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German Pages 313 [314] Year 2018
Felix Timmermann Der Magnetismus des Guten
Quellen und Studien zur Philosophie
Herausgegeben von Jens Halfwassen, Dominik Perler und Michael Quante
Band 138
Felix Timmermann
Der Magnetismus des Guten Historische und systematische Perspektiven des metanormativen Platonismus
Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Herbstsemester 2017 auf Antrag der Promotionskommission [Prof. Dr. Christoph Halbig (hauptverantwortliche Betreuungsperson)/Prof. Dr. Jörn Müller] als Dissertation angenommen.
ISBN 978-3-11-062095-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-062387-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-062118-1 ISSN 0344-8142 Library of Congress Control Number: 2018961308 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH und Co. KG, Göttingen www.degruyter.com
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Meinen Eltern
Danksagung Von Herzen danken möchte ich allen, die zur Idee, Entstehung und Fertigstellung dieser Arbeit beigetragen haben. Der erste Dank gilt meinen Eltern, die mir mit ihrem liebevollen Blick auf die Welt viele und reiche Perspektiven eröffnet haben. Sie haben nicht nur von je die Entfaltung meiner Interessen nach Kräften gefördert, sondern auch die Arbeit an dieser Dissertation von Anfang bis Ende uneingeschränkt unterstützt. Meinem Freund Steffen Kammler und den Rostocker Platonikern verdanke ich den nachhaltigen Anstoß zur Beschäftigung mit platonischem Denken. Mein Doktorvater, Prof. Dr. Christoph Halbig, war es schließlich, der mir durch seine Lehre und durch seine Schriften eine realistische Perspektive auf die Ethik eröffnet und damit den Anstoß zur Untersuchung einer platonistischen Normativitätstheorie gegeben hat. Er hat diesem Vorhaben von Anfang an großes Interesse entgegengebracht, ihm in schwierigeren Momenten wichtige Impulse gegeben und die gewährte Freiheit in der Bearbeitung mit ebenso großzügiger Geduld verbunden. Während der Arbeit durfte ich weitere Unterstützung vielfältiger Art erfahren. Die Studienstiftung des deutschen Volkes hat das Dissertationsvorhaben mit einem Promotionsstipendium finanziell und ideell gefördert. Die Universitäten Gießen und Konstanz, vor allem aber das Ethik-Zentrum der Universität Zürich mit seiner ebenso stimulierenden wie freundschaftlichen Atmosphäre boten herausragende Arbeitsbedingungen. Lisa Brun stand mir nicht nur jederzeit beratend und unterstützend zur Seite, sondern hat mir durch ihre Freundschaft auch wichtigen moralischen Beistand geleistet. Für die Entwicklung meiner Überlegungen war besonders die kritische, aber stets wohlwollende Begleitung durch das Kolloquium von Professor Halbig in Gießen, Konstanz und Zürich hilfreich. Versionen einzelner Kapitel konnte ich zudem bei Vorträgen in Jyväskylä, Pardubice, Rostock, Bern, Salzburg und auf dem Zürich-Konstanz-Kolloquium zur praktischen Philosophie vorstellen. Für wertvolle Kommentare und Rückmeldungen bei diesen Gelegenheiten möchte ich besonders Pauliina Remes, Eyjólfur Emilsson, David Robjant, Wolfgang Bernard, Steffen Kluck, Matthias Egg, Peter Schaber und Peter Stemmer danken. Herrn Professor Jörn Müller von der Julius-Maximilians-Universität Würzburg danke ich herzlich für die Bereitschaft, sich als Zweitgutachter zur Verfügung zu stellen. Ferner gilt mein Dank den Herausgebern der Quellen und Studien zur Philosophie, Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Jens Halfwassen, Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Dominik Perler und Herrn Prof. Dr. Dres. h.c. Michael Quante, für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe. Viele wichtige Gesprächspartner sind mir zu Freunden geworden. An erster Stelle ist hier Arne Grießer zu nennen, der mit seiner Begeisterungsfähigkeit phihttps://doi.org/10.1515/9783110623871-201
VIII | Danksagung losophisch und außerphilosophisch eine stets sprudelnde Quelle der Inspiration war und sich daneben um die typographischen und TEX-nischen Aspekte der Arbeit verdient gemacht hat. Timo-Peter Ertz hat mich mit seiner freundschaftlichen Kritik herausgefordert, wesentliche Gedanken präziser zu formulieren. Sebastian Muders hat eine Fülle wertvoller Kommentare geliefert und mich durch sein beständiges Interesse ermutigt, meine Überlegungen weiter zu vertiefen. Stefan Fischer, Lukas Naegeli, Philipp Schwind und Stefan Riedener hatten nicht nur jederzeit ein offenes Ohr für meine Fragen und Probleme, sondern haben auch einzelne Teile des Manuskripts gelesen und durch ihre zahlreichen Anregungen zu seiner Verbesserung beigetragen. Der Mühe des Korrekturlesens haben sich außer den Genannten auch Krystina Schaub, Christian Weibel und mein lieber Freund Emanuel Viebahn unterzogen, denen ich an dieser Stelle ebenfalls ganz herzlich danken möchte. Wichtige Anregungen stammen auch von Michel Meliopoulos und Micha Gläser, die frühere Fassungen einzelner Kapitel gelesen haben. Schließlich danke ich meiner geliebten Frau Sophia. Sie hat die Arbeit stets vorbehaltlos unterstützt und mich, wenn es nötig war, tatkräftig bestärkt und ermuntert. Viele wichtige Gespräche mit ihr haben mir neue Sichtweisen auf die Dinge vor Augen geführt. Ohne sie wäre mein Leben um tausend Vortrefflichkeiten ärmer – nicht zuletzt um unseren Sohn Johann Maximilian. Konstanz, im Oktober 2018 Felix Timmermann
Inhalt Danksagung | VII 1 1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.3
Der Magnetismus des Guten. Zur Einleitung | 1 Eine phänomenologische Vorbetrachtung | 2 Vortrefflichkeit als artrelatives finales Gutsein | 6 Der logisch attributive Charakter der Vortrefflichkeit | 7 Der finale Wert der Vortrefflichkeit | 12 Gang der Untersuchung | 15
2 2.1 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.4
