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German Pages 484 Year 2021
DO
= Designobjekt (product) F = Funktionen (functions) K = Konsument (user) Fp = praktische Funktionen (practical functions) Fpsp = produktsprachliche/ semantische Funktionen (product language/ sensual functions)
DO
Fz
= zeichenhafte/ semantische Funktionen (semantic functions) Ffä = formalästhetische Funktionen (formal aesthetic functions) Fanz = Anzeichenfunktionen (indicating functions) Fs = Symbolfunktionen (symbol functions)
F
Fp
K
Fpsp
Fz
Ffä Fanz
Fs
DER OFFENBACHER ANSATZ ZUR THEORIE DER PRODUKTSPRACHE Thilo Schwer Kai Vöckler (Hg.)
Design
Thilo Schwer (Dr. phil.), geb. 1973, ist Produktgestalter und Designwissenschaftler. Schwerpunkte seiner Arbeit liegen in der Theorie der Produktsprache, der Erforschung von Gestaltungsmitteln im Kontext zeitgenössischer Entwicklungen sowie den Methoden des Designs im Entwurfsprozess. Ab 2014 lehrt er an der HfG Offenbach, seit 2019 ist er Professor für Designgeschichte und -theorie an der HbK in Essen. Kai Vöckler (Dr. phil.), geb. 1961, ist Stiftungsprofessor für Kreativität im urbanen Kontext an der HfG Offenbach und Gründungsmitglied von »Archis Interventions«. Er führt Stadtentwicklungsprojekte in Deutschland und Südosteuropa sowie Stadtforschungsprojekte in Europa und Asien durch und kuratiert Ausstellungen an europäischen Kulturinstitutionen.
Der Offenbacher Ansatz
Zur Theorie der Produktsprache
DER OFFENBACHER ANSATZ ZUR THEORIE DER PRODUKTSPRACHE Diese Publikation wurde anlässlich des Jubiläums 50 Jahre HfG Offenbach – Kunsthochschule des Landes Hessen erstellt.
Herausgeber Thilo Schwer, Kai Vöckler Lektorat Sibylle Strobel → lektorat-strobel.de Engl. Lektorat Jill Denton Buchgestaltung Michel Bütepage Büro für Gestaltung → michelbuetepage.de Druck Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Die Publikation wurde gefördert durch die HfG Offenbach am Main. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons AttributionNonCommercial-NoDerivs 4.0 DE Lizenz (BY-NC-ND). Diese Lizenz erlaubt die private Nutzung, gestattet aber keine Bearbeitung und keine kommerzielle Nutzung. Weitere Informationen finden Sie unter: → creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/
© 2021 transcript Verlag, Bielefeld ISBN (Print): 978-3-8376-5569-8 ISBN (PDF): 978-3-8394-5569-2 → doi.org/10.14361/9783839455692 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: → transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter: → transcript-verlag.de/vorschau-download
EINLEITUNG 13 Vorwort
Bernd Kracke
15 Der Offenbacher Ansatz. Zur Einleitung Thilo Schwer, Kai Vöckler
ARCHIV 27 Designtheorie auf neuem Wege. Anfänge, Etappen und Kontexte des Offenbacher Ansatzes Dagmar Steffen
38 Dialektik der Gestaltung Jochen Gros (1971)
66 Sinn-liche Funktionen im Design Jochen Gros (1976)
85 Formalästhetische Funktionen Lore Kramer (1978)
88 Grundlagen einer Theorie der Produktsprache. Einführung Jochen Gros (1983)
123 Grundlagen einer Theorie der Produktsprache. Anzeichenfunktionen Richard Fischer, Gerda Mikosch (1984)
184 Grundlagen einer Theorie der Produktsprache. Symbolfunktionen Jochen Gros (1987)
208 Wie kommt ein ›funktionalistischer Designer‹ zum Ornament? Richard Fischer (2000)
213 des-in – ein neues Ornarment? Weniger Konsum durch mehr Sinnlichkeit – Produkte als Leitbilder zur Umweltfreundlichkeit »des-in Arbeitsgruppe« (1974)
