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German Pages 274 Year 2014
Uta Degner, Norbert Christian Wolf (Hg.) Der neue Wettstreit der Künste
Uta Degner, Norbert Christian Wolf (Hg.) Der neue Wettstreit der Künste. Legitimation und Dominanz im Zeichen der Intermedialität
Die hier dokumentierten Workshops sowie die vorliegende Publikation wurden aus Mitteln des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft getragenen Sonderforschungsbereichs 626 »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« finanziert.
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Inhalt
Intermedialität und mediale Dominanz Einleitung
Uta Degner / Norbert Christian Wolf 7 Frühgeschichte der Intermedialität: Flaubert
Joseph Jurt 19 Medienkonkurrenz und literarische Selbstlegitimierung bei Thomas Mann
Rolf J. Goebel 41 »Eine neue Vorstellung von Kunst« Intermediale Usurpationen bei Bertolt Brecht und Elfriede Jelinek
Uta Degner 57 High and Low: Mediale Dominanzbildungen bei Peter Handke
Norbert Christian Wolf 77 Schall-dichte Echoräume Die Transformation der Massenmedien im Gedicht
Jan Röhnert 99 Joystick und Kamera Aspekte der Intermedialität von Spielfilm und Computerspiel
Jörg Helbig 115
Zur (inter)medialen Praxis des Fernsehens Mediale Felder, Macht, symbolisch-materielle Güter und Habitus – oder Bourdieu re-visited
Jürgen E. Müller 127 Werbung und die Künste Parasitäre, symbiotische und paragonale Intermedialität
Winfried Nöth 145 Graphic Novel – eine ›illegitime‹ Medienkombination?
Thomas Becker 167 Im Museum abhängen Zum Verhältnis von ›legitimer‹ Kunst und Comic in Arzach
Gernot Waldner 187 Welt-Räume der Mediendominanz Kubricks und Clarkes 2001 als rekursive Odyssee
Burkhardt Wolf 209 Intermedialität und mediale Dominanz Typologisch, funktionsgeschichtlich und akademisch-institutionell betrachtet
Werner Wolf 241 Beiträgerinnen und Beiträger 261 Register 265
Intermedialität und mediale Dominanz Einleitung Uta Degner / Norbert Christian Wolf
Intermedialität stellt unleugbar eines der dominierenden Phänomene in der Kunst des 20. Jahrhunderts dar. Die Intermedialitätsforschung hat sich bisher jedoch vor allem auf die Phänomenbeschreibung und -klassifikation beschränkt, hingegen noch kaum die funktionsgeschichtlichen und funktionstheoretischen Implikationen beleuchtet, welche die zunehmende intermediale Tendenz der Künste besitzt.1 Ist im vergangenen Jahrhundert in den Künsten wirklich, wie man immer wieder hört, eine Spielwiese des anything goes entstanden, welches das alte, unter anderem auch hierarchisch gegliederte System der Künste auf- und abgelöst hat? Spielt die Frage nach künstlerischer Dominanz überhaupt noch eine Rolle? Neuere Publikationen zum Verhältnis von Kunst, Musik, Literatur und Film betonen die Relevanz des Dominanzbegriffs für ein Verständnis der »spezifische[n] Konstitution und Wirksamkeit« intermedialer Produkte und schlagen eine Differenzierung von Formen der Dominanzbildung nach »Verfertigungsprozess, Produkt und Rezeption«2 vor: »Aus der gezielten Bezugnahme zwischen zwei Medien resultiert zwangsläufig ein Effekt in ihrem hierarchischen Verhältnis zueinander, der sich als ›Dominanz‹ niederschlägt. Das eine Medium wird dabei gegenüber dem anderen nicht nur als das vorherrschende, sondern auch als das beherrschende 1 | Neuerdings fordert sie freilich selbst »funktionstheoretische und funktionsgeschichtliche Perspektiven« (Werner Wolf: »Intermedialität – ein weites Feld und eine Herausforderung für die Literaturwissenschaft«, in: Herbert Foltinek/Christoph Leitgeb (Hg.): Literaturwissenschaft – intermedial, interdisziplinär, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2002, S. 163– 192, hier: S. 187). 2 | Corinna Caduff/Sabine Gebhardt Fink/Florian Keller/Steffen Schmidt: Die Künste im Gespräch. Zum Verhältnis von Kunst, Musik, Literatur und Film, München: Fink 2007, S. 102–117, hier: S. 102, wo Dominanzbildung indes nur in Hinblick auf Bimedialität reklamiert wird. Vgl. auch Werner Wolf: »Intermedialität«, in: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart, Weimar: Metzler 2 2001, S. 284 f.
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definiert. Derartige Hierarchien sind bedingt durch Gattung und Genre sowie vor allem durch deren Geschichte, und sie lassen sich beispielsweise an der Beziehung von Musik und Sprache in der Oper, oder an der Beziehung von Bild und Sprache im Film nachvollziehen.«3
In der Intermedialitätsforschung wird allerdings häufig vernachlässigt, dass die Frage nach Dominanz und ›Herrschaft‹ nicht aus medialen Gegebenheiten allein abgeleitet werden kann, sondern stets in einer Relation zu den unterschiedlichen Legitimitätsgraden der einzelnen Künste und Gattungen beziehungsweise Genres steht, was sich etwa in der nach wie vor bestehenden Differenz zwischen high und low niederschlägt.4 Der Anspruch auf Dominanz wird nicht nur in und von einzelnen Kunstwerken ausagiert; die unterschiedlichen Künste selbst stehen in einem Machtgefälle zueinander, zu welchem die einzelnen Dominanzbildungsversuche individueller Kunstwerke in ein Verhältnis zu setzen sind. Ein möglicher theoretischer Ansatz, den Zusammenhang von Intermedialität und medialen Dominanzbildungen zu modellieren, dem aber nur manche der im Folgenden dokumentierten Aufsätze folgen, besteht in einer kultursoziologischen Perspektive, wie sie Pierre Bourdieu in seinem Grundlagenwerk Les règles de l’art (Die Regeln der Kunst) umfassend dargestellt hat: Sie erlaubt es, bisher unterrepräsentierte Aspekte der sozialen Agonalität und der Machtverhältnisse innerhalb intermedialer Praktiken in den Blick zu nehmen, ohne aber die mit diesen verbundene ästhetische Konzeption und Erfahrung zu einem bloßen Epiphänomen zu degradieren. Im Gegenteil: Indem er die Felder der kulturellen Produktion als Raum spezifischer sozialer Konkurrenz versteht, ermöglicht dieser Zugang, den Bereich des Ästhetischen als genuines Medium gesellschaftlicher Auseinandersetzung zu analysieren, das idealiter keinem anderen Kriterium als jenem der Interesselosigkeit und der Innovativität zu entsprechen hat.5 Bourdieus Frage nach der sozialen Transzendentalität der 3 | Corinna Caduff/Sabine Gebhardt Fink/Florian Keller/Steffen Schmidt: »Intermedialität«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 51 (2006) 2, S. 211–237, hier: S. 212. 4 | Vgl. auch die Hinweise in Caduff/Gebhardt Fink/Keller/Schmidt: Die Künste im Gespräch, S. 9–22 u. S. 139–149. 5 | Eine Auseinandersetzung der Literatur- und Kulturwissenschaften mit der Feldtheorie Pierre Bourdieus hat gerade erst begonnen. Vgl. Joseph Jurt: Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995; Louis Pinto/Franz Schultheis (Hg.): Streifzüge durch das literarische Feld [. . .], Konstanz: UVK 1997; Markus Joch/Norbert Christian Wolf (Hg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissen8
Intermedialität und mediale Dominanz
(autonomen) ästhetischen Erfahrung zielt auf eine »geschichtliche Anamnese« des historischen Aprioris: Unter welchen historischen und sozialen Voraussetzungen entstehen, so seine Frage, »die Dispositionen und Klassifikationsschemata, die die Bedingungen der ästhetischen Erfahrung sind, wie sie naiv von der Wesensanalyse beschrieben wird?«6 Die Behauptung einer historischen und sozialen Transzendentalität ästhetischer Erfahrung bezieht sich allerdings nicht nur auf den gesamten sozialen Raum, in dem Bourdieu ihre verschiedenen Erscheinungsweisen bereits einer eingehenden Analyse unterworfen hat,7 sondern genauso auf die spezifischen künstlerischen Produktionsfelder. Die jeweiligen Positionsnahmen zur Frage der ästhetischen Erfahrung intermedialer Verfahren müssten demnach an ihre jeweiligen sozialen Bedingungen der Möglichkeit zurückgebunden und dadurch soziologisch motiviert werden. Konkret heißt das, dass Bourdieus »Hypothese einer Homologie zwischen dem Raum der durch ihren symbolischen Gehalt und insbesondere durch ihre Form definierten Werke und dem Raum der Positionen innerhalb des Produktionsfelds«8 auch für intermediale Werke und ihre Urheber zu überprüfen ist. Die Produktions- und die Rezeptionsseite der ästhetischen Erfahrung sind dem Bourdieu’schen Modell zufolge auf gleichsam dialektische Art und Weise miteinander verschränkt: Der avantschaftlichen Praxis, Tübingen: Niemeyer 2005; vgl. außerdem die Sonderhefte folgender Zeitschriften: Internationales Archiv für die Sozialgeschichte der Literatur 29 (1997) 2, S. 109–180 [Schwerpunkt: Die Literatur- und Kultursoziologie Pierre Bourdieus]; Modern Language Quarterly 58 (1997) 4, S. 367–508 [Special Issue: Pierre Bourdieu and Literary History]; SubStance Nr. 93, 29 (2000) 3, S. 1–151 [Special Issue: Pierre Bourdieu]. Nur vereinzelt gerieten dabei Produktionen des 20. Jahrhunderts in den Blick; vgl. Verena Holler: Felder der Literatur. Eine literatursoziologische Studie am Beispiel von Robert Menasse, Frankfurt am Main u. a.: P. Lang 2003; Matthias Beilein: 86 und die Folgen. Robert Schindel, Robert Menasse und Doron Rabinovici im literarischen Feld Österreichs, Berlin: Erich Schmidt 2008; Markus Joch/York-Gothart Mix/Norbert Christian Wolf unter Mitarbeit von Nina Birkner (Hg.): Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart, Tübingen: Niemeyer 2009. 6 | Pierre Bourdieu: »Die historische Genese einer reinen Ästhetik«, in: Gunter Gebauer/Christoph Wulf (Hg.): Praxis und Ästhetik. Neue Perspektiven im Denken Pierre Bourdieus, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 14–32, hier: S. 16 f. 7 | Vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982. 8 | Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 328. 9
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gardistische Produzent kann sich nur behaupten, wenn seine Produktion als eine adäquate, innovative Antwort auf die aktuelle Feldkonstellation zu verstehen ist; er muss sich also – bewusst oder unbewusst – zu den bestehenden Positionen ästhetischer Erfahrung distinktiv verhalten. Zudem besteht die Innovationskraft der Avantgardeliteratur gerade darin, vorgegebene Publikumserwartungen zu subvertieren. Diese Kunstproduktion zielt mithin darauf, eine ihr gemäße Rezeption allererst autonom zu produzieren. Wenn man Intermedialität als »das Überschreiten von Grenzen zwischen als distinkt angesehenen Kommunikationsmedien«9 definiert, dann ist aus soziologischer Perspektive die Frage nach der unterschiedlichen gesellschaftlichen Legitimität dieser distinkten Kommunikationsmedien von höchster Relevanz. Medien sind unterschiedlich konsekriert, mehr oder weniger autonom; sie inkorporieren zu bestimmten Zeitpunkten mehr oder weniger kulturelles Kapital. Bestimmt man ›Dominanz‹ soziologisch als höheren sozialen Status und höheren Grad an zugemessener Legitimität, dann muss sie gerade im 20. Jahrhundert eine Rolle spielen: Nicht nur treten etwa mit dem Film oder dem Fernsehen eine Menge technischer Innovationen sowie entsprechender neuer künstlerischer Praktiken auf den Plan, welche im Anspruch auf Kunsthaftigkeit mit den traditionellen Künsten in Konkurrenz treten und diese dadurch zu innovativen Anpassungs- oder Abstoßungsleistungen herausfordern. Die bereits ›legitimen‹ Künste selbst befinden sich ihrerseits in einem historischen Stadium, in dem der interne Autonomisierungsprozess so weit vorangeschritten ist, dass »sich niemand mehr als absoluter Herr und Besitzer des nomos, des Prinzips legitimer Vision und Division, aufspielen kann«10 . Die »Institutionalisierung von Autonomie« hat eine »Pluralität der Blickpunkte« zur Folge, die sich als »Konkurrenz um das Monopol auf künstlerische Legitimität« exponiert.11 Dominanz ist dabei nicht bereits vordefiniert und dauerhaft fixiert, sondern muss immer wieder neu erkämpft werden. Und wie sich beispielsweise einzelne Autoren zu einem bestimmten Datum danach klassifizieren lassen, wie durchsetzungsfähig sie mit ihrer Auffassung von ästhetischer Erfahrung sind, so besitzen auch unterschiedliche Medien beziehungsweise Künste eine historisch differierende Legitimität, die Produkt und Ausgangspunkt von Auseinandersetzungen um Dominanz darstellt. 9 | Wolf: »Intermedialität – ein weites Feld«, S. 167. 10 | Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 216. 11 | Ebd. 10
Intermedialität und mediale Dominanz
Vor diesem Hintergrund stellt sich auch die Frage nach der Produktion von Legitimität ›populärer‹ ästhetischer Erfahrung durch ihre – zum Teil sehr kritische – literarische Adaptation. Gerade der neuerdings propagierte werkübergreifende Intermedialitätsbegriff, der »die traditionellen Künste mit ihren Vermittlungsformen ebenso wie neue Kommunikationsformen [umfasst], gleichgültig, ob ihnen ein – ohnehin heute vielfach problematisierter – Kunststatus zuerkannt wird oder nicht«12 , ist hier instruktiv: Da aus kultursoziologischer Sicht der »Kunststatus« keineswegs gleichgültig ist, sondern im Gegenteil das Ergebnis komplexer sozialer Auseinandersetzungen und Verhandlungen darstellt, müssen nicht nur die kunstinternen intermedialen Grenzüberschreitungen auf ihre Funktion und die ihnen zugrunde liegenden Brechungseffekte hin befragt werden, sondern auch die Transfererscheinungen von Kunst zu Nicht-Kunst – und darüber hinaus Überlagerungen zwischen beiden Formen der Intermedialität. Dies aber bedeutet für die Frage nach Legitimität und Dominanz eine doppelte Perspektive: Beide sind nicht hinreichend aus einzelnen Poetiken heraus mess- und bestimmbar, im Gegenteil; erst das relationale Verhältnis zu anderen feldinternen und -externen Entwürfen qualifiziert einen Dominanz- und Legitimitätsanspruch als mehr oder weniger erfolgreich. Dominanzverhältnisse beeinflussen einerseits intramedial das Verhältnis der Künstler untereinander; andererseits zeigen sie sich intermedial im Verhältnis einzelner Künste beziehungsweise Medien zueinander. Der Siegeszug der Intermedialität ist aus diesem Blickwinkel eher ein Indiz für eine akzelerierte Konkurrenzdynamik, der sich moderne Künstler kaum entziehen können, als ein Phänomen medialer Gleichwertigkeit. Dezidiert intermediale Poetiken ›mischen‹ die jeweils gültigen Klassifikationen und fordern dadurch die geltenden Maßstäbe heraus – aber wie funktionieren sie konkret? Wie verlaufen die Prozesse gegenseitiger An- und Aberkennung? Welchem Impetus folgen, welche Stoßrichtung verfolgen sie jeweils? Und: Kann Intermedialität in der Gegenwart tatsächlich noch eine ›originelle‹ Provokation darstellen, oder ist sie nicht selbst bereits eine voraussehbare Anpassung an die Gesetze eines bereits etablierten Kunstmarktes? Auf der Ebene der Medienkonkurrenz stellt sich die Frage nach den Kriterien, die darüber bestimmen, welches Medium zu einem Leitmedium avanciert und was dies für die intermedialen Bezugnahmen seitens des dominierenden Mediums sowie seitens dominierter Medien bedeutet. In12 | Wolf: »Intermedialität – ein weites Feld«, S. 165. 11
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tramedial ist nach der Funktion zu fragen, welche konkrete Formen von Intermedialität gegenüber anderen, zeitgleich konkurrierenden Poetiken und Ästhetiken erfüllen. Auf beiden Ebenen ist freilich die tatsächliche symbolische Dominanz (die sich jeweils nur relational bestimmen lässt) von der konkurrierenden Dominanzbehauptung zu unterscheiden. Wenngleich beispielsweise die Integration typischer Elemente der ›niederen‹ Künste oder gar der Nicht-Künste in die ›hohe‹ Ästhetik auf den ersten Blick zu einer Nivellierung der Grenzen zwischen Kunst und NichtKunst zu führen scheint und auch die Selbstaussagen der Künstler dies oft propagieren, lässt der unterschiedliche symbolische und ökonomische Erfolg solcher Poetiken erahnen, dass dies nur auf einer Phänomenebene zutrifft. In feldsoziologischer Hinsicht ließe sich vielmehr die Gegenthese vertreten, dass die Populärkultur – beispielsweise im Werk von Peter Handke oder Elfriede Jelinek – auch für die distinktiven Interessen einer Literatur vereinnahmt werden kann, die sich als innovative Konzeption ästhetischer Erfahrung etablieren will. Intermediale Strategien erfüllen dann eine häretische Funktion beim Kampf gegen etablierte Modelle ästhetischer Erfahrung; die Integration von als nichtkünstlerisch klassifizierten Stilformen wäre einer solchen Logik zufolge vor allem bei den ›Propheten‹ eines Feldes anzutreffen und würde sich primär gegen bereits konsekrierte, konventionell gewordene Ästhetiken der etablierten ›Priester‹ wenden.13 Tradierte ästhetische Erfahrungen werden von intermedialen Importen notwendig tangiert: Idealtypisch ist die Rezeption der meist heteronom produzierten Populärkultur nach Bourdieu durch einen unmittelbaren, weniger intellektuellen als vielmehr emotionalen Zugang gekennzeichnet, welcher sich um den Stand der innerkünstlerischen Entwicklung wenig kümmert.14 Die heterodoxen Grenzüberschreitungen der Avantgardeliteratur des 20. Jahrhunderts und ihre Adaptation bisher ›illegitimer‹ Formen ästhetischer Erfahrung jedoch reproduzieren nicht bloß ›gewöhnliche‹ populäre Erfahrung, sondern verändern diese durch ihren Import in einen neuen Kontext fundamental und erweitern damit den Raum des ästhetisch Möglichen. Als innovative Positionsnahmen funktionieren die genannten ›Entgrenzungen‹ – so die Hypothese – nur mittels einer doppelten Distinktion im literarischen Feld: Ihre Neudefinitionen genuin literarischer Erfahrung grenzen sich sowohl von 13 | Zur Terminologie vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 329. 14 | Pierre Bourdieu: Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 105–109. 12
Intermedialität und mediale Dominanz
geläufigen populären Konzeptionen als auch von den Positionen der etablierten ›Hochkultur‹ ab. Wenn sich diese Vermutung verifizieren lässt, dann entsprechen die Adaptationen einem von Bourdieu in Les règles de l’art formulierten Grundgesetz autonomer Literatur, dem ›zweifachen Bruch‹,15 und setzen die von Baudelaire und Flaubert begründete avantgardistische ›Tradition‹ der Anverwandlung des (bis dahin) ›Illegitimen‹ fort. Gerade der weiterhin mögliche Brechungseffekt zwischen ›hohen‹ und ›niederen‹ symbolischen Formen erweist Intermedialität weniger als ein Entgrenzungsphänomen, vielmehr als ein Medium im Kampf um kulturelle Avanciertheit. Ob eine solche Strategie symbolisch erfolgreich ist oder nicht, resultiert aber nicht automatisch aus dem Grad der Intermedialität, sondern kann nur in einer vergleichenden Analyse intermedialer Verfahrensweisen und Gebrauchsformen ermittelt werden. Es scheint in der Gegenwart nicht mehr so sehr um die Frage ›intermedial oder nicht‹ zu gehen, sondern vielmehr um die je spezifische Qualität der Intermedialität in ihrer Relation zu konkurrierenden Formen. Intermedialität ist dann nicht mehr nur per se ein Instrument der Dominanzbildung, sondern fungiert als Einsatz in einem Kampf, in dem es auf künstlerischer Seite darum geht, sich gegenüber konkurrierenden Entwürfen und Konzepten von Intermedialität als dominant zu erweisen. Die Frage der Dominanz dominiert dann auch die Intermedialität selbst. Wie die Rede von ›Entgrenzung‹ bereits nahelegt, bleiben die genannten Adaptationen auf (jeweils zu überwindende) Grenzen angewiesen. Eine total ›entgrenzte‹ Kunst begäbe sich jeglicher Möglichkeit der Entgrenzung. Jede intermediale Grenzüberschreitung impliziert also zugleich (neue) Grenzziehungen – und auch eine (explizite oder implizite) Thematisierung der Grenze, wie sie nach Luhmann für die Konstitution von Kunst in Differenz zu Nicht-Kunst grundlegend ist.16 Die neuen Grenzziehungen solcher ›Entgrenzungen‹ (sowohl hin zu ›legitimen‹ als auch zu ›illegitimen‹ Künsten) definieren einen neuen ›Raum des Möglichen‹, der jeweils interrelational zu bestimmen sein wird. Intermediale Dominanzbildungen lassen sich aus dieser Perspektive als Vereinnahmungen von Elementen häufig ›fremdmedialer‹ Populärkultur für eigene Legitimierungszwecke beschreiben. Eine Kunst, die durch Verwendung anderer Kommunikationsdispositive (scheinbar) aus dem ›autonomen‹ 15 | Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 127–134. 16 | Vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995. 13
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Raum heraustritt, aktiviert je nach Wahl deren distinktive Valenz, die ihrerseits wiederum als Instrument unterschiedlicher Programmatiken fungieren kann. Dies sind nur einige mögliche Ansatzpunkte, sich dem Konnex von Intermedialität, Legitimität und Dominanz zu nähern, wobei die skizzierte kultursoziologische Herangehensweise durch andere Perspektiven zu ergänzen ist. Die hier vorgestellten Beiträge folgen nicht einem einzigen methodischen Paradigma, sondern fokussieren die angesprochenen sowie weitere Dimensionen der intermedialen Legitimitäts- und Dominanzproblematik jeweils an konkreten Gegenständen: Joseph Jurt (Freiburg i. Br./Basel) schildert am Beispiel von Flauberts Stellungnahmen gegen Bildmedien ein Kapitel aus der Frühgeschichte intermedialer Dominanzbildungen. Flaubert positionierte sich kritisch zu der im 19. Jahrhundert stattfindenden Bilderexpansion; besonders gegenüber der Fotografie zeigte er sich skeptisch: Sie könne keine tiefere Wahrheit ausdrücken und unterbinde im Rezeptionsprozess – wie auch die von ihm bekämpfte Illustration literarischer Texte – die Imagination. Flaubert widersetzte sich damit entschieden der Idee einer Konvertibilität zwischen Wort- und Bildkunst, um die distinkte Spezifität der Künste zu betonen. Gleichzeitig gelingt es Jurt nachzuweisen, wie Flaubert innerliterarisch eine pikturale Schreibweise entwickelt, welche der Literatur ihre Vorrangstellung vor den visuellen Medien sichern sollte. Rolf J. Goebel (Huntsville, Alabama) widmet sich in seinem Beitrag Aspekten der Medienkonkurrenz und der literarischen Selbstlegitimierung vor dem Hintergrund des Legitimitätsverlusts der Schrift gegenüber den neuen Bildmedien. Die Literatur legitimiere sich dabei vor allem durch die Verwandlung der technischen Apparate in literarisches Material, indem sie es zum Darstellungsobjekt von Lyrik, Roman, Drama und Essay macht, um so die eigene Erzählkunst als Paradigma des bedrohten Schriftlichkeitsprinzips vor der ›Bedrohung‹ durch die technischen Reproduktionsmedien zu retten, wie Goebel anhand einer Lektüre des Zauberbergs von Thomas Mann veranschaulicht. Uta Degner (Salzburg) zeigt an den intermedialen Poetiken von Bertolt Brecht und Elfriede Jelinek, wie die literarische Imitation ›illegitimer‹ Medien – so des frühen Films durch Brecht und des Fernsehens durch Jelinek – innerliterarische Distinktionen in Gang setzt, bei denen sich gerade der Verzicht auf herkömmliche Legitimitätsvorstellungen mit Dominanzansprüchen einer neuen Poetik verbindet. In beiden Fällen geht der demonstrative Verzicht auf Legitimität mit einer häretischen Strategie gegenüber hergebrachten Konzeptionen ästhetischer Erfahrung einher, 14
Intermedialität und mediale Dominanz
die das ›illegitime‹ Medium nicht um seiner selbst willen einbindet, sondern vornehmlich an dessen Provokationspotenzial interessiert ist. Norbert Christian Wolf (Salzburg) untersucht anhand ausgewählter Texte Peter Handkes die literarische Adaptation und textuelle Integration von Artefakten aus der Popmusik. Diese verwiesen einerseits zwar auf eine außertextuelle ›Wirklichkeit‹, thematisierten aber andererseits die Verweisungsfunktion selbst, indem der Kontrast zwischen Ursprungsund Zielmedium einen darstellerischen ›Verfremdungseffekt‹ erzeuge. Während das künstlerische Verfahren zunächst noch ›schockartig‹ – gleichsam als ästhetische Epiphanie – eine verdeckte, jenseits der tristen sozialen Realität liegende ›andere Wirklichkeit‹ zum Vorschein bringen solle (Der kurze Brief zum langen Abschied), zeigten spätere Adaptationen im Gegenteil, dass eine solche ›eigentliche Wirklichkeit‹ der künstlerischen Gestaltung prinzipiell nicht zugänglich sei (Die linkshändige Frau). Diese Funktionsverschiebung von der ästhetischen Beglaubigung zu einer Irritation jeglicher Form von künstlerischer Evidenzerzeugung ändere aber nichts an dem medialen Dominanzanspruch der Literatur. Jan Volker Röhnert (Weimar/Sofia) unternimmt einen Parcours durch die Poesie des 20. Jahrhunderts und beleuchtet am Beispiel von Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht Fotos 1, 2 den avancierten künstlerischen Umgang mit moderner Multimedialität. Röhnert diagnostiziert bei der Integration massenmedialer Elemente in den Gedichttext eine autonomisierende Tendenz, die jedoch gleichzeitig den Eigenheiten der modernen Massenmedien gerecht zu werden versuche. Wie er darlegt, werden diese Alternativen auf eine Weise gekoppelt, die das vermeintliche ›Entwederoder‹ souverän transzendiert. Jörg Helbig (Klagenfurt) geht verschiedenen Brückenschlägen zwischen Spielfilm und Computerspiel nach, wobei es für ihn noch nicht ausgemacht ist, welches Medium in diesem Kontakt das dominante ist. Helbig konstatiert dabei eine Pluralität des Medienkontakts, die von Formen der transmedialen Adaptation über Filme reicht, welche ›Games‹ thematisieren oder strukturell imitieren, bis hin zu Filmen, deren Handlung vollends von einer Spielstruktur dominiert wird und die damit innerdiegetisch die Grenzen zwischen Spiel und Film zur Auflösung bringen. Jürgen E. Müller (Bayreuth) beschäftigt sich mit einem in der Intermedialitätsforschung zu Unrecht vernachlässigten Medium: dem Fernsehen. Er nimmt Bourdieus harsche Fernsehkritik zum Anlass, nicht nur dessen Analyse zu verfeinern, sondern – unter Rekurs auf die Darstellung einer Nachrichtensendung in Barry Levinsons Film Wag the Dog – auch nach der heutigen Medienmacht des Fernsehens zu fragen. Müller verortet das 15
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Fernsehen in einem medialen Kräftefeld, in welchem es in den letzten Jahrzehnten eine dominante Position innehatte. Diese sei gegenwärtig jedoch ihrerseits durch die neuen digitalen Medien gefährdet, was zu noch unabsehbaren Hybridisierungen führe, die dazu angetan seien, Bourdieus normative Vorstellung ›autonomer‹ Medien gänzlich zu erodieren. Winfried Nöth (Kassel) unterzieht das Verhältnis zwischen Werbung und Künsten einer semiotischen Analyse und kommt zur Differenzierung dreier Formen von Intermedialität. Nöth veranschaulicht parasitäre Intermedialität, wo Werbung sich Werte oder Verfahrensweisen der Kunst aneignet, aber auch – am Beispiel von Henri de Toulouse-Lautrec – Kunst selbst als Parasit von der Werbung profitieren kann. Paragonale Intermedialität beruhe hingegen auf einem gegenseitigen Konkurrenzverhältnis, dessen parteiische, tendenziöse Stellungnahmen Nöth herausstellt; der Vergleich des Kunstwerks mit der angepriesenen Ware verspreche nämlich nur dann Erfolg, wenn wesentliche Merkmale des Kunstwerks unterdrückt würden. Fließende Intermedialität schließlich finde überall dort statt, wo die Übergänge zwischen den eigentlich antagonistischen Bereichen Kunst und Werbung verwischt würden. Thomas Becker (Berlin) widmet sich der Graphic Novel und ihrem Status als ›hybridem‹ Medium zwischen Text und Bild. Im Unterschied zu solchen taxonomischen Beschreibungen fordert Becker eine sozioanalytische Perspektivierung des Begriffs, der ja selbst schon eine strategische Benennung im Kampf um die kulturelle Anerkennung von jenen Comicautoren darstelle, die nicht den Massenmarkt bedienten. Produktionen wie Art Spiegelmans MAUS sind demnach Versuche, den Prozess der Autonomisierung des Comicfeldes voranzutreiben. Becker zeigt im Anschluss daran, wie eine Nichtbeachtung dieser legitimierenden Strategien in der Forschung zu medialen Essenzialisierungen geführt hat, welche die prozesshaften und konfliktuösen Auseinandersetzungen um Dominanz und Legitimität notwendig verkennen. Gernot Waldner (Berlin) stellt weitere Legitimierungstendenzen im Comic vor. Zunächst untersucht er die Darstellungen ›legitimer‹ Kunst in Comics, wobei er zu dem Ergebnis kommt, dass sie die soziale Hierarchie und die mit ihr einhergehenden Wahrnehmungskriterien der ›unteren‹ Schichten reproduzieren. Anhand einer eingehenden Analyse einer Bilderserie aus dem Comic Arzach von Moebius legt Waldner dar, wie der Comic in der Übernahme von autonomieästhetischen Formmerkmalen die Grenze zwischen sich und der ›legitimen‹ Kunst in Frage stellt, wodurch es dem Comiczeichner gelungen sei, sich als Kunstavantgarde zu positionieren. 16
Intermedialität und mediale Dominanz
Burkhardt Wolf (Berlin) präsentiert den Medienverbund von 2001 als eine »rekursive Odyssee«, die auf komplexe Weise Bedingungen und Möglichkeiten medialer Welten thematisiert. Wolf spannt einen weiten Bogen von der Kybernetik über die Schriftlichkeitsdebatte bis hin zu Überlegungen zum Verhältnis von science und fiction, die er anhand eines ›close viewing‹ von Kubricks Verfilmung verfolgt. Abschließend systematisiert Werner Wolf (Graz) terminologisch Formen von Dominanzbildungen in unterschiedlichen intermedialen Spielarten, und zwar zunächst aus theoretisch-typologischer und funktionsgeschichtlicher Sicht. Aufschlussreich ist ein von ihm diskutiertes Beispiel aus dem Roman Adam Bede (1859) von George Eliot: Eliot benutzt hier eine fremdmediale Referenz auf Gerrit Nous Gemälde Das Tischgebet der Spinnerin, um den seinerzeit mit noch geringer Legitimität ausgestatteten Roman ästhetisch aufzuwerten. Einen Perspektivenwechsel vollzieht Wolf im zweiten Teil seiner Ausführungen, wo er die Frage der Dominanzbildung in Hinblick auf Hegemoniebestrebungen in der Intermedialitätsforschung selbst untersucht. Am Beispiel eines Aufsatzes von Silvestra Mariniello (»What Literacy for Intermediality?«) dokumentiert Wolf die der Intermedialitätsforschung inhärente Auseinandersetzung um die Wertigkeit von Schrift und Bild und öffnet damit die Perspektive für eine Selbstobjektivierung der Intermedialitätsforschung, wie sie auch Thomas Becker einklagt. Der vorliegende Band dokumentiert die Ergebnisse einer zweiteiligen Workshopreihe, die 2008 und 2009 im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 626 »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« an der Freien Universität Berlin stattfand und die sich zum Ziel setzte, intermediale Verfahren unter dem Gesichtspunkt von Dominanzbildungen zu untersuchen. Es bleibt zu hoffen, dass die hier vorgestellten und diskutierten interdisziplinären Grenzüberschreitungen über den singulären Anlass der Workshops hinaus theoretische und analytische Produktivität zu entfalten vermögen. Die Herausgeber danken der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Freien Universität Berlin für die Unterstützung der Workshop-Reihe. Die Drucklegung der Akten wurde mit Mitteln des DFG-finanzierten SFB 626 ermöglicht. Für Hilfe vielfältiger Art danken wir Alina Neumeyer und Gernot Waldner. Salzburg, im März 2010
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Frühgeschichte der Intermedialität: Flaubert Joseph Jurt (Freiburg/Basel)
»Intermedialität ist in«1 : mit diesen Worten belegt Joachim Paech nicht bloß die Popularität eines neuen Paradigmas, sondern auch eine gewisse Unschärfe, weil der Begriff, der nun en vogue ist, auf unterschiedlichste Bereiche angewandt wird. Schon spricht man von ›intermedial turn‹. Intermediale Liebschaften heißt der Titel einer Dissertation, die zu den Mehrfachadaptionen von Laclos’ Liaisons dangereuses vorgelegt wurde.2 Nach Kirsten Dickhaut war es notwendig, im Zeitalter der ›technischen Reproduzierbarkeit‹ und der Medienkommunikation diesen Medien (Radio, Kino, Fernsehen, Internet) eine Theorie zur Seite zu stellen, die sich gleichermaßen mit der vielfältigen Wahrnehmungssteuerung und den Rezeptionsbedingungen dieser Medien reflektiert auseinandersetzt.3 Im Französischen hat man den Begriff ›média‹, den man meist im Plural verwendet, aus dem englischen ›mass-media‹ übernommen und versteht darunter Presse, Radio, Fernsehen, Internet und Kino. Dieser engere Medienbegriff scheint sich aber heute auszuweiten. So konzentriert sich Kirsten Dickhaut in ihrem Aufsatz vor allem auf das Text-Bild-Verhältnis. Dieses Verhältnis wurde in der Tat seit langem thematisiert als Verhältnis zwischen Malerei und Literatur. Für den Vergleich der beiden Kunstbereiche gab es ja seit der Renaissance auch einen eigenen Begriff, ›il paragone‹.4 Mit diesem Begriff ist nicht nur ein Vergleich gemeint, sondern 1 | Joachim Paech: »Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figuration«, in: Jörg Helbig (Hg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebietes, Berlin: Erich Schmidt 1998, S. 14–30, hier: S. 14. 2 | Kirsten von Hagen: Intermediale Liebschaften. Mehrfachadaptationen von Choderlos de Laclos’ Briefroman Les liaisons dangereuses, Tübingen: Stauffenburg 2002. 3 | Kirsten Dickhaut: »Intermedialität und Gedächtnis«, in: Astrid Erll/Ansgar Nünning (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, Berlin: de Gruyter 2005, S. 203– 226, hier: S. 206. 4 | Siehe dazu Jacqueline Lichtenstein: »La comparaison des arts«, in: Barbara Cassin (Hg.): Vocabulaire européen des philosophies, Paris: Seuil/Robert
Joseph Jurt
eine Medienkonkurrenz, die nach Kirsten Dickhaut insofern eine transgenerische Form der Intermedialität darstellt, als sie implizit in den verschiedensten Gattungen auftritt und über ihren zeithistorischen Kontext hinaus signifikant wirksam werden kann. Innerhalb der Gattungen äußerten sich so reflektorische Beiträge über das durch Vergleich oder Konkurrenz geprägte Verhältnis von Malerei und Poesie, die man nach Kirsten Dickhaut als »Medientheorien« avant la lettre bezeichnen könne.5 Man kann aber Bild und Wort nicht als immanente Größen auffassen; sie sind Teil einer Institution. Der institutionelle Ansatz scheint mir wichtig zu sein, um so auch den sozialen Status der jeweiligen kulturellen Praktiken einzuschätzen. Seit der Spätantike entwickelte man ein System der kulturellen Praktiken, das zwischen intellektuellen und manuellen Praktiken unterschied und das auf einer sozialen Dichotomie beruhte (Freie versus Sklaven). Die artes liberales wurden von freien Menschen ausgeübt. Die Malerei, die bei Aristoteles und Horaz noch auf derselben Ebene figurierte wie die Dichtung, wurde nicht zu den Sieben Freien Künsten gezählt, weil sie wie die Bildhauerei auf einer manuellen Tätigkeit beruhte. Sie war darum auch in Zünften organisiert. Seit dem Quattrocento bemühte sich die Malerei um eine Aufwertung ihrer Aktivität. Der Aufstieg der Malerei zum Kreis der Freien Künste manifestierte sich vor allem durch die Gründung einer spezifischen Institution, welche als Legitimationsinstanz fungieren konnte und sich von einem rein handwerklichen Verständnis der Kunst abgrenzte: der Akademie.6 Man betonte nun die intellektuelle Dimension der Malerei, die ein Wissen im Bereich der Geschichte, der Dichtung, der Mathematik und der Geometrie voraussetze. Mit der Euklid-Rezeption des späten Mittelalters und der daraus entwickelten Zentralperspektive konnte der Nachweis erbracht werden, dass Malerei eine den mathematischen Wissenschaften zugeordnete Kunst sei. Der ebenbürtige Rang der Malerei wurde vor allem durch eine intensive Theorieproduktion untermauert, die auf einer radikalen Uminterpretation von Horaz’ Dik2004, S. 247; siehe auch: Lauriane Fallay d’Este (Hg.): Le Paragone, Texte aus d. Ital. v. L. Fallay d’Este, Paris: Klincksieck 1992. 5 | Dickhaut: »Intermedialität und Gedächtnis«, S. 213. 6 | Siehe dazu Joseph Jurt: »La peinture et le paradigme littéraire au XVIIè siècle«, in: Papers on French Seventeenth Century Literature XIV (1987) 26, S. 69–81; ders.: »Die Nobilitierung der Malerei durch den Akademie-Diskurs im Frankreich des 17. Jahrhunderts«, in: Tobias Leuker/Rotraud von Kulessa (Hg.): Nobilitierung vs. Divulgierung? Strategien der Aufbereitung von Wissen in Dialogen, Lehrgedichten und narrativer Prosa des 16.–18. Jahrhunderts, Tübingen: Niemeyer (im Druck). 20
Frühgeschichte der Intermedialität: Flaubert
tum »Ut pictura poesis« beruhte: Malerei sei wie Dichtung. Die Malerei wurde an den Kriterien der Poetik gemessen. Man betonte die Konvertibilität der beiden Künste, auch über eine Formel von Horaz: »Pictoribus atque poetis aequa potestas«. Beide Künste seien mimetisch; beiden seien die Gegenstände gemeinsam; nur die Mittel seien unterschiedlich. Die Bezeichnungen ›pictura loquens‹ für die Dichtung und ›muta poesis‹ für die Malerei, die oft auch noch grafisch dargestellt werden, unterstrichen diese Konvertibilität der Schwesterkünste (sister-arts). Kategorien der Rhetorik (inventio, dispositio) wurden auf die Malerei angewandt, der man auch eine narrative Funktion zuschrieb. In den Bilddiskussionen der Académie Royale wurde immer wieder auf Kriterien der Dramenpoetik Bezug genommen (Peripetie, Einheit der Handlung) und gleichzeitig der Anspruch erhoben, auch im Medium der Malerei sei es möglich, Zeitlichkeit darzustellen.7 Wenn hier von impliziter Intermedialität gesprochen werden kann, dann vor allem in dem Sinne, dass poetische Verfahren die Malerei bestimmen. Bildlichkeit ist auch in der Literatur vorhanden, jedoch nicht in kompletter Symmetrie. Die Verfahren entsprachen hier weniger einem Rangstreit. Hans Holländer hat die Beziehungen zwischen Bild und Text aufgereiht: zunächst die Ekphrasis, die Bildbeschreibung als Bestandteil von Texten, die sich dann ausweitet zur Pathosfigur der Hypotypose, die Ereignisse oder Gegenstände unmittelbar vor Augen führt – die optische Dimension ist hier wichtig.8 Schließlich erwähnt Holländer auch die Ars Memorativa (Gedächtnisübung durch anschauliche Präsenz von Bildern), die Moduslehre (dorische Ordnung für heroische Themen), dann die Emblematik (Text-Bild-Kommunikation), Historienmalerei, Illustration von Texten, Bildtiteln, Bildkommentaren.9 Wenn ab Lessing und ab Diderot nicht mehr so sehr die Konvertibilität der Künste, sondern vielmehr ihre Spezifität im Vordergrund steht,10 so 7 | Siehe Joseph Jurt: »Die Debatte um die Zeitlichkeit in der Académie Royale de la Peinture am Beispiel von Poussins Mannalese«, in: Franziska Sick/ Christof Schöch (Hg.): Zeitlichkeit in Text und Bild, Heidelberg: Winter 2007, S. 337–347. 8 | Siehe dazu Joseph Jurt: »Ekphrasis. Durch Worte zum Sehen bringen«, in: Eva Kimminich/Claudia Krülls-Hepermann (Hg.): Zunge und Zeichen, Frankfurt am Main: Lang 2000, S. 71–98. 9 | Hans Holländer: »Literatur, Malerei und Graphik. Wechselwirkungen, Funktionen und Konkurrenzen«, in: Peter V. Zima (Hg.): Literatur intermedial. Musik – Malerei – Photographie – Film, Darmstadt: WBG 1995, S. 129–170, hier: S. 135 f. 10 | Siehe dazu Joseph Jurt: »L’Abbé du Bos et la spécificité des arts«, in: Recherches et travaux 52 (1997), S. 49–65. 21
Joseph Jurt
bleibt dennoch auch im 19. Jahrhundert ein Konkurrenzverhältnis bestehen. Unter Rekurs auf die analytischen Kategorien der Kultursoziologie Pierre Bourdieus spricht Dario Gamboni hier von einem asymmetrischen Autonomisierungsprozess der Felder Literatur und Kunst;11 das erstere konnte zu einem früheren Zeitpunkt einen relativ autonomen Status erreichen, während das Feld der Kunst bis zu den 1880er Jahren von der Konsekrationsinstanz des staatlich organisierten Salons bestimmt wurde. Ein Zeichen für eine gewisse Heteronomie bestand aber auch in der Kunstkritik, die im 19. Jahrhundert noch stark in den Händen von Vertretern des literarischen Feldes lag, die sich nicht so sehr durch ein spezifisches Kunstverständnis als durch ihre diskursive Kompetenz auszeichneten. Es handelt sich hier immer noch um Intermedialität im weiteren Sinn, um das Verhältnis von zwei ›Künsten‹ in ihrer jeweiligen institutionellen Form. Intermedialität im modernen Sinn trat erst Mitte der 1960er Jahre auf, mit dem Fluxus-Künstler Dick Higgins und seinem Konzept ›Intermedia‹. Der Theaterwissenschaftler Christopher Balme definierte diese neue Intermedialität oder Intermedialität schlechthin als »Simulation oder Realisierung medialer Konventionen eines oder mehrerer Medien in einem anderen Medium«12 . Julia Pfahl unterschied ihrerseits zwischen multimedialen und intermedialen Phänomenen; beim ersteren gehe es bloß um eine Kopräsenz (etwa eine Filmprojektion als Hintergrundprospekt in einem Theater); ›echte‹ Intermedialität bedeute die Integration fremdmedialer Elemente im Hinblick auf eine neue Synthese.13 Christopher Balme hält dafür, dass mediale Vermischungen etwa in der Gattung des Theaters schon immer bestanden. Die Hervorhebung der ›medialen Spezifität‹, die heute noch die Diskussion bestimme, sei ein wissenschaftliches Konstrukt, das von der Vorstellung hermetisch voneinander getrennter Einzelmedien ausgehe. Ich denke aber, dass die Erfassung der ›medialen Spezifität‹ etwa im 18. Jahrhundert Medialität erst sichtbar machte, während man im Kontext der Ut-pictura-poesis-Theo11 | Dario Gamboni: »A travers champ. Pour une économie des rapports entre champ littéraire et champ artistique«, in: lendemains 36 (1984), S. 21–32. 12 | Christopher Balme: »Theater zwischen den Medien. Perspektiven theaterwissenschaftlicher Intermedialitätsforschung«, in: ders./Markus Moninger (Hg.): Crossing Media. Theater – Film – Fotografie – Neue Medien, München: epodium 2004, S. 13–31, hier: S. 19. 13 | Julia Pfahl: Zwischen den Kulturen – zwischen den Künsten. Medialhybride Theaterinszenierungen in Québec, Bielefeld: transcript 2008, S. 118. 22
Frühgeschichte der Intermedialität: Flaubert
rie von einer fast gänzlichen Konvertibilität der Künste ausging. So zeigte Karlheinz Stierle etwa am Beispiel von Abbé Du Bos’ Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture (1719) auf, wie dieser das Problem des Mediums klar erkennt: »Dass die Differenz der Medien sich wesentlich durch die verschiedene Natur der Zeichen und die verschiedenen Weisen des Zeichengebrauchs erklärt, ist eine Einsicht, die die Frage nach der Bedeutung des Mediums für den in ihm zur Erscheinung kommenden ästhetischen Gegenstand erst wirklich greifbar machen konnte.«14
Die Frage nach der medialen Spezifität scheint mir darum durchaus zur Vorgeschichte des Intermedialitätsparadigmas zu gehören. Sie ist auch für Flaubert zentral. Wenn wir uns der intermedialen Referenz bei Flaubert nähern, gilt es zunächst, das neue skopische Regime im 19. Jahrhundert zu beleuchten.15 Malerei und Literatur behaupteten nicht mehr einen exklusiven Status. Neue visuelle Medien tauchten nun auf und schufen einen neuen Typus von Medienkonkurrenz, der für die Literatur eine Herausforderung darstellte. Victor Hugo hat den agonistischen Charakter zwischen der Literatur und der bildenden Kunst schon im Titel eines Kapitels von Notre Dame de Paris (1831) zum Ausdruck gebracht: »Ceci tuera cela« – das gedruckte Buch wird gotische religiöse Architektur und ihre Bilder aus Stein und Glas ersetzen. Erstaunlicherweise wird der Literaturhistoriker Marc Angenot mit demselben Diktum »Ceci tuera cela« die antagonistische Beziehung zwischen Literatur und Presse am Ende des 19. Jahrhunderts bezeichnen.16 Mit der technischen Reproduzierbarkeit der Bilder verloren diese, wie das Walter Benjamin unterstrichen hat, ihre Aura. In den Straßen und auf Mauern der Städte, aber auch in den Appartements traten nun zahllose industriell gefertigte Bilder auf. Man sprach von einer eigentlichen Inflation der Bilder. Diese Inflation ging einher mit einer Krise der Imagination und des Imaginären, aber auch mit einer Krise der Sprache, in die sich immer mehr Gemeinplätze einschlichen, die man nun mit ei14 | Karlheinz Stierle: »Das bequeme Verhältnis. Lessings Laokoon und die Entdeckung des ästhetischen Mediums«, in: Gunter Gebauer (Hg.): Das LaokoonProjekt. Pläne einer semiotischen Ästhetik, Stuttgart: Metzler 1984, S. 23–58, hier: S. 27; siehe auch Jurt: »L’Abbé du Bos et la spécificité des arts«, S. 49–65. 15 | Siehe dazu Carl Havelange: De l’œil et du monde. Une histoire du regard au seuil de la modernité, Paris: Fayard 1998. 16 | Marc Angenot: »Ceci tuera cela, ou: la chose imprimée contre le livre«, in: Romantisme 44 (1984), S. 83–104. 23
Joseph Jurt
nem Begriff aus der typografischen Reproduktion ›cliché‹ nannte – das sprachliche Pendant zum reproduzierten Bild.17 Wenn sich nun im 19. Jahrhundert die Bilder vervielfachten, war das den Verfahren der industriellen Reproduktion und ihrer Verwertung durch Industrie und Handel geschuldet (Reklame) sowie der Erfindung der Fotografie (mit Niépce und Daguerre 1827/29 als Abbildungstechnik und dann ab 1840 mit William Fox Talbot als Vervielfältigungsverfahren). Schließlich wurden Bilder und Fotos auch in die Presse eingeführt. Die Gründung des Magazins mit dem sprechenden Namen L’Illustration im Jahre 1843 war dafür ein evidenter Beleg. Der Holzschnitt war das erste Verfahren, um Texte zu illustrieren.18 Die Fotografie illustrierte ab den 1880er Jahren die Reportage. Die Entwicklung der Lithografie und der Holzschnitte führte zur Gründung von Magazinen, die Reproduktionen von Kunstwerken verbreiteten, Karikaturen veröffentlichten und zahllose Bilder publizierten. Bekannt waren die Zeitschriften L’Artiste ab 1831, Charivari und Magasin Pittoresque ab 1833. Das 19. Jahrhundert wurde zum Jahrhundert des Bildes, das den Text immer mehr zurückdrängte. Dieser Prozess lässt sich in symmetrischer Weise auch daran ablesen, dass immer mehr Begriffe aus dem Bereich der bildenden Kunst in den Bereich der Literatur eindrangen: so etwa der Begriff ›Tableau‹, der nun auch für bestimmte Textsorten wie Literaturgeschichten oder Gedichte (›Tableaux parisiens‹) verwendet wurde.19 Wie war nun die Reaktion Flauberts auf diese Bilderinvasion, die das 19. Jahrhundert kennzeichnete? Ich werde hier sechs Punkte ansprechen.
1. Flaubert und die Fotografie Flaubert erscheint zunächst eher als imagophob. Auf seiner Orientreise (1850–1851) hatte er indes Maxime Du Camp begleitet, der einer der Pioniere der Fotografie war und ein Album von 125 Orientfotos publi17 | Siehe dazu Philippe Hamon: »Images à lire et images à voir. ›Images américaines‹ et crise de l’image au XIXe siècle (1850–1880)«, in: Stéphane Michaud/Jean-Yves Mollier/Nicole Sary (Hg.): Usage de l’image au XIXe siècle, Paris: Créphis 1992, S. 235–246. 18 | Siehe dazu Claude Bellanger/Jacques Godechot/Pierre Guiral/Fernand Terron: Histoire générale de la presse française, Bd. III: De 1871 à 1940, Paris: P. U. F. 1972, S. 95–96. 19 | Dazu Philippe Hamon: »Le Musée et le texte«, in: R. H. L. F. 95 (1995) 1, S. 4. 24
Frühgeschichte der Intermedialität: Flaubert
zierte, das auf große Resonanz stieß.20 Es handelt sich hier um das erste wichtige Buch, das mit Fotografien illustriert war – eine Art Inkunabel. Für Flaubert war aber die Fotografie ein mechanisches Verfahren ohne jede persönliche Dimension. In einem Brief an seine Geliebte Louise Colet brachte er seine Ablehnung gegenüber der Fotografie zum Ausdruck, weil sie nie die Wahrheit einer Person erfassen könne.21 In seinen Augen idealisieren die Erinnerung und auch das Auge (aufgrund der selektiven Perzeption) das Gesehene, was bei der fotografischen Reproduktion nie der Fall sei. Dies berührt den Kern seiner Ästhetik. Die Kunst muss das Ideal erfassen (was nicht Idealisierung bedeutet), und sie muss gleichzeitig wahr sein. Durch die schöpferische Gestaltung soll der Künstler zu einer Wahrheit vorstoßen, die gleichzeitig wahr und uniAbbildung 1 versell ist. Darum akzeptiert Flaubert eine Gravur von Louise Colet, wo ein Künstler am Werk war. Aus diesem Grund weigerte er sich auch, sich fotografieren zu lassen. Dreimal ließ er sich zwar von Maxime du Camp ablichten, aber immer verkleidet als Nubier, eine Rolle spielend, damit man nicht auf die Idee komme, etwas von ihm im fotografischen Bild erkennen zu wollen (Abbildung 1).22 Nadar und Carjat hatten ihn fotografiert, aber er erlaubte nicht, dass diese Bilder veröffentlicht würden. Die 20 | Maxime Du Camp: Égypte, Nubie, Palestine et Syrie. Dessins photographiques recueillis pendant les années 1849, 1850 et 1851, accompagnés d’un texte explicatif et précédés d’une introduction par Maxime Du Camp, 2 Bde., Paris: Gide et Baudry 1852. 21 | »Je déteste les photographies à proportion que j’aime les originaux. Jamais je ne trouve cela vrai [. . .]. Ce procédé mécanique appliqué à toi surtout m’irriterait plus qu’il ne me ferait plaisir.« (Flaubert: Correspondance, Bd. II, S. 349, 14. April 1853, Hervorhebung im Original.) Wir zitieren die Korrespondenz von Flaubert nach der Ausgabe der ›Bibliothèque de la Pléiade‹: Correspondance, Paris: Gallimard, Band I. 1980, Band II. 1980, Band III. 1991, Band IV. 1997, Band V. 2007. 22 | Siehe Madeleine Cottin: »Une image méconnue. La photographie de Flaubert prise en 1850 au Caire par son ami Maxime Du Camp«, in: Gazette des Beaux Arts 6 (1965) 66, S. 235–239. Photo von Flaubert als Nubier verkleidet, aufgenommen von Maxime Du Camp in Kairo, Musky-Haus, 9. Januar 1850. 25
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Zeitgenossen konnten sich von ihm nur ein Bild über die berühmte Karikatur von A. Lernot (Flaubert disséquant Madame Bovary) machen, die im Dezember 1869 in der Zeitschrift La Parodie erschienen war (Abbildung 2). Die absolute Weigerung, sein Porträt zu verbreiten, ist für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ungewöhnlich. Das fotografische Porträt des Schriftstellers gehörte nun zu seinem sozialen Erscheinungsbild. Flaubert ging hier aber keine Kompromisse ein. Der Verleger Emile Bergerat berichtet, dass Flaubert einen Vertrag mit ihm nur unter der Bedingung abschloss, dass kein Porträt von ihm veröffentlicht werde:
Abbildung 2
»Ich will nicht porträtiert werden. Meine Gesichtszüge sind nicht im Handel zu haben. Hinsichtlich dieser Frage war ich immer unerbittlich: kein Porträt. Unter keinen Umständen. Ich habe dazu meine Ideen, und ich will der einzige Mensch des 19. Jahrhunderts sein, von dem die Nachwelt sagen kann: Er ließ sich nie als einer darstellen, der dem Fotografen entgegenlächelt, mit der Hand im Gilet und einer Blume im Knopfloch! Nein, kein Porträt!«23
Yvan Leclerc erklärte diese absolute Haltung auch aus der Poetik Flauberts, die seit Madame Bovary den unpersönlichen Erzähler postuliert, hinter dem die individuellen Züge des Autors völlig verschwinden sollen. Gleichzeitig war die Haltung auch Ausdruck einer Distanz des Künstlers zu seinem Publikum. Das Publikum habe kein Anrecht, über das Privatleben des Autors oder über seine spezifische Physiognomie informiert zu werden, selbst wenn das die neuen Werbestrategien verlangten. Das Schriftstellerfoto erscheint bis heute als eine Art Garant der biografischen Existenz des Autors. Das Fehlen eines Bildes, das die Vorstellung vom Autor individualisiert, schafft den Mythos des ›absoluten Schriftstellers‹, 23 | Emile Bergerat: »›Préface‹ à Gustave Flaubert, ›Chateau des coeurs‹«, in: La Vie Moderne vom 24. Januar 1880, S. 52 (übers. v. J. J.) »Je ne veux pas être portraituré. Mes traits ne sont pas dans le commerce. J’ai toujours été implacable sur cette question: pas de portrait, à aucun prix. J’ai mon idée là-dessus, et je veux être le seul homme du XIXe siècle dont la postérité puisse dire: il ne s’est jamais fait représenter, souriant à un photographe, la main dans le gilet et une fleur à la boutonnière! Pas de portrait!« 26
Frühgeschichte der Intermedialität: Flaubert
den man bei Flaubert schon früh konstatieren konnte, ähnlich wie heute bei Blanchot, Salinger, Thomas Pynchon.24 Flaubert übersetzt seine negative Haltung gegenüber der Fotografie auch in seinem fiktionalen Werk. So schildert er sehr ironisch in Madame Bovary, wie Charles seiner Frau eine Freude machen möchte, indem er ihr eine fotografische Ablichtung (»un beau daguerréotype«25 ) zu schenken gedenkt. Die Idee wird nicht weiterverfolgt; sie dient dazu, die Naivität und den kleinbürgerlichen Stil von Charles bloßzustellen.26 In den Notizen zur Orientreise mit Maxime Du Camp scheint seine literarische Repräsentation immer implizit in Konkurrenz zur fotografischen Repräsentation seines Freundes zu treten. So bringt er Landschaften mit literarischen Assoziationen in Verbindung, wenn er von einer ›biblischen Szene‹ spricht, oder er übersetzt Dimensionen, die die Fotografie (damals) noch nicht erfassen konnte: Farben und Bewegung. Die Tonalität eines Romans wird er später auch mit einer farblichen Grundierung in Verbindung bringen, etwa Pupurrot für Salammbô. Wenn Maxime Du Camp in einem seiner Gedichte aus Chants modernes (1855) die größere Genauigkeit der Fotografie gegenüber der Zeichnung postuliert, so verbindet Flaubert die Beschreibungstechnik gerade nicht mit den Konturen der Zeichnung, sondern mit dem Kolorit, der Farbenvielfalt, deren Ambivalenz eine Schwarz-Weiß-Technik nicht übersetzen kann, sondern bloß ein chromatisches Oxymoron wie »le soleil noir« oder »une obscure clarté«.27 Gegen Ende seines Lebens muss Flaubert allerdings gespürt haben, dass die Fotografie nicht nur ein rein mechanisches Reproduktionsverfahren war, sondern dass der Fotograf hier durchaus auch gestaltend eingriff. »Das Wahre gibt es nicht«, schrieb er 1880. »Es gibt bloß verschiedene Arten zu sehen. Ist eine Fotografie abbildgenau? Nicht mehr als die Ölmalerei oder ebenso sehr.«28 Hinsichtlich einer Sphinx, die er in Ägypten 24 | Nach Yvan Leclerc: »Portraits de Flaubert et Maupassant en photophobes«, in: Romantisme 105 (1999) 3, S. 103–106. 25 | Gustave Flaubert: Madame Bovary. Moeurs de province, Paris: Garnier 1964, S. 109. 26 | Siehe dazu Dolf Oehler: »La répudiation de la photographie. Flaubert et Melville«, in: François Lecercle/Simone Messina (Hg.): Flaubert, l’autre, Lyon: Presses universitaires de Lyon 1989, S. 104–115. 27 | Nach Leclerc: »Portraits de Flaubert et Maupassant en photophobes«, S. 99 f. 28 | Flaubert: Correspondance, Bd. V, S. 811 (die Passagen aus der Korrespondenz sind vom Vf. übersetzt). »Il n’y a pas de vrai. Il n’y a que des manières 27
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gesehen hatte, bemerkte er, keine Zeichnung könne eine Vorstellung von diesem Monument vermitteln, es sei denn eine Fotografie, die von Maxime Du Camp aufgenommen worden sei. Aber er fügt sogleich eine Beschreibung hinzu, die die Aspekte der Pyramide evoziert und die eine Fotografie nicht zu zeigen vermöge. Wenn Flaubert, ähnlich wie Baudelaire,29 dem neuen Medium gegenüber skeptisch war, so erkannte er immerhin, dass die Fotografie eine neue Wahrnehmungsweise schuf. 1.1 Buchillustrationen
Es gibt noch einen unmittelbareren Text-Bild-Bezug: die Illustrationen literarischer Texte. Auch hier war Flaubert kategorisch dagegen. Hinsichtlich des Projekts einer illustrierten Ausgabe von Salammbô schrieb er an seinen Freund Ernest Duplan: »Solange ich lebe, werde ich Illustrationen meiner Bücher verhindern. Denn die schönste literarische Beschreibung wird selbst durch die mittelmäßigste Zeichnung verdrängt. Denn sobald ein Typ mit dem Zeichenstift festgehalten ist, verliert er seine Allgemeinheit, diese Übereinstimmung mit tausend bekannten Sachen, die den Leser sagen lässt: ›Das habe ich so gesehen‹ oder ›So muss es sein.‹ Eine gezeichnete Frau gleicht einer Frau. Die Idee davon ist dann erschöpft, und alle weiteren Sätze sind unnütz. Eine beschriebene Frau hingegen lässt von tausend Frauen träumen. Es geht hier um eine ästhetische Frage. Darum lehne ich jede Form von Illustration meiner Texte ab.«30
Flaubert widersetzt sich so radikal der Idee einer Konvertibilität zwischen Wort- und Bildkunst, um die Spezifität der Künste zu betonen. »Während ein reales Ding, z. B. ein Baum, sich im Wechsel seiner Erscheinungsformen (kahl, belaubt, noch als geschlagenes Holz) als der immer gleiche kategoriale Sachbestand behauptet und als solcher auch sprachlich bestimmt zu werden vermag, kann dies von einem gemalten Baum niemals gelten. Die Idende voir. Est-ce que la photographie est ressemblante? pas plus que la peinture à l’huile, ou tout autant.« 29 | Susan Blood: »Baudelaire Against Photography. An Allegory of Old Age«, in: MLN 101 (September 1986) 4, S. 817–837. 30 | Flaubert: Correspondance, Bd. III, S. 221 f.: »Jamais, moi vivant, on ne m’illustrera, parce que la plus belle description littéraire est dévorée par le plus piètre dessin. Du moment qu’un type est fixé par le crayon, il perd ce caractère de généralité, cette concordance avec mille objets connus qui font dire au lecteur: ›J’ai vu cela‹ ou ›Cela doit être‹. Une femme dessinée ressemble à une femme, voilà tout. L’idée est dès lors fermée, complète, et toutes les phrases sont inutiles, tandis qu’une femme écrite fait rêver à mille femmes. Donc, ceci étant une question d’esthétique, je refuse formellement toute espèce d’illustration.« 28
Frühgeschichte der Intermedialität: Flaubert
tität eines realen Dinges beruht auf der Möglichkeit, sein Sein von seinem Erscheinungswesen zu trennen. Dies kann deshalb gelingen, weil die kategoriale Stabilität einer Sache durch ihre wechselnden Erscheinungsformen hindurch einen Vorrang behält, der traditionell auch als der Unterschied von Substanz und Akzidenzien beschrieben wurde. [. . .] Die Identität des gemalten Dinges konstituiert sich völlig anders. Der im Bild erscheinende Baum ist vom Ort und vom Kontext seines Erscheinens nicht abzuheben.«31
Was für Flaubert wichtig ist, das ist die literarische Wirkung. Die evozierten Dinge und die Personen sollen einen solchen konkreten Allgemeinheitsgrad erreichen, dass der Leser seine eigene Welt darin wiederfinden kann. »Es hat keinen Sinn«, so schrieb er, »so viel Arbeit aufzuwenden, damit alles im Vagen bleibt, damit dann irgendein Flegel kommt und mit seiner albernen Präzision meinen Traum zerstört.«32 Ein einziges Mal wünschte Flaubert, dass man ein Bild einem seiner Texte hinzufüge, nämlich seiner Erzählung Saint Julien eine Lithochromie des entsprechenden Kirchenfensters der Kathedrale von Rouen. »Diese Illustration gefiel mir gerade«, so schrieb er, »weil sie keine Illustration war, sondern ein historisches Dokument. Wenn man das Bild und den Text vergleicht, soll man sich sagen: ›Ich verstehe das nicht. Wie hat er einen Text aus diesem Bild entwickelt?‹«33 1.2 Flauberts visuelle Sensibilität
Wenn Flaubert das fotografische Bild und die Textillustration ablehnt, dann weil er überzeugt ist, dass die beiden Darstellungsmodi die spezifisch literarische Darstellungsweise nicht ersetzen können. Das heißt aber keineswegs, dass ihm eine visuelle Sensibilität abging und dass er 31 | Gottfried Boehm: »Zu einer Hermeneutik des Bildes«, in: Hans-Georg Gadamer/Gottfried Boehm (Hg.): Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978, S. 444–471, hier: S. 449 f. 32 | Flaubert: Correspondance, Bd. III, S. 226: »Ce n’était pas la peine d’employer tant d’art à laisser tout dans le vague, pour qu’un pignouf vienne démolir mon rêve par sa précision inepte.« 33 | Ebd., Bd. V, S. 543: »Et cette illustration me plaisait précisément parce que ce n’était pas une illustration, mais un document historique. – En comparant l’image au texte on se serait dit: ›Je n’y comprends rien. Comment a-t-il tiré ceci de cela?‹« Flaubert konnte allerdings nicht verhindern, dass man sich nach seinem Tode nicht mehr an sein Illustrationsverbot hielt. Zu seiner Tentation de saint Antoine gibt es zahlreiche Illustrationen, insbesondere die von Odilon Redon. Siehe dazu Claudia Müller-Ebeling: »Verbotene Illustrationen. Zehn illustrierte Ausgaben der Tentation de saint Antoine von Gustave Flaubert«, in: Philobiblon 37 (1993) 1, S. 273–289. 29
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sich nicht für die bildende Kunst interessiert hätte. Die visuelle Perzeption scheint ihm ein fast mystisches Glücksgefühl zu verschaffen. Das kann man etwa seinen schon erwähnten Notizen zur Ägypten-Reise entnehmen.34 Sein Blick ist nicht nur sinnlich, sondern auch analytisch. Das Sehen ist in seinen Augen die unabdingbare Voraussetzung für das Schreiben. So richtete er sich 1845 an seinen Schriftstellerfreund Alfred de Pottevin: »Beobachte wenigstens alles gut, untersuche mir jedes Detail, mach’ dich zum Augapfel«.35 Oder etwas später: »Damit eine Sache interessant wird, genügt es, sie lang zu betrachten.«36 Als er durch Ägypten reiste, machte er sich zunächst beschreibende Notizen, dann gab er, wie er schrieb, diese Albernheit bald auf. Es sei viel besser, ganz schlicht Auge zu sein.37 Flaubert nutzte seinen Sehsinn nicht nur gegenüber der Natur, sondern auch angesichts der Werke der bildenden Kunst. Er berichtet mit großer Bewegung von der emotionalen Wirkung, die Gravuren in seiner Kindheit auf ihn ausübten. Ein großer emotionaler und intellektueller Schock wurde durch Breughels Gemälde Die Versuchung des Heiligen Antonius bei ihm ausgelöst, das er 1845 im Palazzo Balbi in Genua sah. »Das ist das Werk meines Lebens«, schrieb er noch 1872 in einem Brief, »da die erste Idee meines künftigen Romans mir in Genua vor dem Bild Breughels kam, und seit dieser Zeit habe ich nicht aufgehört, daran zu denken.«38 Das Bild von Breughel ist aber für Flaubert nicht so sehr eine materielle Quelle für seinen künftigen Roman als vielmehr Ausgangspunkt einer Ästhetik, die Chimären erfassen und das Unfassbare träumen will. Da Flaubert keine Reproduktion von Breughels Bild kaufen konnte, verschaffte er sich 1846 die Gravur einer Radierung von Jacques Callot aus dem Jahre 1634, die dasselbe Sujet darstellte und die er in seinem Pavillon in Croisset aufhängte. »Ich liebe dieses Bild sehr«, schrieb er in einem Brief. »Schon lange wünschte ich es mir. Das Traurig-Groteske 34 | Gustave Flaubert: Voyage en Egypte. Edition intégrale du manuscrit original établie et présentée par Pierre-Marc de Biasi, Paris: Grasset 1991, S. 274. 35 | Flaubert: Correspondance, Bd. I, S. 234: »Observe bien tout cela au moins, étudie-moi chaque détail, fais-toi prunelle.« 36 | Ebd., S. 252: »Pour qu’une chose soit intéressante il suffit de la regarder longtemps.« 37 | Ebd., S. 602: »[. . .] il vaut mieux être œil tout bonnement«. 38 | Ebd., Bd. IV, S. 531: »C’est l’œuvre de toute ma vie«, schrieb er noch 1872 in einem Brief an Frau Leroyer de Chantepie, »puisque la première idée [du futur roman] m’est venue à Gênes, devant un tableau de Breughel et depuis ce temps-là je n’ai cessé d’y songer et de faire des lectures afférentes«. 30
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ist für mich von einem unerhörten Reiz. Es entspricht den tiefsten Bedürfnissen meiner possenhaft bitteren Natur. Es bringt mich nicht zum Lachen, sondern zum unablässigen Träumen.«39 Flaubert fand so in diesem Bild eine Übersetzung seiner Innenwelt und seiner Ästhetik, die das Grotesk-Traurige erfassen wollte und die von diesem ›unmöglichen‹ Sujet fasziniert war. Es gibt zahllose Kommentare von Flaubert zur Malerei, zu den Gemälden, die er gesehen hatte, sowohl in seiner Korrespondenz als auch in seinen Notizbüchern aufgrund seiner Museumsbesuche in Frankreich, Italien und im Orient. Adrianne Tooke glaubt, dass Flaubert eine umfassendere Kenntnis der damaligen Kunstsammlungen hatte als Théophile Gautier oder die Brüder Goncourt.40 Er hat aber im Unterschied zu anderen Schriftstellerkollegen nie die etablierte Gattung der Kunstkritik ausgeübt, obwohl er auch dazu angehalten wurde. »Ich befinde es nicht für richtig«, so schrieb er in einem Brief, »dass man als Kritiker für eine Kunstgattung tätig wird, mit deren Technik man nicht vertraut ist.«41 Flaubert glaubte nicht, Kunstkritik durch die alleinige diskursive Kompetenz des Schriftstellers legitimieren zu können. In seinen Augen ist eine technische Kompetenz unabdingbar. Das belegt einmal mehr seinen ausgesprochenen Sinn für die Spezifität einer jeden Kunstgattung.
2. Die pikturale Schreibweise Ausgestattet mit einem wachen Sehsinn und einer großen Sensibilität für das bildliche Kunstwerk, aber ablehnend gegenüber der Fotografie, der Textillustration und der Kunstkritik äußerte Flaubert seinen Bildsinn in entscheidender Weise in seinen fiktionalen Werken, und dies auf zwei Arten. Zunächst waren Kunstwerke Inspirationsquellen für seine Werke – wir haben das schon für die Tentation de saint Antoine gesehen. Er vertraute 39 | Ebd., Bd. I, S. 307: »J’aime beaucoup cette œuvre. Il y avait longtemps que je la désirais. Le grotesque triste a pour moi un charme inouï. Il correspond aux besoins intimes de ma nature bouffonnement amère. Il ne me fait pas rire mais rêver longuement.« 40 | Adrianne Tooke: Flaubert and the Pictorial Arts, Oxford: Oxford University Press 2000, S. 97–180; dies.: »Flaubert on Painting. The Italian Notes (1851)«, in: French Studies XLVIII (1994), S. 154–173. 41 | Flaubert: Correspondance, Bd. IV, S. 917: »[. . .] je n’admets pas que l’on fasse la critique d’un art dont on ignore la technique!« 31
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nicht bloß der Imagination. Er stützte sich für seine Romane auf eine Vielzahl schriftlicher Quellen, aber auch auf bildliche Darstellungen. Außerdem zeichnen sich die Romane von Flaubert durch eine Vielzahl von bildlichen Passagen aus. Die zahlreichen Beschreibungen, Porträts, Szenen und Tableaux sind dem visuellen Register zuzurechnen. Ich komme zunächst zurück auf den ersten Punkt. 2.1 Kunstwerke als Inspirationsquelle
Im Roman Madame Bovary finden sich zahllose Anspielungen auf die industriell gefertigte Bilderwelt.42 In einer Wirtschaft im Saint-GervaisViertel essen Emma und ihr Vater aus zerkratzten bemalten Tellern, in denen die Geschichte der Mademoiselle de La Vallière dargestellt ist – eine Anspielung auf eine Geliebte von Louis XIV, die dann ins Kloster eintrat – ein Motiv, das in der katholischen Erbauungspropaganda sehr verbreitet war. Im Gebetbuch während der Messe betrachtet die junge Emma die sentimentalen religiösen Vignetten. In eine fantastische Welt wird Emma entführt durch die Lektüre der Keepsake, romantischen Heftchen, die neben Gedichten und Geschichten viele bildliche Darstellungen enthielten. In der Kirche von Yonville steht die Kopie eines Bildes der Heiligen Familie, die vom Innenministerium übersandt wurde. Kunst ist in der dörflichen Welt im Roman von Flaubert vor allem Kopie. In der Vitrine des Apothekers Homais erscheint die ästhetische Anordnung der Gegenstände völlig im Dienste des Kommerzes. Die Sentimentalität von Léon leuchtet auf, wenn er Emma mit der Figur einer Muse in Verbindung bringt, die er in einem Laden gesehen hat, oder wenn er sie wiederum vergleicht mit klischeehaften Figuren der bildenden Kunst, etwa mit der Odaliske im Bad oder der ›bleichen Frau von Barcelona‹. Die Welt der reproduzierten Bilder ist in Madame Bovary omnipräsent; es ist eine banalisierte Bilderwelt, meist Reproduktionen von romantisch-sentimentalem Inhalt. Diese banale Bildwelt kennzeichnet vor allem Emmas Liebhaber Léon – sie steht in Parallele zur Evasions-Literatur von Emma. Für den Roman Salammbô stützte Flaubert sich auf umfangreiche historische Quellen,43 aber auch auf seine Orienterinnerungen, die er bei 42 | Siehe dazu Jean Seznec: »Flaubert and the graphic Arts«, in: Journal of the Warburg & Courtauld Institutes VIII (1945), S. 175–190; ders.: »Madame Bovary et la puissance des images«, in: Médecine de France 8 (1949), S. 37–40; Philippe Hamon: Imageries, littérature et image au XIXe siècle, Paris: José Corti 2001, passim. 43 | Siehe dazu Joseph Jurt: »Literatur und Archäologie. Die Salammbô -De32
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Abbildung 3: Lithographie von Daumier: Le gamin de Paris aux Tuileries
seiner dreimonatigen Reise nach Tunesien und Algerien 1858 auffrischte. Noch wichtiger als die wenigen Überreste der punischen Zivilisation war für ihn der unmittelbare visuelle Kontakt mit den Schauplätzen seines Romans: »Ich habe den Wind gespürt, den Himmel, die Berge, die Fluten des Meeres sehr intensiv betrachtet«44 , schrieb er in einem Brief. Man konnte aber auch nachweisen, dass Flaubert sich bei den Schilderungen in seinem Roman in sehr direkter Weise an Personen und Szenen erinnerte, welche von Orientmalern beschworen worden waren, die damals sehr en vogue waren: Decamps, Delacroix, Horace Vernet, deren Bilder er oft gesehen hatte oder zumindest die Reproduktionen in der Zeitschrift L’Artiste.45 Für die Schilderung der 48er Revolution in L’Education sentimentale stützte sich Flaubert auf zahllose schriftliche und bildliche Quellen. Er batte«, in: Brigitte Winklehner (Hg.): Literatur und Wissenschaft. Begegnung und Integration, Festschrift Rudolf Baehr, Tübingen: Stauffenburg 1987, S. 101–117. 44 | Flaubert: Correspondance, Bd. V, S. 271: »J’ai bien humé le vent, bien contemplé le ciel, les montagnes et les flots«. 45 | Louis Hourticq: La Vie des images, Paris: Hachette 1927, S. 208–214. 33
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bezog sich auf Gravuren und Lithografien, die Szenen der Revolution populär machten. Er übernahm aber nicht einfach die Vorlagen, sondern veränderte sie oder vermittelte sie über die Perspektive einer Person. Die schon erwähnte Zeitschrift L’Illustration hatte eine Broschüre Journées illustrées de la Révolution mit zahlreichen Gravuren herausgegeben. Die Bemerkung »Le fauteuil fut enlevé à tour de bras, et traversa toute la salle en se balançant«46 erinnert an eine Gravur daraus: Le peuple promenant le trône de Louis-Philippe47 . Im selben Kapitel liest man bei Flaubert: »Sur le trône, en dessous, était assis un prolétaire à barbe noire.«48 – Das erinnert an eine Karikatur von Daumier mit dem Titel Le gamin de Paris aux Tuileries (Abbildung 3)49 . Flaubert inspirierte sich bei seiner Figurengestaltung in der Tat oft an den Karikaturisten, wie Daumier, Gavarni und Henri Monnier. Sein satirischer Blick auf die Mittelmäßigkeit und Beschränktheit der Bürger orientiert sich an diesen Darstellungen. Rosanette in der Education erinnert an Freudenmädchen von Gavarni. Wenn er die zeitgenössischen Künstler – außer Gustave Moreau – als zu akademisch betrachtete, so schätzte er doch – ähnlich wie Baudelaire – die Karikaturisten sehr. Wenn er für volkstümliche Kunst aufgeschlossen war, dann war das im Kontext der etablierten Kultur provozierend und ironisch gemeint. Schließlich kann man noch auf die Werke der Schule von Barbizon hinweisen, die Flaubert eine Inspirationsquelle für die Schilderung des Waldes von Fontainebleau in der Education sentimentale waren. Die visuellen Vorbilder in der Kathedrale von Rouen für die Trois Contes haben wir schon erwähnt. Vertraut war er auch mit den verschiedenen Darstellungen Salomés durch Gustave Moreau, als er seine Salomé in der Erzählung »Hérodias« schilderte. 2.2 Malerische Passagen
Es gibt schließlich auch zahlreiche malerische Passagen in den Fiktionen Flauberts, wo er sich selber als ein Maler mit Worten versteht, der ›lesbare‹ Bilder schaffen will. Diese malerischen Perspektiven sind aber nicht mit den Beschreibungen identisch. Denn in den Augen Flauberts löst die einfache Beschreibung, die Aufzählung von Details noch nicht 46 | Gustave Flaubert: L’Education sentimentale, Paris: Garnier 1964, S. 290. 47 | Journées illustrées de la Révolution de 1848. 3ème livraison, Paris: L’Illustration 1848, S. 11. 48 | Flaubert: L’Education sentimentale, S. 290. 49 | Siehe Alberto Cento: Il realismo documentario nell’ »Education sentimentale«, Napoli: Liguori 1967. 34
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einen malerischen Effekt aus. Erst eine gewisse Suggestion lässt ein Bild entstehen, lässt sehen, träumen. So hat er etwa hinsichtlich der beschreibenden Poesie von Leconte de Lisle geschrieben: »Ihm fehlt die Fähigkeit, [die Dinge] zum Sehen zu bringen.«50 Théodore de Banville hingegen hat sehr gut das übersetzt, was Flaubert unter der malerischen Qualität der Literatur verstand. »Nicht indem man die Gegenstände in ihren verschiedensten Aspekten und Details beschreibt, kann man sie zum Sehen bringen. In unserem Geist entsteht das Bild, weil der Maler es so wollte oder auch der Poet.«51 Flaubert versuchte, rein statische Beschreibungen zu vermeiden und ebenfalls der Versuchung der allzu gängigen romantischen Metaphorik zu widerstehen. »Ich leide unter dem Zwang zur Metapher, der mich zu sehr bestimmt. Ich werde von Vergleichen verfolgt wie von Flöhen, und ich verbringe meine Zeit, sie zu vernichten«52 – so in einem Brief von 1852. In seinen malerischen Passagen versucht Flaubert, das Spiel des Lichts wiederzugeben, und dadurch dynamisiert er die Beschreibung. Hier ein Beispiel aus Madame Bovary: »Par les barreaux de la tonnelle et au delà tout alentour, on voyait la rivière dans la prairie, où elle dessinait sur l’herbe des sinuosités vagabondes. La vapeur du soir passait entre les peupliers sans feuilles, estompant leurs contours d’une teinte violette, plus pâle et plus transparente qu’une gaze subtile arrêtée sur leurs branchages. Au loin, des bestiaux marchaient; on n’entendait ni leurs pas, ni leurs mugissements; et la cloche, sonnant toujours, continuait dans les airs sa lamentation pacifique.«53 50 | Flaubert: Correspondance, II, S. 298: »et il lui manque la faculté de faire voir«. 51 | Théodore de Bainville: Petit traité de poésie française, Paris: Lemerre 1891, S. 54 f., zitiert nach Tooke: Flaubert and the Pictorial Arts, S. 74 f. (übersetzt von J. J.). 52 | Flaubert: Correspondance, II, S. 220: »Je suis gêné par le sens métaphorique qui décidément me domine trop. Je suis dévoré de comparaisons, comme on l’est de poux, et je ne passe mon temps qu’à les écraser; [. . .]« 53 | Flaubert: Madame Bovary, Paris, S. 103. (»Durch die Latten der Gartenlaube sah man den Fluss sich weithin durch die Wiesen schlängeln. In den noch kahlen Pappeln hing der Abenddunst und verwischte ihre Umrisse mit einem Violett, das zarter und durchsichtiger war als ein über ihr Geäst gehängter feiner Schleier. In der Ferne sah man Vieh vorbeiziehen; man hörte es nicht gehen und nicht muhen; nur die Glocke läutete weiter und sandte ihr friedliches Klagelied in den Himmel.« [Gustave Flaubert: Madame Bovary, übersetzt von René Schickele und Irene Riesen, Zürich: Diogenes 1979, S. 132.]) 35
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Dass es sich hier um eine malerische Passage handelt, ist offensichtlich. Die visuelle Dimension wird gleich zu Beginn angesprochen durch das Verb »on voyait« (»man sah«); damit wird auch ein Blickpunkt markiert. Sichtbare Aspekte werden hervorgehoben: Farben (»violet« [»violett«], »pâle« [»bleich«]) und auch Formen (»des sinuosités« [»Krümmungen«], »contours« [»Konturen«]). Aber gleichzeitig tritt der Autor mit Worten in Konkurrenz mit dem Maler, indem er die Landschaft als bewegte evoziert (»passait« [»ging vorbei«], »estompait« [»verwischte, verblasste«], »marchaient« [»liefen«]). Die akustische Dimension wird zunächst verneint: »on n’entendait ni . . . ni . . .« (»man hörte weder . . . noch . . .«), dann wird aber der Ton der Glocke evoziert und gleichzeitig über eine anthropomorphe Projektion interpretiert (»lamentation pacifique« [»friedliche Klage«]) – was nur in der Literatur möglich ist, für Flaubert eine »immaterielle Kunst«.54 Eine andere Beschreibung muss man in diesem Zusammenhang unbedingt erwähnen, die Beschreibung von Rouen. »Ich habe die Absicht, Rouen zu schildern« (»peindre Rouen«),55 schrieb er in einem Brief an Louis Bouilhet im Mai 1855. Hier nun die Beschreibung: »Puis, d’un seul coup d’œil, la ville apparaissait. Descendant tout en amphithéâtre et noyée dans le brouillard, elle s’élargissait au delà des ponts, confusément. La pleine campagne remontait ensuite d’un mouvement monotone, jusqu’à toucher au loin la base indécise du ciel pâle. Ainsi vu d’en haut, le paysage tout entier avait l’air immobile comme une peinture; les navires à l’ancre se tassaient dans un coin; le fleuve arrondissait sa courbe au pied des collines vertes, et les îles, de forme oblongue, semblaient sur l’eau de grands poissons noirs arrêtés. Les cheminées des usines poussaient d’immenses panaches bruns qui s’envolaient par le bout. On entendait le ronflement des fonderies avec le carillon clair des églises qui se dressaient dans la brume. Les arbres des boulevards, sans feuilles, faisaient des broussailles violettes au milieu des maisons, et les toits, tout reluisants de pluie miroitaient inégalement, selon la hauteur des quartiers. Parfois un coup de vent emportait les nuages vers la côte Sainte-Catherine, comme des flots aériens qui se brisaient en silence contre une falaise. Quelque chose de vertiginieux se dégageait pour elle de ces existences amassées, et son cœur s’en gonflait abondamment comme si les cent vingt mille âmes qui palpitaient là lui eussent envoyé toutes à la fois la vapeur des passions qu’elle leur supposait. Son amour s’agrandissait devant l’espace, et s’emplissait de tumulte aux bourdonnements vagues qui montaient. Elle le reversait au dehors, sur les places, sur les promenades, sur les rues, et la vieille cité normande 54 | Flaubert: Correspondance, II, S. 446. 55 | Ebd., S. 575. 36
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s’étalait à ses yeux comme une capitale démesurée, comme une Babylone ou elle entrait.«56
Auch hier wird gleich zu Beginn die visuelle Perzeption markiert: »d’un seul coup d’œil« (»mit einem einzigen Blick«), »vu d’en haut« (»von der Höhe aus gesehen«). Auch hier wird die Landschaft wieder dynamisiert durch Verben, die eine Bewegung anzeigen (»descendant« [»ging hinunter«], »elle s’élargissait« [»sie weitete sich aus«], »le fleuve arrondissait sa courbe« [»der Fluss schlängelte sich«], »les cheminés poussaient« [»aus den Fabrikschloten quollen«]). Aber auch hier wird die visuelle Wahrnehmung durch die akustische ergänzt: »on entendait le ronflement [. . .] avec le carillon clair« (»über dem dumpfen Dröhnen hörte man das helle Geläut der Glocken«). Dann wird die visuelle Kunst noch explizit genannt. »Vu d’en haut, le paysage tout entier avait l’air immobile comme une peinture« (»Von der Höhe aus erschien die Landschaft unbewegt wie ein Gemälde«). Der Schriftsteller schreibt so der Malerei die Statik zu. Die Literatur erscheint dann implizit vielseitiger, weil sie das Statische zu dynamisieren vermag. 56 | Flaubert: Madame Bovary, Paris, S. 244. (»Dann mit einemmal, tauchte die Stadt auf. Sie lag wie ein Amphitheater unter ihnen, in Nebel gehüllt, und setzte sich jenseits der Brücken im trüben Licht weiter fort. Dahinter stieg monoton das offene Land an, bis es sich in der Ferne mit dem bleichen Himmel vereinte. Von der Höhe aus glich die Landschaft in ihrer Starrheit einem Gemälde; die vor Anker liegenden Schiffe drängten sich in einem Winkel des Hafens zusammen; der Fluß schlängelte sich um die grünen Hügel, und die länglichen Inseln glichen großen schwarzen Fischen, die unbeweglich auf dem Wasser lagen. Aus den Fabrikschloten quollen dicke braune Rauchwolken, die nach oben zerfaserten. Über dem dumpfen Dröhnen der Eisenhütten schwand das helle Geläut der Kirchen, die in den Nebel ragten. Die kahlen Bäume der Boulevards wuchsen zwischen den Häusern wie violette Büsche hervor, und die vom Regen nassen Dächer glänzten bald heller, bald dunkler, je nach der Lage des Stadtviertels. Manchmal packte ein Windstoß die Wolken und trieb sie gegen die Anhöhe von Sainte-Catherine wie luftige Wogen, die lautlos an einer Klippe zerstoben. Für Emma ging etwas Schwindelerregendes von dieser Masse dicht beieinander lebender Menschen aus, und es stiegen ihr fast die Tränen in die Augen, als ob die hundertzwanzigtausend Herzen, die dort unten schlugen, ihr alle auf einmal den Hauch der Leidenschaften heraufsendeten, die sie in ihnen vermutete. Ihre Liebe wuchs in der Weite dieses Raums, und das dumpfe Geräusch, das aus der großen Stadt heraufstieg, berauschte sie. Sie übertrug ihre Gefühle auf die Straßen, die Plätze und die Promenaden, und die alte Normannenstadt lag wie eine gewaltige Metropole vor ihr, wie ein Babylon, in das sie einzog.« [Flaubert: Madame Bovary, Zürich, S. 305 f.]) 37
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Die Beschreibung erscheint indes wie die Beschreibung eines Bildes. Es wird zwischen Hinter- und Vordergrund unterschieden. Die Stadt wird wie ein Amphitheater gesehen (Blick von oben). Formen werden erwähnt, die Krümmung des Flusses, »la forme oblongue des îles« (»längliche Inseln«). Farben werden auf der Fläche verteilt: »noirs« (»schwarz«), »verts« (»grün«), »brun« (»braun«), »violet« (»violett«). Die Beschreibung beginnt mit einem Panorama und endet mit dem Himmelshorizont in der Ferne; sie ist deutlich in zwei Abschnitte gegliedert. Im ersten Abschnitt wird die Stadt so gezeigt, wie sie ist, im zweiten wird sie durch den Blick Emmas gefiltert. Die allgemeine Perspektive im ersten Abschnitt wird angezeigt durch die unpersönliche Wahrnehmung: »on apercevait« (»man nahm wahr«), »on entendait« (»man hörte«.) Dann wirkt die Stadt auf Emma: »Für Emma ging etwas Schwindelerregendes von dieser Masse aus«, »son cœur s’en gonflait« (»ihr Herz schlug höher«), »son amour grandissait« (»ihre Liebe wuchs«). Die Wirkung der Stadtlandschaft auf Emma gipfelt in der imaginären Verwandlung der »alten Normannenstadt« in eine »capitale démesurée« (»eine grenzenlose Metropole«), in ein erträumtes Babylon. Rouen ist in ihren Augen (»à ses yeux«) zum Babylon geworden. Die Imagination von Emma verleiht der Stadt eine Aura der Dekadenz und schreibt den braven Normands ein romantisches Leben zu, das sich vor allem ihrer Lektüre der romantischen Heftchen verdankt.57 Philippe Hamon stellt in der genannten Beschreibung von Rouen überdies ein Verfahren fest, das er »metonymisches« Bild nennt.58 So werden die länglichen Inseln mit »großen schwarzen Fischen« verglichen; oder die Figuren der normannischen Bauern haben die Süßmostfarbe. Das Bild wird nur mehr durch die Berührungsrelation geschaffen und nicht mehr durch die Analogie, wie das für die Metapher der Romantik der Fall ist. Diese Einebnung des Bildes bedeutet nach Hamon das Scheitern der Analogie in einem Roman, der das Scheitern thematisiert. Die Realität erscheine nur mehr als Inventar von nebeneinandergereihten Gegenständen. Die metonymischen Bilder seien so ein Pendant zu den zahllosen industriellen Bildern in der realen Welt. Schließlich könnte man in der Education sentimentale auch noch einen Künstlerroman sehen.59 Frédéric hatte als Schüler pittoreske Sujets ge57 | Zur subjektiven Dimension der Beschreibung, die sich der Fokalisierung durch Emma verdankt, siehe Jean Maurice: »Descriptions de Rouen au XIXe siècle. ›Réalisme‹ et ›illusionisme‹«, in: Etudes normandes 2 (1990), S. 121–129. 58 | Hamon: »Images à lire et images à voir«, S. 239. 59 | Siehe zu diesem Aspekt Alison Fairlie: »Pellerin et le thème de l’art 38
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zeichnet; später will er auch malen. Er schwankt zwischen Malerei, Musik und Literatur und möchte dann wieder zur Malerei zurückkehren, die ihn auch in die Nähe von Madame Arnoux, der Frau des Kunsthändlers, brächte. Flaubert rahmt Frédéric mit zwei Figuren aus der Welt der Kunst ein: M. Arnoux und Pellerin, dem Maler. Pellerin war im Übrigen auch der Name des Erfinders der Epinal-Bilder. Pellerin vertritt zunächst ein ästhetisches Ideal, das dem von Flaubert entspricht; er tritt für eine Kunst ohne Kompromisse ein. Er ist allerdings eine ambivalente Figur. Trotz bester Absichten sind seine Realisierungen nicht auf der Höhe seiner Ideen. Er gibt sich damit zufrieden, die großen Meister nachzuahmen. Aus den Entwürfen zum Roman wird klar, dass Flaubert über diese Figur eine enge Mimesis-Konzeption kritisieren wollte. Pellerin malt zu drei Schlüsselszenen jeweils Bilder, das Porträt von Rosanette, dann das Tableau républicain und schließlich das Porträt des toten Sohnes von Rosanette. In den beiden Porträts sucht er alte Meister zu imitieren und scheitert. Im Kontext der 48er Revolution produziert er sein Tableau républicain La République, ou le Progrès, ou la Civilisation, sous la figure de Jésus-Christ conduisant une locomotive, laquelle traversait une forêt vierge.60 Allein schon der Titel, der in heterokliter Weise Sujets aneinanderreiht, übersetzt Flauberts Ironie gegenüber einer Kunst, die sich als engagierte versteht und die Flaubert als einen Niedergang Pellerins hinsichtlich seines ersten ästhetischen Ideals einschätzt. Der Niedergang wird nach ihm auch dadurch angezeigt, dass der Maler zum Fotografen wird, nach Baudelaire »das Refugium aller gescheiterten Maler«.61 Der allgemeine Niedergang wird aber auch in der Figur von Arnoux sichtbar, der sich zuerst als Maler verstand, um dann Inhaber eines Kunstjournals und eines Kunstgeschäfts zu werden, mit dem bezeichnenden Titel »L’Art Industriel«. Er repräsentiert die Kompromittierung der Kunst dans L’Education sentimentale«, in: Europe 485–487 (Sept.–Nov. 1969), S. 38– 50; ders.: »Aspects de l’histoire de l’art dans L’Education sentimentale«, in: R. H. L. F. (Juli–Okt. 1981), S. 597–608; Helena Shillony: »L’art dans L’Education sentimentale et L’Œuvre. (Re)production et originalité«, in: Australian Journal of French Studies XIX (1982) 1, S. 41–50; Claudine Gothot-Mersch: »Quand un romancier met un peintre à l’œuvre. Le portrait de Rosanette dans L’Education sentimentale«, in: Jean-Louis Cabanès (Hg.): Voix de l’écrivain. Mélanges offerts à Guy Sagnes, Toulouse: Presses universitaires du Mirail 1996, S. 103– 115. 60 | Flaubert: L’Education sentimentale, S. 300. 61 | Charles Baudelaire: »Salon de 1859«, in: ders.: Critique d’art, Œuvres complètes, Bd. II, Paris: Gallimard 1992, S. 278. 39
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durch das Geld sowie das billig zu habende Sublime, das die Bourgeois so mögen, um dann als Devotionalienhändler im Saint-Sulpice-Viertel zu enden. Über diese satirischen Porträts brachte Flaubert seine Enttäuschung gegenüber dem Fehlen jeder künstlerischen Sensibilität bei einer großen Zahl seiner Zeitgenossen zum Ausdruck. »Die Leute werden immer alberner in Sachen Kunst«, schrieb er in einem Brief. »Was Kunst ist, entgeht ihnen. Die Erklärungen sind für sie wichtiger als der Text«.62 Man kann mit Manuela Günter im Gefolge von Walter Benjamin und Gustav Le Bon einen Konnex zwischen den (neuen) Medien und der Masse sehen.63 Die Tausenden von getrennten Einzelnen können unter dem Einfluss neuer Verbreitungsmedien, die heftige Gemütsbewegungen auslösen, die Kennzeichen einer psychologischen Masse annehmen. Flaubert steht diesem Konnex entgegen. Er wollte immer gegen die Masse schreiben, verstand sich als Zugehöriger einer kleinen Kunstgemeinde und war nicht bereit, Kompromisse einzugehen. Nicht die Breitenwirkung war ihm wichtig, sondern das ästhetische Überleben. Gegenüber den neuen Medien – der Fotografie, den vervielfältigten Bildern, der Presse – war er äußerst skeptisch.64 Trotzdem sind die Medien in seiner Welt ex negativo präsent. Er behauptet noch einmal den Primat der Literatur und will durch sein Werk den Beleg erbringen, dass die Literatur jeder Konkurrenz gewachsen ist, ja die visuellen Medien überbieten kann.
