Der Mensch, der Affe: Anthropologie und Darwin-Rezeption in Deutschland 1850–1900 9783412502737, 9783412501464


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Der Mensch, der Affe: Anthropologie und Darwin-Rezeption in Deutschland 1850–1900
 9783412502737, 9783412501464

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Hanna Engelmeier

DER MENSCH, DER AFFE Anthropologie und Darwin-Rezeption in Deutschland 1850–1900

2016 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Ausschnitt aus Gabriel von Max: Anthropologischer Unterricht, ca. 1900.

© 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Jörg Eipper-Kaiser, Graz Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50146-4

Inhalt Einleitung  . . ....................................................................................................................  Kapitel I: Sezieren Die Abstammungsthese in der physischen Anthropologie des 18. Jahrhunderts  ...................................................................................................  1. à propos Goethe  .....................................................................................................  2. Hirn und Gesichtswinkel. „Rasse“-Diskurse in der vergleichenden Anatomie  ..........................................  3. „Die Wohlanständigkeit des Körpers“. Menschen und Affen im aufrechten Gang  .. .......................................................  4. Perfektibilität, Nachahmung, Geschlecht  .. ........................................................  Kapitel II: Reduzieren Materialistische Antworten auf anthropologische Fragen bei Carl Vogt  . . .....  1. Einführung und biografische Notiz  ....................................................................  2. Materialismus: wissenschaftlich, genealogisch, anthropologisch  .. .................  3. Grundlagen: Carl Vogts Vorlesungen über den Menschen (1863)  .. ..................  4. Die „Krone des Beweises“: Ueber die Mikrocephalen oder Affen-Menschen (1866)  .. ................................................................................  Kapitel III: Pathologisieren Menschen, Affenmenschen und „verblödete Kranke“  . . ......................................  1. Prolog: „Melancholischer Schimpanseernst“. Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs (1896)  ............................................  2. Mikrocephalen/Affenmenschen nach Vogt  ......................................................  3. Organischer Befund und Abstammungslehre  .. .................................................  4. Sexualität und Geschlecht  ....................................................................................  5. Ansichten der Mikrocephalie – Ansichten der Devianz  . . ...............................  Kapitel IV: Ästhetisieren Sprache, Stammbäume, Affenliebe  .........................................................................  1. Prolog: Sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund. Leopold von Sacher-Masochs Novelle Diderot in Petersburg (1873)  . . ...........  2. Zur Genealogie des Stammbaums. Anthropologie und Sprachwissenschaft bei August Schleicher  .....................  3. Ganz oben. Ernst Haeckels Anthropologie  .......................................................  4. „Ideal Chimpanze“ und „aufrecht gehendes Lügenthier“. Mensch und Affe bei Gabriel von Max  .............................................................. 

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Inhalt

Kapitel V: Imitieren Karriere einer Phobie bei Friedrich Nietzsche, Max Nordau und Gustav Klimt  ...............................................................................  1. Wer ist Nietzsches Affe?  .......................................................................................  2. Zwischen Pathologie und Emanzipation. „Nachäffen“ als „Entartung“ bei Nordau  ...........................................................  3. Wer ist Klimts Gorilla?  ......................................................................................... 

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Brauchbare Tiere, sentimentale Tiere, nützliche Idioten. Bemerkungen zum Schluss .........................................................................................  321 Tafelteil  ..........................................................................................................................  327 Literaturverzeichnis  . . ..................................................................................................  337 Bildnachweise  . . .............................................................................................................  367 Dank  . . .............................................................................................................................  369 Namensregister  ............................................................................................................  371

Einleitung Dieses Buch handelt davon, wie die Anthropologie im 19. Jahrhundert zu ihrem Gegenstand kommt. Es gilt als ausgemacht, dass es sich dabei um ‚den Menschen‘ handelt. Das ist erklärungsbedürftig. Was ist mit ‚der Mensch’ gemeint? Ich gehe hier davon aus, dass man diese Frage nicht abschließend beantworten kann, dass es aber etwas zu lernen gibt, wenn man sie trotzdem stellt. Denn mög­licherweise gibt es nütz­liche Antworten auf Fragen in der unmittelbaren Nachbarschaft, zum Beispiel auf diejenige, warum es in verschiedenen wissenschaft­lichen und künstlerischen Disziplinen ständig zu Neuformulierungen des Begriffs Mensch kommt, und warum diese Formulierungen dann so und nicht anders gewählt werden. Eine erste Antwort darauf lautet: weil es den Affen gibt. ‚Der Affe‘ fungiert als wichtigstes Komplement des Menschen, als sein liebster Widerpart und engster Verwandter. Wie die Anthropologie des Menschen und die Anthropologie des Affen zusammengehören, möchte ich hier zeigen. Im Fokus steht die heiße Phase der Darwin-­Rezep­tion in Deutschland. Diese Phase erstreckte sich über die ersten 50 Jahre nach Erscheinen von Charles Darwins (1809 – 1882) Über die Entstehung der Arten durch natür­liche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rasse im Kampfe ums Dasein (On the Origin of Species by Means of Natural Selec­tion, or the Preserva­tion of Favoured Races in the Struggle for Life) im Jahr 1859.1 Im Jahrzehnt der Veröffent­lichung d­ ieses Grundtextes der Evolu­tionsbiologie setzt der Untersuchungszeitraum der Arbeit ein. Historisch fällt dieser Zeitraum mit den Gründungsjahren der biolo­gischen Anthropologie zusammen. Die biolo­gische Anthropologie unterscheidet sich von der philosophischen und historischen Anthro­pologie: Abgesehen von ihren Methoden in auffallender Weise dadurch, dass es bis 2005 keine eigene Untersuchung für ihre Geschichte im deutschen Sprachraum gab. Die biologische Anthropologie wurde erst in der Habilita­tion von Uwe Hoßfeld systematisch behandelt.2 Zu den Gründen dafür gehört die Konzentra­tion auf einzelne Autoren (siehe beispielsweise die Soemmerring-­ Forschungen in Mainz oder die Studien zu Ernst Haeckel) und die Verhandlung des Themas in Untersuchungen, in denen die deutschsprachige biolo­gische Anthropologie eher als Medizingeschichte behandelt wird, deren rassis­tische Tendenzen die mordende Medizin im Na­tionalsozialismus auf den Weg brachten.3 1 Hier zitiert nach: Darwin, Charles (2009a): Über die Entstehung der Arten durch natür­liche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rasse im Kampfe ums Dasein. In: Charles Darwin: Gesammelte Werke. Nach Übersetzungen aus dem Eng­lischen von J. Victor Carus. Frankfurt/M.: Zweitausendeins, S. 347 – 693. 2 Hoßfeld, Uwe (2005): Geschichte der biolo­gischen Anthropologie in Deutschland. Von den Anfängen bis in die Nachkriegszeit. Stuttgart: Steiner (Wissenschaftsgeschichte, 2). Hier: S. 24. 3 Vgl. dazu exemplarisch: Weingart, Peter; Kroll, Jürgen; Bayertz, Kurt (1988): Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

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Einleitung

Hier soll die biolo­gische Anthropologie mit Hilfe einer Diskussion verstanden werden, die engste Verbindungen zur philosophischen Anthropologie pflegt: Die Abstammung des Menschen von affenähn­lichen Vorfahren ist ein sehr gut bekanntes, aber oft ungenau verstandenes Thema 4 innerhalb der schwierigen Liebe z­ wischen den Anthropologien. Dabei ist es ein K­lischee geworden zu behaupten, dass es „der Darwinismus“ gewesen sei, der eine These durchgesetzt habe, die hier Abstammungsthese heißt. Tatsäch­lich hängt sie sehr eng mit den Diskussionen zusammen, die das Erscheinen von Über die Entstehung der Arten auslösten, sie ist aber schon viel älter.5 Auch daran zeigt sich, dass von „Darwinismus“ zu sprechen bedeutet, eine Unschärfe in Kauf zu nehmen: Autoren mit unterschied­lichen Voraussetzungen und Zielen sowie ihre Leser werden der Einfachheit halber unter einem Begriff vereint, der sich als Ismus zu einer größeren ideolo­gischen Bedeutung auswachsen soll. Ein eher beschreibender und bescheidenerer Name für das gemeinte Phänomen lautet Darwin-­Rezep­ tion. So soll es hier heißen. Die Darwin-­Rezep­tion setzte in Deutschland unmittelbar nach der Erstveröffent­lichung von On the Origin of Species mit Heinrich Georg Bronns Übersetzung von 1860 ein.6 Die Aufnahmebedingungen waren sehr günstig: Ansätze zu evolu­tionärem Denken (bspw. von Lamarck) waren bekannt, zentrale Gedanken (wie der Ausschluss einer teleolo­gischen Entwicklung in der Natur) unterstützten die Anliegen weltanschau­licher Literatur und waren für popularisierende

4 Das betrifft allerdings nicht nur die zugehörige Wissensgeschichte, sondern zuerst einmal ganz allgemein die Verwandtschaftsverhältnisse der Primaten. „If people today know nothing else about primates, they know that monkeys and apes belong with humans in a group of genetically related animals.“ Cachel, Susan (2006): Primate and Human Evolu­tion. Cambridge: Cambridge University Press. Hier: S. 11. 5 Gute Darstellungen finden sich bei Corbey, Raymond (2005): The metaphysics of apes. Negotiating the animal-­human boundary. Cambridge; New York: Cambridge University Press; Corbey, Raymond; Theunissen, Bert (Hg.) (1995): Ape, Man, Apeman. Changing Views Since 1600. Evaluative Proceedings of the Symposium. Department of Prehistory, Leiden University. Eine neuere Zusammenstellung bietet Borgards, Roland (2009a): Affen. Von ­Aristoteles bis Sömmerring. In: Roland Borgards, Christiane Holm und Günter ­Oesterle (Hg.): Monster: Zur ästhetischen Verfassung eines Grenzbewohners. Würzburg: ­Königshausen & Neumann, S. 239 – 253. Bereits in den 1920er-­Jahren erschien Yerkes, Robert M.; Yerkes, Ada W. (1970): The Great Apes. A Study of Anthropoid Life. New York: Johnson; Yerkes & Yerkes sind allerdings stark einer paläontolo­g isch argumentierenden Anthro­ pologie verpflichtet. 6 Vgl. Kelly, Alfred (1981): The Descent of Darwin. The Populariza­tion of Darwinism in Germany, 1860 – 1914. Chapel Hill: University of North Carolina Press. Hier S. 21. Zur Geschichte der Übersetzungen Darwins ins Deutsche siehe Junker, Thomas; Backenköhler, Dirk (1999): ‚Vermittler d ­ ieses allgemeinen geistigen Handels‘: Charles Darwins deutsche Verleger und Übersetzer bis 1882. In: Armin Geus et al. (Hg.): Repräsenta­tionsformen in den biolo­gischen Wissenschaften. Berlin: Verlag für Wissenschaft und Bildung, S. 249 – 279.

Einleitung

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Naturwissenschaft anschlussfähig.7 Das Interesse konzentrierte sich sofort auf die Frage, wie man es mit der Abstammung des Menschen von ihm verwandten Arten und besonders dem Affen halten solle. Oscar Peschel komprimierte ­dieses Problem in der ersten deutschen Rezension 8 zu Über die Abstammung der Arten in einem Satz: Im Hintergrund dieser Lehre lag für uns die Bescherung, daß wir von den Simiä, auf deutsch von den Affen, oder vielmehr daß die Affen und wir von einem gemeinschaft­lichen Ahnherrn abstammen, und erstere nur unsere minder talentvollen und mißrathenen Brüder sind.9

Wer wie und wann in ­welchen Textsorten und Medien mit dieser „Bescherung“ umging, ist für den deutschen Sprachraum unzusammenhängend erforscht, was bedeutet, dass eine zentrale Debatte innerhalb der deutschen Darwin-­Rezep­tion und der biolo­gischen Anthropologie eigent­lich unbekannt ist. Diese Lücke möchte ich schließen und beschäftige mich deshalb mit Autoren, die für diese Debatte einschlägig sind – unter anderem Carl Vogt, Ernst Haeckel oder Friedrich Nietzsche. Darwin-­Rezipienten kannten die Arbeiten Darwins in einem oftmals nicht genau belegbaren Ausmaß und führten seinen Namen teilweise vor allem deshalb im Mund, um ihre eigenen Ansichten zu legitimieren und plausibilisieren. Das reichte ihren Gegnern wiederum häufig aus, um sie als „Darwinisten“10 zu bezeichnen. Darwin-­Rezep­tion und die Produk­tion des sogenannten Darwinismus fand nicht allein im Medium Text statt, und schon gar nicht allein in solchen Texten, die der institu­ tionalisierten Wissenschaft zuzuordnen sind. Um die Darwin-­Rezep­tion zu verstehen, ist es deshalb nötig, auch ihre Bilder zu betrachten und ihre Poesie zu lesen, egal, wie zweifelhaft diese einem vorkommen mag. Das bedeutet, dass anthropolo­gische Konstruk­tionen in der Wissenschaft und in den Künsten zusammengehören: Als gleichberechtigte Teilhaber am Wissen und Nicht-­Wissen vom Menschen, dessen Projek­tionen in die Figur 7 Vgl. Engels, Eve-­Marie (2000): Charles Darwin in der deutschen Zeitschriftenliteratur des 19. Jahrhunderts. Ein Forschungsbericht. In: Rainer Brömer, Uwe Hoßfeld und Nicolaas A. Rupke (Hg.): Evolu­tionsbiologie von Darwin bis heute. Berlin: Verlag für Wissenschaft und Bildung, S. 19 – 57. Hier: S. 34 f. Zur Geschichte der Wissenschaftspopularisierung siehe Daum, Andreas W. (1998): Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. München: Oldenbourg. 8 Sie erschien in der von Peschel herausgegebenen Zeitschrift Das Ausland, zur Geschichte der Zeitschrift vgl.: Engels 2000, 24. Zu Peschels Tätigkeit als Redakteur der Zeitschrift siehe Ajouri, ­Philip (2007): Erzählen nach Darwin. Die Krise der Teleologie im literarischen Realismus: ­Friedrich Theodor Vischer und Gottfried Keller. Berlin; New York: De Gruyter. Hier: S. 94 ff. 9 Peschel 1860 zit. nach Backenköhler, Dirk (2008): Only ‚Dreams from an Afternoon Nap‘? Darwin’s Theory of Evolu­tion and the Founda­tion of Biological Anthropology in Germany 1860 – 75. In: Eve-­Marie Engels und Thomas F. Glick (Hg.): The Recep­tion of Charles D ­ arwin in Europe. Bd. 1. 2 Bände. London: Continuum (1), S. 98 – 115. Hier: S. 100. 10 Vom Darwinismus ist in Deutschland bereits 1861 bei Rudolph Wagner das erste Mal die Rede (vgl. ebd., 99).

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des Affen gleichermaßen Furcht und Faszina­tion ausdrücken. Die Abstammungsthese wurde nicht deshalb zur emblematischen Debatte der Evolu­tionstheorie, weil ihre Richtigkeit wie ein Blitz in den Geist der deutschen Na­tion einfuhr, sondern weil sie phantas­ matische Potenziale bediente, die zu denen passten, die in Erzählungen nachzulesen, in volksbildenden Vorträgen anzuhören und in Ausstellungen zu besichtigen waren.

Abstammungsthese und Evolutionstheorie Eine weitere erste Assozia­tion, die mit Darwins Namen verbunden werden mag, näm­ lich, dass er sich mit der Evolu­tion befasst habe, ist ungenau: Es ist gut belegt und erforscht, dass es Evolu­tionstheorien vor Darwin gegeben hat.11 Den Begriff Evolu­tion, den Virey 1816 erstmals in seiner modernen Bedeutung verwendete, hatte Darwin sogar zuerst vermieden,12 und sprach allein von „Entwicklung“. Mit „Evolu­tion“ war seinerzeit die Entwicklung präformierter Keime bezeichnet worden 13 – und gerade den Präforma­tionsgedanken wollte Darwin durch das Verständnis der Umwelteinflüsse auf eine Art ersetzen. Erst Herbert Spencer wandte 1862 den Begriff Evolu­tion auf seine Theorie an; im deutschen Sprachraum fand er ab den 1870er-­Jahren Verbreitung.14 In vielen Quellen wird jedoch weiterhin von der „Deszendenztheorie“ gesprochen. Zur gleichen Zeit wie Darwin hatte sein Kollege Alfred Russell Wallace daran gearbeitet zu zeigen, wie Arten durch den Mechanismus der natür­lichen Auslese, den notorisch gewordenen „Kampf ums Dasein“ und sexuelle Selek­tion entstehen und vergehen.15 11 Vgl. bspw. Mayr, Ernst (2002): Die Entwicklung der biolo­gischen Gedankenwelt. Berlin: Springer. Zum Verhältnis von Darwin und seinem direkten Vorläufer Lamarck vgl. den einführenden Artikel „Evolu­tion“ von Georg Toepfer in ders. (2011): Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biolo­gischen Grundbegriffe. 3 Bände. Darmstadt: Wissenschaft­liche Buchgesellschaft. Hier: Bd. 1, S. 481 – 539; sowie Lefèvre, Wolfgang (1984): Die Entstehung der biolo­gischen Evolu­tionstheorie. Frankfurt/M.: Ullstein. 12 Vgl. Toepfer 2011 (1), 482. 13 Vgl. Engels, Eve-­Marie (1995): Biolo­gische Ideen von Evolu­tion im 19. Jahrhundert und ihre Leitfunk­tionen. Eine Einleitung. In: Eve-­Marie Engels (Hg.): Die Rezep­tion von Evolu­ tionstheorien im 19. Jahrhundert. Frankfurt /M.: Suhrkamp, S. 13 – 66. Hier: S. 22. 14 Vgl. Toepfer 2011 (1), 484. 15 Siehe dazu den Brief von Charles Lyell und Joseph Hooker an die Londoner Linnean Society, in dem mitgeteilt wird, dass beide Forscher „unabhängig und in Unkenntnis voneinander, dieselbe sehr sinnreiche Theorie entwickelt [haben], um das Auftauchen und den Fortbestand von Varietäten und spezifischen Formen auf unserem Planeten zu erklären“ (vgl. Darwin, Charles (2009b): Zur Evolu­tion der Arten und zur Entwicklung der Erde. Kommentar von Uwe Hoßfeld und Lennart Olsson. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Hier: S. 115). Das Verhältnis von Wallace und Darwin ist auch insofern interessant, als dass Wallace durch seine finanziellen Mittel, die deut­lich begrenzter waren als die des wohlhabenden Darwin, deut­lich weniger Zugang zu Publikationsmög­lichkeiten seiner Ergebnisse hatte.

Einleitung

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Andere Kollegen 16 verwendeten ebenfalls Ergebnisse eigener Forschungsreisen, Beobachtungen aus ihren Züchtungsversuchen und Fossilien. Darwin kannte all diese Forschung und zitierte sie in seinen Arbeiten intensiv, seine eigenen Neuerungen stellte er hingegen mit zeittypischem, aber erheb­lichem Understatement dar.17 Entscheidend ist, dass seine Evolu­tionstheorie fremde Forschungsberichte zu seinen Interessen und eigene Entdeckungen zusammenführt und einen stark integrativen Charakter hat. Diese Syntheseleistung hat Peter Bowler dazu veranlasst, von einer „Non-­Darwinian Revolu­tion“ zu sprechen.18 Mir scheint es günstiger, den dramatischen Begriff der „Revolu­tion“19 zugunsten eines Hinweises auf die Katalysator-­Funk­tion von Darwins Werk für die deutsche Forschung fallenzulassen. Bekannt ist, dass diese Katalysator-­Funk­tion zuerst in der Anthropologie heftige Auseinandersetzungen freisetzte, obwohl Darwins Äußerungen über die Abstammung des Menschen im Besonderen in Über die Entstehung der Arten äußerst spär­lich gesät sind und sich im Wesent­lichen auf einen Satz auf den letzten Seiten beschränken. Dort erfreut sich Darwin an den offenen Feldern, die sich für die Forschung durch seine „lange Beweisführung“20 auftun: „Licht wird auf den Ursprung des Menschen und seine Geschichte fallen.“21 Allein diese Sugges­tion fand Bronn so provokativ, dass er den Satz gleich aus dem Text herausredigierte; 22 er findet sich erst in der klas­sisch gewordenen Neuübersetzung von Julius Victor Carus, der ab 1867 Bronns teils entstellende Übersetzung bearbeitete. 1871 legte schließlich ­Darwin mit Die Abstammung des Menschen eine Schrift vor, die sich der Geschichte des Menschen widmete. Allerdings fallen auch hier in allen für die Abstammungsthese relevanten Teilen keine Sätze, die wesent­lich darüber hinausgehen, dass sich die heute lebenden

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Diese Geschichte ist vielfach erzählt, eine gute neuere Darstellung findet sich bei: Costa, James T. (2014): Wallace, Darwin and the Origin of Species. Cambridge, Mass.: Harvard University Press. Enorm populär war bspw. auch Robert Chambers’ Vestiges of the Natural History of Crea­tion. Die zehnte Auflage des Werkes aus dem Jahr 1858 stellte bereits eine Verbindungslinie ­zwischen der Entwicklung der Menschen und der Menschenaffen her (vgl. Cachel 2006, 14). An vielen Stellen seines Werks markiert Darwin überdeut­lich die Grenzen, die sein Wissen hatte, s. bspw: „Wir sind in tiefer Unwissenheit über die Gesetze, wonach Abänderungen erfolgen.“ (Darwin 2009a (Über die Entstehung der Arten), 467). Bowler, Peter J. (1992): The Non-­Darwinian Revolu­tion. Reinterpreting a Historical Myth. Baltimore: Johns Hopkins University Press. Bowlers Konzept hat mit guten Gründen Eve-­ Marie Engels zumindest für den deutschen Sprachraum relativiert (Engels 1995, 44). Bowlers Ziel ist wohl auch eher wissenschaftstheoretischer Natur, er reagiert auf Thomas Kuhns Klassiker zur Struktur wissenschaft­licher Revolu­tionen. Kuhn diskutiert darin selbst die Schwierigkeit des Begriffs: ders. 1991, 17 ff. Darwin 2009a (Über die Entstehung der Arten), 673. Ebd., 690. Hoßfeld 2005, 15.

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Einleitung

Exemplare von homo sapiens 23 über lange Zeitspannen hinweg aus Urformen entwickelt haben, von denen auch andere noch heute lebende Wesen abstammen, die Menschen sehr ähn­lich sind. Menschen „und alle übrigen Wirbeltiere [sind] nach demselben allgemeinen Plan gebaut […]. Folgerecht sollten wir offen die Gemeinsamkeit ihrer Abstammung zugeben […].“24 Die Idee einer Schöpfung lehnt er ab. Einen großen Raum (in der vorliegenden Ausgabe: 100 Seiten) nimmt die Darstellung der sexuellen Selek­tion bei den Vögeln ein; hier findet sich ein entscheidender Teil Darwin’scher Ästhtetik („Über die Steigerung der Schönheit der Vögel auf der ganzen Welt“). Die genealo­g ische Verbindung zu Finken, Rohrdommeln, Kolkenten oder Adlern entfachte im 19. Jahrhundert jedoch keine hitzigen Debatten, die Abstammungsthese wurde am Beispiel des Affen diskutiert. Wie konnte es dazu kommen? Diese Frage lässt sich nicht allein durch die Lektüre Darwins und seiner bekanntesten Propagandisten beantworten. Deshalb wird hier eine Archäologie viel weniger glamouröser Texte veranstaltet, die nicht den großen Wurf versuchen, sondern sich kleinteiliger Wissenschaft befleißigen. Diese Texte sind aggressiv, präzise und unklar, unfreiwillig komisch, pein­lich ernsthaft oder weltanschau­lich vehement und befleißigen sich häufig lärmender Polemik. Sie sind eine lohnende und mühsame Lektüre.

Material und zentrale Begriffe Das publizistische Umfeld, in dem diese Texte erscheinen, weist zwei wesent­liche Bedingungen für die Durchsetzungsstärke der Abstammungsthese auf. Die erste Bedingung ist das große Interesse der ersten Rezipienten Darwins, seine Erkenntnisse für die Anthropologie fruchtbar zu machen. In ihrer biolo­gischen Variante schreibt die Anthropologie sich als Fortsetzung des Materialismus 25 und konzentriert sich dementsprechend auf die Untersuchung organischen Materials, das sie als die einzige Erkenntnisquelle anerkennt. Insbesondere in seiner „wissenschaft­lichen“ (oder auch 23 In der biolo­gischen Systematik bezeichnet der Mensch eine eigene Art (wie bspw. auch Schimpansen, Bonobos usw.). Er gehört zur Gattung Homo, die er sich mit den Menschenaffen teilt und gilt als einziger Überlebender der verschiedenen anderen Arten, die man ebenfalls als Homo klassifiziert (bspw. der „Neandertaler“). Die unmittelbaren Vorfahren von homo, die Hominini, gehören als ausgestorbene Art zu den Menschenaffen. 24 Darwin, Charles (2009): Die Abstammung des Menschen. In: Charles Darwin: Gesammelte Werke. Nach Übersetzungen aus dem Eng­lischen von J. Victor Carus. Frankfurt/M.: Zweitausendeins, S. 693 – 1163. Hier: S. 720). Die Homologie des Bauplans ist für ihn der entscheidende Punkt bei der Feststellung einer gemeinsamen Abstammung (vgl. ebd., 811); Ähn­lichkeiten bestehen für ihn auch in bestimmten Gesichtsausdrücken (ebd., 814). 25 Rölli, Marc (2011): Kritik der anthropolo­gischen Vernunft. Berlin: Matthes & Seitz (Blaue Reihe Wissenschaft, 15). Hier: S. 40.

Einleitung

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„vulgären“) Form war der Materialismus Angriffen vonseiten der Geschichtsphilosophie und der Religion ausgesetzt, die Gegenwehr, Selbstbehauptung und Rechtfertigung herausforderten. Die Abstammungsthese als maximale Großthese über ‚den‘ Menschen ist das eindrück­lichste Beispiel dafür. Die Geschichte des (populären) wissenschaft­lichen Materialismus im 19. Jahrhundert bringt die Reak­tionen auf diese „Bescherung“ in Deutschland in eine Form, die sich von den zeitgleich stattfindenden Debatten in anderen Zentren der frühen Darwin-­Rezep­tion wie Frankreich oder England unterscheidet. Diese Rezep­tionslinien werden hier nur aufgegriffen, soweit sie zum Verständnis der deutschen Auseinandersetzungen notwendig sind, was besonders für das Wirken Carl Vogts gilt, der im Fokus von Kapitel II steht. Als erster Advokat Darwins in Deutschland bleibt Vogt in der Forschung weitgehend im Schatten Ernst Haeckels,26 der durch seine Publika­tionsstrategie Vogt den Rang ablaufen konnte. Dabei hatte Vogt seinerzeit mindestens ebenso viele Bewunderer und Feinde wie sein Jenaer Kollege, sie kommen in Kapitel III zu Wort. Eine zweite Voraussetzung für den Erfolg der Abstammungsthese beruht auf dem Umstand, dass sie von Autoren aufgegriffen wurde, die populärwissenschaft­ lich schrieben 27 und damit den Zugriff der Literatur und Kunst auf ihre Anliegen vereinfachten. Von diesen Autoren erfuhren in den ersten Jahren der Darwin-­Rezep­ tion (und vermut­lich auch danach) mehr Leserinnen und Leser von den mög­lichen Implika­tionen der Evolu­tionstheorie als von Darwin selbst. Dieser Befund käme zwar sicher­lich nicht ohne Rückgriff auf die Arbeiten Ernst Haeckels aus,28 muss aber um eine Lektüre seiner Stichwortgeber und eigenen Rezipienten erweitert werden. Kapitel IV handelt deshalb neben Haeckel auch von August Schleicher, von dem Haeckel den Gedanken der phylogenetischen Stammbäume übernahm und von Gabriel von Max, der mit Haeckel korrespondierte und teils auch kooperierte. Von Max’ auf den ersten Blick rührselige Affenbilder sind einzigartige Beispiele für einen hinterlistigen Umgang mit anthropolo­gischen Diskursen, die in Verbindung mit seinen Aufzeichnungen dazu eine Medienanthropologie avant la lettre entwerfen. Werner Michler hat in seiner Studie über Darwinismus und Literatur den „Darwinismus“ als „Set von durchaus divergenten Erzählkernen“ beschrieben, die als 26 Eine Einführung in das ‚darwinistische‘ Wirken Haeckels gibt Gunter Mann (1980): Ernst Haeckel und der Darwinismus. Popularisierung, Propaganda und Ideologisierung. In: Medizinhistorisches Journal 15 (3), S. 269 – 283. Allerdings erwähnt auch er Vogt nicht ein einziges Mal, mahnt jedoch zu Recht bildungsgeschicht­liche Forschungen zur Verbreitung der Darwin-­ Rezep­tion an, die (zumindest teilweise) in der Zwischenzeit geleistet wurden, bspw. durch die Arbeiten von Andreas Daum zur Wissenschaftspopularisierung (s. o.). 27 Uwe Hoßfeld spricht im Zusammenhang mit den Veröffent­lichungen Carl Vogts von einer „publizistischen Wende“ in der biolo­gischen Anthropologie in Deutschland (Hoßfeld 2005, 106). 28 Vgl. Richards, Robert J. (2008): The Tragic Sense of Life. Ernst Haeckel and the Struggle over Evolu­tionary Thought. Chicago: University of Chicago Press. Hier: S. 500.

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‚Mikroerzählungen‘ […] in sehr unterschied­liche ‚Makroerzählungen‘ eingesetzt werden können. Für die Literatur ergibt sich – in idealtypischer Form – ein Repertoire von Narra­tion (‚Evolu­tion‘) und Szene (‚Kampf ums Dasein‘); verwandelt der Mythos – nach Roland ­Barthes – Geschichte in Natur, so wird im Darwinismus aus Natur Geschichte.29

Unabhängig davon, dass Michler dem hier nicht verwendeten Begriff ‚Darwinismus‘ treu bleibt, ist damit auf eine bestimmte Poetik verwiesen, die sich der Figur des Affen bedient hat, um die Inszenierung der Natur als Geschichte zu verdichten. Diese Figur bewohnt viele literarische Texte, die von denen handeln, die sozial absolut ausgeschlossen sind. Als „Paria“ hat dementsprechend Horst-­Jürgen Gerigk in seinem Album literarischer Affen die Figuren bezeichnet, deren Geschichten von Opfern im „Kampf ums Dasein“ handeln. Diesen Punkt holt er jedoch wissensund wissenschaftsgeschicht­lich nicht ein.30 Ich möchte in ­kurzen, exemplarischen Exkursen zu literarischen Texten darauf hinweisen, wie die wissensgeschicht­liche 31 Lücke zu füllen ist, die in einigen Arbeiten zu literarischen Affen zu beobachten ist.32 Die neueste und umfassendste Untersuchung zu den ‚literarischen Affen‘ ist die Habilita­tionsschrift von Julika Griem 33. Ihre umfassenden Studien zur franzö­ sischen, deutschen und eng­lischen Affen-­Literatur berücksichtigen eher am Rande Quellen aus der Wissensgeschichte. Die ­kurzen Versuche zur literarischen Anthropologie im ­­Zeichen des Affen, die ich hier anbiete, entstehen nicht in Abgrenzung oder Konkurrenz zu den existierenden Forschungen, sondern als kulturwissenschaft­ liche Alternative. Diese nimmt auch die Poetologien 34 und narrativen Elemente der Texte aus der institu­tionalisierten Wissenschaft in den Blick, ohne dabei einem „differenzlosen 29 Michler, Werner (1999): Darwinismus und Literatur. Naturwissenschaft­liche und literarische Intelligenz in Österreich, 1859 – 1914. Wien: Böhlau. Hier: S. 19. 30 Gerigk, Horst-­Jürgen (1989): Der Mensch als Affe in der deutschen, franzö­sischen, rus­sischen, eng­lischen und amerikanischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Hürtgenwald: Pressler. 31 Ich spreche von Wissens- und nicht von Wissenschaftsgeschichte, um mich einem Wissensbegriff anzuschließen, der nicht allein institu­tionell disktuiertes, akzeptiertes oder zumindest registriertes meint. Für Wissens- statt Wissenschaftsgeschichte siehe: Sarasin, Philpp (2011): Was ist Wissensgeschichte? In: Interna­tionales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. 36/2011, S. 159 – 172. 32 Exemplarisch: Bridgwater, Patrick (1982): Rotpeters Ahnherren, oder: Der gelehrte Affe in der deutschen Dichtung. In: Deutsche Vierteljahrsschrift (56), S. 447 – 462. Schon der Titel von Bridgwaters Aufsatz annociert, was ein weit verbreitetes Problem der Affen-­Philologie ist: Sie agiert teils als Zulieferbetrieb zur Kafka-­Philologie. 33 Griem, Julika (2010): Monkey Business. Affen als Figuren anthropolo­gischer und ästhetischer Reflexion 1800 – 2000. Berlin: Trafo. 34 Ich schließe an den programmatischen Begriff von Joseph Vogl an, vgl. ders. (1999): Einleitung. In: Joseph Vogl (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800. München: Fink, S. 7 – 18. Hier: S. 13.

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Einheitsphantasma“35 zu unterliegen, das davon ausginge zu glauben, es gäbe keine Unterschiede mehr ­zwischen Texten, die von sich behaupten, einer bestimmten sozia­len Gruppe zuzuordnen zu sein (Wissenschaftler, Künstler). Ich möchte vielmehr untersuchen, wie verschiedene Werke gemeinsam an der anthropolo­gischen Konstruk­tionsarbeit beteiligt sind. Die Kraft der Abstammungsthese muss dementsprechend auch ikonografisch untersucht werden. Für die Evolu­tionstheorie hat in ­diesem Bereich Julia Voss 2007 mit ihrer Studie über Darwins Bilder Maßstäbe gesetzt,36 eine wertvolle Materialsammlung und sorgfältige Einordnung der Ikonografie des menschlichen Tiers ist Martin Kemp zu verdanken.37 Auf diese Ergebnisse kann sich auch meine Arbeit stützen. Das für die Frage der Abstammungsthese entscheidende Bild war von seinem Urheber jedoch nicht einmal als solches verstanden worden: Die einzige Abbildung aus Über die Abstammung der Arten (Abb. 1) zeigt ein Diagramm zum beispielhaften Verlauf der Diversifika­tion und Verteilung von Arten in Raum und Zeit, das umgehend in Bilder umgewandelt wurde, die an die Tradi­tion der als Pflanze dargestellten Stammbäume anschlossen. Diese versuchten die Abstammungsgeschichte des Menschen vom Affen so zu verknappen, dass sie in die Grafik einer deutschen Eiche einzupflegen war. Diese Form der Evidenzerzeugung ist ein entscheidendes Hilfsmittel für die anthropolo­gische Konstruk­tion von Mensch und Affe, zu der weiterhin eine ganze Reihe von Darstellungspraktiken von der anatomischen Zeichnung bis zur Satire gehören: Sie agieren die phantasmatischen Potenziale aus, die mit der Figur des Affen verknüpft sind. Einige Beispiele helfen auch in dieser Studie zu verstehen, wie diese Potenziale beschaffen sind. Zur Bildgeschichte des Affen liegt mit Apes and Ape Lore in the Middle Ages and the Renaissance eine grundlegende Studie von Horst Janson vor,38 die ausführ­lich die Bildgeschichte des Affen vor Beginn des Untersuchungszeitraums dieser Arbeit erläutert. Es sind jedoch auch anläss­lich des 150-jährigen Jubiläums der Erstveröffent­ lichung von Über die Entstehung der Arten neue Publika­tionen erschienen, die in unterschied­lichen Kontexten die Ikonografie der Evolu­tion untersuchen.39 Die dort 35 Pethes, Nicolas (2004): Poetik/Wissen. Konzep­tion eines problematischen Transfers. In: ­Gabriele Brandstetter; Gerhard Neumann (Hg.): Romantische Wissenspoetik. Die Künste und Wissenschaften um 1800. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 341 – 372. Hier: S. 369. 36 Voss, Julia (2007): Darwins Bilder. Ansichten der Evolu­tionstheorie 1837 – 1874. Frankfurt: Fischer. 37 Kemp, Martin (2007): The Human Animal in Western Art and Science. Chicago, London: The University of Chicago Press. 38 Janson, Horst Woldemar (1952): Apes and Ape Lore in the Middle Ages and the Renaissance. London: Warburg Institute, University of London (Studies of the Warburg Institute). 39 Siehe dazu mit historischer Perspektive: Donald, Diana; Munro, Jane (Hg.) (2009): Endless Forms. Charles Darwin, Natural Science and the Visual Arts. New Haven, Conn.: Yale University Press und Kort, Pamela; Hollein, Max (Hg.) (2009): Darwin. Kunst und die Suche nach den Ursprüngen. Schirn Kunsthalle Frankfurt. Köln: Wienand Verlag. In

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Abb. 1: Das Baumdiagramm in Charles Darwins Über die Entstehung der Arten von 1859, Lithographie von William West.

arrangierten Quellen und meine Beobachtungen legen nahe, dass Affen-­Texte und Affen-­Bilder eine funk­tionale Ähn­lichkeit aufweisen: Es handelt sich um Versuche, die Frage „Wer bin ich – im Verhältnis zu dem, was mir am ähn­lichsten ist?“ zu beantworten. Diese Versuche bringen häufig ein Genre hervor, das vorerst spezifisch wissenschaft­lichen Sinnbedarf deckt: Es soll die Genealogie der gesamten Menschheit abgeklärt werden. In der Regel wird dabei der Anschluss an Ideologien (vor allem den Rassismus) gesucht, und das Ergebnis als Weltanschauung bezeichnet. In der Verwendung ­dieses Begriffs nehmen die Autoren der entsprechenden Texte historisch eine Mittelstellung z­ wischen einer idealistischen („Totalität aller Eindrücke“, Schleiermacher) und einer mit „Ideologie“ synonymen Gebrauchsweise ein. 40 Insbesondere Ernst Haeckel versieht seine Weltanschauung mit dem ergänzenden Adjektiv „naturwissenschaft­lich“, wodurch seine oftmals intuitiven Äußerungen mit einem allgemeinen Geltungsanspruch versehen werden.41 D ­ ieser Anspruch kommt systematischer Hinsicht vgl. Menninghaus, Winfried (2011): Wozu Kunst? Ästhetik nach Darwin. Berlin: Suhrkamp. 4 0 Zur Begriffsgeschichte siehe Thomé, Horst (2004): Art.: Weltanschauung. In: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 12. 12 Bände. Basel: Schwabe, S. 453 – 460. Hier: S. 455 ff. und Salamun, Kurt (Hg.) (1989): Aufklärungsperspektiven. Weltanschauungsanalyse und Ideologiekritik. Tübingen: J. C. B. Mohr. 41 Vgl. Thomé 2002.

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in einer Weltanschauungsliteratur zum Ausdruck, die die Orientierungsfunk­tion der Geisteswissenschaften übernehmen soll, indem sie letztgültige Erklärungen zum Sein des Menschen anbietet. Dabei wird „die Evolu­tion nur als Alleingeschichte hin auf den Menschen erzählt“ und funk­tioniert nach dem „anthropischen Prinzip“,42 dessen teils krampfhafte Verteidigung seinen Weg in die Narra­tionen der Abstammungsthese gefunden hat. Eine Denkfigur, die sich dabei wie ein roter Faden durch alle Quellen dieser Arbeit zieht, möchte ich anthropolo­gisches Dreieick nennen:43 Affen tauchen in anthropolo­gischen Dreiecken entweder als tertium compara­tionis von Mensch und Tier, aber auch von Europäer und Afrikaner auf; Kapitel II stellt die Vogt’sche V ­ ariante vor, in der sich Mensch, „Affenmensch“ und Affe in ­diesem Dreieck wiederfinden. Weitere Varia­tionen entstehen, wenn neben den Differenzen ­zwischen Rassen und Arten auch die ­zwischen den Geschlechtern diskutiert werden (siehe dazu beispielsweise Kapitel II.3 und Kapitel III). Die als „Mensch“ bezeichnete Figur wird in diesen Dreiecken vermittelt dargestellt, beispielsweise über die Bezugnahme auf einen Affenmenschen oder auf einen Afrikaner (den als Menschen anzuerkennen teils auch aufgeklärte Wissen­schaftler nur mit gewissen Einschränkungen bereit waren). An diesen Konstella­tionen zeigt sich, dass um Anthropologie als Attribuierungspraxis gekämpft wird. Mit ­welchen Ansprüchen sie sich verbindet, beobachtet ­dieses Buch. Der Verweis auf die anthropolo­gischen Dreiecke als Teil einer Attribuierungspraxis verdeut­licht auch, warum im Verlauf der Arbeit meistens der undifferenzierte Kollektivsingular „Affe“ (und eben auch: „Mensch“) verwendet wird. Auch wenn sich einige der hier behandelten Autoren (beispielsweise Ernst Haeckel und Gabriel von Max) durchaus für Klassifika­tionen innerhalb einzelner Affenarten interessieren, geht 42 Marquard, Odo (1986): Über die Unvermeid­lichkeit der Geisteswissenschaften. In: Ders. (Hg.): Apologie des Zufälligen: Philosophische Studien. Stuttgart: Philipp Reclam, S. 98 – 116. Hier: S. 112. 43 Es besteht eine gewisse Verwandtschaft zur Anthropologiekritik Michel Foucaults in Die Ordnung der Dinge (ders. (2003): Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Hier: S. 410 ff.). Mein Anliegen ist im Vergleich dazu deskriptiv gedacht, insofern es sich darum handelt zu zeigen, wie die ­Attribuierungspraxis beim zentralen Begriff der Anthropologie organisiert ist. In der Überzeugung, dass dies nicht mög­lich ist, ohne sich mit der historischen Epistemologie dieser Begriffe zu beschäftigen, schließe ich an Foucault an. Ein „kulturelles Basisdreieck“ ­zwischen Mensch, Affe und Affenmensch beschreibt auch Roland Borgards (2009c): Hund, Affe, Mensch. Theriotopien bei David Lynch, Paulus Potter und Johann Gottfried Schnabel. In: Maximilian Bergengruen und Roland Borgards (Hg.): Bann der Gewalt. Studien zur Literatur- und Wissensgeschichte. Göttingen: Wallstein, S. 105 – 142. Hier: S. 109. Eine weitere Verarbeitung dieser Dreiecksverhältnisse findet sich in ders. (2012b): Tiger, Affe, Papagei. Exotische Tiere in den frühen Dramen von August von Kotzebue. In: Mari Tarvas et al. (Hg.): Von Kotzebue bis Fleming. Literatur-, Kultur- und Sprachkontakt im Baltikum. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 31 – 55. Hier bes. S. 32 f.

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es ihnen um den Platz des Menschen in einer biolo­gischen Systematik, die keineswegs frei von dem religiös konnotierten Bild der großen Kette der Wesen ist, die ihr vorausgeht. In der philosophischen Anthropologie schlägt sich dieser Prozess auch in der Auseinandersetzung um den Begriff der Menschheit (humanitas) nieder, der gegenüber dem des Menschengeschlechts (genus humanum) verteidigt werden muss.44 Die Ausrichtung des Buches folgt dementsprechend auch der Agenda einer „anderen Anthropologie“, die die Chance bietet, die Frage nach dem Menschen durch Auskunft über den Status der Tiere zu beantworten.45 Sie tut das aber nur dann, wenn mit der Frage nach der Abstammungsthese zugleich die Frage nach der Mensch-­ Tier-­Grenze auf dem Spiel steht. Das ist nicht immer der Fall: Es wird sich zeigen, dass Diskussionen über das Mensch-­Affe-­Verhältnis oft als Stellvertreterdebatten herhalten müssen, die eigent­lich die Hierarchisierung, Bewertung, Inklusion und Exklusion von Individuen innerhalb einer bestimmten Gruppe thematisieren. Wer sich mit Affen beschäftigt, hat nicht selten ein Problem mit gewissen Machtverhältnissen, egal, ob sie zugunsten oder zuungunsten der eigenen Person ausfallen. Für die Geschichte der Primatologie im 20. Jahrhundert hat das in vielen Pioniertexten Donna Haraway gezeigt, deren Arbeiten feministische Einsichten in die Praktiken von Primatologinnen und Primatologen im Feld zu verdanken sind. Ihre Analysen haben gezeigt, wie das Gender der jeweiligen Forscherinnen und Forscher beeinflusst, zu ­welchen Ergebnissen sie insbesondere hinsicht­lich der Sozialstruktur in Gruppen von großen Menschenaffen kommen. Ihre Perspektive ist aufschlussreich, wenn man sie mit den Ergebnissen dieser Arbeit in Bezug setzt: In gewisser Weise schreibt sich in Narrativen aus dem Feld die Geschichte fort, die durch die Arbeit an den Seziertischen und Schreibtischen im 19. Jahrhundert mit einer anderen Empirie vorbereitet wurde: „Monkeys and apes were enlisted in this task [die Erforschung der menschlichen Sexualität, H. E.] in central roles; as natural objects unobscured by culture, they would show most plainly the organic base in rela­tion to which culture emerged.“46 Haraways Ansatz 47 ist für einen historischen Zeitpunkt einschlägig, an dem sich auch Frauen in ­diesem Feld bewegen und zu eigenen, anderen ­Ergebnissen kommen können als ihre männ­lichen Kollegen. Von daher sind die daraus entspringenden Studien ein Hinweis darauf, mit w ­ elchen Arbeiten sich die hier vorgelegte 4 4 Zur Unterscheidung von Menschheit und Menschengeschlecht siehe Stichweh, Rudolf (1994): Fremde, Barbaren und Menschen. Vorüberlegungen zu einer Soziologie der ‚Menschheit‘. In: Peter Fuchs und Andreas Göbel (Hg.): Der Mensch, das Medium der Gesellschaft? Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 72 – 91. Hier: S. 76. 45 Vgl. Böhme, Hartmut (2004): Einleitung. In: Ders. et al. (Hg.): Tiere. Eine andere Anthropologie. Köln: Böhlau, S. 13 – 21. 4 6 Haraway, Donna J. (1991): Simians, Cyborgs, and Women. The Reinven­tion of Nature. New York: Routledge. Hier: S. 14. 47 Weiter ausformuliert in dies. (1989): Primate Visions. Gender, Race, and Nature in the World of Modern Science. New York: Routledge.

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Untersuchung in Zukunft verschwistern könnte.48 Hier gilt jedenfalls der Befund, dass keine einzige von einer Frau verfasste Primärquelle ausfindig zu machen war: Weib­liche Wesen tauchen bloß als Untersuchungsgegenstände auf, die sich in einer AG für Erniedrigte und Beleidigte zusammenfinden könnten. Was ist dann noch zu erreichen? Wenigstens die Auseinandersetzung mit dem „Historismus der Evolu­ tionsbiologie“ soll nicht zu einer frauenfreien Welt werden.

Untersuchungszeitraum Die Untersuchung der Erzählungen, Abhandlungen, Pamphlete, Bilder, Grafiken, Notizen und Aufsätze, die als Quellen für die hier behandelten Bereiche infrage kommen, ist chronolo­gisch angeordnet und auf die Zeit von rund 50 Jahren beschränkt. Diese Struktur ergibt sich aus einem gewissen Reiz-­Reak­tions-­Schema, das mit den materialistischen Debatten um 1850 beginnt. Ab ­diesem Zeitpunkt folgten in dichter Reihe Argumente, Einwürfe, Gegenargumente und -einwürfe aufeinander. Die ­Analyse ­dieses Prozesses erklärt, wie, wo, warum und mit ­welchen Mitteln sich ­welche Personen für oder gegen die Abstammungsthese aussprachen, und welcher Begriff von ‚Mensch‘ dabei im Kontrast zu dem ‚des‘ Affen auf dem Spiel stand. Dieser Austausch endet nicht um 1900. Zu ­diesem Zeitpunkt ändern sich aber die Anthropologien, indem sie sich voneinander abgrenzen. Mehrere Anlässe kommen infrage, um zu ­diesem Zeitpunkt eine Zäsur festzustellen. Freud datiert, was damals nicht unüb­lich war, die Traumdeutung auf 1900 vor; sie tritt an, ein für alle Mal mit der „psycholo­gischen Kränkung“ die „biolo­gische Kränkung“ des menschlichen Narzissmus abzulösen – nach der Einsicht, der Mensch sei „nichts anderes und nichts besseres als die Tiere, er ist selbst aus der Tierreihe hervorgegangen“49 stößt laut Freud nun auch das „Ich […] auf Grenzen seiner Macht in seinem eigenen Haus“.50 Die Wissenschaft, die aus der Entdeckung des Unbewußten langsam hervorgeht und versucht, den Menschen über sich zu belehren und ihm zur Emanzipa­tion von seinen regressiven Konflikten zu verhelfen, distanziert sich von ihren positivistischen Wurzeln.51 Gleichzeitig versucht sie der christ­lichen Anthropologie das Seelenheil des Menschen als Betätigungsfeld zu entwenden. 48 Bspw.: Sommer, Marianne (2000): Foremost in Crea­tion: Anthropomorphism and Anthropocentrism in Na­tional Geographic Articles on Non-­Human Primates. Frankfurt/M. u. a.: Peter Lang. 49 Freud, Sigmund (1986): Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse. In: Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. 12. 6. Aufl. Hg. v. Anna Freud, W. Hoffer, E. Bibring, E. Kris und O. ­Isakower. Unter Mitarbeit von Marie Bonaparte. Frankfurt/M.: S. Fischer, S. 3 – 12. Hier: S. 8. 50 Ebd. 9. 51 Sulloway, Frank J. (1980): Freud, Biologist of the Mind. Bungay: Fontana Paperbacks.

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1899 erscheint Haeckels monistische Hauptschrift Die Welträthsel, die seine Naturwissenschaft endgültig in den Bereich der Religion überführt; 1900 stirbt Nietzsche, dessen Werk bereits seit den 1890er-­Jahren wie eine kultische Verkündung eines neuen Menschentyps gelesen wird; 1902 wird der Beethovenfries Gustav Klimts enthüllt, auf dem er den Menschen in der Kunst zu einem Ornament der Naturgeschichte degradiert; 1898 veröffent­licht Eugen Fischer seine Disserta­tion (über die Urogenitalorgane des weib­lichen Orang-­Utans  52), bevor er 1900 mit einer ersten anthropolo­gischen Auszeichnung, der Broca-­Medaille, geehrt wird und seine ersten anthropolo­gischen Vorlesungen an der Universität Freiburg hält 53: Von dort aus beginnt er, die Eugenik in Deutschland ihren töd­lichen Zielen zuzuführen. Die Geschichte all dieser Ereignisse, die für mein Projekt mehr oder weniger von Bedeutung sind, ist noch aufgehoben in einem Zustand, den Odo Marquard als Nicht-­Institu­tionalisierung von Anthropologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschrieben hat.54 Dieser Zustand ändert sich um 1900, als in Deutschland die ersten Lehrstühle für biolo­gische Anthropologie als eigenständiges Fach geschaffen werden,55 das sich in eine morpholo­ gisch ausgerichtete Anthropologie und eine ethnolo­gisch ausgerichtete „phy­sische Anthropologie“ unterteilt.56 Das heißt, dass zu d­ iesem Zeitpunkt auch eine andere Institu­tionengeschichte der Anthropologie einsetzt, als die ich hier verfolge. Was mit der Anthropologie im Folgenden geschieht, behandeln andere Bücher. Sie haben gemein (oder werden gemein haben), dass sie sich mit der Wende zum 20. Jahrhundert auseinandersetzen müssen. Zu dieser Zeit entsteht eine neue philosophische Anthropologie, die sich in der Folge auf Friedrich Nietzsches Kritik der philosophischen und biolo­g ischen Anthropologie im 19. Jahrhundert entwickelt. So schreibt Marc Rölli: „Bereits innerhalb der biolo­gischen Theoriebildung konstituiert sich eine vitalistische und den ganzen Menschen gegen das mechanistische Denken in Schutz nehmende Bewegung. Die sich erneuernde medizinische und philosophische Anthropologie kann an diese Impulse anknüpfen.“ 57 Worin diese Impulse bestanden und wie sie gesetzt werden, klärt sich anhand der Abstammungsthese. Meine Studie bewegt sich von daher entlang der Schnittstellen von 52 Fischer, Eugen (1898): Beiträge zur Anatomie der weib­lichen Urogenitalorgane des Orang-­ Utan. Jena: Fischer. 53 Vgl. Gessler, Bernhard (2000): Eugen Fischer, 1874 – 1967. Leben und Werk des Freiburger Anatomen, Anthropologen und Rassenhygienikers bis 1927. Frankfurt/M. u. a.: Peter Lang (Medizingeschichte im Kontext, 4). Hier: S. 15. 54 Marquard 1986, 112. 55 Hoßfeld 2005, 182. 56 Programmatisch wird das auch in der 1899 von Gustav Schwalbe gegründeten Zeitschrift für Morphologie und Anthropologie formuliert, deren Erscheinen Hoßfeld als ein erstes Z ­­ eichen für den Übergang der biolo­gischen Anthropologie zur exakten Naturwissenschaft sieht (Hoßfeld 2005, 170). 57 Rölli 2011, 458.

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historischer Anthropologie, Epistemologie und Wissensgeschichte, indem sie sich denjenigen Autoren zuwendet, die wie Carl Vogt, Ernst Haeckel oder Max Nordau die Anthro­pologien entwarfen, gegen die sich die Philosophie schließ­lich zur Wehr setzte. Dieser Prozess wird entscheidend durch die Schriften Nietzsches geprägt, die ich in Kapitel V untersuche. Dabei gehe ich der Frage nach, wie er anhand der Figur des Affen und der Trope des Nachäffens versucht, das Monopol auf die Anthropologie in die Philosophie zurückzuholen, ohne dabei das biolo­gische Verständnis des Menschen zu vernachlässigen. Die Entwicklung der philosophischen Anthropologie hat in jüngster Zeit Marc Rölli in der Kritik der anthropolo­gischen Vernunft analysiert. Kants Königsberger Anthropologie-­Vorlesungen im Wintersemester 1772/1773 betrachtet Rölli als Datum, seit dem „Anthropologie als eine echte philosophische Disziplin“ besteht; ihr Gründungsdokument ist dementsprechend Kants Anthropologie in pragma­ tischer Hinsicht. Diese „beantwortet nicht die Frage nach dem Wesen des Menschen. Stattdessen beschäftigt sie sich mit seinem Charakter []“.58 Ich möchte zeigen, dass auch die biolo­g ische Anthropologie, die zu Kants Zeit noch vornehm­ lich „phy­sische Anthropologie“ heißt, nicht ohne eine Charakteristik auskommt. Bereits Kant hatte mit der Figur des Nachahmers einen Prototyp für Menschen ohne Charakter geliefert, die auf Grund ihres quasi „äffischen“ Verhaltens nicht als Gegenstand von Anthropologie geeignet sind. Der Rand der Anthropologie wird von Kant dementsprechend mit der Figur des „Nachäffers“ besetzt, der auch in Kapitel V dieser Arbeit auftritt. In Kants Anthropologie-­Vorlesungen findet sich im Kapitel „Anthropolo­g ische Charakteristik“ ein Abschnitt mit dem Titel „Von den Eigenschaften, die bloß daraus folgen, daß der Mensch einen Charakter hat oder ohne Charakter ist“. Dort heißt es unter 1.: Der Nachahmer (im Sitt­lichen) ist ohne Charakter; denn dieser besteht eben in der Originalität der Denkungsart. Er schöpft aus einer von ihm selbst geöffneten Quelle seines Verhaltens. Darum aber darf der Vernunftmensch doch auch nicht S o n d e r l i n g sein, ja er wird es niemals sein, weil er sich auf Prinzipien fußt, die für jedermann gelten. Jener ist der N a c h ä f f e r des Mannes, der Charakter hat.59

Das Nachäffen ist eine Geste des menschlichen Leibes, dessen Ähn­lichkeit mit dem des Affen jeder Anthropologie von Beginn an ins Stammbuch geschrieben ist. Mit dem historischen Datum 1772 beginnt nach Rölli das Nebeneinander von Anthropologien, mindestens das von philosophischer und physiolo­gischer; wobei es die philo­ sophische Anthropologie ist, die versucht, sich die physiolo­gische Anthro­pologie 5 8 Ebd., 43. 59 Kant, Immanuel (2000): Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Hrsg. v. Reinhard Brandt. Hamburg: Felix Meiner. Hier: S. 220.

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als Naturphilosophie anzueignen oder Untertan zu machen,60 bevor ab den 1850er-­ Jahren ein „dezidiert naturwissenschaft­liches Verständnis des Menschen“ einsetzt.61 Ich möchte zeigen, dass ­dieses Verständnis in Abhängigkeit vom Aufkommen der Abstammungsthese entsteht, und dass es sich bei den darin aufgehobenen Hauptgegenständen, Mensch und Affe, um Attribute eben jener Anthropologie handelt, die auch Rölli beschäftigt. Es ist insbesondere die phy­sische Anthropologie, von der sich Kant absetzen möchte: Die pragmatische Anthropologie soll sich nicht darauf beziehen, was der Mensch ist, sondern zielt auf das, „was er [der Mensch] als freihandelndes Wesen aus sich selber macht oder machen kann und soll.“62 Um diese Differenzierung Kants nachzuvollziehen, befasst sich Rölli in Auszügen mit der phy­sischen Anthropologie. Dies unter anderem auch deshalb, um zur Untermauerung seiner These beizutragen, die „besagt, dass die Philosophie im Zuge der Ausbildung einer genuin modernen Form anthropolo­gischer Vernunft in die problematische Entstehungsgeschichte der Eugenik und Rassenhygiene verstrickt ist.“63 Ich möchte diese These unterstützen und gleichzeitig Röllis Aufforderung nachkommen, seine Studie weiter zu explizieren, indem ich vor allem die phy­sische/biolo­gische Anthropologie in den Blick nehme, und hier insbesondere die Texte betrachte, die bei der Verteidigung des anthropisch-­ anthropozentrischen Prinzips gegen den Ansturm der Affen entstehen. Dies bietet die Mög­lichkeit, die Untersuchung der Anthropologie zu verdichten: In den vielen Texten zu denjenigen Individuen, die als „Affenmenschen“ bezeichnet werden, lässt sich die Ausbildung einer genuin modernen Form anthropolo­gischer Vernunft beobachten, die als Teil der Biologie um nichts weniger in die Entstehungsgeschichte der Eugenik und Rassenhygiene verstrickt ist.

Aufbau des Buches Dieses Buch gliedert sich einerseits chronolo­gisch, andererseits gruppieren sich die Abschnitte eines jeden Kapitels um Opera­tionen, die bestimmend dafür sind, wie die behandelten Autoren ihr Material für ihre jeweilige Version von Anthropologie nutzbar machen. Kapitel I wirft Schlag­lichter auf die Vorgeschichte des 60 Rölli schließt vielfach an Odo Marquard an; für das wechselseitige Verhältnis von Naturphilo­ sophie und Anthropologie in der ersten Phase der philosophischen Anthropologie ruft er dementsprechend Schelling, Fries und Hegel auf, mit denen sich Marquard vor allem in seiner Habilita­tionsschrift Transzendentaler Idealismus, romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse ausführ­lich beschäftigt (Rölli 2011, 21). 61 Ebd., 23. 62 Kant 2000, 3. 63 Rölli 2011, 18.

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Untersuchungszeitraums: Auf welcher Grundlage konnte man in der phy­sischen Anthropologie überhaupt die Abstammungsthese diskutieren? Erstes Wissen darüber war durch das Sezieren von Menschenaffen gewonnen worden, das schon seit der Antike gängige Praxis war. Das Interesse von Medizinern und Anatomen hatte sich dabei häufig auf einzelne Körperteile konzentriert, wobei der Vergleich des Affenhirns mit dem Menschenhirn im Zentrum des Interesses stand.64 Die biolo­gische Systematik, die sich daraus ableitete, war seit dem Erscheinen der zehnten Auflage von Carl von Linnés Systema Naturae 1758 von seinem folgenschweren Schritt geprägt, Menschen und bestimmte Affen (Simia, Lemur und Vespertilio) gemeinsam unter der Bezeichnung homo aufzuführen. Linné nannte allerdings nur den Menschen homo sapiens, da er seiner Auffassung nach den Keim der Gottesebenbild­lichkeit in sich trug.65 Das Problem dieser Einteilung besteht nun darin, dass der Mensch bei Linné einerseits als Teil einer tierischen Ordnung gesehen wird, andererseits aber auch einer anderen, eigenen, näher zu bestimmenden Ordnung angehört.66 Ausgehend von ­diesem Erbe Linnés formierte sich die anthropolo­gische Forschung, die mich hier interessiert und von Autoren wie Petrus Camper, Samuel Thomas Soemmerring und Johann Friedrich Blumenbach vertreten wurde. Kapitel II widmet sich dem Beitrag Carl Vogts zur Forma­tionsphase der biolo­ gischen Anthropologie nach Darwin. Vogt ist der deutschen Forschung vor allem durch seinen Einsatz im Materialismusstreit bekannt.67 Der große Erfolg seiner teils unterhaltsamen, oft polemischen und fast immer umfangreichen Schriften zeigt sich nicht zuletzt darin, dass alle hier untersuchten Texte in der einen oder anderen Weise an die Schriften Vogts anschließen. Ohne Vogts Bemühungen, den Menschen zu naturalisieren, animalisieren und damit auf organisches Material zu reduzieren, das seiner Meinung nach allein den Mensch ausmacht , wäre die Debatte um die Abstammungsthese anders verlaufen. Im Netzwerk der ersten Kommentatoren Darwins nimmt Vogt eine zentrale Diskursposi­tion ein, anhand derer ich die Darstellung der Abstammungsdebatte ausrichte. 6 4 Hagner, Michael (2008): Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn. Frankfurt/M.: Suhrkamp. 65 Chazan, Michael (1995): The Meaning of Homo Sapiens. In: Corbey; Theunissen (Hg.) – Ape, Man, Apeman, S. 229 – 239. Hier: S. 231. Die Frage nach dem Charakter war auch für Studien einschlägig, die sich eher am Rande mit Anthropologie beschäftigten, so beschreibt Linné den Homo Asiaticus unter anderem als unnachgiebig und melancho­lisch (ebd., 230). Die phy­sische Anthropologie setzte sich immer wieder mit der Frage des Charakters auseinander, wenn sie der Frage nachging, ob eine bestimmte Lebensweise, die einem Volk zugeschrieben werden könne, zu bestimmten Eigenheiten im Körperbau und organischer Verfassung führe. 66 Ebd. 67 Zur Einführung vgl. Bayertz, Kurt et al. (Hg.) (2007): Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Band 1: Der Materialismus-­Streit. 3 Bände. Hamburg: Felix Meiner.

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Kapitel III vertieft die Erkenntnisse der vorangegangenen Abschnitte und wendet sie auf eine Spezialdiskussion an: Die Sprengkraft von Vogts Schriften wird an der Auseinandersetzung um den Status der Mikrocephalen deut­lich, denen Vogt eine seiner kontrovers diskutierten Schriften gewidmet hatte. Darin führte er die Mikrocephalen als Beispiele für einen Atavismus an, der beweisen sollte, dass es sogenannte Affenmenschen gäbe. Diese Figur wurde insbesondere von Ärzten rezipiert, die mehr oder weniger freiwillig Anthropologie trieben – ihr Interesse an den sogenannten Affenmenschen als ‚Belegexemplaren‘ einer bestimmten Pathologie führte jedoch häufig eher zu einer wissenschaft­lichen Denunzia­tion von Devianz. Die psycho-­sozialen Folgekosten sind hoch, anschaulich werden sie in der Freakshow, wie sie in Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs (1896) geschildert wird – ein Exkurs zu d­ iesem Roman leitet das Kapitel ein. In der Freak­ show wird Naturgeschichte zum Spektakel: Der außergewöhn­liche Körper tritt nicht als Index quantitativer Verteilung phänotypischer Ausprägungen auf, sondern als Argument in Normalisierungsdiskursen. Diese dehnen sich insbesondere auf den Bereich der Sexualität aus, wofür der Einsatz von Bildern entscheidende Bedeutung hat. Kapitel IV beginnt mit einem Exkurs zu einem literarischen Text, dessen Autor ein Programm durcharbeitete, das exemplarischen Charakter für die Bestrebungen von August Schleicher, Ernst Haeckel und von Gabriel von Max aufweist. ­Leopold von Sacher-­Masoch stellte in seiner Novelle Diderot in Petersburg (1873) die Frage nach der Sprachfähigkeit von Affen 68 ins Zentrum einer Geschichte, in der die misslungene Kanalisierung erotischer Triebe dazu führt, dass sich Menschen in Affen zurückverwandeln, dabei aber nicht in der Lage sind, deren Rolle richtig zu spielen. Die Verwissenschaft­lichung der Poesie, die Sacher-­Masoch mit seinem schriftstellerischen Beitrag zur Darwin-­Rezep­tion anstrebte, wird von Ernst Haeckel mit der Poetisierung und Ästhetisierung der Wissenschaft beantwortet. Anhand seiner Stammbaumdarstellungen zeigt meine Studie, wie bei Haeckel der Mensch als Ikone der Abstammungsthese schließ­lich zum Idealporträt der Natur aufsteigen konnte. Ohne Inspira­tion durch die Schrift Die Darwinsche Theorie und Sprachwissenschaft (1863), die ihm sein Freund August Schleicher zugeeignet hätte, wäre ihm dies nicht vollständig gelungen: Von dort bezog er entscheidende Anregungen für die phylogenetischen Stammbäume, denen sich Kapitel IV widmet. Die gött­liche Schöpfungsgeschichte sollte durch eine monistische, natür­liche Schöpfungsgeschichte ersetzt werden, in der er selbst als Autor zum Schöpfer wurde. Der Rekurs auf den Schöpfungs-­Begriff bei Haeckel deutet an, dass sich die gesamte hier dargestellte

68 Zu einer ausführ­lichen Diskussion des Themas siehe Wokler, Robert (1995): Enlightening Apes: Eighteenth-­century Specula­tion and Current Experiments on Linguistic Competence. In: Corbey, Theunissen (Hg.) – Ape, Man, Apeman. S. 87 – 100.

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Geschichte auch als religionsgeschicht­liche Untersuchung schreiben ließe,69 in der die Entthronung des Menschen als Herausforderung für das christ­liche Dogma verstanden wird.70 Dessen anheimelnde Wirkung wurde nun auf die Evolu­tionstheorie übertragen; in der monistischen Ästhetik verweltanschau­lichte H ­ aeckel schließ­lich, was in Schwundform vom Christentum geblieben war. Dafür war unter anderem der Maler und Laienanthropologe Gabriel von Max sehr empfäng­lich, dessen Werk ich im letzten Teilabschnitt von Kapitel IV anhand von Materialien aus seinem Nachlass analysiere. Seit den ersten Anfängen der Anthropologie war das Nachäffen als Charakter­ fehler des Menschen und Eigenheit des Affen thematisch und wurde als rhetorisches Instrument in der Verwerfung mimetischer Praktiken verwendet. Während die Kapitel I bis IV sich jeweils einer Opera­tion widmen, die charakteristisch für die Konstruk­tionsarbeit der behandelten Anthropologen ist, verschiebt sich in Kapitel V der Fokus auf die Kulturkritik. Diese spannte um 1900 die Attribuierungsprak­ tiken der Anthropologie für ihre Zwecke ein. Die Rede ist dabei von der langen und wechselhaften Geschichte der Denunzierung und Aneignung des Nachäffens als mindere Mimesis, die sich in der Konstella­tion Friedrich Nietzsche – Max Nordau – Gustav Klimt wiederholt. Nietzsche unterschied das Nachäffen vom Nachahmen, um Letzteres als Teil seiner Anthropologiekritik zu verwenden, die den Menschen nur dann retten kann, wenn sie ihn zum Tier-­Werden auffordert und ermutigt. Ein Feind von Nietzsches Philosophie, die die Grausamkeit der Natur euphorisch begrüßt, ist wiederum Nordau, dessen Pamphlet Entartung (1892/1893) das Nachäffen als Kampf­begriff in die psychopatholo­g ische Kulturkritik einführte. In seiner Fin-­de-­Siècle-­Kritik ging er von der Annahme aus, dass die drohende Degenera­ tion der Menschheit nur dann verhindert werden könne, wenn dem Nachäffen der Werke Geisteskranker wie Nietzsche therapeutisch Einhalt geboten würde. Eine besondere Wendung nimmt das „Nachäffen“ bei Nordau, wenn er es als ein Synonym für Assimila­tion verwendet, die er in seinen zionistischen Schriften als Mimikry beschreibt. Schließ­lich ist es genau die Nordau’sche Form der psychia­ trisierenden Kunstkritik, die es Klimt opportun erscheinen ließ, sich die Figur des 69 Mit einer etwas anderen Perspektive hat dies Tilman Schröder unternommen: Ders. (2008): Naturwissenschaften und Protestantismus im Deutschen Kaiserreich. Die Versammlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte und ihre Bedeutung für die Evange­lische Theologie. Stuttgart: Franz Steiner Verlag (Contubernium. Tübinger Beiträge zur U ­ niversitätsund Wissenschaftsgeschichte). 70 Nach wie vor ist der Konflikt z­ wischen christ­lichem Glauben und Evolu­tion nicht beseitigt, wie zahlreiche krea­tionistische Strömungen zeigen (für einen Überblick vgl. den Eintrag „Krea­ tionismus“ bei Sarasin, Philipp; Sommer, Marianne (Hg.) (2010): Evolu­tion. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: Metzler sowie Bowler, Peter J. (2007): ­Monkey Trials and Gorilla Sermons. Evolu­tion and Christianity from Darwin to Intelligent Design. Cambridge, Mass.: Harvard University Press (New histories of science, technology, and medicine).

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Affen in Form einer subversiven Affirma­tion anzueignen. Die Polyvalenz der Figur führte zu ­diesem Zeitpunkt dazu, dass der zahnlose Gorilla im Zentrum seines ­Beethovenfrieses (1902) sowohl N ­ ietzsches Anschauungsmetapher Affe aktualisieren als auch ­Nordaus entrüstete Kritik des Nachäffens in der Kunst persiflieren konnte. Die Pointe besteht dabei darin, dass Klimt Menschen wie auch den Affen als Ornament in der Naturgeschichte betrachtete und damit formal-­ästhetische Entscheidungen für die Anthro­pologie produktiv zu machen versuchte. Sezieren – Reduzieren – Pathologisieren – Ästhetisieren – Imitieren: In einem Ausblick am Ende der Arbeit werde ich danach fragen, ob diese Opera­tionen im Anthro­pologisieren zusammenfallen, und falls ja, w ­ elche Zukunft es in der Vergangenheit hatte und ­welche es heute haben kann. Mit der Hoffnung, dass die Anthropologie unabgeschlossen bleiben muss, beginnt ­dieses Buch.

Kapitel I: Sezieren

Die Abstammungsthese in der physischen Anthropologie des 18. Jahrhunderts Noch das stärkste Tier ist unend­lich debil. Max Horkheimer, Mensch und Tier

1. à propos Goethe Unter Max Horkheimers Aufzeichnungen und Entwürfen zur Dialektik der Aufklärung findet sich eine kleine Abhandlung über Mensch und Tier, die mit der gut bekannten Feststellung beginnt, dass sich die „Idee des Menschen in der europäischen Geschichte […] in der Unterscheidung vom Tier“ ausdrücke.1 Die Geschichte dieser Unterscheidung schreibt Horkheimer als Urszene der Unterwerfung, Unterdrückung und Folter, ausgeführt von selbstherr­lichen vernünftigen Wesen, denen es gefällt, den Tieren Vernunft abzusprechen und daraus ihre eigenen Grausamkeiten abzuleiten und zu rechtfertigen. Und da „die Menschen den Tieren stets das angetan haben, was sie einander anzutun pflegten“,2 wiederholen sie laut Horkheimer Unterdrückung und Unterwerfung in den Verhältnissen von Männern zu Frauen, von Christen zu Juden. Das Verhältnis des Menschen zum Tier konfiguriert die Urszene der Dialektik der Aufklärung. In Kapitel V wird sich zeigen, dass Horkheimer vieles in seinen Überlegungen zur begriffslosen Welt des Tieres von Nietzsche übernommen hat:3 Dessen Kritik an 1 Adorno, Theodor W.; Horkheimer, Max (2009): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. 18. Aufl. Frankfurt: S. Fischer (Fischer Wissenschaft). Hier: S. 262. 2 Macho, Thomas (2000): Der Aufstand der Haustiere. In: Marina Fischer-Kowalski et al. (Hg.): Herausforderung Tier. Von Beuys bis Kabakov. Anläss­lich der gleichnamigen Ausstellung in der Städtischen Galerie Karlsruhe, vom 15. April bis 30. Juli 2000. München: Prestel, S. 76 – 99. Hier: S. 87. 3 Zu Horkheimers Nietzsche-­Rezep­tion vgl. einerseits seine sehr prägnanten Thesen in einem Kommentar zur Biografie Karl Jaspers, in der er als wesent­lichen Einwand gegen diese Darstellung den Vorwurf erhebt, dass Jaspers Nietzsche unzulässig entschärft und damit zu einem kleinbürger­lichen Autor degradiert, dessen Nähe zu faschistoiden Gedanken nicht aufgelöst werden könne; Horkheimer selbst will Nietzsche so lesen, dass dieser gerade die kleinbürger­liche Gesinnung erkannt und analysiert habe, die den Faschismus überhaupt erst mög­lich macht. Andererseits hat Norbert Rath betont, dass es im Umfeld der Frankfurter Schule und gerade auch bei Horkheimer divergierende Einschätzungen zu Nietzsches Rolle in ‚der Geistes­geschichte‘ gibt (vgl.: Rath, Norbert (1987): Zur Nietzsche-­Rezep­tion Adornos und H ­ orkheimers. In: Willem van Reijen und Gunzelin Schmid Noerr (Hg.): Vierzig Jahre Flaschenpost. „Dialektik

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Zucht und Dressur wiederholt Horkheimer in seiner Rede von der Verstümmelung der Natur, die in den Zügen eines überzüchteten Haushündchens sichtbar werde.4 Die Herrschaft des Menschen über die Natur, die in der Herrschaft über das Tier ihren Ausdruck sucht, soll die Zugehörigkeit des Menschen zur Natur überdecken, indem die gemeinsame Abstammung von Mensch und Tier so gut wie mög­lich negiert wird: Das prononcierte Menschengesicht, das beschämend an die eigne Herkunft aus Natur und die Verfallenheit an sie erinnert, fordert unwidersteh­lich nur noch zum qualifizierten Totschlag auf. Die Judenkarikatur hat es seit je gewußt, und noch der Widerwille Goethes gegen die Affen wies auf die Grenzen seiner Humanität. Wenn Industriekönige und Faschistenführer Tiere um sich haben, sind es keine Pinscher sondern dänische Doggen und Löwenjungen.5

Ob Goethe tatsäch­lich Widerwillen gegen „die Affen“ gehegt hat, wissen wir nicht.6 Es geht auch nicht darum, Widerwillen nachzuweisen oder darum, Horkheimer zu bestätigen, der in gewisser Weise in seiner Anmerkung den Verstand der Tiere gegen die Vernunft der Menschen ausspielt. Das würde stillschweigend eine Art historische Konstante von der deutschen Klassik zur Entstehungssitua­tion der Dialektik der Aufklärung behaupten 7 – selbst wenn das mög­lich wäre (was ich nicht weiß), stellte sich die Frage, was damit gezeigt wäre (ich vermute: wenig). Das Interesse besteht hier vielmehr darin, die Beschaffenheit eines Topos bei Goethe zu verstehen. Seine Verwendung der Figur des Affen in Die Wahlverwandtschaften (1809) weist den Weg in ­dieses Kapitel.

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der Aufklärung,“ 1947 – 1987. Frankfurt/M.: Fischer, S. 73 – 110, zur ambivalenten „Nietzsche-­ Rezep­tion Horkheimers“ s. besonders S. 80 ff.). Adorno; Horkheimer 2009, 267. Ebd., 269. Robert Savage attestiert Goethe und Herder „Anthropomorphagie“ (ders. (2007): Menschen/ Affen. On a Figure in Goethe, Herder and Adorno. In: Zeitschrift für deutsche Philologie (126), S. 110 – 125. Hier: S. 110). Savage weist allerdings auch darauf hin, dass Adorno in der Ästhetischen Theorie äußerte, dass Menschenaffen „objektiv darüber zu trauern scheinen, daß sie keine Menschen sind“ (ebd., 122). Er verfolgt im Verlauf des Aufsatzes allerdings die These, dass es Adorno im Gegensatz zu Herder und Goethe gelungen sei, die Herausforderung der Begegnung mit der Tierheit (vertreten durch den Affen) anzunehmen und darüber die prekäre Lage der unterworfenen Kreatur in der eigenen Person zu erkennen (ebd., 124 f.). Diese Haltung hat auch Marc Rölli an der Haltung der Frankfurter Schule kritisiert: „Eine philosophische Reak­tion darauf [auf die Auflösung des Kontinuums der Geschichte durch die Verbrechen des NS, H. E.], die beispielhaft für eine ganze Reihe von philosophischen Antworten ist, besteht darin, das eigene Licht gegen die Dunkelheit der Geschichte auszuspielen. In einer Art umgekehrtem Hegelianismus wird die Philosophie­geschichte insgesamt zur Vorgeschichte der ‚Barbarei‘ (des NS) erklärt, indem zwei Formen der Ra­tionalität unterschieden werden. Bezeichnen wir sie plakativ als Verstand und Vernunft.“ (Rölli 2011, 17).

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Es zeigt, ­welche ­Themen sich in der phy­sischen Anthropologie des 18. Jahrhunderts etablierten und ­welchen Tradi­tionen diese folgten. Dafür sind zum einen Soemmerring, Blumenbach und Camper die wichtigsten Belegautoren. Sie fokussierten in ihrer Forschung den Vergleich von Menschen- und Affenhirnen, da sie im menschlichen Hirn den Sitz der Befähigung zur Sprache und zum aufrechten Gang verorteten. In einem ersten Schritt wende ich mich deshalb dem Hirn als intrikatem Untersuchungsobjekt zu. Die Verunsicherung über die großen Ähn­lichkeiten ­zwischen Affen und Menschen entstand jedoch nicht nur durch Ergebnisse von anatomischen Untersuchungen des Hirns, die sichtbar machten, was sich Laien entzog, sondern auch an dem sichtbarsten Körperteil von Individuen beider Arten: Während das Hirn als Steuerungsorgan und Sitz der menschlichen Vernunft anerkannt wurde, fungierte das Gesicht als scheinbar allgemein lesbare und umkämpfte Signatur 8 der Menschlichkeit, die in der Physiognomik als Hermeneutik des Gesichts behandelt wurde. Die Versuche, durch die Bestimmung des Camper’schen Gesichtswinkels das jeweils („Rassen“-)typische an einem Gesicht herauszuarbeiten, sind von daher Gegenstand eines weiteren Abschnitts, dem eine Auseinandersetzung mit Herders Überlegungen zum aufrechten Gang folgt. Als physiolo­gisch-­motorische Grundlage kultureller Leistungen des Menschen, die seine Sonderstellung in der Natur begründen, stellt diese Fortbewegungsart auch ein Erkennungszeichen für die Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen dar. Der Teilabschnitt führt aus, dass das Fehlen dieser Qualität beim Affen mit dessen zwanghaftem Nachahmen begründet wird. Bedroh­lich wird diese Eigenart, wenn sie sich auf den Bereich der Sexualität erstreckt, wie Bemerkungen von Christoph Meiners zeigen, mit denen das Kapitel schließt. Auch wenn die Affen in Die Wahlverwandtschaften nicht als Symbole eines offen rassistischen Diskurses auftreten, enthält der Roman eine Szene, die nahelegt, dass Affen hier bestimmte Aversionspotenziale bündeln. Im vierten Kapitel erhalten die Paare im Zentrum des Romans Besuch von Luciane, der verzogenen Tochter ­Charlottes, die mit ihrem Windspiel in den Räumen des Anwesens herumspringt, als ihr einfällt, dass sie ein anderes Haustier bei ihrem Besuch schmerz­lich vermisst. Ihr Affe fehlt ihr plötz­lich so sehr, dass sie meint, allein beim Blick auf ein Bild von ihm wieder vergnügt sein zu können. Lucianes ­Mutter kommt ihr zu Hilfe: „Vielleicht kann ich dich trösten,“ versetzte Charlotte, „wenn ich dir aus der Bibliothek einen ganzen Band der wunder­lichsten Affenbilder kommen lasse.“ Luciane schrie vor Freuden auf, und der Folioband wurde gebracht. Der Anblick dieser menschenähn­lichen und durch den 8 Didi-­Huberman hat von der „Facies“ gesprochen, als „Gesicht, das der synthetischen Verbindung z­ wischen dem Allgemeinen und dem Besonderen zugewiesen wird; das zugeordnete Gesicht unter der Herrschaft des Ausdrucks, in einem hegelianischen Sinn.“ (Didi-­Huberman, ­Georges (1997): Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-­Martin ­Charcot. München: Fink. Hier: S. 60).

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Künstler noch mehr vermenschlichten, abscheu­lichen Geschöpfe machte Lucianen die größte Freude. Ganz glück­lich aber fühlte sie sich, bei einem jeden dieser Tiere die Ähn­lichkeit mit bekannten Menschen zu finden. Sieht der nicht aus wie der Onkel? rief sie unbarmherzig: der wie der Galanteriehändler M–, der wie der Pfarrer S–, und dieser ist der Dings – der – leibhaftig. Im Grunde sind doch die Affen die eigent­lichen Incroyables, und es ist unbegreif­lich, wie man sie aus der besten Gesellschaft ausschließen mag.9

Luciane verhält sich in dieser Szene selbst wie ein Affe,10 der bei Goethe als Stellvertreter des „ungebildeten Liebhabers“ auftritt 11 und „Kunstwahres“ und „Naturwahres“ nicht unterscheiden kann. In dem pseudo-­sokratischen Dialog Über Wahrheit und Wahrschein­lichkeit der Kunstwerke streiten ein Operngänger und ein „Anwalt“ ­darüber, ob das Kunstwahre mit dem Naturwahren zusammenfalle. Der Anwalt argumentiert: „Ein vollkommenes Kunstwerk ist ein Werk des menschlichen Geistes und in ­diesem Sinne auch ein Werk der Natur.“12 Allerdings solle man nicht schließen, so der Anwalt, dass ein Kunstwerk wie ein Gegenstand sei, den man „auf dem Markte“ antrifft. Das Kunstwerk sei „übernatür­lich“, aber nicht „außernatür­lich.“ Der ungebildete Kunstliebhaber wird in einer kleinen Anekdote des Dialogs mit dem Haustier eines Naturforschers verg­lichen, einem Affen, der in einem unbeobachteten Moment alle Käfer aus einem naturgeschicht­lichen Buch seines Herren aufgefressen hat. Verblendet durch die Illusion der perfekten Repräsenta­tion rechnet er die künstlerische Darstellung direkt auf seine Lebenswelt um, die durch ‚Notdurft der Triebe‘ gekennzeichnet ist, er ist nicht in der Lage, den „übernatür­lichen“ Charakter der Käfer zu erkennen. Diesen ‚notdürftigen‘ Umgang mit der Natur pflegt auch Luciane, die in den Affen nur das ihr vertraute, den Mitmenschen (bezeichnenderweise aber nicht sich selbst) erkennen will. Die Abwertung der Mimesis (verstanden als Simula­tion), die hier 9 Goethe, Johann Wolfgang von (1996): Die Wahlverwandtschaften. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Herausgegeben von Erich Trunz. Band VI: Romane und Novellen I. Textkritisch durchgesehen von Erich Trunz. Kommentiert von Erich Trunz und Benno von Wiese. 14., überarbeitete Aufl. München: C. H. Beck. S. 242 – 490. Hier: S. 382 f. 10 Vgl. auch Ishihara, Aeka (2005): Goethes Buch der Natur. Ein Beispiel der Rezep­tion natur­ wissenschaft­licher Erkenntnisse und Methoden in der Literatur seiner Zeit. Würzburg: ­Königshausen & Neumann. Hier: S. 197. Ishihara meint allerdings, dass Goethe mit dieser Szene vor allem auf die Reiseberichte Alexander von Humboldts (1807) reagiert und ordnet diese Reak­tion als „charmant“ ein (ebd. 196). 11 Goethe, Johann Wolfgang von (1999): Wahrheit und Wahrschein­lichkeit der Kunstwerke. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Herausgegeben von Erich Trunz. Band XII: Schriften zur Kunst. Schriften zur Literatur. Maximen und Reflexionen. Textkritisch durchgesehen von Erich Trunz und Hans Joachim Schrimpf. Kommentiert von Herbert von Einem und Hans Joachim Schrimpf. 13. Aufl. München: C. H. Beck. S. 67 – 73. Hier: S. 71. Erstdruck: Propyläen I, 1, 1798. Zu Goethes Text vgl. auch Griem 2010, 40. 12 Goethe 1999 (Wahrheit und Wahrschein­lichkeit der Kunstwerke), 72.

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mit dem amateurhaften Kunstgenuss assoziiert wird, führt die Tradi­tion der Ablehnung des Nachäffens fort,13 erweitert sie jedoch um den Akzent des kulturellen Kapitals, dessen Besitz es erst mög­lich macht, der Gefahr des Amateurhaften zu entfliehen. In den Wahlverwandtschaften wird Lucianes Freude über die Affenporträts s­ päter wieder aufgenommen, in einem Tagebucheintrag notiert Ottilie: Wie man es nur über das Herz bringen kann, die garstigen Affen so sorgfältig abzubilden! Man erniedrigt sich schon, wenn man sie nur als Tiere betrachtet; man wird aber wirk­lich bösartiger, wenn man dem Reize folgt, bekannte Menschen unter dieser Maske aufzusuchen. Es gehört durchaus eine gewisse Verschrobenheit dazu, um sich gern mit Karikaturen und Zerrbildern abzugeben. Unserm guten Gehülfen danke ichs, daß ich nicht mit der Naturgeschichte gequält worden bin; ich konnte mich mit den Würmern und Käfern niemals befreunden.14

Der Eintrag Ottiliens beschäftigt sich weiterhin mit der Frage des Nachteils und Nutzens der Naturgeschichte für das Leben; gegen Ende vermerkt Ottilie, dass der Mensch „am vorzüg­lichsten“ Gottebenbild­lichkeit besitze, um dann mit der folgenden Bemerkung zu schließen: „Dem einzelnen bleibe die Freiheit, sich mit dem zu beschäftigen, was ihn anzieht, was ihm Freude macht, was ihm nütz­lich deucht; aber das eigent­liche Studium der Menschheit ist der Mensch.“15 Aufgeschrieben von der heiligsten Figur 16 der Wahlverwandtschaften kommt dieser Aussage eine quasi transzendente Wahrheit mit präskriptivem Charakter zu. Auch in den Wahlverwandtschaften wird dieser Punkt reflektiert; an anderer Stelle sagt Eduard: „[…] der Mensch ist ein wahrer Narziß; er bespiegelt sich überall gern selbst, er legt sich als Folie der ganzen Welt unter.“17 Die Stilisierung Goethes zum geliebten autoritativen Charakter (beispielsweise bei Ernst Haeckel), die Horkheimer mit seiner Anspielung auf Die Wahlverwandtschaften kritisiert, und die auch Walter Benjamin in seiner Studie zu den Wahlverwandtschaften zur Demontage des Goethe-­Dienstes bei Gundolf und anderen anregte, hat nicht dazu beigetragen, Eduards Befund zu widerlegen. 13 Vgl. auch Janson 1952, 15 ff. Die Abneigung gegen die Nachahmung, die Affen mit den Papageien teilen, wird auch von Savage (2007, 113) als Hauptgrund der Abneigung Goethes gegen beide Tierarten genannt. 14 Goethe 1996 (Die Wahlverwandtschaften), 415. Mit dem Sammeln von Käfern begann die Karriere Darwins, der über seine Zeit als Student in Cambridge schreibt: „Aber keiner Beschäftigung wurde in Cambridge mit auch nur annähernd so viel Eifer nachgegangen und keine machte mir so viel Freude wie das Sammeln von Käfern.“ (zit. n. Mayr 2002, 316). 15 Goethe 1996 (Die Wahlverwandtschaften), 417. Dem Kommentar der Hamburger Ausgabe zufolge handelt es sich um eine Übersetzung eines Verses von Pope: „The proper study of mankind is man.“ (ebd., 731). 16 Vgl. Farrelly, Dan (1991): Die Gestalt einer Heiligen. Zur Figur der Ottilie in Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“. In Zeitschrift für Germanistik. 1 (2), S. 364 – 378. 17 Goethe 1996 (Die Wahlverwandtschaften), 270.

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In der Opposi­tion Horkheimers gegen Goethes Behandlung der Affen-­Thematik ist in nuce alles enthalten, was die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Mensch und Affe vor Darwin bestimmt. Und so wie Goethe in den Wahlverwandtschaften das Mensch-­Affe-­Verhältnis als à propos und Relevanzferment verwendet, um spielentscheidende humanistische Posi­tionen zur Disposi­tion zu stellen,18 sei hier die Affen-­Szene als ein à propos genommen, um auf eine Konstella­tion zu sprechen zu kommen, die für die Gegenstände dieser Arbeit einschlägig ist. Goethes Werk „zarter und unerbitt­licher Kenntnis des Menschenherzens“ (Thomas Mann) erschien 1809, und damit etwa 25 Jahre, nachdem er in einem Brief an Herder schrieb: „Ich habe gefunden – weder Gold noch Silber, aber was mir eine unsäg­liche Freude macht – das os intermaxillare am Menschen! Es soll Dich auch recht herz­lich freuen, denn es ist wie der Schlußstein zum Menschen, fehlt nicht, ist auch da!“19 Die Beschäftigung mit dem die Schneidezähne tragenden Zwischenkieferknochen, der sowohl bei den Tieren (auch bei jenen, die keine Schneidezähne haben) und eben beim Menschen vorhanden ist, sollte nun endgültig die Kontinuität der „großen Kette der Wesen“ belegen. Allerdings ist dieser Knochen teils schwer von den umliegenden Knochenstrukturen zu unterscheiden,20 da er schon im frühen Embryonalstadium verwächst. Lange ging man deshalb davon aus, dass der Mensch keinen Zwischenkieferknochen ausgebildet habe.21 Goethe wähnte sich dementsprechend glück­lich, den osteolo­gischen Gegenbeweis dafür gefunden zu haben, denn die lange Geschichte und die Bedeutung der Debatte um den Zwischenkieferknochen war ihm durch Justus Loders osteolo­gische Unterrichtungen vertraut.22 Sie findet sich schließ­lich auch in Goethes Morphologie wieder, aufbereitet für „Freunde[] der vergleichende[n] Zergliederungskunde“.23 Diesen Interessentenkreis informierte Goethe darüber, dass entgegen 18 Vgl. auch Böhme, Hartmut (1999): „Kein wahrer Prophet“. Die ­­Zeichen und das Nicht-­ Menschliche in Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“. In: Gisela Greve und Klaus Heinrich (Hg.): Goethe. Die Wahlverwandtschaften. Tübingen: Edi­tion Diskord, S. 97 – 125. 19 Brief an Herder vom 27. März 1784, zit. im Kommentar zu Goethes Werke (2002). Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Herausgegeben von Erich Trunz. Band XIII: Naturwissenschaft­ liche Schriften I. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Dorothea Kuhn und Rike Wankmüller. 13. Aufl. München: C. H. Beck. Hier: S. 594. 20 Vgl. Wenzel, Manfred (1988): Der gescheiterte Dilettant: Goethe, Soemmerring und das os intermaxillare beim Menschen. In: Gunter Mann und Franz Dumont (Hg.): Gehirn – Nerven – Seele. Stuttgart: G. Fischer (Soemmerring-­Forschungen: Beiträge zur Naturwissenschaft und Medizin der Neuzeit/Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz), S. 289 – 329. 21 Vgl. den Kommentar in Goethes Werke 2002 (Naturwissenschaft­liche Schriften I), S. 593 f. 22 Wenzel 1988, 297. 23 Goethe, Johann Wolfgang von (2002): Morphologie. In: Goethes Werke (2002). Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Herausgegeben von Erich Trunz. Band XIII: Naturwissenschaft­ liche Schriften I. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Dorothea Kuhn und Rike ­Wankmüller. 13. Aufl. München: C. H. Beck. S. 53 – 520. Vgl. das Kapitel „Zoologie“: „Dem Menschen wie den Tieren ist ein Zwischenknochen der obern Kinnlade zuzuschreiben.“ S. 184 ff.

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der Behauptung von Camper und Blumenbach dieser Knochen nicht geeignet sei, als Unterscheidungsmerkmal von Mensch und Affe herangezogen zu werden, sondern vielmehr eine Gemeinsamkeit der beiden Arten darstelle. Manfred Wenzel hat die Geschichte der Debatte um das os intermaxillare nachgezeichnet und dabei die Posi­tionen (im Vergleich zu Goethe) unbekannterer Forscher wie Soemmerring, Merck oder Camper gestärkt, die sich schon vor Goethes ‚Entdeckung‘ mit dem os intermaxillare beschäftigten und sich bei ihren Untersuchungen auf die Daten aus den anatomischen Untersuchungen von Menschenaffen stützten; nicht wenige lehnten Goethes Entdeckung ab.24 An der k­ urzen Anspielung auf Goethes naturkund­liche Studien 25 zum Mensch-­Tier-­Verhältnis wird ein bestimmtes Kontrastverhältnis sehr deut­lich. Im Austausch mit den führenden Anatomen seiner Zeit (oder wenigstens seiner Bekanntschaft) arbeitete er durch seine Forschung zum Zwischenkieferknochen willent­lich oder unwillent­lich an der schleichenden Erosion der Mensch-­Tier-­Grenze mit; belegt werden sollte durch seine Ergebnisse der Status des Menschen als besonderer Vertreter des Tierreichs, der nicht mit einem Anspruch auf eine Diktatur darüber einher gehe. Darin liegt eine deut­liche Entfernung von einer Posi­tion, die Horkheimer ­später beschreiben sollte, in der genau diese Herrschaftsform gewollt sei, und die denjenigen, der sie ausübt, einem „faschistischen Schlächter […]“ gleichsetze, der „ans Tier nur denkt, um den Menschen dadurch zu erniedrigen“26 und damit seine eigenen humanistischen Entwicklungsdefizite aufzeige. In seinem Roman modelliert Goethe jedoch eine ganz andere Situa­tion. Physio­ gnomik und Anthropomorphismus sind die Modi, die den Umgang Lucianes mit den Affenbildnissen bestimmen. Dabei ist es durchaus denkbar, dass Goethe hier konkret die Affenporträts aus Lavaters Physiognomischen Fragmenten im Sinn hatte.27 In ­diesem Fall erhält die Episode noch eine biografische Spitze, da sich Goethe 1786 mit ­Lavater überworfen hatte 28 und nun in den Wahlverwandtschaften die kokette, aber 24 Ebd., 299. Wenzel weist hier auch darauf hin, dass Camper, Blumenbach, Soemmerring und Merck schon vor Veröffent­lichen der Goethe’schen Befunde zur Auffassung gekommen waren, dass „der Zwischenkieferknochen dem Menschen nicht zuerkannt werden könne.“ 25 Diese sind in der Goethe-­Philologie gut erforscht. Vgl. dazu Schmid, Günther (1940): Goethe und die Naturwissenschaften. Eine Bibliographie. Hrsg. im Namen der Kaiser­lich Leopoldinisch-­Carolinisch Deutschen Akademie der Naturforscher von Emil Abderhalden. Halle. Für einen weiteren, nur kleinen, dafür neueren Ausschnitt vgl. die Bibliographie in Goethes Werke 2002 (Naturwissenschaft­liche Schriften I), S. 656 – 660. 26 Horkheimer/Adorno 2009, 269. 27 Die kommentierten Ausgaben der Wahlverwandtschaften erwähnen diese Mög­lichkeit nicht. 28 Vgl. den Kommentar zu Johann Wolfgang Goethe. Sämt­liche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. II. Abteilung: Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hg. v. Karl Eibl et al. (1997). Band 2 (29): Johann Wolfgang Goethe. Das erste Weimarer Jahrzehnt. Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 7. November 1775 bis 2. September 1786. Herausgegeben von Hartmut Reinhardt. Hier: S. 691.

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leicht s­ tumpfsinnige Luciane als von Lavaters Kunst begeistert auftreten ließ. Nach ihrem ersten Kontakt um 1773/1774 hatte Goethe erst an Lavaters vierbändiger Physio­ gnomik mitgearbeitet, an der ihn der Bezug zu seinem eigenen „rekonstruierenden Sehprojekt“ reizte, „das in jedem Phänomen den Zusammenhang mit der natür­lichen Bildung erkennen wollte“.29 Seinen Kollegen und Brieffreund Lavater versorgte er mit eigenen Schattenrissen und Zeichnungen nach antiken Vorlagen; während der Arbeit an den Wahlverwandtschaften hatte er sich bereits von der in Misskredit geratenen Physio­gnomik distanziert.30 Im Roman wird Lucianes Umgang mit den Affenporträts in Kontrast zu dem Tagebucheintrag Ottiliens gesetzt, der im Prinzip darauf hinausläuft, dass Luciane die Affen noch immer nicht schlecht genug gemacht hat: Eigent­lich sind Affen nicht einmal dazu gut, verhöhnt zu werden. Lucianes Affe ist abwesend, ‚der‘ Affe fehlt als leben­diges Anschauungsmaterial, er ist ganz medialisierter Akteur in der Szene. ­Luciane wird nicht von einer dänischen Dogge begleitet, wohl aber von einem Windspiel. Goethe hat der herrischen Luciane einen Hund zur Seite gestellt, der als das Andere des Affen auftritt, als das domestizierte Haustier, dem die mora­lisch erwünschten Eigenschaften des Menschen antrainiert werden können: Treue, Folgsamkeit, Gehorsam.31 Ottilie will schließ­lich nicht einmal mit der medialen Repräsenta­tion des Affen etwas zu tun haben, da ihr das Agens des Affen selbst in dieser Form noch zu groß ist.32 Die Affenkarikatur in Goethes Wahlverwandtschaften erinnert „beschämend an die eigne Herkunft aus Natur und die Verfallenheit an sie“ (s. o.). Mag sie zwar nicht zum „qualifizierten Totschlag“ aufrufen, so fungiert sie dennoch als Erinnerung daran, was laut Ottilie das eigent­liche Studium der Menschheit sein sollte: der Mensch. Was auch immer ‚der Mensch‘ sein mag – hier wird nahegelegt, dass sich diese Frage 29 Kommentar zu Johann Wolfgang Goethe. Sämt­liche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. I. Abteilung: Sämt­liche Werke. Hg. v. Friedmar Apel et al. (1998). Band 18: Ästhetische Schriften 1771 – 1805. Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag. Hier: S. 1119. 30 Vgl. den Kommentar zu Johann Wolfgang Goethe (1997) – Das erste Weimarer Jahrzehnt, 692. 31 Vgl. Neumann, Gerhard (1996): Der Blick des Anderen. Zum Motiv des Hundes und des Affen in der Literatur. In: Jahrbuch der deutschen Schiller-­Gesellschaft (XL), S.  87 – 122. 32 Dass der geeignete Umgang für Ottilie vielleicht allein ein Engel sein könnte, stellten auch schon die ersten Rezipienten Goethes Romans fest: Rudolf Abeken betont in einem Brief über Goethes Wahlverwandtschaften die Erniedrigung, die allein die Nähe zu einem Affen für die Menschen bedeutet: „Es ist nicht ohne Bedeutung, daß Luciane die Affen so liebt, und dieser Zug macht uns auf eine neue Verwandtschaft aufmerksam, die in dem r­ eichen Buche uns dargelegt wird. Denn wie ­dieses mit eigener Lust und schöner Begeisterung die fernsten Grenzen berührt und vor die Seele bringt, w ­ elche der Mensch erreichen kann, so zeigt es auch im Contraste, w ­ elche niedrige Neigungen und Ähn­lichkeiten selbst den gebildeten Menschen unter seine Sphäre hinabziehen können. Luciane ergötzt sich an Affen und vergleicht sie mit Menschen, während Ottilie Engel malt und selbst ein Engel wird in dieser Umgebung.“ [Erschienen anonym im „Morgenblatt für gebildete Stände“, am 22., 23. und 24. Januar 1810]. (Zit. nach Goethe 1996 (Die Wahlverwandtschaften – Kommentar), 647 f.).

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offenbar nicht aus dem stoff­lich Vorhandenen heraus erklären lässt und dass die Naturgeschichte als seine Geschichte eher Schmach als neutrale Beschreibung ist. Die „zirkuläre Bestimmung des Menschen als Subjekt des Wissens vom Menschen“ markiert dabei eine Tradi­tion,33 die erst in den Kämpfen um die „Animalisierung des Menschen“ im Zuge der Darwin-­Rezep­tion 34 aufgelockert werden konnte. Mit der Unterordnung der Naturgeschichte unter eine ‚eigent­liche‘ Geschichte der Menschheit wird unterschlagen, dass die Beschäftigung mit „Würmern und Käfern“ und auch mit dem Zwischenkieferknochen als einem Teil des Affen, der viel weniger prononciert ist als sein Gesicht, durchaus im Zentrum von Goethes Interesse stand. Die Beschäftigung mit der Physis bildete neben der Philosophie einen anderen Ausgangspunkt seiner Anthropologie; darin hat ihm schließ­lich Ernst Haeckel Recht gegeben, der Goethe zwar als Universalgenie, aber eben vor allem als Naturforscher behandelte. Durch die Episode in den Wahlverwandtschaften wird schließ­lich die Medialisierung des Affen auf dem Seziertisch und als Knochenbzw. Schädelexponat akzentuiert. Seine Einschließung in eine bestimmte Funk­tion in ästhetischen und normativen Ordnungen ist hier exemplarisch verdichtet. Die phy­sische Anthropologie und die philosophische Anthropologie, die sich ihrer bedienen, legen sich ihr totes (Affen-)Material zurecht, indem sie es sezieren, um im Anschluss Konstruk­tionen zu schaffen, die Mensch oder Affe heißen können. Das Verhältnis von Menschen und Affen wird in der Vorgeschichte der Darwin-­ Rezep­tion größtenteils bereits materialistisch gedacht: Das Wissen darüber wird durch Sek­tionen gewonnen. Dementsprechend besteht eine gewisse Kontinuität z­ wischen den Verfahren und Ansätzen der Forscher der prä-­darwinschen Ära und solcher, die Evolu­tionstheorien bereits rezipierten. Diese Bemerkung verstärkt die eingangs formulierte These, dass sich das Erscheinen von Über die Entstehung der Arten nur dann als Zäsur verstehen lässt, wenn damit nicht ein Bruch oder das blitzartige Einfahren neuer Erkenntnisse gemeint ist, sondern die Entstehung eines neuen Referenzrahmens für die „normale Wissenschaft“,35 der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits Teil von Institu­ tionalisierungsprozessen war.

33 Pethes, Nicolas (2011): Anthropomorpha in Europa. Kulturen des Vergleichs von Menschen und Affen in Naturgeschichte und Populärliteratur der Aufklärung. (Christianus E. Hoppius, Carl Friedrich Benkowitz). In: Michael Eggers (Hg.): Von Ähn­lichkeiten und Unterschieden. Vergleich, Analogie und Klassifika­tion in Wissenschaft und Literatur (18./19. Jahrhundert). Heidelberg: Universitätsverlag Winter, S. 201 – 222. Hier: S. 207. Pethes nennt in ­diesem Zusammenhang Christian Hoppius, dessen Disserta­tionsschrift sich mit „Menschenthieren“ auseinandersetzt, die in jeder Hinsicht dem Menschen gleichen, jedoch durch ihre fehlende Fähigkeit dazu, die „Wunder der Schöpfung als s­ olche zu erkennen“ von diesen verschieden sind (ebd. 206 f.). 34 Ebd., 204. 35 Kuhn 1991, 25.

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2. Hirn und Gesichtswinkel. „Rasse“-Diskurse in der vergleichenden Anatomie Hirn Die Anthropologie stammt von der Anatomie ab. Für die Vorgeschichte der Anthropologie, um die es hier geht, lässt sich sogar sagen: Die Anthropologie stammt von der vergleichenden Anatomie von Menschen- und Affenhirnen ab. Das erzählt unter anderem eine aus Samuel Thomas Soemmerrings (1755 – 1830) Leben kolportierte Episode. In den 1780er-­Jahren brach Soemmerring in die Kasseler Wohnung eines kurz zuvor verstorbenen schwarzen Söldners des Landgrafen Friedrich II.36 ein. Sein Plan scheint gewesen zu sein, sich die Leiche des Soldaten als Material für seine Vorlesung zu sichern; allein konnte er sie jedoch nicht abtransportieren. Deshalb trennte er den Rumpf vom Kopf und präsentierte ihn bald darauf in seiner Mainzer Antrittsvorlesung als Professor für Anatomie. „Und siehe da! Zur größten Verwunderung der Zuhörer rückte er mit einem frischen Mohrenkopfe hervor. Er fieng an, ihn zu zergliedern, und bewies end­lich, daß der Schädel eines Schwarzen, die auffallendste Ähn­lichkeit mit einem Affenschädel hätte.“37 Mög­licherweise hat Soemmerring diese Anekdote selbst lanciert. Er handelte sich damit einigen Ärger mit den Katholiken vor Ort ein, die durch sein Vorgehen das Ansehen des Caspar beschädigt sahen, also desjenigen der Heiligen Drei Könige, der seit dem 16. Jahrhundert dunkelhäutig dargestellt wird. Wie seine ­später wirkenden Kollegen hatte Soemmerring jedoch keine Schwierigkeiten damit, eine Vorlesungssensa­tion gegen Angriffe dieser Art zu verteidigen und publizierte die Ergebnisse seiner Sek­tionen 1784 in der Schrift Ueber die körper­liche Verschiedenheit des Negers vom Europäer,38 die eine Zusammenfassung seiner anatomischen Forschungen zum Thema darstellt. Aus der Schrift ist nicht genau zu ersehen, wie viele Leichen von Afrikanern Soemmerring 36 Friedrich II. kämpfte zusammen mit England im amerikanischen Bürgerkrieg und holte ab 1783 einige der ihm dort unterstellten schwarzen Soldaten nach Kassel; im Gegenzug verkaufte er auch Söldner in die Vereinigten Staaten. Doch schon seit 1771 waren Afrikaner aus dem Senegal, Guinea und den Westindischen Inseln nach Kassel gekommen und arbeiten dort hauptsäch­lich in militärischen Diensten. Ab 1772 nahm ihr Anteil in der Bevölkerung deut­ lich zu. Ihre Akzeptanz in der Bevölkerung scheint einigermaßen hoch gewesen zu sein, vor allem nach einigen Hochzeiten mit Einheimischen (vgl. den Kommentar in Soemmerring, Samuel Thomas von; Oehler-­Klein, Sigrid (1998): Über die körper­liche Verschiedenheit des Negers vom Europäer (1785). Stuttgart: G. Fischer. Hier: S. 34 f.). 37 Ebd. 259. Dort findet sich der vollständige Bericht aus dem vom Freiherrn von Knigge heraus­ gegebenen Journal aus Urfstädt, in dem die von Soemmerring vermut­lich selbst lancierte Anekdote veröffent­licht wurde. 38 Die Schrift liegt in einer hervorragenden Edi­tion von Sigrid Oehler-­Klein (s. o.) vor.

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tatsäch­lich seziert hat, es waren darunter jedoch vor allem junge Männer und mindestens ein Embryo.39 Die Schädel der von ihm sezierten Leichen präparierte er und gliederte sie in seine Sammlung ein, wo er sie auch gelegent­lich Besuchern vorführte.40 Am Ende der Schrift kommt er zu dem Urteil: „[…] daß allgemein im Durchschnitt die Neger doch in etwas näher ans Affengeschlecht, als die Europäer, grenzen.“41 Die vergleichende Untersuchung von Gehirnen, für die er großes Interesse hegte, legte für Soemmerring diesen Schluss nahe.42 Er glaubte noch an das Quantitäts­ argument,43 das besagte, dass es die Masse des Gehirns sei, die durch die Menge der darin versammelten Nerven zur geistigen Überlegenheit des Menschen selbst gegenüber den ihm ähn­lichsten Tieren beitrage: Hier [hinsicht­lich der Masse seines Gehirns, H. E.] erscheint der Mensch, der sonst nur eine Mittelcreatur unter den Thieren der Erde, in Ansehung seiner körper­lichen ­Vollkommenheiten vorstellt bey weitem als das Erste Geschöpf ! Alle Affen, ohne Unterschied, denn ich bin so glück­lich gewesen aus allen vier Geschlechtern derselben, einige selbst untersucht zu haben, muessen ihm in dieser Hinsicht nachstehen […].44

Als Anhänger der Klimatheorie nahm er weiter an, dass sich die Hirne der Afrikaner aufgrund der Hitze Afrikas nicht soweit entwickeln könnten, dass sie zu Leistungen in der Lage s­ eien, die er allein europäischen, weißen Menschen zutraute.45 Soemmerring machte das heiße Wetter für eine Degenera­tion verantwort­lich, die alle nach Afrika kommenden europäischen Individuen, auch Tiere, „zu Negern ihrer Art“ werden ließe.46 Als Fazit vermerkte er, dass diejenigen, die dauerhaft in dieser Umwelt lebten, sich in Arten transformierten, die in einer hierarchischen Systematik eine niedrigere 39 4 0 41 42

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Vgl. Soemmerring 1998, 3. Soemmerring 1998, 2. Ebd., 77. Unter seinen Schriften fällt unter anderem seine Arbeit Ueber das Organ der Seele auf, in der er nachzuweisen versuchte, dass sich d­ ieses in der Hirnhöhlenflüssigkeit des Menschen lokalisieren lasse. Der Anatom Rudolph Wagner gab Soemmerrings Schriften nach dessen Tod heraus und führte seine Arbeit ideolo­gisch fort (s. Kap. II). Zu Soemmerrings Schrift über das Seelenorgan vgl. Hagner 2008, 65 ff. Manfred Wenzel betrachtet die Schrift, die in einer von ihm besorgten Edi­tion in den Soemmerring-­Forschungen vorliegt, als Fortsetzung der Arbeit Ueber die körper­liche Verschiedenheit des Negers vom Europäer, weil das quantifizierende Verfahren, das er dort entwickelt hatte, auf die Erforschung der Seele übertragen wird (Soemmerring, Samuel Thomas von; Wenzel, Manfred; Oehler-­Klein, Sigrid (1999): Ueber das Organ der Seele (1796). Basel: Schwabe. Hier: S. 13). Vgl. Hagner 2008, 50. Soemmerring 1998, 63. Vgl. ebd., 68. Ebd., 79.

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Organisa­tionsstufe einnähmen. Als solch eine Art fasste Soemmerring auch die Affen auf. Er ging in seiner Abhandlung allerdings nicht so weit vorzuschlagen, Affen und Afrikaner innerhalb einer Art zu verorten. Er folgte in seiner Einteilung der Gattung homo ganz Linné („ich bin so glück­lich gewesen aus allen vier Geschlechtern derselben [Affen], einige selbst untersucht zu haben“). Michael Hagner schreibt, dass Soemmerrings Bedeutung „hauptsäch­lich darin [liegt], dass er das Gehirn im späten 18. Jahrhundert in den Mittelpunkt der Wissenschaften vom Menschen gerückt hat.“47 Während er damit zwar keinen entscheidenden Beitrag dazu leistete, Neues über die Taxonomie von Mensch und Affe mitzuteilen, so besteht sein hier relevanter Ansatz darin, dass er das Affenhirn als entscheidendes Vergleichsobjekt für alle Aussagen zum Menschenhirn etablierte und mit dem Begriff der Rasse verband. Dieser korrespondiert mit Versuchen, einen Begriff von Menschheit zu etablieren, der zwar alle Menschen umfassen sollte, scheinbar grundlegende Unterschiede aber nicht verwischte.48 Das bedeutet, dass dem Begriff der „Verschiedenheit“ bei der Defini­tion von „Mensch“ ein wichtiger Stellenwert zukam. Während überhaupt keine Defini­tion ohne das Aufzeigen von Verschiedenheiten auskommen kann und sich kein Begriff denken ließe, der nicht immer auch eine Differenz markiert, geht es hier darum, wie „Verschiedenheit“ insbesondere in anthropolo­gischen Dreiecken konstruiert ist. In diesen Dreiecken sollten transitive Verhältnisse gezeigt werden; beispielsweise in der Anordnung Europäer, Afrikaner und Affe. Das erwünschte Ergebnis war das Folgende: Wenn eine Verschiedenheit z­ wischen Europäer und Affe bestand, und eine ­zwischen Affe und Afrikaner, so musste auch eine z­ wischen Europäer und Afrikaner gegeben sein, und zwar derart, dass sie sich nur über den Umweg des Affen zeigen ließe. Die Diskussion der anatomischen Verschiedenheiten, so klein sie auch sein mochten und so unsicher ihr Status war, nahm einen erheb­lich größeren Raum ein als die Beschreibung anatomischer Gemeinsamkeiten. Ziel war es dabei zu verhindern, dass die Träger der Eckpunkte des anthropolo­gischen Dreiecks (Europäer/ Afrikaner/Affe) austauschbar wurden: Dies hätte andere Verwandtschaftsverhältnisse nahegelegt als diejenigen, die man zu zeigen versuchte. Um die anthropolo­gische Geometrie stabil zu erhalten, musste zudem das Verhältnis der Begriffe Rasse und Art bzw. von Rassen- und Art- Unterschieden geklärt werden, wobei die größte Schwierigkeit die Defini­tion des Artbegriffs war, der teilweise mit dem Gattungsbegriff identifiziert wurde, teilweise den Gedanken der Veränder­lichkeit der Arten beinhaltete oder diesen ausschloss.49 Diese konfligierenden Auffassungen erhielten sich sehr lange Zeit, sodass sogar Darwin nicht daran glaubte, eine „scharfe“ Bestimmung des Begriffs Art vornehmen zu können, der im Zentrum seines Lebenswerks steht.50 47 48 49 50

Hagner 2008, 86. Vgl. Stichweh 1994 und die Einleitung. Vgl. Toepfer 2011 (1), 71. Ebd., 72.

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Gesichtswinkel Antwortversuche in Sachen „Rasse“ und „Art“ stützten sich auch auf Auseinandersetzungen im Bereich der Ästhetik, auf die Soemmerring reagierte. Seine Arbeit ist durch eine Auseinandersetzung mit der Forschung Petrus Campers (1722 – 1789) gekennzeichnet. Dessen gewichtige Rolle in der Diskussion über die mög­liche Verwandtschaft z­ wischen Affen und Menschen im 18. Jahrhundert erklärt sich daraus, dass seine Texte zu d ­ iesem Thema beinahe ausschließ­lich in ästhetischer Hinsicht rezipiert wurden. Soemmerring und Camper kannten sich gut. Im Juli 1778 besuchte der damals 23-Jährige Soemmerring den renommierten Camper für einige Wochen und seit ­diesem Zeitpunkt standen sie in regelmäßigem (Brief-)Kontakt.51 Camper war Arzt, Zoologe und Anatom; sein besonderer Ehrgeiz galt der genauen zeichnerischen Erfassung seiner Untersuchungsobjekte. Schon ab den 1750er-­Jahren hatte er Affen seziert und seine Ergebnisse (zum Teil allerdings erheb­lich s­ päter) veröffent­ licht, so zum Beispiel in seiner Naturgeschichte des Orang-­Utan (1782).52 Seinen Ruhm begründete aber vor allem die Erfindung des Gesichtswinkels.53 Dieses Messverfahren sollte in erster Linie ein Hilfsmittel dazu sein, in Zeichnungen von Menschen und Tieren das Typische an deren Zügen mühelos herauszuarbeiten. Der Gesichtswinkel wird durch zwei Geraden im Profil gebildet, von denen die eine über den untersten Punkt des Kinns zum obersten Punkt des Oberkiefers führt, und die andere vom obersten Punkt des Oberkiefers über den untersten Punkt der Stirn (Abb. 2). Der Grad ­dieses Winkels ergibt sich jedoch nicht aus der Größe oder Form des Schädels, sondern aus der Posi­tion des Kiefers im Schädel.54 Camper ging 51 Vgl. Luyendijk-­Elshout, Antonie M. (1985): „Les beaux ésprits se rencontrent“. Petrus Camper und Samuel Thomas Soemmerring. In: Gunter Mann, Franz Dumont und Gabriele Wenzel-­ Nass (Hg.): Samuel Thomas Soemmerring und die Gelehrten der Goethezeit. Beiträge eines Symposions in Mainz vom 19. bis 21. Mai 1983. Stuttgart; New York: G. Fischer (Soemmerring-­ Forschungen, 1), S. 57 – 72. Hier: S. 61 ff. 52 Für diese Arbeit lag folgende Ausgabe vor: Camper, Petrus (1791): Naturgeschichte des Orang=Utan und einiger anderer Affenarten, des Africanischen Nashorns und des Rennthiers. Ins Deutsche übersetzt, und mit den neuesten Beobachtungen des Verfassers herausgegeben von F. F. M. Herbell. Mit Kupfern. Düsseldorf: Johann Christian Dänzer. Erste Auflage: 1782. 53 Zur franzö­sischen Diskussion um den Gesichtswinkel vgl. Barsanti, Giulio (1989): L’Orang-­ Outan déclassé (Pongo wurmbii Tied.). Histoire du premier singe à hauteur d’homme (1780 – 1901) et Ébauche d’une théorie de la circularité des sources. In: Claude Blanckaert, Albert Ducros und Jean-­Jacques Hublin (Hg.): Historie de l’anthropologie. Hommes, idées, moments: actes du colloque organisé par la Société d’Anthropologie de Paris les 16 et 17 Juin 1989. Rouen: Colet (Bulletins et mémoires de la Société d’Anthropologie de Paris, nouv. sér., t. 1, no 3/4), S. 67 – 104. 54 Die Wichtigkeit dieser Ansicht wird besonders bei Robert Visser betont (1990): Die Rezep­tion der Anthropologie Petrus Campers (1770 – 1850). In: Mann; Dumont – Die Natur des Menschen. S. 325 – 335. Zu Camper siehe auch Becker, Thomas (2005): Mann und Weib – schwarz

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Abb. 2: Gesichtswinkel eines geschwänzten Affen, Orang-Utan, Angolaners und Kalmücken. Radierung von Petrus Camper aus dem Jahr 1792.

Abb. 3: Gesichtswinkel bei Europäern und dem Pythischen Apoll, 1792. Radierung von Petrus Camper aus dem Jahr 1792.

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davon aus, dass ein bestimmter Winkel (mit kleinen Abweichungen) für bestimmte Schädel von Affen und Menschen typisch ist. Je stumpfer der Winkel, desto mehr gleicht das Profil laut Camper dem klas­sischen griechischen Ideal. Einen besonders spitzen Winkel maß Camper bei den von ihm abgebildeten Affen, einen besonders stumpfen bei einer Profilzeichnung des pythischen Apolls (Abb. 3).55 Campers Verwendung des pythischen Apolls als Idealporträt des Menschen setzte weniger auf eine Lehre von „Menschenrassen“, sondern offenbart vielmehr, wie stark die Anthropometrie als Verfahren der Anthropologie zu d­ iesem Zeitpunkt sowohl in ästhetischer als auch epistemischer Hinsicht noch von antiken Vorbildern zehrte.56 Camper selbst sah seine Arbeit auch als einen Beitrag zu einer Theorie der Nachahmung, die er aus seiner Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Winkelmann entwickelte, den er ab 1768 stark rezipierte.57 Camper fragte sich, wie es sein könne, dass die in der griechischen Kunst gezeigten Menschen so wenig jenen Menschen g­lichen, die man tagtäg­lich beobachten konnte und ging nun ­diesem Problem nicht innerhalb einer Wahrnehmungstheorie, sondern in einer Zeichenschule nach. Spezifische Differenzen organisch dingfest zu machen, erschien Camper nicht nur deshalb notwendig, um zur Klarheit innerhalb der biolo­gischen Systematik beizutragen, sondern auch, um die Gegenstandsbereiche von Medizin, Zoologie und Anatomie deut­lich umreißen zu können. Camper, der in allen diesen Fächern aktiv war, setzte sich ausführ­lich mit den Arbeiten des römischen Arztes Galen (2. Jhdt. n. Chr.) auseinander und ging der Frage nach, auf welcher Grundlage das Wissen vom Menschen denn nun überhaupt erzeugt wurde. Seit einschlägigen Anschuldigungen des Anatomen Andreas Vesalius galt die Frage, ob Galen zur Formulierung seiner Anatomie des Menschen ausschließ­lich Affenkörper untersucht habe, als cause célèbre.58

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und weiß. Die wissenschaft­liche Konstruk­tion von Geschlecht und Rasse 1650 – 1900. Frankfurt, New York: Campus. Hier bes.: S. 24 f. Die Karriere des Apolls als Schönheitsideal innerhalb von Rasse-­Diskursen behandelt David Bindman insbesondere anhand von Lavaters Physiognomik ausführ­lich (Bindman, David (2002): Ape to Apollo. Aesthetics and the Idea of Race in the 18th Century. London: Reak­ tion). Siehe dazu auch Person, Jutta (2005): Der pathographische Blick. Physiognomik, Atavis­ mustheorien und Kulturkritik 1870 – 1930. Würzburg: Königshausen & Neumann (Studien zur Kulturpoetik). Hier: S. 23 ff. Hier ist vor allem an Vitruv (1. Jhdt. v. Chr.) zu denken. Siehe Braunfels, Sigrid (1973): Vom Mikrokosmos zum Meter. In: dies. et al. (Hg.): Der „vermessene“ Mensch. Anthropometrie in Kunst und Wissenschaft. München: Heinz Moos Verlag, S. 43 – 74. Camper, Petrus (1792): Über den natür­lichen Unterschied der Gesichtszüge in Menschen verschiedener Gegenden und verschiedenen Alters; über das Schöne antiker Bildsäulen und geschnittener Steine, nebst einer Darstellung einer neuen Art, allerlei Menschenköpfe mit Sicherheit zu zeichnen. Nach des Verfassers Tode herausgegeben von seinem Sohne Adrian Gilles Camper. Übersetzt von S. Th. Sömmerring. Mit zehn Kupfertafeln. Berlin: Vos­sische Buchhandlung. Hier: S. IX. Die Schrift erschien ursprüng­lich 1770. Camper 1791, 121.

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Letzt­lich kam Camper zu dem Schluss, dass diese Auffassung richtig sein müsse, weil nur so erklär­lich werde, warum so viele Spezifika des menschlichen Körpers in den Schriften Galens nicht berücksichtigt worden ­seien.59 Die Konstruk­tion von Profilzeichnungen mithilfe des Gesichtswinkels sollte zu exakteren Darstellungen des Menschen und der Tiere führen. Ausgangspunkt von Campers Arbeiten waren dabei Dürers Vier Bücher von menschlicher Propor­tion von 1528, in denen er daran gearbeitet hatte, ein System zu entwickeln, mit dem eine mög­lichst große Spannbreite menschlicher Gesichtsbildungen erfasst werden konnte.60 Camper stellte seine Antwort auf diese Herausforderung erstmals 1770 in einer Rede vor der Amsterdamer Zeichenakademie vor. Während dieser Präsenta­tion fertigte ein Zuhörer namens Cornelis Ploos van Amstel eine Mitschrift und s­ päter auch eine Zusammenfassung an,61 die lange Zeit die einzige schrift­liche Grundlage für die Rezep­tion von Camper in Europa darstellte 62 und dafür sorgte, dass der Gesichtswinkel weniger als Teil einer Zeichenlehre gesehen wurde, sondern als Teil des ästhetischen Programms einer phy­sischen Anthropologie mit rassistischen Tendenzen. Van Amstels Darstellung verfälschte Campers Aussagen, wie Robert Visser gezeigt hat. So dichtete van Amstel: „[…] man würde sagen können: die Natur habe sich gleichfalls dieser Winkel bedient, alle Verschiedenheiten der Thiere zu bestimmen, und sie gleichsam Stufenweise bis zum Schönen der schönsten Menschen herauf­ steigen zu lassen.“63 Verwandtschaft besteht ­zwischen dieser Umdichtung und den Schriften von Christoph Meiners (1747 – 1810), der die Polygenese der Menschheit postulierte, sie also in zwei Urstämme aufteilte, von denen er den europäischen als „hellen und schönen“ beschrieb, und ihm den der „dunkelfarbigen und häß­lichen Völker“ gegenüberstellte.64 Meiners verzichtete im Gegensatz zu einigen Zeitgenossen 65 darauf, ­zwischen schön und häss­lich, hell und dunkel Übergänge anzunehmen; ihn 59 Camper 1791, 133. 60 Kemp 2007, 219. 61 Zitiert nach Oehler-­Klein 1998: 58. Ploos van Amstel war Gründungsmitglied und Direktor der Akademie (vgl. Meijer, Miriam Claude (1999): Race and Aesthetics in the Anthropology of Petrus Camper (1722 – 1789). Studies in the History of Ideas in the Low Countries. Amsterdam und Atlanta: Rodopi. Hier: S. 88). 62 Visser 1990, 328. 63 Zitiert nach ebd., 330. Eine Umformulierung findet sich dann bei Soemmerring: „Die von Herrn Camper erfundene Gesichtslinie setzt vollends obige Bemerkung über die Nase ausser Zweifel; nur ists sehr Schade, daß seine Zeichnungen die wirk­lich schon in Kupfer gestochen sind, hierüber der Welt blos durch folgende abgekürzte Nachricht bekannt ist [zitiert Camper]: …und man würde sagen können, die Natur habe sich gleichsam dieser Winkel bedienet, alle Verschiedenheiten der Thiere zu bestimmen, und sie gleichsam Stufenweise bis zum Schönsten der schönen Menschen hinaufsteigen zu lassen.“ (Soemmerring 1998, 5). 6 4 Meiners 1981, 29 f. 65 Vgl. Wenzel 1988, 296.

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interessierten nur die Ränder der Camper’schen Darstellungen. Deren Eigenheiten spitzte er zu: „Eine Folge der bisher angezeigten Merkmale der Neger=Bildung sind die hervorstehenden Backen=Knochen, das hervorragende Kinn, und das lange, und gleichsam ausgehöhlte Gesicht, wodurch die Neger ein von allen Reisenden bemerktes affenähn­liches Ansehen erhalten.“66 In Campers Text ist das von van Amstel überlieferte Zitat nicht zu finden. Die Mitschrift van Amstels wurde jedoch von Soemmerring und seinen Kollegen stärker rezipiert als der eigent­liche Text von Camper, der ein technisch-­instrumentelles Interesse verfolgt hatte und nicht als Verfechter einer Grada­tionsthese gelten kann.67 Dennoch legt seine Darstellung der verschiedenen Gesichtswinkel eine Sequenz nahe, die durch die Abbildung von drei Typen getaktet wird: Orang-­Utan, Afrikaner, Europäer. Die Verbindung mit der Rassenfrage der Phy­sischen Anthropologie konnte dementsprechend schwer­lich ausbleiben; zusätz­lich erschien Campers Verfahren verführerisch, weil durch sein anthropometrisches Vorgehen die Frage nach der Abgrenzung von Ethnien oder anderen biolo­gischen Gruppen einerseits ganz in den Körper verlegt wurde und sich andererseits auf eine quantitativ beschreibbare Opera­tion reduzierte. Soemmerring hatte im Jahr 1779 gemeinsam mit Lichtenberg, Blumenbach und Heinrich August Wrisberg (der Lehrer von Soemmerring in Göttingen) das Vergnügen, einer Göttinger Privatdarbietung Campers beizuwohnen, in der dieser den Kollegen seine Überlegungen zum Gesichtswinkel vorstellte. Das hinderte Soemmerring jedoch nicht daran, anstelle der Thesen von Camper die Bearbeitungen von van Amstel für seine eigenen Arbeiten zu verwerten. Soemmerring war es auch, der die 1792 erschienene Textfassung der Rede unter dem Titel Über den natür­lichen Unterschied der Gesichtszüge in Menschen verschiedener Gegenden und verschiedenen Alters; über das Schöne antiker Bildsäulen und geschnittener Steine, nebst einer Darstellung einer neuen Art, allerlei Menschenköpfe mit Sicherheit zu zeichnen übersetzte. Zu ­diesem Zeitpunkt war die Rezep­tionsgeschichte des Werks bereits die Geschichte eines Missverständnisses, dem nicht zuletzt Soemmerring Vorschub leistete. Wie alle anderen hier behandelten Autoren stützte sie sich auf die Van-­Amstel-­Mitschrift,68 die es erlaubte, Campers Lehre vom Gesichtswinkel als Anlass zu ergreifen, aus phy­ sischen Merkmalen der verschiedenen menschlichen Varietäten eine qualitative Hierar­chie von ‚Menschenrassen‘ abzuleiten. Auffällig ist jedoch, dass Camper den Begriff ‚Rasse‘ selbst gar nicht verwendete 69 und zusätz­lich an der Physiognomie des 66 Meiners 1981, 21. 67 Vgl. Meijer 1999, 94 ff. 68 Diese Rezep­tionslinie fand jedoch auch außerhalb des deutschen Sprachraums Anklang, so bei Georges Cuvier, der daraus ebenfalls ableitete, dass „Neger die niedrigste Stufe der mentalen Organisa­tion besetzten.“ (Visser 1990, 332). 69 Zum Einzug des Begriffs in die Frage nach der Klassifika­tion verschiedener Menschen siehe: Conze, Werner (1984): Rasse. In: Otto Brunner et al. (Hg.): Geschicht­liche Grundbegriffe.