Theorien der Normativität und der Schluss auf die beste Erklärung | 21 Was ist ein Schluss auf die beste Erklärung? | 22 Zum Begriff der Erklärung | 29 Erklärung in der Theorie der Normativität | 36 Der Gegenstand von Theorien der praktischen Normativität | 37 In welchem Sinne erklären metanormative Theorien? | 39 Explanatorische Tugenden metanormativer Theorien | 41 Zusammenfassung und Folgerungen | 46
3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.1.6 3.2 3.2.1 3.2.2 3.3
Explananda einer Theorie der Vortrefflichkeit | 49 Allgemeine Explananda der Vortrefflichkeit | 50 Nichtsubstituierbarkeit | 50 Motivationaler Internalismus | 53 Supervenienz | 56 Spezifizierbarkeit | 58 Der Frege-Geach-Punkt | 60 Kategorizität | 61 Beziehungen zu anderen normativen Phänomenen | 65 Reue, Empörung, Kritik: Das Phänomen der Pflicht | 65 „Sprachloses Entsetzen“: das Böse | 72 Zusammenfassung | 78
4 4.1 4.2 4.3 4.3.1
Platon und die Metaphysik der Ideen | 81 Auf dem Weg zur Idee: Vorüberlegungen | 81 Ideen als Universalien | 86 Ideen als Individuen | 93 Die univoke Deutung | 94
X | Inhalt 4.3.2 4.4 4.5
Die systematisch-äquivoke Deutung | 99 Eigenschaften als Teilhabe an Ideen | 107 Zusammenfassung | 111
5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6
Die Struktur des metanormativen Platonismus | 112 Normativitätstheorie nach Mackie | 112 Thesen, Typen und Probleme | 119 Was ist ein abstraktes Objekt? | 123 Ideale und Relationen | 130 Der Platonismus und die Explananda der Vortrefflichkeit | 135 Zusammenfassung | 139
6 6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4 6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4 6.4
Plotin: Streben nach dem Einen | 141 Plotins Platonismus | 142 Plotin als metanormativer Realist | 143 Das Gut der Seele | 144 Was ist „das Eine“, und (wie) lässt sich darüber sprechen? | 149 Das Eine als „das Gute“ | 154 Die ontologische Deutung | 155 Die kausale Deutung | 157 Die voluntaristische Deutung | 158 Das angemessene Ziel des Strebens | 161 Kritik der Ethik Plotins | 165 Bedeutungslosigkeit von Tod und Leid | 167 Inadäquate Auffassung des Bösen | 170 Selbstzentriertheit | 172 Teleologische Unterordnung | 175 Zusammenfassung | 176
7 7.1 7.1.1 7.1.2 7.1.3
Iris Murdoch: die Idee der Vollkommenheit | 179 Murdochs Objektivismus der richtigen Sicht | 181 Der Gegenstand der Moral | 181 Bedeutung und Charakter dichter Begriffe | 185 Was unterscheidet gute von schlechten moralischen Begriffen? | 188 Konstruktivismus oder Realismus? | 191 Die Idee der Vollkommenheit | 197 Ein Ideal des Bewusstseins? | 197 Der Schatten Gottes? | 201 Magnet und Licht | 203
7.2 7.3 7.3.1 7.3.2 7.3.3
Inhalt | XI
7.4 8 8.1 8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.2.4 8.3 8.3.1 8.3.2 8.3.3 8.4
Zusammenfassung und Kritik | 210
8.6
Robert M. Adams: Gott als das unendlich Gute | 214 Bedeutung und Reichweite von Adams’ Theorie | 215 Die Theorie des Guten: Vortrefflichkeit als Gottähnlichkeit | 222 Die Phänomenologie der Vortrefflichkeit | 222 Gott als transzendente Idee des Guten | 224 Die Beziehung der Ähnlichkeit | 227 Das Schlechte und das Böse | 230 Kritik an Adams’ Theorie des Guten | 233 Zum Verhältnis von Semantik und Metaphysik | 234 Inkohärenz der Idee des Guten | 236 Schwierigkeiten mit der Ähnlichkeit | 237 Die Theorie der Pflicht: Moralische Pflichten als Forderungen Gottes | 242 Die Phänomenologie der Pflicht | 243 Pflichten als soziale Forderungen | 246 Moralische Pflichten als Forderungen Gottes | 248 Probleme für Adams’ Theorie der Pflicht | 251 Kritik an der Phänomenologie | 252 Spezifische Probleme einer theistischen Metaphysik der Pflicht | 253 Zusammenfassung | 259
9
Schlussbetrachtung | 261
8.4.1 8.4.2 8.4.3 8.5 8.5.1 8.5.2
Literatur | 275 Personenregister | 293 Sachregister | 297
1 Der Magnetismus des Guten. Zur Einleitung Ein meisterlich interpretiertes Orchesterwerk und ein vollendetes Gedicht, eine tiefe wissenschaftliche Theorie und der elegante Flug eines Greifvogels, eine große Persönlichkeit und eine heroische Tat, sie alle können in uns eine eigentümliche Erfahrung gefesselter und gleichzeitig freier Faszination hervorrufen. Kants Wort von der „Bewunderung und Ehrfurcht“, mit der der Anblick des Sternenhimmels „das Gemüt erfüllt“,¹ illustriert diese Erfahrung ebenso wie Goethe, der über seine erste Begegnung mit dem Straßburger Münster sagt: „Ein ganzer, großer Eindruck füllte meine Seele, den, weil er aus tausend harmonierenden Einzelnheiten bestand, ich wohl schmecken und genießen, keineswegs aber erkennen und erklären konnte. […] Schwer ist’s dem Menschengeist, wenn seines Bruders Werk so hoch erhaben ist, dass er nur beugen, und anbeten muss.“² Gemeinsam ist den Menschen, Werken und Ereignissen, die diese Erfahrung auslösen, dass sie in ihrer jeweils eigenen Weise weit über das gewöhnliche Maß des Menschen hinausweisen. Wie jede Erfahrung stellt sich auch diese dar als Erfahrung von etwas: In ihr scheint uns etwas „von außen“ gegenüberzutreten, was in seiner Existenz von unserem Dasein und Meinen unabhängig ist, etwas Großes, Herausragendes, Vollkommenes. Die Größe, die uns in Gegenständen der genannten Art begegnet, ist dabei nicht allein, nicht einmal in erster Linie, ein Übersteigen unseres Vorstellungsvermögens oder unserer Fähigkeiten. Vielmehr ragen solche Dinge dadurch heraus, dass sie nach Art und Grad in einer besonderen Weise gut sind, nicht etwa nur durch ihren Nutz- oder Symbolwert. Diesen Zug einer je eigenen, aber stets auch werthaft zu verstehenden Großartigkeit oder Vollkommenheit, englisch excellence, werde ich im Folgenden auch als Vortrefflichkeit bezeichnen. Mit der Betonung des Widerfahrnischarakters der Erfahrung soll kein Realismus präjudiziert werden; der Anschein der Unabhängigkeit ließe sich auch anders erklären. Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist jedoch eine Position, die die Erfahrung beim Wort nimmt: der Platonismus in der Theorie der praktischen Normativität, kurz metanormativer Platonismus. Er deutet die Vortrefflichkeit, sowohl die ethische von Personen als auch die ästhetische in Kunst und Natur, in realistischer Weise als ein Merkmal der Welt selbst und einzelner Elemente in ihr. Im Unterschied zu anderen realistischen Positionen in der Theorie der Normativität, die Werteigenschaften in der Regel als einfache Qualitäten verstehen, ist die Vortrefflichkeit für den metanormativen Platonismus eine (zweistellige) Relation, eine Beziehung. Denn das Vortreffliche verweist in all seiner Großartigkeit auf ein 1 Kant, „Kritik der praktischen Vernunft“, A 288. 2 Goethe, „Von Deutscher Baukunst“, S. 193f. https://doi.org/10.1515/9783110623871-001
