verantwortung gezogen werden kann. Daß von einer

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Einzelhaft eine ganz erhebliche Verschlimmerung seiner psychi­ schen Erkrankung zu erwarten ist, steht außer allem Zweifel«.121 Das Gericht übertrug die endgültige Beurteilung von Panizzas Geisteszustand dem Amberger Gefängnisarzt Dr. Schmelcher. Dieser erstellte am 15.9.1895 ein ausführliches Gutachten, in dem er die Haftfähigkeit Oskar Panizzas bejahte.122 Wenn sich über­ haupt unter den zahlreichen ärztlichen Stellungnahmen über Os­ kar Panizza ein skandalöses Gutachten befindet, dann ist es die­ ses. Dr. Schmelcher verkannte nicht nur psychiatrische Symptome und stellte leichtfertig frühere Diagnosen von anderen Ärzten in Frage, er bagatellisierte auch die Familienanamnese und stritt die erbliche Belastung schlicht ab. Schmelcher unterschlug die Suizid­ versuche von Panizzas Schwester Ida ebenso wie den Suizid eines Onkels mütterlicherseits und führte den religiösen Wahnsinn des Onkel Ferdinands kurzerhand auf eine Infektion zurück.

Dr. Schmelchers Gutachten vom 15.9.1895 »Panizza Oskar Dr med. 42 J. alt lediger Schriftsteller und Arzt wurde heute von mir bezüglich seines körperlichen u. geistigen Zustandes einer eingehenden Untersuchung unterzogen. Sein Vater Gasthofbesitzer in Kissingen starb an Typhus, seine Mutter war bisher stets gesund, eine Schwester an einen Gasthofbesitzer verheirathet ist vollkommen gesund, ebenso ein lediger Bruder, der Gasthofbesitzer u. einer, welcher [Referendar, unleserlich, d.V] ist, eine 40 jährige Schwester endlich ist lediglich mit einem chroni­ schen Augenleiden behaftet. Ein Bruder seiner Mutter starb in der Irrenanstalt in Würzburg derselbe war partiell verrückt, litt an religiösem Wahnsinn, war außerdem aber [unleserlich, d.V.J er wurde nur öfters wegen öffentlicher Störungen, die er hervorge­ rufen, in das Irrenhaus geschah, aber stets bald wieder aus demsel­ ben entlassen. Es ist dieß der einzige Fall von Geisteskrankheit, der in seiner Familie je vorkam, u. auch dieser Fall dürfte [unleser­ lich, d.V.J als Geisteskrankheit aufzufassen sein; seine Familie stamme von Hugenotten ab u. war streng religiös; die geistige Störung seines Onkels trat nach einem schweren Typhus auf, den er im Ausland durchmachte. Seine Kindheit brachte Panizza in Kissingen zu. Im 9" Jahre kam er in die Brüdergemeinde in Kornthal, wo er bis zum 16" Jahr blieb; von hier aus kam er ans

Gymnasium in Schweinfurt, das er 1876 absolvirt, nachdem er inzwischen noch auf der Musikschule in München u. als Einjährig freiwilliger beim 2 Inf. Reg. dortselbst war. In seinem 12" Jahr machte er die Masern durch, in deren Verlauf einigemale eine Art somnambuler Zustand auftrat, indem er aus dem Bette herausstieg, sich außerhalb hinkniete u. betete, was übrigens die in Kornthal vorgeschriebene Art des Betens war. 1876 bezog er die Universität München, promovirte 1880 u. - machte das Staatsexamen 1881; hierauf war er 1 Jahr Assistent bei Prof. Ziemßen u. arbeitete ein weiteres Jahr auf dessen Klinik. Auf der Universität schloß er sich keiner Verbindung an, u. pflog größentheils Umgang mit Collegen; er war im [unleserlich, d.V] u. Rauchen stets sehr mäßig; er besuchte oft die Theater, namentlich Opern - mit Vorliebe Wagneraufführungen. Er verkehrte auch viel mit Damen der besseren Gesellschaft, geschlechtlichen Umgang pflog er nur mit Maß. Von München ging er auf Jahr nach Paris, um die dortigen Spitäler zu besuchen u. sich in der französischen Sprache auszubil­ den. Von 1882-84 war er Assistent bei Gudden; der Umgang mit Geisteskranken u. die Behandlung derselben interessirte ihn zwar sehr, er fühlte aber, daß sein Nervensystem auf die Dauer den steten Umgang mit Geisteskranken nicht ertragen könne; der Hauptgrund seines Austrittes aus der Irrenanstalt aber war, weil er die großen anstrengenden Arbeiten über die feinere Struktur des Gehirns, welche ihm Gudden aufgetragen hatte, in die Länge nicht mehr leisten mochte.... P. fühlt sich körperlich u. geistig gesund, in der ersten Zeit habe er die Zellenhaft schwer ertragen, namentlich habe er in München mehrmals Angstzustände bekommen, nach­ dem er mehrere Tage nicht an die freie Luft gekommen war. Er kann hier die ganze Nacht vorzüglich schlafen, was übrigens auch in München der Fall war. Appetit u. die übrigen körperlichen Functionen seien vollständig in Ordnung; früher habe er öfters an heftigen Magenkrämpfen gelitten, auch während der Unter­ suchungshaft, hier war er bisher frei von dieser Krankheit. Seine körperliche Ernährung ist sehr gut, der Puls 78 Schläge in der Minute zu fühlen ist regelmäßig; der erste Herzton ist ver­ stärkt u. etwas unrein, der rechte Unterschenkel befindet sich in einem Streckverband, weil er in Folge eines vor vielen Jahren erlittenen Bruches, der nicht gehörig geschient wurde, krumm gewachsen ist.

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Ich halte den Untersuchten für körperlich u. geistig gesund u. in Folge dessen auch für vollkommen zurechnungsfähig, ich halte ihn aber auch frei von jeder Anlage zu ernsten körperlichen u. geisti­ gen Krankheiten, - kann eine erhebliche geistige Belastung in der Familie desselben nicht finden, nachdem nur der einzige Onkel desselben geistig erkrankt war, u. dessen Erkrankung auch mehr religiöser Fanatismus als Geistesstörung gewesen zu sein scheint; auch erhebliche Nervosität konnte ich an den Untersuchten keine Anhaltspunkte gewinnen. Ich gebe deshalb mein Gutachten dahin ab: 1. Panizza ist vollkommen zurechnungsfähig ; 2. er ist im Stande ohne Nachtheil für seine körperliche u. geistige Gesundheit die ganze Strafzeit in Zellenhaft zu verbringen ; 3. eine Umwandlung seiner Gefängnisstrafe in Festungshaft erscheint vom ärztlichen Standpunkte aus nicht geboten.«123

Dr. Schmelcher ist zwar Recht zu geben, wenn er Panizza für haft­ fähig erachtete. Die Kriterien hierfür sind jedoch denkbar weit gefasst. Haftunfähigkeit bestand und besteht nur für eine akute Geisteskrankheit oder eine lebensbedrohliche körperliche Erkran­ kung. Beides lag bei Panizza zu diesem Zeitpunkt nicht vor. Mit der Haftfähigkeit ist es aber durchaus vereinbar, dass sich eine be­ stehende Erkrankung verschlimmern kann. Dies war bei Panizza mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen, schloß aber eben eine Haft nicht aus. Die Entscheidung, was einem Straffälligen zugemutet werden kann, fällt in den Ermessensspielraum des Gerichts. In­ sofern hatte Dr. Schmelchers Gutachten die richterliche Entschei­ dung »medizinisch korrekt« gestützt. Schmelchers weitergehen­ de Schlüsse waren jedoch nicht haltbar, weder hinsichtlich der geistigen Gesundheit noch hinsichtlich der fehlenden familiären Belastung und schon gar nicht hinsichtlich der Prognose, dass Panizza die Haft unbeschadet überstehen würde. Abgesehen von den affektiven Einbrüchen, die Panizza während der Haft erlitt, wurde er auch »produktiv« psychotisch. Panizza berichtete spä­ ter in seinen Tagebüchern von Vogelgezwitscher, das er während der Haft hörte, damals aber noch für wirklich hielt. Erst später erkannte er, dass er damals halluziniert hatte. Panizza blieb also in Haft und wurde von Dr. Schmelcher, der von dem psychotischen Zustand Panizzas nichts bemerkte, weiter betreut. Zwei Monate später bekräftigte Dr. Schmelcher seine Diagnose:

»Seit Abgabe meines letzten Gutachtens über Dr. Oskar Panizza hat sich der Gesundheitszustand desselben in keiner Weise verän­ dert. Sein körperliches Befinden könnte nicht besser sein, sein Geisteszustand erscheint vollständig normal, u. es kann auf Grund der mehrfachen Wahrnehmungen und Untersuchungen, die gemacht wurden, erklärt werden, daß an seiner Zurechnungsfähig­ keit nicht die geringsten Zweifel bestehen. Die bisherige 3 !4 monatliche Zellenhaft hat in keiner Weise die körperliche oder geistige Gesundheit des Panizza ungünstig beeinflußt, u. ich habe die tiefe Überzeugung, daß durch einen vollständigen Vollzug seiner Strafe in Zellenhaft derselbe in keiner Weise ein Nachtheil erwachsen wird.*124

Trotz psychotischer Symptome blieb Panizza weiter in Haft und erfreute sich - zumindest Dr. Schmelcher zu Folge - bester Ge­ sundheit. Panizza führte sich tadellos. Ein halbes Jahr später rich­ tete auch der Amberger Gefängnisdirektor Eigee ein Gnadenge­ such an die Staatsanwaltschaft und fügte ein weiteres Gutachten von Dr. Schmelcher bei. Dieser schrieb am 7.3.1896: »Auf Grund fortwährender Beobachtung bestätige ich, daß Panizza Oskar Dr während seines ganzen Aufenthaltes dahier stets körper­ lich u. geistig gesund war, u. nie die mindeste Klage über seine Gesundheitsverhältnisse äußerte. Bei der heutigen Untersuchung klagt er über Leibschmerzen und Diarhe, behauptet gegen Verküh­ lungen überhaupt sehr empfindlich zu sein, u. glaubt, daß er sich in der Nacht abgedekt, bei dem starken kalten Wind verkühlt habe. Nachdem derselbe fieberlos u. bei ganz gutem Appetit ist, wird diese kleine Gesundheitsstörung voraussichtlich in Bälde ver­ schwunden sein.« Amberg 7 März 1896, Dr. Schmelcher.125

Das Gnadengesuch wurde wiederum abgelehnt, was Gefängnis­ direktor Eigee Panizza am 22.4.1896 eröffnete.126 Panizza musste die gesamte Strafe absitzen. Die Leibschmerzen, Übelkeit und die Brechanfälle, die bei Panizza bereits seit dem 9. Lebensjahr bestan­ den, sollten ihn allerdings den Rest seines Lebens begleiten. Sie flauten zwar vorübergehend ab, kehrten jedoch immer wieder zu­ rück. Panizza führte später diese Leibschmerzen, möglicherweise körperhalluzinatorische Symptome der Schizophrenie, auf Gift­ einwirkung zurück und gliederte retrospektiv alle Vorgänge in sein dann entwickeltes Wahnsystem ein.

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Erste Haft

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Eigentlich sollte Panizza in Nürnberg seine Haftstrafe verbüßen. Wegen seines Beinleidens wurde Nürnberg jedoch als ungeeignet erachtet, Panizza stattdessen nach Amberg verwiesen. Hier trat Panizza am Mittag des 8.8.1895 seine Strafe an. Auch im Amberger Gefängnis führte Panizza ein Tagebuch, von denen die Nummern 61 und 62 erhalten sind. Das Manuskript >Ein Jahr Gefängnis« ist auszugsweise veröffentlicht. Panizza sollte die Angewohnheit der schriftlichen Reflexion auch sechs Jahre später während der Haft in der Münchener Fronveste am Anger beibehalten. In Amberg berichtete Panizza über die Demütigungen, die er zu erleiden gehabt habe, wie über seine Träume, die sich bis ins Wache er­ streckt hätten, Panizza träumte von einer großen nördlichen Stadt, in der Leute bereits durch das bloße Ausatmen zu Verbrechern würden: »Erkennst du’s nicht?... wir sind in der Region der Majestätsbelei­ digung. Die vorsichtigen Leute atmen hier durch die Nase. Die Gedanken, die durch die Nase strömen, geben keinen Laut und können nicht gefaßt werden. Wir sind im Land der Gedankennicht­ verlautbarung. Gedanken, die durch den Mund strömen, erzeugen ein klapperndes Geräusch, weil sie hier mit dem Kehlkopf, mit Zähnen, Zunge und Lippen in Berührung kommen. Und in dieser Region gefriert diese Form des Atmens und wird eine Handhabe, an der man den Betroffenen vor den Scharfrichter und ins Gefäng­ nis führt. Nimm dich in acht: auch die Verlautbarung über das Atmen, das Atmen über die bereits begangene Majestätsbeleidi­ gung, führt hier ins Gefängnis.«127