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Orang-­Utans nichts Menschliches erkennen wollte.70 Ihm mag seine Abbildung als Beleg dieser persön­lichen Auffassung gegolten haben, die es erlaubte, mög­lichst ohne Sugges­tionen Affen und Menschen nebeneinander abzubilden. Seine Posi­tionierung von Affen und Menschenprofilen wurde jedoch als Sequenz gelesen, die eine Entwicklung beschreibe, die von häss­lich zu schön, von primitiv zu begabt, von geworfen zu auserwählt verlaufe. „Der Affe“ ist dabei ein Näherungsbegriff, der verhindert, dass bestimmte Menschengruppen unmittelbar zusammengedacht werden, indem er sie in einem mittelbaren (Begriffs-)Verhältnis verharren lässt. Darstellungen anderer Art waren meist Ergebnis einer umfäng­licheren Empirie, die beispielsweise Forschungsreisen einschließt.71 Darauf konnte beispielsweise Georg Forster zurückgreifen, der mit Soemmerring befreundet war und durch Berichte von seinen Forschungsreisen bestrebt war, den Blick seines Freundes und seiner Zeitgenossen für die Eigenheiten außereuropäischer Völker zu öffnen.72 Soemmerring hat allerdings Vergleiche ­zwischen verschiedenen Ethnien nur anhand von Menschen anstellen können, die sich tot auf seinem Seziertisch befanden. Aufgrund der Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Leichen fiel das Material, auf das er schließ­lich zurückgreifen konnte, recht überschaubar aus. Über eine bessere Ausgangsitua­tion verfügte in dieser Hinsicht Johann Friedrich Blumenbach (1752 – 1840), der in seiner Disserta­tionsschrift De generis varietate nativa von 177573 auf eine Sammlung

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Historisches Lexikon zur politisch-­sozialen Sprache in Deutschland. Band 5 (6). Stuttgart: Klett-­Cotta, S. 135 – 178. Hier: S. 142 ff. Für den Zusammenhang mit der Entwicklung des Art-­Begriffs vgl. Toepfer 2011 (1), 104 ff. Barsanti 1989, 69. Barsanti betont auch Campers Ablehnung jeder Abwertung der Sonderstellung des Menschen in der Natur (ebd., 81). Zu ­diesem Punkt gab es sehr verschiedene Meinungen. Rousseau hatte im Zweiten ­Diskurs frustriert in der Anmerkung X notiert: „Seit drei- oder vierhundert Jahren überfluten die Einwohner Europas die anderen Teile der Welt und veröffent­lichen sie unablässig neue Sammlungen von Reisebeschreibungen und Berichten – dennoch bin ich überzeugt, daß wir keine anderen Menschen als allein die Europäer kennen; außerdem hat es angesichts der lächer­ lichen Vorurteile, die selbst unter den Gelehrten nicht ausgestorben sind, den Anschein, daß jeder unter der hochtrabenden Bezeichnung ‚Studium des Menschen’ kaum mehr als die Menschen seines Landes studiert.“ (Rousseau 1993, 339 f.). Ein ethnografisches Programm mit naturwissenschaft­lichem Anspruch, das Rousseaus Ansprüchen genügt hätte, wäre nur von einem intellektuellen „Herkules“ wie Diderot durchzuführen gewesen (ebd., 343) und bliebe aus, da Rousseaus Kenntnis nach die Philosophie nicht auf Reisen ginge (ebd., 341). Zur Freundschaft Soemmerring–Forster siehe Dumont, Franz (1988): Naturerkenntnis – Welt­ erkenntnis. Das „Seelenbündnis“ ­zwischen Georg Forster und Samuel Thomas Soemmerring. In: Gunter Mann und Franz Dumont (Hg.): Gehirn – Nerven – Seele. Stuttgart: G. Fischer (Soemmerring-­Forschungen: Beiträge zur Naturwissenschaft und Medizin der Neuzeit/Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz), S. 381 – 440. Ich zitiere hier die deutsche Übersetzung: Blumenbach, Johann Friedrich (1798): Über die natür­lichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte. Nach der dritten Ausgabe und den

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von 80 Schädeln verweisen konnte, mit Hilfe derer er Forschungen angestellt hatte. Seine Schädelsammlung sollte im Laufe der Zeit noch wachsen und war für seine Kollegen imponierend. Soemmerring und Blumenbach korrespondierten eifrig, wenn auch nicht konfliktfrei über ihre Forschungsergebnisse,74 was unter anderem an der Art und Weise gelegen haben mag, in der der renommierte Blumenbach in seiner Schrift über die Verschiedenheiten im Menschengeschlecht Soemmerrings mühevoll konstruierte Verschiedenheiten ­zwischen Afrikanern und Europäern vom Tisch wischte: Was man aber von den Äthiopiern behauptet hat, daß sie sich den Affen mehr nähern, als die andern Menschen, das gebe ich in dem Sinne sehr gern zu, als man z. B. sagen kann, daß sich jene Race von Hausschweinen mit Hufen dem Pferde mehr nähere, als die übrigen Schweine; indeß erhellet schon daraus, daß eine ­solche relative Vergleichung im Allgemeinen doch ohne Gewicht sey, weil es auch unter den übrigen Hauptvarietäten des Menschengeschlechts keine einzige giebt, aus der nicht ebenfalls ein oder das andere Volk, und zwar von genauen Beobachtern, in Ansehung der Gesichtsbildung mit den Affen verg­lichen worden wäre; wie uns z. B. von den Lappländern, Eskimos, den Caaiguern in Südamerika und Bewohnern der Insel Mallikollo ausdrück­lich erzählt wird.75

Der Affenvergleich, der von Blumenbach hier als abgenutzt und unspezifisch kritisiert wird, entsprang seiner eigenen Systematik der Lebewesen, in der er wie Linné zweihändige und vierhändige Tiere unterschied, jedoch eine andere Sortierung vornahm: Als zweihändig galt ihm nur der Mensch, vierhändig s­ eien „Der Affe, der Pavian, die Meerkatze, der Maki (Lemur) […].“.76 Auffallend ist an dieser Beschreibung, dass Blumenbach dem Affen vier Hände zuspricht,77 mit denen sie optimal an die ihnen eigentüm­liche Lebensweise angepasst sind (klettern, Nahrung auf Bäumen sammeln). An der besonders günstigen Einrichtung des Affenkörpers bestand für ihn kein Zweifel. Wichtiger war jedoch, dass für ihn durch diese Beschreibung die grundlegende Frage nach der Zuordnung der Arten geklärt war; wie unsicher der Artbegriff vor allem hinsicht­lich des Menschen auch ihm noch erschienen ist, zeigt

Erinnerungen des Verfassers übersetzt und mit einigen Zusätzen und erlesenen Anmerkungen herausgegeben von Johann Gottfried Gruber. Leipzig: Breitkopf und Härtel. 74 Siehe Dougherty, Frank W. P. (1985): Johann Friedrich Blumenbach und Samuel Thomas Soemmerring: Eine Auseinandersetzung in anthropolo­gischer Hinsicht? In: Gunter Mann, Franz Dumont und Gabriele Wenzel-­Nass: Samuel Thomas Soemmerring und die Gelehrten der Goethezeit. Stuttgart: G. Fischer, S. 35 – 56. 75 Blumenbach 1798, 216 f. 76 Ebd., XXf. 77 Vgl. auch Bayertz, Kurt (2012): Der aufrechte Gang. Geschichte des anthropolo­gischen Denkens. München: Beck. Hier: S. 180.

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sich im folgenden Abschnitt, der sich mit verschiedenen Alleinstellungsmerkmalen gegenüber den ihm nächstverwandten Tieren beschäftigt. Dass es bei all diesen Unterscheidungsopera­tionen darum ging, den „Narzißmus der kleinen Differenzen“78 zu befriedigen, scheint Blumenbach verstanden zu haben, der am 12. Januar 1785 an Soemmerring schrieb: Und daß ihr Verstand [der Afrikaner, H. E.] ebenso culturfähig ist, als bei irgendeinem Europäer, ist durch bekannte Beispiele erwiesen. […] Die körper­liche Verschiedenheit des Mohren fällt frei­lich auf, wenn man ihn isolirt gegen einen schönen Europäer stellt; aber sie verliert ihr Auffallendes, sobald man a) die Übergänge mit zur Hülfe nimmt, wodurch am Ende doch der Neger und Weiße auf ’s unmerk­lichste gleichsam in einander schmelzen; und vollends, wenn man b) die Ausartung erwägt, die so viele andere Thiere, zumal die Hausthiere, fast unter unseren Augen erleiden.79

Das Potenzial eines organisch-­anatomischen Merkmals zur Unterscheidung von Menschen verschiedener Hautfarben und Arten wird von Blumenbach relativiert. Er erkennt Arten als veränder­lich an, zieht daraus aber nur insofern Schlüsse für die Systematik, als dass sich durch diese Veränderung eine Diversifika­tion von Arten im Raum ergibt. Das Modell der Stufenleiter, das eine einfache, theolo­gisch überformte Erklärungsmög­lichkeit für das bloße Vorhandensein von diversen Arten geliefert und zusätz­lich eine Annäherung von Affen und Afrikanern plausibilisiert hätte, lehnte Blumenbach jedoch ab.80 Dass er dennoch eine Nomenklatur der Lebewesen verfolgte, in welcher der Mensch eine Stellung einnimmt, die ihm einen großen Wert verleiht, zeigt sich an seinen Äußerungen zur einzigartigen Befähigung des Menschen zum aufrechten Gang.

78 Freud, Sigmund (1991): Das Unbehagen in der Kultur. In: Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. 14. 7. Aufl. Hg. v. Anna Freud, W. Hoffer, E. Bibring, E. Kris und O. Isakower. Unter Mitarbeit von Marie Bonaparte. Frankfurt a. M: S. Fischer, S. 419 – 506. Hier: S. 474. 79 Zitiert nach Oehler-­Klein 1998, 263. 80 Vgl. Dougherty 1985, 44. Weiterhin wird dieser Punkt von Lovejoy diskutiert, vgl. Lovejoy, Arthur O. (1985): Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Hier: S. 303. Blumenbach selbst verdeut­licht dies auch 1806 noch einmal in ­Beyträge zur Naturgeschichte, in denen er „Zur Beruhigung in einer allgemeinen Familienangelegenheit“ dem Leser rät, sich in dieser Frage an Linné, Haller und Buffon zu wenden: „Alle dreye hielten den Menschen vom Orangutang himmelweit verschieden und hingegen alle wahre Menschen, Europäer, Neger etc. für blosse Spielarten einer und ebenderselben Stammgattung.“ (ders. (1806): Beyträge zur Naturgeschichte. Erster Theil. Zweyte Ausgabe. Göttingen: ­Dieterich. Hier: S. 50).

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3. „Die Wohlanständigkeit des Körpers“81. Menschen und Affen im aufrechten Gang Kurt Bayertz hat 2012 eine Studie zum Topos des aufrechten Gangs vorgelegt, die ihn als „Sprungbrett vielfältiger anthropolo­gischer Selbstdeutungen“82 seit der Antike behandelt. Dabei betont Bayertz gleich zu Anfang die normative Komponente des Begriffs, die sich aus der doppelten Bedeutung des Wortes „aufrecht“ ergibt.83 Diese Beobachtung lässt sich auch anhand der Schriften von Blumenbach und Herder bestätigen, die sich von den hier behandelten Autoren am ausführ­lichsten mit dem Topos beschäftigt haben. Sie schrieben den aufrechten Gang allein den Menschen zu, die „Verfallenheit an die Natur“ (Horkheimer, s. o.) bekämpften sie in der Figur des Affen. Auch der Humanismus brauchte Differenzhorizonte, die zu bestimmen einen Preis hatte, der moderner Aufklärung zu hoch erscheinen mag: In humanistischer Absicht vom Menschen zu sprechen, ist kein Projekt, das in Freund­lichkeit gegenüber aller Kreatur mündet. Es mündet in einer bestimmten ethischen Haltung dem Menschen gegenüber. Die Frage danach, ob Affen zum aufrechten Gang in der Lage s­ eien, stand im Mittelpunkt anthropolo­gischen Interesses, seit Menschenaffen systematisch seziert und beschrieben wurden. Ein wesent­licher Grund bestand in den Illustra­tionen, die diese Berichte begleiteten, wie das Beispiel Edward Tysons (1650 – 1708) zeigt. Tyson führte 1698 in London eine der ersten Sek­tionen 84 eines Menschenaffen in Europa durch. Seine Untersuchung hatte unter anderem zum Ziel, zu klären, ob das Wesen auf dem Seziertisch ein bei Plinius beschriebener Pygmäe sei. Mithilfe eines negativen Befundes sollte die Naturgeschichte endgültig von der Mythologie getrennt werden.85 Der junge Schimpanse, den Tyson vor sich hatte, wurde schließ­lich als „Orang-­Outang“ tituliert.86 Da Tyson den „Orang-­Outang“ nur als Leiche hatte untersuchen können, 81 Herder, Johann Gottfried (1967): Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Erster und zweiter Teil. 1784. 1785. In: Sämt­liche Werke, XIII. Hg. v. Bernhard Suphan. Hier: S. 161. 82 Bayertz 2012, 7. 83 Vgl. ebd. 84 Nicolaes Tulps Observa­tiones medicae von 1641 liefert ebenfalls eine wissenschaft­liche Beschreibung der Sek­tion eines Orang-­Utans, die die Ähn­lichkeiten des Affen mit dem Menschen betont. Tulp beschrieb den Orang jedoch als vierfüßig (vgl. Spencer 1995, 15). 85 Siehe dazu auch Spencer, Frank (1986): Ecce homo. An Annotated Bibliographic History of Physical Anthropology. New York: Greenwood Press (Bibliographies and Indexes in Anthropology, 2). Hier: S. 57. 86 Tysons Schrift heißt im Volltitel Orang-­outang, Sive Homo Silvestris: or, The anatomy with a pygmie compared with that of a monkey, an ape and a man. To which is added, a philological essay concerning the pygmies, the cynocephalie, the satyrs, and sphinges of the ancients. Wherin it will appear that they are all either apes or monkeys and not men, as formerly pretended. Einen Überblick zu Tyson bietet: Montagu, Ashley (1943): Edward Tyson, M. D., F.

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blieb bei der Illustra­tion des Werks unklar, wie sich der Affe in seinem natür­lichen Habitat fortbewegte. Eine Abbildung aus dem Buch (vgl. Abb. 4) zeigt einen aufrecht gehenden Wanderer mit Stab. Diese Darstellung ähnelt älteren Abbildungen aus Bernhard von Breydenbachs Reise ins heilige Land (1483/1484) und Konrad von Gesners Naturgeschichte der Tiere von 1602.87 Frank Spencer hat angeführt, dass der Stock, den diese Affen mit sich führen, ebenso Z ­­ eichen ihrer angeschlagenen Gesundheit wie ihrer unvollkommenen Fähigkeiten zum aufrechten Gang sein könne; auf jeden Fall scheint sich Tyson unsicher über die Fortbewegungsweise seines „Orangs“ gewesen zu sein und verließ sich auf vorhandene Darstellungen.88 Da sein Werk zur vergleichenden Anatomie von Mensch und Affe jedoch über lange Zeit hinweg ein Standardwerk blieb, ist auch der Stereotyp bildende Charakter dieser Abbildung nicht zu unterschätzen. Die Arbeiten von Camper oder Blumenbach, in denen danach gefragt wird, ob Affen dazu in der Lage ­seien, sich aufrecht gehend fortzubewegen, verlassen sich letzt­lich darauf, dass ihre Leser einen „Orang-­Outang“ am Stock gehen sehen konnten. Denn Tysons Darstellung wurde vielfach aufgegriffen: Giulio B ­ arsanti hat in seiner Sammlung zum „Mensch aus den Wäldern“ eine ganze Reihe von Beispielen 89 gesammelt, anhand derer die Tradierung des Motivs vom Schimpansen als Wanderer mit dem Stab deut­lich wird.90 Auffallend ist hierbei, dass einige der gezeigten Beispiele immer wieder eine Grundfigur ‚nachäffen‘, indem sie diese exakt reproduzieren, dabei jedoch in einen anderen Hintergrund kopieren. Das gilt jedoch nicht nur für Tyson, sondern auch für den schamhaften Orang-­Utan des Nicolaes Tulp (vgl. ­dieses Kapitel weiter unten und Abb. 5). Von den vier affenähn­lichen Wesen, die auf Bildtafel II zu Linnés Abhandlung über den Thiermenschen 91 aus dem Jahr 1776 zu

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R. S., 1650 – 1708, and the Rise of Human and Comparative Anatomy in England. A Study in the History of Science. Philadelphia: The American Philosophical Society (Memoirs of the American Philosophical Society). In dem unverzichtbaren Sammelband von Corbey beschäftigen sich gleich zwei Texte explizit mit Tyson: Thijssen, J. M. M.H (1995): Reforging the Great Chain of Being: The Medieval Discussion of the Human Status of ‘Pygmies’ and its Influence on Edward Tyson. In: Corbey; Theunissen (Hg.) – Ape, Man, Apeman, S. 43 – 50 und Nash, Richard (1995): Tyson’s Pygmie: The Orang-­Outang and Augustan Satyr. In: Ebd., S. 51 – 62. Vgl. Barsanti 2009, 34 ff. Spencer, Frank (1995): Pithekos to Pithecanthropus: An Abbreviated Review of Changing Scientific Views on the Relationship of the Anthropoid Apes to homo. In: Corbey; T ­ heunissen (Hg.) – Ape, Man, Apeman S. 13 – 22. Hier: S. 15. Zu der hier ebenfalls angebotenen Darstellung von Vosmaer liegt ein Aufsatz von Hans ­Werner Ingensiep vor: ders. (2008): Der Orang-­Outan des Herrn Vosmaer. Ein aufgeklärter Menschenaffe. In: Jessica Ullrich, Friedrich Weltzien und Heike Fuhlbrügge (Hg.): Ich, das Tier. Tiere als Persön­lichkeiten der Kulturgeschichte. Berlin: Reimer, S. 225 – 238. Barsanti, Giulio (2009): L’uomo dei boschi. Piccola storia delle grandi scimmie da Aristotele a Darwin. Roma: Istituto Italiano di Antropologia. Linné, Carl (1776): Vom Thiermenschen. In: Des Ritter Carl von Linné Auserlesene Abhandlungen der Naturgeschichte, Physik und Arzneywissenschaft. Mit Kupfern. Leipzig: Adam

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Abb. 4: Abbildung eines Schimpansen („Orang-Outangs“) in Edward Tysons Orangoutang, sive, Homo sylvestris von 1699

sehen sind, gehen zwei an einem Stock. Sie erinnern sehr stark an eine Reihe bereits damals bekannter Darstellungen, auf die sich offenbar auch Linné stützen musste,92 der mit der Klassifika­tion von Affe und Mensch in einer einzigen Gattung (homo) der Abstammungsthese schon vor Einsetzen der Darwin-­Rezep­tion Zündstoff geboten hatte. Neben dieser Reproduk­tionsgeschichte der Abbildung des Wanderers mit dem Stab pflanzte sich auch das Problem fort, das zu seiner Entstehung geführt hatte. Noch im 19. Jahrhundert wurden Affen so gut wie nie in ihren angestammten Lebensräumen beobachtet, sodass es kaum mög­lich war, eine sinnvolle Verbindung ­zwischen ihrem Verhalten und ihrer physischen Erscheinung herzustellen.93

Friedrich Böhme, S. 57 – 70. Zu dieser Abhandlung siehe auch Borgards 2012d, 32 f. 92 Linné zitiert Tulp und Bont direkt, Linné 1776, 63 bzw. 66. 93 Spencer 1986, 270. Spencer bringt in seiner Bibliographie auch verschiedene Beispiele für die Übernahme von Tysons Abbildung, so zum Beispiel bei Thomas Boreman, der die Bezeichnung ‚Schimpanse‘ popularisierte und außerdem einer der ersten ist, der in einer von ihm erdachten kleinen Fabel die ungestüme Art eines Menschenaffen mit einer feinen Teegesellschaft

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Tyson war in seiner Untersuchung bemüht, anatomische Details des Schimpansen so genau wie mög­lich mitzuteilen, um sie dadurch in den Stand von spezifischen Differenzen z­ wischen Mensch und Affe erheben zu können. Allerdings „registrierte [er] 48 Ähn­lichkeiten des Orang mit dem Menschen […], dagegen nur 34 Unterschiede, die dieser mit den anderen „apes“ und „monkeys“ gemeinsam hatte.“94 Damit war zwar gezeigt, dass es sich bei Tysons „Orang“ nicht um ein Fabelwesen handelte, aber es trat ein neues Problem auf. Der „Orang“ und der Mensch unterschieden sich laut Tyson letzt­lich durch die höheren Geisteskräfte des Menschen, deren Nachweis die Grenze ­zwischen den Arten stabil halten sollte. Die Schwierigkeit, die Differenz ­zwischen Mensch und Affe allein durch anatomische Unterschiede zu erklären, brachte Tyson in seinen vergleichenden Bemerkungen zum Stimmapparat der Affen auf den Punkt: „[…] where the organ ist the same, should not the Ac­tions be the same too?“95 Die Klassifika­tionsprobleme, die sich dadurch ergaben, dass allein der Phänotyp heran­gezogen wurde, um zu spezifischen Einteilungen zu kommen, sah auch ­Blumenbach. Er wiederholte Tysons Argument und beschrieb den Menschen ebenfalls als Primat, der sich vor allem durch seine Vernunft auszeichnet und dadurch von den anderen Primaten unterscheidet. Um diesen Nachweis zu führen, bemühte Blumenbach sich darum, die tierische Seite des Affen deut­lich hervorzuheben und damit die Unterschiede zum Menschen zu betonen. Der grundsätz­liche Unterschied ­zwischen Affen und Menschen, die er nirgends in einer Gattung zusammenfasste, bestand für ihn vor allem darin, dass Affen nicht aufrecht gehen können; nur der Mensch sei dazu befähigt. Maßgeb­lich erschien ihm hierfür die „Einrichtung“ des Knochenbaus des Menschen:96 Die Länge der Schenkel im Verhältnis zu Rumpf und Armen, die besondere Stärke der Schenkel und die Zusammenfügung der Brust machten es seiner Ansicht nach unmög­lich, dass Menschen wie Tiere auf allen Vieren gehen; umgekehrt verfügten die vierfüßigen Tiere über ein längeres Brustbein oder mehr Rippen als der Mensch und könnten sich deshalb nicht aufrichten und ihre Hände frei gebrauchen.

kollidieren lässt (vgl. ebd., 81 f.). Der erste in Gefangenschaft geborene Menschenaffe, der überlebte, wurde 1915 auf Kuba geboren (vgl. Cachel 2006, 39). 94 Münch, Paul (2011): Affen und Menschen. Geschichten von Differenz, Verwandtschaft und Identität. In: Historische Anthropologie (19), S. 172 – 192. Hier: S. 181. 95 Zit. nach Montagu 1943, 288. Camper sollte sich ­später ebenfalls dieser Frage annehmen, meinte jedoch durch seine Untersuchung der Stimmorgane eines Orang-­Utans n ­ achgewiesen zu haben, dass diese nicht dazu eingerichtet ­seien, Lautsprache zu erzeugen (Camper 1791, 147 ff.) In d ­ iesem „Zweyten Hauptstück“ der Naturgeschichte des Orang-­Utans setzt sich ­Camper auch mit der Frage auseinander, ob die Affen evtl. nur deshalb nicht sprächen, weil sie sich so vor Sklavenarbeit ­schützen könnten. Dieser Punkt wird, wie die gesamte Debatte über die Sprachfähigkeit der Affen, immer wieder aufgenommen. 96 Blumenbach 1798, 22 ff.

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Kurze Zeit s­ päter wurde diese Behauptung in der franzö­sischen Forschung bestritten. Giulio Barsanti hat die Diskussion um die Untersuchung des „Pongo von Frederik von Wurmb“ nachgezeichnet, die deshalb so wichtig ist, weil sie nach Tysons Arbeit von 1699 eine der ersten wissenschaft­lichen Beschreibungen eines Primaten liefert, die sich in ihrer Ausführ­lichkeit so stark von der vorhandenen Literatur unterscheidet, dass einige Zeit der hier beschriebene Affe als eigene Art namens Pongo wurmbii firmierte.97 Baron von Wurmb arbeitete für die holländische Indienkompagnie in Batavia ( Jakarta)/Indonesien und hatte ein Exemplar eines erwachsenen Orangs („Pongo“) erhalten, der kurz nach der Gefangennahme getötet worden war. Étienne Geoffroy Saint-­Hilaire und Georges Cuvier untersuchten gemeinsam das Skelett eines Orang-­Utans, der 1795 über Umwege in das Muséum d’Histoire Naturelle in Paris verbracht worden war, und stellten dabei fest, dass der Orang dazu in der Lage sein müsse, sich lange Zeit aufrecht zu halten.98 Diese Haltung hätte es den Affen potenziell erlaubt, diejenigen Kulturtechniken auszuüben, in denen sich die überlegene Geistesfähigkeit der Menschen manifestieren sollte. Da Blumenbach dies nicht anerkennen wollte, ging er sogar so weit zu behaupten, dass allein der Mensch Hände habe und die äußersten Glieder der Affen diesen Namen überhaupt nicht verdienten.99 Die Bezeichnung „zweyhändiges Thier“ wird zum Qualitätsmerkmal: „der Mensch ist das weiseste unter allen Thieren, aber seine Hände sind auch Werkzeuge, wie sie einem weisen Geschöpf zukommen.“100 Ein weiterer, entscheidender Grund für die aufrechte Stellung ergibt sich für ­Blumenbach aus dem Gehirnvolumen des Menschen. Seiner Meinung nach justiert der Hauptteil des Hirngewichts den Hinterkopf so, dass es mög­lich ist, Balance auf zwei Beinen zu halten. Auch das ist den Affen laut Blumenbach versagt: „Und noch ist mir nirgends ein Beyspiel von einem Affen, oder einem anderen Säugethiere ausser dem Menschen bekannt geworden, welches wie dieser, auf beyden Füßen aufrecht stehend, das Gleichgewicht halten konnte.“101 Die Masse des Gehirns ist für Blumenbach allerdings nicht nur für den aufrechten Gang wichtig, sondern auch für die ra­tionalen Vermögen des Menschen, die das wichtigste Element seiner Vorrangstellung vor den anderen Lebewesen darstellen.102 Wie auch Soemmerring, auf dessen Text über die Verschiedenheit des Negers vom Europäer Blumenbach sich bei der Niederschrift von Über die natür­lichen Verschiedenheiten im Menschengeschlecht (1775) noch nicht 97 Vgl. Barsanti 1989, 78. 98 Vgl. ebd., 70. 99 Vgl. auch Bayertz, Kurt: Der aufrechte Gang. Ursprung der Kultur und des Denkens? Eine anthropolo­gische Debatte im Anschluß an Helvétius’ De l’Ésprit. In: Garber, Jörn und Thoma, Heinz: Zwischen Empirisierung und Konstruk­tionsleistung: Anthropologie im 18. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer, 2004, S. 59 – 75. Hier S. 63 ff. 100 Blumenbach 1798, 30. 101 Ebd., 38. 102 Vgl. ebd., 50.

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stützen konnte, geht er davon aus, dass das Zusammenspiel von Nerven und Gehirn für die Ra­tionalität eine entscheidende Rolle spielt. Vor allem die Nerven sind für ihn von großer Bedeutung, da sie die Reize senden, die die Tätigkeiten der Seele auslösen. Blumenbach geht von der Existenz eines „Empfindungstheils“ aus, das ein „Band [sei], durch welches die Verrichtungen der Nerven mit den Seelenvermögen verknüpft sind; so hatte der Mensch die größte Masse jenes edlen Empfindungsteils erhalten.“103 Die Empfindsamkeit des Menschen, die es ihm neben der Vernunft ermög­licht, sich optimal an seine Umwelt anzupassen, schien Blumenbach dementsprechend ebenso wie der aufrechte Gang durch die organische Einrichtung des Menschen begründet. Es finden sich neben diesen Informa­tionen über das „Empfindungstheil“ in seinem Text keine gesonderten Abschnitte über die emo­tionalen Vermögen des Menschen und überhaupt keine Erwähnung dieser Vermögen bei Tieren. Animalität wird hier als ein nicht näher bestimmter Zustand eingeführt, als eine Stumpfheit, in der auch die Affen verharren. Diese Auffassung ändert sich grundlegend erst mit Darwin,104 der nun den Menschen sachte animalisiert und dazu das Empfindungs­vermögen heranzieht, das Menschen mit ihren liebsten Haustieren, aber auch mit den Affen teilen.105 Während Blumenbach den aufrechten Gang des Menschen vorrangig als Ausdruck der phy­sischen Organisa­tion betrachtete, die wiederum die ra­tionalen und emo­tionalen Vermögen maßgeb­lich begünstigt, beschäftigte zur gleichen Zeit Johann Gottfried Herder (1744 – 1803) die Frage nach dem aufrechten Gang als Z ­­ eichen der gött­lichen Auserwählung des Menschen, der bei ihm im Mittelpunkt eines „grandiose[n] Weltpanorama[s]“ steht:106 Mütter­lich bot sie [die Natur] ihrem letzten künst­lichen Geschöpf die Hand und sprach: „Steh auf von der Erde! Dir selbst überlassen, warest du Thier wie andre Thiere; aber durch meine besondere Huld und Liebe gehe aufrecht und werde der Gott der Thiere.“ Lasset uns bei ­diesem heiligen Kunstwerk, der Wohlthat, durch die unser Geschlecht ein Menschengeschlecht ward, mit dankbarem Blick verweilen; mit Verwunderung werden wir sehen, ­welche neue Organisa­ tion von Kräften in der aufrechten Gestalt der Menschheit anfange und wie allein durch sie der Mensch ein Mensch ward.107

103 Blumenbach 1798, 43. 104 Trotz anderer Darstellungen bspw. in der Mitleidsethik Schopenhauers, s. dazu das Kapitel IV/Gabriel von Max. 105 Darwin, Charles (2009a): Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren. In: ders.: Gesammelte Werke. Frankfurt/M.: Zweitausendeins, S. 1163 – 1370. Vgl. auch das Kapitel zum „Lachenden Affen“ bei Voss 2007. 106 Bayertz 2012, 207. Bayertz weist an dieser Stelle auch darauf hin, dass sich in Herders Schrift Älteste Urkunde des Menschengeschlechts noch keine Hinweise auf die „Schlüsselrolle“ des aufrechten Gangs für die Konzep­tion der Menschheit als gebenedeite Art unter den Arten findet. 107 Herder 1967 XIII, 114.

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Diese euphorische Betrachtungsweise des aufrechten Ganges ist eine Neuerung Herders, der mit der Tradi­tion ­dieses Topos durchaus vertraut war. In seiner Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts (1776) hatte er noch nament­lich Rousseau, Moscati, Robinet, Helvétius und Diderot kritisiert, die die herausragende Bedeutung der Freihändigkeit durch den aufrechten Gang für die Vernunft des Menschen herausstellten. Wichtiger als die Debatte über die biologisch richtige Klassifika­tion schien Herder, dass man die Auserwählung des Menschen anerkennen müsse, die nach seinem Dafürhalten die genannten Autoren nicht genug betonten.108 Während Rousseau noch darüber geklagt hatte, dass die vergleichende Anatomie noch keine ausreichende Kenntnis des Menschen habe,109 störte sich Herder daran, diese aus einem Wissen zu extrapolieren, das vornehm­lich mit Hilfe von Sek­tionsberichten generiert worden war. Neben materialistischen Tendenzen irritierte Herder, dass in seinen Augen Autoren wie Moscati überhaupt bereit waren, die Herr­lichkeit des Menschen abzuwerten: Moscati vermutete, der Mensch habe den aufrechten Gang durch Zufall erlernt; die folgenden Genera­tionen hätten die vorangehenden stets nachgeahmt und so den aufrechten Gang als Fortbewegungsform etabliert.110 Damit wird aus dem aufrechten Gang erstmals ein Gegenstand der Kulturgeschichte des Menschen, die ledig­lich durch bestimmte Details aus der Naturgeschichte (nament­lich die osteo­lo­gische Entwicklung des Menschen) begünstigt wird.111 Abgesehen von einer theo­lo­gisch motivierten Ablehnung kontingenter Entwicklungen in der Geschichte der Menschheit wird bei Herder der Aspekt der Nachahmung Anstoß erregt haben. Die „bloße Nachahmung“, das Nachäffen, erschien auch ihm immer als Praxis, die ganz ohne eigene Vernunftleistung auskommt und damit eine Vernachlässigung des allein dem Menschen eigenen Potenzial bedeutete. Moscati berichtete weiterhin von den schäd­lichen Auswirkungen des aufrechten Ganges auf den Menschen und von Krankheiten, die vierfüßige Tiere im Gegensatz zum zweifüßigen Menschen nicht erlitten. Das zivilisa­tionskritische Moment d­ ieser These stellt eine Abwandlung Rousseau’schen Denkens dar, dem Herder kritisch gegenüberstand. Überhaupt schien ihm jede Anthropologie unannehmbar, die geeignet schien, dem Menschen seine Besonderheit abzusprechen. Herder ging dabei so weit, selbst s­ olche Gedankenexperimente abzulehnen, in denen die tierischen Anteile

108 Vgl. Bayertz 2004, 67. 109 Vgl. Rousseau, Jean-­Jacques (1993): Diskurs über die Ungleichheit. 3. Aufl. Hg. v. Heinrich Meier. Paderborn: Schöningh (UTB, 725). 1993, 75. 110 Der Anatom Pietro Moscati (1739 – 1824) hatte sich 1770 dazu ausgesprochen: Delle corporee differenze essenziali che passano fra la struttura de’bruti, e la umana. Discorso academico letto nel teatro anatomico della Regia Universita di Pavia. Kant rezensierte das Buch, stimmte den Thesen teilweise zu, meinte jedoch, dass die aufrechte Stellung des Menschen vor allem Ergebnis der Anpassung an seine Umwelt sei (vgl. Spencer 1986, 103). 111 Vgl. Bayertz 2012, 203.

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des Menschen eine Dominanz erhielten und sich der Mensch zu einem vierfüßigen Lebewesen entwickelt: Nun könnte ich auch den häß­lichen Traum ausmahlen, was aus der Menschheit hätte werden ­müssen, wenn sie zu d­ iesem Loose verdammt, in einem vierfüßigen Mutterleibe zu einem Th ­ ierfötus gebildet wäre: w ­ elche Kräfte sich damit hätten stärken und schwächen, welches der Gang der Menschenthiere, ihre Erziehung, ihre Lebensart, ihr Gliederbau hätte seyn müssen? u. s. f. Aber fliehe unseliges und abscheu­liches Bild; häß­liche Unnatur des natür­lichen Menschen. Du bist weder in der Natur da; noch sollst du durch einen Strich meiner Farben vorgestellt werden.112

Herder setzte seine Beschäftigung mit dem aufrechten Gang auch nach 1784 fort, für spätere Auflagen der Ideen verhandelte er diese Frage auch mit Kollegen. Er stand in Briefkontakt mit Soemmerring, der allerdings wie Blumenbach nicht recht damit einverstanden war, wie Herder zu seinen Schlüssen kam: Herders entwickelte seinen Begriff vom Menschen antimaterialistisch, auch wenn er nicht darauf verzichtete, vorliegende naturwissenschaft­liche Forschung zum Thema zu rezipieren. Herder fand in Soemmerrings Arbeit Informa­tionen, die ihn in seiner Haltung zum aufrechten Gang des Menschen unterstützten und schrieb dem Kollegen: „Ihre kleine Abhandlung [Die Verschiedenheit] ist gülden, und die bestätigende Anmerkung von der Veränderung des ganzen Kopfbaues nach der Stellung auf dem Rückgrad ist mir viel werth.“113 Mit der Blumenbach’schen Forschung zusammengenommen konnte Herder nun den aufrechten Gang als Kriterium für das Mensch-­Sein überhaupt bestätigen. Der Vorteil dieses Kriteriums war einerseits, dass es vergleichsweise leicht zu bestimmen schien, eine materiell überprüfbare Grundlage hatte und den Fokus der Frage nach den Artgrenzen vom Gesicht weglenkte. Dieses musste immer erst durch Zuschreibung mit ‚Tiercharakter’ ausgestattet werden: [Der Affe blieb] immer nur ein Thier, so Menschenähn­lich er übrigens seyn mochte. Um uns zu ­diesem Schluß vorzubereiten: so lasset uns an Menschengesichter denken, die auch nur in der weitesten Ferne ans Thier zu grenzen scheinen. Was macht sie thierisch? Was gibt ihnen diesen entehrenden Anblick?114

Anhaltspunkte liefern die Affenporträts, an denen sich in den Wahlverwandtschaften Luciane erfreut und die zu Ottilies Anweisung führen, dass das Studium der Menschheit der Mensch bleiben müsse, damit dieser sich nicht in der Figur des Affen wiedererkenne und sein Gottesähn­lichkeit darüber vergesse. Die Heilige verkündet einen Menschen, der gereinigt von seinen Trieben nicht mehr von der Last der Natur 1 12 Herder 1967 XIII, 112. 113 Im Kommentar zu Soemmerring 1998, 139 f. 114 Herder 1967 XIII, 119.

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heruntergedrückt wird. So steht es bei Herder, bei dem zwar die Natur in der Lage ist, den Menschen gottgleich zu machen, aber damit gleichzeitig immer auch Herrschaftssytem ist, in dem es eben auch diejenigen gibt, die Sklaven zu sein haben, da sie nicht frei von der „Nothdurft“ der Natur sind: Das Thier ist nur ein gebückter Sklave; wenn gleich einige edlere derselben ihr Haupt empor heben oder wenigstens mit vorgerecktem Halse sich nach Freiheit sehnen. Ihre noch nicht zur Vernunft gereifte Seele muss nothdürftigen Trieben dienen und in ­diesem Dienst sich erst zum eigenen Gebrauch der Sinne und Neigungen von fern bereiten. Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung; er steht aufrecht.115

4. Perfektibilität, Nachahmung, Geschlecht Der Mensch hingegen zeichnet sich laut Herder nicht nur durch seine überlegene Physis und seine Fähigkeit zum aufrechten Gang aus, sondern auch durch seinen Drang zur Vervollkommnung.116 Um diesen zu akzentuieren, zog Herder wiederum als Vergleichswesen den Affen heran. Die Deutungshoheit über die spezifische Differenz entwendete Herder allerdings dem Zugriff seiner Brieffreunde und Kollegen, indem er sie in die Seele verlegte, für ­welche sich, mit Ausnahme Soemmerrings, die meisten Autoren nicht zuständig fühlten. Bayertz hat angemerkt, dass Herder damit auf ein „strukturelles Problem“ in der philosophischen Anthropologie der Neuzeit reagierte, die gegen eine anatomisch informierte Anthropologie antrat, die sich ihre Empirie mit dem Messer verschaffte: „Auf dem Seziertisch der Anatomen verflüchtigten sich die Unterschiede ­zwischen Mensch und Tier bis zur Unkennt­lichkeit.“117 Besonders die äußeren Ähn­lichkeiten des Affen mit dem Menschen schienen zu groß, als dass sie dazu taugten, eine spezifische Differenz zu markieren. Eine Fähigkeit oder einen Trieb zu definieren, die diese Anforderung erfüllen könnten, schien vielversprechender: Beide waren zwar grob zu lokalisieren (in der Seele, im Hirn), aber nicht so einfach auf eine bestimmte, mög­licherweise schnöde Materie zu reduzieren. Hervorgehoben wird bei Herder die Fähigkeit des menschlichen Hirns zur Prozessierung von Eindrücken, die den Menschen in die Lage versetze, sich Fremdes zu eigen zu machen und mit eigenen Einfällen das bloße Nachäffen zu vermeiden. 1 15 Herder 1967 XIII, 146. 116 Zum Begriff ‚Perfektibilität‘ und seiner Bedeutung für die Konzep­tion einer systematischen Ordnung der Natur als Schöpfung siehe u. a. Lovejoy 1985, 328 ff. und Hornig, Gottfried (1989): Art.: Perfektibilität. In: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 7. 12 Bände. Darmstadt: Wissenschaft­liche Buchgesellschaft, S.  238 – 244. 117 Bayertz 2012, 214.

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Die äußere und innere Ähn­lichkeit des Menschen mit dem Affen täuscht darüber hinweg, dass dieser zu einem entscheidenden Schritt nicht in der Lage ist: Er [der Affe] ahmt alles nach und muß also zu tausend Combina­tionen sinn­licher Ideen in ­seinem Gehirn geschickt seyn, deren kein Thier fähig ist […]: er will sich vervollkommnen. Aber er kann nicht: die Thür ist zugeschlagen. Die Verknüpfung fremder Ideen zu den Seinen und gleichsam die Besitznehmung des Nachgeahmten ist seinem Gehirn unmög­lich.118

Dieser letzte Punkt gilt insbesondere für die Frage der Sprachfähigkeit des Menschen, die Herder schon seit seiner Schrift über den Sprachursprung (1772)119 beschäftigt hatte. Bei dem Vergleich ­zwischen Mensch und Affe kam er darauf zurück; hier spielte insbesondere die Begrenztheit der äffischen Nachahmung eine wichtige Rolle. Herder behauptete, dass Affen durchaus in der Lage ­seien, die Inhalte menschlicher Rede zu begreifen, ihr Nachahmungsvermögen reiche aber letzt­lich nicht einmal dazu aus, sich mit Menschen pantomimisch zu verständigen.120 Sie ­seien nicht dazu in der Lage, die elementarsten Gesten der menschlichen Verständigung aufzugreifen, auch wenn die Verständigung über die Nachbildung und den Austausch von Begriffen in Gang gebracht werde. Die Bedeutung der Begriffsbildung für das Entstehen der Vernunft stellt bei Herder die unumgäng­liche Voraussetzung dafür dar, dass sich der Mensch von seinen tierischen Anteilen lösen kann, wie seine Bemerkungen zum Sprachvermögen von Gehörlosen zeigt: Das Beispiel der Taub- und Stummgeborenen zeigt, wie wenig der Mensch auch mitten unter Menschen ohne Sprache zu Ideen der Vernunft gelange und in welcher thierischen Wildheit alle seine Triebe bleiben. Er ahmt nach was sein Auge sieht, Gutes und Böses; und er ahmt es schlechter als der Affe nach, weil das innere Kriterium der Unterscheidung, ja selbst die Sympathie mit seinem Geschlecht ihm fehlet.121

Das anthropolo­gische Dreieck, mit dem Herder hier arbeitet, konstelliert Menschen (Hörende), Gehörlose („Taubstumme“) und Affen, um die Fähigkeit zur Begriffsbildung als Kriterium für das Menschsein einzuführen. Diese wird mit der Vervollkommungsfähigkeit verschaltet, die letzt­lich selbst weniger die Mög­lichkeit einer bestimmten Attribuierung (das ist ein Mensch, das ist ein Affe) eröffnet, als dass sie Ausdruck eines Anähn­lichungsprozesses ist, in dem sich der Mensch seinem gött­lichen Vorbild nähert. Der Affe tritt hier als ein Tier auf, das in eine Bittstellerposi­tion gedrängt 1 18 Herder 1967 XIII, 115 f. 119 Herder, Johann Gottfried (1967): Sämt­liche Werke. Band V. Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Herausgegeben von Bernhard Suphan. Hildesheim: Georg Olms Verlagbuchhandlung. 120 Herder 1967 XIII, 116. 121 Ebd., 145.

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wird, als stünde es an der Grenze zu einem Reich, das ihm kein Asyl gewähren will. Stillschweigend schreibt Herder ihm damit Inten­tionalität zu (der Affe „will sich vervollkommnen“) und geht damit viel weiter als manch anderer Autor. Bezeichnend ist an ­diesem Punkt jedoch, dass daraus keine Folgen gezogen werden, die zu einer Aufwertung des Status des Affen führen. Vielmehr erwächst daraus eine mimetische Bedrohung, wie sie ihren Ausdruck in den Wahlverwandtschaften im Tagebuch­eintrag Ottiliens findet, der einen körper­lichen Widerwillen gegen jede Anähn­lichung zum Ausdruck bringt. Mit dem Hinweis auf die Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen folgte H ­ erder Rousseau, für den er in jungen Jahren eine Verehrung hegte, die er s­ päter ablegte.122 Auch Rousseau hatte sich auf die Fähigkeit der Vervollkommung gestützt, um eine Eigenschaft benennen zu können, die nur dem Menschen zu eigen sei: „Wie dem auch sei, es ist gut nachgewiesen, daß der Affe keine Varietät des Menschen ist, nicht nur, weil man sicher ist, daß seine Art nicht die Fähigkeit hat, sich zu vervollkommnen, die das spezifische Charakteristikum der menschlichen Art ist.“123 Für Rousseau war damit das Hauptproblem noch nicht gelöst. Weder klärte sich dadurch, wie der Mensch im Naturzustand beschaffen war, noch ergab sich daraus, wie der Natur­zustand mit der zeitgenös­sischen Ungleichheit der Menschen zusammenhing. Herder hingegen gewann durch das Charakteristikum der Perfektibilität für sein Argument einiges, da zunächst festgestellt werden konnte, dass alle Menschen gleichermaßen über Perfek­tibilität verfügen. Als das wichtigste, auszeichnende Merkmal des Menschen, das alle Klassen, Ethnien und Geschlechter verbindet, hatte es somit einen stark egalisierenden Charakter. Dementsprechend stellte sich Herder die „Menschheit“ nicht als Stufenleiter vor, auf der Individuen mit einem bestimmten Genotyp als Zwischenglied von Affe und Mensch benötigt werden.124 Ebenso waren Deutungen ausgeschlossen, in denen der Affe das Zwischenglied z­ wischen Mensch und Tier repräsentierte. Wie Blumenbach nahm er zwei völlig unverbundene Sphären ­zwischen Menschen und Tieren an und schloss aus, dass Menschen und Affen zu einer Gattung gehören.125 Unteilbar ist bei ihm jedoch das Menschengeschlecht, das er monogenetisch konzipiert: 122 Nübel, Birgit (1996): Zum Verhältnis von ‚Kultur‘ und ‚Na­tion‘ bei Rousseau und Herder. In: Regine Otto: Na­tionen und Kulturen. Zum 250. Geburtstag Johann Gottfried Herders. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 97 – 111. Hier: S. 100. 123 Rousseau 1993, 335. 124 Vgl. auch Wenzel 1990, 154. 125 Auch in d ­ iesem Punkt ging Rousseau wesent­lich weiter. Für ihn war es denkbar und von Interesse, dass Menschen und Affen sogar zu einer Art gehören könnten. Im Zweiten Diskurs diskutiert er in der Anmerkung X von daher sogar Kreuzungsexperimente, die ihm allerdings zu gewagt erscheinen: „Es gäbe jedoch ein Mittel, durch das sich, falls der Orang-­Utan oder andere der menschlichen Art zugehörte, die krudesten Beobachter sogar anhand eines augenfälligen Nachweises hierüber Gewißheit verschaffen könnten; aber abgesehen davon, daß eine einzige Genera­tion für ­dieses Experiment nicht ausreichte, muß es als undurchführbar

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Wahr­lich der Affe und Mensch sind nie Ein’ und dieselbe Gattung gewesen und ich wünschte jeden kleinen Rest der Sage berichtigt, daß sie irgendwo auf der Erde in gewöhn­licher fruchtbarer Gemeinschaft leben. Jedem Geschlecht hat die Natur genug gethan und sein eignes Erbe gegeben. Den Affen hat sie in soviel Gattungen und Spielarten vertheilt und diese so weit verbreitet, als sie verbreiten konnte; Du aber Mensch, ehre dich selbst. Weder der Pongo, noch der longimanus ist dein Bruder; aber wohl der Amerikaner, der Neger. Ihn also sollst du nicht unterdrücken, nicht morden, nicht stehlen: denn er ist ein Mensch, wie du bist; mit dem Affen darfst du keine Brüderschaft eingehen.126

Während die Menschheit bei Herder immer schon in der Person des einzelnen Menschen gegeben war („Du, aber Mensch, ehre dich selbst“), finden sich bei anderen Autoren gegenläufige Konzepte. Die biolo­gische Einheit der Menschheit wurde zur gleichen Zeit massiv bestritten, so beispielsweise bei dem Göttinger Hochschullehrer Christoph Meiners, der „Menschenrassen“ analog zu Tierarten konzipieren wollte.127 Der Begriff der „Rasse“ leitete sich bei ihm aus der Beschaffenheit des menschlichen Körpers ab, wodurch sich für ihn ein neues Geschichtsverständnis ergab: „In soferne der Mensch durch seinen Körper ein Gegenstand der Geschichte wird, ist er bisher von Geschichtsforschern, und Geschichtsschreibern fast ganz vernachlässigt worden.“128 Die phy­sische Anthropologie promovierte er so zur wichtigsten Hilfswissenschaft der Geschichte, gleichzeitig wurde implizit die Genealogie der „Rassen“ zum Hauptnarrativ der Geschichte. Dabei war ihm stark daran gelegen, die „Rassen“ so zu beschreiben, angesehen werden, weil das, was nur eine Annahme ist, als wahr nachgewiesen sein müßte, bevor der Versuch, der die Tatsache bestätigen sollte, frei von Schuld gewagt werden könnte.“ (Rousseau 1993, 337). 126 Herder 1967 XIII, 257. Die „antidiskriminatorische Politik“, die bei Herder angelegt ist, wurde schließ­lich von Friedrich Tiedemann in einer Art Gegenschrift zu Sömmerings Über die Verschiedenheit des Negers vom Europäer weiter ausgebaut. 1837 legte der Anatom Das Hirn des Negers mit dem des Europäers und dem Orang-­Outang verg­lichen vor (Heidelberg: K. Winter). Sein Programm hat Roland Borgards treffend als „Wendung des ethnographischen Blicks“ beschrieben, mit dem er das Projekt von Sömmerring gleichermaßen umdreht: „zunächst im Sinne einer epistemolo­gischen Fundamentalie (Humanwissenschaft ist Ethnographie), sodann im Sinne eines argumentativen Arrangements (das europäische Subjekt wird zum ureinwohnenden Objekt der Wissenschaft), und schließ­lich im Sinne der ethnozoographischen ­Rochade ­zwischen Affe und Mensch (am vergleichenden Blick auf den Orang-­Utan wendet sich der Blick zurück auf den Europäer).“ (Borgards, Roland (2012a): Der Affe als Mensch und der Europäer als Ureinwohner. Ethnozoographie um 1800 (Cornelis de Pauw, Wilhelm Hauff, Friedrich Tiedemann). In: David E. Wellbery und Alexander von Bormann (Hg.): Kultur-­ Schreiben als romantisches Projekt. Romantische Ethnographie im Spannungsfeld ­zwischen Imagina­tion und Wissenschaft. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 17 – 42. Hier: S. 39). 127 Meiners 1790, 14 f. 128 Meiners, Christoph (1981): Grundriß der Geschichte der Menschheit. Reprint der zweiten Auflage von 1793. Königstein: Scriptor Reprints (Sammlung des 18. Jahrhunderts). Hier: S. 14.

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dass sich anstelle eines anthropolo­gischen Dreiecks ein anthro­poides Dreieck ergab, aus dem weiße Menschen ganz ausgeschlossen waren. In ­diesem Dreieck sind Affen, Afrikaner und Affenmenschen oder Nachäffer versammelt und wechselseitig aufeinander bezogen: Am glück­lichsten sind sie im Nachäffen von Geberden und Stellungen, wobey ihnen ihre affenartige Beweg­lichkeit zu Hülfe kommt. Der König Dahome hat eine Wache von vierzig sogenannten Affen=Menschen, die 3 höchstens 3 ½ hoch Fuß, mit Affen=Fellen bedeckt, und in allen Sprüngen und Possen der Affen so erfahren sind, daß man bey ihrem Anblick ungewiß wird, ob man Affen, oder Nachäffer von Affen vor sich sieht.129

Die Etablierung d­ ieses anthropoiden Dreiecks als eigene mimetische Ordnung ließ ihn auch zu dem Schluss kommen, dass die darin einsortierten Wesen durchaus als Sklaven dienen könnten.130 Diese Auffassung verfolgt neben einem ökonomischen Interesse jedoch eine weitere Agenda. Sie soll nach der Feststellung der Genealogie der verschiedenen „Rassen“ dazu dienen, eine Vermischung dieser Ordnungen zu verhindern. Ziel ist es dabei auch zu verhindern, dass sich die mühevoll als von allen anderen getrennte Gattung der weißen, europäischen Menschen an die tierische Ordnung annähert, was am leichtesten durch ein Nachäffen geschehen kann, wie es Meiners bei den afrika­ nischen Völkern, von denen er gelesen hat, an der Tagesordnung zu sei scheint. Meiners protoeugenische Haltung ist dabei jedoch nicht nur durch einen rassis­ tischen Antrieb zu erklären, sondern befriedigte auch einen gewissen Voyeurismus. Das (Sexual-)verhalten von „Affenmenschen“ innerhalb eines als wissenschaft­lich ausgeflaggten Textes zu verhandeln erlaubte es, Sexualpraktiken und -verhalten zu beschreiben, die ansonsten in ganz anderen Genres beheimatet sind. Meiners musste sich auf Wissen zweiter Hand verlassen, seine wichtigsten Quellen sind Reiseberichte, deren Zuverlässigkeit auch Zeitgenossen problematisierten:131 Seine Anthropologie erzählt die Geschichte der Menschheit per stiller Post. Als Quellen für das skandalöse Sexualverhalten der Afrikaner gibt Meiners dabei „die wichtigsten und glaubwürdigsten Schriftsteller“132 an, von denen er übernimmt, dass die Afrikaner „in der Büssung ihrer Lüste […] sich vor Zeugen und selbst vor ihren Kindern ebenso wenig [scheuen], als die Thiere; und alle Neger, die aus Afrika kommen, sind mit allen Arten der unnatür­lichsten Lüste bekannt.“133 Welche Tiere er damit meint, macht 129 Meiners 1790, 42 f. 130 Ders.; Schäfer, Frank (1998): Ueber die Natur der afrikanischen Neger und die davon abhängende Befreyung, oder Einschränkung der Schwarzen (1790). 2. Aufl. Hannover: Wehrhahn. 131 Vgl. Mielke, Andreas (1993): Laokoon und die Hottentotten oder Über die Grenzen von Reise­beschreibung und Satire. Baden-­Baden: Koerner (Saecula spiritalia, 27). Hier: S. 160 132 Meiners 1790, 62. 133 Meiners 1790, 58 f.

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er schon eine Seite ­später deut­lich, wenn er schreibt, dass sich der „Mangel von Schaamhaftigkeit […] am meisten in der Befriedigung ihrer affenartigen Geilheit äußert …“134 Diese war seit den ersten Beschreibungen von Menschenaffen ein K­lischee: Bereits in Jacob Bontius’ (auch: Jakob de Bondt 1592 – 1631) posthum erschienener Natur­ geschichte Ostindiens von 1658135 findet sich die Behauptung, dass die Orang-­Utans das Produkt des Geschlechtslebens enthemmter einheimischer Frauen und Affen sei;136 eine begleitende Illustra­tion zeigt gut erkennbar die Geschlechtsteile eines Wesens, das anthropomorph und stark behaart ist. Die Darstellung und Untersuchung der Geschlechtsorgane der weib­lichen Affen nahm von Anfang an eine wichtige Rolle in der Erforschung der anthropoiden Lebewesen ein, wie Londa Schiebinger herausgearbeitet hat: Ihr zufolge war man fest davon überzeugt, allein in den anatomischen Details der Sexualorgane Unterschiede ­zwischen Affen- und Menschenfrau finden zu können.137 Eine ungeklärte Frage stellte aber auch hier der Artbegriff dar. Schon in Rousseaus Diskurs über die Ungleichheit wird von daher die Mög­lichkeit von Kreuzungsexperimenten von Menschen und Affen angedeutet, die Aufklärung darüber erbringen sollten, ob sie fruchtbare Nachkommen erzeugen könnten und somit zu einer Art gehörten.138 Letzt­lich hält er ­solche Experimente jedoch für zu heikel 139 und sichert die anthropolo­gische Differenz darüber, dass er feststellt, dass mangelnde Vervollkommnungsfähigkeit Affen vom Menschen unterscheide.140 ­Rousseau ­interessierte 134 Ebd., 59. 135 Zu Bontius und Tulp siehe auch Borgards 2012a. 136 Diese Art von Reisebericht hatte bereits Rousseau als „Chimäre“ bezeichnet, „die selbst die Neger von sich weisen“ (Rousseau 1993, 329). Die Haltbarkeit solcher Gerüchte mag an der literarischen Ausschlachtung ­dieses Themas liegen, wie es sich plastisch in Flauberts Quidquid volueris oder Edgar Allen Poes The Rue Morgue Murders zeigt: In ­Flauberts Erzählung vergewaltigt ein Affenmensch die junge Frau seines Besitzers und bringt sie s­ päter um, in dem von Poe beschriebenen Kriminalfall tötet ein entlaufener Orang-­Utan zwei junge Frauen. Beide Texte verschmelzen rassistische Ressentiments und genussvollen Horror angesichts anima­ lischer Sexualität (vgl. auch Böhme 2002b). 137 Vgl. Schiebinger, Londa (1995): Am Busen der Natur. Erkenntnis und Geschlecht in den Anfängen der Wissenschaft. Stuttgart: Klett-­Cotta. Hier: S. 141. 138 Dies galt mit Buffon als Beleg dafür, dass zwei Individuen zu einer Art gehörten. Diese Experi­ mente rückten in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts in scheinbar greifbare Nähe, Ernst Haeckel unterstützte den Evolu­tionsbiologen Hermann Moens dabei, Gelder für Kreuzungsexperimente ­zwischen Afrikanerinnen und Affen zu beantragen (Lange, Britta (2006): Echt. Unecht. Lebensecht. Menschenbilder im Umlauf. Berlin: Kulturverlag Kadmos. Hier: S. 121). Zu Rousseaus Überlegungen zu Kreuzungsversuchen siehe auch Borgards, Roland (2009b): Affenmenschen/Menschenaffen. Kreuzungsversuche bei Rousseau und Bretonne. In: Michael Gamper (Hg.): „Es ist nun einmal zum Versuch gekommen“. Göttingen: Wallstein-­Verlag (Experiment und Literatur, 1: 1580 – 1790.), S. 293 – 308. 139 Rousseau, 337. 140 Ebd., 335.

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Abb. 5: Bildnis eines „Orang-Outangs“ in Nicolaes Tulps Obersvationum medicarum, Abbildung aus der Ausgabe von 1641

sich von daher sehr stark für Reiseberichte, die von Wesen Mitteilung machten, die zwar als „Orang-­Outangs“ bezeichnet wurden, seiner Ansicht nach aber genauso gut Menschen im Naturzustand sein könnten.141 Diese Überlegungen R ­ ousseaus zeigen an, dass es bei allen Diskussionen um die Abstammungsthese und ihre Vorläufer immer auch um die Defini­tionsmacht beim Art-­Begriff geht, der seit der Antike so schwer umkämpft war, dass Ernst Mayr behauptet, moderne Artbegriffe hätten den Vorteil, dass man nun wisse, worüber man sich nicht einigen könne: „Von besonderem Interesse für den Erforscher der Ideengeschichte ist, daß die Geschichte des Artproblems zum großen Teil völlig unabhängig von der Geschichte des Klassifika­tionsproblems ist.“142 Wie man ­welche Lebewesen unterscheidet, und ­welche Folgen das hat, bleibt nicht frei von weltanschau­lichen Präferenzen.

141 Rousseau 1993, 327 f. 142 Mayr 2002, 202. Zur Geschichte der Diskussionen über den Art-­Begriff siehe auch Richards, Richard A. (2010): The Species Problem: A Philosophical Analysis. Cambridge: Cambridge University Press.

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Unter den Darstellungen von „Orang-­Outangs“, die nicht anhand von Reise­ berichten, sondern anhand sezierten Materials erstellt wurden, ist die eines Schimpansen von Nicolaes Tulp (1593 – 1674) besonders erfolgreich geworden,143 der schamhaft zu sein scheint und seine Hände vor seinem Geschlecht zusammenlegt (Abb. 5). Die angedeutete Sittsamkeit d­ ieses Affen 144, die genau s­ olche Verhaltensweisen naturalisiert – ein Übertrag auf menschliches Verhalten ist als Mög­lichkeit inbegriffen. Eine andere Lesart lässt schließ­lich vermuten, dass der Affe, und nicht der Mensch als „erster Freigelassener der Schöpfung“ betrachtet wird: Haarig und nackt geht er seinen Trieben nach, ist dabei unbekümmert-­häss­lich und nicht von der Vernunft angekränkelt, die es ihm überhaupt ermög­licht, über die Eigenheiten seiner Art nachzusinnen. Sollte gerade ­dieses Wesen durch sein Tun die Menschen nachahmen und ihnen damit eine Außenansicht ihrer selbst liefern, dann war es um die Menschheit schlecht bestellt. Im ­­Zeichen des Affen kommen bei Meiners der zeitgenös­sische Diskurs über „Menschenrassen“, Nachahmung, phy­sische Anthropologie und die Geschichte der Menschheit zusammen. Auffällig ist dabei sein ausgeprägt weltanschau­licher Anspruch, der ihm zwar keine anhaltende Popularität verschaffte, aber verdeut­licht, ­welche Brisanz die Anthropologie bereits aufwies, als sie als Teil der Physiologie des Menschen auftrat. Meiners Schriften erinnern daran, wie schnell die anthropolo­ gische Diskussion Fahrt in eine Richtung aufnahm, die Horkheimer in dem eingangs zitierten Abschnitt aus der Dialektik der Aufklärung andeutet. Die Kontroversen um die Haltbarkeit materialistischer Antworten auf anthropolo­g ische Fragen und die Naturalisierung des Menschen und des Affen verdeut­lichen den Vorlauf, den Materia­lismusstreit, Darwin-­Rezep­tion und die Debatten um die Abstammungsthese allein auf dem Gebiet der phy­sischen Anthro­pologie genommen haben.

143 Vgl. auch Barsanti 2009, 22 ff. 144 Vgl. Schiebinger 1995, 155. Den Aspekt der Schamhaftigkeit übernahm auch Linné und schrieb sie dem Troglodyten zu, Linné 1776, 67.

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Materialistische Antworten auf anthropologische Fragen bei Carl Vogt Solcher Glück­liche schien geschaffen, unter die diony­sischen Gestalten der Menschheit zu zählen, an denen seit der Antike immer eine stille Freude gewesen ist, wenn die Welt gar so ethisch langweilig zu werden drohte. Wilhelm Bölsche über Carl Vogt, Vom Bazillus zum Affenmenschen 1

1. Einführung und biografische Notiz Carl Vogt (Abb. 6) hat nicht nur die spannendste Biografie der hier vorgestellten Autoren vorzuweisen, er ist auch der unterhaltsamste und einer der produktivsten Schreiber in der deutschen Anthropologie seit den 1840er-­Jahren. Schon allein deswegen ist er zu Unrecht heute nur einem kleinen Fachpublikum vertraut.2 Sofern ­dieses Publikum marxistisch interessiert und/oder gebildet ist, kennt es Vogt als „kleinbürger­lichen deutschen Vulgärmaterialisten und Vulgärdemokraten“3, der beschuldigt wurde, ein Informant von Napoleon III zu sein.4 Vogt war aber auch Justus-­Liebig-­Schüler, erster Übersetzer einiger Werke Darwins ins Franzö­sische 1 Bölsche, Wilhelm (1921): Vom Bazillus zum Affenmenschen. Vollständig umgearbeitete und erweiterte Neuausgabe. Jena: Diederichs. Hier: S. 271. 2 Vgl. zu Vogt: Pont, Jean-­Claude et al. (Hg.) (1995): Carl Vogt (1817 – 1895). Science, philosophe et politique. Actes du colloque de mai 1995. Chêne-­Bourg: Georg. Dieser Tagungsband ist das neueste Werk, das sich umfassend mit den Arbeiten Vogts auseinandersetzt. Neuere deutsche Arbeiten beschäftigen sich vor allem mit seiner Rolle im Materialismusstreit, so Wittkau-­ Horgby, Annette (1998): Materialismus. Entstehung und Wirkung in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Sammlung Vandenhoeck) oder die Beiträge in Bayertz 2007. Zu Vogt als Darwin-­Rezipient und Anthropologe vgl. Backenköhler 2008 und Rölli 2011, 406 ff. 3 So „Der Verlag“ im Vorwort zur 1941er-­Ausgabe von Karl Marx’ Schrift Herr Vogt (Moskau: Verlag für fremdsprachige Literatur). 4 Diese Behauptung wurde besonders von Karl Marx propagiert; seine Opposi­tion zu Vogt hat dessen Ruf als Wissenschaftler wahrschein­lich am nachhaltigsten ruiniert. Das Zerwürfnis ­zwischen den beiden ist von daher sehr aufschlussreich für die weitreichenden ideolo­gischen Kontroversen, die Vogts Arbeiten von Anfang an ausgelöst haben. In den Vorwürfen Marx’ geht es in extenso um Fragen wie die, wer Vogts Arbeit bezahlt habe (vgl. Jansen, Christian (2002): Politischer Streit mit harten Bandagen. Zur brief­lichen Kommunika­tion unter den emigrierten Achtundvierzigern – unter besonderer Berücksichtigung der Kontroverse ­zwischen Marx und Vogt. In: Herres, Jürgen; Neuhaus, Manfred (Hg.): Politische Netzwerke durch Briefkommunika­tion. Berlin: Akademie-­Verlag. S. 49 – 100.).

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Abb. 6: Carl Vogt (1817-1895) im Jahr seines Todes

und ins Deutsche,5 Mediziner, Zoologe, Anthropologe, gewählter Vertreter und Agitator im Frankfurter Parlament von 1848 und zum Ende seines Lebens wohl auch Verfasser dreier nicht erhaltener Romane.6 In Die Abstammung des Menschen ist Vogt die erste fach­liche Referenz Darwins, der Vogts Eröffnungsrede als Präsident des Genfer Na­tionalinstituts zitiert, in der sich Vogt gegen den Glauben an die unabhängige Schöpfung aller Arten ausspricht: Die Relevanz der Frage danach, wie es nun genau darum steht, ist für Darwin durch die Prominenz und die Reputa­ tion des Redners gesetzt.7 Vogts Arbeiten markieren keine überragende Forschungsleistung, wohl aber eine exponierte Diskursposi­tion – schon allein aufgrund ihrer Verbreitung durch Vogts Vortragsreisen und die hohen Auflagen seiner Bücher. Seine Schriften berühren nahezu alle Aspekte ­dieses Buches und weisen den Weg zu vielen anderen Texten, die Aufschluss darüber geben, wie Begriffe wie Anthropologie, der Mensch, das Tier oder eben der Affe bis 1900 formuliert wurden. In d­ iesem Kapitel finden sich dazu drei Abschnitte, die auf eine biografische Notiz zu Vogt folgen. Zuerst werde ich auf den wissenschaft­lichen Materialismus eingehen, der die wichtigste Grundlage von Vogts Denken bildet. Die Diskussionen über das Leib-­Seele-­Verhältnis, die dabei am meisten Konfliktpotenzial mit den zeitgenös­sischen Wissenschaften boten, kulminierten 1854 im sogenannten Materialismusstreit, zu dessen Protagonisten auch Vogt gehört. Seinen Weg in diese Auseinandersetzung vollzieht der 5 Vgl.: Blanckaert, Claude (1995): La division des anatomies. L’anthropologie de Carl Vogt dans le contexte des études naturalistes. In: Pont et al. (Hg.) – Carl Vogt, S. 199 – 247. Hier: S. 207. 6 Vgl. Gregory, Frederick (1977): Scientific Materialism in Nineteenth-­Century Germany. ­Dordrecht: Reidel. Hier: S. 79. 7 Darwin 2009a (Die Abstammung des Menschen), 701.

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erste Abschnitt nach. Die Folgen für Vogts Anthropologie behandelt der zweite Abschnitt, in dessen Zentrum die Vorlesungen über den Menschen (1861) stehen, die in dem gleichnamigen anthropolo­g ischen Lehrbuch zusammengefasst waren, das als erstes seiner Arte die Ergebnisse Darwins berücksichtigte. Darin äußerte sich Vogt bereits deut­lich zur Abstammungsthese. Deren endgültiger „Beweis“ schien ihm aber erst die Untersuchung von Mirkocephalen (sogenannten „Affenmenschen“) zu liefern, denen er 1866 eine lange Untersuchung widmete. Seine Argumenta­ tionsstrategie in dieser Abhandlung analysiere ich im letzten Abschnitt ­dieses Kapitels. Darin leitet mich die These, dass die konstitutive Unterschätzung von Vogts Beitrag für die Anthropologie in einer Unterschätzung der materialistischen Begründungen der Anthropologie im 19. Jahrhundert begründet ist. Diese bilden jedoch für alle hier untersuchten Autoren die Grundlage ihres Nachdenkens über Anthropologie und Evolu­tion. Die Chance in der Bearbeitung Vogts besteht darin, diese Entwicklung bewusst zu machen.

Biografische Notiz Der Weg von Vogts Denken lässt sich mithilfe seiner Schriften, aber auch durch biografische Details erhellen, die er in seiner Autobiografie im launigen Plauder­ton mitteilt,8 weitere Hinweise gibt eine von seinem Sohn William verfasste Biografie. Dort ist nachzulesen, dass Vogt am 5. Juli 1817 in Gießen als das Älteste von neun Kindern geboren und auf den Namen Carl Christoph getauft wurde.9 Sowohl die Familie seines Vaters als auch seiner ­Mutter engagierte sich in den politschen Umbrüchen der Zeit,10 Vogt selbst setzte ­dieses Engagement sein ganzes Leben hindurch fort. Insgesamt verlebte er offenbar eine sehr glück­liche Kindheit und Jugend, der ein Großteil seiner Erinnerungen gewidmet ist. Ab 1833 besuchte Vogt die Universität Gießen, wo er nach einem Jahr, das vor allem durch die Betätigung in einer Studentenverbindung bestimmt war,11 ein Medizinstudium aufnahm. Hier kam Vogt auch zum ersten Mal mit der vergleichenden Anatomie in Berührung, die in Gießen nament­lich durch Johann Bernhard 8 Vogt, Carl (1896): Aus meinem Leben. Erinnerungen und Rückblicke. Stuttgart: Verlag Erwin Nägele. 9 Vgl.: Vogt, William (1896): La vie d’un homme. Paris: Schleicher. Hier: S. 12. Im Folgenden zit. als Vogt, W. 1896. Die Biografie von Vogts Sohn ist ein knapp 260 Seiten starkes, ausführ­liches Werk, das mit vielen Dokumenten aus dem Leben Vogts aufwartet. Da es sich bei vielen der teilweise verhältnismäßig trocken heruntergeschriebenen Anekdoten um familiäre Kolportage handeln dürfte, ist allerdings Vorsicht geboten, sofern sich die Angaben nicht anderweitig verifizieren lassen. 10 Zur politischen Biografie Vogts siehe Bröker, Werner (1973): Politische Motive naturwissenschaft­ licher Argumenta­tion gegen Religion und K ­ irche im 19. Jahrhundert: dargestellt am „Materia­ listen“ Karl Vogt (1817 – 1895). Münster, Westf: Aschendorff. 11 Vogt 1896, 119.

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Wilbrand (1779 – 1846) vertreten wurde. Ein Schüler Wilbrands, Friedrich Wernekinck (1797 – 1835), der sich im Unterricht der Lehre Cuviers bediente, führte Vogt in einem Privatissimum in das Fach ein. Vogts zwei Mithörer in dieser Veranstaltung waren ein Student namens Kratz und Georg Büchner (1813 – 1847), dessen politische Ernsthaftigkeit Vogts Biografie karikiert – Büchner mache „beständig ein Gesicht wie eine Katze, wenn’s donnert“.12 Mit Büchners jüngerem Bruder Ludwig (1824 – 1899) verstand sich Vogt offenbar besser und wechselte s­ päter mit ihm zahlreiche Briefe.13 Vogt ergänzte sein Medizinstudium ab 1834 durch Kurse in experimenteller Chemie bei Justus Liebig (1803 – 1873). Da es zu dieser Zeit kein Universitätsgebäude gab, fanden die Vorlesungen bei den Professoren zu Hause statt,14 Liebigs Unterricht bildete eine Ausnahme, weil er ein Labor benötigte.15 Die Arbeit im Labor legte den Grundstein für Vogts weitere wissenschaft­liche Forschung. Inwieweit sie jedoch auch entscheidend für seine Wendung hin zu einem materialistischen Programm waren, lässt sich weder anhand seiner Lebenserinnerungen, noch anhand der von seinem Sohn verfassten Biografie feststellen. Hinweise auf die Bedeutung seiner chemischen Lehrjahre finden sich am ehesten in den Physiolo­gischen Briefen.16 1834 folgte Carl Vogt seiner Familie nach Bern, wohin sein Vater einen Ruf erhalten hatte. Als Unterstützer des Vormärzes erhoffte sich Vogt in Bern ebenfalls Schutz vor politischer Verfolgung. Von Bern aus reiste er nach dem Abschluss seines Medizinstudiums 1839 dem Naturforscher Louis Agassiz (1807 – 1873) nach Neuchâtel nach, dem er fünf Jahre lang bei der Forschung über Süßwasserfische und in der Geologie assistierte. Anfang der 1840er-­Jahre veröffent­lichte Vogt seine ersten eigenen Arbeiten, w ­ elche die Neurologie der Reptilien und seine Expedi­tionen in die Schweizer Berge behandelten.17 Vogt und Agassiz scheinen sich in den letzten Jahren ihrer Zusammen­arbeit nicht mehr besonders gut verstanden zu haben, auch wenn Vogt oft von der Liebenswürdigkeit seines Vorgesetzten schreibt. Die Abkühlung der Beziehung lag seitens Vogt am geringen Eifer Agassiz’, die Forschungsergebnisse, die er mit Vogt und dem Kollegen Desor gemeinsam erzielte, auch selbst zu Papier zu bringen: „Ich kann mit vollkommener Wahrheit sagen, dass von den großen und bedeutenden Werken, die während unseres fünfjährigen Zusammenseins hergestellt wurden, Agassiz höchstens fünf

12 Ebd., 121. 13 Kockerbeck, Christoph (Hg.) (1999): Carl Vogt, Jacob Moleschott, Ludwig Büchner, Ernst Haeckel: Briefwechsel. Marburg: Basilisken-­Presse. 14 Vgl. ebd., 65. 15 Vgl. ebd., 114. 16 Vogt, Carl (1861): Physiolo­gische Briefe für Gebildete aller Stände. 3. Aufl. Gießen: J. Ricker’sche Buchhandlung. Die erste Auflage erschien 1847. 17 Vgl.: Misteli, Hermann (1938): Carl Vogt. Seine Entwicklung vom angehenden naturwissenschaft­ lichen Materialisten zum idealen Politiker der Paulskirche (1817 – 1849). Zürich: Leemann (Schweizer Studien zur Geschichtswissenschaft). Hier: S. 22.

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Druckbogen beschreiben hat.“18 Zusätz­lich gelang es Agassiz laut Vogt trotz Förderung durch den preußischen Königshof und anderer Geldgeber nicht, kostendeckend zu arbeiten, sodass er froh war, 1844 einen Ruf nach Harvard zu erhalten. Vogt hingegen entschied, ihn nicht als Assistent zu begleiten, sondern „auf eigenen Füßen zu stehen“.19 Stephen Jay Gould, der in seinem Buch Der falsch vermessene Mensch ausführ­lich über Agassiz’ Zeit in Harvard berichtet, beschreibt ihn als einen „extremen Aufspalter“,20 dessen wissenschaft­liche Arbeit ganz darauf gesetzt habe, minutiös noch die kleinsten Unterschiede z­ wischen Lebewesen zu vermerken, um so zu einer Beschreibung der Abstammung der Arten zu kommen, an deren Polygenese an verschiedenen Schöpfungszentren er fest glaubte.21 Mit diesen Voraussetzungen arbeitete Vogt. Mit dem Leben „auf eigenen Füßen“ begann Vogt in Paris, wo er ein Hotelzimmer mit Adolphe Quételet (1796 – 1894), dem Erfinder des Durchschnittsmenschen,22 teilte und den Anarchisten Michail Bakunin von einer vermeint­lichen Cholera-­Infek­tion heilte, die sich als Verstopfung entpuppte.23 Vogt setzte in Paris seine Studien an der Sorbonne fort und schloss außerdem Freundschaft mit franzö­ sischen Wissenschaftlern, darunter auch Paul Broca (1824 – 1880), mit dem er s­ päter häufiger zusammenarbeitete. Seinen Lebensunterhalt bestritt Vogt vor allem als Korrespondent für deutsche Zeitungen. Nament­lich für die Beilage der Augsburger Allgemeine Zeitung berichtete er über die Sitzungen der Academie des Sciences.24 Aber Vogt erwarb sich in Paris wissenschaft­liche Meriten, nicht zuletzt durch seine Physiolo­gischen Briefe für Gebildete aller Stände, die er allerdings erst in Deutschland veröffent­lichte. Diese Publika­tion und die Fürsprache prominenter Kollegen wie Justus Liebig und ­Alexander von ­Humboldt 25 beim Großherzog von Hessen ließen seine Vergangenheit als republikanischer Burschenschaftler vergessen, sodass er ab 18 Vogt 1896, 196. 19 Ebd., 201. Mit der Darstellung der Trennung von Agassiz endet die Autobiografie Vogts, ­weitere Details sind in der Biografie seines Sohnes überliefert. 20 Gould, Stephen Jay (1988): Der falsch vermessene Mensch. Frankfurt: Suhrkamp. Hier: S. 41. 21 Gould vermerkt hier auch, dass es für den gläubigen Christen Agassiz wahrschein­lich ­schwierig gewesen wäre, die durch bib­lische Erzählung gestützte Monogenese zu verwerfen, er aber durch die erste Begegnung mit schwarzen Menschen in den USA so schockiert gewesen sei, dass er zu einem rigorosen Verfechter der Polygenese gewandelt habe (vgl. ebd.). 22 Vgl. Vogt, W. 1896, 41. Vogt hat in seinen Physiolo­gischen Briefen im letzten Kapitel oder 31. Brief die Lehre vom Durchschnittsmenschen übernommen (vgl. Vogt 1861, 690 ff.), der bei ihm allerdings „mittlerer Mensch“ heißt. Mithilfe der Statistik konnte er hier durchexerzieren, ­welche Wichtigkeit die Physiologie für alle Lebensbereiche des Menschen, nament­lich den sozialen Bereich besaß. 23 Vgl. ebd., 42. Auch Misteli berichtet über die Freundschaft z­ wischen Bakunin und Vogt (vgl. Misteli 1938, 69). 24 Vgl. Misteli 1938, 32. 25 Vgl. Misteli 1938, 100.

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1847 in seiner früheren Heimatstadt Gießen eine Professur für Zoologie antreten konnte. Sein politisches Engagement, insbesondere in der 1848er-­Revolu­tion, brachte ihn jedoch bald wieder in Schwierigkeiten, sodass er schließ­lich 1852 endgültig in die Schweiz übersiedelte und sich in Genf niederließ. Dort engagierte er sich schließ­ lich in der Kommunalpolitik, wurde Professor für Geologie, Zoologie und s­ päter Rektor der Universität (1874).

2. Materialismus: wissenschaftlich, genealogisch, anthropologisch Wie der Materialismus zu einem der heftigsten Kampfbegriffe in der wissenschaft­ lichen Auseinandersetzung des 19. Jahrhunderts werden konnte, erklärt sich einerseits durch seine Karriere in der Marx/Engel’schen Theorie, die hier nicht Thema ist. Andererseits zielte die Debatte auf die ontolo­gische Beschaffenheit der Seele, mit der die Abstammung des Menschen ebenfalls direkt angesprochen wurde. Sollte er keine Seele, sondern nur ein Hirn besitzen, würde in der Geschichte der Menschheit gött­ liche Mund-­zu-­Nase-­Beatmung durch speziesübergreifende Kopula­tion ersetzt werden. Das Problem der Abgrenzung von anderen Arten war damit unmittelbar aktualisiert. Da um 1850 der Art-­Begriff noch immer heiß umkämpft war, gehört diese Diskussion stets auch in den Bereich der phy­sischen Anthropologie, in der am heftigsten über die sogenannte Rassenlehre gestritten wurde. Solange nicht eindeutig festgestellt werden konnte, was eine Art nun auszeichnete, waren auch mensch­liche „Rassen“ als eigene Arten denkbar. Die mög­licherweise direkte Verwandtschaft von Mensch und Tier konturierte diese Problemkomplexe noch schärfer, da ein wissenschaft­licher Materia­ lismus den Menschen in natür­liche Abläufe ein-, wenn nicht unter- und dem Tier damit nebenordnet. Die Resistenzen einer theolo­gisch fundierten und motivierten Naturlehre liegen dabei auf der Hand. Ebenso auf der Hand liegen damit Parallelen zu den Argumenta­tionsbewegungen des Darwinismusstreits, dem bereits 1875 F ­ riedrich Lange in der ersten Geschichte des Materialismus ein Kapitel widmete, mit dem Hinweis ­darauf, dass „der Darwinismus-­Streit […] gegenwärtig das [ist], was damals der allgemeinere Materialismusstreit war“, und dies eben nicht zuletzt weil „viele Individuen dieser besonderen Species an sich selbst irre werden, wenn ein Zweifel an der Aechtheit ihres Stammbaumes auftaucht.“26 Paul Kummer, der ein Verfechter von Vogts Thesen war, spitzte die Interpreta­tion des Materialismus noch weiter zu. Dieser b­ einhalte als „derbsten Theil […] die Theorie der Abstammung des Menschen von einem affenverwandten Thiere“; eine Behandlung d ­ ieses Themas sieht er als notwendige 26 Lange, Friedrich Albert (2006): Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart (1875). 2 Bände. Leipzig: Elibron (2). Hier 240. Langes Bedeutung kann kaum überschätzt werden; weniger als Geschichtsschreiber, sondern als Stichwortgeber der Junghegelianer spielt er eine bedeutende Rolle.

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Schock-­Therapie an, die Vogt als „tüchtiger und respektabler Vorkämpfer“ anwenden müsse: „Ja, das kühne Aussprechen seiner Meinungen ist ein Blitz in schwüler Zeit und in einst gereinigter Atmosphäre wird man manchen Dank ihm wissen.“27 Vogts seinerzeit zweifelhafter Ruhm wird nicht von vielen beneidet worden sein. Darwin ging niemals so weit öffent­lich zu diskutieren, ob und inwieweit seine Erkenntnisse einer deterministischen Auffassung des Menschen und seiner natür­ lichen Umwelt das Wort redeten. Ledig­lich in seinen Notizbüchern finden sich Äußerungen dazu, die allerdings immer noch von Vorsicht gekennzeichnet sind: „To avoid stating how far, I believe, in Materialism, say only that emo­tions, instincts degrees of talent, which are heredetary are so because brain of child resembles parent stock. – (& phrenologists state that brain alters).“28 Allerdings zeigt sich, ebenfalls gut versteckt in den Notizbüchern, dass Darwin schon früh, noch vor Veröffent­ lichung von Über die Entstehung der Arten zu einer materialistischen Auffassung des Geistes neigte: „Experience shows the problem of the mind cannot be solved by attacking the citadel itself. – the mind is func­tion of body. – we must bring some stable founda­tion to argue from.“.29 Auch über die Abstammung des Menschen hat er sich nur zöger­lich und mit Verspätung im Vergleich zu seinen Kollegen Huxley oder eben Vogt geäußert. Jean-­Claude Pont unterteilt Vogts Werk in zwei Phasen, in eine erste des wissenschaft­lichen Materialismus, die in der gerade skizzierten Auseinandersetzung mit Wagner ihren Höhepunkt findet, und in eine zweite, die mit Vogts Rezep­ tion von Über die Entstehung der Arten einsetzt.30 Pont nennt diese Phase die des anthropolo­g ischen Materialismus und zieht als Beleg dafür Vogts Schrift Ueber die Mikrocephalen oder Affen-­Menschen 31 heran. Da der Begriff „­anthropolo­g ischer 27 Kummer, Paul (1868): Die Karl Vogt’sche Theorie von der Abstammung des Menschen. Sach­ lich beleuchtet von Paul Kummer. Aus Vorträgen, die der Verfasser in einem naturhistorischen Verein gehalten, zusammengestellt. 2. Aufl. Zerbst: Zeidler. Hier: S. 3. 28 Notebook M, S. 57. Zit. n. www.darwin-­online.org.uk/content/frameset?pageseq=53&itemID=CUL-DAR125.-&viewtype=side. Letzter Aufruf am 19. März 2015. Unter dem Link wird ein Faksimile der Notizbuchseite mitgeliefert. 29 Notebook N, S. 5. Zit. n. http://darwin-­online.org.uk/content/frameset?pageseq=1&itemID=CUL-DAR126.-&viewtype=text. Letzter Aufruf am 19. März 2015. Unter dem Link wird ein Faksimile der Notizbuchseite mitgeliefert. Siehe dazu auch Gruber, Howard E. (1974): Darwin on Man. London: Wildwood House. 30 Pont 1995, 130. 31 Vogt, Carl (1866): Ueber die Mikrocephalen oder Affen-­Menschen. In: AfA. Bd.  1, S.  129 – 284. Mikrocephalie bezeichnet eine Fehlentwicklung des Gehirns, das bei den Betroffenen nur eine sehr geringe Größe erreicht. Dies geht meist mit einer Deforma­tion des Gesichts (dem Progna­ thismus, d. h. extrem vorstehender Oberkiefer) und starken geisteigen Beeinträchtigungen einher. Die Krankheit kann durch eine Virusinfek­tion der ­Mutter bei der Schwangerschaft ausgelöst werden (z. B. Röteln), aber auch durch Alkoholmissbrauch während der Schwanger­ schaft oder Chromosomen-­besonderheiten.

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Materialismus“ jedoch auch in ganz anderen Zusammenhängen verwendet wird,32 erscheint eine Übernahme nicht sinnvoll: Vogt hat Feuerbach vermut­lich nicht gelesen,33 und er war immer der Ansicht, selbst kein philosophisches Programm zu vertreten. Die Schriften, mit denen Pont den „anthropolo­g ischen Materialismus“ in Verbindung bringt, handeln wesent­lich von der Frage nach der Abstammung des Menschen, die anhand der Verwandtschaft zu anthropoiden Affen diskutiert wird. Ein besser passender Begriff, der keine Verwechslungsgefahr mit dem ­Feuerbach’schen Programm darstellt und verdeut­licht, dass es um die Frage der Abstammung der Arten (nicht nur des Menschen) geht, scheint daher genealo­ gischer Materialismus zu sein. Seine Grundlagen im wissenschaft­lichen Materialismus zeigen die folgenden Abschnitte.

Das Leib-Seele-Problem und die Veränderbarkeit der Arten Vogts Ruf als radikaler Materialist gründet sich auf seinen Physiolo­gischen Briefen (1847), die er ab 1843 zu veröffent­lichen plante.34 Sie sollten als Beilage zur Allgemeinen Zeitung erscheinen, bei der er als Pariser Korrespondent schon bekannt war. Eine Veröffent­lichung in einer Publikumszeitschrift wie der Allgemeinen Zeitung hätte Vogts Vorstellungen allerdings mehr entsprochen, da er immer darauf bedacht war, eine breite Wirkung seiner Ansichten zu erreichen und zur Volksbildung beizutragen, deren Notwendigkeit er in jedem seiner Werke Ausdruck verlieh.35 Schließ­lich erschien sein physiolo­gisches Lehrbuch doch in Buchform, kurz nachdem er Ende 1846 oder Anfang 1847 einen Ruf nach Gießen erhielt, während er gerade intensiv die Fauna des Mittelmeers studierte.36 32 Siehe: Biedermann, Georg (2004): Der anthropolo­gische Materialismus Ludwig Feuerbachs. Neustadt am Rübenberge: Lenz. 33 Vgl. Gregory 1977, 64. 34 Vgl. ebd., 60, der diese Informa­tion von Misteli bezieht. 35 Siehe dazu bspw. in den Physiolo­gischen Briefen im 29. Brief den Abschnitt über M ­ issbildungen, in dem er dem Aberglauben entgegenzutreten sucht, dass bestimmte sinn­liche Eindrücke bei Schwangeren Missbildungen des Kindes hervorrufen (vgl. Vogt 1861, 664 f.), eine im 17. und 18. Jahrhundert sehr populäre Annahme. 36 Siehe: Vogt, Carl (1848): Ocean und Mittelmeer: Reisebriefe. 2 Bände. Frankfurt/M.: Litera­ rische Anstalt Rütten. Das Werk nimmt eine Mittelstellung z­ wischen den Physiolo­gischen Briefen und seiner Antrittsvorlesung ein. Die Schrift dient Vogt als weiterer Beleg für die Unausweich­lichkeit des Materialismus als Grundlage aller Wissenschaft, wobei er stets im Auge hat, ­welche Auswirkungen eine vollständige Anerkennung des Materialismus in der Gesellschaft haben würde. Zu Vogt im Kontext der zeitgenös­sischen Meeresforschung vgl. Kockerbeck, Christoph (1997): Die Schönheit des Lebendigen. Ästhetische Naturwahrnehmung im 19. Jahrhundert. Wien: Böhlau.

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Die Physiolo­gischen Briefe zeigen zusammen mit dem Lehrbuch der Geologie und Petrefactenkunde 37 von 1846 die systematischen Voraussetzungen, unter denen Vogt zu dieser Zeit arbeitete. Über Vogts materialistisches Denken lässt sich verstehen, warum es als besondere Provoka­tion galt, dass Vogt für eine direkte Abstammung des Menschen vom Affen plädierte. Die Entwicklung von Vogts Argumenten steht dabei prototypisch für die „naturalistische Revolu­tion in Deutschland“ ein, die Thomas Junker 38 in zwei Phasen einteilt: in eine physiolo­g ische Phase, in der religiös geprägte Antworten auf anthropolo­g ische Fragen bekämpft wurden, und in eine zweite Phase, in der Autoren versuchten, mithilfe der in Über die Entstehung der Arten bereitgestellten Argumente Evolu­tion anhand historischer Kausalität zu begründen suchen. Die Physiolo­gischen Briefe bestehen aus zwei Bänden mit 31 Briefen, die ausführ­ lich alle ihm bekannten physiolo­g ischen Prozesse des menschlichen Körpers behandeln. Für das materialistische Argument entscheidend ist der Abschnitt, welcher dem Hirn als wichtigstem Teil des Nervensystems gewidmet ist. Er findet sich im 13. Brief der zweiten Abteilung, der „Nervenkraft und Seelenthätigkeit“ betitelt ist. Als Steuerungsorgan aller physiolo­g ischen, aber auch mentalen Prozesse war Vogt das Hirn wohlbekannt, wenn er auch die Grenzen der zeitgenös­sischen Forschung zugab,39 die sich gerade aufmachte, den Begriff Seelenorgan zugunsten des Begriffs Gehirns fallen zu lassen. Um das Hirn als ein Organ unter anderen etablieren zu können, das keineswegs zum Alleinstellungsmerkmal des Menschen tauge, zog Vogt den Vergleich zum Affenhirn und ­später zum Mikrocephalenhirn heran: Darüber sollte sich schließ­lich erweisen, dass die Verbindung zur tierischen Organisa­tion der menschlichen Anatomie auf jeder Entwicklungshöhe nachweisbar bliebe. Indem Vogt das Hirn des Menschen dennoch als Sitz des Bewusstseins und des Willens (sei er nun frei oder unfrei) anerkannte, reaktivierte er die Rede vom ‚ganzen Menschen‘,40 dessen Erkenntnis sich nirgends so gut erlangen ließe wie beim Studium des Hirns.41 Michael Hagner hat zu dieser Transitphase der Hirnforschung festgestellt: „Weder Wissenskrisen noch empirische Widersprüche 37 Vogt, Carl (1854): Lehrbuch der Geologie und Petrefactenkunde. 2. Aufl. 2 Bände. Braunschweig: Vieweg. 38 Junker, Thomas (1995): Darwinismus und die Revolu­tion von 1848 in Deutschland. Zur Interak­tion von Politik und Wissenschaft. In: Studies in history and philosophy of biological and biomedical sciences, S. 271 – 302. Hier S. 292. 39 Vogt 1861, 332. 4 0 Siehe dazu zwei Beiträge aus einem für ­dieses Denken maßgeb­lichen Sammelband: Hagner, Michael (1994): Aufklärung über das Menschenhirn. Neue Wege der Neuroanatomie im ­späten 18. Jahrhundert. In: Hans-­Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart: Metzler, S. 145 – 161 und Böhme, Hartmut (1994): II. Neue Erfahrungen von der Natur des Menschen – Einführung. In: ebd., S. 139 – 144. 41 Vgl. Hagner 2008, 86.

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erklären das Ende des Seelenorgans. Entscheidend für den Perspektivwechsel war die Frage, was der Mensch sei und w ­ elche Wege zur Beantwortung dieser Frage eingeschlagen werden müssen.“42 Vogt steuerte dazu über viele Jahre auf einem Konfronta­tionskurs, der durch seine Studien zum Hirn maßgeb­lich vorbereitet wurde. Dabei ist ein Zitat notorisch geworden, welches das Verhältnis von der Seele als der Essenz alles Menschlichen zum Gehirn zu erhellen sucht: Ein jeder Naturforscher wird wohl, denke ich, bei einigermaßen folgerechtem Denken auf die Ansicht kommen: dass alle jene Fähigkeiten, die wir unter dem Namen der Seelenthätigkeiten begreifen, nur Func­tionen der Gehirnsubstanz sind; oder, um mich einigermaßen grob hier auszudrücken: dass die Gedanken in demselben Verhältniß etwa zu dem Gehirne stehen, wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren. […] Gestalt und Stoff bedingen im Körper überall die Func­tion, und jeder Theil, der eine eigenthüm­liche Zusammensetzung hat, muß auch nothwendig eine eigenthüm­liche Func­tion haben.43

Mit dieser drastischen Formulierung erteilte er der landläufig gehegten Vorstellung vom homo duplex, der doppelten Natur des Menschen als phy­sisches und mora­ lisches Wesen, eine Abfuhr, für die er sich erheb­lichen Anfeindungen ausgesetzt sah, die vor allem aus der Richtung Rudolph Wagners aus Göttingen kamen. In der dritten Auflage schrieb Vogt in einer Fußnote zu dieser Passage, dass er trotz harscher Kritik diese Passage in seinem Buch belassen habe, da ihn seine Kritiker nur noch mehr in seiner Posi­tion bestärkt hätten.44 Vogt war von der Richtigkeit seines Vorgehens überzeugt, weil es ihm stets darum ging, die Zweckmäßigkeit der phy­sischen Organisa­tion eines jeden Lebewesens nachzuweisen. Diese folgt seiner Auffassung nach nicht einer gottgefälligen Natur, sondern den Anforderungen durch seine Umwelt: Das Hirn entspricht in seiner Einrichtung den Ansprüchen an Funk­tionalität und Effizienz im physiolo­g ischen Ablauf. Diese beiden Kriterien ließen sich für Vogt ausschließ­lich am organischen Material klären. Wenn sich die „Gestalt“ eines Lebewesens ändert, weil die „Func­tionen“ seiner „Theile“ so besser zusammenwirken können, sind die Ursachen dafür laut Vogt allein im „Stoff “ zu 42 Ebd. 289. 43 Vogt 1861, 333 ff. Vogt ist hier allerdings nicht originell, denn das Zitat erinnert stark an Pierre-­ Jean-­Georges Cabanis, einen franzö­sischen Physiologen und Philosophen, der in Rapports du physique et du moral de l’homme von 1802 geschrieben hatte, dass das Hirn für die Ideen zuständig sei wie der Magen für die Verdauung. Dabei vermied er es aber, die Seele zu e­ rwähnen (vgl. dazu auch Misteli 1938, 55). 4 4 Als Unterstützer erwähnt er auch Jakob Moleschott, der in seinem Werk Der Kreislauf des Lebens von 1842 seine Posi­tion auch noch einmal bestätigt habe. Die Anfeindungen gegen Vogt bestehen bis heute fort. Besonders deut­lich wird das bei Annette Wittkau-­Horgby, die sich vor allem an der antireligiösen Haltung Vogts stört (vgl. dies. 1998, 87 ff.).

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suchen. Die Wirkung der Umwelteinflüsse, die Darwin während seiner Forschungsreisen beobachtet hatte und in seine Theorie zur Variabilität der Arten einfließen ließ, berücksichtigte Vogt hier noch nicht, in den Grundzügen seiner Methode stimmte er jedoch schon vor der Lektüre von Über die Entstehung der Arten mit Darwin überein,45 evolu­tionäre Ideen lagen bei ihm bereits in den 1840er-­Jahren (und früher) unsystematisch vor.46 Insbesondere das Lehrbuch der Geologie und Petrefactenkunde verdeut­licht, dass Vogt sich schon vor und während der Hochphase des Materialismusstreits auch geolo­g ische und paläontolo­g ische Kenntnisse auf der Höhe der Zeit aneignete, die allerdings noch von der Katastrophentheorie geprägt waren.47 Zwar kannte Vogt zu dieser Zeit schon das Prinzip der Veränder­ lichkeit der Arten, aber noch nicht den Mechanismus, der es zufriedenstellend hätte erklären können. Wie sich Vogt Mög­lichkeiten der Abänderung von Artmerkmalen vorstellte, wird in den Physiolo­gischen Briefen im Abschnitt zum „Umlauf des Lebens“48 deut­lich. Die verschiedenen Lebensphasen des Organismus eines Individuums parallelisiert er hier mit den Entwicklungsphasen in der Geschichte einer Art. Diese kann laut Vogt auch rückwärts ablaufen; eine „rückschreitende Metamorphose“49, in der sich der Körper vom erwachsenen Zustand in einen eher kind­lichen zurück entwickle, sei beispielsweise bei den Menschenaffen zu beobachten. Das Konzept einer rückwärts ablaufenden Entwicklung ist auch für Vogts Atavismus-­Konzept einschlägig, das den Prozess der rückschreitenden Metamorphose vom Individuum auf die Art überträgt und ein weiteres Mal die Einheit von Körper und Geist zeigt, deren gemeinsames Absterben in den Verfallsstadien von greisen Menschen zu beobachten sei.50 Die Überzeugung von 45 Wann genau Vogt dessen Schriften zum ersten Mal in Händen hielt, ist nicht belegt. Es ist aber anzunehmen, dass er sehr kurz nach Veröffent­lichung von Über die Entstehung der Arten von dem Werk erfuhr: Darwin suchte selbst nach einem geeigneten Übersetzer für sein Werk in Deutschland, was aus seiner Korrespondenz hervorgeht. Ein Exemplar des Buches erhielt unter anderem Vogts Lehrer Liebig, weiterhin aber auch Jakob Moleschott, mit dem Vogt z­ wischen 1852 und 1889 in regem Briefkontakt stand (Kockerbeck 1999, 42; Junker; Backenköhler 1999, 254). 4 6 Das Interesse an entsprechenden Vorläufern war noch zu Vogts Lebzeiten sehr groß, sodass Anstrengungen gemacht wurden, diese in eine systematische Ordnung zu bringen. Siehe hierzu: Potonié, Henry (1890): Aufzählung von Gelehrten, die in der Zeit vor Lamarck bis Darwin sich im Sinne der Descendenz-­Theorie geäussert haben. In: Naturwissenschaft­liche Wochenschrift V, S. 441 – 445. 47 Vogt hatte in Paris Vorlesung bei dem Cuvier Schüler Elie de Beaumont besucht und war dadurch präpariert (vgl. Misteli 1938, 32. Zur Katastrophentheorie Cuviers im Speziellen und zur Katastrophentheorie im Allgemeinen siehe Bowler 2003, 114 ff.). 48 Vogt 1861, 676 ff. 49 Ebd., 687. 50 Vogt, Carl (1971): Köhlerglaube und Wissenschaft. In: Wittich, Dieter (Hg.): Schriften zum kleinbürger­lichen Materialismus in Deutschland. 2 Bände. Berlin: Akademie Verlag, Bd. 2, S. 519 – 657. Hier: S. 632.

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der Mög­lichkeit des Rückschritts ergänzt in Vogts früh-­evolu­tionärem Denken die Hypothese, dass „[…] jedes Organ bei den höheren Wirbeltieren verschiedene typische Veränderungen [durchläuft], von w ­ elchen ein Theil sich bleibend bei den niederen Tieren erhalten hat.“51 Diese Aussage wirkt wie ein Vorläufer von Ernst Haeckels biogenetischem Grundgesetz (Rekapitula­tion der Phylogenese in der Ontogenese). Haeckels wichtigster Impuls war dabei die von Karl Ernst von Baer (1792 – 1876) aufgestellte Regel zur Embryonenähn­lichkeit, die besagt, dass Embryonen erst nach und nach die typischen Charakteristika ihrer Spezies ausbilden: „Die Embryonen der Säugethiere, Vögel, Eidechsen und Schlangen, wahrschein­lich auch der Schildkröten, sind in früheren Zuständen einander ungemein ähn­lich im Ganzen, so wie in der Entwicklung der einzelnen Theile, so ähn­lich, dass man oft die Embryonen nur nach der Grösse unterscheiden kann.“52 Für Baer war allerdings die Zugehörigkeit zum Typus bei jedem Tier bereits im Embryo fixiert, woraus für ihn folgte, dass nur die Entwicklungsstadien der eigenen Art, nicht die anderer Tierarten wiederholt werden;53 insgesamt lehnte von Baer den Gedanken der Evolu­tion ab.54 Auch wenn Vogt Baer in den Physiolo­gischen Briefen nicht zitiert und im Allgemeinen Paraphrasen nur sehr selten kennzeichnet (wie etwa im Fall von Quetelet), lässt sich eine Rezep­tion annehmen, da Baer die größte Autorität in der Embryonenforschung besaß. Diese konnte nun Vogt anhand seiner eigenen Forschung dynamisieren.

Anthropologie als Zoologie Carl Vogts Gießener Antrittsvorlesung stellt eine programmatische Zusammenfassung seines Zugriffs auf die zeitgenös­sische Naturforschung und deren drängendsten Fragen dar.55 Der Text leistet eine gewisse Darwin-­Antizipa­tion, die verständ­lich macht, wie sich Die Entstehung der Arten zur Standardreferenz für Vogt entwickeln 51 Vogt 1861, 669. 52 Baer, Karl Ernst von (1999): Über die Entwickelungsgeschichte der Thiere. Beobachtung und Reflexion. 3 Bände in 1 Band. Mit einer Einleitung hrsg. von Olaf Breidbach. Nachdr. d. Ausg. Königsberg 1828 – 1888. Hildesheim: Olms-­Weidmann. Hier S. 221. 53 Ebd., 220. 54 Ruse, Michael (2013): The Cambridge Encyclopedia of Darwin and Evolutionary Thought. New York: Cambridge University Press. Hier: S. 237. 55 Die Vorlesung ist einer der unbekanntesten Texte Vogts. Eine Erwähnung findet sich nur bei Misteli 1938 und bei Christoph Kockerbeck (2000): Carl Vogts Stellung zum Leib-­Seele-­ Problem in seiner Antrittsvorlesung Ueber den heutigen Stand der beschreibenden Naturwissenschaften (1847). In: Arndt, Andreas; Jaeschke, Walter (Hg.): Materialismus und Spiritualismus. Philosophie und Wissenschaften nach 1848. Tagung auf Schloß Reisensburg bei Günzburg, 26.02.–01.03. 1997. Hamburg: Meiner, S. 141 – 142. Kockerbeck markiert hier ledig­lich, dass das Leib-­Seele-­Problem angsprochen wird.

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konnte, und verdeut­licht, ­welche systematische Lücke er mit seiner Anthropologie, nament­lich der Affen-­Forschung, füllen wollte. Je mehr ich mir den Zustand der zoolo­gischen Wissenschaften, die ich vortragen soll, klar zu machen suche, desto fragmentarischer erscheinen sie mir; desto weniger entspricht ihre systematische Form, die Starrheit der darin angewandten Grundsätze dem üppigen Leben, welches sie in sich aufnehmen sollen.56

Die Herausforderung im Umgang mit der Überforderung durch das üppige Leben ist ein Grundproblem der (zeitgenös­sischen) Naturforschung, die die Eigenheiten des Individuums, die Differenzen zu anderen Individuen zu markieren und mit den Gemeinsamkeiten ­zwischen den Individuen als Einheit der Art auszutarieren versucht. Das Verhältnis von Differenz und Einheit organisierte auch Vogts Formulierung der Desiderata der Zoologie: Die bisher bekannten Systematiken reichen nicht mehr aus, sie sind „fragmentarisch“ geworden. Wie das Individuum mit der Art zusammenhängt, kann nicht durch ein starres Klassifika­tionssystem, sondern nur durch Übergangsformen erklärt werden, die darauf hinweisen, wie Natur als dynamischer Prozess der Varia­tion zu verstehen ist. Das „üppige Leben“, das D ­ arwin im Bild der „dichtbewachsenen Uferstrecke“57 kondensiert hatte,58 erforderte dabei eine neue Methodik für die biolo­g ische Systematik, die darauf angewiesen war, neue Beschreibungsformen für die „endlose Reihe der schönsten und wundervollsten Formen“59 zu finden, deren Genese Darwin und Vogt gleichermaßen beschäftigte. Die Arbeit der Natur beschrieb Vogt in seiner Antrittsvorlesung in einer martia­ lischen Metaphorik, die Ausleseprozesse als existenziell kennzeichnet. Darin klingt bereits die Kampfsprache an, die Darwins erster Übersetzer Heinrich Georg Bronn (1800 – 1862) dreizehn Jahre s­ päter wählte, um einem deutschsprachigen Publikum die Lehre von der Evolu­tion zu verkünden. Am Ende seiner Vorlesung sagte Vogt: „Die Natur gleicht in ihrem Vorwärtsgehen dem kühnen Eroberer, der die Schiffe

56 Vogt 1847, 4. 57 Darwin 2009a (Über die Entstehung der Arten), 691. Engl. Orginaltext: „It is interesting to contemplate an entangled bank, clothed with many plants of many kinds, with birds singing on the bushes, with various insects flitting about, and with worms crawling through the damp earth, and to reflect that these elaborately constructed forms, so different from each other, and dependent upon each other in so complex a manner, have all been produced by laws acting around us.” Darwin, Charles (2008): On the Origin of Species (1859). Edited with an Introduc­tion and Notes by Gillian Beer. Oxford: Oxford University Press. Hier: S. 360. 58 Siehe dazu auch Riehl, Sabine (2009): Darwins View of Life. Imagina­tion und Theorie. Magister­ arbeit. Humboldt-­Universität zu Berlin. Typoskript. 59 Darwin 2009a (Über die Entstehung der Arten), 691.

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hinter sich verbrannte, um den Rückzug unmög­lich zu machen.“60 Dass er bei der Verbreitung seiner Lehre ganz klar auch ein ästhetisches Programm verfolgte, legte er schon am Anfang seiner Programmatik offen. Eine ausgearbeitete Zoologie solle dazu dienen, in dem „Buche der Natur“61 zu lesen. Dazu sei mehr nötig, als die einzelnen Buchstaben des Alphabets zu kennen – auf die Zoologie übertragen ist dies eine Absage an eine Klassifika­tionswissenschaft, die sich der Genealogie verweigert. Die Annahme einer gleichartigen Strukturierung von Sprache und Natur führte ihn zu einem Appell an die Naturforscher, sich bei der Beschäftigung mit ihren Erkenntnisobjekten derselben kreativen Potenziale zu bedienen, die auch die Poesie auszeichnen: Wer aber die Sprache handhabt, wie ein Instrument, dessen Schwächen und Stärken er kennt, wer dem Gedanken neue Gebiete eröffnet, in dem er ihm einen schlagenden Ausdruck verleiht, wer zugleich das Gewand der Schönheit um das nackte Skelett zu werfen versteht, den verehren wir als wahrhaften Kenner und Meister, als Förderer des Sprachschatzes. Tragen Sie diese Verhältnisse auf die Naturgeschichte über und Sie werden verstehen, warum ich Demjenigen die Benennung eines Naturforschers versage, der sich nicht über jene Anfangsgründe zu freierem Überblicke erhebt.62

Das Ziel eines „freieren Überblicks“ war zu d ­ iesem Zeitpunkt in der Zoologie noch immer die Defini­tion des Artbegriffs, der es erlauben sollte, den Menschen wenigstens biolo­g isch abschließend zu beschreiben. In der Zoologie konnte laut Vogt nur eine Methode dazu führen: „[…] die vergleichende Entwicklungsgeschichte [hat] allein das Recht […], das Gesetz für die Zoologie zu schreiben und zu bestimmen, in w ­ elchen Gränzen der Begriff der Art zu schaffen sey.“63 Und diese könne auch nur dann ihr Ziel erreichen, wenn sie ideolo­g isch ein klares Programm vertrete, das Vogt zuvor entwickelte. Nur der „reinste, unverfälschte Materialismus“ führe zu „erkleck­lichen Resultaten in der Wissenschaft“64. Die Unangreifbarkeit der Ideologie markierte Vogt in seiner Antrittsvorlesung dadurch, dass er auf ihre überzeit­liche Grundlage verwies: „Auf der absoluten Ewigkeit der Materie fußt die ganze Naturkunde […],“ stellte Vogt fest, um „die Ewigkeit“ jedoch gleich aus jeg­lichem religiösen Kontext zu lösen: „Die Materie ist unzerstörbar und deshalb auch unerschaffen, es ist unmög­lich, uns einen Zustand zu denken, wo nur das kleinste Atom derselben noch nicht existiert hätte oder vernichtet worden wäre.“65 60 61 62 63 6 4 65

Vogt 1847, 43 f. Ebd., 16. Ebd., 17. Ebd., 30. Vogt 1861, 675. Vogt 1847, 18 f.

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Die ­Beantwortung der Frage, wie aus der stets gleich bleibenden Zahl von Atomen in der Welt das Leben entstehe, sah Vogt als eine der Aufgaben der Zoologie an, deren wichtigster Gegenstand der Mensch sei, den er als „die höchst vollendete Gestaltung der Materie“ betrachtete.66 Auf der Basis des Materialismus entwickelt sich bei Vogt eine Naturforschung, in der ein Hauptgebiet die Zoologie ist, die sich wiederum mit Prozessen im Rahmen der Physiologie beschäftigt, deren letzte Gründe schließ­lich nur durch die vergleichende Naturgeschichte erhellt werden können. Diese lässt sich laut Vogt eben am besten an der Gestalt des Menschen ablesen: So lange man diesen vor allem als Organismus behandelt, entgeht die Wissenschaft auch der Gefahr, sich in Spekula­ tionen zu verlieren,67 wie dies beispielsweise bei der Naturphilosophie der Fall ist. Für die als Zoologie verstandene Wissenschaft vom Menschen nennt Vogt vor allem die Chemie und die Physik als Vorbilder, da diese „in die Räder des socialen Getriebes“68 einzugreifen vermöchten. Die mit Klassifika­tion beschäftigte Zoologie beschreibt Vogt hingegen als noch unerprobt im gesellschaft­lichen Feld. Nachdem er bereits der Physiologie eine ­soziale Wendung gegeben hatte, indem er sie mit ­Quetelets Konzept des Durchschnittsmenschen verband, fehlte ihm noch eine Theorie, die der Zoologie zu mehr Relevanz verhelfen konnte. Deshalb baute Vogt seine Zoologie so um, dass seine Erkenntnisse aus der Physiologie in die Zoologie zu integrieren sind. Indem er die Dehumanisierung des Menschen in der Klassifika­tion vorantrieb, konnte er schließ­lich die Wissenschaft vom Menschen, die Anthropologie, als Teil der Zoologie behandeln.

Vogts Eskalationskurs – zum Materialismusstreit zwischen Rudolph Wagner und Carl Vogt (1854) Diese Herangehensweise trug Vogt vor allem im sogenannten Materialismusstreit Ärger ein. Am 18. September 1854, in der ersten Sitzung der 31. Versammlung der Deutschen Naturforscher und Ärzte (VDNA ) in Göttingen, ergriff der Anatom Rudolph Wagner (1805 – 1864) das Wort. Wagner lehrte selbst in Göttingen und sprach nun selbst „nur mit Widerstreben“69 zu der Versammlung, deren Zustimmung er sich einigermaßen sicher sein konnte, da Vertreter aus den eigenen Reihen ihn zu 66 Ebd., 22 f. 67 Ebd. 68 Ebd., 9. 69 Wagner, Rudolph (1860): Menschenschöpfung Seelensubstanz. In: Baum; Listing (Hg.): Amt­ licher Bericht über die 31. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Göttingen im September 1854. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Berichte über die Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte), S. 15 – 22. Hier: S. 15.

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seinem Vortrag aufgefordert hatten.70 Seinen Vortrag nannte er Menschenschöpfung und Seelensubstanz, „ein Gegenstand, welcher vielleicht unter allen Gegenständen der Naturforschung und des ärzt­lichen Wissens und Handelns einerseits und den übrigen Zweigen der menschlichen Bildung andererseits am meisten als Bindeglied dienen kann“. Noch dazu handelte es sich um einen Gegenstand, mit dem sich der religiös geprägte Wagner bereits zuvor auseinandergesetzt hatte.71 Sieben Seiten Vortragsmanuskript genügten, um den Materialismusstreit auszulösen.72 Die Wandlungen materialistischer Anthropologien und ihr Mäandern ­zwischen verschiedenen Diszi­plinen 73 bestimmen auch Vogts Anthropologie. Denn die Beanspruchung der materia­listischen Anthropologie durch die Medizin, Naturwissenschaften und teilweise eben auch die Philosophie ist einer der Gründe für die Verschärfung der materialistischen Thesen, die Vogt mit jeder neuen Schrift vornimmt. Sie kulminiert schließ­lich in s­ einer Formulierung der Abstammungsthese. Die Menschenschöpfung adressierte Wagner in seinem Beitrag mithilfe der Rassen­ lehre Blumenbachs, die in seiner Darstellung die Annahme von der Existenz verschiedener menschlicher Rassen mit der Überzeugung verknüpft, dass auch die „Neger […] eigene Adams und Paradiese gehabt haben müssen“.74 Wagner stellte diese Auffassung infrage, da allein die Monogenese in Deckung mit der bib­lischen Schöpfungsgeschichte zu bringen sei. Zu d­ iesem Thema habe die Physiologie keinen klärenden Beitrag geleistet.75 Mit dieser Kritik zielte Wagner auf Vogt, der kaum eine Gelegenheit ausließ, Wagner zu verspotten 76 und unlängst in seinen Bildern aus dem Thierleben in einem Kapitel über „Thierseelen“77 keinen Zweifel an seiner Auffassung über die 70 Vgl. ebd. 71 Siehe Wagner, Rudolph (1852): Ueber Theilbarkeit der Seelen und materialistische Psychologie. In: Allgemeine Zeitung, 1852 (Nr. 327; Nr. 328). Zu ­diesem Zeitpunkt stand Wagner bereits in der Kritik, dabei ging es vor allem um sein Monopol auf die Lehrstühle der Physiologie und Anatomie. Siehe dazu Haßlauer, Steffen (2010): Polemik und Argumenta­tion in der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts: eine pragmalinguistische Untersuchung der Auseinandersetzung ­zwischen Carl Vogt und Rudolph Wagner um die ‚Seele‘. Berlin: De Gruyter. Hier: S. 79 ff. Zu einer weiteren scharfen, religiös motivierten Kritik an Vogt siehe auch Frohschammer, Jakob (1855): Menschenseele und Physiologie. Eine Streitschrift gegen Carl Vogt in Genf. München: Literar.-artist. Anst. 72 Vorbereitet war der Streit jedoch bereits durch die eben genannte Publika­tion und Vogts Replik darauf in der Stuttgarter Zeitschrift Der Beobachter (vgl. Haßlauer 2010, 399 f.). 73 Vgl. auch Rölli, Marc (2012): Philosophische Anthropologie im 19. Jahrhundert – Zwischen Leib und Körper. In: Alloa, Emmanuel (Hg.): Leib­lichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts. Tübingen: Mohr Siebeck, S. 149 – 161. Hier: S. 156 f.; Rölli 2011, 390 ff. 74 Wagner 1860, 18. 75 Ebd. 76 Vgl. bspw. Vogt, Carl (1852): Bilder aus dem Thierleben. Frankfurt/M.: Literarische Anstalt. Hier: S. 423. 77 Ebd., 419 ff.

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Beschaffenheit der Seele gelassen hatte. Seit der Veröffent­lichung der Physiolo­gischen Briefe hatte er immer wieder betont, dass die Seele ein ebenso vergäng­liches Gebilde wie jedes andere menschliche Organ und ledig­lich der Oberbegriff für eine Reihe von Funk­tionen des Nervensystems sei.78 Die Folgen aus dieser Auffassung inszenierte er rhetorisch sehr drastisch: Somit wäre denn dem einfachen Materialismus Thür und Tor geöffnet – der Mensch so gut wie das Thier nur eine Maschine, sein Denken das Resultat einer bestimmten Organisa­tion – der freie Wille demnach aufgehoben? […] Die Phrenologie ist also wahr, bis in die kleinste Applika­tion hinein? Jeder Veränderung der Funk­tion muß eine materielle Veränderung des Organs vorausgegangen oder vielmehr gleichzeitig mit ihr eingetreten sein? Ich kann nicht anderes sagen, als: Wahr­lich, so ist’s. Es ist wirk­lich so. Der freie Wille existirt nicht und mit ihm nicht eine Verantwort­lichkeit und eine Zurechnungsfähigkeit, wie sie die Moral und die Strafrechtspflege und Gott weiß wer noch uns auferlegen wollen. Wir sind in keinem Augenblicke Herren über uns selbst, über unsere Vernunft, über unsere geistigen Kräfte, so wenig als wir Herren sind darüber, daß unsere Nieren eben absondern oder nicht absondern lassen.79

Dieses Zitat, das Wagner in seinem Vortrag auch anführte, war der Hauptanlass für seine Empörung über Vogt. Er fürchtete, dass durch derartige Annahmen Forschung und Leben, ja die ganze Menschheitsgeschichte zu einem „Tanze Wahnsinniger in einem Irrenhause“80 degradiert würden, der mora­lische Werte annulliere 78 Ebd., 443. 79 Ebd., 445. Kritik an dieser Form der Analogiebildung kam nicht nur aus dem Lager opponierender Kollegen aus der Physiologie, sondern auch aus anderen Disziplinen, nament­lich der Psychologie. Wilhelm Wundt, der sich gleich in der ersten seiner dreißig Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele (1863) mit dem wissenschaft­lichen Materialismus auseinandersetzt, wird hier besonders deut­lich: „Wohl hat der moderne Materialismus auf einen Weg berechtigter Untersuchungen hingewiesen. Gibt es doch eine grosse Zahl von Erfahrungen, die einen Zusammenhang der physiolo­gischen Hirnverrichtungen und der psychischen Thätigkeiten ausser ­Zweifel stellen. Und diesen Zusammenhang auf dem Weg des Experiments und der Beobachtung zu erforschen, ist sicher­lich eine dankenswerthe Aufgabe. Aber nicht einmal zu dieser Aufgabe hat der Materia­ lismus einen nennenswerthen Beitrag positiver Untersuchungsergebnisse geliefert. Er hat sich damit begnügt, über die Abhängigkeit der psychischen Verrichtungen von den phy­sischen Vorgängen unbegründete Ansichten aufzustellen, oder er hat sich bemüht, die Beschaffenheit der Seelenkräfte auf irgend ein bekanntes physika­lischen Agens zurückzuführen, und keine Analogie war schlecht genug, die nicht zur Anknüpfung einer abenteuer­lichen Hypothese benutzt worden wäre.“ (Wundt, Wilhelm (1863): Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele. 2. Aufl. Hamburg; Leipzig: Verlag von Leopold Voss. Hier: S. 7 f.) Gegen einen positivistischen, dabei aber auch spekulativen wissenschaft­lichen Materialismus gedachte Wundt eine experimentelle Psychologie in Stellung zu bringen, die sich ganz als Erfahrungswissenschaft verstehen sollte. 80 Wagner 1854, 20.

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und jede Form sozialer Ordnung gefährde. Darauf kam wiederum Vogt am Ende ­seiner Replik auf Wagner zurück, um sie als „unend­lich lächer­lich“81 zu beschreiben, womit allerdings noch eine seiner behutsameren Formulierungen genannt ist. Wagner und Vogt trugen ihren Streit eher mit der Axt als mit dem Florett aus, die Hitzigkeit der Auseinandersetzung kam manchem Zeitgenossen wohl oft unfreiwillig komisch vor. Gottfried Keller, der bei Jakob Moleschott studiert hatte, bezeichnete die Debatte deshalb als „Froschmäusekrieg ­zwischen den Pedanten des Glaubens und des Unglaubens“.82

Vogts Materialismus als Beitrag zur Weltanschauungsliteratur Der Schlagabtausch ­zwischen Wagner und Vogt setzte sich fort: Vogts Streitschrift Köhlerglaube und Wissenschaft erschien 1855 bei Ricker in Gießen und widmete sich auf etwa 150 Seiten (je nach Ausgabe) der Vernichtung der ­kurzen Ansprache ­Wagners bei der VDNA . Während sich die erste Hälfte des Buches der Diskreditierung der wissenschaft­lichen Leistungen Wagners zuwendet,83 beschäftigt sich die zweite Hälfte mit dem Nachweis der von Wagner bestrittenen Polygenese sowie mit dem Versuch, die Existenz einer unsterb­lichen Seele zu widerlegen. Für die Poly­g enese, die Abstammung aller Lebewesen von verschiedenen Ur-­Paaren oder -Formen sprachen laut Vogt vor allem geografische Befunde.84 Die Annahme einer polygenetischen Abstammung der zur Gattung homo gehörenden Arten, die Vogt schon in früheren Werken vehement behauptet hatte und auch nach seiner Wende zur Evolu­tionslehre Darwins 85 in abgeschwächter Form beibehalten sollte, ist von heute aus betrachtet schwierig in seinen Ansatz zu integrieren. Sie scheint inkonsequent, da sie sich nicht mit der gemeinsamen Abstammung aller Menschen aus einer Urform, aus der sich auch die Affen entwickelten, zusammenbringen lässt. Ein weiterer Konflikt besteht ­zwischen der Annahme der Polygenese und dem liberalen Denken Vogts. Denn die Annahme einer polygenetischen Entstehung 81 Vogt 1971, 632. 82 Zit. nach Ritzer, Monika (2007): Faktum – System – Substanz. Reflexe der Naturwissenschaft in der Literatur z­ wischen 1835 und 1855. In: Kurt Bayertz et al. (Hg.): Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Band 1: Der Materialismusstreit. 3 Bände. Hamburg: Felix Meiner, S. 275 – 308. Hier: S. 305. Laut Ritzer bezieht sich Keller auf eine Schrift seines Freundes Wilhelm Schulz, in der sich dieser gegen Vogt wendet. 83 Dabei geht es vor allem um die von Wagner besorgte Neuausgabe eines anatomischen Lehrbuchs, das Sömmerring 1800 herausgebracht hatte. 84 Vogt 1971, 585. 85 Die Abstammung aller Arten von jeweils einer gemeinsamen Stammform wird bei Darwin in Über die Entstehung der Arten oft wiederholt. Siehe dazu exemplarisch Darwin 2009a (Über die Entstehung der Arten), 612.

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der Arten ging in der Regel mit Chauvinismus und Rassismus einher (vgl. Kap. I). Vogts Werk zeigt, dass mit der Akzeptanz der Evolu­tionstheorie kein umfassendes aufklärerisches Wissenspaket gekauft wurde. Das betrifft auch Vogts antiklerikale Einlassungen,86 mit denen er den autoritären Charakter einer religiösen Heilslehre (den Köhlerglauben) kritisierte; sie benötige eine „unsterb­liche Seele, um sie nach dem Tode des Menschen quälen und strafen zu können“.87 Vor allem die mora­lische Aufladung des Themas, die Vogt allerdings nur bei seinen Gegnern erkennen wollte, diente ihm als Nachweis der besonderen subjektiven Verblendung Wagners, die er als unmodern beschrieb: „Dies Geschrei um die mora­lische Weltordnung gleicht vollkommen dem Zeter der Fuhrleute über die Eisenbahnen, dem Jammer der Zunderfabrikanten über die Streichhölzchen.“88 Der Materialismus wird hier zur Lokomotive des wissenschaft­lichen Fortschritts und zum ideolo­gischen Brandsatz. Durch diese Identifizierung des materialistischen Projekts mit der Spitze wissenschaft­ licher Erkenntnis kann sich Vogt auch in seinen weiteren Schriften als Aufklärer und Modernisierer inszenieren. Dies spielt bei der Adop­tion Darwin’scher Ideen (nicht nur durch Vogt) eine wichtige Rolle. Die ‚Darwin-­Industrie’ produzierte von Anfang an eine Literatur, die in e­ rster Linie Medium „weltanschau­licher Auseinandersetzungen“ gewesen ist, die mehr oder weniger systematisch von Darwin und seinen Schriften wegführte,89 und sich programmatisch in der Debatte um die Abstammungsthese verdichtete. Vogts Agieren in der Auseinandersetzung mit Wagner ist symptomatisch für eine ganze Reihe von Schriften, auf die in den folgenden Kapiteln noch die Sprache kommt. Den Texttyp der Weltanschauungsliteratur 90 hat Horst Thomé f­ olgendermaßen 86 Gudrun Kühne-­Betram hat anhand verschiedener zeitgenös­sischer Wörterbücher gezeigt, mit ­welchen philosophischen Folgen aus dem Materialismus man um 1850 rechnete. Besonders promi­nent sind die Begriffe „Atheismus“, „Mechanismus“ und „Fatalismus“ (vgl.: Kühne-­ Bertram, Gudrun (2000): Zum Begriff „Materialismus“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Arndt; Jaeschke (Hg.) – Materialismus und Spiritualismus, S. 153 – 165. Hier: S. 165). 87 Vogt 1971, 634. 88 Ebd., 636. 89 Vgl.: Rupke, Nicolaas A. (2000): Zu einer Taxonomie der Darwin-­Literatur nach ideolo­ gischen Merkmalen. In: Brömer; Hoßfeld; Rupke (Hg.) – Evolu­tionsbiologie von Darwin bis heute, S. 61 – 68. Hier: S. 62. 90 Siehe dazu: Thomé, Horst (2002): Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funk­ tion und Texttyp. In: Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt (Hg.): Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Drittes Interna­tionales Hamburger Kolloquium zu Problemen der Literaturinterpreta­tion und Literaturgeschichtsschreibung. Tübingen: Niemeyer, S. 338 – 380. Thomé geht besonders ausführ­lich auf Haeckel ein, kommt aber auch auf Ludwig Büchner, Wilhelm Bölsche, Sigmund Freud und Adolf Hitler zu sprechen. Diese mög­licherweise etwas zu steil angesetzte Reihe wird durch die literaturwissenschaft­liche Untersuchung in einen formalen Zusammenhang gebracht, der hier nur im Ansatz angedeutet werden kann. Es ist jedoch auffällig, daß Thomé unter den großen Weltanschauungsschriftstellern in dem Zeitraum, den

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charakterisiert: „Die Weltanschauungsliteratur beruht auf der Interdependenz von Wissensdemonstra­tion, Autobiograpahie und Spekula­tion.“91 Ergänzend wird zur rhetorischen Selbstinszenierung des Autoren-­Ichs hinzugefügt: „Das typische Weltanschauungs-­Ich entwirft sich als angefeindeter, ja verfemter Rufer in der Wüste, übertreibt dabei die Meinungsunterschiede mit seinen Konkurrenten und genießt in der sozialen ‚Wirk­lichkeit‘ Prominenz, Ansehen und Erfolg.“92 Thomés Einordnung verdeut­licht auch, dass diese Literatur von einem Weltanschauungsbegriff lebte, der sich von früheren, erkenntnistheoretisch geprägten Versionen des Begriffs bei Kant, Schleiermacher oder Hegel gelöst hatte, und das „lebensgeschicht­liche Moment“ verstärkte.93 Erheb­licher Aufwand wird bei Vogt und ­später auch bei Haeckel darauf ­verwandt, den Leser von ihren induktiven Schlussfolgerungen zu überzeugen. Dabei weisen sie immer wieder auf die eigene Empirie hin, die sie jenen überlegen macht, die rein theoretisch argumentieren. Dadurch erhalten die Texte einen stark deklamatorischen Tonfall, da sie ja über ein so deut­lich zu identifizierendes „Ich“ verfügen. Das auch bei Vogt in „wüster Kombinatorik“94 vorgetragene Wissen erhält seine Legitimität durch die Rückbindung an die persön­liche Erfahrung, die maßgeb­ lich in der Verteidigung eigener Ansichten gegen Attacken von anderen besteht. Bei Vogt findet sich diese radikale Subjektivierung im Konflikt mit Rudolph Wagner; ­später wird er ­dieses Verfahren in Opposi­tion zu seinem Kollegen Bischoff wiederholen. Es ist wohl auch eher die Subjektivierung von Wissen, die zum Eindruck eines wissenschaft­lichen Reduk­tionismus beiträgt als die Reduk­tion von Wissen selbst, die an den Texten von Vogt et al. oft moniert wurde. Thomé hat d­ ieses Vorgehen als typisch für Autoren charakterisiert, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert mit ihren Schriften zur Sinnstiftung beitragen wollten. Durch die starken Angriffe auf idealistische Posi­tionen gerieten diese immer stärker unter Rechtfertigungsdruck und in einen Erklärungsnotstand, der durch das Abwälzen von philosophischer Begründung auf persön­liche Erfahrung gelöst wird, was zu Unschärfen der Argumenta­tion auf allen Seiten führt.95 Von d ­ iesem Problem zeigen sich Vogts Schriften in keiner Weise berührt. Sie tragen eher zu der Verfestigung seiner Posi­tion bei. Vogts Interesse im Materialismusstreit bestand darin, über die Zurückweisung des Glaubens an eine unsterb­liche Seele die Geschichte des Menschen als Geschichte seines organischen Materials und dessen naturgeschicht­licher Entwicklung neu zu erzählen. Die drastischen Vergleiche

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er für die Entstehung ­dieses Texttyps für konstitutiv hält, Carl Vogt entweder übersehen oder für irrelevant befunden hat. Ebd., 359. Ebd., 361. Vgl. Thomé 2004, 456. Thomé 2002, 340. Ebd., 349.

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(Seele-­Urin), zu denen er vielfach griff und die sicher­lich auch zu seiner Verurteilung als „Vulgärmaterialist“ führten, rührten daher, dass er darauf aus war, sinn­liche Evidenzen dort ­anzubieten, wo sinn­lich kaum oder nicht fassbare Vorgänge Gegenstand wissenschaft­licher Untersuchung sein müssten.

3. Grundlagen: Carl Vogts Vorlesungen über den Menschen (1863) Vogt entwickelte seine Anthropologie im Anschluss an Darwins Über die Entstehung der Arten und wurde damit zum Verfasser des ersten anthropolo­gischen Lehrbuchs, das auf Grundlage von Darwins Evolu­tionstheorie operierte. Sein Bekenntnis zu Darwin ist grundsätz­lich: Zum voraus kann ich Ihnen, meine Herren, einstweilen das Bekenntnis ablegen, daß es mir scheint, als ­seien die Darwin’schen Ansichten näher als irgendwelche andere, und dass ich, wenn ich diese Theorie auch nicht bis in ihre letzten Consequenzen annehmen kann, wenigstens nicht ungeneigt bin, mich in Beziehung auf die näher verwandten Typen als ihren Anhänger zu erklären.96

Auch wenn sich Vogt in den Vorlesungen über den Menschen allgemein über die Deszendenztheorie auslässt, war seine Herangehensweise von der Darwins verschieden: Darwin hatte sich zur Abstammungsthese in Über die Entstehung der Arten nur implizit geäußert und vor allem die Regeln des Prozesses der Artentstehung zu beschreiben versucht. Vogt nimmt diese Lücke zum Anlass, um über den Menschen zu sprechen, an dessen Phylogenese und Phänotypologie er von vornherein interessiert war. Dabei streut er jedoch immer wieder Verweise auf die mittelmäßige Wichtigkeit des Menschen im Großen und Ganzen der Naturgeschichte. Diese Hinweise stehen in einem eigentüm­lichen Spannungsverhältnis zu langen Passagen, in denen die intellektuelle und anatomische Einzigartigkeit und Überlegenheit des Menschen gegenüber den Tieren, und dabei besonders den Affen, gewürdigt wird. Die Ambivalenz der Vorlesungen über den Menschen wiederholt sich in den komplizierten Konstruk­tionsprozessen von Mensch und Affe, die Vogt in der Abhandlung Ueber die Mikrocephalen oder Affen-­Menschen unternimmt. Sie stellen auch die Grundlage für zahlreiche Untersuchungen dar, die auch in dieser Arbeit zur Debatte stehen und verdeut­lichen, ­welche Wege zur Ausdifferenzierung dessen, was 96 Vogt 1863, 16. Zum Ende seiner Vorlesungen gesteht Vogt (ebd., 257), dass er nicht immer von der Transforma­tion der Arten überzeugt gewesen sei. Er begründet dies dadurch, dass die feststellbaren Gegensätze ­zwischen manchen Arten so groß ­seien, dass man sich nur schwer­lich von deren Verwandtschaft, wie mittelbar sie auch sei, habe überzeugen können.