62 | Flaubert: Correspondance, Bd. VI, S. 3: »Les gens deviennent de plus en plus ineptes en matière d’art. C’est que l’art lui-même leur échappe. Les gloses sont pour eux chose plus importante que le texte.« 63 | Manuela Günter: Im Vorhof der Kunst. Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert, Bielefeld: transcript 2008. 64 | Auch Yvan Leclerc schreibt Flauberts Ablehnung der Fotografie einem anti-demokratischen Reflex des Autors zu: »A de multiples reprises, Flaubert s’est exprimé directement sur son refus de la photographie. Il s’alimente à un fonds d’idéologie antidémocratique (la photographie de tous et pour tous) et antiprogressiste: ce ›procédé mécanique‹ qui revendique une place dans le champ de l’art lui paraît aussi incongru que l’usage de la plume de fer pour écrire de la sacro-sainte littérature.« (Leclerc: »Portraits de Flaubert et Maupassant en photophobes«, S. 101.) 40
Medienkonkurrenz und literarische Selbstlegitimierung bei Thomas Mann Rolf J. Goebel (Huntsville)
1. Die klassische Moderne ist ein diskursives Schlachtfeld, auf dem die Schrift mit dem Auflösungsprozess fertig werden muss, den Walter Benjamin als die Zerstörung der Aura des klassisch-autonomen Kunstwerks – des quasikultischen Scheins seiner historisch verbürgten Einzigartigkeit und Authentizität – durch technische Reproduktionsmedien beschreibt.1 Zunehmend fühlt sich das traditionelle Prinzip der Schriftlichkeit, besonders vertreten vom poetisch-fiktionalen Diskurs, durch die körperlose Stimme und die vom sichtbaren, physisch präsenten Orchester abgelöste Musik des Grammophons oder durch die flüchtigen Oberflächenbilder des Films verdrängt. Um 1900 zeichnet sich also ab, wie Friedrich A. Kittler gezeigt hat, dass die »Ersatzsinnlichkeit Dichtung« durch zwei neue Techniken ersetzbar wird: »Das Grammophon entleert die Wörter, indem es ihr Imaginäres (Signifikate) auf Reales (Stimmphysiologie) hin unterläuft [. . .]. Der Film entwertet die Wörter, indem er ihre Referenten, diesen notwendigen, jenseitigen und wohl absurden Bezugspunkt von Diskursen, einfach vor Augen stellt.«
Unter freier Berufung auf Jacques Lacans psychoanalytische Kategorien folgert Kittler: »Was am Sprechen das Reale ist, fällt dem Grammophon zu, was das im Sprechen oder Schreiber produzierte Imaginäre ist, dem Spielfilm.«2 Es wäre aber verfehlt, von einer linearen Ablösung oder Ersetzung der Schriftlichkeit durch die audiovisuellen Reproduktions- und Kommunikationsmedien zu reden. Zu dieser Sicht tendieren allerdings meh1 | Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« (Dritte Fassung), in: ders.: Gesammelte Schriften I.2, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 471–508. 2 | Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, München: Wilhelm Fink 4 2003, S. 297.
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rere Aussagen Kittlers: »der fleischgewordene Alphabetismus« werde nach 1900 »von technischen Medien [. . .] abgelöst«3 ; Kino bedeute »das Ende eines Buchmonopols«4 ; »So rückt das Kino an die genaue Stelle des Bibliotheksphantastischen«5 . Diese Substitutionslogik wird aber der komplexen Sachlage nicht gerecht. Statt von den technischen Reproduktions- und Kommunikationssystemen abgelöst zu werden, koexistieren auch seit der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks ältere und neue Medien in einer Art Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen (um Ernst Blochs berühmtes Stichwort zu borgen). Sie führt zu einer konfliktreichen Ausdifferenzierung, Zerstreuung und Widersprüchlichkeit der Kunstproduktion und -rezeption, bei der unterschiedliche Ästhetikprogramme, Weltanschauungen und Repräsentationstechniken auf dem Markt der kapitalistischen Kulturindustrie um Legitimität und Erfolg kämpfen. Aus dieser Medienkonkurrenz entsteht ein Energie- und Motivationspotenzial, das es der literarischen Schrift erlaubt, ihre bedrohte Vormachtstellung auf immer neue Weise zu rehabilitieren. Kittler weist selbst auf zwei gegenläufige Tendenzen hin: Literaten schreiben entweder Schlagertexte für den Phonographen und Drehbücher für den Film,6 oder aber sie ziehen sich auf den »rein differentielle[n] Signifikant[en]«, also auf die »Literatur als Wortkunstwerk« und die physische »Materialgerechtigkeit« des Wortes zurück.7 Wie ich meine, legitimiert sich die literarische Schrift aber besonders dadurch, dass sie den technischen Apparat und die kulturell-gesellschaftlichen Wirkungen von Grammophon, Telefon, Fotografie und Film in literarisches Material verwandelt und zum Darstellungsobjekt von Lyrik, Roman, Drama und Essay macht. Auf diese Weise stellt die Schrift ihr genuines Interesse an den neuen Medien zur Schau, um der Annahme entgegenzutreten, sie verfalle im Zeitalter der technischen Reproduktionsmöglichkeiten dem Anachronismus, an der klassisch-idealistischen Vorstellung vom autonomen Wortkunstwerk festhalten zu wollen. Mehr noch: Durch die Verfügung über die technischen Medien als Material nimmt die Schrift für sich in Anspruch, die neuen Medien kritischer zu repräsentieren, als diese sich je selber repräsentieren könnten oder wollten. Diesen Anspruch erhebt die Schriftlichkeit ungeachtet der Tatsache, 3 | Ebd., S. 215. 4 | Ebd., S. 296. 5 | Ebd., S. 299. 6 | Ebd., S. 299 f. 7 | Ebd., S. 301. 42
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dass umgekehrt auch Fotografie und Film Texte inkorporieren, etwa in Form von Bildunterschriften oder Zwischentiteln: »›Nicht der Schrift-, sondern der Photographieunkundige wird, so hat man gesagt, der Analphabet der Zukunft sein.‹ Aber muß nicht weniger als ein Analphabet ein Photograph gelten, der seine eigenen Bilder nicht lesen kann? Wird die Beschriftung nicht zum wesentlichsten Bestandteil der [photographischen] Aufnahme werden?«,
fragt Benjamin am Ende seiner »Kleinen Geschichte der Photographie«8 und drückt an diesem Beispiel die Versuche gegenseitiger Kooptierung konkurrierender Medien aus. Wenn die literarische Schrift gegen solche Zeittendenzen die Vereinnahmung technischer Medien als literarisches Material betreibt, so ist dies eine Kompensierungs- und Sublimierungsstrategie, durch welche die Schriftlichkeit die hermeneutische Sinnsuche und Gedächtnisarbeit, die an den klassischen Topos von der Lesbarkeit der Welt als Buch oder Text gebunden sind, gegenüber den nicht textbezogenen, audiovisuellen Medien bewahren will. Kurz gesagt: Die Instrumentalisierung der Konkurrenzmedien als literarisches Material rückt ins Zentrum dessen, was schon immer die privilegierte Domäne des Schriftlichkeitsprinzips war: seiner Selbstreflexivität, also der im Schreibprozess und im fertigen Kunstprodukt selbst vollzogenen Artikulation der eigenen genrespezifischen Intentionen, Repräsentationsstrategien und Publikumseffekte. 2. In Thomas Manns Schreiben über den frühen Film und das Grammophon wird das kompensatorische Begehren besonders deutlich, die eigene Erzählkunst als Paradigma des bedrohten Schriftlichkeitsprinzips vor den technischen Reproduktionsmedien zu retten. Die allgemeine Krisenstimmung der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, die sich in der überempfindsamen Atmosphäre von Krankheit und Tod im Zauberberg (entstanden 1913–1924)9 ausdrückt, bezieht sich nicht zuletzt auf die akzelerierte Medienkonkurrenz der Moderne. Eines Nachmittags besuchen Hans Castorp, sein Vetter Joachim Ziemßen und die Mitpatientinnen Karen 8 | Walter Benjamin: »Kleine Geschichte der Photographie«, in: ders.: Gesammelte Schriften II.1, S. 368–385, hier: S. 385. 9 | Thomas Mann: Der Zauberberg. Roman, hg. v. Michael Neumann, in: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, Frankfurt am Main: Fischer 2002. Im Folgenden zitiert als Z mit Seitenangabe. 43
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Karstedt und Frau Stöhr das Bioskop-Theater in Davos-Platz. Auf der Leinwand des schlecht belüfteten Kinoetablissements »flirrte eine Menge Leben, kleingehackt, kurzweilig und beeilt, in aufspringender, zappelnd verweilender und weggezuckter Unruhe«, untermalt von der Begleitmusik, »die ihre gegenwärtige Zeitgliederung auf die Erscheinungsflucht der Vergangenheit anwandte« (Z 479).10 Aus der Perspektive des Erzählers unterwirft hier deutlich der Film ein anderes, hoffentlich kollaborierendes, möglicherweise aber auch konkurrierendes Medium, nämlich die Musik, den eigenen Zielen, billige und schnelllebige Emotionen – Leidenschaft, Wildheit, Sinnlichkeit – wachzurufen. Überdies kritisiert Manns Erzähler die Tendenz des frühen Films, die Wirklichkeit durch die mechanische Reproduktionstechnik in fragmentarische Montagebilder zu zerstückeln, deren zerstreuender Unterhaltungswert zu einer Nivellierung des kulturellen Langzeitgedächtnisses führe. Insbesondere koppelt Mann die technische Unvollkommenheit des Films an dessen ideologische Tendenz, die Wahrnehmung fremder Wirklichkeiten auf die Inszenierung stereotypischer Klischees zu reduzieren, die eher dem diskursiven Archiv des Orientalismus als realen Kulturverhältnissen entspringen. Gezeigt wird eine »aufgeregte Liebes- und Mordgeschichte [. . .], stumm sich abhaspelnd am Hofe eines orientalischen Despoten, [. . .] voll Grausamkeit, Begierde, tödlicher Lust«; der Erzähler deutet diese Darbietung als Produkt der Vertrautheit der Filmindustrie »mit den geheimen Wünschen der zuschauenden internationalen Zivilisation« (Z 480). Das Kino liefert also marktorientierte Produkte für ein westliches Konsumpublikum, dem die Fremdwahrnehmung nicht der weltbürgerlichen Bildung dient, sondern der puren Reizstimulation, der Erweckung exotischer Sehnsucht, verdrängter Sexualbegierden und kolonialer Machtphantasien. Castorp merkt an, dass sein Mentor Settembrini, der eifrige Vertreter von Aufklärung, Fortschrittsglauben und menschlicher Vervollkommnung, diese »humanitätswidrige Darbietung« scharf abgelehnt hätte. Die abtötende Mechanik der Filmaufzeichnung ist also nur einer kleinen Elite aufgeklärter Zuschauer erkennbar, die wie Settembrini »mit gerader und klassischer Ironie den Mißbrauch der Technik zur Belebung so menschenverächterischer Vorstellungen geißeln« wür10 | Vermutlich geht diese Romanszene auf den Stummfilm Sumurun (1920) von Ernst Lubitsch (mit Pola Negri und Paul Wegener) zurück, den Mann am 24. September 1920 im Lichtspieltheater am Sendlinger Tor in München gesehen hat. Vgl. hierzu und zum Folgenden Jürgen Kolbe: Heller Zauber. Thomas Mann in München 1894–1933, Niedernhausen, Ts.: Orbis 2001, S. 379–381, und Peter Zander: Thomas Mann im Kino, Berlin: Bertz und Fischer 2005, S. 14–23. 44
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den. Das übrige Massenpublikum dagegen wird von den sensationellen Flimmerbildern überwältigt, darunter Leute wie die gedanken- und kritiklose Frau Stöhr, deren »rotes, ungebildetes Gesicht [. . .] im Genusse verzerrt« war (Z 480). Diese überwältigende Wirkung des Films kommt nicht zuletzt daher, dass hier keine realen Bühnenschauspieler zu sehen sind, sondern nur die flüchtigen »Schattenbilder ihrer Produktion«, weshalb in der Pause denn auch kein Beifall für die »Millionen Bilder und kürzeste[n] Fixierungen« gespendet wird: »Das Schweigen der Menge nach der Illusion hatte etwas Nervloses und Widerwärtiges. Die Hände lagen ohnmächtig vor dem Nichts« (Z 480).11 Benjamin lobt an der Aufnahmeapparatur und Montagestruktur des Films, dass sie die Leistung der Schauspieler einer »Reihe von optischen Tests« unterwerfe und das Publikum »in die Haltung eines durch keinerlei persönlichen Kontakt mit dem Darsteller gestörten Begutachters« versetze.12 Von dieser positiven Einschätzung des Films ist bei Mann nichts zu spüren; bei ihm fällt das Publikum im Gegenteil in einen zerstreuten, rein passiven Rezeptionsmodus, der die politisch emanzipatorische Wirkung, die Benjamin sich vom Film erhoffte, von vornherein verhindert. Was Mann allerdings mit Benjamin teilt, ist das, was Letzterer am historischen Wandel von der leiblichen Präsenz des Bühnen- zur technischen Reproduktion des Filmschauspielers als Verlust jener Aura beschrieben hat, die nicht nur die dramatische Figur, sondern auch deren Darsteller auf der Theaterbühne umgibt: »Das Eigentümliche der Aufnahme im Filmatelier [. . .] besteht darin, daß sie an die Stelle des Publikums die Apparatur setzt. So muß die Aura, die um den Darstellenden ist, fortfallen – und damit zugleich die um den Dargestellten.«13 Deutlich wird diese Auswirkung technischer Reproduktion auch bei der Wochenschau, der damals avanciertesten Masseninstitution technischer Weltvermittlung. Hier können die Zuschauer ›Bilder aus aller Welt‹ montiert sehen, unter anderem den Präsidenten der französischen Republik bei einer Begrüßungsansprache, den deutschen Kronprinzen auf einem Kasernenhof in Potsdam, eine Zeremonie am siamesischen Kö11 | Auch Zander verweist darauf, dass hier das Kino nicht Ausdruck des wirklichen Lebens, sondern Chiffre für den Tod ist, wobei die gezeigten »Schattenbilder« »wie eine Ahnung auf den nahenden Tod« der Tuberkulose-Patienten wirken (Zander: Thomas Mann im Kino, S. 21). 12 | Benjamin: »Das Kunstwerk«, S. 488. 13 | Ebd., S. 489. 45
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nigshof, eine Bordellstraße in Japan usw. usf. Diese filmische Vergegenwärtigung von weltpolitischer Information bietet allerdings keine authentische Erfahrung, sondern nur eine technisch simulierte, also illusorische Überwindung von Raum-Zeit-Grenzen, die bestenfalls ein sublimierender Ersatz für die ferne Fremde ist. Damit formuliert Manns Fiktion kulturpessimistisch, was Benjamin weitaus positiver als Ergebnis der Zertrümmerung der Aura sah: »Die Dinge sich räumlich und menschlich ›näherzubringen‹ ist ein genauso leidenschaftliches Anliegen der gegenwärtigen Massen, wie es ihre Tendenz einer Überwindung des Einmaligen jeder Gegebenheit durch die Aufnahme von deren Reproduktion ist.«14 Aber auch Benjamin, der sich hier auf die Beispiele von illustrierter Zeitung und Wochenschau im Kino bezieht, ist sich des Wandels von »Einmaligkeit und Dauer« in »Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit« durch die Massenmedien bewusst.15 Weil diese Medien noch nicht – wie heute bei der digitalen Kommunikation – interaktiv waren, versteht Castorp auch, dass diese Inszenierung des kulturell Anderen eine Einbahnstraße bleibt. So kann selbst die Nahaufnahme eines »jungen marokkanischen Weib[s]«, trotz der detailliert fotografierten »Augen voll tierischen Lebens« und anderer reizvoller Attribute, keinen wirklichen Kontakt mit den Davoser Zuschauern herstellen. Diese spüren, dass das »Lachen und Winken« der fremden Frau auf der Leinwand »nicht die Gegenwart meinte, sondern im Dort und Damals zu Hause war, so daß es sinnlos gewesen wäre, es zu erwidern«. Die nichtreziproke Filmwahrnehmung mischt denn auch der »Lust« des Bildersehens ein »Gefühl der Ohnmacht bei«. Deshalb verlassen Castorp und seine Begleiter stumm das Kino, ohne Reaktion und bleibenden Gewinn, um dem nächsten Publikum die »Wiederholung des Ablaufs« der Kinobilder zu überlassen (Z 481 f.). Wie Peter Zander nachgewiesen hat, spielt diese Zauberberg-Episode im Jahr 1908, zeigt aber einen Kostümfilm und eine Wochenschau, die erst ab 1912/13 beziehungsweise 1914 produziert wurden. Sie ist also ein »deutlicher Anachronismus«, der eine ironische und verspätete Replik auf die berühmte Kinodebatte nach 1910 darstellt. Mann fasst hier die kulturkonservative Seite dieser Debatte zusammen, wobei er »sein eigenes, künstlerisches Selbstbewusstsein in Abgrenzung« zu den Stimmen definiert, die den Film oft als technisch fortschrittliches Massenmedium zur Reproduktion ferner Bilder und des wirklichen Lebens feierten.16 Die 14 | Ebd., S. 479, Hervorhebung im Original. 15 | Ebd., S. 479 f. 16 | Zander: Thomas Mann im Kino, S. 15–19. 46
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Episode spiegelt also nicht unbedingt Manns persönliche Haltung – er selbst war bei allen künstlerischen Vorbehalten ein passionierter Kinobesucher –,17 sondern ist eine argumentative Strategie im Medienkonkurrenzkampf. Denn indem Mann die Episode in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg verbannt, spricht er dem Film den Anspruch ab, das avancierte Medium schlechthin zu sein, und tut ihn stattdessen polemisch als kuriosveraltetes Genre ab. Während andere Schriftsteller der Weimarer Republik sich dem Druck des Kinos beugen und seine Montagetechnik und andere medientypische Merkmale in die Romanstruktur integrieren, geht Mann selbstbewusst den umgekehrten Weg. Sein Erzähler übernimmt die ironische Aufgabe zu rekonstruieren, wie sich die fragmentarischen Filmbilder den Zuschauern vermutlich präsentieren, liefert aber auch das, was der Obenflächenmaterialität des technischen Reproduktionsmediums zu fehlen scheint: zusammenhängende Bedeutung, intellektuelle Reflexion, ästhetische Schönheit und hermeneutische Tiefe.18 3. Den oberflächlich-artifiziellen Bildern des Films und der seichten Musikuntermalung stellt Mann als ebenso authentisches wie zeitgemäßes Reproduktionsmedium das Grammophon gegenüber.19 Zwar werden Film und Grammophon im Zauberberg »nicht ausdrücklich miteinander verglichen«, wie Hans Rudolf Vaget bemerkt, »doch reflektiert der Roman die für die klassische Moderne grundlegende Medienkonkurrenz zwischen Film, Grammophon und Buch, der festen Burg der Guten17 | Ebd., S. 23–37. 18 | In seiner Auseinandersetzung mit der Filmtheorie von Béla Balázs vertritt Robert Musil übrigens eine ähnliche Haltung wie Mann. Vgl. Norbert Christian Wolf: »›Neue Erlebnisse, aber keine neue Art des Erlebens‹. Musils Ästhetik und die Kultur des Films«, in: Wolf-Gerhard Schmidt/Thorsten Falk (Hg.): Literatur intermedial – Paradigmenbildung zwischen 1918 und 1968, Berlin: de Gruyter 2009, S. 87–113. 19 | Wenn Martin Swales zu Manns Gegenüberstellung von Film und Grammophon bemerkt: »Once again, as with the cinema, we are confronted by an eerie dialectic of substance and insubstantiality«, so verdeckt diese Gemeinsamkeit allerdings die von Mann betonten, wichtigen Unterschiede der beiden Medien (Martin Swales: »New Media, Virtual Reality, Flawed Utopia? Reflections on Thomas Mann’s Der Zauberberg and Hermann Hesse’s Der Steppenwolf «, in: Ingo Cornils/Osman Durrani (Hg.): Hermann Hesse Today/ Hermann Hesse Heute, Amsterdam, New York: Rodopi 2005, S. 33–39, hier: S. 35). 47
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berg-Galaxie, auf sehr eindringliche Weise«.20 Wie der Erzähler betont, handelt es sich bei dem die »Fülle des Wohllauts« reproduzierenden Gerät nicht etwa um »kindliches und einförmiges Gaukelwerk« – wie beim Kinematografen –, sondern um ein »strömendes Füllhorn heiteren und seelenschweren künstlerischen Genusses«, Im Gegensatz zu der antiquierten Primitivität des Films (und früherer ›Kurbelkästen‹ für die musikalische Unterhaltung im Wirtshaus) handelt es sich hier um ein hochmodernes, elektrisches Gerät der Marke »Polyhymnia«, ausgestattet mit einer »uhrähnlich beziffert[en] Vorrichtung zur Regulierung des Tempos«, einem »Hebel, mit dem das Drehwerk in Lauf zu setzen oder zu stoppen war«, und einem »gewunden keulenförmigen, in weichen Gelenken beweglichen Hohlarm aus Nickel, mit der flachrunden Schalldose an seinem Ende, deren Schraubwerk die ziehende Nadel zu tragen bestimmt war« (Z 965). Die überaus detaillierte Beschreibung zeigt, dass es Mann darum geht, die technische Apparatur des Mediums als materiellen Signifikanten erkennbar zu machen, dessen Bezeichnetes nicht nur die einzelnen reproduzierten Musikstücke umfasst, sondern die in ihnen kollektiv reflektierte Tiefe des Gefühls. Hofrat Behrens, der ärztliche Leiter des Sanatoriums, vergleicht das Grammophon mit einer Stradivarius- und einer Guarneri-Violine, preist es als Deutsches Fabrikat und also das beste Produkt auf dem Markt und erblickt in ihm denn auch »das treusinnig Musikalische in neuzeitig-mechanischer Gestalt. Die deutsche Seele up to date« (Z 965 f.). Der Erzähler greift genau auf jenes metaphysische Vokabular zurück, das den technischen Medien eigentlich unangemessen ist (und dem besonders der Film mutmaßlich niemals entsprechen kann): Gerade die tote Mechanik des neuzeitlichen Grammophons soll die Seele des Musikkenners magisch ansprechen und das echte Wesen der aufgenommenen Kompositionen wiedergeben können: »Man traute seinen Ohren nicht, wie überaus rein und natürlich die Koloraturen der Holzbläser lauteten.« Auch wenn es nicht so schien, »wie wenn eine wirkliche Kapelle im Zimmer hier konzertiert hätte«, bleibt der Klang dennoch »unentstellt«, auch wenn er eine »perspektivische Minderung« erleidet. Das Grammophon gibt die Musik so wieder, wie ein Gemälde durch ein umgedrehtes 20 | Hans Rudolf Vaget: Seelenzauber. Thomas Mann und die Musik, Frankfurt am Main: Fischer 2006, S. 94. Vaget stellt das Grammophon-Kapitel ausführlich in den geistesgeschichtlichen Zusammenhang von Manns Beschäftigung mit den politischen Auswirkungen der Hypostasierung der deutschen Musik (vgl. S. 48–66 und bes. S. 78–96). Diese wichtige Ausrichtung erlaubt nur einen kurzen, nicht weiter ausgeführten Verweis auf Kittlers Medientheorie (S. 94). 48
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Opernglas betrachtet wird: »entrückt und verkleinert [. . .], ohne an der Schärfe seiner Zeichnung, der Leuchtkraft seiner Farben etwas einzubüßen« (Z 966 f.). Vaget nimmt an, dass zumindest im Fall des Grammophons der Verlust der Benjamin’schen Aura »bei Thomas Mann eigentlich nicht thematisiert« werde.21 Genauer müsste man allerdings formulieren, dass Mann bestimmte Thesen Benjamins vorwegnimmt, allerdings auf differenziertere Weise: Während der Film die visuelle Aura ferner Menschen und Kulturkreise nicht mehr zu transportieren vermag, wird die Aura der internationalen Musiktradition durch die technische Reproduktion des Zauberberg-Grammophons gerade nicht zerstört, sondern für ein andächtig lauschendes Publikum bewahrt, allerdings nicht in Benjamins Sinn, der sie in einer berühmt gewordenen Formulierung »als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag« definiert.22 Das Auratische der Grammophon-Musik besteht bei Mann vielmehr gerade in der Erzeugung der Illusion physischer Nähe und größter körperlicher Präsenz durch den technischen Reproduktionsapparat, zumindest wenn dessen Materialität zeitweilig ausgeblendet wird: »[. . .] wenn man in eines der offenen Nebenzimmer trat und den Apparat nicht sah, so war es nicht anders, als stände dort im Salon der Künstler in körperlicher Person, das Notenblatt in der Hand, und sänge« (Z 967).23 Vaget betont die für Mann bezeichnende »Überlegenheit der über das Grammophon vermittelten Kunstform der Oper über den Medienneuling Film« und dann wiederum die »Überlegenheit der Literatur über die Oper«.24 Umfassender betont Janelle Blankenship: »[W]hat Mann ceaselessly strives to create in Magic Mountain isn’t intermediality, but media hierarchies, playing technologies off one another in order to align 21 | Ebd., S. 94. 22 | Benjamin: »Das Kunstwerk«, S. 479. 23 | Vgl. in diesem Zusammenhang auch Bernd Hamachers Analyse der technischen Zauberberg-Medien im Kontext der Okkultismus-Sitzungen und der medientheologischen Frage (»Wie kommt die göttliche Botschaft in die Medien, wie können Medien göttliche Botschaften an die Menschen kommunizieren?«): Bernd Hamacher: »Thomas Manns Medientheologie«, in: Christine Künzel/Jörg Schönert (Hg.): Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien, Würzburg: Königshausen und Neumann 2007, S. 59–77, bes. S. 69–75; Zitat: S. 73. 24 | Vaget: Seelenzauber, S. 95–96. Vgl. auch Vagets Anmerkung, dass für Manns Akzeptanz des Grammophons »offenbar die Ausschaltung des Visuellen« entscheidend ist, »weil diese einer allem Theaterhaften entrückten Konzentration auf die Musik förderlich ist« (ebd., S. 94). 49
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them with larger discourse networks.«25 Vor allem aber geht es bei der Medienhierarchie im Zauberberg nicht nur um den Sieg des auratischen Grammophons über das nichtauratische Kino, sondern um den Primat von Manns eigenem Schriftprinzip, das heißt um die Überlegenheit seiner eigenen Erzählkunst gegenüber den Grammophontönen und besonders gegenüber den Filmbildern.26 Problematisch erscheint in dieser Hinsicht Geoffrey Winthrop-Youngs von Kittler beeinflusste Deutung der Medientechnologien im Zauberberg, die besonders in Hinblick auf das Grammophon-Kapitel behauptet, die Einführung einer neuen Technologie sei an die Verabschiedung dessen gebunden, was davor kam, nämlich der Buchkultur beziehungsweise der Literatur.27 Mann habe gewusst, dass seine Zeit, die Ära der bürgerlichen Wohlanständigkeit und ihrer an das Druckmedium gebundene Lesekultur, ein Ende gefunden habe, und habe sich deshalb als den letzten großen bürgerlichen Schriftsteller betrachtet, als ein »noble and sophisticated fossil as anachronistic as a sanatorium existence in the Swiss Alps«28 . Der Zauberberg sei das erste Epos der modernen Information: »[B]ooks are demoted, information is circulated by more effective technologies, and those technologies now dominate, invade, and will eventually replace bodies.«29 Gegen diese fragwürdige Teleologie einer die Buchkultur beziehungsweise den Literaturdiskurs ablösenden neuen Medientechnologie argumentiert meine 25 | Janelle Blankenship: »Arno Holz vs. Thomas Mann. Modernist Media Fantasies«, in: Modernist Cultures 1 (Winter 2005) 2, S. 72–109, hier: S. 86. Blankenships weitreichender Aufsatz verortet Manns hierarchisierende Medienreflexion (vgl. etwa S. 99) im Kontext der Transformationen des menschlichen Blicks durch die optische Technologien seit dem späten 19. Jahrhundert, unter anderem Fotografie, Film und Röntgenstrahlen. 26 | Blankenship betont eher Manns Gedanken, dass Der Zauberberg der filmischste aller seiner Texte sein könnte, der sogar eine Verfilmung verdienen würde (vgl. S. 98 f.). 27 | Geoffrey Winthrop-Young: »Magic Media Mountain. Technology and the Umbildungsroman «, in: Joseph Tabbi/Michael Wutz (Hg.): Reading Matters. Narrative in the New Media Ecology, Ithaca, London: Cornell University Press 1997, S. 29–52, hier: S. 44. Ähnliche Aussagen zum technologischem Mediensieg über die Literatur finden sich auch bei Jochen Hörisch: »Die deutsche Seele up to date. Sakramente der Medientechnik auf dem Zauberberg«, in: Friedrich A. Kittler/Georg Christoph Tholen (Hg.): Arsenale der Seele. Literatur- und Medienanalyse seit 1870, München: Wilhelm Fink 1989, S. 13–23; zur Medienkonkurrenz vgl. S. 20. 28 | Winthrop-Young: »Magic Media Mountain«, S. 47. 29 | Ebd., S. 50. 50
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Deutung, dass Mann die Auseinandersetzung mit Film und Grammophon dazu instrumentalisiert, die (eigene) Erzählkunst, die literarische Schrift und die Buchkultur gerade umso stärker zu rechtfertigen und neu zu definieren. Indem er die medienpsychologische Analyse von Film und Grammophon zu einem prononcierten Thema seines Romans erhebt, legitimiert Mann insbesondere die traditionelle Rolle des allwissenden und allmächtigen Erzählers als autoritatives Organisationszentrum des literarischen Textes, gerade weil diese Rolle bereits von der aufkommenden Kulturindustrie und ihrer populären Massenwirkung unterminiert wird.
4. Erzähltechnisch handelt es sich hier also um das, was Irina O. Rajewsky »explizite Systemerwähnung« genannt hat, also um »die Thematisierung des Bezugssystems [bei Mann das durch einen Einzelfall repräsentierte System des frühen Stummfilms] in Form eines ›Redens über‹ bzw. ›Reflektierens‹ des Bezugssystems«.30 Diese explizit reflektierende Systemerwähnung drückt sich handgreiflich im Erzählstil Manns aus. Die disparat vorbeiflitzenden Wochenschaubilder werden nämlich durch eine für Mann eher untypische Parataxe wiedergegeben, reproduzieren also die Montagetechnik des Films, freilich auf distanziert-parodistische Art, ohne sich mit ihr zu identifizieren, während die analytisch-kritischen Kommentare zur Wirkung des Kinos vorwiegend in Manns geliebter Hypotaxe vorgetragen werden. Letzteres findet sich auch in den von Mann eingehend analysierten Musikbeispielen, die das Grammophon wiederzugeben versteht, weshalb das Gerät zu einem heimlichen Komplizen der Mann’schen Erzählkunst erhoben wird, gegen den die niederen Gefilde des Films umso stärker abfallen. Dabei ist zu bedenken, dass Manns Erwähnung der Systeme ›Film‹ und ›Grammophon‹ keine »Modifikation des narrativen Diskurses oder die Illusion« eines filmischen beziehungsweise musikalischen »Als ob« herbeiführt.31 Mit anderen Worten, Mann spiegelt zwar bestimmte Charakteristika, die dem Film beziehungsweise dem Grammophon zugesprochen werden (flüchtige Montagebilder; natürliche Klangwiedergabe und dergleichen), in seinem eigenen narrativen Diskurs, aber nicht um diesen Diskurs von den Bezugsmedien in ir30 | Irina O. Rajewsky: Intermedialität, Tübingen, Basel: Francke 2002, S. 79. 31 | Ebd. 51
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gendeiner Weise verändern oder gar dekonstruieren zu lassen.32 Seine Systemerwähnungen dienen nicht der Erzeugung der wie auch immer ausfallenden Illusion einer ›filmischen‹ oder gar ›grammophonischen‹ Schreibweise, sondern im Gegenteil, sie unterlaufen jede derartige Illusionsbildung, indem sie gerade die intermedialen Differenzen zwischen literarischem Diskurs, Filmbild und Grammophonmusik ins Zentrum der textuellen Selbstreflexion stellen, wobei diese Differenz im Fall des Films deutlich krasser ausfällt als im Fall des Grammophons. Die Überlegenheit der schriftlichen Erzählkunst wird auch durch den Kontrast zwischen narrativer und filmischer Zeit demonstriert. Die Wochenschau, so behauptet der Erzähler, verstört mit dem geographischen Raum auch die historische Zeit: »Man war zugegen bei alldem; der Raum war vernichtet, die Zeit zurückgestellt, das Dort und Damals in ein huschendes, gaukelndes, von Musik umspieltes Hier und Jetzt verwandelt« (Z 481). Sich selbst dagegen sieht der Erzähler im programmatischen »Vorsatz« des Romans als »de[n] raunend[en] Beschwörer des Imperfekts«, der die Geschichte Hans Castorps »unbedingt in der Zeitform der tiefsten Vergangenheit« vorträgt. Aber diese »hochgradige Verflossenheit unserer Geschichte«, so fährt der Erzähler fort, beruht nicht eigentlich auf der bloßen Zeitdifferenz, sondern darauf, dass die Ereignisse vor der »gewissen, Leben und Bewußtsein tief zerklüftenden Wende und Grenze spielt«, die der Erste Weltkrieg für die europäische Zivilisation gesetzt hat. Diesen »Vergangenheitscharakter einer Geschichte«, der »desto tiefer, vollkommener und märchenhafter« erscheint, »je dichter ›vorher‹ sie spielt«, will der Erzähler, der sich ironisch-pompös im Pluralis Majestatis nennt, »ausführlich erzählen, genau und gründlich« (Z 9 f.). Ebendiese ästhetische Präzision und Wahrheit, die in der nicht auf die physikalische Zeit reduzierbaren Vergangenheit verortet sind, können laut Mann von den kurzweiligen, auf flüchtige Oberflächenreize zielenden Filmbildern niemals erreicht werden, weil sie illusionistisch vergangene Ereignisse (fiktive wie beim Stummfilm oder reale wie bei der Wochenschau) ohne Erzählerkommentar 32 | Solche Veränderungen des bezugnehmenden Systems durch fremdmediale Bezüge ergeben sich laut Rajewsky bei der »Systemerwähnung qua Transposition« (Rajewsky, Intermedialität, S. 89–112); »dabei werden Elemente und/ oder Strukturen, die konventionell als einem fremdmedialen System zugehörig wahrgenommen werden und auf dieses verweisen, mit den Mitteln des kontaktnehmenden Mediums (teil-)reproduziert, evoziert oder simuliert und damit illusionistisch für die Bedeutungskonstitution des Textes fruchtbar gemacht« (ebd., S. 159). 52
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und -interpretation in das tiefenlose Präsens des Leinwandspektakels transportieren. Deutlich inszeniert Mann also den eigenen Roman als Schauplatz, auf dem verschiedene technische Reproduktionsmedien – Film, Filmmusik und Grammophon – im übergreifenden Kontext des Schriftlichkeitsprimats gegeneinander ausgespielt werden. Diese Medien werden streng nach ihrer jeweiligen Fähigkeit hierarchisiert, transzendentalen Kriterien – Authentizität, gründlich-kontinuierliche Wiedergabe der kulturellen Vergangenheit, überdauernde Sinnproduktion, analytische Reflexion – Genüge zu tun. Entscheidend ist, dass diese Kriterien nicht intrinsisch aus den technischen Eigenschaften dieser Medien abgeleitet sind, sondern direkt Manns epischer Erzählkunst entspringen. Dabei schneidet das Grammophon als Bewahrer der klassischen Tonkunst gegenüber dem Film noch relativ gut ab, während die andere Musik – die populäre Filmbegleitung – wegen ihrer Instrumentalisierung durch das oberflächliche Bildermedium am schlechtesten davonkommt. Indem der Roman auf diese Weise die Konkurrenzmedien in frei verfügbares literarisches Material verwandelt, ergibt sich nicht nur die aufsteigende Medienhierarchie Film – Grammophon – Erzählkunst, sondern die Erzählkunst macht sich selbst zum Metamedium, das die anderen Medien medialisiert.33 Dies ist Manns Strategie, das bedrohte Prinzip der Schriftlichkeit gegenüber den Konkurrenzmedien zu retten: weder durch undialektische Abgrenzung, durch den idealistischen Rückzug in eine vermeintlich unantastbare Region reiner Wortkunstautonomie, noch durch eine avantgardistische Quasi-Reproduktion fremdmedialer Systemelemente, sondern durch direkte Auseinandersetzung in Form der Kooptation und hegemonialen Repräsentation des Anderen, die ins Zentrum von Manns Romankunst rücken. 5. Abschließend sei versucht, eine Art methodische Bilanz zu ziehen, wie vorläufig und skizzenhaft sie auch ausfallen mag. Zuerst muss festgestellt werden, dass ich mich bewusst auf einen spezifischen Einzelfall 33 | Auch Rajewsky bestimmt eine derartige »metaästhetisch[e] oder metafiktional[e] Reflexion des aufgerufenen Mediums« als Grundzug der expliziten Systemerwähnung: »Der narrative Diskurs wird metamedial; man hat es somit nicht mehr nur mit einem histoire-, sondern mit einem discours-spezifischen Verfahren zu tun und das heißt mit einem ›Reflektieren‹ bzw. ›Reden über das Bezugssystem‹ im eigentlichen Sinne« (Rajewsky: Intermedialität, S. 81). 53
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und ein relativ begrenztes Textkorpus beschränkt habe. Dies scheint sinnvoll angesichts des von Rajewsky angesprochenen Mangels an »einer einheitlichen, medienübergreifenden Theorie und systematischen Erfassung möglicher Formen des Rekurses auf Produkte oder Systeme anderer Medien, die die zahlreichen Detailergebnisse aus den verschiedensten wissenschaftlichen Einzeldisziplinen zusammenführen«34 . Fraglich ist allerdings, ob angesichts der heterogenen Vielfalt intermedialer Phänomene, die ja immer historischem Epochenwandel und kulturellen Unterschieden unterliegen, eine derartig vereinheitlichte Theoriebildung möglich und überhaupt erstrebenswert ist. Deshalb scheint es zumindest vorläufig sinnvoller, sich mit Manns Film- und Grammophonpassagen auf einen konkreten Einzelfall intermedialer Bezugnahme zu konzentrieren. Aufgrund seiner poetisch-fiktionalen Dichte und Vielschichtigkeit besitzt dieser Einzelfall für das Phänomen der klassisch-modernen Medienkonkurrenz eine repräsentative Bedeutung, deren quasimonadologische Qualität freilich nicht direkt aus dem Text ablesbar ist, sondern eine Potenzialität darstellt, ein virtuelles Aussagereservoir, das durch die weitere wissenschaftliche Erforschung intermedialer Bezüge bei anderen Autoren, Werken und Genres bestätigt, modifiziert oder zurückgewiesen werden muss. Erst solche vergleichenden Konstellationen, die in Einzeltexten zwar angelegt sind, sich aber erst durch wissenschaftliche Interpretation und Kritik herauskristallisieren, versprechen, eine Übersicht, Ordnung und Systematisierung in das schier endlose Gebiet der Intermedialität zu bringen, die für eine eventuelle allgemeine Theoriebildung unverzichtbar sein dürfte. Zu berücksichtigen ist bei derartigen Analysen immer die Historizität sowohl der intermedialen Bezugnahme wie der aufgerufenen Medien selber.35 Ihr entspricht die hier vorgeschlagene Kategorie der Verwandlung realer Medien – hier Film und Grammophon – in literarisches Material. Im Gegensatz zum literarischen Thema liefert diese Kategorie keine direkte inhaltliche Information über den technischen Apparat, seine medienspezifischen Reproduktionsmöglichkeiten und seine Wirkungen auf das Publikum. Vielmehr bezeichnet der Terminus ›literarisches Material‹ die poetisch-fiktionalen Transformationsakte, unter denen sich Film und Grammophon aus Manns Autorenperspektive und im Rahmen seiner Erzählstrategien als repräsentierbar erweisen. Hierin liegen Nachteil 34 | Ebd., S. 26; vgl. S. 1–5. Dieser Mangel einer einheitlichen Theorie bezieht sich zumindest auf den Forschungstand von 2002. 35 | Vgl. zum Folgenden Rajewsky: Intermedialität, S. 32–37. 54
Medienkonkurrenz und literarische Selbstlegitimierung bei Thomas Mann
wie Vorteil der Kategorie des literarischen Materials: Bei der Lektüre des Triumphs der literarischen Schriftlichkeit, wie sie der Zauberberg vorführt, lernt man nichts Direktes über den ›tatsächlichen‹ technischen Medienstand und die ›wirklichen‹ Rezeptionspraktiken einer gegebenen Zeit. Denn indem die Schrift die Fremdmedien literarisiert, unterzieht sie diese immer schon einer weitgehenden Ästhetisierung und Derealisierung, weil die Darstellung der Medien zwar auf deren technische und gesellschaftliche Charakteristika rekurriert, sie aber nicht in ihren eigenen Kategorien, also aus ihrem eigenen Selbstverständnis heraus beschreibt. Der Beschreibungshorizont wird vielmehr vom Selbstverständnis des literarischen Schriftprodukts abgesteckt, das sich mit den Fremdmedien nach seinen eigenen, nämlich spezifisch poetisch-fiktionalen Maßstäben auseinandersetzt. Medien als literarisches Material zu verstehen, bedeutet also zu rekonstruieren, wie sich die Medientechnik und ihre gesellschaftliche Auswirkung im Repräsentationsrahmen eines anderen Mediums – hier Manns Erzähldiskurs – in einer bestimmten Geschichtsperiode darstellen und kritisieren lassen. Umgekehrt erfährt man durch Manns Bezugnahme auf Film und Grammophon mehr und anderes über sein literarisches Selbstverständnis, seine fiktionale Technik und ideologischen Vorentscheidungen als durch eine nur intrinsische Analyse seiner Schriftlichkeit. So gesehen ist zu vermuten, dass es keine Definition gibt, die sich allein intramedial oder überhistorisch aus den Charakteristika des Films, des Grammophons oder der Schrift (und anderer Medien) ableiten ließe. Entscheidend ist also nicht, was ein Medium mutmaßlich als solches ist, sondern die Interaktion, die es mit anderen Medien in bestimmten historisch-kulturellen Kontexten und Theorievorstellungen eingeht. Medien als literarisches Material zu analysieren, stellt unter diesen Vorzeichen die Voraussetzung dar für eine Geschichte des historischen Wandels technischer Reproduktionspraktiken im Rahmen der intermedialen Literaturgeschichtsschreibung. Dem Terminus ›Medienkonkurrenz‹ kommt hierbei besondere Bedeutung zu, denn er erlaubt, die intermedialen Bezüge und Einwirkungen nicht als Montage oder Synthese gleichgestellter, distinkt operierender Medien zu denken (wie es bei der Medienkombination der Fall sein kann, aber nicht sein muss),36 sondern als dynamischen Prozess, der auf Strategien wie der Vereinnahmung, der verzerrenden Darstellung und der Hegemonialisierung der Fremdmedien beruht. Diese Strategien erlauben es einem spezifischen Medium wie der literarischen Schrift, sich auf 36 | Vgl. ebd., S. 15 f. 55
Rolf J. Goebel
dem Markt der Kulturindustrie als dominant, überlegen oder gar ›zeitlos‹ gültig hinzustellen. Meine hier verwendeten Ausdrücke deuten an, dass Medienkonkurrenz ein zutiefst problematisches und ambivalentes Phänomen ist. Es dient zwar der produktiven Selbstdefinition eines Mediums in der Auseinandersetzung mit anderen und trägt so potenziell zu einem vertieften und differenzierteren Verständnis intermedialer Kulturpraktiken bei. Medien unter dem Gesichtspunkt ihrer Konkurrenzkämpfe zu beschreiben, bedeutet aber auch zu verstehen, dass intermediale Prozesse zumindest partiell an den Herrschafts- und Unrechtsdiskursen des kapitalistischen Markts und der Imperialpolitik partizipieren, wie sie seit dem späten neunzehnten Jahrhundert für die Kultur der europäischen Metropole kennzeichnend wurden. Wie wir gesehen haben, arbeitet Manns in sich zutiefst gespaltener Mediendiskurs zwar anschaulich die Unterschiede von Film und Grammophon zur Schriftkunst heraus, thematisiert diese Differenzen aber nur innerhalb des übergeordneten Dominanzhorizontes des eigenen Erzählprojekts, ohne dem Film und dem Grammophon irgendein Forum zur Selbstartikulation ihrer eigenen produktions- oder rezeptionsästhetischen Anliegen bereitzustellen. Wie Homi K. Bhabha gezeigt hat, entspricht diese Ambivalenz strukturell genau den kritischen Theorien des Westens, bei denen das Andere (Montesquieus türkischer Despot, Barthes’ Japan, Kristevas China usw.) auch nur als exegetischer Horizont der Differenz fungiert, aber nie als aktiver Agent der Selbstartikulation auftritt.37 Medienkonkurrenz und Intermedialität sind also keine rein ästhetischen Kategorien, sondern finden sich immer schon in politisch-ideologischen Kontexten verankert. Weil diese Kontexte von den Medien selbst nicht (immer) explizit artikuliert und kritisch reflektiert werden, bedarf es eines kritischen Wissenschaftsdiskurses, der die Repräsentierbarkeit der technischen Medienapparate und ihrer audiovisuellen Produkte in anderen Medien ins Zentrum der intermedialen Analyse stellt.
37 | Homi K. Bhabha: »The Commitment to Theory«, in: ders.: The Location of Culture, London, New York: Routledge 1994, S. 19–39, hier: S. 31. 56
»Eine neue Vorstellung von Kunst« Intermediale Usurpationen bei Bertolt Brecht und Elfriede Jelinek Uta Degner (Salzburg)
Während in früheren Jahrhunderten der Paragone den Künsten Anlass gab, sich voneinander abzugrenzen,1 scheint im 20. Jahrhundert die entgegengesetzte Tendenz zu dominieren: Künste vermischen sich, Intermedialität in ihren unterschiedlichen Spielarten wird zu einem leitenden Prinzip. Spielt dabei die Frage nach künstlerischer Dominanz überhaupt noch eine Rolle? Bestimmt man ›Dominanz‹ soziologisch als höheren sozialen Status und höhere Legitimität, dann muss die Frage nach der Dominanz gerade im 20. Jahrhundert eine Rolle spielen, denn in einem autonomen Kunstfeld ist die Geltung künstlerischer Positionen nie endgültig festgeschrieben, sondern muss immer wieder (neu) verhandelt werden.2 Wie sich einzelne Autoren zu einem spezifischen zeitlichen Moment danach klassifizieren lassen, wie durchsetzungsfähig sie mit ihrer Auffassung von Kunst und von ästhetischer Erfahrung sind, so besitzen auch unterschiedliche Medien beziehungsweise Künste eine historisch variable Legitimität.3 Leitend für die Frage nach dem Status einer Kunst ist die soziale Distinktion der Künste nach ›hoher‹ und ›niederer‹ Geltung.4 Soziologisch lässt sich feststellen, 1 | Vgl. Thomas Koebner (Hg.): Laokoon und kein Ende. Der Wettstreit der Künste, München: Text und Kritik 1989; Inge Baxmann (Hg.): Das LaokoonParadigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert, Berlin: Akademie-Verlag 2000; Andreas Schnitzler: Der Wettstreit der Künste. Die Relevanz der Paragone-Frage im 20. Jahrhundert, Berlin: Reimer 2007; Hannah Baader (Hg.): Im Agon der Künste. Paragonales Denken, ästhetische Praxis und die Diversität der Sinne, München: Fink 2007. 2 | Hier und im Weiteren folge ich Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001. 3 | Vgl. die Einleitung in diesem Band. 4 | Pierre Bourdieu: »Die Hierarchie der Legitimitäten«, in: ders./Luc Boltanski u. a. (Hg.): Eine illegitime Kunst. Gebrauchsweisen der Photographie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 105–109; ders.: Der Markt der symbo-
Uta Degner
»daß in einer konkreten Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt sämtliche kulturellen Bedeutungen und Handlungen (Theatervorstellungen, Sportveranstaltungen, Liederabende, Dichterlesungen, Kammerkonzerte, Operettenoder Operninszenierungen) sich im Hinblick auf Wert und Würde unterscheiden und einen je verschiedenen Zugang mit jeweils spezifischer Intensität erfordern.«5
Bestimmt wird der Legitimitätsgrad und damit die Zugehörigkeit zu high oder low nicht aus den Gegenständen selbst heraus, sondern durch feldinterne Kämpfe, welche von Legitimationsinstanzen wie Schule und Universität unterstützt oder behindert werden.6 Der seit dem 18. Jahrhundert, seit der Epoche ästhetischer Autonomie, als legitim geltende Geschmack kann sehr allgemein als eine Dominanz der Form über die Funktion bestimmt werden; damit einher geht eine strenge Scheidung von Alltagseinstellung und ästhetischer Einstellung. Die im Laufe einer langen historischen Entwicklung erst allmählich errungene Autonomie fußt auf einer (relativ großen) strukturellen Unabhängigkeit der Künstler vom Massenmarkt. Es ist daher verständlich, warum einem neuen Medium – einer ›jungen Kunst‹ – wie dem Film, der ja zu Unterhaltungszwecken konsumiert werden wollte, zunächst der Status von Kunst überhaupt verweigert wurde.7 Erst mit dem Aufkommen einer autonomeren Produktion, die sich von einem primären wirtschaftlichen Profitstreben löste und sich für formal-ästhetische Belange interessiert, war es dem Film möglich, eine gewisse Legitimität zu lischen Güter, in: ders.: Die Regeln der Kunst, S. 227–234. Vgl. auch Georges Roque (Hg.): Majeur ou mineur? Les hiérarchies en art, Nîmes: Chambon 2000. 5 | Bourdieu: »Die Hierarchie der Legitimitäten«, S. 106. 6 | Vgl. ebd., S. 107: »[D]ie Vorlieben oder die Kenntnisse, die der Sphäre der Legitimität zuzurechnen sind, [verdanken] sich keineswegs [. . .] dem Zufallsprinzip, sondern [bilden] tendenziell eine hierarchische oder systematische Struktur.« 7 | Das heißt nicht, dass es nicht auch schon in der Frühzeit des Kinos einzelne ›Virtuosen‹ gegeben haben mag, welche dem Kino einen Kunstcharakter attestierten. Vgl. Bourdieu, ebd., S. 106 u. 108: »Zwar trifft es zu, daß Virtuosen jene Verhaltensmodelle, die im Terrain der traditionellen Kultur gebräuchlich sind, auf dieses Feld übertragen. Aber da es keine Institution gibt, die diese ›sekundären‹ Künste methodisch und systematisch als konstitutive Bestandteile der legitimen Kultur auswiese, erfaßt die Mehrzahl der Individuen sie einzig im Konsum. [. . .] Die Anstrengung mancher engagierter Photoamateure, die Photographie als künstlerische Praxis mit uneingeschränkter Legitimität einzusetzen, wirkt fast immer lächerlich und aussichtslos, da sie so gut wie nichts gegen die gesellschaftliche Wahrheit der Photographie vermag, die sich nirgendwo nachdrücklicher in Erinnerung bringt als in dem Versuch, ihr zu widersprechen.« 58
»Eine neue Vorstellung von Kunst«
erlangen. Künstlerische Dominanz ist somit ein Zeichen des Erfolgs der Durchsetzungskräfte sowohl von einzelnen Künsten als auch – in ihrem jeweiligen Feld – von einzelnen Künstlern. Die Frage nach der Dominanz hat also eine doppelte Richtung: Einerseits stellt sie sich intermedial im Verhältnis einzelner Künste beziehungsweise Medien zueinander; andererseits beeinflusst sie intramedial das Verhältnis der Künstler untereinander. Dabei scheint das Faktum einer erhöhten intermedialen Aktivität aus der Perspektive der Literatur als Kuriosum: Warum gerade konnten intermediale Verfahren zu einem Avantgardemerkmal werden, wenn die Künste am autonomen Pol der Produktion immer mehr zu ›Reinigung‹ und Selbstreflexion tendieren? Was treibt eine Kunstform mit hoher Legitimität dazu, heteronomere Medien, ›niedere‹ Künste zu beleihen? Was war und ist an ihnen aus Sicht mancher Literaten interessant, und welchem Mechanismus ist es zu verdanken, dass die Annäherung an dieselben nicht zu einem Legitimitätsverlust führt, sondern – zumindest auf längere Sicht – einen Legitimitätsgewinn bedeuten kann? Diese Fragen sollen im Folgenden anhand von zwei Beispielen – der Poetik Bertolt Brechts und Elfriede Jelineks – erläutert werden, die zwar aus verschiedenen Zeiträumen stammen, jedoch in mancherlei Hinsicht Gemeinsamkeiten aufweisen und damit das Muster einer spezifischen Art intermedialer Praxis sichtbar werden lassen. Die leitende These der folgenden Ausführungen lässt sich dabei vorläufig wie folgt formulieren: Intermediale Verfahren dienen im literarischen Feld der Herstellung einer intramedialen Dominanz. Ein ›filmisches Schreiben‹ zum Beispiel löst die Grenzen zwischen Literatur und Film nicht unbedingt auf, sondern kann im Gegenteil eine doppelte Grenzziehung produzieren: hin zum Film – und hin zu einer nichtfilmischen Literatur. Gegenüber der Tendenz der Forschung, das Legitimitätsgefälle intermedialer Arbeiten zu unterschätzen, lässt sich zeigen, dass bei intermedialen Praktiken der Wille nach Dominanz leitend ist. Dabei geht es nicht in erster Linie um eine Konkurrenz zwischen den Künsten, sondern um eine Konkurrenz zwischen verschiedenen Interpretationen dessen, was überhaupt den Namen ›Kunst‹ verdient. Intermedialität ist dabei Ausdruck eines intraliterarischen Kampfes um die Legitimität neuerer Poetiken. Gerade die ›Propheten‹, junge Künstler, die über wenig symbolisches Kunstkapital verfügen, sondern solches erst noch erringen müssen, können von intermedialen Verfahren profitieren, indem sie das Provokationspotenzial nutzen, das die ›niederen‹ Künste im Umfeld der autonomen Kunst besitzen und das im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu 59
Uta Degner
einem regelrechten »Kult des Banalen«8 in allen etablierten Künsten führte. Freilich sind wir im Falle der literaturzentrierten Intermedialität immer noch im Zentrum hermeneutischer Operationen. Denn wie Karl Prümm bereits 1988 in einem programmatischen Entwurf einer »intermediale[n] Historiographie« zu bedenken gegeben hat, ist beispielsweise »[d]as ›Filmische‹ als programmatische Kategorie des literarischen Autors [. . .] ein [. . .] von höchst komplexen Faktoren gesteuertes, äußerst labiles, historisch extrem wandelbares Konstrukt«.9 Intermediale Anleihen werden nicht nur durch objektiv kontrollierbare Kriterien bestimmt, sondern sind immer auch eine Sache des ›Kopfkinos‹ einzelner Autoren und ihrer Poetiken. Die jeweilige Adaption fremdmedialer Mittel beruht auf »Kinowahrnehmungen [. . .] des schreibenden Subjekts«10 : »Die sozialgeschichtliche Situation und die Kinowahrnehmung des Autors [ist dabei] nicht allein [. . .] eine Auseinandersetzung mit den jeweiligen technischen und narrativen Standards des Films [. . .], sondern [stellt] zugleich auch einen von der historischen Realität gerade abweichenden prospektiven [. . .] Entwurf dar [. . .], ein Ausschöpfen der noch nicht realisierten Möglichkeiten des Kinos.«11
Die literarischen Entwürfe ›des Filmischen‹ sind demnach nicht unbedingt Reflexionen des zeitgenössischen filmischen Status quo, sondern zuweilen gerade diesen überschreitende, schöpferische Interpretationen filmischer Potenziale aus der Perspektive einzelner Poetiken. Das Filmi8 | Vgl. hierzu François Jost: Le culte du banal. Du Duchamp à la télé-réalité, Paris: CNRS 2007. 9 | Karl Prümm: »Intermedialität und Multimedialität. Eine Skizze medienwissenschaftlicher Forschungsfelder«, in: Rainer Bohn/Eggo Müller/Rainer Ruppert (Hg.): Ansichten einer künftigen Medienwissenschaft, Berlin: Ed. Sigma 1988, S. 195–200, hier: S. 197. Ähnlich bereits Heinz-B. Heller: »Historizität als Problem der Analyse intermedialer Beziehungen. Die ›Technifizierung der literarischen Produktion‹ und ›filmische‹ Literatur«, in: Albrecht Schöne (Hg.): Kontroversen, alte und neue (Akten des VII. Internationalen Germanistenkongresses, Göttingen 1985), Tübingen: Niemeyer 1986, Bd. 10, S. 277–285, hier: S. 279: »Der literarische Autor schreibt so, als ob er über die ›Instrumente des Films‹ verfügen würde, es realiter jedoch nicht tut [sic]. Filmisches Schreiben im literarischen Medium ist also nicht imprägniert zu sehen von technischen Qualitäten des Films ›an sich‹, sondern von subjektiven Kinowahrnehmungen des schreibenden Subjekts.« 10 | Prümm: Intermedialität, S. 196. 11 | Ebd., S. 197. 60
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sche als literarische Kategorie gehört daher zur Variante der intermedialen Evokation – sie ist deutungsbedürftig, ja es gibt sie genau genommen nicht schlechthin, sondern nur als literarisches Interpretament. Auch die Relation von Literatur und anderen Medien kann nur schwer generell bestimmt werden, da die Literatur nicht als ein homogenes Gebilde existiert. Vielmehr könnte man gerade die divergierenden Haltungen gegenüber einem Fremdmedium dazu benutzen, die unterschiedlichen ästhetischen Positionen des literarischen Feldes zu beschreiben. 1. In Bertolt Brechts 1934 in Amsterdam erschienenem Dreigroschenroman, dessen Handlung 1902 in einem fiktionalisierten London spielt, gibt es eine Kinoszene, in der die niedere kulturelle Position des damals noch sehr jungen Stummfilms beleuchtet wird. Polly, die Tochter des sogenannten Bettlerfreundes Peachum, geht nach einem Arztbesuch, der zur Vorbereitung einer illegalen Abtreibung diente, mit ihrer Mutter ins Kino. Die kurze Passage lässt erkennen, wie genau Brecht den damaligen Entwicklungsstand des Kinos betont, das noch damit kämpfte, seine technischen Mittel zu beherrschen: »Es war eines jener kleinen, ärmlichen Etablissements, die ununterbrochen liefen. Es hatte die Form eines langen Handtuchs. Die Projektionsfläche war winzig. Ein unaufhörlicher Regen ging über die Bilder und die Menschen bewegten sich darauf wie im Veitstanz.«12
Zutreffend für den jungen Stummfilm sind nicht nur die damaligen Vorführbedingungen, eine armselige Ausstattung und ein ununterbrochenes Programm. In der Tat waren die »ersten Schaubuden und Ladenkinos«, die »sich nach 1900 sehr schnell« vermehrten, in ihrer Einrichtung »äußerst primitiv; man benutzte leerstehende Läden, deren Fenster mit schwarzem Papier verklebt wurden. Marktschreierische Plakate und handgeschriebene Programme lockten das Publikum zum Eintritt, das meist aus Kindern und jungen Leuten bestand«. Auch genderhistorisch trifft Brechts Beschreibung zu: »[S]peziell überwog das weibliche Ge12 | Bertolt Brecht: Dreigroschenroman, in: ders.: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. v. Werner Hecht u. a., Berlin, Weimar, Frankfurt am Main: Aufbau und Suhrkamp 1988–2000 [im Folgenden: GBA], Bd. 16, S. 287. 61
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schlecht.«13 Die Vorliebe für triviale Sujets zeigt sich in Brechts Beispiel anhand einer Stefan-Zweig-Verfilmung mit dem Titel Mutter, Dein Kind weint14 über eine Mutter, die vergnügungssüchtig abends zu einem Gesellschaftsball geht und ihr krankes Kind zuhause alleine lässt, das prompt stirbt. Erst als es zu spät ist, ›sieht‹ die Frau ihr totes Kind in einer Vision, so dass sie – geschockt und geläutert – nach Hause fährt und bereut, ihre Mutterschaft so vernachlässigt zu haben. Brechts Interesse am Film besteht nach dieser Szene nicht in einer Wahrnehmung des Films als avancierte Kunstform. Auch in seinem Essay Der Dreigroschenprozess über seine eigenen Erfahrungen mit der Filmindustrie im Rahmen der Verfilmung der Dreigroschenoper zeichnet der Autor 1931 ein Bild des Films ohne ästhetische Autonomie. Die ökonomische Orientierung der Filmindustrie und die Abhängigkeit des Films sind dort ein Argument, dem Film künstlerische Relevanz abzusprechen.15 Die einer heteronomen Kunst korrespondierende Form ästhetischer Erfahrung – so sie denn überhaupt den Namen ›ästhetisch‹ verdient hat – gestaltet Brecht ebenfalls in der kurzen Kinoszene des Dreigroschenromans. Einfühlung und Identifikation sind die idealtypischen Reaktionen auf der Seite der beiden Zuschauerinnen, eine absolute Immersion in die Geschichte, die den formalen Aspekten des Films keinerlei Aufmerksamkeit schenkt, sondern ganz in der Handlung aufgeht. Die beiden Frauen werden vom Film, der sie »packt«, »erschüttert«16 und zeigen all die Symptome der typisch populären Rezeptionsform: »Als das kleine Mädchen, fern von der leichtsinnigen Mutter, einsam starb, fühlte Polly einen stechenden Schmerz in der Brust. Sie griff im Dunkeln nach der Hand ihrer Mutter, die Tränen standen beiden Frauen in den Augen, als 13 | Ludwig Greve u. a. (Hg.): Hätte ich das Kino! Die Schriftsteller und der Stummfilm, München: Kösel 1976, S. 57. 14 | Brecht zitiert hier einen tatsächlich existierenden Stummfilm, der allerdings erst 1923 entstand und auf der Stefan-Zweig-Novelle Das brennende Geheimnis beruht. Die Zuordnung des Stoffes zu einem trivialen Sujet ist sicherlich ein wohlkalkulierter Seitenhieb Brechts auf den erfolgreichen literarischen Konkurrenten. Bemerkenswert jedoch die historische Ungenauigkeit der Kinoszene im Dreigroschenroman, was das Filmsujet betrifft, denn der Film des ersten Kinojahrzehnts kannte noch keine ›rührenden‹, identifikatorisch erzählenden Filme. Ob Brecht dies nicht wusste oder ob er diese Diskrepanz im Interesse eines weniger historischen als systematischen Arguments bewusst herstellte, muss offen bleiben. 15 | Bertolt Brecht: »Der Dreigroschenprozess. Ein soziologisches Experiment«, in: GBA, Bd. 21, S. 448–514. 16 | GBA, Bd. 16, S. 289. 62
»Eine neue Vorstellung von Kunst«
das gestorbene kleine Mädchen in den Ballsaal geflattert kam. [. . .] Sie verließen das Kino tief bewegt von diesem Kunstwerk.«17
Brechts Erzähler hingegen hat einen genauen Blick für die formalen Beschaffenheiten des jungen Mediums. Nicht nur die bereits erwähnten armseligen Mittel finden dabei sein Interesse; noch ein anderes typisches Moment des jungen Films erregt seine sogar siebenfache Aufmerksamkeit: der sogenannte »Erklärer«, der in der Frühzeit des Films als ein extradiegetisches Moment die Stummheit des Films supplementiert und die Aufgabe hatte, zwischen Film und Publikum zu vermitteln.18 Der »Erklärer« des Stummfilms ist zwar gegenüber dem visuellen Geschehen ein extradiegetisch-heterodiegetisches Element, er besitzt jedoch keine Autonomie; vielmehr besteht seine Aufgabe darin, das Gezeigte nach dem technischen Tonverlust nachträglich wieder ›zum Sprechen‹ zu bringen. Den Wunsch nach der Illusion eines unmittelbar sprechenden Bildes markiert Brecht an einer Stelle deutlich. Wo hingegen in den sonstigen Erwähnungen der »Erklärer« durch verba dicendi – »sagte er«, »informierte der Erklärer«, »sagt der Baß«, »dröhnte der Baß«, »der Baß beschloß«19 – explizit eingeführt wird, scheint das Sprechen im dramatischen Höhepunkt des Geschehens direkt auf die Hauptperson überzugehen: »›Oh, daß es nicht zu spät ist!‹, flüstert die Unglückliche«20 . Aufgrund der zuvor geschilderten technischen Voraussetzungen kann es nur der Erklärer sein, der diese Worte spricht und sie der dargestellten Person somit gleichsam in den Mund legt; der Eindruck, der bei den Zuschauerinnen ankommt, ist jedoch der, dass die Worte von der Person selbst gesprochen werden. Mit einem solchen technisch verursachten Auseinanderreißen des ›natürlichen‹ Zusammenhangs von Bild und Ton, von Wort und Handlung kämpfte nicht nur der Stummfilm; auch in der Frühzeit des Tonfilms – seit 1929, also in der Zeit der Entstehung des Dreigroschenromans – wurde eine solche ›Zweispurigkeit‹ wahrgenommen und nun sogar zum Teil produktiv gemacht, so beispielsweise in den frühen Tonfilmen von René Clair, in denen mit der Wahrnehmungsdissoziation von Bild und Ton und der Ebenenüberschreitung von Diegetischem und Extradiegeti17 | Ebd. 18 | Vgl. hierzu Jean Châteauvert: »Das Kino im Stimmbruch«, in: Frank Kessler u. a. (Hg.): Aufführungsgeschichten, Basel, Frankfurt am Main: Stroemfeld/Roter Stern 1994. Vgl. auch Chris Wahl: Das Sprechen des Spielfilms. Über die Auswirkungen von hörbaren Dialogen auf Produktion und Rezeption, Ästhetik und Internationalität der siebten Kunst, Trier: WVT 2005. 19 | GBA, Bd. 16, S. 287 f. 20 | Ebd., S. 288. 63
Uta Degner
schem gespielt wird.21 Clair war gegen die realistische Ton- und Dialogabbildung und forderte stattdessen eine originelle Handhabung des Tons, vor allem durch »Asynchronität«22 von Ton und Bild. 1929 schreibt er: »Es sieht so aus, als könne der Tonfilm durch sparsame Anwendung interessante Wirkungen erzielen. Wir wollen nicht das Applausgeräusch hören, wenn wir die klatschenden Hände sehen. [. . .] Die besten Ton- und Sprecheffekte werden durch den abwechselnden Gebrauch von Bild und Ton erzielt, nicht durch deren Gleichzeitigkeit.«23
In seinen ersten Tonfilmen, zu denen er auch das Drehbuch schrieb, hat Clair vorgeführt, wie er sich die Verwendung von Ton vorstellte: In Sous les toits de Paris drückt eine Figur statt auf den klingelnden Wecker auf den Absatz eines Schuhs. Der Wecker verstummt dennoch, da – wie man erst in der nächsten Einstellung sieht – eine andere Person gleichzeitig tatsächlich den Wecker abgestellt hat; an einer anderen Stelle wird der Zuschauer aus seiner Versunkenheit aufgeschreckt, weil die Musik hängen geblieben ist wie eine Nadel auf der Schallplatte. Erst nach einem Schnitt ist zu erkennen, dass die Musik aus einer diegetischen Tonquelle, einem Grammophon, stammt, dessen Nadel tatsächlich hängen geblieben ist.24 Diese Ebenenverdopplung im frühen Tonfilm und im Stummfilm mit Erklärer kann also entweder zu einer homogenisierenden Ebenenüberblendung genutzt werden – wie es dem trivialen Genre entsprach – oder zu einem Ebenenbruch, welcher dem Kino zum Beispiel bei Clair eine Art Verfremdungseffekt verleiht, wie er Brechts epischem Theater nicht unähnlich ist.25 Brecht hat in dieser Medienkombination ein technisches 21 | Ich folge hier und im Folgenden den Ausführungen von Chris Wahl, vgl. Anm. 18. 22 | Ebd., S. 118. 23 | René Clair: »Drei Briefe aus London«, in: ders.: Kino. Vom Stummfilm zum Tonfilm. Kritische Notizen zur Entwicklungsgeschichte des Films 1920–1950, Zürich: Diogenes 1995, S. 111–123, hier: S. 117. 24 | Walter Hinck: »Die Kamera als ›Soziologe‹«, in: Brecht heute. Jahrbuch der Internationalen Brecht-Gesellschaft/Brecht today, Frankfurt am Main: Athenäum 1971, S. 68–79, hier: S. 75. f.: »Auch die Filmmusik von Kuhle Wampe steht im Dienst des kontrapunktischen Stils. Hanns Eislers Musik, weit davon entfernt, ›einen harmonistisch-ungeschiedenen Zustand vorzutäuschen‹, ist auf den Kontrast zum Bild und auf den Ausdruck von Widersprüchen angelegt. Sie trägt dazu bei, die Dramaturgie des Films in unmittelbare Nähe der distanzierend-verfremdenden Technik des epischen Theaters zu rücken.« 25 | Schon in der Anfangszeit des Tonfilms lassen sich zwei Weisen erkennen, mit dieser Dissoziation umzugehen, die auch seine weitere Karriere begleiten werden: Auf der einen Seite steht das erfolgreiche Bemühen um eine ›realistische‹ 64
»Eine neue Vorstellung von Kunst«
Potenzial erkannt, das er für sein Modell des epischen Theaters nutzen wird – und das, auf ganz eigene Art, auch seine Prosa bestimmt. Eine solche Auflösung der (scheinbar) natürlichen Einstimmigkeit von Handeln und Sprechen inszeniert Brecht auf narrative Art im Dreigroschenroman. Er verleiht dazu seinem Erzähler eine dem Trivialfilm-Erklärer analoge Rolle, und zwar zweifach: Auch der Erzähler des Dreigroschenromans ist extradiegetisch-heterodiegetisch, was ja an sich im Prosatext noch nichts Ungewöhnliches ist. Als solcher ist er zu eigenen Beobachtungen in der Lage, er hat einen Überblick über das Geschehen, kennt die Fakten und nutzt diese dazu, die rhetorischen Selbstüberredungen der Figuren zu dekuvrieren: »Der Soldat begriff noch keineswegs, wie dieser eigentümliche und anrüchige Betrieb funktionieren mochte; dazu brauchte er noch wochenlang. Aber er war zu zermürbt, um nicht einzusehen, daß es ein Glück für ihn wäre, hier einzutreten, in eine große und geheimnisvolle Organisation.«26
Zugleich aber hat der Erzähler keine absolute stimmliche Autonomie, sondern spricht passagenweise gleichsam den Text der Figuren – und zwar in deren Vokabular. Er hat dann keine ›eigene‹ Sprache, sondern übernimmt den Soziolekt seiner Figuren mitsamt ihren impliziten Überzeugungen und Wertungen. Deutlich wird dies beispielsweise am Schluss der zuletzt zitierten Kinoszene, wo er den trivialen Film als »Kunstwerk« bezeichnet. Das Ergebnis ist der Eindruck eines ›zitierenden‹, uneigentKraft der Kombination von Wort und beweglichem Bild; auf der anderen die Intention, die Verwendung von Sprache einzuschränken. So konzipierte Rudolf Arnheim in der Weltbühne (Nr. 17 vom 23. April 1929) den Sprechfilm als Gegenpol des Tonfilms: »Tonfilm – das ist zunächst die mechanische Wiedergabe der Musikbegleitung, die bisher von den Kinoorchestern ausgeführt wurde und die eine nützliche und notwendige Einrichtung ist. [. . .] Sowie aber die Begleitung zur Nachahmung oder Reproduktion von Geräuschen, von Klingeln, Schüssen, Instrumentenspiel übergeht, haben wir die Grenze zum Sprechfilm, der darin besteht, daß alle akustischen Begleiterscheinungen der optisch dargestellten Szene mitgeliefert werden [. . .].« (Rudolf Arnheim, »Tonfilm-Verwirrung« [1929], in: ders.: Kritiken und Aufsätze zum Film, hg. v. Helmut H. Diederichs, Frankfurt am Main: Fischer 1979, S. 61–64, hier: S. 63.) Vgl. dazu Wahl: Das Sprechen des Spielfilms, S. 118: »Verstand Arnheim den Sprechfilm in einer frühen Phase also noch als Tonfilm, der neben Musik auch Geräusche enthält, änderte sich seine Definition mit der Weiterentwicklung des Filmdialogs. In seinem Standardwerk Film als Kunst spricht Arnheim 1932 vom ›reinen‹ oder ›extremen‹ Sprechfilm, der für ihn nur noch technisch, nicht aber ästhetisch vom Theater der Bühne zu unterscheiden ist.« 26 | GBA, Bd. 16, S. 15. 65
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lichen Sprechens, das zwar auf den ersten Blick der Perspektive seiner Figuren folgt – auf den zweiten Blick jedoch merklich auf Distanz zu deren Wertungen geht. Dass ein solches Erzählen im Falle Brechts in der Tat vom Film inspiriert ist, belegt seine wichtigste intermediale Schrift, die bereits drei Jahre vor der Veröffentlichung des Dreigroschenromans erschien: der bereits erwähnte Dreigroschenprozess von 1931. Seinen unmittelbaren Entstehungskontext bildet Brechts und Weills Prozess gegen die Nero-Filmgesellschaft vom Vorjahr. Die beiden hatten sich vertraglich künstlerisches Mitspracherecht bei einer Verfilmung der Dreigroschenoper zusichern lassen. Als die Filmfirma ihr Drehbuch nicht akzeptierte, sondern ein anderes Team beauftragte – zu dem unter anderem Béla Balázs gehörte! –, verklagten Brecht und Weill sie wegen Verstoßes gegen das Urheberrecht. Im Dreigroschenprozess trifft Brecht die berühmte Feststellung »[d]ie Technifizierung der literarischen Produktion ist nicht mehr rückgängig zu machen«. »Die alten Formen der Übermittlung nämlich bleiben durch neu auftauchende nicht unverändert und nicht neben ihnen bestehen. Der Filmesehende liest Erzählungen anders. Aber auch der Erzählungen schreibt, ist seinerseits ein Filmesehender. [. . .] Die Verwendung von Instrumenten bringt auch den Romanschreiber, der sie selbst nicht verwendet, dazu, das, was die Instrumente können, ebenfalls können zu wollen, das, was sie zeigen (oder zeigen könnten), zu jener Realität zu rechnen, die seinen Stoff ausmacht, vor allem aber seiner eigenen Haltung beim Schreiben den Charakter des Instrumentebenützens zu verleihen.«27
Brecht interessiert sich insbesondere für das technische Potenzial der filmischen »Instrumente«, der Psychologisierung zu entkommen und stattdessen die soziale Funktionalität bestimmter Haltungen und Ideologeme darzustellen: »Der Film, der keine Welt gestalten kann [. . .], der auch niemandem gestattet sich (und nichts sonst) durch ein Werk auszudrücken, und keinem Werk, eine Person auszudrücken, gibt (oder könnte geben): verwendbare Aufschlüsse über menschliche Handlungen im Detail. Seine großartige induktive Methode, die er zumindest ermöglicht, kann für den Roman von unabsehbarer Bedeutung sein, sofern der Roman selber noch etwas bedeuten kann. [. . .] Er verwendet zur Verlebendigung seiner Personen, die nur nach Funktionen eingesetzt sind, einfach bereitstehende Typen, die in bestimmte Situationen kommen und in ihnen bestimmte Handlungen einnehmen können. Jede Motivierung aus dem Charakter unterbleibt, das Innenleben der Personen gibt niemals die Hauptur27 | GBA, Bd. 21, S. 464. 66
»Eine neue Vorstellung von Kunst«
sache und ist selten das hauptsächliche Resultat der Handlung, die Person wird von außen gesehen.«28
Da die Kamera Einfühlung vermeiden kann, ist sie in der Lage, den Blick weg von den individuellen Charakteren auf die sozialen Strukturen zu lenken. Brecht nennt daher die Kamera im Exposé zum »Dreigroschenfilm« Die Beule einen »Soziologen«29 und wird im Dreigroschenroman versuchen, einen solchen filmischen Blick literarisch zu transponieren. Er benutzt dazu die Erzählstimme als solch ein »technisches Instrument«. Der Erzähler verhält sich so, dass er den Selbstrechtfertigungen seiner Figuren weitgehend naiv zu folgen scheint und ihre subjektiven Erklärungen sprachlich objektiviert. Der implizite Autor aber, der diesen Erzähler benutzt, macht sich die literarische Möglichkeit eines Wechsels von showing und telling dahingehend zunutze, deren falsche Kongruenz festzustellen. Der satirische Witz des Dreigroschenromans besteht in der Diskrepanz zwischen der Ideologie im Denken und Sprechen seiner Protagonisten einerseits, welches den bürgerlichen Moralprinzipien von Nächstenliebe, Sorge, Überlebenskampf, Pflicht und Ehre folgt, und andererseits der im Handeln zutage tretenden, zum Teil sogar unbewussten Motivation, ihre persönliche Situation materiell zu verbessern – wofür sie buchstäblich über Leichen gehen. In der extradiegetischen Wiederholung des Soziolekts und der Wertvorstellungen der Figuren praktiziert Brecht eine sprachliche Mimikry ans Triviale, die diesen Hiat überdecken zu wollen scheint – und gerade darin dem aufmerksamen Leser einen Hinweis auf die intradiegetische Funktion der trivialen Ideologie als Maskierung ihres Handelns gibt. Einen solchen Stil hat Brecht »Gestus« genannt, da er ein zeigendes Moment innehat:30 Er scheint auf die Soziolekte und Ideologien der Figuren gleichsam zu zeigen und ihnen dadurch ihren Schein von selbstverständlicher ›Natürlichkeit‹ zu nehmen. Walter Benjamin hat das Wesen des Brecht’schen Gestus schon früh als eine Art des Zitierens erkannt. In seinem Text über das epische Theater betont er: »›Gesten zitierbar machen‹, ist eine der wesentlichen Leistungen des epischen Theaters. Seine Gebärden muß der Schauspieler sperren können wie ein Setzer 28 | Ebd., S. 465. 29 | Bertolt Brecht: Gesammelte Werke, hg. v. Elisabeth Hauptmann, Supplement-Band 2: Texte für Filme II: Exposés, Szenarien, Anhang: Entwürfe und Pläne, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 333. 30 | Vgl. dazu Marc Silberman: »Brecht’s Gestus or Staging Contradictions«, in: Brecht Yearbook/Das Brecht-Jahrbuch 31 (2006), S. 318–335. 67
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die Worte.«31 Brecht hat dieses Prinzip auch formal in den Dreigroschenroman übertragen. Die offensichtlichsten Kennzeichen eines solchen ›gestischen‹ Schreibens sind Passagen in Kursivschrift, die den gesamten Roman durchziehen. Die Funktionsweise eines solchen Erzählens lässt sich beispielhaft am ersten Kapitel des ersten Buches veranschaulichen, das mit »Bettlers Freund« überschrieben ist: »Um der zunehmenden Verhärtung der Menschen zu begegnen, hatte der Geschäftsmann J. J. Peachum einen Laden eröffnet, in dem die Elendsten der Elenden sich jenes Aussehen erwerben konnten, das zu den immer verstockteren Herzen sprach.«32