Im Gefängnis spürte Panizza die schädlichen Folgen der Einzel­ haft, die zwar mit der Einsamkeit lockte, doch ein Gift für die Seele war. Panizza hasste die ganze Institution Gefängnis. In seinen Au­ gen lautete sein Urteil in Wahrheit: Ein Jahr Gefängnis mit Ge­ wichtsverlust von 30 Pfund oder bis man die Rippen sehe. Schlau­ erweise werde ein Gefangener auch beim Eintritt nie gewogen. So entfalle die Kontrolle. Mit der Kontrolle die Verantwortung. Es sei alles gesetzlich. Verordnungen stützten alles. Jemanden, der einen im Affekt erstochen habe, lebenslang Schmerz leiden zu las-

sen, sei »absolut pervers«. Das zerstöre die Hoffnung, das einzi­ ge Agens der geknickten und zerschmetterten Seele. Die Seele ei­ nes jugendlichen Gefangenen verändere sich schon nach Monaten, geschweige denn nach Jahren oder Jahrzehnten. Schon nach fünf Jahren sei der Mensch ein ganz anderer geworden als der, der die Tat begangen habe.128 Im Gefängnis verändere sich vieles, beson­ ders die Psyche. Panizza schilderte: »Die Psiche wird präponderierend in einer Weise, die gefahrdro­ hend wird. Was bei der Askese überhaupt, was bei all’ den Hexen und Besenreitern eintrat, die meist durch Armut und Nahrungs­ mangel heruntergekommene Mädchen aus dem Volke waren, das tritt auch hier ein: die Psiche wird hell, schlüpfrig, sie gleitet leicht durch, sie wird transzendental, sie wird transluzent; die Widerstän­ de eines gesättigten, konsistenten Gehirns fallen weg. Die Schran­ ken fallen weg und eine Tätigkeit auf eigene Kosten beginnt. So rächt sich, was die Gesamtheit an dem einzelnen verbricht. Die Gesamtheit ist dafür verantwortlich, wenn der einzelne, wenn ganze Volksklassen dem Verhungern nahe kommen. Und der einzelne oder eine arme Visionärin rächt sich indem sie die Gesamt­ heit psichisch vergiftet und geträumten Sabbatspuk für reale Tatsachen ausgibt.«12’

Im Gefängnis traf Panizza auf den Gefängnisgeistlichen Friedrich Lippert, seinen späteren Vormund. Der >Dialog mit einem Gefängnisgeistlichem entsprang aus diesen Begegnungen. Panizza zog sich in sich zurück und beschäftigte sich viel mit religiösen Fragestellungen. Ebenfalls in Amberg entstanden die >Dialoge im Geiste HuttensImperjalja< einen wahnhaft »geschärften« Blick auf den zurück­ liegenden Gefängnisaufenthalt. Im Nachhinein erkannte Panizza auch im Gefängnis wichtige Helfer, die er damals nicht bemerkt hatte: »Auffälliger war, daß mir der Gefängnisdirektor, der mir nach anfänglicher Strenge sehr human ent- [43] gegenkam, gegen Ende der Strafzeit einmal sagtel: »Daß Sie aus Baiern auswandern wollen, ich kann’s Ihnen wahrhaftig nicht verübeln. Die Zeiten sind

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heutzutage für eine scharfe Feder, wie die Ihre, nicht günstig. < Man wolte mich also aus Baiern forthaben. Denn ohne Auftrag sagte das der Direktor nicht. Aber warum? Darüber konte ich mir schlechterdings keine Vorstellung machen. Vorher hatte mir schon der Direktor, offenbar zufolge höheren Befehls, einmal geäußert: >Diese Hern in Berlin, das geht ja fast in’s Aschgraue! Die sind ja verrükt da droben! Man weiß wirklich nicht, was man dazu sagen soll!....< Alles Deutungen, die damals schwer deutbar, heute ganz klar sind.-«135

Der »Pazjent« als Psychiater

Abschied von München »Nach verbüsster Strafe verabschiedete Pat. sich von München mit der kleinen Broschüre »Abschied von München«, die die Beschlag­ nahme & stekbriefliche Verfolgung des inzwischen nach Zürich übergesiedelten Verfassers zur Folge hatten.«1“

Zum Abschied rächte sich Oskar Panizza an den erzkatholischen Münchnern. Rechthaberisch griff Panizza an und verwies sogar auf den Sieg seiner Mutter im Kampf um die religiöse Erziehung ih­ rer Kinder: »Merkt ihr denn nicht, daß Ihr mit Eurem Katholizismus langsam, seit einem halben Jahrhundert sicher, von allem geistigen Einfluß, aller Politik, von aller Weltherrschaft ausgeschlossen seid, in die Klaße der romanischen Völker gerückt seid? Und ahnt Ihr nicht, daß es Euer spezifisch katholischer Geisteszustand ist, der das bewirkt hat?... Haben sie nicht vielmehr Euch das Mark aus den Knochen geraubt? Und Euch und den Wienern, Euren Geistesver­ wandten, gelehrt, bei Königgrätz und Kissingen die Waffen wegzu­ werfen?!-«137

Panizza gab die bayerische Staatsbürgerschaft auf, worauf er be­ sonders Stolz war, und brachte sich in Zürich in Sicherheit. Zürich »Zürich im Sommer, das laß’ ich mir gefallen: die prächtigen BadEinrichtungen, das kühle Waßer, die nicht hoch genug zu lobenden Schweizer Landweine, rein u. billig - dazwischen Hartleben als Stimmungsmacher, Khaynach als Ziniker - ’n par Majestätsbeleidi­ gungen ... so geht es schon. -«13S

Die Zürcher konnten es Panizza natürlich nicht ganz recht machen:. »Die hiesige Gesellschaft ist natürlich armselig, hausbaken, her­ zensgut, aber banaus.«13’

Auch in Zürich wurde Panizza von den bereits bekannten Stim­ mungsschwankungen befallen. Einen Monat nach seiner Ankunft schrieb Oskar Panizza in sein Tagebuch:

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»Ich leide noch immer stark an plötzlichen Stimmungswechseln die wie ein Hauch über mich kommen u. Alles, meine Vergangenheit, meinen Wert vor mir, vor anderen, meine Lebens- und Kampfeslust auslöschen u. mich tief erniedrigen, als ein Nichts, als ein wertloses Menschenobjekt, erscheinen lassen. Ich gerate nicht äusser mir, aber ich unterliege und muss die entsezliche Situation mitan­ sehen.«1*1

Hier gab Panizza auch die Quelle seiner Inspiration preis, in dem er die Depression als den schöpferischen Ursprung großer Werke pries. Wie in >Genie und Wahnsinn< hielt Panizza die Melancho­ lie und die Geisteskrankheit für nahezu unerläßlich für eine tiefe Innerlichkeit und damit für ein bedeutendes Kunstwerk. »Freilich ist dieses psichische Anomalum, dieses innere Ereignis, genau dasselbe - ich meine seine Funkzion - das mir plötzlich jene Gedanken bringt - unbekannt woher - die ich wie eine Erleuch­ tung aufnehme und die mir als Parole gelten für lange, lange dauernde Arbeiten und Entwicklungen. Es sind leichte, ganz leichte Berührungen, eine Aura von gerade merkbarem Anzug, ein psichisches Parfüm, welches Einen, wie ein Duft von Feldblumen, den der Wind rasch herüberweht, überrascht. Aber es sind unvergessliche Momente und, wie in der wirklichen Welt oft ein Blumenduft eine lange Erinnerung zurücklässt, so auch sie in das psichische Leben tiefe Furchen graben.« 141

In Zürich lebte Oskar Panizza zurückgezogen und weitgehend isoliert. Trotz der Vereinsamung und der weiter bestehenden Stimmungsschwankungen wurde die Zürcher Zeit für Panizza zur glücklichsten und schöpferischsten seines Lebens. Er publizierte, gründete einen eigenen Verlag und gab eine eigene Zeitschrift he­ raus. Die Auflagen seiner Schriften genügten, gerade die Druckkosten zu decken, und mehr wollte der von einer Rente lebende Panizza ja auch gar nicht. In Panizzas >Zürcher Diskußjonen< veröffent­ lichten unter anderem Leon Bazalgette, Ria Claaßen, Fanny Grä­ fin zu Reventlow, Ludwig Scharf, Heinrich Pudor und natürlich Oskar Panizza selbst unter verschiedenen Pseudonymen. Auch in Zürich blieb Panizza selbst vorwiegend bei den Skandalthemen. Im Ausland fühlte er sich sicher, von hier aus wollte er weitere scharfe Angriffe lancieren. In seiner Selbstbiografie fasste er zu­ sammen:

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Oskar Panizza um 1902. Abb.: aus Boeser (1989), S. 7

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»Noch im gleichen Herbst veröffentlichte Pat. die sitten­ geschichtliche Studje >die bairischen Haberfeldtreiben«, in welcher auf Wunsch des ängstlich gewordenen Verlegers (S. Fischer, Berlin) einige Stellen des Textes, wie auch einige Verse der im Original mitgeteilten Habererprotokolle, die wenige Jahre vorher von Pat. in einem Aufsaz der »Neuen Rundschau« im gleichen Verlag an­ standslos veröffentlicht worden waren, durch Punkte in dem bereits drukfertigen Saz ersezt wurden. Pat. hatte inzwischen das bair. Indigenat aufgegeben, in der Absicht, nach 2 jährigem Aufenthalt in Zürich, das schweizerische Bürgerrecht zu erwerben. Im folgen­ den Jahr gründete Pat., da nun auch Schabelitz in Zürich Schwierig­ keiten bezüglich weiterer Verlagsübernahme der Schriften des Pat. machte, seinen eigenen Verlag unter dem Titel der gleichzeitig gegründeten Zeitschrift »Zürcher Diskussionen« & veröffentlichte die im Gefängnis entstandenen »Dialoge im Geiste Huttens«, in denen die Besprechung öffentlicher Zustände in dem frischen & unschenirten Stil der Streitschriften zu Beginn des XVI Jhrh. versucht ward. Im folgenden Frühjahr 1898, schrieb Pat. die politische Satire »Psichopatia criminalis«; in der die Verfolgungs­ wut der deutschen Staatsanwälte unter Aufstellung einer eigenen politischen Geisteskrankheit, die das deutsche Publikum ergriffen habe, persiflirt ward.«142

Neben der »Psychopatia criminalis« und »Neues aus dem Hexen­ kessel der Wahnsinnsfanatiker« verfasste Oskar Panizza auch an­ dere psychiatriekritische Schriften in Zürich. Hier formulierte er den wesentlichen Gegenentwurf des psychotischen Expsychiaters gegen die materialistische Schulpsychiatrie, in dem er die grundsätzlichen Thesen der späteren Antipsychiatriebewegung vorwegnahm. Der erste Antipsychiater »Der Wahnsinn, wenn er epidemisch wird, heißt Vernunft.«143

Nach seiner Flucht vor Bernhard von Gudden wechselte Panizza die Fronten. Aus der Sicht des »Pazjenten« analysierte der verhin­ derte Psychiater jetzt die Irrenpflege. Im Gedicht »Das rothe Haus« war das Irrenhaus bereits die Freistatt zum Denken. We­ nig später verklärte Panizza selbst psychiatrische Symptome zu ei­ ner Auszeichnung. Gerade die Abweichung vom Normalen war es, die Panizza schätzte :

»Hat einer extreme Züge, vom Gewöhnlichen abweichende geistige

Ansätze: um so besser; er darf unserer Wertschätzung sicher sein.«144 Auch Friedrich Kretzschmar kritisierte repressive, undifferenzierte Tendenzen der damaligen Psychiatrie: Mit tendenziösen Gutach­ ten und politisch motivierten Entmündigungen werde ein rechts­ freier Raum um die Bürger erzeugt. Dies belegte Kretschmar mit zahlreichen Fällen ungerechtfertigter Entmündigungen, psychi­ atrischer »Gefälligkeitsgutachten« und »Irrenerklärungen« von politisch opportunistischen und allenfalls autodidaktisch gebilde­ ten Ärzten.145 Für Oskar Panizza griff diese Kritik zu kurz. Atta­ cken gegen Gutachten ausgesprochen aus Gefälligkeit oder schie­ rer Unachtsamkeit trafen nicht den Kern der »überlebten« Psychiatrie, die das Denken ebenso als ein Produkt des Hirns be­ trachtete, »wie der Urin ein Produkt der Nieren«.146 Panizzas Kritik zielte auf die Essenz der »materjalistischen« Psychiatrie: »Nicht die einzelnen und wiederholt vorgekommenen falschen, durch Familien-Intriguen erleichterten, Irrsinns-Erklärungen und überraschen Entmündigungen durch mit Arbeit überhäufte Beamte und Kreis-Physici sind der springende Punkt in dieser ganzen Frage ... sondern: daß wir dem Geistigen, den geistigen Äußerun­ gen unserer Mitmenschen, in neuer Wertschätzung gegenüberste­ hen, sie nicht an der blöden Erfahrung, oder an unserem eigenen engen Horizont messen ... (denn es gibt eine geistige Potenz,) die uns alle beseelt, und deren Äußerungen heute die, morgen jene sinnbildliche Form annehmen. Ursprung und Wesen dieser geisti­ gen Potenz ist uns verhüllt, drum heißt es Vorsicht in der Beurtei­ lung ihrer Wirkungen ...«147