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KONTEXT 225 Kontexte. Zur Vorgeschichte des »Offenbacher Ansatzes« Petra Eisele
233 Stilwandel unter Mitsprache des Designs Rückblick auf die Entwicklung und den Gebrauch der Theorie der Produktsprache Jochen Gros
248 »… im Rückblick habe ich schon den Eindruck, dass wir für lange Zeit Avantgarde waren. « Bernhard E. Bürdek (2010)
257 »Für uns stand dagegen immer der praktizierende Designer im Vordergrund.« Jochen Gros (2009)
269 Design muss Sinn machen. Zu einer neuen Designtheorie Klaus Krippendorff (1989)
284 »Man schafft keine Theorie des Designs, indem man sich einfach nur im diskursiven Raum aufhält …« Gui Bonsiepe, Hugo Palmarola (2001)
289 »… mit dieser Theorie kann nur umgehen, wer auch aktiv gestaltet« Petra Kellner
296 »Es ging darum, durch Design zu umweltbewussten Lösungen zu kommen.« Philine Bracht
300 Der diskrete Charme der Ökologie Werner Lorke
304 Entfernung Luftlinie 18,3 km: Design in Offenbach und Kronberg. Produktsprachen bei Dieter Rams/Braun und an der HfG Offenbach Klaus Klemp
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310 Horst Oehlke und der erweiterte Funktionalismus in der DDR Siegfried Gronert
325 Functional, Beautiful, and Meaningful Products Designed To Be Loved … Josiena Gotzsch
POSITIONEN 333 Design Discourse Klaus Krippendorff
342 Vom Design Turn zum Project Turn Gui Bonsiepe (2016)
351 Schnee und öffentlicher Raum. Über das Verhältnis von Design und Sprache im öffentlichen Interesse. Peter Eckart
362 In-Formation. Zur produktsprachlichen Analyse von Mobilitätsprozessen Kai Vöckler
383 Die Bedeutung der Produktsprache für die Gestaltung interaktiver Medien Andrea Krajewski
392 »Wir müssen die Schnittstelle zur Gesellschaft und unseren Auftraggebern besser gestalten …« Sebastian Oschatz
398 Produktsprache, unter anderem Frank Zebner
402 Der Offenbacher Ansatz – und was aus der Produktsprache heute wird Martin Gessmann
407 »Gestalterischer Alltag ist kein Wettbewerb um die beste gestalterische Lösung, sondern um die beste Begründung!« Alex Buck
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412 »Design muss als politisch hoch aufgeladene Praxis gelehrt werden …« Georg-Christof Bertsch
417 Vom erweiterten Funktionalismus zur erweiterten Symbolfunktion: Resonanzerfahrungen in der Sozial- und Fiktionsdimension Thilo Schwer
432 Gestaltung in einer digitalen Welt – zur Designforschung und der Simultanität intuitiver und systemischer Prozesse im Materialdesign Markus Holzbach
ANHANG 449 Biografien 47 7 Danksagung 478 Bildnachweis
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EINLEITUNG
BERND KRACKE PRÄSIDENT, HOCHSCHULE FÜR GESTALTUNG OFFENBACH AM MAIN
Vorwort Die Hochschule für Gestaltung (HfG) Offenbach zeichnet sich durch ihre innovative Kraft aus. Die kreativen Antworten und Lösungen, die an der HfG für wissenschaftliche, gesellschaftliche und politische Fragen gefunden werden, helfen Dinge in einer immer unübersichtlicher werdenden Welt besser zu verstehen – heute, morgen und gestern. So ist unser Jubiläumsjahr 50 Jahre HfG Offenbach (1970–2020) als Kunsthochschule des Landes ein Anlass zur Reflexion; in der Gegenwart und für die Zukunft müssen und wollen wir uns der eigenen Geschichte bewusst sein. Ein