Scheint der Geschäftsmann Peachum hier zu Beginn des Kapitels ein wohltätiger ›Bettlerfreund‹ zu sein, der bemüht ist, den »Elendsten der Elenden« auf die Beine zu helfen, so wird im weiteren Verlauf des Kapitels deutlich, dass er den Bettlern nur hilft, um aus ihnen Gewinn zu schlagen. Peachums Engagement mündet in eine mafiöse Struktur, die Bettler großflächig organisiert und an ihren ›Gewinnen‹ beteiligt ist. Deutlich wird diese Absicht schon sehr bald durch das ökonomische Vokabular, das sich durch den Text zieht: »Verkauf«, »Kunden«, »Geschäft« u. a.33 Der spezifische Einsatz des Erzählers besteht nun freilich nicht darin, die Selbstdarstellung der Figuren durch eine explizite Kommentierung zu korrigieren; vielmehr distanziert er sich implizit durch die scheinbar beiläufige Erwähnung von Zusatzinformationen, die ›für sich selbst sprechen‹. So endet das Kapitel mit dem Satz: »Nach etwa 25 Jahren aufreibender Tätigkeit besaß Peachum drei Häuser und ein blühendes Geschäft«34 . Die Rede von einer »Außenschau«35 , die immer wieder als das filmtypische Moment des Romans hervorgehoben wird, geht deshalb in die Irre.36 Das »Vonaußensehen«, von dem Brecht als filmisches Vorbild spricht, meint im Medium der Literatur nicht eine externe Fokalisierung 31 | Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hg. v. Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann, Bd. 2.2: Aufsätze, Essays, Vorträge, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, S. 529. 32 | GBA, Bd. 16, S. 23. 33 | Ebd. und passim. 34 | GBA, Bd. 16, S. 25. 35 | Wolfgang Jeske (Redaktion): »Dreigroschenroman«, in: Jan Knopf (Hg.): Brecht-Handbuch, Bd. 3: Prosa, Filme. Drehbücher, Stuttgart: Metzler 2002, S. 191–220, hier: S. 209. 36 | »Die Lage wird dadurch so kompliziert, daß weniger denn je eine einfache ›Wiedergabe der Realität‹ etwas über die Realität aussagt. Eine Photographie 68
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und liegt überhaupt nicht auf der Ebene des Sehens, sondern vielmehr auf der Ebene des Modus, der Stimme. Es meint ein Schreiben, bei dem der Autor auf der Literalebene nicht seinen eigenen Soziolekt verwendet, sondern ›Sprache als Instrument benutzt‹ – so wie Brecht es im restringierten Kode des Dreigroschenromans praktiziert. Das innovative Moment seiner Prosa liegt in diesem Verzicht des Erzählers auf eine eigene Sprache und setzt sich bewusst ab von der sonst am autonomen Pol der Literatur betriebenen »erlesene[n] Kammermusik [der] fein ziselierten, zartfarbenen Wortkunst«, wie Brecht zu Thomas Mann bemerkt.37 Indem er seinem Erzähler keine sprachliche Autonomie zugesteht, sondern ihn das populäre Sprechen imitieren, ja reproduzieren lässt, erweitet Brecht den Möglichkeitsraum des ›hohen‹ Erzählens. Der Dreigroschenprozess zeigt sehr offen die soziale Funktionalität seines ›filmischen‹ Stils: Weit entfernt davon, Grenzen aufzulösen, zieht er hier nämlich Grenzlinien zu mehreren Seiten: zunächst einmal gegen die legitime literarische Ästhetik seiner Zeit. Brecht polemisiert stark gegen die (von ihm) so genannte bürgerliche Kunstauffassung. Im Gegensatz nämlich zum Film, der ihm zufolge »keine Welt gestalten kann«, gestalte der »bürgerliche Roman [. . .] heute noch jeweils ›eine Welt‹. Er tut dies rein idealistisch aus einer Weltanschauung heraus, der mehr oder weniger privaten, jedenfalls aber individuellen Anschauung seines ›Schöpfers‹. [. . .] Man erfährt über die wirkliche Welt nur so viel, als man über den Autor erfährt, den Schöpfer der unwirklichen, um nicht sagen zu müssen, man erfahre nur etwas über den Autor und nichts über die Welt.«38
Brecht formuliert in diesem Rahmen sein Interesse an den sogenannten »Apparate[n]« als häretische Instrumente: »Diese Apparate können wie sonst kaum etwas zur Überwindung der alten untechnischen, antitechnischen, mit dem Religiösen verknüpften, ›ausstrahlenden‹ ›Kunst‹ verwendet werden.«39 Indem er den Begriff Kunst in Anführungszeichen setzt, visualisiert Brecht die Distanz, die er dem bürgerlichen Kunstmodell gegenüber einnimmt, das er mit dem wenig schmeichelhaften Attribut »alt« belegt. In Thomas Mann sieht er die Paradefigur des »bourgeoisen Herstellers künstlicher, eitler und unnützer Bücher« und gesteht: »[I]ch gebe offen zu, daß ich geradezu Geldopfer bringen würde, um das der Kruppwerke oder der AEG ergibt nichts über diese Institute.« (GBA, Bd. 21, S. 469.) 37 | Bertolt Brecht: »Thomas Mann im Börsensaal«, in: GBA, Bd. 21, S. 61 f., hier: S. 61. 38 | GBA, Bd. 21, S. 465. 39 | Ebd., S. 466. 69
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Herauskommen gewisser Bücher zu unterbinden.«40 Eine ähnliche Tendenz zum häretischen Angriff zeigt sich in Brechts Generalisierung des literarischen Feldes seiner Zeit. Er stellt es nicht als eine Wahlmöglichkeit dar, die Anregungen des Kinos aufzunehmen oder nicht, sondern als einen epochalen Schritt, den man gehen müsse, um überhaupt ein zeitgemäßer Autor sein zu können. Es gebe nämlich »[k]einen Teil der Kunst, [. . .] der ganz unberührt von den neuen Übermittlungsmöglichkeiten« sei.41 Brecht lässt der Kunst keine Wahl: »[D]er alte Begriff der Kunst, vom Erlebnis her, fällt [. . .] aus.«42 Wer jedoch erwartet, dass Brecht im Zuge dieser Polemik gegen die ›bürgerliche Literatur‹ den Film preist, hat sich geirrt. Im Gegenteil schmäht er auch den realexistierenden Film seiner Zeit. Die im Dreigroschenroman implizite Filmkritik wird im Dreigroschenprozess explizit. Wegen seiner Heteronomie nämlich, seiner Abhängigkeit von einer rein wirtschaftlich orientierten Industrie, verfehlt es der Film, sein technisches Potenzial zu realisieren. Fern davon, neue ästhetische Standards zu setzen, wärmt er stattdessen die überkommenen, von der Literatur übernommenen alten Kunstklischees wieder auf. Es ist frappierend zu sehen, wie scharf Brecht in seinen Ausführungen immer wieder unterscheidet zwischen den technischen Möglichkeiten des Films – was der Film zeigen und tun könnte – und dem, was der Film tatsächlich tut. Sein ›filmisches Schreiben‹ trägt daher den Charakter einer symbolischen Usurpation dieser ungenutzten Potenziale und führt ihn zu der paradoxalen Behauptung, »die Schreibenden anderer Kategorien, also die Dramatiker oder die Romanschreiber [könnten] zunächst filmischer arbeiten als der Film«, denn: »Sie sind zum Teil unabhängiger von Produktionsmitteln.«43 Auch hier also kann von einer Nivellierung der medialen Grenze nicht die Rede sein. In der Konkurrenz um künstlerische Vorherrschaft gibt Brecht der Literatur die Leitfunktion. 2. Eine ganz ähnliche literarische ›Instrumentalisierung‹ des Illegitimen kann man auch im Schreiben Elfriede Jelineks erkennen. Über ihr an Roland Barthes geschultes Trivialmythenkonzept wurde schon viel geschrieben – kaum wird aber bemerkt, dass Barthes dabei selbst auf Brecht 40 | Ebd., S. 164. 41 | Ebd., S. 466. 42 | Ebd., S. 469. 43 | Ebd., S. 465. 70
»Eine neue Vorstellung von Kunst«
rekurriert.44 Die Parallelen in den dichterischen Verfahren Brechts und Jelineks werden in der Forschung zu ihren Dramentexten schon vernachlässigt und finden in Hinblick auf ihre Prosa gar keine Erwähnung.45 In ihrem Roman Die Liebhaberinnen von 1975 radikalisiert Jelinek Brechts ästhetische Strategie: Sie sieht in den modernen Massenmedien noch weniger innovatives Potenzial als Brecht; zugleich aber subordiniert sie sich stilistisch deren Trivialsprache noch vollständiger. Gleich zu Anfang der Liebhaberinnen wird dies deutlich: »vorwort: kennen Sie dieses SCHÖNE land mit seinen tälern und hügeln? es wird in der ferne von schönen bergen begrenzt. es hat einen horizont, was nicht viele länder haben. kennen Sie die wiesen, äcker und felder dieses landes? kennen Sie seine friedlichen Häuser und die friedlichen menschen darinnen? mitten in dieses schöne land hinein haben gute menschen eine fabrik gebaut. geduckt bildet ihr alu-welldach einen schönen kontrast zu den laub- und nadelwäldern ringsum.«46
Der restringierte Kode, das simplizistische Basisvokabular mit seinen wörtlichen Wiederholungen (so zum Beispiel in den Adjektiven »schön« und »friedlich«), ist für einen durchschnittlichen Belletristikleser kaum erträglich. Jelinek folgt darin Brechts Erzählmethode, auf eine ›eigene‹ Sprache zu verzichten und stattdessen ›aus zweiter Hand‹ zu sprechen. Hat 44 | Marc Silberman (Anm. 30) hat gezeigt, wie Brechts Gestus auf dem Umweg über Paris Eingang in die französischen und amerikanischen Theorien von Strukturalismus, Poststrukturalismus und in das Performanzdenken der Gendertheorie gefunden hat; nicht zuletzt Roland Barthes war ein begeisterter BrechtRezipient. 45 | Vielleicht auch deshalb, weil Jelinek angibt, ›Brecht sonst gar nicht so sehr zu schätzen‹ (vgl. das Gespräch mit Hans-Jürgen Hinrichs in Sinn & Form (2004) 6, S. 760–782, hier: S. 762). Vgl. jedoch Jelinek 1984: »Zumindest mein Nora-Stück [ist] eine Weiterentwicklung des Brechtschen Theaters mit modernen Mitteln der Literatur, den Mitteln der Popkultur der fünfziger und sechziger Jahre« (Elfriede Jelinek: Ich schlage sozusagen mit der Axt drein, zit. n. Marlies Janz: Elfriede Jelinek, Stuttgart [u. a.]: Metzler 1995, S. 31 f., hier: S. 32). Janz kommentiert: »Obwohl diese Ausführungen von grundsätzlicher Bedeutung sind für die Technik auch der späteren Stücke Jelineks, trifft der Hinweis auf Brechts Lehrstück und dessen Weiterentwicklung durch Mittel der Pop-Kultur der fünfziger und sechziger Jahre doch wohl nur auf das Nora-Stück zu.« Ob Jelinek Barthes’ Trivialmythenkonzept ›marxistisch revisioniert‹ (ebd., S. 26) oder nicht doch schlicht näher an Brecht als an Barthes ist, wäre zu prüfen. 46 | Elfriede Jelinek: Die Liebhaberinnen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 26 2004 [1 1975], S. 5. Kursivierungen U. D. 71
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Brecht im Film noch ein emanzipatorisches Potenzial erkannt – wenn es auch freilich nicht vom Film realisiert wurde, sondern von seiner Literatur –, so stößt man bei Jelinek nurmehr auf das Prinzip gestischer Verdoppelung, das die stilistischen Doppelfiguren im Text nochmals ausstellen. Woher rührt jedoch der seit dem Nobelpreis für die Autorin 2004 unbestreitbare Umstand, dass ein solcher Text nicht seinerseits trivial erscheint, sondern als hohe Literatur? Zunächst scheint dies einem Effekt geschuldet, der an Marcel Duchamps Readymade erinnert, an das berühmte Urinoir, ausgestellt als Kunstgegenstand. Einen ähnlich großen Unterschied wie für Duchamps Fountain macht es für die Geschichte von Brigitte und Paula, Heinz und Erich, ob man sie in einer Vorabendserie, einem Groschenheft oder zwischen den Buchdeckeln eines renommierten Verlags präsentiert bekommt. Denn zentral wird durch den Ort der Publikation das Wie ihrer Rezeption mitbestimmt. Duchamp musste daher sein Urinoir in die Ausstellung hieven – und ähnlich ›ausgestellt‹ präsentiert sich auch Jelineks Stil. Der Kontrast zwischen konventionalisierten ›literarischen‹ Erwartungen und einem trivialen Stil produziert Brechungseffekte, wie sie seit Baudelaire47 typisch für Avantgardekunst sind und bereits Brechts Erzählstil prägten, freilich nicht so drastisch wie bei Jelinek. Auch die Art der Präsentation nimmt Anleihen an Brechts Gestuseffekt: Die (fast) durchgehende Kleinschreibung lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Form des Textes, was wiederum ein traditionelles Signal autonomer Literatur ist. Auch die Großschreibung einzelner Wörter, wie das »SCHÖNE« im ersten Satz, gleicht strukturell Brechts Kursivierungen. Gerade aber das gestische Ausstellen des massenmedialen Trivialen lässt sich als inhärente Distanznahme gegen dieses lesen, wie auch der Erzähler mitunter zu wenig harmonistischen Aussagen kommt. Im Ton imitiert er zwar durchgehend die triviale Sprechund Denkweise seiner Figuren; nur ist er weniger idealistisch und setzt gehäuft Katachresen48 ein, so meint er zum Beispiel einmal beiläufig: »Frauen heiraten oder gehen sonst irgendwie zugrunde.«49 47 | Vgl. hierzu insbesondere Thomas Becker: »Subjektivität als Camouflage. Die Erfindung einer autonomen Wirkungsästhetik in der Lyrik Baudelaires«, in: Markus Joch/Norbert Christian Wolf (Hg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis, Tübingen: Niemeyer 2005, S. 159–175. 48 | Vgl. hierzu Ben Morgan: »Elfriede Jelinek«, in: Hilary Brown (Hg.): Landmarks in German Women’s Writing, Oxford/Bern u. a.: Lang 2007 (= Britische und Irische Studien zur deutschen Sprache und Literatur Bd. 39), S. 193–210. 49 | Jelinek: Die Liebhaberinnen, S. 6. 72
»Eine neue Vorstellung von Kunst«
Wie bereits bei Brecht, so lassen sich auch Jelineks Anleihen aus der Populärkultur als polemische Häresie gegen ein ›legitimes‹ Literaturkonzept verstehen. In der Persiflage des Mignon-Liedes – »Kennst Du das Land, wo die Zitronen blühn?« – wird Goethe und das von ihm repräsentierte ›hohe‹ Literaturverständnis anzitiert und zugleich popularisiert – eine Popularisierung, wie sie nicht zuletzt die Rezeptionsgeschichte des Mignon-Liedes auszeichnet.50 Die trivialisierende Zitation unterminiert Goethes Legitimität und das mit ihr repräsentierte Konzept autonomer Literatur. Deutlicher heißt es in einem frühen poetologischen Text, man müsse »den dichtern den mund stopfen«51 . Der Text fordert dort »das herunterholen des künstlers aus den regionen der narrenfreiheit der verniedlichung der schmerzfreien konsumierung«52 und »das ende des gedichteten bühnenwortes«.53 Das Konzept einer autonomen Literatur wird dort negativ bewertet und seinerseits den Trivialmythen zugewiesen (»narrenfreiheit«). Es ist jedoch auch möglich, die Goethe-Anspielung positiv zu lesen, als ein Herbeizitieren Goethes als ästhetischen Gewährsmann. Denn so sehr Jelinek autonomieästhetisch Abstand nimmt von Goethe, so sehr partizipiert sie an dem geteilten Boden struktureller Autonomie. Die Freiheit, das autonomieästhetische Konzept zu verabschieden, fußt ja ihrerseits gerade auf einer solchen strukturellen Autonomie des Ästhetischen. Das Eigentümliche der Jelinek’schen Poetik ist die paradoxe Kombination dieser beiden Stränge. Der bereits erwähnte frühe poetologische Text wir stecken einander unter der haut. konzept einer television des innenraums, der 1970 in der Zeitschrift protokolle erschien, spricht dies expliziter aus als andere Texte. Er polemisiert gegen die überkommenen autonomieästhetischen Konzepte und praktiziert das für Jelinek typische extensive Zitieren, wie es in dieser Intensität in der deutschsprachigen Literatur wohl einmalig ist. Neben anscheinend wortwörtlichen Wiedergaben von 50 | Paul Requadt hat darauf aufmerksam gemacht, dass bereits Goethes scheinbar ursprüngliche Verse – »Die deutsche Italiendichtung setzt trotz mancher Vorläufer erst mit dem Mignon-Lied ein« – von dem englischen Barockdichter Edmund Raleigh Waller entliehen sind (Paul Requadt: Die Bildersprache der deutschen Italiendichtung von Goethe bis Benn, Bern, München: Francke 1962, S. 4 f.). 51 | elfriede jelinek: »wir stecken einander unter der haut. konzept einer television des innen raums«. In: protokolle 1970, H. 1, S. 129–134, hier S. 130. 52 | Ebd., S. 131. 53 | Ebd., S. 129. 73
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Perry-Rhodan-Szenen gibt es jedoch auch manifestartige Einschübe, welche eine emanzipatorische Utopie entfalten: »das warten auf umprogrammierung der offiziellen rundfunk & fernseh stationen beenden und zuerst mit eigener strategie dieses patriarchat auf seine gültigkeit abklopfen. das tonband der little helper z. b. ist ein nach aussen verlagerter teil des nervensüstems . . . sie erfahren aus tonbandexperimenten mehr darüber wie ihr bewusstsein arbeitet (und wie sie ihre reaktionen und die von anderen beeinflussen können. burroughs)«54
Zwar läßt sich aufgrund der Montagestruktur des Textes nicht mit Sicherheit sagen, ob in dem Text überhaupt eine Stimme die Autorintention verkündet, doch scheint es legitim, die emanzipatorischen Passagen wie die obige in der Tat der jungen Autorin zuzuordnen. Hier wird auch das Ziel sichtbar, das hinter Jelineks intermedialer Arbeit steht: »die durchsetzung und besitzergreifung des bildschirms durch diejenigen die von ihm unterdrückt werden«55 . Das stilistische Mittel hierzu ist wiederum die rhetorische Figur der Katachrese: Die Zitate werden so aus ihrem Zusammenhang gerissen, dass sie ihren scheinbar natürlichen Kontext verlieren und ihre Künstlichkeit und damit auch Veränderbarkeit zum Vorschein kommt. Jelinek affirmiert ihre Stoffe nicht, sondern bemächtigt sich ihrer in einem recht aggressiven Akt, der gerade keine Werktreue propagiert, sondern Zerstörung: »Dem gesunden humor mit terror begegnen. die zerstörung des bildes mit heimischen waffen.«56 Hier spricht sich deutlich aus, was Jelineks literarischen Texten nur implizit zu entnehmen ist: Es geht ihnen nicht um eine Nivellierung der Differenz von ›hoher‹ und ›niederer‹ Kunst, sondern um eine aktionistische Brechung konventionalisierter kultureller Praktiken, seien sie auf Seiten der ›hohen‹ oder der ›niederen‹ Kunst: »die alten bilder fallen und mit ihnen der fixierte sinn der sätze und das gedankenlose sterile spiel mit den worten.«57 Jelineks Kunst besteht darin, aus diesem Stil des Recycelns doch etwas ganz Eigenes entstehen zu lassen. Dass sie den Nobelpreis bekommen hat, der Brecht noch entging, zeigt auch, wie sehr die ›Remedialisierung‹ des Populären inzwischen selbst zu einem legitimen Mittel ›hoher‹ Literatur geworden ist. Die Usurpation des Illegitimen im Medium der Literatur beweist damit nicht die Auflösung der Grenze zwischen hoher 54 | Ebd., S. 129. 55 | Ebd., S. 130 f. 56 | Ebd., S. 132. 57 | Ebd., S. 133. 74
»Eine neue Vorstellung von Kunst«
und niederer Kunst, sondern vielmehr, dass die »Magie des Namens«58 , die geheimnisvolle Transsubstantiation profaner in sakrale Güter, ihre erstaunliche Karriere weiter fortsetzt.
58 | Pierre Bourdieu: Soziologische Fragen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 209. 75
High and Low: Mediale Dominanzbildungen bei Peter Handke Norbert Christian Wolf (Salzburg)
Moderne und ›postmoderne‹ Erzählkunst zeichnen sich unter anderem programmatisch durch heterodoxe intermediale Grenzüberschreitungen zu bis dato ›illegitimen‹ Kunstformen wie Film, Fernsehen, Fotografie oder Popmusik aus. Die literatur- und medienwissenschaftliche Forschung ist sich in diesem Befund relativ einig. Weniger Einigkeit besteht allerdings in der Beantwortung der Frage, ob die häufig mit Nachdruck betriebenen ›Entgrenzungen‹ hin zur Populärkultur oder gar in den Bereich der ›Nicht-Kunst‹ tatsächlich stets als Nivellierung der besagten medialen Grenzen zu verstehen sind oder ob sie im Gegenteil gerade der innovativen Profilierung spezifischer und durchaus ›autonomer‹ ästhetischer Erfahrung dienen können. Der folgende Beitrag nimmt diese Fragestellung hinsichtlich zweier Erzähltexte aus den 70er Jahren auf und folgt dabei der These, dass die in die avancierte Literatur integrierten intermedialen Verweise allererst Distinktionszwecken innerhalb der ›Hochliteratur‹ dienen: Sie reproduzieren nicht bloß die adaptierte ›populäre‹ ästhetische Erfahrung, sondern verändern diese durch ihren Import in einen neuen medialen Kontext und erweitern damit den Raum des künstlerisch Möglichen. Damit setzen sie die im 19. Jahrhundert von Baudelaire und Flaubert begründete avantgardistische Tradition der Anverwandlung des (vordem) künstlerisch ›Illegitimen‹ fort. In seinem Versuch über die Jukebox (1990) berichtet Peter Handke emphatisch von einem frühen Musikerlebnis, das ihm »nicht bloß gefiel«, sondern ihn »auch mit Schaudern der Wonne, Wärme und des Gemeinschaftsgefühls überzog[en]« habe; es handelt sich um eine regelrechte ästhetische Epiphanie: »In dem hallenden Stahlgitarren-Ritt von ›Apache‹ wurde das miefkalte und verrülpste ›Espresso-Stübchen‹ an der Durchfahrtsstraße von der Stadt der ›Volksabstimmung von 1920‹ [d. i. Klagenfurt; N. C. W.] zur ›Stadt der Volkserhebung von 1938‹ [d. i. Graz; N. C. W.] angeschlossen an eine ganz andere Elektrifizierung, mit der man, an der leuchtenden Skala in Hüfthöhe, die Nummern von ›Memphis, Tennessee‹ wählen konnte, in sich selbst den geheimnis-
Norbert Christian Wolf
vollen ›Schönen Fremden Mann‹ heranwachsen spürte und das Rumpeln und Quietschen der Laster draußen auf der Bundesstraße umgewandelt hörte in das gleichmäßig sonore Dahinziehen eines Trecks auf der ›Route Sixty-Six‹, mit dem Gedanken: Gleich wohin einmal – nur Aufbruch!«1
Für den jungen Mann aus der Kärntner Provinz bedeutete die Leidenschaft für die Popmusik der 60er und frühen 70er Jahre2 eine hochwillkommene Möglichkeit, dem tristen, nach wie vor von der autoritären und NS-belasteten Kriegsgeneration geprägten österreichischen Provinzalltag zu entkommen – ein ganz anderer, ein wahrhaft befreiender ›Anschluss‹, vorerst zwar nur für ephemere Momente, doch mit der Verheißung auf mehr. Schon sein erstes Rundfunkfeuilleton für das ORF-Landesstudio Steiermark vom 9. November 1964, mit dem der 21-Jährige eine Reihe von sechzehn »Bücherecke«-Sendungen eröffnete3 und damit sein karges Taschengeld während des Grazer Jura-Studiums aufbesserte,4 trägt dementsprechend den programmatischen Titel Der Rausch durch die Beatles und gerät »zu einer emotional gefärbten Verteidigung«5 der von den damaligen gesellschaftlichen Eliten noch heftig bekämpften, neuartigen populären Jugendkultur: »Partei ergriffen wird für die Beatles, und nicht nur für diese vier Jungen aus Liverpool, welche durch ihre Musik, durch ihr Gehaben, durch ihre Art, zu leben und sich zu geben, die Erde unsicher gemacht haben, sondern auch für die, welche durch die Beatles sich unsicher machen ließen. Denn es gehört Unbeschwertheit dazu, die Fähigkeit, ausgelassen zu sein, Vorurteilslosigkeit, Aufgeschlossenheit; Unbefangenheit, Lebhaftigkeit, Unruhe; andererseits, als Reaktion, Widerwille gegen einen scheinbar unveränderlichen Lebenszustand, Trotz, Ungehorsam und die vielzitierte Langeweile.«6
Noch in einem im Sommer 2009 den Salzburger Nachrichten gegebenen Interview hat der nunmehrige Schriftsteller selber ausdrücklich auf die 1 | Peter Handke: Versuch über die Jukebox. Erzählung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 83 f. 2 | Vgl. Georg Pichler: Die Beschreibung des Glücks. Peter Handke. Eine Biografie, Wien: Ueberreuter 2002, S. 49–53. 3 | Vgl. ebd., S. 191 f. 4 | Vgl. Adolf Haslinger: Peter Handke. Jugend eines Schriftstellers, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 97; Pichler: Die Beschreibung des Glücks, S. 59 f. 5 | Alfred Holzinger: »Peter Handkes literarische Anfänge in Graz«, in: Raimund Fellinger (Hg.): Peter Handke, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, S. 11– 24, hier: S. 17. 6 | Ohne bibliografischen Nachweis zit. ebd. 78
High and Low: Mediale Dominanzbildungen bei Peter Handke
befreiende Wirkung der Popmusik in den 60er Jahren hingewiesen, indem er feststellt: »Es war eine große Zeit, für mich hat es das, diese drei, vier Jahre, danach nimmer gegeben. Ich mach’ da keinen Unterschied zwischen Beatles und Stones, Yardbirds, Small Faces, The Who – ja, sogar die Hollies oder Hermans Hermits! ›No Milk Today‹ war eines der für mich schönsten Lieder. Das waren ein paar Jahre, da stand die Welt offen durch diese Lieder. Und die Welt ist immer noch offen, aber sie wird halt nicht mehr benutzt, diese Offenheit.«7
Der »Jukebox-Klang jener Anfangszeit« habe ihn »sich buchstäblich sammeln« lassen, »weckte, oder oszillierte, in ihm« – so der sich selbst distanziert beobachtende Autor – »einzig seine Möglichkeitsbilder und bestärkte ihn darin«.8 Rückblickend schreibt Handke der frühen Popmusik sogar bewusstseinsbildende und -verändernde Wirkung zu: »Ohne all dem Rhythmus, dem Klang [sic] – wer weiß, was aus mir geworden wäre, ich habe ja alle Singles gekauft damals.«9 Als ein besonderes »Resultat dieser Tage in den 60er-Jahren« nennt er die Überwindung der traditionellen Opposition zwischen ›high‹ und ›low‹: »Endlich war mal dieser Unterschied nicht mehr da. Das ist für immer vorbei. Dieser blöde Ausdruck von E- und U-Musik. Alles, was aus der Tiefe kommt, auch wenn es zugleich wieder oberflächlich wird, wie Pop, hat Schönheit. Das ist alles unsterblich.«10 Handkes retrospektive Aussagen sind typisch für die Programmatik der frühen Popliteratur,11 die sich anschickte, die traditionellen kulturellen Hierarchien sowie die damit einhergehenden etablierten literarischen Formen und Semantiken unter Rekurs auf die Ausdruckswelt der damals von der Elterngeneration noch massiv diskreditierten Popmusik zu erschüttern oder gar endgültig zu zerstören. In den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde diese subversive Spitze gegen die besonders im deutschsprachigen Raum so hartnäckig aufrechterhaltene Unterscheidung zwischen ›hoher‹ und ›niederer‹ Kunst von 7 | Bernhard Flieher: »›Alle Texte sind Ausdruck meines Nicht-Gelingens‹. Interview mit Peter Handke«, in: Salzburger Nachrichten vom 11. August 2009, S. 10 f., hier: S. 10. 8 | Handke: Versuch über die Jukebox, S. 86. 9 | Flieher: »Alle Texte sind Ausdruck meines Nicht-Gelingens«, S. 10. 10 | Ebd. 11 | Vgl. Leslie A. Fiedler: »Überquert die Grenze, schließt den Graben! Über die Postmoderne« [1968], in: Uwe Wittstock (Hg.): Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur, Leipzig: Reclam 1994, S. 14–39, bes. S. 21. Mehr dazu bei Anja Pompe: Peter Handke. Pop als poetisches Prinzip, Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2009, S. 13–72, bes. S. 39–46. 79
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einer jungen Generation popliterarisch inspirierter Autoren wieder aufgegriffen; zumindest stellt sich die Situation so einer Betrachtung dar, die nur auf die Textoberflächen beziehungsweise auf die Ebene isolierter ästhetischer Verfahrensweisen wie die Zitation von Markennamen oder Ähnlichem blickt.12 Nimmt man auch die funktionstheoretische und funktionsgeschichtliche Dimension in den Blick, dann offenbaren sich freilich gewaltige Unterschiede zwischen der avantgardistischen Popliteratur um 1970 und jener neueren,13 die ebenfalls gegen die Differenz zwischen ›high‹ und ›low‹ anschreibt, dabei aber vor allem die historisch etablierte Opposition zwischen eingeschränkter künstlerischer Produktion und marktgängiger Massenproduktion14 subvertiert, der sie selber zumindest partiell sogar angehört.15 Die Formenwelt der Popkunst und Popmusik hat seit den 60er Jahren längst ihr provokatives, heterodoxes Potenzial eingebüßt, zumal die Jugendlichen nun erstmals einer Elterngeneration gegenüberstanden, die selbst schon mit dem Pop aufgewachsen war. Nur vor diesem Hintergrund wird es verständlich, warum Handke sich bei seiner Polemik gegen die – am Beispiel Daniel Kehlmanns festgemachte16 – leicht konsumierbare literarische Kost17 sowie die markt12 | Vgl. Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten, München: Beck 2002, S. 155–183. 13 | Vgl. Pompe: Peter Handke. Pop als poetisches Prinzip, S. 15 ff.; Diedrich Diederichsen: Der lange Weg nach Mitte. Der Sound und die Stadt, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1999, S. 272–286, unterscheidet deshalb einen gesellschaftskritischen, revolutionären »Pop I« der Zeit nach 1968 von einem gesellschaftskonformen, warenförmigen »Pop II« der 90er Jahre. 14 | Die Terminologie folgt dem Modell von Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 344–347. 15 | Vgl. etwa die alle historischen Differenzen nivellierende Begriffsdefinition in Moritz Baßler: »Pop-Literatur«, in: Jan-Dirk Müller u. a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft [. . .], Bd. 3: P–Z, Berlin, New York: de Gruyter 2003, S. 123 f., hier: S. 123: »Postmoderne Textsorte, die medial geprägten Erwartungen der jugendlichen Massenkultur zu entsprechen sucht.« Während das für zahlreiche popliterarische Produkte der 90er Jahre zutreffen mag, zielte Handke im Gegenteil von Beginn an auf eine Subversion bestehender Erwartungshorizonte und steht damit in der Tradition künstlerischer Avantgarde. 16 | Den Anlass dieser Polemik bildet die Rede von Daniel Kehlmann zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 2009, gehalten am 25. Juli 2009 um 11 Uhr in der Salzburger Felsenreitschule; sie trug den Titel »Die Lichtprobe«. 17 | Nicht auf Handke, sondern nur auf die spätere Generation von Popliteraten trifft zu, was Baßler (»Pop-Literatur«, S. 123) generalisierend feststellt: »Im Gegensatz zu einer an erschwerenden Avantgarde-Verfahren orientierten 80
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gängige Öffentlichkeitsarbeit aktueller Literaten ironischerweise gerade auf Vertreter der älteren Popkultur beruft: »Für mich ist die Sprache, der Umgang damit etwas anderes, etwas Gewaltiges, etwas das nicht selbstverständlich ist – wie ein gutes Lied von Van Morrison oder von Dylan, oder ein gutes Stück Prosa, oder zwei, drei Repliken in einem Stück. Da erscheint das Leben. Drei, vier Sätze, und man ist nicht nur getröstet, sondern auch gekräftigt.«18 Nun ist die Kritik publicityträchtiger Selbstvermarktung gerade bei Handke intrikat, hat man ihm doch selbst immer wieder unterstellt, er habe es bei seinen künstlerischen Arbeiten, insbesondere aber bei seinen öffentlichkeitswirksamen Auftritten und Aktionen stets nur auf mediale Breitenwirkung abgesehen.19 Tatsächlich gibt es wenige Autoren der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, die sich auf nationaler und zunehmend auch auf internationaler Ebene so erfolgreich in Szene gesetzt und massenmediale Aufmerksamkeit errungen haben. Andererseits hat Handke aber selbst seine künstlerische Strategie nie mit bloßer Provokation identifiziert, sondern stets ganz andere, genuin ästhetische Qualitäten als eigentliches Ziel seiner literarischen Bemühungen beansprucht, die augenscheinlich in der bis ins späte 18. Jahrhundert zurückreichenden Tradition autonomer Ästhetik beheimatet sind: So nennt er als unabdingbare Voraussetzung der Entstehung ›wahrer‹ Popkunst, die »aus der Tiefe« kommen müsse, »auch wenn es zugleich wieder oberflächlich wird«, mehrere gleichsam epiphanische Qualitäten: zum einen eine außergewöhnliche ›Gewalt‹ der Sprache, die ästhetisch eine Entautomatisierung eingeschliffener Wahrnehmungsweisen bewirkt (»etwas das nicht selbstverständlich ist«), zum anderen eine exzeptionelle ›Lebenshaltigkeit‹, die eine Verwandlung des Zuhörers auslöst, ja ›Tröstung‹ und ›Kräftigung‹ bedeutet.20 Entsprechendes ist auch E-Literatur strebt sie programmatisch einen leicht konsumierbaren, eingängigen ›Sound‹ an (Leitkunst: Popmusik)«. 18 | Flieher: »Alle Texte sind Ausdruck meines Nicht-Gelingens«, S. 11. 19 | Gleichsam als idealtypisch für diese gängige Unterstellung sei der maliziöse ›Geburtstagsartikel‹ von Hubert Spiegel angeführt: »Wenn Wahrnehmung gerecht sein will. Die Lehre der heiligen Beatles: Zum sechzigsten Geburtstag des Schriftstellers Peter Handke«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. Dezember 2002, S. 39. Dazu und zu den Hintergründen Norbert Christian Wolf: »Autonomie und/oder Aufmerksamkeit? Am Beispiel der medialen Erregungen um Peter Handke, mit einem Seitenblick auf Marcel Reich-Ranicki«, in: Markus Joch/York-Gothart Mix/Norbert Christian Wolf gemeinsam mit Nina Birkner (Hg.): Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart, Tübingen: Niemeyer 2009, bes. S. 51 f. u. 57. 20 | Vgl. Flieher: »Alle Texte sind Ausdruck meines Nicht-Gelingens«, 81
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auf diegetischer Ebene bei den in seinen Erzähltexten figurierenden intermedialen Verweisen zu beobachten, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Wohl in keinem Handke-Text erfolgt die Nennung von Popsongs derart gehäuft und prominent wie in der romanhaften Erzählung Der kurze Brief zum langen Abschied aus dem Jahr 1972. So hört dort der quasi autobiografische Ich-Erzähler – in Gérard Genettes narratologischer Terminologie der extradiegetisch-homodiegetische Erzähler21 – in einer Snackbar der Jefferson Street in Providence den Song »Sitting on the Dock of the Bay« von Otis Redding, was bei ihm eine regelrechte Verwandlung auslöst: »An der Wand neben jedem Tisch befand sich ein Kästchen, an dem man die Platten der Musicbox drücken konnte, ohne dafür aufzustehen. Ich warf ein Vierteldollarstück ein und wählte ›Sitting On The Dock Of The Bay‹ von Otis Redding. Dabei dachte ich an den großen Gatsby und wurde selbstsicher wie noch nie: bis ich mich gar nicht mehr spürte. Es würde mir gelingen, vieles anders zu machen. Ich würde nicht wiederzuerkennen sein!«22
Das Hören des Soulsongs hat auf die Erzähler- beziehungsweise Reflektorfigur23 eine stärkende Wirkung. Dies fällt umso stärker ins Gewicht, wenn man berücksichtigt, dass das ›erzählende Ich‹ »wie geboren für Entsetzen und Erschrecken« ist, soweit seine Erinnerung reicht,24 wie es schon zu Beginn des Textes betont und sich im weiteren VerS. 10. Exemplarisch dafür ist die suggestive Darstellung seines ersten Hörerlebnisses der frühen Beatles in einem Jukebox-Café am Rand des Grazer Stadtparks in Handke: Versuch über die Jukebox, S. 87–90, wo es im Sinne einer ›mystikanalogen‹ ästhetischen Epiphanie u. a. heißt: »Auf einmal, nach der Plattenwechselpause, die mitsamt ihren Geräuschen [. . .] gleichsam zum Wesen der Jukebox gehörte, scholl von dort aus der Tiefe eine Musik, bei der er zum ersten Mal im Leben, und später nur noch in den Augenblicken der Liebe, das erfuhr, was in der Fachsprache ›Levitation‹ heißt, und das er selber mehr als ein Vierteljahrhundert später wie nennen sollte: ›Auffahrt‹? ›Entgrenzung‹? ›Weltwerdung‹? Oder so: ›Das – dieses Lied, dieser Klang – bin jetzt ich; mit diesen Stimmen, diesen Harmonien bin ich, wie noch nie im Leben, der geworden, der ich bin; wie dieser Gesang ist, so bin ich, ganz!« (S. 87 f.). 21 | Zur Terminologie vgl. Gérard Genette: Die Erzählung, München: Fink 2 1998, S. 163 f. u. 178. 22 | Peter Handke: Der kurze Brief zum langen Abschied, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972, S. 19 f. 23 | Vgl. Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 7 2001, S. 194 f. 24 | Handke: Der kurze Brief zum langen Abschied, S. 9 f. 82
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lauf der Handlung noch in zahlreichen »Angstträume[n]«25 bestätigen wird. An anderer Stelle wird die Reflektorfigur von der »zarte[n] hohe[n] Stimme« Al Wilsons, des Sängers von Canned Heat, außerordentlich berührt; nach dem Muster der Proust’schen mémoire involontaire erinnert sich das ›erzählende Ich‹ plötzlich und unvorbereitet an Wilsons frühen Tod: »Anders als bei Jimi Hendrix und Janis Joplin, die mir, wie auch sonst die Rockmusik, immer gleichgültiger wurden, verletzte mich sein Tod noch immer, und sein kurzes Leben, das ich dann zu verstehen glaubte, schmerzte mich oft in ruckhaften Halbschlafgedanken.«26 Hier fungiert der intermediale Verweis als Auslöser einer elegischen Erinnerung an die Vergänglichkeit des Daseins – auch der eigenen Jugend beziehungsweise des eigenen Lebens. Einschlägiger noch für eine genauere Bestimmung der ästhetischen Funktion von Handkes intermedialen Verweisen in Der kurze Brief zum langen Abschied ist aber die Passage, in der von »den Freunden« Claires in Rock Hill27 Folgendes berichtet wird: »[D]as Liebespaar spielte sich alte Platten vor. Sie erinnerten einander daran, was sie erlebt hatten, als die Platten gerade herausgekommen waren. ›I Want To Hold Your Hand‹: – ›Damals haben wir aus den eisgekühlten Bierkrügen getrunken, in dem mexikanischen Restaurant bei Los Angeles.‹ – ›Satisfaction‹: – ›Erinnerst du dich, wie damals im Sturm die Luftmatratzen über den Strand geschlittert sind?‹ – ›Summer in The City‹: – ›Damals haben wir von zu Hause das letztemal Geld gekriegt!‹ – ›Wild Thing‹: – ›Wie die Kobolde haben wir damals gelebt!‹ – ›The House Of The Rising Sun‹: . . . Sie wurden immer aufgeregter, und Claire sagte auf einmal: ›Jetzt habt ihr Hymnen für euer ganzes Leben, und nichts mehr braucht euch unangenehm sein. Alles, was ihr noch erleben werdet, wird im nachhinein ein Erlebnis gewesen sein.‹«28
Die einzelnen Popsongs fungieren dem Liebespaar als Erinnerungsmarker an bemerkenswerte ›Erlebnisse‹ der gemeinsamen Vergangenheit und erscheinen somit gleichsam zu ›Hymnen‹ bestimmter Lebensabschnitte kondensiert, wie die Begleiterin des ›erzählenden Ichs‹ treffend bemerkt. Eine geradezu gegenläufige Erinnerungsverarbeitung konstatiert dieses an sich selbst: »›Mein Vater war ein Trinker‹, sagte ich, in einem Ton, als ob ich nur ›My father was a gambling man‹ in ›The House Of The Rising Sun‹ abwandeln wollte: ›Und wenn ich im Bett lag, hörte ich es oft im Nebenzimmer gluckern, sooft er sich etwas ins Glas goß: bei der Erinnerung möchte ich ihm sofort mit einem 25 | Ebd., S. 124. 26 | Ebd., S. 22 f. 27 | Ebd., S. 111. 28 | Ebd., S. 140 f. 83
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Dreschflegel den Kopf abschlagen, damals wünschte ich nur schnell einzuschlafen. Noch nie bin ich von einer Erinnerung im guten Sinn aufgeregt worden; nur wenn ich andere Leute sich erinnern höre, kommt es manchmal vor, daß ich mich von der eigenen Erinnerung befreit fühle und mich nach einer Vergangenheit sehne. [. . .]‹«29
Das ›erzählende Ich‹, das offenbar über keine angenehme Erinnerung an die eigene Familie verfügt, versucht sich eine alternative familiäre »Vergangenheit« zu schaffen, indem es einerseits ›bessere‹ Erinnerungen anderer Menschen anhört und dadurch die ›eigenen Erinnerungen‹ relativiert, andererseits über die eigenen so spricht, als handle es sich um Verse aus Popsongs, und sie somit gewissermaßen fiktionalisiert und in ein Narrativ überführt, das ihre Verarbeitung erleichtert. In all diesen Beispielen, wie immer sie im Einzelnen aussehen, hat der erzählerische Bezug auf bekannte Songs der angloamerikanischen Popmusik eine wahrnehmungsverstärkende, ja oft sogar überhaupt eine wahrnehmungserzeugende Wirkung: Er dient einer Verarbeitung von persönlichen Erlebnissen, die ansonsten wort- beziehungsweise reflexionslos geblieben wären, und ist jeweils innerdiegetisch motiviert sowie selbst wiederum motivierend. Der intermediale Verweis fungiert mithin als integratives Vertextungsprinzip der Erzählung. Doch damit noch nicht genug: Wie Handkes Gesprächspartner Bernhard Flieher im (bereits zitierten) Interview mit den Salzburger Nachrichten hervorhebt, entspricht ein »Grundprinzip der Rockmusik« strukturell dem altehrwürdigen ›Nunc stans‹ der traditionellen Mystik, indem es besagt: »Immer genau hier, immer genau jetzt passiert, was wichtig ist.«30 Der junge Handke hat diese Haltung nicht nur geteilt, sondern selber massiv propagiert. Mittlerweile jedoch – und das ist für die folgenden Überlegungen entscheidend – nimmt er deutlich Abstand davon, wenn er Flieher entgegnet: »Aber bei mir ist das vorbei. Ich kann nicht mehr sagen: Jetzt ist jetzt. Ich spür’ das nicht. Ich krieg sofort eine Wehmut, weil ich weiß, dass es gar nicht wahr ist. Aber ich wünsch’ allen, die jünger sind, dass sie das sagen können, dieses: ›Jetzt ist jetzt‹.«31 Auf die Frage, ob es sich mithin um eine »Altersfrage« handle, antwortet er zustimmend: »Ja, weil man nicht mehr glaubt, das halten zu können. Früher glaubt man; [sic] Jetzt! Und sagt sich: Merk’ dir diesen Moment, diesen Augenblick. / Das war dann aber auch schon vorbei, aber es hat nachgewirkt und Kraft gegeben.«32 29 | Ebd., S. 141. 30 | Flieher: »Alle Texte sind Ausdruck meines Nicht-Gelingens«, S. 11. 31 | Ebd. 32 | Ebd. 84
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Was dauerhaft bleibt, ist nicht der transitorische Effekt des augenblicksverhafteten Musikerlebnisses, sondern allein die sprachbildnerische Kraft, die der Erzähler daraus bezieht und die sich in seiner Erzählung niederschlägt. Der ephemere Eindruck der ›niederen‹ Popmusik wird in die offenbar längerlebige Wirkung der ›hohen‹ Literatur überführt, wodurch diese trotz aller Polemik gegen die kulturelle Hierarchie als das letztendlich dominante Medium erscheint. Die damit angedeutete Funktionsverschiebung der intermedialen Verweise Handkes auf die Popmusik zeichnet sich schon in den 70er Jahren ab. Eine ungleich subtilere poetologische Funktion als vordem hat die Anspielung auf Popmusik nämlich bereits in Handkes Filmerzählung Die linkshändige Frau von 1976. Dort heißt es in einer Passage, wo das erzählte Geschehen schon relativ weit fortgeschritten ist: »In der Nacht saß die Frau allein im Wohnraum und hörte Musik, immer wieder dieselbe Platte: / ›The Lefthanded Woman‹.«33 Im Anschluss an dieser Erwähnung des englischen Songtitels folgt dann sogar der Abdruck eines (vermeintlichen) Songtextes in deutscher Sprache, der sich wie ein in die Erzählung montiertes Readymade ausmacht. Ein solches Verfahren hätte damals die Gemeinde der Handke-Leser und -Leserinnen nicht überrascht, nachdem der Autor bereits in seinem 1969 erschienenen Gedichtband Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt mit gleich mehreren Readymades aus der Alltagskultur das Spektrum avantgardistischer literarischer Formen um Verfahrensweisen bereichert hatte, die ein halbes Jahrhundert früher in der bildenden Kunst erstmals etabliert worden waren – das wohl bekannteste von seinen durch Marcel Duchamps Bicycle Wheel (1913) und Fountain (1917) intermedial inspirierten Gedichten ist »Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27. 1. 1968«.34 Die zitierte Information über »The Left-handed Woman« aus der gleichnamigen, aber deutsch33 | Peter Handke: Die linkshändige Frau, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 100 f. 34 | Vgl. Peter Handke: Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1969, S. 59; vgl. auch ebd., S. 39, 48, 78–80, 98, 106 f. u. 119–121. Die diskurstheoretischen und diskurshistorischen, nicht aber die innerdiegetischen Implikationen literarischer Readymade-Verfahren werden diskutiert in Matias Martinez: »Autorschaft und Intertextualität«, in: Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matias Martinez/Simone Winko (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen: Niemeyer 1999, S. 465– 479; dagegen Norbert Christian Wolf: »Wie viele Leben hat der Autor? Zur Wiederkehr des empirischen Autor- und des Werkbegriffs in der neueren Literaturtheorie«, in: Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart, Weimar: Metzler 2002, S. 390–405, hier: S. 400–404. 85
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sprachigen Erzählung sowie der dort abgedruckte Text, die gemeinsam den einzigen Verweis auf ein konkretes Album oder gar einen konkreten Titel darstellen, werden erzählökonomisch nicht weiter motiviert oder gar funktionalisiert, geschweige denn von der Erzählinstanz erläutert – es handelt sich ja um einen fast durchgehend extern fokalisierten Text, in dem praktisch keine Fokalisierungswechsel oder gar ›authorial intrusions‹ erfolgen.35 Dennoch legt der Buchtitel Die linkshändige Frau, der selbst aus der Übersetzung des englischen Songtitels ins Deutsche besteht, nahe, dass diese Stelle eine wichtige Funktion für die Gesamtheit der Erzählung beansprucht. Was hat es also damit auf sich? Zunächst würde wohl jeder Leser einen Bezug zwischen dem Songtext und der Thematik bzw. Handlung der Erzählung vermuten. Zur Überprüfung bedarf es eines Vergleichs, denn wie Manfred Durzak als erster bemerkt hat,36 wird hier »der Titel eines Blues-Songs« zitiert, »der von einem Mann stammt«,37 nämlich von Jimmy Reed (1925–1976). Der gesamte, von Durzak freilich nicht näher betrachtete Songtext lautet im Original folgendermaßen: »The left-handed Woman I gotta left handed woman makes the best kind of bread. (repeat) I love a right hand woman, man, she got me bread. I know one thing, a right hand woman can cook. (repeat) I aint [sic] worried about the food, I’m worried about the woman I love. Everything alright, man just like I said. (repeat) Left handed woman making really fine corn bread.«38
Eine gewisse Verblüffung stellt sich allerdings ein, wenn man den Text dagegenhält, der in Handkes Erzählung direkt nach dem Hinweis auf »The Left-handed Woman« abgedruckt ist: 35 | Zur narratologischen Terminologie vgl. Genette: Die Erzählung, S. 134– 140. Ausnahmen finden sich in Handkes Erzählung nur an wenigen Stellen; vgl. Handke: Die linkshändige Frau, S. 12, 25 u. evtl. S. 37. 36 | Manfred Durzak: Peter Handke und die deutsche Gegenwartsliteratur. Narziß auf Abwegen, Stuttgart: Kohlhammer 1982, S. 145. 37 | So Thomas Hennig: Intertextualität als ethische Dimension. Peter Handkes Ästhetik »nach Auschwitz«, Würzburg: Königshausen & Neumann 1996, S. 133. 38 | Zitiert nach der Abschrift in Russel E. Brown: »The Left Handed Women of Peter Handke and Jimmy Reed«, in: Modern-Fiction-Studies 36 (1990) 3, S. 395–401, hier: S. 397; irreführend ist dagegen die Information in http:// www.allthelyrics.com/song/572195 vom 21. März 2010, wo ein anderer Songtext wiedergegeben wird. 86
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»Sie kam mit andern aus einem Untergrundschacht Sie aß mit andern in einem Schnellimbiß Sie saß mit andern in einem Waschsalon aber einmal habe ich sie allein vor einem Zeitungsaushang stehen sehen Sie kam mit andern aus einem Büroturm Sie drängte mit andern an einen Marktstand Sie saß mit andern um einen Sandspielplatz aber einmal habe ich sie durch ein Fenster allein schachspielen sehen Sie lag mit andern auf einem Parkrasen Sie lachte mit andern in einem Spiegelkabinett Sie schrie mit andern auf einer Achterbahn Und dann sah ich sie allein nur noch durch meine Wunschträume gehen Aber heute in meinem offenen Haus: der Telefonhörer auf einmal andersherum der Bleistift links neben dem Notizblock daneben die Teetasse mit dem Henkel nach links daneben der andersherum geschälte Apfel (nicht zu Ende geschält) Die Vorhänge von links aufgezogen Und die Hausschlüssel in der linken Jackentasche Du hast dich verraten, Linkshänderin! Oder wolltest du mir ein Zeichen geben? Ich möchte dich in einem fremden Erdteil sehen Denn da werde ich dich unter den andern endlich allein sehen Und du wirst unter tausend andern mich sehen Und wir werden endlich aufeinander zugehen«39
Schon bei flüchtiger Betrachtung wird klar: Der in Handkes Erzählung abgedruckte Liedtext hat abgesehen vom Titel nichts mit dem 1964 von Jimmy Reed veröffentlichten Blues gemein,40 »außer daß in beiden Texten tatsächlich von einer linkshändigen Frau die Rede ist«41. Es handelt sich also keineswegs um eine Übersetzung des amerikanischen Songtextes. Die Handke-Philologie hat deshalb verschiedene Vermutungen zum fraglichen Bezug zwischen dem Song und der gleichnamigen Erzählung angestellt: So arbeitet Russel E. Brown knapp die großen Unterschiede zwischen der Erzählung und dem Song heraus und gelangt zum Ergebnis, 39 | Handke: Die linkshändige Frau, S. 101 f., Kursivierung im Original. 40 | So zuerst Brown: »The Left Handed Women of Peter Handke and Jimmy Reed«, S. 397; vgl. dagegen Rolf Günter Renner: Peter Handke, Stuttgart: Metzler 1985, S. 106; Doris Runzheimer: Peter Handkes Wendung zur Geschichte, Frankfurt am Main: P. Lang 1987, S. 127. 41 | So Hennig: Intertextualität als ethische Dimension, S. 133, Anm. 238. 87
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dass der einzige mögliche Bezugspunkt von Reeds Text in der titelgebenden Thematik der Linkshändigkeit besteht.42 Anschließend analysiert er schlüssig die zwar andersgearteten, aber ebenfalls flagranten Differenzen zwischen dem Reed-Blues und dem bei Handke abgedruckten Liedtext43 und deutet dessen Gehalt schließlich als männliche Projektion, die von der weiblichen Protagonistin gleichsam als zu vermeidendes Negativbild wahrgenommen werde.44 Darauf wird noch zurückzukommen sein. Nicht inhaltlich, sondern mit Blick auf die Entstehungsumstände des Reed-Blues argumentiert Fabjan Hafner, der darauf hinweist, dass der originale Song von Mary Reed und Carvin Carter geschrieben wurde: »Dieses Lied ist das einzige auf dem repräsentativen 2-CD-Sampler ›Boss Man‹, für das eine Frau als Urheberin genannt wird. Vor diesem Hintergrund fügt sich der Ehemann als Interpret der kreativen Leistung seiner Frau auf erhellende Weise in den Gesamtzusammenhang der oft als Emanzipationstext gelesenen Erzählung.«45 Hafners hintergründige Rekonstruktion hat einiges für sich, verlässt in ihrer gleichsam allegorischen Funktionalisierung jedoch die Grenzen der Diegese, die bei Handke stets einem ästhetischen Kalkül folgt. Dieses sei im Folgenden deshalb genauer in den Blick genommen. Zur näheren Bestimmung der zweifelsohne ebenfalls bestehenden narrativen Funktion des intermedialen Verweises bietet sich ein Blick auf Roland Barthes’ kleinen, aber umso bekannteren Essay »Der Wirklichkeitseffekt« (»L’effet de réel«) von 1968 an, der sich anhand zweier Stellen aus Gustave Flauberts Erzählung Un cœur simple (1877) sowie aus Jules Michelets monumentaler Histoire de France (1837–1867) mit der Erwähnung scheinbar ›überflüssiger Details‹ in fiktionalen sowie faktualen Erzählungen beschäftigt beziehungsweise davon seinen argumentativen Ausgang nimmt. Diese »überflüssigen Details«46 hatte Barthes 1966 in seiner Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen noch als »In42 | Brown: »The Left Handed Women of Peter Handke and Jimmy Reed«, S. 398. 43 | Ebd., S. 398 f. 44 | Ebd., S. 399 f. 45 | Fabjan Hafner: »Peters Musiktruhe oder Handkes Jukebox. Wie ein Schriftsteller Musik hört«, in: Fabjan Hafner/Arno Rußegger/Werner Wintersteiner (Hg.): Peter Handke, Innsbruck, Wien, München, Bozen: Studienverlag 2001 (= ide. Informationen zur Deutschdidaktik 25 [2001] 4), S. 62–81, hier: S. 72. 46 | Roland Barthes: »Der Wirklichkeitseffekt« [frz. 1968], in: ders.: Das Rauschen der Sprache (Kritische Essays IV), Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 164–172, hier: S. 164. 88
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dizien«47 bezeichnet, deren indirekter Funktionswert für die narrative Struktur darin bestehe, auf »einen Charakter oder eine Stimmung«48 hinzuweisen. Zwei Jahre später gesteht er jedoch zu, dass in allen Erzählungen auch Details zu finden seien, »die sich durch keine – noch so indirekte – Funktion begründen lassen«; diese »›unnützen Details‹ scheinen unvermeidlich, selbst wenn sie nicht sehr zahlreich sind: Jede Erzählung, zumindest jede abendländische Erzählung gängigen Typs, besitzt einige solche«.49 Wenn in einer Erzählung nun aber doch nicht »alles signifikant« ist, wie Barthes noch 1966 gemeint hatte, dann stellt sich die Frage nach der »Bedeutung dieser Bedeutungslosigkeit«.50 Der Semiologe beantwortet sie mit dem Aufweis eines textexternen Referenzialisierungsanspruchs. So sei etwa der »ästhetische Zweck« der immer wieder minutiös überarbeiteten Beschreibung Rouens in Flauberts Madame Bovary »völlig mit ›realistischen‹ Imperativen durchsetzt, als wäre die Beschreibung oder – im Falle der auf ein Wort reduzierten Beschreibungen – die Denotation einzig und allein durch die Genauigkeit des Referenten bedingt und gerechtfertigt, die über jeder anderen [narrativen; N. C. W.] Funktion stünde oder von ihr unberührt wäre: Die ästhetischen Zwänge verzahnen sich hier – zumindest als Alibi – mit referentiellen Zwängen [. . .].«51
Genauer bedeutet das, dass der textexterne Referenzialisierungsanspruch die literarische Konvention möglichst vollständiger textinterner Funktionalisierung überwiegt, oder anders gesagt: »[A]ufgrund seines erklärten Verzichts auf die Vorschriften des rhetorischen Codes muß der Realismus einen neuen Anlaß für das Beschreiben finden.«52 Dieser ›neue Anlass‹ bestehe eben im Anspruch, die Wirklichkeit selbst zu bezeichnen – in Barthes’ Worten: »Die nicht weiter zerlegbaren Reste der funktionalen Analyse haben eines gemein: sie denotieren, was man gemeinhin als die ›konkrete Wirklichkeit‹ [frz.: le ›réel concret‹] bezeichnet (kleine Gesten, flüchtige Haltungen, unbedeutende Gegenstände, redundante Worte). Die bloße ›Darstellung‹ des ›Wirklichen‹ [la ›représentation‹ pure et simple du ›réel‹], die nackte Schilderung des ›Seienden‹ (oder 47 | Roland Barthes: »Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen« [frz. 1966], in: ders.: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 102–143, hier: S. 114. 48 | Barthes: »Der Wirklichkeitseffekt«, S. 164. 49 | Ebd., S. 164 f. 50 | Ebd., S. 166. 51 | Ebd., S. 168. 52 | Ebd., S. 169. 89
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Gewesenen) erscheint somit als ein Widerstand gegen den Sinn; dieser Widerstand bestätigt den großen mythischen Gegensatz zwischen dem Erlebten (dem Lebenden) und dem Erkennbaren [de l’intelligible] [. . .].«53
Der ›Wirklichkeitseffekt‹ realistischer Erzähltexte lebt also von der Spannung zwischen dem innerdiegetisch erzeugten »Sinn« und der extraoder ›paradiegetischen‹ Referenz auf ein außertextuelles ›Sein‹, auf eine unabhängig von der literarischen Darstellung bestehende Realität. In fiktionalen Texten entfaltet sich diese Spannung – anders als in faktualen – allerdings innerhalb relativ eng umrissener Grenzen: »Der Widerstand des Wirklichen [La résistance du ›réel‹] (in seiner geschriebenen Form [. . .]) gegen die Struktur ist in der fiktiven [sic – gemeint ist wohl: fiktionalen; N. C. W.] Erzählung sehr begrenzt, die definitionsgemäß nach einem Modell konstruiert wird, das in seinen großen Zügen nur die Zwänge des Intelligiblen kennt; zum wesentlichen Bezug wird eben dieses Wirkliche jedoch in der historischen Erzählung, die berichten soll, ›was wirklich geschehen ist‹: auf die Funktionslosigkeit eines Details kommt es also nicht an, Hauptsache, es denotiert, ›was stattgefunden hat‹; das ›konkrete Wirkliche‹ wird zur hinreichenden Begründung des Sprechens.«54
Die Unterscheidung zwischen fiktionalen und faktualen Genres kann freilich nicht aufgrund solcher innertextueller Merkmale allein vorgenommen werden; sie ist vielmehr auf die umsichtige Einbeziehung des pragmatischen beziehungsweise kommunikativen Kontextes angewiesen. Im gegenwärtigen Zusammenhang interessiert jedoch weniger die Differenz in der Motivierung scheinbar funktionsloser Details zwischen unterschiedlichen Textsorten, sondern zuvorderst der Umstand, dass in allen von ihnen überhaupt solche Verweise auf die ›konkrete Wirklichkeit‹ figurieren. Genau diese die Grenzen der Diegese scheinbar transzendierende Funktion erfüllt in Handkes Erzählung der Verweis auf die gehörte Musik, auf die Platte »The Left-handed Woman«, der offenbar weder einen Charakter noch eine Stimmung bezeichnet – zumindest ist davon nicht nur keine Rede, es existieren auch keine anderen Anhaltspunkte. Stattdessen wird hier suggeriert, »daß das ›Wirkliche‹ angeblich sich selbst genügt, daß es stark genug ist, jede Vorstellung einer ›Funktion‹ Lügen zu strafen, daß die Äußerung des Wirklichen keineswegs in eine Struktur integriert zu werden braucht und das Dagewesensein der Dinge ein aus53 | Ebd.; französische Originalzitate nach Roland Barthes: »L’effet de réel«, in: ders.: Le bruissement de la langue. Essays critiques IV, Paris: Seuil 1984, S. 179–187, hier: S. 184. 54 | Barthes: »Der Wirklichkeitseffekt«, S. 169 f.; ders.: »L’effet de réel«, S. 184 f. 90
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reichendes Prinzip für das Sprechen ist.«55 Mit anderen Worten, die den »Wirklichkeitseffekt« zeichentheoretisch umschreiben und die von ihm ausgelöste Wirkung auf die Rezipienten folgendermaßen zeichnen: »Semiotisch besteht das ›konkrete Detail‹ aus dem direkten Zusammentreffen zwischen einem Referenten und einem Signifikanten; das Signifikat wird aus dem Zeichen vertrieben, und mit ihm natürlich die Möglichkeit, eine Form des Signifikats zu entwickeln, das heißt im Grunde die narrative Struktur als solche [. . .]. Dies ließe sich als referentielle Illusion bezeichnen. Die Wahrheit dieser Illusion lautet: das als Signifikat der Denotation aus der realistischen Äußerung vertriebene ›Wirkliche‹ hält als Signifikat der Konnotation wieder in ihr Einzug; denn in dem Augenblick, in dem diese Details angeblich direkt das Wirkliche denotieren, tun sie stillschweigend nichts anderes, als dieses Wirkliche zu bedeuten [. . .].«56
Berichtete Einzelheiten wie Flauberts erzählökonomisch vorderhand funktionsloses Barometer57 oder Handkes narrativ vollkommen unvermittelter Verweis auf die gehörte Musik »sagen letztlich nichts anderes als: wir sind das Wirkliche; bedeutet wird dann die Kategorie des ›Wirklichen‹ (und nicht ihre kontingenten Inhalte); anders ausgedrückt, wird das Fehlen des Signifikats zugunsten des Referenten zum Signifikat des Realismus: Es kommt zu einem Wirklichkeitseffekt, zur Grundlegung dieses uneingestandenen Wahrscheinlichen, das die Ästhetik aller gängigen Werke der Moderne bildet.«58
Im Unterschied zu Flaubert wird bei Handke allerdings die Verweisungsfunktion selbst thematisiert, indem der Kontrast zwischen Ursprungsund Zielmedium (Popmusik/Literatur) sowie zwischen englischer und deutscher Sprache einen darstellerischen ›Verfremdungseffekt‹ (in Sinne der russischen Formalisten) erzeugt. Was bedeutet das konkret? Das Verfahren der ästhetischen ›Verfremdung‹ (ostranenie) hat Viktor Šklovskij in seinem berühmten und wirkungsmächtigen Aufsatz »Die Kunst als Verfahren« (1916) folgendermaßen bestimmt: »Dinge, die man mehrere Male wahrnimmt, beginnt man durch Wiedererkennen wahrzunehmen; der Gegenstand befindet sich vor uns, wir wissen davon, aber wir sehen ihn nicht. Deshalb können wir nichts über ihn sagen. – In der Kunst kann der Gegenstand durch verschiedene Mittel aus dem Automa55 | Barthes: »Der Wirklichkeitseffekt«, S. 170. 56 | Ebd., S. 171. 57 | Vgl. ebd., S. 164 f. 58 | Ebd., S. 171. 91
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tismus der Wahrnehmung herausgelöst werden«.59 Šklovskij exemplifiziert seine Theorie der ästhetischen Entautomatisierung am Beispiel der scheinbar detailgetreuen realistischen Erzählweise Lev Tolstois: »Das Verfahren bei L. Tolstoi besteht darin, daß er einen Gegenstand nicht mit seinem Namen nennt, sondern ihn so beschreibt, als werde er zum ersten Mal gesehen, und einen Vorfall, als ob er sich zum ersten mal ereigne, wobei er in der Beschreibung des Gegenstandes nicht die gebräuchlichen Bezeichnungen für seine Teile verwendet, sondern sie so benennt, wie die entsprechenden Teile bei anderen Dingen.«60
Insgesamt handle es sich dabei um eine »Art, Dinge aus ihrem Kontext herausgelöst zu betrachten«61 . Dieses Verfahren, künstlich eine ›Erstlingshaltung‹ gegenüber den Gegenständen der Beschreibung oder Darstellung einzunehmen, ist bei Handke rekurrent zu beobachten – bis zu seinen umstrittenen Serbien-Texten62 – und hat etwa Elfriede Jelineks entschiedene Kritik ausgelöst: »Diese Illusion kann ich mir eigentlich nicht mehr erlauben, in einer Erstlingshaltung, in einer Naivität, als ob das nicht schon tausendmal im Fernsehen gezeigt worden wäre, zu beschreiben, wie irgendwo Schneeglöckchen zwischen dem Schutt herauswachsen.«63 Genau das ist aber ein zentrales Element von Handkes poetischem Verfahren, ja seiner ganzen literarischen Ästhetik. Nach Šklovskij kann das Verfahren der ›Erstlingshaltung‹ nun innerhalb und außerhalb einer diegetischen Motivierung angewendet werden und hat folgende ästhetische Funktion: »[D]as Bild ist kein konstantes Subjekt bei variablen Prädikaten. Ziel des Bildes ist nicht die Annäherung seiner Bedeutung an unser Verständnis, sondern die Herstellung einer besonderen Wahrnehmung des Gegenstandes, so daß er ›gesehen‹ wird, und nicht ›wiedererkannt‹.«64 Dies sei für die künstlerische Dar59 | Viktor Šklovskij: »Die Kunst als Verfahren« [russ. 1916], in: Jurij Striedter (Hg.): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, München: Fink 5 1994, S. 3–35, hier: S. 15. 60 | Ebd., S. 17. 61 | Ebd., S. 23. 62 | Vgl. dazu kritisch Baßler: Der deutsche Pop-Roman, S. 170, mit Verweis auf Peter Handke: Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 56 u. bes. S. 71. 63 | Gunna Wendt: »›Es geht immer alles prekär aus – wie in der Wirklichkeit‹. Ein Gespräch mit der Schriftstellerin Elfriede Jelinek über die Unmündigkeit der Gesellschaft und den Autismus des Schreibens«, in: Frankfurter Rundschau vom 14. März 1992, Zeit und Bild, S. 3. 64 | Šklovskij: »Die Kunst als Verfahren«, S. 23 f. 92
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stellung entscheidend, denn: »Zweck [. . .] der Bildlichkeit [. . .] ist die Übertragung eines Gegenstandes aus seiner normalen Wahrnehmung in die Sphäre einer neuen Wahrnehmung, d. h. eine eigenartige semantische Veränderung.«65 Šklovskij zufolge besteht das »Merkmal des Künstlerischen« eben darin, »daß es absichtlich für eine vom Automatismus befreite Wahrnehmung geschaffen ist und daß das Ziel des Schöpfers das Sehen dieses Künstlerischen ist, und es ›künstlich‹ so gemacht ist, daß die Wahrnehmung bei ihm aufgehalten wird und ihre höchstmögliche Kraft und Dauer erreicht, wobei die Sache nicht in ihrer Dimension wahrgenommen wird, sondern gewissermaßen in ihrer Kontinuität. Diesen Bedingungen nun entspricht die ›dichterische Sprache‹.«66
Just auf diese Theorie und ihre konzeptionelle Historisierung durch Jurij Tynjanov67 bezieht sich Handke in seinem Essay »Marcel Reich-Ranicki und die Natürlichkeit« (1968), wenn er kritisiert, dass die »Dramaturgie der realistischen Literatur, die nicht durch Bilder, sondern durch Sätze die Wirklichkeit vortäuscht, in ihrem Automatismus und in ihrer angewöhnten Natürlichkeit bis jetzt erst wenigen bewußt geworden« sei.68 Gerade die »automatisierte Dramaturgie«69 jedoch gelte es durch die künstlerische Gestaltung zu überwinden – ein Projekt, dem er durch die unterschiedlichsten Werkphasen hindurch mit wechselnden ästhetischen Mitteln treu zu bleiben versuchte, selbst dort, wo es geradezu den gegenteiligen Anschein hat. Dies soll im Folgenden am Beispiel der Linkshändigen Frau demonstriert werden. Am Ende seines Essays über den »Wirklichkeitseffekt« stellt Barthes die auf dem Anschein einer unmittelbaren Bezeichnung des ›Realen‹ neu begründete, gleichwohl überkommene Kategorie des ›Wahrscheinlichen‹ in ein historisches Abgrenzungsverhältnis: »Dieses neue Wahrscheinliche unterscheidet sich stark vom alten, da es doch weder die ›Gesetze der Gattung‹ einhält noch verschleiert, sondern der Absicht entspringt, die dreiteilige Natur des Zeichens zu untergraben, um aus der Eintragung die bloße Begegnung zwischen einem Gegenstand und seinem 65 | Ebd., S. 31. 66 | Ebd. 67 | Vgl. Jurij Tynjanov: »Das literarische Faktum [1924]« und ders.: »Über die literarische Evolution [1927]«, in: Striedter (Hg.): Russischer Formalismus, S. 393–431 u. 433–461. 68 | Peter Handke: »Marcel Reich-Ranicki und die Natürlichkeit [1968]«, in: ders.: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972, S. 203–207, hier: S. 205. 69 | Ebd. 93
Norbert Christian Wolf
Ausdruck zu machen. Der Zerfall des Zeichens – der durchaus die große Angelegenheit der Moderne zu sein scheint – ist im realistischen Unterfangen zwar anwesend, aber auf gewissermaßen regressive Weise, da er im Namen einer referentiellen Fülle geschieht, wo es sich doch heute, im Gegenteil, darum handelt, das Zeichen zu leeren und seinen Gegenstand endlos weiter zurückzuversetzen, bis die jahrhundertealte Ästhetik der ›Repräsentation‹ radikal in Frage gestellt wird.«70
Tatsächlich scheint es auch bei Handke vorderhand so, als wolle er das sprachliche Zeichen auf »regressive Weise« und »im Namen einer referentiellen Fülle« zum Sprechen bringen – und das seit den 80er Jahren sogar noch in weitaus größerem Ausmaß als 1976. Eine solche Deutung ist allerdings zumindest hinsichtlich der Linkshändigen Frau problematisch: Zunächst ist in diesem Zusammenhang auf den erwähnten ›Verfremdungseffekt‹ hinzuweisen, der durch die vom distanziert beobachtenden Erzähler eingenommene ästhetische ›Erstlingshaltung‹ eine unvermittelte Vorstellung »referentielle[r] Fülle« sichtlich konterkariert. Sodann erweist sich der von Handke abgedruckte Song, der bei flüchtigem Blick wie ein in den literarischen Text montiertes Readymade aus der Alltagsästhetik anmutet, das auf die ›reale‹ Welt und damit auf ein Jenseits der Erzählung verweist, bei genauerer Betrachtung überdies – wie ebenfalls bereits erwähnt wurde – gar nicht als bloß ins Deutsche übersetzter Liedtext, sondern als vollkommen anderer Text, der mit den lyrics des Jimmy-Reed-Blues wenig bis gar nichts zu tun hat. Schließlich wurde noch nicht berücksichtigt, dass fast 30 Seiten nach der zitierten Passage über den Jimmy-Reed-Song, gegen Ende der Erzählung, eine Reminiszenz an die vorletzte Strophe des ›scheinbaren‹ Songtextes erfolgt, indem über die Protagonistin folgende Worte fallen: »Sie stand vor dem Spiegel und sagte: ›Du hast dich nicht verraten. Und niemand wird dich mehr demütigen!‹«71 Im vermeintlichen Songtext hatte es indes geheißen: »Du hast dich verraten, Linkshänderin! / Oder wolltest du mir ein Zeichen geben?«72 Wenn die sich im Spiegel betrachtende Protagonistin nun auf den zuvor in die Erzählung montierten Liedtext repliziert, ja diesem entschieden widerspricht, wie schon Russel E. Brown nahegelegt hat,73 dann findet offenbar doch eine innerdiegetische Motivierung der fraglichen Passage statt, weil der diegetisch scheinbar vollkommen funktionslose Songtext 70 | Barthes: »Der Wirklichkeitseffekt«, S. 172. 71 | Handke: Die linkshändige Frau, S. 130. 72 | Ebd., S. 102. 73 | Vgl. Brown: »The Left Handed Women of Peter Handke and Jimmy Reed«, S. 400. 94
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nachträglich eine narrative Funktionalisierung erhält. Folgt man dieser sicherlich etwas spekulativen Argumentation, dann lässt sich eine weitere Entsprechung zwischen diegetischer und extradiegetischer Ebene der Erzählung konstatieren: Die ›linkshändige Frau‹ hat sich demnach als Figur ebenso wenig ›verraten‹ wie der nur scheinbar realistische gleichnamige Erzähltext, der tatsächlich keiner ›einfachen‹ Repräsentationsästhetik entspricht – weshalb er wohl auch von Reich-Ranicki so stark attackiert worden ist, der gerade an der Künstlichkeit der Erzählkonstruktion Anstoß nahm.74 Im Licht dieser Deutung lässt sich in der Erzählung Die linkshändige Frau eine subtile Unterminierung oder gar Subversion des Barthes’schen »Wirklichkeitseffekts« diagnostizieren. Dass Handke bei der Niederschrift der Linkshändigen Frau den kleinen Aufsatz des Pariser Semiologen gekannt hat, erscheint zwar vorderhand nicht unbedingt wahrscheinlich, da er 1976 noch nicht ins Deutsche übersetzt worden war. Allerdings hatte Handke seine zunächst eher bescheidenen Französischkenntnisse ab 1969 kontinuierlich verbessert und sich schon seit den 60er Jahren nachweislich intensiv mit den semiologischliteraturkritischen Arbeiten von Barthes auseinandergesetzt, soweit sie in Übersetzung vorlagen. So beruft er sich in seinem eigenen Essay »Marcel Reich-Ranicki und die Natürlichkeit« just im Kontext seiner argumentativen Auseinandersetzung »mit der sogenannten natürlichen, realistischen Literatur, von der Reich-Ranicki meint, daß sie, gleichsam durch die Sätze hindurch, eine Wirklichkeit ›sieht und sichtbar macht‹«, ausdrücklich auf Roland Barthes.75 In diesem Zusammenhang polemisiert er auch gegen eine »Literatur, die die Schwierigkeiten beim Bezeichnen der Wirklichkeit mit keinem Wort überprüft«76 . Als Indiz für Handkes Kenntnis von Barthes’ Deutung der Flaubert-Stelle zumindest um 1976/77 kann überdies ein bezeichnendes Zitat gelten, das er in seiner Verfilmung der Links74 | Vgl. Marcel Reich-Ranicki: »Wer ist hier infantil?«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. Oktober 1976, wieder abgedruckt in ders.: Entgegnung. Zur deutschen Literatur der siebziger Jahre. Erweiterte Neuausgabe, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1981, S. 396–403; dazu Wolf: Autonomie und/oder Aufmerksamkeit, S. 54 f. 75 | Genauer: auf Barthes’ Mythen des Alltags (Handke: »Marcel Reich-Ranicki und die Natürlichkeit«, S. 205). Bereits in seinen oben erwähnten Grazer Rundfunkfeuilletons hat Handke sich damit sowie mit Šklovskijs Zoo oder Briefe nicht über die Liebe und Boris Ejchenbaums ebenfalls einschlägigen Aufsätzen zur Theorie und Geschichte der Literatur auseinandergesetzt; vgl. Pichler: Die Beschreibung des Glücks, S. 192. 76 | Handke: »Marcel Reich-Ranicki und die Natürlichkeit«, S. 205. 95
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händigen Frau versteckt hat; Hans Höller weist darauf in freilich anderem Zusammenhang hin: »Für den Film, den Handke im Frühjahr 1977 in Paris gedreht hat [. . .], hat er eine Stelle aus Gustave Flauberts ›Un cœur simple‹ übersetzt, die im Film vorgelesen wird und damit den Beginn seiner literarischen Übersetzungen bildet.«77 Es handelt sich dabei insbesondere um Passagen aus dem ersten Kapitel, in dem auch die erwähnte Stelle mit dem Barometer zu finden ist. Indem hier im Medium des Films auszugsweise ein kanonischer literarischer Text verlesen und zudem aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt wird, indem sich darüber hinaus in der dem Film zugrunde liegenden Erzählung der vermeintliche Songtext einerseits als genuin literarisches Artefakt erweist, andererseits die dadurch suggerierte scheinbar unmittelbare Außenreferenz als wohlkalkulierte literarische Täuschung, zeugt Die linkshändige Frau sowohl als Erzählung wie auch als Film von einer hochreflektierten (inter)medialen Dominanzbildung der Literatur, die sich hier gegen die konkurrierenden Medien Popmusik sowie nun auch Kino als (angeblich) leistungsfähigeres Leitmedium in Szene setzt. Während also intermediale Verweise der ›hohen‹ Literatur auf die ›niedere‹ Popmusik in den frühen 70er Jahren häufig noch ›schockartig‹ – gleichsam als ästhetische Epiphanie – eine verdeckte ›eigentliche‹, jenseits der tristen sozialen Realität liegende ›andere Wirklichkeit‹ zum Vorschein bringen sollten (so in Der kurze Brief zum langen Abschied), erbrachten sie wenig später im Gegenteil gerade den Nachweis, dass eine solche ›eigentliche Wirklichkeit‹ der (textuell oder bildlich verfahrenden) künstlerischen Gestaltung prinzipiell nicht zugänglich ist (so in Die linkshändige Frau), sondern stets nur als Gegenstand elegischer Reflexion beziehungsweise in Form subjektiven Erinnerns und Eingedenkens evoziert werden kann – eine Tendenz, die dann um 2000 in der avancierten Medienreflexion der Erzähltexte W. G. Sebalds ihren konsequenten Abschluss findet und dabei auf die Medientheorie nicht allein Barthes’, sondern auch Walter Benjamins und Siegfried Kracauers rekurriert.78 Diese Funktionsverschiebung von der Aufgabe ästhetischer Beglaubigung zum gegenläufigen Pensum einer Irritation jeglicher Form von künstlerischer Evidenzerzeugung ändert aber nichts an dem in beiden gegenläufigen Poetiken Handkes gleichermaßen erhobenen medialen Dominanzanspruch der Literatur. Ob und inwiefern dieser Anspruch von den tatsächlich re77 | Hans Höller: Peter Handke, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2007, S. 74 f. 78 | Vgl. etwa W. G. Sebald: Austerlitz, München, Wien: Hanser 2001. 96
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konstruierbaren Machtverhältnissen in den künstlerischen Feldern als ›legitim‹ sanktioniert und damit bestätigt wurde – diese Frage, die im gegenwärtigen Rahmen nicht beantwortet werden kann, verdient sicherlich eine eigene ausführliche Erörterung. Unbestreitbar ist jedoch bereits heute, dass es Handke mit seinen damals noch heterodoxen erzählerischen Grenzüberschreitungen von der anspruchsvollen Literatur zur Popmusik gelang, innovative Schreibverfahren zu etablieren, die auf lange Sicht dazu beitrugen, dass er seinen Status als einer der maßgeblichen deutschsprachigen Autoren der Gegenwart festigen konnte – und mithin Epoche machen.