2 | 1 Der Magnetismus des Guten. Zur Einleitung transzendentes Ideal, dem es in ungewöhnlicher Weise nahekommt, ohne es doch je ganz ausschöpfen zu können. Diese Intuition übersetzt der metanormative Platonismus in eine Metaphysik, indem er die Vortrefflichkeit eines Objekts versteht als den Grad, in dem es einem bestimmten idealen abstrakten Objekt entspricht. Das ist die Kernthese des metanormativen Platonismus, wie er hier verstanden werden soll; verschiedene Varianten ergeben sich dann dadurch, wie diese idealen abstrakten Objekte verstanden werden und welche Beziehung unter der Entsprechung zu verstehen ist. Einer genaueren Darstellung, theoretischen Einordnung und anschließenden Prüfung des metanormativen Platonismus hat jedoch eine Verständigung über seinen Gegenstand vorauszugehen. Deshalb sollen in diesem einleitenden Kapitel zunächst in Form einer phänomenologischen Vergewisserung wesentliche Züge der angedeuteten Erfahrung der Vortrefflichkeit herausgearbeitet werden (Abschnitt 1.1). Diese Erfahrung aber lässt sich nicht hinreichend beschreiben, ohne dasjenige in den Blick zu nehmen, was das inhärente Objekt dieser Erfahrung bildet. Daher schließt sich eine einordnende Analyse der Vortrefflichkeit anhand zentraler werttheoretischer Kategorien an, die gegenüber der Frage nach ihrem ontologischen Status und ihrer Konstitution noch vollkommen neutral bleibt (Abschnitt 1.2). Mit diesen Vorklärungen dürfte die Vortrefflichkeit als Gegenstand des metanormativen Platonismus klar genug umrissen sein, um die Einleitung mit einem Überblick über den weiteren Gang der Untersuchung abzuschließen (Abschnitt 1.3).
1.1 Eine phänomenologische Vorbetrachtung Vom Vortrefflichen geht eine charakteristische Wirkung aus, die sich – in Anlehnung an eine Formulierung von Iris Murdoch – treffend durch die Metapher vom „Magnetismus des Guten“ veranschaulichen lässt. Diese eigentümliche Anziehung nimmt in den verschiedenen Dimensionen der menschlichen Psyche unterschiedliche Formen an. Affektiv-leiblich kann uns das Vortreffliche spontan mit erhebender, weitender Bewunderung erfüllen; bereits Pseudo-Longinus, ein alexandrinischer Autor des 1. Jahrhunderts, spricht davon, dass „unsere Seele vom wirklich Erhabenen emporgetragen [wird], sie empfängt einen freudigen Auftrieb und wird erfüllt von Lust und Stolz, als habe sie, was sie hörte, selber erzeugt“.³ Kognitiv zieht das Vortreffliche die Aufmerksamkeit auf sich und setzt damit unter bestimmten Umständen einen Prozess des vertieften Verstehens in Gang. Volitional weckt es
3 Pseudo-Longinus, Vom Erhabenen, VIII.
1.1 Eine phänomenologische Vorbetrachtung |
3
das Verlangen, mit ihm in eine nähere Beziehung zu treten – entweder in Form des Besitzenwollens⁴ oder in dem Versuch, ihm, soweit es in unseren Kräften steht, gleich zu werden. Dabei versteht es sich, dass eine scharfe Trennlinie zwischen diesen verschiedenen Dimensionen nicht zu ziehen ist; so enthält die Bewunderung ein Moment kognitiver Wertschätzung, und das Verlangen geht stets mit einem Bewusstsein der Distanz einher. Dennoch verweist ihre wechselseitige Bezogenheit darauf, dass es sich in der Wurzel um Aspekte ein und derselben Reaktion handelt. Diese vielgestaltige, aber einheitliche Reaktion einer liebenden Bewunderung nenne ich mit Robert M. Adams Eros. Eros ist die subjektive Antwort auf den Magnetismus des Guten.⁵ Selbst angesichts desselben Gegenstands können sich Menschen darin unterscheiden, welches dieser Momente in den Vordergrund rückt, und ob diese Reaktion überhaupt auftritt, hängt zum Teil auch vom Vorliegen gewisser subjektiver Bedingungen ab. Aber dort, wo sie auftritt, sind nicht wir es, die in dieser Beziehung souverän sind; auch das drückt die Metapher des Magnetismus aus. Stets tritt uns in ihr etwas von außen entgegen, was größer ist als wir selbst. Wir messen es nicht an unseren Maßstäben, sondern werden gewissermaßen selbst von ihm gemessen. Dennoch hat das Überwältigende daran, anders als in der Erfahrung der Pflicht, keinen zwingenden oder nötigenden Charakter. Um wirksam zu werden, bedarf das Vollkommene einer gewissen Aufnahme- und Antwortbereitschaft aufseiten des Subjekts. Wenn diese vorhanden ist, wird die Begegnung mit der magnetischen Kraft nicht als Einschränkung, sondern als Erweiterung der eigenen Freiheit erfahren. Die beschriebene Erfahrung gleicht in vielen Zügen einer Erfahrung des Schönen oder des Erhabenen. Doch vermag das bloß ästhetisch Ansprechende, das Hübsche sie nicht auszulösen. Teil der Erfahrung des Vortrefflichen ist auch das Empfinden seiner Fremdartigkeit, Geheimnishaftigkeit und Unausschöpflichkeit. Goethe drückt dieses Merkmal mit Blick auf den Laokoon folgendermaßen aus: „Ein echtes Kunstwerk bleibt, wie ein Naturwerk, für unsern Verstand immer unendlich; es wird angeschaut, empfunden; es wirkt, es kann aber nicht eigentlich erkannt, vielweniger sein Wesen, sein Verdienst mit Worten ausgesprochen werden.“⁶ Bei aller von ihm ausgehenden Inspiration hat das Vortreffliche gleichzeitig etwas Unfassliches, Unbegreifliches, das der vollständigen Aneignung widersteht und bisweilen sogar verwirrend oder beunruhigend wirken kann. Es ist nicht vollständig in der Welt zuhause; es entzieht sich menschlichen Bedürfnissen und Begriffen. 4 Natürlich ein platonischer Gedanke: Symp. 206a. 5 Vgl. Adams, Finite and Infinite Goods, S. 19–23. Die vorliegende phänomenologische Vergewisserung verdankt viel der Darstellung bei Adams. Vgl. u. Abschnitt 8.2.1. 6 Goethe, „Über Laokoon“, S. 232.