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Anthropologie werden sollte, in der ersten Zeit der Darwin-­Rezep­tion genommen wurden. Mit der Ausdifferenzierung der Anthropologie geht dabei selten eine differenzierte Beschreibung von Menschen oder Affen einher. Dass sie weiter vor allem als Kollektivsingulare auftauchen, unterstreicht den Charakter der Anthropologie als Attribuierungspraxis.97 Mit seinem Lehrbuch schließt Vogt einerseits an die Tradi­tionen der Anthropologie um 1800 an, indem er versucht, nichts weniger als ‚die‘ Natur des ‚ganzen Menschen‘ in den Blick zu nehmen, wozu er sich aller Disziplinen bedient, die damals unter dem Dach der Anthropologie Platz fanden. Die Originalität und das Hauptziel der Abhandlung besteht darin, dem anthropolo­gischen Universalismus eine strate­gische Perspektive zu geben. Diese besteht erstens darin, alle Erkenntnisse über Anatomie und Physis des Menschen in den Dienst der Abstammungslehre zu stellen und dies zweitens zur Sicherung des Materialismus zu tun.98 Vogt verengt mit dem Fortschreiten seiner Forschung jedes Mal den Fokus: So entwickelt er erst auf Grundlage seiner Erkenntnisse in der Chemie und Medizin einen Materialismus, der die weltanschau­liche Basis seiner Wissenschaft wird. Dieser Abschnitt handelt davon, wie er den Materialismus in einem weiteren Schritt auf den Menschen und dessen Abstammung anwendet.

Der publizistische Hintergrund der Vorlesungen Ursprüng­lich entstanden die sechzehn Vorträge, die jeweils etwa zwanzig Seiten Text umfassen, innerhalb eines Programms zur Volksbildung, das von der „gemeinnnüt­ zigen Gesellschaft des Kantons Neuenburg“ eingerichtet worden war.99 Während des Winters fanden in verschiedenen Orten des Kantons jede Woche Vorlesungen statt, die einem breiten Publikum zugäng­lich sein sollten, und in denen außer Anthropologie auch über „vaterländische Geschichte“ oder „Staatswirtschaft“100 gesprochen wurde. Der Anspruch auf Gemeinverständ­lichkeit, der mit dieser Vortragsform verbunden ist, lässt sich auch an der Sprache des Textes ablesen. Ihm sind mög­licherweise auch 97 Das scheint auch mit der Rede von der „anthropolo­gischen Maschine“ bei Agamben gemeint zu sein (Agamben, Giorgio (2003): Das Offene. Der Mensch und das Tier. Frankfurt/M.: Suhrkamp). 98 Die Innova­tion ­dieses Zugriffs wurde bald erkannt, kurz nach Erscheinen in Deutschland lagen auch eng­lische und franzö­sische Übersetzungen vor: Vogt, Carl (1864): Lectures on Man: His Place in Crea­tion, and in the History of the Earth. Übersetzt von J. Hunt und veröffent­licht für die Anthropological Society. London: Longman, Green, Longman; Vogt, Carl (1865): Leçons sur l’homme. Sa place dans la créa­tion et dans l’historie de la terre. Übersetzt von J.-J. Moulinié. Pais: Reinwald. 99 Vgl. die Vorrede in Vogt 1863, V. 100 Ebd.

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die vielen Redundanzen geschuldet, die sich durch die knapp 600 Seiten ziehen. Ein thematischer Schwerpunkt lässt sich in der siebten Vorlesung ausmachen, in der sich die meisten Bemerkungen zur Frage der menschlichen „Rassen“ finden, die sechzehnte Vorlesung fasst noch einmal Haupterkenntnisse der Reihe zusammen und kommt auf die Bedeutung Darwins zurück. Vogts Vortragsreisen außerhalb der Schweiz sind in den Jahren 1867 bis 1869 am besten belegt. Sie führten ihn in über 30 Städte des deutschen Sprachraums, in denen er jeweils an zehn Abenden seine Vorlesungen über den Menschen vor einem Publikum von etwa 100 Zuhörern hielt. Werner Michler teilt Details dazu vor allem für die Sta­tionen in Österreich mit, wo Vogt offenbar ebenfalls genug Berühmtheit erreicht hatte, um verschiedene Schriftsteller- und Naturforscherverbände dazu zu animieren, sein üppiges Honorar von 900 Gulden für diese Veranstaltungen aufzubringen.101 Ein großes Aufsehen erregten die Vorträge Vogts vermut­lich, weil der Vortragstext in den späten 1860er-­Jahren bereits veröffent­licht vorlag und Gegner seiner Ansichten deshalb schon vor den Vorlesungen zum Angriff blasen konnten. In Brünn führte das zu der unangenehmen Situa­tion, dass eine Schrift mit dem Titel Die Affensprünge Vater Vogts im Chaos! als Gegenmanifest erschien,102 ohne dass „Vater Vogt“ überhaupt in den Ring gestiegen war. Es erschienen jedoch auch Schriften von Untersützern Vogts, bspw. Die Karl Vogt’sche Theorie von der Abstammung des Menschen. Sach­lich beleuchtet von Paul Kummer.103 Das Buch erschien 1868 bereits in der zweiten, „mehrfach erweiterten“ Auflage und liefert ein beredtes Zeugnis für Vogts damalige Autorität und Bekanntheit in seinem Fach, da es sich hierbei um eine Art Vogt-­Lehrbuch handelt, in dem die eingängigsten Thesen seiner Vorträge noch einmal zusammengestutzt werden. Auch bei ­diesem Werk handelt es sich um Vortragsmanuskripte, die in einem ungenannten naturhistorischen Verein zu Gehör gebracht worden waren. Kummers Popularisierung zweiter Ordnung ist aufschlussreich, weil die selektive Präsenta­tion einiger Vogt’scher Ideen (vor allem zur Ausnahmestellung des Menschen in der Naturgeschichte) eine zeitgenös­sische Lesart der Vorlesungen über den Menschen präsentiert. Das rege Interesse an den Vorträgen Vogts ist zum einen auf ein erhöhtes Interesse an Naturwissenschaft zum Zeitpunkt der Vortragsreisen zurückzuführen: Sie fallen mitten in eine Hochphase von Gründungen privater Naturvereine und anderer Organisa­tionen, in denen sich Naturfreunde und professionelle Forscher mischten, um sich über ihre Interessen auszutauschen. Andreas Daums Studie zur Wissenschaftspopularisierung verzeichnet für die Jahre 1860 bis 1869 die Gründung von 31 entsprechenden Vereinen im deutschsprachigen Raum,104 parallel dazu stiegen jähr­lich 1 01 Vgl. Michler 1999, 40 f. 102 Zit. n. ebd., 40. 103 Vgl. Kummer 1868. 104 Vgl. Daum 1998, 93.

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die Teilnehmerzahlen an den Versammlungen der 1822 von Lorenz Oken initiierten Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte,105 die lange Zeit ebenfalls ein Treffpunkt war, an dem sowohl Laien als auch Fachmänner zusammenkamen. Zum anderen war Vogt nicht nur Schreibtisch-­Polemiker, sondern auch ein animierter und animierender Redner. Die Neue Freie Presse aus Wien, wo der Reisende „‚in Wissenschaft‘ für das Haus Simia & Co“106 im Winter 1869 gastierte, berichtete in mehreren Ausgaben über die Vorlesungen Vogts und fand schmeichelhafte Worte für seinen Auftritt: Vogt’s Vortragsweise erhöhte noch den Erfolg seiner geistreichen Worte. Am fernsten steht sie wol der Kanzel, doch ist sie auch von der üb­lichen Manier auf dem Katheder oder der parlamentarischen Tribüne wesent­lich verschieden. Sie ist naturwissenschaft­lichen Gegenständen höchst angemessen und übt einen eigenthüm­lichen Reiz durch den Eindruck der Un b e f a n g e n h e i t aus, den der Sprecher macht. Man fühlt es, dass er nicht durch die Schönheit der Worte, sondern durch die Logik der Thatsachen überzeugen will.107

Doch auch in Wien mangelte es nicht an Gegnern, deren lauteste Stimme dem Theologen Vinzenz Knauer gehörte, der sich in seinen Drei Vortäge[n] gehalten in Wien vor einem den höchsten und intelligentesten Kreisen angehörigen Publikum über Karl Vogt und sein Publikum 108 ausließ. Knauer ereifert sich über die dem Katechismus widerstreitenden Aussagen Vogts. Gepaart wird dieser Unmut mit dem Ärger über eine entmystifizierte Natur, die Knauer in Vogts Werken erblickt. Knauer setzt das Wirken der Natur mit den wundertätigen Gestalten der Märchen gleich und ist dementsprechend enttäuscht. Die „bunte Zauberwelt“ der Märchen, in die er „wie in ein stärkendes und verjüngendes Bad“109 zu steigen pflegte, ist dahin. Verletzte religiöse Gefühle sind auch Motiv für Johann Baptist Baltzers Schrift Anfänge der Organismen und die Urgeschichte des Menschen von 1869,110 in welcher der Theologe auf die stenografischen Mitschriften von Vogts Breslauer Vorträgen zurückgreift, aber auch auf die Mikrocephalen-­Abhandlung eingeht. Es sind Vorträge 105 In den Anfangsjahren erschienen teilweise nur etwa 30 Mitglieder, knapp 1300 waren es 1877 in München, über 5000 Forscher trafen sich 1913 in Wien (vgl. ebd., 120). 106 Schumann, Albert (1868): Die Affenmenschen Carl Vogts. Leipzig. Hier: S. 3. 107 Neue Freie Presse, Wien, Nr. 1881 vom 23. 11. 1869, S. 6. 108 Knauer, Vincenz (1870): Karl Vogt und sein Auditorium. Drei Vorträge gehalten in Wien vor einem den höchsten und intelligentesten Kreisen angehörigen Publikum. Wien: Mayer & Compagnie. Aus dem Kontext geht nicht hervor, dass diese Passage parodistisch gemeint sein könnte. 109 Ebd., 34. 110 Baltzer, Johann Baptist (1869): Anfänge der Organismen und die Urgeschichte des Menschen. Fünf Vorträge zur Widerlegung der von Carl Vogt zu Breslau gehaltenen Vorlesungen „Ueber die Urgeschichte des Menschen“ von Joh. Bapt. Baltzer, Doctor der Philosophie und Theologie; Domscholastikus und Universitätsprofessor in Breslau. Paderborn: Schöningh.

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wie Baltzers, die Vogt überhaupt zum „Darwinisten“ ernennen und damit das Phänomen „Darwinismus“ kreieren. Es entwickelt sich aus einem Wechselgespräch, das vor allem über Publikumszeitschriften geführt wird und den Idiosynkrasien der Autoren Ausdruck verleiht. Ein vordring­lich wissenschaft­liches Phänomen ist ‚der‘ Darwinismus, von dem zu d­ iesem Zeitpunkt die Rede ist, nicht. Das lässt sich unter anderem daran festmachen, dass der Terminus ebenso wie der Titel ‚Materialist‘ als Kampf­ begriff verwendet wurde, der nicht nur falsche religiöse und mora­lische Überzeugungen bezeichnen sollte, sondern mit dem man je nach Bedarf eine wissenschaft­liche Methode als falsch identifizieren konnte: Auch Vogt ist ein entschiedener Anhänger des Darwinismus. Hier sucht man nicht, wie bei der inductiven Methode, aus beobachteten Erscheinungsthatsachen und ihren Entstehungsbedingungen die Naturgesetze zu ermitteln und der Natur ihr Recht zu lassen: man sucht im Gegentheil dem Darwinismus, der von einer willkür­lichen Annahme ausgeht, durch allerlei äußere casuistische Mittel sein Recht über die Naturgesetze zu vindicieren.111

Baltzer war dabei offensicht­lich entgangen, dass es sich auch bei Darwin, dem Namensgeber eines Ismus, mit dem er vermut­lich selbst wenig hätte anfangen können, um einen sehr genauen Empiriker handelte, der nicht davon ausging, Naturgesetze zu schreiben, sondern davon, Regelmäßigkeiten auf den Begriff zu bringen. Da Baltzer an keiner Stelle seiner Schrift Darwin direkt zitiert und beständig nur gegen Vogt wettert, der seinerseits Darwin auch nur sparsam paraphrasiert, stellt sich wiederum die Frage, wie gut Darwin gelesen worden ist, beziehungsweise, ob er überhaupt gelesen worden ist.112

Der Text und seine Quellen Vogt gibt in den Vorlesungen über den Menschen gleich zu Anfang zu verstehen, dass seine Ausführungen stark von den Erkenntnissen Thomas Huxleys (1825 – 1895) und Charles Lyells (1797 – 1895) zehren.113 Huxleys Evidence as to Man’s Place in Nature 114 heizte die Diskussion über die Affenabstammung des Menschen interna­tional an: 1 11 Baltzer 1869, 12. 112 Auf das Problem, wie man feststellen soll, wer Darwin wie gelesen hat, weist auch Gilian Beer hin (dies. (2000): Darwin’s plots. Evolu­tionary narrative in Darwin, George Eliot and 19. century fic­tion. 2. Aufl. Cambridge: Cambridge University Press. Hier: S. 3). Besonders für die deutsche, religiös motivierte Darwin-­Kritik hat Tilman Matthias Schröder auf erheb­liche Wissenslücken verwiesen: Vgl. Schröder 2008, 6. 113 Vgl. Vogt 1863, VII. 114 Huxley, Thomas H. (1863): Evidence as to Man’s Place in Nature. London: Williams & Norgate.

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Für die Abstammungsthese stellte er die Standardreferenz dar. Die schlanke Schrift umfasst im Gegensatz zu Vogts Vorlesungen gerade einmal 160 Seiten, die in einen Essay über die Wissensgeschichte des Affen bis zum damaligen Zeitpunkt („On the natural history of the man-­like apes“), den zentralen Part über die Verwandtschaftsbeziehungen des Menschen zu den Affen („On the rela­tions of man to the lower animals“) und einen Teil über die paläontolo­g isch relevanten Funde von Menschenknochen unterteilt sind. Huxley beschäftigt sich hier auch mit dem Fund des sogenannten Neandertalers,115 welcher der wissenschaft­lichen Gemeinde vor allem durch die Arbeiten von Hermann Schaaffhausen (1816 – 1893) bekannt wurde. Auch Vogt interessiert sich für den Neandertaler und kommt in den Vorlesungen mehrfach auf ihn zu sprechen.116 Er handelt ihn aber schließ­lich relativ kurz ab und kommt zu dem Fazit: „Das Ganze [Hirn des Neandertalers] zeichnet sich also ein niederstehendes, den niedersten Völkerschaften gleichkommendes Hirn mit eben so entschiedener Hinneigung zum Affen, wie bei diesen.“117 Vogt hätte mithilfe der Erkenntnisse zum Neandertaler sicher­lich seinen genealo­gischen Materialismus durch ein weiteres anthropolo­g isches Argument stützen können. Da sich jedoch bereits Schaaffhausen ausführ­lich zum Neandertaler geäußert und damit das Thema besetzt hatte, war es Vogt hier nicht mög­lich, mit eigenständiger Forschung zu glänzen. Mög­licherweise verzichtete er auch deshalb darauf, den Fund aus dem Rheinland zu einem der Prüfsteine seiner Behauptungen zu machen. Huxley war 1863 durch seine Schrift, die Darwin schlicht „the ape book“ nannte, schlagartig berühmt geworden, da er erstmals tatsäch­lich Licht auf den Ursprung des Menschengeschlechts scheinen ließ und damit das Versprechen einlöste, das Darwin am Ende seines Hauptwerkes gegeben hatte. Wie Vogt war auch Huxley ausgebildeter Mediziner und hatte erste Schriften unter anderem über die Struktur des menschlichen Haars und Cephale Mollusken verfasst. Letztere Untersuchung sandte er auch an Darwin, der sich jedoch wenig für die Schrift begeistern konnte, da er meinte, mit ihren Gegenständen nicht vertraut zu sein.118 Ab 1854 hatte Huxley den Lehrstuhl für Naturgeschichte an der Royal School of Mines in London inne. In dieser Posi­tion entstand auch sein am meisten gelesenes oder zumindest diskutiertes Werk, das bereits im Erscheinungsjahr von Julius Victor Carus (1823 – 1903) unter dem Titel Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur in deutscher 1 15 116 117 118

Huxley 1863, 128 ff. Vgl. Vogt 1863 (2), 68 ff.; 319 f. ebd., 320. Das Zitat entspricht in ­diesem Satzbau dem Vogt’schen Text. Vgl. Di Gregorio, Mario A. (1984): T. H. Huxley’s Place in Natural Science. New Haven und London: Yale University Press. Hier: S. 36. Dennoch achtete Darwin seinen Kollegen und schrieb ihm 1854 einen Empfehlungsbrief für seine Bewerbung um eine Professur in Toronto (vgl. http://darwin-­online.org.uk/content/frameset?itemID=F344&viewtype=text&pageseq=1, letzter Aufruf am 19. März 2015).

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Sprache erschien.119 Ob Vogt die deutsche Übersetzung oder das eng­lische Original gelesen hat, ist nicht bekannt. Vogt nimmt in den Vorlesungen über den Menschen jedoch nicht nur auf Huxley Bezug, sondern bündelt viele Aspekte der zeitgenös­sischen Anthropologie und systematisiert dabei gleichzeitig seine eigene Arbeit. Dabei funk­tionalisiert er erstmals in seinem Werk die Bezeichnung „Affe“ derart, dass sie zu einem Mittelbegriff ­zwischen Mensch und Tier wird. Dadurch findet eine Reduk­tion auf die rein opera­tionale Kraft der Bezeichnung statt, sodass innerhalb des Oberbegriffs „Affe“ nur grob ­zwischen verschiedenen damals oder heute bekannten Arten differenziert wird: „Keine Form steht dem Menschen in allen Punkten absolut näher, als die andere – von verschiedenen Seiten streben die drei Formen der menschlichen Gestalt zu, ohne sie ganz erreichen zu können.“120 Sein systematisches Interesse verdeut­licht Vogt gleich zu Anfang, indem er seine Vorlesungen als Fortsetzung von Köhlerglaube und Wissenschaft präsentiert. Dies wird immer dann verständ­lich, wenn es um Vogts Erkenntnisse zur Beschaffenheit des menschlichen Hirns im Vergleich zu dem des Affen geht. Die enge Verbundenheit des anthropolo­gischen mit dem materialistischen Argument Vogts wurde auch von seinen Zeitgenossen erkannt. Die zentralen anthropolo­gischen Argumente betreffen die Verschiedenheiten ­zwischen den von Vogt so genannten „Rassen“ und die Suche nach den Gründen für diese Verschiedenheit. Diese wurde tradi­tionell im Zusammenhang mit der von Vogt vertretenen These der Abstammung des Menschen vom Affen beahndelt. Vogt war sich bewusst, dass eine Anthropologie mit dem Ziel der Betonung der Ähn­lichkeiten ­zwischen schwarzen Afrikanern und Affen – über die sich genealo­gische Verbindung von den Affen zu den weißen Europäern herstellen ließ – Teil einer rassis­tischen Agenda war. Dies gilt umso mehr, als dass sich in seinem Text zeigt, dass er wohlvertraut mit den Schriften Campers und Soemmerrings war, in denen dieser Punkt angesprochen wird. Diesen Konflikt mit seiner liberalen Agenda meinte Vogt lösen zu können, indem er erklärte, eine scheinbar unbefangene und rein an den Fakten orientierte Wissenschaft zu betreiben und damit eine Verantwortung für die Verwendung der von ihm propagierten Thesen von vornherein ablehnte: Es wird uns einerlei sein, ob der Democrat in den Südstaaten eine Bestätigung oder Verwerfung der seiner Behauptung nach von Gott geordneten Sclaverei, die „der Eckstein ist, welcher von den Menschen verworfen wurde, aber Gott wohlgefällig ist“, in den Resultaten unserer Forschung

119 Di Gregorio und auch Christopher Cosans zeigen plausibel, dass sich Huxleys Buch in erster Linie gegen seinen Konkurrenten Richard Owen richtet, der einer der erfolgreichsten Naturwissenschaftler im England seiner Zeit war (Cosans, Christopher Ernest (2009): Owen’s Ape & Darwin’s Bulldog. Beyond Darwinism and Crea­tionism. Bloomington, Ind.: Indiana University Press). 120 Vogt 1863 (2), 280.

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findet, oder ob der Yankee in seinem Rassenstolz, der ihm wohl erlaubt, das von den Negern gekochte zu essen, nicht aber mit Negern in demselben Zimmer oder Eisenbahnwagen zu sitzen, sich auf unsere Ansichten beruft. Wir werden an der Hand der Forschung unbekümmert voranschreiten und in Bezug auf das Gekläffe hinter uns drein mit dem Dichter sagen: „Und ihres Bellens lauter Schall/Beweist nur, dass wir reiten“.121

Dieses Zitat vereint die für Vogt typische Unbeirrbarkeit und die Verachtung seiner Gegner. Gleichzeitig spricht daraus aber auch ein Bestreben nach kurzweiligen Pointen in seinen Vorlesungen, die zu seiner Reputa­tion als Redner beitrugen. Wenn Vogt hier davon spricht, „unbekümmert an der Hand der Forschung“ voranzuschreiten, überspielt er damit rhetorisch vor allem, dass ihm die normative Dimension seiner Forschung durchaus bewusst ist, er sie aber nicht zu beachten wünscht. Wann immer es jedoch zu Anlehnungen an Huxley kommt, lässt sich wie auch in der Bronn’schen Darwin-­Übersetzung eine Dramatisierung im Ton feststellen,122 der die diskutierten Fragen tendenziös einnordet. Huxley kommt im zweiten Kapitel auf den Affekt zu sprechen, den beim Menschen die Konfronta­tion mit dem Gedanken auslöst, mit einer „Karikatur seiner selbst“ verwandt zu sein: Brought face to face with these blurred copies of himself, the least thoughtful of men is cons­ cious of a certain shock, due perhaps, not so much to disgust at the aspect of what looks like an insulting caricature, as to the awakening of a sudden and profound mistrust of time-­honoured theories and strongly-­rooted prejudices regarding his own posi­tion in nature, and his rela­tions to the under-­world life; while that which remains a dim suspicion for the unthinking, becomes a vast argument, fraught with the deepest consequences, for all who are acquainted with the recent progress of the anatomical and physiological sciences.123

Für Huxley stehen durch die Erkenntnisse der Anthropologie „time-­honoured theories“ und „strongly-­rooted prejudices“ auf dem Spiel: eine wie auch immer geartete Tradi­ tion, die in seiner Formulierung in etwa den Status eines Gewohnheitsrechts hat. Vogt schließt mit seinem Plan einer anthropolo­gischen Konfronta­tionstherapie an Huxley an: Der ganze Stolz, der in der menschlichen Natur liegt, empört sich bei dem Gedanken, dass der Herr der Schöpfung behandelt werden könne, wie ein anderes Naturobject auch. Sobald der Naturforscher eine Aehn­lichkeit mit dem Menschen zunächst stehenden Säugethieren,

121 Vogt 1863, 21. Vogt ändert hier zwei Verse aus Goethes Gedicht „Kläffer“ ab. 122 Kritik an der mangelhaften Übersetzung von Bronn, die ­später durch die Standard-­Übersetzung von Carus abgelöst wurde ( Junker/Backenköhler nennen hier das Jahr 1868), kam bereits direkt nach der Veröffent­lichung 1860 auf. Zu der Übersetzungsgeschichte von Über die Entstehung der Arten siehe Kelly 1981, 20 f. und Junker; Backenköhler 1999. 123 Huxley 1863, 59.

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den Affen, entdeckt, schreit Alles, was irgend von menschlicher Würde einen Begriff zu haben glaubt, gegen den Vermessenen, der es wagen wolle, den Menschen in seinem innersten Heilig­ thume anzutasten. Die ganze Zunft der Philosophen, ­welche einen Affen nie anders als in einem Käfig einer Menagerie oder eines zoolo­gischen Garten erblickt hat, setzt sich aufs hohe Roß und appelliert an den Geist, an die Seele, an die Vernunft, an das Selbstbewusstsein und wie die immanenten Eigenschaften des Menschen alle heißen mögen, je nachdem sie in ­diesem oder jenem philosophischen Schema sich reflectiren.124

Vogts rhetorischer Habitus ist damit gesetzt. Es geht in seinen Untersuchungen nicht nur um eine Diskussion der richtigen Lehre von der Abstammung der Arten, sondern um Fragen politischer Relevanz, die in einem Oben-­unten- bzw. Hoch-­niedrig-­Schema von Vogt umgesetzt werden. „Die da oben“, Wissenschaftler also, die Affen nur aus dem Zoo kennen (über seine eigenen Bekanntschaften mit den nächsten Verwandten des Menschen schweigt sich Vogt vornehm aus), sind von ihm schon allein deshalb verschieden, weil sie sich nicht einem Laienpublikum stellen. Vogt inszeniert sich fast in jeder Schrift als Mann des Volkes. Die hohen Gegenstände („Seele“, „Geist“, „Vernunft“), mit denen man sich auf dem „hohen Ross“ beschäftigt, sollen profaniert bzw. für inexistent erklärt werden. Dies gelingt Vogt durch die Konstruk­tion der für ihn jeweils nütz­lichen anthropolo­gischen Dreiecke, die er varia­bel besetzt. Alles, was in den tradi­tionellen Entwürfen zu spezifischen Differenzen den Menschen zum Subjekt macht, wird laut Vogt durch die naturwissenschaft­liche Erkenntnis zu einer rein physiolo­gischen Angelegenheit, und der Mensch gerät so zu einem „Naturobject unter anderen“. Der „Typus“ Affe oder Mensch übersteigt bei Vogt an Wichtigkeit das Individuum, da die Typusbezeichnung ohnehin ledig­lich als Signal verwendet wird, um die Zuhörer in die nötige Alarmbereitschaft zu versetzen. Vogt führt ein „niedriges“ Untersuchungsobjekt (,den‘ Affen) in eine Untersuchung ein, die sich mit dem „höchsten“ aller Lebewesen (,dem‘ Menschen) beschäftigt. In seiner Sprecherposi­tion verbündet er sich scheinbar mit einem Laienpublikum und richtet sich gegen diejenigen, die sich ganz oben (auf den Lehrstühlen) wähnen. Abgesehen von allen evolu­tionsbiolo­gischen Interessen Vogts lässt sich bereits an dieser Staffelung ablesen, wozu Vogt „Affen“ überhaupt braucht: Als Mittel der Kritik an Hierarchien und Defini­tionsmacht in der Anthropologie. Vogt will umverteilen. Dazu muss ‚der‘ Affe nicht als Figur behandelt werden, er bleibt bei Vogts letzt­lich ein konturloser, gleichgültiger Gegenstand, über den wie über beliebige andere Gegenstände anataomische Details mitgeteilt werden. ,Der ‘Affe bleibt eine Trope, die die anthropolo­gische Differenz vorerst nur markiert und dadurch verhandelbar macht. Um seine Auffassungen durchzusetzen, stützte sich Vogt auf die Forschung, die zu diesen ­Themen die meisten Anschlusspunkte anbot.

124 Vogt 1863, 9.

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Typologische Schädelkunde Zentraler Ansatzpunkt für seine Überlegungen in den Vorlesungen über den Menschen ist dementsprechend die vergleichende Betrachtung von Menschen- und Affenhirnen. Diese Konzentra­tion auf das Hirn findet auch bei Huxley statt. Da es stets weniger Hirne als Schädel gab, weil das Verfallsdatum der Hirne ihre Eignung als Untersuchungsobjekte begrenzte, trat die Kraniologie als Ergänzungsstudium zur Hirnforschung hinzu. Während Sömmerring et al. versucht hatten, dadurch die funk­tionalen Differenzen z­ wischen Affen und Menschen und damit die Überlegenheit des Menschen zu befestigen, gibt es bei Huxley immer wieder Ansätze dazu, die gesamte Debatte zu versach­lichen. Folgendes Zitat spielte dabei in der Rezep­tion ­seines Werkes eine entscheidende Rolle, insbesondere Haeckel griff es als „Huxleysches Gesetz“ auf (s. Kapitel IV ). Huxley beschreibt jedoch kein Gesetz, sondern weist auf Strukturähn­lichkeiten auf Artebene hin: So far as cerebral structure goes, therefore, it is clear that Man differs less from the Chimpanzee or the Orang, than these do even from the Monkeys, and that the difference between the brains of Chimpanzee and of Man is almost insignificant, when compared with that between the Chimpanzee brain and that of a Lemur. It must not be overlooked, however, that there is a very striking difference in absolute mass and weight between the lowest human brain and that of the highest ape – a difference which is all more remarkable when we recollect that a full grown Gorilla is probably pretty nearly twice as heavy as a Bisjes man, or as many an European woman.125

Auch wenn also die Hirne der größten Affen den der Menschen ähn­licher sind als denen der kleinen, geschwänzten Affen (monkeys), so hält es Huxley immer noch für erwähnenswert, dass der Mensch propor­tional gesehen das größte Hirn besitzt; seine Referenzobjekte, von denen er offenbar ausgeht, dass sie ebenfalls kleinere Hirne als der weiße europäische Mann besitzen, sind Frauen und ein „Bisjes Mann“. Auch für Vogt steht die vergleichende Anatomie von Menschen- und Affenhirnen im Vordergrund seiner Analysen, weiterhin stützt er sich auch auf die Kraniologie. Bereits im zweiten Kapitel seiner Vorlesungen beginnt er damit, seine Erkenntnisse zu diesen Fragen darzulegen. Dieser Teil seines Werkes wird von Vogt gleich zu Beginn als Methodenkapitel gekennzeichnet, in dem geklärt werden soll, wie sich überhaupt Wissen über den Menschen generieren lässt. Erst im vierten Kapitel spricht sich Vogt deut­lich für eine vergleichende Herangehensweise aus, deren Ziel vor allem Aufklärung über die Natur des Menschen, nicht die des Affen leisten soll. Die Zoologie ist für Vogt in ihrer Eigenschaft als Hilfswissenschaft für die Anthropologie interessant, Systematik erhält ihre Relevanz insofern, als „daß dadurch

125 Huxley 1863, 102.

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ein wesent­licher Schritt zur Ergründung unserer eigensten Natur geschehe […].“126 Ausgangspunkt dieser „Ergründung“ ist das Sammeln von verläss­lichen Daten,127 um anhand einer umfassenden Beschreibung des Menschen zu einem umfassenden Verständnis für die Gründe seines So-­Seins zu gelangen. Vogt möchte sich hierbei auf Informa­tionen stützen, die durch das Studium lebender Menschen gewonnen wurden, da es so mög­lich ist, durch Befragung der Untersuchten genaue Kenntnis der Umwelteinflüsse zu erlangen, unter denen sie stehen. Entscheidend ist für Vogt die Exaktheit der Messung. Um diese sicherzustellen, soll am Knochen gemessen werden, da sich deren hartes Material am besten mit den vorhandenen Instrumenten erfassen lässt. Und am besten gelingt diese Messung dort, wo die Knochen direkt unter der Haut liegen.128 Um den Zusammenhang der Entwicklung von Schädelknochen und Gesicht korrekt zu beschreiben kann, stützt sich Vogt auf die Camper’sche Gesichtslinie. Vogt gibt zu, dass ­dieses Messverfahren einige Probleme aufweist,129 hält aber insgesamt an dem Verfahren fest, das er als „allgemein gültig“130 bezeichnet. Diese Tatsache fügt einen gewichtigen Baustein zur Ikonografie des Affen und der damit verbundenen Rassen­ästhetik hinzu. In Kapitel I habe ich erläutert, wie entgegen den Inten­tionen ihres Erfinders die Camper’sche Gesichtslinie als hierarchisierende Ordnungskategorie eingeführt wurde, um eine Linie vom Häss­lichen (dem Affen) zum Schönen (dem Menschen herzustellen), in deren Mitte der sogenannte „Neger“ derart eingekeilt wurde, dass sich für ihn das Rollenangebot auf einen besonders häss­lichen Menschen oder einen besonders schönen Affen beschränkt. Vogt übernimmt nun in voller Kenntnis der Tradi­tion ­dieses Verfahren, das er wiederum in den Dienst der wissenschaft­lichen Darstellung stellt. Er will nun zuerst die Schädel von „Germanen“ und „Negern“ als „Endpunkte der Reihe der Menschenbildung“ miteinander vergleichen,131 um dann denselben Vergleich ­zwischen verschiedenen Affenarten anzustellen. Sein Ziel ist es dabei, verschiedene Affenarten zu etablieren, von denen die höheren den Menschen näher stehen als den niederen Affenarten – analog stehen dann die „niederen“ Menschenarten, die von Vogt ganz deut­lich mit den „Rassen“ identifiziert werden, den höheren Affen näher als den sogenannten höheren Menschenrassen. Mit ­diesem Vorgehen verschärft Vogt Huxleys Diktum von der Ähn­lichkeit der großen Menschenaffen mit dem Menschen, denn dieser hatte nicht den Schritt gemacht oder gewagt, „Rassen“ als Menschenarten zu bezeichnen.

126 Vogt 1863, 166 f. 127 Vogt bezieht sich dabei wiederum auf Quetelet, den er als verläss­lichsten Gewährsmann ­erachtet, wenn es um die Vermessung des Menschen geht (vgl. ebd., 27). 128 Vgl. ebd., 30. 129 Vgl. ebd., 39. 130 Ebd. 131 Siehe dazu auch besonders ebd., 216 f.

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Vogt wählt eine andere Darstellungsform als Camper, der seine Schädel so anordnete, dass sich eine dem Text nachgebildete Lesrichtung von links nach rechts und damit eine graduell ansteigende Schönheit ergab. Diese Hierachie differenziert Vogt weiter aus, indem er den Mikrocephalenschädel ­zwischen Schimpanse und „Neger“ einfügt. Entscheidend ist in ­diesem Untersuchungsschritt die seit­liche Darstellung, ­welche besonders die Stellung der Kiefer berücksichtigt, die bei einem „charakteristischen Hottentotten- oder Negerschädel“ von der Seite betrachtet einen „schnauzenförmig[en]“132 Eindruck erwecke. Die ersten Darstellungen von Affen waren keine Profildarstellungen (vgl. Kap. I), weil das Interesse im Vordergrund stand, einen Eindruck des ganzen Körpers dieser Wesen zu vermitteln. Seit der Einführung von Campers Gesichtswinkel wird die Profil­darstellung wenigstens in der Anatomie dominant eingesetzt.133 Huxley verwendet die seitliche Darstellung ebenfalls in seinem berühmten Blatt zur vergleichenden Darstellung der Skelette der Primaten (Abb. 7). Ausgewählt werden dafür diejenigen Individuen, bei denen die Differenzen zu den anderen Individuen der Reihe besonders gut erkennbar sind – verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass die Darstellung nicht maßstabsgetreu erfolgt. Dadurch entsteht ein Missverhältnis ­zwischen dem, was gezeigt werden soll, näm­lich der Ähn­lichkeit der anthropoiden Affen­arten mit dem Menschen als Beleg für die Abstammungsthese, und dem, was gezeigt wird, näm­lich der Verschiedenheit von Arten. In einer weiteren Opera­tion, die von der bild­lichen Darstellung wiederum wegführt, müssen dann die Einzeldarstellungen der anatomischen Skizze im Text wieder zu großen Gruppen zusammengesetzt werden. Dieses Problem entfällt bei Vogt, der von vornherein phy­sische Merkmale Na­tionen und „Rassen“ zuordnet. Nach der Beschreibung der Kieferstellung in verschiedenen Schädeln kommt er beispielsweise zu folgendem Schluss: „[…] folgende Na­tionen [sind] Schiefzähner, Prognathe, während alle übrigen den Geradzähnern angehören: Kaffern, Australneger, Neger, Hindus, Neuholländer, Holländer, Brasilianer, Kosaken, Sumatraner und Baschkiren.“134 Auch für Darwin waren Differenzen nur auf der Ebene der Popula­tion von besonderem Interesse, seine Theorie sollte erklären, wie sie durch die Varia­tion von Arten entstehen; diesen Prozess sollte man beispielsweise an seinem Diagramm in Über die Entstehung der Arten ablesen können. Vogt interessierte sich nun weniger für den Ablauf ­dieses Prozesses, als für die daraus resultierenden Klassifika­tionsmög­lichkeiten. Da es dabei darum ging, Arten oder eben „Rassen“ voneinander abzugrenzen, erlaubte ihm seine Herangehensweise, sich ganz auf die Differenzen ­zwischen Gruppen zu stützen.

132 Ebd., 59 ff. 133 Siehe dazu auch Becker 2005; hier insbesondere das erste Kapitel „Der Code im ­habitualisierten Blick des Anthropologen“, S. 37 ff. 134 Vogt 1863, 62.

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Abb. 7: Illustration von Waterhouse Hawkins zur vergleichenden Anatomie der Anthropoiden und des Menschen in Thomas H. Huxleys Evidence as to Man’s Place in Nature von 1863.

Dazu war es auch interessant, eine der Thesen Darwins zu fokussieren, die Vogt (wie die meisten seiner Zeitgenossen) besonders attraktiv fand und die in der deutschen Übersetzung mit dem Schlagwort „Kampf ums Dasein“ wiedergegeben wurde. Damit ist eine griffige, und dem Vogt’schen Vokabular nahe Formulierung gefunden, unter die eine ganze Entwicklung subsummiert wird. Diese Entwicklung möchte Vogt lesbar machen, indem er auf ihre Spuren an den Schädeln hinweist, die sein Material sind. Die Entstehung der Arten, gesteuert duch die Selek­tion im ‚Kampf ‘, wird hier plastisch. Vogts lange Beschreibung der Schädel hat mithin das Ziel, den Artbegriff als „Eckstein auf dem das ganze Gebäude unserer systematischen Naturgeschichte beruht“135 zu k­ lären, wobei Vogt sich der Tatsache bewusst ist, dass jeder Artbegriff ein Arbeits­ begriff ist.136 Aus Vogts Beschreibungen des „Kampfes ums Dasein“ wird deut­lich, dass er den Artbegriff einerseits teleolo­gisch behandelt, und dass diese Teleologie wiederum im Perfektibilitätsdenken des 18. Jahrhunderts verhaftet ist: Wir können jede Thierart mit ihren auszeichnenden Charakteren gewissermaßen als Product der sämmt­lich auf sie einwirkenden Einflüsse ansehen. Jeder Lebenstag eines Individuums ist ein Tag des Kampfes ums Dasein. Die Individuen werden sich zum Besten entwickeln, wo dieser Kampf am leichtesten siegreich geführt werden kann.137 135 Ebd., 281. 136 Vgl. Vogt 1863 (2), 261. 137 Vogt 1863, 278.

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Die Individuen unterscheiden sich hier nicht, wie von Darwin beschrieben, durch bessere oder schlechter Anpassung an ihre Umwelt, sondern entwickeln sich zielgerichtet zum Besten – Vogt kehrt hier kaum merk­lich von der durch Darwin eingeführten unabgeschlossenen Prozessualität zu einem Entwicklungsdenken 138 zurück. Evolu­tion führt zur Ausbildung von Entwicklungsplateaus, auf denen ein Prozess vorerst zur Ruhe kommt, wenn ein „Zustand hergestellt ist, der den veränderten Lebensbedingungen entspricht.“139 Der rela­tionale Charakter, den die Formulierung vom „struggle for existence“ hat, geht verloren: Der Konflikt, der in einer bestimmten Rela­tion ­zwischen Individuen und Subsistenzmitteln auftauchen soll, kann bei Darwin auch durch Koopera­tion, nicht allein durch phy­sische Ausein­ andersetzung gelöst werden.140 Das hohe Transferpotenzial der Formulierung war Darwin jedoch bewusst: Ich will vorausschicken, daß ich diesen Ausdruck in einem weiten und metaphorischen Sinne gebrauche, unter dem sowohl die Abhängigkeit der Wesen voneinander, als auch, was wichtiger ist, nicht allein das Leben des Individuums, sondern auch Erfolg in bezug auf das Hinterlassen von Nachkommenschaft einbegriffen wird.141

Vogt hingegen stützte sich auf einen sehr engen Gebrauch des Ausdrucks. Die Attraktivität der von Darwin eingeführten Metaphern beschreibt Gillian Beer wie folgt: „Symbol and metaphor, as opposed to analysis, can allow insight without consequences because percep­tions are not stabilised and categorised. They allow us fleetingly to inhabit contradictory experience without moralising it.“142 Diese Art von Ambivalenz kann Vogt nicht zulassen. Der Reduk­tionismus, der daraus resultiert und immer dann in seinem Werk auftaucht, wenn er Wissenschaft in Weltanschauung umschlagen lässt, ist die Grundlage für Vogts Verwendung von ‚Mensch‘ und ‚Affe‘ als flexible Atrribute in einer neuen Anthropologie.

138 Zum Begriff der Entwicklung vs. Evolu­tion bei Darwin siehe Solies, Dirk (2007): Evolu­tion oder Entwicklung? Kritik und Rezep­tion eines Darwinistischen Grundbegriffs. In: Bayertz et al. (Hg.) – Der Darwinismus-­Streit. S. 207 – 221. Die damit eng verbundene Frage nach den Zwecken einer Entwicklung hat Francesca Michelini (2007) diskutiert: Darwin und das Problem der Zweckmäßigkeit in der Natur. In: ebd., S. 222 – 244. 139 Vogt 1863 (2), 240. 140 Vgl.: Engels 2000, 38. 141 Darwin 2009a (Über die Entstehung der Arten), 404. Dieser Aspekt wird auch von Uwe Pörksen (1978) diskutiert: Zur Metaphorik der naturwissenschaft­lichen Sprache. Dargestellt am Beispiel Goethes, Darwins und Freuds. In: Neue Rundschau, Jg. 89, H. 1, S. 64 – 82. 142 Beer 2000, 10.

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Polygenese, Rasse, Art Vogts Theorie über die Entstehung der Arten ist Teil eines anthropolo­gischen Klassifika­ tionsvorhabens, dessen Kernpunkt eine Theorie der menschlichen „Rassen“ ist. Diese beschreibt Vogt als eigene Arten, „die eben so viel, wenn nicht mehr, untereinander abweichen, als die meisten Affenarten“143. Die unterschied­lichen „Rassen“ sollen dementsprechend auch genau so behandelt werden, wie man es innerhalb einer biologischen Systematik tun würde. Eine derart aufspaltende Anthropologie ergibt sich für Vogt aus zwei Gründen: Erstens aus der Theorie der bereits in der ersten Vorlesung der Reihe verkündeten Polygenese, die besagt, dass die „Menschenarten“ in geografisch unterschied­lichen Zentren entstanden ­seien. Analog stellt Vogt dies auch für die Affenarten fest, die „aus sehr verschiedenen Affenfamilien [entstanden], die wir uns ebenfalls nicht hinter einander, sondern parallel neben einander gestellt denken mögen.“144 Die polygenetische Grundannahme wird von Vogt schon deshalb ins Feld geführt, weil sie der von ihm abgelehnten christ­lichen Lehre von der Abstammung von einem Stammvater widerspricht.145 Den Autor ficht dabei aber auch nicht an, dass er sich somit ebenfalls in Gegensatz zur Darwin’schen Lehre von der Entstehung der Arten setzt, zu der er sich gleich anfangs bekannt hat. Hilfreich ist ihm hierbei wiederum seine kampferprobte Stilistik. Annahmen oder Meinungsäußerungen werden zu Tatsachen einfach dadurch, dass er sie mit „in der That“ einleitet. Zweitens dient auch die Polygenese als Beleg des genealo­gischen Materialismus. Anhand der Betrachtung von Affen- und Menschenhirnen entwickelt Vogt ihn in einem Analogieschluss: Da die Affengattung aus verschiedenen Arten besteht und die Menschen von den Affen abstammen, soll die Menschengattung auch aus verschiedenen Arten bestehen. Die Aufteilung der Menschheit in verschiedene „Rassen“/Arten erfolgt zugunsten der Einheit der Gattung homo, die Vogt zwar nicht so nennt, aber wie bei Linné auch die Affen in sich aufnehmen soll. Die Gleichgültigkeit, die Vogt in Bezug auf die Auswirkung der Behandlung der Rassenfrage in seinem Werk hegt, wird deut­lich, wenn man sie in Zusammenhang mit dem Klassifika­tionsvorhaben Vogts stellt: In der That würde es von geringem Gewichte sein, ob man den Zettel „Neger“ in denselben Kasten mit dem Zettel „Mongole“ legt und beide dann zusammen in einen größeren Kasten Mensch stellt, oder ob man die Zettelkästchen etwas kleiner macht und ein Loch durch die Scheidewand, damit beide etwa als Rassen einer Art zusammenkommen können. Denn die Classifica­tion des Thierreichs, in ihrer unmittelbaren Anwendung betrachtet, ist ja weiter Nichts als eine Einordnung in stets größer werdende Schachteln, Schubladen und Gesache, in ­welchen man das Aehn­liche so nahe als mög­lich zusammenstellt, das Unähn­liche so weit als mög­lich voneinander trennt.146 143 Vogt 1863, 265. 144 Ebd. (2), 281. 145 Vgl. ebd., 13. 146 Ebd., 271.

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An der Beschreibung ­dieses „Unähn­lichen“ delektiert sich Vogt besonders, wenn es um die Geschlechtsmerkmale seiner Untersuchungsobjekte geht:147 „Das Glied [der Schwarzen] ist immer unverhältnismäßig groß“148 hält Vogt ebenso unbelegt fest wie deren Schmerzunempfind­lichkeit (die Frauen besonders leicht gebären ließe); weiter­hin vermerkt er ihre geringere Sinnesschärfe,149 die zu dem Gesamturteil führt: „Wie man sieht, sind die Neger geborene Stoiker.“150 Für Vogts Projekt reicht jedoch nicht allein die Beschreibung von Geschlechtsmerkmalen, zusätz­lich will er die Geschlechter­differenz anhand der Hirnanatomie zeigen.151 Dabei geht es Vogt darum, dass das Hirn einer weißen Frau dem der Schwarzen ähn­licher sei 152 als das Hirn der weißen Männer; das Hirn der Schwarzen wiederum weise eine besondere Ähn­lichkeit mit den Affenhirnen auf, wobei das Hirn einer schwarzen Frau nur gerade eben die Bedingungen für den menschlichen Typus erfülle: […] man kann wohl sagen, dass das Gehirn der Hottentottin, welches derselben zur Ausübung ihres Berufes als öffent­liche Dirne vollkommen genügte, dem Affengehirne näher steht als demjenigen des Weißen in Gestalt und Anordnung seiner Windungen, dass es sich aber immer noch durch die größere Masse des Großhirnes und den unterscheidenden Charakter des Hinterl­appens […] dem menschlichen Typus anreiht.153

Verschiedenheit überhaupt wird naturalisiert und ins Hirn verlegt.154 Seine Überzeugung, dass Umwelteinflüsse zu einem Kampf ums Dasein führen und damit auch auf die Bildung des Hirns einwirken können,155 führt ihn schließ­lich zum entscheidenden Punkt seiner Ausführungen. Zwei Fragen stellen sich ihm. Erstens: Wie konstant sind 147 Siehe dazu Kapitel I dieser Arbeit, sowie die Arbeiten von Londa Schiebinger 1995 und dies. (2004): Nature’s Body: Gender in the Making of Modern Science. New Brunswick, NJ: Rutgers University Press. 148 Vogt 1863, 233. 149 Vgl. ebd., 237. 150 Ebd., 238. Eine angeb­lich weitere organische Auffälligkeit, in deren Beschreibung Vogt wohl gegen besseres Wissen seinen Vorgängern folgt, ist das angeb­lich dicke, schwarze Blut, das durch die Adern dunkelhäutiger Menschen fließt (vgl. ebd., 233). 151 Michael Hagner verweist darauf, dass dies bereits vor Vogts Zeit ein Verfahren war, das einigen Kollegen zweifelhaft vorkam und erwähnt in ­diesem Zusammenhang ­Friedrich Tiedemann, der sich gegen eine „Sonderanthropologie der Rassen und Geschlechter“ wandte (vgl. Hagner 2008, 200). Dass es sich dabei um eine Einzelmeinung handelte, stellt Hagner jedoch auch deut­lich fest (ebd., 263). 152 Vogt 1863, 213. 153 Ebd., 232. 154 Vogt nennt diese Frage nicht uneigennützig die „höchste, interessanteste und schwierigste“ der Naturforschung bezeichnete (vgl. ebd., 15). 155 Hierauf kommt Vogt gegen Ende des zweiten Bandes der Vorlesungen noch einmal deut­lich zu sprechen (vgl. Vogt 1863 (2), 270 ff.).

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die festgestellten Unterschiede ­zwischen den „Rassen“? Kann durch „erhebende Einflüsse“ ein „Neger“ zum Weißen gemacht werden, oder durch „niederdrückende“ der Weiße zum „Neger“? Und zweitens: Ist der „Neger“ eine Art Transitsta­tion ­zwischen Affe und weißem Menschen?156 Die Frage nach der Mög­lichkeit der Transforma­tion von einer „Rasse“ zur anderen beantwortet Vogt abschlägig. Auch die zweite Frage kann er nicht bejahen, aber um den Zusammenhang ­zwischen den Arten, nament­lich den Menschen und den Affen, zu gewährleisten und damit seinen genealo­gischen Materialismus zu bestätigen, benötigt Vogts Argument eine Zwischenform, ­welche die Unterschiede ­zwischen den einzelnen Arten schärfer herauszustellen vermag. Eben diese findet er in den Mikrocephalen.157 Der Mikrocephale soll eine paradoxe Doppelfunk­tion erfüllen: Einerseits soll die herausgehobene Stellung des Menschen in der Naturgeschichte durch die anatomischen Quellen, mit denen Vogt arbeitet, eingeebnet werden, andererseits werden die Unterschiede z­ wischen Affen, Mikrocephalen und gesunden Menschen so stark hervorgehoben, dass eine deut­liche Hierarchie z­ wischen den verschiedenen Gruppen bestehen bleibt. Auch Vogt gelingt es nicht, die funk­tionalen Differenzen der zugehörigen Individuen zu deuten, ohne Beschreibung und Werturteil zu verschalten. Damit bewegt sich Vogt innerhalb des damaligen common sense des Hygienediskurses, den Philipp Sarasin beispielhaft aufgearbeitet hat.158 Sarasin führt Carl Ernst Bocks „sehr wirkmächtiges“ Buch vom gesunden und kranken Menschen 159 an, das seit seinem Erscheinen 1855 bis 1929 in neunzehn Auflagen gedruckt wurde und all das reproduziert, was zu den kritischsten Momenten der evolu­tionären Anthropologie gehört. Dazu gehört auch Bocks Version von „Huxleys Gesetz“: „Denn die Unterschiede, ­welche den niederen Menschen vom Gorilla und vom Schimpansen trennen, sind nicht so groß, als diejenigen, w ­ elche diese Affen von den niedrigeren sondern.“ Die Anpassungsfähigkeit der von Vogt et al. geführten Debatte an unterschied­liche Weltanschauungen ist enorm. Die Deutung des Menschen, die als Negativfolie des Affenmenschen bedarf, wird dadurch bestätigt.

Graduelle und qualitative Unterschiede zwischen Mensch und Affe Unter den qualitativen Eigenheiten der Primatenfamilien, die Vogt dabei in Anschlag bringt, stechen die artikulierte Sprache und der aufrechte Gang als stabile Topoi hervor (vgl. Kap. I). Vogts materialistische Herangehensweise gebietet eine größere Gewichtung 1 56 Vgl. Vogt 1863, 244. 157 Vgl. ebd., 247. 158 Sarasin, Philipp (2001): Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765 – 1914. Frankfurt/M.: Suhrkamp. 159 Es lag folgende Auflage vor: Bock, Carl Ernst (1872): Das Buch vom gesunden und kranken Menschen. 9. Aufl. Leipzig: Keil.

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des Letzteren: „Die anatomischen Charactere werden wie immer bei unserer Untersuchung vor allen anderen in der Wagschale wiegen […].“160 Auch wenn Affen gegenüber dem Menschen phy­sisch teils im Vorteil sind (bspw. durch ihr Gebiss), und auch wenn nicht nur Menschen, sondern auch Pinguine aufrecht gehen können, so bleibt doch für Vogt festzuhalten, dass dem Menschen eine „Ausnahmestellung“ zukomme, und zwar „in Beziehung auf die aufrechte Stellung, auf den aufrechten Gang, der ein wesent­liches Attribut der menschlichen Natur ist und die Zweihänder vor allen übrigen Säugethieren auszeichnet.“161 Der Affe könne nur durch Zwang und Dressur aufrecht gehen, seine „natür­liche“ Körperhaltung sei eine andere. Entscheidend ist dabei, dass der aufrechte Gang den Menschen erst zu Zivilisa­tionsleistungen befähigt, da er den Menschen zu einem „Zweihänder“ macht.162 Die befreite Hand kann ihre Fertigkeiten dementsprechend immer weiter ausbauen: „Je mehr das Geschäft eines Organes sich specialisirt, desto vollkommener wird auch das Organ in dieser seiner Func­tion; je mehr verschiedenartige Dienste ihm in der thie­rischen Oeconomie übertragen werden, desto mangelhafter werden dieselben geleistet.“163 Auffällig ist hier die Verwendung des Begriffs „Oeconomie“, der ansonsten bei Vogt kaum je vorkommt. Erwartbar wäre in d­ iesem Zusammenhang „Tätigkeit“ oder vielleicht „Organisa­tion“. So findet an dieser Stelle jedoch eine Bindung der Hand an die Arbeit, an das zweckgerichtete, produktive Tun statt. Dreizehn Jahre nach Erscheinen von Vogts Vorlesungen über den Menschen baut Friedrich Engels in der Dialektik der Natur ein Kapitel ein, das er Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen nennt. Dort heißt es: Alle noch jetzt lebenden menschenähn­lichen Affen können aufrecht stehn und sich auf den beiden Füßen allein fortbewegen. Aber nur zur Not und höchst unbehülf­lich. Ihr natür­licher Gang geschieht in halbaufgerichteter Stellung und schließt den Gebrauch der Hände ein. Die meisten stützen die Knöchel der Faust auf den Boden und schwingen den Körper mit eingezogenen Beinen ­zwischen den langen Armen durch, wie ein Lahmer, der auf Krücken geht. Überhaupt können wir bei den Affen alle Übergangsstufen vom Gehen auf allen vieren bis zum Gang auf den beiden Füßen noch jetzt beobachten. Aber bei keinem von ihnen ist der letztere mehr als ein Notbehelf geworden.164 160 Vogt 1863 (1), 167. Vogt wehrt sich hier wiederum um eine „philosophische“ Deutung, bei der er sich in ­diesem Fall auf Schopenhauer bezieht. 161 Ebd., 168 f. 162 Die anthropolo­gische Dimension der befreiten Hand (Waffe, Werkzeug etc.) ist verschiedent­lich diskutiert worden. Siehe bspw.: Hartmut Böhme: Von Affen und Menschen. Zur Urgeschichte des Mordes. In: Matejovski, Dirk; Kamper, Dietmar; Weniger, Gerd-­C. (Hg.): Mythos Neanderthal. Ursprung und Zeitenwende; Frankfurt New York 2001, S. 69 – 86; Leroi-­Gourhan, André (2009): Hand und Wort. Die Evolu­tion von Technik, Sprache und Kunst. Frankfurt/M.: Suhrkamp (Suhrkamp-­Taschenbuch Wissenschaft, 700). 163 Vogt 1863 (1), 171. 164 Engels, Friedrich (1960): Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen. 10. Aufl. Berlin: Dietz. Hier: S. 5.

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Engels ist sich an dieser Stelle sicher, Erkenntnisse Charles Darwins aus Die Abstammung des Menschen von 1871 zu reproduzieren, ignoriert oder übersieht aber geflissent­ lich an dieser Stelle die Überlieferungskette dieser Idee. Da Marx Verfasser einer Streitschrift gegen Vogt war und insgesamt der wissenschaft­liche Materialismus niemals über eine gepflegte Feindschaft zum historischen Materialismus hinauskam, ist dies nicht überraschend. Diese Aversion war nicht durch das Verhältnis zur Lehre Darwins begründet, an der Marx nicht zuletzt interessierte, dass Deszendenztheorie und histo­ rischer Materialismus teilweise mit den gleichen Methoden zu ihren Schlüssen kamen: Die Anatomie des Menschen ist ein Schlüssel zur Anatomie des Affen. Die Andeutungen auf Höhres in den untergeordnetren Thierarten können dagegen nur verstanden werden, wenn das Höhere selbst schon bekannt ist. Die bürger­liche Oekonomie liefert so den Schlüssel zur antiken etc. Keineswegs aber in der Art der Oekonomen, die alle historischen Unterschiede verwischen und in allen Gesellschaftsformen die bürger­lichen sehen.165

Dass eine genealo­gische Untersuchung von historisch entstandenen Differenzen in Gesellschaften und Organismen der richtige Weg zu ihrem Verständnis sei, erlaubt noch keine Prognosen. Als historische Wissenschaften gehen die Marx’sche Ökonomie und die Vogt’sche Anthropologie zusammen. Die Überschneidungen in der Methode waren jedoch nicht mit einem gemeinsamen Ziel in der Rede über den Menschen verbunden. Vogt erkennt den aufrechten Gang des Affen als Notbehelf genau wie Engels an, und zitiert seinen Kollegen Milne Edwards als Beleg dafür, dass die Affen neben ihrer mangelhaft spezialisierten Hand nicht dazu in der Lage ­seien, ihre Arbeit aufzuteilen. Das wiederum deutet er als ein Z ­­ eichen für die höhere Organisa­tion des Menschen sei, der diese Fähigkeit besitze. Vogt geht nicht den entscheidenden Schritt, auf die Produktivität und Schöpfungskraft zu verweisen, die dadurch ebenso entsteht wie Sozialität – beides fällt in einen Bereich, für den sich Vogt nicht zuständig fühlt. Dadurch, dass sich Vogt freiwillig auf das beschränkt, was er an seinem Material ablesen zu können meint, fällt auch seine Behandlung der Sprach- und Denkvermögen der Affen rudimentär aus; sie besteht vor allem aus Zitaten anderer Forscher, von denen er nichts hält, nament­lich Armand de Quatrefages und Isidoire St. Hilaire: „Nach Isidor Geoffroy St. Hilaire denkt also das Thier nicht, sondern nur der Mensch, und damit wäre eigent­lich jede Diskussion fertig, da man nicht begreift, wie eine s­ olche monströse Behauptung überhaupt aufgestellt werden könne.“166 Hilaire und Quatrefages hatten sich mit den Fragen der Moralität, Religiosität, Empfindung und Intelligenz des Tieres beschäftigt. Während Vogt die 165 MEGA II/1.1, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Teil 1, 40. Zitiert nach http:// telota.bbaw.de/mega/#?doc=MEGA_A2_B001-01_ETX.xml&book=1&part=1&pageNr=1, letzter Aufruf am 5. Juli 2015. Ich verdanke den Hinweis auf ­dieses Zitat Ireen Packebusch. 166 Vogt 1863 (1), 290.

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Religiosität ausführ­lich und angriffslustig wie immer abhandelt, hat er zur Frage der Intelligenz der Tiere weniger zu vermelden. Nach all seinen Anstrengungen, das Verhältnis von Gedanke und Gehirn zu klären, scheint ihm diese Frage schnell mit einer Zustimmung zu Quatrefages abgehandelt. Dieser habe festgestellt, dass bei einem Tier „die geistigen Eigenschaften durchaus dieselben sind wie beim Menschen und nur gradweise verschieden.“167 Die Folgen aus dieser Einsicht, beispielsweise für die Befähigung zur Sprache, wurden insbesondere von Huxley ausführ­licher diskutiert. Huxley ging nicht davon aus, dass die Organe der Affen artikulierte Rede erlauben würden.168 Es ist aber weniger die Physiologie der Sprachorgane als der Besitz der Sprache selbst, der Huxley bewegt: Our reverence for the nobility of manhood will not be lessened by the knowledge, that Man is, in substance and in structure, one with the brutes; for, he alone possesses the marellous endowment of intelligible and ra­tional speech, whereby, in the secular period of his existence, he has slowly accumulated and organized the experience which is almost wholly lost with the cessa­tion of every individual life in other animals; so that now he stands raised upon it as on a mountain top, far above the level of his humble fellows, and transfigured from his grosser nature by reflecting, here and there, a ray from the infinite source of truth.169

Bei seinen Erläuterungen dazu, wie sich die menschliche Sprache entwickelt hat, verzichtet Vogt hingegen darauf, die Sprachfähigkeit der Affen, ihre Vernunftbegabung oder Denkfähigkeit als Parallelfall heranzuziehen. Das Vorhandensein organischer Voraussetzungen, die geistige Fähigkeiten (auf ungeklärte Art) produzieren, genügt ihm. Da diese Voraussetzungen auch bei Tieren, also auch den Affen, gegeben sind, müssten sie nach Vogts Einschätzung potenziell auch sprechen können. Dennoch sind Affen auf eine nicht näher bestimmte Weise graduell derart von denen des Menschen unterschieden, dass sie vorerst stumm bleiben. Für die anthropolo­gische Fragestellung bei Vogt bedeutet dies, dass der Mensch seine Posi­tion in der biolo­gischen Systematik behaupten kann: Es gibt eine „Identität des Planes“ von Menschen und Affen, aber eben auch „Verschiedenheiten in der Ausführung des Planes“.170 „Mensch“ und „Affe“ können bei Vogt nur in ihrer Stellung im anthropolo­gischen Dreieck sinnvoll beschrieben werden. Sie funk­tionieren dementsprechend als Kategorien der Rela­tion, nicht der Qualität. Wie Vogt d­ iesem Gedanken die „Krone des Beweises“171 aufsetzen wollte, zeigt der folgende Abschnitt. 1 67 Vogt 1863 (1), 293. 168 Huxley 1863, Fußnote S. 103. Dieses Zitat greife ich im Kapitel über August Schleicher noch einmal auf. 169 Ebd., 112. Bei ­diesem Tusch handelt es sich um den Schlussakkord von Huxleys Werk. 170 Vogt 1863 (2), 277. 171 Kummer 1868, 33.

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4. Die „Krone des Beweises“: Ueber die Mikrocephalen oder Affen-Menschen (1866) Die Plattform: Das Archiv für Anthropologie Die durchschlagende Wirkung von Vogts Mikrocephalen-­Abhandlung wäre nicht ohne ihre Publika­tionsgeschichte im Archiv für Anthropologie (AfA) denkbar. Maßgeb­ liche Diskussionen im Zusammenhang mit der Abstammungsthese wurden hier ausgetragen. Es handelte sich dabei um die Publika­tion der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte,172 die zusätz­lich ein eigenes „Correspondenzblatt“ herausgab, dessen Erscheinungsfrequenz höher war und Nachrichten der verschiedenen Mitglieder zirkulierte. Das Archiv für Anthropologie steht in Konkurrenz zu einer Publika­tion, die die Deutsche Gesellschaft für Völkerkunde gemeinsam mit der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (BGAEU) herausgab. Die Zeitschrift für Ethnologie (ZfE)173 erschien seit der Gründung der BGAEU, die am 17. November 1869 in Innsbruck von Rudolf Virchow (1821 – 1902) und dem Ethnologen Adolf Bastian (1826 – 1905) initiiert worden war.174 Damit wollten sie die deutsche anthropolo­gische Forschung stärker institu­tionalisieren, um sie gegen die einflussreichen Gesellschaften aus Frankreich (Société d’Anthropologie, gegründet 1859 von Paul Broca) und England 175 (Anthropological Society, gegründet 1863 von Richard Francis Burton und James Hunt als Gegenprojekt zu der 1843 formierten Ethnolo­gischen Gesellschaft) behaupten.176 Ein weiteres Ziel der BGAEU wird aber im Vergleich ihres 172 Die Gesellschaft war am 1. April 1870 in Mainz gegründet worden; Virchow, Ecker und ­Schaaffhausen waren hierbei federführend (vgl. Andree, Christian (1969): Geschichte der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, 1869 – 1969. In: Pohle, ­Charlotte; Pohle, Hermann (Hg.): Festschrift zum hundertjährigen Bestehen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, 1869 – 1969. Berlin: (Ges., Heßling in Komm.), S. 9 – 140. Hier: S. 20.) 173 Deutsche Gesellschaft für Völkerkunde und Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethno­ logie und Urgeschichte (Hg.): Zeitschrift für Ethnologie und ihre Hülfswissenschaften als Lehre vom Menschen in seinen Beziehungen zur Natur und zur Geschichte. Berlin: Behrend. Im Folgenden: ZfE. 174 Vgl. Andree, Christian: Geschichte der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, 1869 – 1969. In: Charlotte Pohle und Hermann Pohle (Hg.): Festschrift zum hundertjährigen Bestehen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, 1869 – 1969. Berlin: (Ges., Heßling in Komm.), S. 9 – 140. 175 Zur Entwicklung der eng­lischen Anthropologie siehe Stocking, George W. (1987): Victorian Anthropology. New York, London: Free Press; Collier Macmillan. Hier besonders das Kapitel „Evolu­tionary Ideas and Anthropological Institu­tions“, S. 238 ff. 176 Vgl. Benninghoff-­Lühl, Sibylle; Joch, Markus (2004): Leben für die Sammlung. 13. Oktober 1902: Gedenkfeier zum Tode Rudolf Virchows. In: Alexander Honold und Klaus Scherpe (Hg.):

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Zentralorgans mit dem Archiv für Anthropologie deut­lich, das schon drei Jahre vor der BGAEU existierte. Während im Archiv die Evolu­tionstheorie Darwins teilweise kritisch, aber eben auch zustimmend diskutiert wurde, schrieben in der Zeitschrift für Ethnologie eher Autoren, die Darwin ablehnend gegenüberstanden.177 Dabei ist Bastian als bekannter und einflussreicher Gründer der Zeitschrift zu nennen, aber auch Virchow – dieser war es schließ­lich auch, der in der Gründungszeit der Zf E den anthropolo­gischen Forschungsstand in seiner Rede Über Menschen- und Affenschädel 178 zusammenfasste und damit auch in der BGAEU den Weg für umfassende Diskussionen über die anthropoiden Affen bereitete.179 Insgesamt herrschte trotz unterschied­licher Meinungen ein reger Austausch ­zwischen den Publika­tionen. Das Archiv für Anthropologie nennt in den 1890er-­Jahren Virchow und auch Bastian in der Liste ihrer Mitwirkenden auf dem Titelblatt der Publika­tion. Die Gründung des Archivs für Anthropologie geht auf das Göttinger Anthropologen­ treffen von 1861 zurück, das von Karl Ernst von Baer und Rudolph Wagner einberufen wurde, und liegt damit noch vor der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie (1870, s. o.). Wagner hatte sich ja bereits im Materialismusstreit als Anti-­Darwinist avant la lettre und erbitterter Gegner Vogts gezeigt. Dementsprechend wurde Vogt zu der Gründungs-­Zusammenkunft, die in einem überschaubaren Rahmen von neun Teilnehmern stattfand,180 auch nicht eingeladen, sodass bei aller Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialzeit. Stuttgart: Metzler, S. 279 – 287. Hier: S. 279. Zur Geschichte der BGAEU siehe auch Schlesier 1999. Etwas spezieller: Benninghoff-­Lühl, Sibylle (1999): Die Jagd nach dem Missing Link in den Verhandlungen der Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. In: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge. Beiheft 2, S. 105 – 121. 177 Zu den Gemeinsamkeiten, Unterschieden sowie den Abgrenzungsprozessen ­zwischen den ­beiden Projekten: Kolkenbrock-­Netz, Jutta (1991): Wissenschaft als na­tionaler Mythos. Anmerkungen zur Haeckel-­Virchow Kontroverse auf der 50. Jahresversammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in München (1877). In: Link, Jürgen; Wülfing, Wulf (Hg.): Na­tionale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funk­tionen von Konzepten na­tionaler Identität. Stuttgart: Klett-­Cotta (Sprache und Geschichte), S. 212 – 236. 178 Virchow, Rudolf (1870): Menschen- und Affenschädel. Vortrag, gehalten am 18. Februar 1869 im Saale des Berliner-­Handwerker Vereins. Berlin: Lüderitz (Sammlung gemeinverständ­licher wissenschaft­licher Vorträge/hrsg. von Rud. Virchow u. Fr. v. Holtzendorff ). 179 Zu Adolf Bastian siehe bspw.: Köpping, Klaus-­Peter (2005): Adolf Bastian and the Psychic Unity of Mankind. The Founda­tions of Anthropology in Nineteenth Century Germany. Münster: LIT-Verlag und Fischer, Manuela; Bolz, Peter; Kamel, Susan (Hg.) (2007): Adolf Bastian and His Universal Archive of Humanity. The Origins of German Anthropology. Hildesheim: Georg Olms). In ­diesem Zusammenhang ist auch der Zeitschrift für Ethnologie mehrfach behandelt worden. 180 Vgl.: Baer, Karl Ernst von; Wagner, Rudolph (1861): Bericht über die Zusammenkunft einiger Anthropologen im September 1861 in Göttingen zum Zwecke gemeinsamer Besprechungen, erstattet von Karl Ernst von Baer und Rudolph Wagner. Mit fünfzehn Holzschnitten und

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Offenheit gegenüber evolu­tionistischem Gedankengut einiger Teilnehmer festgehalten werden sollte, dass es sich hierbei nicht primär um einen Zusammenschluss begeisterter Darwin-­Rezipienten handelte. Die Ergebnisse des dreitägigen Treffens wurden von Baer bereits im selben Jahr veröffent­licht.181 Die Leser konnten vor allem von dem besonderen Interesse der Forscher an der Vermessung des menschlichen Schädels erfahren. Der Anatom Willem Vrolik und Wagner übernahmen es, die dabei zentrale Frage nach der Verwandtschaft ­zwischen Menschen- und Affenhirn zu diskutieren, und kamen zu dem Schluss, dass trotz aller Ähn­lichkeiten keinerlei Verwandtschaftsbeziehung bestünden. Bemerkenswert ist, dass Wagner bereits hier 182 auch Hirne von Mikrocephalen in die Diskussion einbezieht und argumentiert, dass diese ledig­lich Beispiele einer abnormen Hirnbildung darstellten, nicht aber dazu dien­lich s­ eien, eine Regression in ein vormenschliches Affenstadium zu belegen. Zu den wichtigsten Ergebnissen des Treffens gehörte jedoch die Absichtserklärung, eine Zeitschrift zu gründen, „welche ein Organ für Mittheilungen anthropolo­gischen Inhalts sein und ein Mittel werden könnte, neue Bereicherungen der anthropolo­gischen Studien, ­welche an sehr verschiedenen Orten erscheinen und oft wenig verbreitet werden, zur allgemeinen Kenntniss zu bringen.“183 Zu einer ersten Veröffent­lichung ­dieses Organs kam es aber erst 1866. Karl Ernst von Baer firmierte zwar noch als der Herausgeber, überließ die eigent­liche Redak­ tionsarbeit aber dem jüngeren Alexander Ecker (1812 – 1887), der damals Professor für Anatomie in Freiburg im Breisgau war. Dort hatten sich die beiden 1858 kennengelernt, als von Baer während einer Deutschlandreise neben der Blumenbach’schen Schädelsammlung in Göttingen auch die Sammlung anschaute, die Ecker betreute.184 Ecker verfasste auch für die erste Ausgabe des Archivs den programmatischen Beitrag Über die Berechtigung und Bestimmung des Archivs,185 der die beste Orientierung über die damalige Ausrichtung der Zeitschrift bietet. Ecker beginnt damit, sein Fachgebiet als ein sehr neues, aber schnell immer bedeutsamer werdendes vorzustellen. Als Untersuchungsobjekt gibt er „die Natur des Menschen“186 an. Damit schließt Ecker direkt an die Tradi­tionen des 18. Jahrhunderts an, womit die Anthropologie zu einer innovativen Disziplin mit reichhaltiger Tradi­tion einer Tafel. Leipzig: Leopold Voss. S. 2 f. Eine Beschreibung der Vorgänge um das Treffen findet sich auch bei Hoßfeld 2005, 87 ff. 181 Ebd. 182 Vgl. ebd., 32. 183 Ebd., 28 f. 184 Vgl. Zängl-­Kumpf, Ursula (1990): Hermann Schaaffhausen (1813 – 1893): Die Entwicklung einer neuen phy­sischen Anthropologie im 19. Jahrhundert. Frankfurt/M.: R. G. Fischer. Hier: S. 62. 185 Ecker, Alexander (1866): Die Berechtigung und Bestimmung des Archivs. In: AfA, Bd. 1, S.  1 – 6. 186 Ebd., 1.

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erklärt. Akzentuiert wird diese Beschreibung auch durch das Aufgreifen von Rudolph Wagners „historische Anthropologie“,187 die sich als Bindeglied ­zwischen Geschichte und Naturgeschichte versteht. Anatomen und Psycho­logen, Geologen und Ethnografen sollen laut Ecker zusammenarbeiten – wobei sich die Ethnografen jedoch mit dem Gedanken vertraut machen müssen, dass ihre Disziplin von Ecker et al. zwar als Teil der Anthropologie betrachtet wird, Letztere aber als Super-­Wissenschaft nicht in ihre Hilfsdisziplinen eingemeindet werden kann. Trotz ­dieses beacht­lichen Selbstbewusstseins verweist schon der Titel von Eckers knappem Programm („Berechtigung und Bestimmung des Archivs“) darauf, dass es sich um ein Unternehmen handelt, von dem selbst die Beteiligten glauben, dass es der Rechtfertigung bedarf. Dies ist in Eckers Formulierung der Hauptaufgaben der Anthro­pologie begründet, unter denen Ecker erstens die Aufklärung über die Gründe für die Verschiedenheiten ­zwischen den Menschen nennt, und dann so fortfährt: „Eine zweite Hauptaufgabe der Anthropologie ist die Erforschung der Unterschiede des Menschen von den ihm zunächst stehenden sogenannten anthropoiden ­Thieren  […].“188 Hier wird die Anthropologie zu einer Wissenschaft erklärt, deren wichtigste Methode die Abgrenzung von Familien, Varietäten und Spezies darstellt: Im Sinne Eckers handelt es sich um eine Differenz-­Wissenschaft. Diese Diagnose bestätigt sich auch in Eckers Erklärung, dass es dem Archiv für Anthropologie um „vergleichende Anthropologie“ zu tun sei,189 was seiner Meinung nach ein Synonym für „Rassenkunde“ ist.190 Die Ähn­lichkeiten ­zwischen Individuen und Spezies stehen aber nun gar nicht im Vordergrund der Forschungen am Schädel, der auch hier als wichtigster Untersuchungsgegenstand der Anthropologie benannt wird. Speziesidentität kann für Ecker und seine Mitstreiter nur durch klare Differenz zu anderen Spezies hergestellt werden. Das gilt für die „anthropoiden Tiere“ ebenso wie für die „niedersten Menschenracen“,191 die einen besonders kostbaren, weil schnell aussterbenden Erkenntnisgegenstand darstellen. Ihre Intelligenz möchte Ecker auch durch vergleichende Sprachforschung messen. In Eckers Auswahl der Protagonisten für sein Programm zeigt sich ein weiteres Mal das Dreieck Mensch–„niederer Mensch“–Affe sowie die relativ geringe Bereitschaft zur Auflösung dieser Triangula­tion. Ecker verdeut­licht seine Zweifel, dass die der Anthropologie verwandten Wissenschaften wie Geologie und Paläontologie daran etwas ändern könnten:

187 Ebd., 4. 188 Ebd., 3. 189 Ebd., 2. Den Terminus übernimmt er von Baer. 190 Ebd. 191 Ebd.

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[Es] fehlt noch allzuviel, um sich mit irgendeiner Aussicht auf Erfolg schon jetzt an die l­etzten Fragen nach dem genetischen Zusammenhang z­ wischen dem Menschen und den anthropoiden Thieren, die durch eifrige Nachfolger Darwin’s wohl viel zu früh aufgestellt wurde, zu wagen. Ob Entwicklungsgeschichte und Paläontologie Licht in ­dieses Dunkel bringen werden, ist abzuwarten.192

Zwar war die Popularisierung von Wissenschaft ein erklärtes Ziel des Archivs,193 dabei waren aber wohl eher die Ergebnisse der den Herausgebern verbundenen Forscher gemeint als die Arbeiten Darwins, die teilweise noch immer als neumodische „Träume eines Nachmittagsschläfchens“194 galten. Es ist bemerkenswert, dass gleich in dem ersten Band Carl Vogt einen Text veröffent­lichen konnte, der wie selbstverständ­lich von der Annahme ausging, dass das Licht, das die Ursprünge des Menschen erleuchten sollte, einen Affen anstrahlen würde.

Einführung in Vogts Text Vogts Abhandlung Ueber die Mikrocephalen oder Affen-­Menschen umfasst vier Hauptkapitel, die sich auf über 200 Seiten (inklusive einiger Bildtafeln) erstrecken, und in denen der Nachweis für folgende Aussage angetreten werden soll: Wir behaupten, dass die Mikrocephalie eine partielle atavistische Bildung ist, w ­ elche in den Gewölbtheile des Gehirnes auftritt und als nothwendige Folge eine Ablenkung der embryonalen Entwicklung nach sich zieht, die in ihren wesent­lichen Charakteren auf den Stamm zurückführt, von welchem aus die Menschengattung sich entwickelt hat.195

In seiner Einleitung weist er auf den besonderen Status der mikrocephalen Schädel hin, die Seltenheitswert besäßen und damit besonders kostbare Bestandteile anatomischer Sammlungen ­seien.196 Wie hoch Vogt und andere den Stellenwert der Mikro­cephalen einschätzten, wird an den Fällen von Michel und ­Friedrich Sohn deut­lich. Schon zu Lebezeiten der Brüder (1811 – 1821 und 1822 – 1842) erteilte Johannes Müller Anweisungen, wie mit ihren Leichen und vor allem ihren Schädeln und Gehirnen zu verfahren sei; der Direktor des Anatomischen Museums in Berlin orderte sie unmittelbar ins Haus.197 Unterstützt wurde seine Weisung durch eine Zirkularnote, unterschrieben vom 192 Ebd., 3. 193 Vgl. ebd., 4. 194 Vgl. Backenköhler 2008. 195 Vogt 1866, 276. 196 Vogt 1866, 130. 197 Vgl. Dietel, Manfred; Krietsch, Peter (1996): Patholo­gisch-­anatomisches Cabinet. Vom Virchow-­ Museum zum Berliner Medizinhistorischen Museum der Charité. Unter Mitarbeit von Rudolf

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Geheimen Staatsrat Sack, die im Mai 1811 im Amtsblatt Nr. 7 der „Churmaer­kischen Regierung Potsdam“ und auch in weiteren Amtsblättern Preußens abgedruckt wurde.198 Hierin wurde eine Melde- und Sammlungspflicht aller tierischen und menschlichen Dysmorphien (‚Missgeburten‘) in Kraft gesetzt, die auch eine Überführung der Präparate ins Anatomische Museum in Berlin anordnete. Dort sollten sie ausgestellt werden, um Aberglauben und Unwissen zu bekämpfen. Für die Leichen der ‚Miss­geburten‘ erhielten die Eltern oder Tierbesitzer Geld. Dementsprechend verwundert es nicht, dass die meisten Präparate dieser Zeit aus länd­lichen Gebieten und aus Familien mit geringen Einkünften stammten, die mit dem Honorar ihre Familie finanzieren oder neues Vieh anschaffen konnten.199 Der Transport der Leichen war schließ­lich aufwendig; die Vorbereitung vor Ort verlief oft, so auch im Falle des Michel Sohn, dilettantisch und führte zu völlig unbrauchbaren Präparaten. Dementsprechend gibt Vogt an, in der Literatur nur 40 Fälle von Mikrocephalie beschrieben gefunden zu haben, von denen er selbst elf in Augenschein nehmen konnte: Zehn davon befanden sich in Deutschland, einer in der Schweiz. Bei diesen Fällen musste sich Vogt auf die Gipsausgüsse der Schädel stützen, die in verschiedenen Sammlungen (unter anderem der von Blumenbach) in Deutschland vorhanden waren.200 Ledig­lich die Mikrocephalin Sophie Wyss konnte Vogt lebend examinieren. Vogt stellt im ersten Abschnitt seiner Abhandlung die Fallgeschichten der ihm bekannten erwachsenen und kind­lichen deutschen Mikrocephalen vor. Dort kommt er zu den wichtigsten Schlüssen über deren Status als Menschen in einem regressiven Stadium, indem er die Untersuchungsergebnisse an den Schädeln der Mikrocephalen mit denen vergleicht, die bei der Sek­tion von Menschenaffen erzielt wurden. D ­ ieses Kapitel ist hier entscheidend, denn es enthält die Narrative, die wesent­lich zur Überzeugung der Leser von der „Affenartigkeit“ der Mikrocephalen beitragen. Die von Vogt verwendeten Krankengeschichten 201 stammen in einigen Fällen aus zweiter Hand; insagesamt war die Quellenlage für Vogts Abhandlung nicht sehr umfangreich. Umso auffälliger sind die weitreichenden Schlüsse, die er sich zutraute und der Aufruhr, den diese auszulösen vermochten. Meyer. Berlin: Blackwell. Hier: S. 127. 198 Vgl. ebd., 116. 199 Vgl. ebd. 119. 200 Vogt 1866, 130. 201 Zu Krankengeschichten als Textgattung und den Schreibverfahren der Medizin gibt es eine umfangreiche Literatur, vgl. beispielhaft Wübben, Yvonne; Zelle, Carsten (Hg.) (2013): Krankheit schreiben. Aufzeichnungsverfahren in Medizin und Literatur. Göttingen: Wallstein und Wöbkemeier, Rita (1990): Erzählte Krankheit. Medizinische und literarische Phantasien um 1800. Stuttgart: Metzler. Wöbkemeier stellt bei am Beispiel Carus’ fest, dass die Sek­ tionsberichterstattung sowie die Anamnese gegenüber dem Bericht über den Verlauf der Krankheit und den Therapiebemühungen (welche bei Vogt ausgespart bleiben) überwiegt (vgl. ebd. 101).

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Das zweite Hauptkapitel gibt Auskunft über die Messergebnisse an Schädelausgüssen der Mikrocephalen, im dritten Kapitel kommt Vogt schließ­lich zur Physiologie der „Affenmenschen“. Diese konnte am Beispiel der Sophie Wyss erforschen, die deshalb auch erst im dritten Kapitel vorgestellt wird, auch wenn die Beobachtung dieser Mikrocephalin sein wertvollstes Material darstellte, weil er hier unter anderem die Mög­lichkeite hatte, die Sprachfähigkeit und damit verbunden die Intelligenz der Patientin zu diskutieren.202 Im vierten Kapitel geht Vogt schließ­lich den Ursachen für die Mikrocephalie nach, die ihn aber weniger interessieren als das, was der Befund seiner Meinung nach belegt: Wir kommen also durch alle diese Vergleichungen für das Gehirn genau zu demselben Resultate, wie für den Schädel, näm­lich, dass die Stammtheile des mikrocephalen Gehirnes dem mensch­ lichen Entwicklungsgesetze folgen, Kleinhirn und Hirnstamm ganz, Schläfelappen zum grössten Theil, während die oberen Gewölbetheile dem Entwicklungsgesetze der Affen folgen […].203

Die Schlussfolgerung fällt für ihn eindeutig aus: Was aus der Untersuchung der Mikrocephalen mit Evidenz hervorgeht, ist, dass alle diese Typen uns auf einen Weg führen müssen, welcher nach rückwärts stets mehr und mehr dem gemeinschaft­lichen Urstamme der Primaten sich nähert, von welchem wir eben so gut, wie die Affen entsprungen sind.204

Nach einigen Seiten zu dem mutmaß­lichen Charakter aller Aussagen über die Ätiologie dieser Entwicklungsstörung (besonderes Augenmerk richtet Vogt auf die Sylvi’sche Spalte und die Augenwindung, in dieser lokalisiert er das Sprachvermögen der Menschen) schließt die Abhandlung mit Messungstabellen zum erhobenen Material. Dem Band des Archivs für Anthropologie, in dem Vogts Abhandlung abgedruckt wurde, sind am Ende Tafeln mit Zeichnungen der Mikrocephalen-­ Schädel beigefügt.

202 Dass es gerade ein ­­Zeichen von Intelligenz sein könnte, nicht zu sprechen, und damit davon entbunden zu sein, an den üb­lichen Rollengefügen teilzuhaben, wird von Vogt nicht diskutiert. Die Geschichte der Vermutung, dass die Affen sich ­dieses Tricks bedienten, hat Ludwig D. Morensz skizziert: Der Affe und die Sprachverweigerung. Ein sozialkritisches Motiv ­zwischen Ethnographie und Philosophie. In: Archiv für Begriffsgeschichte, 51 (2009), S. 209 – 216. 203 Vogt 1866, 225. 204 Ebd., 277

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Mikrocephalie zeigen Da abgesehen von diesen für den Laien wenig aussagekräftigen Abbildungen dem Text keine Illustra­tionen beigegeben sind, müssen Beschreibungen der Mikrocephalen reichen, um den Leser von Vogts Thesen zu überzeugen. Vogt sieht sich hier mit der Schwierigkeit konfrontiert, einen lebendigen Eindruck von Individuen vermitteln, von denen er sich selbst nur mittels eines Schädelausgusses eine Vorstellung verschaffen konnte.205 In der Auswahl der Beschreibungen, die er auch schriftlichen Quellen anderer Autoren entnimmt, bemerkt man deut­lich die Bemühungen, diesen Nachteil auszugleichen. So hält er über Michel Sohn aus Kiwittsblott, 20 Jahre alt, fest: Das Gesicht bietet mit seinen kleinen oder vielmehr tiefliegenden klaren und staunenden Augen, mit stark vorgeschobenem Unterkiefer, bei dem dadurch bedingten Offenstehen des aus dicken und wulstigen Lippen bestehenden Mundes, und bei der sichtbaren Anstrengung, wenn der Kopf sich von seiner gewöhn­lichen Stellung nach vorn erhebt, wobei der Schädel gleichsam in den Nacken fällt und das Kinn vorn und hoch steht, den Ausdruck der höchsten Stupidität dar.206

Im Falle seines Bruders Friedrich wird dem Leser ein „thierisches Hervortreten des Fresstheils des Kopfes mit der grössten Ausdruckslosigkeit aller Züge“ geschildert,207 das an anderen Stellen des Textes als „Proganthismus“ genannt wird. Amplifiziert wird die Tierhaftigkeit als Affenartigkeit in den Momenten, in denen Vogt seine Sichtweise auf die Schädel der Mikrocephalen darlegt. Während der Betrachtung der Knochenbildung im Gesicht der Mikrocephalen stellt er fest, dass insbesondere die Kieferpartie für seine Zwecke von Interesse ist: „Der Anblick verändert sich, sobald wir den Rand der Augenhöhlen und des Gaumens verlassen. Der Mensch verschwindet, der Affe tritt an seine Stelle.“208 Vogt spricht nicht vom menschlichen Kiefer, sondern eben vom Menschen, und bemerkt nicht etwa allein, dass dieser Kiefer an den des Affen erinnert, sondern bringt ‚den Menschen‘ durch ‚den Affen‘ zum Verschwinden. Das Hervorstehen der Kieferpartie wird an den meisten anderen Stellen des Textes Prognathismus genannt. Der häufige Verweis auf den Prognathismus ist dabei sehr folgenreich, da er nicht nur die Tier- oder Affenhaftigkeit der Mikrocephalen belegen soll, sondern auch auf die sogenannte Rassenlehre und ihre Beziehungen zur Physiognomie veweist. Der Prognathismus war von Paul Broca zum deut­lichsten ­­Zeichen von kultureller Inferiorität erklärt worden: „Eine Gruppe mit schwarzer Haut, 205 Dies wird von Wissenschaftlern, die sich einige Zeit nach der Kontroverse um die Schrift mit Vogts Thesen auseinandersetzen, als Erklärung für die unzutreffenden Schlüsse angeführt: Vgl. bspw. Janusch, August (1880): Drei Fälle von Microcephalie. Greifswald: Sell, S. 8. 206 Vogt 1866, 142. 207 Ebd. 208 Ebd., 167.

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gekräuseltem Haar und einem prognathischen Gesicht war noch nie in der Lage, sich spontan zur Zivilisa­tion aufzuschwingen.“209 Vogt, der mit Broca in engem Austausch stand, kannte die Diskussionen über die Rassenphysiognomien, wie sich an seiner Verarbeitung des Themas in den Vorlesungen über den Menschen zeigt. Die deut­liche Beschreibung der Mikrocephalen als „prognath“ machte dementsprechend auch ein Angebot an diejenigen, w ­ elche ihre Vermutungen über die Minderwertigkeit von Schwarzen bestätigen wollten. Vogts Präferenz für eine bestimmte Art von Beschreibung wird besonders deut­ lich, wenn sie mit der kleinen Büste von Friedrich Sohn in Bezug gesetzt wird, die das Medizinhistorische Museum der Charité in Berlin aufbewahrt (vgl. Taf. 1 und Taf. 2).210 Es ist unklar, ob Vogt diese kleine Plastik kannte, der Hersteller ist auch dem Medizinhistorischen Museum der Charité nicht bekannt,211 wo sie heute aufbewahrt wird. Vermut­lich wurde sie nach den Zeichnungen des Malers Völcker in Thorn angefertigt, der beide Brüder Sohn im Jahr 1834 im Auftrag Johannes Müllers zeichnete. Müller war mit den Ergebnissen aber nicht zufrieden und ließ Völcker 1835 ein weiteres Mal Friedrich Sohn zeichnen,212 der seinen Bruder in der Zwischenzeit schon verloren hatte. Zumindest diejenigen, die Friedrich Sohn noch lebend untersucht hatten und Zeichnungen anfertigten, hätten die Gelegenheit gehabt, die Büste den entsprechenden Texten über Sohn gegenüberzustellen. Tatsäch­lich wurden Medienkonkurrenzen vermieden, wo sie einen Konflikt z­ wischen wissenschaft­licher Narra­tion der Fallgeschichte und Bilderzählung hervorgerufen hätten. Vogt schrieb zwar in seinen Vorlesungen über den Menschen, dass der Naturforscher wie ein Fotograf vorgehen solle,213 da er offenbar diese Technik als diejenige wertet, die dazu in der Lage ist, perfekt zu reproduzieren. Er selbst legt jedoch weniger darauf Wert als auf die Bestätigung seiner anthropolo­gischen Agenda und löst gerade dadurch nicht ein, was er programmatisch fordert. Die absolute Privilegierung des Textes nimmt ein epistemisches Diktat vor. Es zu umgehen ist für diejenigen, die sich über Mikro­ cephalie oder „Affenmenschen“ informieren wollen, nur dann mög­lich, wenn sie andere Quellen heranziehen. Wo keine Abbildung als Beleg herangezogen werden kann, hilft eine drastische Darstellung bei der Vergegenwärtigung der Untersuchungsobjekte, deren „Idioten­typus“ hier so klar wie mög­lich herausgearbeitet werden soll. Die Beschreibung schlägt so vielfach in ästhetische Urteile um. Dieser Effekt wird noch durch 209 Broca zitiert nach Gould 1988, 85. 210 Die Kopfplastik trägt die Inventarnummer 8934/1842 und ist Teil der Dauerausstellung des Hauses. 211 Münd­liche Mitteilung von Dr. Petra Lennig/Medizinhistorisches Museum der Charité Berlin am 6. September 2011. 212 Vgl. Dietel/Krietsch 1996, 127. 213 Vogt 1863, 81.

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eine weitere Strategie des Textes verstärkt. So oft wie mög­lich greift Vogt auf die Figur des Affen zurück, so dass der Text jedes Mal einen unmittelbaren Konkre­ tionsschub erfährt. Sehr deut­lich wird das an der Beschreibung des Schädelausgusses von Margarete Maehler, die Rudolf Virchow selbst untersucht und als „exquisit mikrocephal“ beschrieben hatte – „ihr Schädel fehlt fast“, so klein sei er.214 Vogt beschreibt ihn folgendermaßen: Der Schädel besitzt eine grosse Aehn­lichkeit mit demjenigen der höheren Affen durch die Art und Weise, wie seine beiden Haupttheile, das Gesicht und die Hirnkapsel, nicht über- sondern hintereinander gelagert sind, durch die fliehende Stirn, die hinter den enormen Augenbrauenbogen, ­welche bei Profilansicht wie Rundhöcker vorspringen, förm­lich ausgehöhlt ist, durch die Vorschiebung des Oberkiefers und der schief eingepflanzten Vorderzähne, ­welche die Profillinie des Oberkiefers fortsetzen, also durch diesen wirk­lich übermässig entwickelten Prognathismus. Vergleicht man in der That die Schädelkapsel der Maehler mit derjenigen halberwachsener Orangs oder Chimpanses, bei w ­ elchen die Muskelleisten noch nicht entwickelt sind, so findet man keinen wesent­lichen Unterschied, während im Gegentheil der menschliche Typus überall im Gesichte hervortritt: vorspringende Nase, vollständig geschlossene Zahnreihe, vorspringendes Kinn. Es ist in der That der höchsten Beachtung werth, dass das Gesicht der Mikrocephalen mit Ausnahme der Augenbrauenbogen an dem Rückschlage zur Thierbildung keinen Antheil nimmt.215

Hier wird plastisch gemacht, was Vogt am meisten interessiert. Die Mikrocephalen sind für ihn Wesen, deren zusammengesetzte Natur für jeden ersicht­lich ist, die nicht aus einem Guss sind – im Gegensatz zu denjenigen, die er als Menschen oder Affen bezeichnen würde.

Indikation Geschlecht: Der Fall Marie Sophie Wyss An dem Schädel von Margarete Maehler hatte Vogt interessiert, dass er hier Elemente vorfand, die er als genuin menschlich einordnete, anhand derer er gleichzeitig aber den „Rückschlag“ in den Affentypus festzustellen meinte. Völlig unberücksichtigt ließ er den Geschlechtstypus, den sein Kollege Emil Huschke am Hirn hatte fest­ machen wollen. Dieser entscheidende Aspekt der Anthropologie taucht in Ueber die Mikrocephalen nicht als eigene Untersuchungskategorie auf, was überrascht, da dies einen Anschluss an die „Sonderanthropologien“ erlaubt hätte, die in der zeitgenös­ sischen Hirnforschung anerkannt und verbreitet waren.216 Die ­Vernachlässigung der 214 Vogt 1866, 161. Margarete Maehler war damals 24 Jahre alt und lebte bei ihren Eltern in ­Rieneck. Sie starb im Alter von 33 Jahren. 215 Ebd, 164. 216 Hagner 2008, 200.

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geschlechtsspezifischen Besonderheiten der Mikrocephalen weist darauf hin, wie stark Vogts Anliegen war, seine Abstammungs-­These zu stärken, die naturgemäß geschlechtsübergreifend angelegt war. Eine besondere Differenzierung z­ wischen Geschlechtern, sexueller Selek­tion und Regression schien ihm dementsprechend weniger nötig, als festzustellen, wie stark der menschliche oder der Affentypus ausgebildet war. Die Geschlechterfrage spielt aber dennoch eine Rolle und tritt am deut­lichsten in seinem Umgang mit dem Fall der Sophie Wyss zutage, die die einzige lebende Mikro­cephalin war, die Vogt untersuchen konnte. Die Ergebnisse werden in der folgenden Reihenfolge präsentiert: 1. Körpergröße/Schädelumfang; 2. Beschreibung der Gesichtszüge; 3. Sozialverhalten; 4. Geschlechtsorgane; 5. Körper­liche Haltung; 6. Körperfunk­tionen/vegetatives Leben; 7. Intelligenz. Die einzelnen Bereiche sind jedoch direkt miteinander verbunden; teilweise wird die Reihenfolge nicht genau eingehalten. Bei dieser Aufzählung handelt es sich um eine Art Mittelwert aus den verschiedenen Darstellungen Vogts. Im Fall von Sophie Wyss hat sich Vogt die Mühe gemacht, genau zu beschreiben, wie die Insassin der Armenanstalt Schloss Hindelbank bei Bern stampfenden Schrittes den drei Männern vorgeführt wird, die sie untersuchen sollen (Vogts Bruder Adolph sowie Director Flückiger begleiteten ihn).217 Gegen die Untersuchung scheint sich Sophie Wyss, die ansonsten für „blitzschnelle Ohrfeigen, Stösse, u. s. w.“ bekannt war, nicht gewehrt zu haben. Die Untersuchung von ­Friedrich Sohn, die ein Kollege Vogts (ein Dr. Behn) beschrieben hatte, verlief anders, der Junge wehrte sich gegen seine Behandlung. Der Untersuchungs­bericht begann mit der Meldung der Länge des Penis des Mikrocephalen, gegen dessen Vermessung der 13-jährige sich beschämt zur Wehr setzte: Zwei Zoll Hohe, rund um das Brot geschnittene Butterbröte, die er, nach Art der Affen in der Hand haltend, mit Heißhunger verzehrte wovon er selbst der M ­ utter nichts abgeben wollte, ließen mich jedoch meinen Zweck erreichen. Sämmt­liche äusseren Sinneswerkzeuge sind normal gebildet.218

Die Konzentra­tion auf die Genitalien eines Patienten ist keine Seltenheit. Als könne man das Wesen des Menschen am deut­lichsten über das Geschlecht beschreiben, wird dessen primäre Ausprägung in der Untersuchung exponiert und in der Anamnese privilegiert. Vogt schreibt über Sophie Wyss: Der Körper ist sehr wohlgebildet, die Hände sogar nicht unschön zu nennen, rein menschlich, die Arme sehr stark und kräftig, rund, von normaler Länge – die Brust etwas platt. Die Brüste für ihr Alter gut entwickelt, aber etwas schlapp. Sie habe eine sehr grosse Kraft und schlage die stärksten Weiber zu Boden, wenn sie böse sei. Puls schwer fühlbar – 72 Schläge in der Minute, 217 Vgl. Vogt 1866, 249 ff. 218 Ebd., 144.

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20 Athemzüge. Sie ist noch nicht menstruiert. Sie geifert beständig – wenn es zu arg wird, wischt sie mit der Schürze ab.219

Abgesehen davon, dass die Menstrua­tion hier als ein passiver Prozess beschrieben wird, der den weib­lichen Körper gleichsam befällt, ist der Menstrua­tionszyklus ein wichtiges taxonomisches Merkmal, das von Vogts Vorläufern als Indikator für das Menschsein angesehen wurde. Im 18. Jahrhundert ging man vielfach davon aus, dass nur menschliche Frauen einen Zyklus hätten und nahm die fälschlich gemachte Beobachtung, dass Affenweibchen nicht menstruieren, als weiteren Beleg dafür an, es bei den Orang-­Utans und Schimpansen mit Tieren zu tun zu haben.220 Überhaupt erregte die Geschlechtsanatomie der weib­lichen Affen große Aufmerksamkeit, da man hier die einzigen wirk­lich aussagekräftigen Unterschiede z­ wischen Frauen und Affenweibchen zu finden glaubte.221 Analog dazu waren es auch die Genitalien der schwarzen Frauen, und hier vor allem die, ­welche man als abweichend beschreiben konnte, die im Zentrum des Interesses anthropolo­gischer Forschung standen. Das bekannteste Beispiel ist Sarah Baartmann, die „Hottentotten-­Venus“, deren Geschlechtsteile nach ihrem Tod von Cuvier präpariert und ausgestellt wurden.222 Mit einer gewissen Freude am Detail beschreibt zum Beispiel auch Vogts Kollege Ploss in seinem Aufsatz Ethnolo­gische Gynäkologie, der 1872 im AfA erschien, dass die Brüste der Frauen der afrikanischen Völker schnell schlaff würden und an „Tabaks- “ bzw. „Lederbeutel“223 erinnerten. Dementsprechend war es beinahe selbstverständ­lich, dass die hängenden Affenbrüste ebenso stets Erwähnung fanden wie hier die entwickelten, aber etwas unschönen Brüste des sechzehnjährigen Mädchens Sophie Wyss. Der Eindruck ihrer Tierhaftigkeit verstärkt den der Abweichung vom als normal betrachteten menschlichen Typus und dem zeitgenös­sischen ästhetischen Ideal. Dazu gehört auch die mangelnde Schamhaftigkeit Sophie Wyss’, die sich laut Vogts Bericht freiwillig untersuchen lässt und zudem auch Freude an den eigenen Blähungen findet.224 Die Bedeutung des Schamgefühls als mora­lische Auszeichnung ist auch in der Ikono­grafie des Affen gut etabliert, woran die Abbildung des Orang-­Utan-­ Weibchens bei Tulp erinnert, auf der die Affendame dezent die Hände vor ihrem Geschlecht verschränkt. Diese anthropomorphisierende Pose des Affenweibchens wurde beispielsweise von Huxley stark kritisiert. Der schamhafte Orang-­Utan 219 Ebd., 250. 220 Vgl. Schiebinger 1995, 134 f. 221 Vgl. ebd., 141 ff. 222 Sander Gilman geht so weit zu behaupten, dass sie das Bild der schwarzen Frau im 19. Jahrhundert maßgeb­lich prägten (Gilman, Sander L. (1986): Difference and Pathology. Stereotypes of Sexuality, Race, and Madness. 2. Aufl. Ithaca, NY: Cornell University Press. Hier S. 88). 223 Ploss, [Kein Vorname angegeben, H. E.] (1872): Ethnolo­gische Gynäkologie. In: AfA, Bd. 5, S. 215 ff., Hier: S. 216 f. 224 Vogt 1866, 251.

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steht auch in Kontrast zu stereotypen Meldungen über die ausschweifende Sexualität von Affenweibchen und auch -männchen,225 die als Hinweis auf ihre fehlende Lust-­Sublima­tion und damit tierische Grundkonstitu­tion herangezogen wurden. Gerade das Sexualverhalten wurde damit als je nach Bedarf auszugestaltende funk­ tionale Differenz in die Pflicht genommen, um sich über Gemeinsamkeiten und Unterschiede z­ wischen Menschen und Affen zu verständigen. Das Fehlen eines Geschlechtstriebes bei Sophie Wyss (analog lässt sich das für Friedrich Sohn feststellen) weist sie einerseits als harmlose Kreatur, als arme Irre aus, andererseits fehlt ihr ein entscheidendes Merkmal im Set der menschlichen Instinkte, die Vogt in seiner Untersuchung interessieren.

Lokalisationsversuche am „Normschädel“ Vogt stellte die menschlichen Züge der Mikrocephalen deut­lich heraus, kam aber dennoch zu der These, ein Mikrocephaler ließe sich als „Wesen charakterisiren, bei welchem die Schädelkapsel eines Affen dem prognathen Gesichte eines Menschen von niederer Race aufgesetzt ist.“226 Dies geschieht im Sinne seines Klassfika­ tionsprojekts, das dazu dienen soll, Unähn­liches so weit als mög­lich voneinander zu trennen (vgl. die Vorlesungen über den Menschen). Es entstand dementsprechend eine ambivalente Situa­tion, in der Vogt die zuvor von ihm selbst hergestellte Hierar­ chie sogenannter Menschenrassen nutzte, um eine Annäherung ­zwischen den Arten zu belegen. Die von ihm beschriebenen Schädel setzte Vogt stets in Rela­tion zu einem „Normalschädel“,227 den er als solchen zwar erwähnte, dessen Maße oder grundsätz­liche Beschaffenheit er jedoch nicht angab. Mit d ­ iesem Normalschädel war ein menschlicher Schädel gemeint. Für die Affen gab er in den vielen der Abhandlung beigegebenen Tabellen zwar ebenfalls so viele Werte an, dass es ihm mög­lich gewesen wäre, Mittelwerte eines „Normalschädels“ der verschiedenen Affen zu errechnen, das unterblieb jedoch. Die Mikrocephalen weichen innerhalb der Zahlenkolonnen Vogts zweifach ab: Erstens von den „Normalschädeln“ und zweitens von den Affenschädeln und -hirnen, deren üb­lichen Windungen zwar teilweise „realisirt“sind, aber nach den Beobachtungen Vogts eben nie voll dem Typus entsprechend ausgebildet sind.228 Mit diesen Erkenntnissen ergänzte Vogt nun seine Behauptungen aus den Vorlesungen über den Menschen, in denen er bereits die Mikrocephalen als Zwischenglied ­zwischen Mensch und Affe eingeführt hatte. Die Mikrocephalen-­Studie informiert nun 225 Schiebinger führt hierzu Bontius und Rousseau als Quellen an, vgl. Schiebinger 1995, 147. 226 Vogt 1866, 172. 227 Ebd., 154. 228 Ebd., 157.

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über die Strukturähn­lichkeiten verschiedener Hirntypen. Die Abstammungs-­These soll hier durch das übereinstimmende Komplexitätsniveau der Ausbildung bestimmter Hirnteile belegt werden. Die Verwandtschaft der unterschied­lichen Primaten-­ Arten ist für ihn dadurch mit den Mitteln des Materialisten geklärt. Mit dem Hirn hat Vogt das ideale epistemische Objekt gefunden, das bei dem folgenden Schluss als Beweisstück dienen soll: Wenn es mög­lich wäre, dass durch eine Hemmungsbildung des Gehirns Affenmenschen entstünden,229 wenn also eine Regression mög­lich wäre, dann müsste es auch Evolu­tion als Progression 230 geben, ­welche die Affenmenschen schrittweise zu Menschen hat werden lassen. Es ist auffällig, daß Vogt hier nicht die naheliegende Mög­lichkeit ausbuchstabiert, dass sich auch die Menschen zu einer höheren Art entwickeln könnten. Der Grund dafür findet sich beim Rückblick auf die materialistischen Annahmen Vogts, die ein Forschen anhand einer bestimmten stoff­lichen Basis zur Methode der Wahl machen. Das bedeutet jedoch auch, dass sich Vogt in allen seinen Arbeiten auf Prozesse und Phänomene bezieht, die sich in der Vergangenheit oder der Gegenwart abspielen. Der genealo­gische Materialismus, den Vogt vertritt, hat keine prognostische Komponente. Auch Darwin hatte sich auf Prognosen nur insofern eingelassen, als dass er davon ausging, dass die Wissenschaft in Zukunft noch viel zu entdecken habe – so lautet das Versprechen, mit dem er Über die Entstehung der Arten abschließt. Neben der Evolu­tions-­Hypothese kann Vogt im gleichen Zuge durch die verschiedenen Ausprägungen der Hirne seine These vom polygenetischen Transformismus der Arten belegen: Dazu verwendet er die ihm passend erscheinenden Aspekte der ­Darwin’schen Evolu­tionstheorie, die seiner Lektüre folgend nahelegen, dass die Lebensbedingungen an den unterschied­lichen Ursprungsorten der ihm bekannten Prima­ ten dazu führten, dass sich die Organe (so eben auch das Hirn) dieser Arten in der Anpassung an diese Bedingungen entwickelten. Das für Vogt schwierigste Problem in ­diesem Zusammenhang stellt die Frage nach der Sprachfähigkeit der Mikrocephalen dar, da diese ausgehend von seinem Material nicht erschöpfend untersucht werden kann. Er widmet sich ihr aber dennoch und stellt sich damit einer langen und tradi­ tionsreichen Debatte (siehe Kap. I), die auch von seinen franzö­sischen Kollegen geführt wurde (Vogt geht besonders auf Gratiolet ein). Vogt kommt zu dem Ergebnis, dass die Sprachfähigkeit der Mikrocephalen schlechter ausgeprägt als die der Papageien sei: 2 29 Vogt 1863, 256. 230 Albert Wigand entwickelt in seiner Schrift Die Auflösung der Arten ein Szenario, in dem er davon ausgeht, dass sich die Arten in beständiger Rückentwicklung befänden und sich die Evolu­tionstheoretiker (unter anderem bezieht sich Wigand hier auch auf Vogt) darin irrten, dass sich die Menschen durch beständige Kulturfortschritte ihre herausgehobene Rolle in der natür­lichen Ordnung sicherten. Im Gegenteil wird seiner Meinung nach durch kulturell beförderte Verhaltensweisen wie Barmherzigkeit der Kampf ums Dasein aufgehalten, sodass sich die Arten nach und nach zersetzen (Wigand, Albert (1872): Über die Auflösung der Arten durch natür­liche Zuchtwahl. Hannover: Rümpler).

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Sie artikulieren schlechter und undeut­licher, ihr Repertorium ist auf wenige Worte und Sätze beschränkt und die Anwendung weit weniger häufig, und ich suche vergebens in allen diesen Sätzen und Worten, die nur von wenigen Mikrocephalen mit Mühe ausgesprochen werden, irgend eine Abstrac­tion, es sei denn, dass „Aepfel und Buttermilch“ eine Abstrac­tion sind, wenn sie von menschlich gezeugten Wesen ausgesprochen werden; dagegen nur reflectirte Bilder äusserer Objecte, wenn ein Papagei sie anwendet.231

Dazu sind laut Vogt auch Affen und Hunde in der Lage. Sein Ziel ist es den „Affenmenschen“ abzusprechen, zu semantischen Opera­tionen in der Lage zu sein; er traut ihnen ledig­lich zu, eine Nachahmung zu vollführen, deren Anwendung mehr oder weniger zufällig gelingt. Diese Beobachtung, die Vogt pauschal unter der These zusammenfasst, dass die „Affenmenschen“ keine Sprache hätten, versucht er wiederum materialistisch zu klären: Den Mikrocephalen fehle wie den Affen „das Magazin der dritten Augenwindung“,232 in dem nach Broca der Sitz der Sprache zu suchen sei. Zusätz­lich fehle ihnen zur Herstellung einer Syntax die „Combina­tionsfähigkeit“,233 ­welche es Menschen erlaubt, Sätze zu bilden. Über die genaue Lokalisa­tion oder Wirkweise dieser Fähigkeit erfahren wir nicht mehr. Die Bedeutung der Sprachlosigkeit der „Affenmenschen“ steht für Vogt fest: „Ich brauche wohl nicht hinzuzufügen, dass dieser Mangel der Sprache schon seit langer Zeit bei den Idioten beobachtet ist.“234 Es findet sich hier wieder eine der klas­sischen Dreiecksbeziehungen, die Vogt in seinen anthropolo­gischen Schriften konstruiert: X ist/sieht aus wie Y, Y ist/sieht aus wie Z; Z ist also X ähn­lich. Der Affe dient dabei in der Regel als die Kopplung ­zwischen zwei Gruppen, hier ­zwischen den Mikrocephalen und den „Idioten“ (teilweise spricht er von „mikrocephalen Idio­ten“). „Mit dem Zauberstab der Analogie“235 berührt, wird hier eine taxonomische Nähe z­ wischen Lebewesen kreiert, die Individuen einer anderen Art auf Distanz hält. Die Sprachfähigkeit dient als funk­tionale Differenz z­ wischen Mensch und Affe, Mensch und Idiot, Mensch und Mikrocephalen, wie zuvor der aufrechte Gang den Affen aus dem Menschengeschlecht ausgeschlossen gehalten hatte. Sie sind wie wir, nur schlechter – so in etwa lautet das von Vogt vertetene Postulat. Seine Annahme zu der Lokalisa­tion des Sprachvermögens ist dennoch sehr einflussreich geworden und hat vor allem im eng­lischen Sprachraum für Aufsehen gesorgt. 2 31 Vogt 1866, 262. 232 Ebd. 264. 233 Ebd. 234 Vogt 1866, 265. 235 Diese sehr nütz­liche Formulierung ist von Kerstin Palm (2011) entliehen: Mit dem „Zauberstab der Analogie“. Romantische Anthropologien der Verachtung. In: Eggers, Michael (Hg.): Von Ähn­lichkeiten und Unterschieden. Vergleich, Analogie und Klassifika­tion in Wissenschaft und Literatur (18./19. Jahrhundert). Heidelberg: Universitätsverlag Winter, S. 57 – 77.

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Dies ist nicht zuletzt Vogts Teilnahme am Jahrestreffen der British Associa­tion for the Advancement of Science 1868 zuzuschreiben.236 Dort trat Paul Broca auf, um seine These von der Lokalisa­tion des Sprachvermögens zu verteidigen; Vogt stellte sich demonstrativ an seine Seite – mög­licherweise auch als Dank dafür, dass ihm 1867 die Anthropolo­gische Gesellschaft in Paris, der Broca vorstand, den Prix Godard für seine Abhandlung über die Mikrocephalen verliehen hatte. Für den Preis hatte sich allerdings Vogt selbst vorgeschlagen. Broca bat Vogt inständig, aus dem Titel das Wort „Affenmenschen“ zu streichen, dem kam aber Vogt nicht nach.237 Gegen die beiden argumentierte unter anderem der Neurologe Frederic Bateman (1824 – 1904), der sich einen Namen mit der Erforschung von Aphasien gemacht hatte.238 Bei s­ einer Arbeit mit Patienten, deren Hirn Verletzungen erlitten hatte, stellte er fest, dass nicht alle, bei denen ein Teil des Hirns betroffen war, der mit der Sprachfähigkeit assoziiert wurde, unter Sprachverlust litten. Deshalb war er davon überzeugt, dass es kein materielles Zentrum der Sprachfähigkeit im Hirn geben könne.239 Er fürchtete den Nachweis eines Sprachzentrums im Hirn, weil damit die evolu­tionäre Entwicklung des Menschen belegt werden könne. Bateman war auch Verfasser der Untersuchung Darwinism tested by language,240 in der er seine Einwände gegen Darwin anhand der Frage nach den anatomischen Voraussetzungen der Sprachfähigkeit des Menschen formulierte. Die Sprachforschung entfernte sich zur gleichen Zeit von anato­mischen Fragestellungen und wandte sich der Genealogie der Sprachen zu (siehe dazu Kap. IV), während die Aphasien weiterhin in der Medizin und dann auch in der Entstehung der Psychoanalyse einen entscheidenden Platz einnahmen: in den Fächern, mit denen die Anthropologie um ‚den ganzen Menschen‘ konkurrierte. 236 Siehe dazu und im Folgenden: Radick, Gregory (2000): Language, Brain Func­tion, and Human origins in the Victorian Debates on Evolu­tion. In: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences (1, vol. 31), S. 55 – 75. 237 Zum Verhältnis von Broca und Vogt vgl. Blanckaert 1995, sowie Blanckaert, Claude (2009): De la race à l’évolu­tion. Paul Broca et l’anthropologie française (1850 – 1900). Paris: ­Harmattan (Histoire des sciences humaines). Broca stellte auch eigene Forschung zur vergleichenden Schädelanatomie von Mensch und Affe an, s. Broca, Paul (1888): Mémoires sur le cerveau de l’homme et des primates. Paris: Reinwald. 238 Seine Ergebnisse finden sich zusammengetragen in Bateman, Frederic (1870): On Aphasia, or Loss of Speech, and the Localisa­tion of the Faculty of Articulate Language. London: J. Churchill and Sons. 239 Radick zitiert aus einem Brief Vogts an Bateman, in welchem Vogt seine Thesen über die Hirnwindungen der Mikrocephalen und Affen wiederholt, und den Bateman in seine Studie über die Aphasien übernahm und seinen Lesern als wichtigen Beitrag zum Thema präsentierte. Dennoch blieb er bei seiner Auffassung, dass auch bei nicht-­mikrocephalen und nicht unter Aphasien leidenden Menschen kein Sprachzentrum festzustellen sei. Vielmehr kam er zu dem Ergebnis, dass die Frage danach, was Sprache und Sprachfähigkeit ­seien, eine ähn­lich verwickelte wie die nach der Seele sei und die menschlichen Erkenntnismög­lichkeiten übersteige (vgl. Radick 2000, 61 ff.). 240 Bateman, Frederic (1877): Darwinism Tested by Lanuage. London: Puvington.

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Haustier, „affenartiges Individuum“, Mensch. Exkurs zur Semantik des Monströsen bei Vogt Unter die von Vogt behandelten Mikrocephalen fällt auch ein namenloser junger Mann im Alter von 26 Jahren aus der Gegend von Jena. Vogt überliefert, was Medizinalrat Wedel in Henles und Pfeufers Journal über ihn mitteilte: Erst mit dem fünften Jahre lernte der Knabe stehen und gehen; der Gang war ein trippelnder. Er stieß unarticulirte Töne aus, wenn er in Erregung kam oder ein Begehren ausdrücken wollte; nur das Wort „Mutter“ soll er ziem­lich deut­lich ausgesprochen haben. Löffel, Messer und Gabel lernte er nicht handhaben; er nahm die Speisen, nach dem Ausdrucke der Eltern, wie mit einem Katzenpfötchen. Deshalb ass er auch nicht am Familientische. Kuchen unterschied er vom Brote und er warf letzteres weg, wenn er bei Anderen Kuchen sah. Bei bevorstehenden Witterungsveränderungen soll er gewöhn­lich eigenthüm­lich kreischende Töne ausgestossen oder sich in einem krankhaften Zustande befunden haben, wobei er nament­ lich häufig nach dem Kopfe griff. – Geschlecht­liche Regungen wurden nie bemerkt. Da der Knabe die Stuhl- und Harnentleerung nicht beherrschte, so wurde er stets in weib­liche Kleider gesteckt, die er zwar ausziehen konnte, aber nicht anzuziehen verstand. In dieser Kleidung sah man ihn wohl unter der Dorfjugend etwa nach Art eines Hausthieres, das sich an die Menschen gewöhnt hat; denn an den Spielen der Kinder konnte er nicht theilnehmen. Späterhin wurden übrigens die Eltern gewarnt, das affenartig aussehende Individuum nicht im Dorfe herumlaufen zu lassen.241

Hier ist die Rede von einem „affenartig aussehenden Individuum“, nicht von einem Affenmenschen. Zu d ­ iesem wird „Jena“, wie er aus Unkenntnis seines Namens der Einfachheit halber genannt wurde, erst durch Vogt gemacht. An der Mikrocephalen-­ Abhandlung wird deut­lich, dass Vogts genealo­gischer Materialismus mit einem Konzept des Monströsen arbeitet, das als „großes Modell aller kleinen Abweichungen“242 noch von der Vorstellung zehrt, dass es sich bei monströsen Erscheinungen um unrechtmäßige Vermischungen z­ wischen Mensch und Tier handelt. Die Annahme solcher Verbindungen bestimmte vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert die Auffassung dessen, was ein Monster sei und verwies auf einen „Bruch des zivilen oder religiösen Rechts.“243 Dabei wurde ein genealo­gisches mit einem normativen und legalen Kriterium verschaltet: Durch die Geburt wird im Kind eine Abweichung materialisiert, die nicht sein darf, das monströse Kind wird „das, was das Unmög­liche und das Verbotene kombiniert.“ Eine „natür­liche Form der Gegennatur“244 wird so ins Leben gerufen. Michel Foucault 2 41 Vogt 1866, 152 f. 242 Foucault, Michel (2007): Die Anormalen. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Hier: S. 78. 243 Ebd., 88. 244 Ebd., 77.

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hat festgestellt, dass als monströse Phänomene seit den Anfängen der Psychiatrie im 19. Jahrhundert nicht mehr nur s­ olche galten, die anhand körper­licher Missbildungen erkennbar waren, sondern verstärkt an der Lebensführung und darin speziell am Sexualverhalten festgemacht wurden. Die Biografie eines Menschen als „zu besserndes Individuum“245 wurde vermehrt als potenzielle Krankengeschichte betrachtet: Ergab sich daraus eine mög­liche Gefahr für die Gesellschaft, reichte diese Vermutung aus, um ihn an die richtende Medizin zu überstellen. Die Verbindung von Psychiatrie und Kriminalistik, auf die Foucault mit der Beschreibung dieser Vorgänge abzielt, wird von Vogt nicht angestrebt. Seine Typologie des Mikrocephalen als monströses Wesen bereitet jedoch den Weg der Krimi­nalanthropologie vor, die sich auf evolu­tionsbiolo­gisches Wissen berufen sollte (so zum Beispiel Cesare Lombroso, s. Kapitel III). Vogt spricht von der Mikrocephalie als „monströse[m] Atavismus“246 und schließt damit zunächst an den zeitgenös­sisch gängigen Terminus aus dem Vokabular der Medizin an,247 der sich von dem polyvalenten Begriff des Monströsen unterscheidet, der heute verwendet wird.248 Vogt zieht zum Vergleich mit der Mikrocephalie m ­ ehrfach dreizehige Pferde heran,249 sodass die „Monstrosität“ zuerst als Dysmorphie beschrieben wird und damit dem alten Schema der Monstrosität als extreme Auffälligkeit folgt. Um seiner Empirie bei diesen Opera­tionen die nötige Schwere zu verleihen, zieht er eine ganze Reihe von Fallgeschichten heran, unter denen die von Ludwig Racke in nur wenigen Zeilen seinen Zustand anhand von Eigenheiten beschreibt, die auch bei den anderen Fällen immer wieder auftauchen: „Racke war im Zustand 245 Ebd., 78 f. 246 Ebd., 276. 247 Die Verschiebung der Semantik des Monströsen aus dem Bereich des Wunders in den des Patholo­gischen beschreibt Stephanie Nestawal (2010): Monstrosität, Malforma­tion, Muta­ tion. Von Mythologie zu Pathologie. Frankfurt/M. u. a.: Peter Lang. Hier S. 27 ff. 248 Zur Geschichte des Begriffs s. u. a.: Borgards 2009a; Schnyder, Peter (2009): „Am Rande der Vernunft“. Der Orang-­Utan als monströse Figur des Dritten von Herder bis Hauff und ­Flaubert. In: Ebd., S. 255 – 272; Hagner, Michael (Hg.) (1995): Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten. Göttingen: Wallstein; Leroi, Armand (2005): Mutants. On the Form, Varieties and Errors of the Human Body. London: Harper Perennial; Oldenburg, Volker (1996): Der Mensch und das Monströse. Zu Vorstellungsbildern in Anthropologie und Medizin in Darwins Umfeld. Essen: Verlag Die Blaue Eule; Böhme, Hartmut (2001b): Im Zwischenreich: Von Monstren, Fabeltieren und Aliens. In: ZDF Nachtstudio (Hg.): Mensch und Tier. Geschichte einer heikle Beziehung. Frankfurt, S. 233 – 258; Geisenhanslüke, Achim; Mein, Georg (Hg.) (2009): Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen. Unter Mitarbeit von Rasmus Overthun. Bielefeld: Transcript; Cohen, Jeffrey Jerome (Hg.) (1996): Monster Theory. Reading Culture. Minneapolis, Minn: University of Minnesota Press; Macho, Thomas (1998): Vom Ursprung des Monströsen. Zur Wahrnehmung des verunstalteten Menschen. In: Kirstin Breitenfellner und Charlotte Kohn-­Ley (Hg.): Wie ein Monster entsteht. Zur Konstruk­tion des anderen in Rassismus und Antisemitismus. Bodenheim: Philo, S. 11 – 42. 249 Siehe u. a. Vogt 1866, 277.

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des vollständigen Cretinismus. Er lernte nie sprechen, war nicht an Rein­lichkeit zu gewöhnen und verschlang die ihm vorgesetzten Speisen ohne Auswahl. Der Kranke war sehr reizbar und zornig und zu Tät­lichkeiten geneigt.“250 Ludwig Racke, der 20 Jahre alt wurde, lebte drei Jahre lang in einer Irrenanstalt, bevor er dort an Tuberkulose mit töd­lichem Verlauf erkrankte. Das „Verschlingen“ von Speisen, die Sprachlosigkeit, mangelhaftes Toilettentraining sowie die fehlende Impulskontrolle weisen auf ein rein tierisches Dasein des Mikrocephalen hin, das von Vogt in Kontrast zu den menschlichen Zügen der Patienten gesetzt wird. Er beschreibt den Mikrocephalen als „gemischtes Wesen“,251 in dessen Körper tierische und menschliche Anteile durch eine evolu­tionäre Besonderheit aufeinander treffen. Die mikrocephalen Überschreitungen des „Formenkanon[s] des menschlichen Körpers“252 werden Gegenstand eines Indizienprozesses, der eine umfassende Perspektive hat: Die Konstruk­tion des monströsen Anormalen folgt dem Interesse, durch diese Figur das anthropolo­gische Dreieck von Mensch–Affe–Affenmensch zu vervollständigen und damit das Kapitel der Naturgeschichte end­lich ‚richtig‘ schreiben zu können, das von der Geschichte des Menschen handelt. Das Monster kann bei Vogt als positive Figur instrumentalisiert werden, so lange es die Abstammungsthese unterstützt. Die Verwandtschaft von Mensch und Affe, die über den Rückschlag von Mensch zu Affenmensch belegt werden soll, wird auch durch ästhetische Strategien gesichert. Vogt schließt allein durch die Nennung des sehr spitzen Gesichtswinkels bei Friedrich Sohn und „Jena“ an die Reihung von Orang-­Utan, schwarzem Afrikaner und weißem Europäer an, die bei Camper entworfen worden war.253 In der bekannten Darstellung kann der Leser nun seine Vorstellung von dem Mikrocephalen ergänzen, die Vogt vorgegeben hat. Das anthropolo­gische Dreieck, das Vogt hier zeichnet, ist dabei eine imaginäre Ordnung, die der Ausgestaltung durch die Leserinnen und Leser offen steht. Die Kennzeichnung der Mikrocephalen als Mischwesen und die damit verbundene Zuschreibung der Monstrosität findet sich auf einer weiteren, entscheidenden semantischen Ebene wieder, die bereits der Titel der Abhandlung annonciert. Die Rede ist von den „Affenmenschen“. Das Kompositum aus „Affe“ und „Mensch“ steht in einer Reihe von weiteren Bezeichnungen für Mischwesen, deren Namen ebenfalls Komposita sind.254 Das naheliegendste ist das des „Thiermenschen“;255 unter 250 Ebd., 158. 251 Ebd., 168. 252 Person 2005, 34. 253 Vogt 1866, 147 und 151. 254 Vogts Kollege Ludwig Büchner führte in seine Untersuchungen den Begriff „Halbmenschen“ ein, unter dem er die Bewohner Äthiopiens versammelte, die ihm wegen ihrer angeb­lichen Ähn­lichkeit zu den Affen dieser Bezeichnung würdig schienen (vgl. Rölli 2011, 397). 255 Vogt 1866, 149. Siehe dazu auch die Abhandlung über den „Thiermenschen“ in Linné 1776.

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­diesem Titel wird der 1812 mit 31 Jahren verstorbene Konrad Schüttelndreyer aus Nienstädt auch von Vogt aufgeführt. Des Weiteren finden sich jedoch im Archiv für Anthropologie sowie in der Zeitschrift für Ethnologie und weiteren zeitgenös­ sischen Publika­tionen „Bärenmenschen“, „Hundemenschen“, „Robbenmenschen“ und „Haarmenschen“;256 nicht zuletzt bleibt auch noch der „Elefantenmensch“ erwähnenswert: „John M ­ errick, […] who has no rival for the title of the Ugliest Male who ever lived“.257 Die Bildung dieser griffigen Epitheton-­Formeln ist der Teil des zweiten Schritts im Dreisatz Finden–Bezeichnen–Beschreiben, nach dem alle Autoren vorgehen, die sich in den hier behandelten Medien mit Abnormitäten beschäftigen. Damit wird die Dysmorphie versprach­licht, indem die anthropolo­g ische Differenz zu einem Begriff zusammengezogen wird, wie am deut­lichsten beim Tiermensch zu bemerken ist. Die Ankündigung des Fundes markiert das Ereignis, dass der Autor nun ein Thema besetzt. Die Erkenntnis wird historisiert: Die Entdeckung wird als Ereignis in ­diesem bestimmten Moment gesetzt. Der nächste Schritt, die Bezeichnung, führt die Besetzung durch die Spezifizierung der Gruppe von Individuen, um die es gehen soll, fort: Die Affen-, Tier-, Hunde-, Bären- oder Haarmenschen gehören jetzt dem Autor. Mit der detaillierten Beschreibung wird die Besitznahme fortgesetzt: Die Untersuchungsobjekte sind wie in einem Setzkasten angeordnet. Die 256 Hundemenschen sind vor allem als Fabelwesen in Osteuropa bekannt, siehe bspw. ­Kretzenbacher, Leopold (1968): Kynokephale Dämonen südosteuropäischer Volksdichtung. München: ­Trofenik. Affen- und Bärenmenschen: ZfE 16 (1884): Herr Bartels spricht über den Affenmenschen und den Bärenmenschen. Rudolf Virchow untersuchte zudem „Robbenmenschen“ (Nestawal 2010, 183), deren Gliedmassen verkümmert und zusammengewachsen waren. Zu den Haarmenschen: Bartels, Max: Über abnorme Behaarung beim Menschen. In: ZfE. Drei Teile 1876, S. 110 – 129; 1879, S. 145 – 194; 1881, S. 213 – 233; Ecker, Alexander (1879): Ein neu aufgefundenes Bild eines sogenannten Haarmenschen. (i. e. eines Falles von Hypertrichosis universalis). AfA Bd. 11, S. 176 – 178. Ranke, Johannes (1886): Der Mensch. Entwicklung, Bau und Leben des menschlichen Körpers. 2 Bände. Leipzig: Bibliogr. Inst (1). Siehe hier S. 157 ff. Besonders der Anthropologe Max Bartels bemühte sich um die Haarmenschen, nebenbei widmete er sein Interesse aber auch den „geschwänzten Menschen“ (Bartels, Max (1881): Über Menschenschwänze. In: AfA Bd. 13, S. 1 – 41.), die er jedoch wohl nicht ‚Schwanzmenschen‘ zu taufen wagte, da sie in zu vielen verschiedenen Ausprägungen auftraten, von denen eine auch Hermaphroditismus nahe legte. Im Falle der „Haarfrau“ Julia Pastrana, die in den 1850er-­Jahren als Attrak­tion Europa bereiste, wird überdies vermeldet, dass ihr gerade die starke Behaarung ein an Affen erinnerndes Aussehen verliehen habe (vgl. Nestawal 2010, 132). Am berühmtesten war unter den Haarmenschen seinerzeit das Mädchen Krao aus Südostasien (Kap. III). 257 Die Geschichte des sogenannten Elefantenmenschen, nicht zuletzt bekannt durch David Lynchs Film The Elephant Man von 1980; s. dazu auch Fiedler, Leslie (1981): Freaks. Myths and Images of the Secret Self. Harmondsworth, Middlesex: Penguin Books. Hier: S. 170 ff. Merrick litt vermut­lich unter dem sehr seltenen Proteus-­Syndrom. Wie einige der eben erwähnten Haarmenschen verbrachte Merrick sein Leben als Jahrmarkt-­Attrak­tion.