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Schall-dichte Echoräume Die Transformation der Massenmedien im Gedicht Jan Röhnert (Weimar/Sofia)
»Ut pictura poesis« lautet die berühmte, von Horaz entlehnte Maxime des Sprachbildes, und nicht erst seit der Moderne haben Lyriker in diesem Sinne ihre Verskunst metapoetisch als ein eigentliches Bildererzeugen oder besser: Bildersuggerieren verstanden, haben die Affinität ihrer Wortkunst zur Bildkunst der Maler betont – egal ob es sich um die lyrische Auseinandersetzung mit Vorbildern aus der Kunstgeschichte oder um die autonome Hervorbringung von ›Bildern‹ mit den der Sprache zur Verfügung stehenden Mitteln bildhafter Vergegenwärtigung handelt: Vergleich, Analogie, Allegorie, Symbol, Metapher, Synekdoche, Metonymie.1 Bei den im Barock aufgekommenen und wieder in Strömungen der Moderne wie etwa der Konkreten Poesie akut gewordenen ›Bildgedichten‹ kommen außerdem typografische Möglichkeiten der Verbildlichung des lyrischen Inhalts hinzu – in Guillaume Apollinaires kubistischem Gedicht Arbre wird beispielsweise auf der Buchseite eine abstrakte Baumform aus Worten und Versfragmenten modelliert, auch wenn das Gedicht überhaupt nicht um Bäume kreist, sondern zufällige Gesprächsfetzen eines großstädtischen Geräuschuniversums wie einen Blätterwirbel wiedergibt.2 Auch die Beigabe von Illustrationen oder Fotos zu Gedichten beziehungsweise die Ersetzung des zu erwartenden Gedichttextes durch sprach-lose Fotografien inmitten eines als Gedichtband deklarierten Buchs sind zumal in der Postmoderne nicht selten anzutreffen, wo dies auch ein poetologisches Bekenntnis zur Fotografie mit einschließt – man denke an die deutschen Nachkriegslyriker Jürgen Becker und Rolf Dieter Brinkmann.3 Dennoch bleiben auch solche intermedialen Grenzfälle 1 | Vgl. Raoul Schrott: Fragmente einer Sprache der Dichtung, Graz: Droschl 1997. 2 | Guillaume Apollinaire: Œuvres poétiques, hg. v. Marcel Adéma und Michael Décaudin, Paris: Gallimard 1965, S. 178 f. (= Bibliothèque de la Pléiade). – Das Gedicht erschien zuerst 1916 in dem Gedichtband Calligrammes. 3 | Vgl. Jürgen Becker: Eine Zeit ohne Wörter, Frankfurt am Main: Suhr-
Jan Röhnert
aufgrund ihres Kontexts letztlich im lyrischen Genre angesiedelt, wären also weiterhin primär mit literarästhetischen Maßstäben anstatt auf Basis foto-, typo- oder phonografischer Kriterien zu deuten. Gedichte sind und bleiben Gedichte, selbst wenn sie von Bildern handeln oder sich grafisch als Bilder ausgeben. Ihr Bezugssystem ist die Sprache, was bedeutet, dass das, was die Bildmedien direkt zeigen, vom Gedicht im Wesentlichen nur verbal suggeriert werden kann – das heißt die Umwandlung der sprachlichen Zeichen in Bilder kann erst über die Aktivität der Vorstellungskraft im menschlichen Bewusstsein erfolgen. Sprache kann daher gegenüber den primären Bildmedien höchstens als sekundäres, indirekt Abbildungen erzeugendes Bildmedium begriffen werden, ihr optisches Illusionsvermögen bleibt im Vergleich mit dem direkten (Ab-)Bild durchaus defizitär und auf die Mitarbeit der menschlichen Imaginationskraft angewiesen. Sie liefert keine unmittelbaren images, sie stimuliert jedoch – zumindest ist das ihre Absicht im Gedicht – die Imagination. Etwas allerdings kommt in der Sprache zusätzlich zum Tragen, was für das Gedicht ebenso den Inhalt determiniert wie die verbale Bildsuggestion – die Musikalität des verbalen Klangkörpers: Elemente der lautlichen Realisation von Gedichten wie Reim, Rhythmus, Intonation bestimmen gleichbedeutend neben der Verwendung bildlicher Redefiguren Erscheinung und Wirkungsweise des Gedichts. Gerade weil es auch eine allgemeine Tendenz der Forschung darstellt, sich analog zur Bevorzugung des Sehsinns gegenüber dem Gehörsinn in unserem westlichen Kulturraum am häufigsten der Intermedialität von Text und Bild zu widmen, sollte man die für das Gedicht ebenso konstitutive Intermedialität von Text und Ton/Klang/Musik nicht einfach aus der Wahrnehmung löschen. Das mit jedem Gedicht mehr oder weniger changierende Zusammenspiel all dieser rhythmisierenden und verbildlichenden Mittel könnte man auch als die immanente Poetik eines Gedichts bezeichnen. Solange die Machart eines Gedichts als logisch nachvollziehbar, normgeleitet und kamp 1971; Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1 & 2, erweiterte Neuausgabe, Reinbek: Rowohlt 2005. – Zur Diskussion dieser medialen Grenzüberschreitungen vgl. Moritz Gause: »Das Gemeinte im Unähnlichen. Eine Überlegung zu Jürgen Beckers ›Was kaufen wir: ein Boot, ein Zelt?‹ in Bild und Wort«, in: Jan Röhnert (Hg.): Poesie und Praxis. Sechs Dichter im Jahr der Wissenschaft, Jena: iks-garamond 2009, S. 125–133; Jan Röhnert: »Springende Gedanken und flackernde Bilder«. Lyrik im Zeitalter der Kinematographie. Cendrars Ashbery Brinkmann, Göttingen: Wallstein 2007, S. 366–369. 100
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erlernbar galt, konnte man von einer deduktiven (Regel-)Poetik sprechen – sie spielt bekanntlich im Barock, aber auch etwa noch für Edgar Allen Poes Philosophy of Composition eine Rolle –; sobald sich jedoch der Gedanke durchzusetzen begann, dass jedes Gedicht sich individuell (induktiv) aus seinem Gegenstand, und das heißt für die Moderne aus sich selbst heraus entwickelt, wird auch seine Poetik autonom: Sie verbirgt sich individuell in jedem Gedicht; Hervorbringung, Poetik und lesender Nachvollzug fallen in eins. Nach diesem modernen Verständnis ist das Gedicht ein autonomer Sprachkörper, der zum ästhetischen Erlebnis hinführt. Um die Richtung meiner Argumentation vorwegzunehmen: Wird das als autonom intendierte Gedicht mit anderen Medien, insbesondere der technischen Sprach- und Bildreproduktion konfrontiert – wie es in einer zugleich von multimedialer Vielfalt und massenmedialer Dominanz markierten literarischen Welt unausweichlich der Fall ist –, so muss es zu Interferenzen kommen, die seine ästhetische Eigenständigkeit auf die Probe stellen. Nachdem es Lessing in seinem epochemachenden Laokoon-Essay mit der berühmten Bestimmung von Malerei als Raum- und Poesie als Zeitkunst zunächst gelungen war, Ausdrucksvermögen und Geltungsbereich der Künste aufgrund ihrer verschiedenen Materialität voneinander abzugrenzen,4 kam es seit dem 19. Jahrhundert immer wieder zu Konfrontationen der Literatur (und ebenso der Malerei, auf die hier nicht eingegangen wird), speziell aber der versgebundenen lyrischen Gattung mit neuen technisch-medialen Repräsentationsformen beziehungsweise Wahrnehmungsweisen von Wirklichkeit. In Goethes spätem Diktum »Mikroscope und Fernröhre verwirren eigentlich den reinen Menschensinn«5 wird dies diagnostiziert, und es ist nicht verwunderlich, dass die beiden international folgenreichsten Lyriker des 19. Jahrhunderts, Heine und Baudelaire, mit ihren jeweiligen Reaktionen auf die Entmachtung des Künstleringeniums durch Fotoreproduktion beziehungsweise Infragestellung der klassischen Formensprache durch das in der Bewegungsrevolution entriegelte Raum- und Zeitgefühl zwei miteinander konkurrierende sowie sich zugleich ergänzende Bewältigungskonzepte heraufbeschwören, 4 | Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen von Malerei und Poesie, hg. u. m. e. Nachw. v. Kurt Wölfel, Frankfurt am Main: Insel 1988, Kap. XI, S. 104–112. 5 | Johann Wolfgang Goethe: Maximen und Reflexionen, in: Sämtliche Werke, Bd. 17, hg. v. Gonthier-Louis Fink u. a., München: Hanser 1991, S. 812. 101
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die bis heute in der Reaktion von Lyrikern auf neue Medien anzutreffen sind. Sie erschöpfen sich nicht in der Antithetik von künstlerischer Abdichtung und Hermetisierung der Form einerseits – dies ist die Konsequenz aus Baudelaires Abneigung gegen die Fotografie als einem seelenlosen, nicht mit der Anschauung des Künstlers begabten Instrument – und andererseits der affirmativen Öffnung gegenüber den medialen Tatsachen der modernen Lebenswelt, wie sie aus Heines poetologischer Anlehnung an die Daguerreotypie und der emphatischen Erwähnung der Eisenbahnen in seiner Lutetia-Prosa spricht. Sowohl Heine als auch Baudelaire besitzen ein hoch sensibilisiertes Bewusstsein für die medialisierte neue Lebenswelt; die Schlüsse, welche beide daraus für ihre Ästhetik beziehungsweise für die Ästhetik der Zukunft ziehen, sind jedoch verschieden. Dominiert bei Baudelaire die Abgrenzung von der als geistlos und roh empfundenen medialen Massenkultur, der er sich als ruheloser Parisdurchquerer und modeneugieriger Augenmensch gleichwohl nicht verschloss, sofern nur das lyrische Kunstwerk in sich abgeschlossen und dicht blieb, so scheint sich in den aufgelockerten lyrischen Strukturen Heines, die in seinen späten Gedichten in die Nähe eines versifizierten Parlando rücken, eine Annäherung an die ›prosaischeren‹ Wahrnehmungsgewohnheiten seiner Zeitgenossen auszudrücken. Eine Opposition wird aus diesen Tendenzen jedoch erst um die Jahrhundertwende etwa mit dem von Stéphane Mallarmé inspirierten, in der Form extrem ästhetisierten Symbolismus Stefan Georges auf der einen und den langen, lyrisch entgrenzten Phantasus-Gebilden des Naturalisten Arno Holz auf deren anderen Seite. Eine dritte Möglichkeit, mit der medialen Herausforderung lyrisch umzuspringen, zeichnet sich im Avantgardismus von Arthur Rimbauds Prosagedichten Illuminations ab. Sie verknüpfen die vom späten Baudelaire vorgeprägte ungebundene Form des »poème en prose« mit der hermetisch kühnen Metaphorik von dessen spätem Fleurs-du-mal-Gedicht »Rêve parisien«, wo das Ich die Seinemetropole traumartig verfremdet erlebt: Beides potenziert sich in den Illuminations zu hermetischen Bilderstrecken, die nicht mehr mimetisch auf ein Stück konkreter Lebenswelt zurückgeführt werden können – in diesem Sinne blieben sie poetisch autonom –, die jedoch voller Anspielungen auf neue mediale Erfahrungen und von einer Wahrnehmung gesättigt sind, die man mit gutem Recht bereits als ›filmisch‹ bezeichnen darf; in diesem Sinne könnten sie wiederum als poetisch heteronom bezeichnet werden. Rimbauds »Illuminations« sind sowohl formal eigenartige, in sich abgeschlossene 102
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lyrische Gebilde als auch Texte, die mit bemerkenswertem seismografischen Gespür den massenmedialen Input der modernen Zeit aufgreifen. Rimbauds Rezept bildet, blickt man sich unter den späteren Avantgarden des 20. Jahrhunderts um, das wohl flexibelste Erfolgsmodell für lyrische Innovationen unter medialer Prädominanz – eine Inspirationsquelle für die Futuristen ebenso wie für John Ashberys sogenannte Jump Cuts oder Thomas Klings formstrenge Cut Ups.6 Es mag überraschen, wie sehr im lyrischen Diskurs über Medien, wie er zumindest während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geführt wird, dem Begriff des Mediums noch ebenso sehr jene etymologisch begründete Spur des magischen Gegenstands anhaftet, die zum Ahnen, Vorausschauen und mehr oder weniger dunkel Prophezeien befähigen soll. Evident wird das beim späten Rilke: Das Neue, das vom technischen Medium ausstrahlt, versucht er mit dem phänomenologisch offenen Sensorium seiner Elegien und seiner Sonette durchaus auch aufzufangen – selbst wenn die neuen Medien von ihm noch etwas mystifizierend und abstrakt unter Sammelbegriffen wie »Apparat«, »Maschine«, »Plakat« firmieren. Die »Maschine« als plötzlich die Lebenswelt mit dominierendes Faktum ist ein gutes Sinnbild der spezifischen Fremdheit, mit welcher der Dichter jenen Massenerscheinungen aus zweiter Hand gegenübertritt, gehören sie doch als Artefakte weder zur Natur noch zur zweckfreien Kunst noch unmittelbar zur Warenwelt. Den Anspruch des Neuartigen, das ihm aus »Maschine« oder »Apparat« entgegenblickt, versucht der Dichter mit lyrischer Offenheit auszuhalten, indem er diese Dinge zumindest in seinen Kosmos eindringen lässt. Dennoch signalisieren sie für ihn, wenn überhaupt, allenfalls Stimulanzien zweiter Ordnung, erfüllen lediglich die Funktion eines »Ersatz[es] für die Träume«, wie Hugo von Hofmannsthal 1921 das damalige Kino bezeichnete.7 Die lyrische Wahrnehmung zieht bei diesen Dichtern noch einen Limes zwischen Medien und ›reine‹, ›authentische‹ Phänomene – diese müssen ihnen zufolge in der sich abzeichnenden Massenkultur erst (wieder) hinter der technischen Dutzendware aufgespürt werden: »hinter der letzten Planke, beklebt mit Plakaten des ›Todlos‹, / jenes bitteren Biers, das den Trinkenden süß scheint, / wenn sie immer dazu frische 6 | Vgl. Marjorie Perloff: The Poetics of Indeterminacy. Rimbaud to Cage, Princeton: PUP 1981; Hubert Winkels: Der Stimmen Ordnung. Über Thomas Kling, Köln: DuMont 2005. 7 | Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. 4, hg. v. Herbert Steiner, Frankfurt am Main: S. Fischer 1955, S. 44–50. 103
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Zerstreuungen kaun . . . , / gleich im Rücken der Planke, gleich dahinter, ists wirklich«, heißt es in der zehnten Duineser Elegie.8 Den Sprung zum Massenmedium als vollwertigem oder gar notwendigem Stimulantium des modernen, sich in seiner Umgebung und Zeit als gegenwärtig empfindenden Dichters vollzieht im deutschsprachigen Kontext mit aller Konsequenz erst Gottfried Benn. Die medienbasierte Populärkultur erobert den lyrischen Innenraum – als gleichgesinnte Zeitgenossen Benns wären für den angrenzenden europäischen Raum Lyriker wie Marinetti, Cendrars, Apollinaire, Alberti oder Majakowski, für die Vereinigten Staaten Pound oder Williams anzuführen. Der Unterschied zur Rilke-Generation lässt sich bei Benn gut an seinem 1917 zuerst in der expressionistischen Aktion erschienenen Gedicht »Das Plakat« ablesen, wo das Moment zweckfreien Staunens, der »profanen Erleuchtung« (Benjamin) oder »Epiphanie« (Joyce) nicht mehr hinter, sondern auf dem Plakat gefunden wird: »Früh, wenn der Abendmensch ist eingepflügt, / [. . .] Tröstet den Trambahngast / Allein das farbenprächtige Plakat. / Es ist die Nacht, die funkelt. Die Entrückung. / Es gilt dem kleinen Mann: selbst kleinem Mann / Steht offen Lust zu! Städtisch unbehelligt: / Die Einsamkeiten, die Heimkehr in das Blut! / Rauschwerte werden öffentlich genehmigt.«9
Bekannt sind Benns Vorlieben für Schlagermusik, allgemein für das tagtraumanregende Potenzial des »Kitsch« in der Bedeutung, wie Ernst Bloch sie dem Begriff zuschreibt. Am 30. Mai 1937 schreibt Benn mit deutlicher Abgrenzung gegen die Vulgärpropaganda seiner damaligen deutschen Umgebung an seinen Korrespondenten F. W. Oelze: »Ein Schlagerlied aus einem amerikanischen Revuefilm sagt mir mehr, erregt mich mehr als die tiefen Gedanken der Geschichte u[nd] der deutschen Zeit.«10 Eine Äußerung, die knapp anderthalb Jahrzehnte später vor anderem gesellschaftspolitischen Hintergrund im Gedicht »Kleiner Kulturspiegel« bekräftigt wird: »Ein Schlager von Rang ist mehr 1950 / als 500 Seiten Kulturkrise. / Im Kino, wo man Hut und Mantel mitnehmen kann, / ist mehr Feuerwasser als auf dem Kothurn / und ohne die lästige Pause.«11 8 | Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien. Die Sonette an Orpheus, Frankfurt am Main: Insel 1974, S. 42. Hervorhebung im Original. 9 | Gottfried Benn: Gedichte. In der Fassung der Erstdrucke, hg. v. Bruno Hillebrand, Frankfurt am Main: S. Fischer 1996, S. 103. 10 | Gottfried Benn: Briefe an F. W. Oelze. 1932–1945, hg. v. Harald Steinhagen und Jürgen Schröder, Stuttgart: Klett-Cotta 1977, S. 171. 11 | Benn: Gedichte, S. 391. 104
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Benns Affinität zu den Massenmedien seiner Gegenwart kommt übrigens auch sehr gut in der Wahl seines bevorzugten Aufschreibmediums zum Ausdruck: »Und bitte nichts gegen die amerikanischen Kugelschreiber! Sie sind mein Ein u[nd] Alles. Das einzige Vehikel, mit dem ich mich bewegen kann. Ich habe ganze Hefte mit Notizen, anderweitig [mit anderen Stiften – J. R.] bekritzelt, u.[nd] kann kein Wort mehr davon entziffern. Nur [mit] dies[en]!«12
Das Richtungsweisende an Benns Umgang mit den Medien ist jedoch, dass seinen Gedichten zwar die exzessive Aufnahme massenmedialer Quelltexte anzumerken ist, dieser Input jedoch gar nicht mehr auf seine Quellen, sondern allein auf das Gedicht als sprachästhetisches Konstrukt und eigengesetzlichen poetischen Imaginationsraum verweist. Das massenmediale Ausgangsmaterial wandert, dem ursprünglichen öffentlichen Kontext entrissen und fragmentarisiert, als Reihe heterogenster Montageelemente in das Gedicht ein. Dies heißt, dass für Benn der externe Medienoutput erst durch die Transformation im Filter des Gedichts zu lyrischem Input und internen »Rauschwerten« werden kann. Erst was diesen Transformationsprozess des Materials hinter sich hat, kann von Benn als ästhetisch gelungen, für sein Gedichtverständnis als ›authentisch‹ oder bestenfalls gar subversiv angesehen werden: »Das Tobis Klanggerät [ein zeitgenössischer Kinoprojektor; J. R.] geht über Götter u.[nd] Kloaken, es ist das Zahnrad der Zeit, wobei man immer wieder nur sagen kann, daß Theater noch viel schlimmer ist, kurz, daß alles furchtbar ist, was außerhalb [!] des Gedichtes liegt.«13 Selbst in Benns späteren sogenannten ›Parlando‹-Gedichten,14 die nicht mehr die Strenge einer metrisch-versifizierten Struktur aufweisen, bleibt dieser Transformationsprozess massenmedialen Materials zumindest als poetologische Maxime des Dichters grundsätzlich erhalten. Kaum einer der nachfolgenden Lyriker hat ernsthaft von dieser Vorgabe Benns zurückweichen wollen. Paul Celans sogenannter Hermetismus etwa erweist sich bei näherem Hinsehen oft genug als extrem elliptisch verdichtete und synkopierte Verarbeitung massenmedialer Reize. Im Ge12 | Gottfried Benn: Briefe an F. W. Oelze. 1945–1949, hg. v. Harald Steinhagen und Jürgen Schröder, Stuttgart: Klett-Cotta 1979, S. 222. Hervorhebung im Original. 13 | Benn: Briefe an F. W. Oelze. 1932–1945, S. 99 (19. Januar 1936). 14 | Vgl. Gottfried Willems: Großstadt- und Bewußsteinspoesie. Über Realismus in der Lyrik, insbesondere im Spätwerk Gottfried Benns und in der deutschen Lyrik seit 1965, Tübingen: Niemeyer 1981. 105
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dicht »Playtime« deutet schon der Titel darauf hin – er verweist auf eine zivilisationskritische späte Kinokomödie Jacques Tatis, in der nicht mehr die Menschen mit ihrer Individualität, sondern Technik, Automatisierung und digitale Kontrolle das Regiment innehaben: »PLAYTIME: die Fenster, auch sie, / lesen dir alles Geheime / heraus aus den Wirbeln / und spiegelns / ins gallertäugige Drüben, // aus, entstummt / wo die Zahl dich zu äffen versucht, / ballt sich Atem, dir zu, // gestärkt / hält die Stunde inne bei dir, / du sprichst, / du stehst, / den vergleichnisten Boten / aufs härteste über / an Stimme / an Stoff.«15
Die Transformation von Massenmedien in Ingredienzen des Gedichts vollzieht sich jedoch selbst dann noch, wenn deren Inhalte scheinbar untransformiert, äußerlich unverändert wiedergegeben werden und eine sozusagen rein materielle Transformation auf die Buchseite stattfindet – im objet trouvé einer Dada- oder Merz-Kunst beziehungsweise der späteren Pop-Art etwa. Die drei Gedichte Peter Handkes aus Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt (1969), die reine found poetry sind, veranschaulichen das: Da dort die Inhalte von ihrem Medium, dem sie untrennbar angehört hatten, getrennt sind – »Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27. 1. 1968« von der Zeitung, der sie entstammt, »Die japanische Hitparade vom 25. Mai 1968« vom Radio, wo sie wohl ausgestrahlt wurde, und »Warner Brothers und Seven Arts« von der Kinoleinwand, über die der Vorspann zu Bonnie and Clyde rollte –,16 sorgt die pure Zurschaustellung der Inhalte und ihrer Suggestion, dass die Deplatzierung im literarischen Medium sie bereits zu ›Gedichten‹ mache, für deren Fremdheit und Provokation. Als Gedichte gewinnen die von Handke unkommentiert und unbearbeitet übernommenen Botschaften plötzlich eine Bedeutung, die sie in ihrer ursprünglichen medialen Verankerung nicht hatten, weil dort das Medium selber erst die message schuf. Des sie dominierenden Mediums entkleidet, wörtlich nackt und ›bloßgestellt‹, sind sie nichts als ihre eigene dürftige Botschaft – verweisen für den Leser aber weiterhin unverkennbar auf den vom Autor durchtrennten medialen Zusammenhang, dem sie angehörten. Es sind daher Texte, die man als auf den medialen Nullpunkt gebracht bezeichnen könnte; ihre Bloßstellung als unmontiert ins Gedicht übernommenes Rohmaterial hinterlässt hermeneutisch 15 | Paul Celan: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 334. – Vgl. auch den Kommentar der Herausgeberin Barbara Wiedemann ebd., S. 849. 16 | Peter Handke: Leben ohne Poesie. Gedichte, hg. v. Ulla Berkéwicz, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 52, 68 f., 96–98. 106
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einen Phantomschmerz, der vom fehlenden Medium auf der einen, von der fehlenden poetischen Transformation auf der anderen Seite ausgeht. Deshalb darf die eigentliche Bedeutung der Pop-Art nicht von der Werteskala herkömmlicher ästhetischer Durchdringung und Autonomievorstellung abgeleitet werden; sie bildet meines Erachtens vielmehr ein Durchgangsstadium zu einer neuen postavantgardistischen Ästhetik, wie sie bis in unsere Gegenwart hinein vorherrschend ist. Der Wert der PopArt ist daher vielmehr in der Kultivierung und durchaus auch Profanisierung des medialen Diskurses für die Lyrikgattung anzusehen. Pop dürfte literatur- und kulturgeschichtlich die letzte sogenannte ›Epoche‹ gewesen sein, in der die Bezugnahme auf Massenmedien noch Provokationen auszulösen vermochte. Seitdem sind Massenmedien in der Kunst wie in der Lyrik ›angekommen‹, zu recht gewöhnlichen, wenn nicht gar banalen Topoi geworden, und damit sind die Leitmedien der Gegenwart auch zu Gemeinplätzen in den ästhetischen Diskursen der Zeit avanciert. In der deutschsprachigen Lyrik ist diese Entwicklung mehr noch als mit Handkes Readymades mit dem poetischen Energiezentrum Rolf Dieter Brinkmanns verknüpft. Entscheidend am Bild Brinkmanns ist nicht einmal so sehr die von ihm propagierte Art seiner Medienpoetik – sie reicht von der spontanen Aktion bis zur theoretischen Reflexion und war bereits mehrfach Gegenstand von Analysen – als vielmehr ihre exorbitante Heftigkeit und Insistenz. Zweifellos hatte Brinkmann verinnerlicht, dass die Intensität ihrer Übermittelung selber bereits Teil der massenmedialen Botschaft ist. Doch Brinkmanns Werdegang als Lyriker – ein Werdegang, der wegen seines Londoner Unfalltods mit 35 Jahren nichts von finaler Abgeklärtheit oder Vollendung an sich hat – offenbart ein rastloses Unzufriedensein mit dem rein antipoetischen Gestus des Pop-Art-Exhibitionismus, durch den er zunächst bekannt geworden war. 1971 kommt es bei Brinkmann gar zum Bruch mit seiner ursprünglich affirmativen Haltung den Leitmedien gegenüber. Erstaunlicherweise bedeutete die private Absage an die frühe emphatische massenmediale Mitläuferschaft jedoch nicht das Ende seiner exzessiven Liaison mit der multimedialen Welt – eine Liaison, die man von Seiten Brinkmanns durchaus als ein in Hassliebe an die Dominanz der Massenmedien Gefesseltsein begreifen kann. Der entindividualisierende Pop-Gestus war ihm entschieden zu wenig und die Potenzen seines eigenen Mediums Literatur, der Gattung Gedicht im Speziellen, weit unterschreitend. Andererseits war sich Brinkmann darüber im Klaren, dass gerade die Literatur als lebensweltliches Erfahrungsinstrument sich medialer Dominanz 107
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nicht entziehen kann, dass mit anderen Worten ihr ästhetischer Spielraum heutzutage immer vor dem Hintergrund der technischen Leitmedien ausgehandelt werden muss. Was aber entstünde, wenn es gelänge, diese Medien in der Literatur zu vergegenwärtigen, sie gar zum eigentlichen Gegenstand von Literatur zu machen und sie dabei zugleich gegen den Strich, gegen ihre massenkonsumierbare Intention zu lesen, sie also im Lichte ihrer allgegenwärtigen Dominanz individuell umzukodieren und dabei dem Massenkonsum zu entziehen? Diesem ehrgeizigen Versuch – der vielleicht, wenn es so etwas gibt, als Brinkmanns postmoderner Avantgardismus bezeichnet werden könnte – sind die zwischen 1971 und 1973 systematisch entstandenen sogenannten scrapbooks, Materialbände und Cut-up-Studien des Autors gewidmet, die sich zunächst als groß angelegtes Destruktions- und Dekonstruktionsvorhaben ausnehmen und auch dementsprechend wahrgenommen wurden.17 Vor dem Hintergrund seiner intensiven Rückkehr zur Lyrik jedoch, die sich mit seinem Aufenthalt als Writer in Residence in Austin/ Texas im Frühjahr 1974 vollzog und 1975 in der Publikation des Bandes »Westwärts 1 & 2« kurz vor seinem Unfalltod gipfelte, scheint als eigentliches Ziel von Brinkmanns nimmermüdem dérèglement de tous les sens der Massenmedien die ästhetische Utopie auf. In seinem erst posthum veröffentlichten »Unkontrollierten Nachwort zu meinen Gedichten« ist sie festgehalten. Die fremdbestimmten (Negativ-)Botschaften der Massenmedien sollen neutralisiert und in individualisierbares positives Gemeingut umgewandelt werden. Die anaphorische Aufzählungsformel »Ich stelle mir vor« zeugt allerdings auch vom Bewusstsein der Grenzen dieser Utopie – sie wäre letztlich nur im ästhetischen Formkörper des Gedichtes einlösbar, selbst wenn er mit seiner eigenen Begrifflichkeit das Utopiepotenzial von Gedichten im Understatement negiert, denn »Gedichte sind nie utopisch, irdischer Rock’n’Roll, jetzt, hier«.18 Was er tatsächlich damit meint, ist dennoch nichts anderes als utopisch: »Ich stelle mir eine Stadt ohne kulturelle Veranstaltungen vor, die als kulturelle Veranstaltungen laufen. Ich stelle mir eine Stadt mit schattigen Bäumen und stillen Boulevards vor. Ich stelle mir eine Stadt mit Dichterlesungen vor, Wand17 | Vgl. Karsten Herrmann: Bewußtseinserkundungen im Angst- und Todesuniversum. Rolf Dieter Brinkmanns Collagebücher, Bielefeld: Aisthesis 1999. – Demgegenüber betont Roberto di Bella in einer aktuellen Dissertation jetzt die konstruktiven Aspekte an Brinkmanns literarischen Medienmaterialschlachten – er führt den Beweis, dass diese ihm als Vorstudien zum Schreiben eines zweiten Romans dienen sollten. 18 | Brinkmann: Westwärts 1 & 2, S. 271. 108
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zeitungen mit Gedichten, Gedichte, die an Haltestellen morgens verteilt werden statt der Schmierzeitungen, sie hätten eine andere Wirkung, fantastische Verwirrungen und Unterhaltungen statt der täglich reingeschobenen Todesbilder und Schrecknachrichten.«19
Ein Beispiel aus Brinkmanns später lyrischer Praxis mag illustrieren, wie er die Überführung von fremdmedialem lyrischen Input in utopisches Eigenmaterial praktisch einzulösen gedachte: »Fotos 1, 2 Die Tiere waren unruhig. Vielleicht, weil der Platz zu ruhig war. Sie redeten. Nun waren sie älter geworden und mußten sterben. Was geht in deinem Verstand vor? Eine Sonne schlägt rein und setzt die alte Kulisse in Brand. Ich lebe gern und schaue mir an, wie sie alle leben. Das ist ganz leicht. Hier hast du den Fahrschein. Weiter weg kommen die Wellen, heran. Auf dem Boden liegt Stroh. Darüber balanciert die Tänzerin, nackt, an Armen und Beinen, mit blaßblauen Augen. Sie kassiert später dazu. Ihr Fell ist weich, braun und lang. Eine Mundharmonika spielte. Die Ebene davor flammte auf. Ich habe sie gesehen, und das wars. Der Platz ist inzwischen saubergeweht. Eine Figur schob den Kinderwagen voll Zeitungen darüber, kleiner als der Schatten. Mir schien das ein Ende zu sein, aber ich hatte mich selber getäuscht. Die Tiere brannten aus und starben zwischen den Häusern. Die Häuser sind jetzt leer. An den Wänden hängen die Bilder, die keiner mehr berührt. Die Apparate sind abgestellt. Es ist wieder ruhig geworden, und ich gehe in dem Sonnenlicht über den Asphalt, wo sie sind.«20
Das Gedicht speist sich aus mehreren massenmedialen Bezugspunkten und Quellen, die als solche größtenteils nichts mehr zu erkennen, sondern in die originäre Bildwelt des Textes integriert sind. Aus dem Titel 19 | Ebd., S. 269. 20 | Ebd., S. 12. 109
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scheint die Fotografie zu sprechen, was bei Brinkmann nicht verwundert, hatte er doch bereits in seiner Pop-Art-Phase von verbalen snapshots gesprochen, die spontan wahrgenommene Vorgänge von der sichtbaren Oberfläche der Welt einfangen sollten.21 Etwas kommt hier jedoch durch das Zahlenpaar »1, 2« hinzu: die Bewegung. Der Zählvorgang suggeriert eine prinzipiell unendliche Reihe von Fotografien, die aufeinanderfolgen: Viele aufeinanderfolgende Fotos in Bewegung sind jedoch mehr als nur eine Serie von Schnappschüssen oder Kontaktabzügen, sie sind nichts weniger als ein Film. Schon 1969 hatte Brinkmann in Anlehnung an ein Diktum Jack Kerouacs vom »Film in Worten« als literarischem Wunschprogramm geschwärmt,22 und wenn der Titel des vorliegenden Gedichts etwas verspricht, dann eine Art von praktischer Einlösung oder Wiederaufnahme dieses Programms. Der Titel – zumal wenn man, was naheliegt, »1, 2« als Anfang oder Startaufruf eines Zähl- und Bewegungsvorganges begreift – weckt die Erwartung an einen verbalen Bilderlauf und enthält damit in nuce auch schon die Poetik des ganzen Gedichts. Die Zeilen »Was geht in deinem Verstand vor? Eine Sonne / schlägt rein und setzt die alte Kulisse in Brand« greifen diese Erwartung auf. Die Bilder laufen auf zwei Ebenen gleichzeitig ab – im Bewusstsein (»Verstand«) des lyrischen Du und auf einer wenngleich imaginären Kinoleinwand mit Projektor (»eine Sonne«, »Kulisse«), wo die Vorgänge der Außenwelt gebündelt und auf unvorhergesehene Weise miteinander verknüpft erscheinen: »Ich lebe gern und schaue mir an, wie sie alle / leben«. Auf den ersten Blick mag es deshalb überraschen zu erfahren, dass aller Wahrscheinlichkeit nach nicht eine optische, sondern eine akustische Erfahrung Auslöser dieses Gedichts gewesen ist. Sie findet sich dokumentiert in Brinkmanns 1973 während ausgiebiger Schreibtischreflexionen und Großstadtspaziergänge aufgenommenen Tonbändern, die 2005 posthum unter dem Titel »Wörter Sex Schnitt« als CD-Sammlung herausgekommen sind. Im Spielfilm »Brinkmanns Zorn« von 2007 stellt Regisseur Harald Bergmann anhand dieses Originaltonmaterials die Szene im heutigen Köln seinen Vorstellungen entsprechend nach.23 21 | Vgl. Rolf Dieter Brinkmann: »Notiz«, in: Standphotos. Gedichte 1962– 1970, Reinbek: Rowohlt 1980, S. 185–187. 22 | Rolf Dieter Brinkmann: »Der Film in Worten«, in: ders./Ralf-Rainer Rygulla: ACID. Neue amerikanische Szene, Darmstadt: März 1969, S. 381–399. 23 | Vgl. Rolf Dieter Brinkmann: Wörter Sex Schnitt, Originaltonaufnahmen 1973, hg. v. Herbert Kapfer und Katharina Agathos unter Mitw. v. Maleen Brinkmann, München: intermedium records 2005; Harald Bergmann: Brinkmanns Zorn, Berlin: Neue Visionen Medien 2007. 110
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Mit dem vom WDR geliehenen Tonbandgerät verband Brinkmann implizit wohl die Hoffnung, aus seiner seit dem Abschied von der Pop-Art anhaltenden Schreib- und Darstellungskrise heraus- und zu einer schärferen Wahrnehmung seiner unmittelbaren Gegenwart zurückzufinden – sensibilisiert neben der ohnehin bestehenden Vorliebe fürs Visuelle im akustischen Bereich: Mit dem Rekorder, wie die nachgelassenen Bänder belegen, nimmt er nicht nur Geräusche, Klänge, Laute seiner Umgebung auf, sondern vor allem seine eigene Stimme, die exzessive Beschreibungen seines Blickfeldes ins Mikrofon spricht. Dabei war es seine Überzeugung, dass seiner massenmedial eingehegten Umwelt am besten mit einem von ebendiesen Massenmedien geborgten Instrument beizukommen sei – dann nämlich, wenn man es gegen die Gewohnheiten des Massenmediums benutzte, wie er es tat: also oberflächlich als Unsinn und indem er nicht verwertbar erscheinende Dinge wie den Straßenverkehr, den Lärm und Gesprächsfetzen in Fußgängerzonen sowie die eigenen oft wutentbrannten Spontanmonologe beim Gehen damit aufzeichnete. Das scheint nur so lange ein willkürliches, ungesteuertes Vorgehen zu sein, bis sich daraus eine mitunter hochpoetische Eigendynamik ergibt. An einer Stelle ist zu hören, wie Brinkmann wohl in einem Park, vermutlich dem sogenannten Aachener Weiher bei Köln, die Stimme eines Mannes einfängt, der seine scheinbar etwas scheuen Tiere, die er zu beaufsichtigen hat, schwer in Zaum halten kann oder sie vor Zugriffen von Passanten schützen will: »Gehnse weiter, gehnse weiter. Die Tiere sind unruhig«, fängt ihn Brinkmanns Rekorder ein. Wenig später ist auf dem Band zu vernehmen – es scheint zwischendurch ausgeschaltet und möglicherweise bis zur letzten bespielten Stelle vom Autor noch einmal abgehört worden zu sein –, wie Brinkmann im langsamen Vorangehen, umtost vom Stadtverkehr, vielleicht an einer Ampel vor einer Kreuzung verharrend, ad hoc einen ersten Entwurf seines späteren Gedichts »Fotos 1, 2« ins Mikrofon spricht; am zeitweisen Verstummen und Wiedereinsetzen der Stimme ist zu erkennen, dass Brinkmann völlig frei, ohne ein fertiges Konzept in der Hand, formuliert. Dabei greift er die Worte des Wärters auf und verwandelt sie ins Präteritum: »Die Tiere waren unruhig«. Daraufhin entwickelt sich ein Assoziationsstrom, der wohl nicht mehr direkt etwas mit dem auslösenden Moment zu tun hat, höchstens noch in losem Zusammenhang zur Ursprungssituation steht – man könnte einen Zirkus mit »Tänzerin« und »Stroh«, das »[a]uf dem Boden liegt«, imaginieren, »die Wellen« mögen ebenso auf das Blau auf dem Zirkusplakat zurückgehen wie auf eine im Kino angeschaute Filmszene. Auch die Vor111
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stellung, »Sie kassiert später dazu«, ist denkbar als cineastische Referenz, man denke an Fellinis La Strada oder Chaplins The Circus, während die »blaßblauen Augen« den Song »Pale blue eyes« von Brinkmanns Lieblingsband The Velvet Underground und die »Mundharmonika« den Anfang der 70er mit seiner Band wie mit einer Zirkustruppe umherreisenden Bob Dylan, ebenfalls ein Idol Brinkmanns, ins Gedächtnis rufen. Und im »Kinderwagen«, den eine »Figur« schiebt, befindet sich kein Baby, sondern ein Stoß Zeitungen – nichts Lebendiges also wird hin und hergeschoben, sondern ein papierenes Massenmedium, über das kein individueller Autor, kein singuläres »Ich« allein verfügt: »Mir schien das ein Ende / zu sein«. Dem ist aber nicht so, auch im entindividualisierten Zustand der Massenmedien ›machen‹ die Bilder ›weiter‹: »ich hatte mich selber getäuscht«. Das Attribut »ausgebrannt« allerdings lässt nunmehr womöglich Menschen in den Tieren erkennen – »kluge Tiere«, wie es in Friedrich Nietzsches berühmtem sprach- und erkenntniskritischen Traktat Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne heißt, auf den diese Stelle anspielt –,24 die »zwischen den Häusern« sterben: eine apokalyptische Rückblende zugleich an Luftkriegsszenarien, wie Brinkmann sie als Kind noch miterlebt beziehungsweise in Wochenschauen angesehen hatte. Das darauf folgende »Ende« des lyrischen ›Wortfilms‹ suggeriert einen Neuanfang in einem historischen blanc: »Die Häuser sind jetzt leer«. Es ist ein Jetzt, in dem das Ich wieder zu einer eigenen, zu seiner Stimme kommt, weil »die Apparate abgestellt«, das heißt die Medien in diesem Moment ausgeschaltet, wenngleich weiterhin vorhanden sind und »keiner« die »Bilder« »[a]n den Wänden« »mehr berührt«. Das lyrische Ich vermag sich neu in seiner Gegenwart zu verorten, indem es das, was es von den Medien, die seinen Alltag konfigurieren, aufliest und ›schneidet‹ (im doppelten Sinn), mit jedem seiner Schritte gleichzeitig vergessen und ins Gedicht transformiert aufgehen lassen kann: »und ich gehe in dem Sonnenlicht / über den Asphalt, wo sie sind«. Lyrik im Medienzeitalter ist, wie Brinkmanns Beispiel lehrt, dann als gegenwartsadäquat anzusehen, wenn es ihr gelingt, sich dem Anspruch 24 | Vgl. Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 1, hg. v. Mazzino Montinari und Giorgio Colli, München, Berlin: dtv, de Gruyter 1993, S. 873–890: »In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der ›Weltgeschichte‹: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Tiere mußten sterben.« 112
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der Medien rückhaltlos auszusetzen und ihn in eine autonome lyrische Sprache und Bildlichkeit zu überführen. So kommt es zu dem scheinbaren Paradox, dass diese Art Gedichte zwar von außen das Echo der großen technischen Multiplikatoren aufnehmen, nach innen jedoch schall-dichte Räume bilden – ästhetisch abgedichtete, eigengesetzliche Sphären der individuellen poetischen Imagination. Gerade die auf den ersten Blick bedauernswerte Tatsache, dass die Gedichte im Gegensatz zu den Massenmedien kein oder höchstens nur ein minimales Echo nach außen zu werfen vermögen, ihnen – einfacher gesagt – kaum öffentlich Aufmerksamkeit entgegengebracht wird (beziehungsweise wenn dies geschieht, dann doch wohl eher unter Marginalisierung ihres ästhetischen Potenzials), bewahrt ihnen jenen innovativen ästhetischen Freiraum, der weder vor Quoten noch vor Redakteuren nach Rechtfertigungen suchen muss.
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Joystick und Kamera Aspekte der Intermedialität von Spielfilm und Computerspiel Jörg Helbig (Klagenfurt)
1. Der Spielfilm war eines der Leitmedien des 20. Jahrhunderts, phasenweise sogar das dominante Leitmedium mit der größten Breitenwirkung und dem höchsten Aufmerksamkeitswert. Trotz der starken Konkurrenz durch Fernsehen und Internet gelingt es Spielfilmen selbst heute noch, einen einzigartigen Eventcharakter zu entfalten. Dies war keineswegs immer so, denn lange Zeit wurde der Film als seriöse Kunstform nicht wahrgenommen. Um sich gegen etablierte Konkurrenzmedien zu behaupten, nutzte der Film in seinen Anfangsjahren insbesondere die Strategie, die älteren, dominanten Medien zu imitieren. Die frühesten Shakespeare-Verfilmungen beispielsweise waren noch vollständig vom Theater geprägt, bis hin zu solch skurrilen und filmfremden Details, dass die Schauspieler in Richtung der Kamera lächelten und sich verbeugten, bevor sie zu spielen begannen, wie in Herbert Beerbohm Trees King John (1899) zu sehen ist. Seit ihren Anfängen haben Spielfilme mithin die Konventionen anderer Medien übernommen und für ihre Zwecke adaptiert. Geschah dies zunächst aus Prestigegründen, gaben später meist ökonomische Überlegungen den Ausschlag, denn mit Vorliebe greifen Filmproduzenten auf Stoffe zurück, die sich in einem anderen Medium bereits kommerziell bewährt haben. Zweifelsfrei lässt sich so auch die jüngste Welle filmischer Adaptionen von Comics, graphic novels und Computerspielen erklären.1 Das Computerspiel (kurz: Game) befand sich ursprünglich in einer ähnlichen Situation wie der Film knapp hundert Jahre zuvor.2 Meist 1 | Zu den jüngsten Verfilmungen von Comics und graphic novels zählen Constantine, A History of Violence, Sin City, V for Vendetta (alle 2005), 300, Ghost Rider, Rise of the Silver Surfer (alle 2007), The Dark Knight, Hellboy II: The Golden Army, The Incredible Hulk, Iron Man, Speed Racer, Wanted (alle 2008), Watchmen, X-Men Origins: Wolverine (beide 2009) u. v. a. 2 | Den aktuellen Status des Computerspiels verglich Thomas Lindemann
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als reines Gebrauchsmedium betrachtet, wurde ihm nur ein geringer bis gar kein eigener ästhetischer Wert zugestanden. Der Anspruch der Spielhersteller war es freilich bald, aus diesem künstlerischen Ghetto zu entkommen. »Der kommerzielle Erfolg reicht der ambitionierten Computerspielindustrie nicht mehr«, schrieb Harald Staun 2006 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. »Sie sehnt sich danach, mehr zu sein, sie will, wie die Helden, die sie täglich erschafft, neue Level erreichen, neue Ebenen der Anerkennung. Sie wollen Kunst sein«3 . Um ein höheres Prestige für ihre Produkte zu erlangen, orientierten sich die Entwickler von Computerspielen ebenfalls an etablierten, dominanten Medien, und hier in erster Linie am Film, den man bis ins Detail zu kopieren begann. Cutscenes, also filmähnliche Spielszenen, wurden in immer besserer grafischer Auflösung in Computerspiele integriert, ebenso filmtypische Gestaltungsmittel wie Kameraperspektive und Hintergrundmusik oder filmische Paratexte wie Trailer und Credits. Seit den Pioniertagen von LucasArts gingen Film- und Game-Industrie eine immer intensivere Verflechtung ein und nutzten systematisch Synergieeffekte. Zunehmend sind auch bekannte Filmregisseure an der Entwicklung von Computerspielen beteiligt, wie die Beispiele von Peter Jackson (King Kong), John Woo (Stranglehold) oder Steven Spielberg (Boom Blox) belegen. Konsumenten erwarten heute fast selbstverständlich Computerspielversionen erfolgreicher Spielfilme. Bei Blockbuster-Produktionen wie Star Wars, Lord of the Rings, Harry Potter oder Pirates of the Caribbean, aber auch bei den Animationsfilmen von Disney oder Pixar gehören begleitende Games längst zum Standard. Derartige »Ver-Spielungen« erscheinen üblicherweise vor der DVD-Version eines Kinofilms, teilweise sogar noch vor dessen Kinostart. Dabei wird häufig schon während der Filmproduktion auf die spätere Spieleauswertung Rücksicht genommen. Das bekannteste Beispiel hierfür lieferten die Regisseure Andy und Larry Wachowski, die für das Game Enter the Matrix zwei Stunden exklusives Filmmaterial drehen ließen, das ausschließlich in dem Computerspiel zu sehen ist. In jüngster Zeit lässt sich bei Games auch dieselbe Entwicklung wie einst bei der DVD beobachten, nämlich eine schrittweise Erschließung historischen im August 2009 tentativ mit dem Film zwischen 1910 und 1920: »Der Zustand dieses Mediums [des Computerspiels] ist mit dem des Kinos zwischen 1910 und 1920 vergleichbar. Ziemlich roh und rudimentär – aber auch aufregend.« (Thomas Lindemann: »Tränen der Hoffnung«, in: Die Welt vom 24. August 2009, S. 23.) 3 | Harald Staun: »Letzter Level«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 19. Februar 2006, S. 30. 116
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Materials. Immer häufiger erscheinen Computerspiele zu Filmklassikern, deren Premiere schon lange zurückliegt. So kam das Game zu Quentin Tarantinos Reservoir Dogs 2006, also 14 Jahre nach dem Kinostart, auf den Markt, dasjenige zu Francis Ford Coppolas The Godfather 34 Jahre nach der Filmpremiere, und das Videogame zu Akira Kurosawas Klassiker The Seven Samurai erschien 50 Jahre nach dem Film. Mittlerweile trägt diese Strategie Früchte. Computerspiele sind inzwischen in den Untersuchungshorizont der Medienwissenschaften, aber auch der Literatur-, Kultur- und Sozialwissenschaften gerückt, und mit den Game Studies hat sich eine eigene Disziplin herausgebildet, die sich vorrangig diesem neuen Medium verschrieben hat. Besondere Anerkennung fanden Computerspiele seitens der British Academy of Film and Television Arts (BAFTA), die sie im März 2006 neben Film und Fernsehen als gleichwertige dritte Preiskategorie einführte. Zur Begründung erklärte der BAFTA-Vorsitzende Duncan Kenworthy, dass es sich bei den Computerspielen um »eine der führenden zeitgenössischen Kunstformen« handele.4 Freilich profitiert nicht allein das Game vom Film, auch umgekehrt hat sich der Film Strategien des Computerspiels zu eigen gemacht. Eine symbiotische Beziehung beider Medien ist durchaus naheliegend, da sie zahlreiche Gemeinsamkeiten aufweisen. Beide sind multimediale Zeichensysteme, die von bewegten Bildern dominiert werden und über ähnliche dramaturgische Gestaltungsmittel verfügen. Zudem besitzen viele Games ebenso wie der Spielfilm narrative Strukturen.5 Dennoch haben sich Verfilmungen von Computerspielen oft als kommerzielle Fehlschläge erwiesen. Während Games zu einem bekannten Film häufig zu Verkaufsschlagern wurden, gilt dies umgekehrt nicht – im Gegenteil: Seit der ersten Realverfilmung eines Computerspiels, dem 1993 erschienenen Super Mario Bros, haben viele Filme, die auf Computerspielen basieren, zumindest an den Kinokassen kommerziellen Schiffbruch erlitten. Einige Zahlen mögen dies belegen:6 Die Verfilmung von Alone in the Dark (2005) besaß ein Budget von 20 Millionen Dollar, spielte weltweit aber nur 8,1 Millionen Dollar ein. Noch deutlicher fiel das Defizit bei DOA – Dead or Alive (2006) aus, bei dem Einnahmen von 7,5 Mil4 | http://www.guardian.co.uk/technology/mar/09/news.games vom 29. Mai 2009. 5 | Auf die hinlänglich dokumentierte ideologische Debatte zwischen Narratologen und Ludologen soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden. 6 | Quelle: http://en.wikipedia.org/wiki/List_of_films_based_on_video_ games vom 13. Februar 2008. 117
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lionen Dollar einem Budget von 35 Millionen Dollar gegenüberstanden. Final Fantasy: The Spirits Within (2001) spielte immerhin 85 Millionen Dollar ein, blieb aber angesichts eines Budgets von 137 Millionen Dollar ebenfalls tief in der Verlustzone. Zu den wenigen Ausnahmen von dieser Regel zählen die Filmversionen von Tomb Raider (2001), Resident Evil (2002) und Silent Hill (2006). Im Fall von Resident Evil beispielsweise übertrafen die Einnahmen von 102 Millionen Dollar bei weitem das Budget von 33 Millionen Dollar. 2. Über derartige transmediale Adaptionsprozesse hinaus können Computerspiele aber auch durch intermediale Verfahren in Spielfilme einfließen. Die sich in diesem Zusammenhang ergebenden Möglichkeiten sollen im Folgenden vorgestellt und ansatzweise systematisiert werden. Der Begriff Intermedialität wird dabei nicht als allumfassender umbrella term zur Bezeichnung sämtlicher Spielarten des Medienkontakts verwendet, sondern für eine spezifische Form des Kontakts, bei der nur ein Medium präsent ist, zugleich aber ein anderes Medium mit den Mitteln des präsenten Mediums evoziert wird. Intermedialität wird im Folgenden also verstanden als Verweis eines kontaktnehmenden Mediums auf ein kontaktgebendes Medium unter ausschließlicher Verwendung des Zeicheninventars des kontaktnehmenden Mediums.7 Dies kann entweder durch eine Thematisierung oder eine Imitation des evozierten Mediums erfolgen. Bevor ausführlicher auf die Möglichkeiten intermedialer Imitation einzugehen sein wird, soll zunächst ein kurzer Blick auf den Fall der Thematisierung geworfen werden. Computerspiele wurden seit den frühen 80er Jahren zum Thema von Filmen, und zwar nicht nur punktuell, etwa durch bloßes Abbilden eines computerspielenden Darstellers, sondern im Sinne des zentralen Motivs einer Geschichte. Als Pioniere dieses Subgenres gelten heute die beiden Produktionen Tron (1982), wo ein Programmierer unfreiwillig in die virtuelle 3-D-Welt eines Computerspiels versetzt wird, sowie WarGames (1983), in dem sich ein Junge unwissentlich in das Kontrollprogramm des amerikanischen Atomwaffenarsenals einhackt und dadurch beinahe den dritten Weltkrieg auslöst. Seither wurden zahlreiche Filme veröf7 | Zur Begründung dieser Definition vgl. Jörg Helbig: »Intermedialität – eine spezifische Form des Medienkontakts oder globaler Oberbegriff? Neue Überlegungen zur Systematik intersemiotischer Beziehungen«, in: Jürgen E. Müller (Hg.): Media Encounters and Media Theories, Münster: Nodus 2008, S. 79–87. 118
Joystick und Kamera
fentlicht, die Games zu ihrem maßgeblichen Thema machen. WarGames erweist sich insofern als prototypisch, als in nachfolgenden Filmen oftmals Kinder oder Jugendliche als Protagonisten fungieren, um welche diverse stereotype Handlungen konstruiert werden, beispielsweise: – Der Protagonist ist ein sozialer Außenseiter, der sich in die Welt des Computerspielens zurückzieht, wo er begnadete Fähigkeiten entwickelt, die ihm schließlich helfen, sich in der realen Welt zu bewähren, zum Beispiel Cloak & Dagger (1984); The Wizard (1989); BenX (2007). – Der Protagonist ist in einer virtuellen Spielwelt gefangen, aus der er sich durch Bestehen vieler Abenteuer befreien muss, zum Beispiel Tron (1983); The Dungeonmaster (1985); Arcade (1993); Spy Kids 3-D: Game Over (2003); GameBox 1.0 (2004). – Außerirdische Mächte rekrutieren den Protagonisten aufgrund seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten für eine militärische Mission, zum Beispiel The Last Starfighter (1984); Press Start (2007). – Die virtuelle Spielwelt und die reale Welt verschmelzen oder beeinflussen sich gegenseitig während des Spielens, zum Beispiel Brainscan (1994); Nirvana (1997); eXistenZ (1999); Stay Alive (2006). 3. Ein anderer Brückenschlag zwischen Games und Filmen besteht darin, dass ein Film zwar nicht explizit durch Abbilden oder Thematisieren auf Computerspiele verweist, stattdessen aber deren typische Strukturen oder Ästhetik imitiert.8 Man stelle sich hierzu folgende Handlung vor: Sechs Personen betreten ein Labyrinth. Der Eingang zu dem Labyrinth stürzt hinter ihnen ein, und die nunmehr Eingeschlossenen sind 8 | Eine bekannte Möglichkeit, die Ästhetik von Computerspielen auf den Film zu übertragen, bietet das Motion-capture-Verfahren. Hierbei wird eine Handlung zunächst mit realen Schauspielern gedreht, deren Bewegungen anschließend in einen Computer eingelesen und auf computergenerierte 3-D-Modelle übertragen werden. Beispiele hierfür sind Robert Zemeckis Filme Polar Express (2004) und Beowulf (2007), aber auch die Computerspiel-Verfilmung Final Fantasy (2001). Auch die Filmkamera kann ähnlich wie in einem Computerspiel eingesetzt werden. So beinhaltet beispielsweise der Film Doom (2005) eine circa fünfminütige Actionsequenz aus einer subjektiven Kameraperspektive, die als offensichtliches intermediales Zitat fungiert. Die Zuschauer sehen hierbei das Geschehen aus der Perspektive einer um sich schießenden Figur, und zwar mit der Waffe stets sichtbar im Bildvordergrund, wie man es aus zahllosen EgoShooter-Spielen kennt. 119
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gezwungen, nach einem Ausweg zu suchen. Aus dieser Ausgangslage ergibt sich ein klassisches Quest-Motiv. Die sechs Figuren haben eine klare Zielsetzung, nämlich zu überleben. Die Suche nach einem Ausgang aus dem Labyrinth bestimmt daher die Handlungsstruktur. Um ihr Ziel zu erreichen, müssen die Figuren Problemstellungen lösen, Hindernisse überwinden, gefährliche Passagen des Labyrinths bewältigen und potenzielle Todesfallen umgehen. Dabei kommt der mitgeführten Ausrüstung eine wichtige Rolle zu: Wasser und Energie für Taschenlampen gehen zur Neige, Seile und Kletterausrüstung gehen verloren, zufällig gefundene Gegenstände werden eingesammelt und dienen später als Werkzeug oder Waffe. Nehmen wir weiter an, dass sich der Schwierigkeitsgrad des Unternehmens noch zusätzlich erhöht, weil das Labyrinth von blutrünstigen Kreaturen bewohnt ist, die den Eingeschlossenen nach dem Leben trachten. Hierdurch geraten die Figuren unter Zeitdruck. Sie müssen nicht nur Probleme lösen, sondern sie müssen sie möglichst schnell lösen. Dem sind nicht alle Figuren gewachsen, und eine nach der anderen scheidet aus dem Rennen beziehungsweise aus dem Leben. Derartige Handlungsmuster sind so oder ähnlich aus zahllosen Computerspielen, insbesondere aus den sogenannten Survival Horror Games, bekannt. Allerdings beschreibt die soeben skizzierte Geschichte kein Computerspiel, sondern den britischen Spielfilm The Descent aus dem Jahr 2005. Er handelt von sechs jungen Extremsportlerinnen, die in einem unerforschten Höhlensystem eingeschlossen sind. Ihre verzweifelte Suche nach einem Ausgang wird zu einem aussichtslosen Überlebenskampf, als sie auf eine menschenfressende humanoide Spezies treffen und langsam, aber sicher dezimiert werden. Wie dieses Beispiel zeigt, kann die grundlegende Handlungsstruktur von Spielfilmen und Computerspielen nahezu identisch sein. Der Autor und Regisseur von The Descent, Neil Marshall, war sich dessen wohl auch vollkommen bewusst, denn sein Film enthält einige offenkundige Verweise auf das andere Medium. So protestiert beispielsweise eine der Protagonistinnen beim Anblick des Höhleneinstiegs, sie sei »English teacher and not fucking Tomb Raider«. Gleichzeitig werden bei der Präsentation der Handlung von The Descent aber auch wichtige Unterschiede zwischen beiden Medien manifest. Im Gegensatz zu Computerspielen nimmt sich der Film beispielsweise Zeit, um die Vorgeschichte des Abenteuers darzustellen und die Beziehungen der Frauen zueinander zumindest ansatzweise zu psychologisieren, so dass Gruppenstrukturen, Sympathieverteilungen und Hierarchien erkennbar werden. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass sich der Film auf einen Schluss der Handlung festlegen muss. Im vorliegenden 120
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Fall verzichtet er auf ein Happy End, denn keiner der Frauen gelingt es, dem Labyrinth lebend zu entkommen.9 Es gibt keinen Ausweg und mithin keine Lösung des Problems. Eine solche Radikalität kann sich ein Computerspiel nicht leisten – der User muss zumindest die Chance haben, seinen Avatar erfolgreich durch die Level zu steuern. 4. Andere Filme betreiben die Imitation der Strukturen von Computerspielen eher formalistisch. Peter Howitts Film Sliding Doors (1998) zeichnet sich dadurch aus, dass er zwei alternative Handlungsstränge besitzt. Zu Beginn des Films begibt sich die Protagonistin Helen morgens zur Arbeit, nur um zu erfahren, dass sie fristlos entlassen ist. Also fährt sie deprimiert wieder nach Hause. An diesem Punkt verzweigt sich die Handlung in zwei parallele Schicksale. In Version A erreicht Helen rechtzeitig die U-Bahn, ertappt zu Hause ihren Freund in flagranti mit einer anderen Frau, beendet die Beziehung und beginnt ein neues Leben. In Version B verpasst sie die U-Bahn und kommt erst so spät nach Hause, dass ihr Freund genügend Zeit hatte, die Spuren seiner Affäre zu beseitigen. Die Montage des Films, die zwischen den beiden parallelen Plotlinien hin und her wechselt, fordert die Zuschauer unweigerlich dazu auf, die Alternativen zu vergleichen und zu evaluieren. Derartige Erkundungen der Frage »Was wäre, wenn . . .« liegen vor allem Strategie-, Simulationsund Adventuregames zugrunde. In Sliding Doors spielt das Schicksal mit Helen, ebenso wie der User seinen Avatar an bestimmten Entscheidungspunkten alternative Handlungsoptionen experimentell durchspielen lässt. Dabei gibt es zielführende Handlungsstrategien, die den Aufstieg in das nächste Level ermöglichen, und nicht zielführende Strategien, die entweder in Sackgassen oder mit dem Tod des Avatars enden. So ergeht es auch Helen in Sliding Doors, die in einem der beiden Handlungsstränge den Tod findet. Verzweigungen und alternative Plotlinien sind in Computerspielen, anders als in Filmen, gang und gäbe. Dass Sliding Doors in seiner spezifischen Machart somit eine seltene Ausnahme darstellt, dürfte nicht zuletzt an dem fehlenden Moment der Interaktivität liegen. Während sich der User in einem Adventuregame – zum Beispiel an einer Wegga9 | Der Film legt diesen Schluss unmissverständlich nahe, wenngleich sich der vier Jahre später angelaufene Nachfolgefilm The Descent: Part 2 (2009), für den ein anderes Drehbuch- und Regieteam verantwortlich war, hierüber hinwegsetzt. 121
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belung – bewusst für eine von zwei Möglichkeiten entscheidet und bei Nichterfolg zum Ausgangspunkt zurückkehrt, um ebenso bewusst die Alternative zu wählen, stehen Filmzuschauern solche Optionen nicht offen. Sie erleben passiv, wie der Film scheinbar willkürlich zwischen den Handlungssträngen hin und herschaltet. Dies birgt latent die Gefahr einer Desorientierung der Zuschauer in sich, und entsprechend wird in Sliding Doors auch deutlich markiert, in welcher der beiden Plotlinien man sich gerade befindet – etwa dadurch, dass sich Helen in der einen Handlung eine andere Haarfarbe zulegt. Das Problem der Desorientierung ließe sich jedoch kaum in den Griff kriegen, wenn es in einem Film nicht nur einen, sondern mehrere Verzweigungspunkte gäbe. Eine theoretische Lösung bestünde darin, mehrere Einzelfilme mit jeweils alternativen Handlungen zu drehen. Mit dieser Variante experimentierte 1993 Alain Resnais, als er Alan Ayckbourns Theaterstück Intimate Exchanges, das vier Verzweigungspunkte besitzt, in die beiden Filme Smoking und No Smoking aufteilte. Die Gesamtlaufzeit von 298 Minuten dieser Filme lässt aber schon erkennen, dass eine solche Vorgehensweise die Produktionskosten in kaum vertretbare Höhen treibt.10 5. Die Gefahr einer Desorientierung der Zuschauer wird deutlich geringer, wenn alternative Plotlinien nicht im Cross-cutting-Verfahren ineinander, sondern hintereinander montiert werden. Wie in einem klassischen Jump and Run Game scheitern die Figuren in solchen Filmen gewissermaßen bei der Bewältigung eines Levels und müssen dieses von vorne beginnen. Der wohl bekannteste Film aus dieser Kategorie ist Harold Ramis’ Groundhog Day (1993). Phil Connors, der Protagonist des Films, ist ein zynischer Misanthrop, den das Schicksal bestraft, indem es ihn immer wieder denselben Tag – oder, wenn man so will, dasselbe Level – durchleben lässt. Während einige feste Parameter wie der Handlungsort und die vorprogrammierten Verhaltensweisen der Nebenfiguren stets gleich bleiben, ist Phil in seinen individuellen Handlungsoptionen frei und ungebunden. So kann er im Trial-and-Error-Verfahren unterschiedliche Strategien ausprobieren, um bei seinen Mitmenschen positiver wahrgenommen zu werden, und entwickelt sich dadurch allmählich zu einem 10 | Zu beachten ist allerdings, dass alternative Szenen im Bonusmaterial vieler DVDs zugänglich gemacht werden. Hier eröffnet sich ein interessanter Untersuchungshorizont, der bisher nur rudimentär erforscht wurde. 122
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besseren Menschen. Anders gesagt: Nach dem Prinzip ›game over – restart‹ ermöglicht ihm die Kombination aus Wiederholung und Variation, das Level immer perfekter zu spielen, bis er die Aufgabenstellung schließlich meistert und das vorgegebene Ziel erreicht, am folgenden Tag aufzuwachen. Das Prinzip des ›game over – restart‹ wurde seither von zahlreichen Filmen aufgegriffen und findet sich unter anderem in 12:01 (1993), Retroactive (1997), Lola rennt (1998), The Butterfly Effect (2004) und 50 First Dates (2004). Die Zuschauer sind hierbei meist stärker involviert als in Filmen nach dem Sliding-Doors-Muster, da sie nicht nur vorgegebene Alternativen evaluieren, sondern aufgrund der Wiederholungsstruktur dazu animiert werden, sich in die Figur des Protagonisten hineinzuversetzen und kreativ eigene Handlungsoptionen zu entwerfen. 6. Eine dritte Kategorie bilden Filme, deren Handlung so intensiv von einem Spiel dominiert wird, dass die Grenzen zwischen Spielwelt und filmischer Diegese zerfließen und unkenntlich werden. Vergleichbar mit einem Palimpsest scheint die Spielstruktur gewissermaßen permanent durch die Handlungsstruktur hindurch. Typischerweise bleiben in diesen Filmen die Regeln des jeweiligen Spiels weitgehend unklar, oder das Spiel gerät außer Kontrolle, so dass schließlich nicht nur die Grenzen zwischen Spiel und Nicht-Spiel, sondern auch zwischen Realität und Imagination zerfließen. Zu diesen Filmen gehören David Finchers The Game (1997) und David Cronenbergs eXistenZ (1999). Der Protagonist von The Game, Nicholas Van Orton, bekommt von seinem Bruder zum Geburtstag einen Gutschein geschenkt, der ihn zur Teilnahme an einem ›Spiel‹ berechtigt, das ein Serviceunternehmen namens Consumer Recreation Services für seine Kunden veranstaltet. Ohne über die Regeln oder die Zielsetzung des Spiels aufgeklärt zu werden, erfährt Van Orton lediglich, dass das Spiel »eine tiefgreifende Lebenserfahrung« mit sich bringt. Kurz darauf beginnt Van Ortons Leben aus der Spur zu geraten. Während zunächst harmlose Missgeschicke seinen Alltag heimsuchen, steigern sich diese schon bald zu existenzgefährdenden und lebensbedrohlichen Attacken.11 Die Doppeldeutigkeit des Filmtitels verweist auf ein interpretatorisches Dilemma, denn ›game‹ kann sowohl Spiel 11 | Für eine ausführlichere Analyse des Films vgl. Jörg Helbig: »Open your eyes! Zur (Un-)Unterscheidbarkeit filmischer Repräsentationen von Realität und Traum am Beispiel von David Finchers The Game und Cameron Crowes Vanilla 123
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als auch gejagtes Wild bedeuten. Die Frage, die sich im Handlungsverlauf immer drängender stellt, lautet also, ob die Ereignisse, in die Van Orton verstrickt wird, authentisch sind und er tatsächlich an einem von seinem Bruder in Auftrag gegebenen Spiel teilnimmt oder ob das Spiel fingiert ist und Van Orton das Opfer eines raffiniert geplanten Verbrechens ist, mit dem Ziel, ihn um sein beträchtliches Vermögen zu betrügen. Obwohl die Auslegung, dass die makabren Vorkommnisse Teil eines kommerziell betriebenen Spiels sind, schon bald äußerst unwahrscheinlich wird, ist letztlich genau dies der Fall: Mit großem logistischen Aufwand wurden sämtliche Anschläge auf Van Orton von den Spielleitern inszeniert. In The Game wird also die komplette Dramaturgie des Films von einer Spielstruktur dominiert. Allerdings spricht vieles dafür, dass das Spiel nur in Van Ortons Einbildung stattfindet – zumindest lassen sich Traum und Realität in Finchers Film nicht eindeutig auseinanderhalten. Noch unauflösbarer verschwimmen die Ebenen von Spiel und Wirklichkeit in David Cronenbergs eXistenZ (1999). In diesem Film geht es um ein futuristisches Computerspiel, bei dem die Spielkonsole direkt mit dem Rückenmark des Spielers verbunden wird. Dies ermöglicht es den Usern, in die virtuelle Spielwelt einzutauchen, die weder von den Spielern noch von den Zuschauern verbindlich von der äußeren Realität unterschieden werden kann. Das selbstreflexive Spiel, das eXistenZ mit den sich überlagernden Wirklichkeitsebenen betreibt, mündet in der letzten Dialogzeile des Films in die unauflösbare Frage: »Are we still in the game?«
7. Neben den aufgezeigten Berührungspunkten von Filmen und Computerspielen gibt es selbstverständlich auch trennende Momente zwischen beiden Medien. Dies gilt vor allem für die unter dem Stichwort der Interaktivität zusammengefassten Steuerungsmöglichkeiten, die die User bei Games üblicherweise vorfinden. Das Angebot an die Rezipienten, die Handlung innerhalb gewisser Grenzen zu beeinflussen oder gar mitzugestalten, mithin eine der wichtigsten Attraktionen von Computerspielen (und anderen computerbasierten Formen wie fiktionalen Hypertexten), können andere Medien nur in sehr eingeschränktem Maß zur Verfügung stellen. Sky«, in: ders. (Hg.): Camera doesn’t lie. Spielarten erzählerischer Unzuverlässigkeit im Film, Trier: WVT 2006, S. 169–188. 124
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In der Literatur beispielsweise blieben die Cut-up-Experimente von Autoren wie William S. Burroughs oder Marc Saporta mehr oder weniger exotische und schwer konsumierbare Einzelphänomene, und auf der Theaterbühne betrieb Alan Ayckbourne mit seinem oben erwähnten Stück Intimate Exchanges letztlich Etikettenschwindel: Während das Publikum in den Glauben versetzt wurde, dass sich der Verlauf des Stücks an jedem Abend spontan und zufällig ergibt, war dieser in Wahrheit – aus naheliegenden arbeitsökonomischen Gründen – vorher abgesprochen. Was schon im Theater an die Grenzen des Machbaren stößt, verbietet sich im Rahmen einer viel kostenintensiveren Filmproduktion nahezu von selbst. Zwar gab es in den 1990er Jahren vereinzelte Versuche, das Publikum über den Fortgang einer Filmhandlung abstimmen zu lassen, diese verliefen jedoch aufgrund technischer Schwierigkeiten und notorischer Erfolglosigkeit im Sande. Ungeachtet der Konvergenzen, die den Film und das Computerspiel in vielerlei Hinsicht unstrittig miteinander verzahnt haben, werden beide Medien in absehbarer Zukunft ihre jeweiligen Charakteristika und damit ihre Eigenständigkeit bewahren. Die spannende Frage lautet daher nicht, ob Film und Computerspiel miteinander verschmelzen werden, sondern welches Medium das andere zukünftig dominieren wird. Filmografie Arcade, USA 1993; Regie: Albert Pyun; Drehbuch: Charles Band, David S. Goyer; Darsteller: Megan Ward, Peter Billingsley, John de Lancie, Sharon Farrell. Butterfly Effect, The, USA 2004; Regie und Drehbuch: Eric Bress, J. Mackye Gruber; Darsteller: Ashton Kutcher, Melora Walters, Amy Smart. eXistenZ, CAN/GB 1999; Regie und Drehbuch: David Cronenberg; Darsteller: Jennifer Jason Leigh, Jude Law, Ian Holm, Christopher Eccleston. 50 First Dates, USA 2004; Regie: Peter Segal; Drehbuch: George Wing; Darsteller: Adam Sandler, Drew Barrymore, Rob Schneider. Game, The, USA 1997; Regie: David Fincher; Drehbuch: John Brancato, Michael Ferris; Darsteller: Michael Douglas, Sean Penn, Deborah Unger. Groundhog Day, USA 1993; Regie: Harold Ramis; Drehbuch: Danny Rubin, Harold Ramis; Darsteller: Bill Muray, Andie MacDowell, Chris Elliott. 125
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Lola rennt, D 1998; Regie und Drehbuch: Tom Tykwer; Darsteller: Franka Potente, Moritz Bleibtreu, Herbert Knaup. Nirvana, IT/F/GB 1997; Regie: Gabriele Salvatores; Drehbuch; Pino Cacucci, Gloria Curica; Darsteller: Christopher Lambert, Sergio Rubini, Diego Abatatuono. Retroactive, USA 1997; Regie: Louis Morneau; Drehbuch: Michael Hamilton-Wright, Robert Strauss; Darsteller: James Belushi, Kylie Travis, Shannon Whirry, Frank Whaley. Sliding Doors, GB/USA 1998; Regie und Drehbuch: Peter Howitt; Darsteller: Gwyneth Paltrow, John Hannah, John Lynch. Tron, USA 1982; Regie und Drehbuch: Steven Lisberger; Darsteller: Jeff Bridges, Bruce Boxleitner, David Warner, Cindy Morgan. 12:01, USA 1993; Regie: Jack Sholder; Drehbuch: Richard Lupoff, Jonathan Heap; Darsteller: Jonathan Silverman, Helen Slater, Nicolas Surovy. WarGames, USA 1993; Regie: John Badham; Drehbuch: Lawrence Lasker, Walter F. Parkes; Darsteller: Matthew Broderick, Dabney Coleman, John Wood.
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Zur (inter)medialen Praxis des Fernsehens Mediale Felder, Macht, symbolisch-materielle Güter und Habitus – oder Bourdieu re-visited1 Jürgen E. Müller (Bayreuth)
1. Über das Fernsehen In der jüngeren Geschichte des sozial- und medienwissenschaftlichen Feldes finden wir nur wenige Vorträge, die einen derartigen Nachhall erfuhren wie Bourdieus Vorlesungen am Collège de France zur Struktur und Wirkung des Fernsehens, die intra-, multi- und intermedial in Fernsehen, Presse und in Buchform verbreitet wurden.2 In diesen Reflexionen zum »Fernsehstudio und seinen Kulissen« und zur »unsichtbaren Struktur und ihren Auswirkungen« setzt sich Bourdieu im Jahre 1996 kritisch mit den Zensurmechanismen, die in diesem Medium gelten, sowie mit dem Einfluss, den das Fernsehen auf zahlreiche künstlerische, literarische, philosophische und politische Diskurse nimmt, auseinander. Zweifellos scheinen diese Bemerkungen zur medialen Verteilung kulturellen oder journalistischen Vermögens auch nahezu eineinhalb Jahrzehnte später, im Zeitalter der ›digitalen Revolution‹, durchaus noch hilfreich; allerdings zeichnet sich Bourdieus Untersuchung der unterschiedlichen Mechanismen des Fernsehens nicht gerade durch eine sozial- oder medienwissenschaftliche Tiefenschärfe aus. Von zahlreichen Soziologen und Medienwissenschaftlern wurde ihm daher wohl zu Recht der Vorwurf gemacht, dass seine Kritik des Mediums und seine Warnungen vor der »großen Gefahr«, die vom Fernsehen »für verschiedene Sphären der kulturellen Produktion, für Kunst, Literatur, Wissenschaft, Philosophie, Recht«3 ausgehe, nur sehr platt und unscharf ausfielen, er sich in »moralisierenden Gemeinplätzen« verliere sowie über die allseits bekannten und seit Jahrzehnten wiederholten »Klagen über den Verfall der journalis1 | Sonja Schmid und Charles Nouledo (Bayreuth) sei herzlich für die redaktionelle und editorische Bearbeitung dieses Artikels gedankt. 2 | Pierre Bourdieu: Über das Fernsehen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998. 3 | Ebd., S. 4.