Meilenstein in unserer Historie ist der sogenannte Offenbacher Ansatz, eine praxisorientierte Theorie der Produktsprache, die Anfang der 1980er-Jahre an der HfG im Fachbereich Produktgestaltung (heute Fachbereich Design) entwickelt wurde und die exemplarisch zeigt, wie gestalterische und künstlerische Forschung an einer Hochschule verankert werden können und wie relevant sie für die gestalterischen Disziplinen sind. Der Offenbacher Ansatz ist in engem Zusammenhang zu sehen mit der Umwandlung der Vorgängerinstitution Werkkunstschule in eine Hochschule für Gestaltung im Jahr 1970. Es wurde bewusst eine programmatische Ausrichtung gewählt, die einer universitären, durch einen Forschungsund Theorieanteil geprägten Lehre den Vorzug gab. Dazu kam eine explizit künstlerische Ausrichtung, die auch das (Produkt-)Design einschloss. Bernd Kracke Vorwort
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Der Offenbacher Ansatz richtete den Blick vom Gegenstand auf die Mensch-Objekt-Beziehung, in der semantische und symbolische Dimensionen eine Rolle spielen. Designobjekte wurden nicht mehr nur als Funktionsträger verstanden, sondern als Informations- bzw. Bedeutungsträger. Der Offenbacher Ansatz und die dazu entwickelten Methoden einer praxisorientierten Reflexion über Design haben in der nationalen wie internationalen Designszene höchste Reputation erlangt. Die Theorie der Produktsprache wird nicht nur bis heute an unserer Hochschule gelehrt, sondern darüber hinaus generell in zeitgenössischen Einführungen zur Designtheorie vermittelt. Das seit 2010 etablierte Promotionsprogramm an der HfG, das in einem speziellen Modell Forschung und Theoriebildung mit künstlerischer Forschung bzw. Designforschung verknüpft, ist somit als folgerichtige Entwicklung zu sehen. So unterstreicht die vorliegende Publikation mit Beiträgen von Alumni, Emeriti und aktiv Lehrenden der HfG sowie einflussreichen Designtheoretikerinnen und Designtheoretikern die Bedeutung dieses designtheoretischen Diskurses und führt ihn in die Gegenwart. Hier sei exemplarisch der LOEWE-Forschungsschwerpunkt zur Gestaltung umweltfreundlicher Mobilität (seit 2018 an der HfG im Verbund mit anderen hessischen Hochschulen eingerichtet) genannt, der verdeutlicht, wie die Etablierung einer eigenständigen Designforschung zu einer Profilierung im Wissenschaftsbereich führt. Der vorliegende Sammelband bietet eine spannende, zugleich zeitlose und aktuelle Diskussion, die den Offenbacher Ansatz und das daraus entwickelte Theoriegebäude mit Leben füllt und vor dem Hintergrund der neuen Rahmenbedingungen weiterentwickelt. 14
Bernd Kracke Vorwort
THILO SCHWER & KAI VÖCKLER
Der Offenbacher Ansatz. Zur Einleitung
Vor 50 Jahren erlebte das Design eine Zeit der Unsicherheit: Gesellschaftliche Diskurse, Krisen und eine zunehmende Komplexität der Entwurfsaufgaben wirkten auf die Disziplin. Der Funktionalismus, das spürten viele, reichte nicht mehr aus, um zukunftsfähige Lösungen für die Gesellschaft zu formulieren. Manche reagierten mit einer Forderung nach einer maximalen Freiheit für das entwerfende Subjekt.1 Andere wollten den Funktionalismus weiterentwickeln2 oder um eine ganze Reihe entwurfsbestimmender Faktoren erweitern, bis hin zur umfassenden Umweltgestaltung und einem entgrenzten Designbegriff.3 An der Hochschule für Gestaltung in Offenbach