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„Tableau-­Sprache“ begrenzt das Thema und gibt ihm Gültigkeit, indem eine weitere Ebene hinzugefügt wird, die Faktizität markieren soll.258 Benninghoff-­Lühl spricht in ­diesem Zusammenhang von der „Utopie eines Ordnung stiftenden Lesers“,259 der das vom Autor unsystematisch aber absichtsvoll zugerichtete Quellenmaterial derartig zusammensetzt, dass er die durch die Komposi­tion nahegelegten Ähn­lichkeiten ­zwischen bestimmten Individuen auch erkennen kann. Durch diese Syntheseleistung wird es schließ­lich mög­lich, den herausgehobenen Ort, von dem aus der Autor sein Arrangement erledigt, ebenfalls zu erreichen. Die Sugges­tion, damit auch das privilegierte Wissen des Autors zu teilen, wird Horst Thomés Überlegungen zur Weltanschauungsliteratur zufolge strate­g isch eingesetzt: Die Komplexität der Darstellungsverfahren diene einer Überlagerung des Verdachts, dass vorgebrachte Gewissheitsbehauptungen bloß Einzelmeinungen ­seien.260 Vogts Mikrocephalen-­ Abhandlung erschlägt den Leser nicht durch die Komplexität der Darstellungsverfahren, wohl aber durch die Fülle und Hybridität des Materials. Es findet sich eine derartige Vielzahl an Aussage- und Quellentypen, dass auch Vogt ganz offensicht­ lich auf die Utopie des ordnenden Lesers setzt, der im Bewusstsein seines eigenen Normalschädels zu differenzieren weiß. Der Wildwuchs des Vogt’schen Text lässt an eine eigene Kategorie denken, die man etwa ‚monströser Text‘ nennen könnte. Sie erzeugt eine Resonanz zu Gillian Beers Beschreibung von Darwins Origin of Species: „The unruly superfluity of Darwin’s material at first gives an impression of superfecundity without design.“261 Beer stellt für Darwins Text eine Organisa­tion fest, die sich aus seiner speziellen Poetik und dem Anschluss an literarisches Schreiben seiner Zeit speist. Vogts Poetik ist weniger elaboriert; die Hybridität und seine teils willkür­lich scheinende Zusammensetzung und Vermischung von Quellen, Hypothesen und rhetorischen Mitteln lässt den Text selbst an die Art von Mischwesen erinnern, die der Fantasie des 18. Jahrhunderts zufolge aus der Kohabita­tion von Arten entstehen, deren Ursprung weit voneinander entfernt liegt. In dieser Hybridität scheint die „wüste Kombinatorik“262 auf, die Horst Thomé an Texten von sogenannten Weltanschauungsliteraten wie Wilhelm Bölsche oder Ernst Haeckel feststellt. Sie ist Z ­­ eichen für die Umbruchsitua­tion, in der Vogts Text zu verorten ist, der teils noch an der Naturgeschichte der Monstren mitschreibt. Die Evolu­tionstheorie widmet sich allen Entwicklungsniveaus und -formen in der Phylogenese einer Art nicht als Freakshow, sondern als Genealogie. Trotz der Behauptung 258 Ebd., 115. Benninghoff-­Lühl bedient sich hier eines Gedankens von Foucault, der für das 18. Jahrhundert die Ablösung des „Zeigers“ durch die Anordnung von Gegenständen (er nennt das Naturalienkabinett und den Garten) auf einem Tableau festgestellt hatte (Foucault 2003, 172). 259 Benninghoff-­Lühl 1999, 120. 260 Thomé 2002, 351. 261 Beer 2000, 42. 262 Thomé 2002, 340.

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Vogts, nun die Abstammungsthese zu beweisen, werden seine Umstellungsschwierigkeiten von der Naturgeschichte der Monstren zur Evolu­tionstheorie plastisch. Die negative Charakteristik der Mikrocephalen unterbietet sogar die der Affen, die in den anthropolo­gischen Dreiecken bislang stets einen inferioren Platz eingenommen hatten: Ich sagte, dass die Intelligenz [eines Mikrocephalen, H. E.] gewöhn­lich noch unter derjenigen des Affen steht; man möge alles, was man von Aeusserungen der Seelenfähigkeiten von Mikro­ cephalen kennt mit demjenigen vergleichen, was man bei jungen Chimpansen und Orangs, die in den Menagerien und Thiergärten Europas lebten, beobachtet hat, und man wird sich überzeugen müssen, dass, wenn die Aeusserungen der Gefühle und der Leidenschaften der Mikro­ cephalen ganz affenartig sind, diejenigen der Intelligenz noch weiter unter dieser Stufe stehen und dass nichts, absolut gar nichts eine grössere Annäherung an die menschlichen Fähigkeiten zeigt, wie sie sich sogar bei sehr wenigen ausgebildeten Intelligenzen bethätigen.263

Vogts anthropolo­gisches Projekt besteht darin, die Evolu­tion als Progression ex negativo aus der Regression (dem Atavismus) der Mikrocephalen zu belegen. Die Mög­ lichkeit, durch die Figur des Mikrocephalen d ­ ieses Argument belegen zu können, erfordert, seine Charakteristik besonders deut­lich zu machen. Dies gelingt darüber, dass sie entweder entmenschlicht werden oder ihrer Menschlichkeit ein prekärer Status zugesprochen wird. Vogt erreicht das neben der Beschreibung ihres Aussehens dadurch, dass er ihnen fehlende Sprachfähigkeit attestiert, wodurch sie an die tierischen Anteile der Affen anschließen. Als Ausweis von Vernunft integriert die Sprache die Gattung Mensch nach innen und sichert sie nach außen ab: Auch wenn durch das Beispiel der Mikrocephalen die kontinuier­liche Abstammung vom Affen belegt wird, ist Vogts „Durschnittsmensch“ von Abweichungen unberührt. Der Mensch, der ebenso gut Pate für das Monster als „großes Modell aller kleinen Abweichungen“ stehen könnte, bleibt weiterhin eine Idealfik­tion. Dies gilt umso mehr, je deut­licher diese vom Affenmenschen unterschieden wird. Das nächste Kapitel zeigt, dass das immer noch der Fall ist, wenn der Affenmensch nur noch Mikrocephaler und damit Kranker ist: Die Ablehnung und die Befürwortung der Abstammungsthese verfolgen dabei das ­gleiche strate­gische Ziel.

263 Vogt 1866, 267.

Kapitel III: Pathologisieren

Menschen, Affenmenschen und „verblödete Kranke“ 1. Prolog: „Melancholischer Schimpanseernst“. Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs (1896) Velten Andres und Karl Krumhardt, Protagonist respektive Erzähler des Romans Die Akten des Vogelsangs (1896) von Wilhelm Raabe, lesen während ihrer Jugendzeit statt der verordneten kanonischen Literatur am liebsten Die drei Musketiere von Alexandre Dumas. Und dann – Dort vor dem Tor lag eine Sphinx, Ein Zwitter von Schrecken und Lüsten, Der Leib und Tatzen wie ein Löw, Ein Weib an Haupt und Brüsten.1

Die Verse aus Heines Buch der Lieder scheinen zwar dem Schulkanon zu entsprechen, bringen die Knaben aber auf unkanonische Gedanken, wie die Auslassung („Und dann – “) kurz vor Einsatz der Verse andeutet. Im Erzählfluss Krumhardts schließt sich daran eine Szene am Grab des Vaters von Velten Andres an: „Seinen Vater kennt Velten eigent­lich nur aus den Erzählungen der M ­ utter.“2 Das stellt Krumhardt nach einigen Umwegen über Ferdinand von Freiligrath und Goethe fest. Darin findet sich eine erste Spur der „anthropolo­g ischen Verunsicherung“3, mit der die Figuren in Die Akten des Vogelsangs umzugehen gezwungen sind: Diese Verunsicherung erweist sich als genealo­g ische. Das anthropolo­g ische Rätselraten nimmt literarisch mit dem Rätsel der Sphinx seinen Anfang: Ödipus’ Lösungsangebot rettet zwar vorläufig Theben vor dem Untergang, der monströse Ursprung jeder anthropolo­g ischen Untersuchung ist dennoch somit gesetzt. Denn die Sphinx ist ein monströses Halbwesen, Tochter der Ungeheuer Echidna und Typhon – Letzterer hat auch in diesem Buch noch einmal einen Auftritt als Gorilla in Klimts Beethovenfries.

1 Raabe, Wilhelm (2003): Die Akten des Vogelsangs. Stuttgart: Reclam. Hier S. 31. 2 Ebd., 32. 3 Thomé, Horst (1993): Autonomes Ich und „Inneres Ausland“. Studien über Realismus, Tiefen­ psychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848 – 1914). Tübingen: Niemeyer (Hermaea: germanistische Forschungen), 131 ff.

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Kapitel III: Pathologisieren

Weniger furchterregend, aber dennoch mit dem Zweifel der menschlichen Existenz belastet, ist Herr German Fell, ein Affenmensch, der mit „melancho­lischem Schimpanseernst“4 in einem Moment höchster erzählerischer Dichte in Raabes Roman Die Akten der Vogelsangs auftaucht. Als plakativster Vertreter von Raabes Darwin-­Rezep­tion hat er eine kleine Karriere innerhalb der Forschung zu litera­ rischen Affen gemacht.5 In der Regel wird dabei nicht genau aufgearbeitet, ­welchen wissensgeschicht­lichen Hintergrund der Auftritt 6 German Fells hat.7 Das soll hier nachgeholt werden. Dadurch öffnet sich eine weitere Perspektive auf die Geschichte der Anthropologie als Attribuierungspraxis, wie sie bis hierhin erzählt worden ist. Bei Raabe ist das Varieté der Herkunftsort des Affenmenschen, und nicht die Irren­ anstalt oder der Sek­tionstisch. Die Bedeutung dieser Lokale für die Anthropologie sind Raabe dennoch bewusst, der in seinem Roman auslotet, was ein Mensch von sich mithilfe welcher Medien erzählen kann und ob er sich dazu selbst medialisieren muss. Wie Anthropologisieren als Genealogie-­Schreiben betrieben wird und w ­ elche Folgen das für die Beschriebenen hat, untersucht dieser Exkurs. Wie damit die Literatur zu einer Umschrift der Anthro­pologie wird (und vice versa) erläutern die übrigen Abschnitte dieses Kapitels, das von den Reak­tionen auf Carl Vogts genealo­gischen Materialismus handelt.

4 Raabe 2003, 176. 5 Siehe: Brodersen, Silke (2008): Scandalous Familiy Rela­tions: Dealing with Darwinism in ­Wilhelm Raabe’s Der Lar. In: The German Quarterly, Jg. 81, H. 2, S. 152 – 166; Griem 2010, siehe hier besonders S. 130 ff.; Ritzer, Monika (2007): Darwin und der Darwinismus in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Kurt Bayertz et al. (Hg) – Der Darwinismus-­ Streit, S. 154 – 185; Rohse, Eberhard (1988): „Transzendentale Menschenkunde“ im ­­Zeichen des Affen. Raabes literarische Antworten auf die Darwinismusdebatte des 19. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der Raabe-­Gesellschaft, S. 168 – 210; Sprengel, Peter (1998): Herr German Fell und seine Brüder: Darwinismus-­Phantasien von Raabe bis Canetti. In: Jahrbuch der Raabe-­ Gesellschaft, S. 11 – 31, Sprengel wiederholt hier im Wesent­lichen ein Kapitel aus seinem Buch (1998): Darwin in der Poesie. Spuren der Evolu­tionslehre in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Würzburg: Königshausen & Neumann. 6 Eine Aufarbeitung ­dieses Auftritts als Strukturmoment findet sich bei Katharina Brundiek (2005): Raabes Antworten auf Darwin: Beobachtungen an der Schnittstelle von Diskursen. Göttingen: Universitätsverlag. Siehe besonders S. 60 f. 7 Eine Ausnahme stellt der Aufsatz von Rohse dar, auf den sich dann auch die meisten anderen Autoren beziehen. Jedoch fehlen bei Rohse auch entscheidende Informa­tionen, die einerseits die Literaturlage zum Thema betreffen, andererseits aber wohl prinzipell nicht zu ermitteln sind, vor allem die Antwort auf die Frage, ob und wie Raabe den darwinistischen Diskurs überhaupt wahrgenommen hat. Die wichtigsten Hinweise geben hier die Listen des Braunschweiger Großen Clubs, dem Raabe während seiner Braunschweiger Zeit von 1870 bis 1902 angehörte und in dessen Bibliothek sich unter anderem Lektüre von Ernst Haeckel zum Thema befand.

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Akten Die Erzählstruktur und Figurenkonstella­tion des vorletzten Romans Wilhelm Raabes ist zeit­lich verschachtelt und wird zusätz­lich dadurch komplex, dass der Taugenichts Andres Velten, der zuerst die Hauptfigur zu sein scheint, nur durch die Erinnerungen Krumhardts kennt­lich wird. Die Fik­tion des authentischen Berichts,8 mit welcher der Text hier operiert, fordert dem Leser ein gehöriges Stück Gutgläubigkeit ab, der Erinnerung Krumhardts an das unerhörte Leben Velten Andres’ zu trauen. Dessen Biografie ist eng verwoben mit der des Erzählers, aber auch mit der von Helene Trotzendorff, einer Jugendfreundin der beiden. Den Biografien der drei Figuren geht der Text in 36 k­ urzen Kapiteln nach: Helene Trotzendorff ist in die Vereinigten Staaten von Amerika ausgewandert, Karl Krumhardt hat eine Karriere in der Justiz und Velten Andres eine als Luftikus in Berlin gemacht. Helene Trotzendorff kommt nach Vogelsang, ihren Kindheitsort, zurück, als dessen kleinstädtischer Zusammenhang zeitgleich mit den Leben der Protagonisten in eine Krise gerät. Diese Krise zeigt sich einerseits am äußeren Geschehen (beispielsweise den Tod von Velten Andres ­Mutter), gleichzeitig aber auch die Erinnerungen Krumhardts: Sie passen nicht mehr zu dem, was er erlebt. Dementsprechend thematisiert der Roman immer wieder den Erinnerungs- und Schreibprozess selbst. Wie um den Vertrauensvorschuss zu rechtfertigen, den Krumhardt von seinen Lesern einfordert, legitimiert er seine Sprecherposi­tion durch seine akademischen Grade und Dienststellung: Als „Oberregierungsrat Dr. jur. Karl ­Krumhardt“9 produziert er einen Texttyp, der Ordnung und Nüchternheit verspricht, um einer verwickelten Biografie Herr zu werden. Die daraus scheinbar entstehende Dokumenta­ tionsliteratur verzichtet somit auch auf jede Form von Psychologismus, die der literarische Realismus ermög­lichen oder sogar nahelegen würde. Raabe stellt aus, dass ein Plot, der „in verständ­lichen menschlichen Handlungen fundiert“ ist, immer unwahrschein­licher wird, je stärker die Literatur für das Unverständ­liche zuständig ist:10 Dieser Punkt scheint in dem Moment erreicht zu sein, in dem wissenschaft­ licher Positivismus das Leben (als Biografie, als Phänomen) nur als schematischen Prozess kennt. Wenn Psychologie nicht hilft, müssen Dokumente herhalten, die archiviert und damit auch ­später noch kontrolliert werden können. Cornelia Vismann zufolge, die sich der Frage gewidmet hat, wie Aktenführung auch als literarisches Schreibverfahren „Formalisierungen und Ausdifferenzierungsprozesse des Rechts“11 steuert, hat darauf hingewiesen, dass in Preußen bereits um 1800 das (Akten-)Archiv zum Konstituens 8 9 10 11

Vgl. Thomé 1993, 131. Raabe 2003, 3. Thomé 1993, 130. Vismann, Cornelia (2000): Akten. Medientechnik und Recht. Frankfurt: Fischer. Hier: S. 8.

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der Na­tion wird.12 Der Archivar hat darin die wichtige Funk­tion, über die Akten zu wachen, die forthin nicht nur die „Seele der Verwaltung“ werden,13 sondern vor allem erst durch ihr Aufgehobensein im Staatsapparat eine Subjektwerdung des Bürgers ermög­lichen.14 Dabei sind es die Techniken der Selbstverwaltung, die bestimmte Textformen wie den Bericht, die Erinnerung und das Tagebuch privilegieren und das Leben auf ein imaginäres Tribunal hin ausrichten, indem zur Rechtfertigung einer Biografie das richtige Aktenmaterial beigebracht werden muss.15 Jeder alphabetisierte Bürger wird damit auch zum potenziellen Aktenführer und Staatsbeamten,16 die Gegenbegriff­lichkeit von Mensch und Bürger am Übergang zur Moderne 17 wird dementsprechend politisch durch eine bestimmte Medientechnik konstruiert. Bei Raabe wird diese Unterscheidung anthropologisiert, indem er sie über die Gegenüberstellung des Aktenführers Krumhardt mit dem Velten Andres ausbuchstabiert; weiter ausdifferenziert wird sie schließ­lich in der Begegnung von Mensch und Affenmensch. Raabes Roman geht dabei der Frage nach, wie die Naturgeschichte zum Leben, das Leben zur Biografie und die Biografie zum Text werden kann. An der Beschreibung der Praxis von Karl Krumhardt wird deut­lich, in ­welche prekäre Situa­tion ein Archivar gerät, der sich ganz auf die sach­liche Richtigkeit der Akten verlässt: Krumhardt erinnert sich an eine Erzählung seines Freundes Velten, in der sein Freund äußert, dass seine ­Mutter nicht ausreichend über die „Scheuß­lichkeit der Menschheit“18 Bescheid wisse und er sie genauer darüber unterrichten müsse. Der Staatsbeamte bürgt schließ­lich mit seiner eigenen Person für alles das, was nur durch die Erinnerung 19 seinen Weg in die Akten finden konnte: So wusste er damals schon zu denken und zu reden; ein Herr in einem Reich, das leider auch nicht sehr von dieser Welt war. Ich habe es in den Akten, wenn auch nicht aktenmäßig. Ich hole dies alles aus Ungeschriebenem, Unprotokolliertem, Ungestempeltem und Ungesiegeltem heraus und stehe für es ein.20

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Ebd., 242. Ebd., 231. Ebd., 235. Vgl. ebd. Vgl. ebd, 227 f. Stichweh 1994, 83. Raabe 2003, 53. Zum Prozess der Erinnerung, der hier durch den Dialog Krumhardts mit sich selbst strukturiert wird, siehe: Preisendanz, Wolfgang (1981): Die Erzählstruktur als Bedeutungskomplex der „Akten des Vogelsangs“. In: Jahrbuch der Raabe-­Gesellschaft. Tübingen: Niemeyer, S.  210 – 224. 2 0 Raabe 2003, 53.

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Das Medium Akte wird am Ende wieder vollständig personalisiert, anthropologisiert und braucht einen Bürgen, auf den die Erinnerung an all das zurückzuführen ist, was nicht seinen Weg in die Schrift gefunden hat. Mit ­diesem Archiv ist kein Staat zu machen. Mit den „Akten“ kann Raabe keinen Stehordner gemeint haben, denn der wurde erst 1886 erfunden und ging einige Jahre ­später in Serie.21 Akten bestanden bis dahin aus Loseblattsammlungen, die mühsam nummeriert werden mussten, und bei denen ein späteres Hinzuheften (so könnte man auch das rekonstruktive Verfahren von Krumhardts Erinnerung beschreiben) schwer mög­lich war oder erheb­ lichen Aufwand erforderte, der leicht in Unordnung enden konnte.22 Krumhardt bürgt durch das „Aktenmäßige“ seines Erinnerungskonvolutes dementsprechend nicht nur für seine eigene Aufrichtigkeit und deutsche Ordnungsliebe, er bürgt als Erzähler auch dafür, dass das Leben seines Freundes überhaupt stattgefunden hat. Das ständige Bürgen jedoch macht überhaupt erst darauf aufmerksam, dass es sich entgegen aller Beteuerungen um einen höchst unzuverlässigen Erzähler handeln könnte, „der bei aller Buchführungsabsicht mehr über sich als über das Archivierte verrät.“23 Die fortschreitende ‚Veraktung‘ des Menschen zum historischen Zeitpunkt des Romans ist vor allem in zwei eng miteinander verbundenen Gebieten zu beobachten: In der Kriminologie, ­welche die von ihr behandelten Fälle in Akten über Delinquenten dokumentiert,24 und in der Medizin, hier besonders in der Psychiatrie, w ­ elche in Krankenakten Wissen über den Menschen sammelt und aufbewahrt.25 Velten Andres, verkrachter Abiturient, verkrachter Student und selbsternannter Fantasiemensch, trägt dazu bei, seine Lebensakte mit Belegen für seine Unberechenbarkeit und sogar Unzurechnungsfähigkeit zu füllen. Nachdem er in seinen Heimatort Vogelsang zurückgekehrt ist, um seine ­Mutter beim Sterben zu begleiten, versucht er, jede materielle 21 Vgl. Thielking, Sigrid (2006): Akteneinsamkeit. Archiv- und Aufzeichnungsfik­tion bei ­Wilhelm Raabe. In: text+kritik, H. 172, S. 39 – 50. Hier: S. 41. Thielking verweist außerdem auf „Goethes geschickt arrangierende Aktenführungsmanier“, auf die sich Raabe durch seine umfangreichen Studien zu Goethe auch habe beziehen können (vgl. ebd., 40). 22 Die im 19. Jahrhundert (und auch heute noch teilweise) verbreitete badische Heftung beispielsweise erforderte eine Aufbewahrung der links oben gehefteten Akten in liegendem Zustand (vgl.: John, Herwig: Die Reform des badischen Archivwesens ­zwischen 1771 und 1803 oder landesherr­lich sancirte Normen gegen die wandelbare Willkühr jedes Archiv-­Beamten. http:// www.landesarchiv-­bw.de/sixcms/media.php/120/53276/A%2020_John.pdf, aufgerufen am 23. März 2015). 23 Thielking 2006, 39. 24 Zur Datensammlung bei der Polizey und ihrer Aktentechnik vgl. Vismann 2000, 207. 25 Immer noch: Foucault, Michel (1969): Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahnsinns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt: Suhrkamp; ders. (2008): Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärzt­lichen Blicks. 8. Aufl. Frankfurt/M.: S. Fischer.

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Spur seines Lebens auszulöschen. Alle Gegenstände des Hauses, das seine M ­ utter in ein „Herzensmuseum“26 verwandelt hatte, landen auf einem Schafott. Wohl wissend, dass die Einwohner Vogelsangs diesen Vorgang als unverständ­lich und skandalös empfinden müssen, fragt er seinen herbeieilenden Freund: „Bringst du das Entmündigungsdokument für mich schon mit, mein Karlos?“27 Das Verhalten Veltens wird ein Fall für den juristischen Staatsbeamten, der den Zusammenfall von Psychiatrie und Recht an der Person des Fantasiemenschen vollstrecken soll. Dabei ist es besonders die Physiognomie, die sich als Hilfswissenschaft anbietet, um die Delinquenten mithilfe phy­sischer Auffälligkeiten für jedermann kennt­lich und bekannt zu machen. Forderungen nach dem Einsatz der Physiognomie als Technik zur polizei­lichen Fahndung gibt es in Deutschland seit 1837,28 die technische Umsetzung von Überlegungen dazu, wie Porträts von gesuchten Verbrechern reproduziert und verbreitet werden könnten, wurde durch die Verbesserung der Fotografie stark befördert. Damit sollte auch die Notwendigkeit entfallen, sich auf leicht zu fälschende biografische Daten zu verlassen, wie sie noch Krumhardt über Velten sammelt. Wie stark sich der Gedanke durchsetzen ließ, dass „nicht mehr selbst­gewählte Gesinnung, sondern die konstitu­tionelle Andersartigkeit“29 an körper­licher Evidenz festzumachen sei, zeigt sich an den Texten über die mikrocephalen Geschwister Kunde, die in Kapitel III.4 vorgestellt werden. Während in Die Akten des Vogelsangs der Bezug auf die Form des Verwaltungstextes als literarisches Mittel eingesetzt wird und so die Frage nach den Grenzen der Dokumentierbarkeit eines Lebens stets mitgeführt wird, sind Texte wie der über die Kunde-­Geschwister eher Versuche, genau diese Grenzen zugunsten einer anthropolo­gischen Freakshow zu umgehen.

Freakshow in Vogelsang Die konstitu­tionelle Andersartigkeit, die bei Velten Andres von anderen vermutet und von ihm selbst bespöttelt wird, tritt deut­lich zutage, als er sich bei der Auflösung, Plünderung und Vernichtung seines Elternhauses ein letztes Mal gegen seine Veraktung zur Wehr setzt. Denn auch alle Briefe, die ihm seine Jugendfreundin Helene 26 Raabe 2003, 167. 27 Ebd., 165. 28 Becker, Peter (2005): Physiognomie aus kriminolo­gischer Sicht. Von Lavater und Lichtenberg bis Lombroso und A. Baer. In: Theile, Gert (Hg.): Anthropometrie. Zur Vorgeschichte des Menschen nach Maß. München: Fink, S. 93 – 124. Hier: S. 107. In einem Artikel im Polizei Anzeiger Gehren von 1837 (Portraitieren als Polizey-­Maßregel) hatte der Amts-­Aktuar Rademacher vorgeschlagen, flächendeckend Brustporträts von gesuchten Verbrechern zu verbreiten, um mit ihrer Gefangennahme schneller voranzuschreiten. In seinem Artikel geht Becker den zahlreichen Pannen und Problemen nach, die diese Art der Fahndung in dieser Zeit erschwerten. 29 Ebd., 111.

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Trotzendorff aus Amerika geschrieben hat, wandern mit den Büchern der elter­lichen Bibliothek auf den Scheiterhaufen. Die Abwehr eines Lebens, das nur medial vorhandenen Biografie,30 die Verweigerung des materialen Nachweis einer ‚guten Herkunft‘ bleibt den Bürgern Vogelsangs unverständ­lich, lockt aber den Affenmenschen German Fell an, der sich mit dem Kollegium des Varietés, in dem er sich verdingt, zum Autodafé des Herzensmuseums einfindet.31 Die Abstammungsfrage wird nun als Frage nach der Ähn­lichkeit mit dem Zirkuspersonal neu gestellt und taucht als Frage nach den sozialen Rela­tionen der bisher eingeführten Protagonisten und ihrem Umfeld auf. Sie müssen sich nun zu einer sehr gemischten Gruppe in Beziehung setzen: „Miß Athleta, die stärkste Dame der Welt und Signor Volcano, der Feuermensch“32 gehören neben German Fell unter anderem zu denen, die sich in das Publikum für diesen Kampf ums Dasein einreihen. Die alte Zugehfrau der Familie Velten verzweifelt über den Anblick: „Alles wie vor die Hunde. Wer die besten Zähne hat, zuerst damit ran! – Oh, die Ruppsäcke! Wie beim Jüngsten Gericht!“33 Es ist mehrfach festgestellt worden, dass die Mitglieder des Varietés, die ihre eigentüm­lichen Fähigkeiten und Körper zur Schau stellen, Assozia­tionen mit der Darwin-­Rezep­tion aufrufen. Diese ist hier aber nur zu verstehen, wenn sie als Teil der Freakshows des 19. Jahrhunderts verstanden wird, die wiederum ein Erbe mit den Naturalienkabinetten und Wunder­ kammern der Natur teilen. Besonders in den USA war es gängige Praxis, Affenmenschen zur Unterhaltung vor Publikum auftreten zu lassen. Nur drei Monate nach Veröffent­lichung von ­Darwins Über die Entstehung der Arten präsentierte beispielsweise Phineas Taylor Barnum in seinem American Museum eine Show mit dem Titel What is it?, deren Bestandteil auch die Vorstellung eines missing link war.34 Dabei handelte es sich um Hervey Leech, der bereits 1842 durch Europa getourt war, wo er den Affenmenschen „Jocko“ aus Brasilien oder „Bibbo“, einen Affen aus Patagonien, dargestellt hatte. Während der Vorstellungen stand er grunzend und hüpfend in einem Käfig 30 Siehe dazu auch: Jakob, Hans-­Joachim (2006): „Aber das ist ja ein entsetz­licher Brief !“. Beschriftetes und bedrucktes Papier in Wilhelm Raabes Erzählung „Die Akten des V ­ ogelsangs“. In: text+kritik, H. 172, S. 51 – 60. Warum Jakob den Text als „Erzählung“ und nicht als Roman einordnet, geht aus dem Aufsatz nicht hervor. 31 Zur „Eigentumsverheizung“ als Kritik des Bürgertums bei Raabe siehe auch Dreisbach, Jens (2009): Disziplin und Moderne. Zu einer kulturellen Konstella­tion in der deutschsprachigen Literatur von Keller bis Kafka. Münster: LIT-Verlag (Literatur – Kultur – Medien, 10). Hier: S. 165. 32 Raabe 2003, 171. 33 Ebd., 173. 34 Die Informa­tionen darüber entnehme ich auch im Folgenden: Cook Jr., James W. (1996): Of Men, Missing Links and Nondescripts: The Strange Career of P. T. Barnum’s „What is it?“ Exhibi­tion. In: Rosemarie Garland Thomson (Hg.): Freakery. Cultural Spectacles of the Extra­ordinary Body. New York: New York University Press, S. 139 – 157.

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und aß rohes Fleisch. Um 1860 kaufte P. T. Barnum schließ­lich auch einen geistig zurückgebliebenen Mann aus New Jersey, den Afroamerikaner William Henry ­Johnson, der von 1877 bis zu seinem Tod im Jahr 1926 einen Affen darstellte.35 Johnson war mikrocephal und nahm den Künstlernamen Zip an. Mit der Darstellung eines Wesens, das Barnum als noch nicht richtig biolo­g isch beschrieben („nondescript“) bezeichnete, kreierte er eine Unschärfe, die es dem Publikum erlaubte, an dem ausgestellten Affenmenschen ihre rassistischen Neigungen zu befriedigen. Die Bezeichnung „nondescript“ anstelle von „Negro“ erlaubte es dem Publikum, über schwarze Menschen in abfälliger, brutaler und verachtender Weise zu sprechen und sich dabei scheinbar an einen biolo­g ischen Diskurs anzuschließen – ganz ohne dabei sagen zu müssen, über wen sie eigent­lich redeten.36 Fotos zeigen Johnson in einem wenig überzeugenden Affenkostüm, seine Positur orien­tiert sich an den Darstellungen des „Wanderers mit dem Stab“. Dieser Rekurs erlaubt es hier, populäre Unterhaltung mit dem Mäntelchen zeitgenös­sischer Naturforschung zu bekleiden, dabei aber zugleich auf ein Bild­arsenal zu verweisen, das an die Zeit des Naturalienkabinetts als Wunderkammer und Kuriositätenbude anschließt. Zu einer Zeit also, als sich nicht nur das Wissen über den Affen deut­lich gegenüber dieser Darstellung von Tyson, Linné u. a. vermehrt hatte, sondern die Medien auch eine erheb­lich größere Differenzierung in der Darstellung erlaubt hätten, griff ­Barnum auf diejenige Abbildung zurück, w ­ elche die größtmög­liche Übereinstimmung mit seinem unternehmerischen Interesse aufwies. Die fehlende Übereinstimmung ­zwischen Bild und zeitgenös­sischen Erkenntnissen wurde so überspielt. Dieser Konflikt wird auch an anderen hier untersuchten Quellen der Vogt-­Rezep­tion deut­lich zu beobachten sein. Während ‚Affenmenschen‘ wie Leech oder Johnson vor allem in den USA und England bekannt waren, war in Deutschland das Mädchen Krao berühmt, das ähn­ lich wie Julia Pastrana an einem extremen Haarwuchs (Hypertrichosis universalis) am ganzen Körper litt.37 Krao wurde in den 1880er-­Jahren als sieben oder acht Jahre altes Mädchen im heutigen Thailand im Auftrag von Barnums Konkurrenten Farini gefangen genommen, der gehört hatte, dass in den dortigen Urwäldern ‚Haarmenschen‘ lebten. Sie wurde von Farinis Stellvertreter Carl Bock zuerst nach London gebracht, wo Farini sie 1883 im Royal Aquarium ausstellte. Von dort aus reichte sie ihr Impresario und Adoptivvater an verschiedene Universitäten des Königreichs 35 Zu der Ausstellungspraxis von sogenannten Tiermenschen und insbesondere zu Barnum siehe auch Kemp 2007, insbesondere Kapitel 5, „Beastly Boys and Admirable Animals“. 36 Cook Jr. 1996, 148 f. 37 Vgl. hier und im Folgenden: Rothfels, Nigel (1996): Aztecs, Aboriginies, and Ape-­People: Science and Freaks in Germany, 1850 – 1900. In: Garland Thomson, Rosemarie (Hg.): Freakery. Cultural Spectacles of the Extraordinary Body. New York: New York University Press, S. 158 – 172. Hier: S. 162 ff.

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weiter.38 Ihr Weg als Exponat, das gleichermaßen der Volksbelustigung wie dem wissenschaft­lichen Interesse dienen sollte, führte sie schließ­lich 188439 auch nach Deutschland, wo sie von Max Bartels an der BGAEU vorgeführt wurde. Sie befand sich zu dieser Zeit in der Obhut von Louis Castan, Besitzer des Berliner Panoptikums.40 Rudolf Virchow war sich mit dem Referenten Max Bartels über den patholo­ gischen Befund Kraos einig, sie merkten ebenfalls an, dass sich das Mädchen auch geistig normal entwickele, sodass es „eitel Humbug“ (so Virchow) sei, in ihr eine Verkörperung des missing link im Sinne der Evolu­tionstheorie zu sehen.41 Dennoch wurde Krao auch weiterhin als „Affenmädchen“ angepriesen und zog als solches 1884 ein breites Publikum an, das sie im Frankfurter Zoo bestaunen konnte.42 Ein weiteres Foto belegt einen Gastauftritt in Dresden. Die Konfronta­tion mit dieser außergewöhn­lichen Erscheinung ermög­lichte es, die eigene Physis in unüberbrückbarer Differenz zum Freak zu sehen. Damit wurde ein Bedürfnis befriedigt, das nur dadurch entstehen konnte, dass das genaue Gegenteil, näm­lich eine unleugbare Ähn­lichkeit gleichermaßen erkennbar war. Wenn der „Affenmensch“ in Raabes Die Akten des Vogelsangs als „‚das gefundene Mittelglied‘, der unübertreff­lichste Affendarsteller beider Hemisphären“43 und als „end­lich gefundener Anthropomorpher“44 eingeführt wird, zielt der Text damit erst einmal auf die eben skizzierte Ausstellungspraxis von interessanten Missbildungen. Da es sich dabei um das Ergebnis eines Vererbungsprozesses handelte, ließen sie sich auf die Abstammungsthese und die Darwin-­Rezep­tion beziehen. Dafür interessierte sich Raabe, weil hier das Problem anthropologisiert wurde, wie das Leben des Menschen zu schreiben sei. Am Beispiel von Karl Krumhardt zeigt Raabe, wie Ich und ­soziale Rolle in einer Inventur von Erinnerungen auseinanderfallen.45 Krumhardt steht in Kontrast zu seinem Freund Velten Andres, dessen Leben dadurch bestimmt ist, von vornherein kein soziales Rollenangebot zu finden, das nicht mit seinem Ich als „Fantasiemensch“ grundsätz­lich in Konflikt steht. Als „soziale Rolle“ eignet sich für ihn ledig­lich die des patholo­gischen Falls. Als „Freak“ trifft er mit German Fell einen Doppelgänger, der aus seiner Unfähigkeit zur Anpassung einen Broterwerb 38 Von ihrem Auftritt am Trinity College berichtet Jane Goodall (2009): Das fehlende Bindeglied in der modernen Welt. In: Kort; Hollein (Hg.) – Darwin. Kunst und die Suche nach den Ursprüngen. S. 172 – 187. Hier S. 183. 39 Nestawal 2010, 149. Die Autorin hat die Geschichte von Krao vor allem anhand von Quellen aus der Zeitschrift für Ethnologie hervorragend aufgearbeitet, sodass hier nur die wichtigsten Daten wiederholt werden sollen. 4 0 Ebd. 41 Ebd., 152. 42 Vgl. ebd. und Rothfels 1996, 163. 43 Raabe 2003, 171. 4 4 Ebd. 45 Nachwort zu Raabe 2003, 233.

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gemacht hat. Seinen Prozess des Affe-­Werdens beschreibt Fell als ein Überlaufen zu der einzigen Gruppe, in der er ganz den Vorlieben seiner Art entsprechen kann. Sie werden mich jedoch auch nicht verachten, weil ich dann und wann etwas mehr als andere Affe bin. In gedrückten Mußestunden pflege ich mich jedenfalls immer noch wie andere von uns Primaten mit transzendentaler Menschenkunde zu beschäftigen; ich habe ebenfalls einige Semester in Wittenberg studiert, ehe ich zu den Anthropoiden ging.46

Die Mög­lichkeit der freiwilligen Aufgabe des Mensch-­Seins steht auch Velten A ­ ndres offen, dem German Fell seine Freundschaft anbietet, da er ihn bei seinen ersten Erkundungen im Varieté beobachtet hat. Die „transzendentale Menschenkunde“, von der er spricht, macht die Zuschreibung der Art „Mensch“ als eine Opera­tion kennt­lich, die genau wie die Zuschreibung „Affe“ zurückgenommen werden kann. Die Kostümierung als Affe scheint notdürftig, bei Raabe ist dies auch von der Kostümierung des Menschen zu sagen. Alle sehr heiter bis auf den Affenmenschen. Der schien mit einem Male auf allen ihm von der Wissenschaft und den Herrn Darwin, Häckel, Virchow, Waldeyer und so weiter auferlegten Wert verzichten zu wollen. Dieser Künstler zögerte noch einen Augenblick, verlegen, schüchtern, als ob er noch etwas zu sagen habe, aber nicht recht damit aus sich heraus könne. Plötz­lich jedoch fiel der „Tierheit dumpfe Schranke“ unter Gesten und Mimik, die den homo sapiens als Publikum zu hellem Jauchzen hätten bringen können; er stieg, sozusagen, aus dem Pavian oder Gorilla heraus, die geschmeidigen Muskeln steiften sich und – „Menschheit trat auf die entwölkte Stirn“ […].47

Die taxonomische Feststellung der Merkmale des Affenmenschen wird gleichgültig, sobald es darum geht, den Menschen selbst auf den Begriff zu bringen. Hier spielt Raabe auf das Gedicht Die Künstler von Schiller an, das etwa Anfang 1789 entstand. Die erste Strophe charakterisiert den Menschen als Überwinder der Natur, der kraft seiner Vernunft nicht zuletzt seinen eigenen Anteil an der Natur überkommt. Die Menschwerdung durch Vernunft wird vom Affenmenschen German Fell beliebig nachgeholt oder rückgängig gemacht, abhängig vom jeweiligen Publikum. German Fell transzendiert damit die mimetische Ordnung der Anthropologie, die den Affen als Nachahmer des Menschen, als dessen geistlose Dublette betrachten möchte. Er ist nicht mehr Herders „gebückter Sklave“, sondern ein freies Subjekt. Raabe persifliert damit den Kanon der deutschen Klassik, die er nun auch auf den Affenmenschen angewendet sehen möchte:

4 6 Raabe 2003, 176. 47 Ebd., 177.

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Jetzt wand sich von dem Sinnenschlafe Die freie schöne Seele los, Durch euch entfesselt, sprang der Sklave Der Sorge in der Freude Schoß. Jetzt fiel der Tierheit dumpfe Schranke, Und Menschheit trat auf die entwölkte Stirn, Und der erhabne Fremdling, der Gedanke Sprang aus dem staunenden Gehirn. Jetzt stand der Mensch, und wies den Sternen Das könig­liche Angesicht, Schon dankte in erhabnen Fernen Sein sprechend Aug dem Sonnen­licht.48

„Der erhabne Fremdling“, als der hier das Denken selbst bezeichnet wird, das eine nur triebgesteuerte Existenz domestiziert, tritt bei Raabe als Freak auf. Mit der Zurschaustellung von Freaks sowie exotischen Tieren boten Impresarios wie Barnum oder Farini ihrem Publikum Geschichten einer „kosmopolitischen Zivilisierung“,49 die es selbst scheinbar schon durchlaufen hatte. Bei Raabe ist diese Beobachterposi­tion umgekehrt: Der Affenmensch bestaunt die Freakshow des Menschen Velten Andres, der dabei ist, sich seiner Zivilisierung zu entledigen. Dazu beendet er vor allem sein Leben als Besitzer von Sachen. Dem Affenmenschen ist das kanonische Zitat gewidmet, der Weg des Menschen zum Künstler ist der des Affen zum Menschen. Die Erhabenheit des Schiller’schen Tones wird darin gebrochen, der bürger­liche Kanon ironisiert. Auf die an German Fell gerichtete Frage Velten Andres’, mit wem er es denn eigent­lich zu tun habe, antwortet dieser: Mit einem vom nächsten Ast, mein Herr. Vom nächsten Ast im Baum Yggdrasil. Man kann sich auf mehr als eine Art und Weise dran und drin verklettern, mein Herr. Mit unseren Personalbezüg­lichkeiten dürfen wir uns wohl gegenseitig verschonen. Auf bürger­lich festen Boden hilft wohl keiner dem anderen wieder hinunter; aber reichen wir uns wenigstens die Hände von Zweig zu Zweig.50

48 Schiller, Friedrich (1943): Die Künstler. In: Schillers Werke. Na­tionalausgabe. 1. Band. Gedichte in der Reihenfolge ihres Erscheinens 1776 – 1799. Herausgegeben von Julius Petersen und Friedrich Beißner. Weimar: Böhlau, S. 201 – 214. Hier: S. 206. VV.  179 – 195. 49 Macho, Thomas (2005b): Tierpark, Zirkus und Freakshow. In: Theile, Gert (Hg.): Anthro­ pometrie. Zur Vorgeschichte des Menschen nach Maß. München: Fink, S. 155 – 177. Hier: S. 168. 50 Raabe 2003, 176.

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Die Weltesche Yggdrasil,51 ein Kernbestand germanischer Mythologie, ist zugleich Bild eines Stammbaumes, das einen gemeinsamen Ursprung von Velten und Affenmensch konkret macht. 1894 ist es durch die Arbeiten Ernst Haeckels bereits gut etabliert (s. Kap IV). Haeckel verwehrt sich in seinen Schriften vielfach gegenüber beleidigten Anwürfen von denjenigen, ­welche ihren affenähn­lichen Vorfahren nicht einmal den kleinen Zeh reichen würden. Genealogie als s­ oziale Herkunft nobilitiert nicht, so erzählt auch Raabe. Dies zeigt sich jedoch nicht allein am Auftauchen neuer Wissensforma­tionen, sondern vor allem an der Forma­tion und Festigung von Sozialfiguren. Wenn Horst-­Jürgen Gerigk davon spricht, dass überall da, wo ein Affe auftauche, auch ein Professor zu vermuten sei,52 so trifft das zu, und zwar vor allem für den Professor als Bürger. Der Baum ist dabei nicht nur als Bild für Genealogien einschlägig, sondern auch für eine Oben-­Unten-­Binarität,53 die zu durchbrechen bei Raabe nur durch den Abbruch aller Beziehungen zum Aktenwesen zu haben ist. Zu den Varietäten, die in einer Freakshow vertreten sind, gehören keine Bürger, wohl aber die nächsten Verwandten, s­ eien sie Menschen oder Affenmenschen. Das ist ein aufwendiges Plädoyer für eine biolo­gische Systematik mit mög­lichst geringen normativen Folgen. Welche Kämpfe um die Einhegung der Systematik geführt wurden, zeigen weitere Texte der Vogt-­Rezep­tion, die im folgenden Abschnitt zur Sprache kommen.

2. Mikrocephalen/Affenmenschen nach Vogt Im Jahr 1899 veröffent­lichte der Medizinprofessor David Paul von Hansemann (1858 – 1920) eine Studie mit dem Titel Zwei Fälle von Mikrocephalie mit Rachitis.54 Diese nüchterne Abhandlung enthält eine Zusammenfassung der Rezep­tion von Vogts Mikrocephalen-­Abhandlung, die desillusionierender kaum ausfallen könnte: Bekannt­lich hatte C. Vogt die Mikrocephalie als einen atavistischen Zustand aufgefasst und seine Ansicht mit solcher Begeisterung vertreten, dass sie vielfach Zustimmung fand und sogar populär wurde. Doch ist diese Ansicht so vielfach widerlegt worden, dass es sich kaum noch verlohnt, darauf einzugehen. Alle Untersuchungen haben dazu geführt, dass die Gehirne der Mikrocephalen durchaus menschliche Formen haben und die ausgezeichneten Untersuchungen 51 Zur Bedeutung der Weltesche Yggdrasil siehe auch Brundiek 2005, 66. 52 Gerigk 1989, 31. 53 Zum bürger­lichen Typus in der Literatur der Mitte des 19. Jahrhunderts Lukas, Wolfgang (2000): ‚Gezähmte Wildheit‘: Zur Rekonstruk­tion der literarischen Anthropologie des ‚Bürgers‘ um die Jahrhundertmitte (ca. 1840 – 1860). In: Achim Barsch und Peter M. Hejl (Hg.): Menschenbilder. Zur Pluralisierung der Vorstellung von der menschlichen Natur (1850 – 1914). Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 335 – 375. 54 Hansemann, David Paul von (1899): Zwei Fälle von Mikrocephalie mit Rachitis. Stuttgart: Erwin Nägele.

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von Marchand haben gezeigt, woher die scheinbare Affenähn­lichkeit der Gehirne kommt, indem er die Verhältnisse der Fossa Silvii und besonders ihres vorderen Astes als Grenzspalte der Insel klarlegte.55

Mit dem vielfachen Wider- und Zuspruch, den Vogt erfuhr, beschäftigen sich die folgenden Abschnitte. Denn gerade der massive Aufwand, der betrieben wurde um zu zeigen, dass Vogt mit seinen Thesen falsch lag, weist auf die Bedeutung der Mikro­cephalie als Kulmina­tionspunkt der Diskussionen um die Abstammungsthese hin. Vogt hatte es geschafft, mit seiner durch Darwin-­Lektüre und genealo­gischen Materialismus informierten Anthropologie seine Kollegen zu einer Stellungnahme in diesen Fragen zu bringen und die Abstammungsthese als zentralen Schauplatz der Evolu­tionstheorie zu etablieren. Nach der Reduk­tion der Anthropologie auf Fragen, die sich am organischen Befund klären ließen, setzte nun eine Gegenbewegung ein: Die Mikrocephalie sollte nicht länger im Rahmen der Abstammungsthese diskutiert werden, sondern in der Medizin als weltanschau­lich unverdächtige Diagnose behandelt werden. Diese Bemühungen stelle ich im ersten Abschnitt dar, der sich mit verschiedenen Autoren auseinandersetzt, die Vogts Arbeit kannten und einer kritischen Prüfung unterzogen. Ein besonderes Interesse erregte dabei die Frage nach der Sexualität der Mikrocephalen. Der zweite Abschnitt zeigt, wie die Untersuchung der Sexualität die Charakteristik devianter Figuren bestimmte und sich dabei unwillkür­lich auf eine Anthropologie bezog, in der Devianz auf die Figur des Affen ausgelagert ist. Dabei leitet die Untersuchung die These, dass dadurch die Bezeichnung ‚Affe‘ mit einer Reihe von patholo­gischen Phäno­menen synonym wird. Im letzten Abschnitt d­ ieses Kapitels untersuche ich die illus­trativen Strategien, die dabei zur Anwendung kamen.

3. Organischer Befund und Abstammungslehre Der bekannteste und am besten aufgearbeitete Autor in Vogts Umfeld ist Rudolf ­Virchow.56 Seine Abhandlung Menschen- und Affenschädel stellt eine Standardreferenz dar, wenn es darum geht, die Abstammungsthese mit ihren literarischen Modellen kurzzuschließen;57 sie wird ergänzt durch einen Vortrag aus den Verhandlungen der BGAEU , in dem Virchow noch einmal eigens auf die Mikrocephalie zu sprechen 55 Ebd., 16 f. 56 Zu Virchows s. Goschler, Constantin (2002): Rudolf Virchow. Mediziner, Anthropologe, Politiker. Köln: Böhlau. 57 Vgl. dazu bspw.: Richter, Virigina (2005): „Blurred Copies of Himself “: Der Affe als Grenzfigur ­zwischen Mensch und Tier in der europäischen Literatur seit der frühen Neuzeit. In: Böhme, Hartmut (Hg.): Topografien der Literatur: Deutsche Literatur im transna­tionalen Kontext.

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kommt.58 Neben seiner Schrift sind jedoch für die vergleichende Physiologie von Menschen, Affen und Mikrocephalen noch der Schweizer Arzt Christoph Aeby (1835 – 1885) und seine Beiträge zur Kenntnis der Mikrocephalie 59 sowie Theodor Bischoff (1807 – 1882) zu nennen. Letzterer war mit einigen Beiträgen hervorgetreten, in denen er die (cerebrale) Anatomie von Menschen und Affen verg­lich,60 er erweiterte die Literatur zur Mikrocephalie jedoch auch entscheidend um eine Untersuchung über die Mikrocephalin Helene Becker, die als direkte Konkurrenzschrift zu Vogt gelesen werden muss.61 Vogt waren die Arbeiten Bischoffs nicht entgangen, die seine eigenen Auffassungen direkt adressierten, und so setzte er seine Energie zur Entkräftung der dort vertretenen Thesen ein, indem er eigens ein streitlustiges Pamphlet gegen Bischoff verfasste.62 An Moleschott schrieb Vogt am 5. Juli 1867 einen Brief, in dem er das Werk ankündigte und über Bischoffs Abhandlung zu Helene Becker urteilte: Eines der lieder­lichsten Machwerke, das sich denken läßt. Es findet sich dabei ein Anhang über die Darwinsche Theorie und den Unterschied ­zwischen Menschen- und Thierseele der an Stupi­dität Alles hinter sich lässt was noch gesagt worden ist. Natür­lich mit einigen direkten Grobheiten gegen mich verbrämt. Ich habe große Lust, besagtem Rhinozeros wieder einmal auf den Buckel zu steigen. Soll ich in Ihrer Zeitschrift, wo ich ihn schon zum ersten Male platt schlug, einen Artikel schreiben, betitelt: Menschen, Affenmenschen und H. Bischoff?63

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Stuttgart: Metzler, S. 603 – 624; vgl. des Weiteren die Hinweise auf die Sekundärliteratur zu Raabe im vorangegangenen Kapitel. Virchow, Rudolf (1877): Ueber Mikrocephalie. Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. In: Zeitschrift für Ethnologie, S. 280 – 295. Aeby, Christoph Theodor (1874): Beiträge zur Kenntnis der Mikrocephalie. In: AfA, Bd. 7, S.  1 – 57; 199 – 255. Bischoff, Theodor Ludwig Wilhelm von (1867): Ueber die Verschiedenheit in der Schädelbildung des Gorilla, Chimpanse und Orang-­Outang, vorzüg­lich nach Geschlecht und Alter, nebst einer Bemerkung über die Darwinsche Theorie. München: Verlag d. k. Akademie; ders. (1868): Die Grosshirnwindungen des Menschen mit Berücksichtigung ihrer Entwicklung bei dem Fötus und ihrer Anordnung bei den Affen. München: Verlag d. k. Akad.; ders. (1870): Beiträge zur Anatomie des Hylobates leucisius u. zu einer vergleichenden Anatomie der Muskeln der Affen und des Menschen; ders. (1880): Über die äusseren weib­lichen Geschlechtstheile des Menschen und der Affen. München: Verlag d. k. Akademie. Ders. (1874): Anatomische Beschreibung eines 8-jährigen mikrocephalen Mädchens. Helene Becker aus Offenbach. In: Abhandlungen der mathematisch-­physika­lischen Classe der könig­ lich bayerischen Akademie der Wissenschaften. München: Verlag d. k. Akademie (11), Bd. 11, S.  117 – 189. Vogt, Carl (1870): Menschen, Affen-­Menschen, Affen und Prof. Th. Bischoff in München. In: Moleschott, Jacob (Hg.): Untersuchungen zur Naturlehre des Menschen und der Thiere. Gießen: Roth (X), 10. 1870, S. 493 – 525. Zitiert nach Kockerbeck 1999, 95 f.

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Abb. 8: Profilansicht der Mikrocephalin Helene Becker, Abbildung aus einer Abhandlung von ­Thomas Bischoff von 1874

Virchow, Aeby und Bischoff konzentrierten sich in ihren Schriften darauf, anhand eigener Befunde Vogts Arbeiten infrage zu stellen. Aeby bringt seinen Standpunkt, den er mit Virchow teilt, folgendermaßen auf den Punkt: Untersuchen wir nunmehr die Mikrocephalen auf ­dieses so wichtige Verhältnis [der Hirnnähte zueinander, H. E.], so erkennen wir ohne Mühe, dass dieselben in der allgemeinen Differenzierung ihres Gehirnes dem Gesetze des normalen Menschen treu bleiben, dass sie jedoch in der speciellen Ausführung desselben andere Wege einschlagen.64

Aeby brachte seine Einwände in einer mehrere Teile umfassenden Studie ebenfalls im Archiv für Anthropologie vor, das fach­lich so offen war, dass es konfligierende Arbeiten zu einem Thema zuließ. Da Aebys Schrift wenig neue Befunde bringt und kaum über das hinausgeht, was auch schon Rudolf Virchow zu dem Thema geschrieben hatte (s. u.), wird hier auf eine längere Darstellung verzichtet. Entscheidend ist an Aebys Material jedoch, dass er seine Ergebnisse anhand mehrerer Fälle von Mikrocephalie entwickelte, die auch Vogt vorlagen: Die Schädel von Racke, Mähre, den Brüdern Sohn, Schüttelndreyer, „Jena“, Wyss und Mähler.65 Offenbar war es Aeby gelungen, diese Schädel, und nicht nur ihre Ausgüsse zu untersuchen; den von Jakob Moegele konnte er jedoch nur anhand der geometrischen Zeichnungen Vogts untersuchen und unterließ eine Diskussion seiner Erkenntnisse, da ihm seine Quelle zu ungenau

6 4 Aeby 1874, 251. 65 Ebd., 43. Leider gibt Aeby nicht an, in ­welchen Sammlungen oder an ­welchen Orten er die Schädel untersucht hatte.

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erschien.66 Vogts Behauptungen hatten großen Eindruck gemacht: Es reichte offenbar nicht aus, ledig­lich seine Ergebnisse anzuzweifeln, zu ihrer Diskreditierung war eine grundsätz­liche Überprüfung von Vogts Material nötig. Die Mikrocephalen-­ Debatte erwies sich so wiederum als idealer Stellvertreter-­Disput, an den zahlreiche Fragen der Anthropologie (bspw. ‚Rasse‘, Geschlecht) angelagert werden konnten. Vordergründig lag ein abgezirkeltes Problem vor, das nicht von der ganzen Menschheit handelte (wie beispielsweise die Vorlesungen über den Menschen), sondern einen Spezialfall betraf, dessen Kenntnis sich einer geringen Zahl von Quellen verdankte, die auch für Kollegen nachvollziehbar waren. Neben den Angriffen auf die Inhalte der Vogt’schen Schlussfolgerungen wandten sich Aeby et al. aber auch teilweise gegen die Methoden ihres Kollegen. Virchow kriti­sierte dabei unter anderem, dass Vogt seine Erkenntnisse anhand der Schädel von Schimpansen gewonnen habe, wo er die von Gorillas hätte heranziehen müssen, da diese dem Menschen viel ähn­licher ­seien.67 Damit hatte er einen wichtigen Punkt bei Vogt getroffen, der sich nur wenig dafür interessierte, einzelne Affenarten zu unterscheiden. Er ließ sich von solchen Detailfragen bei der unverdrossenen Wiederholung seiner Grundgedanken kaum beirren. Dem trägt auch Virchows Schrift Rechnung, die darauf setzt, Vogt eine falsche Anwendung der Abstammungslehre zu unterstellen. Vogt habe „ein schlechthin krankhaftes Verhältniß mit gesetzmäßigen Entwickelungs-­Verhältnissen in eine Reihe“ gestellt, was nicht einmal dann angemessen sei, wenn man die Abstammungsthese befürworte: „Denn die Entstehung neuer Arten und Spielarten hat nur dann einen Sinn, wenn die einzelnen Individuen dieser Arten oder Spielarten für eine selbstständige Existenz, wenn mög­lich auch für einen Kampf um das Dasein zweckmäßig eingerichtet sind.“ Dies sei bei den Mikrocephalen aufgrund ihrer phy­sischen und psychischen Schwäche nicht der Fall: „Ihr Blödsinn hindert sie irgend eine Art von selbstständiger Arbeit, ­welche auf Selbsterhaltung gerichtet wäre, zu leisten […]. Er [der Mikrocephale, H. E.] ist ein durch Krankheit theilweise veränderter Mensch, aber kein Affe.“68 Der letzte Satz d­ ieses Zitats bietet einen symptomatischen Einblick in Virchows Argumenta­tionsweise hinsicht­lich Fragen der Deszendenzlehre. Mit der Feststellung, dass es sich bei den Mikrocephalen um Individuen mit gewissen somatischen Pathologien handele, stellt er die Notwendigkeit zurück, die Ätiologie in ihrer Beziehung zur Phylogenese zu betrachten. Genau d­ ieses Verfahren wendete er auch in der Diskussion über den sogenannten Neandertaler an, dessen Herkunft aus der Diluvialzeit Hermann Schaaffhausen behauptete. Dass sich Letzterer mit seinen Ansichten nur 66 Ebd. 67 Virchow 1870, 30. 68 Ebd., 31 f. Das Argument, dass es keine Art geben könne, die sich selbst nicht erhalten kann, wiederholt Virchow in seiner 1877er-­Untersuchung über die Mikrocephalie (vgl. Virchow 1877, 288).

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schwer gegen den weithin bekannten Virchow durchsetzen konnte, wurde bereits kurz nach dessen Tod 1902 anerkannt und auf der VDNA in Stuttgart vom dortigen Berichterstatter betont: „Seine erdrückende Autorität vermöge derer der Neander­ thalmensch als ‚patholo­gisch‘ in vollständigen Misscredit kam, verhinderte über 40 Jahre lang eine erneute gründ­liche Untersuchung der werthvollen Stücke.“69 Virchow glaubte zwar an eine Veränder­lichkeit und Entwicklung von Arten, befürwortete also den Transformismus, und gestand zusätz­lich auch eine Ähn­lichkeit ­zwischen Mikrocephalen und Affen zu,70 wie auch ­zwischen normal entwickelten Menschen und Affen.71 Diese Ähn­lichkeit fasste Virchow aber als rein ästhetisches Phänomen auf, das keinen Beleg für eine Verwandtschaft im biolo­gischen Sinne sei. Die biolo­gische Entwicklung eines Organismus beschreibt Virchow näm­lich als „Verunähn­lichung (Differenzirung)“72 mit den Entwicklungsstadien von Genera­ tionen, die einem Organismus vorangehen. Um eine biolo­gische Verwandtschaft beweisen zu können, braucht es laut Virchow eine Stammart aus den frühen Stadien der Artentwicklung, von der ausgehend sich zwei Arten (Menschen und Affen) entwickelt hätten; „eine ganz allgemeine Affenähn­lichkeit, wobei der Mensch in d­ iesem Stück dem einen und in dem anderen einem anderen Affen gleicht“, reicht ihm als Beleg der Abstammung des Menschen vom Affen nicht aus.73 Virchows Ausführungen erläutern nicht, wie eine s­ olche Stammart genau festzustellen sei. Es gibt aber Hinweise darauf, dass hinter ­diesem Begriff ein naturphilosophisches Konzept steht, das nicht nur Vogt fern liegen musste, sondern auch der Deszendenztheorie vorgelagert ist. Gemeint ist die „Idee des Thiers“ wie Virchow sie bei Goethe findet, der hier kurzerhand zum Begründer der deutschen Schule der Entwicklungslehre ernannt wird: Von physiognomischen, auf Anregung Lavater’s veranstalteten Studien ausgehend, hatte sich Göthe zur Anatomie gewendet: in anhaltenden, während vieler Jahre immer wieder aufgenommenen Arbeiten hatte sich sein Blick für die Ergründung des gesetzmäßigen Zusammenhangs in den Vorgängen des organischen Lebens geschärft. Der Dichter suchte, wie er selbst gesagt hat, „die Idee des Thieres“, und siehe da, was Allen bis dahin verschlossen geblieben war, es enthüllte sich vor dem Seherblick eines Forschers. Als er auf seiner zweiten italienischen Reise (1790) den Judenkirchhof auf dem Lido von Venedig besuchte, da hob sein Diener aus dem dünenhaften Sande einen zerschlagenen Schöpfenkopf auf, der in seinem Zerfall die einzelnen Theile erkennen ließ. „Da hatt’ ich denn“, sagte Göthe, „das Ganze im Allgemeinen zusammen“.74

69 70 71 72 73 74

Vgl. Zängl-­Kumpf 1990, 206. Virchow 1870, 29. Ebd., 22. Ebd., 19. Ebd., 33. Ebd., 18.

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Die Sage vom Erkennen des großen Ganzen anhand eines einzelnen epistemischen Objekts wiederholt strukturell den Umgang mit dem Zwischenkieferknochen in Goethes Morphologie: Die Evidenzerzeugung als Geniestreich wird zur Methode der Naturgeschichtsschreibung. Sie mag sich so zugetragen haben oder nicht – die Vorstellung vom Verständnis des „gesetzmäßigen Zusammenhangs im organischen Leben“, die Virchow propagiert, widerspricht zumindest insofern dem Ansatz der durch Darwin informierten Evolu­tionslehre, als Letztere von Beobachtungen ausgeht, die an Popula­tionen angestellt und an Individuen überprüft werden können. Der Weg, den Virchow mit Goethe einschlagen möchte, orientiert sich hingegen an einem anderen Grundgedanken: dem Schritt vom Einzelfall zu einer quasi-­platonischen Idee, einer Essenz eines Tieres, an der sich auch seine Verbindungen zum Tierreich im Allgemeinen erkennen ließen. Diese Überzeugung zeigt sich auch am Ende des Vortrags, den Virchow bereits 1869 gehalten hatte. Er vertritt dabei ein Fortschrittskonzept, das vorsieht, dass sich die geistige Essenz der Lebewesen zusammen mit den somatischen Eigenheiten vererben und dabei zu einer „immer größeren[n] Summe von Vorzügen“ addieren würde. Diese Version der von ihm als „durch reichen Segen“ gekennzeichneten Perfektibilitätslehre mit fester Teleologie hat für ihn ethische Implika­tionen: „Und darum [durch die Gültigkeit des Perfektibilitätsgedankens] erscheint die Descendenz-­Theorie, obwohl an sich unbewiesen und in ihren einzelnen Aufstellungen vielleicht vielfach irrig, nicht nur als ein lo­gisches, sondern auch ein sitt­liches Postulat.“75 Die Lehre Darwins und seiner Anhänger wird damit zum Behelf („eine Leuchte“) eines größeren, an der Philosophie orientierten Forschungszusammenhangs. Virchow argumentiert somit in einem anderen Rahmen als Vogt, der sich ausdrück­lich gegen die Naturphilosophie ausgesprochen hatte. Damit überführt Virchow die Abstammungsthese in eine Diskussion, an der die, gegen die er argumentiert, gar nicht teilnehmen.76

4. Sexualität und Geschlecht Theodor Bischoff schließt an Virchow an, arbeitet aber mit dem für Vogt zentralen Begriff des Atavismus, den Virchow kritisiert hatte. Dazu äußert Bischoff: Die Bildungshemmung ist eine Störung des Gesetzes, nach welchem sich das normale Wachsthum vollzieht; der Atavismus aber, wenn er wirk­lich zur Erscheinung kommt, ist gerade die Vollziehung des Gesetzes.77 75 Ebd., 38. 76 1877 wird Virchow diese Methode wieder anwenden, indem er sagt, dass „die Psychologie die stärksten Argumente gegen die Theorie der Affenmenschen liefert“ (Virchow 1877, 294). 77 Bischoff 1874, 180.

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Ein Lebewesen, an dem ein Atavismus festgestellt würde, müsse dementsprechend unbedingt auch für sich selbst überlebensfähig sein, um als Rückschlag in eine bestimmte Art (wie Vogt das von den „Affenmenschen“ behauptet hatte) gelten zu können.78 Im Zusammenhang mit dieser Frage diskutiert Bischoff auch, ob ein Mikrocephaler ein Mensch sei, dessen Entwicklung in der Ontogenese stehen geblieben ist und damit die Phylogenese der Gattung Mensch nur unvollständig wiederholt.79 Bischoff jedoch bürstet diese Frage ab, indem er den Satz von der Ontogenese als Rekapitula­tion der Phylogenese als allgemein frag­lich und ohnehin schon längst bekannt abtut; weiterhin setzt er auf den Begriff der Bildungshemmung (s. o.), die er gegen den von Vogt verwendeten Begriff der Hemmungsbildung in Posi­tion bringt. Der Münchner Mediziner entwickelt seine Beobachtungen anhand eines einzigen Falls (Helene Becker), die er auch lebend untersuchte. Darin besteht eine Parallele zu Vogts Untersuchung Sophie Wyss’, mit der Bischoff hier in Konkurrenz tritt – da lebende Mikrocephalen so selten beschrieben worden waren, stellte es eine besondere Errungenschaft dar, mit Untersuchungsergebnissen aufwarten zu können, denen eine Begegnung von Arzt und Patientin zugrunde lag. Helene Becker (Abb. 8) scheint das Schicksal einer Art Schaubudenexistenz im Dienste der Wissenschaft erfahren zu haben, wie der Beginn von Bischoffs Bericht nahe legt, in dem er seine Begegnung mit ihr näher beschreibt: In den Jahren 1867 bis 1871 reiste in Deutschland ein Ehepaar, der Portefeuille-­Macher Becker und seine Frau mit ihrem mikrocephalen Kinde herum und liessen dasselbe sehen, auch wurde dasselbe von vielen Anatomen, Physiologen und Aerzten untersucht. […] Auch ich sah und untersuchte am 15. Juni 1867 das Kind, als es 3 Jahre 11 Monate alt war. Am 20. Februar 1872 starb dasselbe bei seinen Eltern in Fechenheim bei Offenbach. Ich erwarb die Leiche desselben für die Münchner anatomische Anstalt und erhielt dieselbe so frisch, dass es mir mög­lich war, das Gehirn und die meisten Weichtheile noch im wohlerhaltenen Zustande zu untersuchen.80

An Bischoffs Text fällt die Beschreibung der Genitalien von Helene Becker deut­lich auf. Seine Beobachtungen dazu füllen zwei Seiten und nehmen damit so viel Raum ein wie die Beschreibung des gesamten organischen Apparats des Mädchens,81 das nur acht Jahre alt wurde. Damit wollte Bischoff sicher­lich seine Expertise auf dem Gebiet der vergleichenden Genital-­Anatomie belegen, die sich wiederum als Schlüsselfrage des So-­Seins der Affen und Menschen erweist. Dementsprechend tritt bei

78 79 80 81

Ebd., 176. Ebd., 181. Ebd., 119. Vgl. ebd., 161 ff.

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Bischoff neben die Nennung verkümmerter Großhirnlappen 82 und die Daten zur insgesamt winzigen Größe des Gehirns noch die Beschreibung der inneren Genitalien Helene Beckers hinzu, w ­ elche wie bei einem neugeborenen Kind 83 entwickelt s­ eien: Die Modifica­tion in der Bildung der äusseren Genitalien ist nicht affenähn­lich, vielmehr gewissermassen das Gegentheil. Bei den Aeffinnen, nament­lich auch dem Orang-­Outan und dem Chimpansé, deren Genitalien von allerdings nur jungen etwa 4jährigen Thieren ich vor mir liegen habe, muss man sagen, dass eigent­lich die g r o s s e n Schamlippen ganz fehlen. […] Es ist aus den Untersuchungen von Cuvier, J. Müller und Luschka bekannt, dass die äusseren Genitalien der Hottentottinnen und Buschmänninen sich von denen der Europäerinnen dadurch unterschieden, dass ihnen ebenfalls die grossen Schamlippen fast ganz fehlen, dagegen die Nymphen […] stark entwickelt sind; also ganz wie bei dem Orang-­Outan und dem Chimpansé. Bei unserer Helene ist es aber gerade umgekehrt […].84

Mit der vertrau­lichen Beschreibung („unsere Helene“) der Mikrocephalin ordnet er sie zwar als Mensch ein, stellt dafür aber bei Afrikanerinnen eine Sonderanatomie fest. Auch hier wird der „Zauberstab der Analogie“85 gezückt, der die buchstäb­liche Abartigkeit der schwarzen Frauen fest mit der (Geschlechts-)Anatomie der Affen verschiedener Art vertäut.86 Da in Bischoffs Fall die Patientin noch im Kindesalter starb, braucht er die Frage der Fortpflanzung oder des Sexualverhaltens nicht behandeln, und auch Virchow geht nicht näher auf sie ein. Letzterer scheint den Mikrocephalen jede Art von Fertilität abzusprechen, indem er sie für „steril“87 erklärt. Vogts Beobachtung, dass mikrocephale Frauen menstruieren, lehnt er mit der Feststellung ab, dass sie dennoch keine Kinder hätten und damit wohl unfruchtbar sein müssten.88 Zu ganz anderen Ergebnissen kommt G. Frey, dessen Forschungen zur Mikro­cephalie ebenfalls im Archiv für Anthropologie zur Kenntnis gebracht werden.89 Frey stützt sich in seinem Beitrag Drei mikrocepha­lische Geschwister auf die gesamte Diskussion über 8 2 83 84 85 86

Vgl. ebd., 168. Vgl. ebd., 163. Ebd., 164. Palm 2011. Zum konstruktiven Charakter von Analogiebildung bei der heuristischen Hypothesenbildung und den Problemen von Analogien in biolo­gischen Systematiken vgl. Breidbach, Olaf (2011): Analoge Anthropologien. Zur Reanimierung des Mikro-­Makrokosmos-­Denkens im 19. Jahrhundert. In: Michael Eggers (Hg.): Von Ähn­lichkeiten und Unterschieden. Vergleich, Analogie und Klassifika­tion in Wissenschaft und Literatur (18./19. Jahrhundert). Heidelberg: Universitätsverlag Winter, S. 33 – 55). 87 Virchow 1877, 289. 88 Ebd. 89 Frey, G. J. O. (1898): Drei mikrocepha­lische Geschwister. In: AfA, Bd. 25, 33 – 44; ders. (1899): Beschreibung eines Mikrocephalenschädels. Eine Studie. In: AfA, Bd. 26, S. 317 – 340. Zu Frey

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die Mikrocephalie, kennt auch die Debatten über den Atavismus, zielt aber ganz ­darauf ab, seine Patienten als Individuen zu beschreiben, die durch ihr Sexualverhalten als deviant zu erkennen sind und so auch eine Gefahr darstellen, die bestimmte Diszipli­ narmaßnahmen erfordert. Frey berichtet von den Geschwistern Bernhard, Martha und Elisabeth Kunde (Abb. 9 und Abb. 10). Bernhard und Martha wurden mit einem weiteren, nicht-­mikrocephalen Kind als Drillinge geboren. Nach einem Spaziergang, den Bernhard mit ­diesem Dritten in den Wald unternommen hatte, kehrte Bernhard allein zurück. Es gab Gründe zur Annahme, er habe seinen s­ päter tot aufgefundenen Bruder umgebracht.90 Diese Vermutung, die in keinen direkten Zusammenhang mit dem Befund Mikrocephalie zu bringen ist, verweist gleich zu Anfang des Textes auf die Verkommenheit der Geschwister, die erb­lich bedingt sei, wie die Anamnese suggeriert: „Der Vater, ein länd­licher Besitzer, hat einen stark entwickelten Geschlechtstrieb und extravagante Allüren besessen.“91 Auch hier wird nicht mitgeteilt, wie Frey diese Informa­tion erlangt hat. Im Folgenden konzentriert sich Frey vor allem darauf, das auffällige Sexualverhalten der Geschwister zu illustrieren. Der Text hält sich kaum damit auf, die körper­lichen Eigenschaften der Mikrocephalen zu beschreiben und liest sich teilweise wie eine Heilsgeschichte, die im Fall von Bernhard vom Onanisten 92 zum gottgläubigen Idioten verläuft, der allerdings trotz seiner Bekehrung nicht in der Lage ist, Lesen und Schreiben zu lernen.93 Über die Zeit nach der Einlieferung Bernhards in die Schwetzer Irrenanstalt (damals: Westpreußen) im Jahr 1888 schreibt Frey: Er war maaslos heftig und gern zu Thät­lichkeiten geneigt, hielt wenig auf sein Aeusseres und sah immer unsauber und schmierig aus. Das Schlimmste indessen war seine Sucht nach dem weib­lichen Geschlecht; er onanierte vor den Augen weib­licher Patienten, vielleicht, um ihnen seine Wünsche zu offenbaren. Er trieb excessive Onanie auch in der Abteilung und gab den Anderen ein böses Beispiel, so dass er zu verblödeten Kranken verlegt werden musste.94

Während Bernhard eine gewisse Verschlagenheit mit Potenzial zur Besserung zugetraut wird, bleibt die Beschreibung der Schwestern ganz bei der Beobachtung einer unangemessenen, überbordenden und wider­lich dargestellten Sexualität stehen; bei der Beschreibung der Physis Elisabeths wird wiederum nicht vergessen, die „schlaffen

90 91 92 93 94

ließen sich keine biografischen Daten ermitteln. Der zweite der beiden genannten Artikel vermerkt über ihn: „Assistenzarzt an der Prov.-Irrenanstalt Schwetz a. W., Westpreussen.“ Vgl. Frey 1897, 35. Ebd., 35. Zur Geschichte der Verfolgung der Onanie siehe auch Foucault 2007, der das masturbierende Kind als prototypische Figur im Rollenrepertoire der Anormalen behandelt (ebd., 81 ff.). Frey 1897, 37. Ebd., 36.

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Brüste“ zu erwähnen, die auch schon Vogt bei Sophie Wyss bemerkt hatte.95 Über sie erfahren wir weiterhin Folgendes: Den Grundzug ihres Wesens bildet eine überaus grosse Sinn­lichkeit. Wenn die Aerzte zur Visite erscheinen, springt sie eilig herbei, drängt sich wollüstig an sie und betastet und streichelt sie oder steht kokettierend ein wenig abseits. Ebenso erotisch zeigt sie sich bei Besuchen ihres Bruders, den sie erkennt, aber mit „Onkel“ oder „Papa Bernhard“ anredet. Sie rutscht dabei unruhig auf ihrem Sitze hin und her, drückt sich an ihn und küsst ihn bisweilen in sicht­licher Erregung; doch ist es nicht der Kuss der Schwester, sondern der des begehrenden Weibes.96

Das inzestuöse Verhältnis der Drei wird auch in der Beschreibung Marthas thematisiert: Aus ihren ganz wirren Reden lassen sich manchmal einzelne Sätze geschlecht­lichen Inhalts isolieren, ­welche auf das frühere Liebesleben ­zwischen den drei Geschwistern erschreckende Rückschlüsse gestattet. […] Dabei manipuliert sie häufig an ihren Brüsten herum, ­welche beide secerniren, und entpresst ihnen milchige Flüssigkeit, w ­ elche sie dann aufleckt. Die mikroskopische Untersuchung ergibt, dass die Flüssigkeit Colostrum ist. Martha verunreinigt sich nicht mit Koth oder Urin, doch schmiert sie mit den Speisen.97

Dem Leser werden hier keine Affenmenschen mehr vorgeführt, sondern Personen, denen volle Verantwortung für ihr Verhalten zugebilligt wird, auch wenn ihre Intelli­ genz sehr stark beschränkt und ihre Devianz quasi konstitutiv ist. Es sind Frauen mit einem so übermäßigen Begehren, dass es nur noch mithilfe (medizinischer) Disziplinarmaßnahmen in den Griff zu bekommen ist. Dieses Vorgehen findet sein Modell und seine Legitima­tion in der Art und Weise, wie in der anthropolo­gischen Forschung zuvor mit dem Untersuchungsobjekt Affe umgegangen wurde. Als großes Modell aller kleinen Exklusionen schreibt sich seine Geschichte hier fort. Wenn sich die Schrift von Frey überhaupt nicht mit der These von den „Affenmenschen“ auseinandersetzt, so wird dies zunächst damit begründet, nun ankündigen zu können, dass man diese früheren falschen Annahmen heute end­lich überwunden habe. Gleichzeitig und stillschweigend ist jedoch noch etwas anderes geschehen: Frey kann sich in seinen Texten auf eine nunmehr gefestigte Semantik beziehen, in der ein Mikro­ cephaler überhaupt nicht mehr in Analogie zu einem Affen gesetzt werden muss, um als monströs beschrieben zu werden.

95 Ebd., 40. 96 Ebd., 39. 97 Ebd., 41.

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5. Ansichten der Mikrocephalie – Ansichten der Devianz Im Unterschied zu Vogts Text sind Freys Untersuchung Bilder der Geschwister Kunde beigegeben. Aber auch bei Carl Reclam,98 Carl M. Fürst in Stockholm 99 und Ferdinand Birkner 100 finden sich Abbildungen Mikrocephaler, die in Betracht gezogen werden sollten. Darunter ist besonders Reclam (1821 – 1887) erwähnenswert, weil er erstens ein ähn­lich bekannter Autor wie Vogt war 101 und zweitens, weil er ein Beispiel für einen Autoren ist, der Vogts Meinung teilt und sich zudem wie Bischoff teilweise mit den gleichen Fällen wie sein Genfer Kollege auseinandersetzt. Bei der Betrachtung dieser sehr heterogenen Bildquellen spielt wiederum die Konkurrenz zu den Narrativen und Beschreibungen in den Fallgeschichten der Mikrocephalen eine wichtige Rolle. Mit welcher Tendenz diese häufig verfasst wurden, bzw. unter w ­ elchen Bedingungen sie zustande kamen, lässt sich an einem Zitat aus einem Aufsatz Ludwig Meyers Ueber Hemmungsdeformitäten bei Idioten ablesen. Der Psychiater beabsichtigte, mit einer Studie über den Mikrocephalen Carl Fuge sein Fach gegen die „Springwellen der Deszendenztheorie [zu] s­ chützen“.102 Über die Darstellung der Affenmenschen schrieb er im Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten: In Bezug auf die allgemeinen Körperformen tiefer stehender Idioten scheinen, wo dieselben überhaupt erwähnt werden, mehr aesthetische Gesichtspunkte vorgewaltet zu haben. Die Autoren haben sich bemüht, den seltsamen, abschreckenden, widerwärtigen Eindruck, den sie selbst in vereinzelten Fällen empfanden, in ihren Schilderungen wiederzugeben. Auf ­diesem Wege entstand das Bild des sogenannten Cretinentypus, der grobe dispropor­tionirte Körperbau, die alten Züge, die missfarbige, faltige, hypertrophische Haut, die wulstigen Lippen usw. tief stehender Idioten. Indess verfehlten bereits die Autoren dieser Schilderungen selbst nicht, sich gegen die Allgemeingültigkeit ihrer Beschreibungen zu verwahren. Dieses Sammelbild degenerativer Momente wird nur in sehr vereinzelten Exemplaren des extremen Cretinismus seine Verwirk­lichung finden.103

Während Zweifel an den beiden letzten Sätzen des Zitats angebracht sind, ist es bemerkenswert, dass hier die Ästhetisierung der Mikrocephalen-­Fallgeschichten so deut­lich angesprochen wird. In den Texten soll mit großem Aufwand anhand der narrativen Gestaltung der Fallgeschichten entweder gezeigt werden, dass man es bei 98 Reclam, Carl (1879): Der Leib des Menschen, dessen Bau und Leben. Vortrag für Gebildete. 2. Aufl. Stuttgart: Hoffmann. 99 Stockholm, Carl M. Fürst (1883): Drei Fälle lebender Mikrocephalen. In: AfA, Bd. 14, S. 41 – 60. 100 Birkner, Ferdinand (1898): Ueber die sog. Azteken. In: AfA, Bd. 25, S. 45 – 59. 101 Vgl. Sarasin 2001, 206. 102 Meyer, Ludwig (1875): Ueber Hemmungsdeformitäten bei Idioten. In: Westphal, Carl et al. (Hg.): Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten. Berlin: August Hirschwald, V, S. 1 – 23. Hier: S. 3. 103 Ebd., 2.

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Kapitel III: Pathologisieren

Abb. 9 und 10: Die Geschwister Bernhard, Martha und Elisabeth Kunde, Abbildung aus dem Archiv für Anthropologie von 1898

den Mikro­cephalen mit Affenmenschen zu tun habe oder eben mit patholo­gisch Kleinköpfigen. Es wird hier auf ein reiches Arsenal an wissenschaft­lichen Tradi­tionen und ihren Illustra­tionen zurückgegriffen, die jedoch vielfach nur als Anspielungen suggestiv wirksam werden können. Die Illustra­tionen, die den Texten schließ­lich tatsäch­lich beigegeben werden, sind letzt­lich jedoch schwer mit den Thesen der Autoren zusammenzubringen. Vergleicht man das Porträt Helene Beckers (Abb. 8) mit den Zeichnungen der drei mikrocepha­lischen Geschwister (Abb. 9 und Abb. 10), der lebenden M ­ ikrocephalin bei Stockholm (Abb. 11) und der Fotografie der „sog. Azteken“ (Abb. 12), so fällt

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Abb. 11: Die Mikrocephalin Maria Carlsson, Abbildung aus dem Archiv für Anthropologie von 1883

Abb. 12: Zwei Mikrocephale, vorgestellt als „Die sogenannten Atzteken“, Abbildung aus dem Archiv für Anthropologie von 1898

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zuerst auf, dass sie alle im Profil gezeigt werden. Die Mikrocephalinnen Maria ­ arlsson, Charlotta Norström und Emma Ris, die Carl Stockholm begutachtete, C sind wie die Geschwister Kunde auch in einer Frontalansicht zu sehen; zusätz­lich bietet Stockholm auch noch eine Ganzkörper-­Ansicht an. Das Profil ist der klas­ sische A ­ bbildungsmodus der Physiognomie, aber auch der phy­sischen Anthropologie bei Camper. Die Profil­darstellungen der Mikrocephalen verfolgen einen der phy­ sischen Anthropologie ähn­lichen Zweck: Sie sollen anzeigen, was das Individuum mit dem Typ ‚des‘ Mikrocephalen verbindet. Durch diese Darstellung, die die Person vereinzelt zeigt und keinen Vergleich zulässt, wird jedoch nicht die Verbindung von Individuum und Phänomen sichtbar gemacht, sondern das Individuum wird in dem Phänomen: in seinem Krankheitsbefund aufgelöst. Das Irreguläre wird so erst zum Devianten, durch die Festlegung auf ein Bild wird das Deviante endgültig in den Körper der Betroffenen eingeschrieben. Diese Darstellung ruft noch einen weiterer Bezug auf: Die Fotografie eines Delinquenten nach seiner Festnahme in Profil- und Frontalansicht. Die ersten Beispiele für diese Präsenta­tionstechnik finden sich in Europa im 19. Jahrhundert bei Cesare Lombroso (1835 – 1909). Seine Studie L’uomo delinquente aus dem Jahr 1876 lieferte die erste Studie, die sich systematisch daran machte, Physiognomie, Psychiatrie, Kriminalistik und Anthropologie zu verbinden. Dahinter stand der Versuch einer „semiotischen Totalerfassung des Körpers“104 durch den serialisierten Vergleich von Verbrecherportraits, deren Anordnung derjenigen entsprach, die sich bei den Darstellungen der Mikrocephalen wiederfinden. Die „Homologie von Moral und Ästhetik“,105 die damit gefestigt wurde, ergibt sich in den Darstellungen der Geschwister Kunde durch die Nachbarschaft ihrer Porträts zu der Beschreibung ihres Sexualverhaltens sowie dem Tatverdachts in einem Mordfall. Die Figur des devianten Menschen ist hier grundsätz­lich eng mit der des Affen verbunden. Dies lag durchaus in Lombrosos Interesse, der in seiner Studie über weiße und farbige Menschen 106 daran arbeitete, einen Nachweis für die Abstammung des Menschen von einem anthropoiden Tier ebenfalls über die Konstruk­tion eines anthropolo­gischen Dreiecks anzutreten. Dazu postierte er in seinem Dreieck neben Mensch und Tier atavistischen Individuen, worunter bei ihm neben Kriminellen

104 Siebenpfeiffer, Hania (2007): „Kriminelle Körper“ – ­­Zeichen und Verbrechen bei Lavater, Lombroso und Kafka. In: Jean-­Baptiste Joly; Cornelia Vismann; Thomas Weitin (Hg.): Bild­ regime des Rechts. Stuttgart: Merz & Solitude, S. 109 – 148. Hier: S. 140. 105 Ebd., 122. Zu dieser Frage findet sich einiges auch bei Alt, Peter-­André (2010): Ästhetik des Bösen. München: Beck. S. 342 f. 106 Lombroso, Cesare (1892): L’uomo bianco e l’uomo di colore. 27. Aufl. Torino: Frat. Bocca. Die Bemerkungen über die Mikrocephalen, deren Verwandtschaft mit den Affen er unter anderem Vogt 1867 entnimmt, finden sich im Anhang VII, S. 308 ff.

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und Geisteskranken auch ausdrück­lich Mikrocephale genannt wurden.107 Wie sehr all diese Figuren zu einem mög­lichst verabscheuungswürdigem Wesen zusammenschmolzen, und ­welche Gedankenspiele dies auslöste, zeigt ein Zitat aus einem Brief von Hippolyte Taine an Lombroso, das der Autor in das Vorwort der franzö­sischen Ausgabe von L’uomo delinquente (1895) einbaute: You have shown us lubricious and ferocious orangutans with human faces; certainly, being such they can act no other way; if they rape, steal, and kill, it is invariably on account of their nature and their past. The more reason for us to destroy them as soon as one is sure that they are and will remain orangutans. On this account I have no objec­tion to the death penalty if society finds profit in it.108

Taine fasst das ‚Äffische‘ und das Delinquente auf Grundlage der Pathologie zusammen. Die Affen-­Figur läuft umgekehrt auch in den medizinisch-­anthropolo­gischen Texten explizit oder implizit (variiert in anderen Figuren) mit: Sie ist in den Texten über Mikrocephale im Vorrat des Imaginären aufgehoben und bindet dort die Ängste vor Pathologien aller Art. Eine Ausnahme zeigt sich in der Darstellung der „Affenorganismen“109 bei Carl Reclam. In einem Kapitel über Mensch und Affe in seinem Lehrbuch Der Leib des Menschen bietet er sowohl Profilabbildungen der Schädel der Mikrocephalen G ­ ottfried Mähre und Konrad Schüttelndreyer an, als auch s­ olche verschiedener Affenarten (Maki, Gorilla, Orang-­Utan etc.). Die extensive Verwendung von Bildmaterial illus­ triert seine Zustimmung zu Vogts Thesen über die Mikrocephalen. Anhand der Bilder sollen die unterschied­lichen Entwicklungshöhen menschenähn­licher Wesen belegt werden. Bei Reclam findet sich auch eine der wenigen Ganzkörper-­Abbildungen eines Mikro­cephalen aus dem Untersuchungszeitraum (Abb. 13). An dem Bild erscheint vieles merkwürdig: die Pose Emil N.s, seine Aufmachung in Schlafrock und Holzpantinen und auch seine lachende Hinwendung zum Betrachter. Die bedeutendste Auffälligkeit ist jedoch, dass hier augenschein­lich ein menschliches Wesen gezeigt wird, während sich Reclam in seinem Text ohne weitere Diskussion Vogts These vom Atavismus der Mikrocephalen anschließt 110 und sie als Vertreter des Urstamms betrachtet, aus dem sich zu einem nicht näher genannten Zeitpunkt sowohl Menschen als auch Affen in der uns heute bekannten Form entwickelt haben. Die Diskrepanz 107 Vgl. Gadebusch Bondio, Mariacarla (1995): Die Rezep­tion der kriminalanthropolo­gischen Theorien von Cesare Lombroso in Deutschland von 1880 – 1914. Husum: Matthiesen (Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, 70). Hier: S. 35. 108 Zitiert nach Pick, Daniel (1989): Faces of degenera­tion. A European disorder, c. 1848 – 1918. Cambridge: Cambridge University Press (Ideas in context). Hier: S. 109. 109 Reclam 1879, 96. 110 Ebd., 106.

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Kapitel III: Pathologisieren

Abb. 13: Der Mikrocephale Emil N., Abbildung aus Carl Reclams Der Leib des Menschen, dessen Bau und Leben von 1879

­zwischen der Abbildung eines fröh­lichen Zeitgenossen im Schlafrock und den Konnota­tionen des Wortes „Urstamm“ (das eher mit dem Leben der indigenen Völker verbunden wurde) könnte kaum größer sein und weist einerseits auf eine mög­ licherweise mangelhafte Kenntnis der Ethnologie und der Urgeschichte der Menschheit hin. Andererseits vermittelt sie auch den Eindruck von einem weiter­reichenden Darstellungsproblem, das nicht allein durch Wissenslücken entsteht, sondern auch die Interessen der Forscher belegt, die keine Skrupel hatten, allein das zu sehen, was für ihre ­Thesen opportun erschien. Das Beispiel Reclams zeigt, dass die Abstammungsthese teils allein durch Zuschreibung einer bestimmten Klassifika­tion („Urstamm“) bestätigt werden sollte. Diese Zuschreibungspraxis war notwendig, weil nur so alle Plätze in der Genealogie des Menschen ‚folgerichtig‘ besetzt werden konnten: Die Devianz ist dabei ein notwen­diges Erklärungskonzept für die Anthropologie, die sich über Ausnahme­erscheinungen ihre Idealfik­tion von Normalität im Formenkanon des Mensch­lichen bestätigt. Welche Tradi­tionen im Bereich der Genealogie dabei wirksam waren, zeigt im folgenden Kapitel die Diskussion der Stammbaumdarstellungen und des ­Haeckel’schen Konzepts vom Menschen als Höhepunkt der Natur.

Kapitel IV: Ästhetisieren Sprache, Stammbäume, Affenliebe

1. Prolog: Sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund. Leopold von Sacher-Masochs Novelle Diderot in Petersburg (1873) Ein liebestoller Philosoph macht sich am Rus­sischen Hof von Zarin Katharina II. zum Affen: Die Grundidee von Leopold von Sacher-­Masochs Novelle Diderot in Petersburg 1 aus dem Jahr 1873 ist schnell zusammengefasst. Sacher-­Masoch, der 1836 in Lemberg geboren wurde und im Jahr 1895 in Lindheim „gründ­lich gestorben“ ist,2 wurde nicht selten als Verfasser literarischer Ausschussware behandelt.3 Wenn Diderot in Petersburg trotzdem als Versuch Sacher-­Masochs ernst genommen wird, Wissenschaft und Literatur als Stücke vom selben Fleisch zu verkaufen, eröffnen sich die ­Themen des folgenden Kapitels, das sich unter anderem mit den Arbeiten August Schleichers, Ernst Haeckels und Gabriel von Max’ beschäftigt. Auffällig sind an dieser Novelle Sacher-­ Masochs vordergründig plakative Bezüge zu modischen wissenschaft­lichen ­Themen, die Satire auf die Überlegenheitsgesten der Philosophie und der Versuch, ihr mit einer naturwissenschaft­lichen Poetik zu begegnen. Die Wechselwirtschaft z­ wischen ero­ tischer Provoka­tion, populärer Darwin-­Rezep­tion, wissenschaft­lichem Anspruch und Ästhetisierung motiviert Sacher-­Masochs Novelle; angedeutet sind damit schon die Orientierungs- und Ordnungsversuche, um die es in den folgenden Abschnitten geht: Die Analysen zum sprachwissenschaft­lichen Werk August Schleichers zeigen, welches Transfer- und Transforma­tionspotenzial humanistische Wissenschaftler in der Evolu­ tionstheorie erblickten und ­welche Rolle dabei für sie der Affe als Gewährsmann ihrer Thesen spielte. Die Stammbäume der Sprachen, die Schleicher in d­ iesem Zusammenhang entwarf, standen Pate für genealo­gische Überlegungen Ernst Haeckels, dem der dritte Abschnitt des Kapitels gewidmet ist. Sein anthropolo­gischer Einsatz ist durch eine 1 Sacher-­Masoch, Leopold von (1987): Diderot in Petersburg. Wien: Sonderzahl. 2 Koschorke, Albrecht (1988): Leopold von Sacher-­Masoch: Die Inszenierung einer Perversion. München: Piper. 3 Beispielhaft dafür sind die Einordnungen von Koschorke und Thomé: „[…] jederzeit von Belanglosigkeit bedrohte Novellistik“ (Koschorke 1988, 106 f.); „provozierende Simplizität“; Text aus den „Niederungen der bloß trivialen Unterhaltungsliteratur“ (Thomé, Horst (1987): Funk­tionen erzählter Erotik. In: Sacher-­Masoch (1987), S. 67 – 86. Hier: S. 72 bzw. 67.). Eine sach­lichere Betrachtung findet sich bei Michler 1999, bei Dolgan, Christoph (2009): Poesie des Begehrens. Textkörper und Körpertexte bei Leopold von Sacher-­Masoch. Würzburg: Königshausen & Neumann sowie in den folgenden Sammelbänden: Spörk, Ingrid (Hg.) (2002): Leopold von Sacher-­Masoch. Graz: Droschl; Kobelt-­Groch, Marion; Salewski, Michael (Hg.) (2010): Leopold von Sacher-­Masoch. Ein Wegbereiter des 20. Jahrhunderts. Hildesheim: Olms.

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euphorische Bejahung der Abstammungsthese bestimmt, die jedoch nicht verhindert, dass auch bei ihm der Mensch als Krone der Schöpfung fungiert. Die Ideologisierung bzw. „Verweltanschau­lichung“ seiner Ästhetik und seine quasi-­religiöse Naturwissenschaft wirkten in die Arbeiten des Malers und Laien-­Anthropologen Gabriel von Max hinein. Im vierten Abschnitt ­dieses Kapitels nehme ich anhand einer Analyse seines Nachlasses eine Neueinschätzung seiner Affen-­Bilder vor. Der Verlauf der Geschichte vom Besuch des Philosophen Denis Diderot am Hof der Zarin ist schlicht: Diderot folgt einer Einladung der Zarin Katharina nach Sankt Petersburg. Dort gelingt es ihm nicht nur sofort, den Parvenü und ehemaligen Tierpräparator 4 Lagetschnikoff zu düpieren, indem er ihn als General statt als glänzenden Wissenschaftler identifiziert, sondern er macht sich auch mit einem Vortrag über die Verwandtschaft ­zwischen Menschen und Affen beliebt. Von seinem neu gewonnenen Feind herausgefordert, diese zu beweisen, kündigt er die baldige Ankunft eines sprechenden Affen in Petersburg an. Während er noch auf eine Eingebung wartet, wie er d­ ieses Versprechen einlösen soll, verliebt er sich in die Fürstin Daschkoff, eine Hofdame Katharinas, die jedoch nicht nur verheiratet ist, sondern auch den Zorn ihrer Zarin fürchtet, sollte diese in erfahren, dass der berühmte Philosoph sie der Herrscherin vorzieht. So leitet Daschkoff Liebesbriefe Diderots an die Zarin um, die davon nicht wenig geschmeichelt ist, jedoch nach dem sprechenden Affen als Liebesbeweis verlangt. In der Zwischenzeit malträtiert Katharina den unglück­lichen ­Diderot, dessen Eitelkeit ebenfalls durch die Aussicht gekitzelt wird, den Platz auf dem Thron neben Katharina einnehmen zu können. Schließ­lich bleibt Diderot nichts anderes übrig, als sich in Felle eingenäht als sprechender Affe Jaques am Hofe vorzustellen. Mit scharfem Präparatorenblick erkennt Lagetschnikoff sogleich den Betrug und droht, den Affen auszustopfen und in das ört­liche Museum überbringen, allerdings nicht ohne den Philosophen im Affen vorher noch gehörig zu quälen. (Dabei macht er sich eine Peitsche zunutze – das von Sacher-­Masoch am meisten geschätzte Instrument.)5 Unter diesen Bedingungen gibt sich Diderot schließ­lich zu erkennen, was ihm aber erst nützt, als die alarmierte Fürstin Daschkoff zu seiner Rettung eilt. Daraufhin kann er wieder in sein Dasein als Mensch und s­ päter auch in seine Heimat zurückkehren, womit ein willkommener Anlass zum Beenden der Novelle gegeben ist. 4 Zur Rolle von Tierpräparatoren bei der Popularisierung der Figur des Affen siehe Britta L ­ anges Studie zur Firma Umlauff. Besondere Aufmerksamkeit erregte 1901 ein „Riesen-­Gorilla“, den die Söhne Johannes und Wilhelm Umlauff als gefähr­liche Bestie kunstvoll präparierten (vgl. Lange 2006, 96 f.). 5 Vgl. Dolgan 2009, 95 ff. Unter Bezug auf seine Erkenntnisse zum masochistischen Dispositiv, in dem das Auspeitschen eine wichtige Rolle spielt, deutet Dolgan die Novelle Diderot in Petersburg auch als „Selbstpersiflage, als Persiflage des masochistischen Plots“ (Dolgan 2009, 194).

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Werner Michler hat in seiner Studie zum Verhältnis von Darwinismus und Literatur darauf hingewiesen, dass Sacher-­Masoch „schließ­lich selbst zum ‚lehrreichen‘ Novellen­ helden wurde: in dem ungleich wirkmächtigeren Novellenwerk der Psychopathia sexua­ lis des Grazer Psychiaters Krafft-­Ebing.“6 Tatsäch­lich beschäftigen sich immer noch die meisten neueren Untersuchungen zu Sacher-­Masoch mit der sexuellen Vorliebe, die Krafft-­Ebing nach Sacher-­Masoch benannt hat. Die hier angebotene Lektüre des Textes soll ihn in Beziehung zu dem wissenspoetischen Projekt Sacher-­Masochs setzen und dazu Michlers Einordnung des Autors als Darwinisten heranziehen: Als solcher widmet er sich auch der emblematischen Debatte um die Sprachfähigkeit der Affen. Entscheidend an Michlers Untersuchung ist die Feststellung, dass Sacher-­Masoch „Darwin“ (und ebenso „Schopenhauer“) als „Lieferant von Desillusionierungstheoremen“ verwendet.7 Dem stimmt auch Koschorke zu, wenn er von der auf ‚darwinis­tischen‘ Kampf gebürsteten Darstellung des Geschlechterverhältnisses bei Sacher-­Masoch schreibt.8 Koschorke, der auch viele der anderen historischen Novellen Sacher-­Masochs behandelt,9 verweist in seiner Studie vielfach darauf, wie bewusst Sacher-­Masoch in allen Registern der zeitgenös­sischen Medien spielte, wobei sich das Erkennen von thematischen Trends und deren pikante Überhöhung als eine seiner Stärken erwies. Dazu gehört auch der Einsatz des Historismus in seinen Texten, mit dem „Vergangenheit nur mehr als maskierte Gegenwart“10 dargestellt wird. So tritt auch Diderot als Protagonist einer Erzählung auf, die den Charakter eines pikanten à propos zur Evolu­tionstheorie aufweist. Es lässt sich nicht feststellen, ob Diderot Sacher-­Masoch auch als Autor der dialo­gischen Abhandlung D’Alemberts Traum 11 geläufig war, die unter anderem die Frage nach der Weiterentwicklung von Menschen und Tieren zu quasi perfekten Überwesen behandelt 12 und mit der Frage nach der Sprachfähigkeit von Affen endet.13 Diderot 6 7 8 9

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Michler 1999, 164. Vgl. Michler 1999, 156. Vgl. Koschorke 1988, 113. Unter diesen Texten findet sich auch eine weitere Novelle, in der die Zarin Katharina als proto­ typische „grausame Frau“ auftritt (siehe zu d­ iesem Topos: Treut, Monika (1984): Die grausame Frau. Zum Frauenbild bei de Sade und Sacher-­Masoch. Basel; Frankfurt/M.: Stroemfeld) auftritt. Wohl wegen des vielversprechenden Titels Katharina II, Zarin der Lust wurde das Werk noch in den 1980er-­Jahren neu aufgelegt. Koschorke 1988, 37. Der Text erschien posthum 1830, entstand aber bereits 1769. Zur Geschichte des Textes als Vorläufer der späteren Evolu­tionstheorien vgl. Foucault 2003, 167 und Lovejoy 1985, 323. Nicht zuletzt geht es hier auch um die Frage, wie sich Bewusstsein und Hirn zueinander verhalten; ob Ersteres ledig­lich Produkt des Letzteren sei. Eine Untersuchung des Materialismus in D’Alemberts Traum findet sich bei Yann Lafon (2011): Fik­tion als Erkenntnistheorie bei Diderot. Stuttgart: Steiner (Zeitschrift für franzö­sische Sprache und Literatur). Diderot zitiert hierzu die berühmte Episode um den Bischof von Polignac, der einem Orang-­ Utan im Jardin des Plantes angeboten haben soll, ihn zu taufen, falls dieser sich herablassen sollte, ein Wort zu sprechen (vgl. Wokler 1995).

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tritt bei Sacher-­Masoch als genialer Enzyklopädist auf, der aus einer Zeit stammt, in der Wissenschaft noch Poesie sein durfte: Zu jener Zeit war der Philosoph zugleich Naturforscher, Historiker, Kritiker, Poet. So unternahm es denn Diderot, über eine Frage zu sprechen, ­welche damals schon von den in allen Zweigen menschlichen Wissens revolu­tionären Philosophen Frankreichs angeregt worden war, die Verwandtschaft des Menschen mit den Tieren und seine Abstammung von dem Affen.14

Die Behandlung der Abstammungsthese wird als revolu­tionärer Topos der Universalwissenschaft des 18. Jahrhunderts eingebaut, mit avantgardistischer Tradi­tion versehen und damit als angebrachtes Thema für einen Mann großen Geistes etabliert. Diesen Gestus lieh sich Sacher-­Masoch bei Haeckel, der das rhetorische Mittel der Amplifika­tion liebte und typografisch durch ständige Verwendung des Sperrsatzes umsetzte. Mit Haeckel war Sacher-­Masoch bestens vertraut: In seiner Erzählung Der Ilau hat er sich im großen Stil als dessen Plagiator befleißigt. Die Erzählung behandelt das tra­gische Schicksal eines jüdischen Wissenschaftlers, der sich noch vor Darwin die Evolu­tionstheorie ausdenkt, deren detaillierte Kenntnis Sacher-­Masoch ganz offenbar der Natür­lichen Schöpfungsgeschichte Haeckels entnommen hatte.15 Die Verbindung von Wissenschaft, Historie und Poesie ist ein zentrales Anliegen der Programmatik Sacher-­Masochs. Sie soll in der Novelle über den Affen-­Philosophen in ein burleskes historisches Tableau verwandelt und ideengeschicht­lich legitimiert werden. Dieses Vorgehen entwirft Sacher-­Masoch programmatisch in einem kleinen Manifest, das der ersten Ausgabe der von ihm herausgegebenen Revue Auf der Höhe 1881 voran gestellt hat. Dort heißt es: Die heutige Prosadichtung macht – mit wenigen Ausnahmen – den Eindruck, als ob die Welt seit fünfzig Jahren still gestanden wäre, als wenn alle die großen Entdeckungen der Natur­forschung, durch w ­ elche in allen anderen Wissenschaften eine vollständige Umwälzung stattgefunden hat, und alle unsere Grundanschauungen und Begriffe, die ästhetischen nicht ausgenommen, umgestaltet worden sind, gar nicht gemacht worden wären. Wir werden alles aufbieten, um der Prosadichtung den Platz zu erobern, der ihr heute, als Führerin der Dichtkunst, an der Seite der Wissenschaft gebührt; deren lichtbringende und befreiende Thätigkeit sie zu unterstützen die Aufgabe hat, indem sie […] eine poetische Naturgeschichte des Menschen liefert.16

14 Sacher-­Masoch 1987, 17. 15 Vgl. Michler 1999, 114. 16 Sacher-­Masoch, Leopold von (1881): Auf der Höhe. In: Auf der Höhe. Interna­tionale Revue herausgegeben von Leopold von Sacher-­Masoch. Leipzig: Greßner und Schramm, Jg. 1, H. 1, S. III–V. Hier: S. IV.

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Die Literatur sieht Sacher-­Masoch als einen Zulieferbetrieb an, die mit der Aufgabe betraut ist, die „Naturgeschichte des Menschen“ zu schreiben.17 In der Wissenschaft hatte sich dieser Herausforderung sieben Jahre vor Erscheinen von Diderot in Petersburg Carl Vogt gestellt, der in Sacher-­Masochs Revue nun als Autor eines Artikels Über den Urprung des organischen Lebens 18 in Erscheinung trat. Sacher-­Masoch nahm Vogt nicht als Populärwissenschaftler wahr, sondern als anerkannte Autorität in der Anthro­pologie, da er mit Auf der Höhe beanspruchte, „nicht nach dem Beispiel Anderer durch die belletristische Haltung der Wissenschaft für die lederne Novellistik zu entschädigen“. Die Populärwissenschaft lehnte Sacher-­Masoch ebenso ab, „wie die trockne, für weitere Kreise unfruchtbare Wissenschaft.“19 Der Erfolg des saftig schreibenden „Affen-­Vogt“ dürfte Sacher-­Masoch dennoch nicht verborgen geblieben sein. Indem er nun dessen Lieblingsthema in seiner Diderot-­Novelle aufnahm, leistete er nicht nur Dienst an der von ihm favorisierten wissenschaft­lichen Belletristik, sondern erreichte gleichzeitig den Anschluss an ein heißes Thema, für dessen Bedeutsamkeit Vogt bürgen konnte. Auffällig ist hier wie bei anderen Autoren, dass die Populärwissenschaft in Misskredit gebracht wird, obwohl der Anspruch der Texte dafür spricht, jede Form von Verbreitung gutzuheißen, die dem Zusammenschluss von Massen in einer Republik des Geistes dient: „Auf der Höhe [ist] nicht das Organ einer kleinen Clique, sondern eines herr­lichen Vereines der größten, besten und begabtesten Geister aller Na­tionen und Confessionen, von New-­York bis Moskau, von Stockholm bis Athen.“20 Die Zeitschrift wurde nach vier Jahren wieder eingestellt. Durch Vogt mag Sacher-­Masoch ebenso gut wie durch Haeckel von der Debatte über die Sprachfähigkeit der Affen erfahren haben, die hier ohne weitere Erklärungen als Stellvertreter-­Debatte für den evolu­tionistischen Diskurs eingesetzt wird. Gerade weil der Affe keine Sprache hat, wird er als Beleg der Verbindung der Arten eingesetzt: Als Figur des Noch-­nicht-­Menschen, Nicht-­mehr-­Tiers vervollständigt er die zwar dynamisierte, aber immer noch intakte Stufenleiter der Wesen. Eine an der Bestätigung dieser gedank­lichen Konstruk­tion interessierte Biologie wird leichter Hand in Diderot in Petersburg vorgeführt: In der Tat war jedoch Diderot von der Existenz seiner redenden Affen ebensowenig überzeugt wie sein Gegner. Stark in Behauptungen, Theorien, Gedankenperspektiven wie alle Matadore

17 Durch eine Vorrede Ferdinand Kürnbergers zu Sacher-­Masochs Erzählung Don Juan von Kolomea kam die Redewendung von der „Nachtseite der Naturgeschichte des Menschen“ in Umlauf, vor allem Sacher-­Masoch selbst verbreitete sie (vgl. Michler 1999, 122). 18 Vogt, Carl (1881): Ueber den Urspung des organischen Lebens. In: Auf der Höhe. Interna­tionale Revue herausgegeben von Leopold von Sacher-­Masoch. Leipzig: Greßner und S­ chramm, Jg. 1, H. 1, S. 56 – 72. 19 Sacher-­Masoch 1881, IV. 20 Ebd., III.

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des achtzehnten Jahrhunderts nahm er es mit dem Beweise seiner Lehrsätze nicht sehr genau und war wie alle seine Zeitgenossen da, wo ihn die Tatsachen im Stiche ließen, gleich bereit, zu Erfindungen zu greifen.21

Als Matador des 19. Jahrhunderts erlaubt sich Sacher-­Masoch jedoch durch die Verbindung der Topoi Affe und Sprache noch eine intellektuell recht ökonomische Verwertung der für sein Werk zentralen Motive. Da ist einerseits die Verkleidung Diderots mit den „Affenbälgern“, die sogleich die Erinnerung an den Pelz aus Sacher-­Masochs berühmtester Erzählung aufruft.22 Dort weist er dem Frauenkörper eine „polymorphische Strukturierung“23 zu, der durch diese Verhüllung halb tierisch und halb menschlich wird: Die Frage nach der Gattungszugehörigkeit ist auch hier bereits angelegt. „Das Tier als Verdrängungssymbol, als paradigmatisches Objekt für die Ambivalenz im Weltverhalten und insbesondere im erotischen Begehren des Ich“,24 das mit dem Pelz von Wanda von Dunajew, der sadistischen Herrin aus Venus im Pelz, gemeint ist, strukturiert auch in Diderot in Petersburg den Text mit. Denn nur durch Diderots sexuelles Begehren der Fürstin Daschkoff und sein politisches Begehren nach einem Platz an der Seite Katharinas kommt es ja überhaupt dazu, dass er sich zu einem Affen machen lässt. Die Lächer­lichkeit eines übererotisierten und zu allem bereiten Mannes verdichtet sich so zu einem eindring­lichen Bild, genauso relevant ist der Rekurs auf die angeb­lich ungezügelte Affenlibido. Sacher-­Masochs Diderot ist zusätz­lich eine prometheische Figur, die vom kultivierten Frankreich die heilsbringende Lehre von der Evolu­tion im wilden Osten 25 offenbart. Sein enthusiastisches Verhältnis zu Frankreich 26 hat Sacher-­Masoch auch in seinem Auf der Höhe-­Manifest erklärt,27 der nächste Verwandte des Menschen ist 21 Sacher-­Masoch 1987, 18. 22 Sacher-­Masoch, Leopold von (1980): Venus im Pelz. Mit einer Studie über den Masochismus von Gilles Deleuze. Frankfurt/M. und Leipzig: Insel. 23 Leventhal, Robert S. (1995): Versagen: Kafka und die masochistische Ordnung. In: German Life and Letters. A Quaterly Review. Hrsg. von G. P. G. Butler et al. Oxford: Blackwell, H. 48, S. 148 – 169. Hier: S. 163. 24 Sprengel, Peter (2000): Tierliebe und Sadismus als Diskurs der Wiener Moderne. In: Wiesinger, Peter (Hg.): Zeitenwende – die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert. Akten des X. Interna­tionalen Germanistenkongresses in Wien 2000. Frankfurt/M. u. a.: Peter Lang (Sek­tion 10 Epochenbegriffe: Grenzen und Mög­lichkeiten), S. 503 – 509. Hier: S. 508. 25 Frankreich und Russland sind Pole Sacher-­Masochs Exotismus. Zu Sacher-­Masochs Verhältnis zu Russland und seiner Rezep­tion der russichen Literatur vgl. Polubojarinowa, Larissa N. (2010): Sacher-­Masoch in Russland. In: Marion Kobelt-­Groch und Michael Salewski (Hg.): Leopold von Sacher-­Masoch. Ein Wegbereiter des 20. Jahrhunderts. Hildesheim: Olms, S.  101 – 123. 26 Eine Übersicht zu den vielfältigen Bezügen Sacher-­Masochs zu Frankreich findet sich auch bei Michel, Bernard (2010): Leopold von Sacher-­Masoch und Frankreich. In: ebd., S. 75 – 89. 27 Sacher-­Masoch 1881, III.

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dementsprechend in Diderot in Petersburg ein franzö­sischer Affe, der berühmte frère Jacques: Das Entzücken über den sprechenden Affen und die damit verbundene Anerkennung der Abstammung von dieser Art weist vor der Kulisse eines ausgedehnten Hofstaates auf die Genealogie als Nobilität hin. Diderot tritt in Vorahmung ­Haeckels als eitler Fant auf, dem es zwar gefällt, die Verwandtschaft ­zwischen Menschen und Affen als modische Idee zu präsentieren, die seinem Renommé als Philosoph zuträg­ lich ist, einer Materialisierung dieser Idee in seiner eigenen Person hingegen wenig aufgeschlossen gegenübersteht: „Bist Du wirk­lich Diderot“, erwiderte Lagetschnikoff mit feier­lichem Ernste, „so war es der Urteilsspruch einer höheren Macht, welcher Dich in einen Affen verwandelt und so erbärm­ lich in meine Hände gegeben hat, damit Dein Hochmut, Dein Dünkel gedemütigt werde, und Du in mir Deinen Herrn und Meister erkennst. Erkennst Du das?“ „Ich sage Ihnen ja lieber Herr Lagetschnikoff “, entgegnete der Affe, „ich bin kein Affe sondern der wirk­liche Diderot, in Affenbälge eingenäht.“ „Ich frage noch einmal: Erkennst Du in mir Deinen Herrn und Meister?“ rief Lagetschnikoff. „Ich in Dir meinen Meister? Du elender Tierausstopfer“, schrie Diderot und sprang seinem verhaßten Gegner an die Kehle.28

Sacher-­Masoch ist hier ganz bei seinem Thema, den Menschen als ein Wesen darzustellen, das nur scheinbar durch seine Ra­tionalität gelenkt wird, tatsäch­lich jedoch durch sein Begehren determiniert ist, das die Ra­tionalität zu einem nutzlosen Accessoire degradiert. Diese Figur wird nun mit der des Affen als (patholo­gischer) Idiot zusammengedacht. In der Person des erbärm­lichen Philosophen, dem gescheiterten Prometheus, werden die beiden Modelle in dem Affenbalg vernäht. Damit einher geht der Versuch der Zusammenführung von Wissenschaft und Poesie, wobei die Wissenschaft hier jedoch allein durch Schlagwörter in Erscheinung tritt. Die Pein­lichkeit des Auftritts von Diderot und die holzschnittartige Machart des Textes, der seine gesamte Energie aus Prestigeanleihen bei Historie und Wissenschaft bezieht, erscheinen als ein Anklang an Sacher-­Masochs Dilettantismus-­ Konzept: „Der Dilettantismus erscheint […] primär als etwas Unfertiges, Abgebrochenes und, wenn man so will, im Suspense Gehaltenes, das mehr im Träumen über, denn im Schaffen von Werken manifestiert […].“29 Dieser Dilettantismus hat die Literaturwissenschaft in ihrer Auseinandersetzung mit Sacher-­Masoch abgestoßen. Sein scheinbar unbekümmerter Zugriff ist es jedoch, der es ihm überhaupt erlaubt, eine wilde Mischung aus Zitaten, Bezügen und Halbwissen anzusetzen. Durch eine dilettantische Heran­g ehensweise findet der Text Anschluss an die Welt­anschauungsliteratur, die auch s­ olche Texte einschließt, die ganz offen mit 28 Sacher-­Masoch 1987, 52. 29 Dolgan 2009, 145.

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den phantasmatischen Potenzialen der Figur des Affen spielen. Sacher-­Masoch nutzt die Figur Diderot, weil sie Anlass zur Subjektivierung von Wissensbeständen bietet, sowie die Anbindung an eine bekannte Biographie und die dadurch simulierte ­Empirizität des Behaupteten ermög­licht. Die Behauptung von Evidenz durch Sinn­lichkeit des Dargestellten tritt als weiteres Element des weltanschau­ lichen Repertoires hinzu. Befördert wird dieser Zugriff durch die zeitgenössichen Veränderungen im Wissenschaftssystem, das anfängt, verschiedene Stufen von Professionalität auszubilden und sich auf diverse Bedürfnisse einzustellen, die nicht in ersten Linie der internen Fachkommunika­tion und der Lehre gelten. „Neben den Fachgelehrten, der das Wissen seiner Spezialdisziplin mit streng normierten Verfahrensweisen vermehrt, tritt der Weltanschauungsschriftsteller, der Wissen zu ‚Sinn‘ verarbeitet.“30 Dabei ist offenbar gerade die Anthropologie anfällig dafür, in Weltanschauungsliteratur verwandelt zu werden. Die „Verarbeitung zu Sinn“, die Sacher-­Masoch in der Literarisierung der Evolu­tions-­Debatte vornimmt, besteht dementsprechend auch in der plastischen Umsetzung des zentralen Themas der Disziplin, das durch die weltanschau­lichen Debatten der vorangehenden Jahre bestens vorbereitet ist. „Sinn“ fungiert hier nicht in Analogie zu einem telos, wie es aus der Philosophie bekannt ist, sondern meint eine vereinfachende und Orientierung gebende Semantik. Die Figur des Affen tritt dabei als wohlfeile Materialisierung der auf die Abstammungsthese verengten Evolu­tionstheorie auf. Die Unübersicht­lichkeit des krabbelnden, kämpfenden, kreuchenden, summenden, flatternden Lebens, das Darwin in Die Entstehung der Arten im Bild der belebten Uferstrecke („entangled bank“) verdichtet hatte, stellte für die literarische Gestaltung eine sehr viel größere Herausforderung dar. Der Entwurf von spezifisch ‚evolu­tionären‘ Szenen erforderte die Modellierung einer Umwelt, in der sich verschiedene Akteure auf eine Weise begegnen, die mit der Theorie zu identifizieren wäre – die als Mikroerzählungen exemplifizieren, was in der Makroerzählung enthalten ist. Die Figur des Affen wird dabei in Literatur und bildender Kunst als potentes Kollektivsymbol 31 eingesetzt. Kollektivsymbole funk­tionieren wie Trichter, durch die Wissenselemente aus verschiedenen Populär- oder Fachdiskursen fließen und diese so reduzieren, dass sie für die eigenen Zwecke handhabbar werden.32 Sie erweisen sich damit auch für die Weltanschauungsliteratur als unverzichtbar, die wenig darauf bedacht ist, tatsäch­liches Neues zu berichten: Einen eigenen Beitrag zur Theorie der Evolu­tion sucht man bei Sacher-­Masoch vergeb­lich. Haeckel, der sich 30 Thomé 2002, 356. 31 Siehe Becker, Frank; Gerhard, Ute; Link, Jürgen (1997): Moderne Kollektivsymbolik. Ein diskurstheoretisch orien­tierter Forschungsbericht mit Auswahlbibliographie (Teil II). In: Interna­tionales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, H. 22, S. 70 – 154. Hier: S. 71. 32 Vgl. ebd., 73.

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­diesem Vorwurf teilweise ebenfalls unberechtigterweise ausgesetzt sah, beschreibt seine Arbeit offensiv als unerhörte Syntheseleistung, die der Arbeit von Vorgängern wie Darwin und Goethe zum rechten historischen Zeitpunkt erst ihren eigent­ lichen historischen Sinn zu verleihen vermag. Der Rückgriff auf eine bewährte Kollektivsymbolik ermög­licht schließ­lich eine Orientierung in den (wenigstens bei Haeckel) im Überfluss dargebotenen Datenmengen. Die Verwendung des Kollektivsymbols Affe in den Erzähltexten der Wissenschaft und der Literatur wiederholt sich schließ­lich auch bei Nietzsche, in dessen Schriften der Affe als Anschauungsmetapher zurückkehrt. Für eine erfolgreiche Etablierung eines Kollektivsymbols reicht ‚name dropping‘ jedoch aus: Wer ‚Affe‘ sagt, meint Abstammungsthese, und tatsäch­lich wird diese durch die Zirkula­tion des Kollektivsymbols Evolu­tion als Weltanschauung verbreitet. Von den weiteren Schauplätzen dieser Verwertungsgeschichte handelt das folgende Kapitel.

2. Zur Genealogie des Stammbaums. Anthropologie und Sprachwissenschaft bei August Schleicher August Schleicher wurde 1821 in Meiningen geboren und starb 1868 in Jena,33 vermut­ lich an Tuberkulose. Schleicher wandte sich zuerst dem Studium der Theologie und der orienta­lischen Sprachen zu, das er 1840 in Leipzig aufnahm und ­später in Erlangen und Tübingen fortführte. In Tübingen kam er mit den ortsansässigen Hegelianern in Kontakt, deren Spuren sich in seinen Äußerungen zu den verschiedenen Phasen der Menschheitsgeschichte finden. Ab 1843 studierte er Sprachwissenschaft in Bonn bei dem Orientalisten und Theologen Heinrich Ewald und wurde 1846 promoviert. Nach einiger Zeit, in der er sich als Privatgelehrter und Korrespondent für die Augsburger Allgemeine Zeitung und die Kölnische Zeitung durchschlug, zog er 1849 nach Prag, um Tschechisch zu lernen. Dort wurde er 1850 zum außerordent­ lichen Professor für klas­sische Philologie berufen; 1853 wechselte er auf den Lehrstuhl für vergleichende Sprachforschung, Deutsch und Sanskrit. Auf dem Gebiet der Indogermanistik profilierte sich Schleicher unter anderem sein Handbuch der litauischen Sprache, sowie durch seinen Versuch, Urformen des Indogermanischen zu rekonstruieren.34 33 Die biografischen Daten zu Schleicher entnehme ich Beneš, Brigit (1958): Wilhelm von Humboldt, Jacob Grimm, August Schleicher. Ein Vergleich ihrer Sprachauffassungen. Winterthur: Keller und Dietze, Joachim (1966): August Schleicher als Slawist. Berlin: Akademie-­Verlag. 34 Vgl. van Pottelberge, Jeroen (2003): Die ursprüng­liche Fragestellung hinter August Schleichers Stammbaumtheorie und Johannes Schmidts Wellenmetapher. In: Historiographia Linguistica, Jg. XXX, H. 3, S. 301 – 364. Hier S. 318.

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Schleicher, der seit seiner Jugend an Lungenproblemen litt, versuchte seine Gesundheit durch Gymnastik zu erhalten und soll in seinem Prager Universitätszimmer einen Stufenbarren aufgestellt haben. Ob er diesen mit nach Jena nahm, wo er 1857 eine Professur für Sprachwissenschaft antrat, ist nicht bekannt. Überliefert ist hingegen, dass er in dem Männerturnverein, dem er an seinem neuen Dienstort beitrat, Ernst Haeckel kennenlernte und eine enge Freundschaft z­ wischen den beiden entstand. Diese gründete sich nicht auf geteilte Begeisterung für den Aufschwung am Reck, sondern vor allem auf die zustimmende Aufnahme der Darwin’schen Evolu­tionstheorie.35 Zeugnis dieser Freundschaft ist Schleichers Sendschreiben Die Darwinische Theorie und die Sprachwissenschaft,36 das an Haeckel gerichtet war. Die Sekundärliteratur zu Schleicher lässt sich grob in drei Richtungen einteilen: Erstens finden sich einige Arbeiten zu seiner Bedeutung für die Slawistik, die hier von untergeordneter Wichtigkeit sind. Zweitens wird immer wieder diskutiert, ­welche Rolle Schleichers Darwin-­Rezep­tion für sein Werk wirk­lich spiele bzw. ob er als Darwinist zu bezeichnen sei. Und drittens geht es immer wieder um die historische Einordnung in die Sprachwissenschaft seiner Zeit. Während Haeckel allgemein als derjenige Wissenschaftler bekannt ist, der maßgeb­ lich verantwort­lich dafür ist, dass sich in Deutschland überhaupt ein sogenannter Darwinismus entwickeln konnte, stellt die Darwin-­Rezep­tion Schleichers für viele Autoren eher ein Problem dar (insbesondere seine Schrift Über die Bedeutung der Sprache für die Naturgeschichte des Menschen 37). Einigen Arbeiten verteidigen ihn regelrecht gegen einen Darwinismus-­Verdacht,38 andere gehen so weit, Schleicher

35 Eine popularisierte Form des Darwinismus spielte gerade in der deutschen Turnerbewegung eine wichtige Rolle. Man erhoffte sich von den wichtigsten Schlagworten Rückhalt für die Propagierung eines Menschenbildes, das vom Streben nach der Verbesserung der körper­lichen Leistungsfähigkeit geprägt war. Die Agita­tion der deutschen Turner, die ihren Ausdruck in programmatischen Texten ihrer Zentralorgane wie Zeitschrift für Turnen und Jugendspiel fand, trug sogar aufgrund der breiten Bewegung wesent­lich zur Verbreitung des Populär-­Darwinismus bei. Siehe dazu: Tauber 2003. 36 Schleicher, August (1863): Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft. Offenes Sendschreiben an Herrn Dr. Ernst Häckel, a. o. Professor der Zoologie und Director des zoolo­gischen Museums an der Universität Jena. Weimar: Böhlau. 37 Schleicher, August (1865): Über die Bedeutung der Sprache für die Naturgeschichte des Menschen. Weimar: Böhlau. 38 Siehe: Koerner, Konrad (1987): On the Problem of ‚Influence‘ in Linguisitic Historiography. In: Hans Aarsleff, Louis G. Kelly und Hans-­Josef Niederehe (Hg.): Papers in the History of Linguistics. Proceedings of the Third Tnterna­tional Conference on the History of the Language Sciences. Princeton, 19 – 23 August 1984. Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins Publishing Company, S. 1 – 28, hier besonders S. 17 ff. Maher, John P. (1966): More on the History of the Comparative Method: The Tradi­tion of Darwinism in August Schleicher’s work. In: Anthropological Linguistics, Bloomington/Indiana, S. 1 – 12; Romportl, Simeon

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emphatisch als mitverantwort­lich für „den Darwinismus“ zu bezeichnen.39 An einigen entscheidenden Stellen bleibt die von Schleicher angenommene Übertragbarkeit der Darwin’schen Hypothesen auf die Sprachentwicklung dunkel, wie auch seine Quellenbasis dünn erscheint: Theorien zur Artentwicklung vor Darwin (bspw. Lamarck) scheinen für ihn keine Rolle gespielt zu haben. Sein Hauptinteresse lag im Bereich der Genealogie, wobei er seinen Fokus auf den Prozess der Typologisierung von Sprachen und ihrer Phänomene legt. Diesen Gedanken übernahm Schleicher von Wilhelm von Humboldt,40 der neben Jacob Grimm und Franz Bopp stets als einer der Vorläufer Schleichers genannt wird. Deren Versuche, die Verwandtschaft und nicht nur die Ähn­lichkeit ­zwischen den Sprachen herauszustellen,41 griff Schleicher auf. Eine historisch-­systematische Einordnung Schleichers kommt nicht ohne Verweis auf Herder aus (vgl. Kapitel I).42 Die Tradi­tion der Debatte über die Verwandtschaft der Sprachen, die sich weder regional auf Deutschland noch historisch auf das späte 18. Jahrhundert beschränkte, muss als historische Folie beachtet werden, auf der sich die Ideen Schleichers und ihre Aufnahme und Weiterverarbeitung bei Haeckel erst ganz erschließen. Schleicher hatte neben sprachwissenschaft­lichen Studien auch die Arbeiten von Huxley rezipiert, nament­lich Evidence as to Man’s Place in Nature, und schloss dessen Ergebnisse direkt an die Linguistik an. Der Spieleinsatz Schleichers besteht dementsprechend ähn­lich wie bei Vogt in der Integra­tionsleistung, die eigenen Forschungsinteressen selektiv mit denen zu verbinden, ­welche auch die zeitgenös­sische anthropolo­gische Debatte bestimmten und lenkten.

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4 0

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42

(2008): On the Biological Nature of Natural Language and other Essays. München: Lincom (Travaux linguistiques de Brno). Scharf, Joachim-­Hermann (1975): August Schleicher und moderne Fragen der Glottogonie als biolo­gische Probleme. In: Kurt Mothes und Joachim-­Hermann Scharf (Hg.): Beiträge zur Geschichte der Naturwissenschaften und der Medizin. Festschrift für Georg Uschmann, Direktor des Archivs der Akademie zum 60. Geburtstag am 18. Oktober 1973. Halle: Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina, S. 137 – 219. Hier: 140 ff. Vgl. dazu Beneš 1958, 92 f.; Alter, Stephen G. (1999): Darwinism and the Linguistic Image. Baltimore: John Hopkins University Press, besonders S. 8 ff. und Richards, Robert J. (2002): The Linguistic Crea­tion of Man: Charles Darwin, August Schleicher, Ernst Haeckel, and the Missing Link in Nineteenth-­Century Evolu­tionary Theory. In: Matthias Dörries (Hg.): Experimenting in Tongues. Stanford: Stanford University Press, S. 21 – 48. Vgl. Beer, Gillian (1996): Darwin and the growth of language theory. In: dies.: Open Fields: Science in Cultural Encounter. Oxford: Clarendon Press, S. 95 – 114. Hier: S. 107. Zu Grimm siehe: Willer, Stefan (2003): Poetik der Etymologie. Texturen sprach­lichen Wissens in der Romantik. Berlin: Akademie Verlag; Wyss, Ulrich (1979): Die wilde Philologie. Jacob Grimm und der Historismus. München: Beck. Zu Bopp siehe u. a. van Pottelberge 2003, 317 f. Das scheinen jedoch die meisten der hier zitierten Autoren von Sekundärliteratur anders zu sehen (nicht so: Richards 2002), mög­licherweise, weil Schleicher Herder nicht explizit erwähnt.

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Schleicher zum Wesen der Sprache Vogt ist es auch, den Schleicher neben dem Botaniker Matthias Schleiden als denjenigen nennt, dem er „für die Erfassung des Wesens und des Lebens der Sprache zu danken habe“.43 Bei Schleiden sei es die „wissenschaft­liche Botanik“,44 bei Vogt s­ eien es Die Physiolo­gischen Briefe gewesen, die ihm den Gedanken der „Entwicklungsgeschichte“45 vermittelt hätten. Schon bevor Schleicher von Haeckel die Empfehlung erhielt, sich mit Darwin auseinanderzusetzen, war ihm dementsprechend die materialistische Tradi­tion vertraut, die die deutsche Evolu­tionstheorie formatierte. Haeckel wusste, dass Schleicher ein eifriger Hobbybotaniker war und nahm berechtigterweise an, dass ihn Über die Entstehung der Arten besonders hinsicht­lich seiner „gärtnerischen Liebhabereien“ interessieren würde.46 Neben der Frage der Verwandtschaftsverhältnisse der Sprachen, die Schleicher analog zu denen von organischen Lebewesen behandeln wollte, sind materialistische Aspekte zu beachten, in denen sich Schleicher deut­lich durch die positivistischen Einlassungen Vogts informiert zeigt. Es scheint, als habe Schleicher an der materialistischen Physiologie nicht zuletzt gereizt, dass sie in hohem Maße anschau­lich war, was man von der zeitgenös­sischen Sprachwissenschaft nicht unbedingt behaupten konnte. Von dem Physiologen Karl Friedrich Burdach übernahm Schleicher den Begriff der Morphologie und führte ihn als erster in die Linguistik ein,47 wobei er ihn jedoch nicht metaphorisch verwendete, sondern durch seine Verwendung die ­später ausformulierte Annahme fundierte, dass Sprachen wie Organismen zu behandeln ­seien. Dieses Konzept entspricht in einigen Grundzügen dem, was Franco Moretti 2005 in Graphs, Maps, Trees vorgeschlagen hat.48 Moretti möchte die Geschichte der literarischen Gattungen mit dem von ihm bevorzugten Verfahren des distant reading betrachten, was bedeutet, Literaturgeschichte nicht mehr längs des kanonischen Höhenkamms zu schreiben, sondern Gattungen mög­lichst vieler Texte zu betrachten, die ein bestimmtes Set von Merkmalen teilen. Ihre geografische Verbreitung spielt dabei eine ebenso große Rolle wie die Ausdifferenzierung dieser Merkmale. Seine Versuche nennt Moretti „a mate­rialist concep­tion of form“,49 dabei bedient er sich einerseits bei der Literatur zur Evolu­tionstheorie, andererseits aber auch darin angestellten Überlegungen zur Verteilung von bestimmten Genen und Sprachen 43 Schleicher 1863, 6. 4 4 Ebd. 45 Schleicher 1863, 6. 4 6 Ebd., 5. 47 Schleicher, August (1859): Zur Morphologie der Sprache. St. Petersburg: Eggers. 48 Moretti, Franco (2005): Graphs, Maps, Trees. Abstract Models for a Literary History. London: Verso. 49 Ebd., 92.