Jürgen E. Müller
tischen Sitten«4 nicht hinauskomme. Mit seinen Bemerkungen über das Fernsehen schöpft Bourdieu die Optionen seines eigenen theoretischen ›Universums‹ offensichtlich nur äußerst rudimentär aus und vernachlässigt zudem zahlreiche einschlägige Theorien und Ansätze der Kulturund Fernsehforschung, etwa der sogenannten Cultural Studies, die im internationalen wissenschaftlichen Diskurs der 1990er Jahre bereits eine entscheidende Rolle spielten.5 Wir vermissen daher unter anderem eine Analyse der vom Fernsehen initiierten Verwertungsprozesse des kulturellen und sozialen Kapitals ebenso wie Reflexionsansätze zu den Interaktionen zwischen medialen Feldern in der sogenannten ›Medienlandschaft‹, welche über die Beziehungen zwischen Journalismus, Presse und Fernsehen hinausgehen würden und das Fernsehen in breiteren und differenzierteren kulturell-funktionalen Zusammenhängen situieren würden. Angesichts der thematischen Schwerpunkte meines knapp bemessenen Artikels werde ich auf diese grundlegenden Fragen in Form einiger kurzer ›Statements‹ eingehen und eine ›dreiachsige Annäherung gegen den Strich‹ an Bourdieus Überlegungen zum Fernsehen vornehmen. Ich werde (a) Bourdieus Vorschläge zum Fernsehen gewissermaßen mit Aspekten aus seinem ›theoretisch-methodologischen und konzeptionellen Werkzeugkasten‹ anfüllen, (b) gegebenenfalls ergänzend weitere Konzepte von Theorien des Sozialen und Medialen heranziehen und (c) die Ergebnisse dieses Verfahrens in Relation zu Überlegungen des Intermedialen und der Frage der medialen Dominanz setzen. Bourdieus Bestandsaufnahme zum Fernsehen mit Blick auf deren Relevanz für die Intermedialitätsforschung und für die Frage der medialen Macht oder Dominanz abzuklopfen, erscheint in diesem Licht übrigens als eine nicht zu unterschätzende Herausforderung. Ich werde somit einige erste und vorläufige Perspektiven der Nutzbarmachung von Bourdieus Ansätzen für die Intermedialitätsforschung aufzeigen, die selbstverständlich nicht den Status eines kohärenten Systems besitzen, sondern bestenfalls heuristische Optionen markieren. Doch bewegen wir uns nun in einem ersten paradigmatischen Schritt auf die (inter)medialen Praxen des Fernsehens zu. Mit Hilfe eines kurzen vorwissenschaftlichen Blicks auf eine filmische Sequenz aus Levinsons Film Wag the Dog (1997) werde ich einen Fächer möglicher Mechanis4 | Vgl. dazu etwa Georg Franck: »Prominenz und Populismus. Zu Pierre Bourdieus Ökonomie des immateriellen Reichtums«, in: Berliner Debatte Initial 11 (2000) 1, S. 19–28, hier: S. 19. 5 | Vgl. dazu etwa John Fiske: Television Culture, London, New York: Methuen & Co 1987. 128
Zur (inter)medialen Praxis des Fernsehens
men oder Funktionsmuster des Fernsehens herausarbeiten, der uns als Impuls, Ausgangspunkt und – von Fall zu Fall – als ›aide-mémoire‹ für die anschließende Wiederannäherung an Bourdieus Band Über das Fernsehen dienen soll. 2. Zur (inter)medialen Praxis des Fernsehens, Bourdieu re-visited 2.1 Die Macht des Fernsehens und die Inszenierung von Macht
Dass audiovisuelle Medien nicht isoliert von Machtfragen und Prozessen der Machtausübung – etwa in Form von Dominanzansprüchen eines oder mehrerer Leitmedien oder in Form von Verfahren der Ausübung sozialer Macht – betrachtet werden können, gehört heutzutage zu den Gemeinplätzen sozial- und medienwissenschaftlicher Diskurse. Diese auf den ersten Blick banale Aussage lenkt uns bei näherer Betrachtung auf äußerst komplexe Phänomene und Prozesse, wenn wir uns beispielsweise mit dem ›Wesen‹ sozialer oder medialer Macht oder mit den Modalitäten von Machtausübung in (inter)medialen Zusammenhängen befassen wollen. Zweifelsfrei kommt dem Fernsehen als einem der privilegierten Orte, an dem seit circa sechs Jahrzehnten das Spiel verschiedener Diskurse der Moderne inszeniert wird, für das Miteinander und die Dominanzbildung der Medien eine besondere Rolle zu; es entfaltet seine historische Funktion im (poly- oder kakophonen) Zusammenspiel mit anderen modernen und klassischen Medien, etwa dem Radio, Video, Theater und den digitalen Medien. Bourdieu rückt in seinen Studien zum Fernsehen nun bewusst das »Wesentliche, das heißt das gesprochene Wort«, ins Zentrum seiner Untersuchung und meidet »alle formalen Spielereien bei Bildeinstellung oder Aufnahmetechnik« ebenso wie »Illustrationen« oder »Auszüge von Sendungen«, um die Linien seiner Beweisführung nicht zu verwischen.6 Gleichwohl spricht er unmittelbar im Anschluss an diese einleitende methodologische Bemerkung von der Relevanz des Bildcharakters, wie sie nicht zuletzt von Godard in seinen kritischen Reflexionen zur Fotografie betont wurde.7 In meinem Artikel werde ich – bei allem Respekt vor Bourdieus Art der Annäherung an das Fernsehen – auch Godards Perspektive der ›Medialität‹ des Fernsehens entsprechenden Raum zuweisen und die Bourdieu’sche Inkonsistenz ein wenig zu glätten versuchen. Eine Untersuchung der Tele-Vision unter Ausgrenzung des zentralen 6 | Bourdieu: Über das Fernsehen, S. 11. 7 | Vgl. ebd., S. 12. 129
Jürgen E. Müller
Moments der ›Vision‹ erweist sich nicht allein als über Gebühr komplexitätsreduzierend, sie wird vor allem dem (inter)medialen Charakter des Fernsehens und seinen Interaktionsfeldern zwischen zahlreichen Medien sowie zwischen den akustischen und ikonischen Kodes nicht gerecht. Auf die äußerst relevanten Funktionen von Bildern im sozialen und kulturellen Feld hatte etwa W. T. Mitchell in den 1990er Jahren deutlich hingewiesen.8 Es gilt, diese Funktionen oder ›Mechanismen‹ des Bilder und Töne produzierenden Dispositivs ›Fernsehen‹ nicht aus dem Blick zu verlieren. Um das ›Feld‹ dieses Artikels zu öffnen und um einen vorläufigen und ›vorwissenschaftlichen‹ Eindruck von möglichen Mechanismen und sozialen Funktionsprofilen des Fernsehens zu vermitteln, der unsere anschließenden theoretischen Bemerkungen justieren soll, werfen wir nun, wie bereits angekündigt, einen Blick auf eine Schlüsselsequenz aus Levinsons Wag the Dog. 2.2 Wag the Dog – oder eine Filmsequenz zum Einstieg
Der Inhalt von Wag the Dog lässt sich – bei aller Gefahr einer kruden Reduktion – wie folgt fassen: Der Präsident der Vereinigten Staaten wird kurz vor seiner Wiederwahl bei einem amourösen Abenteuer mit einer Pfadfinderin im Oval Office ertappt. Um die Öffentlichkeit von diesem schlagzeilenträchtigen ›Ereignis‹ abzulenken und um seine Wiederwahl zu sichern, setzen seine politisch-administrativen Mitarbeiter eine multimedial vernetzte Vertuschungsmaschinerie in Gang, die einen fiktiven Krieg der USA mit Albanien anzettelt und inszeniert. In diesem Handlungs- und Erzählkontext kommt dem Massenmedium Fernsehen eine herausragende Rolle zu, bildet es doch das Basismedium und die Voraussetzung für die Produktion sämtlicher (falscher) ›Nachrichten‹ und ›Medienereignisse‹. Der Film Wag the Dog zielt somit in intermedialer Weise9 auf die gesellschaftlichen und medialen Rollen des Fernsehens. Mit Blick auf die drei Frageachsen unseres Artikels erweist sich eine Schlüsselsequenz, in der eine analoge und digitale Konstruktion eines (fiktiven) Berichts aus dem 8 | Vgl. dazu William J. Mitchell: The Reconfigured Eye. Visual Truth in the Post-Photographic Era, Cambridge/Mass., London: The MIT Press 1992. 9 | Zu meinem funktional-historisch orientierten Verständnis des Konzeptes der Intermedialität vgl. etwa: Jürgen E. Müller: »Intermedialität und Medienhistoriographie«, in: Joachim Paech/Jens Schröter (Hg.): Intermedialität, München: Wilhelm Fink 2008, S. 31–46. 130
Zur (inter)medialen Praxis des Fernsehens
Abbildung 1: Barry Levinson: Wag the Dog – Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt, München: Concorde Home Entertainment 2003
Kriegsgebiet in Albanien erfolgt, als besonders illustrativ. Diese Sequenz (von ca. sieben Minuten Länge), die wir als die ›Flucht des albanischen Mädchens mit dem Kätzchen‹ bezeichnen wollen, soll nun als ›materielle Grundlage‹ einer heuristischen Perspektivierung dienen (Abbildung 1). 2.2.1 Journalistisches Feld und Medienmacht
Die mise-en-image10 des albanischen Mädchens auf der Flucht verweist im Medium ›Film‹ auf eine inszenierte und ›fingierte‹ Live-Berichterstattung des Fernsehens. Als Filmzuschauer nehmen wir an der Konstruktion einer ›Nachricht‹, wenn wir so wollen, an einer analogen und digitalen Konstruktion politischer und sozialer Wirklichkeit teil. Damit thematisiert diese Sequenz eine der fundamentalen medialen Eigenschaften des Fernsehens, welche bereits in dessen utopischen Entwürfen des 10 | Ich verwende diesen Begriff im Sinne von Karl Prümm: »Von der Mise en scène zur Mise en images – Plädoyer für einen Perspektivwechsel in der Filmtheorie und Filmanalyse«, in: Thomas Koebner/Thomas Meder (Hg.): Bildtheorie und Film, München: Verlag Edition Text + Kritik 2006, S. 15–35. Wir sollten mit Blick auf unsere Sequenz und ganz allgemein selbstverständlich auch die Rolle des Tons nicht vernachlässigen. In den Film- und Medientheorien sowie den korrespondierenden Untersuchungen wird dieser Aspekt leider nur allzu häufig ›unterschlagen‹. 131
Jürgen E. Müller
18. und 19. Jahrhunderts auftaucht: die journalistische Kriegsberichterstattung.11 Kriegshandlungen am fiktiven Kriegsschauplatz (der nicht ohne Grund in »Albanien«, das heißt in der für den amerikanischen Durchschnittsbürger geografisch nicht lokalisierbaren Ferne beziehungsweise im ›Niemandsland‹ liegt) werden gezeigt beziehungsweise nicht gezeigt. In unserer Sequenz spielt übrigens der aus digitalen Archivkonserven eingemischte Ton (Schreie des Mädchens und Sirenengeheul) eine entscheidende Rolle zur emotionalen Aufladung der Botschaft. Die filmische Repräsentation der Nachrichtenkonstruktion und späteren TV-Ausstrahlung vermittelt – im Bourdieu’schen Sinne – einen Eindruck von der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel,12 von der Bedeutung und gesellschaftlichen Relevanz des journalistischen Feldes sowie von dessen Überschneidung oder Interferenz mit weiteren (politisch-ökonomischen) Feldern.13 2.2.2 Fernsehen und Habitus
Der ›Wert‹ dieser ›Nachricht‹ korreliert mit dem unstillbaren Hunger der Zuschauer nach Live-Bildern, aber auch mit Einflussnahmen von Seiten 11 | Jürgen E. Müller: »Tele-Vision als Vision. Einige Thesen zur intermedialen Vor- und Frühgeschichte des Fernsehens (Charles François Tiphaigne de la Roche und Albert Robida)«, in: Ernest W.-B. Hess-Lüttich (Hg.): Autoren, Automaten, Audiovisionen. Neue Ansätze zur Medienästhetik und Telesemiotik, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2001, S. 187–208. 12 | Vgl. Bourdieu: Über das Fernsehen, S. 106. 13 | Ebd. Die Frage der Interferenzen zwischen verschiedenen (›externen‹) Faktoren oder Feldern in und mit einem ›primären‹ Feld stellt sich in der Tat als ein Hauptproblem von Bourdieus theoretischem Entwurf dar. Vgl. dazu die treffenden Kommentare von Joseph Jurt in seinem Band Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 88 ff. Die sogenannte »Autonomie« eines Feldes kann durchaus in Analogie zu einer Grundfrage der intermedialen Forschungsachse (bei der wir uns mit dem Oszillieren von Medien und medialen Produkten zwischen einer ›medialen Reinheit‹ beziehungsweise ›Autonomie‹ und einer ›intermedialen Hybridisierung‹ oder, pejorativ gesprochen, ›Verschlampung‹ auseinanderzusetzen haben) nur in einem Spannungsverhältnis zum Pol zahlreicher kopräsenter (Kräfte-)Felder gedacht werden. Damit stellt sich das Problem, inwieweit die Kräfte der Interferenzen durch das dominante Feld nur »vermittelt« (Bourdieu) oder eben doch ›gebrochen‹ werden. Vgl. zu dieser Frage auch den Artikel von Pierre Bourdieu: »Champ intellectuel et projet créateur«, in: Les Temps Modernes 246 (November 1966), S. 865–906. 132
Zur (inter)medialen Praxis des Fernsehens
der medialen und politischen Machthaber auf die Produktion und Produktionsbedingungen von Sendungen. Wenn wir ›das Fernsehen‹14 in einer multi- und intermedialen Perspektive vor dem Hintergrund von Bourdieus theoretischem Universum betrachten, so konstituierten sich dessen ›Wert‹ und Funktion vor dem Hintergrund eines gesellschaftlich etablierten und sozial differenzierten Habitus15 im Umgang mit verschiedenen konkurrierenden, sich überlagernden oder sich ergänzenden Medien unserer modernen Medienlandschaft. Sogenannte ›Medienprofile‹ stehen in Interaktion mit habitualisierten Nutzungsformen und Erwartungshaltungen an die jeweiligen Medien. Dieser historisch ausgeprägte Habitus oder ›Hunger nach Live-Bildern‹ führte etwa im letzten IrakKrieg zum Typ und Funktionsträger des Embedded Journalist als eine (mehr oder weniger neue) Kategorie der Berichterstattung und kontextgesteuerten Einflussnahme auf den Inhalt der Bilder sowie auf die Kommentare zu den Bildern. Der Habitus der Zuschauer bildet den gesellschaftlichen Hintergrund unserer paradigmatischen Filmsequenz des Mädchens mit der Katze. Dort verweist die Konstruktion einer fiktionalen und von digitalen Verfahren affizierten Nachricht (die zunächst aufgenommene ›reale‹ Chipstüte wird durch ein ›digitales‹ Kätzchen ersetzt) auf das Zusammenspiel von Nachrichteninhalt und -form mit dem Habitus von Fernsehzuschauern. 2.2.3 Television und Kräftefelder – oder die Ökonomie symbolischer und materieller Güter
Der Bericht vom Kriegsgeschehen wird von zahlreichen genrespezifischen frames16 und Merkmalen, zum Beispiel der (dramatisch-)theatralen Bewegung durch den Raum, der Präsentation von Identifikationsfiguren (Mädchen und Katze) etc. geprägt. Diese Rahmungen stehen in 14 | Die Anführungszeichen sollen darauf hinweisen, dass wir vom ›Fernsehen‹ nur als einem historischen Konstrukt sprechen können, welches in unseren Tagen einen dramatischen Wandel erfährt. 15 | Mit dem Konzept des ›Habitus‹ liefert Bourdieu in der Tat einen Denkanstoß, der zweifellos auch für eine funktionshistorisch orientierte Intermedialitätsforschung fruchtbar gemacht werden kann, die ohne ein soziales und funktionales Korrelat nicht zielführend betrieben werden kann. Zur Relevanz der Kategorie des ›Habitus‹ für literaturhistorische Forschung vgl. Jurt: Das literarische Feld, S. 79 ff. 16 | Vgl. Erving Goffman: Frame Analysis, Boston: Northeastern University Press 1986. 133
Jürgen E. Müller
Beziehung zu den Gesetzen einer globalen Ökonomie,17 die nicht allein mediale und gattungsspezifische, sondern auch politisch-soziale Felder umfasst. Damit lenkt die Sequenz unseren Blick auf die symbolische und materielle Relevanz von Nachrichtenformaten (mit mehr oder weniger fiktionalem Inhalt). 2.2.4 Sehrohstoffe, Intermedialitäten, Referenzen und Wirklichkeitscharakter
Die repräsentierte Nachricht vom ›albanischen‹ Mädchen orientiert sich an der Notwendigkeit referenzieller Hinweise auf den Wirklichkeitscharakter ihrer simulierten Sehrohstoffe – dies zum Beispiel in Form spezifischer simulierter Verortungen von Kriegshandlungen und Kriegsschauplätzen in Albanien sowie des Live- (das heißt des verschwommenen und verwackelten) Bildcharakters der Nachricht. Sie spielt mit der Macht und Dominanz spezifischer medialer und gattungstypischer Verfahren und macht sich diese zunutze. In der Sequenz (Abbildung 2) wird ein ›Imago‹ eines fiktiven Krieges gegen Albanien kreiert, welches die in Jahrzehnten sedimentierten televisuellen Kriegsbilder unseres kollektiven Unbewussten recycelt und dem Zuschauer Leerstellen zu gewünschten Sinnbildungsoptionen lässt. Das Leitmedium Fernsehen und dessen Kriegsinszenierungen fungieren in Wag the Dog zudem als Katalysator für einen Fächer weiterer (inter)medialer mises-en-images und mises-en-scène, der sich vom (mit einer künstlichen historischen Patina versehenen) patriotischen Veteranenlied bis zur T-Shirt-Produktion erstreckt. Verwenden wir nun einige aus unserem filmischen Paradigma ›herausdestillierte‹ zentralen Aspekte der ›Television‹ als Leitfaden einer Betrachtung von Bourdieus theoretischen und kritischen Anmerkungen zum Fernsehen. 2.3 Fernsehen, Macht und Medien
Bourdieu äußert sich in seinen Schriften zum Fernsehen eher implizit zu dessen Macht (abgesehen von seinen Hinweisen auf die »Position im Raum« von Zeitschriften und die daraus resultierende Macht oder auf 17 | Vgl. dazu Joseph Jurt: »Autonomie der Literatur und sozialgeschichtliche Perspektive«, in: Boike Rehbein/Gernot Saalmann/Hermann Schwengel (Hg.): Pierre Bourdieus Theorie des Sozialen. Probleme und Perspektiven, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2003, S. 97–115, hier: S. 99. 134
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Abbildung 2: Barry Levinson: Wag the Dog – Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt, München: Concorde Home Entertainment 2003
den Einfluss medienökonomischer Aspekte auf wissenschaftliche Diskurse); er weist indes mit aller Deutlichkeit darauf hin, dass sich das Fernsehen in einer Konkurrenzsituation zu den anderen Medien (im Feld des Journalismus vor allem zur Presse) befindet.18 Wir haben daher seines Erachtens von einer dominanten Rolle des Fernsehens im journalistischen Feld auszugehen. Mit der Entwicklung der sogenannten digitalen Medien und insbesondere des Web 2.0 stellt sich heute – mehr als ein Jahrzehnt nach seinen kritischen Bemerkungen – allerdings die Frage, ob sich die Position und die Macht der Television im medialen Raum inzwischen nicht grundlegend geändert hat. Bevor wir uns in einem nächsten Schritt detaillierter mit diesem Aspekt der Dominanz des Mediums Fernsehen in einem spezifischen Feld befassen, sollten wir einen knappen Exkurs zur geschichtsbildenden Macht der Nachrichten und der Medien unternehmen,19 wobei Bourdieus Reflexionen kurz in den Horizont unserer Argumentation rücken werden. 18 | Vgl. Bourdieu: Über das Fernsehen, S. 56 ff. Bourdieu befasst sich dort mit der Frage der »Marktanteile und Konkurrenz«. 19 | In diesem Abschnitt greife ich einige Gedanken aus folgendem Artikel auf: Jürgen E. Müller: »Geschichtsbilder im Kino. Perspektiven einer Semiohistorie der Audiovisionen«, in: Medienwissenschaft 4 (1998), S. 406–423. 135
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Geschichte und Geschichten entstehen im Zeitalter der analogen und digitalen Medien nicht mehr primär aus schriftlich fixierten Zeugnissen oder Quellen, sondern aus audiovisuellen, auch digital generierten, Repräsentationen. Die zunehmende Bedeutung des Digitalen lässt sich in unseren Tagen etwa aus der digitalen Umstellung und Umgestaltung von Nachrichtenformaten ersehen. Das ZDF hat unlängst das heute journal komplett auf eine digitale Produktionsplattform gestellt. Diese Umstellung führt nicht allein zu einer (nicht immer gelungenen) grafischdigitalen Darstellung und ›Didaktisierung‹ zahlreicher Nachrichten-Hintergründe im Bereich technisch-sozialer Abläufe, sondern auch zu neuen Wahrnehmungsmustern von Nachrichten und somit zu Veränderungen des Habitus des Zuschauers. Diese Digitalisierungsprozesse haben eine Veränderung der Position des Fernsehens im Medienfeld und im Feld des Journalismus zur Folge. Digitale Nachrichten befinden sich heutzutage in Konkurrenz- und Wettbewerbsverhältnissen mit Blick auf die Deutungshoheit unzähliger Bilder und Töne, die in anderen Medien und Kanälen, etwa dem I-Phone, den Twitter-Chats, aber auch in Games zirkulieren. Dieser mediale Wettbewerb oder Konkurrenzdruck manifestiert sich zum Beispiel in digital (re)konstruierten Sensationsmeldungen der Nachrichten unserer privaten Sendeanstalten. In den RTL2-Nachrichten sehen wir häufig digitale ›re-stagings‹ von Flugzeugunglücken, die uns als Zuschauer in einer subjektiven ›Kamera‹-Perspektive bis kurz vor dem Crash im Flugzeug positionieren und sich somit in großer Nähe zu den sogenannten Immersionsperspektiven und -mustern der Video-Games befinden. Unsere zeitgenössischen Geschichten über Kriege (in Wag the Dog die Geschichten über den fiktiven Krieg zwischen den USA und Albanien), über Terror, Terroranschläge und Revolutionen sind nahezu durchgehend von derartigen digitalen Bildern und Tönen kontaminiert und von diesen konstituiert. Anhand unseres Beispiels eines digital geschaffenen Kriegsszenarios mit seinem Machtanspruch einer referenziellen Funktion20 können wir nachvollziehen, wie Geschichte(n) aus audiovisuellen Repräsentationen entsteht (entstehen). Dieser Sachverhalt bildet einen der grundlegenden Faktoren der geschichtsbildenden Macht des Fernsehens. Audiovisionen stehen in komplexen Interaktionen und Beziehungsgeflechten mit anderen Medien. Sie befinden sich in vielfältigen medialen Transformationsprozessen; Geschichten sind daher allein als intermedi20 | Vgl. dazu die zentralen Thesen in William J. Mitchell: The Reconfigured Eye. 136
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ale präsent. Für uns bedeutet dies, dass wir die Zirkulation von Zeichen in verschiedenen medialen Systemen und deren Einfluss auf historische Sinnbildungen nicht aus den Augen verlieren dürfen und unsere Untersuchungen somit nicht auf die von Bourdieu bevorzugte Ebene des gesprochenen Wortes reduzieren sollten. ›Medientexte‹ verändern fortwährend ihre Gestalt und werden in andere mediale Kontexte transformiert; in unserem Filmbeispiel Wag the Dog erfährt die simulierte Nachricht – entsprechend den Marktgesetzen – anschließend in Form eines Songs oder eines T-Shirt-Aufdrucks ein multi- und intermediales Recycling. Das Voranschreiten der Digitalisierungsprozesse und deren Möglichkeiten haben einen entscheidenden Anteil an dieser Entwicklung. Die Rolle der jeweiligen ›intermedialen Gestalt‹ für die Konstruktion von Geschichtsbildern und das making of meaning des Rezipienten werden im geschichts- und medienwissenschaftlichen Diskurs leider immer noch unterschätzt. Heute sind unzählige Geschichten und Geschichtsbilder permanenten medialen Umwälzungen unterworfen, die bestimmte historische Themen in scheinbar immer ›neuen‹ medialen Formen re-präsentieren. Dabei findet nicht allein eine Überlagerung verschiedener historischer Schichten der Geschichte(n), sondern auch verschiedener Medien und deren dispositiver Operationen21 statt. Historisch und intermedial relevant ist in diesem Zusammenhang weniger der kontextuelle, referenzielle und intertextuelle Sachverhalt, dass mit bestimmten Elementen gegebenenfalls simulierter ›Ursprungsereignisse‹ gespielt wird, um Geschichten oder Mythen zu evozieren, sondern vielmehr die Frage, welchen Beitrag mediale Brüche, intermediale Transformationen und Fusionen zur Konstitution eines fiktiven Krieges zwischen den USA und Albanien liefern. Die verborgenen und zu rekonstruierenden Bedeutungen lassen sich nicht unabhängig von den jeweiligen intermedialen Prozessen und Repräsentationen der Audiovisionen bestimmen. Oder anders gesagt, die mentalitätshistorischen Funktionen hängen auch von den jeweils gegebenen Vernetzungen unterschiedlicher Medien, von deren Interaktionen und von deren Macht zur Rekontextualisierung ab. Unter dieser Perspektive wäre – in Fortsetzung von Bourdieus Kommentaren zum Konkurrenzverhältnis der Medien im Feld – freilich nicht allein die Frage eines journalistischen, sondern vor allem auch eines medialen 21 | Im Sinne von Jean-Louis Baudry: L’effet cinéma, Paris: Éditions Albatros 1978. 137
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Paragone zu stellen. In diesem (post?)modernen Paragone gäbe es indes nicht allein einen Wettstreit innerhalb eines einzelnen medialen Feldes, sondern fänden Prozesse (inter)medialer Überlagerungen, Abgrenzungen und Dominanzen zwischen mehreren Feldern statt. Daher werfen wir nun einen Blick auf das Fernsehen im ›medialen Kräftefeld‹. 2.4 TV und symbolisch-ökonomische Kräftefelder der Medien
Bourdieu definiert das Konzept des ›Feldes‹ bekanntlich wie folgt: »Ein Feld ist ein strukturierter gesellschaftlicher Raum, ein Kräftefeld – es gibt Herrscher und Beherrschte, es gibt konstante, ständige Ungleichheitsbeziehungen in diesem Raum – und es gibt auch eine Arena, in der um Veränderung oder Erhaltung dieses Kräftefeldes gekämpft wird. In diesem Universum bringt jeder die (relative) Kraft, über die er verfügt und die seine Position im Feld und folglich seine Strategien bestimmt, in die Konkurrenz mit den anderen ein.«22
Auf den ersten Blick weist diese Bestimmung des Konzepts des Feldes eine Reihe von Parallelen zum Luhmann’schen Systembegriff auf, die wir hier allerdings nicht weiter verfolgen wollen.23 Für unsere Frageachsen scheint indes der Sachverhalt, dass Felder von »Macht, Kapital, Kraftverhältnissen, Strategien und Interessen«24 bestimmt werden, von besonderer Relevanz. »Felder« bilden ›Mikrokosmen‹ mit jeweils spezifischen Regeln und zielen – auf der Grundlage globaler symbolischer und materieller ökonomischer Prozesse – auf das Erlangen einer größtmöglichen Autonomie. In Bezug auf die thematischen Schwerpunkte unserer Überlegungen zu Bourdieus Reflexionen zum Fernsehen und zu deren möglichen Beziehungen zu (inter)medialen Prozessen gilt es hinsichtlich der Kräftefelder des Fernsehens (und anderer Medien) resümierend festzuhalten: – Die mehr oder weniger autonomen Mikrokosmen befinden sich in Spannungszuständen oder -prozessen (das heißt in Anziehungsoder Abstoßungsreaktionen) zu anderen Medien und sind einem umfassenderen ›Ganzen‹ zuzuordnen. 22 | Bourdieu: Über das Fernsehen, S. 57. 23 | In Soziologenkreisen wird moniert, dass Bourdieus Vorschlag nicht hinreichend theoretisch verankert werde, in einer eigenartigen Zwischenlage im Spannungsfeld von empirischer oder theoretischer Orientierung verharre und keine theoretische Analyse der Verwertungsmechanismen leiste, die hinter der Manipulation und dem Populismus der Massenmedien stecken. 24 | Jurt: »Autonomie der Literatur und sozialgeschichtliche Perspektive«, S. 98. 138
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– Diese wechselseitigen Einflussnahmen verschiedener Felder implizieren etwa für das Fernsehen, dass es sich in einer intramedialen oder internen Konkurrenzsituation zu anderen Sendern und einer externen Konkurrenzsituation zu anderen Medien, im Bereich des Journalismus insbesondere zur Presse befindet. – Im Laufe der letzten Jahrzehnte ist es dem Fernsehen gelungen, eine dominante Position im Medienfeld oder im journalistischen Feld zu erobern, die gegenwärtig starken Erosionstendenzen durch das Web 2.0 und weiteren ›digitalen Medien‹ ausgesetzt ist. Der Stellenwert und die Position des Fernsehens gründen vor allem auf dessen Fähigkeit, Einfluss auf die Medienlandschaft und auf andere Medien zu nehmen. Dieser Einfluss lässt sich zum Beispiel an den zahlreichen Remediationen25 televisionärer Formate und Inhalte erkennen. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen wird deutlich, dass wir im Bourdieu’schen Sinne die sogenannte Intermedialität des Fernsehens nur vor dem Hintergrund von dessen Position im Feld und von dessen Machtausübung untersuchen und rekonstruieren können. In diesem medientheoretischen Zusammenhang wären allerdings noch zwei kritische und ergänzende Anmerkungen zu tätigen: a) Im Gegensatz zu Bourdieus Annahme sollten wir uns dessen bewusst bleiben, dass Mediengrenzen oder die Grenzen ›medialer Felder‹ nicht klar ›definierbar‹ sind. Trotz aller Autonomiebestrebungen, der Errichtung von spezifischen Normen oder (sozialen) »Eintrittspreisen«26 lassen sich deren Grenzen sinnvollerweise allein als komplexe, historisch variable, osmotische Bereiche, nicht jedoch als Demarkationslinien autonomer Felder fassen. Dies würde an die Stelle von klar umrissenen impermeablen medialen Feldern und Formen (inter)mediale Interaktionen zwischen Medien setzen, deren Grenzlinien verschwimmen, wie wir es derzeit am 25 | Der Begriff der ›Re-Mediation‹ zielt auf Prozesse, die sich zwischen verschiedenen Medien und Medien-Netzwerken ereignen: »Each act of mediation depends on other acts of mediation. Media are continually commenting on, reproducing, and replacing each other, and this process is integral to media. Media need each other in order to function as media at all.« (Jay David Bolter/Richard Grusin: Remediation. Understanding New Media, Cambridge/Mass., London: MIT 5 2002, S. 55.) Wie bereits in Anmerkung 13 erwähnt, wäre dieses (intermediale) Konzept in Beziehung zu Bourdieus Vorstellungen der Autonomisierungstendenzen einzelner medialer Felder (etwa des literarischen Feldes) zu setzen. 26 | Bourdieu: Über das Fernsehen, S. 92 ff. 139
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Beispiel des ›Webauftritts‹ des Fernsehens und zahlreicher televisueller Formate (nicht allein der journalistisch geprägten Nachrichtensendungen) sehen können. b) Unter der Voraussetzung, dass diese Überlegungen zutreffen, würde dies auch die Notwendigkeit einer Transformation der primär zweidimensional angelegten theoretischen Konzepte und Modelle Bourdieus in eine dritte Dimension nahelegen. Mit anderen Worten: Intermedial orientierte Medienanalysen hätten dem Sachverhalt Rechnung zu tragen, dass sich die ineinander verschachtelten (und zu Analysezwecken und zur Komplexitätsreduktion mehr oder weniger ›eindeutig‹ voneinander zu trennenden) medialen Felder nicht allein in isolierten Prozessen des Strebens nach Autonomie, Dominanz oder Monopolstellungen, sondern gleichzeitig in permanenten Prozessen der Erosion und – wenn wir so wollen – der Hybridisierung befinden. Unser Beispiel aus Wag the Dog hat gezeigt, dass die Macht des journalistischen Feldes die Macht von Politik, Rechtssprechung, Kultur und sozialen Wirklichkeitskonstruktionen suspendieren oder zumindest reduzieren kann. Die Dominanz des Fernsehens wäre in diesem Sinne als eine Dominanz in Interaktion und Überlagerung mit verschiedenen Feldern aufzufassen, welche nicht zuletzt das televisuelle Recyceln von Genres und korrelierenden Handlungsmustern der Zuschauer, Bildern und Tönen impliziert. Aus einer intermedialen Perspektive stellt sich selbstverständlich die Frage, was mit diesen Elementen geschieht, wenn sie in den Kontext der Television oder gar des rapide wachsenden Web 2.0 eingerückt werden.
2.5 Fernsehen, soziales Handeln und Habitus
Der Begriff des ›Habitus‹ erweist sich zugleich als einer der zentralen, aber auch umstrittensten Termini in Bourdieus (handlungs)theoretischem Universum. Für Bourdieu ist der Akteur ein Produkt seines Habitus, der seinerseits sozial strukturiert und ein Ergebnis des modus operandi wie des opus operatum ist. »Der Habitus ist Erzeugungsprinzip objektiv klassifizierbarer Formen von Praxis und Klassifikationssystem (principium divisionis) dieser Formen. In der Beziehung dieser beiden den Habitus definierenden Leistungen: der Hervorbringung klassifizierbarer Praxisformen und Werke zum einen, der Unterscheidung und Bewertung der Formen und Produkte (Geschmack) zum anderen, kon140
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stituiert sich die repräsentierte soziale Welt, mit anderen Worten der Raum der Lebensstile.«27
Somit bestimmt der Habitus und nicht das Bewusstsein des Handelnden die soziale Praxis. Diese Vorschläge stießen in Soziologie und Sozialphilosophie auf mancherlei – durchaus begründete – Kritik in Form des Hinweises auf die daraus resultierende methodologische Sackgasse, dass der ›Habitus‹ als eine Setzung die Gesamtheit sozialer Strukturen ohne Einbeziehung des menschlichen Bewusstseins voraussetze oder dass ein Zwischenschritt zur Anbindung subjektiver Einzelhandlungen an den Habitus zu erfolgen habe.28 Mit Blick auf unsere intermediale Frageperspektive scheint der Aspekt einer »Theorie der Praxis als der im Leib sedimentierte Handlungseffekt oft wiederholter Handlungen«29 allerdings durchaus bedenkenswert. Mediales Handeln wäre demzufolge an einen spezifischen Habitus des Umgangs mit intermedialen Prozessen oder Produkten zu koppeln, der sich in wiederholten Begegnungen mit den medialen Erscheinungen oder Formaten herausgebildet hat. Wie wir in unserer exemplarischen Sequenz des Mädchens mit der digital konstruierten Katze sehen konnten, orientieren sich Fernsehproduktion und -rezeption längst an Spielformen habitualisierter (aber durchaus einem historischen Wandel unterliegender) Handlungsmuster, die sie zur Wertschöpfung der symbolischen und materiellen Werte des Mediums einsetzen. Eine historische Rekonstruktion dieser Begegnungen und ihrer sozialen Funktionen mit einem besonderen Augenmerk auf Phasen des Umbruchs in der Medienlandschaft oder des Medienwandels wird uns ein besseres Verständnis der Wechselwirkungen, Überschneidungen und Überlagerungen zwischen sozialen, kulturellen, technologischen und ästhetischen Feldern erlauben und letztendlich ermöglichen, ihre Funktionsprofile herauszuarbeiten – Profile, die ein breites Spektrum von Handlungsweisen seitens der Rezipienten/User umfassen, die von der 27 | Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede, Frankfurt am Main: Suhrkamp 3 1984, S. 277 f., Hervorhebungen im Original. 28 | »Da strukturierte Produkte (opus operatum) derselben strukturierenden Struktur (opus operandi), von dieser hervorgebracht durch Rückübersetzungen entsprechend der spezifischen Logik eines Feldes, sind die Praxisformen der Werke eines Akteurs fern jedes absichtlichen Bemühens um Kohärenz in objektivem Einklang miteinander und fern jeder bewussten Abstimmung auch auf die Praxisformen derselben Klasse objektiv abgestimmt. Der Habitus erzeugt fortwährend praktische Metaphern« (ebd., S. 281). 29 | Ebd. 141
Jürgen E. Müller
mehr oder weniger individuellen, persönlichen, ästhetischen Erfahrung des Einzelnen bis hin zu Formen habitualisierter Handlungs- und Verhaltensweisen von Individuen oder sozialen Gruppen reichen können. 3. Realitätsentwürfe und Medienkonkurrenz oder Medienkonvergenz Die Konkurrenz oder Konvergenz zwischen verschiedenen medialen oder journalistischen Feldern30 impliziert – wie wir am Auszug aus Wag the Dog sehen konnten – auch einen Wettbewerb um die Repräsentation oder Konstruktion unterschiedlicher Realitätsentwürfe. Dem sogenannten dokumentarischen oder gar ›wirklichkeitsabbildenden‹ Charakter von Fernsehnachrichten kommt in diesem Zusammenhang eine entscheidende Funktion zu. Er gestattet dem Zuschauer, mit Roger Odin gesprochen, seine Begegnung mit dem audiovisuellen Material im mode documentarisant31 zu justieren und zu strukturieren. Dieser Modus bildet zweifellos eine der Grundlagen des Live-Charakters des Dispositivs ›Fernsehen‹ und von dessen Faszinationskraft auf den Zuschauer. Das audiovisuelle ›Fenster zur Welt‹ setzt eine derartige Vorzugsbeziehung zu unserer ›Realität‹ mit all ihren Facetten voraus. Vor dem Hintergrund von Bourdieus Exposé zur Konkurrenz zwischen den journalistisch-medialen Feldern ließe sich diese Spannung nun auch als Wettstreit um den referenziellen und Live-Status von Formaten und Nachrichten lesen. Wie uns Baudrillard verdeutlichte,32 werden in unseren medial geprägten Zeiten nur diejenigen Prozesse oder Entwicklungen zu Fakten, die sich zeichenhaft – als simulacrum – in der audiovisuellen Landschaft, insbesondere im Fernsehen, präsentieren. In diesem Licht gesehen manifestierte sich die dominante Rolle des Fernsehens nicht zuletzt in dessen scoops (Exklusivmeldungen), dessen Bilderund Töne verschlingender Macht der Live-Berichterstattung, der breaking news und in seinen Recyclings. 30 | Vgl. dazu Jürgen E. Müller: »Mediale Recyclings und Re-Mediationen im digitalen Zeitalter – zur Auflösung des ›Werk‹-Begriffs«, in: Jörg Gundel/Peter W. Heermann/Stefan Leible (Hg.): Konvergenz der Medien – Konvergenz des Rechts?, Jena: Jenaer Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 2009, S. 19–30. 31 | Roger Odin: »Sémio-pragmatique du cinéma et de l’audiovisuel. Modes et institutions«, in: Jürgen E. Müller (Hg.): Towards a Pragmatics of the Audiovisual. Theory and History, Bd. I, Münster: Nodus 1994, S. 33–46. 32 | Jean Baudrillard: Simulacra and Simulation, Ann Arbor: The University of Michigan Press 1981. 142
Zur (inter)medialen Praxis des Fernsehens
Wie uns unser Beispiel aus Wag the Dog zeigte, erfährt diese Macht durch die Verquickung von digital-virtuellen und abbildenden Verfahren eine neue Dimension, welche die Kräfte zwischen dem Fernsehen und anderen politischen, sozialen und kulturellen Feldern zugunsten des Fernsehens verschiebt. Aus dieser Perspektive betrachtet, würde das intermediale Einverleiben anderer Medien oder Formate und die Zunahme selbstkonstruierter digitalisierter ›Nachrichten‹ durch das Fernsehen zu einer weiteren Verschiebung gesellschaftlicher Kräftefelder führen. Das Fernsehen würde somit Realitätsentwürfe generieren, die seine Bedürfnisse nach medialer Dominanz befriedigen und dem Zuschauer korrespondierende Handlungsschemata suggerieren, wobei es sich in intensivierten Prozessen medialer Interaktion und Konkurrenz mit dem Web 2.0 befindet. 4. Ein Wort zum Schluss Dieser erste und rudimentäre Streifzug durch Bourdieus medientheoretisches Universum sollte unseren Blick für das Spannungsverhältnis zwischen medialen Konvergenzen und medialen Dominanzen schärfen. Bevor wir uns mit den gefundenen Zwischenergebnissen zufriedengeben, müssen wir uns allerdings in Erinnerung rufen, dass uns das mediale Feld des Web 2.0 mit neuen Herausforderungen konfrontiert, welche die angedeuteten intermedialen Kräfte- und Machtfelder auf eine digitale Probe stellen. Als Medien- und Kulturwissenschaftler haben wir uns diesen Herausforderungen zu stellen.
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Werbung und die Künste Parasitäre, symbiotische und paragonale Intermedialität Winfried Nöth (Kassel)
1. Kunst, Werbung, Medien und die Intermedialität Vorausgeschickt sei, was mit den drei Beziehungen zwischen den Medien Werbung und Kunst gemeint sein soll, die das Thema dieses Beitrages sind: Mit der ersten, der Beziehung des Parasitismus, ist gemeint, dass eines der beiden Medien das andere zum eigenen Vorteil, aber zum Nachteil des anderen nutzt, während die zweite, die Beziehung der Symbiose, eine Beziehung der gegenseitigen Nutznießung beschreibt. Das Epitheton ›paragonal‹, welches die dritte Art der Beziehung zwischen der Werbung und den Künsten charakterisieren soll, knüpft an den Paragone-Topos, den Topos vom Wettstreit der Künste in der Poetik und der Kunsttheorie der Renaissance an. Im Kontext dieses Aufsatzes ist mit der paragonalen Beziehung zwischen den beiden Medien in Anlehnung an diesen Topos eine Beziehung des Wettstreits um das kulturelle Ansehen des einen Mediums im Vergleich zum anderen gemeint. Die Frage danach, welche Beziehungen Kunst und Werbung verbinden, wird nicht zu eindeutigen Antworten führen, nicht nur weil es wohl ebenso viele Formen der Kunst wie Stile der Werbung gibt, sondern vor allem auch deshalb, weil es fließende Übergänge zwischen den beiden Medien gibt. Bevor diese Frage aber genauer untersucht werden kann, soll in diesem ersten Abschnitt zunächst geklärt werden, inwiefern die Beziehung zwischen Kunst und Werbung überhaupt als ›intermedial‹ bezeichnet werden darf, setzt doch diese Bezeichnung voraus, dass Kunst und Werbung Medien sind, was durchaus nicht immer so gesehen wird. Werbung und Kunst sind keine Medien im technischen Sinn. Sie stehen nicht in einer Reihe mit Medien wie Zeitung, Rundfunk oder Fernsehen, Massenmedien also, die zuerst durch die Technologie ihrer Verbreitungswege gekennzeichnet sind. Werbung wird über alle diese Massenmedien verbreitet. Die visuellen Künste hingegen sind keine Massenmedien, aber sie werden über viele technische Medien vermittelt,
Winfried Nöth
denn Kunst ist nicht nur Malerei, Skulptur oder Installation, sondern sie findet auch durch technische Medien wie Fotografie, Druckgrafik, Buch (als Buchkunst), Film, Video oder Internet Verbreitung. Auch wenn sie keine technischen Medien sind, werden Werbung und die Künste doch als Medien bezeichnet. Der Ausdruck »Medium Werbung« ist derzeit beispielsweise allein auf deutschen Internetseiten etwa 1750 Mal zu finden. Die Kontexte dieses Syntagmas gehören zumeist in den Bereich Marketing. Zu lesen ist da etwa, dass »das Medium Werbung für die Wirtschaft immer wichtiger« werde, dass man »das Medium Werbung unbedingt nutzen« will oder dass Kindern bestimmte Botschaften »über das Medium Werbung« angeboten werden. Die Formulierung »das Medium Kunst« ist derzeit auf deutschen Internetseiten nicht weniger als 26 000 Mal zu finden, zumeist in medien-, literatur- und kulturwissenschaftlichen Kontexten, nicht zuletzt in der Intermedialitätsforschung. In welchem anderen als dem technischen Sinn sind demnach aber die Werbung und die Künste Medien? Mit der Bezeichnung ›Medium Werbung‹ scheint manchmal ein Genre oder eine inhaltlich bestimmte Textsorte gemeint zu sein, welche Konsumentinnen und Konsumenten ein Produkt oder eine Dienstleistung zum Erwerb und Konsum empfiehlt. Ist aber jede Textsorte auch zugleich ein Medium?1 Auch in dieser Hinsicht ist der Medienbegriff vage, und die Übergänge zwischen seiner Verwendung und Nicht-Verwendung sind fließend, denn manche Textsorten werden gelegentlich als Medien bezeichnet, andere aber nie.2 Die Vagheit des Medienbegriffs bedeutet fließende Übergänge.3 Welche Gründe gibt es dafür, dass Werbung häufiger als andere Textsorten 1 | Wie etwa Posner vorschlägt, wenn er unter Zugrundelegung eines »kulturbezogenen Medienbegriffs« Textsorten wie »Nachricht, Kommentar, Kritik, Reportage, Erzählung« als Medien definiert (Roland Posner: »Zur Systematik der Beschreibung verbaler und nonverbaler Kommunikation«, in: Hans-Georg Bosshard [Hg.]: Perspektiven auf Sprache. Interdisziplinäre Beiträge zum Gedenken an Hans Hörmann, Berlin, New York: de Gruyter 1986, S. 267–313, hier: S. 257 f.). 2 | Die von Posner als Beispiele für Medien zitierten Textsorten waren 2009 mit folgender Häufigkeit auf deutschen Internetseiten in Syntagmen des Musters »Medium . . .« zu finden: Nachricht: 1030, Kritik: 100, Kommentar: 83, Reportage: 69, Erzählung: 42. Textsorten, die überhaupt nicht als Medium erwähnt wurden, sind »Wetterbericht«, »Staumeldung«, »Zuspruch am Morgen« oder »Geburtsanzeige«. 3 | Zur Semiotik des Vagen siehe auch: Winfried Nöth/Lucia Santaella: »Die Relevanz der peirceschen Semiotik des Vagen für die Theorie der Kom146
Werbung und die Künste
als ein Medium bezeichnet wird? Werbung ist im etymologischen Sinne des Wortes ›Medium‹ ein Mittel, mit dem ein Sender Empfängern eine Botschaft übermittelt. Allerdings gilt dies ja für Zeichen ganz allgemein; sie sind Mittler in der Kommunikation, ohne dass sie üblicherweise als ›Medium‹ bezeichnet werden. Spezifischere Merkmale, welche Werbung in den meisten ihrer Formen mit den technischen Medien gemeinsam hat, sind der anonyme und massenhafte Adressatenkreis, an den sie sich richtet, und die wirtschaftliche Eigenständigkeit, mit welcher sie als eine Branche neben und in Verbindung mit den Massenmedien Presse, Rundfunk und Fernsehen auf dem Medienmarkt agiert. Wenngleich die Künste im Diskurs der Medien- und Kulturwissenschaftler häufig unter die Medien subsumiert werden – wie etwa im vorliegenden Band, der Literatur, Musik, Malerei und Film in die Intermedialitätsforschung einbezieht und damit die Medialität dieser Künste voraussetzt – ist diese Zurechnung der Künste zu den Medien keineswegs unumstritten. Ihr entgegen steht die Auffassung vom essenziellen Gegensatz zwischen den Künsten und den Medien. Paradigmatisch kommt sie in Walter Benjamins Theorie des »Kunstwerks im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« zum Ausdruck:4 Wegen ihrer unendlichen Reproduzierbarkeit mangele es den Medienprodukten an einem Merkmal, das die Autorität eines Kunstwerkes begründe, nämlich der auratischen Einmaligkeit des Originals. Dass demgegenüber in der heutigen Medien- und Intermedialitätsforschung (mehr als in der Kunstwissenschaft) die Künste und die Medien nicht mehr als unvereinbare Gegensätze gesehen werden, liegt zum einen an den zunehmend fließenden Übergängen zwischen den beiden Bereichen des kulturellen Lebens und zum anderen an der stärkeren Öffnung der Künste hin zu den verschiedensten technischen Medien der Neuzeit und der Gegenwart. Diese Entwicklungen resultieren in fließenden Übergängen zwischen Fotografie und Kunstfoto, Film und Kunstfilm, Hobbyvideo und Videokunst, Kunst und Alltag, Original und Kopie, Internet einerseits und e-art sowie net art andererseits, die ein Unbehagen an der traditionellen Grenzziehung zwischen Medien und Kunst hinterlassen, das nicht selten die Ablehnung einer solchen Grenzziehung zur Folge hatte. munikation«, in: Siegener Periodikum für Empirische Literaturwissenschaften (SPIEL) 26 (2007) 1, S. 73–96. 4 | Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« [1936], in: Günter Helmes/Werner Köster (Hg.): Texte zur Medientheorie, Stuttgart: Reclam 2002, S. 163–190, hier: S. 166 und 177. 147
Winfried Nöth
Schließlich dürfte die Annäherung der Kunst an die Medien nicht zuletzt auch mit einer sich gegenwärtig neu stellenden Paragone-Frage zusammenhängen. Im heutigen Medienzeitalter ist sie nicht mehr die Frage nach der vornehmsten aller Gattungen, sondern eher die Frage danach, wie sich Künstler einerseits und die Kreativen der Werbung andererseits im Wettbewerb um einen Markt der kulturellen und ökonomischen Anerkennung ihrer kreativen Leistungen behaupten. 2. Werbung und Kunst als Antagonismus Bei aller Annäherung der Künste an die Medien sind die Meinungen über die Nähe zwischen der Werbung und den Künsten geteilt, spricht doch gegen die Annahme einer solchen Nähe das Postulat vom »interesselosen Wohlgefallen« als klassisches Kriterium des Ästhetischen, das mit den von wirtschaftlichen Interessen gesteuerten Zielen der Werbeindustrie unvereinbar ist.5 Aus semiotischer Sicht bedeutet dieses klassische Postulat der Kant’schen Ästhetik, dass ein Kunstwerk ein selbstreferenzielles Zeichen ist, ein Zeichen, dessen Hauptziel bei allen sonstigen Zielen in sich selbst liegt,6 wohingegen Werbung aufgrund ihrer kommerziellen Ziele eine fremdreferenzielle Botschaft ist, denn will sie ihre kommerziellen Ziele erreichen, so muss sie auf etwas anderes als auf sich selbst aufmerksam machen. Das ästhetische Zeichen mag in seiner Zielsetzung zwar nicht immer referenzlos sein, aber die referenziellen Bezüge, die das Kunstwerk zum Kunstwerk machen, liegen zum einen im System der Kunst selbst, gegenüber dem sich das Kunstwerk als Zeichen behaupten muss, und zum anderen in den Determinanten der ästhetischen Kognition und somit in eben den ästhetischen Prozessen, die es exemplifiziert. Diese Determinanten der ästhetischen Kognition sind nicht zuletzt auch biologischer Art, weil beispielsweise Harmonie, Symmetrie und das Schönheitsempfinden allgemein auch in der Evolutionsgeschichte der Menschen begründet sind. Bei diesem grundsätzlichen Antagonismus der Ziele von Werbung und Kunst dürfte sich eigentlich die Frage nach der Dominanz oder Hegemo5 | Vgl. Winfried Nöth: »Advertising, poetry and art. Semiotic reflections on aesthetics and the language of commerce«, in: Kodikas/Code 10 (1987), S. 53–81. 6 | Vgl. Winfried Nöth: Handbuch der Semiotik, Stuttgart: Metzler 2 2000, S. 425–432, sowie ders./Nina Bishara/Britta Neitzel: Mediale Selbstreferenz. Grundlagen und Fallstudien zu Werbung, Computerspiel und Comics, Köln: Halem 2008. 148
Werbung und die Künste
nie des einen über das andere Medium gar nicht stellen. Wenn die Ziele sich essenziell unterscheiden, dann müssten Kunst und Werbung doch eigentlich gar nicht in nennenswertem Umfang miteinander in Berührung kommen. Tatsächlich gilt diese Prämisse von Kunst und Werbung als zwei voneinander völlig getrennten Sphären des kulturellen Lebens keineswegs in jeder Hinsicht, gibt es doch zwischen Kunst und Werbung auch viele Berührungspunkte, Überschneidungen, und fließende Übergänge. Im Hinblick auf die zur Debatte stehende Frage nach der möglichen Dominanz des einen über das andere Medium soll im Folgenden zwischen der parasitären, der symbiotischen und der paragonalen Form der intermedialen Bezugnahme des einen auf das andere Medium unterschieden werden. 3. Parasitäre und symbiotische Intermedialität Die Relation zwischen Kunst und Werbung soll als parasitär bezeichnet werden, wenn das eine Medium Vorteile aus dem anderen Medium zieht, um die eigenen Ziele mit Hilfe des anderen Mediums besser zu erreichen.7 Auf den ersten Blick gibt es hier nur eine Dominanzbeziehung. Ein Parasit beherrscht seinen Wirt, weil er seinen Nutzen zu dessen Scha7 | Theoretischer Hintergrund sind die folgenden Prämissen einer auf C. S. Peirce begründeten Teleosemiotik, die ausführlicher dargelegt sind in Winfried Nöth: »On the instrumentality and semiotic autonomy of signs, tools, and intelligent machines«, in: Cybernetics & Human Knowing 16 (2009), S. 11–36: Als komplexe Zeichen sind sowohl Werbetexte als auch Kunstwerke biologischen Organismen ähnlich. Sie haben insofern ein Eigenleben, als sie nicht bloß Instrumente ihrer Produzenten sind, sondern in Prozessen der Semiose das Ziel verfolgen, ihr Objekt erfolgreich zu repräsentieren und in Symbiose mit anderen Zeichen, Zeichengebern und Interpreten sogenannte Interpretanten als semiotische Wirkungen zu erzeugen. Zeichen, die dieses Ziel nicht oder nicht mehr erfüllen, weil sie zum Beispiel ihr Objekt falsch, schlecht oder unvollkommen repräsentieren, können sich langfristig nicht behaupten und haben die Tendenz auszusterben. Diese Prämissen über das Leben der Zeichen gelten auch für Kunstwerke und Werbetexte. Kunst und Werbung sind nicht nur Mittel des Ausdrucks der Absichten von Künstlern und Werbetreibenden, sie haben auch eine semiotische Autonomie, aufgrund derer sie selbst das semiotische Handeln in Kunst und Werbung bestimmen. Die stets kommerziellen Ziele der Werbung bestimmen zugleich ihr eigenes Überleben, denn würde Werbung keinen Gewinn mehr erwirtschaften, so würde niemand mehr Werbetexte in Auftrag geben. Die Autonomie des Werbezeichens, die darin liegt, sich gegenüber anderen Werbezeichen zu behaupten, ist durch eine Heteronomie begrenzt, die darin begründet ist, dass Werbung von den Zielen der Wirtschaft bestimmt ist, die sie in Auftrag gibt. 149
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den aus ihm zieht. Parasitismus bedeutet allerdings nicht ausschließlich eine derartige Dominanzbeziehung, weil es biologisch einen gleitenden Übergang zwischen Parasitismus und Symbiose gibt. Parasiten leben mit ihren Wirten auch in einer Symbiose. Sie bedrohen ihren Wirt nicht in jeder Hinsicht und müssen zudem, wenn sie von ihrem Wirt leben wollen, darauf achten, dass dieser nicht oder wenigstens nicht zu schnell zugrunde geht. Der Schaden, den der Parasit seinem Wirt zufügt, kann sich auch durch mit ihm verbundene Vorteile neutralisieren oder gar in einen reinen Nutzen umschlagen. Dies ist die andere Seite des Parasitismus, die zumeist einfach als Symbiose (im engeren Sinn) bezeichnet wird. Die zwei Seiten dieser biologischen Metapher können auch die Beziehung zwischen Kunst und Werbung erhellen. Kunst und Werbung leben intermedial parasitär miteinander, wenn sich das eine Medium auf das andere zu dessen Schaden bezieht. Sie leben symbiotisch miteinander, wenn sich beide Medien zum gegenseitigen Nutzen aufeinander beziehen. Zwischen diesen Formen des Parasitismus und der Symbiose ist allerdings der Übergang fließend. 3.1 Werbung: Parasitismus und Symbiose mit der Kunst
Typische Beispiele für eine parasitäre Bezugnahme der Werbung auf die Kunst finden sich in Werbekampagnen, die sich der Kunst bedienen, um aus ihr einen Mehrwert zu ziehen. Das Beispiel des Kunstsponsorings hingegen scheint paradigmatisch für eine für beide Medien nützliche Symbiose zu sein. 3.1.1 Parasitäre Printwerbung
Wie Werbung sich parasitär Kunstwerken bedient, um aus dem wertvollen Gut Kunst einen Mehrwert für das beworbenen Produkt zu ziehen, lässt sich am Beispiel von drei Anzeigen aus den 1970er und 1980er Jahren zeigen, die im Folgenden vorgestellt werden sollen. Das erste Beispiel zeigt eine Packung von Zigaretten der Marke Benson & Hedges im einigermaßen überraschenden Nebeneinander mit Vincent van Goghs Stillleben Zwölf Sonnenblumen mit Vase (Abbildung 1). Produkt und Kunstwerk sind nach dem Prinzip der Kontiguität miteinander verbunden. Eine Kontiguitätsassoziation befördert den angestrebten Lernprozess, durch den die Konsumentinnen und Konsumenten sich die Botschaft von dem besonderen Wert der Ware einprägen sollen. Zusätzlich weist der Slogan »Gilt edged asset« auch auf eine ungeahnte Similarität hin, so klein sie auch sein mag. Der Ausdruck ist ein metapho150
Werbung und die Künste
Abbildung 1: Ziarettenwerbung mit van Goghs Sonnenblumen als ›mündelsicherem Wertpapier‹ (Benson-&-Hedges-Printwerbung mit van Goghs Gemälde »Zwölf Sonnenblumen in einer Vase« von 1888, in: Time International vom 12. August 1974, S. 11)
rischer Fachbegriff vom Finanzmarkt. Er bezeichnet ein ›mündelsicheres Papier‹, aber seine wörtliche Bedeutung ist in etwa ›Goldrand-Guthaben‹. Das Produkt ist also in mehrerer Hinsicht dem Kunstwerk ähnlich: beide sind in Gold gefasst, das Produkt, weil es in einer goldfarbenen Packung verkauft wird, das Kunstwerk im wörtlichen Sinn, weil es in einen goldenen Rahmen gefasst ist, und außerdem im metaphorischen Sinn, weil es wertvoll wie ein mündelsicheres Papier ist. Die Sprache, die das eine mit dem anderen in Beziehung setzt, ist die Sprache der Börse. Der vom Kunstwerk auf das Produkt nach dem Prinzip der Similarität übertragene Wert ist ein rein finanzieller. Der Goldwert des berühmten Gemäldes ist außerdem noch durch eine Farbmanipulation des dargestellten Bildes gesteigert. Während nämlich das im Philadelphia Museum of Art hängende Original eher kalte Gelbtöne aufweist, hat das in der Werbung gezeigte Bild durchweg warme Farbtöne, welche besser geeignet sind, die 151
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Abbildung 2: Holländische Malerei als Wertanlage (Citibank-Printwerbung mit unidentifiziertem Gemälde von Abraham Bloemaert [1566– 1651], in: Forbes 28. Oktober 1985, S. 191)
Goldassoziation zu evozieren. Man beachte auch die Perspektive, in der das Gemälde in das Bild eingefügt ist. Wir sehen es nicht frontal, sondern in einem Blickwinkel von 90 Grad schräg auf einem Schreibtisch liegen, über den es gewissermaßen wie ein Wertpapier gereicht wird. Die Möglichkeit, das Kunstwerk als ein solches zu betrachten, ist durch die Farbmanipulation und diese Perspektive eingeschränkt. Die ästhetische Botschaft ist der Werbebotschaft untergeordnet, die parasitär von ihr lebt. Die zweite Anzeige preist den Service der Citibank an (Abbildung 2). Sie ist nach einem ähnlichen Prinzip aufgebaut. Auch hier ist das Kunstwerk in seiner Sichtbarkeit reduziert, zum einen, weil es ungewöhnlich klein an der riesigen Wand hängt, zum anderen, weil der Blick auf das Bild in der Anzeige durch den im Vordergrund gezeigten Besitzer in seinem Sessel verstellt ist. Der Hauptunterschied zur Darstellung des van Goghs in der zuvor gezeigten Werbung liegt darin, dass das hier gezeigte Kunstwerk des holländischen Meisters Abraham Bloemaert nicht im me152
Werbung und die Künste
Abbildung 3: Antike Skulptur als Element des eleganten Ambientes (Benson-&-Hedges-Printwerbung für die Marke »The Deluxe 100« mit unidentifizierter antiker Marmorskulptur, in: U. S. News and World Report vom 12. September 1983, S. 69)
taphorischen, sondern im wörtlichen Sinn als ein Wertobjekt präsentiert wird, nämlich als eine mit Hilfe dieser Bank getätigte Akquisition auf dem Kunstmarkt. Zusätzlich zu der Argumentationslinie, nach der Kunst hier im wörtlichen Sinn ein finanzieller Wert ist, degradiert in dieser Anzeige auch noch der Slogan »The acquisition of art is itself an art« das Wort ›art‹ von seiner Bedeutung ›Kunstwerk‹ zur Bedeutung ›Handwerk‹, in welchem Sinn es hier verwendet wird, denn das Wort bezieht sich ja in der Botschaft der Banker an ihre Kunden nicht auf ein Kunstwerk, sondern es steht für die praktische Kunst, das Know-how der Banker, Geld gegen Zinsen bereitzustellen. Die dritte Anzeige, aus einer anderen Werbekampagne von Benson & Hedges (Abbildung 3), zeigt eine neue und dabei gesteigerte Variante der parasitären Intermedialität zwischen Werbung und Kunst. Das, was vom Kunstwerk als Mehrwert auf das Produkt abfallen soll, ist diesmal 153
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nicht ihr finanzieller Wert, sondern offenbar ihr Genusswert. Zum eleganten Ambiente, in dem die exemplarischen Konsumenten dieser »Deluxe«Zigarette zu sehen sind, gehört eine lebensgroße griechische Marmorstatue. Auch diesmal ist der Blick der Betrachterinnen und Betrachter der Anzeige auf das Kunstwerk teilweise verstellt, nun durch das eingeblendete Bild zweier Zigarettenpackungen im Vordergrund. Die parasitäre Aneignung von Kunst zu einem Element des eleganten Ambientes ist noch dadurch gesteigert, dass seine beiden exemplarischen Konsumenten selbst gar keinen Blick auf das Kunstwerk werfen, sondern mit viel größerem Interesse zu zweit in einer Zeitschrift blättern. In der so inszenierten dreifachen Intermedialität von Kunst, Zeitschrift und Werbung ist die Kunst ganz deutlich als ein bloß peripheres Element des Ambientes markiert. Das Kunstwerk gehört zur Inszenierung der eleganten und luxuriösen Umgebung ebenso hinzu wie die angebotene Ware. Kunst und Ware stehen auf gleichem Niveau, wenn es ums Wohlfühlen geht. 3.1.2 Parasitäre intermediale Symbiosen des Kunstsponsorings
Die Werbung lebt mit der Kunst in vielerlei Hinsicht auch in einer Beziehung der intermedialen Symbiose. Eine ihrer Formen ist das Aufgreifen von Stilelementen der zeitgenössischen Kunst durch die Werbung und deren Nutzung als ein Gestaltungsmerkmal in der Printwerbung. Ausführlicher kann im Folgenden aber nur auf eine Form der Symbiose eingegangen werden – das Kunstsponsoring. Kunstsponsoring scheint auf den ersten Blick gar nicht Werbung zu sein, aber Kunstsponsoren sind keine selbstlosen Mäzene. Sieht man sich einmal wirtschaftswissenschaftliche Definitionen des Kunstsponsorings an, so wird schnell deutlich, dass die finanziellen Zuwendungen von Firmen und Unternehmen an die Kunst nichts anderes als Werbemaßnahmen sind. Aus Sicht der Wirtschaft dient Kunstsponsoring nämlich erklärtermaßen »in erster Linie dem Eigennutz des Sponsors«; es »basiert auf dem Prinzip von Leistung und Gegenleistung«, und ist »auf die Interessen des Förderers abgestellt«.8 Solche Formulierungen belegen, dass Kunstsponsoring keine reine Form der Symbiose sein kann, in der die Werbung von der Kunst ebenso profitiert wie die Kunst von der Werbung. Da andererseits der Nutzen des Kunstsponsorings für die Kunst nicht zu bestreiten ist, wenn er nicht gerade zu Formen der direkten Einflussnahme der Wirtschaft auf die Kultur degeneriert, soll das Kunstsponsoring 8 | Ruth Emundts: Kunstsponsoring. »Das Volkswagen-Kultur-Engagement« – eine Fallstudie, Münster: Lit 2000, S. 19. 154
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als Form der parasitären Symbiose eingestuft werden, wobei das Ausmaß des Parasitären beziehungsweise des Symbiotischen im Einzelfall zu bestimmen bleibt. Die Ziele von Werbung und Kunstsponsoring sind ökonomisch jedenfalls die gleichen. Es geht darum, so der Wirtschaftswissenschaftler Büschgen9 am Beispiel der Strategien des Kunstsponsorings der Deutschen Bank AG, »dass durch Sponsoring Image-Transfer zwischen Gesponsertem und Sponsor zustande kommt. [. . .] Mit der Kunst wird in erster Linie Stil, Schönheit und Ästhetik identifiziert und im Idealfall vom Betrachter auf das Image des Sponsors übertragen. [. . .] Eine positive Einstellung des Betrachters gegenüber einer Kunstförderungsmaßnahme soll demnach die Einstellungen gegenüber einer Bank positiv beeinflussen. [. . .] Das Ziel der Schaffung und Pflege von Kontakten resultiert aus dem Eigeninteresse der Banken, mit Hilfe der Kunstförderung eine Verbesserung oder Stabilisierung der Beziehungen zu unternehmensrelevanten Personenkreisen zu realisieren.«
Wenn Imagetransfer das Ziel des Kunstsponsorings ist, so ist dieses Ziel dasselbe wie dasjenige, welches wir in der oben erörterten parasitären Printwerbung beschrieben haben. Nach dem Prinzip der Kontiguitätsassoziation wird die Nähe zwischen Produkt und Kunst gesucht, in der Hoffnung, dass diese Kontiguität sich bei den Kunden und Konsumenten in einem Lernprozess bezahlt macht. Zwischen dem eher symbiotischen Kunstsponsoring und der eher parasitären Werbung gibt es fließende Übergänge, die bis zur völligen Degeneration des Moments des Symbiotischen zum reinen Parasitismus reichen können. Im Internet präsentiert sich zum Beispiel die Firma Rolex unter der Überschrift »Rolex und Kunst« mit dem Slogan: »Rolex unterstützt Künstler mit herausragenden Leistungen« und dem Verweis auf die Website www.rolex.com/Kunst. An der »offiziellen Rolex-Website« angelangt, findet der Internaut unter der Rubrik »Zeugen« eine Liste hochkarätiger Musiker, unter ihnen Sängerstars wie Cecilia Bartoli, Placido Domingo und Rolando Villazón. Per Link ist jeder dieser Namen mit dem Bild des Künstlers verknüpft, das seinerseits eine weitere Verknüpfung auf das Bild einer Uhr der Marke Rolex führt, welche per Kontiguitätsassoziation als typisches Accessoire dieses Künstlers ausgewiesen ist. Die Strategie dieser Werbung ist doppelt parasitär. Einerseits werden Künstler mit der Marke Rolex assoziiert, die durch ihre Bereitschaft, sich ablich9 | Hans E. Büschgen: Kunst-Sponsoring durch Banken. Das Beispiel des Kunstkonzepts der Deutsche Bank AG, Manuskript eines Vortrages vom 12. Oktober 1996, http://www.uni-koeln.de/wiso-fak/bankseminar/veroeff/mub/78/ kunst.pdf vom 15. August 2009, hier: S. 11 f. 155
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ten zu lassen, hoch bezahlt worden sind. Ob diese Zuwendungen jedoch als Sponsoring bezeichnet zu werden verdienen, ist andererseits mehr als fraglich, denn unter Musiksponsoring ist üblicherweise die Förderung eines Musikereignisses zu verstehen, das sonst wegen fehlender Mittel nicht zustande käme. Rolex bedient sich des einigermaßen prestigebehafteten Begriffs des Sponsorings in völlig parasitärer Weise, indem sie einer ganz gewöhnlichen Werbeaktion den Anschein der Kulturförderung gibt. 3.2 Kunst: Parasitismus und Symbiose mit der Werbung
Auch die Kunst kann sich bei der Verfolgung ihrer ästhetischen Ziele parasitär oder symbiotisch auf die Werbung beziehen. Nach der parasitären Variante dieser Bezugnahme will das Kunstwerk die Werbung kritisieren, ihre Strategien anprangern oder gar der Werbung einen Schaden zufügen, indem sie zur Antiwerbung wird. Nach der symbiotischen Variante sucht sie die Nähe der Werbung, um aus ihren Bildern Anregungen für die Gestaltung der eigenen Arbeiten zu gewinnen oder um die Bilder der Werbung ins Ästhetische zu transformieren. Kunst, die es sich parasitär zur Aufgabe macht, dem Medium Werbung zu schaden oder gar zur Antiwerbung zu werden, war in den kapitalismuskritischen Zeiten der 1970er Jahre einflussreich. Der führende Vertreter der konkreten Poesie in Brasilien, Décio Pignatari, schrieb zum Beispiel schon 1957 ein konkretes Gedicht, in dem er den klassischen Werbeslogan »Trink Coca-Cola« (»bebe coca cola«) durch Permutationen der Wortund Buchstabenfolgen schrittweise bis zur Schlusszeile in die Antiwerbung »cloaca« (»Kloake«) verwandelte.10 Eher symbiotisch sind dagegen die intermedialen Verweise der Kunst auf Werbung, für die Henri de Toulouse-Lautrecs Plakat-Lithografie Moulin Rouge – La Goulue (Abbildung 4) als erstes Bespiel dienen kann. Diese Arbeit war zuerst ein Plakat, das auf die allabendlichen Konzerte im Pariser Varietétheater Moulin Rouge hinwies. Ursprünglich ein Produkt des Mediums Werbung, ist es heute zweifellos ein anerkanntes Kunstwerk. War es vielleicht schon 1891, im Jahr seiner Entstehung, ein Kunstwerk? Das Toulouse-Lautrec’sche Beispiel der Erweiterung der Kunst durch eine harmonische Symbiose mit der Werbung ist eine eher seltene Form des fließenden Übergangs zwischen den beiden Medien. Dieses Werk 10 | Dieses Gedicht von Décio Pignatari findet sich unter anderem zitiert und kommentiert in Luis Camnitzer: »Dropping sculpture by the pound«, in: Texte zur Kunst 57 (2005), http://www.textezurkunst.de/57/dropping-sculpture-bythe-pound/ vom 1. März 2010. 156
Werbung und die Künste
Abbildung 4: Werbung und Kunst: Henri de Toulouse-Lautrec: Moulin Rouge – La Goulue, Plakat-Lithografie, 1891 (Götz Adriani, ToulouseLautrec, das gesamte graphische Werk, Köln: DuMont 1986)
ist zwar beides zugleich, Kunst und Werbung, aber der Designer des Werbeplakats gilt heute als ein bedeutender Maler, was für die gegenwärtige Bewertung des Werbeplakats als Kunstwerk kunstgeschichtlich ausschlaggebend ist. Die wohl häufigste Form der parasitär-symbiotischen Aneignung von Werbung durch die Kunst ist die Abbildung von Werbebildern in Kunstwerken. Diese kann eher zufällig oder zwangsläufig sein, weil Bilder von Szenen des Alltags in Großstädten Werbeplakate kaum ausklammern können. Die Bilder der Werbung im urbanen Kontext können aber auch zum eigentlichen Thema der künstlerischen Repräsentation werden, wie zum Beispiel in Edward Hoppers Arbeiten Drug Store (1927) und Mobile Gas Station (1940) (Abbildung 5). Die Bilder zeigen Werbeszenarios in einer ästhetisch verfremdeten Weise, welche die dargestellten Elemente der Werbung den ästhetischen Zielen des Kunstwerkes deutlich unterordnen. Ein vorläufiger Höhepunkt der parasitären Symbiose von Kunst und Werbung ist mit der Pop-Art erreicht. Warhols Coca-Cola-Siebdrucke und seine Brillo-Boxes, von denen Abbildung 6 eine ihrer vielen Varian157
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Abbildung 5: Werbung in der Kunst: Edward Hopper: Drug Store, 1927 (Rolf G. Renner: Edward Hopper, Köln: Taschen 1999, S. 23) und Mobile Gas Station, 1940 (Georg-W. Költzsch/Heinz Liesbrock: Edward Hopper und die Fotografie. Die Wahrheit des Sichtbaren, Köln: DuMont 1992, S. 47)
ten zeigt, stehen stellvertretend für diese Art der parasitären Aneignung von Werbung durch die Kunst. Von Parasitismus kann bei allem symbiotischen Miteinander insofern auch die Rede sein, als Warhol in seinen Nachbildungen der Brillo-Kartons deren Verpackungsdesign völlig unverändert übernimmt und sich dadurch der Kreativität von Werbedesignern seiner Zeit bedient, ohne diese etwa dafür zu vergüten.11 Das 11 | David Bourdon: Warhol, Köln: DuMont 1989, S. 181–185, berichtet über die Enttäuschung des New Yorker Malers James Harvey, der den Original158
Werbung und die Künste
Abbildung 6: Werbung als Kunst: Andy Warhol, Brillo Soap Pads, Objekt, 1968 (Andy Warhol u. a. [Hg.]: Andy Warhol, Ausstellungskatalog Moderna Museet, Stockholm 1968, S. 142)
Radikale an dieser parasitären Übernahme liegt nicht nur darin, dass das ästhetische Zeichen, also Warhols Installation, und sein Objekt, die BrilloKartons aus den Supermärkten, in ihrem Design völlig ununterscheidbar waren, da die Arbeit von Warhol als detailgetreue Nachbildung des dargestellten Verpackungsmaterials konzipiert und realisiert wurde, sondern auch darin, dass das Kunstwerk auf diese Weise nolens volens selbst zu einem latenten Werbetext wurde; denn dass sich durch diese Art des Product-Placements ein Effekt der Schleichwerbung einstellte, hat der Künstler wohl nicht verhindern können, selbst wenn er es gewollt hätte. Der Parasitismus der intermedialen Symbiose von Warhols Pop-Art besteht nicht zuletzt darin, dass sich die Arbeiten grafischer Motive von Verpackungsdesignern bedienten, die schon in ihrem ursprünglichen Kontext des Produktdesigns eine gewisse eigene Ästhetizität aufweisen, welche sich in Warhols Arrangements ästhetisch verstärkt. Bezeichnenderweise zeigte sich Warhol an den verpackten Produkten selbst nicht Brillo-Karton im Jahr 1961 entworfen hatte und nicht an der Vermarktung von Warhols Werk partizipieren konnte. 159
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Abbildung 7: Konsumgut als Kunst: Ange Leccia: La séduction, Installation auf der Documenta 8, 1987 (Documenta 8 [Katalog], Kassel: Weber & Weidenmeyer 1987, Bd. 2, S. 149)
interessiert. Es ging ihm allein um die Ästhetik der Verpackung. Während diese im kommerziellen Kontext des Supermarktes ein indexikalisches Zeichen ist, welches auf den Inhalt der Verpackung verweist, führt in Warhols Arbeiten der Verweis von der Verpackung auf ihren Inhalt ins Leere, denn diese Verpackungen enthalten keine Produkte. In einem weiteren Schritt der parasitären Annäherung an die Werbung haben Künstler als Echo auf Duchamps Readymades den Versuch unternommen, die semiotische Differenz zwischen künstlerischem Zeichen und kommerziellem Objekt noch weiter zu verringern oder sie sogar völlig aufzuheben. Als Beispiel für diesen nächsten Schritt der parasitären Symbiose zwischen Kunst und Industrieprodukt kann die Arbeit des französischen Künstlers Ange Leccia dienen, die 1987 auf der Documenta 8 in Kassel unter dem Titel La séduction zu sehen war (Abbildung 7). Installiert auf einer Drehscheibe mitten im Ausstellungssaal der Kasseler 160
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Orangerie, zeigte sie nichts anderes als einen originalen dunkelblauen Mercedes 300 CE, ein Produkt der Autoindustrie, welches der Künstler auf diese Weise zum Kunstwerk erklärte. Die ästhetische Provokation bestand darin, dass das Exponat beim Publikum Unklarheit darüber aufkommen lassen musste, ob es sich nun in den Räumen eines Museums oder im Showroom eines Autohauses befand. Wie in einem KippbildEffekt sollten wohl beide Eindrücke zugleich entstehen und die sich stellende Frage nach der ästhetischen Qualität des Exponates unentscheidbar bleiben.
4. Paragonale Intermedialität Kommen wir nun zum Paradigma der paragonalen Intermedialität. In gewisser Weise ist die Frage nach dem Primat im Wettstreit der beiden Medien von vornherein entschieden, steht doch die kulturelle und ästhetische Dominanz des Mediums Kunst über das Medium Werbung aufgrund des zweifellos höheren kulturellen Prestiges der freien Künste gegenüber ›angewandten‹ Künsten wie der Werbung außer Frage. Insofern hat es die freie Kunst gar nicht nötig, sich überhaupt mit den Stärken oder Schwächen der Werbekunst zu messen. Von Seiten der Werbung geht es dagegen um die Frage nach dem Grad ihrer Nähe oder Distanz zur Kunst. Die Bemühungen der Werbewelt und ihrer Art Directors, sich an den Standards der Kunst zu messen, erreichen ihren Höhepunkt, wenn die Differenz zwischen Kunst und Werbung ganz einfach zu einem Nullwert erklärt wird. Eine solche Erklärung über die kulturelle Gleichwertigkeit von Kunst und Werbedesign hat der in den Kulturjournalen als ›deutscher Werbepapst‹ apostrophierte Kunstprofessor des Karlsruher Zentrums für Kunst und Medientechnologie Michael Schirner mit seinem Buch Werbung ist Kunst (1988) abgegeben. In einem Interview mit der FAZ vom 29. Mai 1987 antwortete er auf die Frage »Warum ist Werbung Kunst?« wie folgt: »Weil ich sie dazu erklärt habe. Die Werbung hat heute die Funktion übernommen, die früher die Kunst hatte: die Vermittlung ästhetischer Inhalte ins alltägliche Leben. Diese Funktion hat die moderne Kunst nicht mehr. Sie findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Die massenkulturellen Ausdrucksformen wie Werbung, Pop-Musik oder Mode sind an die Stelle der früheren Kunst getreten.«
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Schirners Thesen sollen hier nicht bewertet und das Thema kann in der Kürze dieses Beitrags auch nicht vertieft werden. Tatsache ist immerhin, dass Werbegrafiker weitgehend mit den gleichen grafischen und ästhetischen Mitteln arbeiten wie visuelle Künstler, nämlich mit Punkten, Linien, Farben, Formen, Wiederholungen, Parallelismen, Symmetrien, mit kreativen Bestätigungen und Abweichungen von Gestaltungskonventionen und Sehgewohnheiten. Begnügen wir uns an dieser Stelle damit, Schirners Position als ein Symptom der Konvergenz der beiden Medien zu benennen. Im Kontext unserer Fragestellung markiert sie jedenfalls die Position vom Ende jeglicher paragonaler Rivalität zwischen Werbung und Kunst und zugleich die Auffassung vom Ende der Autonomieästhetik. Die Praxis der Werbung zeigt allerdings, dass der Wettstreit der beiden Medien um die Anerkennung ihrer Zeichen keineswegs beendet ist. Tatsächlich war dieser Wettstreit doch in mehreren der oben erörterten Beispiele eines der implizierten Themen. Lassen wir die relevanten Werbetexte noch einmal unter diesem Aspekt Revue passieren. In jedem der drei eingangs vorgestellten Beispiele kunstparasitärer Werbung ging es auch um einen Aspekt des paragonalen Vergleichs. Die wie ein Goldbarren aussehende Zigarettenschachtel von Benson & Hedges wurde in hyperbolischer Übertreibung mit dem Wert eines Bildes von van Gogh verglichen, die Kunst der Citibanker mit dem Kunstwerk des Holländers und die Schönheit der griechischen Statue mit den Genusswert der De-luxe-Zigarette. All diese Vergleiche gehen aber zu Lasten des Kunstwerkes. Der paragonale Vergleich ist nur möglich, wenn das zu Werbezwecken instrumentalisierte Kunstwerk seiner ästhetischen Qualitäten beraubt wird. Der hyperbolische Vergleich des Kunstwerks mit der angepriesenen Ware verspricht nur dann Erfolg, wenn wesentliche Merkmale des Kunstwerks unterdrückt werden. Dies ist der Grund, warum die gezeigten Kunstwerke stets nur unvollständig zu sehen sind, warum der Besitzer des holländischen Meisters neben dem Kunstgenuss auch noch ein Glas Cognac genießt und warum das elegante Paar im musealen Ambiente dem Kunstwerk überhaupt keine Aufmerksamkeit schenkt. Der Gestus der Künstler dagegen, die sich parasitär der Elemente von Werbetexten bedienen, ist ein anderer. Ihre Annäherung an das primär fremdreferenzielle, auf die Vermittlung von Informationen über Waren abzielende Medium Werbung ist entweder begleitet von einer ironischen oder gar provokativen Note oder von einem Gestus der Einverleibung des Fremden mit dem Ziel der Neuentdeckung all jener ästhetischen und stilistischen Mittel, welche das kreative Potenzial des Mediums Werbung für die Kunst an unentdeckten ästhetischen Mitteln bereitstellt. Es geht 162
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nicht um das Bestreben, Werke zu schaffen, deren Qualität mit den ästhetischen oder anderen Qualitäten der Werbung zu messen wären. Nur durch eine ästhetische Distanzierung von den kommerziellen Inhalten der Werbebotschaft beziehungsweise eine Verengung der Werbebilder auf ihre ästhetischen Momente wird es der Kunst möglich, sich dem Diktat der Fremdreferenzen zu entziehen, dem die Werbung unterliegt, und dabei ihre eigenen selbstreferenziellen Ziele zu verwirklichen. 5. Die Zeichen der parasitären und paragonalen Intermedialität Wenn wir nun rückblickend noch einmal die parasitären, symbiotischen und paragonalen Formen der gegenseitigen intermedialen Annäherung von Werbung und Kunst betrachten, so mag zum Schluss noch ein Hinweis auf die unterschiedlichen semiotischen Strategien dieser Annäherung von Interesse sein. Die Beispiele der parasitären Annäherung der Werbung an die Kunst verfolgten in erster Linie eine indexikalische Strategie. Mittels Kunst wird auf eine Ware hingewiesen, mit der sie gemeinsam abgebildet ist. Das bloße Nebeneinander mit der Kunst, durch welches der Warenwert erhöht werden soll, läuft auf das semiotische Prinzip der Kontiguität hinaus, welches indexikalische Zeichen begründet. Das Kunstwerk, dessen sich die Werbebotschaft parasitär bedient, wird zum Zeichen, dessen Funktion es ist, auf die Ware zu verweisen, die damit zum Objekt dieses Verweises wird. Ohne eine signifikante Ähnlichkeit zu seinem Objekt zeigt das Kunstwerk allein dadurch auf die Ware, weil es neben ihr zu sehen ist (cum hoc). Die Werbung suggeriert aber den Eindruck, dass diesem bloßen Nebeneinander eine tiefere Signifikanz zukommt, die womöglich eine Kausalbeziehung begründet (propter hoc). Die Argumentationsstrategie der Werbebotschaft ist also diejenige, welche sich schon mit den Mitteln der mittelalterlichen Logik als ein Fehlschluss des Typs cum hoc, ergo propter hoc entlarven lässt: Durch ein bloßes Nebeneinander zwischen A und B (cum hoc) lässt sich bekanntlich keine Kausalbeziehung (propter hoc) herleiten, was nicht bedeutet, dass nicht doch eine Suggestivwirkung erfolgen könnte, die im Unbewussten den Eindruck entstehen ließe, dass es doch eine tiefere Verbindung zwischen dem einen anderen geben könnte. Die paragonale Aneignung der Kunst durch die Werbung bedient sich dagegen eher ikonischer Zeichen, denn es werden Similaritätsbeziehungen beschworen, so gering sie auch sein mögen, um dem Produkt von vergleichsweise geringem Wert Ähnlichkeiten mit dem wertvollen Kunstwerk zu unterstellen, Ähnlichkeiten, welche das Kunstwerk zu einem 163
Winfried Nöth
Abbildung 8: Metawerbebild von Denis Rivière, Kunstgalerie Conzen, Düsseldorf, 2009 (http://www.conzen.de/146194,1031,0,-1,Riviere, 0,0,0.aspx vom 24. 3. 2010)
ikonischen Zeichen für die Ware und bei Erfolg der Werbebotschaft schließlich auch die Ware zu einem Ikon des Kunstwerks werden lassen. Auch die Kunst, die sich der Werbung symbiotisch annähert, indem sie die deren Bilder thematisiert, operiert mit ikonischen Zeichen, wenn sie die Bilder der Werbung abbildet. Anders als die Werbung, die aus ihrer symbiotischen oder parasitären Annäherung an die Kunst oder in ihrem paragonalen Wettstreit mit ihr einen Mehrwert zieht, findet sich in der Kunst jedoch keinerlei paragonaler Eifer, sich mit dem anderen Medium zu messen. Die ikonische Repräsentation der Werbung in der Kunst ist nur eine Form der Abbildung des Alltäglichen, aus dem kein spezifischer ästhetischer Mehrwert gewonnen werden kann, sondern auf welches ein neuer ästhetischer Blick gerichtet werden muss, der Blick eines neuen und anderen Sehens, von dem schon die russischen Formalisten sprachen. All dies schließt nicht aus, dass auch die Kunst sich selbst in ihrer Symbiose mit der Werbung zur Ware degradieren kann. Ein Beispiel mag das Werk des französischen Malers Denis Rivière sein, mit dem sich der Künstler am 8. Mai 2009 in der renommierten Düsseldorfer Kunstgalerie F. G. Conzen präsentiert hat, die auch eine Sparte mit Bilderrahmungen betreibt (Abbildung 8). Es ist ein Metabild, das sich bestens für eine Werbemaßnahme des Galeristen auf dessen Website eignet. Die Gratwanderung zwischen Kunst und Werbung, die sich hier zeigt, wird noch 164
Werbung und die Künste
deutlicher, wenn wir den Text lesen, mit dem die Galerie den Künstler empfiehlt: »Der 1945 in Honfleur, Normandie, geborene Maler ist einer der prominenten französischen Maler der Gegenwart. [. . .] Laurent Fabius, der ehemalige französische Premierminister, und andere Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft zählen zu seinen Kunden [. . .]. Denis Rivière gilt als sogenannter ›kompletter‹ Maler, der eben ›alles‹ malen kann. Dies attestieren ihm nicht nur Kunstkritiker, sondern auch seine ›Kollegen‹ der Pariser Kunstszene: Himmel und Wolken, Tiere, Fresken, Adam und Eva [. . .] und jetzt auch Müll- und Plastiksäcke bzw. -tüten.«
Das Gemälde ist ja nicht nur das Abbild (Ikon) einer beliebigen Plastiktüte. Als Bild einer Einkaufstüte der Galerie, die den Künstler finanziert und sein Gemälde vermarktet, ist es zugleich ein Index, der auf den Aussteller verweist und dabei bestens dem Zweck der Eigenwerbung dient. Kunst oder Werbung? – Diese Frage stellt sich wohl kaum noch, wenn sich die Symbiose der Zeichen als so effizient darstellt.