Nicht die Unzulänglichkeit der Psychiatrie offen zu legen und anzuprangern war das Ziel des Reformanliegens Panizzas. Sein Kampf galt der Gängelung durch die ebenso hierarchisierende wie stigmatisierende Bewertung der Patienten. Das betroffene Indivi­ duum blieb der Maßstab seiner Psychiatriekritik. »Wir sprechen von »Geisteskrankheit* wenn wir sehen, dass Jemand gar keine Raison annehmen will und sich fest auf seinen Instinkt verläßt - ... aber wir können ja objektiv überhaupt keine Geistesäußerung abschäzen, wir können von den Geisteszuständen unserer Nebenmenschen nur sagen: daß sie anders sind als unsere, und daß sie mit dem sozialen und Kulturleben unsrer Zeit sich nicht vertragen.«148

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Panizza forderte Hochachtung vor allen geistigen Äußerungen anderer. Diese müßten als Äußerungen des Dämons respektiert werden.14’ 96

»Wer Gott sein will, sei immerhin Gott. Findet ER Anbeter, dann ist ER bereits Gott. Findet ER keine Anbeter, dann wird er sein Gottestum bald aufgeben.« 150

Panizza sah die Notwendigkeit nicht ein jemanden für verrückt erklären zu müssen. Zur Bewahrung der gesellschaftlichen Ord­ nung forderte jedoch auch er Sanktionen: »Vergeht er sich gegen die Gesetze, bestraft man ihn. Macht er sich in der Gesellschaft unmöglich, muß man ihn allerdings sekkludieren; aber nicht, weil er sich für Gott hält, sondern weil er die Gesellschaft und die Öffentlichkeit belästigt und ihre Intaktheit stört.« 151

Dieser Gedanke leitete auch den Satiriker Panizza, wenn er 1898 mit >Psichopatia criminalis«, der modifizierten >Psychopathia sexualis« Krafft-Ebings, eine neue Krankheitsform beschrieb, die eine »grosse Zahl von dem Gefängnis und Zuchthaus verfallener Individuen in die milderen Räume und freundlichen Badewannen der Irrenhäuser« hinüberführen könnte. Beispielsweise hätte nach Panizzas Auffassung 1848/49 die »Emigrirung der tüchtigsten Landessöhne vermieden werden können. Ein mässig grosses Irrenhaus zwischen Nekar und Rhein, etwa von der Grösse der Pfalz, und auf eben diesem Boden, wo die turbulentesten Köpfe gediehen, errichtet, hätte über Nacht... die kriminelle Bewegung, ich wolte sagen, die epidemische Psichose, im Keime erstikt und unserem Vaterlande viel Leids erspart«.1”

Panizzas Satire »Psichopatia criminalis« steht in engem Zusam­ menhang mit seinen anderen und durchaus ernst gemeinten psychiatriekritischen Veröffentlichungen und muss letztlich als Konsequenz der oben entwickelten Gedanken für die ganze Ge­ sellschaft verstanden werden. »Uns Psichjatern entzieht sich gar kein Geschehnis in Bezug auf seine Krankheitsmöglichkeit.«'”

In diesem Sinne besprach Oskar Panizza 1897 Jesus in »Christus in psicho-patologischer Beleuchtung< als Beispiel seiner Weltan­ schauung. Christus habe seinen Dämon in der Welt verankert, habe sich den anderen aufoktroyiert. Das Christentum sei mithin eine gelungene Dämonmanifestation des Paranoikers Jesus Christus.154

1896 plädierte Panizza in seiner Schrift >Die geisteskranken Psychiater< angesichts der »Irrenerklärungen« bei Künstlern, die Gleichberechtigung jeder psychischen Äußerung endlich anzuer­ kennen. Andernfalls, so drohte Panizza, würden die Psychiater von der Nachwelt als die »Seelen=Richter«, als die »wissenschaftlichen Henkersknechte«, als die selbst »geisteskranken Psychiater« ent­ larvt werden. Längst sei eine neue Zeit angebrochen, die die Psych­ iater nur noch nicht zur Kenntnis genommen hätten. Diejenigen, die sich noch an den Naturwissenschaften orientierten, seien die Zurückgebliebenen. Man halte den Irrenarzt längst »trotz seiner Sachverständigkeit für keinen kompetenten, vorur­ teilsfreien, auf der Höhe seiner Mission stehenden Seelen=Richter mehr«.155

Ausländische Forscher und die Psychologie hätten die rein psy­ chischen Leistungen und die »Priorität der Psyche gegenüber der Materie« längst anerkannt. An den Psychiatern jedoch sei diese Entwicklung spurlos vorübergegangen, da sie sich hinter den Mau­ ern der Irrenhäuser abgeschlossen hätten als eigenwillige »Paschas des Gehirns, wähnend, sie hätten die Seele, wenn sie das Gehirn in der Hand haben«.154

Alles Psychische werde von den Irrenärzten auf seinen Krankheits­ wert hin untersucht. In psychiatrischen Lehrbüchern habe man selbst Luther, Mohammed, Christus und den heilige Franziskus als Irre »festgenagelt«. Es genüge aber nicht, jede psychische Er­ scheinungsform »durch das Medium des Gehirns zu materialisie­ ren und sie damit unter unser Secirmesser zu nehmen«. Längst sei anerkannt, dass die letzten Ursachen und treibenden Kräfte nicht erkannt werden könnten. »Psychiater älteren Schlags« nutzten aber die psychiatrischen Diagnosen, um »moderne Geistesrichtungen mit dem Stempel ihrer materialisti­ schen Schule zu zerstoßen und das gefundene Elaborat nach ihrem Schema als >defektkrankVerirrung< zu deklassieren*.157

Davon seien besonders fortschrittliche Künstler betroffen. In der Heidelberger psychiatrischen Universitätsklinik seien jüngst selbst Werke von »Künstlern allerersten Ranges« als Zeichnungen und schriftliche »Elaborate« von Irren ausgestellt worden. Dabei sei die jeweilige Diagnose am Rand der Stücke vermerkt worden. Gegen diese Stigmatisierung protestierte Panizza entschieden. (Seine Skiz-

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zen sollten später ebenfalls in die >Prinzhorn-Sammlung< aufge­ nommen werden.) Panizza fragte seine ehemaligen Berufskollegen, ob sie die »wissenschaftlichen Henkersknechte« ihrer strebenden Zeitgenossen sein wollten. Ob sie, die deutsche Künstler für »defekt« erklärten, der Nachwelt etwa selbst als defiziente Beurteiler ihrer Zeit erscheinen wollten. Panizza sah nur die Möglichkeit für die Künstler, im Irrenhaus Gedankenfreiheit zu erlangen um un­ gehindert arbeiten zu können, oder die Gegner der Kunst- und Gedankenfreiheit sähen ihr Versäumnis ein: »Entweder: die gesamte moderne Künstlerschaft... petitionieren beim Reichstag oder ihrem Landesfürsten, für ungefährliche 'Geisteskranke* erklärt zu werden, um unter diesem Kreuzeszei­ chen vor weiterer brutaler Behandlung sicher zu sein; um unter dem Schutz dieser Wartburg, wie einst Luther, ihre Zeit abzuwarten, und inzwischen die Sprache ihrer Seele in ihr geliebtes Deutsch zu übertragen - Oder: die heutigen Psychiater, Staatsanwälte und Richter entschließen sich in Gottes Namen, die Augen aufzuthun, ihre Bildung zu vervollständigen und die Zeichen ihrer Zeit zu verstehen. *l>n‘

Wenn die Irrenärzte diese Gelegenheit verpassten, so würde ihr psychiatrisches Urteil wertlos, da sie selbst zu den »geisteskran­ ken« Psychiatern würden.158 Oskar Panizza stand mit seiner Polemik gegen die Psychiatrie nicht allein, wenn er auch die radikalste Position einnahm. Bereits im 19. Jahrhundert hatte sich eine von romantischen Strömungen ge­ tragenen Antipsychiatrie formiert. Diese kritisierte vorwiegend unrechtmäßige Hospitalisierungen und forderte staatliche Kon­ trolle und eine reichseinheitliche Regelung der Anstaltsunterbrin­ gung. Der durch Wilhelm Griesingers Gleichstellung psychisch Kranker mit somatisch Kranken gebrachte Fortschritt wurde durchaus von dieser Antipsychiatrie überwiegend anerkannt. Ihr lagen jedoch die Verbesserung der Psychiatrie, die Korrektur schädlicher Gewohnheiten und Unterlassungen am Herzen. Sie kämpfte für eine Vereinheitlichung der Ausbildung und hoffte dadurch den Versorgungsstandard zu heben. Auch Panizzas psychiatriekritisches Konzept steht auf dem Boden der Schul­ psychiatrie. In den zwei Jahren als Assistenzarzt unter Bernhard von Gudden hatte er den psychiatrischen Alltag ebenso wie Forschungsansätze und wegweisende Ergebnisse kennen gelernt.

Auch während seiner Erkrankung blieb Panizza auf dem Stand der aktuellen psychiatrischen Forschung, wie nicht nur Dr. Ungemach 1901 festhielt. Als radikaler »Psychiker« bekämpfte Panizza die »materjalistische« Psychiatrie, die nach dem organischen Substrat psychischer Vorgänge forschte. Panizza verließ aber den Boden der »psychistischen« und der frühen antipsychiatrischen Auffassung, wenn er schließlich die Existenz der Geisteskrankheit überhaupt leugnete. Panizza fiel damit zurück in eine romantische Psychia­ trie »Besessener«. »Wir sind unfähig Geisteszustände objektiv zu beurteilen. >Patologisch< - das ist ein empirischer, auch zunächst eher verwir­ render, als aufklärender Begriff ... Wer sagt mir denn, was patologisch ist? Der Kreisfisikus?« 159

70 Jahre vor der eigentlichen Antipsychiatriebewegung, deren Thesen später im Wesentlichen von Cooper, Fischer, Laing und Szasz artikuliert wurden, entwarf Panizza ein erstes antipsychi­ atrisches Konzept, das die Psychiatrie als Wissenschaft in Frage stellte.160 Nitzschke verkürzte Panizzas Lebensentwurf ebenso konsequent wie prägnant: »Deutschlands erster Antipsychiater ging freiwillig in die Irrenan­ stalt. Zur (begrenzten) Neuauflage des Satirikers und Anarchisten Oskar Panizza, der es vorzog, verrückt zu werden, bevor er Anstaltspsychiater blieb.«161

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Der zweite Bruch

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Im Spätherbst 1898 wurde Dr. med. Oskar Panizza für ihn eben­ so überraschend wie unverständlich aus der Schweiz ausgewiesen. Ein Jahr zuvor hatte Panizza zwei Prostituierte getroffen, die ihn zu sich einluden. Panizza lehnte zwar ab, bat aber Olga, das eine Mädchen, ihn zu besuchen. Ab Dezember 1897 kam Olga Rumpf ein- bis zweimal in der Woche zu ihm. Panizza machte Aktphotos von ihr und verkehrte auch sexuell mit dem Mädchen, von dem er annahm, dass sie bereits über 15 Jahre alt sei. Im Frühjahr 1898 stellte Olga plötzlich ihre Besuche ein. Im Juni erschienen zwei Polizeibeamte in zivil und verlangten die Aktphotos. Panizza wei­ gerte sich zuerst, gab dann jedoch nach. In einem Brief an die > Hohe Polizeidirektion der Stadt Zürich* protestierte Panizza ge­ gen diese Gewalttat. Olga sei bereits 15 Jahre alt gewesen, da er ihren Geburtsschein gesehen habe; auch habe er wahrgenommen, dass sie bereits defloriert gewesen sei. Panizza rechtfertigte sich in seiner Selbstbiografie, dass in der Schweiz nur der geschlechtliche Verkehr mit Mädchen unter 15 Jahren strafbar sei; außerdem sei »durch Volksbeschluß die Duldung der Prostituzjon im Kanton Zürich aufgehoben« gewesen. Im Oktober wurde Panizza auf administrativem Weg aus Zürich und damit aus der Schweiz aus­ gewiesen.162 Panizza sah sich in den schweizerischen Blättern als »schmuziges Subjekt« gebrandmarkt und setzte sich in den »Zür­ cher Diskußjonen* zur Wehr. Die Hintergründe der Ausweisung waren für ihn offensichtlich. Er hielt die »Abschiebung« für eigentlich politisch motiviert und letztlich von Wilhelm II. veranlasst. Panizza hielt den Auswei­ sungsanlass für einen Vorwand. In den >Imperjalja< blickte Panizza zurück: Eigentlich habe er in Zürich das Heimatrecht erwerben wollen, wozu ein Zeitraum von zwei Jahren nötig gewesen sei. »Da plözlich kam, wie von heiterem Himmel, meine Ausweisung als Regierungsbeschluß am 24 Okt. 1898 unter dem Vorwand des Verkehrs mit einer Prostituirten. Der ganze Hergang dieser Sache ist in »Zürcher Diskußjon XII< ausführlich und treu geschildert, weshalb ich ihn hier übergehe: Ich glaubte im Grunde an einen empfindlichen Schlag von Seite des [55] Kaisers, der von Berlin

abwesend, auf seiner berühmten Reise nach Jerusalem befindlich, mich vernichten will, indem er mich tatsächlich wegen meiner »Dialoge im Geiste Huttens«, der >Psichopatia NeroParisjana< erfahren, so müsse man sei­ ne Ausweisung aus der Schweiz untersuchen. Die Münchener Staatsanwaltschaft wendete sich daraufhin an die Polizeidirektion Zürich. Am 17. Mai 1901 beantwortete Herr Stoefsch die an die »Direction der Justiz & Polizei des Kantons Zürich« gerichtete Anfrage. Stoefsch stellte fest, dass Oskar Panizza ausgewiesen wor­ den sei, weil er keine regelrechten Ausweisschriften besessen habe, also in Zürich nur geduldet gewesen sei. Weiterhin habe er »eine junge Tochter (Olga Rumpf), allerdings mit ihrer Zustimmung, in unbekleidetem Zustande, angeblich zu medizinischen Zwecken, photographirt«. Panizza habe Olga Rumpf gefragt, ob sie ihm »nicht ein anderes stark und schlank gewachsenes Mädchen zu­ führen könnte«. Olga habe vermutet, dass Panizza auch diese an­ dere Person habe nackt photographieren wollen. Gegen Panizza, so erläuterte Stoefsch, konnte damals kein Strafverfahren einge­ leitet werden, da er die Photographien nicht verbreitet habe. Panizza wurde also einfach administrativ ausgewiesen. Stoefsch verwies auch auf zuverlässige Personen in Zürich, die Panizza nicht bloß als »excentrischen, sondern auch als geradezu geistig anor­ malen Menschen« bezeichnet haben; dabei seien namentlich Panizzas Schriften, »Liebeskonzil« usw. genannt worden.164 Oskar Panizza jedenfalls hielt eine einfache administrative Aus­ weisung für nicht angemessen und suchte nach einem Widersacher; der Einflussreichste schien ihm hierfür gerade mächtig genug. Den Deutschen Kaiser wähnte Panizza am Werk. Nur im Zuge der Aus­ einandersetzung mit diesem übermächtigen Gegner wurde ihm sei-