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(die Informa­tionen darüber entnimmt er bei Luigi Luca Cavalli Sforza et al.). In seiner topolo­gischen Verortung der Literatur in einem Netz aus Daten zu allen materialen Faktoren, die sie ermög­lichen, wird die Literatur selbst zu einer „Technologie der Sprache“,50 die eine neue und vielversprechende Literaturwissenschaft mög­lich macht. Moretti betont zwei Charakeristika seiner Arbeit: Erstens die Herkunft aus dem marxistischen historischen Materialismus 51 und zweitens die Folgen für die Deutung von Kulturgeschichte: […] the real content of the controversy [über das Verhältnis von Divergenz und Konvergenz; Stammbäume, H. E.], not technical at all, is our very idea of culture. Because if the basic mechanism of change is that of divergence, then cultural history is bound to be random, full of false starts and profoundly path-­dependent: a direc­tion, once taken, can seldom be reversed, and culture hardens into a true ‚second-­nature’ – hardly a benign metaphor. If, on the other hand, the basic mechanism is that of convergence, change will be frequent, fast deliberate, reversible: culture becomes more human, if you wish. But as human history is so seldom human, this is perhaps not the strongest of arguments.52

Es ist genau dieser Konflikt, der von Schleicher und allen anderen ausgetragen wird, die versuchen, anhand evolu­tionärer Beschreibungsmuster Verschiedenheit zu erklären. Da Schleicher mit seiner materialistischen Konzep­tion von Sprache so nah den Ideen ist, die auch Moretti vertritt, wundert es mich, dass er in seinen Studien nicht erwähnt wird. Was es genau bedeutet, die Kulturgeschichte menschlicher zu machen („more human“), scheint im Anthropologisieren angesprochen zu sein. Dem nachzugehen ist eine kleinteilige Arbeit, deren Geschichte mit den kleinteiligen Klassifik­tionen zusammenhängt, für die Schleicher und seine Kollegen eine große Vorliebe hatten. Schleicher leitete aus seiner linguistischen Morphologie eine materialistische Sprachwissenschaft ab, die er in in „Glottik“ (die heutige Linguistik) und „Philologie“ unterteilte.53 Diese Unterscheidung verschiedener Disziplinen und Gegenstandsbereiche innerhalb der Sprachwissenschaft war für Schleicher selbst jedoch nur ein Notbehelf, der so lange aufrechterhalten werden sollte, bis sich eine leistungsstärkere „Philosophie“ herausgebildet hätte. Gemeint ist der Monismus, den Schleicher als Fluchtpunkt des „Denkens der Neuzeit“54 einführt. Der Monismus kenne keine Unterschiede z­ wischen Materie und Geist mehr und passe end­lich nicht mehr die Gegenstände der Forschung der Theorie an, sondern sei vielmehr gewillt, die Theorie an die beobachteten Phänomene

50 51 52 53 54

Ebd., 80. Ebd., 92. Ebd., 81. Schleicher 1863, 7. Ebd., 8.

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anzunähern. Damit schließt er allerdings nur operativ an Haeckel an, der Monismus wird in den hier besprochenen Texten nicht weiter behandelt. Zu den Einwänden, die gegen Schleicher erhoben wurden, gehört seine Beschreibung der Sprachen als „Naturorganismen“, die genau wie Tiere und Menschen einen „formell gleichen Ursprung“55 in verschiedenen Ursprachen besäßen und ebenso wie diese einer „Specificierung“56 und damit Geschicht­lichkeit ausgesetzt ­seien. Allein das Vokabular zur Beschreibung der Sprachen unterscheide sich von dem des Botanikers oder dem des Physiologen, die Gesetze der „Specificierung“ hingegen, der Ausdifferenzierung von Unterschieden ­seien austauschbar und bereits von Darwin beschrieben worden: Diese Verschiedenheiten [der Sprachen eines Stammes, H. E.] greifen, in eine Reihe geordnet, unmerk­lich ineinander, und die Reihe weckt die Vorstellung von einem wirk­lichen Uebergang und so brauchen wir nur die Benennungen Art, Unterart, Varietät mit den in der Sprachwissenschaft üb­lichen (Sprache, Dialekt, Mundart, Untermundart) zu vertauschen und das von Darwin Gesagte gilt vollkommen für die sprach­lichen Unterschiede innerhalb der Sippen, deren allmäh­liches Entstehen wir so eben an einem Beispiele vor Augen geführt haben.57

Um sich gegen seine Kritiker zur Wehr zu setzen,58 legte Schleicher 1865 seine eingangs schon erwähnte Schrift Über die Bedeutung der Sprache für die Naturgeschichte des Menschen vor, in der er gleich zu Anfang einräumte, in den vorangegangenen Untersuchungen keine Begründungen für seine Annahme geliefert zu haben, dass es sich bei den Sprachen um materielle Entitäten handelte.59 Bei seinem erneuten Versuch, dies zu zeigen, kam es dann jedoch zu einer exemplarischen Unschärfe, die sich nicht nur in dieser materialistischen Ausdeutung der Sprache findet, sondern auch in Beiträgen verbreitet ist, die auf den Materialismusstreit reagieren.60 ­Schleicher beschreibt die Sprache als „das durch das Ohr wahrnehmbare Symptom der Thätigkeit eines 55 56 57 58

Ebd., 23. Ebd., 12. Schleicher 1863, 20. Sie verfolgen ihn bis heute. Der Linguist Hans Aarsleff weigert sich, Schleichers Werk zu historisieren und urteilt: „It is surely to put our own intelligence and judgement on a very low level not to recognize the embarrassing, inconsistent and even offensive nonsense stated in these pieces.“ (Aarsleff, Hans (1982): From Locke to Saussure. Minneapolis: University of Minnesota Press. Hier: S. 294 f.). 59 Vgl. Schleicher 1865, 3. 60 Dies zeigt sich deut­lich an der sogenannten Ignorabimus-­Rede von Emil Du Bois-­Reymond, die diskurtiert, was wir überhaupt vom Begriff der Materie wissen könnten: Du Bois-­Reymond, Emil (1872): Über die Grenzen des Naturerkennens. Ein Vortrag in der zweiten öffent­lichen Sitzung der 45. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte zu Leipzig am 14. August 1872. Leipzig: Verlag von Veit & Comp.

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Complexes materieller Verhältnisse in der Bildung des Gehirns und der Sprach­ organe mit ihren Nerven, Knochen, Muskeln u. s. f.“, beklagt aber, dass ihre „materielle Grundlage“ noch nicht richtig erforscht sei. Insbesondere fehlen seiner Meinung nach vergleichende Untersuchungen aus dem Bereich der phy­sischen Anthro­pologie.61 Die „materielle Grundlage der Sprache“ hätten wohl auch seine Gegner nicht bestritten, wohl aber, dass die Sprache selbst Materie sei.62 Das behauptet auch Huxley nicht,63 auf den sich Schleicher ­später explizit, hier jedoch eher implizit bezieht. Über das Wesen der Sprache macht Huxley überhaupt keine Angaben, sein Interesse daran betrifft allein das Potenzial, sie als funk­tionale Differenz einzusetzen, wie es ­später auch Schleicher tun wird. An einer anderen Stelle spricht Schleicher von der Notwendigkeit der ‚Experimentalisierung‘ der Sprachwissenschaft, und schlägt damit die Verwendung empirischer Forschungsverfahren vor. Die argumentative Verschiebung von einer idea­listischen Sprachwissenschaft hin zu einer ontolo­gisch interessierten, beobachtungsbasierten Wissenschaft ist ein entscheidender Schritt, den Schleicher durch eine neue sprachwissenschaft­liche Praxis vollziehen wollte und den er ohne seine Anschlüsse an Physiologie und Botanik nicht hätte umsetzen können. Die Annahme, dass Sprache wie Materie sei, scheint Schleicher hier als heuristisch sinnvolle Arbeitshypothese einführen zu wollen. Der Linguist soll nach Schleicher […] mit der Sprache so verfahren, wie die Chemiker mit der Sonne, deren Licht sie untersuchen, da sie die Quelle ­dieses Lichtes nicht selbst in Untersuchung nehmen können. Was, um im Gleichnisse zu bleiben, bei der Sonne das Licht ist, das ist bei der Sprache der hörbare Laut; wie dort die Beschaffenheit des Lichtes von der materiellen Grundlage desselben zeugt, so hier die Beschaffenheit des Lautes. Die der Sprache zu Grunde liegenden materiellen Verhältnisse und die hörbare Wirkung dieser Verhältnisse verhalten sich zueinander wie Ursache und Wirkung, wie Wesen und Erscheinung überhaupt; der Philosoph würde sagen: sie sind identisch.64

61 Schleicher 1865, 8. Eine Schleichers Auffassungen verwandte These findet sich bei W ­ alter ­Benjamin, der in seiner Lehre vom Ähn­lichen die phylogenetische und ontogenetische Geschichte des mimetischen Vermögen des Menschen betont und innerhalb dieser Geschichte auch die Sprache situiert (vgl. Benjamin, Walter (2002): Lehre vom Ähn­lichen. In: ders.: Medienästhe­tische Schriften. Auswahl und Nachwort von Detlev Schöttker. Frankfurt: ­Suhrkamp, S. 117 – 122. Hier: S. 119). 62 Auf Versuche, die Sprache in Objekten zu materialisieren, die man auch ausstellen kann, weist Robert Brain unter Bezugnahme auf den Gehörlosen Experten Rosapelly hin: ders. (1998): Standards and Semiotics. In: Timothy Lenoir (Hg.): Inscribing Science. Scientific Texts and the Materiality of Communica­tion. Stanford: Stanford University Press, S. 249 – 284. Hier: S. 261. 63 Huxley 1863, 102 f. 6 4 Schleicher 1865, 10.

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Dieses monistisch angehauchte Verständnis von Sprache bringt viele Probleme mit sich, von denen das Verhältnis von Ursache und Wirkung sowie von Wesen und Erscheinung vielleicht die gravierendsten sind. Schleicher bleibt bei den hier genannten Behauptungen, ohne sie weiter auszuführen, er verweist ledig­lich darauf, dass man Sprachen zwar nicht mit den „Händen greifen“65, aber dafür hören könne – sinn­liche Wahrnehmung muss hier als Beleg für die „materielle“ Existenz reichen. Von dieser zeigt sich Schleicher so überzeugt, dass er die Sprache auch als besonders geeignet befindet, eine „systematische Anordnung der Menschheit“ aufzuzeigen.66 Körper­liche Merkmale sind dazu seiner Meinung nach weniger aufschlussreich, da ihre Ausprägung kontingent ist: „Ein Deutscher kann wol einmal in Haupthaar und Prognathismus es mit dem ausgesprochensten Negerkopfe aufnehmen, eine Negersprache wird er aber von Haus aus niemals reden.“67 Die Sprache hingegen fasst Schleicher als ein konstantes Merkmal auf, dessen Regelmäßigkeit es erlaube, sie „ihrer morpholo­gischen Seite nach (nach der Lautform), in ein natür­liches System, ähn­lich dem anderer Lebewesen“68 einzuarbeiten. Wie eine grundsätz­liche Unveränder­lichkeit der Sprachen, wie sie hier angedeutet wird, mit dem Gedanken der Vererbung erworbener Merkmale und der Anerkennung der beständigen Veränderung aller Lebewesen im Laufe der Zeit zusammengehen soll, bleibt unklar. Dies ist auffällig, da Schleichers Modell eines Stammbaums der Sprachen genau von diesen Phänomenen geprägt ist. Diese Inkonsistenz lässt sich nicht auflösen, sondern eher als Hinweis darauf lesen, dass Schleichers Verdienst vor allem auf dem Gebiet der Systematik lag.

Sprache als funk­tionale Differenz Einen weiteren Beleg für die Materialität der Sprache meint Schleicher mit seiner These zu liefern, dass Fremdsprachen niemals wirk­lich erlernt werden könnten. Das mensch­liche Gehirn sei nur für den Erwerb einer bestimmten Muttersprache eingerichtet,69 der Mensch könne sich nur in dieser Sprache vervollkommnen, andere Sprachen erlerne er immer nur unvollkommen. Diese These vom (Fremd-) Spracherwerb 65 Ebd. 66 Ebd., 16. 67 Ebd. 68 Ebd., 17. 69 Schleicher 1865, 12. Stephen G. Alter hat darauf hingewiesen, dass Darwins Ideen zu dieser Frage teilweise auch in diese Richtung nahmen, andererseits aber mit einem anderen Gedanken ausbalanciert werden mussten: Darwin ging davon aus, dass das Hirn durch die Sprache so stimuliert würde, dass seine Evolu­tion maßgeb­lich begünstigt sei (vgl.: Alter, Stephen G. (2008): Darwin and the linguists: the coevolu­tion of mind and language, Part 2. The language-­ thought rela­tionship. In: Studies in history and philosophy of biological and biomedical sciences, Jg. 39, H. 2, S. 38 – 50. Hier: S. 38 f.).

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entwickelt Schleicher in Analogie zum Erlernen des aufrechten Gangs. Man könne ebenso wenig mehr als eine Sprache perfekt beherrschen, „als wohl jemals ein und dasselbe Individuum mit gleicher Fertigkeit und Bequem­lichkeit auf zwei Füssen und auf allen Vieren sich fortzubewegen im Stande sein wird.“70 Die Verbindung von Spracherwerb und aufrechtem Gang war durch Herder zu einem vieldiskutierten Thema der Philosophie geworden, und sogar Carl Vogt, der eine deut­lich weniger hohe Meinung vom Menschen pflegte als Herder, hatte den Gang auf zwei Beinen als „natür­liche Stellung“ allein des Menschen hervorgehoben.71 Die Analogie z­ wischen aufrechtem Gang und Sprache, die Schleicher s­ päter noch mehrfach wiederholt, hat zwei entscheidende Folgen. Erstens liefert sie eine weitere Basis für die Annahme, dass der Mensch in der Natur eine Ausnahmestellung einnimmt, und zweitens legt Schleicher damit nahe, dass es auf anthropolo­gische Fragestellungen nur materialistische Antworten geben könne. Die Folgen sind für Fragen der Taxonomie von großer Wichtigkeit: Es sei „nur die Sprache […], wodurch der Mensch sich von den ihm zunächst stehenden Anthropoiden (Gorilla, Schimpanse, Orang, Gibbon) unterscheidet.“72 S­ chleicher behauptet, diese Erkenntnis von Huxley zu übernehmen, der jedoch weniger stark materialistisch argumentiert: And believing, as I do, with Cuvier, that the possession of articulate speech is the grand distinctive character of man (whether it be absolutely peculiar to him or not), I find it very easy to comprehend, that some equally inconspicuous structural difference may have been the primary cause of the immeasurable and practically infinite divergence of the Human from the Simian Stirps.73

Vogt hatte sich durch eine ähn­liche Auffassung in seinen Vorlesungen über den Menschen in einen Konflikt hineinmanövriert, den er nicht auflösen konnte. Denn er argumentierte zwar einerseits dafür, den Menschen auf Grundlage der Erkenntnisse Darwins als ein Tier unter anderen zu deuten, war jedoch andererseits nicht bereit, den Anspruch des Menschen auf die Spitzenposi­tion in der Natur fallen zu lassen. Diesen Konflikt reproduziert Schleicher, der Sprache ebenfalls als funk­tionale Differenz etabliert: Die Fähigkeit des unmittelbaren Gedankenausdrucks durch den Laut besitzt jedoch kein Thier. Und nur dies versteht man unter Sprache. Wie sehr dies in unserem gewöhn­lichen Bewusstsein auch in der That anerkannt ist, zeigt die Erwägung, dass ohne Zweifel ein mit Sprache begabter Affe, selbst ein äusser­lich vom Menschen ganz verschiedenes Thier, sofort für uns als Mensch gelten würde, wenn es Sprache besässe.74 70 71 72 73 74

Ebd., 3. Vogt 1863 (1), 168. Schleicher 1865, 14. Huxley 1863, 103. Schleicher 1865, 15.

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Die Sprache wird hier zu einem so wichtigen Kriterium aufgebaut, dass Schleicher ihr sogar das der anatomischen Ähn­lichkeit ­zwischen Mensch und Affe unterordnet, die bei Vogt und den anderen hier vorgestellten Autoren der entscheidende Punkt in der Diskussion um die Abstammungsthese darstellte.75 In dieser Ansicht vermischen sich Ansätze von Huxley und Herder. Letzterer hatte vermerkt, dass ein Affe „in all seiner Affengestalt […] [als] ein inwendig sprechender Mensch“76 anerkannt werden könne, wenn er nur fähig sei, jemals einen Gedanken zu haben, was jedoch auszuschließen sei. Dies zu überprüfen nimmt sich Huxley nicht einmal vor, für ihn reicht allein die Beobachtung des Phänomens Sprache aus, um zu folgendem Schluss zu kommen: Our reverence for the nobility of manhood will not be lessened by the knowledge, that Man is, in substance and in structure, one with the brutes; for, he alone possesses the marvellous endowment of intelligible and ra­tional speech, whereby, in the secular period of his existence, he has slowly accumulated and organized the experience which is almost wholly lost with the cessa­tion of every individual life in other animals; so that now he stands raised upon it as on a mountain top, far above the level of his humble fellows, and transfigured from his grosser nature by reflecting, here and there, a ray from the infinite source of truth.77

Die große Bedeutung der Sprachfähigkeit wird von Schleicher nicht nur an den Affen verdeut­licht, sondern auch an den Grenzfällen des menschlich ‚Normalen‘: „Dagegen sind wirk­lich sprachlose verkümmerte Menschen, Mikrocephalen u. s. f. nicht als vollkommene Menschen, als wirk­liche Menschen zu betrachten, denn ihnen fehlt nicht nur die Sprache, sondern auch die Befähigung zu derselben.“78 Schleichers fundamentale Behauptung ‚Ohne Sprache kein Mensch‘ wird einerseits in Bezug auf ein Gegenbild entwickelt, das von ‚dem‘ Affen ausgefüllt wird. Bei ­diesem handelt es sich nicht um eine Grenzfigur z­ wischen Tier und Mensch, 75 Dennoch ist die Physis nicht so unwichtig, dass Schleicher auf die Idee käme zu diskutieren, ob denn andere Tiere der Sprache mächtig sein könnten. Zur Tradi­tion dieser Debatte siehe auch John Locke, der ebenfalls anhand der Sprache Kriterien für die Unterscheidung von Mensch und Tier diskutiert: „Denn ich bin überzeugt, dass jeder, der ein Geschöpf von seiner Gestalt und Einrichtung sieht, es einen Menschen nennen wird, wenn es auch in seinem ganzen Leben nicht mehr Verstand als eine Katze oder ein Papagei gehabt hat, und dass, wenn er eine Katze oder einen Papagei reden, beweisen und philosophieren hörte, er sie doch nur für eine Katze oder einen Papagei halten und so nennen und nur sagen würde, der eine sei ein dummer, unvernünftiger Mensch, und der andere ein sehr kluger, vernünftiger Papagei.“ (Locke, John (1981): Versuch über den menschlichen Verstand [1690]. In vier Büchern. 2 Bände. 4. Aufl. Hamburg: Felix Meiner. Hier: S. 416 f.). 76 Herder 1967 XIII, 45. 77 Huxley 1863, 112. 78 Schleicher 1865, 15 f.

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sondern um eine dritte Figur, um eine Vorstufe des Menschlichen. Andererseits sichert ­Schleicher seine These vom anthropolo­g ischen Alleinstellungsmerkmal Sprache durch die Grenzfigur des Mikrocephalen ab. Dabei offenbart sich eine eigentüm­liche Vogt-­Rezep­tion: Während bei Vogt die Mikrocephalen als Rückschläge in den Affentypus die Abstammungsthese belegen und die anthropolo­ gische Differenz destabilisieren sollten, dienen sie Schleicher dazu, sie wieder zu befestigen. Schleichers Position erweist sich dabei selbst als missing link z­ wischen Vogt und Herder. Seine Argumenta­tionsstragie ist materialistisch, er reduziert Fähigkeiten auf ihre organischen Voraussetzungen und baut sie damit zu Taxa um. Sie werden wie Variablen behandelt, die derjenige semantisch besetzen kann, der die Genealogie aufstellt. Damit wird „Genealogie“ nicht zu einem „unsichtbare[n]“ oder geheimen Band (so eine der liebsten Formulierungen Darwins in ­diesem Zusammenhang  79), das der Genealoge durch seine Methodik sichtbar zu machen versteht, sondern zu einem Begründungszusammenhang, der für die Interessen des einen oder anderen Forschers opportun erscheint. Um Kontingenzen dieser Art auszuschalten, hatte Darwin seine Forschung auf eine Fülle empirischer Daten gestützt, anhand derer er seine Theorie entwickelte. Auch wenn Schleicher ebenfalls ein fleißiger Empiriker war, erweist sich an dieser Stelle sein Material als widerständig. In seinen Überlegungen zur Entstehung der Sprachen in Analogie zur Entstehung der Arten schloss Schleicher direkt an Darwin an. Die Verführungskraft, die von Schleichers eigenem Diagramm ausging, speiste sich aus der Tradition verwandter Stammbaumdarstellungen, die als Ordnungsmodelle schon lange erfolgreich eingesetzt wurden.

79 Siehe bspw.: „Alle voranstehenden Regeln, Behelfe und Schwierigkeiten der Classifica­tion erklären sich, wenn ich mich nicht sehr täusche, durch die Annahme, dass das natür­liche System auf Fortpflanzung unter fortwährender Abänderung sich gründe, dass diejenigen Charactere, ­welche nach der Ansicht der Naturforscher eine echte Verwandtschaft z­ wischen zwei oder mehr Arten darthun, von einem gemeinsamen Ahnen ererbt sind: und insofern ist alle echte Classifica­tion eine genealo­gische; — dass gemeinsame Abstammung das unsichtbare Band ist, wonach alle Naturforscher unbewusster Weise gesucht haben, nicht aber ein unbekannter Schöpfungsplan, oder der Ausdruck für allgemeine Beziehungen, oder eine angemessene Methode die Naturgegenstände nach den Graden ihrer Ähn­lichkeit oder Unähn­lichkeit zu sortiren.“ (Darwin 2009a (Über die Entstehung der Arten), 492).

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Stammbäume Darwins Diagramm

Der Astronom John Herschel, unter anderem bekannt durch seine Äußerung, Darwins Theorie der natür­lichen Selek­tion käme ihm vor wie ein „law of higgledy-­piggledy“,80 wandte sich im Jahr 1836 in einem offenen Brief an den Geologen Charles Lyell,81 in welchem er sich folgendermaßen zur Frage der Sprachentwicklung äußerte: Words are to the Anthropologist what rolled pebbles are to the Geologist – Battered relics of past ages often containing within them indelible records capable of intelligible interpreta­tion and when we see what amount of change 2000 years has been able to produce in the languages of Greece & Italy or 1000 in those of Germany France & Spain we naturally begin to ask how long a period must have lapsed since the Chinese, the Hebrew, the Delaware & the Malesass had a point in common with the German & Italian & each other.82

Die Suche nach einem gemeinsamen Ursprung aller Sprachen war zu dieser Zeit in England ein mindestens ebenso heiß diskutiertes Thema wie es die Verwandtschaft verschiedener Arten im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts werden sollte. Maßgeb­lich geprägt durch die Arbeiten von Sir William Jones (1746 – 1794), dem „Darwin of historical linguistics“,83 beschäftigte sich unter anderem auch ­Hensleigh Wedgwood, Darwins Schwager und einer der Gründer der Philological Society of London, mit der Linguistik. Dabei stützte er sich nicht zuletzt auf Arbeiten aus der deutschen Sprachwissenschaft,84 die ihrerseits wichtige Impulse von Jones erhalten hatte. Herschel und Lyell wollten die Erkenntnisse der Linguistik in ihre eigenen Disziplinen einzubinden, die sich auf naturwissenschaft­lichem Wege den ältesten Urkunden des Menschengeschlechts widmeten. Dementsprechend ernst nahm Darwin auch Herschels Kieselstein-­Metapher, drehte sie aber um: Die geolo­gischen Funde möchte Darwin zu einer Historiografie der Natur zusammenfügen. Die geschicht­lichen Brüche, die durch fehlende Zeugnisse entstehen,

80 „Charles Darwin.“ Encyclopædia Britannica. Encyclopædia Britannica Online Academic Edi­tion. Encyclopædia Britannica Inc., 2013. http://www.britannica.com/EBchecked/topic/151902/ Charles-­Darwin. Letzter Aufruf am 25. März 2015. 81 Alter bezeichnet Lyell als den wichtigsten Stichwortgeber für sprach­liche Bilder im England des 19. Jahrhunderts (Alter 1999, 12). 82 Zitiert nach van Whye, John (2005): The descent of words: evolu­tionary thinking 1780 – 1880. In: Endeavour, Vol. 29, No. 3. S. 94 – 100. Hier: S. 95. Zu Jones siehe auch: Atkins, Quentin D.; Gray, Russell D. (2005): Curious Parallels and Curious Connec­tions – Phylogenetic Thinking in Biology and Historical Linguistics. In: Systematic Biology 54 (4), S. 513 – 526. 83 Ebd. 84 Ebd.

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fungieren als Marker einer sich verändernden Sprache, in der diese Geschichte in einem vielbändigen Werk mitgeteilt wird: Ich für meinen Teil betrachte (um Lyells bild­lichen Ausdruck zu verwenden), die geolo­gischen Urkunden als eine Geschichte der Erde, unvollständig geführt und in wechselnden Dialekten geschrieben, von welcher Geschichte aber nur der letzte, bloß auf zwei oder drei Länder sich beziehende Band bis auf uns gekommen ist. Und auch von d­ iesem Band ist nur hier und da ein kurzes Kapitel erhalten und von jeder Seite sind nur da und dort einige Zeilen übrig. Jedes Wort der langsam wechselnden Sprache dieser Beschreibung, mehr oder weniger verschieden in den aufeinanderfolgenden Abschnitten, wird den Lebensformen entsprechen, ­welche in den aufeinanderfolgenden Forma­tionen begraben liegen und ­welche uns fälschlich als plötz­lich aufgetreten erscheinen.85

Die Zugehörigkeit aller Funde zu einer großen historischen Erzählung stellte für Darwin auch die Naturphänomene der Gegenwart in einen neuen Zusammenhang. Durch die Entdeckung der Art und Weise, wie Arten variieren, auseinander hervorgehen und aussterben, hatte sich die Notwendigkeit neuer Klassifika­tionen ergeben. Die Sprache, in der die von Darwin benannte Geschichte geschrieben sein sollte, war die der Deszendentheorie. Methodisch ergab sich daraus die Einführung der Genealogie in die Klassifika­tion: Da alle organischen Wesen, ­welche noch leben oder jemals auf dieser Erde gelebt haben, zusammen classificirt werden sollten, und da alle durch die feinsten Abstufungen mit einander verkettet sind, so würde die beste, oder in der That, wenn unsere Sammlungen einigermaassen vollständig wären, die einzig mög­liche Anordnung derselben die genealo­gische sein. Gemeinsame Abstammung ist nach meiner Ansicht das geheime Band, welches die Naturforscher unter dem Namen natür­liches System gesucht haben.86

Sofern es mög­lich sein sollte, eine genetische Verwandtschaft der Sprachen zu beweisen, müsse daraus auch eine genetische Verwandtschaft der Menschen folgen, so lautete das von Schleicher nach Darwin entwickelte Modell: „Das natür­liche System der Sprachen ist nach meinem Dafürhalten zugleich das natür­liche System der Menschheit.“87 Diese Einsicht Schleichers weist auf das Eindringen der genetischen Klassifika­tion in die vergleichende Sprachwissenschaft und die Ausbildung eines geschicht­lichen Bewusstseins in die Biologie hin, die sich nun wechselseitig ergänzten.88 Die Autoren, 85 Darwin 2009a (Über die Entstehung der Arten), 587. 86 Das Zitat findet sich in Kapitel 14 im Abschnitt Embryologie. Darwin 2009a (Über die Entstehung der Arten), 666. 87 Schleicher 1865, 17 f. 88 van Pottelberge 2003, 309. Klas­sisch zu diesen Fragen immer noch Lovejoy 1985, siehe aber auch Jacob, Francois (1972): Die Logik des Lebenden. Von der Urzeugung zum genetischen

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die ­dieses neue Bewusstseins visualisieren wollten, mussten sich der Herausforderung stellen, eine explodierende Zahl neuer Arten in Nomenklaturen einzubauen, die für die vielen Neuentdeckungen nicht gerüstet waren:89 „Wir haben keine geschriebenen Stammbäume, sondern sind genötigt, die gemeinschaft­liche Abstammung nur vermittelst der Ähn­lichkeit jedweder Art zu ermitteln.“90 Um diese Abstammungsgeschichte anschau­lich werden zu lassen, bot Darwin ein Diagramm an, das die einzige Abbildung in Über die Entstehung der Arten blieb. Es hatte zuvor bereits Versuche gegeben, die Verwandtschaft z­ wischen verschiedenen Arten bild­lich darzustellen. Demgegenüber bot Darwins Diagramm dennoch eine entscheidende methodische Neuerung. Das Bild der „entangled bank“, das Darwins Auffassung der Vielfalt der natür­lichen Formen und Prozesse verdichtet, konnte weder in Worten noch in einer zeichnerischen Darstellung vollständig dargestellt werden. Deshalb wählte Darwin eine formalisierte Übersetzung des Bildes, die in dessen Beschreibung durch ein Diagramm (Abb. 1) bestand.91 Seinen Lesern gab er ausführ­liche Hinweise dazu, wie das Diagramm zu lesen sei, und erklärte die Formalisierung der Arten, die er vorgenommen hatte: Gesetzt, es bezeichnen die Buchstaben A bis L die Arten einer in ihrem Heimatland großen Gattung, es wird angenommen, daß diese Arten einander in ungleichen Graden ähn­lich sind, wie es eben in der Natur so allgemein der Fall zu sein pflegt und was im Schema durch verschiedene Entfernung jener Buchstaben voneinander ausgedrückt werden soll.92

Mit dieser Erläuterung formalisierte er die Art und Weise, wie sich Popula­tionen von Arten auseinander entwickeln. Sein Diagramm ähnelte dabei zwar grafisch einer organischen Form, durch seine Abstrak­tion entfernte er sich jedoch von der ikonogra­ fischen Tradi­tion der Stammbaumdarstellungen. Indem Darwin sich zur Visualisierung seines Arguments für ein Diagramm entschied, wählte er eine Form, die als Muster für weitere Anwendungen und Ausgestaltungen herangezogen werden konnte, und ermunterte gewissermaßen dazu, eigene abweichende Schlussfolgerungen zu ziehen.93 Die Verarbeitungen von Darwins Diagramm waren zahlreich; dabei beschränkten sich die Autoren jedoch nicht auf weitere Erläuterungen in Abhandlungen zur Genealogie, sonden entwarfen selbst neue Bilder für das, was sie bei Darwin gesehen hatten.

89 90 91 92 93

Code. Aus dem Franzö­sischen von Jutta und Klaus Scherrer. Frankfurt/M.: S. Fischer; hier bes. Kap. 2 und 3. Diese Herausforderung findet sich bei Julia Voss ausführ­lich beschrieben (vgl. Voss 2007, 111 ff.). Darwin 2009a (Über die Entstehung der Arten), 649. Vgl. Bredekamp, Horst (2006): Darwins Korallen. 2. Aufl. Berlin: Wagenbach (Kleine kulturwissenschaft­liche Bibliothek: KKB). Hier: S. 54. Darwin 2009a (Über die Entstehung der Arten), 436. Vgl. Bauer, Matthias; Ernst, Christoph (2010): Diagrammatik. Einführung in ein kultur- und medienwissenschaft­liches Forschungsfeld. Bielefeld: transcript. Hier S. 19.

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Die Darwin’sche Formalisierung war ein Versuch, die Prozesse der Artentwicklung in den Griff zu bekommen, die scheinbar von Unordnung und Zufälligkeit gekennzeichnet waren. Darwin schrieb dazu, dass er davon ausgehe, dass der im Diagramm dargestellte Prozess weitaus weniger regelmäßig ablaufe, als er ihn dargestellt habe.94 Die vielen Filia­tionen einer Art und z­ wischen den Arten lassen sich an Darwins Diagramm gut ablesen. Über einen wesent­lichen Punkt, den der Titel des Buches annonciert, bietet es jedoch keinen Aufschluss: Der gemeinsame Ursprung der Arten in einem Punkt wird von Darwin zwar angesprochen, liegt aber außerhalb der Darstellung.95 Die Prozesshaftigkeit dessen, was Darwin hier zeigen wollte, sowie seine Vorsicht dabei, Aussagen über die delikate Ursprungs-­Frage zu treffen, werden durch diese Feststellung unterstrichen. Die Formalisierung der Artenvaria­tion, die Darwin vornahm, ist auch deshalb hervorzuheben, da sich innerhalb der Darwin-­ Rezep­tion regelmäßig eine gegenläufige Tendenz feststellen lässt. Die Verlegung eines Ursprungs (der Arten, der Sprachen) in den Rahmen der Darstellung ist Teil d­ ieses Rezep­tionsprozesses. Die Genese ­dieses Diagramms, das dezidiert kein Bild sein sollte 96 und naturgemäß auch nicht völlig ohne Vorläufer auskam,97 hat Julia Voss ausführ­lich beschrieben 98 – und im Zusammenhang mit den Skizzen Darwins auch darauf hingewiesen, dass für ihn eine technisch anspruchslose Zeichnung wohl auch ein Notbehelf war: 94 Darwin 2009a (Über die Entstehung der Arten), 437. 95 Ebd., 439. Vgl. auch Reichle, Ingeborg (2011): Charles Darwins Gedanken zur Abstammung des Menschen und die Nütz­lichkeit von Weltbildern zur Erhaltung der Art. In: Christoph Markschies et al. (Hg.): Atlas der Weltbilder. Berlin: Akademie Verlag, S. 318 – 332. Hier: S. 324. 96 Vgl. Sarasin, Philipp (2009): Darwin und Foucault. Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Hier: S. 187. Darwin selbst spricht meistens von einem „Schema“; allerdings sind auch bei ihm immer wieder Referenzen auf eine „Stufenleiter“ zu finden, auf welcher die Arten angeordnet sind; auch die Rede von einem „Stammbaum“ ist ihm selbst nicht fremd. 97 Vgl. Voss 2007, 123. Zum Einfluss von Lamarcks Diagramm auf Darwin siehe auch Bredekamp 2006, 15 f. Zur Idee der Veränder­lichkeit von Arten bei Lamarck siehe Corsi, Pietro (2001): Lamarck: Genèse et enjeux du transformisme, 1770 – 1830. Paris: CNRS. 98 Damit haben sich einige frühere Deutungen mehr oder weniger erledigt, nicht zuletzt Gruber, Howard E. (1988): Darwin’s Tree of Nature and Other Images of Wide Scope. In: Wechsler, Judith (Hg.): On aesthetics in science. 3. Aufl. Boston: Birkhäuser, S. 121 – 140. Gruber setzt vor allem darauf, die Baumdiagramme als Ergebnisse eines emo­tionalen Prozesses bei Darwin zu beschreiben: „An image is ‚wide’ when it func­tions as a schema capable of assimilating to itself a wide range of percep­tions, ac­tions, ideas. This width depends in part on the metaphoric structure peculiar to the given image, in part of the intensity of emo­tion which has been invested in it, that is, its value to the person.“ Unzweifelhaft hat Darwin viel investiert, um zu den Baumdiagrammen zu gelangen; erste Ideen finden sich bereits in Notizbuch B aus dem Sommer 1837 (vgl. Voss 2007, 95).

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Darwins in der Einleitung angesprochene und selbst eingestandene „Unfähigkeit zu zeichnen“, das Unvermögen, auch „nur einen geraden Strich zeichnen zu können“, tat den Skizzen keinen Abbruch. Im Gegensatz zu Agassiz, Huxley oder Haeckel, die allesamt heraus­ ragend zeichneten, war ihm das Talent nicht gegeben, die Mängel der Natur auf dem Papier zu beheben.99

Im Fall von Darwins Diagramm war ein gewisser technischer Dilettantismus von Vorteil, weil er zu einer Sparsamkeit in den Mitteln der Darstellung führte. Diese Sparsamkeit mag Grund dafür sein, dass in der Rezep­tion ­dieses Diagramms neue Versionen entstanden, die immer stärker realen Bäumen g­lichen. Die Geschichte von den Korallen, w ­ elche Darwin zu seiner Zeichnung inspirierte („Der Baum des Lebens sollte vielleicht die Koralle des Lebens genannt werden“, so seine zugehörige Bemerkung 100), ist erst durch die Arbeiten von Horst Bredekamp und Julia Voss bekannt geworden. Umso entscheidender ist es, auf die mächtige Tradi­tion der Baumdarstellungen hinzuweisen, mit welcher die hier behandelten Darwin-­Rezipienten sein Diagramm überschrieben, überzeichneten und in seinem Anspruch überformten. Voss beschreibt Darwins Diagramm als „Sichtbarmachung von Evolu­tionszeit“101, was in entscheidender Weise verdeut­licht, dass die Funk­tion des Diagramms in der Darstellung eines Arguments bestand.102 Die schematisch-­orientierende Funk­tion des Diagramms wird durch ­dieses Detail sehr plastisch: Es wurde nicht nur als ein bestimmtes „Medienformat“, sondern gleichermaßen als Unterstützung des „anschau­lichen Denkens“ der Leser verstanden.103 Die formale Anschau­lichkeit war auch notwendig, um die fehlende morpholo­gische Anschau­lichkeit der Arten zu kompensieren, die in Darwins Diagramm ledig­lich als Variablen auftraten. Der vorläufige Charakter der Darstellung sollte bei allen Bemühungen, Sichtbarkeit herzustellen, bei den Lesern nicht in Vergessenheit geraten. Den Sprung von der heuristischen Fik­tion hin zu selbstgemachten Fakten konnten sie selbst unternehmen.

99 Ebd., 227. Die große Bedeutung dieser Einsicht diskutiert auch Riechelmann, Cord (2008): Ästhetisierung der Natur. Ökologiekolumne. In: Merkur: Deutsche Zeitschrift für europä­ isches Denken (705), S. 147 – 152. Hier S. 148. 100 Zit. nach Bredekamp 2006, 20. 101 Voss 2007, 158. 102 Diese These hebt auch Sarasin 2009, 187 f. hervor. 103 Die Bedeutung dieser wechselseitigen Ergänzung wird von Bauer; Ernst 2010, 20 betont.

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Schleichers Diagramm

Deut­lich wird dadurch jedoch auch der Unterschied zu dem Diagramm, das S­ chleicher seiner Schrift über Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft beifügte (Abb. 14). Schleichers Darstellung folgt der Leserichtung. Die vertikale Struktur scheint zuerst eine Hierarchisierung der Sprachen auszuschließen, dabei aber einen an die Zeit gekoppelten Fortschritt einzuschließen. Durch diese Ausrichtung ruft sie zunächst weniger Assozia­tionen mit einem Baum hervor als Darwins Diagramm. Schleicher schreibt ihr von vornherein den Charakter einer organischen Form zu, wie aus seinen ersten Überlegungen zu einer Darstellung der Entwicklung der indogermanischen Ursprache von 1853 hervorgeht. Dort schrieb er: „Diese Annahmen [über die „ersten Spaltungen des indogermanischen Urvolkes“, H. E.], […], lassen sich am besten unter dem Bilde eines sich verästelnden Baumes anschau­lich machen.“104 Eine erste Skizze zu der Abstammungsgeschichte des Indogermanischen fügte er bereits dieser Schrift bei. Sie ähnelt der Darstellung von 1863 und damit auch dem Diagramm von Darwin. Dieser wurde jedoch erst s­ päter durch Ernst Haeckel auf Schleicher aufmerksam und erwähnte ihn neben Max Müller lobend in Die Abstammung des Menschen.105 Den Unterschied z­ wischen Darwins modellhafter Skizze und seinem konkreten Plan stellte Schleicher schließ­lich selbst auch noch einmal heraus, als er zehn Jahre s­ päter sein nun fertig entwickeltes Stammbaummodell präsentierte: „[…] man vergleiche ihn [den Stammbaum der indogermanischen Sprachen, H. E.] mit Darwins bild­licher Darstellung (S. 121), wobei man nicht ausser acht lasse, dass ­Darwin ein ideales Schema aufstellt, wir aber das Bild der Entstehung einer gegebenen Sippe zeichnen.“106 Mit „Sippe“ meinte Schleicher hier die Sprachen eines Stammes, die er analog zu den Arten einer Gattung auffassen wollte.107 Deren Ausdifferenzierung und Ausbreitung liefe nach den Regeln ab, die Darwin als „Kampf ums Dasein“ beschrieben habe.108 Mit der Genealogie der Sprache, die er nun anhand seines Diagramms präsentierte, lieferte er innerhalb seines eigenen theoretischen Rahmens, der das natür­liche System der Sprachen zum natür­lichen System der Menschheit erklärte, eine Genealogie der Menschheit mit – wenn auch nur derjenigen, die zur indogermanischen Sprachfamilie gehörte. Das war sehr viel mehr, als Darwin mit seinem Diagramm erreichen wollte oder konnte, zumal er seine Überlegungen nicht wie Schleicher mit einem hegelianisch 104 Zitiert nach: Koerner 1981, 9. Eine neuere, am Baummodell orientierte Darstellung der Sprachentwicklung die sich des Baummodells bedient findet sich bei Atkins; Russell 2005, 522. Sie zeigt ein Modell der Entwicklung der polyne­sischen Sprachen von Green 1966. 105 Im Kapitel „Geisteskräfte“, Darwin 2009a (Die Abstammung des Menschen), 766. 106 Schleicher 1863, 13. 107 Ebd., 12. 108 Ebd.

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Kapitel IV: Ästhetisieren

Abb. 14: Der Stammbaum der Sprachen nach August Schleicher in seiner Schrift Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft von 1863

geprägten Geschichtsmodell anreicherte, das eine Hierarchisierung der verschiedenen genealo­gischen Etappen erforderte. In seiner die erste Abhandlung ergänzenden Schrift von 1865 hatte Schleicher drei Stufen der geschicht­lichen Entwicklung benannt: Die Entwicklung körper­licher Organe, darauf folgend die der Sprache und schließ­lich das geschicht­liche Leben, in das man 1865 bereits eingetreten sei.109 Die „materielle Identität von System und Geschichte“,110 von der Schleicher seit seinen Hegel-­Studien in Tübingen fest ausging, zeige sich daran, dass es der einen Sprach­ familie aufgrund ihrer (anatomischen) Ausstattung mög­lich sei, in das geschicht­liche Leben einzutreten, während andere Sprachfamilien ohne Aussicht auf Fortschritt in der Phase der Sprachentwicklung feststeckten: Afrikaner und Stämme Nordamerikas ­seien „schon ihrer unend­lich complicierten und in Formen wahrhaft wuchernden Sprachen wegen für das geschicht­liche Leben ungeeignet“.111 Einen weiteren materiel­ len Beleg für die Identität von System und Geschichte wollte Schleicher schließ­lich 109 Schleicher 1865, 27 f. 110 Schleicher 1848 zitiert nach van Pottelberge 2003, 313. 111 Schleicher 1865, 29.

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in den Anthropoiden entdecken, den „Lieblinge[n] der heutigen Naturforschung“, die „sprachlos verkümmert“ auf der vormenschlichen Stufe verharren müssten.112 Aufgrund ihrer mangelhaften bzw. fehlenden Sprachentwicklung waren Afrikaner bzw. Anthropoiden denn auch bei Schleicher keines Stammbaums würdig.113 Damit unterstrich er den Charakter der Sprache als funk­tionale Differenz ein weiteres Mal und erweiterte ihn nun um die Genealogie. Bei den (Familien-)Stammbäumen hat sie eine utopische Komponente,114 die konstitutiv für Erzählungen von Gemeinschaft ist: Ein gemeinsamer sozialer Ursprung kann nicht hergestellt werden, wo kein gemeinsamer biolo­gischer Ursprung dargestellt werden kann. Dieser wird bei Schleicher zusätz­lich mit einem gemeinsamen linguistischen Ursprung zusammengeschlossen. Dass es sich dabei um eine heuristische Fik­tion handelte, stellte Schleicher nicht in Rechnung. Die Bedeutung der Frage, wer oder was ausgehend von ­diesem Ursprung in einen Stammbaum eingetragen werden konnte, wird dann besonders deut­lich, wenn sie in Bezug zu der Bildtradi­tion der Bäume des Wissens gesetzt wird, die eine deut­lich ältere als die der Stammbäume von Lebewesen ist.

Von der organischen zur schematischen Stammbaumdarstellung und zurück In Die Logik des Lebenden schreibt François Jacob in einem Kapitel über die Zelle als Erkenntnisgegenstand der Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert, dass sich an der Zellforschung ein neu aufkommendes Interesse an Mikroorganisa­tionen zeige, welches neben das Bestreben tritt, Makroorganisa­tionen wie zoolo­gische Systematiken einzuführen. Diesem Befund lässt sich auch die Schleicher’sche Sprachforschung zuordnen, ­welche die Sprachen selbst als Organismen betrachtete und wie eine Mikroorganisa­ tion innerhalb der Makroorganisa­tion Mensch behandelte. Der organische Charakter, den Schleicher den Sprachen attestiert hatte, schlug sich dabei jedoch nicht in einer organischen Darstellungsweise innerhalb seines Diagramms nieder, das er dennoch als Stammbaum verstanden wissen wollte (s. o.). Das 1 12 Ebd. 113 Die von Schleicher propagierte Nähe dieser beiden Gruppen schien auch dem Sprachforscher Wilhelm Bleek für die Sprachwissenschaft günstig zu sein. Er führte an, dass man den Sprachursprung besonders gut an den Südafrikanern untersuchen könne, da sich diese nicht so weit von den Affen entfernt hätten (vgl.: Bleek, Wilhelm Heinrich Immanuel (1868): Über den Ursprung der Sprache. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Dr. Ernst ­Haeckel. Weimar: Böhlau. Hier: S. IV). Bleek erforschte als einer der ersten europäischen Sprachforscher die Sprache der Khoi. 114 Vgl. Macho, Thomas (2002): Anmerkungen zur Geschichte genealo­gischer Systeme. In: S­ igrid Weigel (Hg.): Genealogie und Genetik. Schnittstellen ­zwischen Biologie und Kulturgeschichte. Berlin: Akademie Verlag, S. 15 – 43. Hier: S. 43.

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bild­liche Denken, das hinter dieser Idee Schleichers steckte, stammte aus einer klar zu identifizierenden Quelle. Den Stammbäumen als Visualisierung von Makroorganisa­ tion gingen so viele verschiedene Typen von Bäumen als Medien von Ordnung voraus, dass Steffen Siegel in einem Aufsatz zur Ikonografie des Baums des Wissens zu Recht von einem „Wald des Wissens“ gesprochen hat.115 Christiane Klapisch-­Zuber datiert beispielsweise in ihrem Kompendium zu Stammbäumen 116 das Aufkommen von Baumdarstellungen zur Illustra­tion von Verwandtschaftsverhältnissen auf die Spätantike 117 und verweist darauf, dass diese Darstellungen schon immer der „Notwendigkeit, Ansprüche auf ein Erbe oder ein Amt geltend zu machen“118 dienten. Machtnachweis oder sogar -erhalt sind dementsprechend von Anfang an der entscheidende Spieleinsatz in der Geschichte der Stammbäume. Allerdings nehmen erst ab dem 12. und 13. Jahrhundert Metaphern die Gestalt von Pflanzen an.119 Der Gedanke, die Abstammung des Menschengeschlechts aus einer einzigen Wurzel erklären zu können, ist ein zentraler Referenzpunkt der christ­lichen Ikonografie.120 Hier ist es die Wurzel Jesse, aus der die Genera­tionenfolge nach dem Vater König Davids hervorgeht: Doch aus dem Baumstumpf Isaias wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht. Der Geist des Herrn lässt sich nieder auf ihm: der Geist der Weisheit und der Einsicht, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Gottesfurcht.121

Die Wurzel Jesse wird häufig als ein schlingenhaftes Geflecht gezeigt, das eher Ähn­ lichkeit mit dem erst viel ­später berühmt gewordenen Rhizom als mit einem sich verzweigenden Stamm hat. Die Genealogien adeliger Familien werden in unterschied­ licher Weise ins Bild gebracht: Neben den organischen Stammbäumen existieren Abbildungen von Häusern, in deren verschiedenen Stockwerken und Zimmern jedes Mitglied der Familie einen ihm zugewiesenen Platz einnimmt.

115 Vgl. Siegel, Steffen (2011): Im Wald des Wissens. Sichtbare Ordnungen der Enzyklopädie auf der Schwelle ­zwischen Kultur und Natur. In: Christoph Markschies et al. (Hg.): Atlas der Weltbilder. Berlin: Akademie Verlag, S. 280 – 293. 116 Klapisch-­Zuber, Christiane (2003): Stammbäume. Eine illustrierte Geschichte der Ahnenkunde. München: Knesebeck. 117 Ebd., 9. 118 Ebd., 13. 119 Ebd., 36. Thomas Macho datiert diesen Drift auf die Zeit um das Aufkommen des Buchdrucks. (Ders. (2005a): Die Bäume des Alphabets. In: Neue Rundschau, 116 (2), S. 66 – 80. Hier: S. 72). 120 Poeschel, Sabine (2005): Handbuch der Ikonographie. Sakrale und profane T ­ hemen der bildenden Kunst. Darmstadt: WBG. Hier: S. 102 ff. 121 Jesaja 11,1. S. dazu auch Macho 2005.

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Analog lässt sich auch die organische Bildsprache der Stammbäume durch das Bedürfnis nach Komplexitätsreduk­tion erklären, das von der zweidimensionalen Darstellung einer dreidimensionalen Pflanze befriedigt wird, deren ursprüng­liche Komplexität in einer Andeutung erhalten bleibt. Die Struktur des Baumes und die Hinweise, die mit den einzelnen Ästen und Verzweigungen verbunden sind, können gedeutet werden, weil sie sich an die bekannten Formen realer Bäume anschließen.122 Komplexitätsreduk­tion sollten die Bäume des Wissens leisten, die im Anschluss an den Baum des Porphyrius und den Arbor Scientiae von Raimundus Lullus entwickelt wurden. In beiden Fällen handelt es sich um Autoren, deren Leistungen auf dem Gebiet der Logik liegen, die sie in ihren jeweiligen Ansätzen sowohl zur Defini­tion von Begriffen (Porphyrius) als auch zu einem System automatischen Schlussfolgerns (Lullus) heranzogen. Gemeinsam ist ihnen, dass ihre Arbeiten in der Rezep­tion konsequent mit einer organischen Bildsprache gekoppelt wurden. In seiner Einleitung zur Aristote­lischen Kategorienlehre hatte Porphyrius (234 bis ca. 300 n. Chr.) versucht, ein Klassifika­tionsschema zu entwerfen, das es erlauben sollte, klare Art- und Gattungsbegriffe zu formulieren. Er selbst erwähnte den Baum als Strukturmodell dieser Begriffe nicht, näherte seine Beschreibung jedoch einer baumähn­lichen Struktur an.123 Seit dem 16. Jahrhundert 124 entstehen verstärkt Illustra­tionen zum Baum des Porphyrius,125 die den Baum mit Stamm, Ästen und Blättern zeigen. Eine organische Darstellungsform eines Baumes, der Ableitungszwecken 126 dienen sollte, findet sich ebenfalls in einem Holzschnitt von 1515, die einem katalanischen Manuskript des Arbor Scientiae von Raimundus Lullus 127 (1232–ca. 1316) beigefügt war (Abb. 15). Frances Yates erläutert, dass Bäume bei Lullus generell als Repräsenta­tionen für das Zusammenspiel der Elemente in der Natur einstehen,128 und auch als Figura­tion für ein holistisches System wie das der Wissenschaften 122 Vgl. Macho 2005a, 71. 123 Vgl. Siegel 2011, 284. 124 Thomas Macho interpretiert diesen Zeitpunkt als Ausdruck eines Wunsches nach einem „dynamischen Modell der Kombinatorik“, das durch einen wachsenden, lebendigen Baum besser dargestellt werden konnte als durch das recht starre Modell des porphyrianischen Baumes. Dabei bringt er auch den Einfluss der arabischen Aristoteles-­Rezep­tion sowie die den der Kabbalistik ins Spiel, um die Wendung hin zu einer organischen Repräsenta­tion des Baum des Wissens zu erklären (vgl. Macho 2002, 26). 125 Siehe auch Bredekamp 2006, 13. 126 Zur Umwandlung des „begriffsanalytischen Astrolabium“ Lulls in Wissensbäume siehe Macho 2002, 25. 127 Zu Lullus siehe Domínguez Reboiras, Fernando; Villalba i Varneda, Pere; Walter, Peter (2002): Arbor scientiae. Der Baum des Wissens von Ramon Lull. Akten des Interna­tionalen Kongresses aus Anlass des 40-jährigen Jubiläums des Raimundus-­Lullus-­Instituts der Universität Freiburg i. Br. Turnhout: Brepols. Zu den Bäumen siehe weiterhin Yates, Frances A. (1954): The Art of Ramon Lull. An Approach to it through Lull’s Theory of the Elements. In: Journal of the Warburg and Couthauld Institutes. (1/2), S. 115 – 173. 128 Yates 1954, 142.

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Abb. 15: Arbor scientiarum oder Wissensbaum, Abbildung in Raimundus Lullus’ Arbor ­scientiae aus der Lyoner Ausgabe aus dem Jahr 1515

verwendet werden. Lullus hatte in dem 1295 verfassten Werk versucht, seine lo­gische Kombina­tionskunst zu erläutern:129 Jede Frage, die man sich überhaupt stellen kann, sollte durch die Kombina­tion der verschieden benannten Baumteile gelöst werden können. Der Baum wird so zu einem universalen System, dessen Gegenstand im Prinzip die ganze Welt sein kann. Baumdarstellungen, die sich nur einem Bereich aus ­diesem unübersicht­lichen Feld widmeten, waren deshalb konstitutiv reduk­tionistisch: in ­diesem Zusammenhang keine unwillkommmene Eigenschaft. Die Verwendung einer organizistischen Bildsprache bei der Illustra­tion einer bestimmten Wissensordnung ist auch das leitende Prinzip der Ausgabe der Encyclopédie von 1769, dem wahr gewordenen Traum der Makroorganisatoren Diderot und D’Alembert. Der Baum des Wissens von Christian Friedrich Wilhelm Roth verlieh einem Schema der beiden Hauptautoren eine Gestalt, das es erlauben sollte, sich auf einen Blick mit den Gegenständen der Encyclopédie vertraut zu machen (Abb. 16).130 Selbst in einem größeren Druck als der hier beigegebenen Abbildung dürfte genau dies jedoch schwer gefallen sein. Weiter oben wurde schon erwähnt, dass sich parallel 129 Yates betont auch die große Bedeutung der Lullus-­Rezep­tion im Umfeld von Leibniz, ein Hinweis darauf, dass der Baum des Wissens in der hier dargestellten Form mindestens im 18. Jahrhundert noch ein bekanntes Konzept war (vgl. ebd., 167). 130 Vgl. Siegel 2011, 281.

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Abb. 16: Der Baum des Wissens. Illustration zu Diderots und D’Alemberts Encyclopédie von Christian Friedrich Wilhelm Roth aus dem Jahr 1769

zum expandierenden Kolonialhandel die naturhistorischen Sammlungen Europas massiv ausdehnten, womit eine immer größere Notwendigkeit zur Systematisierung der mög­lichen Exponate auftrat, um nicht den Überblick über die eigenen Bestände zu verlieren; gleichzeitig sollte die Herrschaft über die Vielfalt der Gegenstände aufrecht erhalten werden. Gleichermaßen wuchs der Wunsch nach Darstellungsverfahren, die diesen Überblick über die komplexen Materialkonvolute und Wissenssysteme ermög­ lichen sollte. Auch für Ausdifferenzierungsprozesse der Arten ergab sich so die Notwendigkeit zu schematisieren. Dabei war es jedoch schwer, sich von Bildtradi­tionen zu lösen, die mit organischen Modellen arbeiteten, in deren Trad­tion auch noch die Abbildung von Roths Encyclopédie-­Baum gehört. Diese Tradi­tion wurde durch die Verbreitung von Darwins Diagramm nicht zu einem Gegenstand von Historisierungsversuchen, sondern sie wurde vielmehr immer wieder aktualisiert. Die Zahl der Bilder, aus denen man bei der Kombina­tion von verschiedenen Darstellungstradi­tionen auswählen konnte, wuchs ebenso wie das Bedürfnis, taxonomische Hierarchien und Chronologien in Stammbäumen zum Ausdruck zu bringen. Die organischen Stammbäume vereinten den genealo­gischen Aspekt der Familienstammbäume mit einem Strukturaspekt, der für die Bäume des Wissens entscheidend gewesen war. Dort sollten Begriffe über Gegensatzpaare verstehbar werden, die durch Äste miteinander verbunden waren. Diese Struktur war nicht notwendig normativ aufgeladen, sondern folgte aus einer bestimmten Art zu

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schließen. Die reduk­tionistischen Versionen von Bäumen, die Verwandtschaftsverhältnisse ­zwischen Lebewesen oder Begriffen ins Bild bringen sollten, entsprachen dabei nicht allein persön­lichen Vorlieben ihrer Gestalter oder deren Vorsatz, manipulieren zu wollen. Sie entstanden im Zuge der Darwin-­Rezep­tion nicht zuletzt deshalb, weil kaum jemand zuvor jemals so viel Material zu verarbeiten hatte wie beispielsweise Ernst Haeckel, der auf Jahre intensiver naturkund­licher Sammlungs- und Forschungstätigkeit zurückblickte. Zur Verbindung von Materialkonvoluten und baumförmigen Ordnungssystemen schreibt John van Whye: „So the real radical conclusion is that the rela­tionships between cutural things and biological species are represented with branching trees not because the people who study them have borrowed the ideas from others, but because this is the best way of reconciling their materials.“131 Wie Ernst Hackel dabei vorging und ­welche Wege seine Darwin- und Schleicher-­Rezep­ tion ging, zeigen die folgenden Abschnitte.

3. Ganz oben. Ernst Haeckels Anthropologie Im aufwendig dekorierten Jenaer Volkshaus trug Ernst Haeckel im Jahr 1907 seine Erkenntnisse zur Entwicklung des Menschengeschlechts unter dem Titel Das Menschenproblem und die Herrentiere von Linné vor.132 Die Lokalität war erst vier Jahre zuvor eröffnet worden 133 und sollte dem Volkswohl in kultureller Hinsicht dienen. An der reichen Bebilderung und Ausstattung, die eine zeitgenös­sische Aufnahme zeigt, lassen sich in nuce zentrale ­Themen Ernst Haeckels ablesen (vgl. Abb. 17). Es 1 31 van Whye 2005, o. S. 132 Der Vortrag erschien auf großen Wunsch des Publikums hin in gedruckter Form: Haeckel, Ernst (1908): Das Menschenproblem und die Herrentiere von Linné. Frankfurt/M.: Neuer Frankfurter Verlag. Haeckel reagierte damit auf eine Rede des Jesuiten und Entomologen Johannes Reinke (ders. (1907): Haeckels Monismus und seine Freunde: ein freies Wort für freie Wissenschaft. Leipzig: Barth). Dieser war Abgeordneter des preu­ßischen Herren­hauses und hatte in einer Rede am 10. Mai 1907 in scharfen Worten vor ­Haeckel und dem schäd­lichen Einfluss des Monismus auf die Jugend gewarnt. Dabei setzte er sich allerdings im Gegensatz zu anderen Haeckel Gegnern für eine Ausweitung des naturwissenschaft­lichen Unterrichts an den Gymnasien ein: Eine bessere Kenntnis auf ­diesem Gebiet sollte es den Schülern erlauben, sich intellektuell gegen den Monismus zu wappnen. (Haeckel geht auf Reinke gleich zu Beginn ein (S. 6), vgl. aber auch S. 42 f. und Krauße, Erika (1984): Ernst Haeckel. Leipzig: BSB Teubner. Hier S. 114). 133 Den Bau des Volkshauses hatte die Carl Zeiss-­Stiftung/Jena finanziert, die ihrerseits auf eine Idee des Physikers und Sozialreformers Ernst Abbe zurückging (Walter, Rolf (2000): Die Ressource „Wissen“ und ihre Nutzung. Ernst Abbe und der Jenaer Aufschwung um 1900. In: Klaus-­Michael Kodalle und Christian Danz (Hg.): Angst vor der Moderne. Philosophische Antworten auf Krisenerfahrungen: der Mikrokosmos Jena 1900 – 1940. Würzburg: ­Königshausen & Neumann, S. 11 – 23. Hier: S. 16 und 22).

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Abb. 17: Saal des Jenaer Volkshaus am 17. Juni 1907, ausstaffiert anlässlich Ernst Haeckels Vortrag Das Menschenproblem und die Herrentiere von Linné

finden sich aber auch einige Hinweise auf das soziokulturelle Setting, in dem er sich als volksbildender Prophet bewegte. Sein Konzept der Homologie der Keime, aus denen alles Leben entsteht, konnte Haeckel an der etwas abseits stehenden Tafel linkerhand erklären.134 Das Foto zeigt weiterhin die Stammbaum­darstellung des Menschengeschlechts, mit der Haeckel an Schleicher anschließt und die Gegenstand des ersten Teilabschnitts ist. In Leserichtung ist dem Stammbaum auf der Bühne eine Tafel zur Embryonalentwicklung vorgeordnet, die zentral für H ­ aeckels biogenetisches Grundgesetz ist,135 das wiederum die Leitidee für seine taxono­mischen Arbeiten wie auch alle seine weiteren Studien darstellt. Die Präsenta­tion der Schädel und Skelette während des Vortrags im Volkshaus legt eine Spur zum Umfeld der vergleichenden 134 Siehe dazu im Vortragstext Haeckel 1908, 31. Die Tafel mit den „Sandalen Keime[n] von drei Säugetieren“ (Schwein, Kaninchen, Mensch) ist mit der Nummer II der Druckversion des Vortrags beigegeben. Tafel I des Drucks zeigt die „Skelette von fünf Menschenaffen“ (von denen das erste einem Mensch gehört), Tafel III zeigt „Keime (Embryonen) von drei Säugetieren“ (Fledermaus, Gibbon, Mensch). 135 Das biogenetische Grundgesetz bezeichnet die Rekapitula­tion der Phylogenese in der Ontogenese. Den Terminus verwendete Haeckel erstmals 1872 in seiner Monografie über Kalk­ schwämme, das Prinzip der Rekapitula­tion findet sich jedoch schon in früheren Arbeiten (vgl. Krauße 1984, 68).

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Anatomie der vorangegangenen Jahrzehnte, aus dem Haeckels Forschung hervorgegangen ist. Die Anordnung des Materials folgt der sequenziellen Darstellungsweise, die Haeckel zu seinem Prinzip erhob. Aufgrund seiner Anwendung in den Abbildungen der Anthropogenie und der Natür­lichen Schöpfungsgeschichte steht es im Fokus ­dieses Kapitels. Nicht zuletzt gerät eine Affenhorde in den Blick, die zu Skulpturen erstarrt 136 direkt über den völkerkund­lich-­physiognomischen Tafeln posiert. Die Tafeln sind wiederum mit verschiedenen Ansichten von Gehirnen in Bezug gesetzt: Diese Nachbarschaft thematisiere ich in den Überlegungen dazu, wie Haeckel die Figur des Affen typolo­gisch einsetzt. Die Ikonografie liefert Haeckel gleich mit: Auf der schlecht erkennbaren Tafel rechts der Bühne ist ein Affe abgebildet, dessen Haltung an den Orang-­Utan Tulps erinnert. Über allen Tafeln im Raum hängt direkt unter dem (Himmels-)Gewölbe eine Abbildung zur vergleichenden Anatomie der Primaten, das die berühmte Zeichnung aus Huxleys Evidence as to man’s place in nature aufruft. Dort bewegten sich die Primaten allerdings in einer Reihe von links nach rechts, der letzte in der Reihe war der vollständig aufrecht gehende homo sapiens. Ebenso wie auf dieser Abbildung waren auf dem Schaubild im Volkshaus Jena die Propor­tionen der verschiedenen Skelette sehr ungenau dargestellt worden. Diese Illustra­tionen schmücken einen Anthropoiden-­Dom, in dem ein „monis­ tische[r] Gegenpapst“137 von eigenen Gnaden predigte. Die Fotografie aus dem Jenaer Volkshaus bestätigt Kurt Bayertz’ Befund von der „Verweltanschau­lichung der Ästhetik“,138 deren Grundlage Haeckels Monismus ist, der nichts weniger als ‚die Welt‘ (Natur, Geist, Kultur) in einer Super-­Disziplin verhandelt:

136 Derartig präparierte Gruppen von Tieren waren zu dieser Zeit sehr populär und wurden von der Firma Umlauff hergestellt und vertrieben. Hinweise zur Präpara­tion und den Auswirkungen der von den Ausstopfern erdachten Inszenierungen finden sich bei Lange 2006, 85 ff. Es ist nicht zu ermitteln, ob die Affengruppe, die hier zu sehen ist, auch von der Firma Umlauff stammte. Haeckel stand zumindest in Kontakt mit ihr und bestellte einen Gorilla, den er auch erhielt und 1912 in seinem neueröffneten Phyletischen Museum in Jena platzierte (vgl. ebd., 117). 137 So nennt sich Ernst Haeckel selbst auf einer Postkarte vom 22. 9. 1904 an Wilhelm B ­ ölsche, die er vom Interna­tionalen Freidenker Kongress in Rom schrieb. (Siehe: Nöth­lich, ­Rosemarie (2002): Ernst Haeckel – Wilhelm Bölsche. Briefwechsel (1887 – 1919). Unter Mitarbeit von Christoph Kockerbeck. 2 Bände. Berlin: Verlag für Wissenschaft und Bildung (Ernst-­ Haeckel-­Haus-­Studien: Monographien zur Geschichte der Biowissenschaften und Medizin). Hier: S. 167). 138 Bayertz, Kurt (1984): Die Deszendenz des Schönen. Darwinisierende Ästhetik im Ausgang des 19. Jahrhunderts. In: Klaus Bohnen, Uffe Hansen und Friedrich Schmöe (Hg.): Fin de siècle. Zur Naturwissenschaft und Literatur der Jahrhundertwende im deutsch-­skandinavischen Kontext: Vorträge des Kolloquiums am 3. und 4. Mai 1984. Kopenhagen: W. Fink, S. 88 – 110. Hier: S. 105.

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Ueberall in der Natur ist Geist, und einen Geist ausser der Natur kennen wir nicht. Daher ist auch die üb­liche Unterscheidung von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft unhaltbar. Jede Wissenschaft als s­ olche ist Natur- und Geisteswissenschaft zugleich. Der Mensch steht nicht über der Natur, sondern in der Natur.139

Die ungemeine Beliebtheit, der sich Haeckel bei seinen zahlreichen Anhängern durch markige Grundsatzerklärungen wie dieser erfreute, zeigt sich im Band Was wir Ernst Haeckel verdanken, der 1914 zu seinem 80. Geburtstag erschien. Max ­Fürbringer schildert darin mittels eines literarischen Kniefalls seine Erweckung durch den Rhetor Ernst Haeckel folgendermaßen: Das Auditorium, ein mäßig großes Zimmer, im zweiten Stocke des sogenannten Schlosses freund­lich nach Süden gelegen, eine große Anzahl bunter, sämt­lich von Haeckel gemalter Unterrichtstafeln an den Wänden, vor den Bänken Tische mit niederen Tieren und Präparaten, auch diese fast durchweg von Haeckel gesammelt und bearbeitet. In dem Zimmer eine für die damalige Frequenz der Universität (etwa 500 Studenten) ganz ansehn­liche, aber wohl kaum aus mehr als 40 – 50 Köpfen bestehende Zuhörerschaft. Alle glühend vor Begeisterung und Erwartung. […] Und nun trat er in das Auditorium, nicht im bedächtigen Schritt des Professors, sondern im siegreichen Dahinstürmen des apollinischen Jünglings nach dem Katheder eilend, eine große, schlanke, imponierende Gestalt, ein blühendes, wohl von viel Nachdenken und Arbeiten erzählendes, aber nicht von ihnen angekränkeltes Antlitz, eine gewaltige, von einem prachtvollen Großhirn zeugende Stirn, goldene fliegende Locken, große, blaue, blitzende und so freund­liche Augen, – wohl der schönste Mensch, den ich bisher gesehen, und mir war es, als ob das schon zuvor ganz heitere Zimmer merk­lich heller wurde. Und dann begann die Vorlesung, nicht ausgefeilt und wohlgedrechselt, sondern ein unmittelbarer Erguß, ein Sprühen und Leuchten neuer Offenbarungen. Die Erscheinung, der Glanz der Gedanken und die besondere Art seines Vortrages wirkten zunächst fast ausschließ­lich auf mich; erst weiterhin packte mich der Inhalt.140

139 Haeckel, Ernst (1874): Anthropogenie oder Entwickelungsgeschichte des Menschen. Wissenschaft­liche Vorträge über die Grundzüge der menschlichen Ontogenie. Leipzig: ­Engelmann. Hier: S. 707. In der vierten Auflage gab Haeckel dieser Stelle noch eine stärker religiös eingefärbte Wendung, indem er ­dieses Zitat als Credo formulierte: „[…] das ist ein fester Grundsatz unseres Monismus, den wir mit Bezug auf die Religion auch Pantheismus nennen können.“ (ders. 1891, 852). 140 Fürbringer, Max (1914): Wie ich Ernst Haeckel kennen lernte und mit ihm verkehrte und wie er mein Führer in den grössten Stunden meines Lebens wurde. In: Heinrich Schmidt (Hg.): Was wir Ernst Haeckel verdanken. Ein Buch der Verehrung und Dankbarkeit. Im Auftrag des Monistenbundes herausgegeben von Heinrich Schmidt. 2 Bände. Leipzig: UNESMA (2), S. 335 – 350. Hier: S. 336 f.

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Haeckels Präsenta­tionsgeschick und seine Fähigkeiten als Autor begründeten derartige Anbetung und den Vorrang, mit dem er in der Forschung zu der ersten Phase der Darwin-­Rezep­tion in Deutschland behandelt wird.141 In dem massiven medialen Einsatz, den er in seinen Auftritten betrieb, übertraf er seinen Vorgänger Vogt bei Weitem. Dadurch entsteht in der Literatur zur Darwin-­Rezep­tion oftmals eine Schieflage, sodass Haeckel als maßgeb­licher, wenn nicht alleiniger Impresario der Ideen Darwins genannt wird. Seine Künste wandte Haeckel jedoch auf eine sehr große Bandbreite von ­Themen an, die Anthropologie stellt nur einen Teil davon dar. Die starke Präsenz der Anthropologie in der Darwin-­Rezp­tion wird jedoch durch ihren hohen weltanschau­lichen Wert gestützt, der mit dem Affen als Wappentier über hohen Wiedererkennungswert verfügt. Andere ­Themen, die Haeckels Œuvre zu einem sehr verdienstvollen machen, werden dadurch teilweise überblendet, das proto-­eugenische und völkische Potenzial 142 von Haeckels Schriften hingegen wird akzentuiert. Robert J. Richards weist zu Recht darauf hin, dass es keine Kleinigkeit ist, dass aus seinen Werken mehr Menschen über die Evolu­tionstheorie lernten als aus jeder anderen Quelle, inklusive der Arbeiten Darwins.143 Was sie bei Haeckel speziell über die Anthropologie erfahren konnten, untersucht dieser Abschnitt. Im Zentrum steht dabei die Vortragssammlung Anthropogenie (1874), die alles für die Anthropologie Relevante aus der Generellen Morphologie 144 (1866), der Natür­ lichen Schöpfungsgeschichte 145 (1868) und verstreuten Schriften destilliert. Während 141 Zu Haeckel liegen mehrere sehr gute Monografien vor. Nicht zuletzt deshalb wird auf eine Darstellung seiner Biografie verzichtet. Umfassend: Di Gregorio, Mario (2005): From Here to Eternity. Ernst Haeckel and Scientific Faith. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Vgl. auch: Fick, Monika (1993): Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophy­sische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende. Tübingen: Niemeyer. Unter den neueren Publika­tionen am anspruchvollsten: Kleeberg, Bernhard (2005): Theophysis. Ernst Haeckels Philosophie des Naturganzen. Köln: Böhlau. Exemplarisch zu Haeckels ästhetischem Programm: B ­ reidbach, Olaf (2006): Ernst Haeckel. Bildwelten der Natur. München: Prestel. Dazu siehe auch: ­Kockerbeck, Christoph (1986): Ernst Haeckels „Kunstformen der Natur“ und ihr Einfluß auf die deutsche bildende Kunst der Jahrhundertwende. Frankfurt/M. u. a.: Peter Lang. 142 Eine scharfe Akzentuierung dieser Thematik findet sich bei Gasman, Daniel (1971): The Scientific Origins of Na­tional Socialism. Social Darwinism in Ernst Haeckel and the German Monist League. London: Macdonald. Eine ausgewogenere Darstellung bietet Robert J. Richards an, der die Haeckel-­Rezep­tion außerhalb und innerhalb Deutschlands gleichermaßen nachzeichnet (vgl. bes. Richards 2008, 440 ff.). 143 Ebd., 500. 144 Haeckel, Ernst (1866): Generelle Morphologie der Organismen. Allgemeine Grundzüge der organischen Formen-­Wissenschaft, mechanisch begründet durch die von Charles Darwin reformierte Descendenz-­Theorie. 2 Bände. Berlin: Reimer. 145 Für diese Arbeit lag folgende Ausgabe vor: Haeckel, Ernst (1870): Natür­liche Schöpfungsgeschichte. Gemeinverständ­liche wissenschaft­liche Vorträge über die Entwickelungslehre im Allgemeinen und diejenige von Darwin, Goethe und Lamarck im Besonderen, über die

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sich die Generelle Morphologie mit der Formbildung aller Arten von organischen Lebewesen befasst, findet sich in der Natür­lichen Schöpfungsgeschichte bereits eine Privilegierung der tierischen Organismen und der Menschen. Bei dem Text handelt es sich um eine Mitschrift von Haeckels sehr erfolgreichen Darwin-­Vorlesungen, die Fürbringer beschrieben hat und die Haeckel seit 1865 mehrfach hielt.146 Haeckels Freund und Kollege Carl Gegenbaur hatte ihm empfohlen, diese mitstenografieren und veröffent­lichen zu lassen;147 1889 erschien bereits die achte Auflage der Vorlesungen, die einer der großen publizistischen Erfolge Haeckels waren. Die Anthropogenie handelt ausschließ­lich von der Entwicklung des Menschen, die in historischer, ontogenetischer, phylogenetischer und organogenetischer Hinsicht erläutert wird. Der große Erfolg Haeckels führte dazu, dass seine Werke bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein in zahlreichen Auflagen erschienen, die sich teilweise in ihrer jeweiligen gestalterischen Ausführung, aber auch inhalt­lich stark von einander unterschieden, da er stets neue Erkenntnisse in neue Ausgaben einarbeitete. Insbesondere im Übergang von der dritten zur vierten Auflage der Anthropogenie zeigt sich, wie Haeckel seine anthropolo­gischen Schlussfolgerungen deut­lich zuspitzte und sie mit einem erweiterten Repertoire an Abbildungen versah.

Topografie der Evolution. Ernst Haeckels Stammbäume Bei Haeckels Abbildungen wird an den Stammbäumen am deut­lichsten die Eskala­ tionsstrategie Haeckels erkennbar, die er seit seinen Anfängen als junger Professor verfolgte. Im Sommer 1860 las Haeckel zum ersten Mal Darwins Über die Entstehung der Arten,148 soll jedoch auch bereits Darwins Bericht von der Reise auf der Beagle in deutscher Übersetzung gelesen haben.149 Damit hatte er seinen Orientierungspunkt gefunden; dem verehrten Autor schickte er im Dezember 1863 seine Monografie über die Radiolarien.150 Im Oktober 1866 reiste Haeckel auf Einladung Huxleys nach London und von dort weiter nach Downe, wo Darwin lebte; gegenüber Bölsche

Anwendung derselben auf den Ursprung des Menschen und andere damit zusammenhängende Grundfragen der Naturwissenschaft. 2. Aufl. Berlin: Reimer. 146 Vgl. Krauße 1984, 57. Hier wird auch die Zusammensetzung von Haeckels Hörerschaft vermeldet: „10 Theologen, 14 Juristen, 23 Mediziner, 73 Philosophen, davon 48 Naturwissenschaftler“ nahmen ebenso teil wie „Laien aller Berufsstände“, sodass der größte Hörsaal der Universität beansprucht wurde. Ein erstes „Darwin-­Kolleg“ hatte Haeckel bereits 1862/1863 abgehalten (vgl. ebd., 46). 147 Vgl. ebd., 79. 148 Vgl. Di Gregorio 2005, 77; Kleeberg 2005, 109. 149 Vgl. Di Gregorio 2005, 35. 150 Vgl. ebd., 74 f.

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erwähnte er Darwins große Weisheit, die ihn an Philosophen und Götter der griechischen Antike erinnerte.151 Noch vor seinem Besuch hielt Haeckel auf der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte 1863 in Stettin eine Rede, in der er auf den Streit ­zwischen Darwin-­ Gegnern und Darwin-­Befürwortern einging. Der Streit z­ wischen beiden Lagern sei so heftig entbrannt, dass es an der Zeit sei zu klären, was Darwin nun eigent­lich meine.152 Der Vortrag war schlicht mit Über die Entwicklungstheorie Darwins betitelt und legte den Grundstein für Haeckels Ruf als berühmtesten Darwinisten Deutschlands. Schon hier bekannte er sich zu der These, dass es Verwandtschaftsbeziehungen ­zwischen allen Arten gäbe, und betonte seine Überzeugung von der Abstammung des Menschen von affenähn­lichen Vorfahren.153 Über seinen charismatischen Auftritt teilt Hermann Bahr mit: […] ihr erster Redner [der Stettiner VDNA, H. E.] war Häckel, jung und schön und hell, und dieser glühende, Jugend ausdampfende, wie der Morgen leuchtende Mensch sprach aus, was Darwin war. Da wussten alle, dass es hier nicht mehr um eine Frage der Gelehrsamkeit ging, sondern um die Menschheit selbst; die bisherige Menschheit war plötz­lich in Frage. Und so brach es jetzt überall los, gegen die verruchten Ketzer, die sich vermessen wollten, Gott zu leugnen. 154

Zentrales Element der Vermittlung seiner Gedanken war schon zu d­ iesem Zeitpunkt die Verwendung des Bildes eines Stammbaumes, welcher das gesamte natür­liche System repräsentieren sollte. Haeckel war sehr darauf bedacht, diesen besonderen Baum durch detailgenaue Beschreibung für die Zuhörer plastisch werden zu lassen. Er beschrieb ausführ­lich die „vielen tausend grünen Blättchen des Baumes, die die jüngeren, frischeren Zweige bedecken“ und wie die „welken, verdorrten Blättchen […], die sich an den älteren abgestorbenen Ästen vorfinden“. Genau so sollten sich seine Zuhörer alle lebenden und ausgestorbenen Tier- und Pflanzenarten vorstellen.155 Während Darwin die verschiedenen Arten, die er in seinem Diagramm von 1859 vorgestellt hatte, im Text mit Variablen markierte, gibt Haeckel ihnen eine organische Gestalt. An die Stelle einer Formalisierung tritt bei ihm eine anschau­liche Erzählung; 1 51 Vgl. Richards 2008, 173 f. 152 Haeckel, Ernst (1968): Über die Entwicklungstheorie Darwin’s. Vortrag, gehalten am 19. September 1863 in der ersten allgemeinen Sitzung der 38. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte zu Stettin. In: Gerhard Heberer (Hg.): Der gerechtfertigte Haeckel. Einblicke in seine Schriften aus Anlaß des Erscheinens seines Hauptwerkes „Generelle Morphologie der Organismen“ vor 100 Jahren. Stuttgart: G. Fischer, S. 45 – 59. Hier: S. 46. 153 Di Gregorio geht so weit zu behaupten, dass Haeckel in den folgenden Jahren gegenüber ­diesem Programm keine wesent­lichen Änderungen vorgenommen und wenig neue Erkenntnisse hinzugefügt habe (ders. 2005, 228). 154 Hermann Bahr zitiert nach Michler 1999, 79. 155 Haeckel 1968, 48.

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eine Nachahmung der Natur im Medium der naturwissenschaft­lichen Erzählung. ­ aeckel bebildert sein Buch der Natur auf jede ihm zur Verfügung stehende Weise, H zu den Erzählungen sollten ­später grafische Umsetzungen hinzutreten. Den Gedanken der Zwangsläufigkeit, mit dem sich ein Gesetz in einem Lebewesen verwirk­ lichen musste, baute Haeckel in den folgenden Jahren aus. Die Sugges­tionskraft von Darwins Diagramm, das die Entwicklung der Arten in einer so stark codierten Form präsentierte, dass sie nur mithilfe von Darwins Text überhaupt verständ­lich werden konnte, war groß genug, um Haeckel zu ermutigen, den Schritt von einem abstrakten Diagramm zu einem anschau­lichen Piktogramm zu vollziehen. Der Konkre­tionsschub, den ­Haeckel damit in die Abstammungsdebatte einbrachte, wurde nicht zuletzt von Darwin anerkannt, der einer der bewundernden Leser von Haeckels Genereller Morphologie war. 1868, drei Jahre vor Veröffent­lichung seines eigenen Beitrags zur Abstammungsthese (The Descent of Man, 1871), schrieb er an Haeckel: Ihre Kapitel über die Verwandtschaftsbeziehungen empfinde ich als bewundernswert und voll origineller Gedanken. Ihre Kühnheit läßt mich zuweilen erbeben, aber – wie Huxley bemerkte – irgend jemand muß eben kühn genug sein und einen Anfang machen, indem er Stammbäume entwirft.156

Haeckels Kühnheit bestand darin, am Ende der Einleitung zur Generellen Morpho­ logie, die eine morpholo­g ische Geschichte aller Lebewesen sein sollte, ledig­lich den Stammbaum eines Lebwesens anzubieten, näm­lich den des Menschen. Dieser stellte für ihn das paradigmatische Lebwesen dar, an dessen ontogenetischer Entwicklung alle morpholo­g ischen, und damit letzt­lich alle natür­lichen Prozesse dargestellt werden können. Der Stammbaum des Menschen galt Haeckel als der jüngste, in gewisser Weise auch als der modernste und damit vollkommenste unter allen Stammbäumen.157 Diese belegten die zusammenhängende Entwicklung von Menschen und Affen. Die unvermeidbare Gemeinsamkeit mit einem ‚niederen‘ Wesen führte laut Haeckel jedoch letzt­lich dazu, dass der besondere evolu­tionäre Status des Menschen noch deut­licher hervortritt. In der Generellen Morphologie nutzte Haeckel die Stammbäume zum Beleg seiner „Thesen von der Continuität der Phylogense“158. Haeckel legte darin seine Grundüberzeugungen dar, denen zufolge die Arten ebenso wie verschiedene Entwicklungszustände eines Organismus auseinander hervorgingen (3. These), dass dies ein mechanischer, näm­lich durch den Kampf ums Dasein gesteuerter Prozess sei (4. These), und dass daraus wiederum folge, dass 156 Zitiert nach Breidbach, Olaf (1993): Vergleiche, was ähn­lich ist. Funk­tion und Begründung des Vergleichs in der Physiologie des 19. Jahrhunderts. In: Aufsätze und Reden der Senckenber­ gischen naturforschenden Gesellschaft, Frankfurt/M. (40), S. 137 – 154. Hier: S. 146 157 Vgl. auch Kleeberg 2005, 165. 158 Haeckel 1866 (2), 418.

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Abb. 18: Stammbaum der Phylen aus der Generellen Morphologie von 1866

jegliche älteren teleolo­g ischen Annahmen über einen Plan in der Natur falsch ­seien (5. These). In der neunten These legte er dar, dass entweder alle Organismen von einem Urstamm abstammen müssten oder eine „Collectivgruppe von mehreren Stammbäumen“ existiere, die so viele Stammbäume zusammenfasse, „als autogone Stammformen unabhängig von einander entstanden sind.“159 Haeckel vertrat die Annahme eines einzigen Urstammes; den Stammbaum der Phylen, den Haeckel hier beschreibt, zeichnete er und fügte ihn als Tafel seiner Schrift bei (Abb. 18). Während das zweite Feld (x-­f-­h-­y) noch am ehesten Ähn­lichkeit mit dem Stammbaum Darwins hat, ähnelt das erste Feld (s-­b -­d-­t) eher der Stammbaumdarstellung seines Freundes Schleicher, dessen Verdienste er in der Anthropogenie hervorhebt.160 Die Phylogenie des Menschen, also die Entwicklung verschiedener Menschenarten (gemeint sind hier die sogenannten Rassen) sei anhand der Entwicklung der Sprachen am besten nachzuvollziehen. Dabei vernachlässigte er die spekulativen Anteile, 1 59 Ebd., 419. 160 Vgl. Haeckel 1874, 364 ff.

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Abb. 19: Stammbaum der indogermanischen Sprachen nach August Schleicher, Abbildung aus der Anthropogenie, 4. Auflage 1891

­ elche die vergleichende Sprachforschung nach Schleicher ebenso auszeichneten w wie die vergleichende Physiologie 161 zugunsten von zumindest unklaren empirischen Befunden, die von ihm jedoch als gesichert beschrieben wurden: Diese klar nachweisbare Thatsache [der Analogie ­zwischen Sprach- und Artentwicklung, H. E.] erläutert vortreff­lich das analoge Verhältniss in der Descendenz der Wirbelthier-­Arten. Die phylogenetische „vergleichende Sprachforschung“ unterstützt hier als mächtiger Bundesgenosse die phylogenetische „vergleichende Zoologie“.162

Der Duktus ­dieses Zitats ist einschlägig für die Herangehensweise Haeckels, der dazu neigte, seine Thesen als Evidenzen anzumoderieren (an anderer Stelle sprach er davon, dass man sich „die Augen mit beiden Händen zuhalten“ müsse, wenn man die Ergebnisse der Sprachforschung und ihre Bedeutung für die Naturgeschichte 1 61 Vgl. Breidbach 1993. 162 Haeckel 1874, 364.

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Abb. 20: Stammbaum der Säugetiere in der Natürlichen Schöpfungsgeschichte, Abbildung aus der 8. Auflage 1889

ignorieren wolle).163 Stammbäume sind bei Haeckel das ultimative Modell für alles, was in der Welt geordnet und sortiert werden soll. Das gilt auch für die Wissenschaft selbst, die Haeckel ebenfalls naturalisiert, indem er ihre Genese verschiedent­lich mit einem Stammbaum vergleicht; „der verzweigte Baum der phylogenetischen Wissenschaft“ sei sogar ein „Baum der Erkenntnis“.164 Dabei interessierte ihn jedoch stets die Mög­lichkeit der Verzweigungen, nicht die unberechenbare Entstehung von Verzweigungen. In dieser Hinsicht verwundert es noch weniger, dass seine Version des Stammbaums der indogermanischen Sprachen (Abb. 19) stark dem Stammbaum der Säugetiere ähnelt, der in der Natür­ lichen Schöpfungsgeschichte ein paar Jahre zuvor gezeigt wurde (Abb. 20). Die von ihm aufgestellte Parallele ­zwischen den beiden Bereichen wird sinnfällig, indem sie augenfällig wird. Während unter den Sprachen das Hochdeutsche und das 1 63 Ebd., 358. 164 So in verschiedenen Auflagen der Natür­lichen Schöpfungsgeschichte; Haeckel 1889, 745 und ders. 1902, 758.

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Abb. 21: Stammbaum der Wirbeltiere, Tafel VII aus der Generellen Morphologie von 1866

Angelsäch­sische am höchsten Punkt der von Haeckel dargestellten Entwicklung stehen, führt unter den Säugetieren der Mensch das Tierreich an, auf der Vorstufe ist der Affe vermerkt. Nähme man die von Haeckel betonte Parallele z­ wischen Sprachentwicklung und Artentwicklung ernst, so legen diese Tafeln nahe, dass ‚der‘ Mensch wohl Hochdeutsch oder Angelsäch­sisch sprechen müsse. Diese Anordnung war weder auf der ersten Tafel aus der Generellen Morphologie so vorgesehen, auf welcher der Mensch überhaupt nicht vermerkt war, sondern ledig­lich in der oberen rechten Ecke unter den „Mammalia“ vom Betrachter imaginiert werden konnte, noch legte die Tafel VII zum Stammbaum der Wirbeltiere (Abb. 21)eine derartige Ausnahmestellung nahe. Auch in dieser Illustra­tion liegt der Schwerpunkt der Darstellung auf den Aspekten der Vielfalt der Arten und der auch historisch nachvollziehbaren Genealogie. Der Gedanke der „Sichtbarmachung von Evolu­tionszeit“, den Julia Voss für Darwins Diagramm als bestimmend herausgearbeitet hat, wurde von Haeckel in einer orga­ nischen Form umgesetzt, deren Streben nach oben ein telos in diese Evolu­tionszeit einschrieb, dessen Elimina­tion aus der Naturgeschichte als Verdienst Darwins gesehen

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wird.165 Das bestritt Haeckel nicht, in seinen Thesen zur Phylogenie propagierte er gerade, dass es keinen Plan gäbe, nach dem ein wie immer gearteter Schöpfer vorgehen könne. Das Element des Zufalls und das von vielen Faktoren bestimmte Leben auf einer dichtbewachsenen Uferstrecke (entangled bank), das Darwin beschrieben hatte, tritt jedoch bei den Bäumen, die Haeckel präsentiert, in den Hintergrund. Die geografische Spezia­tion, die Verteilung der Arten im Raum, die nicht diachron, sondern synchron abläuft und die einen ganzen Wald von Stammbäumen (oder eben eine „entangled bank“) im Bild zur Entsprechung gehabt hätte, scheint Haeckel als Kulisse der Evolu­tion unbekannt. Haeckels Anthropozentrismus überdeckt als Welt­ anschauung die Theorie. Diese Wiedereinführung der Teleologie, die Haeckel seit der Generellen Morphologie stillschweigend vornahm, gründet sich jedoch nicht allein auf eine tendenziöse Darwin-­Lektüre, ein Missverständnis oder wissenschaft­lichen Konservatismus. Bevor man sie als „methodolo­gisches Desaster“166 einstuft und damit auch abhakt, bleibt erst einmal der Zugriff auf ‚Natur‘ zu verstehen, der sich in Haeckels Stammbäumen ausdrückt. Olaf Breidbach hat in seinem Kommentar zu den Kunstformen der Natur gezeigt, dass Natur bei Haeckel als eine Bilderzählung aufgefasst wird, die erst die Wissenschaft in Form bringt.167 Die Erzählung davon, wie die Arten wurden, was sie sind, ist dabei nicht nur diejenige, die Haeckel mit am meisten beschäftigt hat, sie ist auch am schwierigsten in ein einziges Bild zu verdichten. Die Zwangsläufigkeit einer genealo­gischen Deutung dieser Geschichte wird von Haeckel dabei mit der einer Baumdarstellung enggeführt: Diese Gruppenstufen oder Kategorien des Systems, die Varietäten, Species, Genera, Familien, Ordnungen, Klassen u. s. w. zeigen unter sich stets ­solche Verhältnisse der Nebenordnung und Unterordnung, stets ­solche Beziehungen der Coordina­tion und Subordina­tion, dass man dieselben nur genealo­gisch deuten und bild­lich das ganze System nur unter der Form eines vielverzweigten Baumes darstellen kann. Dieser Baum ist der Stammbaum der verwandten Formengruppen und ihre Formenverwandtschaft ist die wahre Blutsverwandtschaft. Da eine andere Erklärung für die natür­liche Baumform des Systems gar nicht gegeben werden kann, so dürfen wir sie mittelbar als einen gewichtigen Beweis für die Wahrheit der Abstammungslehre betrachten.168

Dass der Stammbaum hier die Genealogie belegen sollte, aus der er selbst folgt, störte Haeckel insofern nicht, als dass er mit der Darstellung das Ziel erreichte, eine „übersicht­liche und compacte Darstellungsform, w ­ elche die Systematik auszeichnet“169 1 65 Siehe dazu bspw. Engels 1995, Rupke 2000 und Toepfer 2011. 166 Bredekamp 2006, 73. 167 Vgl. Breidbach 2006, 24. 168 Haeckel 1874, 88. 169 Haeckel 1866 (1), 39.

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Abb. 22: Stammbaum des Menschen aus der Anthropogenie, 4. Auflage 1891

zu finden, die noch dazu als „natür­lich“ zu beschreiben ist: Immerhin handelt es sich um einen Baum. Als Krönung dieser Systematik und als Ziel der Natur­ erzählung, die in der Abbildung zusammengefasst wird, fungiert der Mensch, und zwar nur deswegen, weil er auf seinen Stammbaum verweisen kann. Die Form der Genealogie, die H ­ aeckel hier betreibt, ist jedoch nicht nur Ausdruck eines historiografisch-­biolo­g ischen Interesses, sondern immer auch seiner monistischen Philosophie. Denn neben der temporalisierten Kette der Wesen, die er in Bild und Text zum Ausdruck bringt, ist die Einheit der Abstammung entscheidend, wie auch das Bestreben, einem klassifikatorischen horror vacui entgegenzuwirken, indem alle Arten, Gattungen, Familien etc. so zahlreich wie mög­lich bevölkert werden. Der Monismus entwirft eine Ikonografie, in der „die Welt um so vollkommener [ist], je mehr Dinge sie enthält,“170 ein Streben nach größerer Vollkommenheit setzt also keine Komplexitätsreduk­tion voraus, sondern vielmehr die Erhöhung

170 Kleeberg 2005, 161.

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von Komplexität, die durch die monstische Wissenschaft ins Bild gebracht und kausal­mechanisch erklärt wird.171 Schleicher hatte seinen Stammbaum nicht zuletzt daraufhin konzipiert, Sprache als funk­tionale Differenz ­zwischen dem Menschen und seinen nächsten Verwandten im Reich der Säugetiere festigen zu können. Darauf kann Haeckel nun einfach zurückgreifen und eine viel weiter reichende Annahme formulieren, nach der es nicht nur funk­tionale Differenzen z­ wischen Menschen und Affen gibt (von anderen Tieren ganz zu schweigen), sondern dass die Affen ledig­lich die Lebewesen sind, über deren Phylogenese die Natur einen Umweg nahm, um sich mit dem Mensch zu krönen. Die ikonografisch am deut­lichsten ausgeprägte Umsetzung ­dieses Befunds zeigt für Haeckel die Tafel zum Stammbaum des Menschen aus der Anthropogenie (Abb. 22). Aus der Stammbaum-­Variante der Natür­lichen Schöpfungsgeschichte mit Linien und geschweiften Klammern ist ein prächtiger Baum geworden. Der metaphorische Charakter des sich verzweigenden Stammes wird durch die Verwandtschaftsbeziehungen, die sich in Ästen materialisieren, bekräftigt. Der Baum symbolisiert Prozessualität als Wachstum und bestätigt die Topografie der Lebewesen, die Haeckel in ­diesem Baum anlegt. Durch die Darstellung des Baumes wird der Gedanke der relativen Planbarkeit in die Evolu­tion eingeführt, den ­Darwin nur für die Züchtung von Haustieren anerkannt hatte. Die hier vorgestellte Hierarchie wird nicht als wandelbar, sondern als eine statische Setzung präsentiert. Die Chance, Transforma­tion und damit die Flexi­bilität der Formen auf ein geeignetes Bild zu bringen, hat Haeckel nicht ergriffen. Sein Stammbaum steht nicht in einem Wald oder auf einer Wiese, sondern in einem völlig leeren Raum: Ihm fehlt eine Umwelt. Genau diese Umwelt war es jedoch, deren Bedeutung Darwin erkannt hatte, indem er die Auswirkungen des Wechselspiels verschiedener Lebewesen in einem Ökosystem zu erklären suchte. Die wortwört­liche Setzung der menschlichen Genealogie im Stammbaum benötigt die hier verwirk­lichte Ordnung: Der Gorilla sitzt auf dem einen Ast, der Orang-­Utan auf dem anderen, der Gibbon daneben. In dieser Welt hat jedes Lebewesen seinen Platz. Hierarchie und Prozess (näm­lich der Aufstieg des Menschen) werden in einer einzigen Figur verdichtet. Indem er den Affen auf einen Ast des Stammbaums des Menschen setzt, stapelt Haeckel Kollektivsymbole. Das „methodolo­gische Desaster“, von dem Bredekamp im Zusammenhang mit Haeckels Stammbäumen gesprochen hat, besteht in der Fixierung eines bestimmten Stadiums der Transforma­tion, die zu einem suggestiven Bild wird, indem eine Szene aus der Evolu­tion angehalten und auf Dauer gestellt wird. Damit erübrigt sich auch ein umständ­liches morpholo­gisches Verfahren, bei dem nach Homologien in der Embryonenentwicklung gesucht wird (auch wenn sich Haeckel durchaus sehr ausführ­lich mit dieser Methode auseinandergesetzt hat) – der Stammbaum des Menschen ist wie eine Landkarte lesbar. Wie bei Vogt wird auf 171 Vgl. ebd.

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dieser Karte ersicht­lich, dass die anthropolo­gische Differenz nicht über das Argument verschiedener Abstammungen konstruiert werden kann. Die Auflösung der Mensch-­ Tier-­Grenze in der biolo­gischen Systematik führt nicht zur Abschaffung von Differenz, sondern erlaubt vielmehr, eine feiner abgestufte Hierarchie vorzulegen. Der Pool von Lebewesen, innerhalb dessen klassifiziert werden kann, vergrößert sich (und das nicht nur bei Haeckel) durch die konsequente Anwendung der Evolu­tionslehre; zugleich wird die normative Aufladung der Schlussfolgerungen aus d­ iesem Erweiterungsprozess immer wieder neu ausgestaltet. Haeckels spezifischer Beitrag hinsicht­lich der Evolu­tion des Menschen in der Anthropogenie dürfte dabei davon profitieren, dass bereits drei Jahre vor dem Erscheinen des Werks Darwins Die Abstammung des Menschen (1871) vorlag, wo sich Darwin end­lich zu den Auswirkungen seiner Evolu­tionslehre auf die Entwicklung des Menschen geäußert hatte. In der deutschen Übersetzung, die wiederum Carus noch im Jahr der Erstveröffent­lichung besorgte, finden sich nun zwar keine Abbildungen der von Darwin mit so viel Ehrfurcht betrachteten Stammbäume, in seiner Rhetorik kommt er jedoch auf das Bild zurück, dessen Anschau­lichkeit er ähn­lich wie Haeckel betont. Obwohl der Mensch „das Wunder und der Ruhm des Weltalls“ sei, warnt er dabei davor, die genealogische Verbindung zu Simiaden und Lemuren als pein­liches Detail zu behandeln: Wir haben auf diese Weise dem Menschen einen Stammbaum von wunderbarer Länge gegeben, man könnte aber meinen nicht einen Stammbaum von edler Beschaffenheit. […] Wenn wir nicht absicht­lich unsere Augen schließen, so können wir nach unsern jetzigen Kenntnissen annähernd unsere Abstammung erkennen und wir dürfen uns derselben nicht schämen. Der niedrigste Organismus ist etwas bei weitem Höheres als der unorganische Staub unter unsern Füßen; und niemand mit einem vorurteilsfreien Geist kann irgendein lebendes Wesen, wie niedrig es auch stehen mag, studieren, ohne enthusiastisch über seine merkwürdige Struktur und seine Eigenschaften erstaunt zu werden.172

Während überhaupt das ganze Werk durchzogen ist von Beobachtungen Darwins, in denen er die sozialen Instinkte und empathischen Fähigkeiten der Tiere (auch der Affen) rühmt, so sind es Stellen wie diese, ­welche Haeckel verleitet haben dürften, Darwin ganz beim Wort zu nehmen: nicht zuletzt durch einen auf Dauer gestellten Enthusiasmus. Darwin weist mit seinen Äußerungen jedoch in eine andere Richtung, schließ­lich hatte er sein Werk ja auch nicht Ascent/Aufstieg des Menschen genannt, sondern Descent of Man. Haeckel sah sich nun berufen, genau diese Richtung zu korri­gieren und bringt den Gedanken des Aufstiegs zur Sprache:

172 Darwin 2009a (Die Abstammung des Menschen), 826.

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Wir machen uns lustig über alle kindischen Thorheiten, ­welche der lächer­liche Ahnenstolz der Adelsgschlechter seit den schönen Tagen des Mittelalters bis auf unsere Zeit hervorgebracht hat, und doch steckt ein gutes Stück von ­diesem unbegründeten Adelshochmuth in den allermeisten Menschen. Wie die meisten Leute ihren Familien-­Stammbaum lieber auf einen heruntergekommenen Baron oder womög­lich einen berühmten Fürsten, als auf einen unbekannten, niederen Bauern zurückführen, so wollen auch die Meisten als Urvater des Menschengeschlechts lieber einen durch Sündenfall herabgekommenen Adam, als einen entwicklungsfähigen und strebsamen Affen sehen. […] Ich muß jedoch gestehen, dass meinem persön­lichen Geschmacke die letztere Ascendenz vielmehr zusagt als die erstere Descendenz.173

Bei ­diesem Zitat handelt es sich um eine Erweiterung des Textes gegenüber der ersten Auflage. In der vierten Auflage ist eine deut­liche Zuspitzung des Textes auch gegenüber der dritten Auflage zu beobachten.174 Wo zuvor im 18. Vortrag „Die Ahnen-­Reihe des Menschen“ vorgestellt wird und Haeckel die Genealogie vom Moner über den Urfisch bis zum Affen und schließ­lich zum Menschen aufrollt, nennt er die entsprechenden Kapitel nun „Unsere fischartigen Ahnen“, „Unsere fünfzehigen Ahnen“ und eben „Unsere Affen-­Ahnen“. In dieser anheimelnden Naturgeschichte formuliert er die Abstammung von einem affenähn­lichen Vorfahren aggressiver, indem er sich mit dem Leser im Text zu einem „wir“ zusammenschweißt, der majestätische Plural wird durch den genealo­gischen Plural ersetzt. Die gegenwärtige Form der menschlichen Gattung war für Darwin in erster Linie durch Evolu­tionsvorteile in der Anatomie und günstige Umstände zustande gekommen, die eine Reihe von Veränderungen in Gang brachten, die wiederum Veränderungen unterworfen sein würden. Durch Haeckels Rede von einem „strebsamen Affen“, der im Verlauf der Evolu­tion sein Glück machen und sich in einer der nächsten Genera­tionen zu einem Menschen entwickeln könne, setzte unterschwellig ein Narrativ von Evolu­tion frei, in dem diese als gesteuerter Prozess erscheint, an den Lebewesen durch Anstrengung anschließen können. Dieser Gedanke tauchte bei Darwin nicht auf. Im Vordergrund stand bei ihm die Beobachtung des Zusammenhangs ­zwischen organischen Gegebenheiten, Verhalten und Umwelteinflüssen. Die Betonung einer mit den Affen geteilten Genealogie trotz funk­tionaler Differenzen ist die Folge: 173 Haeckel, Ernst (1891): Anthropogenie oder Entwickelungsgeschichte des Menschen. Wissenschaft­ liche Vorträge über die Grundzüge der menschlichen Ontogenie. 4. Aufl. 2 Bände (2). Leipzig: Engelmann. Hier: S. 844. 174 In der dritten Auflage spielt Haeckel noch nicht Ascendenz gegen Descendenz aus, zückt dafür aber die „Klassen“-Karte: Hier schreibt er davon, dass ihm sein Großvater väter­licherseits („ein einfacher schle­sischer Bauer“) lieber sei als der mütter­licherseits, der ein hoher Verwaltungsbeamter gewesen sei (Haeckel, Ernst (1877): Anthropogenie oder Entwickelungsgeschichte des Menschen. Wissenschaft­liche Vorträge über die Grundzüge der menschlichen Ontogenie. 3. Aufl. Leipzig: Engelmann. Hier: S. 729).

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Es ist nicht wahrschein­lich, daß ein Glied einer der anderen niederen Untergruppe durch das Gesetz analoger Abänderungen ein menschenähn­liches Geschöpf, welches den höheren anthro­ pomorphen Affen in so vielen Beziehungen gleicht, hätte entstehen lassen können. Ohne Zweifel ist der Mensch im Vergleich mit den meisten seiner Verwandten einem außerordent­lichen Betrage von Modifika­tionen unterlegen, und zwar hauptsäch­lich infolge seines bedeutend entwickelten Gehirns und seiner aufrechten Stellung.175

Das „Gesetz analoger Abänderungen“ wie auch die Beziehungen z­ wischen den anthropomorphen Affen und dem Menschen stellte Haeckel nicht allein in einem Argumenta­ tionsgang dar, sondern eben auch in seinen Illustra­tionen.176 Dadurch kommt einerseits zum Ausdruck, dass sich Haeckel weit mehr für die Systematiken interessierte, die sich aus der Evolu­tion immer neu ergaben, als für ihre Mechanismen, deren Beschreibung er von Darwin vollständig übernahm.177 Andererseits zeigt sich, wie stark Haeckel darauf setzte, Fragen der Naturwissenschaft ästhetisch zu beantworten. Deut­lich erkannt hat das der Populärwissenschaftler Ernst Krause alias Carus Sterne, der 1891 für die Zukunft die Entstehung einer evolu­tionistischen Ästhetik prophezeite, ­welche nicht nur mit eigenen Begriffen operieren würde, sondern auch das herkömm­liche Verständnis eines Kunstwerks auf den Kopf stellen sollte: Die alte Ästhetik war vom vollendeten Kunstwerk ausgegangen und die künftige wird mit dem werdenden beginnen. Entwicklungsgeschichte, das Zauberwort der neuen Naturforschung, biogenetische Grundgesetze, Erb­lichkeit, Anpassung, Fortschritt und Rückschlag werden auch Schlagworte einer künftigen Kunstgeschichte werden.178

Sterne fordert, dass die Kunst als Dienerin der Naturwissenschaft auftreten solle – das Gleiche hatte Sacher-­Masoch von der Poesie verlangt. Dazu mussten Poesie und Kunst die Anschau­lichkeit produzieren, auf ­welche die Naturwissenschaft zwingend angewiesen war. Haeckel versteht Anschau­lichkeit als Evidenz, seine Anschauung der Evolu­tion, durch die für ihn die ganze Welt verständ­lich wird, erhält dadurch Allgemeingültigkeit: „Diese ‚sicheren Beweise‘ [für die Abstammungsthese, H. E.] sind

175 Darwin 2009a (Die Abstammung des Menschen), 817. 176 Zum Gesetz analoger Abänderungen siehe die Embryonen-­Tafeln, die sich auch auf dem Foto aus dem Jenaer Volkshaus erkennen lassen. Dazu auch Nyhart, Lynn K. (1995): Biology Takes Form. Animal Morphology and the German Universities, 1800 – 1900. Chicago: University of Chicago Press, hier besonders Kapitel 5; Kolkenbrock-­Netz 1991. 177 Breidbach, Olaf (2002): The Former Synthesis: Some Remarks on the Typological Background of Haeckel’s Idea About Evolu­tion. In: Theory of Biosciences (121), S. 280 – 296. Hier: S. 286. 178 Zitiert nach Krauße, Erika (1995): Haeckel: Promorphologie und „evolu­tionistische“ ästhe­ tische Theorie. Konzept und Wirkung. In: Eve-­Marie Engels (Hg.): Die Rezep­tion von Evolu­ tionstheorien im 19. Jahrhundert. Frankfurt: Suhrkamp, S. 347 – 409. Hier: S. 355.

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längst vorhanden, und man braucht nur seine Augen zu öffnen, um sie zu sehen.“179 Tatsäch­lich musste man dazu nicht einmal in die Ferne schweifen, sondern konnte einfach in seinem Buch blättern. In seinem Schrifttum verschmilzt er damit prototypisch zum Fachgelehrten und „Weltanschauungsschriftsteller, der Wissen zu ‚Sinn’ verarbeitet“.180 Haeckel verweltanschau­lichte nicht nur die Wissenschaft, sondern zusätz­lich die Ästhetik.181

Höhepunkt: Mensch Als zentrales Medium dieser Verweltanschau­lichung(en) dient Haeckel das Gesicht der Säugetiere, nament­lich das des Menschen. Zusätz­lich zur Topografie der Evolu­tion verleiht Haeckel ihr so eine Ikone: Die Naturgeschichte wird anthropomorph. Als Träger von Individualität und Typus ist das Gesicht unübertroffen. ‚Die‘ Evolu­tion wird darin personalisiert; das Individuum haftbar gemacht. Haeckels Anthropologie entsteht aus dem Konflikt, einerseits die Menschheitsgeschichte als zusammenhängende Progressionsgeschichte erzählen zu wollen, in der aktuelle morpholo­gische Befunde die gemeinsame Abstammung von Menschen und Affen zeigen. Andererseits soll sich in der Anthropologie die Vollendung eines Schönheitsideals zeigen, indem die Evolu­tion der organischen Formen in einem idealen Objekt, näm­lich dem menschlichen Gesicht, ihren Höhepunkt erreicht. ‚Die‘ Geschichte ‚des‘ Menschen muss deshalb von Haeckel als Überwindungsgeschichte erzählt werden, in welcher die Affenabstammung durch ihre Transzendierung anerkannt wird.

Das Idealporträt der Natur Christoph Wagner hat für die Zeit vom Hochmittelalter bis zum 16. Jahrhundert davon gesprochen, dass die Geschichte der Individualisierung sich in der Geschichte des Porträts besser ablesen lasse als an schrift­lichen Quellen, weil es sich bei Porträts um eine „gemalte Anthropologie“182 handele, deren hohes Reflexionsniveau dem der entsprechenden Texte oft überlegen sei. Die geschriebenen Anthropologien verfolgen ein gegenläufiges Projekt: Sie suchen nicht nach der Individualisierung, 179 Auch bei dieser Formulierung handelt es sich um eine Erweiterung aus der vierten Auflage der Anthropogenie. Haeckel 1891, 99. 180 Thomé 2002, 356. 181 Vgl. Bayertz 1984. 182 Wagner, Christoph (2001): Portrait und Selbstbildnis. In: Richard von Dülmen (Hg.): Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Wien: Böhlau, S. 79 – 106. Hier: S. 79.

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sondern nach der Typisierung.183 Nicht die Person, sondern ‚der‘ Mensch soll erfasst werden. Während Haeckels Vorläufer sich in ihren Versuchen dabei mit der Morpho­ logie im Verbund mit Physiologie und Anatomie beschäftigten, setzt Haeckel die Morphologie nun ins Zentrum seines Interesses. Diesen Akzent sieht er dabei als Korrektur einer Schieflage in der Forschung: „Insbesondere nimmt die Physiologie sehr häufig für sich den höheren Rang einer erklärenden Naturwissenschaft in Anspruch, während sie der Morphologie bloss den niederen Rang einer beschreibenden Disziplin zugesteht.“184 Morphologie bezeichnet bei ihm eine Teildisziplin der Morphonomie, die von der Statik (der Lage) der verschiedenen Körperteile handelt.185 Dabei kann Haeckel die Spannung ­zwischen der Analyse und Beschreibung von Entwicklungsprozessen, die er im Zusammenhang mit der Deszendenzlehre behandeln will, und der statischen Grundausrichtung der Morphologie nicht auflösen.186 Die Privilegierung der Morphologie zur Erklärung des Erscheinungsbildes der Natur befördert schließ­lich die Privilegierung des Gesichts als anthropolo­g ischem Erkenntnis­objekt und Medium von Haeckels Konzept von Evolu­tion, worin sich dieser Konflikt deut­lich widerspiegelt. Die Entwicklung von Haeckels Morphologie steht in direktem Zusammenhang mit seiner Goethe-­Rezep­tion, die durch Ikonisierung und Identifizierung gekennzeichnet ist.187 Goethe, der den Begriff der Morphologie unabhängig von Karl Friedrich Burdach prägte, gilt Haeckel neben Lamarck als der Begründer der Evolu­tionstheorie. Haeckels eigener Beitrag zur Morphologie sollte nun darin bestehen, diese mit seinem genealo­ gischen Verfahren zu verbinden. Olaf Breidbach erklärt Haeckels Hang zur Morphologie unter anderem aus Haeckels „Hingabe“ an Goethe, die nicht nur dazu führte, dass Haeckel Briefe an seine Freundin Frida von Uslar-­Gleichen mit „Dein Wolfgang“ unterzeichnete, sondern auch zu einer bedingungslosen Übernahme von bestimmten Verfahren (wie der Typologie) in der vergleichenenden Anatomie führte;188 Goethes Verse „Alle Gestalten sind ähn­lich, doch keine gleichet der anderen/ Und so deutet der Chor auf ein geheimes Gesetz“189 dienten ihm als Leitspruch seiner eigenen Forschung, die nun durch die Deszendenztheorie das „geheime Gesetz“ enthüllen sollte. Entscheidend ist dabei die Kennzeichnung der typolo­gischen Verfahren als Analyse statischer

183 Siehe dazu auch den Rekurs auf Didi-­Hubermanns „Facies“-Begriff in Kapitel I. 184 Haeckel 1866 (1), 19. 185 Ebd., 20. 186 Vgl. auch Toepfer 2011, 628. 187 Besonders scharf kritisierte Emil Du Bois-­Reymond das innige Verhältnis zu Goethe, das ­Haeckel und auch andere Monisten pflegten. Siehe dazu Du Bois-­Reymond, Emil (1883): Goethe und kein Ende. Rede bei Antritt des Rectorats der Königl. Friedrich-­Wilhelms-­ Universität zu Berlin Am 15. October 1882. Leipzig: Veit. 188 Breidbach 2002, 285. 189 Haeckel 1874, 568.

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Strukturen, nament­lich des Skeletts.190 Goethe, der mit Burdach in Briefverkehr stand, wollte durch seine Morphologie eine „Reduk­tion der Formenvielfalt“ erreichen, indem er die Baupläne der Lebewesen anhand von Begriffen wie Homologie, Kovergenz und Analogie zu beschreiben suchte.191 Die Typologie, die lange Zeit von einem Schöpfungskonzept ausging, arbeitete im Grunde genommen ahistorisch, sodass Haeckel seine eigene Innova­tion in der Aufdeckung des historischen Prozesses sehen konnte, die zur nun vorzufindenden Typologie der organischen Formen führte.192 Das hier zu beobachtende Entwicklungsdenken 193 ergibt sich aus dem biogenetischen Grundgesetz und damit der Idee, dass sich in der Phylogenie letzt­lich die Ontogenie der Natur ausdrückt.194 Idealtypisch zu beobachten ist für Haeckel dieser Prozess in der Entwicklungsgeschichte des Menschen. Dem Gedanken der Onto­ genie der Natur folgt Haeckel und annonciert dies bereits im Titel seiner Natür­lichen Schöpfungsgeschichte, die im Untertitel unter anderem Vorträge über die Entwicklungslehre Goethes verspricht. Allerdings hatte Haeckel auch schon in der Generellen Morphologie Lamarck und Goethe so eindring­lich zu den geistigen Vätern der Evolu­tionslehre aufgebaut, dass Darwin teilweise mehr als endgültiger Vollstrecker, denn als Autor eigener Thesen auftritt: Der Ausgang desselben [des Kampfes um „die Festung der organischen Morphologie“ (Haeckel), H. E.] kann nicht mehr zweifelhaft sein, nachdem C h a r l e s D a r w i n vor sieben Jahren den Schlüssel zu jener Festung gefunden, und durch seine bewunderungswürdige Selec­tions-­Theorie die von Wolfgang Goethe und Jean Lamarck aufgestellte Descendenz-­Theorie zur siegreichen Eroberungs-­Waffe gestaltet hat.195 190 Ein paradigmatischer Fall ist dabei auch Haeckels/Goethes Auseinandersetzung mit dem Zwischenkieferknochen. Siehe dazu auch Blechschmidt, Stefan (2009): Goethes lebendiges Archiv. Mensch – Morphologie – Geschichte. Heidelberg: Universitätsverlag Winter. Besonders S. 249 ff. 191 Huber, Peter (2007): „Was wär’ ein Gott, der nur von außen stieße?“. Zur Goethe-­Rezep­tion in der Naturwissenschaft, insbesondere in der Physiologie des 19. Jahrhunderts. In: Christoph ­Cremer (Hg.): Vom Menschen zum Kristall. Konzepte der Lebenswissenschaften von 1800 – 2000. Wiesbaden: AIG I. Hilbinger Verlag (Edi­tion der Wissenschaft), S. 57 – 84. Hier: S. 60. 192 Grundlage für Haeckels typolo­gisches Konzept ist jedoch seine Kristallografie. Da für Haeckel Kristalle als Naturwesen ebenfalls beseelt waren, stellten sie geeignete ‚Modellorganismen‘ für seine Überlegungen dar (Breidbach 2002, 283). 193 Auch hier rekurriert Haeckel wesent­lich auf Goethe und seine Morphologie (vgl. ebd). 194 Breidbach 2002, 289. Haeckel übernahm in ­diesem Punkt auch viel von seinen Lehrern und Kollegen aus Würzburg und Berlin; das vergleichende Verfahren in der Anatomie hatte ­Haeckel bei Johannes Müller in Berlin erlernt, wo auch sein Freund und späterer Kollege Carl Gegenbaur studierte, der Schüler des Würzburger Anatomen Kölliker war (vgl. Nyhart 1995, 150 ff.). Im Austausch über ihre Studien verstärkte sich das gemeinsame Interesse an Embryonen-­Reihungen, wie sie auch noch auf dem Foto von 1907 aus dem Jenaer Volkshaus zu sehen sind, aber auch schon in den hier relevanten Texten eine wichtige Rolle spielten. 195 Haeckel 1866 (1), XV.

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Abb. 23: Keimesgeschichte des Antlitzes mit Mensch, Fledermaus, Katze und Schaf aus der Anthropogenie, 4. Auflage 1891

Der „Kampf ums Dasein“ wird bei Haeckel auf den Widerstreit der Ideen übertragen, der stets existenziell ist. Die ‚richtige‘ Auffassung von Morpholgie ist für Haeckel zentrales Element Lehre vom Menschen. Mit dieser Einschätzung der Morphologie ging er über Goethes Auffassung hinaus. Denn Goethe betrachtete die Morphologie ledig­lich als Hilfswissenschaft der Physiologie,196 der wiederum die Ästhetik „in Form einer Harmonielehre als Hilfswissenschaft“197 zur Seite gestellt ist. Dieses Anwendungsverhältnis der Ästhetik auf die Biologie, und hier speziell die Morphologie, wird bei Haeckel konstitutiv. Das deut­lichste Zeugnis dafür liefert die dritte Auflage der Anthropogenie 198, in der Haeckel auf eine visuelle Strategie setzt, um sein 196 Vgl. Toepfer 2011 (1), 624. Diese Einschätzung wurde auch von einigen Physiologen geteilt, Toepfer nennt Bergmann und Leuckart sowie Bernard (vgl. ebd., 628). 197 Ebd., 626. 198 Ich zitiere im Folgenden die dritte Auflage, die auch inhalt­lich teilweise von den vorangegangenen abweicht, um den Zusammenhang z­ wischen dem hier vorgestellten Argument zur Bildstrategie Haeckels und der betreffenden Ausgabe zu erhalten.

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Abb. 24: Verschiedene Lebensalter des Menschen in der Keimesgeschichte des Antlitzes aus der Anthropogenie, 4. Auflage 1891

Argument zu sichern. Hier findet sich erstmals die die Abbildung zur „Keimesgeschichte des Antlitz“ (Abb. 23, hier Abb. aus der vierten Auflage). Die Platzierung dieser Tafel wechselt im Verlauf der Publika­tionsgeschichte. In der dritten Auflage findet sie sich neben dem Titelblatt, in der vierten Auflage der Anthropo­genie von 1891 ist diese Abbildung durch eine andere Keimesgeschichte des Antlitzes ausgetauscht. Die ältere Darstellung ist hier in den Textcorpus eingegliedert, der sich nun auch schon auf zwei Bände erstreckt. Auf der ebenfalls von Haeckel angefertigten, neueren Zeichnung (Abb. 24) sind fünf Köpfe von Embryonen um das Frontalporträt einer jungen Frau gruppiert. Im unteren Bildteil ist links ein Kindergesicht und rechts das einer alten Frau abgebildet. Auch hier ist die Darstellung der zentralen Figur deut­lich in antikisierendem Stil gehalten. Die Anordnung der einzelnen Teile der Abbildung legt hier die Darstellung eines Lebenszyklus dar, in dem der Mensch nach dem Alter wieder in eine embryonale Phase eintritt. Die Keimesgeschichte des Antlitzes, die Haeckel als Quartett mit Fledermaus arrangiert, zeigt den Weg von homologen Keimen im Embryonalstadium hin zu unterschied­lichen, voll entwickelten Gesichtern von Säugetieren. Die Erklärung der

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Tafel wird an das Ende eines Abschnitts über die Entwicklung der Harnblase gesetzt: Die Abbildung stelle „das Gesicht von vier verschiedenen Säugethieren auf drei verschiedenen Stufen der individuellen Entwicklung“ dar; die Bezeichnung einzelner Teile der embryonalen Gesichter mit verschiedenen Buchstaben wird ebenfalls aufgelöst.199 Im Anschluss verweist Haeckel auf die Bedeutung der „Nasenform für die Schönheit der Gesichtsbildung“200 und auf verschiedene Stellen im Text, in denen die Anordnung der einzelnen benannten Teile erläutert wird. Eine Überprüfung der verschiedenen Textstellen ergibt, dass zwar mehrfach von der Entwicklung der Sinnes­ organe aus dem „indifferente[n] Hautblatt oder Exoderm der Gastrea“201 die Rede ist, dabei jedoch keine Erklärung für die Darstellung ausgerechnet dieser verschiedenen Individuen geliefert wird,202 vielmehr finden sich dort weitere Abbildungen zur Embryonalentwicklung des Menschen, nicht aber vergleichende Betrachtungen. Es ist auffällig, dass der Leser genau über diese Punkte im Text wenig Konkretes 199 Haeckel 1877, 649. 200 Ebd. Dabei versäumt er wiederum nicht, auf „niedere Menschenrassen“ zu verweisen, deren Nasenform stets etwas affenartig bleibe. 201 Ebd., 564. 202 Neben dem Schaf, das an das Lamm Gottes denken lässt, ist besonders die Fledermaus auffällig. Sie war von Linné noch in die Reihe der Anthropomorpha eingeteilt worden und wies für ihn eine besondere Nähe zum Menschen auf. Auch Darwin kommt an einem herausgehobenen Punkt auf die Fledermaus zurück: In der Zusammenfassung von Über die Entstehung der Arten erklärt er das Zustandekommen von Naturschönheit durch die natür­liche Zuchtwahl. Er schreibt dann: „Daß nach unseren Ideen von Schönheit Ausnahmen vorkommen, wird niemand bezweifeln, der einen Blick auf manche Giftschlangen, Fische, auf gewisse häß­ liche Fledermäuse mit einer verzerrten Ähn­lichkeit mit einem menschlichen Antlitz wirft.“ (Darwin 2009a (Über die Entstehung der Arten), 680). Haeckel dürfte diese Einführung der häss­lichen Fledermaus zupasskommen, die direkt mit dem schönen Menschengesicht in Kontrast gesetzt wird. Zu ­diesem Kontext äußert sich Haeckel jedoch nicht. Thomas Nagel hat in seinem berühmten Aufsatz What is it like to be a bat? die Frage nach der Körper-­Geist Verbindung gestellt und damit Kritik an materialistischen Theorien geübt, die seiner Meinung nach nicht berücksichtigen, dass es ein spezielles Gefühl dafür gibt, ein Wesen zu sein, das Bewusstsein hat. Seine Wahl der Fledermaus als ‚Vergleichslebewesen‘ zum Menschen begründet er so: „I have chosen bats instead of wasps or flounders because if one travels too far down the phylogenetic tree, people gradually shed their faith that there is experience there at all. Bats, although more closely related to us than those other species, nevertheless present a range of activity and a sensory apparatus so different from ours that the problem I want to pose is excep­tionally vivid (though it certainly could be raised with other species). Even without the benefit of philosophical reflec­tion, anyone who has spent some time in an enclosed space with an excited bat knows what it is to encounter a fundamentally alien form of life.“ (ders. (1974): What Is it Like to Be a Bat? In: The Philosophical Review, Vol. 83 (4), S. 435 – 450. Hier: S. 438). Abgesehen davon, dass auch er das Bild des „phylogenetic tree“ verwendet, ist es genau das prekäre Verhältnis von genealo­gischer Distanz und Nähe, das auch Haeckel umtreibt, das Nagels Aufsatz u. a. so brisant macht.

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erfährt, und der Text dort, wo eine Erläuterung der Ontogenese der Fledermaus oder der Katze zu erwarten wäre, auf die großen Ähn­lichkeiten der Sinnesorgane des Menschen und der Nasenaffen verweist.203 Es fehlt weiterhin eine Erklärung für die Auswahl gerade dieser embryonalen Entwicklungsstadien in Kontrast zu den voll entwickelten Individuen, bei denen wiederum eine Altersangabe fehlt, bei der jedoch auch zu fragen wäre, inwiefern sich darüber eine Vergleichbarkeit einstellen würde. Haeckel schreibt im letzten Vortrag seiner Abhandlung, in der er noch einmal alle seine Ergebnisse zusammenfasst: Das zweifellose und unbestreitbare Resultat dieser mit größter Unbefangenheit und Genauigkeit angestellten vergleichend-­anatomischen Untersuchung war der bedeutende Pithecometra-­Satz, den wir seinem Begründer zu Ehren das Huxleysche Gesetz genannt haben: daß näm­lich die körper­lichen Unterschiede in der Organisa­tion des Menschen und der uns bekannten höchst­ entwickelten Affen viel geringer sind als die entsprechenden Unterschiede in der Organisa­tion der höheren und niederen Affen.204

Er stellt fest, dass die Frage nach der Abstammungsthese das „Hauptgewicht“ in der ganzen Untersuchung habe.205 Warum also verzichtet er ausgerechnet bei dieser emblematischen Illustra­tion auf den Versuch, seine wichtigste These anhand eines Affen ins Bild zu bringen? Während der Aufstieg der Organismen zu „immer größerer Vollkommenheit“206 bei Haeckel seit der Generellen Morphologie im Text immer derart geschildert wird, dass sich der Leser von ausführ­lichen Darstellungen der Entwicklung der Moneren bis zum Menschen vorkämpfen muss, gehorchen seine Abbildungen einem anderen Regime. Der Leserichtung folgend wird der Blick immer zuerst auf den Menschen gelenkt. So verhält es sich bei dem Stammbaum des Menschen und auch hier. Dabei gleicht das obere Viertel linkerhand in dieser Abbildung einem lauten Paukenschlag, ist doch das Antlitz des Menschen, der hier präsentiert wird, einerseits in der Tradi­ tion der Christus-­Ikonografie zu sehen,207 andererseits aber dem Zeus Otricoli von ­Bryaxis  208 nachgebildet. Das wiederum ruft ein K­lischee über die Physiognomie 2 03 Haeckel 1877, 568. 204 Haeckel 1891, 842. Bei dieser Formulierung handelt es sich wiederum um eine Neuerung in der vierten Auflage, die Haeckel offenbar als neue Eskala­tionsstufe seiner Theorie nutzte. 205 Ebd. 206 Haeckel 1870, 248. 207 Vgl.: Clausberg, Karl (1997): Psychogenese und Historismus. Verworfene Leitbilder und übergangene Kontroversen. In: Olaf Breidbach (Hg.): Natur der Ästhetik – Ästhetik der Natur. Wien: Springer, S. 139 – 166. Hier: S. 141. 208 Die Zuschreibung gilt als nicht endgültig geklärt, vgl.: Dinkler, Erich (1977): Ikonographische Beobachtungen zum Christustyp der polychromen Fragmente des Museo Nazionale Romano. In: Gesta 18 (1), S. 77 – 87.

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Goethes auf, der vielfach äußer­lich mit Göttern der griechischen Antike verg­lichen wurde.209 Goethe selbst scheint diese Vergleiche wenigstens nicht behindert zu haben. 1813 stellte er eine Replik des Zeus von Otricoli im Gelben Saal seines Hauses am Weimarer Frauenplan auf, die viele Besuchern in ihrer Erinnerung mit dem Gesicht Goethes verschalten.210 Goethe/Zeus/Apollo wird zu einem Idealporträt des gött­ lichen Künstlers und Herrschers über die anderen Weimarer Götter (das Haus am Frauenplan beschreiben Besucher der 1820er-­Jahre auch als Olymp).211 Während die vielen Vergleiche mit Zeus/Jupiter das majestätische Moment an der Gesichtsbildung hervorheben, erinnert die Nähe zu Apoll noch an eine andere physiognomische Darstellung: Lavaters Darstellung des Frosches, der sich mithilfe leichter Verschiebungen in der Ausprägung des Profils in einer k­ urzen Sequenz zum Apoll wandelt, war und ist eine der bekanntesten Zeichnungen Lavaters, in der die Differenz ­zwischen Devianz (Tier) und Ideal (Gott) ikonografisch unmissverständ­lich ausbuchstabiert 212 und zu einem „formal-­morpholo­gischen Präzedenzfall“213 wurde. Auch als Ikone war Goethe weithin bekannt.214 Die Geschichte seiner Andachtsbilder wird bei Haeckel zusätz­lich mit der Christus-­Ikonografie kurzgeschlossen, die sich vielfach der an der Darstellung antiker Philosophen orientiert.215 Das Gesicht Christi als Medium, das auf entscheidende Weise formatiert, wie das „mentale oder 209 Zur Physiognomie Goethes siehe auch: Schaeffer, Emil; Göres, Jörn (Hg.) (1999): Goethe. Seine äußere Erscheinung. Literarische und künstlerische Dokumente seiner Zeitgenossen. Frankfurt: Insel Verlag. Die Geschichte dieser antikisierenden und divinisierenden Goethe-­ Darstellungen hat Silke Heckenbücher (2008) beschrieben: Prometheus, Apollo, Zeus/­ Jupiter – Goethe-­Bilder von 1773 bis 1885. Frankfurt/M. u. a.: Peter Lang. 210 Graf Hermann zu Pückler Muskau schreibt beispielsweise nach einem Besuch im September 1826 von Goethes „Jupiterantlitz“, gibt aber auch der Vermutung Ausdruck, dass Goethe selbst Sorge getragen habe, vom Besucher eben so gesehen zu werden (Heckenbücher 2008, 74 f.). 211 Ebd., 97. 212 Vgl. Schmidt, Dietmar (2011): Die Physiognomie der Tiere. Von der Poetik der Fauna zur Kenntnis des Menschen. München: Fink. Schmidt weist darauf hin, dass Lavater auch das Antlitz Christi als Gegenpol zur tierischen Devianz verwendete (S. 383). Diese christolo­gische Physiognomie Lavaters wurde von Herder scharf kritisiert (ebd., 236), Julia Voss berichtet, dass auch Darwin Lavaters Schriften als „Mist“ bezeichnete, obwohl er von deren Abbildungen durchaus fasziniert war (Voss 2007, 251). 213 Clausberg 1997, 143. 214 1861 zeigte das Berliner Schauspielhaus in seinem Konzertsaal eine Ausstellung mit Goetheporträts, zusätz­lich waren Repliken der bekanntesten Büsten zu sehen. Der Historiker Heinrich von Treitschke baute im vierten Teil seiner Deutsche[n] Geschichte im neunzehnten Jahrhundert von 1889 Goethe als urdeutschen Zeus auf und stellte ihm Heinrich Heine, der für die Goethe-­Hagiografie der Deutschen nicht viel Sympathie aufbringen konnte, als häss­lichen Zwerg an die Seite (vgl. Heckenbücher 2008, 277). 215 Dazu: Dobschütz, Ernst von (1899): Christusbilder. Untersuchungen zur christ­lichen Legende. 2 Bände. Leipzig: Hinrichs.