4 | 1 Der Magnetismus des Guten. Zur Einleitung Diese Unauslotbarkeit, die eine wesentliche Bedingung seiner Faszinationskraft ist, kann als sein transzendenter Charakter bezeichnet werden. Soweit es sich um eine Erfahrung von Schönheit oder Erhabenheit handelt, ist sie zudem auch nicht auf das Feld des eigentlich Ästhetischen, auf das sinnlich Wahrnehmbare beschränkt. Ebenso wenig erschöpft sie sich in der Vollkommenheit einer Proportion, sei es in der von Teilen zueinander, sei es in der von eingesetzten Mitteln zu angestrebtem Ziel. Vielmehr – das ist zumindest eine der Voraussetzungen dieser Untersuchung – können auch Vorgänge aus dem Kernbereich dessen, was wir als das Ethische bezeichnen, eine im Wesentlichen qualitativ und strukturell gleiche Reaktion hervorrufen; und zwar insbesondere solche Handlungen, die über das allgemein Erwartbare weit hinausgehen und als heldenhaft oder heiligmäßig erscheinen.⁷ Diese Art von moralischer Größe findet sich am klarsten in den Extremsituationen, denen sich menschliches Dasein ausgesetzt sehen kann; der folgende Bericht aus dem Konzentrationslager Auschwitz mag geeignet sein, das Gemeinte zu veranschaulichen: Das Unerwartete ereignete sich mitten im Sommer. Bei einem Appell stellte sich heraus, dass ein Sträfling aus dem Block vierzehn fehlte. Er war nicht zu finden, offenbar war ihm die Flucht gelungen. Darauf verfügte der Lagerführer Karl Fritsch, ein unmittelbar dem Kommandanten Höß unterstelltes langjähriges Mitglied der SS, das Antreten aller Insassen des Blocks, ließ sie in der hochsommerlichen Hitze stundenlang ohne Nahrung in Achtungstellung stehen und teilte ihnen am Abend eine Kollektivstrafe mit, indem er zehn Mann zum Hungerbunker elf verurteilte. An der „Mauer des Todes“ erschossen zu werden, dazu waren die Insassen bereit, aber die Vorstellung von einem langsamen Hungertod presste ihnen die Tränen in die Augen. Unter den völlig willkürlich ausgewählten Männern befand sich auch ein Familienvater, der bei dem Gedanken an seine Frau und an seine zwei Knaben laut aufschrie. Er hieß Franz Gajowniczek, war Sergeant eines Infanterieregimentes und war wegen Flucht aus einem Gefangenenlager nach Auschwitz gekommen. Pater Kolbe kannte ihn nicht näher, und somit handelte es sich bei seiner folgenden Tat auch nicht um einen Freundschaftsdienst. Obschon es nicht gestattet war, sich auch nur ein wenig zu bewegen, verließ in diesem Moment Pater Kolbe seine Reihe, nahm seine Mütze ab und näherte sich demütig dem Lagerführer, der sofort erschrocken nach dem Revolver griff und ihn anschrie: „Steh! Was ist los?“ Pater Maximilian blieb vor Fritsch stehen und sagte mit leiser Stimme: „Ich möchte statt jenes Verurteilten in den Tod gehen.“ – „Warum?“ fragte der irritierte Lagerführer. Kolbe antwortete: „Ich bin allein, aber jener da hat Frau und Kinder.“ Fritsch vermochte offenkundig Pater Kolbes Blick nicht zu ertragen und fragte verwirrt: „Dein Beruf?“ – „Katholischer Priester“, antwortete Kolbe. Nach einem Augenblick peinlichen Schweigens, der alle Anwesenden in atemlose Erwartung versetzte, stieß der Lagerführer mit rauher Stimme die Worte hervor: „Geh!“⁸
7 Die Frage, ob und wie sich „Helden“ und „Heilige“ moralphilosophisch ausdeuten lassen, kann an dieser Stelle offen bleiben. Vgl. dazu Wolf, „Moral Saints“ und Adams’ Entgegnung in „Saints“. 8 Nigg, Maximilian Kolbe, S. 53/56.
1.1 Eine phänomenologische Vorbetrachtung |
5
Der Art, wie Maximilian Kolbe demütig und doch entschieden den grauenhaften Tod im Hungerbunker wählt, dürfte die moralische Anerkennung kaum zu versagen sein; und gewiss nötigt sie vielen Menschen weit mehr ab als nur Respekt, nämlich Bewunderung. Das liegt nicht allein daran, dass Kolbe supererogatorisch gehandelt hätte, also etwas Gutes getan hat, was nicht von ihm verlangt werden konnte, denn es gibt viele lobenswerte, aber nicht streng verpflichtende Handlungen, die uns kein derartiges Staunen abnötigen. Kolbe dagegen kann man in einer Weise bewundern, die die Anerkennung des Vorbildlichen, des Exemplarischen seines Handelns mit dem Eingeständnis der Entfernung verbindet, die uns von ihm trennt. Gerade die Frage, wie wir selbst uns in der entsprechenden Situation verhalten hätten, lässt aber jene weitere natürlich erscheinen, was einen Menschen überhaupt zu derartigem Handeln befähigt. Und obwohl wir nicht das Gefühl haben, hier sei lediglich der Pflicht Genüge getan worden, ist das Beispiel Maximilian Kolbes dazu angetan, den Wunsch zu erwecken, in seiner Nachfolge ähnlich fähig zu bedingungsloser Selbsthingabe zu werden. In all diesen Zügen – affektiv, kognitiv, volitional – unterscheidet sich die Reaktion des Eros, die durch Kolbes Tat ausgelöst werden kann, nicht prinzipiell von der Erfahrung des Vollkommenen in Kunst und Natur. Dies rechtfertigt es, von einer grundlegenden Verwandtschaft der Formen von Vortrefflichkeit auszugehen, wie sie uns an Kunstwerken, in Naturereignissen und in menschlich bewundernswerten Handlungen begegnet. Damit soll nicht geleugnet werden, dass es bedeutende Unterschiede zwischen einer großen Tat, einer inspirierten Jazzimprovisation und einem Sonnenaufgang über Seenebel gibt. Ein solcher Unterschied scheint darin zu liegen, dass wir uns dem Magnetismus des ethisch vortrefflichen Handelns schlechter entziehen können und auch weniger entziehen dürfen als dem ästhetischen. Zudem stellt die „moralische Schönheit“, die Vortrefflichkeit im Handeln, Forderungen der Nachahmung an den Betrachter selbst, die von Kunst- oder Naturwerken nicht ausgehen. Doch sind auch diese allem Anschein nach nicht frei von Ansprüchen an ihre Betrachter. Das reicht von ganz natürlich mit ihnen einhergehenden Anforderungen des Schützens und Bewahrens über die Aufforderung, sich in sie zu versenken, bis hin zu einer allgemeinen Mahnung zur Selbstvervollkommnung, wie sie beispielsweise die letzte Zeile von Rilkes Gedicht „Archaischer Torso Apollos“ enthält.⁹ Ein wesentlicher Zug der Erfahrung der Vortrefflichkeit ist also das Bewusstsein, dass der vortreffliche Gegenstand eine Reaktion der liebenden Bewunderung 9 Will man dennoch einen eigenen Ausdruck für die spezifisch sittliche Form der Vortrefflichkeit, so dürfte am ehesten der des Edlen treffend sein. Vgl. dazu etwa Hartmanns Ausführungen in seiner Ethik, S. 391–401, aber auch Roger Crisp, „Iris Murdoch on Nobility and Moral Value“. Im Folgenden wird der Begriff des Edlen jedoch keine prominente Rolle spielen.