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ne Ausweisung, die in einem höheren Auftrag veranlasst sein muss­ te, verstehbar. Seine politischen Veröffentlichungen mussten eine solche Brisanz beinhalten, dass sich Wilhelm selbst zur Wehr set­ zen musste. Panizza schilderte in seiner Selbstbiografie: 102

»Pat. antwortete auf diesen Gewaltakt [die Ausweisung aus Zürich; d.V.] in der nächsten Nummer der >Diskussionen< unter ofner, rükhaltloser Aufdekung des Sachverhalts, die die eigene Person & ihren begangenen Fehl ohne Weiteres blossteilt, gleichzeitig aber auf die höchste Stelle in Berlin hinwies, deren Einflusnahme Pat. bei dem ganzen Verfahren verspürt zu haben glaubte.«165

Aus Rache und als Antwort auf die >Psychopatia criminalis< habe der Deutsche Kaiser Oskar Panizza aus der Schweiz ausweisen lassen. Panizza sah sich jetzt in den Mittelpunkt einer politischen Verschwörung gerückt. Der Deutsche Kaiser musste bereits in Zü­ rich den Geheimdienst mit seiner Überwachung betraut haben. Panizzas Erleben zentrierte sich immer mehr auf seinen Widersa­ cher Wilhelm II. Doch erst in Paris glaubte Panizza das Ausmaß der ganzen Kampagne durchschaut zu haben: »Kurz dieses ganze Zürich stekte voll von verdächtigen Persönlich­ keiten.«166

Am 15. November 1898 verließ Oskar Panizza gezwungenerma­ ßen die Schweiz. Die Ausweisung regte Panizza furchtbar auf: Er schlief schlecht und hörte nachts sogar längere Zeit Glockenläu­ ten. Noch erkannte Panizza allerdings ihren Trugcharakter.167 Aus­ gewiesen aus der Schweiz und vom Deutschen Kaiser verfolgt, reiste Panizza nach Paris. »So blieb denn nichts Anderes als Paris übrig. Denn Italjen gehörte zum Dreibund. Spanjen war seit dem spanisch-amerikanischen [57] Krieg mit dem Kaiser eng befreundet. England war das Land der Verwanten.«168

Sechs Tage später kam er mit rund 10 000 eilig verpackten Büchern, einem Büffet und einem Bett in Paris an.16’ »Troz ihres jezt wi­ dersprechenden lokalen Titels« führte Panizza die >Zürcher Diskußjonen< in »verschärfter Tonart, besonders auf politischem Gebiet« weiter.170 Auch das Leben, wie er es in Zürich geführt hatte, setzte Panizza fort. Nur vereinzelt bekam er Besuch: Kurz nach Weihnachten kam Frank Wedekind, dann Max Dauthendey, schließlich Wolfgang Wanieck und Kare Werckmeister. Im Juni besuchten ihn Frida Uhl, die ehemalige Gattin Strindbergs, und

Anna Croissant-Rust. In Paris wähnte Panizza sich seinen Verfol­ gern entkommen. Und zunächst ereignete sich auch nichts Wesent­ liches. Im Laufe des Dezember erschienen aber »zwei Feind­ beschauer« in seiner Wohnung.171 Von nun an fühlte Panizza sich auch in Paris verfolgt. Er spürte Geheimpolizisten, die ihn beob­ achteten, und »agents provocateurs«, die sich an ihn herandräng­ ten. Bereits nach kurzer Zeit bezog Panizza auch die Pariser Belä­ stigungen auf den von ihm im Gange gespürten Machtkampf in Berlin: Bismarck leite eine Nebenregierung, die den Unmenschen Wilhelm endlich absetzen wolle. Dabei spiele er selbst eine bedeu­ tende Rolle. Dies sei der Grund, weshalb er ohne sein Wissen in die Verschwörung einbezogen wurde. Ludwig Scharf besuchte Oskar Panizza in Paris. Panizza sah ihm an, dass er eine Maske auf­ gesetzt und dass ihn eigentlich die Polizei geschickt hatte; kurzer­ hand warf er ihn hinaus. Frühere Bekannte und Vertraute wurden jetzt in Panizzas Wahnsystem einbezogen. Alle spielten eine Rol­ le; nichts ereignete sich mehr grundlos; einen Zufall gab es für Panizza nicht mehr, alles war fest in seinem System verankert. Li­ terarisch nahm Panizza den Kampf auf und griff jetzt, »vom Kai­ ser ausgewiesen« und »molestirt«, aktiv in den vermuteten Macht­ kampf ein. Zumindest in seinem System errang Panizza jetzt bedeutende Erfolge gegen den deutschen Kaiser: »Als Boße und von der Recke, die beiden preußischen Minister des Kultus und Innern im September 1899 plözlich entlaßen wurden, glaubte ich mit einiger Sicherheit annehmen zu dürfen, daß ich einen Schlag geführt, und die Enthüllung über die Ausgrabung des Eisenacher Burschenschaftsdenkmals ihre Wirkung getan. Ich ahnte nicht, daß mir die >Frkf. Ztg< offenbar die Notiz über die Ausgra­ bung des Grundsteins zu besagtem Denkmal in ihrer damaligen Nummer (24 Okt 1898) in die Hände gespielt (ich war auf die Zeitung abonirt) offenbar in der Meinung, ich würde schon die darin angegebenen Scheingründe für die Denkmals-Verlegung durchschauen und den entsprechenden Nuzen daraus ziehen Dies ist heut so gut wie sicher.«172

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Die >Parisjana
Parisjana«, seinen »Gesängen« aus Paris, setzte Os­ kar Panizza von einem sicheren Ort aus zum entscheidenden An­ griff an. In seiner Selbstbiografie schilderte er: An Weihnachten des folgenden Jahres entstand »als Frucht zurückgezogensten Lebens & unter Verwertung der frischesten, besten & unmittelbarsten Eindrüke der französischen Hauptstadt« die Gedichtsammlung »Parisjana«. In den >Parisjana< stellte Panizza Wilhelm II., den persönlichen »Widersacher des Verfassers, zum öffentlichen Feind der Menschheit & ihrer Kultur« hin, wobei er »Gedankenfolge & Ausdruksform an Schärfe bis zur äusersten ästetisch zulässigen Grenze« verwandte.173

Panizza war sich sicher: Mit diesem Werk hatte er Wilhelm II. end­ gültig vernichtet. Offensiv warb er auf den letzten Seiten der > Parisjana< mit seiner Ausweisung, die ihm nach diesem Schlag sicher erneut bevorstehe, und der Beschlagnahmung, die das Buch nach sich ziehen werde. Doch diesmal sei dies eben nicht unter dem Vorwurf der Unzucht mit einer Minderjährigen möglich. Jetzt müsste der wirkliche politische Grund aufgedeckt werden. Damit werde er selbst aber ein für alle mal rehabilitiert. Mit den > Paris­ jana« glaubte Panizza, Wilhelm endlich aus der Deckung gelockt und förmlich zum Gegenschlag gezwungen zu haben. Doch es war Michael Georg Conrad, der getroffen aufschrie. Panizza hatte eine erste Auflage von 1000 Exemplaren drucken lassen. Eine Klappentext-Empfehlung »Köp dit bök, dat is myn rät« sollte ebenso wie die vorangestellten revolutionären Aufrufe von Etienne de la Boétie, »Le Contr* Un« aus dem Jahre 1546 und das »Préface de 1868« der >Histoire de la Révolution française« von J. Michelet zum Kauf der >Parisjana< werben. Panizza wid­ mete seine deutschen Verse in herzlicher Verehrung Michael Ge­

org Conrad, dem Franken. Einleitend rechtfertigte sich Panizza, dass er sich zu einer Danksagung verpflichtet fühlte, da er den Titel > Parisjana< von einer Arbeit Conrads übernommen hatte. Insbe­ sondere lobte Panizza Conrad für seinen Stil und für seine Ver­ dienste um die Jugend und schmeichelte, dass man schließlich nur die Großen bestehle. »Hier heißt es nicht, wie in dem Sprichwort: Die kleinen Diebe hängt man, die Großen läßt man laufen; sondern hier heißt es: die Großen bestiehlt man, die Kleinen läßt man laufen. - und damit bitt’ ich um Ihre Hand.«

Dann begann Panizza richtig: Eine knappe Einleitung, dann 97 provozierende, stellenweise diffamierende Verse auf 136 Drucksei­ ten; abschließend ein kämpferisches Wort zum Geleit. Michael Georg Conrad, inzwischen ein zur Ruhe gekommener Arrivier­ ter, distanzierte sich entschieden von der skandalträchtigen Schrift: Die Verse seien jämmerlich schlecht; die Majestätsbeleidigungen vom Niveau eines Gassenjungen; der Standpunkt der eines Ver­ rückten. Die >Parisjana< beeinflussten das weitere Schicksal Panizzas weitreichend. Diese Schrift führte zur Anklage wegen »Majestätsbeleidigung«; mit den >Parisjana< wurde die Beschlag­ nahme von Panizzas Vermögen ebenso wie die erneute Haft und die psychiatrische Untersuchung begründet. In den >Parisjana< verarbeitete Panizza auch sein persönliches Schicksal und zeich­ nete seinen Lebensweg nach. Er dichtete zur Anatomie, zum Mi­ litärdienst und zum Gefängnis. Aus seiner Ausweisung, seiner In­ haftierung und dem Vorwurf der Unzucht mit Minderjährigen machte Panizza einen Angriff gegen den vermeintlichen Drahtzie­ her. Er verspotte Wilhelm als »geisteskranken Stier«, »grünen Jun­ gen aus Berlin« und als »Pferdemajestät«: Natürlich kann die Schrift hier nicht vollständig wiedergegeben werden. Um aber zumindest einen Eindruck zu vermitteln, sollen einige der 97 Verse zitiert werden.

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»Parisjana. Deutsche Verse aus Paris«174

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Was einst die Leute der Cevennen die schöne Heimat fliehen ließ, und laut mit Schluchzen und mit Flennen sie in der Fremde beten hieß, das trieb mich fort, um zu bekennen, aus Deutschland fort und nach Paris’. um ein wahnsinn’ges Joch zu brechen, und protestant’sche Tirannei, leb’ ich, zu schreiben und zu rächen, jezt in katol’schem Lande frei. (2)

Sitzt Du nicht an dem Ort, ich wette, des Lasters, wo die Dirne schweift, wo auf Montmartre eine Kette von Buhlern durch die Straße läuft, und im Bullier und la Galette unzüchtig Alles sich begreift;und doch ein hochanständ’ges Viertel, wo Alles sich noch sittsam regt, verglichen mit dem Eisengürtel, Den Ihr um Eure Völker legt;

verglichen mit den blei’rnen Rappen, die Ihr den Hirnen umgeschnalt, dem Pferdsgeruch von Schimmeln, Rappen, die Ihr anpreiset mit Gewalt es adelt jeder Königslappen die frech=hochnäsig’ste Gestalt Ihr habt im deutschen Vaterlande ein Reich der Kutscher aufgericht’t: Stallburschen ohne Scham und Schande: wer dort am besten wiehert, sticht. - (11) II. »Hätt’ ich nur Geld gehabt! - Mit Worten allein der Dichter unterliegt ich wäre Poet geworden, ein Dichter, deßen Adler fliegt, und wie die Andern aller Orten hätt’ ich mit meinem Pferd gesiegt doch dieses Schicksal, das verdamte,

gab meinen Freunden Kuchen, Wein, mir nur die Seele, die entflamte, dazu dann dieses eit’rig Bein.