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empfundene Reale selektier[t]“ wird,216 ist das Gesicht des Menschen schlechthin: Humanität soll hier ihren höchsten Ausdruck erfahren. Dass dieser mit dem „­typischen Europäer“ assoziiert wird,217 macht sich Haeckel zunutze. Ihm steht dabei die christ­ liche Ikonentradi­tion zur Verfügung, insbesondere die Geschichte des Schweißtuchs (der Veronika).218 Hans Belting hat das Bild ­dieses idealen Gesichts „Urikone“ genannt und sich dabei auf verschiedene Tuchbilder bezogen: „Gleichzeitig ist es das Modell für die Urikone, deren Schönheit gerade die Nachbildungen besser herausbringen als das Original, das ohnehin nur die Idee der vollkommenen Ikone vertrat.“219 Die Reproduk­tion der vollkommenen Ikone, in der bei Haeckel die Gesichter Zeus’, Christi und Goethes und letzt­lich auch sein eigenes überblendet werden, ist dementsprechend vornehmste Aufgabe der Menschwerdung. Folgt man Belting, so wird das Amalgam aus Christus, Zeus und Goethe zu einem Original, als dessen Kopie sich Haeckel selbst verstehen durfte, betrachtete er sich doch als einen Jünger Goethes; durch die Stiftung des Monismus als naturwissenschaft­licher Religion wies er auch Parallelen zu Christus auf. Während es sich bei diesen Hintergründen der Abbildung um untergeordnete Aspekte handelt, ist entscheidend, dass das eigentüm­liche Quartett eine grafische Umsetzung einer anspruchsvollen These liefert, die so auf einen Blick verständ­lich werden soll. Die Reduk­tion der Menschheit auf den idealen Menschen, die Reduk­tion der Gesamtheit der Fledermäuse auf ein ideales Exemplar 220 steht für die vermeint­liche Evidenz der Verwandtschaft aller Lebewesen. Die Ontogenie des Menschen erfährt durch den Rekurs auf die Physiognomie nicht nur eine „Nobilitierung durch kulturhistorische Ausblicke“,221 sondern sie wird mit der Ontogenie der Natur überhaupt verschaltet: Der Mensch stellt 216 Deleuze, Gilles; Gutattari, Félix (1992): Tausend Plateaus. Berlin: Merve. Hier: S. 230. 217 Ebd., 242 f. 218 Das Gesicht: „Ein Clownskopf, ein weißer Clown, Pierrot Lunaire, ein Todesengel, ein heiliges Schweißtuch.“ (ebd.). 219 Belting, Hans (2004): Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. 6. Aufl. München: C. H. Beck. Hier: S. 251. 220 Dies drückt sich auch in der Umsetzung eines bestimmten Schönheitsideals aus, für das bärtige Gesichter eine gewisse Rolle spielen. Darwin hatte in Über die Abstammung des Menschen im 19. Kapitel über die „Sekundären Sexualcharaktere des Menschen“ einen Abschnitt eingebaut, der sich allein mit der Frage nach dem Zusammenhang von Behaarung und Schönheits­ ideal beschäftigt (vgl. Darwin 2009a, 1127 ff.). Dabei stellt er den Zusammenhang ­zwischen regional verschiedenen modischen Vorlieben und Sexualpräferenzen heraus und weist unter Bezugnahme auf ethnolo­gische Arbeiten auf viele vom europäischen Geschmack abweichende Haarmoden hin. Diese spielen für Haeckel keine Rolle, der unter Bezugnahme auf Darwin darauf hinweist, dass in der sexuellen Selek­tion bei den Affen gepflegte Bärte bei den Männchen einen großen Erfolg bei den Weibchen erzeugen. Modische Vorlieben werden dadurch erst naturalisiert und dann historisiert. Die Berücksichtigung einer kulturellen Evolu­tion hat in dem Verhältnis von Mensch und Affe bei Haeckel keinen Platz. 221 Clausberg 1997, 143.

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das Idealporträt der Natur dar, weil sich in sein Gesicht mit der Evolu­tion (hier als Keimesgeschichte auftretend) der Prozess eingeschrieben hat, der das Wirken der Natur überhaupt richtig zu erklären vermag. Der Mensch wird durch diesen Identifika­tionsprozess bei Haeckel zur Natur schlechthin, gleichzeitig damit wird die Natur anthropomorphisiert und erhält durch eben diese Anthropomorphisierung ein telos zurück – Naturerzählung läuft auf den Menschen zu. Die Notwendigkeit, seine Entwicklung durch verschiedene Vorformen und verwandte Arten zu erklären, führt zu einer „Teleologie der Zwischenziele“222, die anhand der exemplarischen Ontogenese von vier Individuen gezeigt wird. Deren Eingemeindung in die Phylogenese des Menschen, die für die Ontogenese der Natur einsteht, anthropomorphisiert sie als Teil der Natur. Die „monistische Einheit des Wahren, Guten und Schönen“223 bleibt im Gesicht des Menschen ablesbar.

Sequenzielle Genealogik Haeckels visuelle Teleologie lässt die Genealogie zu einer scheinbaren „Genea-­ logik“224 werden. Seine Version der Deszendenztheorie, auf deren teils rein synthetischen Charakter er selbst hinweist, ist durch d­ ieses Verfahren innovativ, da sie ein Bildwissen anbietet, dessen Zusammensetzung neu ist. Dabei stützt sich H ­ aeckel auf eine herkömm­liche Methodik, indem er Sequenzen anbietet, wie sie bereits von Camper und Lavater entworfen wurden. Haeckel hatte an diese Tradi­tion erinnernde Darstellungen bereits auf der Titelseite der Natür­lichen Schöpfungs­ geschichte (Abb. 25) angeboten, die einige Jahre vor der Anthropogenie erschienen war. Wiederum beginnt die Leserichtung hier bei dem Profil, das einer Plastik aus der grie­chischen Antike gleicht. Dieser Menschentypus soll den „Caucasier“ darstellen, der für ­Haeckel nicht nur in ästhetischer Hinsicht an ein antikes Ideal anschließt, sondern auch die höchstmög­liche intellektuelle Kapazität repräsentiert; nur der „Caucasier“ habe Geschichte gemacht 225 – ganz im Unterschied zu seinen nächsten Verwandten auf den ‚unteren‘ Rängen Naturgeschichte. Den Zusammenhang ­zwischen Physis und Kultur stellt H ­ aeckel durch ein suggestives

2 22 Vgl. Kleeberg 2005, 150. 223 Ebd., 79. 224 Der Begriff stammt von Olaf Breidbach, der die Bildsequenzen Ernst Haeckels im Zusammenhang mit dessen Arbeiten über die Radiolarien untersucht hat: „Die Formreihen, in denen er die Vielfalt seiner Radiolarien einband, erschienen ihm in der Idee einer Evolu­tion als Reihe überhaupt erst einsichtig. Die Formreihe als Genea-­Logik zu interpretieren, erlaubte es ihm, die Vielfalt als Einheit anschau­lich zu haben, ohne dazu doch ein äußeres Prinzip bemühen zu müssen.“ (Breidbach 2006, 21). 225 Haeckel 1870, 615

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Abb. 25: Die Familiengruppe der Katarrhinen aus der Natürlichen Schöpfungsgeschichte, hier aus der Ausgabe von 1870. In der ersten Auflage war eine kleinere Auswahl von Profilen neben dem Vorsatzblatt abgebildet.

Nebeneinander her, das Phänotyp und Ethnie untrennbar verknüpft.226 Dieses Verfahren wurde bei ihm konstitutiv. Die fehlende Kultur der Menschen, die keine weiße Haut haben, ist an der Reihe abzulesen und soll als Effekt einer bestimmten Abstammungs­g eschichte verständ­lich werden. Unterbe­lichtet bleibt bei Haeckel die Mög­lichkeit, die Abbildung gegen die Leserichtung zu deuten und damit den Affen als Ursprung aller Schönheit und Kultur zu deuten. Sofern er dem Affen Schönheit zuspricht, geschieht dies als Provoka­tion: Die physiognomische Aehn­lichkeit in der Gesichtsbildung, durch w ­ elche uns diese Menschen-­ Affen überraschen, nimmt jedoch mit dem zunehmenden Alter immer mehr ab. Dagegen bleibt sie zeitlebens bei dem merkwürdigen Nasen-­Affen von Borneo bestehen, dessen schön geformte statt­liche Nase mancher Mensch, bei dem d­ ieses Organ zu kurz gerathen, mit Neid betrachten 226 Eine Tafel der Anthropogenie legt das ebenfalls nahe. Sie zeigt ein „Catarhinen-­Quartett“: einen Orang-­Utan, einen Schimpansen und einen Gorilla, die auf verschiedenen Ästen eines Baumes turnen. Auf dem Ast unter dem Gorilla ist jedoch auch noch ein schwarzer, unbekleideter Knabe abgebildet.

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wird. […] Bekannt­lich sind viele Menschen der Ansicht, dass gerade in ihrer G e s i c h t s b i l d u n g sich das „E b e n b i l d G o t t e s “ unverkennbar abspiegele. Wenn der Nasenaffe diese sonderbare Ansicht theilt, dürfte er darauf wohl mehr Anspruch erheben, als jene kurznasigen oder mit Stumpfnase versehenen Menschen.227

Zusätz­lich entspricht die Profil-­R eihung auf dem Titel der Natür­lichen Schöpfungsgeschichte Haeckels Methode bei der Darstellung von Analogien in der Embryonalentwicklung verschiedener Organismen, die er in allen seinen Werken zur Deszendenztheorie verwendete. Die Ähn­lichkeit der Embryonen verschiedener Wirbeltiere sollte verdeut­lichen, dass in einem frühen Stadium der Entwicklung, das dem Urtypus des jeweiligen Lebewesen besonders nahe kommt, die gemeinsame Abstammung von einer Stammform gut erkennbar ist. Insbesondere auf den entsprechenden Tafeln der Anthropogenie (Taf. 3 und 4) fällt auf, dass die Embryonen-­Reihen in ihrer Ordnung den ästhetischen Ideen H ­ aeckels folgen. Diese werden zwar teilweise durch Befunde im Text gedeckt, lassen sich davon aber nicht beirren: Die Embryonalentwicklung des Kaninchens, das auf dieser Abbildung dem Menschen am ähn­lichsten sieht, spielt im Text keine weiter wichtige Rolle.228 Zu der Taktik der sprach­lichen Evidenzerzeugung tritt in den Bilderfolgen zur Phylogenese bei Haeckel nun auch noch der Versuch einer visuellen Evidenzerzeugung hinzu. Die Bilderfolgen werden mit dem Hinweis versehen, dass sie die „mehr oder minder bedeutende Uebereinstimmung versinn­ lichen, ­welche hinsicht­lich der wichtigsten Formenverhältnisse ­zwischen dem Embryo des Menschen und dem Embryo der anderen Wirbelthiere“229 ­bestehen. Die Übereinstimmung wird hiernach unmittelbar sinnfällig, indem sie als visueller Eindruck wahrgenommen wird. Deszendenztheorie wird bei Haeckel zur anthropolo­g ischen Offenbarung:

2 27 Haeckel 1891, 363. 228 Die Frage nach der rechtmäßigen Verwendung seines Bildmaterials war schon früh von Kritikern aufgegriffen worden (siehe bspw. Brass, Arnold (1908): Das Affen-­Problem. Professor E. Haeckel’s Darstellungs- und Kampfesweise. Leipzig). Sie erhielt sich jedoch über eine erstaun­lich lange Zeit, was nicht zuletzt auf die große Autorität und Bekanntheit Haeckels hinweist. Zur Kritik an der Embryonen-­Darstellung bei Haeckel siehe Richards, Robert J. (2009): Haeckel’s Embryos: Fraud Not Proven. In: Biology & Philosophy 24, S.  147 – 154. Richards geht hier auf die Vorwürfe eines Artikels in Science von 1997 ein, der die Manipula­ tion des Bildmaterials bei Haeckel angeprangert hatte: Haeckel habe die Embryonen zu ungenau gezeichnet und damit seiner These von der großen Ähn­lichkeit der Embryonen in einem frühen Stadium ihrer Entwicklung übertrieben. Haeckel verbesserte die Abbildungen der Embryonen in der Anthropogenie von Ausgabe zu Ausgabe und konnte seinen Kritikern teilweise gerecht werden. 229 Haeckel 1874, 256.

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Die sorgfältige Untersuchung und denkende Vergleichung der Embryonen des Menschen und anderer Wirbelthiere in d ­ iesem Stadium der Ausbildung ist höchst lehrreich und offenbart dem denkenden Menschen tiefere Geheimnisse und schwerwiegendere Wahrheiten, als in den sogenannten „Offenbarungen“ sämmt­licher Kirchenreligionen des Erdballs zusammengenommen zu finden sind.230

Pithecanthropus Alalus – missing link Leitend scheint bei dieser Darstellungspraxis der Gedanke des Übergangs und des Zusammenhangs zu sein, der sich in der Anähn­lichung verschiedener Formen über Zwischenstufen hinweg ausdrückt. Bereits in der Generellen Morphologie war Haeckel daran gelegen, beispielsweise Übergangsformen z­ wischen Moneren und Kristallen finden:231 Damit wäre die monistische Grundauffassung belegt, dass es keine Grenze ­zwischen belebter und unbelebter Materie gibt. Die Suche nach einem Verbindungsglied z­ wischen verschiedenen Arten ist eine Fortführung von Fragestellungen, die Haeckel von Beginn an umtrieben, und die in ihrer Tragweite die Abstammungsthese noch überholen.232 Diese Suche führt Haeckel zum anthropolo­gischen Dreieck mit den Eckpunkten Mensch – missing link – Affe, dessen Konstruk­tion ihm erst gelang, als er glaubte, dass nun end­lich der Pithecanthropus alalus (ein sprachloser Urmensch) gefunden sei, der Teil seiner Entwicklungslehre war. Sie geht mit einem bestimmten Modell von Geschichte einher, das die verschiedenen Entwicklungsstadien des Menschen mit Kompetenzerwerb (beispielsweise der menschlichen Sprache) verbindet. So führt Haeckel schon in der Generellen Morphologie eine monistische Kultur-­Zeit als erdgeschicht­liche Periode ein.233 Die Kultur ist laut Haeckel jedoch nur dem Menschen gegeben, nur er kann diese Entwicklungsstufe erreichen. Mit dieser Einschätzung bezieht sich Hackel noch auf die Kette oder Stufenleiter der Wesen, in der die Systematik der Arten unverrückbar festgelegt ist. Das missing link als fehlendes Glied in der Kette musste dementsprechend gefunden werden, um dem Anspruch auf Vollständigkeit zu entsprechen, der durch d­ ieses Konzept einer biolo­gischen Systematik vorgegeben ist. Haeckel stützte sich bei seinen Beiträgen zum Thema unter anderem auf den Fund des sogenannten „Affenmenschen von Java“, der kurz vor der Veröffent­lichung der vierten Auflage der Anthropogenie die Debatte um das missing link neu belebte. 2 30 Ebd., 255. 231 Vgl. Kleeberg 2005, 122. 232 Das gilt beispielsweise auch für Haeckels Forschung zu den Seescheiden, die er als Übergangsform ­zwischen Wirbellosen und Wirbeltieren betrachtete. Aus der Annahme, dass es hier ein missing link gäbe, folgte für ihn, dass auch in anderen Bereichen diese Dreiecksfigur aufzufinden wäre. 233 Kleeberg 2005, 193.

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Der Entdecker des Pithecanthropus erectus war Eugène Dubois (1858 – 1940), der bei Max Fürbringer und Carl Gegenbaur studiert hatte, somit von einem Haeckel-­ Schüler und einem Haeckel-­Freund ausgebildet wurde. Ab 1887 arbeitete er acht Jahre als Militärarzt in Indonesien, das damals eine niederländische Kolonie war. Auf Java begann er mit Grabungen, die ihn zu bislang unbekannten fossilen Resten von Übergangsformen z­ wischen Mensch und Affe führen sollten. 1891 stieß er dabei auf einen Schädel, dessen Beschreibung Haeckel und viele andere davon überzeugte, nun diese Übergangsform vor sich zu haben. Erste Arbeiten zu seinen Funden veröffent­ lichte Dubois 1894.234 Haeckel entwickelte zu dem Fundort des Skeletts von Java in Anlehnung an den Zoologen Philip Lutley Sclater eine paläontolo­g ische Theorie, derzufolge auf einem mittlerweile zerstörten Kontinentalteil z­ wischen Madagaskar und Südindien („Lemuria“) die Pithecanthropi zu Hause gewesen s­ eien, wovon das von Dubois gefundene Skelett Zeugnis ablege.235 Damit konnte Haeckel nun eine weitere Verortung vornehmen: Nach der theoretischen Einordnung eines Zwischenglieds in ein Stammbaummodell fand sich nun auch noch fossiles Material, das den Sprung von einem mind map auf eine Landkarte ermög­lichte. Dementsprechend jubilierte Haeckel über Dubois’ Fund: „eine wahre Übergangsform vom Affen zum Menschen, das vielgesuchte ,fehlende Glied‘ in der Reihe unserer Vorfahren, das ,Missing link‘!“236 Schon 1866 hatte Haeckel in der Generellen Morphologie den Namen Pithecanthropus für das vermeint­liche Zwischenglied geprägt und konnte nun Belege für seine Idee anführen. Sie erlaubten es ihm auch, die Ahnengalerie des Menschen zu vervollständigen, die er in der Natür­lichen Schöpfungsgeschichte aufgestellt hatte. In den Ausgaben, die auf den Fund des ‚Affenmenschen’ von Java folgen, gibt Haeckel vierundzwanzig Stufen an, die der Mensch überwunden hat, bevor er seine aktuelle Gestalt annahm: Vierundzwanzigste Ahnen-­Stufe: Affenmenschen (Pithecanthropi) Obwohl die vorhergehende Ahnen-­Stufe den echten Menschen bereits so nahe steht, dass man kaum noch eine vermittelnde Zwischenstufe anzunehmen braucht, können wir als eine ­solche 234 Zu ­diesem Fund gibt es eine Reihe instruktiver Arbeiten, die Informa­tionen hier stammen von Krauße, Erika (2000): Pithecanthropus erectus Dubois (1891) in Evolu­tionsbiologie und Kunst. Hypothese – Fund – Rezep­tion. Ernst Haeckel – Eugène Dubois – Gabriel von Max. In: Brömer; Hoßfeld; Rupke (Hg.) – Evolu­tionsbiologie von Darwin bis heute, S. 69 – 87. 235 Vgl. Krauße 2000, 70. 236 Haeckel, Ernst (1902): Natür­liche Schöpfungsgeschichte. Gemeinverständ­liche Vorträge über die Entwicklungslehre. Mit dem Porträt des Verfasser und mit 30 Tafeln, sowie zahlreichen Holzschnitten, Stammbäumen und systematischen Tabellen. 10., verbesserte Auflage. Berlin: Reimer. Hier: S. 716. Bei der Untersuchung von Aussagen Haeckels zur Frage des missing link sind dem Zeitpunkt des Fundes von Dubois entsprechend die Auflagen von ­Haeckels Werken heranzuziehen, die nach 1891 erschienen; die achte Auflage erschien 1889, die neunte 1898.

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dennoch die s p r a c h l o s e n Ur m e n s c h e n (Alali) betrachten. Diese Affenmenschen oder Pithekanthropen lebten wahrschein­lich erst gegen Ende der Tertiärzeit. Sie entstanden aus den Menschenaffen oder Anthropoiden durch die vollständige Angewöhnung an den aufrechten Gang und dieser entsprechende stärkere Differenzierung der beiden Beinpaare. […] Fünfundzwanzigste Ahnen-­Stufe: Menschen (Homines) Die echten Menschen entwickelten sich aus den Affenmenschen der vorhergehenden Stufe durch allmäh­liche Ausbildung der thierischen Lautsprache zur gegliederten oder articulirten Wortsprache.237

Als Voraussetzung der Ausbildung der Sprachfähigkeit nennt auch Haeckel den aufrechten Gang; beide Merkmale versteht er als „Anpassungs-­Thätigkeiten […] die Hebel zur Menschwerdung waren.“238 Nach einigem Aufwand, den Haeckel betrieben hat, um über die Morphologie verschiedener Affen- und Menschenarten die Kalibrierung der Evolu­tion zu visualisieren, führt er nun an entscheidender Stelle wieder den Erwerb funk­tionaler Differenzen als Faktor für das Menschsein ein,239 möchte sie jedoch mechanisieren, indem er sie durch die Evolu­tion des Körpers begründet. Die Tatsache, dass sich Haeckel hier nicht wie sonst auf das von ihm selbst kreierte „Anschauungswissen“240 verlässt, mag einerseits daran liegen, dass sich der Anpassungsprozess, von dem hier die Rede ist, nicht in der von ihm geschätzten Genealogik ins Bild bringen lässt. Das „äußere Prinzip“,241 als welches die Evolu­tion eigent­lich funk­tioniert, will Haeckel nicht darstellen, weil es seinem schematisch-­ typolo­gischen Verfahren zuwiderläuft. Die natür­liche Welt Ernst Haeckels erschließt sich erstens über Sequenzen, die den für die Evolu­tion entscheidenden Gedanken der Prozessualisierung durch die Augenbewegung des Lesers aufnehmen, und zweitens über apodiktische Urteile über die eigene Theorie. Die beständige Produk­tion von Dissensüberschüssen wird dabei nonchalant in Kauf genommen, wie folgende Äußerung aus dem 1898er Vortrag Über unsere gegenwärtige Kenntnis vom Ursprung des Menschen anzeigt:

2 37 Haeckel 1902, 727. 238 Haeckel 1902, 731. 239 Giorgio Agamben hat diesen Punkt in Das Offene zum Anlass genommen darauf hinzuweisen, dass der Linguist Heymann Steinthal bereits einige Zeit vor Haeckel über ein Entwicklungsstadium des Menschen reflektierte, in dem dieser der Sprache noch nicht mächtig gewesen sei. Laut Agamben stellen Steinthals Äußerungen zum Sprachursprung, bei dem das Humane immer schon vorausgesetzt wird, eine frühe Aufdeckungen „der Aporien der Haeckelschen Lehre vom Homo alalus [dar], und noch allgemeiner dessen, was man die anthropolo­gische Maschine der Moderne nennen kann“ (Agamben, Giorgio (2003): Das Offene. Der Mensch und das Tier. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Hier: S. 44). 240 Breidbach 2006, 17. 241 Ebd., 21.

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Wenn wir den heutigen Stand der Anthropogenie vom allgemeinsten Gesichtspunkt aus betrachten und alle empirischen Argumente derselben zusammenfassen dann dürfen wir heute mit vollem Rechte sagen: D i e A b s t a m m u n g d e s M e n s c h e n v o n e i n e r a u s g e s t o r b e n e n t e r t i ä r e n P r i m a t e n - ­K e t t e i s t k e i n e v a g e H y p o t h e s e m e h r , s o n d e r n s i e i s t e i n e h i s t o r i s c h e T h a t s a c h e . Natür­lich lässt sich diese Thatsache n i c h t e x a c t beweisen; wir können nicht alle die unzähligen physika­lischen und chemischen Prozesse nachweisen, w ­ elche im Laufe von m e h r a l s H u n d e r t J a h r m i l l i o n e n allmälig vom einfachsten Monere und von der einzelligen Urform bis zum Gorilla und zum Menschen hinauf geführt haben. Aber dasselbe gilt auch von allen anderen historischen Thatsachen.242

Andererseits konnte sich Haeckel in der Produk­tion von Bild- und Anschauungswissen über die Abstammungsthese auf die Arbeiten des Malers Gabriel von Max stützen, dessen ästhetische Antworten auf anthropolo­g ische Fragen ideolo­g isch ähn­lich radikal wie die von Haeckel ausfielen. Die Anthropologie, die von Max sich vorstellte, ist aber eine ganz andere als die napoleonische Wissenschaft, die Ernst Haeckel entworfen hat.

4. „Ideal Chimpanze“ und „aufrecht gehendes Lügenthier“. Mensch und Affe bei Gabriel von Max Einleitung Über Gabriel von Max’ (Abb. 26) Gemälde Pithecanthropus alalus (1894, Taf. 5) konnte sich Ernst Haeckel nicht lobend genug äußern: „die Phantasie des genialen Künstlers“ habe das missing link „wieder ins Leben gerufen“.243 Mit der leibhaftigen Präsenz des Pithecanthropus, die Haeckel hier beschwor, hatte der Maler Gabriel von Max seinen Kollegen Haeckel zum 60. Geburtstag beehrt, das Gemälde hängt auch heute noch im Ernst-­Haeckel-­Haus in Jena. Es zählt zu den berühmtesten Werken des 1840 in Prag als Sohn eines Bildhauers geborenen und 1915 bei München gestorbenen Gabriel Cornelius Max.244 Bereits im Jahr seiner Übergabe an Ernst Haeckel zirkulierte es in verschiedenen Reproduk­tionen, in der Zeitschrift Die Kunst unserer Zeit erschien beispielsweise eine Abbildung des Gemäldes, die von einem Text eines gewissen Bruno Stern begleitet wurde:

242 Haeckel, Ernst (1898): Ueber unsere gegenwärtige Kenntniss vom Ursprung des Menschen. Bonn: E. Strauss, S. 30. 243 Haeckel 1902, 716. Zu Haeckels Sicht auf den Pithecanthropus vgl. auch Kemp 2007, 206 f. 244 Den Adelstitel erhielt er erst im Jahr 1900.

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Abb. 26: Gabriel von Max mit einem seiner Affen, ohne Datum

Wie meisterhaft dem grossen Künstler gelungen ist, in seinem „s p r a c h l o s e A f f e n m e n s c h e n“ die hypothetische, von der Darwinschen Theorie geforderte „U e b e r g a n g s f o r m v o m M e n s c h e n a f f e n z u m Ur m e n s c h e n “ plastisch darzustellen, kann nur Derjenige vollkommen würdigen, der die dazu erforder­lichen Vorkenntnisse in der vergleichenden Anatomie und Zoologie besitzt.245

Thomas Bach hat die begründete Vermutung geäußert, dass es sich bei „Bruno Stern“ um ein Pseudonym Ernst Haeckels handelt;246 abgesehen von den schrift­ lichen Zeugnissen zur Publika­tionsgeschichte des ­kurzen Beitrages sprechen auch der hohe Ton, der hier angeschlagen wird, der häufige Gebrauch des Sperrsatzes, sowie einige sehr ähn­lich lautende Formulierungen in einem Brief von Haeckel an Gabriel von Max 247 für Bachs These. Weiterhin hebt Stern/Haeckel die „Forderung“ der Darwin’schen Theorie nach einer Übergangsform hervor, die so nie 245 Stern, Bruno [Ernst Haeckel] (1894): Pithecanthropus alalus. In: Die Kunst unserer Zeit (II), S. 55 – 56. Hier: S. 56. 246 Vgl.: Bach, Thomas (2010): Über den wechselseitigen Einfluss von Wissenschaft und Kunst. Gabriel von Max und Ernst Haeckel in Briefen. In: Helmut Friedel und Karin Althaus (Hg.): Gabriel von Max. Malerstar, Darwinist, Spiritist. München: Hirmer, S. 282 – 294. Hier: S. 288. Bach zieht diese Annahme aus einem Briefwechsel ­zwischen Haeckel und Hanfstaengl, dem Herausgeber der Zeitschrift. 247 Der Brief findet sich in voller Länge ebd., 284.

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bei Darwin expliziert worden ist, wohl aber bei Haeckel selbst, der hier seine Theo­rie ein weiteres Mal ins Bild gebracht und damit bestätigt sehen kann. In seiner Rezension nimmt die Beschreibung der „Madonna pithecoides“ 248 einen herausgehobenen Platz ein, die Träne in ihrem Auge interpretiert er als Antizipa­ tion des Unglücks, das sowohl ihrem Kind bevorsteht, als auch der nachfolgenden Menschheit.249 Von Max selbst zeigte sich dankbar für die Reak­tion Haeckels, mit dem er seit etwa 1892 in Kontakt stand,250 und nutzte die Gelegenheit, um eine weitere Zusammenarbeit anzuregen: Hochverehrtester Professor, Sie wissen nicht ­welche Freude ich empfinde, daß Sie meine Skizze so gütig annahmen, fast war ich eher auf eine Strafpredigt gefasst, ­welche etwa mit dem ­Refrain endigt „Schuster bleib etc.“ […]. Sollte in einer neuen Auflage Ihrer „Natür­lichen Schöpfungsgeschichte“ die Tafel mit den Affenprofielen wieder erscheinen, so würde ich mich gern antragen selbe zu zeichnen nach Ihrem Wunsche und Angaben, da ich das Material dazu seit langen Jahren gesammelt habe.251

Zu dieser Illustra­tion sollte es nicht kommen, Max fertigte ledig­lich eine Zeichnung mit dem Titel „Apotheose des Entwicklungsgedanken“ für Haeckels Wanderbilder 252 an, auf der eine nackte junge Frau in Venuspose von acht verschiedenen Affenarten umringt einer Höhle entsteigt.253 Die Pithecanthropoiden-­Gruppe erlangte jedoch sowohl durch den Druck als auch durch verschiedene Ausstellungen, in der das Gemälde gezeigt wurde, einen hohe Bekanntheit. Sie nimmt insofern rezep­ tionsgeschicht­lich eine Schlüsselstellung in der Auseinandersetzung mit den Arbeiten Gabriel von Max’ ein und verdichtet zentrale ikonografische Th ­ emen seiner Arbeit zu einem Schlüsselwerk seiner Anthropologie. Diese fand neben Haeckel auch der Bildhauer Wilhelm Umlauff so überzeugend, dass er sich bei dem Münchner Maler danach erkundigte, ob er nach dem Vorbild des Gemäldes eine Affengruppe modellieren dürfe, und setzte tatsäch­lich das Bild in einer Gorillaplastik um.254 Die Autorität von Max’ lebte zu d­ iesem Zeitpunkt nicht allein von seinen künstle­ rischen Leistungen, sondern auch von seinem damaligen Status als anthropolo­gische

248 Stern 1894, 56. 249 Vgl. ebd. 250 Vgl. Bach 2010, 282. 251 Zit. n. Bach 2010, 286. 252 Vgl. ebd. 253 Die Illustra­tion findet sich abgedruckt bei Bach 2010, 292. Hier wird auch anhand des Briefwechsels von Gabriel von Max und Ernst Haeckel deut­lich, wie die beiden zusammen an der Entwicklung der ‚richtigen‘ Darstellung der Apotheose arbeiteten. 254 Vgl. Lange 2006, 120.

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Kapazität. Sein Renommee war auch durch seine Sammlung anthropolo­g ischer und ethnolo­g ischer Objekte begründet, die etwa 60.000 bis 80.000 Stücke umfasste.255 Von Max’ Werk wird von dem zeitgenös­sischen Kritiker Franz Meissner als „seltsam-­fremdartig“ und „poetisch-­packend“ beschrieben, vor allem aber hebt er seine „starke Eigenart“ hervor, das in seiner „Eigenthüm­lichkeit nicht nachzumachen“ sei.256 Als entscheidender Faktor dieser Originalität wird von Meissner wie auch von anderen Autoren 257 die große Empfindsamkeit genannt, mit der Max seine Th ­ emen inszenierte. Dazu gehören neben den Affenmotiven, um die es hier geht, auch eine Reihe von Madonnendarstellungen und spiritistischen Gemälden.258 Anhand der Affenbilder verdeut­licht Meissner jedoch, dass Poesie und Naturwissenschaft die „ursprüng­lichen Vorstellungskreise“259 des Malers ­seien, innerhalb derer er die Affen als dem Menschen gleichwertige, wenn auch primitive Wesen wahrnehme.260 Meissner und seine Kollegen halten von Max’ Affen für Indizes seiner Beschäftigung mit den Lehren Darwins, ein Thema, das in seiner ganzen Konsequenz in den meisten Fällen sehr viel zaghafter angedeutet wird, als das bei Stern/Haeckel der Fall ist. Allein bei Meissner findet sich ein Verweis auf die Tradi­tion der Affen als „Zerrspiegel“ der „Schwächen und Thorheiten“261 der Menschen. Im Wesent­lichen sind durch diese Punkte auch die ­Themen benannt, die lange Zeit die Rezep­tion und Auseinandersetzung mit Gabriel von Max bestimmt haben. Gerhard Neumann etwa zieht in seinem Aufsatz Der Blick des Anderen verschiedene Bilder von Max’ als exemplarische Beispiele dafür heran, wie im 19. Jahrhundert der „Blickwechsel“ inszeniert wird, der z­ wischen dem „‚Kulturkörper’ des Menschen“, der auf das Tier schaut, und „dem ‚Naturkörper‘ des Tiers“ stattfindet, das seinerseits auf den Menschen

255 Die Sammlung wurde nach seinem Tod an die Stadt Mannheim verkauft und befindet sich heute in den Archiven des Reiss-­Engelhorn Museums der Stadt. Zur Geschichte der Sammlung siehe: Tellenbach, Michael et al. (2009): Die „wissenschaft­liche Sammlung“ des Gabriel von Max. In: Kort; Hollein (Hg.) – Darwin. Kunst und die Suche nach den Ursprüngen, S. 188 – 211; Althaus, Karin (2010a): „Das Übrige lese man im Darwin nach“. Die wissenschaft­ liche Sammlung. In: Friedel; Althaus (Hg.) – Gabriel von Max, S. 246 – 257. 256 Meissner, Franz Hermann (1899): Gabriel von Max. In: Die Kunst unserer Zeit 10 (I), S. 1 – 32. Hier: S. 4 257 Vgl. etwa Pecht, Friedrich (1879): Gabriel Max. Eine Charakteristik. In: Zeitschrift für b­ ildende Kunst, S. 325 – 334, und Klemt, Agathon (1886/87): Gabriel Max und seine Werke. In: Die graphischen Künste 9 (I+II), S.  1 – 12; 25 – 36. 258 Siehe dazu exemplarisch: Bauer, Eberhard (2010): Gabriel von Max und der Spiritismus und Okkultismus seiner Zeit. In: Friedel; Althaus (Hg.) – Gabriel von Max, S. 186 – 195. In dem reichhaltigen Katalog zur Ausstellung findet sich eine ganze Sek­tion mit Untersuchungen zum Spiritismus des Gabriel von Max. 259 Meissner 1899, 20. 260 Vgl. ebd., 28. 261 Ebd., 18.

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schaut.262 Neumann spricht von einer „ingeniösen Trivialisierung des Blick des Anderen“,263 die bei von Max zu beobachten sei; zu einem ähn­lichen Befund kommt Harald Siebenmorgen, der die „sentimentale, gar süß­liche Charakterisierung“, den „penetrante[n] Naturalismus“ und die „schwüle Stimmung“ der Max’schen Gemälde hervorhebt.264 Dem hätte der Maler womög­lich selbst zugestimmt, sah er seine Kunst doch vor allem als Broterwerb an, deren Wert sich darin zeigte, dass er die Erwartungen potenzieller Käufer befriedigen und durch deren Honorare er seine Rechnungen bezahlen konnte: Ich klage mich an sehr viel für den Kunsthandel geschaffen zu haben, welcher dem hohlen dekorativen Geschmack des Publikums huldigt. Es geschah um die kostspieligen Studien zu decken, zu denen man, wen man nicht vorher auf die Geldanhäufung anging, verurtheilt ist. Für Pferdeliebhaber, Wetter, Makler, Spekulanten etc. mag ja das genügen. So hab ich viele schöne Zeit mit malen todgeschlagen.265

Die Einordnungen Neumanns und Siebenmorgens entsprechen dem „Blick des Anderen“ aus dem 20. Jahrhundert, der in seiner geschmack­lichen Bildung 100 Menschheitsjahre Vorsprung hat. Sie sind erst durch die Wiederentdeckung G ­ abriel von Max’ für die Kunst- und Wissenschaftsgeschichte relativiert worden, die mit einer Retrospektive im Jahr 2010 im Münchner Lenbachhaus eingesetzt hat. An diese Rezep­tionslinie schließe ich an. Dabei soll Gabriel von Max in seiner Rolle als Anthropologe von eigenen Gnaden und Beobachter seiner selbst behandelt werden. Dazu muss man die vielen Sentenzen, Entwürfe, Notizhefte, Papierschnipsel, die unabgeschickten Briefbögen und aufgehobenen Nachrichten heranziehen, die sich in seinem Nachlass befinden. Dazu gehört auch ein Brief vom 19. Februar 1896 an eine Verehrerin seiner Kunst, in dem er Auskunft über die Antriebsfedern seiner Arbeit gibt: 2 62 Neumann 1996, 91. 263 Ebd., 92. 264 Siebenmorgen, Harald (1997): Gabriel von Max und die Moderne. In: Klaus Gereon Beuckers (Hg.): Festschrift für Johannes Langner. Münster: Lit (Karlsruher Schriften zur Kunstgeschichte), S. 215 – 240. Hier: S. 215. 265 GNM, DKA, NL Max, Gabriel von I,B-11. Auszug aus einem undatierten Blatt aus dem Nachlass Gabriel von Max, der im Deutschen Kunstarchiv des Gemanischen Na­tionalmuseums in Nürnberg verwahrt wird. Dort wurde der Nachlass von 2010 an neu verzeichnet und stand erstmals ab August 2012 wieder für die Forschung bereit. Nach der Neuverzeichnung habe ich den Nachlass als erste externe Wissenschaftlerin eingesehen. Die Signaturen des DKA bezeichnen einzelne Mappen, in denen sich nach unterschied­lichen ­Themen geordnet die Materialien aus dem Nachlass befinden. Die einzelnen Bestandteile der Mappen haben keine Signaturen, sodass hier immer nur der Fundort in der jeweiligen Mappe durch die Signatur bezeichnet ist. Die Rechtschreibung und die Orthografie aller Zitate folgt der teils sehr eigenwilligen Schreibweise Gabriel von Max’. Auslassungen und Streichungen von Gabriel von Max habe ich kennt­lich gemacht, so weit es mir mög­lich war.

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Sehr geehrtes Fräulein Ruge! Der unlängst gestorbene eng­lische Gelehrte Th[omas] Henry Huxley sagt in seinem berühmten Büchlein „Stellung des Menschen in der Natur“: „Die Frage aller Fragen, w ­ elche jeden zur Welt geborenen mehr interessiren muß als alle andern ist die: woher der Mensch kommt wohin er geht etc.“ Lange ehe er diesen Ausspruch gethan war ich im Banne dieser Fragen. „Woher er kommt“ muß die Naturwissenschaft beantworten, „wohin er geht“ muß der Spiritismus beantworten, also mußte ich mich mit diesen zwei „Wissenschaften“ vertraut machen. Daß ich es ehr­lich that zeigt mein großes anthropolo­gisches Museum und mein übler Ruf als Spiritist. Mann steht in der Mitte dieser zwei Arme; auf der Stelle „Gegenwart“ und um zu fixiren, welches die Eindrücke sind die man empfangen schreibt der Eine, der andere malt es. Ich gehör zu Letzteren. Hiermit sehen Sie wie es in Einklang zu bringen ist, daß ich Affen, Affenmenschen, Geistesgruß, Phantome, Christusse etc. gemalt habe. Hiermit haben Sie den Hausschlüssel zur Lebensgeschichte meines Kadavers.266

Als Gabriel von Max diesen Brief schrieb, stand er schon am Höhepunkt seines Ruhmes. Begründet hatte er ihn 1865 mit dem Gemälde Märtyrerin am Kreuz, das in verschiedenen Ausstellungen in München für großes Aufsehen sorgte. Als Schüler Carl von Pilotys folgte Gabriel von Max seinem Lehrer 1879 auf den Lehrstuhl für Historienmalerei.267 Diesen hielt er jedoch nur bis 1883, danach zog er sich von seinem Posten zurück, um sich nach eigenen Angaben privaten Aufträgen, dem Bau eines größeren Ateliers und seinen anthropolo­g ischen Sammlungen widmen zu können.268 Seinen aufwendigen Lebensstil finanzierte er allein durch den Verkauf seiner Gemälde, was ihn als gesuchten Künstler seiner Zeit ausweist, der eine akademische Posi­tion aus finanziellen Gründen nicht mehr nötig hatte.269 Neben den unbelebten Sammlungs­gegenständen trieb von Max aber wohl auch die Sorge 266 Max, Gabriel von (2010): Brief an Fräulein Ruge. In: Friedel; Althaus (Hg.) – Gabriel von Max., S.  241 – 242. 267 Es wäre eine gesonderte Aufgabe, Gabriel von Max’ Werk formal hinsicht­lich seiner Verortung in der Tradi­tion der Historienmalerei und dem Naturalismus zu untersuchen. Die Frage nach dem Naturalismus scheint da einschlägig zu sein, wo es um (Affen-)Motive geht, die selbst die Nachahmung der Natur thematisieren. Eine Analyse ­dieses Themas bleibt eine Aufgabe für kommende Untersuchungen. 268 Vgl. Jooss, Birgit (2010): Ein Künstlerleben z­ wischen Popularität und Rückzug. In: Friedel; Althaus (Hg.) – Gabriel von Max, S. 49 – 55. Hier: S. 51 f. 269 Dazu trug auch die Tatsache bei, dass einige der Münchner Galerien, die von Max vertraten, auch mit amerikanischen Kunden Geschäfte machten, bei denen seine Werke gut ankamen; weiterhin wusste er die neuen Mög­lichkeiten der Reproduk­tion seiner Werke als Verkaufskanal zu ­nutzen (vgl. dazu die Beiträge von Susanne Böller: Gabriel von Max und Amerika. In: Friedel; Althaus (Hg.) – Gabriel von Max, S. 172 – 182, und Heß, Helmut (2010): Gabriel von Max und die Reproduk­tionsindustrie. In: Friedel; Althaus (Hg.) – Gabriel von Max, S.  150 – 154).

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und Sehnsucht nach seinen Affen um. 1869 hatte er seinen ersten Makaken gekauft, in seinem Münchner Haus hielt er zeitweilig bis zu vierzehn Affen.270 Die Zahl der Tiere, die er bis zu seinem Tod erwarb, ist nicht gesichert. Später lebte er mit ihnen in Ambach am Starnberger See zusammen, wo er sich mit seiner zweiten Frau Ernstine um die Affen wie um eine geliebte Kinderschar kümmerte.271 Diese Entscheidung folgte aus seinem wissenschaft­lichen Interesse, das er in dem Brief an Clara Ruge schildert, aber auch aus einer Tierliebe, die die Kehrseite einer tief pessimistischen, depressiven 272 Anthro­pologie ist, die vielfach in Misanthropie umschlägt. Je älter von Max wurde, desto häufiger gab er dem Fehlverhalten seiner Mitmenschen die Schuld für seine verdrieß­liche Stimmung. Auf einem undatierten Blatt, das im Schriftbild darauf hinweist, dass es ungefähr aus der Zeit um seinen 60. Geburtstag stammt,273 schiebt von Max seinen zukünftigen ­Leserinnen und Lesern die Aufgabe zu, sich damit genauer auseinanderzusetzen: „Ich hab nicht das Sitzfleisch die Heubündel meines Lebens zu botanisieren. […] Ich hab nicht den Arsch Göthes und Jung Stillings, sonst übertrumpfte ich sie. […] Leset ­zwischen den Zeilen. G. M.“274 Seine damalige Berühmtheit ließ ihn zu Recht annehmen, dass das Interesse an seiner Person nicht abreißen würde. Die biografischen Zeugnisse von Max’ sind oft wenig subtil, sodass das Lesen ­zwischen den Zeilen nicht immer notwendig ist. In Umfang und wohl auch in Anspruch und Ausführung der Poetik fallen diese Zeugnisse von Max’ hinter die von Goethe oder Jung Stilling zurück, was allerdings für die Skizzierung seiner Anthropologie von Vorteil ist, da ihr teils holzschnittartiger Charakter so klar zutage tritt. Davon ging von Max jedoch nicht aus, der sich wohl eher mit der Goethe’schen Verzahnung von künstlerischem Werk und naturwissenschaft­licher Forschung identifizierte. Seine Malerei verstand von Max als Mittel zum Zweck der Illustra­tion und Kommentierung seiner Forschungsmeinungen, gleichzeitig ist sie Ausdruck seines inneren Kompasses, mit dem er ­zwischen Wissenschaft und Welt­ anschauung zu navigieren hoffte:

270 Vgl. Althaus, Karin; Böller, Susanne (2010c): Gabriel von Max. 1840 – 1915. In: Friedel; Althaus (Hg.) – Gabriel von Max, S. 18 – 37. Hier: S. 24. 271 In einem Gespräch mit dem damaligen Leiter des Deutschen Kunstarchivs sagten die Erben des Gabriel-­von-­Max-­Nachlasses, dass Ernstine „die Affenmutter“ gewesen sei. Eigene Kinder hatten sie und Gabriel von Max, der drei Kinder aus erster Ehe hatte, nicht (vgl. das Transkript des Gesprächs: GNM, DKA, NL Max, Gabriel von II,A-9). 272 In einem Blatt mit dem Titel „Zu meiner Entschuldigung“ beschreibt er seinen Lebensüberdruss und kommt zu dem Resümee: „[…] nur das das aufleuchtende Licht meiner Erkentniße, woher der Mensch komt, wohin er muß – ließ mich die endlose Mühe und Plage Leben nothdrüftig ertragen.“ Notiz vom 23. April 1909, GNM, NL Max, Gabriel von I,B-7. 273 Das Schriftbild Gabriel von Max wird mit dem Alter immer besser lesbar, sofern es sich nicht um Notizen handelt, die offenbar in großer Eile angefertigt worden sind. 274 Biografische Notiz ohne Datum, GNM, DKA, NL Max, Gabriel von, I,B-11.

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Bestäthigung. Ich, Gabriel v. Max, praktisch als Maler und durch so manchen Theil der Prähistorie, Plaeontologie kurz Anthropologie und Hülfswissenschaften erfahren, kein Fremdling in Philosophie, Psychologie, Physiologie und dem Räthsel Gehirn etc. etc. Ich bin gezwungen mir selber das Zeugniß auszustellen, daß ich kein Dumkopf war in Allem was sich von der Paviannatur modernen Menschenthums entfernt. Viele Bücher der Menschen liebte Ich und lernte daraus, aber die Menschen selbst entsetzen mich ob ihrer Einseitigkeit. Sie komen zu mir, immer nur als spektrale Bilder, nie als allerhellendes Licht, jeder bemühte sich und jedem fehlte Überblick und allgemeine Bildung. Der Fachmann hatte eben keine Zeit, mehr als sein Fach zu können. Darum danke Ich Gott, daß er mich an alle Schubfächer seines Museums Einblick nehmen laß und mir ein unend­liches Thatsachenmaterial zur Verfügung stellte, erdrückend mich, zu viel, daß ich nicht zu Wort kome und im betrachtenden Hinschweigen und Staunen alles verarbeitete, kurz ein Zuschauer bin, der abwarten und still sein muss, alles was die Gehirne mir entgegenbringen bekomt seinen Platz und ich erkene wohin alles strebt und bin ruhig.275

Die zweifache Genealogie des Menschen: Affen bei Gabriel von Max Von Max lebte z­ wischen den Gegenständen seiner Sammlung wie im eigenen Museum respektive Affengehege und hatte dadurch einen ganz alltäg­lichen Zugriff auf das „Thatsachenmterial“, von dem er schreibt. Die Affen nahmen dabei nicht nur als Mitbewohner im Hause Max einen besonderen Platz ein, sondern halfen auch bei der Entwicklung einer eigenen Anthropologie. Sie ist Ergebnis des Selbststudiums von Max’, der in einer biografischen Notiz aus dem Jahr 1904 erzählt, wie die Lektüre der Bridgewater-­Treatises, die im Bücherschrank seines Vaters vorrätig waren, ihn zu weiteren (populär-)wissenschaft­lichen Lektüren anregten,276 in einer anderen Notiz schreibt er davon, wie er „Erste Verdienste auf Bücher verwendet, Layell, Huxley, Häckel, Vogt, Moleschott“.277 Auf seinen Status als Self-­made-­Anthropologe war von Max sehr stolz, da er seinem ausgeprägt anti-­akademischen Habitus entsprach, den er zum Teil seiner biografischen Folklore werden ließ.278 Systematisch dienen ihm die Affen als Motive, mit denen er eine zweifache Genealogie etabliert: erstens innerhalb der biolo­gischen Systematik, die er passend zur Abstammungsthese umbauen wollte. Zweitens stellen die Affenbilder von Max’ eine gemalte Genealogie der Moral dar, die eine ‚schwarze‘ Anthropologie zur Folge hat. Diese systematische Orientierung hat für den künstlerischen Einsatz von Max’ zur Folge, dass sich seine Gemälde ganz in den Dienst einer moralisierenden Ästhetik stellen, innerhalb derer Affen Akteure von 275 Notiz vom 16. Mai 1902, GNM, NL Max, Gabriel von I,B-5. 276 Vgl. GNM, DKA, NL Max, Gabriel von, I,B-9. 277 Undatiertes Blatt, ebd. 278 GNM, DKA, NL Max, Gabriel von, I,B-11.

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Kunst- und Wissenschaftskritik werden. Gleichzeitig allegorisieren sie die mimetische Krise, die durch die Labilisierung der Grenze von Original und Kopie hervorgerufen wird, die sich schon in der Diskussion um das Idealporträt des Menschen in ­Haeckels Keimesgeschichte des Antlitz angedeutet hatte. Von Max baut Affen zu polyvalenten Gegenfiguren des Menschen auf. Sie können sowohl als Neuauflage des ‚edlen ­Wilden‘ erscheinen, als auch das tertium compara­tionis von ‚Durchschnittsmensch‘ und Idiot vorstellen;279 nicht zuletzt kennt von Max ‚Affe‘ auch noch als Schimpfwort. Die Varia­tionsmög­lichkeiten des anthropolo­gischen Dreiecks werden bei von Max nach Kräften ausgereizt.

Genealogie I: Die Affenmadonna Unter der Überschrift „Meine Affen“ hat Gabriel von Max beschrieben, wie er zum ersten Mal einen lebendigen Primaten sah. Die Geschichte wird ihm auch deshalb in besonderer Erinnerung geblieben sein, da er seinen Vater, in dessen Begleitung er sich bei dieser Gelegenheit befand, im Alter von fünfzehn Jahren durch die Cholera verlor, was er selbst immer wieder als eines der einschneidenden Ereignisse seines Lebens beschrieb. Die folgende Schilderung erfährt dementsprechend eine zweifache Überhöhung der Bedeutung der Genealogie. Erstens thematisiert diese Urszene seine eigene Abstammung, da er sich in Begleitung seines Vaters befindet, der wenige Jahre ­später sterben wird. Damit stattet er in der Rückschau seine eigene Genealogie mit einem konkreten Repräsentanten aus. Zweitens stellt der Orang-­Utan als Ahnherr der gesamten Gattung den großen systematischen Zusammenhang der persön­lichen Biografie mit der Menschheitsgeschichte vor. Diese Begegnung erfährt von Max jedoch nicht als Umwandlung von Ahnung in Evidenz, sondern als religiöses Erlebnis: Als ich als kleiner Junge von 8 – 10 Jahren mit meinem Vater durch die Strassen Prags ging (an einem Sommertag) sahen wir in einem Laden ein großes Plakat „Peruanische Mumien“ „Lebender Orang Utang“ etc. Ich bettelte so lang, bis wir eintraten. Den Eindruck des jungen Orang auf mich weiß ich noch heut. Die Weihnachtsbücher mit ihren Urwaldgeschichten lebten auf, gleichzeitig sah mich die Mystick des Daseins, der Menschwerdung aus diesen sanften Augen so an, daß ich den Eindruck behielt als hätte mich ein Wunder Gottes, weit herbeigeschleppt, auf die Stirn geküßt und einen Keim mir anvertraut, als wär ich der Nährboden dafür.280

279 Eine Untersuchung der Affengemälde kann hier nur exemplarisch erfolgen, was auch darin begründet ist, dass bislang noch kein Werkverzeichnis vorliegt, anhand dessen man genau nachverfolgen könnte, wie umfangreich der Anteil dieser Arbeiten am Gesamtwerk ist. 280 Die biografische Skizze trägt die Signatur GNM, DKA, NL Max, Gabriel von, I,B-7, im Katalog des Lenbachhauses findet sie sich ebenfalls auf S. 332 abgedruckt.

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Anthropolo­gische Einsichten werden in Beschreibungen wie dieser als Kontakt­magie inszeniert. In einem Gemälde wie Pithecanthropus alalus wird die Initia­tion von Max’ in die Kenntnis des „Wunder Gottes“ nicht nur für ihn, sondern auch für die Betrachter wiederholbar. Die Haeckel’sche Assozia­tion der Pithecoiden-­Mutter mit einer Madonna ist dementsprechend ein von von Max durchaus geplanter Effekt. Die Tradi­tion der Madonnendarstellungen ist für Gabriel von Max besonders relevant: Die ­Mutter Gottes gehörte zu seinem malerischen Repertoire, das eine entscheidende Wende erfährt, indem er es in die Zeit der Pliozän-­Menschen transponiert. Unter den Marien-­Darstellungen, die Pithecanthropus alalus vorausgehen, fällt das Madonnenbild (Votivgemälde) von 1888 auf, da es eindeutig die Züge der zweiten Ehefrau Gabriel von Max’ trägt, die allerdings zum Zeitpunkt der Anfertigung des Bildes noch seine Geliebte war. Diese Art der Profanierung durch die Personalisierung der Madonna ist weder für die zeitgenös­sische Malerei noch für die Tradi­tion der Madonnenbilder ungewöhn­lich.281 Ordnet man nun das Pithecanthropus-­Gemälde, das ein Jahr nach der Legalisierung der Beziehung Gabriel von Max’ mit Ernestine Harlander angefertigt wurde, dieser Vorgeschichte zu, so erfährt der Umgang mit dem Thema der heiligen Familie noch eine weitere Zuspitzung. Die Madonna tritt bei Gabriel von Max nicht nur als Geliebte und damit als unkeusche Frau auf, ihr wird auch taxonomisch ein liminaler Status verliehen, indem ihr ein Körper gegeben wird, der die Form eines imaginierten missing link ­zwischen Ur- und modernem Menschen annimmt. Die Kritik an seinem Vorgehen hatte von Max teilweise antizipiert, wie ein Briefentwurf an Ernst Haeckel zeigt, in dem er schreibt: „Es hat mich nicht gewundert daß die Menschen Anstoß nehmen an der Häss­lichkeit der Wesen die ich gemalt habe, aber es wunderte mich daß Ihnen die Frau fast zu menschlich vorkam.“282 Gerade durch die Darstellung der menschlichen Körper der Figuren wird jedoch die Assozia­tion mit einer menschlichen ­Mutter und deren Idealporträt als Madonna eröffnet. Die Idealisierung der Mutterliebe als zentraler Bestandteil der Geschichte der Madonnen-­Ikonografie wird von Gabriel von Max gezielt verwendet, wie auch ein Brief an Ernst Haeckel zeigt, in dem er ­diesem zu seinem 60. Geburtstag gratuliert und sein Bild noch einmal erläutert: Das einzige ethische, was sich [zu dem Gemälde, H. E.] anbringen ließ, ist die Thräne im Auge der M ­ utter, denn ich glaube fasst, daß Zuchtwahl und Kampf ums Dasein nicht genügten die Menschenpsyche zu erzeugen, es scheint mir vielmehr die Mutterliebe und Muttersorge eine wichtige Rolle dabei zu spielen. –283 281 Siehe dazu auch Jochen Meisters Artikel zur Entstehung ­dieses Gemäldes (ders. (2010): Geliebte Madonna. In: Friedel; Althaus (Hg.) – Gabriel von Max, S. 119 – 129). 282 Undatiertes Blatt, vermut­lich zum Pithecanthropus alalus, GNM, DKA, NL Max, Gabriel von, I,B-242. 283 Von Max am 13. Februar 1894 an Haeckel, zitiert nach Bach 2010, 283.

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Von Max greift auf einen Kern europäischer Bildtradi­tion und einen Gegenstand künstlerischer Höchstleistungen zurück, dessen Wirksamkeit und Kanonsierung als bekannt vorausgesetzt werden kann. Gleichzeitig wird das Bild zum Medium der Auseinandersetzung mit dem philosophischen Diskurs der Empfindsamkeit und des Mitleids, der von Max auch durch seine Schopenhauerlektüre vertraut war.284 Diese Trope transponiert Gabriel von Max nun durch den Übertrag in die Welt der Affen, wie beispielsweise auch das Gemälde ­Mutter mit Kind (Affen) (Abb. 27) von 1900 zeigt. Die Bestätigung der Abstammungsthese verläuft hier über die Wieder­ erkennung der M ­ utter-­Kind-­Situa­tion gleichermaßen als Urszene menschlicher Herkunft und als eine Urszene der Kunst. Die Bildregie inszeniert den „Blick des Anderen“ und macht die Betrachtenden des Gemäldes zu Mitwissern eines besonderen Familienverbandes. Die Affenmutter, die ihr Baby hält, aber gleichzeitig auch dem Betrachter präsentiert (ihre Hand scheint den Kopf des Kindes beinahe dem Betrachter zuzudrehen), hat ihre Augen ganz auf das Kind gerichtet, das sie bewacht. Das Kind wiederum, das mit ausgestreckten Armen auf dem Schoß seiner ­Mutter sitzt, ist zwar ihr zugewandt, dreht seinen Kopf aber dennoch in Richtung des Beobachters, der somit in den intimen Moment einbezogen wird. Gleichzeitig wird auch der 284 In seiner Schrift Über die Grundlagen der Moral hebt auch Schopenhauer im Teil über das Mitleid die M ­ utter-­Kind-­Beziehung als ein verbindendes Element z­ wischen Menschen und Tieren hervor: „Hingegen ist des Gleichartigen z­ wischen Thier und Mensch, sowohl psychisch als somatisch, ohne allen Vergleich mehr. So einem occidenta­lischen, judaisirten Thierverächter und Vernunftidolater muß man in Erinnerung bringen, daß, wie Er von seiner M ­ utter, so auch der Hund von der seinigen gesäugt worden ist.“ (Schopenhauer, Arthur (2005): Über das Mitleid. München: C. H. Beck, S. 119.). Das Mitleid gegenüber dem Tier übersteigt in seiner Bedeutung das Mitleid gegenüber den Mitmenschen, nament­lich gegenüber den Juden – antisemitische Tendenzen finden sich auch in den Notizen Gabriel von Max’ an einigen Stellen. So spricht er zum Beispiel in einer undatierten Notiz, die sich in derselben Mappe befindet wie die Bemerkungen über das „Idealwesen“ davon, dass „Jüdische Mischrassen […] immer häss­ lich“ ­seien. „Wo die meiste Kreuzung stattfand sind die Germanen am annehmbarsten […]“. (GNM, NL Max, Gabriel von I,B-218). Schopenhauer spitzt seine Interpreta­tion der Bedeutung des Mensch-­Tier-­Verhältnisses einige Zeilen ­später noch weiter zu: „Mitleid mit den Thieren hängt mit der Güte des Charakters so genau zusammen, daß man zuversicht­lich behaupten darf, wer gegen Tiere grausam ist, könne kein guter Mensch sein.“ (Schopenhauer 2005, 120). Als Beispiel führt Schopenhauer an, dass ein feinfühliger Mensch, der im Zorn seinen Affen misshandelt habe, s­ päter darüber die ­gleiche Reue empfinden müsse, als habe er einen Menschen misshandelt. Die Berücksichtung der Rechte der Tiere, die Schopenhauer einfordert, sieht er im „Brahmanismus und Buddhaismus“ verwirk­licht (ebd., 119). Zusätz­liche Anknüpfungspunkte finden sich auch in Schopenhauers Kritik der Vivisek­tion, gegen die sich auch von Max aussprach. Gabriel von Max korrespondierte beispielsweise mit dem Weltbund zur Bekämpfung der Vivisek­tion (vgl. einen Brief des Bundes, in dem er um Mithilfe gebeten wird, GNM, NL Max, Gabriel von I,B-23) und verfasste zahlreiche Notizen zum Thema (vgl. bspw. einige zu einem Heftchen gefaltete Bögen unter der Signatur GNM, NL Max, Gabriel von I,B-222).

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Kapitel IV: Ästhetisieren

Abb. 27: Gabriel von Max: Mutter und Kind (Affen), nach 1900, Holz, 28 × 23 cm

Blick auf diese Situa­tion registriert, wenn auch nur von einem Affenbaby. Auch der Titel des Gemäldes zeigt an, dass es eine prototypische Situa­tion zeigt: Eine ­Mutter kümmert sich liebevoll um ihr Kind. Eine allgemeingültige Annahme soll folgen: Da ein solches Verhalten 285 bei den Affen wie auch bei den Menschen zu beobachten ist, sind sie verwandt. Der Titel gibt allein die Verwandtschaftsbeziehung der Affen an, sie werden weder durch Namen individualisiert, noch wird eine Artbezeichnung angegeben, sie sind einfach „Affen“.286 Beides war in der Praxis Gabriel von Max nicht üb­lich. Er unterschied die Affen, die mit ihm zu Hause sogar das Bett teilen durften,287 nach den Eigenheiten ihrer Art und beschäftigte sich zusätz­lich sehr genau mit den Charakteristika der einzelnen Individuen. Seine Affenbilder sind aber eben nie bloß 285 Diana Donald diskutiert das Gemälde The Sick Monkey (1875) von Edwin Landseer, das einige Ähn­lichkeiten zu Bildern Gabriel von Max’ aufweist; es zeigt drei Affen, zwei davon mög­licherweise ­Mutter und Kind; die „Mutter“ hält den kleineren Affen schützend im Arm und überwacht seinen Schlaf. Das Bild weist ebenso Elemente aus Schmerzvergessen wie auch aus M ­ utter mit Kind auf. In der zeitgenös­sischen Rezep­tion wurde die Ähn­lichkeit mit einer Madonnen­darstellung ebenfalls betont (vgl. Donald, Diana (2009): ‚A Mind and ­Conscience Akin to Our Own’: Darwin’s Theory of Expression and the Depic­tion of Animals in Nineteenth-­ Century Britan. In: Dies.; Munro (Hg.) – Endless Forms, S. 195 – 213. Hier: S. 211). 286 Es existiert ein weiteres Gemälde mit dem gleichen Obertitel, das allerdings eine Menschenmutter mit ihrem Kind zeigt, hier findet keine nähere Bezeichnung durch einen Untertitel statt. Dieses Gemälde fällt allerdings in den Bereich der Genredarstellungen, die von Max vor allem zum Broterwerb anfertigte. 287 Siehe dazu ein undatiertes Blatt: „Puk (das Mantelpaviankind) schlief bei mir im Bett, meist unter der rechten Achselhöhle. […]“ GNM, DKA, NL Max, Gabriel von I,B-9.

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Illustra­tionen seiner Intimkenntnis einzelner Affen, auch wenn diese die Grundlage für die Bildideen bilden, sondern fungieren als Argumente in seiner Anthropologie. Die in Pithecanthropus alalus dargestellte Familie soll nicht nur die Abstammungsthese mittels eines haarigen Zwischenwesens belegen, sondern zeigt auch die Böses ahnende Menschheit in den letzten Stunden vor dem Sündenfall durch Zivilisa­tion. Sie scheint der Pithecanthropus-­Mutter zu Recht als beweinenswert, wie auch ein etwas schwergängiges Gedicht von Max’ demonstriert: Als Pithekanthropus schäbig geworden/ Began er der Nacktheit sich schämen/ Und stiftet den Menschorden/ Aus Paradiesverlustes Grämen/ Dan im Schweise seines Angesichtes/ Fraß er Europas Mammute auf/ Trat dan aus Mangel ­dieses Gerichtes/ Ein in der Weltgeschichte Lauf/ Mit Maske und Lüge bracht er’s so weit/ Sich selbst nicht mehr auszukennen/ Und mußte in Verlegenheit/ Cultur die Confusionen nenen,/ doch Pithekanthropus Calvarium/ Schmückt jetzt unsere Ahnengalerie.288

Das Zwischenwesen, das sich noch nicht ganz zum Menschen entwickelt hat, siedelt von Max in seiner Privat-­Nomenklatur der Affen und Menschen höher an als den Menschen selbst. Damit kehrt er die Anthropogenie um, die Ernst Haeckel als stetigen Aufstieg beschrieben hatte. Der Mensch, der bei Haeckel in der Krone des Stammbaums der Gattung angesiedelt wurde, stellt bei von Max vielmehr die Wurzel allen Übels dar. Dabei ist jedoch zu beachten, dass er hier weniger evolu­tionstheoretisch als philosophisch argumentiert. Die komplexe somatische Entwicklung des Menschen, besonders des Gehirns, erkennt er als evolu­tionären Vorteil gegenüber den Affen durchaus an.289 Die daraus resultierenden kulturellen Leistungen erscheinen ihm jedoch nicht als ein ­­Zeichen der Überlegenheit des Menschen gegenüber den Tieren, nament­lich den Affen, sondern sie gelten ihm als Produkte einer mora­lisch verkommenen Spezies. Argumentativ schließt er damit eher an kulturkri­tische Schriften wie die Rousseaus an, als an die Anthropologen seiner Zeit, mit denen er sich selbst auf Augenhöhe wähnte. Unter den nachgelassenen Notizen Gabriel von Max’ findet sich ein Blatt, auf dem er ein „Idealwesen“ (Abb. 28) beschrieben und auch gezeichnet hat. So sollte es aussehen: Augen des Adlers, Ohren des Luchs. Nase des Hundes. Hirn des Menschen. Mund des Schmetterlings. Stime der Nachtigall. Hals der Giraffe. Brust des Gorilla etc. Hand des Gibbons. Füße des Frosches. Bauch des Rehes. Penis des Elephanten. Gesäß des Pavians. Psyche des Hundes.290

288 GNM, DKA, NL Max, Gabriel von I,B-218. 289 Vgl. bspw. ebd., Notiz vom 13. November 1880. 290 Ebd.

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Kapitel IV: Ästhetisieren

Abb. 28: Gabriel von Max: Idealwesen, 1880, Skizze aus dem Nachlass

Der größte Horror, der für die meisten Zeitgenossen von Max’ und auch seine Vorläufer denkbar war, bestand in einer Verwischung der Artgrenzen. Die immer schon schwierige Unterscheidbarkeit der Arten, die sich seit der ausführ­lichen Beschäftigung mit den Menschenaffen noch anspruchsvoller gestaltete, hatte eine Identitätsdebatte und -krise hervorgerufen, mit der Gabriel von Max ganz offensicht­lich nicht haderte.291 Hybride Arten waren in der Geschichte der Taxonomie immer eng mit der Semantik des Monströsen verknüpft, wodurch Vermutungen über den Charakter der Affen befördert wurden, denen man eine Mischnatur zusprach. Affen konnten bei Gabriel von Max jedoch nicht nur deswegen nicht als Monstren posieren, weil sie wie leib­liche Kinder bei ihm lebten, sondern auch, weil er die zur Abwehr von Identitätskrisen konstruierte Monstrosität von Affen als Mischwesen nicht anerkannte. Grund dafür ist jedoch kein emphatischer Begriff des Menschen oder gar Humanismus, sondern eine pessimistische Anthropologie.

291 Auch damit ist eine gewisse Nähe zu Rousseau gegeben, der ja in seinem Discours sur l’inégalité über die Kreuzung von Menschen und Affen nachgedacht hatte, um endgültig entscheiden zu können, wie diese taxonomisch zu sortieren ­seien (vgl. auch Lange 2006, 121).

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Genealogie II: Die „Paviannatur“ des Menschen Dieser pessimistischen Anthropologie ist jedoch eine optimistische Primatologie zur Seite gestellt. Dabei fällt auf, dass dieser Gegenentwurf für von Max nur dann gültig ist, wenn er von den Affen in seiner unmittelbaren Umgebung spricht. Sobald er aus größerer Distanz über die Menschen im Allgemeinen urteilt, wird ‚der‘ Affe wieder zu einer entindividualisierten Referenzfigur, an die alle schlechten Eigenschaften des Menschen gekoppelt werden. Besonders deut­lich wird ­dieses Spannungsverhältnis im Gebrauch der Affen-­Trope in einer längeren Notiz über sein „Pavianfräuleinchen“: Da mir die anthropoiden Affen eine größere Sume von Vorzügen als Nachtheilen dem Menschen gegenüber aufweisen, der Chimpanze z. B. der das wahre Ideal des Buddha ist, Schönheit ein relativer Begriff ist, so fand ich, daß dem Menschen kein Charakter im Säugethierreich so nahe steht wie der Pavian in sämt­lichen Ausgaben. […] Ein gütiges, äußerst verwickeltes Schicksal hat mir nun einen in die Hände gespielt, besser gesagt, an die Brust gelegt im wahrsten Sinne des Wortes und wie nach langem Sinnen einer höheren Macht, fiel ihre Wahl auf das liebreizendzte, ein weib­liches Wesen und jung, als wollte die gütige Vorsehung sagen: hier übergebe ich Dir den Hausschlüssel: Erfahre – beobachte – leide =! – Es thuend, wirkt er wie eine Krönung aller meiner hingeschriebenen Gedanken über Mitmenschen, dieselben lesen, seh ich, daß ich unter sie gehöre und fern stehe dem Ideal Chimpanze, dem Übermenschen. [Hier erfolgt eine längere Schilderung der Eigenarten des Pavians, den Max besonders gern hatte, H. E.] Das sind Wesen, geboren mit reifer Psyche w ­ elche also denselben Anspruch auf Unsterb­lichkeit haben, wie wir alten Paviane. […] Mein Urtheil ist gekrönt in aller Stille – […] Ich werde also fanatisch geliebt, die haarlose Körperseite [des Pavians, H. E.] schmiegt sich mit gespreizten Beinen und Armen unter der Weste an mich, mein Athmen ist Wiegenlied, Lebenswärme [eingefügt durch GvM: „anderer“] ist dem Pavianchen mehr als Nahrung Bedürfniß. Meine feste Überzeugung, daß Mutterliebe die Schöpferin der Menschen ist, hat neue Stützen bekomen, indem ich sehe w ­ elche Ansprüche unsere Verwandten darauf machen. wie leicht thut sich die Menschenmutter, die das Kind weglegt – das Pavianchen läßt sich nicht weglegen. Dieses extreme Verhältnis ­zwischen Kind und Nahrung und Wärme spendender ­Mutter muß intensiver sein, als beim Menschen, deßhalb ist ein der ­Mutter geraubtes Hülfloses Affenkind rührender, mitleidwerther da es die Ansprüche auf seine Existenz zur Geltung zu bringen weis, während das Menschengeborne Stückchen Fleisch ein wirk­lich unbeseeltes Ding ist, das Jahre braucht um auf die Stufe eines 6 Monat Pavian zu komen. […]292

292 Blatt zum „Pavianfräuleinchen“, 12. August 1902, GNM, NL Max, Gabriel von I,B-7. Zur Frage der Sprachfähigkeit vgl. auch das Blatt „Pucksprache“, auf dem Gabriel von Max tabellarisch aufschlüsselt, w ­ elche Laute des Pavian Puk ­welche Bedeutung hätten, etwa „äh, höh, höh – Mißmutstöhnen im Käfig“ (GNM, NL Max, Gabriel von I,B-258).

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Wie in der Beschreibung der Szene seines ersten Kontakts mit den Menschenaffen baut auch hier von Max seine Beziehung zu dem „Pavianchen“ zum Werk eines unbeeinflussbaren Schicksals aus. Seine Erfahrungen im Umgang mit dem Affen werden eine höhere Instanz legitimiert, die seiner Meinung nach aufgrund ihrer Unerforschbarkeit keiner weiteren Nachfragen bedarf. So wird in der Erzählung zu Sicherheit, was zuvor bloß Intui­tion gewesen war. Dazu gehört auch die absolute Überhöhung der bedingungslosen Mutterliebe der Affen, deren Kommensurabilität mit der ­Mutter-­Kind-­Beziehung bei den Menschen zu keinem Zeitpunkt infrage gestellt wird: Durch das schicksalhafte Auftreten des „Pavianchens“ in von Max’ Leben ist der Affe-­ Mensch-­Vergleich zu einem Imperativ geworden („Erfahre – beobachte – leide –!“). Die Humanisierung einzelner Affenpersön­lichkeiten ist ein typisches Zeitphänomen, wie Studien zu einzelnen „Stars“ der Zoos im 19. Jahrhundert zeigen. 293 Die Schimpansin Molli im Zoo von Alfred Brehm war ein eigenes Porträt in der Garten­laube wert.294 Die Schimpansin Mafuka wurde für ihre Geschick­lichkeit beim Gebrauch von Geschirr und Werkzeug gerühmt und zeigte wie ein kleines Kind Freude und Trauer bei An- und Abwesenheit ihrer Wärter.295 Dabei ist auffällig, dass die isolierte Betrachtung eines einzelnen Individuums stets zu einer sehr positiven Bewertung der jeweiligen Affen führt, deren Anhäng­lichkeit und allgemeine Menschenähn­lichkeit gerühmt wird. Als Gruppe bleiben sie eine Bedrohung. ­Oliver Hochadel hat beschrieben, wie Mafuka im Dresdner Zoo in einem beheizten, und mit Möbeln und Spielzeug eingerichtetem Zimmer wohnte, und nicht wie andere Tiere eingesperrt war.296 Diese Privilegierung drückte sich schon dadurch aus, dass Mafuka, Molli und eben auch von Max’ „Pavianchen“ Vornamen hatten: Sie wurden zu sozialen Adressen aufgebaut und zu Kommunika­tionsteilnehmern gemacht; ihre Inklusion in die Gesellschaft war somit bedingt mög­lich.297 Von Max’ und Brehms ambivalentes Verhältnis gegenüber Individuum und Gattung stellt frei, welcher zur Inklusion notwendig zugehöriger Ausdifferenzierungsprozess dabei gleichzeitig 293 Ingensiep, Hans Werner (2001): Kultur- und Zoogeschichte des Gorrilas. Beobachtungen zur Humanisierung von Menschenaffen. In: Lothar Dittrich, Dietrich von Engelhardt und ­Annelore Rieke-­Müller (Hg.): Die Kulturgeschichte des Zoos. Berlin: Verlag für Wissenschaft und Bildung (Ernst-­Haeckel-­Haus-­Studien, 3). 294 Brehm, Alfred Edmund (1866): Bilder aus dem Thiergarten. Nr. 7: Molli. In: Die Gartenlaube (15), S.  230 – 232. 295 Hochadel, Oliver (2008): Unter Menschen. Die Schimpansin Mafuka im Dresdner Zoolo­ gischen Garten (1873 – 1875). In: Gesine Krüger, Ruth Mayer und Marianne Sommer (Hg.): „Ich Tarzan“: Affenmenschen und Menschenaffen ­zwischen Science und Fic­tion. Bielefeld: transcript, S. 147 – 177. Hier: S. 155. 296 Ebd., 172. 297 Vgl. Fuchs, Peter (1997): Adressabilität als Grundbegriff der soziolo­gischen Systemtheorie. In: Soziale Systeme 3 (1), S. 57 – 79. Fuchs weist hier auch darauf hin, dass Tiere, die einen Vornamen haben, seltener geschlachtet werden als diejenigen ohne Vornamen.

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realisiert wird: die Exklusion aller anderen, namenlosen Affen aus dem Bereich dessen, was als menschlich anerkannt wird. Während die ‚schwarze Pädagogik‘ trotz aller Reformansätze noch in voller Blüte stand, konnte ein einzelner Affe freier als manches Kind spielen. Diese anthropomophisierte Projek­tion, an der Brehm großen Anteil hatte,298 operierte dabei ganz im Imaginären, in dem Menschenähnlichkeit zu Humanität verkitscht wird. Die positive Deutung, die bei Gabriel von Max die sogenannte Affenliebe erfährt,299 steht in scharfem Kontrast zu den „sämt­liche[n] schlechte[n] Eigenschaften aller existirenden Bestien“,300 die der Mensch in sich vereint. Immer wieder kommt von Max dabei auf die Geldgier zu sprechen, für die ihm auch Goethe und Schopenhauer als Beispiele dienen; Goethe beispielsweise habe als Trinkgeld seinen Namen als großer Mann verwendet, den zu bedienen Lohn genug gewesen sei. In der mit Lebens­ erfahrungen betitelten Notiz, w ­ elche diese Szene kolportiert, schreibt von Max von dem „undankbare[n] Egoist Pavian“, dem „entwickelte[n] Pavian Mensch“ und der „Mandrillnatur“301 des Menschen. Der Affe ist liebenswertes „Pavianchen“, Buddha und Übermensch, kann bei Bedarf aber auch als Allegorie primitiven menschlichen Verhaltens herangezogen werden. Wütend konstatiert von Max immer wieder die Verlogenheit und Selbstsucht der Menschen: Dieses aufrecht gehende Lügenthier scheint nur auf unserer kleinen Erdkugel Platz gefasst zu haben. Der entartete Affe Mensch ist als Hordenthier der Stärkste und sog. Cultur eine nichtswürdige Bestie, verlogen, heuchlerisch, gehorsam, pathriotisch, geil, engherzig, habsüchtig und diebisch.302

298 Brehm ist innerhalb der Forschung zu Zoos untersucht worden (vgl. etwa Rieke-­Müller, ­Annelore; Dittrich, Lothar (1998): Der Löwe brüllt nebenan. Die Gründung Zoolo­gischer Gärten im deutschsprachigen Raum 1833 – 1869. Köln: Böhlau), insbesondere die Anthropomorphisierung des Tiers überhaupt ist seinem nach wie vor beliebten Brehms Thierleben zuzuschreiben, das jedoch weniger als illustrierte Naturgeschichte denn als animalisierte Familiengeschichte gelesen werden sollte. Carl Vogt sah sich durch den Erfolg seines Kollegen herausgefordert, ein Konkurrenz-­Unternehmen zu starten und heuerte dafür mit Friedrich Specht einen der Illustra­toren Brehms an. Auffällig ist, dass er hier von seiner Strategie abweicht, den Menschen zu animalisieren, sondern stattdessen die Tiere humanisiert; dies gilt auch für die Affen, die als menschenähn­liche Tiere behandelt, aber nicht privilegiert werden. Die Illustra­tionen sind dabei naturalistisch und zeigen die Tiere in ihrem Habitat. Siehe Vogt, Carl (1883): Die Säugetiere in Wort und Bild. München: Verlags-­Anstalt für Kunst und Wissenschaft. 299 Von Max nimmt damit auch eine Umwertung eines Topos vor, der laut Janson schon seit den Äsopischen Fabeln besteht, in denen die Darstellung der Affenliebe die schäd­lichen Folgen zu großer Mutterliebe aufzeigen sollte (vgl. Janson 1952, 31). 300 Auszug aus einem Blatt vom 13. November 1880, GNM, NL Max, Gabriel von I,B-219. 301 Blatt betitelt Lebenserfahrungen vom 16. Juli 1902, GNM, DKA, NL Max, Gabriel von, I,B-9. 302 Auszug aus einem undatierten Blatt, GNM, NL Max, Gabriel von I,B-218.

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Da Therapieversuche nach Ansicht von Max’ mit immer noch mehr Boshaftigkeit quittiert werden, scheint ihm die einzig probate Methode auf dem Weg zu einer besseren Welt die Auslöschung der gesamten Art zu sein: „Wie man Mittel gegen die Pest in dieser Gesellschaft vorfindet, sollten wir Weisen vielmehr nachdenken, wie man Pest in diese Gesellschaft bringen könte.“303 Als weise apostrophierte sich von Max wohl vor allem aufgrund seiner Erfahrung im Umgang sowohl mit den Beständen seiner riesigen Sammlung als auch mit seinen Affenkindern; auf eine ähn­liche Empirie konnte zu seiner Zeit kein anderer Kollege verweisen. Zusätz­lich tönt aus seinen Tiraden jedoch auch die Leseerfahrung des Autodidakten, der die Schriften der populärsten Wissenschaftler seiner Zeit aufmerksam gelesen hat und sich deren polterndes Selbstbewusstsein rhetorisch zu eigen macht, ohne jedoch wissenschaft­lich ihr Reflexionsniveau erreichen zu können. Allerdings verfasste von Max diese Notizen nur für den Hausgebrauch, an verschiedenen Stellen im Nachlass taucht die Formulierung „Briefe an mich selbst“304 auf. Die Herangehensweise Gabriel von Max’ an die Genealogie von Menschen und Affen ist vor allem durch seine Auseinandersetzung mit deren Leidensfähigkeit strutkuriert, was sich insbesondere in seiner Serie Schmerzvergessen erweist, die drei Eskala­tionsstufen eines Motivs zeigt (die erste Version stellt zugleich auch das erste Affengemälde von Max’ dar, das er 1871 anfertigte 305): Ein verletzter Affe betrachtet bekümmert seinen invaliden Körper. Die wichtigsten Merkmale zur Feststellung der Gemeinsamkeiten z­ wischen Menschen und Affen sind für ihn nicht allein phy­sischer Natur, sondern vor allem in emo­tionalen Vermögen zu suchen. In einem seiner Notizbücher findet sich die Feststellung „Eigent­lich braucht der Mensch nur Liebe. Verstand ist nur ein Hülfsmittel das man sich aneignet um seine auszudrücken“;306 in einer Notiz zum Verhältnis von Geist und Körper privilegiert er das Herz als Zentrum seiner Person und beschreibt seine Verstandesleistungen als lästiges Beiwerk: […] Der Kopf ist überhaupt mehr ein Hinderniß, eine Art Kamin am Haus, wohnen thu ich in ­diesem Körper hinter den Rippen, da langen viele Arme hervor, die umsonst befreiende

303 Undatiertes Blatt, GNM, NL Max, Gabriel von I,B-9. 304 Ebd. und undatiertes Blatt, GNM, NL Max, Gabriel von I,B-5. 305 Das Bild gilt heute als verschollen und wird über die Lost Art Datenbank gesucht: http:// tinyurl.com/nadkw5y, aufgerufen am 26. Juli 2015. Die Lost Art Datenbank registriert online Kulturgüter, die im Zweiten Weltkrieg insbesondere deutschen Juden geraubt oder entzogen wurden oder auf andere Weise verlorgen gegangen sind. Schmerzvergessen II entstand 1875, Schmerzvergessen III 1904. In diesen Gemälden gelingt es von Max, sein anthropolo­gisches Interesse mit dem an der Darstellung christ­licher Märtyrerinnen zu verbinden. 306 Auszug aus einem Notizheft, GNM, NL Max, Gabriel von I,B-68.

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Schw[unleser­lich, H. E.] bewegungen machen – sie tappen nach Halt in einem Lichtschimmer, sonst ist alles dunkel und schwer.307

Der Ursprung einer Moral, die im Verfall begriffen ist, wird von Gabriel von Max in Schmerzvergessen und Pithecanthropus alalus in einen Moment verlegt, in dem die ra­tionalen Vermögen des Menschen ganz in den Hintergrund treten. Genealo­gisch kann die Moral bei von Max nur auf das gegründet sein, was der Mensch mit dem Tier gemeinsam hat: das Gefühl.

Affen als Figuren der Kunst- und Wissenschaftskritik Von Max’ emo­tionale Anthropologie wird in seinem Verhältnis zu Ernst Haeckel zum Problem, mit dem er einen sehr höf­lichen Briefwechsel führte, ihn aber in seinen „Briefen an sich selbst“ vernichtend beurteilte. Notiz vom 22. April 1904: Gestern war Häeckel da mit Frau auf der Rückreise von der Riviera. Unter anderem daß: Der gibbon (in seiner Insulinde beschrieben) war Kind im Haus, wollte ihn geschenkt haben, entsetzter Einwand er hält Reise und Klima nicht aus, Häeckels Vorschlag „als so einfach vergiften“ Cadaver mit nehmen. Erfolgte Zurechtweisung: lieber sie vergiften Wenigstens der Gibbon gerettet, die Anhänger aber von Häeckel sind ohne Cadavereinsendung alle vergiftet. Schade um diese im Dreck verfahrene Arbeitskraft, baar aller Logick, durch Nimbus und Eigendünkel gelingt es nicht, sich mit ihm in ein ernstes Gespräch einzulassen: Einzigstes Wissen auffallender Art. Abgedampft. Diese Sorte Naturwissenschaft ist zum Glück im Aussterben begriffen, die Ziegelträger werden überflüssig, der Architekt muß wieder zu Worte kommen. Als Phylosoph ist Häeckel nur ein schlechter Witz. Als Mensch? (Siehe meine Ansichten zum Menschen) Skelet gehört dem Jenaer Museum: „Wie er sich räuspert, wie er spuckt. Hat er ihm treu­lich abgekuckt“ Sagt der Dichter. G. M. P. S. Man sollte meinen, der Umgang mit der Natur, ihrer Erfahrung müßte diese Menschen veredeln, einstweilen ist das Gegentheil zu bemerken. Ich habe viele dieser Herrn kennen gelernt – der Eindruck ist der, als hebte man an schwühlen Somertag den Deckel von der Versitzgrube des Aborts – schnell wieder zu. Es ist so: Der Ziegelträger an einem Bau strotzt vor Schweiss und und Schmutz, er theilts für Geld (Gehalt, Orden, Titel etc.). Der Architekt, Bauleiter ist Salonfähiger und Gereizter Man, die Arbeiter kenen nur die Scholle, wissen nicht um was sichs

307 Auszug aus einem Blatt vom 31. August 1902, betitelt „Visionen“, auf dem sich Gabriel von Max über das Verhältnis vom Geist zum Körper äußert. Er beschreibt, wie er morgens im Halbschlaf den Körper hinsicht­lich der Frage beobachtet, „was der Körper wohl denkt“. GNM, NL Max, Gabriel von I,B-7.

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handelt. Ihre Corekturen am Bauplan werden ignoriert und bald verlacht. Ihre Stime zählt also nicht, striken sie komen andere, bessere. So bügelt die Zeit. GM.308

Haeckels Unfähigkeit zum Mitleid ruft die Verachtung von Max’ hervor. Er zeigte sich davon verletzt und beleidigt, dass Haeckel einen seiner Affen, die ihm doch wie Kinder am Herzen lagen, zu wissenschaft­lichen Zwecken umbringen wollte. Die Vernachlässigung der Sensibilität in der sinn­lichen und emo­tionalen Wahrnehmung der Umwelt lässt die Wissenschaft von Max als „einseitiges“ Geschäft erscheinen, das nicht dazu geeignet ist, eine Übersicht über den „Bauplan“ des gesamten Theorie­ gebäudes zu gewinnen, das Voraussetzung für die Erkenntnis der Natur ist.309 Die Frontlinien verlaufen für von Max ­zwischen arrivierten Wissenschaftlern, die die Lehrmeinungen der Zeit maßgeb­lich bestimmen, und solchen, die sich mit ihren teils eigenwilligen Ansichten freiwillig oder unfreiwillig eher am Rande der scientific community bewegen.310 Von Max’ Begegnung mit Haeckel mag auch deswegen ungünstig verlaufen sein, da sich dieser auf dem Rückweg aus einem Urlaub befand, in dem er in kürzester Zeit seine Schrift über die Lebenswunder verfasst hatte, die, obwohl nur als Ergänzung zu den Welträthseln (1899) geplant, wiederum mehrere Hundert Seiten umfasste. Der dafür nötige Überschwang stand im Gegensatz zu von Max’ zurückgezogener Lebensweise. Zusätz­lich glaubte von Max an den übersinn­lichen Charakter zahlreicher Naturphänomene und dürfte von daher wenig überzeugt gewesen sein, dass ein einziges Buch dazu in der Lage sein sollte, alle „Lebenswunder“ zu enthüllen. Da er daran festhielt, dass sich bestimmte psychische Prozesse (so auch der Kontakt mit schon Verstorbenen) ledig­lich durch personale Medien offenbaren ließen, erschienen ihm die akademischen Versuche, diese Prozesse zu klären, wie ein missglücktes Versteckspiel: Dr. Paul Flechsig schreibt ein Buch, Gehirn und Seele. Das Gehirn kan er nicht recht sehen, das Mikroskop versagt – hinter einer spanischen Wand ruft nekend etwas „Ich bin die Seele“. Schnell springt er hinter die Wand, da ruft es vor der Wand „ich bin die Seele“. Wild geworden, ergreift er den Ofenschürhaken und die Jagd geht an. Der Schirm ist längst zertrümert, imer höhnt es hinter irgend etwas „da bin ich, ich bin Seele“.311

308 GNM, NL Max, Gabriel von I,B-7. 309 Siehe dazu auch entsprechende Bemerkungen in GNM, NL Max, Gabriel von I,B-5 und I,B-242. 310 Auch Rudolf Virchow und Hermann von Helmholtz kanzelt von Max ab, mehr gelten ihm der Archäologe Jacques Boucher de Crèvecoeur de Perthes (1788 – 1868), der eigent­lich Zollbeamter und ebenfalls Autodidakt war, sowie der Anthropologe Hermann Klaatsch (1863 – 1916) und der Physiker Johann Karl Friedrich Zöllner (1834 – 1882), der wie von Max spiritistische Séancen veranstaltete. 311 Blatt vermut­lich vom 3. August 1899, GNM, NL Max, Gabriel von I,B-222.

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Mit den Aufzeichnungen von Dr. Flechsigs berühmtestem Patienten, dem Präsidenten Schreber, hätte Gabriel von Max mög­licherweise mehr anfangen können, verließen diese sich doch auf die Vermittlung subjektiver psychischer Vorgänge. Deren (scheinbare) Unverfügbarkeit zu zeigen, sie aber gleichzeitig auch zu brechen sah G ­ abriel von Max als Aufgabe der Kunst an, die er mit der Wissenschaft in der Anthropologie zusammenfassen und als rettende Bildungsstätte der Menschheit aufbauen wollte. Die Anthropologie sollte wie ein gemaltes Reeduca­tion-­Programm auf das Publikum einwirken. Aus von Max’ Nachlass geht hervor, dass er ein anthropolo­gisches Museum plante, in dem Anthropologie als eine Art Superwissenschaft 312 vorgestellt werden sollte: Dasselbe müste das größte Museum jedes Staates sein […]. So ein Museum müßte einschließen: 1. Astronomie, Geographie, Klimakunde 2. Psychisch/Physiolo­gisches in Präparaten: ‚Psychischer Einfluß auf Körpertheile‘ 3. ­Psychische Klinik 313

Seine eigenen ersten Besuche in naturhistorischen Sammlungen hatte von Max als „Auferstehungsfest“314 beschrieben, nun wollte er missionieren und bekehren. Nicht zuletzt versuchte er damit aber auch eine dauerhafte Lösung für die Aufbewahrung seiner riesigen Sammlungen zu finden, deren Pflege für ihn ein Grund gewesen war, seinen Posten an der Münchner Kunstakademie aufzugeben.315 Ihm erschien dabei insbesondere die Präsenta­tion der ausgestellten Objekte von besonderer Wichtigkeit zu sein, deren Anordnung so erfolgen sollte, dass sie insbesondere die Thesen Darwins plausibilisierten.316 Es finden sich einige Skizzen im Nachlass, auf denen zu erkennen ist, wie die Ausstellungsobjekte aufgebaut werden sollten, die bis dato in seinem Privathaus in herkömm­lichen Vitrinen lagerten (Taf. 6). Einen Entwurf zu der von ihm angedachten Präsenta­tionsweise kommentiert er so: „anthropolog. Museum, mit bestem Licht, billigsten Mitteln Umkehrung des Kastenprincips, Objekt offen, Publikum im Kasten“.317 Die zugehörige Zeichnung zeigt, dass damit ein Ausstellungsprinzip gemeint war, in dem sich die Besucherinnen und Besucher hinter Glas bewegen sollten und den Ausstellungsobjekten in einer Mischung aus „Aquarium und Treibhaus“318 erheb­lich mehr Platz einzuräumen war. Das ­Interesse 312 Vgl. dazu auch eine Skizze zum Aufbau der Wissenschaft unter der Signatur GNM, DKA, NL Max, Gabriel von I,B–216. 313 GNM, DKA, NL Max, Gabriel von I,B–222. 314 GNM, DKA, NL Max, Gabriel von I,B–218. 315 Vgl. Althaus 2010, 253. 316 Vgl. dazu ebd., S. 251. 317 GNM, DKA, NL Max, Gabriel von I,B–218. 318 Ebd.

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von Max’ galt dem Versuch, den Menschen auf eine neue Weise mit medialer Außenreferenz auszustatten und damit die Art und Weise zu erneuern, wie überhaupt über den Menschen gesprochen und nachgedacht werden konnte. Was würde geschehen, wenn der Mensch in einem Museum sein eigenes Anschauungsmaterial würde; was, wenn er sich dem Blick seiner Vorfahren genau so aussetzte, wie er seinen Blick auf sie richtete? Genealo­gische Fragen, die von Max schon im Zusammenhang mit seinen Studien zu den Affen beschäftigt hatten, werden dabei auf die Objektwelt des Menschen übertragen, in der jeder Gegenstand zu einem biografischen Medium der Menschheit wird: Jeder Gegenstand ist ein selbst registrierender Apparat der graphisch fixirt das was ihm im Laufe der Zeit zugestossen, wie und wozu und wem er dienen mußte, was die Elementarkräfte mit ihm vorgenommen, kurz der seine Autobiographie schreibt, diese Schrift der Spuren lesen zu lernen erfordert ein eigenes aufmerksames Studium und vielseitigste Kentniße, vor allem Beobachtungsgabe und lo­gisches Denkvermögen. Folgende Samlung von Beispielen soll zeigen wie die Wechselwirkung der Dinge und alles Gesehenes Merkmale hinterlassen. Dächer mit Kaminen zeigen die vorherschende Windrichtung, also Klima graphisch an. Stehparket in Theatern zeigt Maximum Mittel und Minimum der Körpergröße der män­lichen Bevölkerung an, ebenso Armlänge. […] Jedes Gesicht stellt graphisch Abstamung, Psyche, Biographie dar, ebenso ist der ganze Körper und jede Bewegung Autobiographie. Ebenso jedes äußere Atribut. […] Spuren lesen lernen ist der Inbegriff aller Wissenszweige, ­welche sich mit Vergangenem beschäfftigt. Da es keine Gegenwart gibt, so ist es der Inbegriff unserer Erkentniß. Das Gekrizel öffent­licher Aborte zeigt die Qualität der Schulen, Geist­lichen, des Durchschnitt­ talentes der Bevölkerung an.319

In Gabriel von Max’ anthropolo­gischem Museum erscheint die Anthropologie als Wissenschaft, die alle Dinge derartig medialisiert, dass ihr Hauptzweck darin besteht, zur Registratur, Aufzeichnung und Speicherung der Belange des Menschen beizutragen, der als Supermedium in ihrem Zentrum steht. Gabriel von Max’ Anthropologie wird zu einer medialen Anthropologie, die das von Stefan Rieger für die Medienanthro­ pologien formulierte Problem aufweist, „in wundersam tautolo­gischer Redundanz“ den Menschen „gleich zwei Mal [zu] adressier[en]: in einer Menschenwissenschaft vom Menschen eben“.320 Der fehlenden Empirie, die von Max dabei an anderen Anthropologen beklagt, setzt er zwei Formen der malerischen Auseinandersetzung mit den Affen e­ ntgegen: einerseits eine konsequente Personalisierung, die er durch die Darstellung der emo­ tionalen Vorgänge bei den Affen umsetzt. Andererseits greift er zum Mittel der 319 Ebd. 320 Rieger, Stefan (2013): Medienanthropologie. Eine Menschenwissenschaft vom Menschen? In: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung (2013) 1, S. 191 – 205. Hier: S. 191.

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Allegorie, das an den Gemälden deut­lich wird, auf denen Affen in Rollen zu sehen sind, die von Menschen ausgeübten Berufen entsprechen. Franziska Uhlig hat darauf verwiesen, dass diese Bilder ihren ikonografischen Ursprung in einer literarischen Gattung, näm­lich der Fabel haben.321 Dieser Befund deckt sich mit den moralisierenden Notizen von Max’, die immer wieder an den Begriffen Wahrheit und Lüge abarbeiten, und damit die topoi ars simia naturae und den Konflikt ­zwischen Authentizität und Simula­tion, ­zwischen Original und Kopie aufrufen. Dies fällt bei Werken wie Kränzchen (bekannt geworden unter dem Titel Affen als Kunstrichter; Taf. 7) von 1889 und Anthropolo­gischer Unterricht (ca. 1900; Taf. 8) besonders ins Auge, da die Affen hier in ihren jeweiligen Rollen in einem direkten Objektbezug zu Gegenständen stehen, die als Kulturprodukte ausgewiesen sind. Im Kränzchen scharen sich dreizehn Affen um ein Gemälde in einem dicken Goldrahmen. Den Bildgegenstand können die Betrachtenden nicht sehen, durch einen halb verdeckten Aufkleber auf der Rückseite des Rahmens werden sie jedoch darüber informiert, worum es sich handelt: „No. 13/Öhlgemälde von [der Rest der Aufschrift ist hier verdeckt, H. E.]/Gegenstand: Tristan u. I [Rest des Wortes verdeckt, H. E.] / Werth: 100.000 Mark“. Das Motiv hat Gabriel von Max selbst einmal gemalt,322 hier zeigt er nun die Reak­tionen einer dicht gedrängten Primatengruppe, von denen einige sehr nah an der Leinwand sitzen und sie gebannt betrachten, andere scheinen eher mit ihren Artgenossen beschäftigt oder wenden sich ab; allein zwei Affen schauen direkt aus dem Bild heraus: ein Affenkind, das eng an seine M ­ utter gepresst ist, und die zentrale Figur der Gruppe, ein Pavian, dessen linkes Bein lässig über dem Rand der Kiste baumelt, auf dem er und seine Kollegen sitzen, während er das rechte angewinkelt aufgestellt hat.323 Die Schau des Affen auf den Menschen, der durch den Blickkontakt dieser beiden Affen mit dem Betrachter inszeniert wird, verdoppelt sich durch die Betrachtung menschlicher Artefakte, in die die anderen Affen auf dem Bild vertieft sind. Gerhard Neumann hat diesen Blick als „naturgeschicht­liche[] Bewahrheitung und Infragestellung zugleich von dessen [des Menschen, H. E.] mimetischen Vermögen“ beschrieben, durch den der Affe zum „Inszenator des Zweifels am menschlichen Schöpfertum und menschlicher Authentizität“324 werde. Diese Einordnung wird auf Grundlage 321 Uhlig, Franziska (2010): Gegenzauber. Gabriel von Max’ Interesse für Affen. In: Friedel; ­Althaus (Hg.) – Gabriel von Max, S. 316 – 329. Hier: S. 317. 322 Das Gemälde Isolde aus dem Jahr 1894 zeigt die tote Liebende auf einen Felsen niedergestreckt, hinter ihr lodert eine Feuerschale, von der schwarzer Rauch aufsteigt, während am Horizont die letzten Lichtstrahlen eines offenbar recht düsteren Tages zu sehen sind. 323 Im Nachlass Gabriel von Max’ findet sich eine Fotografie eines toten Pavians, dessen Körper in genau dieser Haltung arrangiert ist, auch andere Fotografien aus dieser Serie von 1870 weisen Ähn­lichkeiten zur Haltung der Affen auf dem Gemälde auf. Abbildungen der Fotos finden sich in Karin Althaus’ Beitrag Die Affen. Studienobjekte und Lebensgefährten (2010, 302 f.). 324 Neumann 1996, 99.

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der Annahme getroffen, dass die Affen Gabriel von Max’ als Fabeltiere fungieren, die lächer­liche Wesen repräsentieren und damit in der Tradi­tion der singeries stehen. Tatsäch­lich zeigen jedoch seine Notizen, dass von Max seine Affen für zu allem fähige Wesen hielt. Der Affe als Anatom auf Affe vor Skelett (um 1900) ist dementsprechend keine Karikatur eines Wissenschaftlers.325 Vielmehr wird der den Affen unterschätzende Mensch karikiert. Der Affe auf ­diesem Bild steht aufrecht, neben der Kulturtechnik des Schreibens, die er zu beherrschen scheint, ist ihm der aufrechte Gang schon lang vertraut. Von Max zeigt hier eine aller Privilegien beraubte Menschheit. Dies ist eine deut­lich verschärfte Vision gegenüber der drolligen Anthropologie Paul Meyerheims (1842 – 1915), der mit dem Gemälde Affenakademie sehr erfolgreich war. Es zeigt ein Atelier, in dem unter anderem ein Orang-­Utan durch die Lüfte turnt, während sich andere Artgenossen an der Staffelei versuchen.326 Die Satire auf akademische Theorie und die Porträtmalerei selbst, die Janson beispielsweise anhand des Singe Peintre (1740) von Jean Siméon Chardin gezeigt hat,327 wird jedoch bei Gabriel von Max selbst persifliert. Denn einerseits greift er diese Tradi­tion zwar auf,328 andererseits geht er aber über sie hinaus, indem er ein eigenes (pessimistisch-)anthropolo­ gisches Programm vertritt und unter ganz anderen technischen Voraussetzungen als seine Vorgänger arbeitet. Diese bestehen vor allem in der Herstellung von Vorlagen für seine Gemälde. Für die Fotografien der toten Affen (Abb. 29 und Abb. 30), deren Körper er in 325 Zur Nobilitierung des Affen als Künstler und Wissenschaftler bei Boccaccio siehe Böhme, Harmut (2001a): Der Affe und die Magie in der „Historia von D. Johann Fausten“. In: ­Werner Röcke (Hg.): Thomas Mann. Doktor Faustus 1947 – 1997. Publika­tionen zur Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge Bd. 3, S. 109 – 145. 326 Zu Meyerheim siehe Artinger 1995a und Artinger, Kai (1995b): Der beobachtete Mensch. Gabriel von Max’ ‚Affen als Kunstrichter‘ und Paul Meyerheims ‚Affenakademie‘ im Kontext der Anfänge der anthropolo­gischen Forschung. In: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst, S.  163 – 174. 327 Janson 1952, 311. Das Gemälde wird auch von Silke Förschler als Ausgangspunkt für eine Skizze zur Geschichte der Darstellungstradi­tion des Affen genommen (dies. (2011): Ikonografie der kleinen Unterschiede. Chardins malender Affe und Menschenaffen in naturhistorischen Illustra­tionen. In: Elisabeth Johanna Koehn et al. (Hg.): Andersheit um 1800. Figuren – Theorien – Darstellungsformen. München: Fink). Zeitgleich malt auch Christophe Huet zahlreiche Affen, die menschlichen Berufen nachgehen; auch er hat einen Affen als Maler im Angebot (Le Maître peintre, 1741). Eine andere Gravur nimmt wiederum das Motiv des gelehrigen Affen auf (Le Maître d’École, undatiert). Auffällig ist an den Arbeiten von Huet, dass er nur Berberäffchen als Vorlage verwendet hat, die schon entdeckten Primaten jedoch keine Rolle in seiner Kunst zu spielen scheinen (zu Huet siehe: Garnier-­Pelle, Nicole et al. (2010): Singeries et Éxotisme chez Christophe Huet. Saint-­Rémy-­en-­l’Eau: Édi­tions Monelle Hayot). 328 So auch in dem Gemälde Die Kunstkritiker, zwei Affen betrachten ein Gemälde (vor 1900), auf dem ein Affe noch mit der Farbtube in der Hand gezeigt wird und wohl eher ein Kunstverbesserer als -kritiker ist.

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Abb. 29 und 30: Fotografien toter Affen, die Gabriel von Max als Studienobjekte dienten

die Posen versetzte, w ­ elche schließ­lich die Affen auf den Gemälden einnehmen, nutzte er die neueste Reproduk­tionstechnik, um einen künst­lich herbeigeführten Moment festzuhalten, den er dann wiederum in seinem Gemälde reproduziert, das genau diese Art von künstlerischer Arbeit thematisiert. Für von Max steht dabei weniger die Frage nach dem „menschlichen Schöpfertum“ selbst im Vordergrund als eine Verächt­lichmachung des Kults darum. Im Entwurf eines Briefes an einen unbekannten Adressaten unterscheidet er z­ wischen Bildern, die „billige[] Namensvertreter[]“ ­seien, und „ernst gemeinten Bildern, von denen er alle Jahre nur ein bis zwei produziere, und fügt hinzu: „Wo ich kann vermeide ich den Kunsthandel bei ernst gemeinten Bildern.“329 Da ihm somit selbst recht wenig an den meisten seiner eigenen Bildern gelegen zu haben scheint, verstand er nicht, wie seine Käufer ihnen so viel Bedeutung beimessen konnten und dementsprechend zahlungswillig waren: „Mir unfaß­lich ist es, daß es Menschen gibt die 2 – 3[die Schrift von Max ist an dieser Stelle unleserlich] M. ausgeben für eine gemalte Menschenfratze, anstatt ein seltenes Fossilrest zu erwerben.“330

329 Auszug aus einem undatierten Brief an einen unbekannten Empfänger, GNM, DKA, NL Max, Gabriel von I,B-64. 330 Blatt von 1904, GNM, DKA, NL Max, Gabriel von I,B-218.

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An ein Bild, das für ihn selbst künstlerisch Bestand haben konnte, legte er wiederum emo­tionale Maßstäbe an: Sind Bilder Darstellungen von Gesehenem, dan haben sie mehr oder weniger wenig Anspruch. Sind sie Resultat von Empfindungen dan sind sie geadelt. Nicht was der physiolo­gische Körper des Künstlers schafft das Werth, nur das was die zweite, tiefere Seele äußert. […] Ein Bild soll kein Prunk sein, sondern gefrorene Musik ­welche eine warme Seele aufthaut. Wenig Striche aus der Seele sind mehr werth als Kilometerbilderreihen, w ­ elche Prunk verherr­ 331 lichen, oder Geldbeutelgesichter.

Diese Forderung an die Malerei erklärt, warum sich von Max nicht auf die Fotografie verlegte, deren technische Mög­lichkeiten seinen wissenschaft­lichen Interessen durchaus entgegenkommen wäre. Die kostbare Rahmung des erhabenen Motivs und das geifernde Zähnefletschen einiger der im Kränzchen dargestellten Affen wieder­holen seinen Anspruch an die Malerei, die im Moment einer mimetischen Krise gezeigt wird: Die Affen übernehmen das Verhalten der „Geldbeutelgesichter“, die sich für Prunk begeistern, und weichen damit von einem idealen Verhalten in einer idealen Welt ab, in der man überhaupt nicht in die Verlegenheit gerät, ­zwischen Kunst und Natur unterscheiden zu müssen. Für von Max steht auch fest, dass es sich bei den Affen um „das Original“332 handelt, von dem der Mensch nur eine sich immer weiter verschlechternde Kopie ist. Damit kehrt er die herkömm­liche Sichtweise auf das „Nachäffen“, die geistlose Nachahmung um und naturalisiert es derart, dass es zu einer anthropolo­gischen Konstante wird, da hier bereits der Körper des Menschen Beleg für das beständige K­lischieren der Genealogie wird. Dieser Punkt scheint mir für das Verständnis der Bilder von Max’ entscheidend zu sein, besonders in Hinblick auf Kränzchen, das ohne einen Blick auf von Max’ Nachlass selbst in sehr versierten Auseinandersetzungen als Beleg dafür gesehen wird, dass der Affe stets als „negative Figur“ zu deuten sei.333 Die Wahrnehmung der Natur durch Medien bedeutet für von Max generell einen Verlust an Authentizität und geht immer mit der mora­lischen Verkommenheit der Menschen einher, die ihre eigenen Regungen, Wahrnehmungen und Gedanken durch eine Vermittlung in der Kunst entstellen, ‚Wahrheit‘ verschleiern und letzt­lich selbst nicht mehr dazu in der Lage sind, ihrer eigenen Wahrnehmung zu vertrauen. Da er selbst sein Leben dadurch bestritt, am Kunstmarkt mitzuarbeiten, konnte er kein affirmatives Verhältnis zur eigenen künstlerischen Arbeit entwickeln. Dementsprechend frustriert äußerte er sich um 1904: 3 31 Auszug aus einem Blatt von 1904, GNM, DKA, NL Max, Gabriel von, I,B-224. 332 GNM, DKA, NL Max, Gabriel von, I,B-7. 333 S. bspw. Voss, Julia (2009): Monkeys, Apes and Evolu­tionary Theory: From Human Descent to King Kong. In: Donald; Munro (Hg.) – Endless forms, S. 214 – 234. Hier: S. 221.

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Da muß man erst sechzig Jahre alt werden um gründ­lichst einzusehen, daß man nichts als ein Kunstprodukt ist und unter Kunstprodukten lebt. Ideen, Sprache, Kleidung, Gewohnheit, Nahrung, Musik, alles ist vorgekautes Zeug, althergebrachte Albernheiten, dessen man sich nicht erwähren kan. Natür­lich war das ganze Leben ein Sträuben gegen den bleiernen, angehängten Unfug. […] Wen nicht alles Maske und elende Lüge wäre! […] Wie hoch stehen die in Freiheit lebenden Thiere, die die Natur selbstständig wahrnehmen! Ausgestattet mit dem Adelsbrief „Nichtlügner“! Aber Weh dem Menschen der es nicht trifft sich durch Leben durch zu lügen und durch zu heucheln! Lüge und Heuchelei, so respektiere ich den Schuften neben dem ich lebe, eine Hand wäscht die andere.334

Die Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung der „in Freiheit lebenden Thiere“ kehrt in verschiedenen Gemälden wieder, die Affen in menschlichen Rollen zeigen. Die beiden Affen, die sich in dem Gemälde Anthropolo­gischer Unterricht mit einer Puppe beschäftigen, nähern sich der Menschenwelt als Störenfriede, das Kissen, auf dem sie sitzen, haben sie schon so zerpflückt, dass die Füllung herausquillt, der größere der beiden widmet sich der Fellpflege. Bei diesen Affen handelt es sich um Gefangene, wie die Ankettung des größeren Affen deut­lich anzeigt, die „selbstständige Wahrnehmung“ ist ihnen schon verloren gegangen, was nicht zuletzt durch die Unterrichtssitua­tion markiert wird. Die Erziehung und Ausbildung des jüngeren Affen, die hier mithilfe einer Puppe erfolgt, führt zu einer Tradierung der schlechtesten Eigenschaften des Menschen. Die Puppe, die mit ihrem starren Gesichtsausdruck und der Steife ihres Körpers weniger an einen Menschen erinnert als das gelehrige Affenkind, ist ein ganz künst­licher Mensch, anhand dessen sich alles vermitteln lässt, was von Max als auszeichnende Eigenschaften des Menschen betrachtet. Es bleibt offen, ob hier ­zwischen den Affen eine Verständigung über die Grundlagen der ‚schwarzen‘ Anthropologie Gabriel von Max’ stattfindet, oder ob die beiden Teil von ihr sind, indem sie den Unterricht zur Einübung der menschlichen Künst­lichkeit ­nutzen, die auf die Dauer nach Ansicht von Max’ zur Auslöschung der Natur und damit des Menschen führen wird: Meine Herrn, angeborene Dummheit ist ein Entschuldigungsgrund vor Gott, insofern dürfen sie hoffen, wie immer es komt. Wen die gütige M ­ utter Natur jeden Grashalm richtig schafft, nur sie kümer­lich ausgestattet hat, so dürfen sie nicht verzagen, daß ein unerbitt­liches Naturgesetz sie zu Bewusstsein komen lassen wird, daß sie existierten, aber damit müssen sie sich begnügen, den Naturprodukte sind sie nicht, nur Kunstprodukte, wie Kunstvereine, Kunstbutter, Kunsteier etc. Fälschungen wohnt aber keine Naturkraft bei, darum ists nicht schade wen sie erlöschen, womit sie ja überhaupt einverstanden sind, gemäß ihrer Organisa­tion. Ich hoffe sie alle nicht wieder zu sehen dereinst, wohl aber meine Hunde.335

334 Auszug aus einem undatierten Blatt, GNM, DKA, NL Max, Gabriel von I,B-5. 335 Auszug aus einem undatierten Blatt, GNM, DKA, NL Max, Gabriel von I,B-7.

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Die Verachtung, die von Max der Künst­lichkeit der Menschen entgegenbrachte, ist in einem Topos deut­lich auszumachen, der auch in Friedrich Nietzsches Äußerungen über Affen eine Rolle spielt: Die Schauspielerei erscheint Nietzsche als ultimative Affenkunst, die sich weniger im Theater als im alltäg­lichen Leben andauernd ausmachen lässt. Dieser Punkt wird von Gabriel von Max aufgegriffen, wenn er als Menschen verkleidete Affen auf dem Weg zu ihrer letzten Vorstellung hinter dem Vorhang eines Theaters zeigt (Letzte Vorstellung, o. J.). Der Titel annonciert, dass es sich hier um eine Situa­tion handelt, in der das Nachher entscheidend ist: Der Beifall für die Darbietung, die Rückkehr aus der angenommenen Rolle in die eigent­liche Identität. Die Rückkehr beginnt bei von Max nach der letzten Vorstellung der Affen in ihrer Rolle als Karikaturen des Menschen,336 Anthropologie wird bei ihm zu einer Wissenschaft vom Rollentausch des Menschen mit dem Affen.

Affen als Übermenschen? Auf den Affengemälden Gabriel von Max’ tauchen in der Regel keine Menschen auf, allein eines zeigt ihn selbst mit einem Affen auf dem Arm (vermut­lich sein Kapuziner­ äffchen Paly), ein weiteres bildet eine häus­liche Szene mit seiner Frau, ihm selbst und den Affen am Abendbrottisch ab.337 Beides sind marginale Werke aus einer späten Schaffensphase (nach 1910). Die Mehrzahl der Affengemälde suggerieren, dass die Menschen eigent­lich Karikaturen der Affen sind. Die Ausnahmestellung, die von Max’ Affengemälde durch diese Sichtweise einnehmen, wird deut­lich, wenn man sich die Darstellungen von Gorillas vor Augen führt, die zur gleichen Zeit zirkulierten.338 Die in der Literatur maßgeb­lich durch Paul Du Chaillu verbreitete Wahrnehmung des Gorilla 339 als brüllende Bestie, die sich prototypisch in Frémiets Plastik von 1887 ausdrückte, die einen Gorilla beim Raub einer Frau 336 Eine ähn­liche Ermächtigungsfigur stellt Wilhelm Buschs Fipps, der Affe dar: Für seine vielen Streiche und Boshaftigkeiten, die das Verhalten der Menschen nachahmen, muss er am Ende sein Leben lassen. Auch diejenigen, denen er im Verlauf der Geschichte geholfen hat, wollen sich nicht in dieser wilden Version ihrer Selbst spiegeln (Busch, Wilhelm (1879): Fipps, der Affe. München: Bassermann). 337 Vgl. Friedel; Althaus 2010, 314 und 329. 338 Dazu gibt es eine Vielzahl von Untersuchungen; viele davon nehmen als Ausgangspunkt der Überlegungen die Figur King Kong. Vgl.: Borgards 2009a; Erb, Cynthia Marie (1998): ­Tracking King Kong. A Hollywood icon in world culture. Detroit: Wayne State University Press (Contemporary film and television series ); Gerigk 1989; Griem 2007 und 2011; Krüger et al. (Hg.) 2008; Lange 2006; Recki 2006; Voss 2007 (bes. S. 242 ff.); Voss 2009. 339 Du Chaillu, Paul (1861): Explora­tions and Adventures in Equatorial Africa; With Account of Manners and Customs of the People, and of the Chase of the Gorilla, Crocodile, Leopard. London: Murray.

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zeigt,340 verband sich bestens mit den Diskursen des Monströsen, die zur gleichen Zeit bereits fester Bestandteil der Auseinandersetzung mit den Affen waren. Diese bedienen sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem zweier extremer Darstellungsformen: Einerseits greifen sie das Motiv des reißenden Tiers auf (Du Chaillu), andererseits den sanftmütigen Vorgänger der Bestie Mensch. Diese durch von Max propagierte Version griff einer Sichtweise auf Primaten voraus, die erst im 20. Jahrhundert durch die Verhaltens- und Feldforschung breite Anerkennung finden konnte.341 Dieser Zugang zu den Affen verband von Max mit Charles Darwin auf eine Weise, die von ihm selbst entweder übersehen oder nicht expliziert wurde.342 Darwins Bild des Tieres, in dem die „Bestie keinen Platz“ haten,343 teilt Gabriel von Max. Den vakant gewordenen Platz der Bestie, der von anderen Autoren mit Mischwesen wie den Affenmenschen besetzt wurde, füllte in seinem Denken der Mensch aus. ­Darwin war daran gelegen, darauf hinzuweisen, dass Affen genau wie Menschen befähigt sind, Vergnügen, Freude, Zuneigung, Zorn, Schrecken und Furcht, Trauer und Angst 344 zu empfinden; seine Beschreibung eines kichernden Cebus oder des Cyno­pithecus niger (Abb. 31), dem er eine kleine angezogene Puppe mit in den Zoo brachte,345 lassen einen Wunsch nach einer grundsätz­lich freundschaft­liche Einstellung gegenüber dem Tier vermuten. Die humanitäre Geste Darwins in der Schrift über die Gemütsbewegungen der Tiere sollte darauf verweisen, dass der Mensch vom Tier „vornehm­lich Gutes“346 erbte. Das reichte von Max nicht aus: Mit der Anerkennung der Emo­tionalität der Tiere, insbesondere der Affen, musste bei ihm eine Abwertung der emo­tionalen Vermögen des Menschen einhergehen. Von Max’ Umkehrung der tradi­tionellen Sichtweise auf das Verhältnis von Menschen und Affen, die sich gegen die zeitgenös­sischen potenten Stereotypen der Affendarstellung wendet, schließt damit auch an Autoren wie Alfred Brehm an. Diesem wird zwar in der Regel (wie auch von Max) ein Hang zu anthropomorphen Tierdarstellungen attestiert, die eine neutrale Sicht auf das Tier selbst verhinderten, hervorzuheben bleiben aber ihre Versuche ein Gefüge zu entwerfen, in dem Menschen und Affen interagieren können, indem ihre Eigenheiten nicht von vornherein in Opposi­tion zueinander gedacht werden. Bei von Max’ Gemälden könnte man von pithecomorphen Menschendarstellungen (anstatt von anthropomorphen Affendarstellungen) sprechen, da ihm diese ja als immer schlechter werdende Nachbildungen des Affen 340 Zur Geschichte der Plastik siehe Ducros, Jacqueline und Albert (1995): From Satyr to Ape: A Scandalous Sculpture in Paris. In: Corbey; Theunissen (Hg.) – Ape, Man, Apeman, S.  337 – 340. 341 Siehe dazu Sommer 2000. Zur Kritik der Primatenforschung siehe Haraway 1990 und ­Haraway 1995. 342 Hier kann noch keine letztgültige Entscheidung getroffen werden, da dazu der gesamte Nachlass gesichtet werden müßte. Dies stellt ein Desiderat für weitere Forschungen zum Thema dar. 343 Vgl. Voss 2007, 246. 344 Darwin 2009a (Gemütsbewegungen), 1240 ff. Die größte emo­tionale Ausdrucksfähigkeit, die sogar noch die des Menschen übersteigt, spricht Darwin allerdings den Hunden zu (ebd., 1173). 345 Ebd., 1246. 346 Voss 2007, 247.

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Kapitel IV: Ästhetisieren

Abb. 31: Cynopithecus niger – Der lachende Affe aus Charles Darwins Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren von 1872

erscheinen. Die Verschiebung des Zentrums der Anthropologie vom Menschen hin zum Affen ist radikal, da sie bei von Max auch die Frage danach aufwirft, wie eine Kunst aussehen könnte, die den Anthropozentrismus überwunden hat. Übergeordnet bleibt die Frage nach einem empathischen Miteinander der Lebewesen in der Natur stehen. Diese Betonung der sozialen Komponente im Mensch-­Tier-­Verhältnis setzte von Max vor allem auf der privaten Ebene um, seine pessimistische Einschätzung der Moralität seiner Mitmenschen radikalisierte sich mit zunehmendem Alter. Seine kulturpessimistische, teilweise sogar antiintellektuelle Haltung wird dabei zum Ende seines Lebens durch seine Nietzsche-­Lektüre gestützt. Eine gewisse Bekanntschaft mit einzelnen Schlagworten macht sich an verschiedenen Stellen beispielsweise durch die Beschreibung des Schimpansen als „Übermensch“ bemerkbar, es finden sich jedoch auch längere Passagen, die direkt Bezug auf Nietzsche nehmen. Von Max posi­tioniert hier Menschen und Affen auf einem gemeinsamen Stammbaum, der die Bildtradi­tionen aufruft, derer sich unter anderem Ernst Haeckel bedient hatte. Dabei scheint er jedoch eine Anordnung vornehmen zu wollen, ­welche die seines Brieffreundes Haeckel umdreht. Dies ist wiederum durch von Max’ Wahrnehmung der unglückbringenden Kultur der Menschen begründet: Zarathustra spricht: Jeder Lappen lobt seine Kappen. Es ist eigent­lich sehr die Frage ob der Mensch höher steht als sein Nachbarzweig, sämt­liche Affen. Daß er das Universum untersucht ist ja nur eine Störung

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seines Daseinsfriedens. Daß er spricht, schreibt, und druckt ist ja nur das Unglück seines ­kurzen Daseins, wie alle sog. Cultur nur das Unglück des Daseins ist. Die entsetz­liche Vermehrung der sog. Menschen beruht ja nur auf dem Fluch „Cultur“, der Hirnüberreizung. Sogar die Hunde sind davon angesteckt. Wie ideal hoch steht der Affe, der sich mit vererbten Dogmen den Kopf nicht zerbricht sondern jeden Licht- und Wärmestrahl genießt! Was für ein Ballast ist alles Wissen, unter was imer für einer Ausrede! O – was könnte man da zusamschreiben ------.347

Obwohl von Max selbst am liebsten seinem Missmut freien Lauf lässt, kritisiert er Nietzsches destruktive Tendenzen und pathologisiert dessen Philosophie aus verschiedenen Gründen: Nietzsches fehlendes naturwissenschaft­liches Interesse stört ihn ebenso wie sein Stil, außerdem stößt ihn die Verehrung ab, die der Autor erfährt. Dessen Gefolgschaft schreibt er dementsprechend ebenfalls krank: Ich bin nicht genug dekadent um zernietscht zu sein. Jedenfalls ist mein Hirn zu oft zur Frau Naturwissenschaft gegangen, auf die lichten Hügel, um Cölnisch Wasser oder Petroleum zu trinken oder gar für den Wahnsin oder Blödsin Nietsches zu schwärmen. Den KlingKlang wird außer „Deutschen“ kein Mensch schön finden oder verstehen. Von ihm kan man sagen: die Eifersucht gegen Wagner hat in toll gemacht. Nietsche hätte den Kampf gegen Windmühlen nicht erst genomen, hätte er die Grundbedingung aller Erkentniß unser bisheriges naturwissenschaft­liches Wissen, bißchen gekostet. Sie das Stiegengelänger. Eigenthüm­lich ist es, daß alle jene, denen ich am Blick ansehe, daß sie nicht sog. normal, meist Nietscheschwärmer sind. Verdächtig machen und ausradieren ist leichter als etwas positives, an dem weiter gebaut werden kan, hin zu setzen. Es ist ein Zeichen ­­ der Heruntergekommenheit der Tintenmenschen Deutschlands dieser anstekende Wanhsin. Trotz aller Mühe fand ich nicht ein Körnlein Wahrheit in seinen Büchern. Man braucht nur das erste Beste Tagblatt in die Hand zu nehmen, um einzusehen, daß selbst Nietsche der irre geführten Menge ein Ideal geworden ist. Styl ist wurscht, wer nichts positives weiß, soll s’Maul halten. Aber ein Narr macht viele! Glück­liches Deutschland!348

Von Max’ Vorwurf gegenüber dem Nietzsche-­Kult ist nicht neu, wurde oft wiederholt und dem jeweiligen kulturkritischen Zweck angepasst. So verfuhr auch die Kunstkritik des Fin-­de-­siècle, die mit den Gemälden konven­tioneller Machart, die von Max anfertigte, jedoch stets sehr gnädig umgesprungen war. Der formale Konservatismus, der von Max’ Werk bestimmt, verschleiert seine weltanschau­lichen Absichten, sodass die Kritik sie als Schrullen verbuchte. Der formale Aufbruch der Wiener Secession konnte hingegen nicht auf diese gnädige Behandlung rechnen. Wie Nietzsche-­Rezep­ tion, Fin-­de-­Siècle-­Kunst und deren Kritik in der Auseinandersetzung um die Abstammungsthese ineinander greifen, untersucht das folgende Kapitel. 347 Eintrag im Notizbuch vom 17. Januar 1908, GNM, DKA, NL Max, Gabriel von, I,B-235. 348 Blatt vom 31. Oktober 1900, GNM, NL Max, Gabriel von I,B-228.

Kapitel V: Imitieren

Karriere einer Phobie bei Friedrich Nietzsche, Max Nordau und Gustav Klimt 1. Wer ist Nietzsches Affe? Der Übermensch, den Gabriel von Max im Schimpansen zu erblicken glaubte, taucht in den Lehren Zarathustras gleich in der Vorrede des Buches auf, das Friedrich ­Nietzsche (1844 – 1900) der mythischen Figur gewidmet hat. Im dritten Abschnitt verkündet Zarathustra dem Volk: „Der Übermensch ist der Sinn der Erde.“1 Der Begriff wird in einer Dreiecksforma­tion eingeführt, in der sich neben dem Übermenschen auch der Mensch und der Affe wiederfinden: Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerz­liche Scham. Und ebendas soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine schmerz­liche Scham. Ihr habt den Weg vom Wurme zum Menschen gemacht, und Vieles ist in euch noch Wurm. Einst wart ihr Affen, und auch jetzt noch ist der Mensch mehr Affe, als irgendein Affe.2

Unter den vielen Fragen, die d ­ ieses Zitat aufwirft, sticht als erste die nach „dem Menschen“ selbst hervor. Wer sich Antworten erhofft, wird mindestens verunsichert, schlimmstenfalls enttäuscht. Das hat mit der Verunsicherung und Enttäuschung zu tun, die Nietzsches Denken und Schreiben hinsicht­lich der Anthropologie durchzieht, wenn er sie auf sich selbst anwenden möchte. Immer wenn es ihm um die Menschheit in der eigenen Person geht, ist die Recherche zum allereigensten So-­Sein mit Qual und Gefahr assoziiert: Aber wie finden wir uns selbst wieder? Wie kann sich der Mensch kennen? Er ist eine dunkle und verhüllte Sache; und wenn der Hase sieben Häute hat, so kann der Mensch sich sieben mal siebzig abziehn und wird doch nicht sagen können: „das bist du nun wirk­lich, das ist nicht mehr Schale.“ Zudem ist es ein quälerisches gefähr­liches Beginnen, sich selbst derartig anzugraben und in den Schacht seines Wesens auf dem nächsten Wege gewaltsam hinabzusehen. Wie leicht beschädigt er sich dabei so, dass kein Arzt ihn heilen kann.3

1 KSA 4 (Z), 14. Ich zitiere hier die Kritische Studienausgabe von 1999, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München: De Gruyter (dtv). Nummerierung und Auflösung der üb­lichen Kürzel im Literaturverzeichnis. 2 Ebd. 3 KSA 1 (UB III, Schopenhauer als Erzieher 1), 340.

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An anderer Stelle spricht Nietzsche von der Hybris des Menschen, die darin besteht, sich bedenkenlos „die Seele bei lebendigem Leibe“ aufzuschlitzen,4 ohne damit zu rechnen, etwaige Funde nicht ertragen zu können. Dementsprechend ist es leicht mög­ lich, dass auch der Philosoph als Arzt der Menschen seine Patienten nicht heilen kann, wenn sie sich auf die „Selbstbesinnung der Menschheit“ einlassen, die Nietzsche im Kapitel „Warum ich ein Schicksal bin“ in Ecce Homo thematisiert.5 Die Überwindung der Menschheit im Menschen, die Nietzsche in Also sprach Zarathustra forderte, wird vom Erscheinen einer Tiergesellschaft begleitet, deren Mitglieder verschiedent­lich schon in Einzeluntersuchungen zu Ehren gekommen sind.6 Hier wird es um ‚den‘ Affen und ‚die‘ Tiere gehen. Nietzsche formuliert seine Fassungen von Mensch, Tier und Affe vor dem Hintergrund der materialistisch orien­tierten Anthropologie seiner Zeit. Obwohl er dieser in mancher Hinsicht nahe steht, beispielsweise wenn es um die gemeinsame Abstammung von Mensch und Tier geht, stellt sein Umgang mit anthropolo­gischen Fragen den Versuch dar, mit dieser Tradi­tion zu brechen. Nietzsches Mensch soll Tier werden, was bedeutet, dass er anerkennen muss, dass er immer schon Tier gewesen ist. Der Affe ist die eindrück­lichste Formulierung für ­dieses Verständnis von Anthropologie. Wie viele der anderen hier behandelten Autoren differenziert Nietzsche in seinem Werk nicht z­ wischen verschiedenen Affenarten. Damit zeigt er sich als typischer Rezipient der zeitgenös­sischen Debatten um die Abstammungsthese. Das Interesse Nietzsches an der Abstammungsthese galt von Anfang galt an der Frage, was sich für das Sein des Menschen als grausamstes, krankes, fantastisches, mutiges Tier 7 aus ihr ableiten ließe. Seine Verwendung der Figur des Affen ist funk­tionalistisch. Die folgenden Abschnitte werden zeigen, wie sich Nietzsche mit den verschiedenen Versionen des anthropolo­g ischen Dreiecks auseinandersetzt, die ich bislang vorgestellt habe. Der Affe fungiert auch bei Nietzsche als ein Medium „der Selbstbesinnung der Menschheit“. Vor der Folie der bisherigen Ergebnisse soll keine Schau auf das Gesamtwerk Nietzsches und alle Fundstellen zum Lemma ‚Affe‘ (es sind

4 KSA 5 (GM), 357. 5 KSA 6 (EH), 340. 6 Vgl. dazu Schmidt 2011, 288 und Bahr, Hans-­Dieter (2003): Nietzsches Tiere. In: Andreas Brenner (Hg.): Tiere beschreiben. Erlangen: Harald Fischer Verlag (Tierrechte – Menschenpflichten, Bd.9), S. 270 – 287; sowie Reschika, Richard (2003): Nietzsches Bestiarium. Der Mensch, das wahnwitzige Tier. Stuttgart: Omega-­Verlag; Acampora, Christa Davis; ­Acampora, Ralph R. (Hg.) (2004): A Nietzschean Beastiary. Lanham, Md.: Rowman & Littlefield. 7 All diese Epithete werden von T. J. Reed genannt, der, wie die Sekundärlitertatur zu ­Nietzsches Tieren insgesamt, damit ansetzt zu erläutern, dass der Mensch bei Nietzsche immer Tier gedacht wird (Reed, T. J. (1978): Nietzsche’s Animals: Idea, Image and Influence. In: Malcolm Pasley (Hg.): Nietzsche: Imagery and Thought. A Collec­tion of Essays. London: Methuen, S. 159 – 219. Hier S. 159).