6 | 1 Der Magnetismus des Guten. Zur Einleitung nicht nur kausal hervorruft, sondern sie auch verdient, dass er sie angemessen macht, vielleicht sogar verlangt. Der Magnetismus des Guten hat somit außer einem motivationalen auch einen normativen Aspekt. Das bedeutet nicht automatisch, dass die Vortrefflichkeit in nichts anderem besteht als der Angemessenheit bestimmter Reaktionen, wie es sog. Fitting-attitude-Analysen des Guten vorsehen,¹⁰ oder dass die Bezeichnung als vortrefflich nur das Vorliegen anderer, natürlicher Eigenschaften anzeigt, die dann den eigentlichen Grund für die Angemessenheit der Bewunderung darstellen (sog. Buck-passing-Analysen).¹¹ Vielmehr scheint es intuitiv plausibel zu sagen, dass etwas bewundernswert sei, weil es vortrefflich ist, und nicht umgekehrt;¹² die Bewunderung präsentiert sich als eine durch ihren Gegenstand gerechtfertigte Reaktion, und zwar als eine Reaktion auf die von natürlichen Eigenschaften organisierte Vortrefflichkeit selbst, nicht als Reaktion auf diese natürlichen Eigenschaften (die an anderen Gegenständen vorliegen mögen, ohne Bewunderung zu verdienen).¹³ Phänomenologisch erscheint die Vortrefflichkeit damit als jene Eigenschaft, die die Reaktion des Eros in ihren verschiedenen Facetten sowohl auszulösen vermag als auch verdient.
1.2 Vortrefflichkeit als artrelatives finales Gutsein Nach diesem ersten, phänomenologischen Zugriff soll die Vortrefflichkeit im nun folgenden Abschnitt anhand zweier zentraler werttheoretischer Kategorien näher bestimmt werden. Wenn die Vortrefflichkeit eine Form des Gutseins ist, dann stellen sich für sie dieselben Fragen, die auch mit Bezug auf andere Arten des Guten diskutiert werden: Sind vortreffliche Dinge (Werke, Personen…) schlechthin vortrefflich, oder enthält diese Bezeichnung stets eine implizite Relativierung auf ihre Gattung? Wenn Letzteres, bedeutet dies nicht, dass die Kriterien dafür, was 10 Als erster Vertreter einer Fitting-attitude-Theorie wird meist Franz Brentano angeführt (Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, 1889). Als klassische Quellen gelten Broad, Five types of ethical theory und Ewing, The Definition of Good. In der Gegenwart wird ein Fitting-attitude-Ansatz etwa von Roderick Chisholm (Brentano and Intrinsic Value, 1986) und Michael Zimmerman (The Nature of Intrinsic Value, 2001) vertreten. Für nähere Ausführungen zu Fitting-attitude-Analysen vgl. Dancy, „Should we Pass the Buck?“, Rabinowicz und Rønnow-Rasmussen, „The Strike of the Demon: On Fitting Pro-attitudes and Value“ und Orsi, Value Theory, S. 10–15. 11 Der Begriff „Buck-passing-Ansatz“ geht zurück auf Thomas Scanlon, s. What We Owe to Each Other, S. 95–98. Als weiterer Hauptvertreter gilt Derek Parfit, vgl. etwa „Rationality and Reasons“ und On What Matters, S. 38 und Appendix B. Zum Buck-passing-Ansatz insgesamt s. auch Orsi, Value Theory, S. 10–15. 12 Vgl. bereits Blanshard, Reason and Goodness (1961), S. 268. 13 Zur Kritik am buck-passing account vgl. unten Kap. 8.2.1 (S. 217).
1.2 Vortrefflichkeit als artrelatives finales Gutsein
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ein vortreffliches Exemplar einer Art ist, im Begriff dieser Art selbst zu suchen sind? Und hängt der Wert dieses Exemplars dann nicht vom Wert der Art ab, so dass ihm ein intrinsischer Wert abzusprechen ist? Die Antworten auf diese Frage werden dabei metaphysisch noch vollständig neutral sein – sie beziehen sich lediglich auf die logische Grammatik des Begriffs der Vortrefflichkeit. Die Rede von der „Eigenschaft“ der Vortrefflichkeit ist in diesem Zusammenhang daher nur als nützliche façon de parler zu betrachten. Die These wird sein, dass sich die Vortrefflichkeit nur relativ zu einer jeweiligen Art begreifen lässt, es sich bei ihr aber gleichwohl um eine Form des finalen Gutseins handelt.