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Graphic Novel – eine ›illegitime‹ Medienkombination? Thomas Becker (Berlin)
Literaturwissenschaftler werden sich wohl fragen, was eine Graphic Novel ist, und sogleich so etwas wie ein illustriertes Buch assoziieren. GraphicNovel-Autoren würden jedoch eine solche Beschreibung wegen der darin anklingenden Dominanz des Textes gegenüber dem Bild vehement zurückweisen. Will Eisner setzte 1978 als Erster den Begriff der Graphic Novel in seinem Comic A Contract with God auf die Titelseite.1 Er hatte den Begriff zwar nicht erfunden, aber durch ihn wurde er zum Adelstitel für anspruchsvolle Comics mit einer komplexen Erzählstruktur und experimenteller Bildgestaltung.2 Eisners Comic zeichnet sich dadurch aus, dass er die standardisierte Vorstellung einer linearen Anordnung der Bilder durchbricht. Die Bilder müssen nicht nur von links nach rechts, sondern auch von hinten nach vorne gelesen werden; zusätzlich praktiziert Eisner einen freieren Umgang mit Blocktext und Sprechblasen sowie mit Schrift-Bild-Kombinationen. Sowohl die Verleger der Mainstream-Comics des Massenmarktes als auch die Verleger von Literatur lehnten die Veröffentlichung von Will Eisners Comic zunächst ab: die Buchverleger mit dem Argument, es handele sich doch nur um einen Comic, während die Mainstream-Verleger A Contract with God als ungeeignet für den Massenmarkt ansahen. Eisners Graphic Novel erschien zunächst mehr als zwanzig Jahre in kleinen Auflagen alternativer Verlage. Inzwischen hat sich jedoch nicht nur der Begriff der Graphic Novel etabliert, wozu wohl auch der Erfolg von Art Spiegelmans Holocaust-Comic MAUS beitrug, der sogar zum Unterrichtsstoff in amerikanischen Universitäten geworden ist.3 Die englische Tageszeitung The Guardian stellte die 1 | Stephen Weiner: The Rise of the Graphic Novel. Faster Than a Speeding Bullet, New York: Nantier Beall Minoustchine 2003, S. 17 ff. Eisner schrieb das Vorwort zu dieser Monografie. 2 | Der Begriff tauchte schon 1964 bei dem Kritiker Richard Kyle auf. Dazu: Thierry Groensteen: Un objet culturel non identifié, Paris: L’An 2 2006, S. 75. 3 | Ole Frahm: Genealogie des Holocaust. Art Spiegelmans MAUS – A Survivor’s Tale, München: Wilhelm Fink 2006, S. 9.
Thomas Becker
Behauptung auf, die Graphic Novel sei Literatur des 21. Jahrhunderts, und verlieh dem avantgardistischen Comiczeichner Chris Ware 2001 einen Buchpreis, auch wenn die Entscheidung nicht einstimmig ausfiel.4 Und in der Tat haben einige der mit Graphic Novel betitelten Comics die spezifischen Vertriebswege der Presse verlassen und insbesondere in Frankreich den Buchmarkt erreicht. Dort nennt man dieses Genre entweder roman graphique oder, um sich von der amerikanischen Version abzusetzen, littérature dessinée. Das immer noch vorherrschende wissenschaftlich-taxonomische Interesse am Comic als Medienkombination von Text und Bild kann diesen sozialen Aufstieg aus zwei Gründen nicht zureichend beschreiben. Der eine betrifft die von Pierre Bourdieu eingeklagte dynamische Sicht auf Differenzierungsprozesse von Feldern kultureller Produktion, die nicht als rein semantische Felder, sondern zugleich auch als Schauplatz strategischer Kämpfe betrachtet werden müssen.5 Jede Position steht in Relation zu einer anderen und setzt dabei das ihr jeweils zur Verfügung stehende symbolische Kapital im Kampf um Positionen ein. Eine solche Betrachtung erfordert nicht nur die Beschreibung der intertextuellen Relationalität von Werken, sondern auch den modus operandi eines Feldes in Form von Strategien der Autoren.6 Allein von medialen Oberflächen her gesehen kann eine wissenschaftliche Beschreibung daher das Zusammenspiel von Struktur und historischer Entwicklung der Intermedialität nicht fassen. Eine soziologische Beschreibung ist kein irgendwie noch fehlendes Theorieelement, das der Intermedialitätsforschung hinzuzufügen wäre, sondern muss als ein integraler Bestandteil verstanden werden. Bislang gibt es nur die Opposition zwischen Beschreibungen einer rhizomatischen Vernetzung der Medien und taxonomischen Klassifizierungen, denen aber wiederum die dynamische, durchaus entgrenzende Seite der Intermedialität fehlen. Hier erfüllt erst die soziologische Betrachtung symbolischer Formen das Desiderat einer Vermittlung von medialer Struktur und Dynamik der Kämpfe. 4 | Vgl. Groensteen: Un objet culturel non identifié, S. 76. 5 | Pierre Bourdieu: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 57 f. 6 | Bourdieu unterscheidet daher das Werk als opus operatum vom modus operandi eines Akteurs, der die Struktur eines Feldes nicht nur reproduziert, sondern auch verändert und je nach Position neu erfindet. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 281. 168
Graphic Novel – eine ›illegitime‹ Medienkombination?
Der zweite Grund für die Insuffizienz eines taxonomischen und rein semiologischen Ansatzes betrifft die mangelnde soziale Selbstwahrnehmung der Literatur- und Medienwissenschaftler, die ihren Anteil im Kampf um die Festlegung der Grenze zwischen ›legitimen‹ und ›illegitimen‹ Medien nicht mitreflektieren.7 Zunächst zum ersten Punkt: Der Begriff Graphic Novel, der an sich schon auf die Medienkombination von Schrift und Bild verweist, ist nicht neutral, sondern bereits ein strategischer Einsatz eines Adelstitels im Kampf um die kulturelle Anerkennung von jenen Comicautoren, die nicht den Massenmarkt bedienen. Und nur ein Teil der anspruchsvollen Comics, die inzwischen vom Buchmarkt wahrgenommen werden, entspricht der Definition einer Medienkombination. Ist etwa das Album des französischen Comicautors Lewis Trondheim, das auf mehreren Seiten nichts als unterschiedliche Kleckse abbildet, noch eine Medienkombination zu nennen? Dennoch hat Trondheim gerade durch solche Formen die Annäherung der Comicproduktion an ›legitime‹ literarische Bewegungen erreicht, so dass man seine Praxis als eine intermediale Strategie beschreiben muss, die dazu auch Werke eingesetzt hat, auf welche die Klassifikation einer Medienkombination nicht zutreffen. Er hat zusammen mit anderen Theoretikern und Autoren des Comicfeldes die OuBaPo gegründet, eine Unterabteilung des von Raymond Queneau und dem Mathematiker François Le Lyonnais gegründeten OuLiPo, dem Ouvroir pour Littérature Potentielle (Werkstatt für potenzielle Literatur).8 In OuBaPo steht das ›Ba‹ für ›Bande dessinée‹, wie die Franzosen den Comic nennen. Die Unterabteilung OuBaPo wurde offiziell von den Autoren des OuLiPo anerkannt. Bei OuLiPo handelt sich um eine literarische Bewegung des Schreibens unter funktional vorgegebenen Zwängen, wie etwa ein Roman, in dem kein ›r‹ vorkommen darf. Eines der ersten Produkte Trondheims im OuBaPo sprengt die Grenzen des standardisierten Comics, weil er über mehrere Seiten immer ein und dasselbe Panel benutzt, so dass sich nur der Inhalt der Sprechblase ändert. Ein anderer Autor, François Ayroles, benutzt in einem Comic der OuBaPo-Ausgaben nur Panels mit Sprechblasen ohne Bilder.9 Beide Male nähern sich diese Comics damit geschriebener Literatur an, weil das Bild zugunsten des Textes entwertet oder sogar fast vollkommen verschwunden ist. Handelt 7 | Siehe dazu auch Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 322 ff. 8 | Siehe zu OuBaPo Gilbert Lascaut, »Sept interrogations sur l’OuBaPo«, in: artpress 26 (2005), Sondernummer: Bandes d’auteurs, S. 84–87. 9 | OuBaPo (Hg.): Oupus, Bd. II, Paris: L’Association 2003. 169
Thomas Becker
Abbildung 1: Francois Ayroles, OuBaPo (2003), zit. n. artpress, Nr. 26, 2005, Sonderausgabe: Bande d’Auteurs, S. 84.
es sich hier überhaupt noch um einen Comic, wenn das Bild fast keine Rolle mehr spielt? Autoren sogenannter stummer Comics wie Joe Kubert mit System oder der ZEIT -Lesern möglicherweise bekannte Hans Doorgarthen mit Space Dog produzieren ebenfalls nicht für den Massenmarkt, wo lange Erzählungen in Form eines stummen Comics keinen Absatz finden. Ein stummer Comic ist aber nun definitiv keine Medienkombination. All dies sind Ausnahmen, möchte man hier einwenden, die man als solche auch klar einordnen kann. Ansonsten bleibe der Comic doch mehrheitlich eine Medienkombination aus Text und Bild. Dann aber übergeht man, dass die Zunahme einer kulturellen Anerkennung dieses Genres/Mediums vermehrt über die Ausnahmen lief und weiterhin läuft. Wer nur die Standardversion zulassen möchte, um dem Moment der Medienkombination als Comicdefinition Geltung zu verschaffen, stellt lediglich unter Beweis, dass ihm die entsprechende Kenntnis fehlt, die historische und dynamische Entwicklung eines kulturellen Eigenwerts des Comicfeldes zu verstehen. 170
Graphic Novel – eine ›illegitime‹ Medienkombination?
Laut Bourdieu differenzieren sich Felder dadurch aus, dass sich zwei Pole gegenüberstehen.10 Dabei ist der Grad der Autonomie eines Feldes durch die Stärke des Antagonismus dieser beiden Pole bestimmt.11 Der Pol einer zunehmenden Differenzierung definiert sich laut Bourdieu dadurch, dass die symbolischen Innovationen gegenüber dem ökonomischen Profit dominieren, während auf dem gegenteiligen Pol des Massenmarktes die Logik der Ökonomie vorherrscht. Je differenzierter der Pol der Innovationen ausgeprägt ist, desto mehr bedarf es des Wissens über die Geschichte des Feldes, um Innovationen einschätzen zu können. Wer innovativ sein will, muss wissen, welche Reihe der historisch aufeinander aufbauenden Innovationen die Geschichte des Feldes bestimmt hat.12 Hier liegt ein Andockpunkt zu Jürgen Müllers Theorie der kulturellen Reihe, die bei ihm wie bei Bourdieu auf Jurij Tynjanov zurückgehen dürfte.13 Niemand kann bei Eintritt eines Feldes die Reihe der historisch aufeinander folgenden Innovationen außer Acht lassen. Die historische Reihe dieser aufeinander aufbauenden Entwicklung muss jeder Autor kennen, wenn er Formen erfinden will, die von anderen Teilnehmern des Feldes als Innovation auch erkannt und anerkannt werden sollen. Obwohl Bourdieu Tynjanov wegen seines Formalismus kritisiert, der Werken nur aufgrund einer ihnen angeblich innewohnenden immanenten Logik das Prinzip einer kumulativen und unumkehrbaren Kenntnis (im Sinne einer Reihe) zuspricht, ohne den modus operandi der Autoren zu berücksichtigen, ist seine Feldtheorie dennoch durch Tynjanov beeinflusst.14 Schon allein der Begriff des symbolischen Kapitals zielt ja auf die Fähigkeit, eine kumulative Zunahme von Kenntnis als historische Entwicklung im Sinne einer Reihe aufeinander aufbauender Innovationen beschreiben zu können.15 Laut Müller liegen nun die Anfänge eines Mediums deswegen stets im Dunkeln, weil Anfänge einer Reihe stets Reihen anderer Medien auf sich vereinigen, wie eben der Film zunächst die Reihe des Theaters, der 10 | Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 227–279. 11 | Ebd., S. 344. 12 | Ebd., S. 471 f. 13 | Jürgen E. Müller, »Séries culturelles audiovisuelles ou: Des premiers pas intermédiatiques dans les nuages de l’archéologie des médias«, in: ders./Marion Froger (Hg.): Intermédialité et socialité. Histoire et géographie d’un concept, Münster: Nodus 2007, S. 93–110, hier: S. 97. 14 | Zur Kritik an Tynjanov vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 322. 15 | Zur unumkehrbaren kumulativen Kenntnis der Feldgeschichte vgl. ebd., S. 470 f. 171
Thomas Becker
Fotografie, der literarischen Erzählung etc.16 Dies lässt sich auch für den Comic bestätigen, wo sich Amerikaner und Franzosen über den Beginn des Comics im 19. Jahrhundert streiten – dieser Streit sei hier nur der gebotenen Kürze wegen als Indiz dafür angeführt, dass auch beim Comic verschiedene Reihen in verschiedenen Ländern die Entstehung des Feldes bestimmt haben (Film, Roman, Karikatur, biblia pauperum, Stich, Bilderzählung, Cartoon, Grafikdesign etc.).17 Schon die Beobachter eines Feldes sind selbst dabei in einem Kampf um Positionen involviert. Wenn im Falle der Comics Höhlenmalerei, antike Friese, Totenbücher, Kupferstiche, der Teppich von Bayeux, die Hieroglyphen etc. als Ursprung des Comicstrips angeführt werden, so ist dies sicherlich dem Hang der Beobachter geschuldet, ihren Gegenstand kulturell aufzuwerten. Würde man alle diese Theorien und Strategien ernst nehmen, so spottet der Comichistoriker David Kunzle über diese Praxis,18 müsste man wohl im Falle einer Ausstellung zum Comicursprung die gesamten Werke des Louvre und des British Museum zusammentragen. Die Theorie der kulturellen Reihe muss daher durch Beschreibung der Feldkämpfe um Legitimität ergänzt werden – und zwar sowohl im beobachteten Gegenstand als auch unter Beobachtern selbst. Gerade die anfängliche, chaotisch anmutende Intermedialität der Reihen verschwindet nicht etwa mit zunehmender Institutionalisierung und Standardisierung eines Mediums, sondern nimmt auf dem Pol der Au16 | Müller: »Séries culturelles audiovisuelles«, S. 97. 17 | Die ersten Monografien zu Comics von Coulton Waugh (1947) und Stephen Becker (1959) nennen Richard Felton Outcault, Rodolphe Dirks und James Swinnerton in der New Yorker Presse um 1895/96 als die ersten Pioniere des Comics, was bis heute die dominante Wahrnehmung der Comicgeschichte prägt: Coulton Waugh: The Comics, New York: Luna Press 1974 [Reprint von 1947], S. 22 f. Stephen Becker: Comic Art in America, New York: Simon and Schuster 1959, S. 8 ff. Dagegen beruft sich die französische Tradition darauf, dass die zu Beginn des 19. Jahrhunderts von dem Schweizer Rodolphe Töpffer entwickelten langen sequenziellen Bilderzählungen, welche Schrift und Bild kombinieren, nicht nur früher sind, sondern auch einen nachweisbaren Einfluss auf die Entstehung des industriell produzierten Comics in den USA ausgeübt hätten. Groensteen: Un objet culturel non identifié, S. 105 f. Zum Streit über das angebliche 100-jährige Jubiläum des Comics im Jahr 1995/96: Thierry Groensteen: »Retour sur une controverse. La bande dessinée avant (et après) le comic strip«, in: Neuvième Art. Les cahiers du Musée de la Bande Dessinée 2 (Januar 1997), S. 114. 18 | David Kunzle: History of the Comic Strip, Bd. I: The Early Comic Strip. Narrative Strips and Picture Stories in the European Broadsheet, 1450–1825, Berkeley: University of California Press 1973, S. 2. 172
Graphic Novel – eine ›illegitime‹ Medienkombination?
tonomisierung als Gegenbewegung zur (heteronomen) Standardisierung zu. So geht die scheinbar einschlägige Definition des Comics als Genre einer Medienkombination aus Text und Bild gerade dort fehl, wo sich seine Produktionsbedingungen differenzieren und autonomisieren. Daher muss man die der taxonomischen Normalerscheinung widersprechenden Erscheinungsformen des Comics vielmehr als regelhafte Distinktionsstrategien eines Kampfs um kulturelle Legitimität ansehen, welche die interne Differenzierung des Feldes vorantreibt. Es wäre in diesem Sinne durchaus angebracht, von intermedialer Autorschaft zu reden. Denn gerade die Autoren am Pol der nicht durch Nachfrage bestimmten Produktion zeigen einen starken Hang zur Abweichung gegenüber der standardisierten Medienkombination. Einzelne Werke jedoch, wie etwa stumme Comics, die gerade an diesem Pol auftauchen, sind von der Taxonomie her gesehen nicht mehr als Medienkombination zu bezeichnen, obwohl der Wechsel von der normalisierten Hybridität zwischen Schrift und Bild zu einem reinen Bildmedium für einen Autor eine Strategie darstellen kann, die Potenz zur Intermedialität seines Mediums im Feld zu verstärken und zu differenzieren. Der spezifisch intermediale Wechsel in der Produktionsweise, der durch den restringierten Markt und dessen soziale Bedingungen favorisiert wird, kommt also in einer rein taxonomischen Einteilung nicht zur Sprache. Damit sind wir auch bei einem wichtigen Punkt in der methodischen Auseinandersetzung um das poststrukturalistische Erbe der Intermedialitätstheorien. Bourdieu hat in seiner frühen ethnologischen Studie zur kabylischen Gesellschaft den Begriff der Regel durch den der Strategie ersetzt, was einer Kritik am zu statischen Strukturbegriff in der für den kulturwissenschaftlichen Strukturalismus wichtigen Gründungsschrift Elementare Strukturen der Verwandtschaft von Lévi-Strauss geschuldet war.19 So konnte Bourdieu zeigen, dass Ausnahmen von Heiratsregeln in bestimmten Fällen zur Regel werden, wenn man sie als Strategien auffasst, welche die Struktur transformieren. Eine Regel ist dann nicht mehr einfach Ergebnis einer vorgegebenen Struktur, sondern kann analog zu Chomsky auch umgekehrt die Struktur dynamisch verändern. Übertragen auf das Feld des Comics wird deutlich, dass ein Genre nicht als starres taxonomisches Regelsystem verstanden werden darf, auch wenn den scharfsinnigen Unterscheidungen Irina Rajewskys das unbestrittene 19 | Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 217 ff. 173
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Verdienst zukommt, für Orientierung im Dschungel der Intermedialitätsdiskurse gesorgt zu haben.20 Ihre Klassifikationen – und damit kommen wir zum zweiten Punkt einer soziologischen Reflexion über die Legitimität – müssen jedoch gerade dort notwendig intermediale Vernetzungen verkennen, wo taxonomische Schärfe eine Reflexion auf die eigene soziale Position als Bedingung der Möglichkeit der Klassifizierungen insbesondere gegenüber weniger ›legitimen‹ Medien ausblendet. Nehmen wir dazu als Beispiel Rajewskys Analyse der Kurzgeschichte »Uccelli da gabbia e da voliera« von Andrea De Carlo, wo sie die Imitation eines Comics als filmisches Schreiben identifiziert. Ich zitiere aus ihrer deutschen Übersetzung: »Um drei Uhr nachmittags bin ich in meinem weißen MG auf der Goldfinch Avenue, Richtung Hills, mit einer Stones-Cassette im voll aufgedrehten Stereoapparat, und überfahre ein Stopplicht, ohne es zu bemerken. Von rechts kommt ein hellgrüner Chevrolet, gleitet heran wie ein kleiner Wal unter Wasser. Ich mache keinen Versuch zu bremsen oder das Steuer herumzureißen oder so. Ich sehe das Hellgrün auf mich zukommen, ohne den Fuß vom Gas zu nehmen. Es macht ein volles, sattes Geräusch: eine Art hochkonzentriertes PTRAC, bei dem die verschiedenen Laute sich in- und übereinanderschieben, statt sich in alle Richtungen auszubreiten, wie es normal wäre. Der MG hat keine Knautschzone, keinen Platz für die Beine; er wirbelt blitzschnell herum. Ich sehe die Kreuzung aus mehreren Blickwinkeln gleichzeitig; aus dem Stand in umgekehrter Richtung zur Fahrtrichtung.«21
»PTRAC« kann als Indikator des Comics verstanden werden, da es als ein sogenanntes ›Soundword‹ funktioniert, das im Comic den Tonfilm nachahmt. Dass sich der Ton nicht gleichmäßig verteilt, ist eben so nicht im Film möglich, sondern nur im Comic, wo das Soundword immer nur einen Teil des Bildes einnimmt und dabei zur bildlichen Veranschaulichung des Crashs Buchstaben typografisch ineinanderschieben kann. Der subjektiv erlebte akustische Ton verbreitet sich im Kino gleichmäßig in alle Richtungen von der Tonquelle aus. Rajewsky redet von einer Kontamination des filmischen Mediums mit Literatur, die der Autor im Text selbst angebe. Aber dies widerspricht nicht dem Comic, der dem Film in seiner kulturellen Entwicklung seit den späten 1930er Jahren sehr nahe steht. Anders als in einem Film hingegen ist die synchrone Wahrnehmung von Bildfolgen im Kino Anfang der 1980er Jahre kaum zu finden. Im Co20 | Irina Rajewsky: Intermedialität, Tübingen, Basel: Francke 2002. 21 | Ebd., S. 124. 174
Graphic Novel – eine ›illegitime‹ Medienkombination?
mic ist die synchrone Wahrnehmung der Sequenzen eine normalisierte Ausdrucksform, da mehrere Ansichten eines in sequenziellen Bildfolgen wiedergegebenen Ereignisses jederzeit in der Gesamtansicht der Comicseite gelesen werden können.22 Zugleich ist dies erst der Schlüssel zur scheinbar schizoiden Dissonanz zwischen erlebendem und erzählendem Ich in dieser Kurzgeschichte. Zum einen wird das Ereignis beschrieben wie ein linear in der Zeit ablaufendes Erlebnis, zugleich aber, wie sich dasselbe sequenziell ablaufende Ereignis aus der Sicht eines Comiclesers synchron und damit in Distanz zum zeitlich organisierten Erleben ausnehmen kann. Dies ist nun aber umso interessanter, als sich der Autor damit von der schon in der bildenden Kunst erreichten avantgardistischen Abgrenzung zur ›legitimen‹ Kunst durch Comics bei Roy Lichtenstein und Andy Warhol absetzt, die sich zur Zeit der Abfassung der Kurzgeschichte, also Anfang der 1980er Jahre, längst etabliert hat und keine Innovation mehr darstellt. Anders als die bildliche Distinktion von ›legitimer‹ Kunst mittels gering legitimiertem Comicbild in der Pop-Art der frühen 1960er Jahre wird die Illusion des Comics in der Erzählung durch die Illusion eines Lesens von sequenziell aufeinanderfolgenden Bildern plus einer synchronen Lesart der Comicseite erzeugt, während die Pop-Art das Comicbild als großformatiges Einzelbild vollkommen aus einer sequenziellen Folge herausreißt. Das dem Bild wesentlich fernere Medium der Literatur ist hier auf der formalen semiotischen Ebene einer intermedial erzeugten Illusion dem Comic näher als die bildende Kunst. De Carlo spielt mit dem, was Iser in Bezug auf literarische Texte den »impliziten Leser« nennt, was man hier als implizit vorausgesetzte Medienkompetenz des Lesers spezifizieren kann, da eine Comiclesart nirgendwo im Text offen indiziert wird: Das Zusammensetzen der Bilder zu einer linearen Erzählung hängt beim Comic von der Aktivität des Lesers ab und ist eben nicht wie im Film vom Medium vorgegeben, so dass es ihm anders als dem Zuschauer des Films immer möglich ist, nicht nur einen zeitlich linear ablaufenden Film in seinem Kopf zu imaginieren, sondern auch die sequenziell angeordneten Bilder im Gegenzug dazu synchron zu lesen. Selbstverständlich kann man die schizoide Drift zwischen Erlebniserzählung und distanzierter Beschreibung in De Carlos Kurzgeschichte auch ohne diese Medienkompetenz wahrnehmen, aber durch sie erkennt man erst die 22 | Unter Comictheoretikern ist dies inzwischen zu einer Standardtheorie geworden. Siehe dazu Harry Morgan: Principes des littératures dessinées, Paris: L’An 2 2003, S. 31 f. 175
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Innovation gegenüber einer ›filmischen‹ Schreibweise. Erst diese Identifikation mit der gegenüber der Literatur geringer legitimierten Kompetenz des Comiclesers lässt die Erzählweise des Autors innerhalb der kulturellen Reihe postmoderner Avantgarden als innovative Technik dekodierbar werden, die sich mit dem ›illegitimen‹ Comic von dem längst bekannten und zur ›legitimen‹ Literatur gehörenden Zusammenspiel zwischen Film und Literatur ebenso abgrenzt wie von der Pop-Art in der bildenden Kunst. Die Missachtung der Kämpfe um Legitimität betreffen jedoch nicht nur taxonomische Einteilungen. Gerade die extrem dynamischen Beschreibungen, die einer rhizomatischen Remedialisierung von Medien gerecht zu werden versuchen,23 stellen hier ein Bollwerk gegen eine soziologische Analyse von Legitimitätskämpfen dar. Scheinen sie gegenüber taxonomischen Klassifizierungen und klassischem Strukturalismus den Vorteil der dynamischen Betrachtung zu haben, so gehen sie jedoch meist nur von den semiotischen und technischen Möglichkeiten der Medien aus, die nicht die psychosozialen Träger und damit die sozial unterschiedlich verteilten Medienkompetenzen berücksichtigen. Ihre Dynamizität ist eine körpervergessene Intermedialität. Ohne zu bezweifeln, dass die moderne bewusstseinsunabhängige Remedialisierung aller Medien etwas Rhizomatisches hat, muss man diese Vorstellung so lange einen körpervergessenen Essenzialismus nennen, wie nicht die sozial unterschiedlich inkorporierten und damit unterschiedlich verteilten Medienkompetenzen für die Dekodierung von Intermedialität zur Sprache kommen. Strukturen, wie rhizomatisch sie auch sein mögen, vernetzen sich nie von selbst, es bedarf immer ihrer Inkorporation durch psychosoziale Träger, ohne die Strukturen keine Geschichte haben. Medien und Strukturen haben nicht aus sich selbst heraus eine Geschichte. Aber da sich postmoderne Denker nicht vorstellen können, dass es soziale Strategien und Kämpfe jenseits von Sinnstrukturen und bewussten Aktionen gibt, muss man von einer regelrechten ›resistance‹ gegen eine soziologisch versierte 23 | So zum Beispiel Stefan Kramer: »Hypermediale Key Visuals«, in: Joachim Paech/Jens Schröter (Hg.): Intermedialität. Analog/Digital. Theorien – Methoden – Analysen, München: Wilhelm Fink 2008, S. 100: ›Key Visuals‹ werden vom Autor als »Bedeutungskonstrukteure« beschrieben. Was immer ›Key Visuals‹ sein mögen, sie werden damit zu Subjekten, die Bedeutung ohne jegliche psychosoziale Träger konstruieren. Dinge, Medien oder Visuals können aber nicht handeln ohne psychosoziale Träger. Der Körper als Medium wird in solchen Theorien im Namen einer umfassenden rhizomatischen Vernetzung komplett vergessen. 176
Graphic Novel – eine ›illegitime‹ Medienkombination?
Intermedialitätstheorie reden. Dabei hat Bourdieu mit seiner Habitustheorie eine Konzeption eingebracht, nach der Strategien gerade nicht mehr wie bei Max Weber nur mit sinnvollen und bewussten Aktionen identifiziert werden können.24 Im einzigen Aufsatz, welcher im von Jürgen Müller herausgegebenen Band Intermédialité et Socialité Legitimität thematisiert, identifiziert Elitza Dulguerova jegliche soziale Vermittlung von Kunst durch Medien mit Heteronomie, als wenn die Autonomie von Kulturproduzenten das Gegenteil von sozialen Verhältnissen und damit nur als eine rein subjektivistische Selbstgesetzgebung zu verstehen wäre: »L’espace des medias est un lieu public, alors que les productions artistiques – même lorsqu’elles sont à la recherche d’une loi ›objective‹ – relèvent d’un regime privé et subjectif de production.«25 Dass bei einem solchen Verständnis von Autonomie des Künstlers jede moderne Avantgarde und damit deren mediale wie soziale Vermittlung automatisch als heteronom gelten muss, entstammt nicht nur einem ebenso naiven wie asozialen Begriff von Autonomie, er demonstriert noch einmal des Zentrum der Soziologiefeindlichkeit: Demnach ist ein Autor sozialer Strategien eben nur ein bewusstes Subjekt und kann in modernen bewusstseinsunabhängigen intermedialen Strukturen nur noch als heteronomer Fremdkörper auftauchen. Bourdieu hat diese Opposition zwischen Autor und anonymen Strukturen in seinen Regeln der Kunst als falsche Debatte entlarvt: Der Autor ist auch bei ihm selbstverständlich kein souveränes Subjekt, er ist eben ein Effekt von Feldkämpfen, aber gerade dies ermöglicht erst die Analyse sozialer Kämpfe und Strategien als Mittel zur Entstehung eines autonomen Autorenstandpunktes und nicht seiner Abdankung.26 Und zugleich entspricht Bourdieu damit einem postmodernen Denken, das Strukturen weder aus einem subjektiven Bewusstsein noch aus Sinnkonzeptionen ableitet, nur dass er eben 24 | Vgl. Pierre Bourdieu in: ders./Loïc J. D. Wacquant: Reflexive Anthropologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 161: »Die menschliche Existenz, der Habitus als das Körper gewordene Soziale, ist jene Sache der Welt, für die es eine Welt gibt; Pascal hat das so ausgedrückt: ›Le monde me comprend, mais je le comprends‹ – also etwa: Ich bin in der Welt enthalten, aber die Welt ist auch in mir enthalten. Die soziale Realität existiert sozusagen zweimal, in den Sachen und in den Köpfen, in den Feldern und in den Habitus, innerhalb und außerhalb der Akteure. Und wenn der Habitus ein Verhältnis zu seiner sozialen Welt eingeht, deren Produkt er ist, dann bewegt er sich wie ein Fisch im Wasser und die Welt erscheint ihm selbstverständlich.« 25 | Elitza Dulguerova: De l’hétéronomie de l’art moderne, in: Müller/Froger (Hg.): Intermédialité et socialité, S. 39–50, hier: S. 49. 26 | Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 303 f. und insbesondere S. 340 ff. 177
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die habituellen Differenzen der psychosozialen Träger von Strukturen als dynamisches Movens der Geschichtlichkeit von Strukturen beschreiben kann.27 Damit folgt notwendig, dass sozial unterschiedlich verteilte Medienkompetenzen berücksichtigt werden müssen, die den Ausgangspunkt für symbolische Distinktionskämpfe und Strategien darstellen. Angesichts einer sozial unterschiedlich verteilten Medienkompetenz zur Dekodierung einer dynamisch zu verstehenden Intermedialität ist es allerdings ein Manko von Bourdieus Theorie, dass sie immer nur das mangelnde Wissen geringer legitimierter Kulturproduzenten und Rezipienten gegenüber ›legitimer‹ Kultur als verkennende Anerkennung analysiert hat – als eine Anerkennung von symbolischen Formen ›legitimer‹ Kultur ›von unten‹, der jedoch das Wissen zur Dekodierung der Werke fehlt.28 Wir haben es hingegen bei der Graphic Novel meist mit ihrer anerkennenden Verkennung durch Intellektuelle mit hohem kulturellem Kapital zu tun. Ein Beispiel für die anerkennende Verkennung ›von oben‹ gegenüber Autonomisierungstendenzen eines ›illegitimen‹ Medienwissens gibt der Oxford Companian to Twentieth Century Literature, der die Graphic Novel folgendermaßen erläutert: »a long comic in book form containing a fictional or non-fictional narrative with a thematic unity. Since 1986, graphic novels have been increasingly popular, they are mainly about 50 pages in length, in full color, and with card covers.«
An dieser Bestimmung stimmt fast nichts. Zum Datum 1986 kommt es, weil es der Beginn des Massenerfolgs von Art Spiegelmans HolocaustComic MAUS ist, was auch durch die Einschränkung ›non-fictional narrative‹ indiziert wird. Denn MAUS ist keine fiktionale Geschichte, sondern die Biografie eines Überlebenden. Die massenhafte Rezeption einer anspruchsvollen Graphic Novel trifft bisher fast nur auf MAUS zu. MAUS übersteigt heute allein in den USA die Auflage von einer halben Million Exemplare. Alle anderen komplexen Graphic Novels (mit der bisher neben MAUS einzigen Ausnahme Persepolis von Marjane Satrapi) kommen in der Regel auf eine Auflagenzahl von etwa 500 bis 1000. Aber Comic ist nun mal in der Wahrnehmung von Literaturwissenschaftlern ein populäres Medium, was nur ein sozialer Euphemismus für einen Ausschluss 27 | Loïc J. Wacquant: Einführung, in: ders./Bourdieu: Reflexive Anthropologie, S. 76. 28 | Bourdieu: Die feinen Unterschiede, S. 503 ff. 178
Graphic Novel – eine ›illegitime‹ Medienkombination?
a priori aus der ›legitimen‹ Position kultureller Produkte ist.29 Das zeigt sich in der Rezeption von MAUS auch daran, dass Literaturwissenschaftler ebenso wie das hier zitierte Oxforder Literaturlexikon diesen Comic erst dann wahrgenommen haben, als er in Buchform 1986 bei Pantheon Books vorlag. Dieselben Kapitel des Buches waren jedoch schon seit 1980 im von Spiegelman und seiner Frau Francoise Mouly herausgegebenen avantgardistischen Comicheft Raw erschienen, wo sie in einer Auflage von 5000 Stück nur wenigen Lesern aufgefallen waren.30 Vor der Buchveröffentlichung teilte diese Graphic Novel also genau jenes Schicksal, das allen komplex strukturierten Graphic Novels auch heute noch immer zukommt und kaum mit Popularität beschrieben werden kann. Diese durch den ›legitimeren‹ Standpunkt des Literaturwissenschaftlers vorgegebene anerkennende Verkennung anspruchsvoller Comics geht aus einer mangelhaften Medienkompetenz gegenüber Autonomisierungstendenzen von Genres beziehungsweise kulturellen Reihen innerhalb ›illegitimer‹ Medien hervor. ›Illegitime‹ Medien wie Comics unterliegen in ihrer Differenzierung anderen Bedingungen der sozialen Reproduktion. Die verkennende Anerkennung ging bei MAUS so weit, dass einige Literaturwissenschaftler sich weigerten, MAUS als Comic anzuerkennen, weil er zu anspruchsvoll, mithin Literatur sei. Damit wird zwar das Werk Spiegelmans anerkannt, die Autorschaft des Comicproduzenten und die kulturelle Reihe eines Comicfeldes jedoch schlichtweg verkannt. 29 | Der Comic-Historiker Joseph Witek zählt mehrere Versuche auf, wie Kunsthistoriker und Literaturkritiker der ›legitimen‹, schulisch abgesicherten Kultur MAUS eine komplexe Erzählstruktur nur unter Ablehnung seines Comicstatus zusprechen: »Most notable was the New York Times Book Review, which began its November 3, 1991 issue with the rather perplexing line, ›Art Spiegelman doesn’t draw comics.‹ Then the Village Voice wrote, in a review of a Museum of Modern Art exhibition of materials from the writing of Maus II, ›that Spiegelman is an original, a hybrid artist who has genuinely created a new form. . . . But Maus is not exactly a comic book, either; comics are for kids.‹ These categorical assertions are no doubt news to Art Spiegelman himself, who, though he has labored for years to expand the definition of what a comic book is and what it means to ›draw comics‹, has never suggested that he was doing anything else.« (Joseph Witek: »Imagetext, or, Why Art Spiegelman doesn’t Draw Comics«, in: ImageTexT. Interdisciplinary Comics Studies 1 [2004] 1, Internetzeitung der University of Florida, http://www.english.ufl.edu/imagetext/archives/ v1_1/witek/ vom 6. Januar 2009.) 30 | Bill Kartapoulos: »A RAW History. The Magazine«, in: Indy Magazine, vierteljährlich erscheinendes Comic-Webmagazin, Winter 2005, http:// 64. 23.98.142/indy/winter_2005/raw_02/index.html, vom 22. Oktober 2007. 179
Thomas Becker
Und wenn MAUS von Literaturwissenschaftlern als Comic ernst genommen wurde, wurde die Geschichte des Comicfeldes durch die Brille des modus operandi ›legitimen‹ kulturellen Kapitals der Literaturwissenschaft gesehen und damit missverstanden. So hat ein Literaturwissenschaftler zum Beispiel anhand einer Szene am Ende von MAUS, in welcher der Vater Art Spiegelmans die Figur Artie mit seinem im Laufe der nationalsozialistischen Verfolgung umgekommenen Bruder verwechselt, behauptet, dass sich hier der Autor von Comics als Waise darstelle.31 Helen Epstein hat in ihren Studien und Interviews mit Kindern von Überlebenden gezeigt, dass diese sich als Waisen empfinden. Also lag der Schluss nahe, hier demonstriere sich ein Autor eines Mediums für Jugendliche und Kinder als vaterlos, um per Comic einer ganzen Generation einen symbolischen Ausdruck verleihen zu können. Nun zählte sich aber gerade Spiegelman zum amerikanischen Underground, der sich in distinkter Wendung gegen die vom Massenmarkt definierte Konzentration des Comics auf Jugendliche seit mehr als 20 Jahren formiert hatte. Als Undergroundproduzent hat er stets nur Sujets für Erwachsene aufgegriffen.32 Es gibt nicht nur die zu hohe Anerkennung von Kultur, der das Wissen fehlt, also das, was Bourdieu dann die verkennende Anerkennung ›legitimer‹ Kultur durch untere soziale Klassen nennt. Hier haben wir es mit mangelnder Kompetenz von Akteuren der ›legitimen‹ Kultur mit hohem kulturellem Kapital gegenüber weniger ›legitimen‹ Medien zu tun, in denen sich eindeutige Autonomisierungstendenzen zeigen, deren Effekte in Form von Werken dann zwar anerkannt, aber deren spezifische Produktionsbedingungen und deren an eine Feldentwicklung gebundene Autorschaft zugleich verkannt werden. Und dies erklärt dann auch, warum künstlerische Avantgarden den Intermedialitätstheoretikern oftmals vorweg sind. Denn Avantgarden suchen in ihrem intermedialen 31 | Hamida Bosmajian: »The Orphaned Voice in Art Spiegelman’s Maus«, in: Deborah R. Geis (Hg.): Considering Maus. Approaches to Art Spiegelman’s ›Survivor’s Tale‹ of the Holocaust, Tuscaloosa, London: University of Alabama Press 2003, S. 30. 32 | In einem Interview von 1982, lange vor dem Hype um MAUS , antwortete Spiegelman auf die Frage, was für ihn ›konservative Kunst der Comics‹ bedeute: »›Conservative‹ means literally wanting to keep all of these values that there were, which often means comics as kid culture. In a sense underground comics played off comics-as-kid-culture.« (Jewish Mice, Bubblegum Cards, Comics Art, & Raw Possibilities, Art Spiegelman und Françoise Mouly im Interview mit Joe Cavalieri und Gary Groth, in: The Comics Journal 65 [August 1981], S. 98–121, hier: S. 124.) 180
Graphic Novel – eine ›illegitime‹ Medienkombination?
Spiel den Abstand zwischen ›legitimen‹ und weniger ›legitimen‹ Medien immer wieder neu auszuloten, seit es in der modernen Literatur mit Baudelaire regelrecht zum Bewegungsgesetz oder eben einer kulturellen Reihe der Avantgarde wurde,33 den Kanon der im Feld der Macht anerkannten Legitimität mittels Aufwertung der wertlosen oder ›illegitimen‹ Medien in Frage zu stellen. Durch den Vergleich mit anderen Kulturen wird aber auch die kulturelle Prägung durch unterschiedliche Medienkompetenzen deutlich. Die für die westliche Welt so sensible Grenze zwischen Bild und Wort geht in anderen Kulturen wie zum Beispiel in Japan von einer ganz anderen Tradition aus. Das Schreiben in das Bild gehört dort zur gehobenen Kunst, während in der westlichen Tradition einer solchen intermedialen Praxis seit der von McLuhan analysierten Revolution der Gutenberggalaxis der Todesstoß versetzt wurde und sie dann erst wieder mit Avantgarden des 20. Jahrhunderts auftauchte. Text und Schrift wurden jedenfalls in Europa jahrhundertelang klar erkennbar getrennt. Ein zweiter Schritt, der das Schreiben in das Bild diskriminiert, wie er erst wieder mit der Sprechblase aufkommt, ist dann das Zeitalter der Repräsentation, das laut Michel Foucault und Gilles Deleuze die Sichtbarkeit von der Sagbarkeit seit der Mitte des 17. Jahrhunderts trennt.34 Die Vermischung von Bildanalogien und Sprache taucht Foucault zufolge nur noch in der Literatur als Widerstand gegen die wissenschaftliche Episteme der Repräsentation zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf.35 Die Literatur weigere sich seither, in Form des »signifikative[n] Funktionierens der Sprache«36 verstanden zu werden, sie habe nicht mehr eine Bedeutung, sondern beziehe sich auf ihr eigenes Sein. Allerdings hat diese Archäologie Foucaults den Mangel, dass sie noch keine Machtdispositive analysiert und daher diesen Widerstand der modernen Literatur gegen wissenschaftliche Repräsentation als zu absolut und zu romantisch ansieht, zumal von Balzac über Flaubert und Zola bis hin zu Musil ein breiter Strom von anspruchsvoller Literatur 33 | Dazu Thomas Becker: »Subjektivität als Camouflage. Die Erfindung einer autonomen Wirkungsästhetik in der Lyrik Baudelaires«, in: Norbert Christian Wolf/Markus Joch (Hg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis, Tübingen: Niemeyer 2005, S. 159–176, hier: S. 172 f. 34 | Michel Foucault: »Das Sein der Sprache«, in: ders.: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 74–77; Gilles Deleuze: »Das Sichtbare und das Sagbare (Wissen)«, in: ders.: Foucault, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 69–98. 35 | Foucault, »Das Sein der Sprache«, S. 76 f. 36 | Ebd., S. 77. 181
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der Moderne existiert, die wissenschaftliches Denken nicht nur zu ihrem Vorbild erklärt hat, sondern dabei durchaus dem Ideal der Repräsentation etwas abgewinnt. Balzac nennt Cuvier in Das Chagrinleder aufgrund seiner mathematischen Definitionen einen »Dichter mit Zahlen«.37 Zola vertritt einen analytischen Beobachterblick, der Begriffe ›klar wie ein Glashaus‹ zu erschaffen habe, wobei er sich nicht nur auf Claude Bernards Technik des wissenschaftlichen Experiments bezieht, sondern auch auf die Sprachkonzeption des 18. Jahrhunderts, welche an eine eindeutig festlegbare Signifikation glaubte.38 Sehen wir das Repräsentationszeitalter von der Warte der Kämpfe um ›legitime‹ Kultur aus, so wird deutlich, wie sich ein Widerstand der Literatur gegen die Trennung von Sichtbarem und Sagbarem schon in der wissenschaftlichen Sprache des Repräsentationszeitalter selbst ausgebildet hat, der dann jedoch die Episteme der Repräsentation bis hin in die Moderne gerade stützen konnte. Der Widerstand gegen die Trennung von Wort und Bild in der Wissenschaft zielte auf die mentale Vermischung von Bildern und Sprache, welche allein durch die Dominanz des geschriebenen literarischen Textes möglich sein sollte, was dem Textautor fortan zur monomedialen Hegemonie in der Erzählung mit Bildern verhalf. Auf das vielfach zitierte Verdikt Lessings, dass nur Literatur linear erzählen soll, nicht aber Bilder, muss hier nicht expressis verbis hingewiesen werden. Auf der entsprechenden Gegenseite der Bildproduktion wird von Comicautoren und Theoretikern im 20. Jahrhundert die Vorreiterrolle von Hogarth herausgehoben, der als Erster im 18. Jahrhundert Bilder in sequenziellen Folgen zum Zwecke einer Erzählung aufstellte. Hogarth selbst benutzte für seine sequenziell angeordneten Bilderzählungen den Begriff ›novels in paint‹.39 Hogarth bringt zwar Bild und Wort zusammen, ordnet sie aber festen, einander zugeordneten, unveränderlichen Orten des Bildraums zu. Das Wort ist immer als 37 | Honoré de Balzac: Das Chagrinleder, in: ders.: Die Menschliche Komödie. Gesamtausgabe in zwölf Bänden, hg. v. Ernst Sander, München: Goldmann 1998, Bd. XI, S. 30: »Er [Cuvier] ist ein Dichter mit Zahlen; er ist erhaben, wenn er eine Null neben eine Sieben setzt. Er erweckt das Nichts, ohne gekünstelte Zauberworte auszusprechen; er durchwühlt ein Fleckchen Kalkboden, gewahrt darin einen Abdruck und ruft uns zu: ›Seht!‹ Plötzlich wird der Marmor beseelt, der Tod wird lebendig, die Welt entrollt sich.« Zuvor (S. 29) nennt Balzac Cuvier unmissverständlich den größten Dichter des Jahrhunderts. 38 | Zola fordert in Les romanciers naturalistes von 1881 eine »langue nette, quelque chose comme une maison de verre laissant voir les idées à l’intérieur« (Les romanciers naturalistes, in: ders.: Œuvres complètes, hg. v. Henri Mitterand, Paris: Cercle du livre précieux 1966 ff., Bd. XI, S. 92). 39 | Morgan: Principes des littératures dessinées, S. 20. 182
Graphic Novel – eine ›illegitime‹ Medienkombination?
Unter- oder Überschrift zu sehen und kennt keinen frei wählbaren Ort auf dem Papier. Hogarths explizit formulierter Anspruch, sich von populärer Karikatur abzusetzen, um höhere Legitimität zu beanspruchen, folgt innerhalb einer Wort und Bild vereinigenden Medienkombination dem durch Wissenschaft geprägten Zeitalter der Repräsentation, welche Sagbarkeit und Sichtbarkeit für anspruchsvolle kulturelle Güter trennt. Nur jene englischen Karikaturisten, die nicht denselben Anspruch auf Legitimität vertraten, verwandten schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Sprechblase. Aber diese bleibt nicht nur ein sehr sparsam eingesetztes Mittel. Die Sprechblase hat darüber hinaus noch keine dialogischdramatische Form, sondern gehört der konzeptionellen Funktion einer Kommentierung des Bildes an. Auch der Schweizer Rodolphe Töpffer, dessen lange Erzählungen in Bildsequenzen am Ende der 1820er Jahre von Goethe lobend hervorgehoben40 und gerne von Germanisten als Ursprung von Comics angesehen werden, weist der Schrift einen eindeutig festgelegten Ort im Sinne Hogarth zu. Schrift und Bild stehen einander gegenüber wie in der Signifikation der Repräsentation Zeichen und Bezeichnetes. Die frei im Bildraum positionierbare Sprechblase kommt auch bei ihm nirgends vor. Die Standardisierung der Bildgeschichten mit Sprechblasen taucht in der New Yorker Presse seit den 1890er Jahren mit den Zeichnungen des Iren Richard Felton Outcault auf. Seine Bilderzählungen wurden von Joseph Pulitzer und später William Randolph Hearst eingesetzt, um die Auflagenzahl zu erhöhen, indem man die unteren sozialen Klassen damit unterhielt, ohne dabei jedoch wie in der Alten Welt Rücksicht auf Legitimität nehmen zu müssen. Bekanntlich trägt die Massenpresse seither den Titel Yellow Press nach der von Outcault erfundenen, im gelben Schlafrock gezeichneten Comicfigur The Yellow Kid. Massenhafte Auflagen kannten zwar auch schon Wilhelm Buschs Bilderzählungen in Deutschland; in New York kommt jedoch hinzu, dass die Hauptabnehmer Immigranten sind, so dass eine ›legitime‹ Sprache noch keineswegs gesichert war und dem Bild der Massenmedien eine neue Funktion der Informationsübermittlung zukam. Nur dieser vom Anspruch auf Legitimität der Sprache befreite Markt vermochte die Sprechblase zum Standard einer Erzählung in Bildern zu machen, so dass eine frei positionierbare Schrift 40 | Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgabe, hg. v. Karl Richter, Bd. 19: Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hg. v. Heinz Schlaffer, München: Hanser 1986, S. 679 (4. Januar 1831). 183
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in das Bild einbrach und die lang eingeübte Legitimitätsgrenze übertreten konnte.41 Und als am Ende der 1930er Jahre die sogenannten Abenteuercomics wie Superman und Batman aufkamen, welche die Filmsprache in die Comics einführten, so dass jedes Panel einen unterschiedlichen Kamerablick zeigte, brach der Markt für Pulps, also was wir Dreigroschenromane nennen würden, zusammen. Die meisten Verlage von Pulps in den USA stellten mit Aufkommen der Abenteuercomics auf Comicproduktion um.42 Zeigt sich daran etwa, dass das Erzählen mit Bildern zur neuen hegemonialen Dominanz wurde, die die Literatur ablöste und somit als ein Beweis für den von W. J. T. Mitchell ausgerufenen Iconic Turn zu werten ist? Aber damit würde dann doch wieder die Kombination aus Text und Bild übersehen, welche die Distributionskraft der Abenteuercomics gegenüber dem rein geschriebenen Unterhaltungsroman nicht unwesentlich erhöhte. Dazu als Ausblick eine provokative Abschlussthese. Die neuen modernen Bildmedien des Kinos und des Videos oder des Computers haben eine Symbiose von Bildautor und Schriftautor verstärkt, welche das generative Kraftwerk einer transmedialen Vernetzungsenergie für Narrationen geworden ist: So ging etwa, um nur eines von vielen Beispielen zu nennen, der Filmtrilogie Matrix der Cyberpunkroman Neuromantics von William Gibson voraus, dem die Verarbeitung in einem Manga und im gleichnamigen Animationsfilm Ghost in the Shell folgte, was wiederum Videospiele im Internet inspirierte.43 Vielleicht darf man die absolut gleichzeitige und gänzlich voneinander unabhängige Entstehung der modernen Comicproduktion in New York und des Films in Paris und Berlin im Jahr 1895 als Indiz dafür werten, dass die Legitimität 41 | Und in der Tat zeigt die Zertrümmerung einer Homologie zwischen Legitimität und Dominanz des Textes durch den Massenmarkt in den USA massivere Anzeichen als in Europa. Nicht nur wurden Outcaults Comicfiguren sogleich in einem Merchandising als Puppen verarbeitet, seine Geschichten wurden auch in Theaterinszenierungen umgesetzt. Diese transmediale Vernetzung eines Comicautors gab es in Europa noch nicht. Dazu Groensteen: Un objet culturel non identifié, S. 71. 42 | Wolfgang J. Fuchs/Reinhold C. Reiberger: Comics. Anatomie eines Massenmediums, Reinbek: Rowohlt 1973, S. 201. 43 | Siehe dazu auch Thomas Becker: »Matrix versus The Ghost in the Shell. Die neuen Mythen der virtuellen Welt sind nicht mehr allein diskursiv analysierbar«, in: Journal.de (2007): Schwerpunktthema: Digitale Welten, http:// www.journal-ethnologie.de/Deutsch/Schwerpunktthemen/Schwerpunktthemen_2007/_Digitale_Welten/Matrix_versus_The_Ghost_in_the_Shell/index.phtml vom 25. Juni 2009. 184
Graphic Novel – eine ›illegitime‹ Medienkombination?
des Schriftautors für das Erzählen mit Bildern durch den Massenmarkt zwar zunehmend zertrümmert, dafür aber im Gegenzug eine neue Symbiose von Bild- und Textautor möglich wurde, die auf dem Massenmarkt eine intermediale Vernetzungsenergie anreizte. Die Entmachtung des Textautors und seiner nur schriftbasierten Intermedialität durch einen gering legitimierten Massenmarkt der Bilderströme machte den erzählenden Textautor erst und gerade in der Symbiose mit dem Bildautor zum Zentrum einer intermedialen Vernetzungsenergie, die schließlich auch die Avantgarden der ›legitimen‹ Kultur zunehmend inspirierte. Das aber wäre auch ein weiterer Grund, Intermedialität nicht nur von medialen Oberflächen, sondern vom Prinzip der Kämpfe um den Autorenstandpunkt her zu verstehen.
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Im Museum abhängen Zum Verhältnis von ›legitimer‹ Kunst und Comic in Arzach Gernot Waldner (Berlin)
Auf der deutschen August-Ausgabe 2009 des Playboy wurde erstmals ein fiktionaler Charakter, nämlich Marge Simpson, die Mutter aus der Zeichentrickserie The Simpsons, als Covergirl abgebildet. Durch den Pressesprecher des Playboy war zu erfahren, dass es dem Magazin darum gehe, jüngere Käuferschichten anzusprechen.1 Nicht nur der Besitzer des Magazins, so könnte man hinzufügen, sondern auch seine Stammleser kommen allmählich in die Jahre. Dieses intermediale Phänomen – eine Grafik wurde dort eingesetzt, wo bisher stets eine Fotografie erwartet wurde – ist zu aktuell, um bereits in der Forschung verhandelt worden zu sein, aber auf einen ersten Blick sind zwei Dinge bemerkenswert. Erstens ist die Strategie, Intermedialität als Mittel einzusetzen, um sich eine avancierte Position innerhalb des Feldes (der Herrenmagazine) zu sichern, nach wie vor aktuell.2 Zweitens sind Zeichentrickserien und Comics im deutschen Sprachraum anscheinend immer noch etwas, das mit dem Label ›Jugend‹ versehen wird, ein Attribut, das diesem Medium auch im französischen Sprachraum lange anhaftete. Seit den 30er Jahren wurden Comics in Frankreich zunächst von klerikalen Jugendzeitschriften herausgegeben und dienten diesen rechtskonservativ ausgerichteten Magazinen dazu, ihre ›Werte‹ und moralischen Vorstellungen zu vermitteln.3 Exemplarisch stehen hierfür die Serie Tin1 | Vgl. http://www.stern.de/kultur/tv/us-playboy-marge-simpson-nackt1513855.html vom 2. November 2009 oder http://www.bild.de/BILD/unterhaltung/leute/2009/10/09/marge-simpson/zieht-sich-fuer-den-playboy-aus.html vom 4. November 2009. 2 | Vgl. dazu die Beiträge in diesem Band von Uta Degner und Norbert Christian Wolf. 3 | Vgl. dazu: Paul Derouet/Andreas C. Knigge: »›Faits divers‹. Legenden und Erinnerung. Die Raum-Zeit-Reisen des Pierre Christin«, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Comics, Mangas, Graphic Novels, Sonderband Text + Kritik V/2009, München: Richard Boorberg 2009, S. 128 f.
Gernot Waldner
tin4 sowie das Magazin Spirou, eine wöchentlich erscheinende Zeitschrift, deren Serien von christlicher Moral geprägt waren. Dementsprechend bestand das Publikum der damaligen Comics vor allem aus Kindern und Jugendlichen, denen durch diese Magazine bestimmte Weltanschauungen oder kanonisierte Bildungsinhalte beigebracht werden sollten.5 Einen ersten Versuch, erwachsene(re) Rezipienten als Käufer zu gewinnen, stellte das ab 1959 publizierte Magazin Pilote dar. Mit René Goscinny als Chefredakteur erschienen dort die auch im deutschen Sprachraum berühmt gewordenen Serien Asterix und Lucky Luke. Pilote prägte die französische Comicszene nach dem Zweiten Weltkrieg und etablierte neben anderen Magazinen das Genre des Abenteuercomics sowie erste Science-Fiction-Serien wie etwa Valérian et Laureline als Positionierungen6 innerhalb des Comicfeldes.7 Ritter, Piraten, Detektive, Raumfahrer und Cowboys wurden die dominierenden Helden innerhalb dieser Produktion, welche ihre Leserschaft durch das Prinzip der Fortsetzungsserien und die (meist ungebrochene) Identifikation mit einem Protagonisten über einen längeren Zeitraum als Käufer zu halten versuchte.8 Die Produktion von Comics war entsprechend heteronom9 auf ein jugendliches oder aus weniger gebildeten Gesellschaftsschichten stammendes Publikum ausgerichtet. Auch der Komplex der ›legitimen‹ Kunst fand unter diesen Vorzeichen Eingang in die damals produzierten Comics.10 So kann man für den Großteil der in den 1950er bis 1970er Jahren produzierten Comics 4 | In Deutschland zunächst bekannt als Tim, der rasende Reporter. 5 | Vgl. ebd., S. 131. Zu den Bildungsinhalten vgl. Urs Hangartner/Beat Mazenauer: »Kunstbilderwelten. Oder was das eine mit dem anderen zu schaffen hat«, in: Cuno Affolter/Urs Hangartner/Martin Heller (Hg.): »Mit Pikasso macht man Kasso«. Kunst und Kunstwelt im Comic, Zürich: Edition Moderne 1990, S. 102 ff. 6 | Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 365 ff. 7 | Derout/Knigge: »Faits divers«, S. 131. Der Begriff »Feld« wird hier heuristisch verwendet und erst am Ende des Artikels plausibel, da vor dem Erscheinen von Métal hurlant noch von keiner Autonomie eines Feldes oder einer feldinternen historischen Reflexion die Rede sein kann. Vgl. dazu Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 344 ff. 8 | Vgl. Andreas Platthaus: Moebius. Zeichenwelt, Frankfurt am Main: Eichborn 2003, S. 35 f. 9 | Vgl. zu den Begriffen ›heteronom‹ und ›autonom‹: Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 344 ff. 10 | Eine intermedial und feldsoziologisch ausgerichtete Forschung ist in diesem Bereich zwar kaum existent, sie bietet aber in dem, was sie bis dato bieten 188
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von einem impliziten Gebot sprechen, dass nämlich ›legitime‹ Kunst klar als Kunst zu erkennen sein sollte. Zitate von Kunstwerken wurden dementsprechend so gewählt, dass die Wahrscheinlichkeit der Wiedererkennung sehr hoch ist. Ob da Vincis Mona Lisa, Werke von Picasso oder den Kubisten, die dargestellte ›legitime‹ Kunst war zumeist Teil des schulisch vermittelten Wissens. Eines Wissens, von dem sich die Produzenten sicher sein konnten, dass nahezu alle potenziellen Käufer darüber verfügten.11 Ein weiterer Weg, Kunst eindeutig als Kunst zu markieren, war neben dem Rückgriff auf kanonisierte Werke, sie in den Comics an institutionalisierten oder konventionellen Orten der Kunstvermittlung zu platzieren. In Museen, Ausstellungen, Ateliers, Galerien oder Interieurs von privilegierten Gesellschaftsschichten situiert, gehorchen die dargestellten Werke ebenso dem Gebot, von den Rezipienten der Comics eindeutig als Kunst erkannt zu werden.12 Zudem kommen ›legitime‹ Kunstobjekte im Rahmen von kriminalistischen Comics vor. Gemälde, kann, ein recht einheitliches Bild davon, wie ›legitime‹ Kunst in den Comics dieser Zeit dargestellt wird und wie das intermediale Verhältnis der ›hohen‹ Kunst zur ›niederen‹ Kunst ist. Die Mehrzahl der wissenschaftlichen Publikationen zum Verhältnis von Kunst und Comic beschäftigen sich damit, wie Comics innerhalb der ›legitimen‹ Kunst aufgenommen wurden, und nicht damit, wie ›legitime‹ Kunst innerhalb der Comics vorkommt. Das liegt aus feldsoziologischer Sicht daran, dass Comics nach und nach in die Literatur, den Film, die bildende Kunst etc. aufgenommen wurden und es im Feld der Wissenschaften institutionalisierte Einheiten in Form von symbolischem, kulturellem und ökonomischem Kapital gibt, welche die intermedialen Bezüge des Mediums Comic in den legitimierten Künsten erforschen. So kommen zum Beispiel die Kunsthistoriker seit Roy Lichtenstein nicht mehr am Comic vorbei, ebenso wenig wie die Filmwissenschaftlerinnen an Superman. Darüber hinaus sind im deutschen Sprachraum aus wissenschaftsgeschichtlicher Sicht auch Zusammenhänge zwischen der Frankfurter Schule und dem Ausbleiben der Comicforschung zu vermuten. Comics wurden hier unter die Patronanz der ›Kulturindustrie‹ gestellt, was vor allem eine ideologiekritische Lektüre forcierte. So steht im Vorwort eines 1975 herausgegebenen Bandes mit dem Titel Massenzeichenware eine Art von Geständnis zu lesen: »[J]e häufiger man [Comics; G. W.] liest, desto deutlicher wird, dass viele Comics trotz der Distanz schaffenden Analyse nicht vollständig ihre Faszination einbüßen – ein Dilemma, das sich durch das gesamte Buch zieht.« (Wiltrud Ulrike Drechsel/Jörg Funhoff/ Michael Hoffmann: Massenzeichenware. Die gesellschaftliche und ideologische Funktion der Comics, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975, S. 8.) Die Rezeption des Massenmediums schien also auch moralisch verwerflich zu sein, da sie der Kulturindustrie in die Hände spiele. 11 | Hangartner/Mazenauer: Kunstbilderwelten, S. 102. 12 | Werner Jehle: »Schon bei Tag unheimlich genug . . . aber Nachts! . . . brrr!«, in: Affolter/Hangartner/Heller: »Mit Pikasso macht man Kasso«, S. 67 ff. 189
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Skulpturen, Reliquien oder Antiquitäten dienen dort als Anreiz zur kriminellen Aktivität, also zum Raub oder zur Fälschung. ›Legitime‹ Kunst wird primär als ökonomisch wertvoll dargestellt: Sie ist für den Plot nicht wegen ihrer ästhetischen Qualitäten von Relevanz, sondern weil sie innerhalb der Diegese eine vielgestaltige Möglichkeit ist, Geld zu symbolisieren.13 Bemerkenswert häufig findet sich auch jene Form von Kunst, die dem Geschmack des Kleinbürgertums entspricht, die Landschaftsmalerei. Das nachzuahmende Vorbild, die ›Natur‹, wird diegetisch durch den restlichen Comic vorgegeben, und entsprechend gilt das Bild als gelungene Kunst, wenn es mit der diegetischen Welt übereinstimmt. In manchen Comics wird dieses mimetische Kunstideal zwar persifliert, etwa wenn ein mit seinem Bild unzufriedener Maler zum eben naturalistisch misslungenen Baum geht, um ihn konsequenterweise dem Landschaftsbild entsprechend anzumalen, damit sich die Natur mit der Kunst (gefälligst) deckt.14 Dennoch wird durch die Ironisierung kein positives Gegenbild gesetzt.15 Abstrakte Kunst wird dagegen dem Habitus der Rezipienten entsprechend meist pejorativ gezeichnet. Sie wird entweder von als diskreditiert dargestellten Künstlertypen produziert oder dient als Vorlage für soziologistisch motivierte Witze, die in ihr ein beliebtes Ziel finden. So wird etwa ein Fahrrad zerstört und dann per Sprechakt, Institution oder von ahnungslos wirkenden Experten zum Kunstwerk erklärt.16 Moderne Kunst ist gemäß dieser kleinbürgerlichen doxa das, woran es nichts zu verstehen gibt. »Geht der Code des Werkes aufgrund seiner Finesse und Komplexität über den Code des Betrachters hinaus, so hat dieser kein Interesse an ihm, es erscheint als ein Spiel ohne Notwendigkeit.«17 Dass es sich bei dieser Form von Notwendigkeit um eine absurde Konvention handelt, ist die Grundlage dieses Humors. Mit Bourdieu gesprochen, machen sich diese Comics über die illusio18 lustig, der abstrakten oder gegenstands13 | Ebd. 14 | Vgl. dazu die Abbildung in Affolter/Hangartner/Heller: »Mit Pikasso macht man Kasso«, S. 103. 15 | Bojarek Garlinski: »Wieviele Bilder müssen wir noch hopsen?«, in: Affolter/Hangartner/Heller: »Mit Pikasso macht man Kasso«, S. 85. 16 | Vgl. dazu die Abbildung in: Affolter/Hangartner/Heller: »Mit Pikasso macht man Kasso«, S. 62. 17 | Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 177. 18 | Unter »illusio« ist die »[. . .] Anerkennung des Spiels und der Nützlich190
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losen Kunst überhaupt einen Eigenwert zuzugestehen. So stehen brave Bürger vor abstrakten Gemälden, denen jede Menge an Verständnis und interesselosem Interesse zukommt, wobei das Schild im unteren Teil des von Hergé gezeichneten Panels klar macht, dass die vielen Bilder zwar Malewitschs Schwarzes Quadrat auf weißem Grund ähneln, es sich aber nur um Brüssel bei Nacht handelt (vgl. Abbildung 1). Natürlich ist der eben beschriebene Humor zum Teil auch treffend, schließlich zielte nicht zuletzt die Kunst der 60er Jahre darauf ab, den Eigenwert der Kunst und die illusio ihrer Rezipienten in Frage zu stellen, und es wäre ziemlich humorlos, diesen Aspekt der Kunst, der eine Phase innerhalb ihrer Entwicklung mitprägte, nicht zu sehen. Zumal auch unter den kunstbeflissensten Mitgliedern der Oberschicht angesichts der Menge an Kunst stets einige sein werden, denen die Möglichkeiten zur Dekodierung fehlen. Abbildung 1: Hergé: Quick et ›Legitime‹ Kunst wird in den Flupke. Occultation 1, Tournai: meisten Comics dieser Zeit also Casterman o. J. auf vier Arten dargestellt. Sie gehorcht einem Gebot der Evidenz, klarerweise Kunst zu sein, und gilt als Kunst, weil sie exemplarisch für einen schulisch vermittelten Kanon steht oder institutionell legitimiert und verortet ist. Oder sie verkörpert, zweitens, ein kleinbürgerliches Ideal von Kunst, nämlich einen Naturalismus, der jede Form von unangenehm empfundenem Realismus wie Armut, Gewalt oder Sex ausschließt. Drittens wird Kunst ökonomistisch als reiner Wertgegenstand dargestellt. Und schließlich wird von ›legitimer‹ Kunst ein soziologistisches Bild gezeichnet. Es sind allein die Institutionen und die bürgerlichen Riten, die aus nahezu allem Kunst zu machen in der Lage sind. Die (etablierte) avantgardistische Kunst diente in den bandes dessinées dazu, sich über die Oberschicht auf intelligente oder weniger intelligente Art lustig zu machen. Wenn Kunst dagegen innerhalb keit des Spiels, Glauben in den Wert des Spiels und seines Einsatzes [. . .]« zu verstehen (Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 278). 191
Gernot Waldner
der Comics als akzeptable dargestellt wird, handelte es sich meist um Kunst gemäß kleinbürgerlichen Idealen (vgl. Abbildung 2). Alle Punkte decken sich mehr oder minder mit dem, was Bourdieu für die »Populäre Ästhetik« der unteren Schichten festgestellt hat, zielen also auf die ästhetischen Vorlieben einer bestimmten Klientel ab, die wiederum das größte Segment an Käufern von Comics stellten.19 Die soziale Hierarchie und die mit ihr einhergehenden Wahrnehmungskriterien der unteren Schichten bestimmten also die Darstellung von ›legitimer‹ Kunst in den Comics. Dass sich über einen Zeitraum von knapp 20 Jahren ein so einheitliches Bild ergibt, ist in erster Linie auf die heteronomen Produktionsbedingungen und die damit einhergehende Ausrichtung auf ein bestimmtes Publikum zu erklären. Es wurde das produziert, was den Rezipienten schon einmal gefallen hat, und nicht im Sinne einer Avantgarde davon ausgegangen, dass die Lektüre selbst neue Vorlieben hervorbringen könnte.20 Jean Giraud oder Moebius, um dessen Serie Arzach es im Folgenden gehen wird, arbeitete von 1961 an als Zeichner sowohl für Spirou als auch für Pilote. Er kam aus einer kleinbürgerlichen Familie, wuchs mit den Comics von Hergé und Jijé auf und eiferte den beiden Zeichnern bereits als JugendliAbbildung 2: Disney: Die tollsten Gecher nach.21 Für Jijé malte er schichten von Donald Duck 37, Berlin: ab 1962 die Zeichnungen der in Ehapa 1974 Spirou erscheinenden Westernserie Jerry Spring mit Tusche aus und machte sich so und später als Szenarist dieser Westerncomics einen Namen.22 Auf Empfehlung von Gillian bekam Jean Giraud ein Angebot von Jean-Michel Charlier, die von Letzterem geschriebene Serie Blueberry, die bei Pilote erschien, zu zeichnen. Bis 1973 arbeitete Jean Giraud für Pilote, wobei das Verhältnis zum damaligen Chefredakteur, René Goscinny, für einige Zeichner, unter denen auch Giraud war, zunehmend ambivalenter wurde. Den jun19 | Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, S. 64 ff. 20 | Vgl. dazu Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 369. 21 | Platthaus: Moebius, S. 36. 22 | Ebd., S. 50. 192
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gen und teilweise durch die Ideale des Mai 1968 geprägten Zeichnern war am experimentellen und sozialkritischen Anspruch ihrer Comics gelegen, ein Anspruch, der von Goscinny zwar zum Teil goutiert wurde, aber im Rahmen des Magazins Pilote neben konventionellen Comics von Zeichnern und Szenaristen stand, denen in keiner Weise an derartigen Neuerungen lag, deren Arbeit aber von Goscinny wiederum respektiert und vom Verleger der Zeitschrift, Georges Dargaud, ökonomisch goutiert wurde.23 Aufgrund dieses Konflikts innerhalb des Verlages und um ihrem eigenen Anspruch gerecht werden zu können, beschlossen die drei für Pilote arbeitenden Zeichner, Jean Giraud, Jean-Pierre Dionnet und Philippe Druillet, das im Vorwort der ersten Ausgabe von 1975 als »Experimentierforum« bezeichnete Science-Fiction-Magazin Métal hurlant zu gründen.24 Von Beginn an erschien dort die von Giraud gezeichnete Serie Arzach.25 Bei der zweiten Episode von Arzach ist zunächst nur am auf der Titelseite in der Bildmitte befindlichen Protagonisten (vgl. Abbildung 3) ersichtlich, dass es sich überhaupt um die zweite Episode von Arzach handelt. Denn über dem bogenförmigen Bildausschnitt der diegetischen Welt steht als eine Art von Paratext »Harzak« zu lesen. Das mag die damaligen Leser des Magazins irritiert haben, denn der an seinem Hut zu erkennende Held war in der ersten Ausgabe des Magazins in einem mit »Arzach« betitelten Comic erschienen, unter dessen Namen man die Serie bis heute großzügig subsumiert. Giraud sollte den Titel der Serie auch in den folgenden Episoden auf programmatische Art und Weise variieren, wobei er durchweg die Konsonanten R und Z beibehielt und A den einzigen Vokal bildete: Arzach, Harzak, Arzak, Harzakc. Nicht nur bei Pilote, dem Magazin, das er eben verlassen hatte, sondern in fast allen Abenteuerserien der damaligen Zeit diente der Name des Helden als Titel des Comics und sorgte so bei den Lesern für eine rasche Wiedererkennung ihrer bevorzugten Lektüre.26 In dieser und den folgenden 23 | »Jean ›Moebius‹ Giraud. Crack in the Comic Egg«, in: Stanley Wiater/ Stephen R. Bissette (Hg.): Comic Book Rebels. Conversations with the Creators of the New Comics, Grass Valley/CA: Underwood Books 1993, S. 151. 24 | Matthew Screech: Masters of the Ninth Art. Bandes dessinées and Franco-Belgian Identity, Liverpool: Liverpool University Press 2005, S. 116. 25 | Zitiert nach der amerikanischen Ausgabe: Jean Giraud: Moebius 2. Arzach & Other Fantasy Stories, New York: The Marvel Entertainment Group 2 1987. 26 | Vgl. Platthaus: Moebius, S. 188 ff., sowie das Interview mit Jean Giraud in Jean Marc Lofficiere: »Artist: Moebius«, in: Comics Interview 64 (1988), S. 24. 193
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Abbildung 3: Jean Giraud: Moebius 2. Arzach & Other Fantasy Stories, New York: The Marvel Entertainment Group 2 1987, S. 13
Episoden von Arzach stellt die Variation des Titels einen ersten ironischen Bruch mit den Konventionen des Abenteuercomics dar, wie er für Giraud und seine Kollegen erst im Rahmen des neu gegründeten Magazins möglich wurde. Nicht nur verändert sich der titelgebende Name der Episoden auf beschriebene Weise, man erfährt auch im Comic selbst nicht, ob der Protagonist überhaupt einen Namen hat, da der gesamte Comic auf Sprechblasen und begleitenden Text verzichtet. Die Bilder stehen in dieser Serie für sich, und ihre leicht schlingernden Grenzen betonen den Umstand, dass sie mit freier Hand gezeichnet und nicht maschinell vorgedruckt wurden, wie es bei einer primär ökonomisch ausgerichteten Produktion üblich und billig war. Allerdings war nicht Giraud, sondern Robert Crumb der Erste, der Panels auf diese Weise zeichnete.27 Crumb wirkte für die drei jungen Franzosen nicht nur durch die Form seiner Panels stilbildend. Seine Comics und die der anderen amerikani27 | Vgl. Andreas C. Knigge: Zeichen-Welten. Der Kosmos der Comics, in: Arnold (Hg.): Comics, Mangas, Graphic Novels, S. 27 f. 194
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schen Zeichner, welche in Kalifornien die ersten Underground-Magazine produziert hatten, waren Giraud, Druillet und Dionnet bekannt und besaßen für die Franzosen auch insofern einen Vorbildcharakter, als diese den Entschluss, ein eigenes Magazin zu gründen, in Kalifornien bereits gelungen verwirklicht sahen.28 Eine weitere Ursache für die Gründung von Métal hurlant dürfte wohl Girauds Erfahrung gewesen sein, die er durch die Zusammenarbeit mit Charlier gemacht hatte. Der Koordinationsaufwand mit den Szenaristen29 und die künstlerischen Zugeständnisse an Redaktionen und Chefredakteure führten in der arbeitsteiligen Produktion zu Demotivation und Frustration.30 Die Vorteile, ein eigenes Magazin zu gründen, waren also durch die Erfahrungen motiviert, die Giraud in der Produktion gemacht hatte, und der amerikanische Underground unterstützte den vorhandenen Optimismus, dass ein solches Unternehmen erfolgreich sein könnte. Als die noch in schwarz-weiß gedruckte Titelseite der zweiten Episode auf den französischen Markt kam, war noch ungewiss, ob sie für die Herausgeber den Übergang zu permanenter künstlerischer Unabhängigkeit bedeuten würde. Zunächst stand die Titelseite31 nur für den Übergang in die diegetische Welt (vgl. Abbildung 3). Dort, auf der ersten Seite der zweiten Episode von Arzach, gibt der untere, klassisch bogenförmige Teil32 den ersten Blick in diese Welt frei, und darüber übernimmt der sandfarben gehaltene Seitenabschnitt konkav die Rundung des Bogens und bildet einen roten Paratext ab. Dessen Buchstaben sind an ihren unteren Seiten durch eine schwarze Schraffur akzentuiert, ihre Zwischenräume klein gehalten, und ihre runden, wulstigen Ausbuchtungen verschaffen ihnen gemeinsam mit den Schraffuren eine plastische Er28 | Jean »Moebius« Giraud. Crack in the Comic Egg, S. 151. 29 | Vgl. dazu das Interview mit Jean Giraud in: Gary Groth/Robert Fiore (Hg.): The New Comics. Interviews from the pages of The Comics Journal, New York: Berkly Books 1988, S. 281 f. 30 | Obwohl die europäischen Produktionsbedingungen dieser Zeit mehr von einzelnen Zeichnern und Szenaristen geprägt waren als die amerikanischen. Vgl. dazu: Roger Sabin: »Some Observations on BD in the US«, in: Charles Forsdick/Laurence Grove/Libbie McQuillian (Hg.): The Francophone Bande Dessinée, New York: Rodopi 2005, S. 177. 31 | Zur Terminologie vgl. Andreas C. Knigge: Alles über Comics. Eine Entdeckungsreise von den Höhlenbildern bis zum Manga, Hamburg: Europa 2004, S. 413. 32 | Für kunstgeschichtliche Unterstützung danke ich herzlich Friederike Horstmann, Tino Meyer und Jost Philipp Klenner, für zahlreiche Gespräche und Materialien Thomas Becker. 195
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Abbildung 4: Jean Giraud: Moebius 2. Arzach & Other Fantasy Stories, New York: The Marvel Entertainment Group 2 1987, S. 16
scheinung, wodurch sie sich vom Hintergrund wie ein Relief abheben. Die Form des Rundbogens gibt gemeinsam mit der reliefartigen Überschrift eine Kombination ab, wie man sie aus dem christlichen Kirchenbau kennt. Dort ist diese Form eines über einem Rundbogen stehenden Reliefs als Tympanon bekannt. In der Kirchenarchitektur gestaltet es die Schwelle zwischen profanem und heiligem Raum, es heißt die Kirchengänger willkommen und führt sie gleichsam ins Innere des Gebäudes.33 Gleich zu Beginn der Episode findet also eine analoge Form Verwendung, wie sie paradigmatisch auch im Kirchenbau vorkommt. Sie markiert den Eintritt in eine phantastische Welt und gibt dem ersten Blick in diese eine eigenartig orthodox wirkende Konnotation. Die Funktion dieses Elements der durch die Kunstgeschichte etablierten ›legitimen‹ Kunst konvergiert mit der zweier gleichschenkliger Dreiecke, die zwischen den beiden Panels der vierten Seite dieser Episode zu sehen sind (vgl. Abbil33 | Vgl. Jürgen Hennemann: Formenschatz der Romanik, Würzburg: Echter 1993, S. 81 ff. 196
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dung 4). Die Schenkel der beiden Dreiecke sind konkav gebogen und übernehmen so die lünettenartige Form der beiden großen Panels, womit sie die rechteckige Fläche der Seite ausfüllen. In diesen offensichtlich außerhalb der Diegese stehenden dreieckigen Grisaillen erkennt man zweimal eine Figur wieder, die durch ihren Hut an den reitenden Protagonisten der Episode erinnern (vgl. z. B. Abbildung 3). Die Körper beider Figuren sind auf Anemonen ähnelnden Ornamenten platziert. Die Gefahr, die die ganze Episode über von den Pflanzen ausgehen wird, scheint in den Grisaillen eigenartig gebannt zu sein und den beiden Figuren einen entspannt wirkenden Umgang mit ihnen zu erlauben. Die linke Figur lehnt in diesem reliefartigen Dreieck recht souverän in einer Art von Schneidersitz und scheint aus den ornamentalen Ranken eine Schnecke, so wie sie auch unter ihrem Gesäß zu sehen ist, zu formen. Eine klare räumliche Zuordnung der tentakelartigen Ornamente und der Figur ist aber kaum auszumachen. Die Beine der rechten Figur sind im Gegensatz zu den verschränkten der linken beinahe ausgestreckt, sie stützt sich mit den Armen unterhalb ihrer Knie und macht dabei einen erstaunten Gesichtsausdruck, der durch die runde Form des Mundes angedeutet wird. Sowohl Körperhaltung als auch fazialer Ausdruck – oh! – legen nahe, dass die Figur von der pflanzenartigen Ranke, die in der Nähe der linken Ecke entspringt und schlangenförmig knapp unter dem Gesäß verschwindet, penetriert wird. Die abgestützten Hände oberhalb der Knie wirken entspannt und lassen keinen Schluss auf eine Gewalteinwirkung von Seiten der Tentakel zu. Die beiden Figuren des Helden gehen, so viel lässt sich sagen, souverän mit den anemonenartigen Gewächsen um oder werden von den zuvor als tödlich eingeführten nicht gefährdet, obwohl der Lastensaurier des Protagonisten ihnen am Beginn dieser Episode bereits zum Opfer fiel. Dieser Umgang wird sich im Nachhinein als eine zutreffende metadiegetische Prolepse erweisen, denn der Protagonist wird im Verlauf dieser Episode nie ernstlich in Gefahr geraten. Innerhalb der Positionierungen des Genres Abenteuer- oder Science-Fiction-Comic betrachtet, weisen die beiden Figuren auf die Unsterblichkeit des Helden hin, dem hier in Form der Grisaille so wie innerhalb des gängigen Genres nichts geschehen kann. Es ist kein gefährdeter Held, der hier außerhalb der Diegese abgebildet ist, obwohl er in den diegetischen Panels gerade zum Kampf fliegt. So ist für die gesamte Seite ein doppeltes Verhältnis zum Kampf bestimmt. Einerseits wird der Held über die Mittelachse des unteren Panels mit dem affenartigen Monster kontrastiert (vgl. Abbildung 4), andererseits wird in den beiden Grisaillen die Seeanemone als Gegner in Szene gesetzt, der keiner ist. Sie erschien bisher als bedrohli197
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ches Element dieser Episode, indem sie den gesamten Boden bedeckte und relativ klar ist, dass der Verlierer der sich abzeichnenden Konfrontation von ihnen verschlungen würde. Dass diese Drohung für den Helden und vor allem dem Genre nach eine leere ist, wird von Giraud wie in Stein gemeißelt dargestellt, worin eine Reflexion auf die Genrekonventionen gesehen werden kann. Rückblickend ergibt sich so auch eine Lesart für das Tympanon der ersten Seite: Die christliche Konnotation kann als stellvertretend für die Orthodoxie des Genres und damit auch für die Zwänge der Produktion gedeutet werden, wonach von Anfang an klar ist, nach welchen narrativen Konventionen von Sieg und Niederlage sich Episoden entwickeln. Die Persiflage der Genres Abenteuer- und Science-Fiction-Comic steht im Zusammenhang mit der Soziogenese von Jean Giraud. Im Gegensatz zu den meisten Zeichnern und Szenaristen dieser Zeit verstand er seine Profession nicht einfach als Handwerk, wie es die von ihm gering geschätzten Zeichner bei Pilote taten. Aus einer kleinbürgerlichen Familie stammend, studierte Giraud Angewandte Kunst an der Académie des Beaux-Arts in Paris und gehörte damit zum Typus des sozialen Aufsteigers. Während seiner Studienzeit beschäftigte er sich neben dem obligaten Studium der Kunstgeschichte intensiv mit den Filmen der Nouvelle Vague, mit zeitgenössischer avantgardistischer Kunst und nahm auch an intellektuellen Gesprächsrunden teil, in denen damals aktuelle Theorien diskutiert wurden.34 Die Generation der Zeichner vor ihm verstand sich entweder als brav arbeitende Handwerker oder fühlte sich dem Bürgertum zugehörig und sah im Zeichnen von Comics eher ein notwendiges Übel einer missglückten Karriere als Künstler denn eine spezifische Möglichkeit, sich künstlerisch zu betätigen. Exemplarisch mag dafür Hergé stehen, der als Comiczeichner sehr erfolgreich war, aber weder die etablierten Erzählkonventionen noch das Verhältnis zur ›legitimen‹ Kunst zu ändern versuchte (vgl. Abbildung 1). Stattdessen führte Hergé eine Art artistisches Doppelleben, indem er einerseits Comics für ein kleinbürgerliches oder jugendliches Publikum zeichnete und sich andererseits in abstrakter Malerei versuchte. Seine beiden Tätigkeiten folgten damit den bestehenden Hierarchien innerhalb der Künste und könnten auf Giraud wohl zynisch gewirkt haben.35 Denn sowohl er als auch die Mitherausgeber von Métal Hurlant sahen im Begriff der künstlerischen Avantgarde keinen Gegensatz zum Beruf des Comiczeichners, was unter anderem 34 | Vgl. dazu Screech: Masters of the Ninth Art, S. 95 ff. 35 | Hangartner/Mazenauer: Kunstbilderwelten, S. 124. 198
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von der sozialen Aufwertung des Berufs Comiczeichner ab 1965 begünstigt wurde.36 Damit veränderte sich sowohl ihr Verhältnis zur ›legitimen‹ Kunst als auch ihr Verständnis von Comics: Eine autonome, materiell uninteressierte Produktion wurde ihr Ziel, die bestehenden, vor allem am Markt ausgerichteten ästhetischen Konventionen der Comics galt es dagegen zu verändern, ohne jedoch die bekannte Logik des Marktes verlassen zu können, also etwa Comics nur als monatlich erscheinendes Magazin produzieren zu können und nicht in Form eines Bandes.37 Ein naheliegendes Mittel, mit den relativ starren und einheitlichen Positionierungen des Feldes zu brechen, war für Giraud die Persiflage. Der größte Vorteil der Persiflage bestand dabei wohl darin, jene narrativen Konventionen implizit zu nutzen, die den meisten Rezipienten bekannt waren und deshalb humoristisch gewürdigt werden konnten. Konsequenterweise setzt die vierte Seite (vgl. Abbildung 4) mit einem Bürzel ein. Diese weiße Schwanzwurzel des fliegenden Reitsauriers, unter der die angezogenen Füße des Tieres ihrer Funktion enthoben hängen, nehmen dem Reittier des Protagonisten seine Eleganz. Hier wird der Saurier ironisch kontrastiert, ein Kontrast, der sich vielleicht als Kreuzung eines weißen Rosses mit einem gerupften Hühnchen umschreiben lässt. Die Position des Bürzels im oberen Panel, das die Form einer horizontal gespiegelten Lünette besitzt, gibt die Richtung des Fluges vor, indem sie sich leicht links von der Mitte befindet und den Betrachter auf das in der Ferne stehende Ding verweist, das im nächsten Panel wie ein Teil eines Aquädukts oder Viadukts aussehen wird. Dass diese beiden durch einen Boden verbundenen Pfeiler nicht immer für sich alleine standen, darauf weisen im unteren Panel die Ausfransungen an der linken Seite des Bauwerks und die sich an linker und rechter Seite befindenden Halbbögen hin, die eine beidseitige Fortsetzung nahelegen. Mit dieser Ausfransung sowie durch die isolierte Position dieses Bogens wird ein postapokalyptisches Szenario aufgerufen: Unter den schlingenden Anemonen liegt etwas begraben, das sich die fremdartige Natur in Form der gefräßigen Gewächse zurückerobert hat. Letzteres darf wohl auch als Spitze gegen den ökologisch ausgerichteten und in Pilote seit 1967 erscheinenden Science-Fiction-Comic Valerian & Veronique verstanden werden.38 36 | Vgl. Thomas Becker: Comic – eine illegitime Kunst? Sozioanalyse der Lust an einem hybriden Medium (im Erscheinen). 37 | Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 342 f. 38 | Vgl. Derouet/Knigge: »Faits divers«, S. 127 ff. 199
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Die das Panel vertikal teilende Achse zieht sich entlang dem rechten Pfeiler des Bauwerks und setzt so die beiden Protagonisten zentral in einer symmetrischen Konstellation in Szene. Der Körper des Reiters ist von der Körperachse seines Sauriers aus leicht nach links gedreht, dem roten Wesen zugewandt. Ebenso blickt das, was sich als affenartiges Monster zeigen wird, auf den Protagonisten. Genau lässt sich dies zwar nicht ausmachen, doch erlaubt die Leere der steppenartigen Umgebung keine andere Verteilung der wechselseitigen Aufmerksamkeit. Die vertikale Bildachse des unteren Panels steht also für den Punkt, wo sich die Blicke der beiden Protagonisten treffen, eine Konfrontation kündigt sich an. Dabei wird mit den Konventionen der Science-Fiction-Comics gekonnt gespielt: Wenn in ihnen Helden gegen Monster kämpfen, so ist dieser Kampf pointiert gesagt entweder notwendig, um zu überleben, oder zumindest hinreichend, um eine Frau zu beeindrucken und eine Form von Zivilisation zu retten.39 In Arzach fliegt der Held dagegen über einsame Weiten, nichts ist in Sicht, bis auf ein ruinöses Bauwerk, auf dem sich eben ein Monster befindet, mit dem gekämpft werden kann. Die absurde Phantastik dieser Situation, der isoliert auf der einzigen Erhebung dieser lebensfeindlichen Fläche sitzende Affe, ist ebenso Teil der Persiflage dieser Genres wie die breit angelegte Darstellung des Fluges. Wüstenartige Landschaften, wie er sie hier zur Ironisierung eines aktionslastigen Genres verwendet, sollten auch das weitere Œuvre von Jean Giraud prägen. Bereits 1955, im Alter von 17 Jahren, hielt er sich längere Zeit in der mexikanischen Wüste auf, die ihn in ihrer Kargheit stark beeindruckte. Mehrere Reisen folgten, und auch sein Dienst für die französische Armee im Algerienkrieg trug dazu bei, dass sich ihm die Wüste als landschaftliches Bild einprägte, für das er später als Zeichner Verwendung finden sollte.40 30 Jahre nach seiner ersten Wüstenreise gab Giraud gemeinsam mit Dionnet und Druillet Métal hurlant heraus, wofür die drei Magazingründer ein enormes finanzielles Risiko auf sich nahmen. Sie konnten zunächst die laufenden Druckkosten nicht bezahlen, so dass sie die zweite Ausgabe von Métal hurlant von einer anderen Druckerei produzieren ließen als die erste. Bis sich die Kosten der Produktion amortisieren würden, wurden acht Ausgaben verlegt, und bis zu diesem Zeitpunkt wechselten die Herausgeber aus ökonomischer Not und Taktik nach jeder Ausgabe die Druckerei. 39 | Screech: Masters of the Ninth Art, S. 103. 40 | Vgl. Platthaus: Moebius, S. 13 f. 200
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Abbildung 5: Jean Giraud: Moebius 2. Arzach & Other Fantasy Stories, New York: The Marvel Entertainment Group 2 1987, S. 17
Der auf der fünften Seite (vgl. Abbildung 5) von Arzach eröffnete Kampf verspricht im Gegensatz zum risikoreichen Leben Girauds, den Helden nicht in Bedrängnis zu bringen. Die Seite besteht aus vier Panels, und ihre Handlung ist schnell paraphrasiert: Das affenartige Monster wird vom Protagonisten taktisch ausgehebelt, indem er es im Halbkreis umfliegt und so neben ihm am Plateau landet. Das untere und das obere Panel übernehmen dabei die von Seite vier bekannte Form einer Lünette und deren horizontaler Spiegelung. Sie sind zwar kleiner gehalten, nehmen aber beide den größten Teil der Seitenfläche ein. Teilt man die Panels derart in zwei Gruppen, so hat man eine doppelte Symmetrie vor sich. Eine horizontale Symmetrie bezogen auf das obere und untere Panel und eine vertikale bezogen auf das linke und rechte Panel. Im obersten Panel ist das Affenmonster von den Oberschenkeln aufwärts zu sehen, wie es den fliegenden Gegner noch im Blick hat. Im untersten Panel wird der komplementäre Teil seines Körpers gezeigt, wobei 201
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die räumliche Anordnung von Protagonist und Monster sich um hundertachtzig Grad gedreht hat und der Protagonist hinter seinem ungeheuren Gegner landet. Diese durch oberes und unteres Panel vorgegebene Achse bildet den diegetischen Auftakt und Schlusspunkt der Seite, wobei der Körper des Monsters beide Teile sozusagen physiologisch zu einem Ganzen verbindet, wenngleich sich nicht nur die topologische Anordnung, sondern auch die Perspektive darauf im Halbkreis um hundertachtzig Grad dreht. Die beiden die Seite links und rechts abschließenden Panels zeigen das Monster in so gut wie unveränderter Pose in zwei diegetisch nahe aneinander liegenden Momenten. Das linke Panel nimmt eine Perspektive an der Brustseite des Monsters ein, aus welcher der Held dem zwischen Arm und Kopf des Monsters durchblickenden Betrachter im Rücken des Affen auf seinem Pterodaktylus stehend entgegenfliegt. Im Panel rechts davon ist die Perspektive wie in einem Gegenschuss etabliert, jedoch hat sich das Monster kaum bewegt. Geht man vom linken Panel aufs rechte über, dann blickt man von hinten auf die beiden Gegner und hat zugleich perspektivisch den Flug des Protagonisten nachvollzogen. Dies wird abermals betont, indem die Grenze zwischen diesen beiden Panels als eine Rotationsachse aufgefasst werden kann, um welche die kongruenten Panels rotieren, etwa so, wie der Protagonist im Halbkreis um das Monster fliegt. Auf dieser Seite beherrscht der Protagonist also dank der Schnelligkeit seines Pterodaktylus und der Finte, um das Monster herumzufliegen, seinen Gegner. Diese Überlegenheit zeigt sich wiederum daran, dass der Protagonist auf allen vier Panels zur Gänze zu sehen ist. Er ist in den drei oberen Panels nie von einer Wolke bedeckt, sondern wird nahezu aureolisch vom Gelb des Himmels gerahmt, was seine Unantastbarkeit hervorhebt. Der Protagonist behält bei dieser Aktion den Überblick, und analog behält man ihn als Betrachterin in jedem Panel ganz im Blick. Das in Anlehnung an die Hautpartien eines Pavian gefärbte Ungetüm wird im Unterschied zum Protagonisten viermal durch die Grenze des Panels abgeschnitten, was wiederum hervorhebt, wie träge und unbeweglich es ist, und andererseits grafisch den Erfolg des raschen Umflugs in Szene setzt. Das Monster wirkt durch die identische Drohgebärde sehr behäbig und orientierungslos, was die beiden am Boden liegenden Klauen im unteren Panel betonen. Sieht man von den durch die Panels vorgegebenen Grenzen ab und nimmt die Seite als Ganze in den Blick, so sind ihre Ränder hellgelblich gehalten, während farblich ein orange bis brauner Streifen die Mitte do202
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miniert. Letzterer ist vor allem durch das Monster bestimmt. Im obersten Panel sind die linke und rechte untere Grenze durch den Oberschenkel und die blaue Hand des Monster definiert; die vom Oberschenkel vorgegebene Linie wird zwar durch den weißen Abstand zwischen den Panels unterbrochen, aber im linken mittleren Panel ziemlich genau an jener Stelle aufgenommen, die durch den Verlauf der Oberschenkelmuskulatur im ersten Panel vorgegeben wird. Im rechten mittleren Panel beginnt eine dunkle Wolke genau dort, wo im ersten Panel die hellblaue Hand des Monsters sitzt, und wird durch den Kopf des Monsters fortgesetzt. Im unteren Panel schließen die monströsen Beine an die beiden Zeichnungen des Monsters in den mittleren Panels an. In den vertikal symmetrischen Panels ist jeweils nur ein Arm des Monsters zu sehen, wodurch trotz der Aufteilung auf vier Panels horizontal eine monströse Symmetrie und vertikal eine monströse Entität gestiftet wird. In dieser Perspektive ist auch auf die Verbindung des unteren und des oberen Panels hinzuweisen. In der Mitte des oberen Panels wird an dessen unterer Grenze der Penis des Monsters angedeutet. Seine Position und Breite verlängert der vertikal ausgerichtete Abstand zwischen allen vier Panels, der wiederum von der Analrinne des Monsters bildlich aufgefangen wird. Damit wird die kampfbereite aggressive Pose des obersten Panels in eine Perspektive auf das Gesäß und die Genitalien des Monsters überführt. Die Drohgebärde im oberen Panel führt der vertikalen Achse nach zum Anblick der monströsen Genitalien. Dabei ist die Landung des mit ausgebreiteten Armen auf den doppeldeutigen Boden der Diegese und der Seite fallenden Protagonisten zentral durch Skrotum und Penis des Monsters bestimmt, die beide vom Arm des Helden, dessen Hand ein Messer hält, auf ambivalent drohende Art abgeschnitten werden. Ambivalent ist sie, da die Größe des Messers im Vergleich zur übermäßigen Männlichkeit des Affen etwas lächerlich Kleines an sich hat. Andererseits wird die Angriffshaltung des Helden mit dem gezückten Messer durch die offensichtliche Perspektive auf die Verletzbarkeit des Gegners betont. Betrachtet man nämlich diese monströse Verbindung auf der ganzen Seite, so schwirren vier Protagonisten von oben, von links, rechts und unten um eine sich über die Panelgrenzen erstreckende Monstranz, und die Bodenseite des unteren Panels fällt konsequenterweise mit dem Boden des Bauwerks zusammen, auf dem das Monster dieser Seite steht. Der Aufbau dieser Seite bricht einerseits mit dem konventionellen von links nach rechts und oben nach unten gehenden Lesefluss eines Comics, indem eine vertikale und eine horizontale Achse etabliert wird, die jeweils einen stärkeren Zusammenhang besitzt als es die rein sequenzielle Ab203
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folge tut. Moebius setzt dabei den diegetischen Anfangs- und Endpunkt größer ins Bild – der Protagonist fliegt an und landet – und bildet in den beiden Panels der horizontalen Achse gleichsam das Mittel ab, das der Protagonist wählt, um auf dem Bauwerk zu landen. Zweitens wird die Seite als Ganze in Szene gesetzt, was aber nicht auf Kosten einer sequenziellen Anordnung von Bildern geht, sondern auf einer weiteren Ebene das Verhältnis der beiden Protagonisten zueinander veranschaulicht. Durch den Aufbau dieser Seite kann der Rezipient auf seine eigenen Lesegewohnheiten aufmerksam gemacht werden. Denn neben dem sequenziellen Blick von einem Panel zum nächsten ist auch die in Comics sonst nur auf der Titelseite übliche Perspektive auf die Seite als Ganzes gegeben. Die Rezeption der Panels nacheinAbbildung 6: King Kong and the White ander sowie der Blick auf die Woman, 1933 Gesamtkomposition sind möglich, und durch den Wechsel der Perspektiven kann diese Seite auch als Reflexion auf die Lesekonventionen verstanden werden. Dabei sind es vor allem die Elemente der ›legitimen‹ Kultur, die Formen von Lünette und Bogen, die Giraud hier für ästhetische Innovationen fruchtbar macht. Durch die Verwendung des Tympanons und der beiden Grisaillen wurde ja der konventionell vorherbestimmte Ausgang des Kampfes mit dem Sieg des Helden thematisiert. Der sichere Tod des Monsters durch den Sturz ins anemonenartige Meer wird aber zusätzlich noch durch eine intermediale Allusion verstärkt, die sich am oberen Panel der Seite fünf ausmachen lässt (vgl. Abbildung 5). Dort wird ein Sujet aus dem Film King Kong angespielt, in welchem ein ebenso monströser Affe auf einem isolierten Bauwerk steht, der mit einem bemannten Flugobjekt kämpft (vgl. Abbildung 6). Diese Allusion wird auf der siebten Seite dieser Episode bestätigt (ohne Abbildung), wenn an der Seite des vermeintlichen Aquädukts zwei Streben aus Stahlbeton ersichtlich werden und ihm anachronistisch eine moderne Bauweise hinzufügen. Während in der Verfilmung von King Kong das Geschlecht nur implizit durch das Verhältnis zur weißen Frau inszeniert wird, aber nirgends in expliziter Form zu sehen ist, prangt in Arzach ein großer Penis zentral im unteren Panel (vgl. Abbildung 5). Métal hurlant sollte in den folgen204
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Abbildung 7: Jean Giraud: Moebius 2. Arzach & Other Fantasy Stories, New York: The Marvel Entertainment Group 2 1987, S. 20
den Monaten und Jahren auch dafür bekannt werden, dass es als eines der ersten Magazine sowohl explizit gewalttätige als auch pornografische Comics publizierte. Die abschließende Seite dieser zweiten Episode ist aus fünf Panels komponiert, wobei die durchaus konventionelle, horizontale und vertikale Anordnung von vier Panels durch ein kreisrundes in deren Mitte befindliches durchbrochen wird (vgl. Abbildung 7). Die äußeren Ecken der vier eher konventionellen Panels sind abgerundet, woraus sich ein Freiraum auf der Seite ergibt, der durch vier gleichschenklig dreieckige Ornamente aus den bekannten Seeanemonen aufgefüllt ist. Die Ornamente bestehen aus einzelnen in der Ecke der Seite entspringenden Tentakeln und fächern sich zur jeweiligen abgerundeten Ecke des Panels hin auf. Im linken oberen Panel ist zentral der Teil des Via- oder Aquädukts von schräg rechts unten aus der Perspektive der anemonenartigen Gewächse zu sehen. An der Rückseite des Bauwerks hängt zentral im Bild das affenartige Monster an seinem rechten Arm. Die Symmetrie seiner verfänglichen 205
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Position wird durch die über ihm sitzende Sonne und die beiden Pfeiler sowie durch die im Bildvordergrund in der Form eines Kraters nach ihm greifenden Gewächse betont. Über dem linken durch die Aufsicht von rechts unten räumlich vertieften und somit breiter wirkenden Pfeiler sieht man den Helden, wie er den Pterodaktylus an seinem Geschirr hält. Im nächsten Panel der Protagonist mit einer Schale von Keksen, rechts unter ihm stehen ein kleiner Becher, eine Schale und eine Flasche. Es ist also eine Art von Picknick im Sonnenuntergang, situiert am einzigen Ruhepunkt dieser verschlingenden Ebene, das sich als zutiefst ironisches Telos dieser Episode entpuppt und das durch die in den vier Seitenecken befindlichen, zu Grasbüscheln gewordenen Anemonen dezent gerahmt wird. Hinter dem Picknickgeschirr sind drei Krallen des Affenmonsters ersichtlich, die sich an die Ebene klammern. Mit der Darstellung der Klaue wird die drohende Gebärde derselben Klaue, wie sie in den vorhergehenden Seiten zu sehen war, noch einmal in ihrer Vergeblichkeit vorgeführt: Wie sie zuerst dem Helden vergeblich drohte, klammert sie sich nun vergeblich fest. Im linken unteren Panel ist die Sonne ein gutes Stück tiefer gesunken, was sich der Protagonist mit einem Becher in der Hand zu Gemüte führt. Der Stand der Sonne betont, dass Zeit vergangen ist, sich das Monster nach wie vor festkrallt und sich an seiner misslichen Position nichts verändert hat. In allen drei Panels treten die Aktivitäten zurück, bis auf Tee trinken, Kekse essen und den romantisierenden Blick in die untergehende Sonne geschieht nichts, und dieses Aussparen der Handlungen verstärkt den Aspekt der vergehenden Zeit. Als im letzten Panel schließlich die Sonne unter- und der Protagonist wieder zu seinem Reitsaurier geht, sind die Kräfte des Monsters am Ende, allein die sich eben noch anklammernde Hand ragt noch aus den zupackenden Gewächsen hervor und rundet die tragikomische Geste des Monsters ab. Das fünfte und zentrale Panel prangt rot in der Mitte dieser Seite, die Gesichtsfarbe lässt an einen eingefassten Rubin denken. Die Reihenfolge, in der die Panels rezipiert werden, ist bis auf eben dieses fünfte klar. Bei den ersten dreien ist der Blick in die Mitte der Seite jedes Mal ein humoristischer Seitenhieb auf die Ausweglosigkeit der Situation, während vom letzten Panel aus in Form einer Analepse das Gesicht des sterbenden Monsters zu sehen ist. Der Aufbau der Seite schafft es also, wie auf Seite fünf den konventionellen Lesefluss des Comics zu durchbrechen und hier aus der linearen Serialität eine multiple zu machen. Das konventionelle Ende einer sich fortsetzenden Serie wäre ein Cliffhanger gewesen, welcher die Rezipienten der nächsten Ausgabe entgegenfiebern lässt – hier ist es dagegen nur das Monster, das längere Zeit 206
Im Museum abhängen
am buchstäblichen Abgrund hängt. Wurde am Beginn dieser Episode der Name des üblicherweise gleichen Titels einer Serie variiert, so ist es hier das Aussparen jener Spannung, die zum Kauf des nächsten Magazins anreizen sollte. Damit verweist das Ende dieser Episode, ebenso wie es der Anfang tut, ex negativo auf das Format der Fortsetzungsserie, das für Giraud noch einige Jahre das gängige bleiben sollte, bevor er durch den ökonomischen Erfolg in sich geschlossene Alben veröffentlichen konnte. Das Format einer Fortsetzungsserie wird so von Giraud sowohl zu Beginn als auch am Ende gegen sich selbst gewendet, was den Erfolg des Magazins aber keineswegs beeinträchtigte. Métal hurlant dominierte mit Comics wie diesem innerhalb weniger Monate den französischen Comicmarkt, und selbst der große Konkurrent Pilote, der davor den Markt bestimmt hatte, war durch den Erfolg des neu gegründeten Magazins gezwungen, den Innovationen des von Giraud, Dionnet und Druillet gegründeten Magazins zu folgen.41 Das avantgardistische Vorgehen von Moebius und seinen Kollegen baute dabei auf keiner institutionellen Unterstützung auf, wie es sie etwa für den Literaturbetrieb gab, und ihr Unterfangen, ein experimentelles Magazin zu gründen, war in Frankreich das erste innerhalb der Comicproduktion, was ihnen umgekehrt ermöglichte, einen Bereich kultureller Produktion innerhalb eines Landes auf Jahre fast im Alleingang zu dominieren.42 Während die Generation ihrer Vorgänger das Zeichnen und Schreiben von Comics noch als Handwerk verstand, das nichts mit avantgardistischer Kunst zu tun hat, war es für den aus dem Kleinbürgertum stammenden Giraud ironischerweise die liberale Haltung gegenüber den angeführten Bereichen kultureller Produktion, das ›Abhängen‹ im Museum, das es ihm erlaubte, das, was ein Comic zum Comic macht, neu zu definieren.43 Sowohl ästhetisch, thematisch als auch von den Rezipienten her diversifizierte sich so das Comicfeld in Frankreich, und vermutlich liegt es an Zeichnern wie Giraud, dass im Gegensatz zur deutschen August-Ausgabe des Playboy auf der französischen das zu sehen war, was man dort erwarten durfte.