»Härt’ ich nur Geld gehabt, ich wäre gewiß geworden ein Schenie, denn jenes Bleigewicht von Schwere, das And’re spüren, spür’ ich nie, und ohne Weine und Liköre arbeit’ ich Nachts bis in der Früh’ doch wenn die Kräfte sind gebrochen, das Hirn nicht Blut zum Denken hat, ist jedes Wort umsonst gesprochen, und Seel’ und Ausdruck werden matt. »Hätt’ ich nur Geld gehabt! - das Wißen, das hatt’ ich in der Schule schon aus meines Urwald’s Finsternißen holt’ manchen Block ich, Euch zu droh’n, und breitete Euch hin geflißen der vollen Seele ganzen Hohn doch weil ich nur die Ganglienzellen gehabt, und nicht den Nahrungssaft, sah’ meine Hoffnung ich zerschellen, und sah zerschellen meine Kraft.

»In Monte Carlo und in Nizza ist größer nicht die Geldlust schier, und in »Stradella«, »Fatinitza« und »Rheingold« nicht des Goldes Gier Hartleben, Conrad und Panizza, hätt’ ich die Hälfte nur wie Ihr! ich wäre ein Poet geworden, ein Dichter, deßen Adler fliegt, und wo Ihr siegtet aller Orten, da hätte auch mein Pferd gesiegt...« Ja lieber Scharf, Du hast gesprochen mit vollem Recht - (Bifstek gibt Blut) oft hört’ ich deine Seele pochen (Bifstek gibt Blut und Blut gibt Mut) Du hättest auch den Schimpf gerochen, der auf Dir, dem Blutleeren, ruht. Ich weiß, Dein Geist ist hochgeboren,

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rein Dein Gedanke, lieber Scharf, verdamt, der zum Poet erkoren Dich hat und dann zu Boden warf! 108

Doch, was tut man in solchen Fällen? den Herr=Gott hast Du schon verflucht, auch Deinen Freunden und Gesellen geschwor’n, daß Du den Schimpf gebucht auch wir an jenem Fels zerschellen, wo man die Sfinx zu fragen sucht Wir können unser Blut verspritzen, und sagen, was Du hätt’st gesagt, indeß Dich vor dem Hunger schüzen, und warten, bis der Morgen tagt. (23-26) 14 Für einen Wiz ein Jahr Gefängnis, für ’ne Erzählung dritthalb Jahr’ so trüb stand damals Dein Verhängnis, so hoch flog, Deutschland, nie Dein Aar! noch einen Grad mehr der Bedrängnis, so reicht man Dir Skorpjonen dar. Ihr lieben, guten, braven Deutschen, komt Alle im Strafkittel her, solang sie nicht mit Schlangen peitschen: so billig wird der Ruhm nicht mehr! In Nürnberg, in der Folterkammer, sah’t Ihr wol manchen bösen Strik, mit Rädern ausgepreßter Jammer und abgehau’nes Menschenstük; die Füße in der Span’schen Klammer, der Eisen=Jungfrau starrer Blik doch so arg war nie die Bedrängnis Ihr Deutschen, komt zum Heldentum! für einen Wiz ein Jahr Gefängnis! so billig wird nicht mehr der Ruhm.

Auf den egipt’schen Piramiden erblikt Ihr Frondienst nie gekant, oft Tier und Menschen ungeschieden an einem Wagen angespant, und Peitschenknall und Henkerswüten im Königsdienst durch’s ganze Land -

doch so arg war nie die Bedrängnis die Stunde nüzt, eh’ sie entweicht! Für einen Wiz ein Jahr Gefängnis! so billig wird der Ruhm nicht leicht! (29-30)

15 Im Boulevard-Ek, wo der Madelaine antiker Säulen=Tempel steht, hinauf, hinab Boulevard-Liseene ein Schwarm gepuzter Mädchen geht, und Jede wol in der Magdlene die kräft’ge Schüzerin erspäht sie denken freilich nicht an’s Büßen am Orte, der der Zucht geweiht, sie denken nur an das Genießen, und fordern auf zur Lüsternheit.

Um eines gleichen Tempels Stufen seh’ ich , wie in Berlin Ihr steht, und Eure Gebete rufen zu eines Pferdes Majestät es ist ein Hengst mit schönen Hufen, um den der Gottesdienst sich dreht Sie sorgen nicht um’s Wol der Deutschen am Ort, dem Vaterland geweiht, sie denken nur an Zaum und Peitschen und an Stallburschen=Herlichkeit. (31) Deutschland, wo eilt Dein junges Schiff hin? man sagt, Dein Kapitän sei krank stößt Du auf eine Felsenbank? manch’ »Holländer« so rasend pfiff hin, der dann im Strudel schnell versank.Die Kund’gen sagen: es wird scheitern! und woll’n den Augenblik schon seh’n; die Mannschaft weiß nicht, soll sie meutern, soll stumm sie mit zu Grunde geh’n. (35)

20 Ihr hochgelehrten Profeßoren eruditiert mit Sak und Pak, vergraben tief bis zu den Ohren in Manuskript und Almanach, dem deutschen Vaterland verloren,

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Ihr Virchow, Mommsen und Hamack statt von Eusebius uns erzählen, von Iran’s und Kambodschas Höh’n, meint Ihr, es dürft* sich nicht empfehlen, sich auch in Deutschland umzuseh’n? (37) »Wo bist Du Deutschland? - o in Deinen Tannen der dunkle und geheime Flüsterwind, in dem Du Deine Seele auszuspannen gewohnt, und der so freundlich und so lind, er rauscht nicht mehr; die Geister all’ entrannen vor einem Nordwind eisig und geschwind Du Büffelherde, trotzig=ungelenke, die durch die Wälder raset mit Gestank, folgst heute einem einz’gen Stier zur Tränke, und dieser Stier ist geisteskrank. 48 O Musen, flieht aus dem Bereiche der deutschen Pikeihaube fort, schüzt Euch, und flieht aus einem Reiche wo man Euch knebelt Reim und Wort das Veilchen und die deutsche Eiche gedeihen auch an and’rem Ort man wird bei Hof Euch nie vergeßen, und hat im Land’ Euch nie verzieh’n, daß Ihr nicht preuß’schen Spek gefreßen, und laut die »Wacht am Rhein« geschrie’n. (70-71)

Gott ja! wenn ich in meiner Jugend geochst so wie die Andern hätt’, und nachgelaufen wär’ der Tugend, ich läg’ jezt auch im weichen Bett, und hätt’ ein Amt, und Orden=suchend lief zum Minister ich, ich wett’ doch das Studiren schien mir schale, das Kirchengeh’n zum Ekel gar o Ihr wißt nicht auf dem Regale, wie nötig mir die Freiheit war!

Wenn ich nach vier, nach fünf Semester mein physicum mit Fleis gemacht, ich hätte es sicherlich, mein Bester, es zum Dozenten noch gebracht,

denn als Partie ward meiner Schwester ein Herr Profeßor zugebracht doch graute mir vor jeder Feder, und Bücher schienen mir ein Wahn o Ihr wißt nicht auf dem Kateder, wie mir die Freiheit wohl getan! Wenn statt mit Mädchen zu scharmiren, um Pfand zu kämpfen und um Kuß, auf der Anatomie seziren gelernt ich os und musculus, man hätte mich gewiß Paßiren dann laßen beim Examensschluß doch fürchtete ich die Pinzetten und schrak vor dem Carbol-add, das Säure=Schlürfen durch Bibetten brante mir Fleken in’s Gemüt. Wär wenigstens in der Kaserne ich aufgetreten nach Gebühr, um die Rekruten der Taferne, dort anzuschrei’n: Sauhunde Ihr! ich hätte Orden wol und Sterne, und wär gewiß Reserv’ Off’zier doch eilt’ ich lieber tausend Meilen durch Wälder mutterseel’allein, um mit den Wölfen dort zu heulen, als hier die Menschen anzuschrei’n. -

O Ihr wißt nicht, dass Unser’sgleichen mit Euch sich nicht einlaßen darf, soll nicht das stille Wunderzeichen, das Gott uns in die Seele warf, zu Grunde geh’n, zu Schlamm erweichen, was demanthart und kieselscharf Ihr mögt uns schimpfen und uns schmähen: Verbrecher, geisteskrank und Hund doch laßt uns uns’re Wege gehen und schließet mit uns keinen Bund. (73-75) 69

Herr, weis mich aus - wenn meine Bücher nicht alle soll’n zu Grunde geh’n, und nicht der Antiquar als Sieger

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dem Genius gegenüber steh’n das Publikum wird immer klüger, und sagt: wir wollen doch ’was seh’n! was sich da schlechtweg nent als Dichter, soll heute heiß sein, morgen kalt, ’rumschlagen sich mit dem Gelichter, vor Allem mit dem Staatsanwalt.

Herr, weis mich aus - auf meinem Posten steh’ ich heut’ muttersee’ allein es kommen zwar die Drukerkosten und auch ein Bischen mehr herein, doch, Gott! ist das ein Rechnungsposten? man lebt doch nicht von Geist allein! wer macht denn heut’ noch deutsche Lieder? zu eßen hatte auch Herr Kant und Redwitz sang sich Rittergüter mit seiner süßen »Amaranth.« Herr, weis mich aus - es ist die Mode, und man soll mit der Mode geh’n; ich bin betrübt oft bis zum Tote, muß Ich die remittenda seh’n; auch ist’s die sicherste Metode, will man, es soll ein Dichter geh’n ich sah Dich oft in Feuerzungen mir nahen und im Sturmgebraus, so inspirir’ den grünen Jungen denn in Berlin, und weis mich aus. Erinnerst Du Dich des Ochino, den Du von Land zu Land gehezt, der über Papst und Ghibellino sich gleicherweis hinweggesezt, erst aus Venedig in’s Trentino, nach Zürich, Basel floh zulezt, nach London, Krakau - bis den Kranken der Tot traf flüchtend, hochbetagt? denn die Erzeuger von Gedanken, die hast Du stets davongejagt. - (101-102)

96 Ob meine Lieder sind geraten, und ob sie auch vom rechten Schnitt? Wer stark mit Pulver hat geladen, dem reißt es wol den Pfropfen mit von Hutten bis auf Heine, Platen ein jeder seinen Platz erstritt der eine Vogel singt in Rosen, und Bülbül heißt die Nachtigall, der Hahn, der Vogel der Franzosen, kräht munter früh zum Morgenschall. 97 Hat Jemand Lust, mich auszuweisen wohin? - das weiß ich selbst nicht wo? In diesen Tagen, diesen heißen, brauch’ ich ja Ferien sowieso nach Himmelfahrt will ich verreisen ein wenig dann nach Fontainebleau; man lebt so ruhig dort, ohn’ Beschwere, die Vöglein singen dort so nett ich wohn* bei Frau Larivaudiäre rue sans souci num'ro dix-sept.

Geleit (Envoi) Ihr Freunde, wenn ich jezt verreisen, verlaßen muß dies schöne Land, und Ihr in Baiern und in Preußen mit Mienen aufmerkt hochgespant könt Ihr auf dieses Buch verweisen und macht’s im ganzen Land bekant; kein Mägdlein dann mit 15 Jahren leiht her ihr freundliches Gesicht die Schande muß sich offenbaren, und ein Vertuschen gibt es nicht! (134-136)

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Und ihre Folgen

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»Außer sich vor Wut wandte sich Conrad wegen des ihm gewidme­ ten »schändlichen, vaterlandverhöhnenden, von Beleidigungen der wüstesten Art strotzenden Buches« an Ludwig Jacobowski, den damaligen Herausgeber der »Gesellschaft« -»es hilft nichts, mit Panizza muß sauber aufgeräumt werden und so schnell wie mög­ lich«. Conrad verstand Panizzas »Parisjana« als undeutsch und ein »Verbrechen an der Zivilisation«.«175

Michael Georg Conrad besprach den Lyrikband Panizzas in ver­ schiedenen Zeitschriften: »Die Gesellschaft«176, »Die Wage«177 und »Das litterarische Echo«178 veröffentlichten Conrads Rezensionen. Der Lyrikband sei »Material für den Irrenarzt, der Schriftsteller Panizza in der gebildeten Welt ein todter Mann«.179 Conrad warnte sogar vor Mitleid und forderte eine erbarmungslose Verfolgung Panizzas. »Und vernichtet sich nicht ein Mensch selbst und streicht sich aus der Reihe der Sänger und Ritter vom Geiste, wenn er wie Panizza sein eigenes Volk verflucht? Aber scripta manent. Darum muß man sie kennzeichnen und zurückweisen. Und man darf kein Erbarmen haben, selbst wenn ihr Urheber winselt und quietscht wie ein zerschundener löchriger Dudelsack.«180

Die Rezension in »Die Gesellschaft« machte die Münchner Poli­ zeidirektion auf die »Parisjana« aufmerksam. Am 27. 1. 1900 er­ langte die Staatsanwaltschaft Kenntnis der Schrift. Zwei Tage später erhob der Staatsanwalt Freiherr von Sartor Anklage: Panizza habe in dem von ihm verfassten und mit seinem Wissen und Willen in Deutschland verbreiteten Buche > Parisjana. Deutsche Verse aus Paris« mit Bezug auf S.M. den Deutschen Kaiser unter anderem Ausdrücke wie »dummer Junge«, »Pferde-Majestät«, »Pferde­ hirn«, »ein Vieh«, »geisteskranker Stier«, »grüner Junge«, »Hunds­ fott« und »Schuft« gebraucht. Überhaupt habe Panizza Wilhelm mit einem Pferd verglichen. Bereits am 30.1.1900 waren Haftbe­ fehl und Beschlagnahmebeschluss erlassen worden. In Paris war Panizza jedoch für die Strafverfolgungsbehörde nicht greifbar. Gestützt auf den Paragraphen 112/3 der Reichsprozessordnung, demzufolge Fluchtgefahr bestehe, wurde Panizzas Vermögen von 185000 Reichsmark am 10.3.1900 beschlagnahmt. Da »Panizza Ausländer sei, bestehe keine Aussicht, dass er sich auf Ladung vor