1.2.1 Der logisch attributive Charakter der Vortrefflichkeit Die Vortrefflichkeit nimmt in der Erfahrung des Eros einen jeweils eigenen Charakter an, je nachdem, welche Art von Objekt wir betrachten: das Fünfte Brandenburgische Konzert oder Seeing is Believing von Nico Muhly sind vortrefflich als Musikwerke, die Relativitätstheorie als wissenschaftliche Theorie, Pater Kolbes Tat als Handeln eines Menschen. Das unterscheidet sie beispielsweise von einer Farbe wie Grün, die an jedem möglichen Träger essentiell als dieselbe erscheint. Die Bezeichnung als vortrefflich dagegen lässt sich nicht abtrennen von dem jeweiligen Aspekt, unter dem etwas so bezeichnet wird. In dieser Hinsicht vergleicht sich die Vortrefflichkeit viel eher der Größe, die sich ebenfalls nicht ohne Berücksichtigung eines Maßstabs beurteilen lässt. In philosophischer Terminologie verhält sich die Vortrefflichkeit logisch attributiv. Dieser Ausdruck geht zurück auf den englischen Logiker Peter Geach. Sein einführendes Beispiel war das eines Flohs: Es kann große und kleine Flöhe geben; aber wenn wir den Satz „x ist ein großer Floh“ aufspalten wollten in die zwei logisch unabhängigen Sätze „x ist ein Floh“ und „x ist groß“, ergibt sich, dass ein großer Floh ein großes Tier ist, während ein kleiner Elefant ein kleines Tier ist.¹⁴ Die Lehre daraus ist, dass wir „groß“ in diesem Zusammenhang im Sinne von „groß-als-Floh“ verstehen müssen. Nun war Geach der Auffassung, auch „gut“ und „schlecht“ seien in all ihren Verwendungsformen stets attributive, niemals prädikative Adjektive. „Selbst wenn ‚gut‘ und ‚schlecht‘ als Prädikate allein stehen und somit grammatisch prädikativ sind“, schreibt Geach, „muss man ein Substantiv mitverstehen; nichts ist einfach so gut, sondern immer gut in einer bestimmten Art (a good so-and-so)“.¹⁵ Geachs These ist jedoch auf Kritik gestoßen; Gerechtigkeit, 14 Geach, „Good and Evil“, S. 33. 15 Ebd., S. 34. Zitate aus fremdsprachigen (v. a. griechischen und englischen) Texten sind zum Zwecke der besseren Lesbarkeit in deutscher Übersetzung angeführt; wo nicht anders angegeben,
8 | 1 Der Magnetismus des Guten. Zur Einleitung Wissen oder Lust seien beispielsweise gut, auch wenn sie nicht sinnvoll als gut in einer bestimmten Art bezeichnet werden können.¹⁶ Doch wie auch immer es damit stehen mag, es scheint, dass zumindest die Vortrefflichkeit attributiv zu verstehen ist. Denn Sokrates kann beispielsweise ein vortrefflicher Philosoph gewesen sein, aber kein guter Ehemann. Ein Text kann trefflich als Dichtung sein, aber dürftig als Philosophie. Mit anderen Worten: Nichts, was sich unter eine Art subsumieren lässt, ist schlechthin vortrefflich, sondern immer nur relativ zu einer Bezugsklasse. Man könnte hier auch von einem (Art-)relativen Gutsein sprechen, wobei alle Assoziationen eines normativen, z. B. kulturellen Relativismus natürlich fernzuhalten sind. Viel eher legt die Bezogenheit auf einen Artbegriff die Hoffnung nahe, aus ihm objektive Kriterien für die Bewertung der jeweiligen Individuen ableiten zu können; Geach will beispielsweise von den Begriffen „Mensch“ und „menschliche Handlung“ zu „guter Mensch“ bzw. „gute menschliche Handlung“ übergehen, die dann ebenfalls „rein deskriptiv“ verstanden werden sollen,¹⁷ so wie man die Kriterien eines guten Messers an seinem Begriff ablesen kann. Da dies eine Bezugnahme auf die biologische Natur des Menschen beinhaltet,¹⁸ hat dieses Forschungsprogramm den Namen eines „aristotelischen Naturalismus“ erhalten. Es liegt daher nahe, eine Anerkennung des logisch-attributiven Charakters der Vortrefflichkeit mit der „naturalistischen“ These zu assoziieren, dass sich Kriterien für ein vortreffliches Exemplar einer Art aus ihrem Begriff entwickeln lassen. Doch ist dies tatsächlich der Fall, oder kann man die Artrelativität der Vortrefflichkeit auch unabhängig von einem im Artbegriff mitgegebenen Maßstab vertreten? Um diese Frage zu beantworten, ist es hilfreich, zunächst mit Georg Henrik von Wright zwei Arten des logisch attributiven Gutseins zu unterscheiden: instrumentelles und technisches Gutsein.¹⁹ Etwas ist dann instrumentell gut, wenn es gut als etwas ist, was durch einen weiteren Zweck vollständig bestimmt ist. Der Zweck eines Rennrads ist die möglichst schnelle Fortbewegung ohne Antriebshilfe; daraus leiten sich die weiteren Merkmale eines guten Rennrads ab, etwa geringes Gewicht oder effektive Kraftübertragung. Das instrumentelle Gutsein ist jedoch nicht auf Artefakte beschränkt. Organe dienen einem Zweck, sie sind „für etwas da“, ohne dass man notwendigerweise annehmen müsste, dieser Zweck sei ihnen
stammt die Übertragung vom Verfasser. Um gleichwohl die Nachvollziehbarkeit zu sichern, ist dort, wo verschiedene Übersetzungen als möglich erscheinen, der Originaltext kursiviert in Klammern beigefügt. 16 So etwa Zimmerman, The Nature of Intrinsic Value, S. 24. Vgl. auch Orsi, Value Theory, S. 56–61, und Rowland, „In Defence of Good Simpliciter“. 17 Geach, „Good and Evil“, S. 39. 18 Vgl. beispielsweise Midgley, Beast and Man und Foot, Natural Goodness. 19 Von Wright, The Varieties of Goodness, S. 19.
1.2 Vortrefflichkeit als artrelatives finales Gutsein
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von jemandem zugewiesen worden. Der Zweck oder die natürliche Funktion der Lunge ist die Sauerstoffaufnahme, und eine gute Lunge ist entsprechend eine, die in kurzer Zeit große Mengen an Sauerstoff ans Blut abgeben kann.²⁰ Schließlich kann etwas auch situativ instrumentell gut als etwas sein, ohne dass es selbst dem entsprechenden Typus eigentlich zugehört. Ein Stein ist gut „als Hammer“, wenn er sich für den Zweck nutzen lässt, dem normalerweise ein Hammer dient, auch wenn er dadurch nicht selbst zu einem Hammer wird. In all diesen Fällen kann man das instrumentelle Gutsein auf die Fähigkeit zurückführen, einen vorgegebenen Zweck zu erfüllen. Es liegt auf der Hand, dass die Vortrefflichkeit, als Gegenstand der Erfahrung des Eros, nicht mit dem instrumentellen Gutsein gleichgesetzt werden kann. Zwar sprechen wir auch von einem vortrefflichen Konzertflügel und bewundern die Präzision des Anschlags, den dynamischen Umfang und die Sauberkeit der handwerklichen Verarbeitung. Dennoch kann vermutlich auch die vollkommenste Umsetzung der Anforderungen an ein Instrument nicht die beschriebene Erfahrung der magnetischen Anziehung in all ihren Dimensionen auslösen, wenn nicht etwas Entscheidendes hinzutritt und ihm etwa eine ästhetische Dimension eignet, die über die funktionale Vollkommenheit hinausgeht – sonst müsste beispielsweise die exakte Digitaluhr stets eine größere Bewunderung hervorrufen als die mechanische Armbanduhr mit etwas geringerer Ganggenauigkeit. Das schließt umgekehrt nicht aus, dass das Vortreffliche auch nützlich zum Erreichen bestimmter kontingenter Ziele sein kann; manche bedeutende Komposition eignet sich auch als Wiegenlied. Aber selbst dann ist sie nicht insofern vortrefflich, als sie zur Erfüllung dieses (oder eines anderen) Zwecks beiträgt. Das Vortreffliche kann instrumentell gut und das instrumentell Gute vortrefflich sein, aber Vortrefflichkeit und instrumenteller Wert bleiben dennoch verschiedene Formen attributiven Gutseins. Wenn also die Vortrefflichkeit eine andere Qualität ist als der instrumentelle Wert, handelt es sich dann um das technische Gutsein? Darunter versteht von Wright das „Gutsein von Fähigkeiten, Vermögen oder Fertigkeiten“.²¹ Nun ist natürlich niemand als Dichter oder Dirigent vortrefflich, ohne in einem langjährigen Prozess den höchsten Grad an technischer Meisterschaft in seinem Metier erworben zu haben. Aber schon die Vortrefflichkeit großer Künstler geht kaum in ihrer Beherrschung der technischen Mittel ihres Faches vollständig auf. Wichtiger ist jedoch, dass die in Frage stehende Art des Gutseins keineswegs auf die Fähigkeiten 20 Von Wright selbst unterscheidet freilich das „medizinische Gutsein“, das Organen zukommt, vom instrumentellen Gutsein (The Varieties of Goodness, S. 52), für die gegenwärtigen Zwecke sind die Unterschiede jedoch vernachlässigbar. 21 Ebd., S. 33.