reagierte man mit einer Gliederung des Diplomstudiengangs in »Kenner- und Könnerbereiche«. Im Kennerbereich wurden Kenntnisse in jenen Disziplinen vermittelt, die einen großen Einfluss auf die Gestaltung ausüben, etwa im Rahmen von psychologischen, ergonomischen, sozialen, historischen, wirtschaftlichen oder technischen Fragestellungen. Im Könnerbereich ging es hingegen um die Ausbildung einer spezifischen Fachkompetenz, welche Designerinnen und Designer zur Arbeit in interdisziplinären Teams qualifizieren sollte.4 Diese Gliederung zielte auf der einen Seite auf eine Disziplinbildung mit präzisem Designbegriff. Auf der anderen Seite sollten Kenntnisse aus den BezugsThilo Schwer, Kai Vöckler Der Offenbacher Ansatz. Zur Einleitung
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wissenschaften in die Ausbildung integriert werden – jedoch ausdrücklich nicht mit dem Ziel, sie in die Fachtheorie integrieren zu wollen. Die Theorie der Produktsprache mit ihrem Blick auf die Mensch-ObjektBeziehung bildete den Kern des Curriculums und der Forschung an der HfG. Die Ergebnisse der disziplinären Theoriebildung publizierte der Fachbereich in den 1980er Jahren in einer vierbändig geplanten, letztlich dreibändigen Publikationsreihe. Die im allgemeinen Sprachgebrauch als Offenbacher Ansatz bezeichnete Neuausrichtung stellt die designgeschichtlich außerordentlich wichtige Hinwendung zur semantischen Dimension von Produkten dar: dass diese eben nicht nur Funktions-, sondern auch Informationsträger sind. Ihren Ursprung hatte diese Thematisierung der Bedeutungsebene von gestalteten Produkten in der Auseinandersetzung mit der Semiotik und ihrer Anwendung auf die Produktgestaltung, wie sie beispielsweise Max Bense5 oder Klaus Krippendorff 6 an der HfG Ulm in den 1960er Jahren führten. Weiterer Ausgangspunkt war die Diplomarbeit von Jochen Gros, entstanden 1973 nach seinem Studium am Nachfolgeinstitut der HfG Ulm, dem IUP (Institut für Umweltplanung), sowie der SHFBK in Braunschweig bei Siegfried Maser zum Thema »Erweiterter Funktionalismus und Empirische Ästhetik«. Jochen Gros entwickelte den designtheoretischen Ansatz dann nach seiner Berufung an die HfG Offenbach in der Diskussion und mit Beteiligung anderer Lehrender weiter: Zu nennen sind hier insbesondere Richard Fischer, der maßgeblich mitwirkte, aber auch Mitarbeiterinnen wie Dagmar Steffen und Gerda Mikosch, die als Ko-Autorinnen eine wichtige Rolle spielten. 16
Thilo Schwer, Kai Vöckler
Das Besondere war, dass sich zu dieser Zeit alle Lehrenden des Fachbereichs an der Auseinandersetzung um die Ausformulierung einer Produktsprache beteiligten, so Bernhard E. Bürdek, Lore Kramer, Petra Kellner und Dieter Mankau. Die Untersuchungsfelder wurden dann in der Publikationsreihe aufgeteilt: Die grundlegende theoretische Einführung im Band 1 übernahm 1983 Jochen Gros. Er griff hierfür auf frühere eigene Publikationen zurück, wie »Dialektik der Gestaltung« (1971) und insbesondere seinen zweiteiligen Beitrag für die Zeitschrift form 1976 mit dem Titel »Sinn-liche Funktionen im Design«, in dem bereits die grundlegende Struktur einer Produktsprache vorgestellt wird. Richard Fischer untersuchte (mit Unterstützung von Gerda Mikosch) die Anzeichenfunktionen im Folgeband von 1984. Die davor geplante, von Dieter Mankau zu verantwortende Publikation zu den