Gericht stellen und dem Urteil Folge leisten werde«; so wurde auch der erlassene Haftbefehl vom Landgericht München I bestätigt.181 Panizza versuchte sich zu wehren. Am 2. Juli 1900 richtete er ein Gesuch an die Staatsanwaltschaft: Er werde in verhältnismäßig kurzer Zeit dem Nichts gegenüberstehen; jede Unterstützung von Seiten seiner Familie sei gänzlich ausgeschlossen. Mutter und Ge­ schwister hätten sich mit allem Hass auf ihn geworfen und sähen in ihm nur noch den »Behelliger eines gewissen gesellschaftlichen Ansehens«, dessen verächtlich gewordener Name auf die Famili­ enmitglieder abfärben könnte. Die einzelnen Geschwister seien nun in die Rolle von Polizeispitzeln gedrängt und gingen in einer Weise gegen ihn vor, dass er eher die Staatsbehörde um Schutz gegen seine Familie anflehen möchte. Eine solche Zerstörung der Familienbande sei wohl kaum in der Absicht der Königlichen Staatsanwaltschaft gelegen gewesen. Panizza war zwar noch in Freiheit, doch der Haftbefehl und der Beschlagnahmebeschluss blieben. In den >Imperjalja< blickte Panizza zurück auf dieses Ereignis: »Als die >Parisjana< jezt mit Jahresschluß 1899 erschienen waren, hielt ich meine Rache für komplet, und sagte mir: Weisen die Berliner Kreise, der Kaiser, oder wer immer, mich auch aus Paris aus, dann müsten sie Farbe bekennen, denn unter einem erotisch­ beschimpfenden Grund können sie mich deshalb ... _dies_mal nicht treffen, ich hatte buchstäblich keusch wie ein Josef gelebt, auch gar keine Sehnsucht nach Weibern gehabt. Dann komt es also zum aufsehenerregenden Skandal und wahrscheinlich Anfragen in der Kammer, denn wegen Ausweisung des kleinsten Anarchisten wurde dort just wenige Tage nach meiner Ankunft eine energische Debatte gepflogen. Weisen sie mich nicht aus, so müsten sie die giftige Materje lautlos hinunterschluken und ich habe weiterhin Ruhe und Arbeitszeit gewonnen. Einige der Lieder hatte ein junger Wiener Schriftsteller Wanjek hier kennen gelernt und sich gegraust. Die Afäre ging sehr glüklich. Eine Konfiskazjon mit Stekbrief von München aus sorgte [60] für Reklame ... Wie ein Donnerschlag traf mich die Konfiskazjon meines [61] Vermögens in Baiern ...«182 In Panizzas Augen war sein großer Schlag gegen Wilhelm auch in Frankreich nicht unbemerkt geblieben. Bereits wenige Tage nach Veröffentlichung der >Parisjana< wirkten die Mienen der Franzo­ sen freundlich verändert auf ihn. Daran glaubte Panizza zu erken-

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nen, welchen großen und günstigen Eindruck sein Werk gemacht habe. In der Nationalbibliothek habe man ihm mit größter Freundlichkeit einen großen und wertvollen Band anvertraut, den er sonst nicht erhalten hätte. Auch dies hielt er für ein günstiges Zeichen. Trotzdem fürchtete er täglich erneut ausgewiesen zu werden. Stets war er reisefertig zur Flucht nach London. »Als mein Geld Ende März zu Ende ging und die Schrekniße des Gefängnis vor meine Sele traten - die Höchststrafe, unter der wenig in diesem Fall heruntergegangen worden wäre, beträgt 5 Jahre puzte ich meinen Revolver, ölte ihn und holte die Kartuschen hervor. Aber ich sah bei dießer Gelegenheit, daß Selbst- [62] mordiden und Selbstmordausführung himmelverschiedene Dinge sind

Fast ein ganzes Jahr hielt Panizza in Paris aus. Als er bereits die Miete nicht mehr aufbringen konnte, lieferte er sich am Karfrei­ tag, dem 13.4.1901, der Münchner Justiz aus. Noch am selben Nachmittag wurde er in der Münchener Fronfeste am Anger ver­ hört. Zwei Tage später wurde das Verfahren eröffnet und die Be­ schlagnahmung von Panizzas Vermögen aufgehoben. Während der Voruntersuchung wurden Zweifel an der psychischen Gesundheit des Angeklagten erhoben, und zwar sowohl wegen Form und In­ halt der >ParisjanaOb ich mich mit Nietzsche vergleiche«? In der Verrücktheit schon antwortete ich.«187 Der Königliche Landgerichtsarzt Prof. Dr. Hofmann untersuch­ te den Patienten Dr. med. Oskar Panizza und beantragte, ihn für die Dauer von sechs Wochen zur Begutachtung in die Oberbaye­ rische Kreisirrenanstalt München einzuweisen. So erhielt Ober­ arzt Dr. Ungemach die Gelegenheit, Panizza während des Aufent­ haltes vom 22. Juni bis 3. August ausführlich zu untersuchen. In dem Tagebuch, das Ungemach in seinem Gutachten zitierte, schil­ derte Panizza seine Fahrt in die Kreisirrenanstalt am 8. Juli: Seine Hoffnung auf das Ende der »Komödie« sei »irrig« gewesen, »die Fahrt ging zweifellos der Irrenanstalt zu«. Der Wechsel »aus der einem düsteren Verließ ähnlichen Gefängniszelle in das helle flu­ tende Sonnenlicht« hob seine Stimmung. München selbst wirkte erkaltet und gegenstandslos fad auf ihn. Den Transport in die Kli­ nik verstand Panizza nur in seinem Wahnsystem. Panizza schilder­ te: Der Kutscher bog nach rechts auf die Hauptfront ein, fuhr aber nicht auf der Hauptstraße direkt vor die Klinik, sondern auf der neu angelegten an der Anstalt vorbei. »Es handelte sich natürlich um eine mit dem Kutscher ohne mein Wissen getroffene Vereinbarung, eine neue Komödie ... Die beiden Transporteure bemerkten nebenbei, sie kännten die Irrenanstalt nicht. Der Kutscher that offenbar ebenfalls, als kennte er sie nicht. Das alles war natürlich eine Komödie, wohl um mir anzudeuten, daß auch meine Unterbringung in der Anstalt nur Komödie sei.«l87b In seinem Tagebuch hielt Panizza eine Auseinandersetzung mit Vocke fest. Direktor Vocke188 habe in »vorsichtig andeutender Wei­ se« seine Meinung entwickelt, ob die >Parisjana< mit ihrem ko-

lossalen Hass gegen den Deutschen Kaiser nicht unter falschen Vo­ raussetzungen geschrieben seien. Er selbst habe sofort aufs Ent­ schiedenste protestiert und Vocke gefragt, was er sich durch die­ sen Druck zu erzwingen hoffe. Vocke könne diagnostizieren, was er wolle. Ihm falle aber auf, dass Vocke offenbar das Vernehmungs­ protokoll nicht kenne; den Untersuchungsrichter habe er auf die Voraussetzungen der >ParisjanaParisjana< und ihre angeblich irrtümlichen Voraussetzungen sich erlauben, wenn Sie die Schrift, die ich für die Ursache meiner Ausweisung aus der Schweiz halte, gar nicht kennen?«18’

Auch Dr. Ungemach befragte Panizza nach den >ParisjanaParisjana< verfasst. Als Schriftsteller dürfe er auf die Gefühle von Millionen keine Rücksicht nehmen, ebenso wenig wie seinerzeit im ►Liebes­ konzil«.1’0 Dr. Ungemach schilderte seine Beobachtungen wäh­ rend des stationären Aufenthaltes des »pazjenten«: »P. ist ein mittelgroßer Mann, von blassem anämischem Aussehen, schlecht genährt, macht einen vorzeitig gealterten Eindruck, das bartlose Gesicht zeigt scharf ausgeprägte, nicht unintelligente Gesichtszüge. Degenerationszeichen fehlen, ebenso sensible oder motorische Störungen. Das rechte Schienbein ist durch eine chronische affizierende Knochen- und Knochenhautentzündung hochgradig deformiert und verbogen, wodurch der rechte Unter­ schenkel eine nach außen konvexe Biegung erlitten hat. P. zeigte während seines Aufenthaltes stets ein ruhiges und geordnetes Wesen ein etwas steifes, aber im allgemeinen höfliches Benehmen. Gegen das Pflegepersonal war er etwas abweisend und hochfah­ rend, äußerte niemals einen Wunsch. Den Bestimmungen der Hausordnung fügte er sich stets ohne Widerstreben, weshalb er auf der besten Abteilung untergebracht wurde. Anfänglich schloß er

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sich an niemand an und war ersichtlich mißtrauisch, erst später verkehrte er mit der Mehrzahl der sämtlich ruhigen und umgängli­ chen Herren seiner Abteilung. P. beschäftigte sich meist mit Lektüre, ferner führte er über alle wichtigeren Ereignisse ein Tagebuch, das er schon im Gefängnis begonnen hat; in dasselbe schrieb er auch ausführliche Excerpte psychiatrischer Zeitschriften, die er sich hier zur Lektüre ausgebeten hatte. P. war von 1882-1883 etwa 1 !/i Jahre lang Assistent der hiesigen Anstalt. Gegen Ende der Beobachtungszeit äußerte P. eine bemerkenswerte Unduldsamkeit, eine Neigung seine geistige Überlegenheit fühlen zu lassen und geriet mehrfach in Konflikte mit den an Imbezillität leidenden Herren seiner Umgebung. Von Einzelheiten ist ferner zu erwähnen, dass P. trotz des viel­ stündigem Aufenthalt im Garten niemals einen Hut trug, daß er von Alkohol völlig freiwillig abstinirte im Gegensatz zu früheren Lebensgewohnheiten, endlich die merkwürdige Beschaffenheit seiner Kleidung und Leibeswäsche. Der einzige Anzug, den P. hatte, war recht abgetragen und schäbig, die einzige Unterhose, die P. besaß und die vollen 6 Wochen trug, war voller Löcher, ebenso die 2 Paar Socken, mit deren Gebrauch er abwechselte, und das einzige Nachthemd, das er besaß und benützte. Die Unterwäsche war mit einem Worte so handwerksburschenmäßig, daß sie in schreiendem Gegensätze zum Stande, der Bildung und den frühe­ ren Lebensgewohnheiten des P. war. Dabei standen P. reichliche Geldmittel zur Verfügung und er hätte sich leicht bessere Wäsche und Kleidung besorgen können, er ließ jedoch alle dahin zielenden Bemerkungen unbeachtet. Seine einmal geäußerte Entschuldigung war folgende: Er habe genug Leibeswäsche in Paris, dieselbe sei jedoch sämtlich benützt zum Einpaken von wertvollen zerbrechli­ chen Gegenständen, als er aus der Schweiz ausgewiesen wurde, und diese Sachen stünden noch sämtlich verpackt in Paris. Er habe nämlich seine in ca 60 Kisten verpackten Sachen in Paris, obwohl er eine geräumige Wohnung gemietet hatte, niemals auszupacken gewagt, weil er seit seiner Ausweisung aus Zürich [1. Dez. 1898 von da ab war P. ständig in Paris] jeden Tag die Ausweisung aus Frank­ reich erwartet habe. Ganz auffallend war sein Verhalten seinen nächsten Verwandten gegenüber, deren Besuche er stets rundweg ablehnte, ja er weigerte sich selbst die Namen der Besucher zu erfahren, obwohl er auf die

Möglichkeit eventuell einmal selbst seine eigene Mutter abzuweisen aufmerksam gemacht wurde. P. verweigerte über sein Verhältnis zu Mutter und Geschwistern jede eingehende Auskunft, behauptete, dies habe mit der Beobachtung seines Geisteszustandes nichts zu thun; nur ein einziges mal machte er die Andeutung, daß nach seiner Ansicht seine Verwandten im Bunde mit der Polizei ständen ... P. war völlig orientiert über Zeit und Ort, Gedächtnis, Vor­ stellungsablauf erwiesen keine Störungen. P. besitzt sehr umfassen­ de allgemeine Kenntnisse, eine lebhafte Phantasie und Witz, sodaß bei einer Unterhaltung über allgemeine und indifferente Themata gewöhnlich kein Defekt des Urteils zu erkennen war. Umso auffallender war bei strenger Logik erfordernden Gebieten, speziell medizinische und psychiatrische Themata eine große Verschrobenheit des Urteils und auch völlige Unzugänglichkeit für Belehrung. P. behauptete z. B. schließlich mit allem Ernste, die Krankheitsbilder hätten sich völlig geändert, er kenne sich nicht mehr aus. Gegen Ende der Beobachtungszeit behauptete er, die Herren seiner Umgebung seien gar nicht krank, sondern simulirten nur die angeblichen Krankheitsbilder, vermutlich seinetwegen.«191