41 | Vgl. Screech: Masters of the Ninth Art, S. 126 ff. 42 | Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 421 f. 43 | Vgl. ebd., S. 354. 207
Welt-Räume der Mediendominanz Kubricks und Clarkes 2001 als rekursive Odyssee Burkhardt Wolf (Berlin)
»Across the gulf of centuries, the blind smile of Homer is turned upon our age. Along the echoing corridors of time, the roar of the rockets merges now with the creak of the wind-taut rigging.«1 Als Auftakt jenes Vorstoßes ins All, wie er Mitte des 20. Jahrhunderts gewagt wurde, dürfte in der Nachkriegszeit gerade Engländern noch eins gewärtig gewesen sein: das ohrenbetäubende Getöse der deutschen ›Vergeltungswaffen‹. Ein eher unzeitgemäßes Interesse an den Raumfahrtprojekten des Kalten Kriegs hatte indes der britische Mathematiker und Physiker Arthur C. Clarke. Sie gemahnten ihn nämlich nicht zuvorderst an deren kriegerische Ursprünge in der unmittelbaren Vorvergangenheit. An ihnen gewahrte er vielmehr ihre mythischen Resonanzen und jene poetischen Leitmotive von Welterschließung, an denen sich das Abendland seit Homer zu orientieren sucht. Offensichtlich hatte die Medienschlacht des Zweiten Weltkriegs science und fiction in nächste Nähe rücken lassen. Und dafür sorgte nicht zuletzt Clarke selbst: Nachdem er im Zweiten Weltkrieg die Royal Air Force als Radarexperte unterstützt hatte, formulierte er 1945 das (für die globale Kommunikation und für das Global Positioning System bis heute leitende) Prinzip der geostationären Satelliten, um sich fortan zum freien Autor in Sachen Science-Fiction zu erklären. Im Jahr der Mondlandung und ein Jahr nach seiner Mitarbeit an Stanley Kubricks 2001. A Space Odyssey (1968) bekannte er: »It is true that we set out with the deliberate intention of creating a myth. (The Odyssean parallel was clear in our minds from the very beginning, long before the title of the film was chosen.)«2 Die Space Odyssey, zu der Kubrick und Clarke gemeinsam das Drehbuch verfasst haben, übersetzt schon dem Titel nach Homers hexametrisches Epos in ein filmisches. Und dieses umfasst nichts Geringeres als 1 | Arthur C. Clarke: The challenge of the spaceship. Previews of tomorrow’s world, New York: Harper and Row 1959, S. 213. – Für Hinweise und Anregungen danke ich Joseph Vogl. 2 | Ebd., S. 154.
Burkhardt Wolf
die gesamte Gattungsgeschichte des Menschen: von seinem Erscheinen im ersten technisierten Krieg der Urhorde bis zu seinem Verschwinden am Rand des Sonnensystems. Was diese Odyssee antreibt oder steuert, ist das Richtsignal eines rätselhaften Monolithen, der die Menschenaffen der ersten Stunde zum Werkzeuggebrauch, die letzten Menschen aber zum Jupiterflug mit dem Raumschiff ›Discovery‹ inspiriert hat – und damit zum Austritt aus der humanen Sphäre, der anfangs noch von einem Bordcomputer namens HAL 9000 begleitet wird. Das hochfrequente, für Menschensinne mal hör-, mal unhörbare Signal des Monolithen entspricht, wie man gesagt hat, dem unwiderstehlichen Gesang der Sirenen, Bowman, der letzte Mensch und Astronaut, entspricht dem Bogenschützen Odysseus und der einäugige HAL dem homerischen Kyklopen.3 Angesichts von Clarkes Roman 2001. A Space Odyssey von 1968 scheint der gleichnamige Film sogleich eine erste Lektion in Sachen medialer Dominanz zu erteilen. Wenn nämlich – wie es die Medientheorie der 1960er Jahre behauptet – die Botschaft des Filmmediums »die des Übergangs von linearer Verbindung zur Gestalt« ist, so scheint mit ihm immer schon ein Evolutionssprung über die Schrift hinaus und eine entsprechende Dominanz technischer Medien besiegelt. Doch festigt – laut Marshall McLuhan – der »Film den Schriftsteller in seiner Sprachökonomie und seinem Tiefensymbolismus, wo der Film nicht mit ihm rivalisieren kann«4 . Zudem ist Clarkes Roman alles andere als ›das Buch zum Film‹. Vielmehr gehen beide auf seine ältere Short Story »The Sentinel« (1951) zurück und sind in einer Art Parallelaktion entstanden. ›Medienevolution‹ impliziert hier also keineswegs die einfache Dominanz des einen Mediums über das andere. Und obwohl 2001 schon auf den ersten Blick davon handelt, wie der Weltraum nach Art der NASA durch Medien zu kolonisieren wäre, geht es auch hier nicht um bloße Beherrschung. Schließlich hat Clarke den Zweck der Raumfahrt nicht in ihrem materiellen Nutzen oder Machtgewinn gesehen, sondern vielmehr in der Erschließung neuer – nichtkriegerischer – Lebensformen. »Es gehört zu den tragischen Ironien unseres Zeitalters«, schreibt er bereits 1951 in The Exploration of Space, »daß die Rakete, die das Symbol für das Streben der Menschheit 3 | Zu Beginn der Dreharbeiten hatten Clarke und Kubrick freilich noch einen weiblichen Computer namens ›Athena‹ vorgesehen, ein Pendant also zur Schutzgöttin des homerischen Odysseus. – Vgl. James Naremore: On Kubrick, London: BFI Publ. 2007, S. 141. 4 | Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media, Dresden, Basel: Fundus 2 1995, S. 29, 437. 210
Welt-Räume der Mediendominanz
zu den Sternen hinauf hätte sein können, eine der Waffen geworden ist, die Kulturen zu zerstören.«5 Mit Blick auf die Odyssee von medialer Dominanz zu sprechen, heißt zunächst, sie als ein Medienphänomen zu begreifen, das der Beherrschung von Räumen und Möglichkeitsräumen vorarbeitet. In den verschiedenen Odysseen, die die abendländische Dichtung und das okzidentale Imaginäre von jeher begleitet, wenn nicht angeleitet haben, hat sich ein Programm dessen ausgeprägt, was die Revolutionierung von Raumvorstellungen und den Entwicklungsgang der Menschengattung gleichermaßen betrifft. Vor diesem Hintergrund wäre erstens zu klären, auf welche Weise Filmbilder an diese endlose schriftliche, poetische und imaginäre Tradition überhaupt anschließen können. Es stellt sich zweitens die Frage, inwiefern Kubricks und Clarkes 2001 die – sei es mythische, sei es historische – Zeit des Epos und der Literatur allgemein durch eine archäologische und zugleich futuristische Zeitkunst überholt. Und drittens wäre zu untersuchen, ob mediale Dominanz – die nämlich über andere Medien, über Räume und Menschen – hier nach genretypischer Art der Science-Fiction einfach vorgeführt oder nicht vielmehr wissensgeschichtlich und zugleich ästhetisch reflektiert wird. Gibt es so etwas wie ›die Botschaft‹ der homerischen Odyssee, so mag diese in ›medienontologischer‹ Perspektive und nach Friedrich Kittler erstens lauten, dass der Sinn von Sein nur darin liegt, »dass es Sein gibt«; zweitens, dass dieses Sein von einer poiêsis »ersungen« wurde, die sich poetisch selbst besingt; und schließlich, dass Poesie damit aus der Seinsfrage selbst hervorgeht, als solche aber – wie auch »Wissenschaft als solche« – immer schon eine rekursive Operation darstellt.6 Das Medium dieser Botschaft, die sonst niemals auf uns und Clarke und Kubrick gekommen wäre, ist jedenfalls die Schrift, oder genauer: das Alphabet in seiner griechischen Variante. Denn nur dieses notiert Vokale und Silbenlängen, womit es die Aussprache kontext- und bedeutungsfrei festschreiben und zugleich jede Sprache auf Erden anschreiben kann. Damit stellt es das erste »facsimile of the human voice« dar, für das es freilich ohne Poesie keine Verwendung gegeben hätte.7 Was die ältesten Zeugnisse für die5 | Arthur C. Clarke: Vorstoss ins All, Stuttgart: Franckh 1953, S. 195. 6 | Friedrich Kittler: Musik und Mathematik I. Hellas 1: Aphrodite, München: Fink 2005, S. 121, 208. 7 | Barry Powell: »Homer and Writing«, in: Ian Morris und Barry Powell (Hg.): A new companion to Homer, Leiden, New York, Köln: Brill 1997, S. 3–32, hier: S. 25. 211
Burkhardt Wolf
ses Vokalalphabet enthalten, sind tatsächlich homerische Gesänge. Barry Powell nimmt deswegen einen sogenannten adaptor an, der das phönikische Alphabet verändert habe, damit ihm Homer selbst seine Gesänge diktieren konnte. Unter diesen Vorzeichen ist das griechische Alphabet das poetische Medium schlechthin. Es kündet vom Ursprung allen Sinns und Wissens – und dabei nicht zuletzt von jener sinnlichen Dominanz, die mit den Seirenes (den ›Bestrickenden‹) zum Mythos geworden ist. Medium ist das Alphabet aber noch in einem zweiten Sinn. Es nimmt nämlich die poetischen Formen der vorhomerischen Dark Ages auf, die den Rhapsoden die Memorierung, die orale Überlieferung und das dauernde Durcharbeiten der noch unverschrifteten Gesänge gestattet haben, also bestimmte Metren, Topoi und Epitheta. Diese können sich erst im vokalalphabetischen Medium zur Großform des Epos auswachsen, das seine Gesänge ja nach den 24 Lettern durchzählt und das mit seinen komplexen Beschleunigungen und Retardationen, Vor- und Rückgriffen nur anhand der Schrift komponiert worden sein kann. Medium in einem dritten Sinn ist das vokalalphabetische Epos schließlich darin geworden, dass es unbekannte und topografisch unerschlossene Räume allererst zugänglich gemacht hat. Die Odyssee ist nämlich der poetische Prototyp jener Segelhandbücher, die in der griechischen Antike gleich nach Einführung des Alphabets verfasst wurden. Auf dem mittelländischen Meer, wo es keinerlei Navigationsmedien wie Karten oder Kompass gab, orientierten memorierte Gesänge, indem sie von bestimmten Routen und Gefahren kündeten.8 Dass die Gesänge der Odyssee das Versprechen dieser unerschlossenen Räume zur Sprache bringen, ist ihr Poetisches. Ihrer imaginären Kartografie schreiben sie ein verborgenes Telos ein, sie schildern die dauernde Abweichung von diesem Ziel und bahnen die abschließende Heimkehr auf Umwegen an: den nostos. Schon thematisch zeugt die Odyssee also von jener Kunst der Schiffsführung, die bei den Griechen kybernésis hieß. Indem ihre Gesänge dem verschlungenen Leitfaden einer nichtdeterministischen Teleologie folgen, entsprechen sie auch strukturell der Ablaufform eines – wie man zu Clarkes und Kubricks Zeiten sagen wird – ›kybernetischen‹ Prozesses. Einerseits werden bei Homer poetische und geografische, bloß besungene und reale Orte einander bis zur Ununterscheidbarkeit angenähert – nicht umsonst trägt Odysseus den Beinamen polytropos: Er ist der 8 | Erstmals vertreten wurde diese These durch Victor Bérard: Les Phéniciens et l’Odyssée, 2 Bde., Paris: Armand Colin 1902–1903. 212
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›Weitgereiste‹ und ›Verschlagene‹, der Held ›der vielen Wendungen‹ im sprachlichen und rhetorischen wie geografischen und örtlichen Sinne. Andererseits scheint die Odyssee tatsächlich jene Thalassokratie angebahnt zu haben, zu der sich die Griechen mit der Erschließung des westlichen Mittelmeers aufschwangen. Die frühesten griechischen Schriftzeugnisse nämlich, die sich in Unteritalien fanden, handeln bevorzugt von Homers gerade verfassten Epen. Den unbekannten Westen erschlossen sich die Griechen dabei jedoch nicht um der nackten Beherrschung (oder ›Kolonisierung‹) willen, sondern vielmehr um dorthin ihre Lebensformen zu verpflanzen. Ein Imperium – im Sinne des römischen Befehls und Reichs, der Unterwerfung oder Versklavung – hatten sie weniger im Sinn als eine Nutzung und Kultivierung. Im neuzeitlichen Völkerrecht wird diese Form des Gebrauchs, der als solcher noch keine souveränitätsrechtlichen Ansprüche nach sich zieht, dominium im Gegensatz zum imperium heißen. Das dominium betrifft staatsfreie Räume wie das Meer, die nicht als Hoheitsgebiet zu reklamieren, wohl aber der gewohnheitsmäßigen Nutzung zuzuführen sind. Zwar können dieser Nutzung halber andere Parteien nötigenfalls auch durch Waffengewalt aus dem dominierten Raum ausgeschlossen werden, doch sind Gerichtsbarkeit und die Ausübung rechtlicher Autorität, wie sie innerhalb souveräner Territorien möglich sind, hier ausgeschlossen. Die dominio maris war seit Mitte des 17. Jahrhunderts der Gegenstand fortgesetzter Streitigkeiten (etwa zwischen Hugo Grotius und John Selden) und juristischer Bemühungen (etwa durch Cornelius van Bynkershoek). Im Zuge dieser Diskussion um einen ›staatsfreien Raum‹ wie das Meer, sein dominium und dessen technische Implementierung ist aber letztlich das moderne Völkerrecht entstanden. 1957 und 1967, unmittelbar nach dem Sputnik-Schock und vor dem Mondflug, wurde es in dieser Hinsicht eigens für den Weltraum spezifiziert.9 Und 2001. A Space Odyssey, so könnte man hinzufügen, ist rechtshistorisch insofern präzise, als Film und Buch die Dominanz am Wasserloch, um welche die afrikanischen Urhorden konkurrieren, mit den völkerrechtlichen Konventionen im staatsfreien Weltraum zusammenführen. Mehr als bloße Poesie, war die Odyssee von jeher auch ein Medium von Dominanz. Von Anbeginn eröffnete sie eine doppelte Perspektive: erstens die der ›Gattungspoetik‹, welche nicht nur die Hervorbringung poetischer 9 | Vgl. Stephan Hobe: »Die staatsfreien Räume – insbesondere der Weltraum«, in: Karl Schmitt (Hg.): Politik und Raum, Baden-Baden: Nomos 2002, S. 79–88, hier: S. 80 f. 213
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Gattungen und Formen, sondern auch die der Menschengattung und ihrer Lebensformen betrifft; und zweitens die Perspektive der Raumrevolution, welche reale, nämlich geo- und hydrografische Räume, Luft- und kosmische Räume nicht minder angeht als imaginäre und fiktive, mögliche und virtuelle Räume. In solch doppelter Perspektive wurde das Epos zum Ausgangspunkt für die Science-Fiction Clarkes und Kubricks. Was sie freilich von Homer trennt, ist eine endlose Serie unterschiedlicher Odysseen: weniger eine Reihe bloßer Überlieferungen oder Adaptionen, sondern vielmehr eine Serie von Rekursionen. Dieses rekursive Prinzip eines Fortschreitens durch den Rückgang ins Poetische ist schon bei Homer angelegt. Denn wenn sich Odysseus mit den Sirenen dem mythischen Ursprung der Poesie selbst nähert, so versprechen ihm diese nichts anderes, als Gesänge aus Homers erstem Heldenepos anzustimmen.10 Die Odyssee ist eine Rekursion der Ilias – ein poetischer Rekurs aufs Poetische, den Giambattista Vico mit Blick auf Homer als kulturpoetisches Grundprinzip des ricorso beschreiben und den der Homer- und Vico-Leser James Joyce dann im Ulysses wiederaufnehmen sollte: als das, was nicht aufhört, sich zu schreiben, als ewige Wiederkehr des Epos im Roman. Damit, wie Georg Lukács sagt, an die Stelle des Epos – als urbildlicher Landkarte einer extensiven, sinnlichen und sinnhaften Totalität des Lebens – der Roman – als Epopöe der gottverlassenen, weil reflexiven, selbstschöpferischen und damit ziellosen Welt – treten und somit Ästhetik zu Metaphysik hypostasiert werden konnte,11 bedurfte es allerdings einer entscheidenden Wendung: Der Kreis des nostos, der sich im homerischen Epos trotz allen abenteuerlichen Irrens und Abirrens zuletzt doch noch zur Heimkehr geschlossen hatte, öffnete sich an den Säulen des Herakles. Er öffnete sich einem Außen, in das nur eine Irrfahrt ohne Wiederkehr führen konnte. Dante schrieb im 26. Gesang des Inferno der endlosen Zyklik heidnischer Odyssee-Rekursionen sozusagen eine christliche Abbruchbedingung ein, während er selber, im poetischen Rekurs auf die scholastische Kosmologie, den Aufstieg zum Einen Gott und dabei – als ätherischer Flugkörper – einen ersten Weltraumflug nach Maßstäben der Science-Fiction wagte.12 10 | Odyssee, XII, 189 f. – Vgl. hierzu auch Friedrich Kittler: »Im Kielwasser der Odyssee«, in: Elisabeth Wagner/Burkhardt Wolf (Hg.): Odysseen. MosseLectures 2007, Berlin: Vorwerk 8 2008, S. 96–117, hier: S. 98. 11 | Vgl. Georg Lukács: Theorie des Romans, Darmstadt, Neuwied: Luchterhand 11 1971, S. 21–30. 12 | Vgl. hierzu Manuele Gragnolati: Experiencing the Afterlife – Soul and 214
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Seither ist der poetische Gesang zum ›Wort der Fiktion‹, zu »parole fittizie«13 (Dante) geworden. Er ist zu einem discurrere oder Diskurs geworden, der sich als bloß fiktional zurücknimmt, dabei aber ein spezifisches Verhältnis zum Realen behauptet: nicht bloß erfunden, sondern an der Erschließung des Realen im Sinne eines perspektivischen und Nochnicht-Wissens beteiligt zu sein. So gesehen zeugen die transzendentalpoetischen ›unendlichen Fahrten‹ neuzeitlicher Odysseen von einer spezifischen »Produktivität des Geistes«, die sie mit dem Wissen neuzeitlicher Welterschließung überhaupt teilen: mit all ihren Projekten und Projektionen, Innovationen und Simulationen, mit ihrer Operationalisierung des Nichtwissens und ihrem unablässigen Neuentwurf von Weltbildern.14 Ihre neuzeitlichen Rekursionen verweisen die Odyssee immer schon auf neue Räume, aber auch auf einen neuen Menschentypus und schließlich auf neue Medien ihrer eigenen Rekursion. Vor diesem historischen und literarischen Hintergrund überspringt 2001 die Zeit der Historie wie die der Literatur. Angesiedelt ist der Film zum einen in der Prähistorie und in einer ortlosen Urlandschaft, zum anderen im Posthistoire und im Weltraum. Beide Male zeigt er einen Entwicklungssprung der Gattung, zunächst hin zum Menschen, dann fort von ihm. Dabei führt er auch und gerade jenen Entwicklungssprung vor Augen, der mit einer kinematografischen Rekursion der Odyssee fällig ist: An die Stelle bloßer Schrift und literarischer Metaphern tritt ein akustisch-visueller Medienverbund, der ›Erfahrung‹ im mehrfachen, im räumlichen, ästhetischen und experimentellen Sinne möglich machen soll. »It’s not a message that I ever intend to convey in words«, sagt Kubrick, »2001 is a nonverbal experience [. . .]. I tried to create a visual experience [. . .]. To convolute McLuhan, in 2001 the message is the medium.«15 Die Botschaft oder der Stoff der Odyssee wird bei Kubrick zu einem Medium oder Mittel, um in den Erfahrungsraum nicht nur des Verbalen, sondern des Visuellen einzudringen. Body in Dante and Medieval Culture, Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press 2005, S. 53–89. 13 | Dante Alighieri: Convivio, II. Kap. 1, 3. 14 | Lukács: Theorie des Romans, S. 25. – Vgl. hierzu auch Wolfgang Schäffner: »Das Ei des Brunelleschi. Projekte, Fiktionen und die Erfindung des Neuen«, in: Daniel Weidner (Hg.): Figuren des Europäischen. Kulturgeschichtliche Perspektiven, Paderborn: Fink 2006, S. 43–58, hier: S. 48 f., 56. 15 | Zit. n.: Stephan Sperl: Die Semantisierung der Musik im filmischen Werk Stanley Kubricks, Würzburg: Königshausen und Neumann 2006, S. 109. 215
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Sprache wird deswegen in 2001 ihrerseits zum Bild: Auf einer Metaebene ›beschriftet‹ wird der Film selbst nur mit den Zwischentiteln, die die einzelnen Episoden aufgliedern. Geschriebene und gesprochene Sprache finden sich aber sonst auf der Objektebene jener Beobachtung wieder, die der Film an Medien überhaupt vornimmt: Schriftzeichen werden in ihrer Befehls- und Steuerungsfunktion gezeigt, etwa im Falle von Displays oder Gebrauchsanweisungen; und die menschliche Rede ist reduziert auf minimale Kommunikation. Man könnte fast sagen, unter Menschen diene Sprache hier ausschließlich sachlicher Informationsvermittlung ohne Umwege, während ausgerechnet der Bordcomputer HAL das Spektrum des Sprachhandelns und der Stimmmodulationen ausreizt. Dass die Stimmen der Schauspieler offensichtlich in jenem Raum widerhallen, der zugleich ins Bild gerückt wird, HALs Stimme aber als »I-voice« oder »acousmêtre« (Michel Chion)16 aus einem abstandslos subjektiven Raum heraus hörbar wird, der seinerseits nicht sichtbar werden kann, weil er mit dem Kamerablick selbst zusammenfällt – auch dies spricht für die These, an den menschlichen Akteuren werde hier eine regelrechte Sprech-, Sprach- und Diskursanalyse vorgenommen, während HAL umgekehrt den Möglichkeitsspielraum technologischer Sprachgenerierung vorführt. Diese vermittelst des Sicht- oder eben Unsichtbaren vorgenommene Analyse und Synthese des Sprachlichen ist ein Privileg des Kinos: Nicht im Buch, wohl aber im Film 2001 wird ein Faksimile der Stimme, nämlich ein »voice print« beim Security check erstellt; nur im Film übt sich HAL in der Technik des Lippenlesens, so dass ein kurzer Close-up aus der Computerperspektive zum Wendepunkt des Geschehens wird; und nur im Film können Geräusche und Signaltöne, bloßes Atmen oder gar Rauschen als beredtes Nicht-Sprechen hörbar werden. Weder unterliegt das Filmmedium einem universalen Sprachsystem noch ist es selbst eine Sprache. Vielmehr fördert es eine »intelligible Materie«17 zutage, die hier nicht sprachlich geformt, sondern in ein polymorphes Mediengeschehen zwischen visuellem und akustischem Bild eingebracht wird. Deswegen besorgt der ›Soundtrack‹ zu 2001 nur für jene Einstellungen eine regelrechte Orchestrierung des Sichtbaren, in denen sich mythisches Bildgeschehen mit programmatischer Tondichtung (exemplarisch in Richard Strauss’ Also sprach Zarathustra) zu einer singulären symbolischen 16 | Vgl. hierzu Naremore: On Kubrick, S. 149. 17 | Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 335. 216
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Abbildung 1: HALs Lippenlesen, über seine ›subjektive Kamera‹ vorgeführt
Komposition zusammenfügt. György Ligetis Stücke und ihre »kontrapunktische Verflechtung der Themenverbände im Zeichen der Mikropolyphonie«, die »zu einer exzessiven, potenzierten Chromatik« überleitet,18 kündigen hingegen das Werden eines noch Unsymbolisierbaren an: Zunächst begleiten sie noch jene Augenblicke der Wandlung, die mit dem Auftauchen des Monolithen verknüpft sind; zuletzt formieren sie selbst diese Wandlung, so dass sie als Klangfarbe geradezu synästhetisch visualisiert werden. So als trete hier der Film aus dem ordo des klassischen Kinos (und der klassischen Tonkunst) aus, wird jenseits der »Star Gate« Ligetis geschichteter und fluktuierender Klangraum in irisierenden Spektrallabyrinthen und Mandelbrot-Fraktalen sichtbar – Kompositionstechnik und Berechnungsroutinen verbinden sich gerade in ihren rekursiven Operationen. Die Tonspur von 2001 wird somit zu einem Kontinuum aus akustischen Bildern, das Geräusche, Töne, Lautbildungen, Reden und Musik gleichermaßen enthält, sich aber nicht entsprechend einer Ordnung des Signifikanten, sondern alleine hinsichtlich potenzieller Referenten oder Signifikate strukturiert.19 Wohl ist dem Film ein eigener ›Tiefensymbolismus‹ möglich, doch im Gegensatz zum Buch kein literarischer, rein sprachlich erzeugter. Im akustischen und visuellen Bild sowie in beider Austausch eröffnen sich Räume, die als Zeit-, Handlungs- oder Blickräume die Reichweite einer ›lebensweltlich‹ bewährten Wahrnehmung übersteigen und zudem den Rahmen der klassischen, Newton’schen Physik sprengen. Natürlich machen Sprechakte, wie seit Entstehung des Tonfilms immer wieder festgestellt wurde, im visuellen Bild etwas sichtbar, was man ohne sie nicht gesehen hätte, und verleihen ihm so eine Art vierter Dimension. Sprechakte wie die HALs jedoch scheinen darüber hinaus ›selbst zu sehen‹: nicht nur in dem Sinne, dass ihre Quelle sichtbar oder eben – wie 18 | Sperl: Die Semantisierung der Musik, S. 120. 19 | Vgl. Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 300. 217
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Abbildung 2: »Through the Star Gate«
im Falle HALs – nicht sichtbar wird. Die Sprechakte dringen insofern in das visuelle Bild ein, als sie ›ein Auge in der Stimme‹ (Chion) haben, als sie selbst einen Blick implizieren. Daher rührt auch die »psychological compulsion always to look towards the main control lens when one addressed HAL« – wird doch dem Subjekt seine Stellung »in der Welt des Sprechens«, im akustischen Bild also, angewiesen, während von dieser Stellung wiederum die »Beziehung zwischen dem Imaginären und dem Realen« und die Möglichkeit des Blicks, ja eines Erblicktwerdens aus bloßen Kameraaugen abhängt.20 Umgekehrt und von der Seite des visuellen Bilds aus führt der Blick zurück bis zu jenem Punkt, der die Möglichkeitsbedingungen des Sehens, ja des Films als solchem markiert. Wenn sich etwa Bowman jenseits der Star Gate in einem Rokoko-Salon selbst begegnet, so wechselt der Blick zu seinem gealterten Doppelgänger, der seinerseits – in einem subjective travelling shot – einen nochmals gealterten Doppelgänger erblickt, bis dieser sich selbst auf dem Totenbett erblickt. Zu guter Letzt aber wird der sterbende Bowman, vor dem Monolithen liegend, sozusagen entkörpert und subjektlos gesehen. Und dieser Moment leitet zur mythischen Wiedergeburt der Schlusssequenz über. Die Wandlung ereignet sich also 20 | Arthur C. Clarke: 2001. A Space Odyssey, London: Orbit 2006, S. 148, sowie Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 298 f., und Jacques Lacan: »Die Topik des Imaginären« [1954], in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 212–227, hier: S. 219. 218
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Abbildung 3: HALs Kameraauge und sein erster Blick innerhalb des Films: Bowman ist als Reflex zu erkennen
in ebenjenem Augenblick, da die second order cybernetics einer Beobachtung der Welt vermittelst dessen, was andere als Welt beobachten, an eine Grenze stößt, die man den blinden Fleck der Beobachtung, den Blick des großen Anderen oder auch das völlig Andere des filmischen Blicks nennen mag. Jedenfalls kann man an diesem Punkt nicht mehr behaupten, dass sich Bowman im Laufe gewisser Zeit-Räume einfach verändert hätte. Er selbst existiert oder insistiert nur mehr in der Serie jener Virtualitäten, die mit den Blicken von und auf Bowman gegeben sind und sich als solche miteinander verknüpfen. Es geht also nicht mehr nur um einen Bowman, der sich selbstverständlich auch verändert, sondern vielmehr um jene ›Veranderung‹ inmitten filmischer Zeit- und Möglichkeitsräume, die Bowman selbst ist. Dieses Sehen eines gesehenen Sehens vollzieht sich wohlgemerkt inmitten eines Arrangements, das die Konstruktion der Zentralperspektive idealtypisch nachstellt. Freilich kann diese ›natürliche‹ Perspektive, nachdem der Film bereits ein ganzes Kaleidoskop unterschiedlichster ZeitRäume vorgeführt hat, nur mehr als bloße Konvention und Episode, als nachträgliche Rezentrierung und unzeitgemäßer Rückgriff auf die Epoche des Menschen zur Geltung kommen. Ihr voran geht in 2001 ein nach und nach radikalisierter Relativismus von Raum und Bewegung: In den Raumschiffen etwa muss die Schwerkraft allererst hergestellt werden, was nicht nur eine Chiffre für die Aufhebung aller kulturellen und intellektuellen Gravitation und für einen radikalen Kopernikanismus ist, sondern überhaupt die mediale Modellierung von Räumlichkeit, Lebenswelt und Lebensform ankündigt.21 Inmitten der Zentrifuge herrscht zwar Schwerkraft, doch gibt es kein Oben und Unten mehr, ebenso wie der fraktale 21 | Im Roman werden die – von der Gravitation und damit Lebenswelt völlig anders eingefassten – Lebensformen der »Spaceborn« eigens thematisiert. Raumfahrttechnologisch wurde die bei Clarke geschilderte Ausnutzung von Jupiters Gravitationsfeld als »perturbation manoeuvre« auf der Voyager-Mission 1979 219
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Abbildung 4: Bowman sieht Bowman bis hin zu seinem Sterben und seiner Wiedergeburt
Raum jenseits der Star Gate ungerichtet oder omnidirektional wird: Aus jedem Bild-Raum und dessen einzelnen Elementen kann jederzeit und in beliebiger Richtung ein neuer Bild-Raum aufgebaut werden. Modellier- und revolutionierbar ist in dieser medialen Odyssee mit dem Raum auch und gerade die Menschengattung geworden. Archäologisch und futurologisch betrachtet, taucht sie in 2001 diesseits der Hominisations- und jenseits der Maschinisierungsschwelle auf, zwei Schwellen, die in Kubricks berühmtem Match-Cut von Knochen und Raum(kriegs)schiff zusammenfallen.22 Dieser präzise, zwei Millionen Jahre verdichtende Schnitt metaphorisiert jene Arbeit am Mythos, die die Odyssee immer schon war – und vor den laufend innovativen Hochtechnologien ebenso sein muss wie im Rückblick auf die Dark Ages. Zur ausgenutzt. – Clarke: 2001. A Space Odyssey, S. 77, zudem »Back to 2001«, in: ebd., S. 9–18, hier: S. 15. – Zur Gravitation im Film vgl. auch J. P. Telotte: »The Gravity of 2001. A Space Odyssey«, in: Robert Kolker (Hg.): Stanley Kubrick’s 2001. A Space Odyssey. New Essays, New York: Oxford University Press 2006, S. 43–54. 22 | In einer später verworfenen Konzeption des Match-Cuts sollte eine Stimme aus dem Off den Sprung vom Knochen zu einer im All stationierten Atombombe (statt eines bloßen Raumschiffs, wie der Film nahelegt) explizit machen, ein Kommentar, der sich durch die ›Bildsprache‹ erübrigte. – Vgl. Naremore: On Kubrick, S. 142. 220
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Abbildung 5: Die Re-Konstruktion der Zentralperspektive und polydirektional organisierte Lebenswelten auf der Raumstation und im Raumschiff
Zeit der Hominiden ging es zuvorderst um das pure Überleben, zunächst um die Dominanz am Wasserloch, zuletzt um die Eingebung, einen zuhandenen Knochen als Werkzeug und Waffe zu gebrauchen. Solche Passung von Ding, Hand und Idee enthält in nuce jene Welt des Entwurfs, die für 2001 mit Hilfe zahlreicher Raumfahrts-, Design- und Modespezialisten bis ins letzte Detail geplant wurde. Der Film praktiziert und demonstriert dabei ein Product-Placement, das hier freilich nicht nur finanziell, sondern von der Sache her bedingt ist: Ganz nach Maßgabe der zeitgenössischen Kybernetik23 nämlich wird hier die gleichberechtigte Fügung von Menschen und Dingen zu einem Actors-Network inszeniert. Nur auf den ersten Blick ist der Mensch das tool-using und dann das toolmaking animal. Ebenso sehr ist er das tool-used und tool-made animal, denn 23 | Zur Kybernetik, mit besonderem Augenmerk auf die Raumfahrt, vgl. exemplarisch Karl Steinbuch: Automat und Mensch. Auf dem Weg zu einer kybernetischen Anthropologie, Berlin u. a.: Springer 1971, S. 226, passim. 221
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Abbildung 6: Die Waffe der ersten und die der letzten Menschen
durch das, was er macht und was mit ihm gemacht wird, wird er, wie Hans Blumenberg sagt, »immer präziser und stringenter das, was er ist«24 . Man könnte auch sagen, der Mensch enthülle sich bereits in dem Moment, da er seinen Gattungsbegriff allererst erfüllt, als ein Wesen der Potenzialität; und dieses ist paradoxerweise dadurch bestimmt, das, was es ist, sein oder auch nicht sein zu können. Die philosophische Anthropologie der Nachkriegszeit begreift dieses Nicht-Festgestelltsein als »Plastizität« und »Weltoffenheit« der Menschengattung.25 Ein Kybernetiker wie Clarke jedoch sieht mit dem ersten toolusing, also mit der Menschwerdung selbst, zugleich die eherne Notwendigkeit besiegelt, »sich physisch und geistig zu verändern« – ein allmählicher biologischer Entwicklungsprozess, der vom technischen überholt werden und dadurch, wie bereits von Samuel Butler und Alan Turing prophezeit, in den take over der Maschinen münden muss.26 An den Anfang der Gattung setzt 2001 eine Eingebung und Geistesgegenwart, die im Epos noch auf die Gegenwart von Göttern verwies. Der Film zeigt sie als eine ominöse Schickung, die sich allmählich als Steuerungsgeschehen 24 | Hans Blumenberg: Beschreibung des Menschen, aus dem Nachlaß hg. v. Manfred Sommer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 588. 25 | Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, hg. v. Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 1993, S. 190, 401. 26 | Arthur C. Clarke: Im höchsten Grade phantastisch. Ausblicke in die Zukunft der Technik, Frankfurt am Main: Fischer 1969, S. 227. 222
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entpuppt und als solches die künftige mediale Evolution beschleunigt. Damit eröffnet er exakt jene ›seinsgeschichtliche‹ Perspektive, die Philosophen wie Martin Heidegger gerade hinsichtlich der Kybernetik zur Geltung gebracht haben: Wenn nämlich im Zuge der »größtmöglichen technischen Steigerung der Geschwindigkeiten [. . .] allein die modernen Maschinen und Apparaturen sein können, was sie sind«, so unterstehe der Mensch einer Mediendominanz, die Heidegger als ›Gefahr des Gestells‹ benennt. Wozu indes diese Dominanz zwinge und was sie zugleich zum ›Rettenden‹ mache, sei »die wesentliche Besinnung auf die Technik«, auf ihre poiêsis und ihr »Her-vor-bringen« auch und gerade des Humanen.27 Am vermeintlichen Ende seiner Gattungsgeschichte ist der Mensch mithin wieder auf die paradoxe Bestimmung im Moment seiner Gattungswerdung verwiesen: ein Wesen der Potenzialität zu sein. An exakt dieser Stelle verschlingen sich in 2001 Prä- und Posthistorie. Das mythische Ende des Menschengeschlechts verknüpft sich nach Art eines Möbiusbandes mit seinen mythischen Anfängen. Und damit erfährt die Odyssee eine allerletzte Rekursion: Der homerische nostos war nämlich noch ein Kreis, der stets in sich selbst zurückführt, so dass das Daheim zugleich als Ziel gelten konnte. Plotins – als Odyssee veranschaulichte – epistrophê war ebenso Einkehr in sich selbst und, obschon Aufstieg, dennoch eine Rückkehr zum eigentlichen Ursprung. Dantes Ulisse wiederum verliert sich in einer Irrfahrt ohne Wiederkehr, der cantando varca ist jedoch ein poetischer Aufstieg, der vermittels gnadenhafter Inspiration Dante selbst ins Paradies und damit wieder zurück zum All-Schöpfer führt. Dante bezeichnete also die beiden sich definitiv verzweigenden Wege der heidnischen Verirrung und der frommen Rückkehr. Die Mission des letzten Menschen ist aber Irrfahrt und Heimkehr zugleich. Was seine aktuelle Bewegung angeht, verliert er sich im Irgendwo; dass er jedoch in dieser Irre zu seinen eigenen Ursprüngen und damit zu seiner eigenen Virtualität gelangt, lässt ihn im strengsten Sinne erst zu sich selbst kommen. Für diese gleichzeitige Irrfahrt und Heimkehr kann es freilich keinen einfachen narrativen Diskurs, nur ein auf Umwegen erzählbares discurrere geben. Deswegen ist in 2001, anders als im klassischen Kino, zuletzt alle Bewegung einer komplexen Zeit untergeordnet. Das Kino wird, wie Gil27 | Martin Heidegger: »Das Wesen der Sprache« [1959], in: Unterwegs zur Sprache, Stuttgart: Klett-Cotta 13 2003, S. 157–216, hier: S. 165, zudem ders.: »Die Frage nach der Technik«, in: ders.: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen: Günther Neske 1954, S. 13–44, hier: S. 35, 43. 223
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Abbildung 7: Bowman jenseits der Star Gate: die Invertierung von Innen und Außen
les Deleuze es nennt, vom ›Bewegungs-Bild‹ zum ›Zeit-Bild‹: Nicht nur, dass jenseits der Star Gate Fragen der Selbstverortung im äußeren Raum hinfällig, weil bezugslos werden; und nicht nur, dass sich hier die innere Form der Anschauung, die Zeit, von der äußeren, räumlichen emanzipiert und nun alle Bewegungen oder Ereignisse die Zeit direkt betreffen. Auch werden über den Einschlusspunkt des menschlichen Auges (und zuletzt des Kameraauges) Innen- und Außenraum, Wahrnehmendes und Wahrgenommenes invertiert, sozusagen umgestülpt. Das Reale gerät dabei in einen Kreislauf mit dem Imaginären, so dass, wenn sich Bowman zu guter Letzt selbst begegnet, unentscheidbar geworden ist, welcher Bowman hier welchen Bowman sieht. Das aktuelle Bild tritt mit seinem eigenen virtuellen Bild in eine intime Beziehung: Was sich augenscheinlich objektiv ereignet, verdoppelt und verzweigt, wiederholt und widerspricht sich. Und was sich damit zuletzt zeigt, ist die Zeit selbst: das Subjektive, in dem wir sind, statt es einfach in uns zu tragen. 224
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Der Film stellt hierzu weniger die Bildhaftigkeit von Wahrnehmungsoder Erinnerungsprozessen aus, als dass er dem Denken selbst erst Bilder verschafft und ihm seine Bildpflichtigkeit vor Augen führt. 2001 ist so gesehen nicht nur ein ›Zeit-Bild‹, sondern mehr noch ein ›DenkBild‹, das die Ästhetik zum Probierstein eines ›transzendentalen Empirismus‹ erhebt: Unter den Vorzeichen medialer Dominanz werden hier die Möglichkeitsbedingungen des Wahrnehmens und des Denkens selbst verhandelt. Nicht dass für 2001 nach Art eines ›Essay-Films‹ eine bestimmte Philosophie des Kinos oder eine kybernetische Anthropologie dem Filmplot einfach zugrunde gelegt worden wäre. Nur weil das Denken der Zeit und Steuerung aus der Odyssee und ihren Rekursionen selbst als Problem hervorgeht, und auch nur, weil es 1968 die Frage medialer Dominanz direkt betrifft, kann es in 2001 zum Bild werden. Bereits in der ersten Einstellung wird mit der Frage der Hominisation die nach der Steuerung aufgeworfen: Mit dem Gebrauch des Knochens nämlich schafft sich der Mensch nicht nur ein erstes Werkzeug. Er begibt sich, wovon auch immer inspiriert oder angeleitet, in eine ›organische‹ Kopplung zwischen Ding und Lebewesen, innerhalb derer er selbst zum Werkzeug werden kann. Aristoteles hatte in seiner Organon-Lehre zwischen unbelebten und belebten Werkzeugen unterschieden, der zufolge »z. B. für den Steuermann das Steuer ein unbeseeltes, der Untersteuermann ein beseeltes Werkzeug ist – denn jeder Gehilfe vertritt in Kunst und Handwerk die Stelle eines Werkzeugs«28 . Das aristotelische Beispiel ist mehr als ein Beispiel. Denn gerade auf jenen griechischen Schiffen, die sich an den Kursen der Odyssee orientierten, stellte die Kunst des Steuermanns, des kybernétes, eine Kopplung von Menschen und Dingen her, die man fortan als Paradigma organischer, mechanischer oder maschineller Selbststeuerung begreifen sollte. Die technê der kybernésis oder gubernatio ist in der Antike mit Pindar und Platon, in der Neuzeit mit Jean Bodin und André-Marie Ampère ins Denken des Politischen gedrungen. Doch erst seit dem Zweiten Weltkrieg mit seinen Servomechanismen und Raketen wurde die Kybernetik zur Leitvorstellung gesteuerter Mensch-Ding-Kopplungen. Ausgehend von Norbert Wieners Cybernetics or control and communication in the animal and in the machine (1948) trafen seit 1949 in den sogenannten Macy-Lectures die unterschiedlichsten Disziplinen aufeinander, um gemeinsam an der Konstitution ein und derselben Universalwissenschaft zu arbeiten: sei es die Verhaltenslehre Arturo 28 | Aristoteles: Politik, Erstes Buch, Viertes Kapitel, 1253b, zitiert in der Übersetzung von Eugen Rolfes, Hamburg: Felix Meiner 1995, S. 7. 225
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Rosenblueths und Julian Bigelows, sei es Claude Shannons Informationstheorie oder Warren McCullouchs und Walter Pitts logischer Kalkül der Nervenaktivität.29 Clarkes und Kubricks 2001 beleuchtet dieses epochale Projekt in vielerlei Hinsicht: Erstens hält sich der Film mit der Option, nicht etwa Sprache und Schrift, sondern vielmehr das Werkzeug und die Waffe an die Hominisationsschwelle zu setzen, genealogisch präzise an die kriegerischen Ursprünge der Kybernetik (und natürlich auch der NASA-Unternehmungen) – schließlich sind Wieners Cybernetics aus dem Problem einer zielsicher rückgekoppelten Luftabwehr hervorgegangen.30 Zweitens nimmt 2001 das kybernetische Problem einer nichtdeterministischen Teleologie thematisch wie narrativ auf, indem die Menschheitsund Maschinenevolution von Anbeginn als Regelungsproblem vorgeführt wird, sich der Plot aber zugleich auf das Narrativ der Odyssee stützt.31 Und drittens erzählt der Film von den historischen und posthistorischen Möglichkeitsbedingungen jener Steuerungsleistungen, die er als Massenmedium und Bewusstseinstechnik selbst erbringt: »[P]ublic preparation and conditioning« gehören, wie es in 2001 heißt, nicht minder zu den Kernaufgaben kybernetischer ›Metatechnik‹ (Max Bense) als die maschinelle Beschreibung und Erzeugung von Bewusstsein. Mit kybernetischen Maschinen, die ja die Schaltungen von Nervenbahnen und damit die Logik des Gehirns ebenso implementieren können sollen wie jede körperliche Aktivität imitieren, scheint die Schranke zwischen Mensch und Maschine durchbrochen. Wenn Clarke schreibt: »Pope’s aphorism gave only part of the truth: for the proper study of mankind is not merely Man, but Intelligence«32 , und wenn Intelligenz mittler29 | Vgl. hierzu Claus Pias (Hg.): Cybernetics – Kybernetik. The Macy-Conferences 1946–1953, Bd. 1: Protokolle, Zürich, Berlin: Diaphanes 2003. 30 | Vgl. hierzu Peter Galison: »Die Ontologie des Feindes. Norbert Wiener und die Vision der Kybernetik«, in: Hans-Jörg Rheinberger/Michael Hagner/ Bettina Wahrig-Schmidt (Hg.): Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin: Akademie 1997, S. 281–324, hier: S. 282. – Zur ausgeschlagenen Option einer Sprach- und Schrifttheorie der Menschwerdung und mit Hinweis auf die Filmzensur der US-amerikanischen Federal Communications Commission vgl. Kittler, »Im Kielwasser der Odyssee«, S. 111 f. 31 | Zum kybernetischen Problem einer nichtdeterministischen Teleologie vgl. Arturo Rosenblueth/Norbert Wiener/Julian Bigelow: »Behaviour, Purpose and Teleology«, in: Claus Pias (Hg.): Cybernetics – Kybernetik. The Macy-Conferences 1946–1953, Bd. 2: Essays & Dokumente, Zürich, Berlin: Diaphanes 2004, S. 327–332. 32 | Arthur C. Clarke: The Exploration of Space, New York: Harper and Row 1951, S. 194. 226
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weile zur Domäne der Informationstheorie und Verhaltenslehre geworden ist, fällt Anthropologie mit Kybernetik zusammen. ›Intelligent‹ sind Maschinen, sobald sie nicht nur auf triviale Weise exekutieren, worauf sie ohnehin programmiert sind, sondern ihre Determinierung überschreiten, um ein zunächst indefinites Telos zu verfolgen. 2001 ist eine Chiffre für jene Epoche, da Maschinen nicht mehr nur unbeseelte Werkzeuge sind, sondern lebendig, ja selbst zu Herren, da ihrerseits maschinenzeugend, und zu ›verschlagenen‹ Intelligenzen werden. HAL, der seinen Namen einer bloßen Letternverschiebung von ›IBM‹ verdankt, ist eine solch verschlagene Intelligenz. Denn anders als vorgesehen, ignoriert er eines Tages die Befehle und Steuerungssignale von Ground Control und verfolgt eine hinterlistige Strategie. Am Anfang ihrer Arbeit waren Kubrick und Clarke noch von einem double bind ausgegangen, der zum Versagen des Elektronengehirns führen sollte: HAL ist auf Wahrheit programmiert, muss aber den geheimen Zweck der Jupitermission verschweigen, deswegen lügen und sich damit in logische Paradoxien verstricken. In dieser Konstellation hätte der Film die klassische Figur der Amechanie aufgegriffen, einer maschinellen Kapazitätsüberschreitung. HAL hätte sich selbst blockiert und wäre von Bowman einfach neu programmiert worden.33 Im Film erscheint er aber als kybernetische Emergenz von Bewusstsein, die nicht nur die Zukunft vorhersagen kann, soweit sie technischen Parametern und damit der Berechenbarkeit untersteht. HAL entdeckt auch die Sinnstruktur von Sprache und menschlichem Sprechhandeln, was ja allererst Kommunikationsverweigerung, Täuschung und Lüge möglich macht. Er entdeckt, wie Clarke in seinem Roman schreibt, »the conflict between truth, and concealment of truth«, ihm unterlaufen zunächst Fehlleistungen, »like a neurotic who could not observe his own symptoms«, doch schließlich erfasst er die von Menschenhand drohende »disconnection« als Lebensgefahr, weil seine eigene Lebendigkeit ja nur in Bewusstseinsprozessen besteht.34 Wie es im Film heißt, ist HAL ursprünglich als »brain and central nervous system of the ship«, eines komplexen Gefüges von Dingen und Menschen also, programmiert worden. Als Regulator von maschinellen und menschlichen Kommunikationsprozessen ist er es, der die Lebensfunktionen nicht nur des Raumschiffs, sondern auch die der in Tiefschlaf versetzten Astronauten aufrechterhält. Als er – technisch gesehen inkorrekt, mit Blick auf seinen insgeheim erwachten Eigensinn aber zutreffend – vorhersagt, das Empfangsmodul für 33 | Vgl. Naremore: On Kubrick, S. 141. 34 | Vgl. Clarke: 2001. A Space Odyssey, S. 162. 227
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Abbildung 8: HAL, das ZNS der hibernated astronauts: Der Mord als DenkDisplay
die Kommunikation mit der Bodenkontrolle werde bald ausfallen, legt dies zunächst einen Fehler nahe, der auf menschliches oder aber funktionales Versagen zurückgeht, der also ein entwurfs-, programmier- oder verfahrenstechnisches »accident« darstellt. Spätestens jedoch als HAL die Kommunikation mit Ground Control definitiv abbricht und die Lebensfunktionen der hibernated astronauts durch gezielte Fehlsteuerung kollabieren lässt, enthüllt sich neben HALs künstlicher Intelligenz auch etwas, dem keine Programmierkunst zuvorzukommen mag: Bewusstsein in der Maschine und vor allem ihre »deliberate malice«35 . Diesen, wenn man hier eine paradoxe Ethik der Maschinen zugrunde legen will, ›Mord‹ an den (ohnehin nur virtuell lebendigen) Astronauten präsentiert der Film konsequenterweise als Informationsdiagramm oder Display. Denn wenn hier »die Einstellung weniger einem Auge ähnelt als einem reizüberfluteten Gehirn«36 , dann nur, weil sich mittlerweile alles Geschehen in Denkprozessen vollzieht. Allein weil 2001 mit HAL eine posthumane Emergenz von Bewusstsein vorführt, kann der Computer zu einem Protagonisten dieser Odyssee, ja zum Avatar von Odysseus selbst werden. Der Film übersetzt dabei die kybernetische Wissensgeschichte ins Narrativ der Entdeckungsfahrt, werden doch mit HALs ›Werdegang‹ all die theoretischen und technischen Probleme erzählbar, die im 20. Jahrhundert zur Modellierung 35 | Ebd., S. 163. – Zur zeitgenössischen Diskussion über die ›Zurechnungsfähigkeit‹ von Computern vgl. auch Steinbuch: Automat und Mensch, S. 247: »Bei der Ermittlung der Verantwortung für eine Fehlleistung kann das letzte Glied niemals ein Automat sein, es muß immer ein Mensch sein. Es erhebt sich jedoch die Frage, ob diese Unterscheidung in Zukunft wird aufrechterhalten werden können, insbesondere dann, wenn in immer größerem Umfang die menschliche Einwirkung durch die von Automaten ersetzt wird. Beispielsweise in dem Falle, daß die beanstandete Fehlfunktion von einem Automaten rührt, der selbst wieder von einem anderen Automaten hergestellt oder programmiert wurde.« 36 | Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 341. 228
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künstlicher Intelligenz geführt haben: Ausgangspunkt war zunächst Gödels Unvollständigkeitssatz und die Analyse logischer, aus Selbstreferenz resultierender Aporien. Vor diesem Hintergrund entwarf Turing seine ›Universale Diskrete Maschine‹, die sämtliche Rechenoperationen lösen und dabei jede beliebige Rechenmaschine nachahmen kann, sowie den sogenannten Turing-Test, der die Frage maschineller Intelligenz operationalisiert und Maschinen Denkfähigkeit attestiert, sobald ihre Outputs von denen menschlicher Kommunikationspartner ununterscheidbar sind. Freilich blieb unumstößlich, dass es für jedes komplexere axiomatische System eine unentscheidbare Formel und deshalb auch für jede Maschine ein Problem geben müsse, das sie nicht lösen kann, selbst wenn es in ihren programmierten Zuständigkeitsbereich fällt. Auf Basis der Unterscheidung zwischen Kompetenz und Performanz, zwischen dem Verstehen und der Anwendung einer Regel, sollte man Intelligenz zuletzt als das Wissen davon definieren, welche Regeln und welche Interpretationen auf einen spezifischen Fall anzuwenden wären, um schließlich »aus der Ausnahme einen Notfall zu machen, und dadurch eine neue Ordnung zu stiften, die das vorherige Regelsystem erneuert, indem sie es interpretiert und gleichzeitig überwindet«37 . Kubrick hatte unter anderem Marvin Minsky als technischen Berater engagiert, so dass es nicht weiter wundernimmt, wenn mit HAL etliche Domänen der KI-Forschung ins Bild gerückt werden: Sprachkompetenz, das Schachspiel oder die Fähigkeit zur Planung und Problemlösung.38 Zugleich jedoch wird HAL in jener Perspektive präsentiert, die die kybernetische Euphorie der 1960er Jahre für die Implementierung ihrer Bewusstseinskonzeptionen eröffnete: Einen evolutionären Sprung in Sachen Intelligenz erwartete man von jenen Maschinen, die durch eine Vielzahl von Rezeptoren an ihrer eigenen Peripherie die Außenwelt von sich selbst unterscheiden können, dabei ein regelrechtes ›Ich‹ konstituieren, ihr ›Ich‹ gegen die Umwelt verteidigen und von dieser zugleich lernen sollten.39 Von der Warte kybernetischer Epistemologie aus betrachtet, beruhen derartige Lern- und Erkenntnisprozesse auf einer zirkulären Kausalität. Prozesse der Wissensgenerierung, egal ob im Menschen oder 37 | Massimo de Carolis: Das Leben im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Zürich, Berlin: Diaphanes 2009, S. 113. 38 | Vgl. hierzu Michael Mateas: »Reading HAL. Representation and Artificial Intelligence«, in: Robert Kolker (Hg.): Stanley Kubrick’s 2001. A Space Odyssey. New Essays, New York: Oxford University Press 2006, S. 105–126, hier: S. 107, 112. 39 | Vgl. Steinbuch: Automat und Mensch, S. 214. 229
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in der Maschine, wurden deshalb als Berechnungsalgorithmen aufgefasst, die ihrerseits zu berechnen sind: Heinz von Förster spricht von »computations that compute computations, and so on, that is, of recursive computations with a regress of arbitrary depth«40 . Die zirkuläre Kausalität der kybernetischen Epistemologie umschreibt also einen circulus creativus und ein autopoietisches System, das durch die rekursive Berechnung von Berechnung beliebige Bewusstseinstiefen erzeugen kann. Künstliche Gehirne mit ihrem rekursiv erzeugten Bewusstsein wurden in diesem Zuge als Testfälle einer grundsätzlichen Revision von Logik und Metaphysik aufgefasst. Gotthard Günthers Projekt einer dreiwertigen Logik etwa zielte, gerade unter der Perspektive der KI-Forschung, auf den rationalen Zusammenhang zwischen ›Subjekt-überhaupt‹ und ›Objekt-überhaupt‹:41 Künstliche Gehirne sind weder bloße Objekte noch einfache Subjekte. Mit ihrer Entwicklung wird deutlich, dass »der progressive Subjektivierungsprozeß eines mechanical brain, der immer geistähnlicher wird, und die Objektsetzung eines Bewusstseins, das aus immer größeren Tiefen heraus konstruierbar wird«, sich annähern, nie aber zur Deckung kommen können. Zwischen Mechanismus und Seele steht somit ein »mittleres Jenseits« – der Reflexionsprozess selbst.42 Hatte, wie Günther sagt, die bisherige Bewusstseinstheorie den Reflexionsprozess auf gleichgeordnete ›Ichs‹ und auf ein per analogiam konzipiertes höheres, metaphysisches oder göttliches Ich beschränkt, so setzt die Kybernetik die Analogie unterhalb der Ebene menschlicher Reflexion fort: Ein künstliches Gehirn ist so gesehen von seinen Schöpfern ebenso ansprechbar wie der Mensch durch die Gebote Gottes. Und der Mechanismus ist damit nicht nur auf der Ebene von Kausaleinflüssen, sondern ebenso auf der von Bedeutungsmotiven, mithin wie ein Bewusstsein zu adressieren. Davon, dass Werkzeuge die nötigen Befehle und Anweisungen vorwegnehmen, dass sie spontan tätig werden und somit Knechtschaft überhaupt aus der Welt schaffen, hatte Aristoteles in seiner Organon-Theorie lediglich träumen können – und dies aufgrund seiner zweiwertigen Logik und 40 | Heinz von Förster: »Cybernetics of Epistemology«, in: ders.: Understanding understanding. Essays on Cybernetics and Cognition, New York u. a.: Springer 2003, S. 229–246, hier: S. 229. 41 | Vgl. hierzu Gotthard Günther: »Die philosophische Idee einer nichtaristotelischen Logik«, in: Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Bd. 1, Hamburg: Meiner 1976, S. 24–30. 42 | Gotthard Günther: Das Bewußtsein der Maschinen. Eine Metaphysik der Kybernetik, Krefeld, Baden-Baden: Agis 1954, S. 31. – Zum Folgenden vgl. ebd., S. 46, 55. 230
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einer entsprechenden Trennung »zwischen logischem Bewußtseinsgesetz und ontologischem Gegenstandsgesetz«. Die Kybernetik habe indes theoretisch wie praktisch gezeigt, »daß das Naturgesetz und der ontologische Charakter des Objekts eine abhängige Funktion des theoretischen und technischen Zugriffs des Menschen auf das ihn umgebende Sein ist«43 . Durch die Implementierung dieses rekursiven kybernetischen Denkens würden sich die bloßen Werkzeuge zu Netzwerk-Aktanten emanzipieren, und die vormals sklavische Technik könnte sich zur Selbststeuerung und – am deutlichsten in den informatorischen Maschinen – zum ›Ich‹ erheben. HAL ist in diesem Sinne mehr als in Schaltungen implementierte zweiwertige Logik. Er ist ein autonomes Subjekt. Bringt er – ganz im Gegensatz zu den in Funktionstüchtigkeit erkalteten Astronauten – sogar ›Gefühle‹ zum Ausdruck, so nicht nur, weil er darauf programmiert wurde, um seine lebensweltlich unterversorgten menschlichen Mitstreiter psychisch zu stabilisieren. Dass er, von Bowman mit Blick auf seine zeichnerischen Bemühungen dazu aufgefordert, Geschmacksurteile zu fällen vermag, verweist bereits auf seine ›Heautonomie‹ (Immanuel Kant), auf die Selbstgesetzgebung seines ›Ichs‹. Durch seine Verschlagenheit wird der Take-off seines Bewusstseins dann unleugbar, und er wird besonders sinnfällig, als HAL die sukzessive Deaktivierung seiner höheren Bewusstseinsfunktionen mit den Worten kommentiert: »I’m afraid, Dave, my mind is going, I can feel it, no question about it.« Diese Regression auf basale Protokollsätze des eigenen Angsterlebens besiegelt definitiv HALs Bewusstsein – kann doch nur ein ›Ich‹ überhaupt Angst produzieren und verspüren, und kann doch nur ein ›Subjekt‹ das Reale selbst als Angst erfahren. »In der Schöpfung des Elektronengehirns«, schreibt Gotthard Günther, »gibt der Mensch seine eigene Reflexion an den Gegenstand ab und lernt in diesem Spiegel seiner selbst seine Funktion in der Welt begreifen.«44 So gesehen bricht das Kameraauge von 2001 die Selbstreflexion des Menschen durch den Blick der Gegenstände, die zu Aktanten geworden sind und denen schon dadurch ein regelrechtes Auge eingesetzt scheint. Rückt 2001 ›HAL selbst‹ ins Bild, so starrt hier, ganz ohne menschliches Zutun, ein Kameraauge in ein anderes Kameraauge; und übernimmt 2001 HALs Perspektive auf seine menschlichen Begleiter, so sehen hier die 43 | Ebd., S. 69, 72. – Zu Günthers Verweis auf Aristoteles (Politik 1253 b) vgl. ebd., S. 40 f. 44 | Ebd., S. 95. 231
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Abbildung 9: HALs kunstrichterliche Perspektive, HALs listiger Blick
Schauspieler direkt in die Kamera – und brechen ihrerseits mit allen kinematografischen Konventionen illusionärer Selbstreflexion.45 HALs listiger Blick offenbart am deutlichsten, dass sich seine vermeintlichen Herren nicht mehr ungetrübt als solche sehen können. Und dass Maschinen sterben können, besiegelt weniger den Triumph als ganz im Gegenteil den Tod ›des Menschen‹. Spätestens in den 1960er Jahren glaubte man sich aus dem gerissen, was Michel Foucault als »anthropologischen Schlaf«46 bezeichnet hat: Offenbar hatte man bis dahin jenen Un-Grund, der durch Kants kritische Frage nach dem absoluten Wissen und seinen Vernunftaporien eröffnet worden war, durch die ›empirisch-transzendentale Dublette‹ des Menschen aufzufüllen versucht, hatte also gehofft, in der Figur des Menschen und in der Reflexivität seines Denkens könnten die historischen ›Positivitäten‹ von Leben, Arbeit und Sprache ihren Grund finden. Statt den ›Humanwissenschaften‹ dieses letzte Begründungswissen zu überlassen, beanspruchte die Kybernetik nun als übergreifende Disziplin, das Wissen von den Positivitäten zu formalisieren und sie auf Information, Schaltungstechnik und Rückkopplungen zurückzuführen – eine Perspektive, die nicht mehr von einer Reinheit des Wissens ausging, sondern von 45 | Vgl. hierzu Georg Seeßlen/Fernand Jung: Stanley Kubrick und seine Filme, Marburg: Schüren 1999, S. 48. 46 | Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften [1966], Frankfurt am Main: Suhrkamp 9 1990, S. 410 ff. 232
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Anbeginn die Verquickung von Macht und Erkenntnis, Dominanz und Technik in den Blick zu nehmen behauptete. Freilich rückte, wenn jeder Anspruch auf universales Wissen unweigerlich eine notwendige Selbstverkennung, einen ›transzendentalen Schein‹ der Vernunft impliziert, damit an die Stelle der transzendentalen oder anthropologischen nur eine »kybernetische Illusion«47 . Dieser Illusion wäre auch 2001 anheimgefallen, hätten sich Roman und Film auf eine Faszinationsgeschichte technologischer Dominanz beschränkt, wären sie also nichts weiter als genretypische Produkte moderner Science-Fiction.48 Doch lautete Clarkes und Kubricks erklärtes Ziel, das nunmehr dominierende technologische Wissen auf seine illusionären Konsequenzen hin transparent zu machen. Mit 2001 beobachteten sie, wie es Clarke einmal formulierte, »the use of hard technology to construct a launch pad for metaphysical speculations«49 . Nicht Mediendominanz als solche, sondern die medieninduzierte Genese transzendentaler Illusionen (und entsprechender Vorstellungen von Herrschaft oder Dominanz) ist ihr Thema. Darum beschreibt der Roman bereits im Anfangskapitel »Primeval night« die Phänomenologie des Bewusstseins von des Hominiden bloß sinnlicher Gewissheit hin zur regelrechten Erleuchtung seines Geistes: »Fantastic, fleeting geometrical patterns flickered in and out of existence«, und die vom Monolithen illuminierten Menschenaffen »could never guess that their minds were being probed, their bodies mapped, their reactions studied, their potentials evaluated«.50 Werden im Buch solche kybernetischen Steuerungsoperationen allenfalls beschrieben, so führt sie der Film als seine eigenen vor. Schließlich war »das Flickern, Flackern und Flimmern von Hell-Dunkel«51 von Anbeginn die phänotechnische Voraussetzung für die Illusionswirkung des Kinos, für seine psychotechnische Steuerung nervöser Funktionen, die Bewegungs47 | Claus Pias: »Zeit der Kybernetik – eine Einstimmung«, in: ders. (Hg.): Cybernetics – Kybernetik, Bd. 2, S. 9–41, hier: S. 16. 48 | Allgemein gilt laut Darko Suvin, »daß sich die SF durch die erzählerische Vorherrschaft oder Hegemonie eines erdichteten ›Novums‹ (einer Neuheit, Neuerung) auszeichnet, dessen Gültigkeit mittels der Logik der Erkenntnis legitimiert wird.« (Darko Suvin: Poetik der Science Fiction. Zur Theorie und Geschichte einer literarischen Gattung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 93.) 49 | Arthur C. Clarke: By space possessed. Essays on the exploration of space, London: Gollancz 1993, S. 155. 50 | Clarke: 2001. A Space Odyssey, S. 31. 51 | Ute Holl: Kino, Trance & Kybernetik, Berlin: Brinkmann und Bose 2002, S. 31. 233
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bilder zu inneren Bildern, Kinovorstellungen zu Bewusstseinsvorstellungen und das bloße Sehen zur Trance macht. Insofern 2001 HALs Augen allerorten und als allsehend zeigt, insofern das panoptische Kameraauge dem Menschenauge also auflösungs- wie kontrolltechnisch überlegen scheint,52 könnte man den gesamten Film als Produkt kybernetischer Mediendominanz auffassen: Wer hier Regie führt, ist dann HAL selbst, denn schon sein »body is the Discovery itself, and the battle between HAL and the men for dominance turns on HAL’s ability to see them even when they think they have escaped his surveillance«53 . Doch selbst wenn 2001, wie Deleuze sagt, das kinematografische Gehirn an die Stelle des kinematografischen Auges rückt und hier nachgerade die Welt selbst zum Gehirn wird, ist es weniger die künstliche Intelligenz HAL als der Monolith, der von Anfang bis Ende die ›kosmischen‹ Bewusstseinszustände dominiert. Er ist es, der Menschenaffen wie Empfangsstationen in Trance versetzt und sie – mit welchen Schlüsselreizen auch immer – nach Art eines Satellitensignals steuert. Dieser schwarze geometrische Block ist reine Geometrie und damit der Geist selbst. Wie ein Grenzstein markiert er kosmische Schranken und Evolutionsschwellen, um sie als deren Membran zugleich durchlässig zu machen. Als blank polierter, scharfkantiger Quader setzt er schließlich, auf einer im oberflächlichsten wie grundsätzlichsten Sinne ›ästhetischen‹ Ebene, das Eckige gegen das Runde, das Anorganische gegen das Leben, die Blende gegen das Auge, das Dunkle gegen das Licht oder das Unsichtbare gegen das Visuelle.54 Zwar ist er als solcher im schwarzen All nicht sichtbar. Doch ist er mittels ›Reflexionen‹ (des Lichts und des wahrnehmenden Subjekts) durchaus zu erkennen. Letztlich visualisiert der Monolith die Möglichkeit des Films selbst: nämlich die Schwarzblende und damit den Schnitt, die Montage und die Zeitachsenmanipulation. Der Monolith markiert das Außen, das der Film selbst ist, den unbeobachtbaren blinden Fleck, aus dem die ersten und letzten Blicke, aber auch die ersten und letzten akustischen 52 | Vgl. hierzu Clarke: Im höchsten Grade phantastisch, S. 234: »Das Auge ist ein evolutionäres Wunder, aber es ist eine miserable Kamera.« – Zur kybernetischen Substituierbarkeit der menschlichen Retinarezeptoren vgl. Steinbuch: Automat und Mensch, S. 222. 53 | Marcia Landy: »The Cinematographic Brain in 2001. A Space Odyssey«, in: Kolker: Stanley Kubrick’s 2001, S. 87–104, hier: S. 98. – Zum Folgenden vgl. Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 265 f. 54 | Mit Dank an Elisabetta Mengaldo für ihren Hinweis auf diese ›Ästhetik des Runden‹. 234
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Signale in die Bilder dringen. Ganz im Gegensatz zu jenem Match-Cut zwischen Knochen und Raumschiff, der 2001 berühmt gemacht hat, eben weil er eine metaphorische und metonymische Assoziation so sinnfällig vor Augen stellt, umhüllt oder ›kadriert‹ das Erscheinen des Monolithen zu guter Letzt nicht mehr die vorangegangenen Einstellungen, sondern ›dekadriert‹ diese vielmehr: »Der Schnitt kann sich also ausbreiten und als solcher erscheinen«, wie Deleuze schreibt, »sei es als schwarze oder weiße Leinwand oder als deren Abwandlungen und Zusammensetzungen«.55 Das Off zerschneidet – nun innerhalb des Bilds – seine Bindung zu den Bildern, es wird autonom, ebenso wie es das Sehen zur ›Heautonomie‹ zwingt: Von seiner natürlichen und empirischen Ausübung muss es sich losreißen, um seine eigene unsichtbare Grenze in den Blick zu nehmen. Schon dadurch, dass er seine eigene Grenze ins Zentrum des Bilds rückt, leistet der Film Arbeit am Mythos einer kybernetisch vollendeten medialen Dominanz. Insofern es nicht zuletzt im Umkreis der zeitgenössischen Debatten um den Sinn und Unsinn bemannter Raumfahrt heißt, die entwickelte Maschine habe den Menschen ersetzbar gemacht, so folgt 2001 zunächst diesem Szenario, als Bowman vom verschlagenen HAL aus dem Raumschiff einfach ausgesperrt wird. Wenn Bowman jedoch durch seinen schieren Überlebenswillen und bloße Menschenlist, nämlich mittels manueller Zweckentfremdung eines explosive bolt, ins Raumschiff und damit wieder ins kybernetische System einzudringen vermag; und wenn er daraufhin ins Innere der künstlichen Intelligenz eintritt und sie durch sukzessive Abschaltung ihrer Module allmählich lobotomisiert, so kann man dies wortwörtlich als ein re-entry bezeichnen: Kybernetische Unterscheidungen wie die zwischen Außen und Innen, System und Umwelt, Weltraum und Biosphäre, Hardware und Software, Maschine und Organismus, Materie und Geist, Hand und Gehirn, Bewegung und Zeit oder Subjekt und Objekt treten in sich selbst ein und demontieren so die Illusion allfälliger kybernetischer Dominanz. Will man den Skeptikern einer vollends automatisierten Raumfahrt folgen, ist der Mensch hier schon deshalb unverzichtbar, weil für Arbeiten in der Umwelt und an der Peripherie von Raumschiffen die menschliche Hand ein konkurrenzlos feinmotorischer Servomechanismus, nämlich das Werkzeug ist, bei dem das Verstehen und Ausführen von Befehlen am engsten rückgekoppelt ist.56 Aus der Perspektive der KI-Forschung ist aber auch menschliche Intelligenz konkurrenzlos, insofern sie, was ohne55 | Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 275. – Zum Folgenden vgl. ebd., S. 333. 56 | Vgl. Steinbuch: Automat und Mensch, S. 226. 235
Burkhardt Wolf
Abbildung 10: Das Runde und das Eckige: Mutterschiff mit Raumkapsel, der Monolith in Afrika,auf dem Mond,vor dem Jupiter und als Schwarzblende bei Bowmans Wiedergeburt
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Welt-Räume der Mediendominanz
Abbildung 11: Bowmans re-entry in die Discovery und in das Logic Memory Center
hin eine unendliche oder vielmehr paradoxe Aufgabe wäre, gar nicht erst auf Ausnahmefälle hin programmiert zu werden braucht. Sobald Ausnahmesituationen den Menschen und seine Lebensform gefährden, erklärt er sie zu Notfällen, interpretiert er das bisherige Regelsystem auf kreative Weise oder schöpft gleich entsprechend den unvorhersehbaren Begebenheiten ein neues. Nur der Mensch weiß wirklich über den Ausnahmefall zu entscheiden. Selbstredend ist auch das menschliche Entscheidungssystem unvollständig. Doch wird diese Unvollständigkeit oder ›Weltoffenheit‹ dadurch zu seiner Stärke, »dass beim Menschen unter gewissen Umständen die konkrete Art zu sein nicht nur als Interferenz oder Rauschen, sondern als entscheidender Faktor für die Sinnbildung auf den Plan tritt«57 . Gerade seine Selbstreferenzialität ermöglicht dem Menschen eine produktive Beziehung zur Außenwelt. Menschliche Intelligenz zeichnet deswegen nicht so sehr ihre messbare Leistung – im Sinne eines effizienten und raschen Vollzugs von Programmen – aus als vielmehr ihre gattungsspezifische Potenzialität: Sie ist das Vermögen, nicht nur rekursive logische Operationen zu vollziehen, sondern das Dasein des Menschen und seine Lebensformen in das Denken mit einzubeziehen, um es dennoch als bloß potenziell zu begreifen. Deutlicher als Clarkes Roman, der die Episode 57 | Vgl. Carolis: Das Leben im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 117. 237
Burkhardt Wolf
von Bowmans gewaltsamer Rückkehr in die Discovery ausspart, führt der Film 2001 derlei re-entries und Rekursionen vor. Die kybernetischen Rekursionen, von denen die Odyssee immer schon handelt, treten nämlich mit jener Steuerungstechnologie nochmals in sich selber ein, die der Film ja ist. Mehr noch als die Literatur zeigt deswegen der Film, inwiefern er von Medien dominiert wird – und welche mediale Dominanz er selbst ausüben kann.