formalästhetischen Funktionen kam leider nicht zustande. (Diese wurden dann erst 2000 in Dagmar Steffens Publikation »Design als Produktsprache« ausführlicher behandelt.7) Aus diesem Grund haben wir eine kurze Zusammenfassung zu diesem Funktionsbereich von Lore Kramer aus der damaligen Zeit aufgenommen, die eine die einzelnen Lehrgebiete übergreifende Einbindung der Produktsprache aufzeigt. Zum Abschluss wurde 1987, und zwar wiederum von Jochen Gros, der Band zu den Symbolfunktionen in der Publikationsreihe vorgelegt. Ergänzend sind zwei weitere aus unserer Sicht wichtige historische Dokumente in den archivarischen Teil des vorliegenden Sammelbands eingegliedert worden, die die Spannweite des damaligen Designdiskurses an der HfG Offenbach aufzeigen: einerseits der WettbeDer Offenbacher Ansatz. Zur Einleitung
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werbsbeitrag der Des-In-Gruppe zur Ausschreibung »Produkt und Umwelt« des Internationalen Design Zentrums Berlin (IDZ)8 und andererseits Richard Fischers Auseinandersetzung mit dem Ornament9 aus dem Jahr 2000. Hier reflektierte Fischer kurz vor seiner Emeritierung die eigene Position als funktionalistischer Gestalter und den Einsatz von gestalterischen Mitteln, insbesondere der Anzeichenfunktion. Es wird an dieser Stelle nicht weiter auf die außerordentliche Bedeutung der Theorie der Produktsprache für eine designtheoretische Neuausrichtung eingegangen – dies ist bereits an anderer Stelle geschehen.10 Dass sie, obwohl bedauerlicherweise nie auf Englisch publiziert, auch international viel Beachtung fand, ist sicherlich nicht zuletzt der Thematisierung durch Bernhard E. Bürdek zu verdanken – ebenfalls Lehrender an der HfG Offenbach (und ebenso wie Richard Fischer Alumnus der HfG Ulm). In seiner 1991 erstmals auf Deutsch erschienenen Publikation »Design. Geschichte, Theorie und Praxis der Produktgestaltung« stellte Bürdek unter anderem die Theorie der Produktsprache vor. Dieses Buch erschien später in englischer Sprache und erfuhr in der Folge mehrere Neuauflagen und weitere Übersetzungen. Das trug sicherlich auch zur internationalen Rezeption des Offenbacher Ansatzes bei.11 Da viele der hier genannten Originaldokumente nicht oder nur noch antiquarisch verfügbar sind, war es ein besonderes Anliegen, sie im vorliegenden Band wieder zugänglich zu machen.12 Um aber zudem die Entstehungsgeschichte und den damaligen Diskurs um die Entwicklung einer disziplinären Theorie des Designs besser nachvollziehbar zu machen, wurden neben Interviews mit maßgeblich beteiligten Akteurinnen 18
Thilo Schwer, Kai Vöckler
und Akteuren Einführungen in den Entstehungskontext und Rückblicke aufgenommen. Nicht zuletzt wird die Rezeption in der DDR durch Siegfried Gronert behandelt. Hinzu kommen Beiträge von Gui Bonsiepe und Klaus Krippendorff, zwei international bedeutenden Designtheoretikern. Wie sie sich zur Entwicklung einer neuen Auffassung der Produktgestaltung positionieren, trägt aus unserer Sicht viel zum Verständnis des designtheoretischen Kontexts bei. Die Auseinandersetzung wurde ja unter anderem mit den beiden Genannten vor Ort in Offenbach auf Workshops und Konferenzen geführt und ist hier ebenfalls dokumentiert.13 Rückblickend lässt sich feststellen: Mit der Theorie der Produktsprache wurde – wie mit der Product Semantics von Klaus Krippendorff