Dr. Ungemachs Gutachten vom 25.8. 1901

Der Oberarzt Dr. Fritz Ungemach erstellte auf der Grundlage der sechswöchigen Untersuchungszeit das Gutachten vom 25.8.1901.192 Auf den insgesamt 70 handgeschriebenen Seiten legte Ungemach die umfangreiche Vorgeschichte wie seine eigenen Beobachtungen über Panizza dar. Ungemach zitierte die Atteste von Dr. Ostermeier und Dr. Nobiling und ergänzte lediglich, dass der Onkel Ferdinand nach dem Attest des Hausarztes der Gefangenenanstalt Amberg in der Irrenanstalt in Würzburg verstorben sei. Auch Oskar Panizzas Briefe an seinen behandelnden Arzt Dr. Ostermeier aus dem Zeitraum vom 20. September bis 1. November 1900 zog Ungemach als eine wertvolle Ergänzung seines Gutachtens heran. Zusammenfassend schloß Dr. Ungemach:

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Gutachten

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»Die Untersuchung und die Begutachtung P. war ja erschwert durch sein außerordentliches Mißtrauen, sowie infolge des UmStandes, daß er selbst früher Psychiater war und daher mit der Enthüllung seiner krankhaften Ideen viel zurückhaltender war als andere Kranke in seiner Lage, gleich wohl kann man auf Grund des erzielten Beobachtungsmaterials sowie Verwertung der vorstehen­ den Excerpte aus Schriftstücken Panizzas das Bestehen einer schweren psychischen Erkrankung nämlich Paranoia zweifellos feststellen. Panizza ist hereditär schwer belastet, ein Bruder seiner Mutter war ausgesprochen geisteskrank l:und zwar krankhaft:!! nämlich Paranoiker und starb in der Irrenanstalt, die anderen Geschwister sind als überspannte Personen von sachverständiger Seite bezeichnet. Die Mutter P.s hat nach verlässigen Mitteilungen einen höchst streitbaren unbeugsamen Charakter, der in schweren Konflikten mit der Staatsbehörde wegen der richtigen Erziehung ihrer Kinder Ausdruck fand. Schon in der Jugend bot Panizza Zeichen neuropathischer Veranlagung, er war nach seiner eigenen Angabe ein träumerisches, phantastisch angelegtes Kind, ohne Energie, so daß das Studium nur unter ausgiebiger Nachhilfe möglich wurde; er hatte Neigung zu unmotivirten Angstaffekten und trüben Stimmungen, was sich auch in einem in Amberg mit ihm aufgenommenen Protokoll vom 20. Nov. 1895 kSchwurgerichtsakten 28:1 angegeben findet. Während seiner Studienzeit hielten alle Kollegen den Angeschuldigten für geistig nicht normal, er war unverträglich, rechthaberisch und streitsüchtig, beleidigend in seinem Benehmen, mißtrauisch bis zu Verfolgungsgedanken, hatte offenbar schon damals eine außerordentliche Selbstüberschät­ zung; er litt an Zwangsvorstellungen und scheint auch ein abnor­ mes Triebleben ksadistische Züge:! zu besitzen. Diese sachverstän­ digen Beobachtungen seines Freundes Dr Ostermeier werden durch die Erfahrungen seiner späteren Kollegen in der Irrenanstalt bestätigt: er galt auch hier als >Narr Modernen« in extremer Weise. Sein »Liebeskonzil« erweckte zuerst auch bei Freunden von ihm, nicht mit Unrecht den Verdacht, daß er geistig nicht gesund sei wegen des maßlosen Cynismus mit dem er die religiösen Gefühle von Millionen ohne allen plausiblen Zweck verletzte. Dieser Verdacht wurde damals bekanntlich als unbegründet zurückgewiesen und Panizza erstand seine volle Strafe von 1 Jahr Gefängnis in Einzelhaft in Amberg. Damals verkehrte P. noch mit Mutter und Geschwister; nahm z.B. die Kautionsstellung von 80 000 Mark durch seine Mutter an, richtete aus der Haft mehrere ganz einsichtig und entgegen kommend gehaltene Bittge­ suche um Straferlaß oder Umwandlung in Festungshaft an die Behörden, kurz in seinem Verhalten waren damals noch nicht die krankhaften Züge wie später zu er kennen. Die Aufregungen der damaligen Untersuchungshaft, die Verurteilung zu einer für ihn unerwartet hohen Strafe und die schädlichen Folgen der Einzelhaft mögen nun in Verbindung mit seiner schweren Belastung sowie der Schwächung durch körperliche Krankheiten das auslösende Moment für den in jener Zeit zu vermutenden Beginn seiner geistigen Erkrankung gebildet haben. Auffallend war zuerst, daß Panizza sogleich nach Erstehung seiner Strafe die Entlassung aus dem bayrischen Staatsverband nachsuchte - und die Entlassungsurkunde sieht er jetzt noch als sein kostbar­ stes Besitztum an. Er schied freiwillig von Familie, Freunden, den liebgewonnenen literarischen Kreisen, von seiner zweiten Heimat München, ging freiwillig in die Verbannung und rächte sich für das nach seiner Ansicht angethane Unrecht durch seine Schmähschrift kdieseits unbekannt:! »Abschied von München«, die nach seiner Ansicht dem Staatsanwalte noch heute Veranlassung geben könnte ihn einzusperren. Uber seinen Aufenthalt und seine literarische Produktion in Zürich ist hier nichts weiter bekannt als die von ihm im Verhör zitirte Schrift Psychopathia criminalis. Auch dieses Werk erweckt bereits nach dem oben geschilderten

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Inhalt den Verdacht auf geistige Störung wegen der maß- und zwecklosen Verdächtigungen der deutschen Fürsten kgemeint war eigentlich der Deutsche Kaiser:! des ganzen Beamtenstandes und auch eines Standes dem er selbst angehörte nämlich der Irrenärzte, den er ohne ersichtlichen Zweck in schwerster Weise mit­ verdächtigt. Mit Sicherheit kann behauptet werden, daß P. bereits an Verfolgungswahn erkrankt war. z. Zt. der Ausweisung aus Zürich. Er glaubte, daß man auf direkte Interventionen des Deut­ schen Kaisers in diesem Kanton ein Gesetz gegen die Prostitution gemacht habe, mittels dessen man ihn ausweisen konnte, daß dann gleichfalls durch denselben Einfluß seine Ausweisung betrieben und durchgeführt wurde aus Rache und als Antwort des Deutschen Kaisers auf seine Schrift Psychopathia criminalis. Aus den Angaben P. geht hervor, daß er damals auch an Gehörshallucinationen litt. Diese Verfolgungsideen dauerten in Paris wie aus seinen Äußerun­ gen hervorgeht ununterbrochen fort. Er glaubte sich ständig von Geheimpolizisten beobachtet und selbst besucht, meinte daß sich agents provocateurs an ihn heran drängten. Ganz diesen Wahnideen entsprechend ist sein Verhalten bezüglich seiner Bagage: Er packte weder seine große Bibliothek im Werte von wenigstens 10000 fr, noch sein sonstiges wertvolles Besitztum aus, das in circa 60 Kisten verpackt war obwohl er eine entsprechend große teure Wohnung gemietet hatte nicht einmal seine reichlich vorhandene zum Verpacken zerbrechlicher Gegenstände benützte Wäsche, weil er fürchtete jeden Augenblick wieder ausgewiesen zu werden. Höchst wahrscheinlich kam P. infolgedessen schon in Paris in den Zustand äußerer Verwahrlosung wie er oben beschrieben wurde, obwohl er auch damals noch reichliche Geldmittel hatte. Unter dem Druck dieser Verfolgungsgedanken und andauernden krankhaften Erre­ gungen schrieb P. seine von ihm für eine politische That gehaltene Parisiana. Dr Konrad ein »Moderner«, der gewiß frei von Voreingenommen­ heit ist urteilt darüber folgendermaßen: »Die Verse sind kgegenüber früheren Dichtungen:! auffallend schlecht, die Bilder und Übergän­ ge gezwungen kder Sinn bisweilen ganz unverständlich:!. Er läßt sich nicht nur zu gemeinen niedrigen Majestätsbeleidigungen hinreißen, nein, er bewirft vor den Augen der Franzosen das ganze deutsche Volk mit Kot und wie ein Gassenbube beschimpft er unsere größten Männer und unsere deutsche Kunst. Seine Ausdrük-

ke sind dabei so roh und schmutzig, daß keine Zeitung auch nur Bruchstücke davon abdrucken könnte. Und das alles geschieht von Paris aus, wo sich Dr Panizza jetzt aufhält. Nicht ein Beispiel aus der gesamten Litteratur läßt sich solchen Ausschreitungen an die Seite stellen. Es steigt einem die Frage auf, ob man es hier über­ haupt noch »mit einem gesunden Hirn zu thun hat.« Diese Vermu­ tung eines Laien ist in der That sehr richtig. Ein derartiges Lossa­ gen von allem was einem geistig gesunden Menschen teuer und heilig ist ohne jeden Grund, eine derartige Verläugnung der nationalen Abstammung, zugleich ein solches Wühlen in gemeinen und unflätigen Ausdrücken bei einem gut erzogenen und früher ganz anders gearteten Menschen kann nur durch krankhafte Veränderung der ganzen Persönlichkeit und Verrückung des ganzen Standpunktes bedingt sein. Ebenso krankhaft auf Wahnideen beruhend ist auch die Entstehungsursache: P. will damit die Antwort geben auf seine durch den deutsche Kaiser veranlaßte Ausweisung aus der Schweiz, er glaubt aber auch damit wesentlich beizutragen zur Abdankung des Deutschen Kaisers in dessen Person er nach seiner Äußerung auch den Protestantismus bekämp­ fen wollte, weil derselbe als Staatsreligion abgehaust habe. Also auch in religiösen Fragen ist bei P., der im Liebeskonzil hauptsächlich den Katholizismus verhöhnte eine völlige Verrükkung des Standpunktes eingetreten. Auf kombinatorischem Wege und durch Erinnerungsfälschungen bildeten sich weitere Wahnide­ en bei Panizza. Wie die Beteiligung des deutschen Kaisers und der 12000 Markaffaire den Rhodesmillionen, dem Sternbergproceß l:s. ob.:l. Der Erlaß des Steckbriefes und die Vermögenssperrung geben ihm Anlaß den Kreis seiner eingebildeten Verfolger weiter auszudehnen. Auch seine ganze Familie selbst seine Mutter seien auf die Seite der Polizei übergetreten, hätten sich mit vollem Haß auf ihn geworfen und ihm angedeutet er solle für immer verschwinden, dieselben sollen sogar die Rolle von Polizeispitzeln gegen ihn ausüben, seine Mutter sei die Polizei oder die Staatsgewalt! I:s. ob.:l Seine besten Freunde seien ihm untreu geworden und hätten eine Maske aufgesetzt einem derselben wirft er ohne daß er ihm etwas beweisen konnte mit der Begründung hinaus, daß er ihm ansehe er sei von der Polizei geschickt worden. Sein Mißtrauen und seine Verfolgungsideen erstrecken sich schließ-

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lieh selbst auf seinen besten und treuesten Freund aus seiner Jugend und Studienzeit den Herrn Di Ostermeier. Obwohl derselbe sich redlich bemühte dem notleidenden P. durch Verkauf einer kleinen Hypothek Mittel zu verschaffen, fürchtete P. selbst von diesem, daß er mit der Polizei in Beziehungen stehe und für diesen Fall lehnte er jede ihm doch so nötige Hilfe von dessen Seite ab. Eine weitere Reihe von Verfolgungsideen produzirt P. in der Anstalt. Die Rechtsanwälte Rosenthal und Loewenfeld sind auf die Seite der Polizei getreten; für ebenso unzuverlässig und bestechlich gelten ihm die anderen Rechtsanwälte, von den Psychiatern glaubt er, daß sie ihn trotz geistiger Gesundheit auf Wunsch der Polizei für krank erklären werden. Die Kranken seiner Umgebung hält er, selbst früher Psychiater!, für gesund, khöchstwahrscheinlich für Polizeispitzel:!, die ihn nur vor simulirten und die ihn beobachten von dem Ref. dieses Gutachtens vermutet er, daß er nur ad hoc hierher in die Anstalt designirt sei, und nach Erstattung desselben wieder weg gehen werde. P.wittert die wichtigsten Beziehungen auf seine Person hinter den harmlosesten Dingen, denen kein vernünftiger Mensch eine Bedeutung beilegen würde. Z.B.s. ob. Tagebuch: 29.IV, 13.V, 31.V, 8.VII. Exquisit krankhaft ist schließlich sein merkwürdiges Verhal­ ten bezügl. seiner Verteidigung, daß er nämlich trotz reichlicher Geldmittel sich nicht von irgendwoher einen berühmten Verteidiger geschafft sondern sich völlig passiv verhält. In dem Briefe vom l.XI. 00 an Di Ostermeier offenbart P. ein Stück seines komplizierten Wahnsystems, das diesen Punkt zu erklären geeignet ist. Er hält sich für einen immerhin nicht unbedeutenden Dichter, der in der politischen Opposition stehe und deshalb dürfe er um keinen Preis mit Polizei und Staatsgewalt einen Händedruck wechseln, er riskiere öffentlich blosgestellt zu werden, dadurch verliere er die Selbstachtung und wenn er die Selbstachtung verloren habe, könne er keine politischen Gedichte mehr machen, könne er nichts Anständiges mehr thun und bleibe einregistriert in die Rolle der Polizeispitzel. Diese Erwägungen sind höchst wahr­ scheinlich aus schlaggebend dafür, daß P. keinen Besuch von Mutter und Verwandten annimmt, daß er jede »Initiative« in der Gefangen­ schaft vermeidet, keinen Verteidiger nimmt endlich sich auch keine Wäsche und Kleider anschafft. In allem fürchtet er der Polizei seiner größten Feindin die Hand zu bieten und damit sich und