10 | 1 Der Magnetismus des Guten. Zur Einleitung von Personen beschränkt ist, sondern sich, wie eingangs festgehalten, ebenso an Werken, einzelnen Handlungen und Naturvorkommnissen findet. Das schließt unmittelbar aus, dass die Vortrefflichkeit mit von Wrights technischem Gutsein identisch ist. Zudem ist auch – dem aristotelischen Ergon-Argument zum Trotz – dort, wo wir jemanden als gut als Mensch bezeichnen, nur schwerlich eine zugehörige Aktivität auszumachen, in der sich diese Person auszeichnet. Während das technische Gutsein immer als Gutsein „in“ einer bestimmten Tätigkeit gefasst werden kann, gilt dies zumindest nicht für jede Art von Vortrefflichkeit. Bei der Vortrefflichkeit handelt es sich demnach um eine logisch attributive Form des Gutseins, die weder mit dem instrumentellen noch mit dem technischen Gutsein identisch ist. Dennoch kann das technische Gutsein möglicherweise als Schlüssel für eine genauere Formulierung der Eigenart der Vortrefflichkeit dienen, wenn wir beachten, dass bestimmte Formen des technischen Gutseins selbst Vortrefflichkeiten darstellen. Welche sind das? Für viele Aktivitäten gibt es Tests, die wir nach von Wright in Kriterien- und Symptom-Tests unterscheiden können; Symptomtests stellen lediglich das Vorhandensein bestimmter Merkmale fest, die kausal für eine bestimmte Aktivität relevant sind, während Kriterientests logisch mit der Aktivität verbunden sind in dem Sinne, dass etwas, was in diesem Test versagt, aus begrifflichen Gründen kein gutes Exemplar der entsprechenden Art mehr sein kann.²² So können etwa ein gutes räumliches Vorstellungsvermögen und ein allgemein scharfes Gedächtnis als Symptomtests für die Fähigkeiten im Schachspiel dienen: Sie stellen Eigenschaften fest, die einen, wenn sie vorhanden sind, zu einem guten Schachspieler machen. Dagegen ist der bessere Schachspieler derjenige, der sich in einer Serie von Partien durchsetzt, weil das Spiel wesentlich eine kompetitive Angelegenheit ist. Daher stellen Wettkämpfe über mehrere Partien einen adäquaten Kriterientest für das (relative) Gutsein im Schachspiel dar. Solche Kriterientests gibt es für viele Aktivitäten, nicht nur für sportliche oder kompetitive. Auch für die meisten beruflichen Tätigkeiten, etwa das ärztliche Heilen oder den Unterricht von Lehrern, lassen sich prüfbare Erfolgskriterien angeben, auch wenn in diesen Fällen – im Unterschied zu Spielen – der Praxis als ganzer ein Zweck vorausgeht und der Erfolgsmaßstab ihr somit gewissermaßen extern ist. Bestimmte andere Tätigkeiten, zu denen von Wright neben dem eigentlichen Kunstschaffen auch Wissenschaft und Philosophie zählt, weisen dagegen weder immanente noch externe Kriterien auf, anhand derer man das Gutsein bestimmen kann.²³ Natürlich gibt es eine ganze Reihe von Bedingungen, die erfüllt sein müs-
22 Von Wright, The Varieties of Goodness, S. 36f. 23 Ebd., S. 38.
1.2 Vortrefflichkeit als artrelatives finales Gutsein
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sen, wenn man beispielsweise ein guter Pianist sein will, wie etwa eine gewisse Virtuosität oder ein Verständnis für die Entstehungsbedingungen der interpretierten Musikwerke. Aber der beste Pianist ist nicht notwendig der virtuoseste, und ein frischer, „unverbildeter“ Blick auf das Werk kann bisweilen zu besseren Interpretationen führen als die intimste Kenntnis der historischen Zusammenhänge. Selbst wenn das Gutsein als Künstler voraussetzt, über eine bestimmte durch Kriterientests prüfbare Meisterschaft zu verfügen, geht die Vortrefflichkeit also darüber hinaus. Gleichwohl bleibt es eine Vortrefflichkeit in einer bestimmten Aktivität und daher auch eine Form des technischen Gutseins, selbst wenn alle Assoziationen der Beherrschung eines Systems von Regeln hier fernzuhalten sind. Die Arten der Vortrefflichkeit, die ein Gutsein in einer Aktivität oder Fähigkeit bezeichnen (was, wie wir gesehen haben, keineswegs für jede Vortrefflichkeit gilt), unterscheiden sich daher, können wir festhalten, von den nicht-vortrefflichen Formen technischen Gutseins durch ihre Nichtzugänglichkeit für Kriterientests. Diese Bestimmung lässt sich ausweiten. Denn auch in den anderen genannten Beispielen für das, was ich Vortrefflichkeit nenne, lassen sich keine logisch mit dem zugehörigen Genus verbundenen Kriterientests ausmachen, anhand derer sich der jeweilige Grad an Gutsein bestimmen ließe. Eine herausragende Statue ist als Statue herausragend (und nicht nur herausragend und eine Statue), aber es gibt keinen Test, der sich aus dem Begriff einer Statue entwickeln ließe und uns ein vortreffliches Exemplar von einem weniger vortrefflichen unterscheiden ließe. Ein großartiger Baum ist als Baum groß (und nicht als Lebensraum oder als Brennholz), aber wir können ihn nicht anhand von Kriterien erkennen, die im Begriff des Baumes liegen. Gleichfalls ist auch ein vortrefflicher Mensch als Mensch vortrefflich, nicht als Familienvater oder als Schachspieler; aber es gibt keinen Kriterientest, dem wir ihn unterwerfen könnten. Bedenkt man nun, dass sich auch das instrumentelle Gutsein durch Kriterientests abprüfen lässt (zwar nicht durch Wettkampftests wie beim Schachspiel, aber doch durch Leistungstests), dann können wir die Vortrefflichkeit überhaupt als diejenige Form des „Gutseins in einer Art“ oder logisch attributiven Gutseins fassen, die sich weder direkt noch indirekt durch Kriterientests bestimmen lässt. Da sich Kriterientests auf die optimale Erfüllung von Bedingungen zurückführen lassen, die in dem jeweiligen Artbegriff – dem „Substantiv, das man mitverstehen muss“ – mitgegeben sind, ist damit gegen Geach gezeigt, dass die Anerkennung des logisch attributiven Charakters der Vortrefflichkeit keineswegs bedeutet, dass ihr Maßstab in dem zugehörigen Artbegriff zu suchen ist.²⁴