und Reinhard Butter und der Design Semiotics von Susann Vihma – eine »semantische Wende« (Klaus Krippendorff) in der Designtheorie eingeleitet, die bei aller Unterschiedlichkeit der genannten Ansätze nicht nur einen Perspektivenwechsel, sondern ein neues Verständnis von Produktgestaltung nach sich zog.14 Die Theorie der Produktsprache hat bis heute in der Lehre am Fachbereich Design der HfG Offenbach (vormals Produktgestaltung) einen hohen Stellenwert. Das lässt sich aus ihrem Praxisbezug erklären: Die Diskussion und Sammlung von Präzedenzfällen, von Anwendungsbeispielen, und einer daraus abgeleiteten Hypothesenbildung, die auf die gesellschaftlichen und technologischen Veränderungen reagiert und den produktsprachlichen Ansatz kontextualisiert, gab und gibt den Studierenden eine am konkreten Objekt entwickelte Analysemethodik an die Hand. Entscheidend dabei ist, dass mit den Studierenden eine Der Offenbacher Ansatz. Zur Einleitung
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Interpretationsgemeinschaft gebildet wird, die in der professionellen Analyse von Designobjekten schult. Es ist die Strukturierung der Gestaltungsaufgaben, die durch die Produktsprache ermöglicht wird und den Studierenden bis heute hilft, ihr Wahrnehmungs-, aber auch ihr Artikulationsvermögen zu verfeinern: Wesentlicher Bestandteil des Offenbacher Ansatzes ist die Entwicklung einer differenzierenden Fachsprache und deren Einübung.15 Das lässt in der Lehre die begriffliche Fassung von Gestaltungsaspekten zu, die je nach Problemstellung immer wieder neu auszuformulieren ist und auf diese Weise den Entwurf vorstrukturiert. Doch bekommen die Studierenden damit auch das nötige Instrumentarium vermittelt, um in ihrer späteren beruflichen Praxis fundiert Gestaltungsentscheidungen kommunizieren zu können – was in diesem Band von den Lehrenden, die parallel in der Designpraxis zu Hause sind, aus eigener Erfahrung bestätigt wird. Wir haben alle Lehrenden des Fachbereichs Design für die vorliegenden Beiträge gewinnen können, und in einem Fall mit der HfG-Alumna und heute an der Hochschule Darmstadt lehrenden Andrea Krajewski eine Kollegin, mit der wir aktuell in der Designforschung eng verbunden sind. Wir haben sie alle um eine Positionierung zur Theorie der Produktsprache, um eine Einschätzung deren Bedeutung gebeten, aber auch nach der Relevanz für die eigene Lehre und Forschung gefragt. Die vielfältigen Bezüge und kritischen Einlassungen der Beitragenden sollen hier nicht resümierend zusammengefasst werden. Doch wollen wir einleitend darauf hinweisen, dass die unterschiedlichen Positionen durchaus Perspektiven einer Neuausrich20
Thilo Schwer, Kai Vöckler
tung und Erweiterung der Theorie der Produktsprache bieten – was hier (noch) nicht geleistet werden kann. Insofern sehen wir die Ausführungen der Kolleginnen und Kollegen als den Beginn einer noch zu führenden Diskussion. An dieser Stelle nur einige Hinweise dazu: Im Rückblick wird deutlich, dass mit der Theorie der Produktsprache wichtige Ansätze zum Verständnis der Mensch-Objekt-Beziehung entwickelt wurden. Damit einher ging ein Beitrag zur Ausformulierung der für die Gestaltung grundlegenden Erkenntnis, dass die Interaktion des Menschen mit seiner Umwelt die eigentliche Gestaltungsaufgabe darstellt und ohne eine an den Nutzenden, ihren Wünschen und