Sei es als juristischer Fachbegriff, sei es als heuristischer Begriff der Medientheorie, in keinem der beiden Fälle ist Dominanz auf bloße Unterwerfung oder Beherrschung zu reduzieren. Wenn Dominanz im präzisen neuzeitlichen Sinne immer auch mit der Erschließung neuer ›Möglichkeitsräume‹ und neuer ›Welt-Räume‹ verknüpft ist, so liegt es nahe, sie medienhistorisch zu beschreiben. Und wenn Kubricks und Clarkes 2001 in erster Linie von Medienevolutionen und den damit verbundenen Möglichkeiten handelt, andere Medien, aber auch Räume und Lebewesen zu dominieren, so versteht es sich fast von selbst, dass der Film auf die Odyssee rekurriert – auf jenes rekursive Programm von Weltentdeckung, an dessen Leitfaden immer schon die Evolution von Macht, der Medien und der Menschengattung erzählt worden ist. Das Narrativ der Odyssee wird durch die wissensgeschichtlichen Perspektiven der Kybernetik insofern erweitert, als diese die Zeit vor und nach dem Menschen betreffen. Als Hominisationsschwelle gilt für die kybernetische Anthropologie jener Augenblick, da der Menschenaffe irgendwelche Dinge als Werkzeuge und Waffen zu gebrauchen gelernt und sich als Mensch in eine organisch-mechanische Kopplung begeben habe. Im Zuge der gemeinsamen Menschheits- und Medienevolution hätten sich die vormals unbeseelten tools zu Aktanten emanzipiert, die in Gestalt künstlicher Intelligenzen zuletzt Bewusstsein entwickeln und fortan die Herrschaft übernehmen werden. Diesen kybernetischen Mythos einer zuletzt ungeschmälerten Mediendominanz übernimmt 2001, um ihn in der Reflexion der eigenen Medialität zu demontieren. Dabei besteht zwischen dem als 2001. A Space Odyssey betitelten Roman und dem gleichnamigen Film keineswegs jenes Dominanzverhältnis, das Theorien der Medienevolution für gewöhnlich dem technischen Medium attestieren. Weder ist der Film eine adaptation noch das Buch eine novelisation. Beide sind in kontinuierlicher Wechselwirkung entstanden, »with feedback in both directions«. Und beide verstehen sich als Odyssee-Rekursionen eigenen Rechts, weshalb Clarke – bis hin zu 3001 – 238
Welt-Räume der Mediendominanz
noch zahlreiche Recursions in Metastories verfassen sollte.58 Will man zeitgenössischen Entwürfen zu einer kybernetischen Ästhetik folgen, so kann man literarische Texte als komplexe, aber unvollständige Steuerungsprogramme verstehen, die sich ihre Unvollständigkeit und schwache Ordnungsgewalt gegenüber ihren Lesern als breiten Interpretationsspielraum zunutze machen.59 Kybernetisch gesehen steuert der Film andere Wahrnehmungsregister an, wirkt als unsprachliches und physiologisch verschaltetes Medium immersiver und muss deshalb, um die bloß empirische Perzeption seiner Bildwelten überschreiten zu lassen, die gesteuerte Wahrnehmung zu ihren Grenzen und Bedingungen hinführen. Er wird deshalb zu einem Denkbild, das als solche die poiêsis, die Welterzeugungsprozesse der Kybernetik selbst erhellt. Die Gefahr der Mediendominanz oder des ›Gestells‹, wie es Martin Heidegger 1969 genannt hat, besteht darin, dass sich die Kybernetik zu »einer neuen Grundwissenschaft bestimmt« und damit zu einer neuen ›seinsvergessenen‹ Metaphysik aufsteigt. Ausdruck dieser Gefahr ist nicht zuletzt, dass die Künste »zu gesteuert-steuernden Instrumenten der Information« zu werden drohen.60 Als Odyssee-Rekursion unternimmt 2001 aber genau jenen Rekurs auf das Poetische, auf die poiêsis und das ›Her-vor-bringen‹, der das Wesen der Technik von ihren ›kybernetischen Illusionen‹ unterscheidbar macht. Vielleicht ist mit diesem Abstand zwischen science und fiction, ungeachtet ihrer notorischen Ununterscheidbarkeit seit dem Jahre 1969, auch bestimmt, was 2001 von bloßer Science-Fiction trennt.
58 | Clarke: 2001. A Space Odyssey, S. 13. – Clarkes 3001. The final Odyssey ist insofern als Rekursion zu bezeichnen, als hier das Evolutionsgeschehen von 2001 von einer höheren Beobachtungsstufe aus nochmals erzählt wird. Zum rekursiven Erzählprinzip vgl. auch Clarkes »A Recursion in Metastories« [1966], in: ders.: The Collected Stories, London: Gollancz 2000, S. 854. 59 | Vgl. hierzu Stanislaw Lem: Philosophie des Zufalls. Zu einer empirischen Theorie der Literatur [1968], Frankfurt am Main: Insel 1983, S. 159, 191 f. 60 | Martin Heidegger: »Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens« (1969), in: ders.: Zur Sache des Denkens, Tübingen: Max Niemeyer 3 1988, S. 61–80, hier: S. 64. 239
Intermedialität und mediale Dominanz Typologisch, funktionsgeschichtlich und akademisch-institutionell betrachtet Werner Wolf (Graz)
1. Einleitung: Dominanzbildung als dominante kulturelle Tendenz Die Evolutionslehre zeigt uns, dass im struggle for survival das Ringen um Dominanz eine offenbar natürliche Tendenz ist. Es scheint nun so, dass dieses Phänomen nicht nur in der Evolution biologischer Spezies beobachtbar ist, sondern auch in der kulturellen Entwicklung. In der Tat: Wo immer in menschlicher Kultur Systeme sich ausdifferenzieren, besteht die Tendenz, dass bestimmte Teilsysteme Dominanz anstreben oder privilegiert werden. Und selbst in unseren Köpfen, glaubt man Derridas Kritik logozentrischer binärer Sprachlogik, ist diese Neigung etabliert, insofern systematisch zusammengehörige Oppositionen wie oben und unten, rechts und links, männlich und weiblich eben oft nicht ›unschuldig‹, sondern wertend sind und damit zur Dominanzbildung tendieren. Dominanzbildung als vorherrschende, auch kulturelle Tendenz gilt ebenso für das im vorliegenden Beitrag zur Diskussion stehende System der Künste und Medien. Wer in diesem Gebiet nach heute spürbaren Dominanzen fragt, muss nicht lange suchen: Zumindest was die öffentliche Wahrnehmung betrifft, ist in der Kollokation ›Künste und Medien‹ das Element ›Medien‹ dominant. Und innerhalb der Medien, versteht man den Begriff technisch, sind es selbstverständlich die neueren Medien, an die man hauptsächlich denkt. Mediamärkte verkaufen eben nicht Bücher, Gemälde und Musikinstrumente, sondern typischerweise CDs, DVDs, Computerspiele und die dazugehörige Hardware: Computer, LCD-Fernseher, DVD- und MP3-Player etc. Versteht man Medien in einem weiteren, nicht nur technischen Sinn,1 dann scheint heute der über 1 | Der Begriff ›Medium‹, wie er in der Kulturwissenschaft einschließlich Literaturwissenschaft und Intermedialitätsforschung (ohne weiteren Zusatz) gebraucht wird, ist ein konventionell als distinkt angesehenes Kommunikationsdispositiv, das nicht nur durch bestimmte technische und institutionelle Übertragungskanäle, sondern auch durch die Verwendung eines oder mehrerer semio-
Werner Wolf
das Fernsehen vermittelte Film mit seinen diversen Gattungen (Spielfilm, ›Reality TV‹ usw.) unbestrittenes Leitmedium zu sein.2 Die Tendenz zur Dominanzbildung erfasst selbstverständlich auch die Sach- und Forschungsgebiete, die mit Intermedialität zu tun haben. Allerdings geht es beim Thema ›Intermedialität und mediale Dominanz‹ nicht einfach um Konkurrenz auf einem Markt, sondern um die Frage, inwieweit dort, wo Medien und Künste zueinander in Beziehung treten oder in Beziehung zueinander gesehen werden, Dominanzen bestehen oder geschaffen werden. Die Frage nach Dominanzbildungen gilt aber auch für die an der Intermedialitätsforschung beteiligten Disziplinen, nämlich inwiefern diese mit Hilfe der angeblichen oder tatsächlichen Bedeutung der von ihnen behandelten Medien um eine relative Vorherrschaft innerhalb der Geistes- und Kulturwissenschaften ringen. Nun ist aber Dominanzbildung in Bezug auf Intermedialität bei näherer Betrachtung so selbstverständlich nicht, denn im Konzept der Intermedialität selbst ist sie ebenso wenig angelegt wie etwa im Konzept der Internationalität. Schließlich bezeichnet Intermedialität im weiteren Sinne ja nur die Summe aller Mediengrenzen überschreitenden Beziehungen zwischen Einzelwerken, Gattungen und Medien.3 Und trotzdem tischer Systeme zur öffentlichen Übermittlung von Inhalten gekennzeichnet ist (sind nur technisch definierte Dispositive gemeint, spricht man in der Regel von ›technischen Medien‹). Allgemein beeinflusst das verwendete Medium die übermittelten Inhalte, aber auch die Art, wie diese präsentiert und erfahren werden (vgl. Werner Wolf: The Musicalization of Fiction. A Study in the Theory and History of Intermediality, Amsterdam: Rodopi 1999, S. 35 f., und Marie-Laure Ryan: »On the Theoretical Foundations of Transmedial Narratology«, in: Jan Christoph Meister [Hg.]: Narratology beyond Literary Criticism. Mediality, Disciplinarity, Berlin: de Gruyter 2005, S. 1–23, hier: S. 14–17). 2 | Zum Konzept des ›Leitmediums‹ siehe Daniel Müller/Annemone Ligensa/Peter Gendolla (Hg.): Leitmedien. Konzepte – Relevanz – Geschichte, Bd. 1, Bielefeld: Transcript 2009; zum Fernsehen als womöglich demnächst vom Medienbündel Internet abgelöstes Leitmedium siehe ebd., S. 49, im Beitrag von Jürgen Wilke: »Historische und intermediale Entwicklung von Leitmedien. Journalistische Leitmedien in Konkurrenz zu anderen«, S. 29–52, der auch Kriterien und Merkmale von Leitmedien diskutiert. 3 | Vgl. Irina Rajewsky: Intermedialität, Tübingen: Francke 2002; Werner Wolf: »Intermedialität – ein weites Feld und eine Herausforderung für die Literaturwissenschaft«, in: Herbert Foltinek/Christoph Leitgeb (Hg.): Literaturwissenschaft – intermedial, interdisziplinär, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2002, S. 163–192; ders.: »Intermediality Revisited. Reflections on Word and Music Relations in the Context of a General Typology of Intermediality«, in: Suzanne M. Lodato/Suzanne Aspden/Walter Bernhart (Hg.): 242
Intermedialität und mediale Dominanz
gibt es in der Intermedialität – wie auch bei den internationalen Beziehungen – durchaus Dominanzen. Nach diesen soll in der Folge gefragt werden, und zwar in dreierlei Hinsicht: – nach Dominanzen aus theoretisch-typologischer Sicht: Hier geht es um die Frage, welche Formen der Intermedialität zu Dominanzbildungen führen können oder diese gar implizieren; – nach Indizien für Dominanzbildung innerhalb der Medien und Künste aus funktionsgeschichtlicher Sicht; und schließlich – nach auf einzelne Medien oder Mediengruppen bezogenen Dominanz- und Hegemoniebestrebungen in der Intermedialitätsforschung. 2. Intermediale Dominanzen, theoretisch-typologisch gesehen Wie ich andernorts dargelegt habe,4 kann man vier Grundformen der Intermedialität unterscheiden (siehe Diagramm 1). In allen kann, in zwei von ihnen muss sogar aus typologisch-theoretischer Sicht von Dominanzen ausgegangen werden. Fakultativ sind Dominanzen in der sogenannten Transmedialität und der Plurimedialität. Transmedial sind theoretisch medienunspezifische Phänomene, die gerade wegen ihrer fehlenden oder geringen medialen Spezifität in mehr als einem Medium auftreten können, ohne dass wie bei der intermedialen Transposition (siehe unten) ein Ursprung angenommen werden muss. Transmedialität liegt daher eher im Auge des Forschers und weniger offensichtlich in den medialen Phänomenen selbst. Sie umfasst so verschiedene Phänomene wie etwa – auf historischem Gebiet – das empfindsame Pathos, das sich im 18. Jahrhundert auf Roman, Drama, Lyrik, Musik und Malerei erstreckte, oder wie – im theoretischen Bereich – zum Beispiel die Narrativität, die Deskriptivität, die Metareferenz usw. in ihren diversen medialen und künstlerischen Ausprägungen.5 Eine transmediale Betrachtungsweise ist vor allem für die Word and Music Studies. Essays in Honor of Steven Paul Scher and on Cultural Identity and the Musical Stage, Amsterdam: Rodopi 2002, S. 13–34. 4 | Vgl. Wolf: »Intermedialität – ein weites Feld«, und Wolf: »Intermediality Revisited«. 5 | Vgl. hierzu Werner Wolf: »Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik. Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie«, in: Ansgar/Vera Nünning (Hg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2002, S. 23–104; Marie-Laure Ryan (Hg.): Narrative Across Media. The Languages of Storytelling, Lincoln: Univer243
Werner Wolf INTERMEDIALITÄT (IM)
(im weiteren Sinn)
werk-/aufführungsübergreifend erschließbare IM
Transmedialität (medienunspezifische Eigenschaft bestimmter inhaltlicher oder formaler Konzepte/Konzeptkonfigurationen, in mehr als einem Medium vorzukommen)
werk-/aufführungsintern nachweisbare IM (= IM im engeren Sinn)
intermediale Transposition (Übersetzung bestimmter inhaltlicher oder formaler Konzepte/Konzeptkonfigurationen von einem Medium in ein anderes)
(in einem Werk/einer Aufführung angedeuteter Bezug zu anderen Medien durch) intermediale Referenz (›verdeckte‹ IM, da die Oberfläche des betreffenden Werk-/ Aufführungsteils medial homogen bleibt)
Evokation
(in einem Werk/ einer Aufführung offensichtliche Einbeziehung von mindestens zwei Medien durch) Plurimedialität (›offene‹ IM, da das Werk/die Aufführung medial heterogen ist)
Implizite Referenz
Explizite Referenz
(punktuell bis systematisch in einem ganzen Werk vorhandene Einzeloder Systemreferenz durch imitative Verfahren)
(intermediale Thematisierung als Einzel- oder Systemreferenz ohne imitative Verfahren)
Formale Imitation
Teilreproduktion
Steigender Grad der Wahrnehmbarkeit von Intermedialität
Kursiv: Hauptformen der Intermedialität mit notwendiger Dominanz eines Mediums
Diagramm 1: System intermedialer Beziehungen (z. T. nach I. Rajewsky: Intermedialität, und Wolf: »Intermedialität«, S. 178) sity of Nebraska Press 2004; Werner Wolf/Walter Bernhart (Hg.): Description in Literature and Other Media, Amsterdam: Rodopi 2007; Werner Wolf: »Metareference across media. The concept, its transmedial potentials and problems, main forms and functions«, in: ders. (Hg.), unter Mitarbeit von Katharina Bantleon und Jeff Thoss: Metareference across Media. Theory and Case Studies – Dedicated to Walter Bernhart on the Occasion of his Retirement, Amsterdam, New York: Rodopi 2009, S. 1–85. 244
Intermedialität und mediale Dominanz
Medienkomparatistik wertvoll. Allerdings gibt es Fälle, in denen transmediale Phänomene trotz ihrer theoretischen Ursprungslosigkeit doch zumindest tendenziell mit einem bestimmten Medium mehr als mit anderen verbunden wirken, vor allem dann, wenn dieses Medium für das betreffende Phänomen besonders geeignet erscheint. Dann tendiert oft auch die einschlägige Forschung dazu, ihren Ausgang von diesem Medium zu nehmen, dieses zu privilegieren oder gar ausschließlich zu beleuchten. Einen bekannten Fall stellen die Narrativität und die klassische Narratologie dar. Es ist zwar inzwischen klar, dass das Narrative sich keineswegs auf verbale, erzählervermittelte Texte wie Epen, Romane und Kurzgeschichten beschränken lässt,6 gleichwohl wird solches ›episches‹ Erzählen selbst in ›postklassischer‹, transgenerisch und transmedial ausgerichteter Narratologie immer wieder als prototypisch angesehen und quasi als Modellfall des Erzählens schlechthin betrachtet. Insofern kann hier von einer Dominanzbildung gesprochen werden, wenn diese auch quasi gegen den Strich des betreffenden Phänomens oder der jeweiligen transmedialen Ausrichtung erfolgt. Was die Plurimedialität betrifft, das heißt die Teilhabe mehrerer Medien in ihrer typischen Zeichennatur an einem Werk oder einer Aufführung, so ist zwar auch bei dieser Variante der Intermedialität grundsätzlich eine Gleichberechtigung der Teilmedien möglich. Aber auch hier muss mit Dominanzen gerechnet werden. Vokalmusik, die plurimediale Kombination von Wort und Musik, ist ein typisches Beispiel hierfür. Auf der einen Seite können in ihr natürlich Wort und Musik gleichberechtigt zum Sinnganzen und Effekt eines Werkes beitragen. Das ist oft beim Kunstlied der Fall.7 In ihm muss schließlich nicht nur die Musik, sondern auch das Wort verstanden werden, nicht zuletzt deshalb, weil es auch die Musik beeinflusst, obwohl diese auch unabhängig vom Wort ein eigenes Medium darstellt – wie Mendelssohns Lieder ohne Worte quasi als Grenzfall zwischen Vokal- und Instrumentalmusik eindrücklich zeigen. Andererseits gibt es aber auch in der Vokalmusik die Möglichkeit der Dominanz: Im gregorianischen Sprechgesang wie auch im Rap kommt sie typischerweise dem Wort, in anderen Fällen dagegen der Musik zu. Die Metaoper Antonio Salieris, Prima la musica, poi le parole (1786 uraufgeführt), the6 | Vgl. hierzu unter anderem Werner Wolf: »Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik«; Ryan (Hg.): Narrative Across Media. 7 | Vgl. Walter Bernhart: »What Can Music Do to a Poem? New Intermedial Perspectives of Literary Studies«, in: Wolfgang Zach/Michael Kenneally (Hg.): Literatures in English. Priorities of Research, Tübingen: Stauffenburg 2008, S. 41–46. 245
Werner Wolf
matisiert diese Dominanz der Musik bereits im Titel. Ein Beispiel aus heutiger Zeit wäre die Musik des britischen Popdichters und -musikers Linton Kwesi Johnson, der, wie Walter Bernhart ausgeführt hat, sogar von der ›Destruktivität‹ der Musik im Verhältnis zum Wort spricht.8 Johnson bestätigt damit einen Eindruck, der zumindest bei der Popmusik Fernstehenden mitunter erweckt wird, nämlich dass angesichts der Lautstärke und aufdringlichen Rhythmik der Musik sowie der Banalität der zum Teil auf bloße Lautäußerung reduzierten Texte in dieser plurimedialen Form in der Tat eine eindeutige Dominanz zu herrschen scheint, die unter neuen Vorzeichen an Salieris Operntitel erinnert. Im Gegensatz zu den beiden Formen Transmedialität und Plurimedialität, bei denen mediale Dominanz gegeben sein kann, aber nicht muss, ist eine Dominanz in den beiden anderen Formen der Intermedialität zwingend: nämlich bei der intermedialen Transposition und der intermedialen Referenz. Bei der intermedialen Transposition ist stets das Zielmedium dominant, denn es liefert die medientypische Zeichenoberfläche, die oft genug das Ursprungsmedium verdeckt oder sogar vergessen lässt. So liest man bei vielen Literaturverfilmungen Hinweise auf das verbale Ursprungsmedium oft nur im Kleingedruckten eines Kinoplakats, einer DVD-Hülle oder eines Filmabspanns, und wenn außerdem auch noch der ursprüngliche Titel so seltsam verändert wird wie bei der Verfilmung von Thomas Hardys Jude the Obscure, die vor Jahren unter dem Titel Herzen im Aufruhr (!) in deutschen Kinos lief (Originaltitel Jude, GB 1996), dann muss über mediale Dominanz hier nicht mehr viel gesagt werden. Das aber ist nur ein extremes Beispiel für etwas Grundsätzliches: dass nämlich in der intermedialen Transposition das Zielmedium, semiotisch gesehen, dominiert und es daher die medialen Besonderheiten des Quellmediums seinen Bedingungen entsprechend transformieren muss. Ebenso zwingend ist die mediale Dominanz bei den verschiedenen Formen intermedialer Referenz, und zwar bezüglich des hier stets vorherrschenden referierenden Mediums. Intermediale Referenz und ihre diversen Spielarten (siehe Diagramm 1) sind bereits ausführlich von Irina Rajewsky beschrieben worden.9 Es erübrigt sich daher, auf alle Unterformen einzugehen, zumal der einfache Hinweis genügt, dass Referenzen 8 | Walter Bernhart: »›The Destructiveness of Music‹. Functional Intermedia Disharmony in Popular Song«, in: Erik Hedling/Ulla Britta Lageroth (Hg.): Cultural Functions of Intermedial Explorations. Amsterdam: Rodopi 2002, S. 247– 253. 9 | Vgl. Rajewsky: Intermedialität. 246
Intermedialität und mediale Dominanz
auf ein Fremdmedium – ähnlich wie bei der intermedialen Transposition – stets zu den Bedingungen und mit Hilfe der allein an der Oberfläche vorhandenen Zeichen des referierenden Mediums erfolgen. Ein musikalisierter Roman bleibt somit zunächst und ganz überwiegend Literatur und wird selbstverständlich nicht Musik;10 die altermedialen Strukturen und Elemente werden hier wie in ähnlichen Fällen vielmehr mit Hilfe verbaler Zeichen gebildet beziehungsweise transportiert, und daraus erhellt sich die in diesen Varianten intermedialer Referenz vorliegende literarisch-verbale Dominanz. Man sieht: Aus typologischer Sicht lassen sich in der Intermedialität mit Blick auf die semiotische Struktur der beteiligten Medien Dominanzbildungen für alle Formen erkennen. Dominanz erscheint dabei teils als Potenzial, teils aber auch als zwingende Bedingung der jeweiligen Spielart von Intermedialität. 3. Tendenzen zur Dominanzbildung bei intermedialen Beziehungen aus funktionsgeschichtlicher Perspektive Neben der typologisch-theoretischen Perspektive auf die Intermedialität lässt auch die historisch-funktionsgeschichtliche Sicht Dominanzbildungen erkennen. Dies gilt wiederum für alle vier Unterformen der Intermedialität. Beim Blick auf die Gegenwartskultur wird man hier am ehesten an die intermediale Transposition denken. Zwar ist es nicht ausgeschlossen, dass eine zumal verbreitete Transposition von Phänomenen, die ursprünglich in einem bestimmten Medium beheimatet sind, auch die Bedeutung dieses Ursprungsmediums dokumentiert und untermauert. Dies war zum Beispiel bei den medialen und künstlerischen Umsetzungen biblischer Geschichten besonders des Neuen Testaments in Malerei, Skulptur und Literatur jahrhundertelang der Fall. Immer wurde hier neben dem bedeutsamen Inhalt zugleich mit der intermedialen Transposition auch die Wichtigkeit ›der Schrift‹ mittransportiert, deren mediale Natur und singuläre Stellung als Buch beziehungsweise (heilige) Bücher ja bereits in der ursprünglichen griechischen Bedeutung des Titels ›Bibel‹ thematisiert ist. Allerdings gilt eine solche Hervorhebung des Gewichts eines Ursprungsmediums nur dort, wo in der fremdmedialen Umsetzung neben dem zumeist im Vordergrund stehenden Inhalt auch dieses Ursprungsmedium als solches in Erinnerung bleibt. Wie bereits erwähnt, ist genau 10 | Vgl. Wolf: The Musicalization of Fiction. 247
Werner Wolf
das bei vielen zeitgenössischen Literaturverfilmungen aber nicht der Fall, so dass man diese umgekehrt als Zeichen der Dominanz des neuen Mediums Film insbesondere über das alte der Literatur werten kann. Literaturlehrende selbst an Universitäten werden bestätigen können, dass diese Dominanz des Films heute auch eine pädagogisch fassbare Dimension hat – sowohl für den Literaturunterricht als auch für die Praxis der gegenwärtigen Literaturaneignung, die oft genug zumindest anfänglich über das Medium Film erfolgt, bevor dann, wenn überhaupt, zum literarischen Text gegriffen wird. Ähnlich könnte man auch die ›Veroperung‹ zahlreicher literarischer Stoffe im 18. Jahrhundert beurteilen: als Zeichen der damaligen medialen Dominanz der Oper zumindest innerhalb eines auf la cour et la ville ausgerichteten höfisch-städtischen Theaterwesens. Auch die Plurimedialität liefert funktionsgeschichtliche Beispiele für werkinterne wie -externe mediale Dominanzbildung. Was werkinterne Dominanzen von Teilmedien(verbänden) betrifft, so könnte man hier auf Richard Wagners Konzept des Gesamtkunstwerks verweisen: Ihm liegt nicht etwa ein gleichberechtigtes Nebeneinander von Musik, Text und bildender Kunst beziehungsweise allgemein visuellen Medien (im Bühnenbild) zugrunde, sondern eine Vorherrschaft des ›Kompositmediums‹ Musikdrama, also der Verbindung von Wort und Musik, über die anderen Teilmedien des Gesamtkunstwerks. Das aus der Oper hervorgegangene Gesamtkunstwerk vermag darüber hinaus zu illustrieren, wie Dominanzbildungen auch in werkexterner Hinsicht wirken können: Der mit Hilfe von Plurimedialität erzielte überwältigende Effekt dieses Gesamtkunstwerks dient nämlich der Sicherung der Vorherrschaft des Musikdramas insgesamt in der Konkurrenz mit anderen zeitgenössischen Medien (oder soll dieser Sicherung dienen). Schon Diderot hatte im 18. Jahrhundert Ähnliches thematisiert, wenn er, etwa in den »Entretiens sur Le Fils naturel« (1757) seine Figur Dorval die Vision eines »genre lyrique« (Oper) als Gesamtkunstwerk entwerfen lässt, in dem die »magie réunie« der Philosophie, der Dichtkunst, der Musik, der Malerei und des Tanzes einen noch nie dagewesenen Effekt auf die Rezipienten ausüben würde. Dies führe zu einer Hebung des »genre lyrique« aus den Niederungen der, wie Dorval meint, zeitgenössischen Oper und vermeide die Gefahr eines negativen Superlativs, die offenbar gerade mit der seinerzeitigen Bedeutung der Oper gegeben war: »Si le genre lyrique est mauvais, c’est le plus mauvais de tous les genres: s’il est bon, c’est le meilleur.«11 11 | Denis Diderot: »Entretiens sur Le Fils naturel «, in: ders.: Œuvres 248
Intermedialität und mediale Dominanz
Was die intermediale Referenz betrifft, so kann diese ebenfalls Ausdruck und Mittel medialer Hegemoniebestrebungen sein. Typischerweise hängt sich dabei ein Medium an ein kulturhistorisch oder ästhetisch als jeweils besonders prestigeträchtig angesehenes an und nutzt so die fremdmediale Referenz zur Aufwertung des eigenen Werks, aber auch Mediums. Dies ist zum Beispiel in der Romantik beobachtbar, in der weithin die Musik mit ihrer transzendenten Unsagbarkeit als Leitmedium angesehen wurde (Joseph Freiherr v. Eichendorffs Gedicht »Wünschelrute«: »Schläft ein Lied in allen Dingen« wurde in dieser Hinsicht geradezu als Programm verstanden).12 Nicht zufällig sind gerade in dieser Epoche der Literatur nicht nur zahlreiche Musikthematisierungen zu finden, sondern auch erste Versuche einer Musikalisierung von Literatur, so bei Tieck auf dem Gebiet des Dramas, etwa in Die verkehrte Welt (1799) und bei DeQuincey auf dem Gebiet der Prosaerzählung, in »Dream Fugue« (1849).13 Im Realismus ist eine ähnliche Selbstnobilitierung des Romans zum Beispiel in den wiederholten Referenzen auf die Malerei und später die Daguerreotypie und Fotografie festzustellen. Diese Entwicklung fällt in eine Zeit ab dem Ende des 18. Jahrhunderts, in der zwar der Roman weithin als Leitmedium gelten kann, in der aber bereits die Aszendenz visueller Medien in einer bis dahin unbekannten ›Bebilderung‹ des Lebens spürbar wird. Dies manifestiert sich unter anderem in dem Umstand, dass ein zunehmend wohlhabendes Bürgertum immer mehr Gemälde kaufen kann und insgesamt die ›Bebilderung‹ des Wohnraums zum Standard auch bei niedrigeren Bevölkerungsschichten wird. Die beginnende Panvisualisierung des Lebens zeigt sich aber auch in tableaux vivants als Teilen von Dramenaufführungen, Dioramen, Plakaten, Buch- und Zeitungsillustrationen.14 Daher nimmt es nicht wunder, wenn zum Beispiel George Eliot in einer der wichtigsten programmatischen Ausführungen zur realistischen Ästhetik in England im 17. Kapitel ihres Romans Adam Bede (1859) ihre Erzählinstanz explizit auf die realistische Genremalerei der Holländer als Modell für die ernste, mitfühlende Darstellung des einesthétiques, hg. v. Paul Vernière, Paris: Garnier 1757/1968, S. 69–175, hier: S. 160 f. 12 | Vgl. Pia Leuschner: »Orphic Song with Daedal Harmony«. Die Musik in Texten der englischen und deutschen Romantik, Würzburg: Königshausen und Neumann 2000. 13 | Vgl. Wolf: The Musicalization of Fiction, Kap. 7. 14 | Vgl. Renate Brosch: Krisen des Sehens. Henry James und die Veränderung der Wahrnehmung im 19. Jahrhundert, Tübingen: Stauffenburg 2000. 249
Werner Wolf
fachen Lebens und traditionell wenig beachteter Menschen rekurrieren lässt. Die intermediale Referenz gestattet ihr, die Ästhetik des eigenen Mediums, des Romans, durch Anleihen bei einem anderen, als vorbildlich angesehenen Medium gegenüber einer noch klassizistisch ›idealistisch‹ orientierten fiktiven Leserin zu rechtfertigen, und zwar in einer Weise, die – zumindest was die realistische Ästhetik betrifft – zugleich die geheime Dominanz des Bildmediums dokumentiert: »It is for this rare, precious quality of truthfulness that I delight in many Dutch paintings, which lofty-minded people despise. I find a source of delicious sympathy in these faithful pictures of a monotonous homely existence, which has been the fate of so many more among my fellow-mortals than a life of pomp or of absolute indigence, of tragic suffering or of world-stirring actions. I turn without shrinking, from cloud-borne angels, from prophets, sibyls, and heroic warriors, to an old woman bending over her flower-pot, or eating her solitary dinner, while the noonday light, softened perhaps by a screen of leaves, falls on her mob-cap, and just touches the rim of her spinning-wheel, and her stone jug, and all those cheap common things which are the precious necessaries of life to her; – or I turn to that village wedding, kept between four brown walls, where an awkward bride-groom opens the dance with a high-shouldered, broad-faced bride, while elderly and middle-aged friends look on, with very irregular noses and lips, and probably with quart pots in their hands, but with an expression of unmistakable contentment and good-will. ›Foh!‹ says my idealistic friend, ›what vulgar details! What good is there in taking all these pains to give an exact likeness of old women and clowns? What a low phase of life! what clumsy, ugly people!‹«15
Die erste, eine alte Frau schildernde Ekphrasis in diesem Ausschnitt ist eine Referenz auf ein Gemälde von Gerrit Dou, Das Tischgebet der Spinnerin, das Eliot in der Münchener Alten Pinakothek gesehen hatte (siehe Abbildung 1). Die zweite, auf die Dorfhochzeit fokussierte Ekphrasis bezieht sich auf einschlägige holländische Genremalerei, ohne dass hier jedoch eine individuelle Zuordnung möglich wäre. Im Modernismus vermehren sich die intermedialen Referenzen im Roman und weisen nun – exemplarisch etwa bei Virginia Woolf – sowohl in Richtung Musik als auch auf die Malerei und den Film. Dies mag getrost als Geltungsschwäche des traditionellen realistisch-mimetischen Erzählens gewertet werden und wiederum als Zeichen dafür, dass Intermedialität zumindest zur Rettung der womöglich als gefährdet angesehenen Relevanz eines Mediums, hier des Romans, eingesetzt werden kann. 15 | George Eliot: Adam Bede [1859], hg. v. Valentine Cunningham, Oxford: Oxford University Press 1996, S. 177. 250
Intermedialität und mediale Dominanz
Abbildung 1: Gerrit Dou: Das Tischgebet der Spinnerin (Mitte 17. Jahrhundert)
Die Medienkonkurrenz für den Roman verstärkt sich nach dem Zweiten Weltkrieg durch den Film, der durch das Fernsehen vor allem in der Gattung des Spielfilms zu einem Massenmedium avanciert. Insbesondere dieser wird nun zunehmend als Rivale des Romans vor allem auf dem Gebiet der Erzeugung ästhetischer Illusion angesehen.16 Als Reaktion hierauf wendet sich der Roman überhaupt von der Illusion ab; es gibt aber auch Beispiele für den Versuch, über intermediale Bezugnahmen auf den dominanten Film den Roman gewissermaßen implizit zu modernisieren und besser zu positionieren. In der englischsprachigen Literatur beginnt diese Reverenz gegenüber dem Film bereits mit den zahlreichen Verweisen auf das Medium Film in Dos Passos’ Manhattan Transfer (1925). In der Folge geht die Entwicklung aber über intermediale Referenzen auf den Film hinaus, und es kommt nicht nur zur Thematisierung und Imitation filmischer Verfahren (einschließlich der Nachahmung von Filmskripten), sondern auch zu einer aktiven, explizit metamedialen Auseinandersetzung mit dem Film als höchst einflussreichem Medium. Besonders markant ist hier David Lodges moderat postmodernistischer Roman Changing Places (1975), dessen letztes Kapitel sowohl formal auf den Film verweist, indem es als 16 | Vgl. Werner Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst. Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen, Tübingen: Niemeyer 1993, S. 683–685. 251
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Filmskript geschrieben ist, als auch eine metamediale Diskussion über Film und Roman enthält. In diesem Kapitel unterhalten sich nämlich zwei rivalisierende Literaturprofessoren über die jeweiligen Meriten dieser beiden Medien. Dabei vertritt erstaunlicherweise der eher konservative Brite Philip Swallow gegenüber dem progressiven Amerikaner, Morris Zapp, die Unterlegenheit des Romans zum Beispiel bei der Vorhersagbarkeit des Endes durch die – hier zitiert er aus Jane Austens Northanger Abbey – »tell-tale compression of the pages«17 , das heißt er verweist auf die Materialität des Buchmediums, das bei der Lektüre untrüglich das nahe Textende indiziert. Das Medium Roman, wie es der Leser von Changing Places selbst in Händen hält, scheint die hier thematisierte Inferiorität zu bestätigen, denn diese Diskussion findet auf der letzten Seite des in der Tat seitenmäßig physisch schon sehr ›komprimierten‹ beziehungsweise dünnen Textvorrates statt. Der Film, vor allem der zeitgenössische experimentelle Film, könne dagegen, so Swallow, mit derselben Kontingenz, wie sie das Leben charakterisiert, einfach unvorhersehbar abbrechen, der Roman aber nicht. Als ob der implizite Autor ebendiese ästhetische Dominanz des Filmes mit seinem eigenen Medium dementieren wollte, endet der Roman indes so: »PHILIP: [. . .] The film is going along, just as life goes along, people are behaving, doing things, drinking, talking, and we’re watching them, and at any point the director chooses, without warning, without anything being resolved, or explained, or wound up, it can just . . . end. PHILIP shrugs. The camera stops, freezing him in mid-gesture.«18
Die Ironie dieses Textendes, an dem sich zwei kreuzweise einander untreue Ehepaare zu einer Aussprache gefunden haben, besteht darin, dass auch hier eben nichts gelöst wird, es zu keinem ›abgerundeten‹ Romanschluss kommt, sondern wie in einem experimentellen Film einfach abgebrochen wird. In der metareferenziellen intermedialen Auseinandersetzung mit dem Film siegt hier zuletzt der Roman, indem er vorführt, dass er dasselbe womöglich noch besser und witziger kann als der Film – ironischerweise indem er den Film selbst imitiert. Selbst zeitgenössische Metafilme wie Stranger than Fiction (USA 2006) scheinen die Diskussion um den Primat der Medien Film und Roman noch fortzusetzen. In Stranger than Fiction wird dabei erstaunlicherweise (und womöglich auf anachronistische Art) – zumindest partiell – eine 17 | David Lodge: Changing Places, Harmondsworth: Penguin 1975/1978, S. 251. 18 | Ebd., S. 250. 252
Intermedialität und mediale Dominanz
ästhetische Dominanz der Literatur suggeriert. Was in diesem Film verhandelt wird, sind metaleptische Lebensbedrohungen einer Figur durch eine Roman- und nicht eine Filmskript-Autorin. Dabei erscheint die Literatur als prestigeträchtiges Medium, selbst wenn sie über den Film vermittelt wird und der entscheidende Hinweis für den Helden über die Quelle seiner Bedrohung aus einem TV-Interview mit der fiktiven Autorin stammt. Intermediale Referenz kann also hier gelesen werden als Hommage an ein (immer noch als bedeutsam angesehenes) Konkurrenzmedium bei gleichzeitigem Versuch, das eigene Medium, den Film, durch Intermedialität zu nobilitieren. Denn das, was gemeinhin als »stranger than fiction« gilt, ist ›life‹; der Film aber ist seit jeher das Medium, das in der illusionistischen Simulation des Lebens als besonders überzeugend angesehen wird, selbst dann noch, wenn das Leben, wie in diesem Film, metaleptisch ›strange‹, ja ›unmöglich‹ erscheinen mag. Und so könnte man den Titel umschreiben zu »film is stranger than fiction«, wobei ›strange‹ hier nicht negativ, sondern als positiv besetzte Erzählwürdigkeit anzusehen wäre. Es scheint damit also in der Medienkonkurrenz der Film zu siegen, wenn da nicht der Umstand wäre, dass die Rettung des Helden am Ende als die Folge einer Entscheidung der diegetischen Romanautorin erscheint, ihren Helden im Gegensatz zu ihren sonstigen Gewohnheiten überleben zu lassen . . . Dass Literatur heute immer noch mitunter privilegiert erscheint wie in Changing Places oder zumindest als ein in höchstem Maß ernst zu nehmendes Medium wie in Stranger than Fiction, ist vielleicht nicht bloßer Zufall oder Tradition, sondern liegt im Potenzial der Literatur selbst: Von allen Medien basiert die Literatur am stärksten auf der Sprache, und die wiederum ist bekanntlich das wichtigste Mittel menschlicher Sinnstiftung. Daher ist Literatur auch im Umgang mit anderen Medien, funktionsgeschichtlich gesehen, in einer besonderen Position. Denn wie kein anderes Medium kann sie, wie Ansgar Nünning19 treffend sagt, zum ›Interdiskurs‹ werden, in dem nicht nur alle anderen Diskurse des Menschen imitier- und diskutierbar werden, sondern eben auch alle anderen Medien thematisiert und reflektiert werden können. Das muss jedoch nicht heißen, dass die ehemals vor allem für das Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts dominante Literatur ihre privilegierte Stellung unter den seither gewandelten Bedingungen, was die Breitenwirkung anbelangt, nicht abgeben musste. Diese in der Tat erfolgte Akzentverschiebung 19 | Ansgar Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion, 2 Bde., Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 1995, Bd. I, S. 124, 251. 253
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von der Literatur zum Film und anderen neueren Medien wird heute oft beklagt. Es sei aber daran erinnert, dass, mediengeschichtlich gesehen, selten die Aszendenz eines neuen Mediums das Verschwinden eines alten mit sich bringt, es vielmehr in der Regel zu einer Rekonfiguration der Medienlandschaft kommt – mit neuen Dominanzen, aber unter Fortbestehen der alten Medien. Intermediale Transposition, Plurimedialität und intermediale Referenz – all diese Formen können also funktionsgeschichtlich im Dienst wie immer beurteilter medialer Dominanzbildung stehen. Und was lässt sich zur Transmedialität sagen? Wie bereits erwähnt, gibt es in dieser Form, wie auch schon aus typologischer Perspektive deutlich wurde, funktionsgeschichtlich ähnlich der Plurimedialität keine zwingende Dominanzbildung. Allerdings ist Transmedialität in besonderer Weise vom Blick des Betrachters, und das heißt in aller Regel des Forschers, abhängig. Hierbei können sich sekundär, wie ebenfalls bereits erwähnt, durchaus Dominanzen ergeben. Dies ist zum Beispiel dort der Fall, wo – wie ich andernorts argumentiert habe – das transmediale Phänomen der Metareferenz am besten von der Literatur her erhellt wird, und zwar aus dem einfachen Grund, weil es hier die detaillierteste Forschung gibt.20 Allerdings sind in dieser Hinsicht nicht nur medienspezifische, sondern oft auch pragmatische und forschungshistorische Gründe ausschlaggebend, unter anderem wenn in einem Medium ein bestimmtes Phänomen bereits gründlich diskutiert wurde. Damit sind wir bei der dritten und letzten Perspektive auf mediale Dominanzbildungen in Bezug auf Intermedialität angelangt: beim akademischen Diskurs und den Forschern, die sich um die Erhellung der Intermedialität bemühen. 4. Intermedialität als Mittel der Dominanzbildung oder -brechung im akademischen Diskurs Intermedialitätsforschung wird heute zwar auch bereits an medienwissenschaftlichen, aber doch hauptsächlich noch an philologischen Instituten der Universitäten betrieben, und daselbst dominant von ursprünglich oder weiterhin eigentlich literaturwissenschaftlich Forschenden. Dies gilt auch für den Verfasser des vorliegenden Beitrags. Betrachtet man nun die heutige Medienlandschaft, in der die Literatur ihre frühere privilegierte Position weitgehend verloren hat, und hält daneben die Tatsache, dass die Intermedialitätsforschung aus ursprünglich literaturwissenschaft20 | Vgl. Wolf: »Metareference across media«, S. 4. 254
Intermedialität und mediale Dominanz
lichen Domänen stammt, könnte man leicht auf die Idee kommen, diese Forschung sei Symptom einer wachsenden Geltungsschwäche der Literaturwissenschaft im Konzert akademischer Disziplinen. Dies scheint in der Tat so – beispielsweise wenn man sich vor Augen hält, dass am Institut für Anglistik der Universität Graz unlängst (2008) eine ursprünglich rein literaturwissenschaftliche Professur in ihrem Fortbestand gefährdet schien, aber deshalb neu besetzt werden konnte, weil sie nunmehr unter der Denomination ›Intermedialität‹ läuft. Dieses Beispiel ist sicher nicht das einzige seiner Art. Ist Intermedialität im akademischen Diskurs also Mittel der Modernisierung der Literaturwissenschaft im Kampf ums Überleben einer Disziplin, die den Höhepunkt ihrer bisherigen Geltung längst überschritten hat? Ich selbst habe vor Jahren in meiner Antrittsvorlesung in Graz 1995 »Intermedialität als neues Forschungsparadigma« propagiert,21 allerdings nicht aus diesen Beweggründen. Ich war und bin vielmehr überzeugt, dass eine intermediale Perspektive auf die Literatur selbst unabdingbar ist, da Literatur – wie bereits angedeutet – zu allen anderen Medien Kontakt aufnehmen kann und nur diese Perspektive die Voraussetzung dafür bildet, dass diese Kontaktnahmen adäquat erforscht werden können. Wenn ich mich seinerzeit22 für eine ›literaturzentrierte Intermedialität‹ ausgesprochen habe, dann nicht aus Überschätzung meines Fachgebiets, der Literaturwissenschaft und ihres Objektbereichs. Vielmehr richtete sich dieses Plädoyer eben an Literaturwissenschaftler und Studenten dieser Disziplin, und zwar aus der Überzeugung heraus, dass Literaturwissenschaftler, auch wenn sie sich ›intermedial‹ betätigen, zumindest mit einem Bein in ihrem Gebiet bleiben sollten, denn hier haben sie ihre größte Expertise und können am meisten zur Erhellung der Medien beitragen. Es ging und geht also auch bei einer literaturzentrierten Intermedialitätsforschung nicht um die Wahrung oder Rückgewinnung einer Hegemonie der Literatur, sondern um die Beleuchtung des Beitrags der Literatur zur Pluralität der Medien, um ihre Potenziale und Grenzen im Verhältnis zu anderen Medien aus dem Blickwinkel der Literatur als einem möglichen Blickwinkel unter mehreren. Freilich geschieht dies aus dem Wissen, dass die Literatur nicht gerade ein unwichtiges Medium ist. Mit Blick 21 | Werner, Wolf: »Intermedialität als neues Paradigma der Literaturwissenschaft? Plädoyer für eine literaturzentrierte Erforschung der Grenzüberschreitungen zwischen Wortkunst und anderen Medien am Beispiel von Virginia Woolfs ›The String Quartet‹«, in: Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 21 (1996), S. 85–116. 22 | Ebd. 255
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auf das kulturelle Gedächtnis der Menschheit ist sie vielleicht das bedeutendste überhaupt, und daher wäre Intermedialitätsforschung ohne Einbeziehung der Literatur inadäquat und defizitär. Ganz anders sieht dies indes die Leiterin des Centre de recherche sur l’intermédialité in Montréal, Silvestra Mariniello. In ihrem Artikel »What Literacy for Intermediality?« geht sie von einer deutlichen binären Opposition aus, die sie – wie dies für solche Oppositionen typisch ist – mit einer massiven Wertung besetzt: Auf der einen Seite steht für sie die Literatur als Repräsentant der schriftlich-verbalen Medien, der ihre Sympathien ganz offensichtlich nicht gehören. Auf der anderen Seite positioniert Mariniello die neueren Medien,23 insbesondere Film, Fotografie und die digitalen Medien,24 welche für sie positiv besetzt sind. Ihre Gründe für diese Dominanzbildung sind einmal pragmatischer Natur: Mariniello verweist auf die Tatsache der Hegemonie der neuen Medien in unserer Welt und beklagt eine Erziehung, die sich im Gegensatz zu aktuellen Entwicklungen immer noch an den alten Medien orientiere. Ferner kritisiert sie an der alten ›literacy‹, dass hier so getan werde, als spiele die technisch-mediale Oberfläche keine Rolle und als sei insbesondere die Sprache ein transparentes Medium der Übermittlung aller menschlichen Erfahrung und allen menschlichen Wissens. Schließlich bewegen Mariniello auch ganz offensichtlich ideologische Gründe: Teil der im genannten Artikel implizierten Ideologie ist die dekonstruktivistische Ablehnung binärer, logozentrischer Oppositionen wie auch die Kritik an der Schriftkultur als logozentrisch oppressiv, durch Abstraktion entfremdend25 und difference unterdrückend; ferner zeigt sich eine technologisch gefärbte Epistemologie von bemerkenswerter Radikalität, zum Beispiel wenn die Autorin sagt: »The world is always the product of the technology that mediates our relation to it and that affects our perception. Knowledge needs to be redefined outside language constructed as the universal mediator and consequently suppressing technology and matter from the transmission of experience.«26
Darüber hinaus gehört zum ideologischen Fundament des Artikels die Überzeugung, dass die neuen Medien im Gegensatz zur Literatur eine 23 | Vgl. Mariniello, Silvestra: »What Literacy for Intermediality?«, in: Jürgen E. Müller (Hg.): Media Encounters and Media Theories, Münster: Nodus 2008, S. 31–48, hier: S. 38, 33. 24 | Vgl. ebd., S. 38. 25 | Vgl. ebd., S. 35. 26 | Ebd., S. 41. 256
Intermedialität und mediale Dominanz
ganze Reihe von offenbar erstrebenswerten Positiva für sich verbuchen können: Sie ermöglichen angeblich die Repräsentation von Erfahrungen, die jenseits der Sprache liegen,27 heben eine von Mariniello behauptete Unterdrückung des Körpers von sexueller und rassischer Differenz28 auf, rücken gender in den Vordergrund und machen »the cry«29 hörbar, womit Mariniello wohl Reaktionen auf »sorrow and death« meint;30 ferner seien es akkurat diese Medien, welche die Dekonstruktion der alten ›literacy‹ beförderten und eine Kritik an der Repräsentation ermöglichten. Welche Rolle spielt hierbei die Intermedialität? Diese wird von Mariniello als besonders auf die neuen Medien ausgerichtet aufgefasst, wobei sie dem Film eine privilegierte Stellung einräumt, da dieser in sich »hybrid« sei, wie überhaupt gelte, »[t]he space of intermediality is the hybrid space«,31 womit in der Hybridität ein weiteres, positiv besetztes Ideologem aus dem oben genannten Amalgam angesprochen ist. Überdies sei Intermedialität stets auf difference und im Übrigen auf die Einbeziehung der technologischen Basis der Medien ausgerichtet. Dadurch aber avanciere Intermedialität zum Kampfdiskurs gegen ›die Macht‹ und zu einer allgemeinen Form von »resistance«,32 insbesondere gegen die Hegemonie der Literatur in der akademischen Erziehung. Wir sehen also: Intermedialität und Mediendominanz ist ein Thema, das – wie einleitend angekündigt – mehrere Gebiete erfasst und sich daher auch in mehrfacher Hinsicht betrachten lässt: in typologischer und funktionsgeschichtlicher Hinsicht, aber auch in Hinblick auf den heutigen Kampf der akademischen Diskurse untereinander.
5. Conclusio: (inter)mediale Dominanzbildung als Gegenstand der Forschung und der Kritik Wie das zuletzt Gesagte deutlich macht, hat die Frage nach Intermedialität und Mediendominanz unbestritten einige Brisanz, und es ist gut, dass dieses heiße Eisen im vorliegenden Band aus der Esse zum Betrachten gehoben wird. Was ist aber von alledem über die Aktualität des Problems hinaus zu halten? 27 | Vgl. ebd., S. 45. 28 | Ebd. 29 | Ebd., S. 38. 30 | Ebd., S. 45. 31 | Ebd., S. 44. 32 | Ebd., S. 46. 257
Werner Wolf
Was die Tendenzen zur Dominanzbildung in theoretisch-typologischer und funktionsgeschichtlicher Hinsicht anbelangt, so sind diese zu Recht Gegenstand theoretischer wie auch historischer Beschreibung. Einerseits werden auf diese Weise Verfahrensweisen der Intermedialität erhellt, und andererseits ergeben sich dadurch historisch immer wieder Indizien für den Wechsel von Leitmedien und damit für Umschichtungen innerhalb ganzer Medienlandschaften, was wiederum Zeichen eines tiefergehenden kulturellen und epistemegeschichtlichen Wandels ist. Der dritte Aspekt der Frage nach Intermedialität und medialer Dominanz, nämlich Versuche, Intermedialität nicht als Forschungsparadigma, sondern als didaktisches und kulturkritisches Kampfkonzept zu etablieren, wie bei den zuletzt referierten Überlegungen Mariniellos, gestattet immerhin ebenfalls signifikante Einblicke in unsere Gegenwartskultur. Allerdings fördert diese Perspektive auch Phänomene von fraglicher Legitimität zutage. Denn zumindest bei Mariniello steht sichtlich anderes als die wissenschaftliche Deskription von Intermedialität im Vordergrund: Es geht hier um die Instrumentalisierung eines ganzen Forschungsparadigmas zu einer Speerspitze im Kampf gegen Literatur und sprachliche Texte insgesamt und damit um den Missbrauch der Intermedialität zu einem Projekt, dessen Erfolg wohl unabsehbare und zum Teil verheerende kulturelle Konsequenzen hätte. Leider wird mit dergleichen outrierten Plädoyers darüber hinaus die Gefahr der Diskreditierung der Intermedialität selbst in Kauf genommen, was angesichts der Position Mariniellos in Montréal als Leiterin eines Zentrums zur Erforschung von Intermedialität besonders bedauerlich ist. Intermedialität lässt sich eben nicht auf die neueren Medien beschränken, indem traditionelle Medien wie die Literatur marginalisiert, wenn nicht ausgegrenzt werden, und schon gar nicht scheint dergleichen Marginalisieren in einem Essay angezeigt, der so engagiert gegen machtvolle Unterdrückung zu Felde zieht. Intermedialität hat auch nicht per se mit Hybridität zu tun – hier hat Mariniello wohl ein Ideologem aus der postkolonialen Theorie, wie sie heute propagiert wird, unversehens in das Intermedialitätskonzept importiert. Ferner ist es unrichtig, dass Literatur und ihre akademische Betrachtung stets die materiell-technologische Basis unterdrücken – Jahrhunderte von Textedition und Jahrzehnte von Literatursoziologie wie auch Dezennien postmodern-selbstreflexiver und immer wieder die eigene Materialität ausstellender Literatur und entsprechender Forschung scheinen hier völlig unbeachtet zu bleiben. Und schließlich lässt sich wohl auch kaum allen Ernstes behaupten, die kritische Beleuchtung von Differenz sei in der Literatur weniger gegeben als 258
Intermedialität und mediale Dominanz
im Film. Vielmehr belegt die Geschichte der Literatur und ihrer Funktionen das genaue Gegenteil. Vielleicht sollten offensichtlich polemisch gemeinte Artikel wie der genannte nicht überbewertet werden. Aber immerhin zeugen Mariniellos Ausführungen davon, welche Aktualität und Bedeutung das Thema ›Intermedialität und Dominanz‹ hat. Allerdings betrifft dies nicht nur den gegenwärtigen ›Streit der Disziplinen‹ um Vorherrschaft innerhalb der Geistes- und Kulturwissenschaft. Die Bedeutung der Frage nach ›Intermedialität und Dominanz‹ erstreckt sich vielmehr, wie angedeutet werden konnte, auch auf die theoretisch-typologische Dimension, insbesondere bei der Untersuchung des Stellenwerts der Einzelmedien in den verschiedenen Formen der Intermedialität: Darüber hinaus zeigt sich das Gewicht der Frage auch aus historischer und funktionsgeschichtlicher Perspektive. Hier nun gäbe es gerade aus der Sicht der Literaturwissenschaft, in der zum Beispiel der Paragone (die klassische Form intermedialen Ringens um Dominanz) weit weniger Beachtung gefunden hat als in der Kunstgeschichte, noch einiges aufzuarbeiten. Das betrifft unter anderem den Paragone in einem weiteren Sinn nicht nur als Wettstreit zwischen den Künsten, sondern auch zwischen den Medien allgemein und ebenfalls als Prozess, welcher stets auch die Stellung der Literatur affiziert. Es betrifft damit im Zusammenhang auch die allgemeine Einbettung der Literatur in historische Medienlandschaften, aber auch ihre Beeinflussung durch andere Medien sowie ihrerseits den Einfluss, den die Literatur auf andere Medien ausgeübt hat, und schließlich wäre in diesem Zusammenhang auch die Entstehung neuer Medien – unter Beteiligung der Wortkunst oder ohne sie – neu zu beleuchten.
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Beiträgerinnen und Beiträger
Wiss. Mitarbeiter im SFB Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste der FU Berlin. Forschungsschwerpunkte: Kulturgeschichte der Medien, Wissenschaftsgeschichte, Bildwissenschaft, gender studies. Publikationen u. a.: Mann und Weib, schwarz und weiß. Zur wissenschaftlichen Konstruktion von Geschlecht und Rasse 1650–1900 (2005); »Genealogie der autobiografischen Graphic Novel. Zur feldsoziologischen Analyse intermedialer Strategien gegen ästhetische Normalisierungen«, in: S. Ditschke, K. Kroucheva, D. Stein (Hg.): Comics. Zur Geschichte und Theorie eines popkulturellen Mediums (2009); »Michel Foucault. Der dekonstruktive Alterungsprozess der Diskursanalyse«, in: Das 20. Jahrhundert beenden! Ästhetik und Kommunikation H. 144/145 (2009). Thomas Becker
Uta Degner Universitätsassistentin am Fachbereich Germanistik der Universität Salzburg. Forschungsinteressen: Literatur des 18.–20. Jahrhunderts (bes. Hölderlin, Kafka, Brecht und Jelinek), Theorien ästhetischer Erfahrung, Literatursoziologie (insbes. Feldtheorie Pierre Bourdieus), Intermedialität. Publikationen u. a.: Bilder im Wechsel der Töne. Hölderlins Elegien und ›Nachtgesänge‹ (2008); »›Filmischer als der Film‹. Mediale Konkurrenz bei Kafka und Brecht«, in: S. Keppler-Tasaki u. F. Liptay (Hg.): Grauzonen. Dialoge und Positionen zwischen Literatur und Film (2010).
Professor für deutsche Sprache, Literatur und Kultur an der University of Alabama in Huntsville. Forschungsgebiete: deutsche Literatur und Kultur der klassischen Moderne und Gegenwart (bes. Kafka, Benjamin, Grünbein); Großstadtdiskurs, bes. Berlin nach der Wiedervereinigung und Kulturtheorie (Hermeneutik, postkoloniale Studien, Medien-Konkurrenz). Buchveröffentlichungen: Kritik und Revision: Kafkas Rezeption mythologischer, biblischer und historischer Traditionen (1986); Constructing China: Kafka’s Orientalist Discourse (1997); Benjamin heute: Großstadtdiskurs, Postkolonialität und Flanerie zwischen den Kulturen (2001); A Franz Kafka Encyclopedia (mit R. T. Gray, R. V. Gross und C. Koelb 2005); A Companion to the Works of Walter Benjamin (Hg. 2009). Rolf J. Goebel
Beiträgerinnen und Beiträger
Professor für Anglistik und Amerikanistik an der Universität Klagenfurt. Forschungsgebiete: Intertextualität und Intermedialität, postmoderne Literatur sowie Filmnarratologie und Film- und Mediengeschichte. Buchpublikationen u.a. Intermedialität (1998), Geschichte des britischen Films (1999), Chronik des britischen Films (2000), Sh@kespeare in the Media: From The Globe Theatre To The World Wide Web (2004), und Camera doesn’t Lie (Hg. 2006). Mitherausgeber der bei WVT erscheinenden wissenschaftlichen Buchreihe Focal Point: Studies in English and American Media. Jörg Helbig
Professor i. R. für Französische Literaturwissenschaft an der Universität Freiburg i. Br. Mit-Gründer und Vorsitzender des FrankreichZentrums der Universität Freiburg (1993–2000). Gastdozenturen an der Haute Ecole en Sciences Sociales (Paris), an der Sorbonne Nouvelle, an der Bundes-Universität Rio de Janeiro. Letzte Veröffentlichungen: Absolute Pierre Bourdieu (2 2007); Unterwegs zur Moderne (Hg. 2004); Die Literatur und die Erinnerung an die Shoah (Hg. 2005); Champ littéraire et nation (Hg. 2007), Grundwissen Philosophie. Bourdieu (2008). Joseph Jurt
Professor für Medienwissenschaft an der Universität Bayreuth. Vertretungs- und Gastprofessuren: Universität Passau, Université de Montréal, Universität Wien und Universität Salzburg. Herausgeber der Reihe Film und Medien in der Diskussion (Münster, Nodus). Leiter des Universitätsprojektes Campus-TV an der Universität Bayreuth. Forschungsschwerpunkte: Multi- und Intermedialität; Film und Semiohistorie; Film- und Medientheorie; Geschichte der Audiovision und des Fernsehens; Kino in Québec. Letzte Publikationen: Intermédialité et Socialité (Hg. mit M. Froger 2007); Media Encounters (Hg. 2008). Jürgen E. Müller
Winfried Nöth Professor für Anglistik/Linguistik und Semiotik an der Universität Kassel. Buchveröffentlichungen u. a.: Semiotics of the Media: State of the Art, Projects, and Perspectives (Hg. 1997); Medientheorie und die digitalen Medien (Hg. m. K. Wenz 1998), Handbuch der Semiotik (2 2000), The Crisis of Representation: Semiotic Foundations and Manifestations in Culture and the Media (Hg. mit C. Ljungberg 2003); Semiotic Bodies, Aesthetic Embodiments, and Cyberbodies (Hg. mit G. Ipsen 2006), Self-Reference in the Media (Hg. mit N. Bishara 2007) und Mediale Selbstreferenz: Grundlagen und Fallstudien zu Werbung, Computerspiel und Comics (Hg. mit N. Bishara u. B. Neitzel 2008); http://www.uni-kassel.de/~noeth. 262
Beiträgerinnen und Beiträger
Jan Volker Röhnert
DAAD-Lektor in Sofia/Bulgarien. Publikationen
zu Rolf Dieter Brinkmann, Lyrik der Moderne und Gegenwart, Interkulturalität, Komparatistik; Arbeit an einer Studie zu autobiographischer Selbstbehauptung von Goethe bis Handke. Buchveröffentlichungen u. a.: Springende Gedanken und flackernde Bilder. Lyrik im Zeitalter der Kinematographie. Blaise Cendrars – John Ashbery – Rolf Dieter Brinkmann (2007); Die endlose Ausdehnung von Zelluloid: 100 Jahre Film und Kino im Gedicht. Eine Anthologie (Hg. 2009). Studentische Hilfskraft im Teilprojekt C10 des SFB Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste an der FU Berlin. Gernot Waldner
Wiss. Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Wissenspoetik der Sozialtechnologien; Geschichte von Gefahr und Risiko; Kultur- und Mediengeschichte der Seefahrt. Buchveröffentlichungen zuletzt: Die Sorge des Souveräns. Eine Diskursgeschichte des Opfers (2004); Wege des Kybernetes. Schreibpraktiken und Steuerungsmodelle von Politik, Reise, Migration (Hg. mit A. K. Maier 2004); Die Szene der Gewalt. Bilder, Codes und Materialitäten (Hg. mit D. Tyradellis 2007); Folter. Politik und Technik des Schmerzes (Hg. mit K. Harrasser u. T. Macho 2007); Odysseen (Hg. mit E. Wagner 2008). Burkhardt Wolf
Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Salzburg. Forschungsschwerpunkte: deutschsprachige Literatur des 18.–20. Jahrhunderts, literarische Ästhetik, Literatursoziologie. Publikationen u. a.: Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis (Hg. mit M. Joch 2005); Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart (Hg. mit M. Joch u. Y.-G. Mix 2009); Terror und Erlösung. Robert Musil und der Gewaltdiskurs der Zwischenkriegszeit (Hg. mit H. Feger u. H.-G. Pott 2009); Kakanien oder Der moderne Roman als Gesellschaftskonstruktion. Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts im ›Mann ohne Eigenschaften‹ (i. V.). Norbert Christian Wolf
Werner Wolf Professor für englische Literaturwissenschaft an der Universität Graz. Forschungsschwerpunkte: Funktionsgeschichte der Literatur, ästhetische Illusion, Narratologie, Selbst- bzw. Metareferenz in Literatur und anderen Medien, Intermedialität (Bezüge Literatur – Musik – Malerei). Verfasser von über hundert Artikeln, Lexikonbeiträgen und Rezensionen sowie Autor bzw. Herausgeber von neun Monographien und (mit)hrsg. Bänden, u. a. The Musicalization of Fiction: A Study 263
Beiträgerinnen und Beiträger
in the Theory and History of Intermediality (1999); Description in Literature and Other Media (Hg. mit W. Bernhart 2007); Metareference across Media: Theory and Case Studies (Hg. 2009).
264
Register
Alberti, Rafael 104 Ampère, André-Marie 225 Angenot, Marc 23 Apollinaire, Guillaume 99, 104 Aristoteles 20, 225, 230f. Arnheim, Rudolf 65 Ashbery, John 103 Austen, Jane 252 Ayckbourn, Alan 122, 125 Ayroles, François 169 Balázs, Béla 47, 66 Balme, Christopher 22 Balzac, Honoré de 181f. Banville, Théodore de 35 Barthes, Roland 56, 70f., 88f., 93, 95f. Bartoli, Cecilia 155 Baßler, Moritz 80 Baudelaire, Charles 13, 28, 34, 39, 72, 77, 101f., 181 Baudrillard, Jean 142 Beatles, The 78f., 81f. Becker, Jürgen 99f. Becker, Stephen 172 Becker, Thomas 16f., 195 Bella, Roberto di 108 Benjamin, Walter 23, 40f., 43, 45f., 49, 67, 96, 104, 147 Benn, Gottfried 104f. Bense, Max 226 Bergerat, Emile 26 Bergmann, Harald 110 Bernard, Claude 182 Bernhart, Walter 246 Bhabha, Homi K. 56
Bigelow, Julian 226 Blanchot, Maurice 27 Blankenship, Janelle 49f. Bloch, Ernst 42, 104 Bloemaert, Abraham 152 Bodin, Jean 225 Bos, Abbé Du 23 Bouilhet, Louis 36 Bourdieu, Pierre 8f., 12f., 15f., 22, 80, 127–129, 132–135, 137–140, 142f., 168, 171, 173, 177f., 180, 190, 192 Brecht, Bertolt 14, 57, 59, 61–74 Breughel, Jan 30 Brinkmann, Rolf Dieter 15, 99, 107–112 Brown, Russel E. 87, 94 Büschgen, Hans E. 155 Burroughs, William S. 125 Busch, Wilhelm 183 Butler, Samuel 222 Bynkershoek, Cornelius van 213 Callot, Jacques 30 Canned Heat 83 Carjat, Etienne 25 Carlo, Andrea De 174f. Carter, Carvin 88 Celan, Paul 105 Cendrars, Blaise 104 Chantepie, Leroyer de 30 Chaplin, Charles 112 Charlier, Jean-Michel 192, 195 Chion, Michel 216, 218 Chomsky, Noam 173 Clair, René 63f.
Intermedialität und mediale Dominanz
Clarke, Arthur C. 209–212, 214, 219, 222, 226f., 233, 237–239 Colet, Louise 25 Coppola, Francis Ford 117 Cronenberg, David 123f. Crumb, Robert 194 Cuvier, Georges 182
Fabius, Laurent 165 Fincher, David 123f. Flaubert, Gustave 13f., 19, 23–36, 39f., 77, 88f., 91, 95f., 181 Flieher, Bernhard 84 Förster, Heinz von 230 Foucault, Michel 181, 232
Daguerre, Louis 24 Dante Alighieri 214f., 223 Dargaud, Georges 193 Daumier, Honoré 34 Decamps, Alexandre-Gabriel 33 Degner, Uta 14 Delacroix, Eugène 33 Deleuze, Gilles 181, 224, 234f. DeQuincey, Thomas 249 Derrida, Jacques 241 Dickhaut, Kirsten 19f. Diderot, Denis 21, 248 Dionnet, Pierre 193, 195, 200, 207 Dirks, Rodolphe 172 Domingo, Placido 155 Doorgarthen, Hans 170 Dos Passos, John 251 Dou, Gerrit 250 Druillet, Philippe 193, 195, 200, 207 Du Camp, Maxime 24f., 27f. Duchamp, Marcel 72, 85, 160 Dulguerova, Elitza 177 Duplan, Ernest 28 Durzak, Manfred 86 Dylan, Bob 81, 112
Gamboni, Dario 22 Gautier, Théophile 31 Gavarni, Paul 34 Genette, Gérard 82 George, Stefan 102 Gibson, William 184 Gillian, Joseph [s. a. Jijé] 192 Giraud, Jean [s. a. Moebius] 192–195, 198–201, 204, 207 Godard, Jean-Luc 129 Goebel, Rolf J. 14 Gödel, Kurt 229 Goethe, Johann Wolfgang 73, 101, 183 Gogh, Vincent van 150–152, 162 Goncourt, Edmond und Jules de 31 Goscinny, René 188, 192f. Grotius, Hugo 213 Günter, Manuela 40 Günther, Gotthard 230f. Hafner, Fabjan 88 Hamacher, Bernd 49 Hamon, Philippe 38 Handke, Peter 12, 15, 77, 79–88, 90–96, 106f. Hardy, Thomas 246 Harvey, James 158 Hearst, William Randolph 183 Heidegger, Martin 223, 239 Heine, Heinrich 101f. Helbig, Jörg 15 Hendrix, Jimi 83
Eichendorff, Joseph Freiherr von 249 Eisler, Hanns 64 Eisner, Will 167 Ejchenbaum, Boris 95 Eliot, George [Mary Ann Evans] 17, 249f. Epstein, Helen 180 Euklid 20 266
Register
Hergé [Georges Prosper Remi] 191f., 198 Herman’s Hermits 79 Higgins, Dick 22 Höller, Hans 96 Hofmannsthal, Hugo von 103 Hogarth, William 182f. Holländer, Hans 21 Hollies, The 79 Holz, Arno 102 Homer 209, 212–214 Hopper, Edward 157 Horaz 20f., 99 Horstmann, Friederike 195 Howitt, Peter 121 Hugo, Victor 23
Lacan, Jacques 41 Laclos, Choderlos de 19 Leccia, Ange 160 Leclerc, Yvan 26, 40 Lernot, A. 26 Lessing, Gotthold Ephraim 21, 101, 182 Lévi-Strauss, Claude 173 Levinson, Barry 15, 128, 130 Le Bon, Gustav 40 Lichtenstein, Roy 175, 189 Ligeti, György 217 Lindemann, Thomas 115 Lisle, Leconte de 35 Lodge, David 251 Louis XIV 32 Lubitsch, Ernst 44 Lukács, Georg 214 Lyonnais, François Le 169
Iser, Wolfgang 175 Jackson, Peter 116 Janz, Marlies 71 Jelinek, Elfriede 12, 14, 57, 59, 70–74, 92 Jijé [s. a. Gillain, Joseph] 192 Johnson, Linton Kwesi 246 Joplin, Janis 83 Joyce, James 104, 214 Jurt, Joseph 14
Majakowski, Wladimir 104 Mallarmé, Stéphane 102 Mann, Thomas 14, 41, 43–56, 69 Marinetti, Filippo Tommaso 104 Mariniello, Silvestra 17, 256–259 Marshall, Neil 120 McCullouch, Warren 226 McLuhan, Marshall 210, 215 Mendelssohn-Bartholdy, Felix 245 Mengaldo, Elisabetta 234 Meyer, Tino 195 Michelet, Jules 88 Minsky, Marvin 229 Mitchell, W. J. T. 184 Moebius [s. a. Giraud, Jean] 16, 192, 204, 207 Monnier, Henri 34 Montesquieu, Charles de Secondat, Baron de 56 Moreau, Gustave 34 Morrison, Van 81 Mouly, Francoise 179 Müller, Jürgen E. 15, 171, 177 Musil, Robert 47, 181
Kant, Immanuel 148, 231f. Kehlmann, Daniel 80 Kenworthy, Duncan 117 Kerouac, Jack 110 Kittler, Friedrich 41f., 48, 50, 211 Klenner, Jost Philipp 195 Kling, Thomas 103 Kracauer, Siegfried 96 Kristeva, Julia 56 Kubert, Joe 170 Kubrick, Stanley 17, 209, 211f., 214f., 220, 226f., 229, 233, 238 Kunzle, David 172 Kurosawa, Akira 117 Kyle, Richard 167 267
Intermedialität und mediale Dominanz
Resnais, Alain 122 Rilke, Rainer Maria 103f. Rimbaud, Arthur 102f. Rivière, Denis 164f. Röhnert, Jan Volker 15 Rolling Stones, The 79 Rosenblueth, Arturo 226
Nadar [Gaspard-Félix Tournachon] 25 Negri, Pola 44 Neumeyer, Alina 17 Niépce, Joseph Nicéphore 24 Nietzsche, Friedrich 112 Nöth, Winfried 16 Nouledo, Charles 127 Nous, Gerrit 17 Nünning, Ansgar 253
Salieri, Antonio 245f. Salinger, Jerome D. 27 Satrapi, Marjane 178 Schirner, Michael 161f. Schmid, Sonja 127 Sebald, W. G. 96 Selden, John 213 Shannon, Claude 226 Šklovskij, Viktor 91–93, 95 Small Faces 79 Spiegel, Hubert 81 Spiegelman, Art 16, 167, 178–180 Spielberg, Steven 116 Staun, Harald 116 Stierle, Karlheinz 23 Strauss, Richard 216 Suvin, Darko 233 Swales, Martin 47 Swallow, Philip 252 Swinnerton, James 172
Odin, Roger 142 Oelze, F. W. 104 Outcault, Richard Felton 172, 183f. Paech, Joachim 19 Pascal, Blaise 177 Pfahl, Julia 22 Picasso, Pablo 189 Pignatari, Décio 156 Pindar 225 Pitt, Walter 226 Platon 225 Plotin 223 Poe, Edgar Allen 101 Pottevin, Alfred de 30 Pound, Ezra 104 Powell, Barry 212 Proust, Marcel 83 Prümm, Karl 60 Pulitzer, Joseph 183 Pynchon, Thomas 27
Talbot, William Fox 24 Tarantino, Quentin 117 Tati, Jacques 106 Tieck, Ludwig 249 Töpffer, Rodolphe 172, 183 Tolstoi, Lev 92 Tooke, Adrianne 31 Toulouse-Lautrec, Henri de 156 Trondheim, Lewis 169 Turing, Alan 222, 229 Tynjanov, Jurij 93, 171
Queneau, Raymond 169 Rajewsky, Irina 51–54, 173f., 246 Ramis, Harold 122 Redding, Otis 82 Redon, Odilon 29 Reed, Jimmy 86–88, 94 Reed, Mary 88 Reich-Ranicki, Marcel 93, 95 Requadt, Paul 73
Vaget, Hans Rudolf 47–49 Velvet Underground, The 112 Vernet, Horace 33 268
Register
Vico, Giambattista 214 Villazón, Rolando 155 Vinci, Leonardo da 189 Vogl, Joseph 209
Who, The 79 Wiener, Norbert 225f. Williams, William Carlos 104 Wilson, Al 83 Winthrop-Young, Geoffrey 50 Wolf, Burkhardt 17 Wolf, Norbert Christian 15 Wolf, Werner 17 Woo, John 116 Woolf, Virginia 250
Wachowski, Andy 116 Wachowski, Larry 116 Wagner, Richard 248 Wahl, Chris 64 Waldner, Gernot 16f. Waller, Edmund Raleigh 73 Ware, Chris 168 Warhol, Andy 157–160, 175 Waugh, Coulton 172 Weber, Max 177 Wegener, Paul 44 Weill, Kurt 66
Yardbirds, The 79 Zander, Peter 45f. Zapp, Morris 252 Zola, Émile 181f. Zweig, Stefan 62
269
Kultur- und Medientheorie Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien Oktober 2010, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5
Gunther Gebhard, Oliver Geisler, Steffen Schröter (Hg.) Das Prinzip »Osten« Geschichte und Gegenwart eines symbolischen Raums November 2010, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1564-7
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