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etwa fünfzig)8 unternommen werden, sondern vielmehr eine Stellenlektüre, die den Affen bei Nietzsche als „Anschauungsmetapher“9 interpretiert. Dieser Begriff ist bei N ­ ietzsche selbst schemenhaft ausgearbeitet und hat eher heuristischen Wert: Gemeint ist in meiner Lektüre des Begriffs eine Art „anthropolo­g ische Maschine“10, die unablässig Evidenz erzeugen soll und so immer neue Konstella­tionen im anthropolo­g ischen Dreieck aufzeigt. Diese Interpreta­tion erweitert die bisherigen Erkenntnisse um die Darstellung eines folgenreichen Versuchs, die Klärung des Verhältnisses des Menschen zum Affen, zum Tier und zu sich selbst aus der materialistischen Anthropologie in den Hoheitsbereich der Philosophie zurückzuholen. Das Angebot der vorliegenden Ausführungen besteht darin, sich dazu Nietzsches Auseinandersetzung mit der Frage der Mimesis anzuschauen, die sich in seinen Äußerungen zum Nachäffen und Nachahmen niederschlägt. Genau diese Verwendungsweise ist in den Fundstellen zum Affen dominant: Es finden sich keine Gorillas, Kapuzineräffchen und Lemuren, Schimpansen und Bonobos in seinem Werk, da es ihm nicht darum zu tun ist, welthaltig wie sein Zeitgnosse von Max von Sympathieträgern oder Monstern zu berichten, sondern darum, an dem Glauben an die condtio humana zu rütteln. Das Verunsicherungspotenzial einer Figur, die bei Nietzsche oft weder zu den Tieren noch den Menschen gerechnet wird, ist dabei sehr willkommen. Seine Äußerungen zum Nachäffen, Nachahmen und Nachmachen stehen oftmals in Verbindung mit seinen Überlegungen zur Bedeutung der Kultur für einen Lebensraum, der das Dasein des Menschen überhaupt mög­lich und erträg­lich macht. Ich erarbeite dazu keinen Nietzscheanischen Kulturbegriff, der hier bloß im Zusammenhang mit der Frage nach der Züchtung als mimetische Praxis touchiert wird.11 Der Mensch ist bei Nietzsche ein außergewöhn­liches Tier, da er „das noch nicht festgestellte Tier“12 ist, das heißt: er kann sich selbst verändern, nament­lich dadurch, dass er sich mit sich selbst vergleichen kann, da er die Fähigkeit zum Blick in die 8 Vgl. hier auch die Zusammenstellung von Brian Crowley (2004): Index to Animals in N ­ ietzsche’s Corpus. In: Acampora: Acampora (Hg.) – A Nietzschean Bestiary, S. 329 – 359. 9 Den Begriff verwendet Nietzsche selbst zum ersten Mal in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermora­lischen Sinne, KSA 1, 882. Grundlegende Arbeiten zum Verhältnis Nietzsches zur Metapher fehlen nicht, entscheidende Anstöße hat Sarah Kofman bereits 1972 gegeben (dies. (1993): Nietzsche and Metaphor. London, Athlone Press). Auf diese Erkenntnisse kann sich die vorliegende Arbeit stützen. 10 Agamben 2003, 44. 11 Wie Nietzsche den Menschen dabei als bestes Haustier seiner selbst schildert, diskutiert auch Thomas Macho in einem Kapitel zu Anthropotechniken in Ders. (2012): Vorbilder. München: Fink. Hier: S. 432. 12 KSA 5 (JGB, Drittes Hauptstück: Das religiöse Wesen), 81. Nietzsche spricht in d ­ iesem Zusammenhang allerdings davon, dass „die gelungenen Fälle“, gemeint sind in seinen Augen „gelungene Menschen“ (Hinweise auf deren Eigenschaften folgen im selben Abschnitt: stark,

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Vergangenheit besitzt, die zugleich seine größte Belastung darstellt. Nietzsches Tier hingegen, das „an den Pflock des Augenblicks“ gebunden ist und immer gleich vergisst, was es sagen will, hat diese Fähigkeit nicht 13 und muss sich „mit Hilfe des Bilderdenkens eine anschau­liche Welt erster Eindrücke“ erfinden.14 Die Anschauungsmetapher als Verweis auf die Verbindung ­zwischen Mensch und Tier wird von daher in den Blick genommen, bevor der Affe selbst als eine s­ olche verstanden werden kann. Der Einsatz ­dieses Kapitels ist vor allem ein historischer; die Anthropologie ­Nietzsches ist oft genug rekonstruiert und diskutiert worden. Die Arbeit an den Begriffen Nietzsches dient hier ledig­lich als Voraussetzung dafür, ein vertieftes Verständnis der Anthropologie an einem kritischen Punkt zu erreichen, der in der Figur des Affen eine erhöhte Sichtbarkeit erlangt. Es geht hier um eine Konstella­tion, in der die entscheidenden Impulse für philosophische Anthropologie im 20. Jahrhundert gegeben sind: Lehrstühle für biolo­gische Anthropologie sind eingerichtet, die Evolu­tionsbiologie des Menschen ist Teil institu­tionalisierter Auseinandersetzungen und differenziert sich in verschiedenen Fächern aus.15 Die massive Ausdehnung der naturwissenschaft­lich geprägten Anthropologie, die in Figuren wie Vogt und ­Haeckel ihre bekanntesten Vertreter fand, führt zu einer Art Aufbäumen in der Philosophie und benachbarten Disziplinen, die gegen eine rein biolo­gische Interpreta­tion eigene Defini­ tionen des Menschen an den Start bringen: bei Nietzsche findet sich diese Bewegung unter anderem in der Unterscheidung von Philosoph und Wissenschaftler wieder.16 Bei allen wissensgeschicht­lichen Bestrebungen reagiert die Forschung zu N ­ ietzsches Tieren (auch meine) in gewisser Weise (immer noch) auf das stark beanspruchte Kapitel über den anthropolo­gischen Schlaf in Die Ordnung der Dinge, in dem Foucault eine „Entwurzelung der Anthropologie“ im zeitgenös­sischen Denken zur Entstehungszeit seines Werks ausmacht, die ihren Anfang „in der Erfahrung Nietzsches“ nähme.17 Das „Verschwinden des Menschen“, um das es dort geht und das Foucault mit der „Verheißung des Übermenschen“ verbindet, konkretisiert sich als Konzept auf hilfreiche Weise, wenn man es anhand einer Lektüre ausgesuchter Passagen mit dem Tier-­Werden des Menschen assoziiert. Was das genau bedeutet, wird zu klären sein. Dabei kommt es auch auf die Sonderstellung des Affen innerhalb der Gruppe von Lebewesen an, die im Kollektivsingular „das Tier“ heißt.

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männ­lich, erobernd, herrschsüchtig sind hier die Stichworte), die Ausnahme bilden, obwohl eben alle Menschen die Fähigkeit zur Veränderung teilen. KSA 1 (UB), 248. Diesen Punkt hat neuerdings Vanessa Lemm in Nietzsches Philo­sophie des Tieres hervorgehoben (dies. (2012): Nietzsches Philosophie des Tieres. Kultur, Politik und die Animalität des Menschen. Zürich: diaphanes). Lemm 2012, 20. Vgl. Hoßfeld 2005, 170 f; 183 f. Zitat aus Rölli 2011, 442. Foucault 2003, 412.

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Mensch, Tier: Anschauungsmetaphern Die Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermora­lischen Sinne von 1873 wird häufig zur Diskussion der Sprachtheorie im Frühwerk Nietzsches herangezogen.18 Seine sprachtheoretischen Interessen sind darin mit einem Bedürfnis nach der Klärung fundamentaler ontolo­gischer 19 Gegebenheiten gepaart, das sich nament­lich in der Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Tier ausdrückt. Dieses wird zwar innerhalb der sprachtheoretischen Überlegungen reflektiert, stellt aber keine sprachtheoretische Kategorie dar: „Nietzsche [dachte] die Differenz z­ wischen Tieren und Menschen in historischen […] Kategorien“.20 Die historische Kategorie, in die hier die Differenz zum Tier fällt, ist die der getrennten Phylogenese von Menschheit und Tierheit.21 Die historische Fassung von Mensch und Tier verbindet Nietzsche am engsten mit ­Darwin. Nietzsches Genealogien von Menschen, Affen und Tieren sind grundlegend an den anthropolo­gischen Dreiecken orientiert, die er bei seinen Bestimmungsversuchen von Mensch und Tier entwirft. Die Einbettung seiner dabei wirksamen Attribuierungspraxis in ein sprachphilosophisches Forschungsprogramm zeigt den hohen Wahrheitsanspruch, mit dem Nietzsche die Anthropologie verbindet. Gerade durch die Schwierigkeit der Bezeichnung eines Lebewesens wird offenbar, ­welchen begrenzten Anspruch eine taxonomische Bezeichnung wie ‚Säugetier‘ erfüllen kann: Wenn ich die Defini­tion des Säugetiers mache und dann erkläre, nach Besichtigung eines Kamels: „siehe, ein Säugethier“, so wird damit eine Wahrheit zwar ans Licht gebracht, aber sie ist von begrenztem Werthe, ich meine, sie ist durch und durch anthropomorphisch und enthält keinen einzigen Punct, der „wahr an sich“, wirk­lich und allgemeingültig, abgesehn von dem Menschen, wäre.22

18 Vgl. dazu auch die Weimarer Nietzsche-­Bibliographie: http://ora-­web.swkk.de/nie_biblio_­ online/nietzsche.werk_reg_ktl?p_id=1372 (letzter Aufruf: 27. Juli 2015). Richard Schacht bezeichnet die Schrift allerdings als „gute Zusammenfassung seines anfäng­lichen „Vernatür­ lichungsdenkens“ hinsicht­lich der menschlichen Realität“ (Schacht, Richard (2011): Art.: Mensch. In: Christian Niemeyer (Hg.): Nietzsche-­Lexikon. 2. Aufl. Darmstadt: WBG , S. 241 – 243, Hier: S. 242.); eine Interpreta­tion, die die hier vorgetragene Ausdeutung gerade des Begriffs der Metapher in ­diesem Werk unterstützt. Zur Einordnung in die Entstehungsgeschichte Nietzsches Werk vgl. Hödl, Hans Gerald (1997): Nietzsches frühe Sprachkritik. Lektüren zu „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermora­lischen Sinne“ (1873). Wien: WUVUniversitätsverlag. Hier: S. 36 f. 19 Ontologie hier verstanden im Sinne von Agamben: „[…] die in jedem Sinne grundlegene Opera­ tion, in welcher die Anthropogenese, das Menschwerden des Lebewesens erfolgt.“ Agamben 2003, 87. 20 Macho 2012, 435. 21 Vgl. KSA 3 (FW), 381. 22 KSA 1 (WL), 883.

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Nietzsche möchte die anthropolo­gische Kernfrage nicht durch die Formulierung eines tentativen Begriffs beantworten, denn sie stellt für ihn einen Gegenstand ersten Ranges dar. Ein Grundirrtum des Menschen muss aus dem Weg geräumt werden: Die vier Irrthümer. – Der Mensch ist durch seine Irrthümer erzogen worden: er sah sich immer nur unvollständig, zweitens legte er sich erdichtete Eigenschaften bei, drittens fühlte er sich in einer falschen Rangordnung zu Thier und Natur, viertens erfand er immer neue Gütertafeln und nahm sie eine Zeit lang als ewig und unbedingt, sodass bald dieser, bald jener menschliche Trieb und Zustand an der ersten Stelle stand und in Folge dieser Schätzung veredelt wurde.23

Ein anthropomorpher Begriff dessen, was ein bestimmtes Lebewesen sei (Kamel oder Mensch, Affe oder Löwe), kann für Nietzsche den Wahrheitsanspruch von daher nicht erfüllen und wiederholt einen anerzogenen Irrtum, da seine Richtigkeit ganz vom Standpunkt des Menschen abhängt, der ihn verwendet. Welchen Begriff das Kamel von sich oder vom Menschen haben könnte, ist nicht festzustellen. Nietzsche teilt seine Sprachkritik, die sich von d­ iesem Punkt aus entwickelt, mit Darwin, der zumindest versucht hatte, ein nicht-­anthropomorphes Bild der Natur zu zeichnen und dabei ebenfalls der Diskrepanz ­zwischen anthropozentrischer Sprache und keineswegs anthropozentrischer Umwelt begegnete: If the material world is not anthropocentric but language is so, the mind cannot be held truly to encompass and analyse the properties of the world that lie about it. Only by giving up the will to dominate the material world and to relate it to our own needs, condi­tions, and sensibilities will it be possible for us to find a language that gives proper atten­tion to the nature of things. […] Darwin found the constant placing of man at the centre of explana­tion probably the most exasperating characteristic of providential and natural theological writing.24

Nun finden sich bei Darwin jedoch keine Überlegungen zur Natur der Sprache und denjenigen, die sie sprechen. Nietzsche scheint in seiner Anthropologie, die sich über das Verhältnis zum Tier erschließt und damit genau jene „andere Anthropologie“ ist, die Hartmut Böhme formuliert,25 jedoch genau an dem Problem zu arbeiten, das Beer benennt. Da die Tiere eine Stimme, aber qua fehlendem logos keine Sprache haben,26 verfügen sie über keine Begriffe. Nietzsches Mensch, der sich selbst und das Tier über Begriffe zu fassen versucht, erzeugt nur für sich verständ­liche Phrasen, mit denen er sich angewöhnt, „in einem für alle verbind­lichen Stile zu lügen“27. 23 24 25 26 27

KSA 3 (FW), 374. Beer 2000, 45. Vgl. Böhme 2004. Vgl. Lemm 2012, 183. KSA 1 (WL), 881.

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Ein Ausweg scheint nur durch die Anschauungsmetaphern erreichbar zu sein, die den Übertrag eines sinn­lichen, ephemeren Eindrucks ins Denken bezeichnen und von „usuellen Metaphern“28 unterschieden werden. Der Begriff Anschauungsmetapher bleibt schwer zu fassen, da Nietzsche ihn nicht richtig ausgearbeitet hat. Er scheint für ihn vor allem heuristischer Natur zu sein, indem er einen Differenzhorizont zu den usuellen Metaphern markiert, und nicht Bestandteil einer Theorie zur rhetorischen Figur der Metapher ist. Anschauungsmetaphern sollen als Verknüpfung von sinn­licher Evidenz und Einfall bzw. sinn­licher Evidenz und Impuls verstanden werden. Sie entspringen dem, was Nietzsche ebenfalls in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermora­ lischen Sinne als „einmalige[s] ganz und gar individualisirte[s] Urerlebniss“ beschreibt, das – noch nicht versprach­licht – im Vergleich mit einer Reihe von Erlebnissen steht, die ihm mög­licherweise ähneln, ihm aber nie gleich sein können.29 In der Fröh­lichen Wissen­schaft schreibt Nietzsche, dass er befürchte, dass die Tiere den Menschen als „ein Wesen Ihresgleichen [betrachten], das in höchst gefähr­licher Weise den gesunden Thierverstand verloren hat – als das wahnwitzige Thier, als das lachende Tier, als das weinende Thier, als das unglückselige Thier“.30 Die Anschauungsmetaphern gewinnen an Potenzial für die Anthropologie, wenn sie als Medien d­ ieses gesunden Tierverstandes begriffen werden, der dem gesunden Menschenverstand und seinen usuellen Metaphern gegenübersteht. Die „Metamorphose der Welt in den Menschen“ von der Nietzsche im Zusammenhang mit den Anschauungsmetaphern spricht,31 ist nichts weniger als der Versuch, den gesunden Tierverstand zurückzugewinnen. Die usuellen Metaphern sind laut Nietzsche dem Menschen allein zu eigen und ihr Gebrauch bedeutet für ihn nichts anderes, als nach einer bestimmten Konven­tion zu lügen, indem man sich in begriff­liche Abstrak­tionen flüchtet, statt den ureigenen sinn­ lichen Eindrücken und dazu entstehenden Bildern (den Anschauungsmetaphern) zu trauen: Usuelle Metaphern sind ­solche, „die abgenutzt und sinn­lich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen.“32 Die augenblick­lichen und vergäng­lichen Wahrnehmungen, 28 Ebd. 29 Ebd., 879 f. 30 KSA 3 (FW), 510. 31 Vgl. KSA 1 (WL), 883. Diese Stelle wird auch von Richard T. Gray im Zusammenhang mit der Frage nach der Anthropozentrismus-­Kritik Nietzsches diskutiert. Gray meint, dass Anschauungsmetaphern „Übertragungen in dem weiteren Sinn von anthropomorphischen Projek­tionen“ sind (Gray, Richard T. (2007): „Die Metamorphose der Welt in den Menschen“. Übertragung, Metapher und Anthropomorphismus beim frühen Nietzsche. In: Klaus Vieweg und Richard T. Gray (Hg.): Hegel und Nietzsche. Eine literarisch-­philosophische Begegnung. Weimar: Verlag der Bauhaus-­Universität (Schriften aus dem Kolleg Friedrich Nietzsche), S. 42 – 69. Hier: S. 58 ff.). 32 Ebd. Benjamin Biebuyck weist darauf hin, dass es sich bei dieser Auffassung um eine Jean-­Paul-­ Rezep­tion Nietzsches handelt (ders. (2011): Art.: Metapher. In: Christian Niemeyer (Hg.):

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die sich in der Anschauungsmetapher verdichten, sind als Seinsform bei Nietzsche mit dem Tier assoziiert und für den Menschen dann erreichbar, wenn er sich nicht allein auf seine zivilisatorischen Fähigkeiten verlässt: Alles, was den Menschen gegen das Tier abhebt, hängt von dieser Fähigkeit ab, die anschau­ lichen Metaphern zu einem Schema zu verflüchtigen, also ein Bild in einen Begriff aufzulösen. Im Bereich jener Schemata näm­lich ist etwas mög­lich, was niemals unter den anschau­lichen ersten Eindrücken gelingen möchte: eine pyramidale Ordnung nach Kasten und Graden aufzubauen, eine neue Welt von Gesetzen, Privilegien, Unterordnungen, Grenzbestimmungen zu schaffen, die nun der andern anschau­lichen Welt der ersten Eindrücke gegenübertritt, als das Festere, Allgemeinere, Bekanntere, Menschlichere und daher als das Regulierende und Imperativische. Während jede Anschauungsmetapher individuell und ohne ihresgleichen ist und deshalb allem Rubrizieren immer zu entfliehen weiß, zeigt der große Bau der Begriffe die starre Regelmäßigkeit eines römischen Kolumbariums und atmet in der Logik jene Strenge und Kühle aus, die der Mathematik zu eigen ist.33

Zum Erfassen eines Gegenstandes ist eben nicht allein ein begriff­liches Ordnungssystem von Nutzen, wie es beispielsweise die naturwissenschaft­lichen Taxonomien bereitstellen. Diese Auffassung findet sich auch in einer Bemerkung darüber wieder, Wie Naturgeschichte zu erzählen ist, näm­lich so, „daß jeder, der sie hört, zum Streben nach geistig-­leib­licher Gesundheit und Blüte, zum Frohgefühl, Erbe und Fortsetzer des Menschlichen zu sein, und zu einem immer edleren Unternehmungs-­Bedürfnis unaufhaltsam fortgerissen würde.“34 Nietzsche beklagt im Anschluss an diese Forderung: „Bis jetzt hat sie [die Naturgeschichte, H.E.] ihre rechte Sprache noch nicht gefunden, weil die sprach­erfinderischen und beredten Künstler – denn derer bedarf es hierzu – gegen sie ein verstocktes Mißtrauen nicht loswerden und vor allem nicht gründ­lich von ihr lernen wollen.“ Diesen Missstand macht er jedoch als Problem des Mittelmaßes der deutschen Naturwissenschaft aus, das er in England bereits überwunden sieht.35 Aus der Dokumentation Nietzsches persön­licher Bibliothek ist bekannt,36 dass seine Kenntnis der eng­lischen Naturwissenschaft recht begrenzt gewesen sein dürfte 37 Nietzsche-­Lexikon. 2. Aufl. Darmstadt: WBG, S. 243 – 244. Hier: S. 244). 33 KSA 1 (WL), 881 f. 34 KSA 2 (MA II), 460. 35 Ebd. 36 Dieses Wissen verdanken wir Giuliano Campioni, Paolo D’Iorio und Maria Cristina Fornari et al. (Hg.) (2003): Nietzsches persön­liche Bibliothek. Unter Mitarbeit von Renate Müller-­ Buck. Berlin; New York: De Gruyter (Supplementa Nietzscheana, 6). 37 Aus dem gerade genannten Band geht hervor, dass Nietzsche selbst kein einziges Werk D ­ arwins besessen hat und seine Kenntnisse von dessen Theorie wahrschein­lich hauptsäch­lich zweiter Hand waren; erste Bekanntschaft mit dessen Thesen machte er bezeichnenderweise über ­Langes Geschichte des Materialismus von 1866 (vgl. Düsing, Edith (2006): Nietzsches Denkweg:

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und dass er in seinen Äußerungen vermut­lich hauptsäch­lich Darwin im Sinn hatte, an dem er sich seit seinen ersten Materialismus-­Lektüren abarbeitete, auch wenn er ihn aller Wahrschein­lichkeit nur aus zweiter Hand kannte: „Nietzsches antidarwinistische Polemiken lassen sich in erster Linie als Angriffe auf die Popularisierer darwinistischer Ideen lesen, denn viele seiner Thesen über das Verhältnis von Mensch und Tier stimmen mit darwinistischen Posi­tionen im wesent­lichen überein.“38 Es ist durchaus mög­lich, dass sich bestimmte Ähn­lichkeiten in der Auffassung der Metapher bei Darwin und Nietzsche auch aus diesen Gemeinsamkeiten speisen. Darwins Verhältnis zu Metaphern ordnet Gillian Beer vor dem Hintergrund der viktorianischen Literatur in das Sprachverständnis seiner Zeitgenossen ein, denen sie eine größere Offenheit gegenüber der Metapher als ihren Nachfahren attestiert. Die Potenz der Metapher als Medium der Erkenntnis beschreibt Beer in ­diesem Zusammenhang folgendermaßen: „Symbol and metaphor, as opposed to analysis, can allow insight without consequences because percep­tions are not stabilised and categorised. They allow us fleetingly to inhabit contradictory experience without moralising it.“39 ­Nietzsches Begriff der Anschauungsmetapher deckt sich mit ­diesem Befund, weil er in eine Anthropologie eingeführt wird, die sich um einen Begriff des Menschen bemüht, der nicht von vornherein als normative Kategorie funk­tioniert. Nietzsche verband genealo­gisches Denken und die Skepsis gegenüber einer anthro­ pozentrischen Sprache. Seine philosophische Verteidigung des Menschen wandte sich dabei nicht gegen die naturwissenschaft­lichen Erkenntnisse seiner Zeit, sondern zielte darauf, die Genealogie des Menschen als tierische Genealogie zu etablieren und mit seinem sprachtheoretischen Werkzeug historisch zu bestätigen. In seiner Verarbeitung der Darwin-­Rezep­tion zeigt sich vor allem eine deut­liche Wende gegen einen wissenschaft­lichen Materialismus à la Vogt, die jedoch ihren materialistischen Hintergrund schwer verbergen kann.40 Wo der Materialimus jede Form geistiger Regung linear und monokausal auf organische Gegebenheiten und physiolo­gische Prozesse zurückführen möchte, legt Nietzsche eine Darstellung der unordent­lichen Verfasstheit des Menschen vor und formuliert sein genealo­gisches Argument dabei unter Verweis auf die Gemeinsamkeiten von Traum und Metapher, durch die sich der Mensch seiner tie­rischen Anteile versichern muss. Dabei hebt er zwar die entscheidende Bedeutung Theologie – Darwinismus – Nihilismus. München: Fink. Hier: S. 209, und Salaquarda, Jörg (1978): Nietzsche und Lange. In: Müller-­Lauter, Wolfgang (Hg.): Aneignung und Umwandlung. Friedrich Nietzsche und das 19. Jahrhundert. Berlin; New York: De Gruyter (Nietzsche-­ Studien), S.  236 – 253). 38 Horn, Anette (2000): Nietzsches Begriff der décadence. Kritik und Analyse der Moderne. Frankfurt/M. u. a.: Peter Lang (Heidelberger Beiträge zur deutschen Literatur, 5). Hier: S. 69. 3 9 Beer 2003, 10. 4 0 Vgl. dazu etwa auch die Ausführungen von Uwe Pörksen zu Nietzsches Rede von der „Physiologie der Kunst“ (ders. (1984): Die Funk­tion einer naturwissenschaft­lichen Metapher in einem Satze Nietzsches. In: Nietzsche-­Studien. Bd. 13. Berlin, New York: De Gruyter, S. 443 – 447).

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des Leibes des Menschen hervor, stellt sich aber der Anstrengung, unerklär­liche Reste des Menschseins auszuhalten, die auch dann noch bleiben, wenn man Gedanke und Sprache als Produkte von Hirntätigkeit identifiziert und anerkannt hat. Das Unbehagen an einer anthropozentrisch organisierten Sprache, das sich sowohl bei Darwin als auch bei Nietzsche feststellen lässt, schafft im Werk beider Autoren Raum für ein affirmatives Verhältnis zu der eben vorgestellten Charakterisierung der (Anschauungs-)Metapher. Die „anschau­lichen, ersten Eindrücke“ (s. o.), die laut Nietzsche sowohl dem Tier als auch dem Menschen zur Verfügung stehen, um sich in der Welt zu orientieren, und die Grundlage der Anschauungsmetaphern bilden, prägen die unhistorische Lebensweise des Tieres: So lebt das Thier u n h i s t o r i s c h : denn es geht auf in der Gegenwart, wie eine Zahl, ohne dass ein wunder­licher Bruch übrig bleibt, es weiss sich nicht zu verstellen, verbirgt nichts und erscheint in jedem Momente ganz und gar als das was es ist, kann also gar nicht anders sein als ehr­lich.41

Nietzsches Tier ist privelegiert, da es ganz ohne Sprache und ohne Begriffe sozusagen in der Zeit aufgelöst ist: Es kann sich flüssig in ihr bewegen, ohne dass ihm die Last seiner Vergangenheit wie eine Kette schwer am Hals wiegt, wie das beim Menschen der Fall ist: „Er wundert sich über sich selbst, das Vergessen nicht lernen zu können und immerfort am Vergangen zu hängen: mag er noch so weit, noch so schnell laufen, die Kette läuft mit.“42 Alle Eindrücke des Tieres sind hingegen „individuell und ohne ihresgleichen“,43 wie es die Anschauungsmetaphern sind. Ihr Bruch mit dem Kontext 44 besteht im Bruch mit dem sprach­lichen Kontext der usuellen Metaphern. Im Feld der Anschauungsmetaphern gibt es laut Nietzsche keine Konven­tion, sondern nur Einmaligkeit und damit Ursprüng­lichkeit. Die Assozia­tion eines sinn­lichen Eindrucks mit einem Einfall, einer Erinnerung oder einem Gefühl ist die individuelle Leistung, die bei Nietzsche auch Inkommensurables in der Anschauungsmetapher verbinden 41 KSA 1 (UB I), 249. Diese Auffassung kehrt in den Aufzeichnungen und Entwürfen der Dialektik der Aufklärung wieder. Im Abschnitt Mensch und Tier heißt es: „Die Welt des Tieres ist begriffslos. Es ist kein Wort da, um im Fluß des Erscheinenden das Identische festzuhalten, im Wechsel der Exemplare dieselbe Gattung, in den veränderten Situa­tionen dasselbe Ding.“ (Adorno; Horkheimer 2009, 263). 42 KSA 1 (UB II), 248. 43 s. o., KSA 1 (WL), 881. 4 4 Zur Metapher und dem ihr eigenen konstruktiven Charakter des Bruchs mit dem Kontext siehe besonders Blumenberg: „Das zunächst destruktive Element wird überhaupt erst unter dem Druck des Reparaturzwangs der gefährdeten Konsistenz zur Metapher. […]: die Störung wird als Hilfe qualifiziert.“ Blumenberg, Hans (1979): Ausblick auf eine Theorie der Unbegriff­lichkeit. In: Anselm Haverkamp (Hg.): Theorie der Metapher. 2. Aufl. Darmstadt: Wissenschaft­liche Buchgesellschaft, S. 438 – 454. Hier: S. 439. Ich verdanke diesen Hinweis Moritz Senarclens de Grancy.

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kann. Hier liegt auch die Kontinuität in der Verbindung von Mensch und Tier: Das Tier verfügt naturgemäß über keinen sprach­lichen Kontext usueller Metaphern, sondern höchstens über die Anschauungsmetaphern in der ihnen eigenen Unmittelbarkeit. Der „Trieb zur Metaphernbildung“, ist bei Nietzsche ein „Fundamentaltrieb des Menschen, den man keinen Augenblick wegrechnen kann, weil man damit den Menschen selbst wegrechnen würde“. Wenn er diesen Trieb nicht unterdrückt, kann es ihm gelingen, aus der „Zwingburg“ der zu abstrakten Begriffen geronnenen usuellen Metaphern entkommen.45 Das besondere Verhältnis, das die Metaphern bei Nietzsche zum Erkennen unterhalten, wird in einer komplexen Notiz aus den Fragmenten der Jahre 1872 bis 1874 deut­lich. Unter den erkenntnistheoretischen Überlegungen, die Nietzsche darin festgehalten hat, ist das Verhältnis von Nachahmen und Erkennen als zentraler mensch­ licher Fähigkeit von Interesse. Die Notiz ist in einem Heft vom Sommer 1873 enthalten, stammt also aus der Zeit, in der seine Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermora­lischen Sinne erschien: Das N a c h a h m e n ist darin der Gegensatz des E r k e n n e n s , daß das Erkennen eben keine Übertragung gelten lassen will, sondern ohne Metapher den Eindruck festhalten will und ohne Konsequenzen. Zu d­ iesem Behufe wird er petrifiziert: der Eindruck durch Begriffe eingefangen und abgegränzt, dann getödtet, gehäutet und als Begriff mumisiert und aufbewahrt.

Die Metapher, von der Nietzsche hier spricht, scheint mit der Anschauungsmetapher gemein zu haben, dass der Verzicht auf sie zu einer Erkenntnis führt, die aus toten Begriffen besteht, die „abgenutzt und sinn­lich kraftlos geworden sind“ (s. o.). Der Nachahmung ist als Funk­tionsweise die Übertragung (vom Nachgeahmten auf den Nachahmenden) zugeordnet, die auch konstitutiv für die Metapher ist – und für die Figur des Nachahmers schlechthin: den Affen. Erst der anschau­liche metaphorische Umgang mit den Eindrücken, der sich nicht auf die Konven­tion der usuellen Metaphern verlässt, enthält für Nietzsche ein Erkenntnisversprechen. Er fährt fort: Nun aber gibt es keine „eigent­lichen“ Ausdrücke und k e i n e i g e n t ­l i c h e s E r k e n n e n o h n e M e t a p h e r . Aber die Täuschung darüber besteht, d. h. der G l a u b e a n e i n e Wa h r h e i t des Sinneneindrucks. Die gewöhn­lichsten Metaphern, die usuellen, gelten jetzt als Wahrheiten und als Maaß für die seltneren. An sich herrscht hier nur der Unterschied ­zwischen Gewöhnung und Neuheit, Häufigkeit und Seltenheit. Das E r k e n n e n ist nur ein Arbeiten in den beliebtesten Metaphern, also ein nicht mehr als Nachahmung empfundenes Nachahmen. Es kann also natür­lich nicht ins Reich der Wahrheit dringen.

45 KSA 1 (WL), 887.

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Die Verwendung der usuellen Metaphern, die als Erkenntnis verbrämt wird, stellt für Nietzsche die schlechteste Form der Nachahmung dar, weil in ihr das verbindende Element z­ wischen Metapher und Nachahmung, die Übertragung, verloren geht. Es bleibt die in Sprache gegossene Reproduk­tion, der jeder individuelle Charakter abgeht und die sich ihres mechanischen Charakters nicht einmal bewusst ist. Das Ende des Fragments verdeut­licht nicht ganz, ob er dies in der Poesie realisiert sieht. Nietzsches proto-­psychoanalytische Beschreibung des Traums als „Metapherwelt“, der er ein größeres Erkenntnispotenzial als dem Wachen zuschreibt, verdeut­licht jedoch, dass er für die Erkenntnis die Triebe des Menschen vor dessen Ra­tionalität privilegiert: Das Pathos des Wahrheitstriebes setzt die Beobachtung voraus, daß die verschiedenen Metapherwelten mit einander uneins sind und kämpfen z. B. der Traum, die Lüge usw. und die gewöhn­liche usuelle Auffassung: davon die eine die seltnere, die andere die häufigere ist. Also der Usus kämpft gegen die Ausnahme an, das Regelmäßige gegen das Ungewöhn­liche. Daher die Achtung der Tageswirk­lichkeit vor der Traumwelt. Nun aber ist das Seltene und Ungewöhn­liche das R e i z v o l l e r e  – die Lüge wird als Reiz empfunden. Poesie.46

Der „Wahrheitstrieb“ des Menschen wird in d ­ iesem Fragment auffällig mit dem „Fundamentaltrieb“ zur Metaphernbildung enggeführt. Diese teilt wiederum mit der Nachahmung die Funk­tionsweise der Übertragung. Im Prinzip wird damit der Wahrheitsbegriff abgeschafft,47 und durch einen Perspektivismus des Subjekts ersetzt. Dabei nimmt die Nachahmung einen bedeutsamen und, wie es scheint, in der Literatur unterbe­lichteten Punkt bei Nietzsche ein.48 Sie wird als eine Praxis eingeführt, derer auch die (nicht-­menschlichen) Tiere mächtig sind, dabei zeigt sich, dass Affen hier eine Sonderstellung einnehmen; Nietzsche paart näm­lich das Nachahmen an entscheidenden Stellen mit dem Nachäffen. Über den Weg der Auseinandersetzung mit ­diesem Befund wird sich zeigen, wie der Affe als Anschauungsmetapher ­Nietzsches anthropolo­gischen Diskurs organisiert.

4 6 KSA 7 (NF), 19 [228], 490 f. Alle Hervorhebungen im Original. 47 Wie immer gibt es anderslautende Meinungen: Hödl (1997, 39) betont, dass der Anspruch auf Wahrheitserzeugung entgegen anderslautender Deutungen bei Nietzsche auch im Spätwerk noch anzutreffen ist. 48 Hinweise darauf finden sich bei Ulrich 2005; bei Biebuyck (2011, 244) wird das Thema unter dem Stichwort „Habitualisierung“ angedeutet.

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Nachahmen und Nachäffen. Kultur und Zucht des Menschen Nachahmen und Kultur

Das Nachmachen und Nachahmen findet sich bei Nietzsche auf zwei Ebenen: der somatischen und der sprach­lichen. Über die somatische Ebene stellt sich auch der Zusammenhang mit der Fähigkeiten des Tieres zur Nachahmung her, da Nietzsche die Nachahmung an sich bereits dem vorsprach­lichen Stadium zuordnet, in dem das Tier dauerhaft lebt. Damit stellt er sich in direkten Gegensatz zu der aufklärerischen Posi­tion beispielsweise Herders. Dieser hatte die Nachahmung allein den Menschen zugestanden, da nur sie eine verbale Sprache besitzen. Da den Affen diese fehlt, ­seien sie, so Herder, eben nur des Äffens mächtig. Für Nietzsche ist das Nachahmen erst einmal eine Technik des Körpers: Gebärde und Sprache. – Aelter als die Sprache ist das Nachmachen von Gebärden, welches unwillkür­lich vor sich geht und jetzt noch, bei einer allgemeinen Zurückdrängung der Gebärdensprache und gebildeten Beherrschung der Muskeln, so stark ist, daß wir ein bewegtes Gesicht nicht ohne Innerva­tion unseres Gesichts ansehen können (man kann beobachten, daß fingirtes Gähnen bei Einem, der es sieht, natür­liches Gähnen hervorruft). Die nachgeahmte Gebärde leitete Den, der nachahmte, zu der Empfindung zurück, ­welche sie im Gesicht oder Körper des Nachgeahmten ausdrückte. So lernte man sich verstehen: so lernt noch das Kind die ­Mutter verstehen.49

Das Verstehen ist dementsprechend niemals ein ganz origineller Akt, vielmehr ist das verstehende Individuum ganz abhängig von den Vorbildern, auf die es zurückgreifen kann. Dabei geht es immer darum, körper­lich und emo­tional affiziert zu werden und dies im Dienste eines Lernprozesses zuzulassen. Die Vergegenständ­lichung eines Inhaltes durch die Gebärde, auf die Nietzsche hier abhebt, ist dafür entscheidend.50 Dieses Verständnis scheint auch Dietmar Kamper in seiner Unterscheidung von Mimesis 51 und Simula­tion zugrunde zu legen, in der er Mimesis als „das Vermögen,

49 KSA 2 (MA I), 176. 50 Vgl. dazu die Charakteristika des platonischen Mimesis-­Begriffs bei Wulf/Gebauer, die unter Punkt 6 auflisten: „Mimesis vergegenständ­licht mit Hilfe des Sprechens und der Gebärde Inhalte.“ (dies. (1998): Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft. 2. Aufl. Reinbek: Rowohlt. Hier: S. 56). 51 Zum Überblick über die Begriffsgeschichte siehe Costa Lima, Luiz (2002): Mimesis/Nachahmung. In: Karlheinz Barck und Martin Fontius (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 4. Stuttgart: Metzler, S. 84 – 120); einschlägig sind hier die Arbeiten, die im Umfeld des Forschungszentrums für Histo­rische Anthro­pologie seit den 1990er-­Jahren entstanden sind; vgl. dazu stellvertretend Wulf; Gebauer 1998.

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mittels einer körper­lichen Geste eine gewünschte Wirkung zu erzielen“ bezeichnet.52 Wenn er im Anschluss präzisiert, dass Mimesis jedoch eher „Vorahmung“ bedeute,53 „während ,Simula­tion‘, ein lateinisches Wort, das technische Herstellen von Bildern meint, die einer Realität täuschend ähn­lich sind“ bezeichne,54 so ist damit darauf verwiesen, dass mimetisches Verhalten in die Zukunft weist und einen freien Umgang mit seinen Vorlagen pflegt.55 Das mimetische Verhalten, das Kamper hier beschreibt, teilt trotz dieser Umformulierung in die „Vorahmung“ wesent­liche Eigenschaften mit dem Begriff der Nachahmung, der sich bei Nietzsche findet: „Nachahmer. – A.: ,Wie? Du willst keine Nachahmer?‘ B.: ,Ich will nicht, dass man mir Etwas nachmache, ich will, dass Jeder sich Etwas vormache: das Selbst, was ich thue.‘ A.: ,Also –?‘“56 Also was? Für Kamper drückt sich gerade in der körper­lichen Mimesis der quasi-­ma­gische Charakter mimetischer Praktiken aus: Wenn der Schamane den Entstehungsmythos eines Stammes am eigenen Leibe vorspielt, um diesen Mythos präsent zu halten, können die beteiligten Menschen, die das wahrnehmen, eine verbind­liche Einsicht gewinnen in den Charakter ihrer Welt. Mimetisch, mit hohem Einsatz, wird ein Fundament gelegt. Und ­dieses Spiel wird akzeptiert. Die Menschen wissen, daß es eine Erfindung ist oder eine Illusion. Aber sie wissen auch, daß derart fundamentale Illusionen lebenswichtig sind. Körper­liche Mimesis wäre also ein Restbestand archaischer Mög­lichkeiten, der es erlaubt, Täuschung als Täuschung zu diskriminieren.57

Den Wahrheitsanspruch, den Nietzsche in dem eben diskutierten Fragment aus dem Jahr 1873 an Metapher und Nachahmung richtet, wird auch von Kamper in seiner Auffassung von Mimesis aufrechterhalten. Sie erscheint als eine schmale Mög­lichkeit, sich Illusion oder Täuschung zu überlassen und dennoch zu einer Einsicht über die Verschiedenheit und Gemeinsamkeit von „Tageswirk­lichkeit“ und Traum, Gegenwart und Vergangenheit, Fakt und Erzählung zu kommen. Dabei ist für Nietzsche entscheidend, dass ­dieses Sich-­Überlassen nicht Ausdruck von Passivität oder Phlegma ist, sondern viel mehr eine große Willensanstrengung erfordert, da es um ein „Verläugnen 52 Kamper, Dietmar (1991): Mimesis und Simula­tion. Von den Körpern zu den Maschinen. In: Kunstforum Interna­tional: Band 114, Titel: Imita­tion und Mimesis, S. 86 – 94. 53 Ebd., 91. Den Term „Vorahmung der Natur“ prägt Hans Blumenberg (1981): „Nachahmung der Natur“. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen. In: Ders.: Wirk­lichkeiten in denen wir leben. Stuttgart: Reclam, S. 55 – 103. Hier: S. 93. 54 Kamper 1991, 87. 55 Vgl. dazu auch Wulf, Christoph (1989): Mimesis. In: Gunter Gebauer et al. (Hg.): Historische Anthropologie. Zum Problem der Humanwissenschaften heute oder Versuche einer Neubegründung. Reinbek: Rowohlt, S. 83 – 126. Hier: S. 84. 56 KSA 3 (FW), 516. 57 Kamper 1991, 87. Wulf; Gebauer (1998, 392) weisen in d­ iesem Zusammenhang auf Adornos Minima Moralia hin: „Kunst ist Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein.“

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der Bedürftigkeit“ geht, das sich mit dem „Glanz der metaphorischen Anschauungen und überhaupt jene[r] Unmittelbarkeit der Täuschung“58 gleichsam maskiert und gegen die Zumutungen des Lebens wappnet. Gunter Gebauer beschreibt diese Zumutungen als Gewalt, der der Mensch allein durch sein Dasein in der Natur immer ausgesetzt sei, in seiner Darstellung besteht die „Erfindung der mimetisch gemachten Welt des Menschen“ als Nietzscheanisches Überlebensprinzip.59 Dementsprechend erscheint bei Nietzsche mimetisches Verhalten als „Begierde, die vorhandene Welt des wachen Menschen so bunt unregelmäßig, folgenlos unzusammenhängend, reizvoll und ewig neu zu gestalten, wie es die Welt des Traumes ist“60; es entspricht dieser Begierde aber nicht so vollständig, dass es zu einer Ununter­scheidbarkeit von Vorahmung und Nachahmung kommt. Kamper macht hier auch den Unterschied von Simula­tion und Mimesis aus, ersterer ordnet er „Identität von Bild und Wirk­lichkeit“ als Kategorie zu, Mimesis gehört für ihn zur Differenz, „die auch für die Beteiligten nie verschwindet.“61 Über die Verbindung der körper­lichen Mimesis mit dem Lernen, die weniger ein immersives denn ein differenzierendes Verhältnis von Nachahmendem und Nachgeahmten erzeugt, zeigt Nietzsche die fundamentale Bedeutung der Nachahmung für die mensch­liche Kultur auf.62 Dafür ist die Bildung entscheidend, die im Gegensatz zur Dressur steht, sie bedeutet „Wegräumung alles Unkrauts, Schuttwerks, Gewürms, das die zarten Keime der Pflanzen antasten will, Ausströmung von Licht und Wärme, liebevolles Niederrauschen nächt­lichen Regens“ und „Nachahmung und Anbetung der Natur“.63 Mit der Bildung ist aber keineswegs allein das Abarbeiten bestimmter Lektüren und der Erwerb von Kenntnissen gemeint, ganz eindeutig ist es auch die Bildung der Fähigkeiten außerhalb der Ratio, auf die Nietzsche abzielt – diejenigen Fähigkeiten, die nicht „vernünftigen“, „unkünstle­rischen“ Menschen zu eigen sind, sondern zu einem „intuitiven“ Menschen gehören.64 Dies zeigt sich in seinen A ­ usführungen 5 8 KSA 1 (WL), 889. 59 Gebauer, Gunter (2010): Mimesis und Gewalt bei Nietzsche. In: Gertrud Koch et al.: Die Mimesis und ihre Künste. München: Fink, S. 215 – 230. Hier: S. 221. 60 KSA 1 (WL), 887. Diese Begierde hatte Nietzsche für den „Fundamentaltrieb“ zur Metaphernbildung festgestellt. 61 Kamper 1991, 87. 62 In ­diesem Punkt widerspricht die hier vorgenommene Deutung derjenigen von Deleuze, der Kultur bei Nietzsche mit „Zucht und Züchtung“ identifiziert (Deleuze, Gilles (1976): N ­ ietzsche und die Philosophie. München: Rogner & Bernhard (Reihe Passagen). Hier: S. 145 f.). Der Widerspruch ergibt sich, so scheint mir, vor allem dadurch, dass Deleuze hier einen Kulturbegriff anlegt, den er nur lose und ausgehend von seiner Lektüre Nietzsches entwickelt, auch wenn die Quellenlage eine andere Lesart nahe legt. 63 KSA 1 (UB III), 341. Hervorhebung von H. E. 6 4 Die „intuitiven Menschen“ sind bei Nietzsche s­ olche, die wie die Helden des „älteren Griechenland“ die „Herrschaft der Kunst über das Leben“ etablieren und dadurch Kultur geschaffen

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dort, wo die Kultur mit der Ausbildung der Instinkte und der Habituali­sierung dieser Ausbildung assoziiert und damit direkt als natür­licher Prozess interpretiert wird. Nietzsche geht dabei so weit, dies auf die Entstehung der Arten auszudehnen, die er dabei ‚darwinistisch‘ als Durchsetzung der Stärksten interpretiert.65 Der Verweis auf die „zweite Natur“, zu der nach Aristoteles Nikomachischer Ethik dem Menschen das tugendhafte Verhalten durch Einübung wird,66 verweist auf die Rolle der Nachahmung bei der Ausbildung der Moral.67 Voraussetzung des kulturellen Prozesses ist wiederum die Fähigkeit zur Metaphernproduk­tion, die der Nachahmung laut Nietzsche sogar vorausgehen muss: Das Nachahmen ist das Mittel aller Kultur, dadurch wird allmäh­lich der Instinkt erzeugt. Alles Vergleichen (Urdenken) ist ein Nachahmen. So bilden sich Arten, daß die ersten nur ähn­liche Exemplare stark nachahmen, d. h. dem größten und kräftigsten Exemplare es nachmachen. Die Anerziehung einer zweiten Natur durch Nachahmung. In der Zeugung ist das unbewußte Nachbilden am merkwürdigsten, dabei das Erziehen einer zweiten Natur. Unsre Sinne ahmen die Natur nach, indem sie immer mehr dieselbe abkonterfeien. Das Nachahmen setzt voraus ein Aufnehmen und dann ein fortgesetztes Übertragen des aufgenommenen Bildes in tausend Metaphern, alle wirkend.68

Nachäffen und das anthropolo­gische Dreieck

Die existenzielle Fähigkeit des Nachahmens, die den Mensch mit seiner tierischen Natur in Kontakt bringt, verbindet Nietzsche vor allem mit einer bestimmten Art. Sofern er allerdings von den Affen spricht, die hier gemeint sind, verwendet er die Vokabel „nachmachen“ statt „nachahmen“: haben (KSA 1 (WL), 889). 65 Nietzsches Darwin-­Rezep­tion folgt dabei der ungenauesten und der deutschen Übersetzung geschuldeten Lesart Darwins. Es sei daran erinnert, dass dieser von der Durchsetzung der am besten angepassten, nicht der stärksten Arten gesprochen hatte. 66 Zu grundlegenden Konfigura­tionen des Mimesis-­Begriffs bei Aristoteles, die dem nietzschea­ nischen Mimesis-­Begriff sehr ähn­lich sind, vgl. u. a. Wulf, Christoph (1997): Mimesis. In: Ders. (Hg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim und Basel: Beltz, S. 1015 – 1029. Hier: bes. S. 1018. 67 Dafür spricht auch die überhaupt nicht zu überschätzenden Bedeutung von Nietzsches Aristoteles-­Rezep­tion, die sich gerade in Bezug auf Fragen nach der Mimesis schon in den frühen Schriften Nietzsches deut­lich ausdrückt, gleich zu Beginn der Geburt der Tragödie beispielsweise, wenn Nietzsche Aristoteles den Ausdruck „Nachahmung der Natur“ zuschreibt und ankündigt, ihn durch seine Abhandlung „tiefer zu verstehn und würdigen“ zu wollen (KSA 1 (GT), 31). 68 KSA 7 (NF) 19 [226], 489 f. Hervorhebungen im Original.

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Das Nachmachen, das Äffische, ist das eigent­lich und älteste Menschliche – bis zu dem Maaße, daß wir nur die Speisen essen, die Anderen gut schmecken. – Kein Thier ist so sehr Affe als der Mensch. – Vielleicht gehört auch das menschliche Mitleiden hierher, sofern es ein unwillkür­ liches inneres Nachmachen ist.69

Die Unterscheidung ­zwischen „Nachmachen“ und „Nachahmen“ verweist auf ein ambivalentes Verhältnis, das Nietzsche gerade zur Figur des Affen pflegt, anhand derer entscheidende Fragen zu Mensch, Tier und Mimesis diskutiert werden. Das drückt sich in Nietzsches Formulierung des anthropologischen Dreiecks aus: „Kein Thier ist so sehr Affe als der Mensch“. Diese enthält mehrere Vorannnahmen. Wenig überraschend ist dabei die Beschreibung des Menschen als Tier, viel auffälliger ist es, dass sich offenbar auch nicht-­menschliche Tiere zum Affen machen können. Affe-­Sein scheint hier jedoch nicht auf eine bestimmte Taxonomie oder eine festgeschriebene Identität Bezug zu nehmen, sondern auf die Fähigkeit des Nachmachens hinzuweisen, die gattungsübergreifend ist. Der entscheidende Unterschied z­ wischen Nietzsches anthropolo­gischem Dreieck und den Triangula­tionen, die von anderen Autoren vorgeschlagen wurden, besteht darin, dass er sich für die Prozesse und Rela­tionen interessiert, die ­zwischen den jeweils relevanten drei Punkten des Dreiecks bestehen. Es geht ihm um das Affe-­Werden, das Mensch-­Werden oder das Übermensch-­Werden. Nietzsche führt mit der Formulierung, dass kein Tier so sehr Affe sei wie der Mensch dennoch stillschweigend den Affen als eine dritte Kategorie von Lebewesen ein, die die negativen Aspekte des menschlichen Tier-­Seins aufnimmt. Neben dem positiv besetzten Nachahmen, der Mimesis, steht das pejorativ besetzte Nachmachen, die Mimikry 70: Mora­lische Gefühle und mora­lische Begriffe. – Ersicht­lich werden mora­lische Gefühle so übertragen, daß die Kinder bei den Erwachsenen starke Neigungen und Abneigungen gegen bestimmte 69 KSA 9 (NF), 3 [34], 55. 70 Darwins einzige Verwendung von „Nachahmen“ als Mimkry findet sich in der deutschen Übersetzung von Über die Entstehung der Arten in Kapitel 14 (Darwin 2009a (Über die Entstehung der Arten), 651). In einer variierenden Übersetzung wird „nachahmen“ mit „nachäffen“ übersetzt: „Der merkwürdigste Fall analoger Ähn­lichkeit, der je bekannt geworden ist, obschon er nicht von Adap­tion an ähn­liche Lebensbedingungen abhängt, ist der von Bates mitgetheilte, dass gewisse Schmetterlinge des Amazonengebiets andere Arten täuschend nachäffen.“ (http:// darwin-­online.org.uk/content/frameset?pageseq=511&itemID=F674&viewtype=side, letzter Zugriff 27. Juli 2015). Der Veweis auf Bates und die Mimikry bei den Schmetterlingen findet sich allerdings erst in der dritten Ausgabe von Über die Entstehung der Arten die in Deutschland 1867 erscheint. Der Insektenforscher Henry Walter Bates hatte 1861 zum ersten Mal seine Forschungsergebnisse seiner Reisen in die Amazonas-­Gebiete in der Linnean Society in London vorgetragen, im folgenden Jahr veröffent­lichte er sie in Aufsatzform (vgl. Cha, Kyung-­Ho (2010): Humanmimikry. Poetik der Evolu­tion. München: Wilhelm Fink. Hier: S. 30 ff.).

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Handlungen wahrnehmen und daß sie als geborene Affen diese Neigungen und Abneigungen nachmachen; im späteren Leben, wo sie sich voll von diesen angelernten und wohl geübten Affecten finden, halten sie ein nachträg­liches Warum, eine Art Begründung, daß jene Neigungen und Abneigungen berechtigt sind, für eine Sache des Anstandes.71

Dieses nachäffende Verhalten entspricht auf sprach­licher Ebene der usuellen Metapher und unterscheidet sich demnach deut­lich von der Nachahmung und den Anschauungsmetaphern, die sowohl dem Menschen als auch den Tieren zu eigen sind. Auch diese Auffassung weist auf eine Sonderstellung des Affen bei Nietzsche hin. Die hier zu beobachtende Dreieickskonstruk­tion (Mensch–Tier–Affe) erinnert an zwei anthropolo­ gische Triangula­tionen: Einerseits an das Verhältnis von Mensch–Affenmensch–Affe, das sich bei Carl Vogt findet, andererseits an Nietzsches Rede vom Menschen als Seil ­zwischen Tier und Übermensch. Eine Beschreibung des Menschen aus Also sprach Zarathustra lautet: „Der Mensch ist ein Seil, geknüpft z­ wischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde“72, und stellt eine Varia­tion der Rede vom Menschen als Affe des Übermenschen dar, die ich zu Beginn d­ ieses Kapitels eingeführt habe. Der Affe Gottes oder der Affe des Übermenschen ist derjenige, der sich nicht ganz überwinden kann, sondern lieber in seinem unbefriedigenden Menschsein verharrt.73 Das vielfach interpretierte Zitat Nietzsches 74 wird von Vanessa Lemm so aufgefasst, dass es sich dabei um eine Behauptung der Kontinui­tät ­zwischen Mensch und Tier handele. Seinen prekären Status kann der Mensch in Lemms Deutung dadurch überwinden, dass er sich auf seine tierischen Anteile einlässt: „Anstatt die Zukunft auf eine einzige allzu mensch­liche Lebensform zu reduzieren, verweist das Übermenschlich-­Werden auf eine Bewegung des Überflusses sowie eine Erweiterung des Menschen, die ihn über seine allzu menschliche Form hinausführt.“75 Ihre Interpreta­tion setzt dabei darauf, dass der Mensch bei Nietzsche die Freiheit besitzt, sich in eine bestimmte Richtung hin zu bewegen und eben ‚Tier zu werden‘ (ob bei ihr damit auch ein Entwicklungsgedanke gemeint ist, sei dahingestellt). Auch bei Nietzsche findet Anthropologie in einem Dreieck statt, dessen Eckpunkte hier mit Mensch, Tier und Übermensch besetzt sind. Der Übermensch scheint dabei in dem Dreieck einen variablen Platz einzunehmen, der in anderen Fällen für diejenige Figur reserviert war, die einerseits ausgestoßen wird, andererseits aber die 71 KSA 3 (M), 43. 72 KSA 4 (Z), 16. 73 Vgl. Bahr 2003, 273. Zum „Tier-­Werden“ siehe auch Deleuze und Guattari, die unterstellen, dass es der Mensch ist, der sich dem Gedanken seines Werdens versperrt (Deleuze; Guattari 1992, 324). 74 Vgl. Pieper, Annemarie (2010): „Ein Seil, geknüpft z­ wischen Thier und Übermensch“. Philosophische Erläuterungen zu Nietzsches Also sprach Zarathustra von 1883. Basel: Schwabe. 75 Lemm 2012, 43.

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wichtige vermittelnde Instanz z­ wischen den beiden anderen Eckpunkten des Dreiecks einnimmt. Dabei handelt es sich um den Part, der bei Vogt von dem ‚monströsen‘ Mikrocephalen eingenommen wurde, dessen Sprache er so beschreibt, wie Nietzsche hier das Nachäffen fasst, näm­lich als stumpfe Wiederholung, die sogar noch der Rede eines dressierten Papageien unterlegen ist. Der prekäre Ort des Dritten, der den anthropolo­gischen Dreiecken zu eigen ist, erscheint bei Nietzsche zunächst unproblematisch. Einen Akzent legt er auf die Prozessualität und Dynamisierung, die mit der Betonung des Affe-­Werdens und Tier-­ Werdens des Menschen verbunden ist. Nietzsche bezieht sich zwar auf die bekannten Versionen des anthropolo­gischen Dreiecks, bei seinem anthropolo­gischen Projekt hilft ihm jedoch gerade der Bezug auf deren Unbeweg­lichkeit, den Gedanken der Überwindung des Menschen zu entwickeln: Er richtet sich gegen genau diese Statik der anthropolo­gischen Dreiecke, indem er mit ihrer Struktur arbeitet. Dazu führt er das Nachäffen als Praxis ein, die in besonderer Weise die Rela­tion ­zwischen den Eckpunkten des Dreiecks berücksichtigen muss. Das wird insbesondere an den verschiedenen Anwendungen deut­lich, die das Verhältnis von Vorbild und Nachahmung, Original und Kopie auch in anderen Konstella­ tionen als denen von Mensch und Affe erhält; zentral ist hier die Figur des Künstlers zu nennen. Eine Notiz aus dem Umwertungsheft aus dem Jahr 1885 verdeut­licht dies: Wagner ist eines von jenen drei Schauspieler-­Genie’s der Kunst, von w ­ elchen die Menge in ­diesem Jahrhundert – und es ist ja das „Jahrhundert der Menge“! – beinahe erst den Begriff „Künstler“ gelernt hat: ich meine jene drei wunder­lichen und gefähr­lichen Menschen, Paganini, Liszt, Wagner, w ­ elche, fragwürdig in die Mitte gestellt z­ wischen „Gott“ und „Affe“, ebenso sehr zum Nachmachen, als zum Erfinden, zum Schaffen in der Kunst des Nachahmens selber vorherbestimmt waren, und deren Instinkt alles errathen hat, was zum Zweck des Vortrags, des Ausdrucks, der Wirkung, der Bezauberung, der Verführung ausfindig und ausgiebig gemacht werden kann.76

Als Nachmacher werden hier die Interpreten eingeführt, deren Teilhabe am Genie (Gott) und Idiotie/geistloser Mimikry (Affe) sie sogar zu „gefähr­lichen Menschen“ macht. Dass ihre Gefähr­lichkeit gerade auf ihrer Fähigkeit zum Nachäffen beruht, das mög­licherweise nicht vom Nachahmen zu unterscheiden ist,77 entspricht genau 76 KSA 11 (NF), 676. 77 Die Unterscheidung von Nachmachen und Nachahmen geht bei Margot Norris verloren, die von „Nietzsche’s aversion to mimesis“ spricht und sich ihr zufolge besonders auf seine Ablehnung von Masken, Theater und Mime bezieht. Ihre Einschätzung leitet sie aus ihrer Darwin-­ Lektüre her: Darwin habe entdeckt, dass auch in der Natur Imita­tion vorkomme, die nicht nur dem Menschen eigen sei. Die Aversion, von der Norris spricht, entspringt ihrer Deutung nach der Furcht, dass gerade theatra­lische Imita­tion und Maskenhaftes für den Menschen natür­lich

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Nietzsches Deutung des Schauspielers, die sich auch in der Morgenröthe findet und mit der er an die platonische Verwerfung der Mimesis anschließt 78: Philosophie der Schauspieler. – […] Das wäre frei­lich eine schöne Entdeckung, daß es nur des hellseherischen Schauspielers bedürfe, statt aller Denker, Kenner, Fachmänner, um in’s Wesen irgend eines Zustandes hinabzuleuchten! Vergessen wir doch nie, sobald derartige Anmaaßungen laut werden, daß der Schauspieler eben ein idealer Affe ist und so sehr Affe, daß er an das „Wesen“ und das „Wesent­liche“ gar nicht zu glauben vermag: Alles wird ihm Spiel, Ton, Gebärde, Bühne, Coulisse und Publicum.79

Zucht: Nachäffen der Natur

Die Anmaßung der Schauspieler, von der Nietzsche in d ­ iesem Paragrafen spricht, betrifft den ihnen unterstellten Irrtum, dass sie allein durch Darstellung eine gültige Vorstellung von dem erlangen und geben könnten, was sie gestisch und sprach­lich nachbilden. Dabei handelt es sich bei der Arbeit des „idealen Affen“ um eine gelungene Reproduk­tion der usuellen Metapher, um die Erzeugung eines „starre[n] und regelmässige[n] Begriffsgespinst[es]“.80 Die Gefähr­lichkeit besteht dabei nicht nur darin, dass der Schauspieler/Künstler nicht merkt, dass er in dieser Weise befangen ist und weit davon entfernt „in’s Wesen eines Zustandes“ des Menschlichen hinabzuleuchten. Dieser Befund wiegt für Nietzsche schwer, er ordnet ihn sogar als erworbenen körper­lichen Zwang ein: Die physiolo­gischen Zustände, ­welche im Künstler gleichsam zur „Person“ gezüchtet sind, die an sich in irgend welchem Grade dem Menschen überhaupt anhaften: […] 3. das Nachmachen-­Müssen: eine extreme Irritabilität, bei der sich ein gegebenes Vorbild contagiös mittheilt, – ein Zustand wird nach ­­Zeichen schon errathen und dargestellt… Ein Bild, inner­lich auftauchend, wirkt schon als Bewegung der Glieder… eine gewisse Willens-­ Aushängung…(Schopenhauer!!!!)81

Die pathogene („contagiöse“) Wirkung des zwanghaften Nachmachens oder eben Nachäffens entspricht eben nicht mehr dem freien Spiel der Nachahmung, die als

78 79 80 81

sein könnte (vgl. Norris, Margot (1985): Beasts of the Modern Imagina­tion. Baltimore: John Hopkins University Press. Hier: S. 61). Auch zu der Frage von De- und Revalorisierung der Mimesis im Übergang von der plato­ nischen zur aristote­lischen Mimesis Deutung siehe Blumenberg 1981. KSA 3 (M), 231. KSA 1 (WL), 887. KSA 13 (NF), 14 [170], 357.

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Kulturtechnik eingeführt wurde, sondern dem Modus der Zurichtung, die sich der Mensch selbst durch Züchtung zufügt wie eine Krankheit und damit dem „Zwecke des Daseins“ nicht genügt: „Das zu thun, was der Erhaltung der menschlichen Gattung frommt.“82 Aus den Anti-­Darwin-­Fragmenten  83 Nietzsches geht hervor, dass ihn insbesondere die Frage der Zuchtwahl an Darwin interessierte, den er jedoch höchstens als Stichwortgeber und Zeitgeist-­Marker nennt. Die Engführung von Pathologie und Zucht erscheint dabei immer wieder relevant, wenn Nietzsche sich gegen ‚Darwinismus‘ als gültige Beschreibung von der Durchsetzung des Stärkeren und einer damit verbundenen Teleologie wendet, die eine Verbesserung ganzer Arten, nament­lich der menschlichen zur Folge hätte, „‚Natur‘ ‚Fortschritt‘, ‚Vervollkommnung‘, ‚Darwinismus‘, unter dem Aberglauben einer gewissen Zusammengehörigkeit von Glück und Tugend, von Unglück und Schuld“ stehen bei ihm gemeinsam mit dem Christentum immer noch für einen fehlgeleiteten Glauben an „gött­liche Providenz“ ein.84 Das Gegenteil meint er zu seinem Verdruss in der Gegenwart beobachten zu können: Anti-­Darwin – Was den berühmten Kampf um’s Leben betrifft, so scheint er mir einstweilen mehr behauptet als bewiesen. Er kommt vor, aber als Ausnahme; der Gesammt-­Aspekt des Lebens ist nicht die Nothlage, die Hungerlage, vielmehr der Reichthum, die Üppigkeit, selbst die absurde Verschwendung […].85

Nietzsches Haltung zur Darwin-­Rezep­tion ist uneinheit­lich. Es gibt zahlreiche Autorinnen und Autoren, die sich damit beschäftigen, Nietzsche entweder als „Darwinist“ oder wenigstens Darwin-­Befürworter in Stellung zu bringen,86 womit sie einen Versuch wiederholen, den bereits Nietzsches Zeitgenossen unternommen hatten. Der Sozialdarwinist Alexander Tille äußert sich 1895 begeistert über die Verkündung des Übermenschen:

82 KSA 3 (FW), 369. Die Erfüllung dieser „Aufgabe“ kann auch darin bestehen, einen gewissen Niedergang der Gattung zuzulassen (vgl. ebd., 370). 83 Die Wendung gegen Darwin geht bei Nietzsche mit seiner antichrist­lichen, nihilistischen Phase einher, vgl. bspw. KSA 6 (GD), 120 f.: „Darwin hat den Geist vergessen“; es finden sich jedoch auch schon in den Unzeitgemäßen Betrachtungen Invektiven gegen Darwin, der von David Friedrich Strauss als Heilsfigur aufgeführt wird (vgl. bspw. KSA 1 (UB I), 195 f.). Margot Norris hat argumentiert, dass Nietzsche Strauss und Darwin gleichermaßen als gefähr­liche Autoren betrachtete, insbesondere durch ihre große Bekanntheit (Norris 1985, 75). 84 KSA 12 (NF), 10 [7] (142), 457. 85 KSA 6 (GD), 120 f. 86 Siehe bspw. Stegmaier, Werner (1987): Darwin, Darwinismus, Nietzsche. Zum Problem der Evolu­tion. In: Nietzsche Studien. Jahrbuch für die Nietzsche-­Forschung (16), S. 264 – 287.

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Mit der Ethik Nietzsches, wie sie in „Also sprach Zarathustra“ vorliegt, scheint mir die Entwicklungsethik an dem ersten Markstein ihrer Entfaltung angelangt zu sein. Mit ­diesem Buche Nietzsches ist der grosse leitende Gedanke der Entwicklungslehre Darwins zum ersten Male rein und ungetrübt durch herrschende sitt­liche Vorstellungen auf die heutige Menschheit und die künftige Menschheit angewandt.87

Ebenso zahlreich sind auch (teilweise neuere) Versuche, Nietzsche als Gegner ­Darwins aufzubauen.88 Dabei scheint es an der Eigentüm­lichkeit des Nietzschea­ nischen Spiel­einsatzes vorbeizugehen, mit dieser Etikettierung punkten zu wollen. Einerseits dürfen auch bei Nietzsche mangelhafte Kenntnisse der Arbeiten Darwins vorausgesetzt werden, dafür aber mindestens eine Intui­tion für die Untiefen der populären Darwin-­Rezep­tion als Weltanschauung. Andererseits hätte eine bessere Kenntnis der Deszendenzlehre gar nichts daran geändert, dass Nietzsche gewisse Topoi wie eben die Zucht oder den Kampf ums Dasein als intellektuelle Vehikel und „Prestigeanleihen“89 nutzt. Die folgenden Fragmente zeigen, dass Nietzsche ‚Darwin‘ vor allem als Differenzhorizont 90 braucht, um seine Skepsis in Bezug auf den dauerhaften Erfolg von Zucht als Zivilisa­tion des Menschen zum Ausdruck zu bringen: Anti-­Darwin. – Die Domestika­tion des Menschen: ­welchen definitiven Werth kann sie haben? oder hat überhaupt eine Domestika­tion einen definitiven Werth? – Man hat Gründe, dies letztere zu leugnen. Die Schule Darwins macht zwar große Anstrengung, uns zum Gegentheil zu überreden: sie will, daß die Wirkung der Domestika­tion tief, ja fundamental werden kann. Einstweilen halten wir am Alten fest: es hat sich Nichts bisher bewiesen, als eine ganz oberfläch­liche Wirkung durch Domestika­tion – oder aber die Degenerescenz. Und Alles, was der menschlichen Hand und Züchtung entschlüpft, kehrt fast sofort wieder in seinen Natur-­Zustand zurück. Der Typus bleibt constant: man kann nicht „dénaturer la nature“.91

87 Tille, Alexander (1895): Von Darwin bis Nietzsche. Ein Buch Entwicklungsethik. Leipzig: C. G. Naumann. Hier: S. 1. Zu Tille vgl. auch Kroll; Weingart; Bayertz 1992, 118 und Rölli 2011, 446. 88 Stegmaier 1987 liefert hier viel Material in den Fußnoten; Düsing 2006 argumentiert aus theolo­gischer Perspektive für Nietzsche als Darwin-­Gegner. 89 Pörksen 1984, 447. 90 Nietzsches Antipathie gegenüber Darwin drückt sich teilweise auch in Form eines Standesdünkels aus, so spricht er in der Fröh­lichen Wissenschaft von der angeb­lichen ‚Kleine-­Leute-­ Herkunft‘ Darwins (sein Vater war Arzt, die Großväter Naturforscher bzw. Fabrikant), um dann zu einem Generalangriff überzugehen, der seine Abneigung gleich synästhetisch werden lässt: „Um den ganzen eng­lischen Darwinismus herum haucht Etwas wie eng­lische Überbevölkerungs-­ Stickluft, wie Kleiner-­Leute-­Geruch von Noth und Enge.“ (KSA 3 (FW), 585). 91 KSA 13 (NF), 14 [133], 315.

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Die Domestika­tion, mit der Menschen gegen ihre eigenen natür­lichen und damit eben auch tierischen Anteile ankämpfen, denaturieren sie auf eine Art und Weise, die im Modus der Ansteckung weitergegeben wird (s. o.) und letzt­lich zu einem Verkommen der ganzen Art führt: „[…] die Domestika­tion (die ‚Kultur‘) des Menschen geht nicht tief…Wo sie tief geht, ist die sofort Degenereszenz (Typus: der Christ).“92 Wie eine Zivilisa­tion, die auf das Anzüchten von Instinkten durch Nachäffen setzt, erfolgreich sein sollte, wird bei Nietzsche wiederum polemisch verhandelt: „Das Zeitalter der Experimente! Die Behauptungen Darwins sind zu prüfen – durch Versuche! Ebenso die Entstehung höherer Organismen aus den niedersten. Es müssen Versuche auf 1000de von Jahren hin geleitet werden! Affen zu Menschen erziehen!“93 „Affe“ fungiert hier einerseits als Anspielung auf Evolu­tion, die Nietzsche allein an der Regression erkennen möchte, andererseits markiert Nietzsche damit die Attrakti­ vität eines Typus, der wie der des „Christen“ oder des „Narren“ in der Lage ist, seine Aversio­nen zu bündeln. In ­diesem Zitat liegt die Assozia­tion zu einem 1000-jährigen Reich, innerhalb dessen diese Art von nietzscheanischem Erziehungsversuch mög­lich wäre, sehr nahe. Und tatsäch­lich sind es gerade Abschnitte wie dieser, in denen sich Nietzsche mit der Zucht beschäftigt (die er ablehnt) und gegen Krankheit und Schwäche wettert, deren Lektüre heute teils schwer erträg­lich ist, weil ihre protofaschistische bzw. eugenische Dik­tion („Absterbenmachen der Kläg­lichen Verbildeten Entarteten muß die Tendenz sein“),94 die faschistische Nietzsche-­Rezep­tion 95 und das historische Umfeld, dem sie entsprang, jeden Zugang zu diesen Äußerungen begleiten. Es ist schwierig, ­Nietzsches Überlegungen zu ­diesem Thema 96 stark zu machen, zumal es genug Material gibt, das belegt, dass „Nietzsche auf Basis des Selek­tionsgedankens in Deutschland die Wende zu einem antidegenerativen Aktivismus herbeigeführt hat“.97 Es gibt drastische 92 Ebd., 316. 93 KSA 9 (NF) 11[177], 508. Weiterhin scheint hier eine sehr späte Resonanz auf Rousseaus Zweiten Diskurs erzeugt zu werden (vgl. Kapitel I). 94 Zit. nach Kroll; Weingart; Bayertz 1992, 70; Vgl. auch den Paragrafen „Heilige Grausamkeit“ aus der Fröh­lichen Wissenschaft, in der ein „Heiliger“ rät, ein missgestaltetes Kind umzubringen, da es grausamer sei, es leben zu lassen (KSA 3 (FW), 430). 95 Die klas­sische Studie dazu stammt von Georg Lukács (1966): Von Nietzsche bis Hitler oder der Irra­tionalismus in der deutschen Politik. Frankfurt: Fischer. Jüngere Arbeiten zum Komplex Nietzsche/Faschismus stammen bspw. von Martin Schwab (2007): Selected Affinities: Nietzsche and the Nazis. In: Bialas, Wolfgang; Rabinbach, Anson: Nazi Germany and the Humanities. Oxford: Oneworld. S. 140 – 179; Taureck, Bernhard H. F. (2000): Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum. 2. Aufl. Leipzig, Reclam. 96 Siehe dazu u. a. die Passagen über Kulturverfall in der Genealogie der Moral und in Also sprach Zarathustra verwiesen, die sich in einer gnadenlosen Rhetorik von Untergang, Hierar­chie und Verachtung alles Schwachen gefallen (bspw. KSA 5 (GM), 275). 97 Kroll; Weingart; Bayertz 1992, 72.

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­ assagen, etwa in der Götzen-­Dämmerung, die darauf hinweisen, dass Nietzsche in P der Menschen-­Zucht auch das Leiden für die Kreatur sah: Die Zähmung eines Thieres seine ‚Besserung‘ nennen ist in unseren Ohren beinahe ein Scherz. Wer weiss, was in Menagerien geschieht, zweifelt daran, dass die Bestie daselbst ‚verbessert‘ wird. Sie wird geschwächt, sie wird weniger schäd­lich gemacht, sie wird durch den depressiven Affekt der Furcht, durch Schmerz, durch Wunden, durch Hunger zur krankhaften Bestie.98

Diese Passagen sind jedoch nur notwendiges Komplentärstück in seiner Grausamkeits-­ Rhetorik. Nietzsche fährt fort, die Zähmung des wilden Germanen zu beschreiben, der durch die Zucht in einem Kloster zur „Caricatur“ seiner selbst wird – er wird zu einer „blurred copy of himself “ (Huxley), er wird zum Affen. Die Zucht, die eine Maßnahme ist, die sich nicht auf das Individuum richtet, sondern auf die Popula­tion, kann Nietzsche nicht akzeptieren. Sie hat die einheit­liche Ausprägung bestimmter phänotypischer Merkmale im Blick und nimmt für Nietzsche auf der Ebene der sexuellen Reproduk­tion und Phylogenie die Funk­tion ein, die auf der Ebene des Individuums das Nachäffen innehat. Darwin, den er mit dem Gedanken der (Menschen-)Zucht assoziiert, kann dementsprechend nicht einmal beim Vieh „ins Wesen hinableuchten“ – wer vom Vieh nur die Zucht kennt, beschäftigt sich allein mit der Nachäffung der Natur : Heil euch, biedere Engländer/ Eurem Darwin heil, verständ er/Euch so gut wie als sein Vieh! Billig ehrt ihr Engeländer/ Euren Darwin hoch, verständ er/ Auch nicht mehr als Zucht von Vieh. Nur – zu Goethen ihn zu setzen/ Heißt die Majestät verletzen/ Majestatem genii!99

Ein erfolgreiches Züchtungsexperiment führt laut Nietzsche dazu, dass die gesamte Gattung Mensch in eine Gattung von Nachäffern herabgezüchtet wird. Gefahr droht dabei den Künsten, die mit ihren von ihm positiv bewerteten Nachahmungspraktiken ein Residuum des Menschen bilden, in dem selbst technisch-­reproduktive Arbeit durch Anschauungsmetaphern strukturiert ist. Diese Problemlage beschreibt Nietzsche im Medium der Literatur, mit den Mitteln der Philologie und Rhetorik und bezieht sich in erster Linie auf Philosophie. Der Naturwissenschaft, die sich in Nietzsches Verständnis dem Menschen nähert, indem sie ihn durch nachäffende Züchtung domestizieren möchte, ist dieser Weg versperrt. Sie ist in den usuellen Metaphern verhaftet. Durch den Begriff der Anschauungsmetapher schafft sich N ­ ietzsche schließ­lich eine Konstruk­tion, innerhalb derer der Mensch für die Philosophie gerettet werden kann: Nietzsche schafft das menschliche Tier.

98 KSA 6 (GD), 99. 99 KSA 11 (NF), 28 [45], 318.

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Der Affe als Anschauungsmetapher In der Figur des Affen sind bei Nietzsche sowohl dieser Konflikt als auch der jeweils prekäre Ort des Dritten im anthropolo­g ischen Dreieck integriert. In seiner Verwendung von ‚Affe‘ setzt Nietzsche darauf, dass diese Figur wie eine Anschauungsmetapher funk­tioniert. Der Affe als Anschauungsmetapher für den Tierkörper des Menschen führt vor, dass Bezeichnungen wie Mensch, Affe oder Tier unterschied­liche Modi unseres Selbstverhältnisses sind, die er selbst immer wieder neu aushandelt.100 Die beängstigende Ähn­lichkeit des Affen mit dem Menschen, die Autoren von Carl Vogt bis Gabriel von Max beschrieben haben, akzentuiert Nietzsche im philosophischen Rückgriff auf die Mimesis. Das zu ­diesem Zeitpunkt gut eingeführte Bild des Affen prädestiniert diesen dazu, als Anschauungsmetapher geradezu schockartig wirksam zu werden. Dietmar Schmidt hat von den Tier-­Metaphern bei ­Nietzsche als „‚Blitzbildern‘“ gesprochen, „deren Wirkung nach dem Modell energetischer Entladungen beschrieben werden kann.“101 Wie vom Schlag getroffen begegnet der Mensch, den Nietzsche in seinen Texten entwirft, einem Tier, das wie ein unheim­ licher Doppelgänger seiner selbst ist und ihn beständig mahnt, sich der Animalität in seiner Person zu besinnen – dies soll jedoch nicht geschehen, indem er wie ein Tier denkt, sondern indem er als Tier empfindet: indem er nachahmt. Er ist dadurch zwar niemals ein Tier, aber er kann am Tier-­Werden durch „Widernatür­liche Anteilnahme“ teilhaben.102 Für den Menschen bedeutet das, dass der Zusammenfall von sinn­licher Evidenz und Einfall in der Anschauungsmetapher zugelassen werden muss, was im Fall des Affen, der ihm so sehr gleicht, in die Agonie führen kann: Das neue Grundgefühl: unsere endgültige Vergäng­lichkeit. – Ehemals suchte man zum Gefühl der Herr­lichkeit des Menschen zu kommen, indem man auf seine gött­liche Abkunft hinzeigte: dieß ist jetzt ein verbotener Weg geworden, denn an seiner Thür steht der Affe, nebst anderem greu­lichen Gethier, und fletscht verständnißvoll die Zähne, wie um zu sagen: nicht weiter in dieser Richtung! […] Das Werden schleppt das Gewesensein hinter sich her: warum sollte es von d­ iesem ewigen Schauspiele eine Ausnahme für irgend ein Sternchen und wiederum für ein Gattungchen auf ihm geben! Fort mit solchen Sentimentalitäten!103 100 Insofern stimme ich auch mit Iris Därmann überein, die schreibt, dass „Nietzsches Rede vom Menschen als Tier metaphorisch gemeint“ ist: Der Satz „Der Mensch ist ein Tier“ würde dann ein bestimmtes Verhältnis, ein Verhalten des Menschen zu sich selbst bezeichnen (vgl.: Därmann, Iris (2011): Von Tieren und Menschen. Martin Heidegger, Jacques Derrida und die zoolo­g ische Frage. In: Zeitschrift für Kulturphilosophie (2), S.  303 – 325. Hier: S. 323). 101 Schmidt 2011, 295. 102 Deleuze/Guattari 1992, 351. 103 KSA 3 (M), 53 f.

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Nietzsches Mensch sucht in ­diesem Paragraf aus der Morgenröte seinen Platz, der weder bei den Göttern oder dem Gott, noch bei dem Menschen zu suchen ist, dem nichts Menschliches fremd ist. Ein Weg steht ihm allerdings noch offen, von dem Nietzsche dort nichts, jedoch an vielen anderen Stellen schreibt. Die Tiere werden den Menschen ihrer Mitte nicht abweisen, so wie sie auch Zarathustra nicht abgewiesen haben, der von der Schlange als dem gefähr­lichsten und dem Adler als dem weitsichtigsten Tier immer begleitet wird.104 Wenn er sich seiner Posi­tion im anthropolo­gischen Dreieck bewusst wird und damit anerkennt, dass seine Beziehung zum Affen oder dem Tier nicht wegzurechnen ist, ohne dass er sich selbst wegrechnet, kann er zu einem Menschen werden, dem nichts Tierisches fremd ist.105 Dazu wird ihm allerdings abverlangt, sich aus dem Modus des Nachäffens der Natur, aus Zucht und Zivilisa­tion zu lösen und in den Modus der Kultur und der Nachahmung der Natur überzugehen. Dies gelingt ihm nicht mithilfe der Naturwissenschaften, sondern mit der Rückbesinnung auf sein eigenes Affesein, auf sein mimetisches Verhältnis zur Natur und insbesondere zum Tier. Die Überwindung des Abgrundes, der ­zwischen dem Tier und dem Übermensch (als Mensch, der sich überwunden hat) liegt, kann so gelingen. Der Affe ist bei Nietzsche der „erste, anschau­liche Eindruck“ seiner Herkunft. Dieser offenkundige Beleg seiner Abstammung ist dabei jedoch nur der Beginn eines Tierwerdens; es reicht nicht, sich wie Darwin zum „Affengenealogen“106 auszubilden, Nietzsche fragt nach dem „Urerlebniss“: Die Konfronta­tion mit dem Affen fördert dabei nicht die Erkenntnis „der sieht ja aus wie ich“, sondern die Empfindung „das bin ich“. Hier ist die die generalisierende Rede von ‚dem‘ Affen, die leicht irritierend und wie eine leere Hülle wirken kann, von Vorteil und verbindet sich mit dem Charakter der Anschauungsmetapher. ‚Der‘ Affe, der eben nicht als Bonobo oder Gorilla gekennzeichnet ist, bleibt ein individuell und einzigartig zu füllender Begriff, der zum Orientierungspunkt innerhalb des anthropolo­g ischen Dreiecks wird. Die Verkörperung des Menschen in der Anschauungsmetapher Affe wirkt jeder Form von Hybris entgegen, die das Verhältnis des Menschen zu Gott, als auch zu sich selbst kennzeichnet: Hybris ist unsere Stellung zu Gott, will sagen zu irgendeiner angeb­lichen Zweck- und Sitt­ lichkeits-­Spinne hinter dem grossen Fangnetz-­Gewebe der Ursäch­lichkeit […]. Hybris ist

104 „Die einsamste Einsamkeit aushalten, heißt nicht, die beiden Tiere sich zum Zeitvertreib und zur Gesellschaft halten; es heißt, die Kraft zu besitzen, in der Nähe dieser Tiere sich selber treu zu bleiben und sie nicht wegfliegen zu lassen.“ Heidegger, Martin (1996): Zarathustras Tiere. In: Martin Heidegger: Gesamtausgabe. Abt. 1: Veröffent­lichte Schriften. Bd. 6: Nietzsche. Hg. v. Brigitte Schillbach. Frankfurt/M.: Klostermann, S. 264 – 268. Hier: S. 267. 105 Vanessa Lemm (2012) deutet genau diesen Menschen als Übermenschen. 106 KSA 1 (UB I), 194.

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unsere Stellung zu uns, – denn wir experimentieren mit uns, wie wir es uns mit keinem Thiere erlauben würde, und schlitzen uns vergnügt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf: was liegt uns noch am ‚Heil‘ der Seele!107

Somit wird in der Anschauungsmetapher Affe die Gattungsgeschichte des Menschen korrigiert, die Nietzsche durch die Annahme einer falschen Rangordnung ­zwischen Mensch und Tier gekennzeichnet sah. Wie auch immer sich das Verhältnis ­zwischen Mensch und Tier, ­zwischen Mensch und Affe gestaltet – es mag Regression oder endlose Suche bedeuten: Der Mensch kann sich bei Nietzsche zu keinem scheuß­licheren Tier als sich selbst entwickeln, sozusagen zum Affen in seiner Person: Kreislauf des Menschenthums. – Vielleicht ist das ganze Menschenthum nur eine Entwickelungsphase einer bestimmten Thierart von begränzter Dauer, so daß der Mensch aus dem Affen geworden ist und wieder zum Affen werden wird, während Niemand da ist, der an d ­ iesem verwunder­lichen Komödienausgang irgend ein Interesse nehme.108

Mit dieser Vermutung lag Nietzsche falsch.

107 KSA 5 (GM), 357. 108 KSA 2 (MA I), 205.

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2. Zwischen Pathologie und Emanzipation. „Nachäffen“ als „Entartung“ bei Nordau Alle Moralprediger, wie auch alle Theologen, haben eine gemeinsame Unart: alle suchen den Menschen aufzureden, sie befänden sich sehr schlecht und es thue eine harte letzte radicale Cur noth. Friedrich Nietzsche, Die fröh­liche Wissenschaft 109

Einleitung Tatsäch­lich konnte keine Rede davon sein, dass (wie von Nietzsche vermutet) niemand Interesse an dem Schicksal und einem mög­lichen Untergang der Menschheit nahm. Mit brennenden Interesse beschäftigte sich Max Nordau (1849 – 1923)110 mit dem von ihm diagnostizierten Befund, dass Teile der Menschheit emsig an der Selbstabschaffung der gesamten Gattung arbeiteten. Nordau stützte sich dabei auf Beobachtungen, die er in Paris gemacht hatte, wo er die meiste Zeit seines Lebens wohnte und als Arzt und Schriftsteller einer doppelten Berufung folgte, die besonders in seinen kulturkritischen Schriften zum Tragen kam. Spürbar wird Nordaus Engagement in zwei Berufen jedoch auch in seinem Wirken für die zionistische Bewegung. Das Interesse der Forschung zu Nordau war lange hauptsäch­ lich dadurch motiviert.111 In ­diesem Abschnitt wird es vor allem um Nordaus Krankengeschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts gehen. Er betitelte sie Entartung (1892/1893) und schlug am Ende des zweibändigen Werks im gleich­namigen Kapitel eine „Therapie“ vor:

109 Nietzsche KSA 3 (FW), 326. 110 Max Nordau wurde als Maximilian Simcha Südfeld als Sohn eines Rabbiners im ungarischen Pest geboren. Auskunft über die spannende Biografie Nordaus erteilt Christoph Schulte (1997a): Psychopathologie des Fin de siècle. Der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau. Frankfurt: Fischer. Eine weitere, vor allem am Werk orientierte Darstellung seines Wirkens stammt von Petra Zudrell (2003): Der Kulturkritiker und Schriftsteller Max Nordau. Zwischen Zionismus, Deutschtum und Judentum. Würzburg: Könighausen & Neumann. Ein Sammelband von Delphine Bechtel et al. versammelt eine ganze Reihe von Nordau-­Expertinnen und Experten, die sich mit den vielen Facetten seiner Arbeit auseinandersetzen (Bechtel, Delphine; Bourel, Dominique; Le Rider, Jacques (Hg.) (1996): Max Nordau 1849 – 1923. Critique de la dégénérescence, médiateur franco-­allemand, père fondateur du sionisme. Paris: Les Édi­tions du Cerf ). 111 Vgl. auch Brenner, Michael (2002): Geschichte des Zionismus. München: Beck. Hier: S. 21.

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Das ist die Behandlung der Zeitkrankheit, die ich für wirksam halte: Kennzeichnung der führenden Entarteten und Hysteriker als Kranke, Entlarvung und Brandmarkung der Nachäffer als Gesellschaftsfeinde, Warnung des Publikums vor den Lügen dieser Schmarotzer.112

In der Figur des „Nachäffers“ fallen bei Nordau psychisch Kranker und Künstler zusammen. Deren Werke betrachtet er dementsprechend wie Symptome von Patien­ ten und stellte seine ganze Arbeit in den Dienst von Diagnostik, Ätiologie und Therapie. Die als „entartet“ diagnostizierten Künstler und diejenigen, die diese Kranken auch noch „nachäffen“, werden als Beispiele für die „Entartung“113 der gesamten Menschheit heran­gezogen. Die „Entartung“ besteht dabei in einer von Nordau als umgekehrt verstandenen Mimesis: Die Nachahmung von „entarteter“ Kunst und Künst­lichkeit in der Kunst anstelle der Nachahmung der Natur stellt für Nordau das ihr zugrundeliegende Funk­tionsprinzip dar. Für diese Pathologisierung seines Untersuchungsgegenstandes macht er sich ‚den‘ Affen zunutze, indem er an Nietzsches Funk­tionalisierung der Figur anschließt: Sie integriert verschiedene Aspekte als krank verstandener Künst­lichkeit. Damit wird ein artifizielles Konstrukt wirksam gemacht, das sich auf die Geschichte der Figur als Geschichte der Abwertung jeg­licher mimetischer Praxis verlässt. Auch bei Nordaus Verwendung von ‚Nachäffen‘ oder ‚Affe‘ handelt es sich dementsprechend nicht um eine Debatte über eine bestimmte Spezies und deren Eigenschaften. Vielmehr verdichtet er darin die evolu­tionären, psychiatrischen und kulturkritischen Dikurse seiner Zeit. Seine Kulturkritik nimmt gegenüber anderen Autoren eine herausgehobene Stellung ein, da sie mit der Kritik am Nachäffen eine gedank­ liche Figur einführt, die Nordau in seinen zionistischen Schriften wieder aufgreift. Seine Aversion gegen diese als minderwertig betrachtete Mimesis formuliert er darin als Kritik an der Assimila­tion der Juden in der Diaspora. Die Assimila­tion beschreibt er als Form der Mimikry, die entscheidende Merkmale mit dem sogenannten Nachäffen teilt. Diese Analyse entwickele ich anhand von Nordaus Begriff der „Entartung“ und schließe daran eine Beobachtung der Phänomene an, auf die er ihn anwendet. Dabei werde ich die These verfolgen, dass bei Nordau neben einer „Wechselwirtschaft“ von Ästhetik und Therapeutik 114 die ­Wechselwirtschaft ­zwischen ­materialistischer 112 Nordau, Max (1892): Entartung. 2 Bände. Berlin: Carl Duncker. Hier: S. 505. Der erste Band von Entartung erschien 1892, der zweite im darauf folgenden Jahr. 113 Die Worte „entartet“ und „Entartung“ werden hier immer Anführungzeichen gesetzt, auch wenn es sich nicht um Zitate Nordaus handelt, um die Distanz zu ihrer Semantik zu akzentuieren. 114 Ich übernehme den Begriff der Wechselwirtschaft von Odo Marquard (Marquard 1973, 98). Bei dem hier zitierten Text handelt es sich um den zweiten Teil von Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, die Zitate gehören zum „Über einige Beziehungen ­zwischen Ästhetik und Therapeutik in der Philosophie des 19. Jahrhunderts“; Marquard bezieht sich hier auf Novalis.

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Anthropologie und Darwin-­Rezep­tion deut­lich wird. Die Wirksamkeit der „Entartung“ entfaltet sich seiner Ansicht nach aufgrund des Herdentriebs der Menschen, den ich in einem anschließenden Teilabschnitt behandele. Dieser Trieb kann laut Nordau schlimmstenfalls zur Verbreitung der „Entartung“ durch das Nachäffen von patholo­g ischen Phänomenen führen. Wie Nordau mit d­ iesem Gedanken in seinen zionistischen Schriften umgeht, zeigen am Schluss ­dieses Abschnitts Überlegungen zur Engführung von Nachäffen und Assimila­tion.

„Entartung“ Entartung ist das am häufigsten behandelte Werk Nordaus, was ganz wesent­lich mit der Rede von der „entarteten Kunst“ im Na­tionalsozialismus zusammenhängt.115 Es besteht aus zwei Bänden, in denen Nordau zuerst eine ausführ­liche Beobachtung der Symptomatik der „Entartung“ vorlegt, die sich in den Moden des Fin de Siècle findet. Im Anschluss beschäftigt er sich mit Diagnose und Ätiologie, um in folgenden Kapiteln jeweils eine Gruppe von Betroffenen abzuhandeln.116 Im zweiten Band bietet Nordau zuerst eine Analyse der „Ich-­Sucht“ an, die seiner Meinung nach die Spielart der „Entartung“ ist, an der die Künstler leiden, die er in den folgenden Kapiteln rhetorisch mit aller Härte bekämpft.117 Sie sind laut Nordau „Anpassungsunfähige.“118 Die Anpassung genoss bei ihm einen hohen Stellenwert, seit er das entsprechende Konzept bei ­Darwin aufgegriffen hatte. Auch wenn er sich grundsätz­lich Darwin anschließe, so sei er hinsicht­lich ­dieses Begriffs anderer Meinung: Ich denke mir den Vorgang der Anpassung ganz anders, näm­lich so: das Lebewesen empfängt in irgend einer Lage Unlustgefühle und will ihnen entgehen, sei es durch Lageveränderung (Bewegung, Flucht), sei es durch den Versuch einer thätigen Einwirkung auf die Ursache jener Unlustgefühle (Angriff, Aenderung der natür­lichen Verhältnisse). Reichen die Organe, die das Lebewesen besitzt, und die Fähigkeiten, w ­ elche diese Organe bereits erlangt haben, nicht aus, um die als nothwendig empfundene und gewollte Gegenwirkung auf die

115 Zur Frage der „entarteten Kunst“ siehe Fischer, Jens Malte (1984): Entartete Kunst. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. 38. Jg. H.3. S. 346 – 352. Die Rolle Max Nordaus für den Entartungs-­Diskurs im Na­tionalsozialismus diskutieren sowohl Zudrell 2003, 67 f. als auch Schulte 1997a, 205 ff. und Weingart; Kroll; Bayertz 1993, 57, sowie Person 2005, 120. 116 Wiedergabe des Inhaltsverzeichnis: „Der Mysticismus“; „Die Präraphaeliten“; „Die Symbolisten“; „Der Tolstoismus“; „Der Richard-­Wagner-­Dienst“. 117 Gemeint sind hier: „Paranassier und Diablokier“; „Decadenten und Aestheten“ (bspw. ­Huysmans, Wilde); „Der Ibsenismus“; „Friedrich Nietzsche“; „Der Realismus: Zola und die Zolaschulen“; „Die jungdeutschen Nachäffer“. 118 Nordau 1893, 39.

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Unlustgefühle zu leiten, so ergeben sich die schwäch­lichen Lebewesen in ihr Schicksal und leiden oder gehen sogar zu Grunde.119

Die Anpassung besteht bei Nordau in Selbstdisziplin, die verhindert, impulsiv den eigenen Trieben zu folgen – ein Verhalten, das bei Nietzsche eine ganz andere Einschätzung erfahren hatte. Nietzsches „philosophische Ermächtigung der Natur“120, die in seiner Aufforderung zum Tier-­Werden kulminierte, lehnt Nordau strikt ab. Das längste Kapitel in Entartung widmet sich deshalb allein der Pathologisierung Nietzsches. Seine Vorschläge dazu, die Bedrohungen der äußeren Natur dadurch abzuwenden, dass man sich zu ihr mimetisch verhält,121 wurden von Nordau nicht (an-) erkannt. Er rüstet vielmehr sein psychiatrisches Wissen verbal hoch, um N ­ ietzsche exemplarisch als Vertreter der „Ich-­Sucht“ zu pathologisieren. Nordau sah Nietzsches Raubtier-­Rhetorik als Beleg dafür, dass Nietzsche eine riskante Natur herbeischreiben wollte und damit die Erkenntnisfortschritte der Naturwissenschaft und Medizin ignorierte oder überhaupt nicht von ihnen wusste. Die naturwissenschaft­liche Weltanschauung Nordaus wurde dadurch offenbar an empfind­licher Stelle beleidigt und mehr noch schien durch die Wirkung Nietzsches die von ihm diagnostizierte „Zeitkrankheit“ verschlimmert zu werden. Nordaus erfolgreicher Abhandlung ist eine Popularisierung des Begriffs „Entartung“ zuzuschreiben, dessen Mäandern durch die Alltagssprache und medizinische sowie sozial­kritische Literatur den Begriff als Diagnose durchsetzte.122 Bis 1896 erschien Entartung bereits in drei Auflagen und wurde ins Eng­lische und ins Franzö­sische übersetzt. Dabei sollte man allerdings ­zwischen Kritikererfolg und ökono­mischem Erfolg unterscheiden: Obwohl die franzö­sische Lebensart im Zentrum der Nordau’schen Kritik steht, war Entartung gerade bei franzö­sischen Kritikern sehr erfolgreich. Von deutschen Lesern wurde Nordau hingegen unterschied­lich bewertet; während Entartung in der Fachpresse als Arbeit eines Kollegen besprochen wurde,123 beschrieb beispielsweise Karl Kraus Nordau als „literarischen ­Metzger“ mit mangelnder Impulskontrolle: „Herr Nordau ist wieder einem Eckstein der Kunst begegnet. Gewohnheitsmäßig hob er das Hinterbein und besprengte ihn mit dem unedlen Naß eines Feuilletons in der ‚Neuen Freien Presse‘.“124 Die umfangreiche eng­lischsprachige Rezep­tion setzte sich fort, und 1 19 120 121 122 123 124

Nordau 1893, 36 f. Marquard 1986, 90. Vgl. auch Gebauer 2010, 221. Siehe dazu Zudrell 2003, 73.f. Schulte 1997a, 259. Zit. n. Söder, Hans-­Peter (1991): Disease and Health as Contexts of Fin-­de-­Siècle Modernity. Max Nordau’s Theory of Degenera­tion. In: German Studies Review 14 (3), S. 473 – 487. Hier: S. 477). Zur amerikanischen Rezep­tion und den Kontroversen um Nordau siehe Maik, Linda L. (1989): Nordau’s Degenera­tion: The American Controversy. In: Journal of the History of Ideas 50 (4), S. 607 – 623.

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noch bis in die 1980er Jahre fand die wissenschaft­liche Auseinandersetzung mit Nordau hauptsäch­lich in den Vereinigten Staaten von Amerika statt.125 Die Betitelung seines bekanntesten Werkes ausgerechnet mit dem Begriff „Entartung“ fällt auch insofern auf, als dass bereits zum Zeitpunkt der Veröffent­lichung sich auch Antisemiten auf diesen Begriff stützten und ihn explizit mit ihrer Kunstkritik verbanden. So war in der Antisemitischen Correspondenz. Centralorgan der deutschen Antisemiten, die ­zwischen 1885 und 1890 erschien, im September 1888 zu lesen: „Die Entartung der Kunst ist aber der sichere Vorbote der sitt­lichen und weiterhin der leib­lichen Entartung.“126 Auch wenn Nordau diesen Befund genau so teilte, verfolgte er keine rassistische Agenda. Er koppelte das Auftreten der „Entartung“ weder mit bestimmten ‚Rassen‘ noch mit sozialen Schichten oder Klassen;127 allenfalls ist immer wieder eine Sympathie mit dem Kleinbürgertum festzustellen, das nach Nordau zu fleißig arbeitet, um auf Ideen zu verfallen, die als „entartet“ eingestuft werden müssten.128 Denkbar scheint vielmehr, dass Nordau, der Erfinder der Opposi­tion von „Nervenjude“ und „Muskeljude“ (Letzteren empfahl er als Vorbild für die Zionisten),129 mit der Besetzung des Begriffs in einem Akt von subversiver Affirma­tion 130 den Antisemiten den Wind aus den Segeln nehmen wollte; dies nicht zuletzt dadurch, dass er den Antisemitismus selbst als eine Form der „Entartung“ bezeichnete.131 125 Zu Entartung als Verkaufserfolg siehe Schulte 1997a, 207. 126 Zitiert nach Fischer 1984, 348. 127 Petra Zudrell weist darauf hin, dass Nordau dem Konzept der ‚Rasse‘ in der Anthropologie extrem skeptisch gegenüberstand und an Vertretern von Rassetheorien kritisierte, dass sie keine haltbare Defini­tion des Begriffs vorlegen könnten (Zudrell 2003, 191). Zu der Kopplung von „Entartungs“-Diskurs und Rassismus (beispielsweise bei Gobineau) siehe Becker 2005, 330. 128 Nordau 1892, 13. Siehe dazu auch: Schulte, Christoph (1997b): Nietzsches Entartung 1892. Max Nordau als früher Nietzsche Kritiker. In: Stegmaier, Werner; Krochmalnik, Daniel: Jüdischer Nietzscheanismus. (Monographien und Texte zur Nietzsche Forschung, 36). Berlin; New York: De Gruyter, S. 149 – 167. Hier: S. 156. 129 Diese Begriffe prägte Nordau auf dem II. Zionistenkongress in Basel in einer Rede, die sich maßgeb­lich mit der Dreyfus-­Affäre auseinandersetzt (vgl. Schulte 1997a, 303 ff.). Als Maßnahme zur Durchsetzung des Ideals des Muskeljuden gründete Nordau auch die Jüdische Turnerzeitung (vgl. Mosse, George L. (1992): Max Nordau, Liberalism and the New Jew. In: Journal of contemporary history 27 (4), S. 565 – 581. Hier: S. 569). Zur Wirkung des Turnens in der völkischen Bewegung Tauber, Peter (2003): „Die Leibesübungen sind eine besondere Art des Kampfes ums Dasein“. Popularisierter Darwinismus in der Auseinandersetzung um die Körperkultur in Deutschland um die Jahrhundertwende. In: Carsten Kretschmann (Hg.): Wissenspopularisierung. Konzepte der Wissensverbreitung im Wandel. Berlin: Akademie Verlag, S. 293 – 307. 130 Auch Schulte (1997b, 165) geht davon aus, dass Nordau mit Entartung eine „Umwertung des Entartungs-­Diskurses“ bezweckte; Hans-­Peter Söder spricht im Zusammenhang der Besetzung des Entartungsdiskurses durch Nordau von einem „preemptive strike against those conservatives for whom decadence and degenera­tion were synonymous with being jewish […]“ (Söder 1991, 478). 131 Nordau bezeichnet den Antisemitismus als „deutsche Hysterie“ (Nordau 1892, 325).

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Mit seinem Publika­tionserfolg gelang Nordau die Verbreitung eines Begriffs, der bis dahin vor allem in der Medizin und Anthropologie verbreitet war. Jens-­Malte Fischer hat darauf verwiesen, dass er im Mittelhochdeutschen ebenfalls Verwendung fand, dann lange Zeit nicht auftauchte und ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wieder gebräuch­lich wurde, wobei er auch die Abweichung von dem bezeichnete, was im jeweiligen Verständnis unter Anstand lief.132 In Medizin und Anthropologie trat der Begriff im Zusammenhang mit der Lehre von den Atavismen auf, beispielsweise in Aebys Abhandlungen zur Mikrocephalie.133 Nordau selbst schließt direkt an den Psychiater Bénédicte Augustin Morel an, der für ihn neben Cesare Lombroso und seinem Doktorvater Jean-­Marie Charcot 134 eine der wichtigsten Referenzen ist. Er verbindet die Diagnose der „Entartung“ mit der Hysterie, die er als Forschungsgebiet Charcots in den frühen 1880er-­Jahren kennengelernt hatte und als der „Entartung“ eng verwandtes Syndrom verschiedent­lich behandelt. Die grundlegende Bestimmung der „Entartung“ als „Krankheits-­Zustand“ entnimmt Nordau direkt bei Morel. Ihm zufolge sei die „Entartung“ […] eine krankhafte Abweichung von einem ursprüng­lichen Typus. Diese Abweichung, auch wenn sie anfäng­lich noch so einfach wäre, schließt übertragbare Elemente von solcher Beschaffenheit ins ich, daß derjenige, der ihren Keim in sich trägt, immer mehr und mehr unfähig wird, seine Aufgabe in der Menschheit zu erfüllen, und daß der geistige Fortschritt, der schon in seiner Person gehemmt ist, auch bei seinen Nachkommen bedroht ist.135

Um die Gründe für die „Entartung“ zu erhellen, greift Nordau wiederum auf Morel zurück und nennt die Vergiftung durch verdorbene Speisen und den Drogenkonsum, darunter fallen auch Tabak- und Alkoholkonsum, dessen Anstieg er durch Zahlenmaterial belegt.136 Weitaus größeren Raum nimmt in seiner Beschreibung der Ursachen für die „krankhafte Abweichung vom ursprüng­lichen Typus“ jedoch die Beschreibung des Lebens in der Großstadt und die allgemeine Zunahme von Verkehr und Medienzirkula­tion ein, die mit einer erhöhten Arbeitsbelastung für alle Gesellschaftsschichten einhergeht: „Die gesittete Menschheit wurde von ihren neuen Erfindungen und Fortschritten überrumpelt.“137

132 Fischer 1984, 347. Fischer nennt hier allerdings nur wenige Texte; auch die Materialbasis aus Wörterbüchern ist dünn. 133 Zu Aeby vgl. Kapitel III.3. 134 Charcot promovierte Nordau 1882 mit einer Arbeit, die den Titel De la castra­tion de la femme trägt (vgl. Schulte 1997a, 109). 135 Morel zitiert nach Nordau 1892, 27 f. 136 Nordau 1892, 55 ff. 137 Ebd., 64.

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Nordau identifiziert auch einen Ort, der Hauptschauplatz dieser „Überrumpelung“ ist. Die Großstadt an sich, insbesondere Paris, steht im Zentrum seiner Betrachtungen.138 Sein Verhältnis zu Frankreich scheint außerordent­lich schlecht gewesen zu sein, mehr hatte Nordau für England übrig.139 Paris gilt Nordau als Welthauptstadt der Degenera­tion, in der sich allerorts die Wirkung eines Zustandes beobachten lässt, der von Nordau unter dem Namen Fin de Siècle behandelt wird. Beispiele findet er interna­tional: Der Mörder Pranzini wird nach seiner Hinrichtung auf die Anatomie gebracht. Das Haupt der Geheimpolizei schneidet sich von der Leiche ein großes Stück der Haut ab, läßt diese gerben und aus dem Leder für sich und einige Freunde Zigarren- und Visitenkarten-­Taschen anfertigen. Fin-­de-­sciècle-­Beamter.  […] Ein Amerikaner läßt sich in einer Gasanstalt mit seiner Braut trauen, besteigt dann mit ihr einen bereitgehaltenen Luftballon und tritt die Hochzeitsreise in die Wollen kann. Fin-­de-­ sciècle-­Hochzeit.140

Entscheidend ist für Nordau nicht das Ereignis, sondern der Anlass für die Etikettierung „als entartet“, es reicht aus, dass es sich um eine „praktische Los­ sagung von der überlieferten Zucht“ 141 handelt. Die „überlieferte Zucht“ wird als bekannt vorausgesetzt und ist daran erkennbar, dass in ihr keine Neuerungen vorkommen. Die Strategie Nordaus besteht dabei in einer konsequenten Verwendung biolo­g ischen oder medizinischen Vokabulars bei der Beschreibung von Alltagsphänomenen und andererseits der Einführung von alltagssprach­ lichen Ausdrücken in den medizinischen Diskurs. Dabei wird jedoch vor allem das Erregungsniveau Nordaus deut­l ich: Eine Ballonfahrt als Hochzeitsreise muss nicht gegen die gute Sitte verstoßen, wird hier aber in einem Atemzug mit grausamen Verbrechen genannt. Deren Einordnung als Nachäffen trivialisiert zur gleichen Zeit die Diagnose. Christoph Schulte hat darauf hingewiesen, dass eine gewisse pessimistische Betrachtung der Gesellschaft zum „Diskurs des bürger­lichen Normalbewußtseins“ gehörte und die Kehrseite eines fortschrittsoptimistischen Mainstreams war,142 der 138 Damit stellt sich Nordau in eine Reihe mit anderen Dekadenz-­Kritikern des Fin de Siècle (vgl. Mattenklott, Gert (1996): Dégénérescence. La théorie de la dégénera­tion culturelle chez Max Nordau. In: Bechtel et al. (Hg) – Max Nordau. S. 161 – 173). Mattenklott führt hier unter anderem Otto Weininger an, ebd., 170. 139 Vgl. Nordau 1892, 120 f. Den Eigenheiten der franzö­sischen Hauptstadt widmete er sich ausschließ­lich in zwei Werken: 1878: Aus dem wahren Miliardenlande. 2 Bände. Leipzig: Duncker & Humblot und 1880: Paris unter dritten Republik. Leipzig: B. E­lischer. 140 Nordau 1892, 8. 141 Nordau 1892, 9. 142 Schulte 1997a, 156.

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sich einer Vielzahl von Bedrohungen ausgesetzt sah. Anarchie, Sozialismus, ‚abartige‘ Sexualität (wie die der Affen) und niedrige Geburtenraten verschwammen im Bürgertum zu einem Amalgam, das in „Entartung“ auf den Begriff gebracht und durch die von Nordau angebrachten Beispiele aus der Kunst als real einsortiert werden konnte.143 Bei aller Begeisterung für das Fortschreiten der Wissenschaften ist jedoch bei Nordau eine Feindseligkeit gegenüber der koevolutiv entstehenden Medien(technik) zu beobachten, die als Geschichte der Überreizung der Nerven und Überforderung der Verarbeitungsmög­lichkeiten der Menschen geschildert wird. Seinen Überlegungen zur Therapie der überforderten Gesellschaft, die vor allem als Medienkritik formuliert wird, liegt eine Vorstellung von einem ‚natür­lichen‘ Menschen zugrunde, der durch den Schutz vor Medien(technik) davor bewahrt werden kann, durch die Nachäffer verdorben oder aber selbst einer von ihnen zu werden. Diesen Schutz betrachtet er als Teil eines Anpassungsprozesses an die Umwelt, die er in einer kleinen Utopie entwirft: Man wird Briefbestellungen ausfallen, Bahnstrecken eingehen lassen, den Fernsprecher aus den Wohnungen abschaffen und nur allenfalls für Staatszwecke beibehalten, man wird die Wochenblätter den täg­lichen Zeitungen vorziehen, aus der Großstadt auf das Land zurückkehren den Modenwechsel verlangsamen, den Inhalte des Tages und Jahres vereinfachen und den Nerven wieder einige Ruhe gönnen. Die Anpassung wird also in jedem Fall erfolgen, entweder durch Steigerung der Nervenkraft oder durch Verzicht auf die Errungenschaften, die dem Nervensystem zu viel zumuthen.144

Noch herrscht im Fin de Siècle jedoch ein Klima allgemeiner Überspannung und Anstrengung, was sich laut Nordau schon an den äußer­lichen ­­Zeichen der „Entartung“ ablesen lässt. Diese nennt Nordau Stigmate, bedauert die negative Konnota­tion des Begriffs, behält ihn aber dennoch bei: „Stigmate sind Mißbildungen, Mehrbildungen und Bildungshemmungen, in erster Reihe die Asymmetrie […].“145 Zu den Asymme­trien gehören bei Nordau unter anderem Segelohren und angewachsene Ohrläppchen, aber auch das Schielen wird als mög­liches ­­Zeichen der „Entartung“ eingeführt. Den Lesern teilt er jedoch Morels Erkenntnis mit, dass „Entartung“ nicht mit der Entstehung neuer Arten zu verwechseln sei, und die entarteten Individuen alsbald unfruchtbar würden und in der Folge ausstürben.146 Mit dem Verweis auf die Asymmetrie als ­­Zeichen der „Entartung“ wird unterschwellig die Symmetrie als negatives Gesundheitszeichen eingeführt: Nach Nordau sind Menschen, die keine asymmetrische Bildung aufweisen, aller Wahrschein­lichkeit nach nicht „entartet“ 143 Söder 1991, 475. 144 Nordau 1893, 497. 145 Ebd., 28. 146 Ebd.

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und damit psychisch gesund. Die Symmetrie als eines der durchgreifendsten Kriterien für Schönheit gilt in der Evolu­tionstheorie (noch immer) als wichtiger Faktor für Reproduk­tionserfolge.147 Diese werden bei Nordau den „Entarteten“ auf lange Sicht nicht in Aussicht gestellt. Zu den körper­lichen Stigmaten der „Entartung“ treten die „geistigen Stigmate“ hinzu, auf die seine Kulturkritik wesent­lich aufbaut, und deren Vorhandensein seiner Meinung nach ganz ohne körper­lichen Befund festgestellt werden kann. Dazu reicht es, sich den Werken der „Entarten“ zu widmen. „Geistige Stigmate“, so Nordau, lassen sich in allen Lebensäußerungen, nament­lich auch in allen Werken der Entarteten mit Leichtigkeit nachweisen, so daß es nicht nöthig ist, den Schädel eines Schriftstellers zu messen oder das Ohrläppchen eines Malers zu sehen, um zu erkennen daß er zur Klasse der Entarteten gehört.148

Zur Systematisierung des Phänomens beruft sich Nordau wieder auf die Asymmetrie. Bezogen auf die „geistigen Stigmate“ drücke sie sich im fehlenden „Sinn für Sitt­lichkeit und Recht“ aus, der dazu führe, dass „Entartete“ in aller Gemütsruhe Verbrechen begingen;149 zudem brächte ihre „Emotivität“150, „kaum geformte Gedanken-­Embryone“ hervor, allgemein litten sie an einer „ziel- und uferlose Gedankenflucht“.151 Mit dieser Pathologisierungsstrategie hatte Nordau schon in Die conven­tionellen Lügen der Kulturmenschheit 152 und Paradoxe 153 begonnen. Darin beschrieb er die „Mieselsucht“, womit zur gleichen Zeit Lepra/Aussatz und Niedergeschlagenheit mit einem Hang in die Nörgelei gemeint waren. Schuld an deren Verbreitung waren Nordaus Meinung nach die öffent­lichen Institu­tionen, die nicht in der Lage ­seien, die Gesellschaft entsprechend der Erkenntnisse aus Darwins Über die Enstehung der Arten zu organisieren, womit die Frage der natür­ lichen Selek­tion („Zuchtwahl“) gemeint war.154 In Entartung systematisierte er nun die Phänomene, deren Beobachtung er zuvor bereits in ungeordneter Form einem großen Publikum zugäng­lich gemacht hatte. Insbesondere in seinen Äußerungen zum mög­lichen Aussterben von „Entarteten“ spiegelt sich Nor­daus vereinfachende Rezep­tion von Evolu­tionstheorie wider, die er stärker von Lamarck

147 Vgl. Menninghaus 2003, 155 ff. 148 Nordau 1892, 30. 149 Ebd. 150 Ebd., 32. 151 Ebd., 35. 152 Nordau, Max (1883): Die conven­tionellen Lügen der Kulturmenschheit. Leipzig: B. E­lischer. 153 Ders. (1885): Paradoxe. Leipzig: B. E­lischer. 154 Vgl. dazu Geller, Jay (1995): The Conven­tional Lies and Paradoxes of Jewish Assimila­tion: Max Nordau’s Pre-­Zionist Answer to the Jewish Ques­tion. In: Jewish Social Studies 1 (3), S. 129 – 160. Hier: S. 133.

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als von Darwin bezieht.155 Die prognostische Komponente der Theorie interessiert ihn dabei jedoch kaum. Nordaus Schrift weist sich eher als teils lamentierende, teils denunzierende Warnung aus, denn als Versuch, Szenarien für die Zukunft der Menschheit zu entwerfen. Dementsprechend nimmt auch die kritische Gegenwartsanalyse einen sehr viel größeren Raum ein als die im Kapitel „Therapie“ vorgetragenen Mög­lichkeiten der Entwicklung der Menschheit.156 Mit seinen Überlegungen zielt Nordau darauf ab, in den Prozess der natür­lichen Auslese in der Gegenwart einzugreifen, indem die „Entartung“ als Anpassungsstörung behandelt wird, die ausgeräumt werden muss, um nicht große Gruppen der an ihr ‚Erkrankten‘ dem Mechanismus der Auslese zum Opfer fallen zu lassen. Die hier implizite Vorstellung von einer Natur, die nicht ohne den Menschen vorstellbar ist, und in der sein Vorhandensein prinzipiell wünschenswert ist, hat zur Folge, dass die Heilung oder Rettung der „Entarteten“ als Dienst an der Natur verkauft werden kann. Damit geht der Versuch einher, sich gegen die kritische Befragung der pejorativen Urteile über die „Entarteten“ zu immunisieren, die andernfalls als Geschmacksäußerungen zu klassifizieren wären. Um ­diesem Vorwurf zu entgehen, versieht Nordau seine Argumenta­tion mit einer genealo­gischen Komponente: Die Strukturgleichheit der „Entartung“ in Körper und Geist drückt sich in der morpholo­gischen Beschreibung der Gedanken als Kinder („Gedanken-­Embryone“) des Betroffenen aus. Um nachzuweisen, dass „die Urheber aller Fin-­de-­Siècle-­Bewegungen in Kunst und Literatur“ körper­lich „Entartete“ s­ eien, müsste man laut Nordau bloß ihre Stammbäume untersuchen um festzustellen, dass „fast bei allen unzweifelhaft degenerirte Verwandte und ein oder mehrere Stigmate“ vorhanden ­seien, „welche die Diagnose ,Degenera­tion‘ außer Zweifel stellen“.157 Diese wird vor allem dadurch verschlimmert, dass die Degenera­tion so eng mit der Hysterie verbunden ist, und die Hysteriker besonders stark von der „Nachahmungssucht“ 155 Person 2005, 121. Person verweist darauf, dass es Nordau auf die Vererbung von erworbenen Eigenschaften ankommt, die vor allem von Lamarck propagiert wurde. Zentral ist dieser Gedanke auch bei Kyung-­Ho Cha, der in seiner Studie zur Humanmimikry immer wieder auf die gewichtigen Unterschiede z­ wischen Lamarck und Darwin hinweist und insbesondere Nordaus Gebrauch von Gedanken zur Evolu­tion dem Lamarckismus zuschlägt (zu Chas Auseinandersetzung mit Nordau vgl. ders. 2010, S. 186 ff.). 156 In seiner letzten Vorlesung zu den Anormalen kommt Michel Foucault auch auf die Degenerierten zu sprechen, die er als Beispiele für den „Rassismus gegen den Anormalen“ heranzieht, der sich in der Psychiatrie am Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt. Foucaults Pointe ist, dass der Degenerierte ähn­lich wie der Verbrecher als Individuum gesehen wird, das eine Gefahr darstellt und auf seine Therapierbarkeit hin untersucht werden soll. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass der Degenerierte als nicht zu heilende Figur aufgefasst wird, die interniert werden muss, um die von ihr ausgehende Gefahr zu eliminieren (Foucault 2007, 418 ff.). Dieses Verfahren schlägt letzt­lich Nordau vor. 157 Nordau 1892, 29.

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betroffen sind.158 Sie führt dazu, dass diese Patienten bedenkenlos ästhetische Phänomene aufnehmen und durch Ansteckung anderer Hysteriker/„Entarteter“ zu einer immer stärkeren Verbreitung von Entartungsphänomenen führen.159 Diese Kopplung von „Entartung“ und Hysterie bei der Beschreibung künstlerischer Phänomene findet sich auch bei Nietzsche, dessen Werke Nordau überhaupt erst zu seiner Diagnose inspiriert hatten: Nietzsche schreibt, dass schon physiolo­gisch gesehen „der moderne Künstler […] dem Hysterismus nächstverwandt“160 sei. Mit der Empfehlung der Untersuchung der Stammbäume schließt Nordau direkt an eines der potentesten Bilder innerhalb der Evolu­tionstheorie an, das es ihm erlaubt, ein Phantasma von eindeutiger Verortung und Zuschreibbarkeit zu entwickeln. Die Vorstellung eines Stammbaums von der Art einer deutschen Eiche, wie sie bei ­Haeckel zu finden ist, macht es wahrschein­lich, dass der Urheber der Degenera­ tion auf irgendeinem benachbarten Ast zu finden sein wird. Die Plastizität d­ ieses organischen Stammbaumbildes der menschlichen Gattung lässt das Problem der „Entartung“ drängend erscheinen. Durch die Bedrohung des Stammbaums ist die Menschheit bei Nordau als einzelner Organismus bedroht: „Entartet“ die Menschheit, stirbt der Baum auf die Dauer ab. Das Nachäffen oder die Nachahmungssucht wird von Nordau als Reproduk­tionsproblem behandelt, bei dem der Akzent seiner Kritik auf der Produk­tion liegt – nicht auf der Wiederholung. Nordau möchte die unkontrollierte Fortpflanzung von Denkstilen (die „Gedankenflucht“) verhindern. Indem er ­dieses Bestreben mit der Vokabel des Nachäffens als patholo­g ischem Phänomen verbindet, schließt er an die Figur des Affen sowie des Affenmenschen gleichermaßen an. Beide waren mit einer devianten oder ‚abartigen‘ Sexualität in Verbindung gebracht worden (s. Kapitel III); beide Figuren waren Gegenstand von Kreuzungsfantasien (s. Kapitel I) und medizinisch-­anthropolo­g ischer Texte: Eine der zentralen Fragen bei der Untersuchung von Mikrocephalen wie anthropoiden Affen war stets, ob sie sich fortpflanzen könnten. Durch Nordaus Beschreibung der „Entartung“ als Phänomen in der Kunst nimmt er einen Wechsel des Gegenstandsbereichs der Psychiatrie vor. Sie soll sich nun mit künstlerischen Werken beschäftigen. Die Psychopathologie ist so nicht mehr nur mit der Kriminalistik, sondern auch mit der Vererbungslehre eng verbunden und gibt auch der Kunstkritik neue Methoden an die Hand. Schon durch die Analyse der äußeren Erscheinung eines Künstlers kann die so geschulte Kritik auf seinen Geisteszustand schließen und erhält dadurch die Mög­lichkeit, ihn gegebenenfalls direkt an die Kollegen aus der Psychiatrischen Klinik zu überweisen. Das kündigt Nordau 1 58 Ebd., 42. 159 Die „neue[n] ästhetische[n] Schulen und ihr Erfolg sind eine Form dieser Massen Hysterie“, ebd., 65. 160 KSA 13, 16 [120] zitiert nach Pöksen 1984, 444. Die konstruierte Distanz z­ wischen Nordau und Nietzsche kommt im Teil über die Gegenstände der Nachäffung noch einmal zur Sprache.

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schon in der Widmung an Cesare Lombroso an, mit der das Werk beginnt.161 Die „geistig Entarteten“, so Nordau, weisen dieselben geistigen – und meist auch leib­lichen – Züge auf wie diejenigen Mitglieder der näm­lichen anthropolo­gischen Familie, die ihre ungesunden Triebe mit dem Messer des Meuchelmörders oder der Patrone des Dynamit-­Gesellen statt mit der Feder oder mit dem Pinsel befriedigen.162

Insgesamt verurteilt Nordau eine ganze Klasse von künstlerischen Arbeiten, weil er diese als Abweichung von der Masse betrachtet, die mit der Mög­lichkeit der Abweichung vom Gattungstypus einhergeht. Nordau pocht zwar auf die „Eigenart“ als Qualitätsmerkmal von Kunst,163 entwickelt aber keine Kriterien, wie diese festzustellen sei. Auch in seiner herben Stilkritik an der Mode des ausgehenden 19. Jahrhunderts nennt er keine Alternativen zu den von ihm kritisierten Erscheinungen, sodass unklar bleiben muss, wie seiner Ansicht nach das Neue in die Welt (der Mode, der Kunst) kommen kann. Nordau führt eine Normalästhetik ein, an der sich Geist und Körper messen müssen.164 Der einzige Schritt, der bei Nordau zur Forderung eines psychiatrischen Zwangs­regimes fehlt, ist der Vorschlag der präventiven Internierung oder Zwangstherapie von Menschen mit „Stigmaten“ von „Entartung“.

Gegenstand der „Nachäffung“ Insbesondere die Träger der Stigmata geistiger „Entarungen“ werden laut Nordau häufig nachgeäfft. Diese Beobachtung macht er zur Grundlage seiner Einlassungen zum deutschen Realismus. Das entsprechende Kapitel in Entartung heißt die „Die jungdeutschen Nachäffer“ und behandelt von ihm als besonders schwer empfundene Fälle 165 exemplarisch (darunter Hermann Bahr, der Maupassant-­Übersetzer Heinz Tovote, Karl Bleibtreu und Gerhard Hauptmann, von dem er allerdings 161 Der Zusammenhang z­ wischen Lombroso und Nordau ist von Jutta Person (2005) aufgearbeitet worden. Die Bedeutung der Widmung an den „hochgeehrte[n] und theure[n] Meister“ hat Céline Kaiser verdeut­licht (2007): Rhetorik der Entartung. Max Nordau und die Sprache der Verletzung. Bielefeld: transcript. Hier: S. 22 ff.. 162 Nordau 1892, VII. 163 Ihr Fehlen wirft er besonders den „jungdeutschen Nachäffern“ vor (Nordau 1893, 418). 164 Wyss, Beat (1997): Trauer der Vollendung. Zur Geburt der Kulturkritik. Köln: Dumont. Hier: S. 249. 165 Bei diesen „Fällen“ geht es ausschließ­lich um Männer. „Entartung“ kann zwar auch bei Frauen auftreten, Nordau behandelt dies jedoch nur in seiner Einleitung zur Erläuterung des Fin de Siècle. Frauen werden hier als besonders empfäng­lich für das Nachäffen bestimmter Bekleidungsmoden historischer Epochen genannt (vgl. Nordau 1892, 25 ff.).

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einige Werke anerkennend nennt). Nordaus Hauptvorwurf bezieht sich immer auf die angeb­lich fehlende Originalität der Literaten, die seiner Meinung nach keine eigenen Leistungen vollbringen, was sich schon in der Namenswahl ihrer Gruppierung ausdrücke: Hier sei aber sofort bemerkt, daß die Realisten, Nachäffer bis ins Mark der Knochen, nicht einmal so viel Selbstständigkeit besitzen, um einen eigenen Namen für sich zu finden, sondern ruhig die Bezeichnung abschrieben, unter der die Heine-, Boerne- und Gutzkow-­Gruppe berühmt geworden ist.166

Seine Ausführungen erklärt Nordau gleich zu Anfang als ein Unternehmen mit rein weltanschau­lichem Anspruch, indem er erklärt, weder Literaturgeschichte noch -kritik treiben zu wollen, was ihn auch der Aufgabe entbindet, sich ausführ­lich mit einzelnen Autoren auseinanderzusetzen, die diese Mühe gar nicht wert sind: „So tief stehende Nachäffer wie die deutschen Realisten haben keinen Anspruch darauf, daß man jedem einzelnen von ihnen eine eingehende Betrachtung widme.“167 Tatsäch­lich greift er auch nur wenige heraus, denen er in ­diesem Abschnitt seines Werks eine Sammelabrechnung serviert, die insgesamt knapper ausfällt als seine Einzelstudien zu Nietzsche, Ibsen oder Wagner. Viel wichtiger als Akkuratesse ist hier der Aufklärungsgestus, der einen gewissen Genuss an der Darstellung der Autoren nicht verhehlen kann, vor deren potenziell verderb­lichen Einfluss Nordau warnen will. Die Diagnose „Nachäffen“ kommt dabei ohne genauere Erklärung ihrer Funk­tionsweise aus – sie fällt schließ­lich mit einer Verurteilung zusammen. Dies wird im Fall von Hermann Bahr deut­lich, dessen Stück Seelenstände Nordau vernichtend abkanzelt; Bahr sei ein „Nachäffer von einer Unerbitt­lichkeit, die man nur in der schweren Hysterie antrifft“, niemand werde von seiner „Nachäffungs-­Wuth“ verschont, er bediene sich dabei mit Vorliebe bei „­Nietzsche, Stirner, Ibsen, den franzö­sischen Diabolikern, Decadenten und Impressionisten“.168 Nordau zitiert sehr beflissen alle Autoren, denen er ein düsteres Schicksal im Orkus der Literaturgeschichte voraussagt. Dabei gibt er aber selten Kontexte an und erzielt so einen starken Verfremdungseffekt. Insbesondere in seinen Einlassungen zu ­Nietzsche führt dies zu einer starken Verzerrung des Eindrucks von dessen Schriften, der Nordaus Diagnose in die Hände spielt. Er bezeichnet Bahr als Nachäffer ­Nietzsches, von dessen Erregungszuständen er ein sehr lebendiges Bild zeichnet, angereichert durch Informa­tionen über die tatsäch­liche gesundheit­liche Zerrüttung des Autors, die Nordau sich so vorstellen möchte:

1 66 Nordau 1893, 424. 167 Ebd., 418. 168 Ebd., 437.

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Wenn man Nietzsches Schriften hinter einander liest, so hat man von der ersten bis zur letzten Seite den Eindruck, einen Tobsüchtigen zu hören, der mit blitzenden Augen, wilden Geberden und schäumendem Munde einen betäubenden Wortschwall hervorsprudelt und zwischendurch bald in ein irres Gelächter ausbricht, bald unfläthige Schimpfreden und Flüche ausstößt, bald in einem schwindelig behenden Tanz herumhüpft, bald mit drohender Miene und geballten Fäusten auf den Besucher oder eingebildeten Gegner losfährt.169

Nordaus Nietzsche-­Diagnosen haben die Eigenart, teilweise rhetorisch selbst vorzuführen, was sie an dem Weimarer Patienten festzustellen glauben – in mancher Hinsicht klingt Nordau, als habe er zeigen wollen, wie es sich anhört, wenn Nietzsche nachgeäfft wird.170 Durch seine Darstellung Nietzsches stellt Nordau den Gegenstand der Nachäffung Bahrs selbst her,171 erst durch diese Zurichtung gerät die Vorlage zur Karikatur. Seine Kritik am Nachäffen bleibt, dass in der „Entartung“ die Nachahmung der Natur durch die Nachahmung ‚kranker‘ Künst­lichkeit ersetzt wurde. Dadurch erzielte er jedoch nur teilweise einen abschreckenden Effekt, sondern trug durch seine Quellenauswahl vielmehr zur Kanonbildung der Moderne bei: In Großbritannien halfen unter anderem gerade Nordaus Nietzsche- und Ibsen-­Kapitel dabei, die Autoren überhaupt bekannt zu machen.172 Die mit einer Aura der Gefahr ausgestatteten Künstler übten beispielsweise auch auf Georg Lukács in seiner Jugend einen enormen Einfluss aus, sie bildeten gewissermaßen seinen privaten Kanon.173 Auffällig ist auch, dass Nietzsche begriff­lich an die gleichen Diskurse wie Nordau anschloss, dabei verfolgte Nietzsche den Gedanken der Beeinflussung der sogenannten Gattungsqualität in seinen Fragmenten jedoch viel drastischer als Nordau es wagte.174 Beide Autoren hatten sich dem Entartungsdiskurs in Momenten zugewandt, die sie als krisenhaft für die Gesellschaft erlebten, und sahen darin konstruktive Potenziale: „Here was a highly flexible, politically adjustable tool, able simultaneously to locate, diagnose and

1 69 Nordau 1893, 273. 170 Nordau wurde auch von Zeitgenossen häufig mit Nietzsche verg­lichen, nicht zuletzt wegen der beiden Autoren attestierten Humorlosigkeit (vgl. Söder, Hans-­Peter (1995): Captain Dreyfus in Germany? Max Nordau’s „Dr. Kohn“ as a „Bourgeois Tragedy“. In: Modern Judaism 15 (1), S. 35 – 47. Hier: S. 37). 171 Das gilt auch für die franzö­sischen Autoren, nament­lich Zola, auf die Nordau zuvor bereits eingedroschen hatte. 172 Söder 1991, 474. 173 Vgl. Zudrell 2003, 70 f. Baldwin schreibt, dass das Gespür Nordaus für den Zeitgeist so untrüg­ lich war, dass beinahe überall die Bezeichnung „Entartung“ durch „Moderne“ ersetzt werden könnte (Baldwin, P. M. (1980): Liberalism, Na­tionalism, and Degenera­tion. The Case of Max Nordau. In: Conference Group for Central European History of the American Historical Associa­tion, S. 99 – 120. Hier: S. 104). 174 Vgl. Kroll; Weingart; Bayertz 1993, 70 ff.

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resolve a prevalent – if inchoate – sense of social and cultural crisis through an exercise of eugenic labelling and a language of bio-­social pathology and potential renewal.“175 Die Zurichtung ihres Gegenstandes mithilfe d ­ ieses Werkzeugs war dementsprechend beiden zu eigen, ihre Opera­tionen damit unterscheiden sich jedoch sehr stark: Die felsenfeste Nordau’sche Weltanschauung steht dem nietzscheanischen „Perspektivismus“176 oder Relativismus gegenüber. Trotz seiner Brachialrhetorik liegt Nordau daran, das Leben seiner Mitmenschen zu verbessern, indem er sie ärzt­lich betreut. Insbesondere in seinen Schriften zum Zionismus, auf die ich ­später noch eingehe, ist ein humanistischer Anspruch zu erkennen.177 Nordau betreibt Kulturkritik als wohlmeinende psycholo­g ische Hygiene,178 die von den materialistischen Anthropologien zehren kann, die Vogt et al. entworfen hatten. Körper­liche und geistige Gesundheit werden von Nordau verschmolzen und zu einer Versicherung gegen das Nachäffen aufgebaut. Während er in d­ iesem Bestreben Nietzsche gewissermaßen folgt, wehrt er dennoch dessen Reformulierung des Humanismus als Tier-­Werden ab.