Bedürfnissen ausgerichtete Entwurfsmethodik nicht zu haben ist. Der anwendungsbezogene Ansatz der Theorie der Produktsprache hat sich dabei als äußerst fruchtbar erwiesen. Allerdings sind, das sei kritisch angemerkt, einige Aspekte bei der Formulierung der Gestaltungsaufgabe noch genauer zu fassen. Dazu gehören beispielsweise die Kontextualisierung des Nutzungsakts selbst und die Einbindung sowohl sozial- und verhaltenswissenschaftlicher als auch psychologischer Erkenntnisse bei der Berücksichtigung der Nutzerperspektive. Neue Erkenntnisse müssen in die Ausformulierung der Begriffsbereiche einfließen. Auf der anderen Seite ergibt sich durch den Übergang vom Objekt auf den Prozess ein verändertes Handlungsfeld, dessen Charakteristik in einem produktsprachlichen Ansatz reflektiert werden muss. Das betrifft insbesondere die Berücksichtigung der sozio-kulturellen und gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen – hier hat die Theorie der Produktsprache bereits wichtige Impulse gesetzt, die es weiterzutreiben gilt. Die praktischen Funktionen, Der Offenbacher Ansatz. Zur Einleitung
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der Gebrauch von Produkten (wie er in den Anzeichenfunktionen behandelt wird), bedürfen ebenfalls noch einer differenzierteren Ausformulierung, insbesondere, was die Materialität der Dinge neben ihrer Zeichenhaftigkeit und Bedeutungsdimension betrifft. Dass die Digitalisierung als technologische Innovation zu einer der großen Herausforderungen bei der Bestimmung der Aufgaben des Designs als Vermittlerin zwischen Mensch und technischem System geworden ist, erscheint uns evident. Hier werden mit der zunehmenden Bedeutung von KI-Systemen in der Alltagswelt die designpraktischen Aufgaben eben auch theoretisch zu reflektieren sein. Das bedeutet selbstverständlich, den zeitgenössischen Designdiskurs bei einer Neuausrichtung und Erweiterung der Produktsprache kritisch aufzunehmen. Doch gilt es ebenso, eine Auseinandersetzung mit den Technikwissenschaften zu leisten, vor allem mit der Informatik. Die Beiträge in diesem Sammelband liefern dazu aus unserer Sicht wichtige Hinweise. Vor dem Hintergrund, dass sich der Gestaltungsbereich des Designs von Produkten und Kommunikation auf Systeme, Prozesse und Räume erweitert hat, ist nicht zuletzt das Verhältnis zu den benachbarten Gestaltungsdisziplinen, der Architektur und der Kunst, zu klären. Sowohl, was die Eingrenzung der disziplinären Zugänge, als auch, was eine übergreifend geteilte Gestaltungsperspektive betrifft. Eine Debatte, die gerade an einer Kunsthochschule, die 2020 ihr 50jähriges Bestehen feiert, zentral ist. Dass sie durchaus kontrovers geführt wird, zeigt das Beispiel der Vorgängerinstitution HfG Ulm. Möglicherweise kommt die Diskussion zu keinem Ende, aber in einer sich dynamisch verändernden Welt 22
Thilo Schwer, Kai Vöckler
(und den sich entsprechend ständig neu ausrichtenden Gestaltungsdisziplinen) kann der Diskussionsprozess konstruktiv dazu genutzt werden, die eigene Position – immer wieder, erneut und neu – zu bestimmen. Der vorliegende Sammelband soll dazu einen Beitrag leisten. ↳
Produkt (product)
Benutzer (user)
Funktionen (functions)
praktische Funktionen (practical functions)
produktsprachliche/ sinnliche Funktionen (product language/ sensual functions)
zeichenhafte/ semantische Funktionen (semantic functions)