seinen literarischen Ruhm zu ruinieren; daher das »Gummiball­ system«. Aber nicht bloß Verfolgungsideen auch Förderungsideen finden sich bei Panizza. In Paris merkt er aus den freundlichen Mienen den Umschwung in der Stimmung; in der Bibliothek in Paris begegnet man ihm unmittelbar nach Veröffentlichung der Parisiana auffallend freundlich, sodaß er wegen seiner besonderen Verdienste um Frankreich das Heimatsrecht ausnahmsweise zu erhalten hofft. Die Gerichte setzt er in einen merkwürdigen Gegensatz zur Polizei. I:13.V.:I bezeichnet sie als seine Freunde l:16.V.:l behauptet der Staatsanwalt mache Reklame für ihn, die ganze Sache sei nur eine Komödie, Bayern wolle sich in seiner Sache blamieren, um gegen Preußen zu agitieren und den deutschen Kaiser zur Abdan­ kung zu bringen. Wegen dieser letzten Wahnidee nämlich Abdan­ kung des Deutschen Kaisers in kürzester Frist, damit völliger Umschwung seiner Verhältnisse, Freiwerden seiner Person und seines Vermögens, also aus völlig krankhaften Motiven stellte sich P. den Gerichten. Panizza leidet nach Vorstehendem an systematisirten Verfolgungs­ und Förderungsideen, die hauptsächlich auf combinatorischem Wege entstanden sind und denen er völlig kritiklos und unbelehr­ bar gegenübersteht. Infolge dieser geistigen Erkrankung >Paranoia< ist sein ganzes Denken, Fühlen und Handeln und besonders auch seine schriftstellerische Thätigkeit krankhaft beeinflußt. Diese geistige Erkrankung bestand bereits zur Zeit der Abfassung seiner Parisiana. Ich gebe daher mein Gutachten dahin ab, daß sich Panizza bei der Begehung des Vergehens der Majestätsbeleidigung, wegen dessen er angeschuldigt ist, in einem Zustand krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befunden hat, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.«193

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Das Pariser Intermezzo

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Dr. Ungemach hatte sich mit der Abfassung des schwierigen Gut­ achtens Zeit gelassen. Panizza war bereits am 3.8.1901 aus der psychiatrischen Untersuchung entlassen und in das Gefängnis zu­ rückgebracht worden. Fast drei Wochen später, nämlich vom 25.8.1901 ist Dr. Ungemachs Gutachten datiert. Der zuständige Richter handelte schnell: Bereits am folgenden Tag, den 26. Au­ gust 1901 beantragte Richter Dimroth, Oskar Panizza »von der Anschuldigung eines Vergehens der Majestätsbeleidigung außer Verfolgung zu setzen und den Haftbefehl aufzuheben, da sich Panizza nach dem Gutachten der Direktion der Kreisirrenanstalt München bei der Begehung der strafbaren Handlung in einem seine freie Willensbestimmung ausschließenden Zustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit befunden hat«.1*1

Noch am selben Tag wurde Oskar Panizza aus dem Gefängnis am Anger entlassen und reiste mit dem Abendzug zurück nach Paris. Panizza war von seiner Entlassung völlig überrascht worden. In seinem Tagebuch rekonstruierte er die Vorgänge, wie er sie erfah­ ren hatte: »29. August 1901. Gestern Abend am 28. Aug., 6 Uhr, als ich eben beim Hereinbringen der Matraze mich mit meinem Lavoir auf den Gang begeben hatte um Wasser zu holen, kam ein Aufseher und kündigte mir gänzlich unerwartet die Aufhebung der Haft an. So die Stunde der Erlösung hat geschlagen! Ich pakte alles rasch zusammen und ging hinunter in’s Schurzimmer. Dort legte man mir auf meine Frage ob irgend eine schriftliche Mitteilung vom Gericht für mich eingetroffen sei, nur den kurzen Beschluss das Münchner Amtsgerichts vor in dem es heisst: Die unterfertigte I. Strafkammer hat soeben in geheimer Sitzung den Beschluss gefasst, die Haft des Schriftstellers Oskar Panizza aus Paris, aufzuheben. Panizza ist ab sofort aus der Haft zu entlassen. Noch einige Marginalnoten: Eilt sehr! Dringend! Das war alles. Keine Angabe von Gründen. Und dieses Schriftstück, um dessen Überlassung ich bat, war nicht für mich bestimmt. Es war der Anweis für den Gefängnis-Verwalter. Es wurde mir verweigert. Der Verwalter selbst war abwesend, war seit 5-6 Tagen nicht mehr sichtbar gewesen.

Angeblich im Urlaub, obwohl er schon den ganzen Juni in Urlaub war. Ich fuhr sofort, d.h. nach etwa !/i stündigem Paken und Warten an den Bahnhof, besuchte nur kurz die Konditorei Schlutt, in der Bayerstasse, an die ich eine kl. Schuld zu entrichten hatte, und dann mit dem Abendschnellzug 7.55 nach Paris wo ich heute mittag 1.26 eintraf.«1’5

Oskar Panizza war im psychotischen, also im wahnhaft zerrütte­ ten Erleben aus der Haft entlassen worden. Die Gründe für seine plötzliche Entlassung blieben ihm selbst unklar. In den »Imperjalja», die er in den nun folgenden Jahren in Paris schreiben sollte, fasste er die Ereignisse der Münchener Zeit von seiner Verhaftung bis zu seiner plötzlichen Entlassung zusammen und band sie in sein System ein: »So lieferte ich mich denn aus und schmachtete fast 5 Monat in einem traurigen Verlies der Münchner Fronveste, wovon 6 Wochen Irrenhaus in Abzug kommen. Erst in lezterem ging mir das Licht auf. Es handelte sich darum, mich für »Geisteskrank» zu erklären, mich auf freien Fus zu ... sezen und mir unter der Narrenfreiheit die lezten und entscheidenden Äuserungen über den deutschen Kaiser zu erlauben, deren Deutschland und die zivilisirte Welt bedurften.«1’6

Letztlich wähnte sich Panizza im Auftrag der Berliner Neben­ regierung entlassen. Schriftstellerisch sollte er dazu beitragen, den Deutschen Kaiser zu stürzen. In Paris veröffentlichte Panizza noch einige Nummern der »Zür­ cher Diskußjonen» (bis Nr. 32) und »stelte dann seit November 1901, zwar nicht seine schriftstellerische, aber, Mangels eines Drukers, seine publizistische Tätigkeit ein«.1’7 Panizza spürte jetzt selbst die Verschlechterung seines Gesundheitszustandes und frag­ te nach den Gründen. Er grübelte über die Ursachen seiner Nau­ sea-Anfälle, die seit seiner Kindheit in unregelmäßigen Abständen auftraten. Bald witterte er eine Beeinflussung von außen, vielleicht eine Vergiftung im Auftrag seines persönlichen Widersachers. Bald zog er körperliche, bald auch seelische Gründe heran. Im Okto­ ber 1901 litt Panizza zwei Wochen unter schweren Magenkrämp­ fen, die er durch eine rigorose Diät zu lindern hoffte. Die strenge Diät verschlechterte den Zustand jedoch noch weiter. »Gestern Abend hatte ich einen schweren Anfall von Nausea vor der Kirche Notre Dame de Lorette. Ich leide seit meiner Knaben-

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zeit an Anfällen von plötzlicher Nausea mit profusem Speichelfluss. Die Ursache ist mir unbekannt. Den ersten Anfall hatte ich meines Erinnerns mit 9 Jahren, als ich lange in einer geschlossenen Schäse sitzend durch das einförmige Rumpeln und Stossen allmälig in einen Zustand von geistiger Dämmerung geriet. Aus dem dann der Speichelfluss als Kulminationspunkt die Erlösung brachte ... In den 90 "Jahren hatte ich fast alljährlich im Herbst einen schweren Anfall der äusserlich unter den Erscheinungen eines Brechdurch­ falls verlief und der meist eine Nacht hindurch dauerte; heftige, schmerzhafte Cholera-Stühle mit trommelartiger Auftreibung des ganzen Leibs und rectus-artigen Brech-Neigungen. Diese Anfälle, die nichts anderes waren, als potenzielle Darm- und MagenKrämpfe mit Gasbildung, kurirte ich durch Trinken von kochend­ heissem Wasser, in das ich einen Esslöffel Konjak goss ... Statt der Anfälle von Nausea oder gastrischen Krämpfen treten manchmal was ich nennen möchte psichische Äquivalente, d.h. psichische Störungen ohne körperliche Erscheinungen, heftige Angst ohne jedes Motiv und von subakuter Dauer. Einen solchen Anfall hatte ich in London in meinem Zimmer ohne jede nachweisbare Ursache. Ich fürchtete hinzufallen; einen epileptischen Anfall zu bekommen u. dgl. ... Während der 80" Jahre hatte ich bei Frühaufstehen das eisige Gefühl einer Verlangsamung, des sich Konzentrirenmüssens um wenige Gedankeninhalte mit melancholischer Färbung, wie einer Einschränkung der ganzen Persönlichkeit und des gesamten Denkens, womit aber eine Verintensirung des spärlichen Vorstel­ lungsvermögens verknüpft war, bis gegen 10 Uhr Vormittags, und besonders mit dem Erscheinen der Sonne ... sich ziemlich plötzlich löste und dann grosse Euforie auftrat. Diese lästige Frühstimmung hat sich im Laufe der Jahre immer mehr gehoben.«1”

Panizza schloß sich immer mehr von der Außenwelt ab. Zutiefst enttäuscht zog er sich auch von seinen letzten Freunden und Ver­ wandten zurück. Ihnen allen misstraute er. Jeder Einzelne, so vermutete Panizza, spiele eine Rolle in der Komödie gegen ihn.199 Noch war es aber nur eine unheilverheißende Ahnung, dass alles irgendwie Zusammenhänge. »Ich bin offenbar anders als Andere organisirt, weil ich angesichts der Machinazjonen, die seit bald 2 Jahren um mich spielen, nicht lachen kann«200

Die für ihn plausibelste und verträglichste Erklärung aber war, dass

er durch den deutschen Kaiser verfolgt werde. Dies rückte auch ihn selbst in das Zentrum weltbedeutender Ereignisse. Letztlich drehte sich auch alles um ihn persönlich. Selbst die Ereignisse sei­ nes Alltags in Paris hatten weitreichende Relevanz. In den >Imperjalja< schilderte Panizza: »Im Winter 1901 auf 1902 wurde die ganze place des Abbesses erweitert und mit neuen prächtigen Blumen besteh. Im Frühjahr plaßirte man in die Mitte des Plazes auf einem Granitsokel einen Löwen in unerhörter Wildheit, mit furchtbar grimmigem Ausdruk, eine Kaze, die mit dem vollen Ausbruch eines feßellosen Ingrimms auf einen fingirten Gegner losfährt... Diese Beziehung war natür­ lich so deutlich, dass man keines Komentars bedurfte.«201

Später wurden sogar noch deutlichere Zeichen gesetzt. »Etwa 6 Wochen vor dem 14 Juillet begannen mir vis-à-vis aus den Fenstern Lichter aufzutauchen, deren eigentümlich weittragende Kraft und strahlenloser Effekt in gänzlich finsterem, meist men­ schenleeren Raum sie sofort als Signal-Lichter erkennen lies. Bald häuften sich diese Lichter über die ganze Faßadenfront bis zur Horizonthöhe nach Montmartre hinauf - 20-30-40 Lichter, zur Nacht, oft die halbe Nacht hindurch. Bald kamen sie auch rükwärts, nach der Seite von Paris, wohin ich schaute, glozten mir diese starren Lichtpunkte entgegen, und bald war kein Zweifel mehr: Diese Signallichter geben [64] mir avis, meine neugewonnene Freiheit sorgsam und mit Umsicht zu benuzen.« 202

So umfangreiche Vorgänge um ihn herum mussten doch auf eine ebenso große wie einflussreiche Organisation schließen lassen: »Es war eine ungeheure Organisazjon, die mich in masloses Erstaunen versezte. So gewaltig konten meine Bücher nicht gewirkt haben. Was ich konte, konten andre auch. Es war ein rätselhafter Punkt in dem Allem, den ich bis heute noch nicht gelöst habe.«203

Panizza spürte sich im Mittelpunkt all dieser Vorgänge, doch noch war die spezifische Botschaft für ihn selbst nicht zu erkennen. Panizza war davon überzeugt, dass die nächtlichen Illuminationen allerdings etwas bedeuten mussten und sah sich bestärkt mit sei­ nen literarischen Enthüllungen fortzufahren. Dann geschah wie­ der Außergewöhnliches. »Bald bemerkte ich, daß diese Lichter »winkten«, d.h. für einen Moment erloschen und dann wieder aufflamten. Noch überra­ schender war, daß, wenn ich mich [65] auf einer Bank in einer

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Anlage niederlies,... an irgendeinem Fenster ein genau ebensolches Licht aufzukte, das >marschirte