Nachäffen und Herdentrieb Nordaus Hygienebestrebungen richten sich gegen eine sympathetische Ansteckung am Nachäffen:179 Der Anhänger eines „Entarteten“ entartet laut Nordau schnell selbst, da er sich seinem Vorbild (sei es nun eine Person oder eine bestimmte Mode) durch Nachäffen anzunähern versucht. Besonders in der Kunst hat dies nach Nordau den Effekt, dass die so infizierte Person selbst zu der Produk­tion unorigineller Kunstwerke neigt: Es gibt in jedem gesitteten Volk mit entwickelter Kunst und Literatur zahlreiche Geisteseunuchen, die zwar nicht fähig sind, aus eigener Kraft eine lebende Geistesthat hervorzubringen, die aber ganz gut die Gesten des Schaffens nachzuahmen vermögen. Diese Krüppel bilden leider die große Mehrheit der berufsmäßigen Schriftsteller und Künstler und ihre ungezieferhaft wimmelnde Menge erdrückt oft genug das wahre, ursprüng­liche Talent. […] Geschickt im Absehen der Aeußer­lichkeiten, unbedenk­liche Abschreiber und Nachäffer, drängen sie sich um

175 Aschheim, Steven E. (1993): Max Nordau, Friedrich Nietzsche and Degenera­tion. In: Journal of Contemporary History 28 (4), S. 643 – 657. Hier: S. 649. 176 Aschheim 1993, 648. 177 Den Humanismus Nordaus betont auch Aschheim 1993, 652. 178 Vgl. auch Wyss 1997, 249. 179 So argumentiert auch Le Bon, der ausgehend von der Beobachtung des Verhaltens von Tierherden davon spricht, dass sich der Wahnsinn unter Menschen durch das ‚Überspringen‘ vom einen zum anderen überträgt (vgl. Kaiser 2007, 137).

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jede eigenartige Erscheinung, sie sei krankhaft oder gesund, und machen sich ohne Zeitverlust daran, von ihr gefälschte Abdrücke in Umlauf zu setzen. Heute sind sie Symbolisten, wie sie gestern Realisten oder Pornographen waren.180

Es ist auffällig, dass Nordau gerade dort, wo er Kunst kritisiert, die seiner Auffassung nach die ­Sitten durch explizit sexuelle Darstellungen verletzt, selbst sexualisierte Beleidigungen wie „Geisteseunuch“ verwendet. Diese Charakterisierung, w ­ elche die Nachäffer zu Kastraten, also impotenten Figuren erklärt, steht in merkwürdigem Kontrast zu den schweren Geschützen, die er gegen die ansteckende Wirkung des Nachäffens auffährt. Der Vorwurf des Nachäffens, der hier erhoben wird, tönt dabei wie eine verzweifelte Resonanz des Geniebegriffs vom Anfang des 19. Jahrhunderts, das seinem Ende entgegengeht, als Nordau seine Kulturkritik schreibt. Dies gilt umso mehr, als zur gleichen Zeit eine Aufwertung mimetischer Praktiken zu beobachten ist. Einerseits finden sich entsprechende Passagen bei Nietzsche, andererseits veröffent­licht nur zwei Jahre vor dem Erscheinen von Entartung der Soziologe Gabriel Tarde mit Die Gesetze der Nachahmung 181 ein Werk, das sich nicht nur nicht abfällig über Nachahmung und Imita­tion äußert, sondern darin eine gesellschaftskonstitutive Funk­tion erkennen will. Nachahmung wird bei Tarde als „sozia­ les Band“182 beschrieben, das ganz grundsätz­lich zwar mit Tradierung, jedoch auch mit Innova­tion verknüpft wird.183 Ihm zufolge entsteht nur durch die Tradierung von Praktiken und Kenntnissen, die vorerst ohne eigenen Anteil nachgeahmt oder eben nachgeäfft werden, ein kollektives Gedächtnis, das es erlaubt, sich schließ­lich erfinderisch zu betätigen und zu variieren, was in der Gesellschaft bewahrt wird, die „nicht ohne eine Vorrat an Routine, an Nachäffungen und einen unergründ­lichen Herdentrieb, der sich ständig über die Genera­tionen vergrößert, leben, fortschreiten und sich verändern“ kann.184 Nietzsche hatte genau diesen Nachäffungs-­Vorrat der Menschen als ihr größtes Hindernis dabei beschrieben, sich aus den Niederungen der Gemeinschaft zu befreien und einem Dasein als Übermenschen entgegenzugehen. Die antisoziale Komponente ­dieses Konzepts lehnt Nordau strikt ab, als „geistesgesunder Moralist“ schätzt er vielmehr den Menschen, der sich „aus der Illusion seiner individuellen Vereinsamung“ lösen könne, um „am Gattungsdasein theilzunehmen, sich als Glied der Gattung zu fühlen, die Zustände des Artgenossen sich vergegenwärtigen, das heißt, mitempfinden zu können.“185 Wenn Nietzsche diesen Menschen als Herdentier verachte, übersähe 180 181 182 183 184 185

Ebd., 51 f. Tarde, Gabriel (2009): Die Gesetze der Nachahmung. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Ebd., 12. Ebd., 10. Ebd., 97. Nordau 1893, 302.

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er laut Nordau, dass das Herdentier eine „höhere Entwicklungsstufe“ erreicht habe, „welche Geisteskrüppel und Entartete, die ewig in ihre krankhafte Vereinnahmung eingeschlossen bleiben, nicht erklimmen können.“186 Die Unergründ­lichkeit des Herdentriebs, die von Tarde beschrieben wird, ist es jedoch, die Nordau beunruhigen muss; der Herdentrieb selbst wird keinesfalls kritisch gesehen. Gegen Epigonentum, gegen „überlieferte Zucht“ und ihre Varia­tionen erhebt Nordau keine Einwände, seine Befürchtung hinsicht­lich des Abschwungs der Menschheit bezieht sich vielmehr auf die Imita­tion von Phänomenen, die er als krankhaft einstuft. Bei künstlerischen Arbeiten nimmt dies die Form einer restlosen Aufklärung über den Schaffensprozess an, die nicht duldet, dass es Anteile daran geben könnte, die nicht auf Materie, auf ‚kranke Hirne‘, eben auf „Entartung“ zurückzuführen sind, sondern sich ganz grundsätz­lich dem Zugriff des Arztes entziehen. Sein klassizistischer Geschmack,187 der Symbolisten, Realisten und Pornografen als haltlose Erscheinungen der Moderne abqualifiziert, ist dabei Teil eines ästhetischen Konservatismus, bei dem „das historische Vorbild als Argumenta­tionsfigur […] in der politischen ebenso wie in der ästhetischen Rhetorik an Bedeutung“ gewinnt;188 und so lehnt auch Nordau nicht Vorbilder ab (im Gegenteil hält er sie für unbedingt notwendig), sondern die Imita­tion im Sinne einer Simula­tion. Das Nachäffen als Form der Imita­tion, die er als Identifika­tion auffasst, ist für ihn nur unter der Preisgabe eigener Identität und der Auflösung in eine andere, vorgegebene Identität denkbar. In der Figur des Affen, die hier im Nachäffen aufgerufen wird, verdichten sich die phobischen Reflexe auf drohenden Identitätsverlust. Alle vorangegangenen Kapitel haben gezeigt, auf wie unterschied­liche Weise die Figur des Affen behandelt wurde, um eine Identitätspolitik zu betreiben, die durch die Exklusion von Personen, die mit Affen assoziiert wurden, die taxonomische Verunsicherung durch die „verschwommene Kopie“ des Menschen 189 in den Griff zu kriegen versuchte. Dieses absichernde Verfahren konfiguriert auf entscheidende Weise auch Nordaus Rede vom Nachäffen, die an die phy­sische Anthropologie des 18. Jahrhunderts anschließt und sie um die Perspektive der zeitgenös­sischen Psychiatrie erweitert. Diese weiß zwar wie Nordau um die evolu­tionär bedingte Verbindung ­zwischen Mensch und Tier, Nordau kann sie dennoch im Namen seiner Psychiatrie, die er als Pflege am Organismus Volk versteht, nicht zum Tragen 186 Ebd. 187 Nordau hält fest, dass die deutschen Schriftsteller seit der Weimarer Klassik die „führende[n] der weißen Menschheit“ gewesen ­seien (Nordau 1893, 416). 188 Roggenhofer, Johannes (2007): Philosophische Gedanken über ästhetischen Konservatismus. In: Jan Andres, Wolfgang Braungart und Kai Kauffmann (Hg.): „Nichts als die Schönheit“. Ästhetischer Konservatismus um 1900. Frankfurt/M., New York: Campus (Historische Politik­ forschung, 10), S. 14 – 29. Hier: S. 22. 189 Huxley hatte Affen als „blurred copies of himself “ (gemeint ist der Mensch) beschrieben (vgl. Huxley 1863, 59).

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kommen lassen: „Der Fortschritt ist die Wirkung immer härterer Bezwingung des Thiers im Menschen.“190 In ­diesem Sinne fordert der „Fortschritt“ auch strenge Sank­ tionen für das Nachäffen.

Assimilation als Nachäffen Die Einschätzung des Nachäffens als „Entartung“ gewinnt an Brisanz, wenn es als Spielart der Mimikry gesehen wird, die in Nordaus zionistischen Schriften noch einmal zur Geltung kommt. Er spricht sich darin gegen die Assimila­tion der Juden aus, die er als Mimikry, und nicht als Anpassung beschreibt: Anpassung genoss bei ihm einen hohen Stellenwert, da er sie als Voraussetzung sozialer Ordnung und Humanität sah. Systematisch ist die Assozia­tion von Assimila­tion, Nachäffen und ­Mimikry entscheidend, weil sie die Unterscheidung von Nachäffen und Nachahmen, von Mimikry und Mimesis wiederholt und bestätigt, die sich auch bei N ­ ietzsche findet. Im Abschnitt Elemente des Antisemitismus in der Dialektik der Aufklärung heißt es: „Wenn Mimesis sich der Umwelt ähn­lich macht, so macht falsche Projek­tion die Umwelt sich ähn­lich.“191 Mit der Shoa vor Augen stellte sich Adorno und H ­ orkheimer die Frage nach dem Erfolg und dem Versprechen der jüdischen Assimila­tion auf ganz andere Weise als für Nordau. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass „falsche Projek­tion“ als Ausdruck einer gesellschaft­lichen Pathologie gesehen wird, die jedoch bei H ­ orkheimer nicht Fin de Siècle, sondern Faschismus heißt. Die Mimikry der Juden, die letzt­lich auch vor dieser Pathologie keinen Schutz bietet, ist bei Adorno und Horkheimer nur gegen die in ihren Augen zutiefst mensch­liche Mimesis eingetauscht gewesen, die in ihrer unbeherrschten Form immer unterdrückt wird.192 Die Idiosynkrasie der Antisemiten, die sich der andienenden Liebe der assimilierten Juden verweigert,193 will nicht an das „untilgbar mimetische Erbe aller Praxis“ erinnert werden, denn „die Motive, auf die Idiosynkrasie anspricht“, so Adorno und Horkheimer, „erinnern an die Herkunft.“194 Es ist der alte Affe Angst vor dem Verlust der Identität, der die Antisemiten ebenso wie die Gegner der jüdischen Assimila­tion bewegt. An der Wurzel der Verfemung des Nachäffens ist auch der ganz reale Affe anzutreffen, dem durch die Evolu­tionstheorie ein Platz am Tisch der Menschheitsgeschichte zugewiesen werden sollte: Er steht für alle 190 Nordau 1893, 506. 191 Adorno; Horkheimer 2009, 197. 192 Ebd., 189. 193 „‚Ich kann dich ja nicht leiden – Vergiß das nicht so leicht’, sagt Siegfried zu Mime, der um seine Liebe wirbt. Die alte Antwort aller Antisemiten ist die Berufung auf Idiosynkrasie.“ (Adorno; Horkheimer 2009, 188). 194 Ebd., 189 f.

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Zugehörigkeitsfragen, deren existenzielle Bedeutung erst anthropolo­g isch gedeutet zu ihrer vollen Wirksamkeit kommen. Nordaus eigene Idiosynkrasien haben ihn genau das bemerken und Nachäffen als Mimikry zur urgeigensten Opera­tion der Assimila­tion erklären lassen. Ob damit nicht am Ende auch „widermenschlicher Geist“ demonstriert wurde, dessen Merkmal „wohlorientierte Überlegenheit“ ist, sei für den Moment dahin gestellt.195 Zum Zeitpunkt der Veröffent­lichung von Entartung unterhielt Nordau ein schwieriges Verhältnis zu seinem Judentum, das sich schon in seiner Namenswahl ausdrückt, die seinen hebräischen Namen (Simcha) in Vergessenheit geraten lassen sollte und seine Zugehörigkeit zu den durch deutsche Sprache und Kultur geprägten Juden seiner Heimatstadt Pest ausdrückte.196 In seiner Schulzeit wandte er sich schließ­lich dem Atheismus zu 197 und verlegte sich auf den zeitgenös­sischen Liberalismus, dessen Credo aus Wissenschaftsgläubigkeit und Positivismus, Ra­tionalität und Affektkontrolle er verinner­lichte.198 Nordau war in seiner Jugend und in seinen Anfängen als Feuilletonist und Reise­schriftsteller offenbar nur selten mit Antisemitismus konfrontiert, obwohl sich dieser gerade in Ungarn ab 1875 politisch organisierte,199 Progrome gegen Juden in Russland an der Tagesordnung waren und der Antisemitismus auch in der Wissenschaft lärmte (man denke an August Rohlings Der Talmudjude).200 Auch als Autor erfolgreicher Theaterstücke (bspw. Das Recht zu lieben, Uraufführung: 1893) hatte er offenbar nicht mit antisemitischen Schmähungen zu kämpfen, diese erreichten ihn erst während einer Urlaubsreise nach Borkum: Täg­lich erhielt er hier „anonyme antisemitische Schreiben auf oder unter seinem Teller im Speisesaal“.201 Zu den vielen Denkwürdigkeiten in Nordaus Biografie gehört weiterhin, dass er bereits 195 „Hitler war gegen den Geist und widermenschlich. Es gibt aber auch einen Geist, der widermenschlich ist: sein Merkmal ist wohlorientierte Überlegenheit.“ (Adorno; Horkheimer, Gegen Bescheidwissen. In: ebd., 218). 196 Schulte 1997a, 37. Zu den Konflikten der deutschsprachigen Juden in Ungarn siehe ebd. Das Kapitel „Ein Pester Jude“, S. 34 ff. 197 Ebd., 41. Nordaus Weg ist dabei nicht außergewöhn­lich. Ritchie Robertson hat darauf hingewiesen, dass junge Juden, die um die Jahrhundertwende aufwuchsen, in enger Verflechtung mit der christ­lichen Tradi­tion lebten, ganz gleich, ob sie sich ihrer eigenen Religion oder eben dem Atheismus zuwandten (vgl. Robertson, Ritchie (1998): Die Erneuerung des Judentums aus dem Geist der Assimila­tion 1900 bis 1922. In: Wolfgang Braungart; Gotthard Fuchs; Manfred Koch: Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. II: um 1900. Paderborn: Schöningh, S. 171 – 193. Hier: S. 174). Ganz sicher gilt das auch für Nordau, der großen Wert darauf legte, Jude und deutscher Schriftsteller zu sein (vgl. Schulte 1997b, 164). 198 Vgl. Baldwin 1980, 101 f. 199 Ebd., 36. 200 Siehe auch Geller 1995, 134. 201 Schulte 1997a, 257.

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1888 (vor der Heirat mit seiner Frau) eine Affäre mit der rus­sischen Antisemitin Olga ­Novikova unterhielt 202 – sein Bewusstsein für die große Bedrohung, die der interna­tionale Antisemitismus darstellte, setzte offenbar erst ­später ein, auch wenn er mit antisemitischen Werken wie Die Judenfrage (1880) von Karl Eugen Dühring und La France Juive (1886) von Edouard Drumont vertraut war.203 Der Zeitpunkt ­dieses Weckrufs kann ziem­lich genau auf den Beginn der Dreyfus-­Affäre im November 1894 datiert werden. Am 5. Januar 1895 wohnten der spätere Zionistenführer ­Theodor Herzl sowie sein Pariser Arzt Max Nordau der öffent­lichen Degradierung und Demütigung Dreyfus’ durch einen aufgebrachten Mob bei.204 Nordau berichtete in den kommenden Wochen immer wieder für die Vos­sische Zeitung über die Affäre Dreyfus,205 sein Freund Herzl, der als Korrespondent für die Wiener Neue Freie Presse schrieb, dokumentierte die Vorgänge ebenfalls. Nordau und Herzl teilten seit ­diesem Zeitpunkt die Auffassung, dass sich die Probleme der Juden nur dann würden lösen lassen, wenn sie einen eigenen Staat beanspruchten und sich aus ihrem Leben in der Diaspora lösen könnten. Für Nordau ist charakteristisch, dass seine Wendung zum Zionismus durch das krisenhafte Erleben der Dreyfus-­Affäre ausgelöst wurde, und nicht durch eine Lektüre-­Erfahrung. Seine Schriften richten sich an die ihm am besten vertraute Lebenswelt, sind in buchstäb­licher Weise weltanschau­lich. Damit unterscheidet er sich von anderen jüdischen Autoren, die sich in kritischer Absicht mit der Assimila­tion auseinandersetzten. Robertson hat als einen der Haupteinflüsse der Autoren (v. a. Martin Buber), die sich für eine Erneuerung des Judentums einsetzten, ausgerechnet Nietzsche genannt, dessen Zarathustra die messianischen Vorstellungen formatierte, die zum Ende des E ­ rsten Weltkrieges weit verbreitet waren.206 Die Anpassung der Juden in der Diaspora schien Nordau ihre einzige Überle­ bensmög­lichkeit zu sein, sie wurde jedoch gleichzeitig von Antisemiten als Argument für die „Falschheit“ der Juden gewertet. Dabei ist die Einmütigkeit von Richard Wagner und Nietzsche hervorzuheben. In seiner Schrift Das Judentum in der Musik (1850) kondensiert Wagner tradi­tionelle Topoi des Nachäffens und wendet sie auf die Juden an, die seiner Meinung nach über keine eigene Sprache verfügen und sich somit der deutschen Musik bemächtigen müssen, in der sie ihr Unvermögen camouflieren können:

202 Zudrell 2003, 187 f. 203 Schulte 1997b, 165. 204 Schulte 1997a, 267. 205 Im Dienste ­dieses Einsatzes schlug sich Nordau sogar auf die Seite von Émile Zola, den er in Entartung als Vertreter des Realismus und Gegenstand der Nachäffung durch deutsche Autoren noch bitter bekämpft hatte (vgl. Söder 1995, 39). 206 Vgl. Robertson 1998, 173.

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War ­dieses einmal ausgesprochen [dass sich insbesondere die Musik als Medium des Nachäffens eignet, H. E.], so konnte in ihr nur noch nachgeplappert werden, und zwar ganz pein­lich genau und täuschend ähn­lich, wie Papageien menschliche Wörter und Reden nachpapeln, aber ebenso ohne Ausdruck und wirk­liche Empfindung, wie diese närrischen Vögel es tun. Nur ist bei dieser nachäffenden Sprache unsrer jüdischen Musikmacher eine besondere Eigentüm­ lichkeit bemerkbar, und zwar die der jüdischen Sprechweise überhaupt, w ­ elche wir oben näher charakterisierten.207

Der völkische Rundumschlag, der sich bei Wagner findet, wird von seinem besten Feind Nietzsche aufgegriffen und speziell auf die Künste angewandt. In Abschnitt 361 im fünften Buch der Fröh­lichen Wissenschaft schreibt Nietzsche „Vom Probleme des Schauspielers“. Wie das vorangegangene Kapitel zeigte, firmieren Schauspieler (allerdings auch Komponisten wie Wagner) bei Nietzsche als „ideale“ oder „geborene Affen“, ihr Metier ist das Nachäffen, das hier als „mimicry“ aufgerufen wird, die besonders die Juden beherrschten: Was aber die Juden betrifft, jenes Volk der Anpassungskunst par excellence, so möchte man in ihnen, ­diesem Gedankengange nach, von vornherein gleichsam eine welthistorische Veranstaltung zur Züchtung von Schauspielern sehn, eine eigent­liche Schauspiel-­Brutstätte; und in der That ist die Frage reich­lich an der Zeit: welcher gute Schauspieler ist heute nicht – Jude?208

Die Verschärfung in Richtung Menschenzucht, die Nietzsche in dieser platonisch gefärbten Auffasssung des Schauspielens als Anthropotechnik vornimmt, war unter den Juden selbst bekannt. Dementsprechend hat Kyung-­Ho Cha darauf verwiesen, dass die Assimila­tion in der Diaspora seit dem späten 19. Jahrhundert von jüdischen Autoren mit M ­ imikry bezeichnet wird;209 als Beispiel aus dem literarischen Schaffen Nordaus wählt er zur Illustra­tion dieser These Nordaus Stück Dr. Kohn aus,210 das die Geschichte des jüdischen Mathematikers Leo Kohn erzählt, der sich in die Tochter eines assimilierten Juden verliebt. Aufgrund verschiedener Verwicklungen um den Helden erkennt deren Familie schließ­lich ihre Assimila­tion als Fehler an. In ­diesem Stück, das Söder als eine direkte Reak­tion auf den Dreyfus-­Prozess wertet,211 wird die Assimila­tion auf die persön­lichen Verhältnisse der Juden derart abgebildet, dass 207 Wagner, Richard (1869): Das Judentum in der Musik. Leipzig: J. J. Weber. Hier: S. 11. Der Aufsatz war bereits 1850 entstanden. 208 Nietzsche KSA 3 (FW), 608 f. Nietzsche wiederholt hier im Wesent­lichen Vorwürfe, die ­Wagner in Das Judentum in der Musik aufgebracht hatte: Wagner 1869, 6. 209 Cha 2010, 182. 210 Dieses Stück steht auch im Zentrum von Hans-­Peter Söders Überlegungen zur Frage der Assimila­tion in Nordaus Zionismus (Söder 1995). 211 Ebd., 39.

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ein Dilemma entsteht: Der Assimilierte stürzt ins persön­liche Unglück, während der Assimila­tions-­Gegner sein Leben verliert. Das Leben in der Diaspora wird so als verzweifelte Situa­tion für die Juden gezeigt. Nordau veräußer­licht damit den Existenzkampf, den auch Theodor Lessing beobachtete: Dieser zählt die Mimikry „nach der Verachtung und dem Selbsthass zu den drei denkbaren Arten des inneren Todes“ der Juden. 212 Das Übererfüllen bestimmter gesellschaft­licher Standards in Glaubensbekenntnis und Na­tionalbewusstsein, das Lessing damit ansprach, lehnte auch Nordau ab, für den eine derartige Assimila­tion genau die Auflösung in der „ungezieferhaft wimmelnden Menge“ (s. o.) bedeutete, die es unmög­lich zu machen schien, als Jude zu leben. Auch die Flucht in die Konfessionslosigkeit, die für Nordau eine bloße Maskerade war, stellte keinen Ausweg dar, da sie eben kein Bekenntnis mög­lich machte.213 Die Mög­ lichkeit, sich offen zu einem Glauben oder auch nur zu einer bestimmten religiös geprägten Gruppe zu bekennen, wird dabei für Nordau, der selbst lange als Atheist gelebt hatte, wichtiger gewesen sein als die tatsäch­liche Ausübung bestimmter Rituale und religiöser Praktiken. Dementsprechend deut­lich fällt sein Programm für die Zionisten aus: Sie [die Zionisten, H. E.] sind zur Erkenntnis gekommen, daß dies [ein Leben in Sicherheit und mit Recht zur Religionsausübung, H. E.] in der Zerstreuung nicht mög­lich ist, da unter diesen Verhältnissen Vorurteil, Haß, Verachtung sie immer verfolgen und bedrücken und entweder ihre Entwicklung inhibieren oder sie zu einer ethnischen Mimicry nötigen werde, die aus ihnen statt daseinsberechtigter Originale mittelmäßige oder schlechte Kopien fremder Modelle machen wird.214

Herzl fasst den Begriff Mimikry in seinem Zionistischen Tagebuch weniger metaphorisch auf als Nordau, sondern hält sich stärker an seine Herkunft aus dem Umfeld der Evolu­tionsbiologie. Er formuliert drastisch, dass er glaube, dass der Antisemitismus eine „dem Judencharakter nütz­liche Bewegung“ sei, da er die Juden abhärten würde: „Es wird die Darwinsche Mimicry eintreten. Die Juden werden sich anpassen.“215 In der Formulierung „Darwinische Mimicry“ fließen viele Missverständnisse zusammen,216 212 Cha 2010, 183. 213 In Die conven­tionellen Lügen der Kulturmenschheit beschreibt er, wie in Österreich die Wahl der Konfessionslosigkeit ein schlechtes Versteck gerade für gebildeten Juden war, die an der Universität gerade durch d­ ieses so häufig vorkommende Bekenntnis identifiziert wurden (vgl. Geller 1995, 135). 214 Nordau, Max (1913): Der Zionismus. Vom Verfasser vollständig umgearbeitet und bis zur Gegenwart fortgeführt. Herausgegeben von der Wiener Zionsitischen Vereinigung. Wien: Helios. 215 Zitiert nach Cha 2010, 192. 216 Ebd.

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von denen das kleinste zu sein scheint, dass Darwin keinen eigenen Mimikry-­Begriff entwickelte, sondern diesen von Bates übernahm. Deut­lich wird jedoch, dass die Mimikry von Nordau wie Herzl als existenzielle Frage gesehen wird: als Abwendung des inneren Todes und als Mög­lichkeit des phy­sischen Überlebens in einem potenziell töd­lichen Setting. Schon in einer sehr frühen zionistischen Schrift Nordaus wird dieser Punkt deut­ lich. Nordau wendet sich gegen eine Broschüre mit dem Titel Na­tionaljudentum, die der Oberrabbiner Wiens, Dr. Moritz Güdemann, herausgegeben hatte und in der er sich gegen den Zionismus und für die Assimila­tion ausgesprochen hatte. Nordau schreibt hier: „Ein gedrücktes, verfolgtes, verachtetes Judentum inmitten antisemitischer Völker ist ohne Wert für die Menschheit; ein freies, starkes, lebensfreudiges Judentum wird zu einem nütz­lichen Mitarbeiter an dem Werke des Fortschritts der Gesamtmenschheit.“217 Die Assimila­tion wird wie das Nachäffen als Hemmnis in der Verbesserung der Menschheit betrachtet, als Verhaltensweise, mit der sich die Juden selbst abzuschaffen drohen. Fehlende Originalität wird direkt mit Unterordnung und antiemanzipatorischem Verhalten assoziiert, wodurch der Imperativ, nicht nachzuäffen, zu einer normativen Frage umgebaut wird. Fatal an dieser Strategie wie in der Wahl des Begriffs „Entartung“ ist allerdings, dass er ein Stereotyp aufgriff, das in der antisemitischen Propaganda seinen festen Platz hatte. Eine Karikatur des Komponisten Jacques Offenbach zeigt ihn als „semitisch-­musika­ lisch[]-akrobatische[n] Gorilla“218: Auch Offenbach war ein assimilierter Jude, der wie Nordau in jungen Jahren seinen Namen von Jakob Eberst in Jacques Offenbach geändert hatte. Eine weitere Karikatur nimmt ganz deut­lich Bezug auf den Zusammenhang von Assimila­tion, Nachäffen und Degenera­tionstheorien. In einer Reihe werden ein Affe (allerdings kein Hominide), ein schwarzer Afrikaner und ein als Jude gekennzeichneter Mann gezeigt. Der Afrikaner ist geradezu als K­lischee einer beleidigen Karikatur abgebildet: muskulös, mit aufgeworfenen Lippen und großen goldenen Ohrringen. Auch die Züge seines jüdischen Nachbarn, elegant bekleidet mit Brille, Spazierstock und glänzendem Zylinder, sind zur Übertreibung verzerrt. Affe und Jude sind in physio­gnomischer Tradi­tion im Profil abgebildet. Darunter steht der Reim: „Affe, Neger, dann erst Weisser/ Nach Darwin unsere Herkunft war;/ Bei Dir ist umgekehrt die Folge,/ Das siehst Du hier doch offenbar.“ Die Assimila­tion des Juden wird hier als Regression, wenn nicht „Entartung“ dargestellt, mittels derer er sich in einen Affen zurückverwandelt, nachdem er es gewagt hat, die Lebensart seines Umfelds nachzuäffen. An der Dreyfus-­Affäre wurde Nordau deut­lich, dass die Einengungen des jüdischen Lebens nicht durch Assimila­tion gelöst werden könnten,219 da sie von Antisemiten 217 Nordau Max (1909): Ein Tempelstreit. In: Zionistisches Ak­tionskomitee (Hg.): Max Nordaus zionistische Schriften. Köln; Leipzig: Jüdischer Verlag, S. 1 – 17. Hier: S. 11 f. 218 Fuchs, Eduard (1921): Die Juden in der Karikatur. München: Langen. Hier: S. 167 219 Vgl. auch Geller 1995, 149.

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als Nachäffen interpretiert wurde. Durch eine affirmative Haltung zur Assimila­tion sollten sich nun die Juden so stark abgestoßen fühlen, dass sie sich dem Zionismus zuwenden würden. Der assimilierte Jude tritt bei Nordau bestenfalls als ausgedienter Spaßmacher ohne eigene Ideen auf, schlimmstenfalls versteht er ihn als patholo­gisches Subjekt, das Sozialität nur als Exklusion erleben soll. Den Zionismus, der von Nordau zur Abschaffung des Nachäffens (Assimila­tion) empfohlen wird, vertrat er genau so vehement wie seine Empfehlungen zur Bekämpfung der „Entartung“. Er kritisierte die „Assimila­tionsjuden“, die „mit dem Judentum gebrochen“ haben und „es als schwere Störung [empfinden], daß andere Juden neben ihnen ihr besonderes Volkstum laut verkünden.“220 Nordau erkannte die Schwierigkeiten an, die es bedeuten würde, „übermenschliche Hindernisse der Sprachverschiedenheit, der ungleichen Kultur“ ­zwischen den Juden unterschied­licher Herkunft zu überwinden.221 Diese Vereinigung des Judentums als Volk ist für ihn jedoch nicht nur ein Anliegen, um einen „uralten Stamm“ im Bewussstein seiner „Rassetüchtigkeit“222 zu vereinen, sondern auch ein humanistisches Werk zur Befreiung der Juden aus der „Not des Lebens“.223 Die Formulierung des zionistischen Auftrags als Werk des Mitleids greift seine Auseinandersetzung mit Nietzsche in Entartung auf, wo er vehement dessen Mitleidskritik kritisiert hatte: Gerade das Mitleid, das Nietzsche als „jüdische Sklavenmoral“ brandmarke, sei auch Bestandteil buddhistischer Lehren (die Nietzsche schätzte), und nicht etwa nur christ­lich-­jüdischer. Weiterhin übersehe Nietzsche, dass das Mitleid nicht nur eine anthropolo­gische Konstante darstelle, sondern darüber auch die Verwandtschaft mit den Tieren zu zeigen sei. Als Gewährsindividuum zieht Nordau dazu an verschiedenen Stellen die Affen als nächste Verwandte des Menschen heran und fragt: „War der heldenmüthige Affe, von dem Darwin nach Brehm erzählt, ein jüdischer Sklave, der sich gegen das Herrenvolk blonder Bestien auflehnte?“224 In einer Fußnote präzisiert Nordau seine Angabe und zitiert eine Stelle aus Die Abstammung des Menschen in der Übersetzung von Carus, in der sich die Geschichte eines Pavians findet, der sein Junges vor einem Angriff von Hunden rettet. Der natür­liche Instinkt, als den Nordau das Mitleid hier auffasst und damit die nietzscheanische Auffassung vom Mitleid als Dressur- und Zivilisa­tionswerkzeug ausräumen will, fehlt den antizionistischen oder wenigsten assimla­tionswilligen Juden, die damit jedoch ihr wohlverstandenes Eigeninteresse vernachlässigen. Wer als Jude anderen Juden nicht hilft, bedroht das Überleben eines ganzen Volkes:

2 20 Nordau 1913, 15. 221 Ebd., 16. 222 Ebd., 4. 223 Ebd., 5. 224 Nordau 1893, 290.

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Wenn also nicht aus Brüder­lichkeit, aus Menschlichkeit, müssen wir schon aus wohlverstandenen eigenen Interessen das mög­liche thun, um den verkommenden oder bereits verkommenen Juden des Ostens auf eine höhere wirthschaft­liche, sitt­liche und geistige Stufe zu heben.225

Erst durch fehlendes Mitleid schädigen sich die Juden also massiv selbst und können nicht einmal das Ansehen eines heldenmütigen Affen genießen. Nordau unterlässt es an dieser Stelle zu diskutieren, ob nicht gerade dieser mutige Pavian eventuell nur nachäfft, was er andernorts gesehen hat – und damit prototypischer Vertreter der von Nietzsche kritisierten Mitleidsethik ist. Der Affe dient hier ledig­lich dazu, das Mitleid zu naturalisieren und mit einer Genealogie zu versehen, die vom Pavian zum Menschen aufwärts führt (und dabei eine Umkehr der Max’schen und nietzscheanischen Genealogie darstellt). Die zahlreichen und teils widersprüchlichen Verwendungen der Affenfigur erlauben bei Nordau und auch weiterhin einen divergenten Gebrauch. Bei Nordau fallen in der Kritik am Nachäffen emanzipatorische Geste (Assimila­tion als Nachäffen) und ästhetischer Konservatismus (Nachäffen als künstlerisches Mittel „Entarteter“) zusammen. Diese Konstellation wird wiederum von Klimt aufgegriffen, um das von Nordau verfemte Fin de Siècle und die Wiener Kunst der Jahrhundertwende gegen ästhetischen Konservatismus zu verteidigen.

3. Wer ist Klimts Gorilla? Eine auf den 20. April 1902 datierte Notiz eines gewissen Dr. Hirschfeld handelt von Gustav Klimts (1862 – 1918) Beethovenfries, der kurze Zeit zuvor der Öffent­lichkeit im Rahmen der 14. Ausstellung der Wiener Secession zugäng­lich gemacht worden war: Klimt produzierte diesmal wieder eine Kunst, der nur drei Leute, ein Arzt und zwei Wärter, gerecht werden könnten. Klimt’s Fresken paßten für einen Krafft-­Ebing-­Tempel. Er schildert uns „Die Sehnsucht nach dem Glück“, zunächst „Die Leiden der schwachen Menschheit“, die sich flehent­lich an den „wohlgerüsteten Starken“ einen Helden in goldener Rüstung, mit Bitten wenden; dann starren uns „Die feind­lichen Gewalten“ entgegen, der Gigant Typhoeus als Orang-­Utan, seine Töchter, die Gorgonen, Krankheit, Wahnsinn, Tod (zugleich Toroop’s Töchter), Wollust, Unkeuschheit, Unmäßigkeit. […] Die Darstellungen der Unkeuschheit an der Stirnwand des Saales gehören zu dem äußersten, was je auf dem Gebiete obscöner Kunst geleistet wurde.226 225 Nordau, Max (1905): Der Zionismus und seine Gegner. Ein Vortrag, gehalten in Berlin. Heraus­ gegeben von der Berliner Zionistischen Vereinigung. 3. Aufl. Berlin: Lenz. Hier: S. 14. 226 Zitiert nach Bahr, Hermann (1903): Gegen Klimt: Historisches, Philosophie, Medizin, ­Goldfische, Fries. Hier: S. 68 f. Vermut­lich handelt es sich bei dem Autor um Robert ­Hirschfeld, einen Wiener Musikkritiker, der nicht nur eine Feindschaft gegen Klimt, sondern auch gegen

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In bester Nordau’scher Manier kommen hier (Sexual-)Pathologie („Krafft-­Ebing-­ Tempel“) und sitt­liche Empörung (das Äußerste „obscöner Kunst“) in einer Form zusammen, die als Kunstkritik gehandelt wird, in der sich der Kritiker jedoch eher als Scharfrichter gegenüber einer Arbeit verhält, deren Vergehen zunächst einmal ist, seinen Geschmack nicht zu treffen. Die von Hirschfeld angedachten Sank­tionen gegenüber dem Künstler, der diese Arbeit verbrochen hat, sehen dementsprechend seine Festsetzung in der Psychiatrie vor, einem Ort, der auch für Nordau schon Inspira­ tionen für seine Kulturkritik lieferte. Die 14. Ausstellung der Wiener Secession war als Gesamtkunstwerk angelegt, in deren Zentrum die Beethovenstatue Max Klingers stand. Alle Arbeiten, die in den Räumen der Secession gezeigt wurden, stellten den Rahmen für die Skulptur aus Marmor dar, die auf einem reich verzierten Bronzethron platziert war. Während die Skluptur keinerlei Anstoß erregte, arbeitete sich die Kritik an dem Werk Gustav Klimts ab, das mit einer Länge von 34 Metern und einer Höhe von 2,17 Metern den Eindruck eines der Räume bestimmte, die man vor dem Betrachten der Beethovenskulptur in der Haupthalle durchqueren musste. Von der ­kurzen Seite (6,39 m) des Frieses blickt die Betrachtenden ein Gorilla aus Perlmutt-­ Augen an, sein Mund ist weit geöffnet und lässt ein lückenhaftes Gebiss erkennen. Die Kreatur dominiert den Eindruck des Raumes, auch wenn ihre Darstellung nur einen Teil des Werks einnimmt, dessen Teile sich wie folgt gliedern: Sehnsucht nach Glück / Leiden der schwachen Menschheit / Bitten an den Wohlgerüsteten Starken (Ritter) / Die feind­lichen Gewalten / Krankheit, Wahnsinn, Tod / Wollust und Unkeuschheit / Nagender Kummer/Sehnsüchte und Wünsche der Menschen.227 In ­diesem Abschnitt geht es um den Teil „Die feind­lichen Gewalten“ (Taf. 9): In der zentralen Figur des überdimensionierten, dental verwahrlosten Affen verschränken sich anthropolo­gischer und evolu­tionsbiolo­gischer Diskurs mit einer ästhetischen Debatte. Mit dem grauenerregenden Stellvertreter setzte sich Klimt gegen die massive Kritik zur Wehr, der er in den Jahren vor dem Entstehen des Frieses ausgesetzt war. Der Affe wird im Fries zum Medium eines als krisenhaft empfundenen Verhältnisses von Original und Kopie, das auch Gegenstand der virulenten Trope des ,Nachäffens‘ ist. Der Kraft dieser Figur war sich offenbar auch Klimt bewusst. Er modellierte und antizipierte dabei nicht nur die Rezep­tion und Kritik seines Werks, sondern überformte diese gleichzeitig auch mit seiner eigenen Rezep­tion zeitgenös­sischer Gustav Mahler pflegte. Insbesondere dessen Arrangements von Beethovens Werken brachten Hirschfeld auf (vgl. auch Comini, Alessandra (1987): The Changing Image of Beethoven. A Study in Mythmaking. New York: Rizzoli. Hier: S. 394). Mit „Toorop“ ist der Maler Jan T ­ oorop gemeint, der zu Klimts Vorbildern zählte. 2 27 Die Nennung dieser Aufteilung ist dem Katalog zur Ausstellung entnommen: Vereinigung bildender Künstler österreichische Secession (1902): XIV. Ausstellung der Vereinigung bildender Künstler österreichische Secession Wien. Klinger – Beethoven. Wien: Adolf Holzhausen. In: Ver Sacrum. S. 25 f. Der bibliophile Katalog ist als Teil der Ausstellung zu verstehen.

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Kunstkritik und Philosophie. Klimts Gorilla hilft als Orientierungspunkt dabei, sich im Netz dieser Filia­tionen zurechtzufinden. Er fungiert als exemplarische Gestaltung all dessen, was seinerzeit unter ‚Affe‘ subsummiert und von Klimt in einer komplexe Syntheseleistung ganz neu in Bewegung gesetzt wurde. Die Modi der Selbstklassifika­ tion des Menschen in Anthropologie und Kunst, die ich damit in d­ iesem Abschnitt anspreche, weisen auf die Tradi­tion der Figur zurück, deren nähere Zukunft sowohl in Auftritten als freund­liches Kuscheltier (Curious George) als auch als brüllende Bestie (King Kong) lag. Diese Konstella­tion zu verstehen, gelingt hier erstens anhand eines Exkurses zu der mythischen Figur Typhon, mit der Klimts Gorilla identifiziert wird, und die wichtige ikonografische Hinweise zum Gestaltungsprinzip des Frieses liefert. Die formalen Entscheidungen, die Klimt dabei traf, verweisen zweitens darauf, dass auf dem Beethovenfries die Menschheit in der Natur ledig­lich wie ein veränder­liches, entwicklungsfähiges Ornament vorkommt, dessen Genealogie sich kontinuier­lich bis zu tierischen, genauer: äffischen Vorfahren verfolgen lässt.

Was hatten Dr. Hirschfeld et al. gesehen? Die drastische Wirkung des Gorillas auf dem Beethovenfries wird durch einen Blick auf die Anlage der gesamten Räum­lichkeiten deut­lich. Auf den einleitenden Seiten des Katalogs zur Ausstellung der Wiener Secession im Jahr 1902 verdeut­licht Ernst Stöhr, der als Autor zeichnet, dass die Schau, deren Planung sich bereits seit 1901 hinzog,228 in erster Linie einen Beitrag zur Monumentalkunst leisten wolle. Die Beethoven­skulptur Max Klingers, die der Bildhauer mit einiger Verzögerung im März 1902 fertigstellte, wurde erst s­ päter zum zentralen Objekt der Schau erhoben, am Anfang stand demgegenüber der Gedanke, ein Gesamtkunstwerk zu schaffen. Zur Raumplanung notiert Stöhr dementsprechend: Ein einheit­licher Raum sollte vorerst geschaffen werden und Malerei und Bildhauerei diesen im Dienste der Raumidee dann schmücken. Hier gilt es, in gegebenen Verhältnissen, in eng­ gezogenen Grenzen die Teile der Wirkung des Ganzen unterzuordnen. Die unerbitt­liche Logik zwingt zur Vertiefung in den Raumcharakter und zum Festhalten an einer leitenden Idee. Alle diese Forderungen werden bei Aufgaben der Monumentalkunst gestellt und das Höchste und Beste, was die Menschen zu allen Zeiten bieten konnten, entwickelte sich daran: die Tempelkunst.229 228 Vgl. Bisanz-­Prakken, Marian (1980): Gustav Klimt. Der Beethovenfries: Geschichte, Funk­ tion, Bedeutung. München: dtv, S. 13. 229 Vereinigung bildender Künstler österreichische Secession: XIV, S. 9 – 10. Über diesen Punkt waren sich offenbar nicht alle einig. Hermann Bahr schrieb anläss­lich der zweiten Ausstellung der Secession davon, dass gerade der Ausstellungsraum keine Ähn­lichkeit mit einem Tempel

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Der sakrale Charakter der Ausstellung, den Stöhr damit festschreibt, wurde auch durch die äußere Architektur des noch heute zu besichtigenden Gebäudes der Wiener Secession unterstützt, das mit einer auf dem Dach installierten Kugel aus vergoldeten Lorbeerblättern an einen Kuppelbau oder an eine antike Tempelanlage erinnert. Der Grundriss der Ausstellungsräume, der dem Katalog als Lageplan für die verschiedenen ausgestellten Werke beigegeben war, ruft ebenfalls Assozia­tionen zur Anlage einer ­Kirche mit Seitenschiffen und Altarraum hervor, dieser Eindruck wurde durch die Situierung und Inszenierung der Beethovenskulptur verstärkt. Sie war nur durch die Seitenflügel erreichbar und befand sich einige Stufen unterhalb deren Niveau, damit „der Besucher so nicht unvorbereitet vor das Werk geführt“ würde.230 Die Vorbereitung bestand darin, dass die Besucherinnen und Besucher einem vorgeschriebenen Rundgang durch die Ausstellung folgten, der sie zuerst nach links in den Raum führte, in dem sich der Beethovenfries befand. Unterhalb des Frieses, der über der Augenhöhe aufgetragen ist,231 waren weitere Arbeiten in die Wand des Raumes eingelassen. Der Laufrichtung folgend, steuerte der Besucher direkt auf „Die feind­lichen Gewalten“ zu. Die rechte Seitenwand des Raumes war zum Hauptsaal durchbrochen, sodass die Mög­lichkeit bestand, schon hier einen Blick auf Klingers Beethovenskulptur zu erhaschen, die ihrerseits wie die Statue einer antiken Gottheit inszeniert war. 60.000 Besucherinnen und Besucher kamen in die Sezession, um sich die Ausstellung anzuschauen.232 Die Inszenierung des Beethovenfrieses begünstigte, dass formal-­ästhetische Gesichtspunkte der Gestaltung des Kunstwerks bei den zeitgenös­sischen Kritikern, die sich über das Werk in ihren Kritiken regelrecht erbrachen, unterbe­lichtet blieben. Sie beschäftigten sich mit ihrem verletzten Sitt­lichkeitsempfinden, das sie vielfach mit Misogynie kompensierten:

habe und es den ausgestellten Werken erlaube, für sich selbst zu sprechen (vgl. Wehr, Beate Susanne (2010): Die Secession Wien. In: Steffen, Barbara (Hg.): Wien 1900. Klimt, Schiele und ihre Zeit. Ein Gesamtkunstwerk. Ostfildern: Hatje Cantz. S. 25 – 33. Hier: S. 27). 230 Vereinigung bildender Künstler österreichische Secession: XIV, S. 24. 231 Der Fries wurde nach der Schau von den Wänden abgenommen und ist erst seit 1986 wieder in den Räumen der Secession zu besichtigen. Basale Informa­tionen zur Geschichte des Frieses finden sich unter http://www.secession.at/beethovenfries/geschichte_d.html (letzter Aufruf am 16. Mai 2015). Zuletzt war der Fries Gegenstand eines Restitu­tionsverfahrens der Nachkommen der jüdischen Industriellenfamilie Lederer, die den Fries erworben hatte und während des Zweiten Weltkrieges enteignet wurde. Der Fries wurde der Familie nicht wieder zugesprochen und bleibt in Besitz des österreichischen Staates: http://derstandard. at/2000012574090/Kunstrueckgabebeirat-empfiehlt-keine-­Rueckgabe-von-Beethovenfries, letzter Aufruf am 16. Mai 2014. 232 Wehr 2010, 30.

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Der Gigant Typhoeus ist zu sehen, gegen den – offenbar ist er ein Bruder der Dummheit – „selbst die Götter vergebens kämpften“. Uebrigens haben die Götter nicht vergeb­lich gekämpft und ihm eine Garnitur von Töchtern geschenkt, die seine gigantische Herkunft arg in Zweifel stellen. Es sind so ziem­lich die übelsten Frauenzimmer, die ich je gesehen […].233

Die Differenz ­zwischen dem Gegenstand der Kritik und dem Thema, das Klimt zu gestalten wünschte, ist sehr groß. Welche Szenerie konnte die Gemüter so in Aufruhr versetzen? Zur Linken des Gorillas, der im Katalog zur Ausstellung als das mytholo­gische Ungeheuer Typhon identifiziert wird,234 sind drei Frauengestalten zu sehen: Wollust, Unkeuschheit und Unmäßigkeit. Eine rothaarige und eine blonde junge Frau, beide unbekleidet, sind im Sitzen mit angezogenen Beinen dargestellt. Während die Rothaarige mit ihren Armen das rechte, aufgestellte Bein umfasst und ihre mit Blumen geschmückten Haare über ihren Körper fließen, sodass Geschlecht und Brust verdeckt sind, dreht sie ihr Gesicht ins Halbprofil und schaut von unten aus dem Bild heraus. Ihre blonde Nachbarin hat die Augen geschlossen, den Kopf hält sie geneigt auf die rechte Hand gestützt und schmiegt sich so an ihre Nachbarin. Ihr Gesicht scheint einen entrückten Ausdruck anzunehmen, die Lippen sind leicht geöffnet. Weitestgehend ist sie jedoch durch die große, stehende Gestalt einer dritten Frauenfigur verdeckt, eine im Profil dargestellte Person, deren nackter Oberkörper durch einen massiv nach vorn gewölbten, fetten Bauch gekennzeichnet ist, auf dem schwer ihre Brüste aufliegen, während sie leicht gekrümmt mit nach vorn gerecktem Kopf dasteht. Ihre locker hängenden Arme sind mit vielen Armreifen geschmückt, die Perlen verschiedener Farben zieren, auch der Kopf ist mit einem Schmuckstück fast ganz bedeckt, das sowohl aus einer großen Goldplatte besteht, als auch mit zahlreichen Bändern bestückt ist, die durch Perlmutt und Edelsteine ergänzt werden. Ähn­liche Verzierungen finden sich auf dem breiten Gürtel, der den Rock zusammenhält, mit dem ihr ganzer Unterkörper bedeckt ist und über den der Bauch hängt. Die Augen dieser Figur scheinen weit aufgerissen, der Unterkiefer bestimmt nach vorn gereckt – so starrt sie in Richtung der Gorgonen, von denen Typhon auf der anderen Seite eingerahmt ist. Durch die Profilstellung dieser Figur wird der zweidimensionale Charakter der Darstellung stark betont, was ein Anliegen Klimts war,235 wie auch die vielen zeichnerischen Vorstudien zum Beethovenfries belegen. Die Bedeutsamkeit und Eigenständigkeit der Linie zeigt 233 Ein Rezensent mit Namen Reichswehr zit. n. Bahr 1903, 68. 234 Vgl. Vereinigung bildender Künstler österreichische Secession 1902, 26. 235 Vgl. Koja, Stephan (2006): „… so ziem­lich die übelsten Frauenzimmer, die ich je gesehen“. Gustav Klimts Beethoven-­Fries. Entstehung und Programm. In: Ders. (Hg.): Gustav Klimt – der Beethoven-­Fries und die Kontroverse um die Freiheit der Kunst. Erschien anläss­lich der Ausstellung La Destrucción Creadora. Gustav Klimt, el Friso de Beethoven y la Lucha par la Libertad del Arte, siehe hierzu den gleichnamigen Katalog zur Ausstellung in der Fundación Juan March, Madrid, vom 6. Oktober 2006 bis 14. Januar 2007. München: Prestel, S. 82 – 107. Hier: S. 96.

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sich am Fell der zentralen Figur, das ganz aus einzelnen Pinselstrichen zusammengesetzt ist, so lose allerdings, dass bisweilen der Untergrund hindurchschimmert. Die drei Gorgonen sind im Profil, frontal und im Halbprofil dargestellt. In ihren Haaren ringeln sich Schlangen, die sie wie in einer Liebkosung nah an ihre Gesichter ziehen. Um den Fußknöchel der Figur, die Typhon am nächsten steht, ringelt sich ebenfalls eine Schlange. Über ihren Köpfen türmen sich geisterhafte, an Totenköpfe erinnernde Gesichter, eine eingefallene und ausgezehrte vierte Gorgone stützt sich auf unsichtbare Balustraden auf, ihre Brüste hängen über den Köpfen ihrer Schwestern, während ihre verdrehten Augen mit beinahe farblosen Pupillen über sie hinweg blicken. Hinter der Gruppe der drei Gorgonen sind verschiedene Ornamente zu erkennen, von denen eines aus ockerfarbenen und schwarzen Tropfen zusammengesetzt ist, die auf die Spitze gestellt und auf goldenen Grund gesetzt wurden. Dieses Muster scheint die Struktur der Schuppen der Schlangen, aber vor allem des riesigen Leibes Typhons zu wiederholen, der aus verschiedenen Elementen besteht. Auf den meisten Abbildungen von ­diesem Teil des Frieses ist nicht zu sehen, dass sich Typhon auf seinem Unterarm abstützt, in seiner Hand sieht man ­zwischen den Fingern einige Totenköpfe hervorblitzen. Der haarige Oberkörper des Gorillas geht in einen schuppigen Schlangenleib über, dessen Musterung teils an Totenköpfe erinnert. Die erdfarbene Tönung des sich vielfach windenden und wie in Tentakel auslaufenden Körpers steht im Kontrast zu der bläu­lich-­schwarzen Farbe von Typhons Flügel. Seine Federn gehen in eine Struktur aus kleinen Kreisen und Dreiecken über, an deren oberen Ende sich die Ornamente finden, die den Hintergrund für die Frauengruppe bilden, die Klimt Wollust, Unkeuschheit und Unmäßigkeit genannt hatte. Abseits von dem rest­lichen Personal findet sich vor dem Schlangenkörper Typhons noch die Figur „Nagender Kummer“, wiederum eine stark ausgemergelte Frau, deren nackter Körper nur von einem durchscheinenden Tuch bedeckt ist, unter dem sie sich zusammenkrümmt und den linken Arm schützend über ihren Nacken gebreitet hat.236

Der Affe als Kunstrichter. Zum Kontext des Beethovenfrieses Die vielen Verrisse des Beethovenfrieses hatten eine Vorgeschichte. Carl E. Schorske hat beschrieben, mit w ­ elchen Querelen Klimt konfrontiert war, nachdem er im Auftrag des Ministeriums für Kultus und Unterricht ­zwischen 1898 und 1904 drei Decken­ gemälde angefertigt hatte, die die Fakultäten Philosophie, Medizin und Jurisprudenz darstellen sollten. Die Gemälde, auf denen die zentrale, die Fakultät repräsentierende Gestalt stets eine Frau ist, erregten vor allem wegen deren Nacktheit und der schwülen Erotik, die mit Zeugnissen extremen körper­lichen Verfalls kontrastiert wurde, großes 236 Mit ­diesem „nagenden Kummer“ spielte Klimt offenbar auf die damals noch stark verbreitete Syphilis an, wodurch er das Eskala­tionspotenzial seines Werks steigerte, siehe Koja 2006, 96.

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Ärgernis. Aufgrund der „Beleidigung der öffent­lichen Moral“ wurden nicht nur die Deckengemälde öffent­lich geschmäht und diffamiert, auf öffent­lichen Druck hin ließ die Staatsanwaltschaft die Ausgabe der Zeitschrift Ver Sacrum beschlagnahmen, in der Klimt Skizzen für Medizin veröffent­licht hatte.237 Es sind keine persön­lichen Äußerungen Klimts überliefert, die seine tiefgreifende Kränkung durch die Zensur seiner Fakultätsbilder widerspiegeln. Es gibt jedoch ein Manuskript, in dem er sich zu seiner Person äußert: „Was ich bin und was ich will“. Dort heißt es: Das gesprochene wie das geschriebene Wort ist mir nicht geläufig, schon gar nicht dann, wenn ich über mich oder meine Arbeit äußern soll. Schon wenn ich einen einfachen Brief schreiben soll, wird mir Angst und bang wie vor drohender Seekrankheit. Auf ein artistisches oder literarisches Selbstporträt von mir wird man aus ­diesem Grund verzichten müssen. Was nicht weiter zu bedauern ist. Wer über mich – als Künstler, der allein beachtenswert ist – etwas wissen will, der soll meine Bilder aufmerksam betrachten und daraus zu erkennen suchen, was ich bin und was ich will.238

Dementsprechend hat Klimt seinen Interpreten gleichermaßen das Risiko und die Chance zugemutet, mit werkimmanenten Hinweisen auf seinen Umgang mit den Kritikern zu arbeiten. Schorske spricht davon, dass Klimt zuerst eine „Kunst des Zorns und allegorisierter Aggression“ schuf, die schließ­lich „einer Kunst der Zurückgezogenheit und utopischer Abstrak­tion“ Raum gegeben habe.239 Schließt man sich dieser (etwas pathetischen, dem Künstler aber mög­licherweise gerade entsprechenden) Deutung an, so ist der Beethovenfries sicher­lich der erstgenannten Phase zuzurechnen: Klimt verliert sich nicht im Ornamentalen, sondern greift ganz konkret die ­Themen auf, von denen er sicher sein konnte, dass sie in ihrer plakativen Deut­lichkeit zu dem im voraus berechneten Aufschrei der Kritik führen würden: Offensiv ausgelebte weib­liche Sexualität, siechende Körper und die Verfallenheit an die Natur, die ihre deut­lichste Formulierung in der Feststellung des Tier-­Seins des Menschen findet, garantierten die reflexhafte Abwehr der zeitgenös­sischen Rezep­tion. Nicht übersehen sollte man allerdings, dass Klimt seinen Zorn in Humor umzulenken versuchte: Sein Gemälde Goldfische (1901/1902), das neben einem riesigen Goldfischkopf vor allem sehr prominent Rücken und Hintern einer rothaarigen Frau zeigt, die den Betrachtenden ins Gesicht lacht, trug so lange den Arbeitstitel „Für meine Kritiker“, bis Klimt überzeugt werden konnte, es umzubenennen.240 Auch 237 Vgl. Schorske Carl E. (2006): Die Fakultätsbilder von Gustav Klimt und die Krise des liberalen Ich. In: Koja (Hg.) – Gustav Klimt, S. 12 – 25. Hier S. 21. 238 Zit. n. ebd. 239 Ebd. 240 Ebd., 24.

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die Darstellung eines mehr oder weniger zahnlosen Affen auf dem Beethovenfries scheint nicht ohne satirische Absicht; in Bahrs Broschüre Gegen Klimt findet sich dem Teil zu Philosophie ein Lichtenberg-­Zitat vorgeordnet, das besagt, dass „solche Werke wie Spiegel“ s­ eien: „wenn ein Affe hineinguckt, kann kein Apostel heraussehen“.241 Wenn jedoch ein selbsternannter Apostel hineinguckt, kann offenbar durchaus ein Affe heraussehen.

„Alles, was in diesen Naturerscheinungen masslos und ungeordnet ist“242 – Klimts Typhon Unter den vielen Assoziationsangeboten, die der Beethovenfries macht, ist die Identifika­ tion des Gorillas mit dem Ungeheuer Typhon auffällig. Sie bedient sich nur unter anderem der Geschichte des Monstrums als Mischwesen, das aus dem Körper eines Gorillas, einer Schlange, eines Drachens und der Sphinx zusammengesetzt ist. Entscheidende Hinweise scheinen vielmehr aus Klimts Kenntnissen der ägyptischen und byzantinischen Kunst sowie der griechischen Antike zu erwachsen. Klimt archaisiert durch seine Verwendung der verschiedenen ikonografischen Tradi­tionen die im Beethovenfries verhandelten Th ­ emen; damit lädt er sie mit kulturhistorischer Dignität auf und etabliert sie gleichzeitig als Konstanten der Konflikte um künstlerisches Schaffen. Die Verbindung dieser ästhetischen Debatten mit dem sichtbarsten Emblem der Evolu­ tionstheorie universalisiert schließ­lich die Bedeutung der Figur des Affen für diese beiden Bereiche. Die starke Überhöhung des Künstlers, der die Macht hat, diese Kreatur auf seinem Fries zu entfesseln, kann kaum überschätzt werden. Er ist es schließ­lich auch, der durch die wort- und bildgetreuen Umsetzungen seiner unterschied­lichen Vorlagen den Betrachtenden überhaupt erst ein Medium an die Hand gibt, mit dem sie ­zwischen diesen verschiedenen Diskursen navigieren können. Die Macht, mit der Klimt dadurch sich selbst und die Figur des Affen ausstattet, ist bis dahin unerreicht. Lisa Florman hat in einer Untersuchung der antiken Vorlagen Klimts überzeugend verdeut­licht, dass sich Klimt auf eine bestimmte, seinerzeit populäre Antikenrezep­ tion stützte,243 die durch Gottfried Sempers (1803 – 1879) Thesen zur Farbigkeit der antiken Architektur und Plastik 244 bestimmt war. Die genaue Kenntnis der von ­Semper 241 Bahr 1903, 11. 242 Plutarch (2003): Über Isis und Osiris. In: Ders.: Drei religionsphilosophische Schriften. Über den Aberglauben – Über die späte Strafe der Gottheit – Über Isis und Osiris. Griechisch-­ deutsch, aus d. Griech. übers. u. hrsg. v. Herwig Görgemanns, unter Mitarbeit v. Reinhard Feldmeier / Jan Assmann. Düsseldorf: Artemis & Winkler, S. 136 – 273. Hier: S. 243. 243 Florman, Lisa (1990): Gustav Klimt and the Precedent of Ancient Greece. In: The Art ­Bulletin 72, 2, S. 310 – 326. 244 Semper, Gottfried und Hammerich, Johann Friedrich (1834): Vorläufige Bemerkungen über bemalte Architectur und Plastik bei den Alten. Altona: Hammerich.

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beschriebenen Farbpalette hatte er zuvor bereits in seinen Altären des Apoll bzw. des Dionysos bewiesen, die Teil der von ihm gemeinsam mit seinem Bruder Ernst und Franz Matsch ­zwischen 1886 und 1887 vorgenommenen Deckenausmalung des Wiener Burgtheaters waren.245 Insbesondere das Konzept des Diony­sischen fällt bei Klimt als integraler Bestandteil des Beethovenfrieses auf, dabei scheinen die ersten Seiten der Geburt der Tragödie, die der Widmung an Wagner folgen, für Klimt präskriptiv zu sein. In seiner Einführung des Diony­sischen Prinzips schreibt Nietzsche: Man verwandle das Beethoven’sche Jubellied der „Freude“ in ein Gemälde und bleibe mit ­seiner Einbildungskraft nicht zurück, wenn die Millionen schauervoll in den Staub sinken: so kann man sich dem Diony­sischen nähern. Jetzt ist der Sclave ein freier Mann, jetzt zerbrechen alle starren, feindseligen Abgrenzungen, die Noth, Willkür oder „freche Mode“ ­zwischen den Menschen gesetzt haben.246

Die Abhängigkeit des Apollinischen und Diony­sischen voneinander und die „Nothwendigkeit“ des „Barbarischen“, die Nietzsche formuliert,247 stehen im Zentrum von Klimts Gestaltung des „Jubellieds der Freude“. Das bei Nietzsche positiv gewertete ‚Barbarentum‘ erfährt eine wört­liche Umsetzung: Eine Figur hat es in den Händen – oder eben Klauen –, die „feindseligen Abgrenzungen“ zu zerbrechen, von denen Nietzsche spricht, ist dabei jedoch auch in der Lage, „Noth“ und „Willkür“ auszuüben. Klimts Interpreta­ tion Typhons als diony­sische Figur greift auch andere Aspekte auf, die Nietzsche in Die Geburt der Tragödie beschäftigen, wie etwa das Verhältnis von gegenständ­licher und abstrakter Kunst. Bei Nietzsche wird ­dieses Verhältnis über die Unterscheidung ­zwischen darstellend-­figurativer apollinischer Skulptur und abstrakter diony­sischer Musik verhandelt,248 bei Klimt findet es sich in der Behandlung von Ornament und Bildnarrativ wieder. Klimts Vorlagen verdeut­lichen, dass der Gorilla als diony­sische Figur für eine formal-­ästhetische Erneuerung der Kunst und ihre Freiheit in der Wahl ihrer Gegenstände einsteht. Diese Erneuerung modelliert Klimt als Transforma­tion antiker Vorlagen. Klimts Gorilla oszilliert dementsprechend z­ wischen einer aggressiven Satire auf seine Kritiker und der Überhöhung der diony­sischen Potenziale der Kunst.249

245 Ebd., 315 f. 246 Friedrich Nietzsche (1999): Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV. Kritische Studienausgabe, Bd. 1, hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München u. a.: dtv/de Gruyter. Hier S. 29. 247 „Das ‚Titanische‘ und das ‚Barbarische‘ war zuletzt eine eben ­solche Nothwendigkeit wie das Apollinische!“ (ebd., S. 40). Vgl. auch Florman 1990, 325. 248 Mit der Unterscheidung der „Kunst des Bildners, der apollinischen und der unbild­lichen Kunst der Musik“ des Dionysos beginnt Die Geburt der Tragödie (Nietzsche (GT) 1999, 25). 249 Damit ist ausdrück­lich auch die Musik gemeint – Klimts intensive Auseinandersetzung mit der Musik machte er zum Gegenstand verschiedener Gemälde, auf dem Beethovenfries liefern die

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Klimt ging im Beethovenfries zu einer neuen Malweise über, die zeitgenös­ sischen Forderungen nach einer technischen Orientierung an der ägyptischen und griechischen Kunst folgte.250 Die Verbindung zur ägyptischen Antike 251 wird auch auf der semantischen Ebene eingelöst. Dafür ist einschlägig, dass Klimt sich auf die Figur Typhon beruft, da diese sowohl in der ägyptischen als auch in der griechischen Antike verankert ist. In der griechischen Mythologie tritt Typhon oder Typhoeus in verschiedenen Zusammenhängen auf.252 Hier ist vor allem Plutarchs (ca. 45 – 120 n. u. Z.) Auseinandersetzung mit Typhon in Über Isis und O ­ siris 253 (entstanden um 115 n. u. Z.) interessant. Typhon ist bei Plutarch die griechische Version des ägyptischen Gottes Seth 254 und taucht als feind­licher Bruder des inzestuösen Paars Isis und Osiris und Gott der Gewalt auf. Plutarchs Schrift soll den Mythos von Isis und Osiris für die Leserinnen und Leser im ersten Jahrhundert aufarbeiten und Ressentiments gegenüber dem scheinbar seltsamen Glauben der Ägypter ausräumen, indem auf die Verbindung mit dem Götterglauben und der Philosophie der Griechen hingewiesen wird; ein Schwerpunkt ist hierbei die Tierverehrung. In Ägypten wurde der Affe als Symbol des Gottes Thoth verehrt, der den Menschen nicht nur Kulturtechniken wie die Schrift lehrt, sondern sie genau durch diese Techniken auch gottähn­lich werden lässt – Thot ist selbst eine Präfigura­tion von Hermes bzw. Merkur.255 Die brutale Kraft, die von so einer prometheischen Figur auszugehen vermag, wird bei Klimt durch den Rekurs auf Plutarchs Typhon deut­lich, der mit vielen verschiedenen Tieren assoziiert wird, wie Plutarch in Abschnitt 50 von Über Isis und Osiris berichtet: Er kann sowohl als Esel erscheinen (der wiederum auch zum Dionysos gehört) als auch als Flusspferd, Falke oder Krokodil – „sie [die Ägypter, H. E.] betrachten alle bösen und schäd­lichen Tiere, Teile „Poesie“ und „Chor der Paradiesengel“ Zeugnis davon und verweisen auf seine Umsetzung von Beethovens „Jubellied“. 250 Zu den Hintergründen vgl. Warlick, M. E. (1992): Mystic Rebirth in Gustav Klimt’s Stoclet Frieze: New Considera­tions of its Egyptianizing Form and Content. In: The Art Bulletin 74, 1, S.  115 – 134. 251 Klimt war vermut­lich auf verschiedenen Wege über ägyptische Kunst informiert worden: Die Ausstellung der Porträts Verstorbener auf Mumien, die 1887 von Theodor Graf organisiert wurde, ist hier ebenso zu nennen wie Schriften des fleißigen Chronisten der Wiener Kunst des Fin de Siècle und der Secession, Ludwig Hevesi, der 1894 in einem Aufsatz die neuesten Funde ägyptischer Kunst zur Kenntnis brachte (vgl. Warlick 1992, 123). 252 Als Sohn der Gaia und des Tartaros, der wiederum ­später den Höllenhund Kerberos zeugen wird, schildert ihn unter anderem Hesiod (ca. 700 v. u. Z.). Vgl. die Verse 820 – 822 in der Theogonie (Hesiod: Theogonie. Griechisch und deutsch, aus d. Griech. übers. u. hrsg. v. Albert von Schirnding. Darmstadt: WBG 1991). 253 Plutarch 2003, 243. 254 Merkelbach, Reinhold (2001): Isis regina – Zeus Sarapis: die griechisch-­ägyptische Religion nach den Quellen dargestellt. München: Saur. Hier S. 253. 255 Böhme 2001a.

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Abb. 33: Typhon in einer Abbildung aus Athanasius Kirchers Oedipus Aegyptiacus, 1652-1654

Pflanzen und Gemütsregungen als Werke, Teile und Regungen Typhons.“256 Die Zusammensetzung des Klimt’schen Typhon aus verschiedenen Tieren erscheint auch vor ­diesem Hintergrund einleuchtend; alle ihre bedroh­lichen Eigenschaften werden dadurch im Körper des Gorillas vereinigt. Bei Plutarchs Aufarbeitung der Figur steht der Konflikt von ra­tionalen und irra­tionalen Kräften und deren Natura­ lisierung im Vordergrund: Fassen wir zusammen! Es ist nicht richtig, Osiris und Isis als Wasser, Sonne, Erde oder H ­ immel zu erklären und auf der anderen Seite Typhon als Dürre oder Meer; vielmehr treffen wir wohl das Richtige, wenn wir schlechthin alles, was in diesen Naturerscheinungen maßlos und ungeordnet ist, sei es im Zuviel, sei es im Zuwenig, Typhon zuschreiben, hingegen die Ordnung, das Gute und Nütz­liche als Werk der Isis und als Abbild, Nachahmung und Logos des Osiris verehren und achten.257

256 Plutarch 2003, 223. 257 Ebd., S. 243.

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Abb. 34: Wenceslaus Hollar: Typhon, undatiert, 17. Jahrhundert

Die Version eines grausamen Gottes, der seinen Bruder Osiris tötet und die Leiche ­später zerstückelt, ist in zweifacher Hinsicht instruktiv: Einerseits weist sie auf die verächt­liche Behandlung des „Aufgeblasenen, Hochmütigen, Tyrannischen“258 hin, das Klimt in seinen Kritikern erblickt haben mag, andererseits scheinen sich auch Identifika­tionspotenziale für Klimt selbst anzubieten. Der Typhon-­Gorilla kann als Warnung an seine Kritiker verstanden werden, denen er androht, mit ihnen ebenso gnadenlos zu verfahren wie Typhon mit seinem Bruder; zur gleichen Zeit gilt er als Emblem für eine Kunst, die sich ungezügelt ihr Recht verschafft und eine scheinbar ra­tionale Ordnung jederzeit zu zerstören vermag. Die Karikatur seiner Kritiker und die Selbststilisierung als grausamer Titan fallen in der Darstellung des Typhon auf dem Beethovenfries in eins. Die Tradierung bestimmter Elemente der Bildgeschichte Typhons bezieht sich jedoch nicht allein auf die griechische Antike, sondern auch auf deren Rezep­tion in Kunstwerken anderer Epochen. Insbesondere zwei Darstellungen des Typhon aus dem 17. Jahrhundert sind einschlägig. Auf einem Stich Athanasius K ­ irchers (1602 – 1680) von 1652 (Abb. 33) steht Typhon als gigantisches Ungetüm in einer kargen Landschaft. Wie um die ganze Schreck­lichkeit seiner Physis zu präsentieren, hält er seine Arme weit ausgebreitet, seine Hände sind mit jeweils fünf Schlangen 258 Merkelbach 2001, 259.

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als Finger versehen, weitere Schlangen winden sich in seinem Barthaar und um seine schuppigen Beine. Diese Darstellung korrespondiert mit der von W ­ enceslaus H ­ ollar (1607 – 1677), auf dessen undatierter Darstellung (Abb. 34) Typhon jedoch zwei Harpyrien beigesellt sind. Sein Bart ist im Vergleich zu ­Kirchers Typhon domestiziert und die Schlangenfinger sind zu biegsamen Ästen umgestaltet. Die Beine laufen wie in Schlangenschwänze aus, an die Klimts Darstellung Typhons ebenso erinnert wie an den haarigen Torso, mit dem Hollar sein Ungetüm ausgestattet hat. Auf die Gestaltung des schuppigen Leibes Typhons hat Klimt viel Arbeit verwendet, hier wird seine Verwendung von Ornamenten besonders deut­lich.

Der Mensch als Ornament der Naturgeschichte In ihrem Aufsatz Ornament als Evolu­tion argumentiert Emily Braun dafür, dass Klimt das Ornament als zentrale schöpferische Kraft für die Kunst überhaupt betrachtet habe. Diese Auffassung komme auch in seiner Sicht auf die Evolu­tion zum Ausdruck, in der gerade das Ornamentale entscheidende Funk­tionen übernimmt.259 Damit sind die sekundären Geschlechtsmerkmale angesprochen, deren Form, Farbe und Größe entscheidende Faktoren der sexuellen Selek­tion sind. Die Verbindung der Bedeutung des Ornaments bei Klimt mit seiner Rezep­tion von Evolu­tionstheorien, die von Braun diskutiert wird, stellt allerdings nur eine Voraussetzung für die Deutung des Ornamentalen im Beethovenfries dar, die ich anbieten möchte: Klimt interpretiert den Menschen selbst als beständig in Veränderung begriffenes Ornament der Naturgeschichte; der Mensch ist in keinem Moment von seiner Entwicklungsgeschichte unabhängig, die er bis zu einem gewissen Punkt mit den Affen teilt. Die verdrängten Rudimente seiner alles anderen als gött­lichen Abkunft, seine typhonische Natur, das heißt: seine brachialen Triebe und unbändigen Leidenschaften, beherrschen, bedrohen und befreien ihn zur gleichen Zeit. Typhon, der als Figura­tion der diony­sischen Kraft der abstrakten Kunst die apollinisch-­gegenständ­liche Ordnung zerstört, verhilft dem Ornament zu seinem Recht, das sich seiner applikativen, uneigenständigen Funk­tion verweigert.260 In 259 Braun, Emily (2007): Ornament as Evolu­tion. Gustav Klimt and Berta Zuckerkandl. In: ­Ronald S. Lauder; Renée Price (Hg.): Gustav Klimt. The Ronald S. Lauder and Serge Sabarsky collec­ tions. München: Prestel, S. 145 – 169. Hier: S. 159. 260 Es gibt hier stark divergierende Auffassungen. Während Florman das Ornament gerade als gegenständ­liche Figur deutet und in den Gegensatz zur diony­sischen Musik verschiebt (­Florman 1990, 323), weist Patricia A. Butz, die sich mit der griechischen Schrift als Ornament der griechischen Architektur beschäftigt, darauf hin, dass in der griechischen Antike Ornamente auch losgelöst von ihrer repräsentierenden Form verwendet wurden (Butz, P ­ atricia A. (2009): Inscrip­tion as Ornament in Greek Architecture. In: Peter Schultz; Ralf von den Hoff (Hg.): Structure, Image, Ornament. Architectural Sculpture in the Greek World: Proceedings

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der Figur des Affen archaisiert Klimt diese Idee, indem er sie einerseits als Rekurs auf die griechische Antike formuliert, zur gleichen Zeit aber andererseits auf das potenteste Kollektivsymbol der Abstammungsthese projiziert. Das Affe-­Werden des Menschen, das im Beethovenfries eine ganze Freakshow entfesselt, ist gemeinsam mit der Befreiung des Ornaments als eine Befreiung vom Nachäffen als Selbstzucht zu lesen, die eine ‚echte Kunst‘ behindert. In einer quasi-­dialektischen Geste lässt Klimt den Affen als Parodie auf das Nachäffen auftreten und macht ihn damit zum Vehikel einer wilden Kunst, die einen regelrechten Anschlag auf das Nachäffen verüben will. Das Nachäffen potenziert sich bis zur Selbstaufhebung und gibt eben damit jener ‚echten‘ Kunst Raum, die Klimts höchstes Ideal war, wie in einer der wenigen von Berta Zuckerkandl dokumentierten persön­lichen Äußerungen Klimts deut­lich wird, in der er auf den Skandal um seine Fakultätsbilder reagiert: Es geht bei jeder Gelegenheit gegen die echte Kunst und gegen echte Künstler los. Protegiert wird immer nur das Schwache, das Falsche. […] Wenn, wie dies in der letzten Budgetausschußsitzung geschah, von einem Redner die Secession in der erniedrigendsten, ehrverletzendsten Art angegriffen wurde, und der Minister sich nicht bewogen fühlte, auch nur ein Wort dagegen zu erwidern, so soll wenigstens ein Künstler sich finden, der durch eine Tat beweist, daß die echte Kunst mit solchen Faktoren nichts mehr zu schaffen haben will.261

Debatten um Originalität und Echtheit in der Kunst waren nach den Erfahrungen Klimts in der XIV. Ausstellung der Wiener Secession ein wichtiges Gestaltungsprinzip, das den Distink­tionswillen der Gruppe zum Ausdruck brachte. Die Erläuterungen im Katalog zur Anlage der Ausstellung thematisieren den Selbstanspruch der Künstler: „Die Beschränktheit der verfügbaren Mittel und die selbstverständ­liche Pflicht, durchweg echtes Material zur Anwendung zu bringen, den Schein und die Lüge ener­gisch zu vermeiden, geboten gleicherweise an der größten Einfachheit der in Material und Formensprache festzuhalten.“262 Die Bedrohung, die von den „feind­lichen Gewalten“ ausging, betraf dementsprechend vor allem die Kunst selbst, die sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln vor der Verfälschung durch Schein und Lüge ­schützen muss. Diesen Wahrheitsanspruch teilte die künstlerische Weltanschauung der Sezession mit der biolo­ gischen Weltanschauung, die zeitgleich die Wahrheit der Abstammungsthese propagierte und sich dabei eine eigene Ästhetik aufbaute. Braun weist auf Verbindungen ­zwischen dem zeichnerischen Werk Ernst Haeckels und den evolutionsbiologisch of an Interna­tional Conference Held at the American School of Classical Studies, 27 – 28 November 2004. Oxford, Oakville, CT: Oxbow Books, S. 30 – 40. Hier: S. 30 f.). 261 Klimt zit. n. Nebehay, Christian Michael (1969): Gustav Klimt. Dokumenta­tion. Wien: Verlag der Galerie Nebehay. Hier: S. 325 f. 262 Vereinigung bildender Künstler österreichische Secession 1902, 23.

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informierten Arbeiten Klimts hin:263 Sowohl Klimt als auch Haeckel verstehen Natur als Dekor, das sie über sequenzielle Ornamentik gestalteten. Haeckel hatte seine sequenziellen Darstellungen der Embryonenentwicklung dazu genutzt, eine Genealogik zu entwerfen, deren Ziel stets der Mensch darstellt, in dessen Gesicht die Natur überhaupt ihren morpholo­g isch am höchsten entwickelten Ausdruck findet. Während Haeckel die einzelnen Individuen in seinen Embryonenreihen und die verschiedenen Stadien der „Keimesgeschichte des Antlitz“ als Ornamente eines Prozesses mit dem Mensch als Höhepunkt zeigte, verfolgt Klimts Beethoven­ fries eine weniger lineare Bewegung. Menschenähn­liche Wesen erscheinen als Episoden in einem evolu­tionären Prozess, der sowohl Engel hervorbringt als auch eine ganze Reihe monströser, bedroh­licher, versehrter und devianter Figuren, die von einem gigantischen Affen beherrscht werden. Die Bedroh­lichkeit dieser Figur erschließt sich über ein Kontrastverhältnis. Unversehrt tritt die Menschheit nur in der Figur des „wohlgerüsteten Starken“ auf, der dem Paar in dem Teil des Frieses zur Hilfe eilt, der die Schiller-­Verse „Diesen Kuss der ganzen Welt“ illustriert (Taf. 10). Der Affe vermittelt bei Klimt z­ wischen der Reinheit übermenschlicher Wesen (die der Engel) und dem Triebleben der Menschen, das als Vereinigung von Mann und Frau modelliert wird, die Klimt jedoch nur als Kuss andeutet. Die Kraft der Sexualität wird hingegen vielmehr ausgelagert und findet in der Aggression des Affen ihr Symbol – Berichte über deren ungezügeltes Triebleben waren bereits zu Klimts Zeit Legion.264 Klimt führt im Beethovenfries Naturgeschichte als dramatische Bilderzählung vor, die in verschiedenen Akten abläuft, die in den einzelnen Bildteilen zu beobachten sind und nicht zuletzt eine Reproduk­tionsgeschichte vorführen. Dies legt auch die Beobachtung von Braun nahe, die die Darstellung des Paares als Klimt’sche Verarbeitung der Lebens- bzw. Stammbäume gedeutet hat.265 Die Einheit der Menschheit in der Liebe, die Klimt vorführt, kann jedoch nicht in einen stabilen, dauerhaften Zustand übersetzt werden, da sie in jedem Moment von den feind­lichen Gewalten bedroht ist, während die Rettung durch den wohlgerüsteten Starken ungewiss ist. Das Szenario, das Klimt entwirft, beschrieb bereits Ludwig Hevesi kurz nach der Entstehung des Frieses als narratives Ornament:

263 Vgl. Braun 2007, 150 ff. Braun wendet sich hier den Bildern der Reihe „Hoffnung“ zu, die eine nackte Schwangere zeigen und für die sich Klimt augenschein­lich an den embryolo­gischen Zeichnungen Haeckels orientiert hat. Der Zyklus entstand allerdings erst nach dem Beethovenfries, ab 1903. 264 Vgl. dazu bspw. Schiebinger, Londa (1995): Am Busen der Natur. Erkenntnis und Geschlecht in den Anfängen der Wissenschaft. Stuttgart: Klett-­Cotta. 265 Braun 2007, 157. Das Motiv verwendet Klimt auch im Stoclet Fries von 1911, der an die ­Themen des Beethovenfrieses anschließt, indem auch hier der Mythos von Isis und Osiris verarbeitet ist.

Karriere einer Phobie bei Friedrich Nietzsche, Max Nordau und Gustav Klimt

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Klimt hat sich die Sehnsucht der Menschheit nach dem Glück gedacht.…Und zwar zunächst als eine Art fortlaufendes Ornament, dicht unter der Decke, als eine rhythmische Folge von fließenden Formen, von stilisierten menschlichen Gliedmaßen und Köpfen, in denen sehnsüchtige Bewegungen ins Ferne streben. […] Diese Bildhälfte [„Die feind­lichen Gewalten“, H. E.] ist, rein als ornamentale Eingebung betrachtet, ein Anblick von gespenstischem Zauber.… Diese Prachtszene Klimts ist ohne Frage ein Gipfel der modernen dekorativen Malerei. Das Schlußbild der Reihe ist dann noch eine blühende Jubelszene mit Engelchören: Diesen Kuß der ganzen Welt.266

Mit der Deutung des Beethovenfrieses als fortlaufendes Ornament hatte Hevesi diese Arbeit im Zentrum einer der entscheidenden Debatten der Kunst an der Wende zum 20. Jahrhundert posi­tioniert. Abgesehen von der Frage, ob das Ornament überhaupt eine Berechtigung habe oder gar ein Verbrechen sei (so Adolf Loos), verliefen Frontlinien ­zwischen denjenigen, die sich mit seiner naturalistischen, applikativen und dekorativen Funk­tion zufrieden gaben und denjenigen, die das Ornament aus dem Naturalismus befreien wollten. Henry van de Velde (1863 – 1957) beschrieb den Übergang von einer repräsentativ-­gegenständ­lichen Ornamentik zu einer abstrakten Formensprache als Notwendigkeit, um die „Entartung“ des Ornaments an sich aufzuhalten. Er wandte sich gegen eine sentimentale Ornamentik, die „wie schwäch­ liche Handwerksmäßigkeit wirkte, die ohne Bewußtsein zu Werke gegangen war und keinen Sinn angestrebt hatte.“267 Die Entwicklung des Ornaments selbst formuliert van de Velde in der Rhetorik Nordaus, die alle künstlerischen Prozesse als Ausdruck der momentanen Verfassung der menschlichen Gattung sehen wollte. Die bei van de Velde implizit formulierte Naturgeschichte des Ornaments kommt auch in einer Formulierung zum Ausdruck, die ganz auf die Autonomie der Form setzt und zu ­diesem Zweck das Ornament naturalisiert: Das Ornament wird ein Organ und weigert sich, nur etwas Aufgeklebtes zu sein. Das kommt von den Absichten seines Schöpfers; als er es wählte und jedem anderen vorzog, hat er sich gefragt, ­welchen Platz es einnehmen, ­welche Aufgabe es erfüllen, welches Licht es erhalten werde, er hat den Raum bedacht, der ihm zugeteilt ist und die Einflüsse der Linien, ­welche jeden Raum einschließen und nur das Element erlauben, dessen Erscheinen sie gefordert haben. […] Die Ornamentik ist keinen anderen Gesetzen unterworfen als denen, ­welche ihr Harmonie und Gleichgewicht anstrebendes Ziel ihr auferlegt. Sie strebt nicht danach, irgend etwas darzustellen, und ohne diese Freiheit würde sie nicht bestehen.268 266 Zit. n. Nebehay 1969, 299. 267 van de Velde, Henry (1985): Das neue Ornament (1901). In: Michael Weisser (Hg.): Ornament und Illustra­tion um 1900. Handbuch für Bild- und Textdokumente bekannter und unbekannter Künstler aus der Zeit des Jugendstil. Frankfurt/M., S. 46 – 48. Hier: S. 47. 268 Ebd.

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Kapitel V: Imitieren

Wird Mimesis ausschließ­lich als Nachahmung der Natur aufgefasst, würde van de Veldes Einschätzung als eine Loslösung von der mimetischen Funk­tion des Ornaments gedeutet werden müssen. Folgt man jedoch Nietzsche, der die Mimesis mit Bildung und Kultur identifiziert, während er das Nachäffen als zivilisatorische Dressur auffasst und damit eine Aufwertung der Mimesis erreicht, scheint van de Velde das Ornament als mimetisches Formenspiel ebenfalls nicht abzulehnen. Es ist der Zwang zur naturalistischen Repräsenta­tion, den er überwinden will, nicht jedoch jene „Anbetung der Natur“269, in der ­Nietzsche Nachahmung und Bildung vereint sah. Wird diese Bildung als Bildgebung und Ikonisierung verstanden, so erklärt sich der hohe Stellenwert, den die Nachahmung bei Nietzsche und Klimt gleichermaßen genoss. Die Radikalität der Absage an die Darstellung, die van de Velde fordert, wird von Klimt nicht vollständig umgesetzt, seine Malerei ist nicht abstrakt. Klimt leiht sich aber im Detail den emanzipato­rischen Gestus des van de Velde’schen Ornaments, indem er es mit der organischen Form verbindet (so beispielsweise im Fell und schuppigen Leib Typhons) und die „Kunstformen der Natur“ (Haeckel) als grundsätz­lich ornamental auffasst. ‚Der Mensch‘ kann von daher bei ihm nur rela­tional verstanden werden, in der Verbundenheit mit seiner Umwelt und deren Geschichte, in der die menschliche Genealogie eine tierische ist.

Der Affe in Klimts „Liebesleben der Natur“ An der Entstehung dieser Kunstformen interessierte Klimt vor allem die Frage der Reproduk­tion, die nicht nur als Serialität des Ornaments aufgefasst werden kann, sondern bei Klimt als Teil der Sexualität behandelt wird. Diese Thematik zu verhandeln, war zur Entstehungszeit des Frieses nicht zuletzt immer wieder Anlass gewesen, überhaupt über Evolu­tionstheorie zu schreiben. Hier tat sich Wilhelm Bölsche (1861 – 1939) hervor, dessen Liebesleben in der Natur (1898) als Hauptwerk erotisch-­ wissenschaft­licher Literatur fungierte. Auch bei Bölsche geht es vordergründig darum, die sexuelle Reproduk­tion der Lebewesen anhand Darwin’scher Lehrsätze zu erklären. Das Wahrheitspathos, mit dem Bölsche die Schilderung des Liebeslebens in der Natur zur Waffe gegen die Lüge auf erotischem Gebiet stilisiert, formuliert er am deut­lichsten in Die naturwissenschaft­lichen Grundlagen der Poesie (1887).270 Klimt arbeitet Bölsches emphatisches Plädoyer für die Wahrheit im Beethovenfries aus, indem er die Diversität des Erotischen und Triebhaften ins Zentrum seiner Darstellung rückt. Dabei wird in dem Titel „Die feind­lichen Gewalten“, unter dem er 269 Nietzsche (GT) 1999, 341. 270 Bölsche, Wilhelm (1976): Die naturwissenschaft­lichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena einer realistischen Ästhetik, hrsg. v. Johannes J. Braakenburg. München: dtv. Hier: S. 45 f.

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den Gorilla zeigt, die archaische Gewalt dieser Triebe betont, indem er direkt auf die schlechte Reputa­tion des Sexualverhaltens der Affen anspielt. Klimt löst die Bedrohung durch die Sexualität nicht auf, verleiht ihr aber eine rechtfertigende Komponente, indem er die Szenerie des Beethovenfrieses religiös und genealo­g isch überformt: In der Andeutung eines paradie­sischen Rosen- bzw. Liebesgartens, in den Klimt die Kuss-­Szene des Beethovenfrieses eingebaut hat, akzentuiert er die Einbettung der Erotik in die Abläufe der Evolu­tion. Klimt arbeitet dabei mit einer eigentüm­lichen Mischung aus christ­lich getönter Genealogie und Darwin-­Rezep­ tion, die einen guten Teil der Anziehungskraft der Schriften Bölsches ausmacht. Mit seinem Zugriff auf Anthropologie bediente Bölsche einerseits die Sehnsucht nach dem Vertrauten, Hergebrachten (Schöpfungsgeschichte der Bibel), befriedigte jedoch andererseits das Bedürfnis nach neuen Sinnstiftungsangeboten, die zu den modernen Naturwissenschaften passen sollten (Darwin-­Rezep­tion). Beide Elemente kommen auch in Klimts Beethovenfries zum Tragen, der jedoch den Konflikt dieser Bedürfnisse nicht aussöhnen, sondern agonal ausagieren wollte, was in Gestalt des typhonischen Gorillas geschieht. In Klimts Phantasmagorie wird Genealogie (sei sie nun evolu­tionär oder historisch gedacht) durch den Anschluss an diese Tradi­ tionen schließ­lich zu einer Bilderzählung, deren mytholo­g ischer Charakter eine Folie bietet, auf der die Darstellung ihrer Protagonisten und ihrer sexuell aufgeladenen Handlungen in besonderem Maße skandalisierend wirken konnten. Dabei fordert die Abbildung Typhons als Riesengorilla den Glauben an die christ­liche Genealogie heraus, da es sich um eine Inzest treibende Figur direkt aus der paganen Bilderwelt handelt. Diese Figur soll nun als monströser und bedroh­licher Teil der menschlichen Genealogie etabliert werden. Mit dem religiösen Anspruch einer Kunst, die eigent­lich der Naturwissenschaft dient, beleiht Klimts Arbeit Bölsches Ästhetik. Ziel von Bölsches Prolegomena zur Poetik ist schließ­lich eine Kunst, die realistische Idealtypen erschafft 271 und dabei gleichermaßen einem monistischen Ziel dient, näm­lich der Aufhebung der Grenze ­zwischen Kunst und Wissenschaft: Einen Menschen bauen, der naturgeschicht­lich echt ausschaut und doch sich so zum Typischen, zum Allgemeinen, zum Idealen erhebt, dass er im Stande ist, uns zu interessiren aus mehr als einem Gesichtspuncte, – das ist zugleich das Höchste und das Schwerste, was der Genius schaffen kann. Wie so der Mensch Gott wird, ist darin enthalten, – aber es wird jederzeit auch darin

271 Bölsche spricht in ­diesem Zusammenhang nicht von Naturalismus; in der Forschung sind jedoch seine Werke vielfach hinsicht­lich ihrer Zurechenbarkeit zu dieser Epoche untersucht worden. Vgl. dazu auch Schneider, Lothar (2011): Im Banne des Kunstwollens/An der Traumgrenze. Bölsches Grundlagen als Poetik einer guten Evolu­tion. In: Gerd-­Hermann Susen; Edith Wack (Hg.): „Was wir im Verstande ausjäten, kommt im Traume wieder“. Wilhelm Bölsche 1861 – 1939. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 69 – 105. Hier: S. 72.

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Kapitel V: Imitieren

sich offenbaren, wieso er Gottes Knecht ist. Das Erhebendste dabei ist der Gedanke, dass die Kunst mit der Wissenschaft empor steigt.272

Bölsche fordert die literarische Anthropologie auf, zum Gesamtkunstwerk zu werden. Dabei koinzidiert die Frage nach den Gattungsgrenzen in der Biologie mit der Frage nach den Gattungsgrenzen in der Kunst. Innerhalb der als Gesamtkunstwerk angelegten Beethovenausstellung in der Wiener Secession widmete sich auch Klimt diesen Pro­ blemen. Der sexuell aggressive Gorilla, den er hier zeigte, allegorisiert eine Kunst, deren wilde Natur keine Gattungsgrenzen kennt und sich Wissenschaft, Religion, Malerei, Musik und Literatur gleichermaßen einverleibt. Darin bestand die Provoka­tion seines Gesamtkunstwerks. Dies wird nach Odo Marquard nicht dadurch problematisch […], daß es zu unwirk­lich ist; es wird vielmehr dort problematisch, wo es zu wirk­lich wird: wo das identitätssystematische Programm Kunst und Wirk­lichkeit identisch setzt – konvertibel macht – und dadurch beiden seine Identitäten absolut aufzwingt: die Identität von Nichtkunst und Kunst, von Ernst und Unernst, von Verantwortungsbewußtsein und Leichtsinn, von Wirk­lichkeit und Schein.273

Den phobischen Reflex seiner Kritiker forderte Klimt dadurch heraus, dass er mit genau diesen Eigenschaften des Gesamtkunstwerks spielte, das es schließ­lich nicht mehr erlaubte, ­zwischen Genie und Syphilitikerin, Wollust und stiller Größer, Marmor und Pelz, Affe und Beethoven haltbare Grenzen einzuziehen. ‚Der Affe‘, dessen Eignung als Emblem der Frage nach Gattungsgrenzen seit Aufkommen der Abstammungsthese gefestigt war, setzte Klimt in einem Werk ein, in dem es gerade um die Freiheit einer Kunst geht, die dabei ist, sich die Formensprache und Gegenstände zu erarbeiten, die einer evolu­tionsbiolo­g isch informierten Malerei angemessen erscheinen. Dabei konnte er sich darauf verlassen, mit der Darstellung eines Affen direkt Sensibilitäten zu berühren, die auch Bölsche nutzte, um seine Ausführungen zum Liebesleben der Natur immer wieder zu pointieren. Bölsche arbeitet zu d­ iesem Zweck mit einer vertrau­lichen Ansprache seiner Leserinnen und Leser, die er mit der normativen Kraft des Faktischen ihres Wohers (Stammbaum) und Wohins (letztes Loch) konfrontiert: Du im Stammbaum deiner Jahrtausende, als ungeheurer Organismus, der Völker treibt, wie ein Birnbaum grüne Blätter, und Kulturen wie Blütenschnee. Von dem diese Völker wieder

272 Bölsche 1976, 11. 273 Marquard, Odo (1979): Schwundtelos und Mini-­Essenz – Bemerkungen zur Genealogie einer aktuellen Diskussion. In: Ders.; Stierle, Karlheinz (Hg.): Identität. (Poetik und Hermeneutik, 8) München: Fink, S. 348 – 369. Hier: S. 367.

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herabregnen wie gelbes Laub und die Kulturen fallen wie ausgelebte weiße Blütenblättchen, deren Liebesdienst erfüllt. Und der dann beide wieder neu treibt auf einem höheren Ast.274

Bölsche stilisiert den Menschen zum schwachen Rebell gegen seine Abstammung: Du magst dich wehren oder nicht: mit einem Wesen dieser Art [Bölsche bezieht sich an dieser Stelle auf den Affenmenschen von Java, H. E.], dessen Knochen heute im Museum zu jedermanns Kenntnisnahme liegen, bist „du“ im wesent­lichen einfach erreicht. Die Sortiermaschine wirft dich ins letzte Loch. Du bist ein höchst entwickelter Affe.275

Es gibt kein Entkommen: So wie sich Typhon, im Gegensatz zu seinen Geschwistern Isis und Osiris, nicht von einem bösen Dämon in einen guten Gott verwandeln kann und stets das häss­liche Ergebnis der gött­lichen Vereinigung von Kronos und Rhea bleibt, so kann auch der Mensch sich nicht von seiner Leibhaftigkeit lösen, die ihn mit seinen Vorfahren zusammenschließt. Der genüss­liche Enthüllungsgestus, mit dem Bölsche seine Leser einer evolu­tionsbiolo­gischen Konfronta­tionstherapie unterzieht, ist auch Klimt zu eigen. Auf dem Beethovenfries zeigt er die Gesichter zentraler Figuren in Frontalansicht, sie fordern die Betrachtenden geradezu dazu auf, mit ihnen in Blickkontakt aufzunehmen, so wie auch Bölsche seine Leserinnen und Leser direkt adressiert. Die Einbettung der so Angesprochenen in eine Naturgeschichte, die er als Geschichte vom beständigen Vergehen und Entstehen gleich dem Lauf der Jahreszeiten erzählt, wird in Klimts Beethovenfries in einem monumentalen Panorama entfaltet, als dessen Herrscher ein zahnloser Gorilla eingesetzt wird. Mit der Verdichtung einer ganzen Reihe von ästhetischen Problemen, kulturellen Kontroversen und naturwissenschaft­lichen Debatten in einer einzigen Figur schaffen sowohl Bölsche als auch Klimt ein Super-­Medium zur anthropolo­gischen Selbstverständigung. Wie diese zur Selbstverteidigung gerät, sobald sich herausstellt, dass die eigene Abstammung mit derjenigen zusammenfällt, die man als feind­liche Gewalt bekämpfen will, hat Klimt in der Auseinandersetzung mit seinen Kritikern deut­lich erfahren. Er gestaltete sie in einem vielschichtigen Spiel mit Rezep­tionen, dessen Ironie darin liegt, dass sie in der Figur des Affen zunächst als brachial-­brutal-­banal erscheint. Auch heute noch werden Besucherinnen und Besucher der Wiener Secession aus dem Raum vertrieben, in dem der Beethovenfries aufgebracht ist. Allerdings liegt das wohl eher an der Kälte, die der Ausstellungsraum heute ausstrahlt – dem Gorilla glück­lich entkommen, wenden sie sich ihrem Menschsein in der Gegenwart zu. Was auch immer dieses Menschsein beinhalten mag.

274 Bölsche, Wilhelm (1900): Das Liebesleben in der Natur. Eine Entwicklungsgeschichte der Liebe. Bd. 2. Leipzig: Diederichs. Hier: S. 8. 275 Ebd., 109.

Brauchbare Tiere, sentimentale Tiere, nützliche Idioten Bemerkungen zum Schluss

[…] sie schulen dich um, du wirst wieder er. Paul Celan 1

In ihrem Vorwort zu Das Tier, das also ich bin beschreibt Marie-­Louise Mallet, wie stark Jacques Derrida unter dem Gefühl der Zeitnot litt, während er seinen Entwurf zu einer Tierphilosophie in dekonstruktiver Absicht niederlegte. 2 Zeitnot ist, wenn man nicht alles sagen kann, was man meint, sagen zu müssen. Zu den Dingen, die man unter anderem hier noch sagen müsste, gehört auch, wie Derrida über Affen schreibt: In Geschlecht (Heidegger) geht Derrida der Frage nach dem So-­Sein des Menschen nach, das für ihn unmittelbar mit der Frage nach seiner Sexualität verknüpft ist. Er definiert diese Frage fundamentalontolo­gisch und entzieht sie dem Bereich der Anthro­pologie ebenso wie dem der Ethik.3 Dazu nimmt sein Text eine Untersuchung von Heideggers „Denkweg“ vor, der zugleich den Weg der Schrift bei ­Heidegger nachverfolgt; in einem zweiten Text namens Heideggers Hand (Geschlecht II) wendet sich Derrida der Bedeutung der menschlichen Hand bei Heidegger zu, die für diesen einen herausgehobenen Stellenwert erhält, weil sie in ihrer Beziehung zum Handwerk und zur Technik die leib­liche Verbindung z­ wischen Schrift und Denken herstellt. ­Heidegger fasst die Hand als Organ auf, das nur dem Menschen zukommt,4 nur der Mensch kann begreifen und Begriffe bilden.5 Heideggers Humanismus, so Derrida, stützt sich auf die Annahme der Einzigartigkeit des Menschengeschlechts. Diese beruht auf einer starken Differenz von Animalität und Humanität, die Derrida kritisiert.6 Heidegger erläutert die Mensch-Tier-Differenz in Was heißt denken?, indem er die 1 Celan, Paul: Hörreste, Sehreste. In: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 275. 2 Derrida, Jacques (1988): Geschlecht (Heidegger). Enthält: Sexuelle Differenz, ontolo­gische Differenz Heideggers Hand (Geschlecht II). Wien: Böhlau (Edi­tion Passagen, 22). Hier: S. 15. 3 Ebd., 16. 4 Heidegger, Martin (2002): Was heißt denken? In: Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffent­ lichte Schriften 1910 – 1976. 90 Bände. Paola-­Ludovika Coriando (Hg.): Frankfurt/M: V ­ ittorio Klostermann (8). Hier: S. 18 f. 5 Derrida 1988, 65. 6 Vgl. ebd., 91. In Das Tier, das ich also bin finden sich jedoch versöhn­lichere Passagen, in denen Derrida Tierphilosophie als eine Seinsphilosophie nach Heideggerschem Zuschnitt beschreibt.

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Bemerkungen zum Schluss

Hand des Menschen mit der des Affen vergleicht: Dieser verfüge nur über ein Greiforgan, aber nicht über eine Hand. Er kann nichts begreifen, er kann nicht denken, er ist „durch einen Abgrund des Wesens verschieden“.7 Derridas Auseinandersetzung mit Heidegger ist komplex, es enthält Ausflüge zu einer franzö­sischen Übersetzung von Hölderlins Gedicht Mnemosyne („Ein ­­Zeichen sind wir, deutungslos,/ Schmerzlos sind wir und haben fast/ Die Sprache in der Fremde verloren“) und ­Heideggers Auseinandersetzung mit Georg Trakl. Entscheidend ist an seinen Ausführungen die Bemerkung, dass „die Manier […] in der ein Denker oder ein Wissenschaftler von einer sogenannten ‚Animalität‘ sprach, ein entscheidendes Symptom bildete, was die grundsätz­liche Axiomatik des gehaltenen Diskurses betraf.“8 Dieses Buch endet mit dem Hinweis auf jenes Detail in Derridas Text und darauf, dass die vorangegangen Kapitel gezeigt haben, dass die „grundsätz­liche Axiomatik“, die Derrida bei Heidegger analysiert, einen historischen Ort hat und dass dieser Ort die Geschichte der Anthropologie ist, insofern sie sich mit der Beziehung von Mensch und Affe beschäftigt. Dementsprechend scheint es, dass Derrida irrt, wenn er schreibt, dass der Kontext der „Beziehung der Hand zum Sprechen und Denken […] weit davon entfernt ist, ein klas­sischer zu sein“.9 Die menschlichen Hände,10 die durch den aufrechten Gang befreit werden und schreiben, arbeiten, streicheln und töten können, sind vielmehr einer der klas­sischsten Kontexte überhaupt,11 um anthropolo­ gische Differenz zu sichern. Weniger klas­sisch war es zum Zeitpunkt der Veröffent­lichung von Derridas Schrift, sich Heideggers Hand in einem Fach zu widmen, das Medienwissenschaft werden sollte. Dass „Sein, Mensch und Schreibmaschine“ bei Heidegger in eins fallen, hat Friedrich Kittler in Grammophon, Film, Typewriter gezeigt 12 und durch seine Lesart der Filia­tion Nietzsche–Heidegger den ersten Schreibmaschinen-­ Philosophen (näm­lich Friedrich Nietzsche) zum Gründer der deutschen Medien­ wissenschaft promoviert:13 Werkzeuggebrauch ist Mediengebrauch. Und auch bei Kittler steht, dass mehr noch als der Mensch eine Hand hat, ‚die‘ Hand den Menschen hat. Nietzsche klagte zuletzt: „[…] ich brauche einen jungen Menschen in meiner Nähe, der intelligent und unterrichtet genug ist, um mit mir arbeiten zu können.“14 Auch Nietzsche sehnte sich nach einem toolmaking animal – sogar 7 8 9 10 11 12 13 14

Heidegger 2002, 18 f. Ebd., 66. Derrida 1988, 57. Und zurecht weist Derrida darauf hin, dass Heidegger nie anders als von ‚der‘ Hand ‚des‘ Menschen schreibt (ebd., 80). Siehe auch Leroi-­Gourhan 2009. Kittler, Friedrich A. (1986): Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose. Hier: S. 290. Ebd., 293. Nietzsche zit. n. ebd., 301 f.

Brauchbare Tiere, sentimentale Tiere, nützliche Idioten

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eine zweijährige Ehe einzugehen sei er bereit.15 Dass es dazu nicht gekommen ist, und wie Kittler weiter verfuhr, darf bald schon als bekannt voraus­g esetzt werden. Die Schrift, die Maschine, das Medium, der Mensch: Das anthropolo­gische Viereck, das sich daraus ergibt, wird das anthropolo­gische Dreieck nach 1900 nicht ersetzen, aber es ergänzt den Formenkanon der anthropolo­gischen Geometrie. Dass die anthropolo­gische Differenz nicht nur z­ wischen Mensch und Tier, sondern auch ­zwischen Mensch und künst­lichem Mensch, Mensch und Maschine besteht, wusste schon Gabriel von Max,16 der den beiden Affen im Gemälde Anthropolo­gischer Unterricht eine Menschenpuppe zum Spielen in die Hände gedrückt hat. Unter den vielen offenen Feldern, die sich nach Abschluss ­dieses Buches für weitere Entdeckungen eröffnen, fällt dementsprechend besonders das der Medienanthro­pologie auf. 2012 hat das Kathryn Bigelows Film Zero Dark Thirty 17 bestätigt, der das berühmteste Bild der modernen Mauerschau dekonstruiert und folgende Fragen beantwortet: Was haben Barack Obama und sein Stab am 2. Mai 2011, 0.30 h, im Situta­tion Room des Weißen Hauses gesehen? Wie gelang die Rache an Osama bin Laden? Der Film rekonstruiert eine Jagdgeschichte, die Exzesse des Tier-­Werdens zeigt: Die Folter der Träger von Informa­tionen zu bin Ladens Aufenthaltsort; das Abheben der Canary-­Hubschrauber, die die Navy-­S EALS zum Haus bin Ladens nach Abbotta­bad bringen, wo sie ihrer Bestimmung als Tötungsmaschinen folgen; außerdem sehen die Zuschauerinnen und Zucshauer eine Affenhorde, die in einem Käfig auf dem Gelände einer Black Site der CIA wohnt und dem obersten Folterknecht als sentimentaler Freizeitausgleich zur Verfügung steht. Als seine Kollegen die unkon­trollierbaren Affen umbringen, bricht er seine Mission ab (auch wenn er dafür einen anderen Grund angibt). Es bleibt eine offene Frage, wer in ­diesem Film ein Mensch, eine Maschine oder ein Affe ist. Jedoch ist allein die Maschine von dem Reduzieren, Pathologisieren, Ästhetisieren, Emo­tionalisieren ausgenommen, das alle Figuren des Films (inklusive der Affen) erfahren. Die Maschine allein kann das Anthropologisieren imitieren. Die anthropolo­g ische Maschine spricht: When you’re facing a loaded gun, what’s the difference?18 Das bleibt zu untersuchen.

15 Ebd. 16 Vielleicht von La Mettrie, dessen homme machine ebenfalls zum erweiterten Personal dieser Arbeit gehört, das nicht auf die Bühne durfte, sondern hinter dem Vorhang auf einen Auftritt in einem anderen Stück wartet. 17 Bigelow, Kathryn (2012): Zero Dark Thirty. Columbia Pictures, Annapurna Pictures, First Light Produc­tions. 18 Frank Costello, gespielt von Jack Nicolson, in Marin Scorceses The Departed (2006): „When you decide to be something, you can be it. That’s what they don’t tell you in the church. When I was your age they would say we can become cops, or criminals. Today, what I’m saying to you is this: when you’re facing a loaded gun, what’s the difference?“

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Bemerkungen zum Schluss

Die anthropolo­gische Differenz entscheidet über Leben und Tod. Die Seins- und Sprachphilosophie, die ohne die Anthropologie auskommt, überlässt anderen das Feld. Die Anthropologie, die ohne Seins- und Sprachphilosophie auskommt, lernt die Affen im 20. Jahrhundert ganz neu kennen: Einsatz der Primatenforschung. Der Psychologe Wolfgang Köhler schreibt über das Schimpansen-­Männchen Koko, das er in der ersten Hälfte des Jahres 1914 in der Anthropoidensta­tion der Preußischen Akademie der Wissenschaften auf Teneriffa beobachtete: In der Tat verlief ein großer Teil seines Daseins in einer Art chronischen Empörung; entweder weil es nicht genug zu essen gab; oder weil es Kinder wagten, in seine Nähe zu kommen, oder weil jemand, der eben bei ihm gewesen war, sich erlaubte, wieder fortzugehen, oder end­lich, weil er heute nicht mehr wußte, wie er sich gestern beim gleichen Versuch geholfen hatte; er klagte nicht, er war entrüstet. Gewöhn­lich äußerte sich diese Stimmung in heftigem Trommeln beider Fäuste auf dem Boden sowie in aufgeregtem Hopsen auf der Stelle, in Fällen starker Wut in schnell vorübergehenden Glottiskrämpfen […].19

Köhler war daran interessiert, über den Vergleich mit den Menschenaffen die Funk­ tionsweise der menschlichen Psyche zu verstehen, die er noch 1921 als „Terra incognita“ beschrieb.20 Dazu musste er jedoch die Psyche der Schimpansen erst erfinden. Sein Ergebnis war, dass die menschliche Leistungsfähigkeit überschätzt werde, auch der Schimpanse zeige den „Typus einsichtigen Gebarens“.21 Diejenigen Schimpansen, die artig Köhlers Werkzeuge benutzt, Formen erkannt und Verhalten gelernt hatten, bezeichnete er als „brauchbare Tiere“.22 Josef Stalin hat von gewissen Künstlern, die ihm weltanschau­lich das Wort redeten, als „nütz­lichen Idioten“ gesprochen, gemeint war unter anderem der schwarze Sänger Paul Robeson. Derrida schreibt, dass alle Tiere in der Philosophie immer zur Perspektivierung gedient hätten,23 auch in der Philosophie werden sie verwertet und konsumiert – und je schwieriger es zu begründen ist, dass Tiere Tiere (und die Affen Affen) sind, desto mehr gilt das. Es kann aber auch sein, dass diese Interpreta­tion allein Ausdruck eines sentimentalen Tiers ist, das ich also bin.24 Die

19 Koehler, Wolfgang (1963): Intelligenzprüfungen an Menschenaffen. Unveränderter Nachdruck der zweiten, durchgesehenen Auflage der „Intelligenzprüfungen an Anthropoiden I“. Aus den Abhandlungen der preuss. Akademie der Wissenschaften Jahrgang 1917, physikal.-mathem. Klasse, Nr. 1, 1921. Berlin, Göttingen, Heidelberg: Springer. Hier: S. 5. 20 Ebd., 193. 21 Ebd., 191. 22 Ebd., 120. 23 Derrida, Jacques (2010): Das Tier, das ich also bin. Wien: Passagen (Passagen Forum). Hier: S. 224. 24 Deleuze/Guattari sprechen von den „vereinzelten, gefühlsmäßig besetzten Haustieren, die ödipalen Tiere der Anekdoten aus der Kindheit“ (dies. 1992, 329).

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Senitmentalitätsgeschichte der Tiere, die wir für uns selbst und am liebsten in Plüsch produzieren, wartet noch auf ihre Autorin.25 So leben jetzt auch die Affen mit den Menschen zusammen: Arbeiten wie die Roger Fouts’, der mehreren Schimpansen die American Sign Language beibrachte und fortan mit ihnen in Gebärdensprache kommunizierte, haben gezeigt, dass auch bei den Menschenaffen die Hand allerengste Verbindungen zur Sprache und zum Denken aufweist 26 – wenn auch nicht zur Schrift, für die sich Derrida interessiert. Der Erfolg der Sprachversuche mit Menschenaffen ist heftig bestritten worden, insbesondere Anhänger Noam Chomskys versuchten, die Tier-­Mensch-­Grenze robust zu erhalten, indem sie auf eine universelle Grammatik verwiesen, die nur im genetischen Programm des Menschen angelegt sei.27 Abgesehen von den historischen Parallelen, die sich in ­diesem Argument aufdrängen, ist daran eines zu beobachten: Die Geschichte der Primatenforschung kam im 20. Jahrhundert zu ihren Erfolgen, als den Affen Lebensbedingungen geboten wurden, unter denen sie ihr Leben als Versuchsobjekt durchhalten konnten.28 Zugelassen worden waren sie durch ein Examen: Intelligenzprüfungen an Menschenaffen hatten entscheidenden Anteil daran, dass sich die Affen weiter als Hauptreferenz der Anthropologie etablieren konnten. Dies gelang auch in ethischer Hinsicht: Die vergleichende Forschung zum genetischen Material der Menschenaffen und Menschen konnte belegen, wie gering die Unterschiede ­zwischen den Gattungen sind. Dies führte zwar einerseits dazu, dass die Forschung Schimpansen, Bonobos und andere Hominide noch stärker für Versuche ausbeutete, beispielsweise dadurch, dass sie mit Krankheiten infiziert wurden, deren Verlauf man beobachten wollte. Andererseits sind aus den immer stärker differenzierten Erkenntnissen zur Verwandtschaft von Menschen und Affen Forderungen entstanden, den großen Menschenaffen Menschenrechte zuzugestehen.29 Sollten diese Forderungen Erfolg haben, wären die Affen wohl immer noch nicht in der Lage, darüber befinden zu können, wie mit ihren anderen Verwandten, 25 Die Wirtschaftsgeschichte hat bereits angefangen: Walsh, Margaret (1992): Plush Endeavors: An Analysis of the Modern American Soft-­Toy Industry. In: The Business History Review 55 (4), S.  637 – 670. 26 Fouts, Roger; Mills, Stephen Tukel (1998): Unsere nächsten Verwandten. Von Schimpansen lernen, was es heisst, ein Mensch zu sein. München: Limes. 27 Ebd., 118 f. Zu Chomskys Konzept siehe Chomsky, Noam (1986): Knowledge of Language. Its Nature, Origin, and Use. New York: Praeger (Convergence) und Cook, V. J.; Newson, Mark (1996): Chomsky’s Universal Grammar. 2. Aufl. Oxford, UK, Cambridge, Mass: Blackwell. 28 Zu der Kenntnis über den kulturellen Unterschied ­zwischen Menschenaffen in Gefangenschaft und in ihren ursprüng­lichen Lebensräumen hat in den letzten Jahren maßgeb­lich die Forschung von Christophe Boesch beigetragen. 29 Siehe bspw.: Cavalieri, Paola (2012): Grundrechte für Menschenaffen. Aschaffenburg: Alibri (Ethik-­Preis, 2011); Cavalieri, Paola (2002): Die Frage nach den Tieren. Für eine erweiterte Theorie der Menschenrechte. Erlangen: Fischer (Tierrechte – Menschenpflichten, 8).

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Bemerkungen zum Schluss

den kleineren Primaten wie den Makis, Lemuren oder Meerkatzen verfahren werden soll. Neue anthropolo­g ische Differenzen bringen nur andere Probleme, keine neuen Lösungen: Der Weg durch die Institu­tionen und an die Akademien hat den Affen kein Glück gebracht. Fest steht nur, dass man sie nicht aus der Anthropologie entlassen kann. Denn „An der Ferse […] kitzelt es jeden, der hier auf Erden geht: den kleinen Schimpansen wie den großen Achilles.“30

30 Kafka, Franz (2004): Ein Bericht für eine Akademie und andere Texte zum Rotpeter-­Thema. In: Franz Kafka: Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa. Hg. v. Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit. Frankfurt/M.: S. Fischer, S. 322 – 337. Hier: S. 323.

Tafelteil

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Taf. 1: Kopfplastik des Mikrocephalen Friedrich Sohn

Taf. 2: Schädelausguss, Schädel und Kopfplastik des Mikrocephalen Friedrich Sohn

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Taf. 3: Reptilien- und Sauropsidenkeime von Eidechse, Schlange, Krokodil, Schildkröte, Huhn und Strauss aus der Anthropogenie, 4. Auflage 1891

Taf. 4: Säugetierkeime von Hund, Fledermaus, Kaninchen, Mensch, Beutelthier, Schwein, Reh und Rind aus der Anthropogenie, 4. Auflage 1891

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Taf. 5: Gabriel von Max: Pithecanthropus alalus, 1894, 99 × 68 cm

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Taf. 6: Skizze zum Anthropologischen Museum, das Gabriel von Max zur Aufbewahrung seiner Sammlung plante, undatiertes Blatt

Taf. 7: Gabriel von Max: Kränzchen (bekannt unter „Die Affen als Kunstrichter“), 1889, 84,5 × 107,5 cm

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Taf. 8: Gabriel von Max: Anthropologischer Unterricht, ca. 1900, 59 × 46 cm

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Taf. 9: Gustav Klimt: Die feindlichen Gewalten, Detail aus dem Beethovenfries, 1902,. 6,39 × 2,17m

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Taf. 10: Gustav Klimt: Diesen Kuss der ganzen Welt. Detail aus dem Beethovenfries, 1902

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Bildnachweis

Medizinhistorisches Museum der Charité Berlin. Foto: Christoph Weber. Entnommen aus Haeckel 1891. Ernst-Haeckel-Archiv der Friedrich-Schiller-Universität Jena. GNM, DKA NL Max, Gabriel von, I,B-218. Entnommen aus Friedel; Althaus 2010. Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau, München. Bildarchiv der Secession Wien.

Ich danke dem Medizinhistorischen Museum der Charité Berlin, dem Ernst-­Haeckel-Archiv der Friedrich-Schiller-Universität Jena, der Städtischen Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau, München, dem Bildarchiv der Secession Wien und insbesondere dem Deutschen Kunstarchiv im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg für die Erlaubnis zur Verwendung der hier genannten Bildmaterialien.

Dank Eine vorläufige Version d­ ieses Buches habe ich als Disserta­tionsschrift im August 2013 an der Humboldt-­Universität zu Berlin eingereicht. Für das Gelingen der Arbeit bin ich einigen Personen zu besonderem Dank verpflichtet. Hartmut Böhme hat mich als Erstgutachter in vielfältiger Weise unterstützt; ich danke ihm für seinen Rat, seine Geduld mit meinen Zweifeln und Irrtümern, seine Ermutigungen und Gutachten. Thomas Macho hat mich 2003 in einem Seminar zu Arthur Lovejoys Die große Kette der Wesen auf viele Ideen gebracht, die diese Arbeit motiviert haben – dafür danke ich ihm ebenso wie für sein Zweitgutachten. F ­ riedrich Balke hat mir einen Job gegeben, vor allem aber Raum dafür, meine Disserta­tion so zu schreiben, wie ich es für richtig gehalten habe. Für seine Großzügigkeit dabei, seinen Ansporn und sein Vertrauen bin ich ihm sehr verbunden. Die Andrea-­von-­Braun-­Stiftung hat meine Promo­tion knapp drei Jahre mit einem Stipendium unterstützt. Ich danke der Stiftung vor allem dafür, dass sie mir diese Arbeit zugetraut hat. Joseph Vogl und Jörn Münkner danke ich für die Aufnahme in und die Betreuung durch das PhD-Net Das Wissen der Literatur. Dem Kolleg ­Friedrich Nietzsche in Weimar verdanke ich ein Fellowship, das diese Arbeit im Sommer 2012 einen großen Schritt vorangebracht hat. David Kuchenbuch und Uwe Vagelpohl haben mich in allen Fragen der Disserta­ tion freundschaft­lich beraten. Sie haben die ersten und letzten Zeilen verbessert, die ich geschrieben habe. Mit weiteren Korrekturen hat mir Simon Pühler geholfen, dem zusammen mit Mareike Layer und Moritz Senarclens de Grancy auch mein Dank für die gemeinsame Zeit im Colloquium von Hartmut Böhme gehört. Stefan Höhne war bis zuletzt mein Sparring Partner beim Einrichten der Arbeit und dem Lamentieren darüber. Ich danke ihm für viele Nachtschichten. Peter Praschl und David Pfeifer haben mir einiges darüber beigebracht, wie man einen lesbaren Satz schreibt. Ich konnte hier nicht immer dem gerecht werden, was sie mir gezeigt haben. Dafür, dass ich das zumindest weiß, danke ich ihnen sehr. Ich danke meinem Patenonkel Gregor Engelmeier, dem ich mit der Arbeit Tapfer­keit vor dem Feind beweisen wollte, und meiner Schwester Judith, bei der das nie nötig war. Ich danke Steffi Beerens, Lena Hoppe, Gal.la Uriol Jané, Katja Kynast, Björn ­Märtin, Daniel Mohr, Pierre-­Héli Monot, Nina Ogrowsky, Anne Pranz, Cornelius Reiber, Marius Schmidt, Anna Simon und Christian Thomas. Sie alle haben auf ihre Weise am meisten dafür getan, dass ich diese Arbeit überhaupt schreiben konnte. Ihre Freundschaft war und bleibt meine Heimat. Ich widme diese Arbeit meinen Eltern. Wien, im Frühjahr 2016.

Namensregister A

Adorno, Theodor W.  27f., 33, 258, 262, 293f. Aeby, Christoph  138ff., 281 Agassiz, Louis  66f., 176 D’Alembert, Jean-Baptiste le Rond  155, 182f. B

Bastian, Adolf  103f. Baer, Karl Ernst von  74, 104ff. Bakunin, Michail  67 Barnum, Phineas Taylor  131f., 135 Bartels, Max  122, 133 Bateman, Frederic  118 Benjamin, Walter  31, 167 Birkner, Ferdinand  147 Bischoff, Theodor Ludwig Wilhelm von  82, 138f., 142ff. Bleek, Wilhelm  179 Bleibtreu, Karl  287 Blumenbach, Johann Friedrich  23, 29, 33, 43 – 52, 54, 57, 78, 105, 108 Bock, Carl Ernst  99, 132 Bölsche, Wilhelm  123, 186, 189, 316 – 319 Du Bois-Reymond, Emil  166, 203 Bondt, Jakob de (auch: Jakob Bontius)  60 Bronn, Heinrich Georg  8, 11, 75, 90 Büchner, Georg  66 Büchner, Ludwig  66, 81, 121 Buffon, Georges-Louis Leclerc de  46, 60 Burdach, Karl Friedrich  164, 203f. Busch, Wilhelm  244 Brehm, Alfred  232f., 245, 299 Broca, Paul  67, 103, 110f., 117f.

Charcot, Jean-Marie  281 Chardin, Jean Siméon  240 Chomsky, Noam  325 Cuvier, Georges  43, 51, 66, 73, 114, 144, 169 D

Darwin, Charles — Über die Entstehung der Arten  7f., 11, 15f., 35, 69, 73, 75, 80, 83, 90, 94, 96f., 116, 131, 164, 171, 173ff., 189, 207, 265 — Die Abstammung des Menschen  11f., 64, 101, 177, 199, 201, 210, 299 — Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren  52, 246 Derrida, Jacques  321f., 324f. Diderot, Denis  44, 53, 153 – 160, 182f. Dreyfus, Alfred  280, 295f. Dubois, Eugène  215 Dürer, Albrecht  42 E

Ecker, Alexander  103, 105f., 122 Engels, Friedrich  100f. F

Feuerbach, Ludwig  70 Fischer, Eugen  20 Flaubert, Gustave  60 Flechsig, Paul  236f. Frémiet, Emmanuel  244 Freud, Sigmund  19, 46, 81 Frey, G. J. O.  144ff. Fürbringer, Max  187, 189, 215

C

G

Camper, Petrus  23, 29, 33, 39 – 44, 48, 50, 89, 93f., 121, 150, 211 Carus, Julius Victor  88, 90, 108, 199, 201, 299 Du Chaillu, Paul Bellom  244f.

Galen 41f. Gegenbaur, Carl  189, 204, 215 Goethe, Johann Wolfgang von  27 – 35, 90, 125, 129, 141f., 161, 203ff., 209f., 223, 233, 272 Gratiolet, Louis Pierre  116

372

Namensregister

H

Haeckel, Ernst  7, 9, 13, 16f., 20f., 24f., 31, 35, 60, 74, 81f., 92, 123, 126, 136, 152, 153, 156f., 159 – 166, 176f., 184 – 220, 225f., 229, 232, 235f., 246, 252, 286, 313f., 316 Hansemann, David Paul  136 Hauptmann, Gerhard  287 Heidegger, Martin  273f., 321f. Helmholtz, Hermann von  236 Hélvetius, Claude Adrien  53 Herder, Johann Gottfried  28f., 32, 47, 52 – 58, 134, 163, 169ff., 209, 261 Herschel, John  172 Herzl, Theodor  295, 297f. Hevesi, Ludwig  309, 314f. Hollar, Wenceslaus  311f. Horkheimer, Max  27f., 31ff., 47, 62, 258, 293f. Humboldt, Alexander von  10, 67 Humboldt, Wilhelm von  163 Huschke, Emil  112 Huxley, Thomas Henry  69, 87 – 90, 92 – 95, 99, 102, 114, 163, 167, 169f., 176, 186, 189, 191, 208, 222, 224, 272, 292 K

Kant, Immanuel  21f., 53, 82 Kircher, Athanasius  310ff. Klimt, Gustav  20, 25f., 125, 300 – 319 Klinger, Max  301ff. Köhler, Wolfgang  324 Krafft-Ebing, Richard von  155, 300f. Kraus, Karl  279

Lullus, Raimundus  181f. Lyell, Charles  10, 87, 172f. M

Max, Gabriel von  13, 17, 21, 24f., 153f., 217 – 247, 273, 300, 323 Marx, Karl  63, 68, 101 Meiners, Christoph  29, 42f., 58f., 62 Meyerheim, Paul  240 Moleschott, Jakob  66, 72f., 80, 138, 224 Moscati, Pietro  53 Müller, Johannes  107, 111, 144, 189 N

Nietzsche, Friedrich  9, 20f., 25ff., 161, 244, 246f., 249 – 279, 286, 288 – 291, 293, 295f., 299f., 308, 316, 322 Nordau, Max  21, 25f., 276 – 301, 315 O

Offenbach, Jacques  298 Owen, Richard  89 P

Peschel, Oscar  9 Piloty, Carl von  222 Plutarch  307, 309f. Poe, Edgar Allen  60 Porphyrius 181 Q

Quetelet, Adolphe  67, 74, 77, 93 R

L

Lamarck, Jean-Baptiste  8, 10, 73, 163, 175, 203f., 284f Lange, Friedrich Albert  68, 256f. Lavater, Johann Caspar  33f., 41, 130, 141, 209, 211 Liebig, Justus  63, 66f., 73 Linné, Carl von  23, 38, 45f., 48f., 62, 97, 121, 132, 207 Loder, Justus  32 Lombroso, Cesare  120, 150f., 281, 287

Raabe, Wilhelm  24, 125 – 136 Reclam, Carl  147, 151f. Robinet, Jean-Baptiste-René  53 Rousseau, Jean-Jacques  53, 57f., 60f., 115, 229f., 271 S

Sacher-Masoch, Leopold von  24, 153 – 161, 201 Saint-Hilaire, Étienne-Geoffroy  51

Namensregister

Schleicher, August  13, 24, 102, 153, 161 – 185, 192f., 198 Schaaffhausen, Hermann  88, 103, 105, 140 Schopenhauer, Arthur  52, 100, 155, 227, 233, 268 Schreber, Daniel Paul  237 Sclater, Philip Lutler  215 Semper, Gottfried  307 Soemmerring, Samuel Thomas  7, 23, 29, 33, 36 – 39, 42 – 46, 51, 54f., 89 Spencer, Herbert  10 Sterne, Carus (auch: Ernst Krause)  201 Stockholm, Carl  147ff., 150 Stöhr, Ernst  302f. Strauss, David Friedrich  269 T

Tarde, Gabriel  291f. Tille, Alexander  269f. Tovote, Heinz  287 Tulp, Nicolaes  47ff., 60ff., 114, 186 Tyson, Edward  47 – 51, 132

373

U

Umlauff, Firma  154, 186 Umlauff, Wilhelm  219 V

van de Velde, Henry  315f. Virchow, Rudolf  103f., 112, 122, 133f., 137 – 142, 144, 236 Vogt, Carl  9, 13, 17, 21, 23f., 63 – 126, 132, 136 – 140, 142 – 151, 157, 163f., 169ff., 188, 198, 224, 233, 252, 257, 266f., 273, 290 Vrolik, Willem  105 W

Wagner, Richard  247, 267, 278, 288, 295f., 308 Wagner, Rudolf  9, 37, 69, 72, 77 – 82, 104ff. Wallace, Alfred Russel  10 Wigand, Albert  116 Winkelmann, Johann Joachim  41 Wrisberg, Heinrich August  43 Z

Zola, Émile  278, 289, 295

DANIEL SCHÜMANN

KAMPF UMS DA(BEI)SEIN DARWIN-DISKURSE UND DIE POLNISCHE LITERATUR BIS 1900 (BAUSTEINE ZUR SLAVISCHEN PHILOLOGIE UND KULTURGESCHICHTE. NEUE FOLGE, REIHE A: SLAVISTISCHE FORSCHUNGEN, BAND 81)

Charles Darwin spaltet bis heute die Geister – vielleicht gerade deshalb, weil er den Geist als nachrangigen Faktor auch menschlicher Lebensverläufe begriff. Seine Theorie hat die Wissenschaften vom Geiste erschüttert. Als erste Monographie beleuchtet nun Daniel Schümanns Studie die Rolle der Literatur für die geistigen Prozesse, welche die Darwin-Diskurse nach Polen brachten. Das geteilte Polen war ein heterogenerer Kulturraum als das heutige Polen, was sich auch am Umgang mit Darwins Ideen zeigte: Zwischen 1860 und 1900 wurden dort diverse Konzepte von Polonität im Spannungsfeld zwischen Dämonisierung und unkritischer Idealisierung der Evolutionstheorie verhandelt. Die Frage, ob eher der ‚Kampf ums Dasein‘ – die Konkurrenz zu anderen Kulturen – oder der ‚Kampf ums Dabeisein‘ – die Orientierung an ihnen – die polnische Identität bestimmen soll, scheint auch im 20. und 21. Jahrhundert noch offen. 2015. 503 S. GB. 150 X 230 MM | ISBN 978-3-412-22504-9

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LINDA RATSCHILLER, SIEGFRIED WEICHLEIN (HG.)

DER SCHWARZE KÖRPER ALS MISSIONSGEBIET MEDIZIN, ETHNOLOGIE UND THEOLOGIE IN AFRIKA UND EUROPA 1880–1960

Der Körper ist ein Ort, an dem religiöse Identitäten und gesellschaftliche Wissensbestände entstehen. Der Band verbindet Missions-, Religions- und Wissensgeschichte. Er untersucht den missionarischen Blick auf den schwarzen Körper. Wie waren Mission, Körper und Wissen zwischen 1880 und 1960 miteinander verflochten? Bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vermittelten europäische Missionare ihre religiöse Botschaft in Afrika über Körperpraktiken. Gleichzeitig trugen die Missionare als globale Akteure zur Erzeugung von Wissen in der Medizin, der Ethnologie und der Theologie bei. Welche Verbindungen gingen missionarisches, medizinisches, spirituelles und akademisches Wissen über den Körper in der Arbeit der Missionare ein? 2016. 189 S. 20 S/W-ABB. BR. 155 X 230 MM. | ISBN 978-3-412-50166-2

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