formalästhetische Funktionen (formal aesthetic functions)
Anzeichenfunktionen (indicating functions)
Symbolfunktionen (symbol functions)
⏺ Modell der Theorie der Produktsprache
Der Offenbacher Ansatz. Zur Einleitung
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↳ 1 Vgl. hierzu beispielsweise Nehls, Werner: Die heiligen Kühe des Funktionalismus müssen geopfert werden. In: form, Zeitschrift für Gestaltung, 43, 1968, S. 4. 2 Moles, Abraham: Die Krise des Funktionalismus. In: form, Zeitschrift für Gestaltung, 41, 1968, S. 36., S. 36. 3 Vgl. hierzu beispielsweise die drei form-Beiträge von Gerda MüllerKrauspe: Müller-Krauspe, Gerda: Opas Funktionalismus ist tot. In: form, Zeitschrift für Gestaltung, 46, 1969, S. 29–33; Müller-Krauspe: Design-Ideologien 2: Styling – das Prinzip der Diskontinuität. Der Standort des Industrial Design – gestern, heute und morgen. In: form, Zeitschrift für Gestaltung 47, 1969, S. 31–35; Müller-Krauspe: Design-Ideologien 3: Industrial Design morgen – Alternativen. Zum Standort des Industrial Design – Tendenzen und Prognosen. In: form, Zeitschrift für Gestaltung 48, 1969, S. 9–13. 4 Fachbereich Produktgestaltung. In: hfg forum 4 – Zeitung der Hochschule für Gestaltung Offenbach/Main, 4, 2. Jg., Wintersemester 1979/1978. 5 Bense, Max: Zeichen und Design. Semiotische Ästhetik. BadenBaden 1971. 6 Krippendorff, Klaus: Über den Zeichen- und Symbolcharakter von Gegenständen. Versuch einer Zeichentheorie für die Programmierung von Produktformen in sozialen Kommunikationsstrukturen. Diplomarbeit Hochschule für Gestaltung Ulm 1961. 7 Steffen, Dagmar: Design als Produktsprache. Der ›Offenbacher Ansatz‹ in Theorie und Praxis. Frankfurt/Main 2000. (Mit Beiträgen von Bernhard E. Bürdek, Volker Fischer, Jochen Gros.) 8 Gros, Jochen u. a.: Des-In – ein neues Ornament? Weniger Konsum durch mehr Sinnlichkeit – Produkte als Leitbilder zur Umweltfreundlichkeit. In: Produkt und Umwelt, Ergebnisse einer Ausschreibung. Hg. vom Internationales Design Zentrum Berlin (IDZ). Berlin 1974. S. 58–76. 9 Fischer, Richard: Wie kommt ein ›funktionalistischer Designer‹ zum Thema Ornament? In: hfg forum, 17, 2000. Hg. vom Präsidenten der Hochschule für Gestaltung Offenbach/Main. S. 18–21. 10 Vgl. Mareis, Claudia: Theorien des Designs zur Einführung. Hamburg 2014, S. 96-101. Für Mareis findet mit der Theorie der Produktsprache ein Paradigmenwechsel in der Designtheorie statt. 11 Vgl. Bürdek, Bernhard E.: Design Geschichte, Theorie und Praxis der Produktgestaltung. Köln 1991. 12 Verknüpft mit einer Open-Access-Funktion: Die Originaldokumente stehen jetzt vollständig als Download der Bibliothek der HfG Offenbach zur Verfügung. 13 Siehe die Beiträge in diesem Band. Vgl. auch Bonsiepe, Gui: Interface. Design neu begreifen. Mannheim 1996; Krippendorff, Klaus: The semantic turn. A new foundation for design. New York 2006 (dt. Ausgabe: Die Semantische Wende. Eine neue Grundlage für Design. Basel 2013). 14 Vgl. Steffen, Dagmar: Praxisintegrierende Designforschung und Theoriebildung. Analysen und Fallstudien zur produktiven Vermittlung zwischen Theorie und Praxis. Diss., Bergische Universität Wuppertal 2011, , 15.06.2020. Vgl. auch Krippendorff, Klaus; Butter, Reinhard: Product Semantics. Exploring the Symbolic Qualities of Form. In: Innovation, Bd. 3, Nr. 2, 1984, S. 4–9,