24 Eine ähnliche These vertritt auch Blackman, „Meta-Ethical Realism with Good of a Kind“.
12 | 1 Der Magnetismus des Guten. Zur Einleitung Man kann sich fragen, was es dann überhaupt noch heißen soll, gut „in einer Art“ zu sein. Dort, wo mit dem Artbegriff Kriterien gegeben sind wie etwa beim Rennrad, ist die Antwort klar: Gut als Rennrad zu sein bedeutet eben, die Kriterien eines Rennrads zu erfüllen. Was aber heißt es, gut als Gemälde zu sein, wenn der Begriff des Gemäldes keine solchen Kriterien enthält? Damit muss doch mehr gemeint sein als nur die bloße Zugehörigkeit zur Gattung der Gemälde. Die Antwort muss in der Erfüllung von sowohl allgemeineren als auch für die jeweilige Art spezifischen Maßstäben zu suchen sein. Ein großes Gemälde ist etwa auch dadurch groß, dass es uns neue, zuvor ungekannte Weisen eröffnet, die Welt – oder, abstrakter, Farbverhältnisse, Strukturen, Texturen – darzustellen und wahrzunehmen. Es bleiben also Eigenschaften, die dem Gemälde gerade als Gemälde zukommen, in denen seine Vortrefflichkeit gründet. Ähnlich im Falle der moralischen Größe: Maximilian Kolbe ist groß als Mensch durch seinen Opfermut, seine Entschiedenheit und seine Todesverachtung; Eigenschaften, Qualitäten des Menschen als solchen, nicht in einer bestimmten Rolle. In beiden Fällen kommt das Vortreffliche seinem jeweils spezifischen Maßstab außergewöhnlich nahe – nur dass sich dieser Maßstab nicht aus dem zugehörigen Artbegriff entwickeln lässt.
1.2.2 Der finale Wert der Vortrefflichkeit Kann man diese Überlegungen so zusammenfassen, dass ein vortreffliches Gemälde – im Unterschied zu einem Rennrad, selbst einem optimal funktionstüchtigen – intrinsisch gut ist? Das hängt davon ab, was mit diesem mehrdeutigen Ausdruck gemeint sein soll. G. E. Moore definiert den Begriff in seinem Aufsatz „The Conception of Intrinsic Value“ von 1922 wie folgt: „Zu sagen, eine Art von Wert sei intrinsisch, bedeutet lediglich, dass die Frage, ob und in welchem Grade etwas ihn besitzt, ausschließlich von der inneren Natur des fraglichen Gegenstandes abhängt.“²⁵ Die „innere Natur“ bezeichnet dabei im Wesentlichen die Gesamtheit seiner nicht-relationalen Eigenschaften, also diejenigen seiner Eigenschaften, die nicht konstitutiv Bezug auf andere Entitäten nehmen. Extrinsisch gut ist etwas entsprechend dann, wenn sein Gutsein nur durch Bezugnahme auf seine Beziehungen zu anderen Gegenständen bestimmt werden kann. Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob etwas um seiner selbst willen oder wegen seiner Beziehung zu etwas anderem schätzenswert ist. Das Erstere kann man ebenfalls „intrinsisch“ nennen, aus Gründen der terminologischen Präzision empfiehlt es sich aber, einen anderen Ausdruck zu wählen, etwa den des
25 Moore, „The Conception of Intrinsic Value“, S. 260.
1.2 Vortrefflichkeit als artrelatives finales Gutsein
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final Guten. Ihm entgegengesetzt ist dann das nicht-final oder sekundär Gute.²⁶ Dinge können auf verschiedene Weise „um etwas anderen willen“ schätzenswert sein: weil sie wie die Nahrung kausal zur Herstellung oder zum Erhalt von etwas Wertvollem beitragen (instrumentelles Verhältnis), weil sie wie der Generalbass in einem barocken Instrumentalwerk einen Teil von etwas Wertvollem darstellen (kontributives oder konstitutives Verhältnis) oder weil sie wie ein Ring etwas Wertvolles repräsentieren (symbolisches Verhältnis). Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass ihr Wert nur besteht, wenn und weil etwas anderes, zu dem sie in einer an sich evaluativ neutralen Beziehung stehen, wertvoll ist. Genau dies ist bei dem final Guten, dem um seiner selbst willen Schätzenswerten, nicht der Fall: Es ist dasjenige, dessen Wert sich nicht vom Wert von etwas anderem herleitet. Nun ist klar, dass etwas, was nicht-final gut ist, nicht intrinsisch gut sein kann, denn sein Wert hängt dann ja von seinen Beziehungen zu einem anderen Gegenstand (im weitesten Sinne) ab; und ebenso (Kontraposition), dass das intrinsisch Gute auch final gut sein muss.²⁷ Umgekehrt kann jedoch keineswegs als ausgemacht gelten, dass etwas, das seinen Wert aus der Beziehung zu etwas anderem bezieht, daher auch aufgrund des Gutseins von anderem wertvoll ist, dass das extrinsisch Wertvolle also auch nicht-final gut ist. Eine seltene Erstausgabe, etwa von Hobbes’ Homer-Übersetzung, mag einen Teil ihres Wertes der Tatsache verdanken, dass sie selten ist – dies aber ist eine relationale, keine intrinsische Eigenschaft. Dennoch ist sie final, d. h. um ihrer selbst willen schätzbar, weil ihr Wert in diesem Falle nicht auf das Gutsein irgendeines anderen Objektes zurückzuführen ist.²⁸ Unterscheidet man in dieser Weise zwischen intrinsischem und finalem Gutsein, wie ist dann die Vortrefflichkeit einzuordnen? Zunächst ist festzuhalten, dass es sich bei ihr um eine Form des finalen Gutseins handelt: Auch wenn sich die Villa Rotonda nur als Bauwerk angemessen schätzen lässt, schätzen wir sie gleichzeitig doch um ihrer selbst willen – es ist nicht ihre Zugehörigkeit zur Art der Bauwerke, die sie uns als besonders großartig erscheinen lässt, denn diese könnte ihr wiederum allenfalls instrumentellen Wert zu verleihen. (Dieser mag sogar geringer 26 Das nicht-finale Gutsein mit dem instrumentellen Gutsein gleichzusetzen, wie dies Korsgaard („Two Distinctions in Goodness“, S. 170) tut, scheint z. B. der Möglichkeit nicht gerecht zu werden, dass wir manche Dinge – wie etwa einen Ring – nicht um ihrer selbst willen, aber auch nicht nur als Mittel wertschätzen, sondern ihrer symbolischen Bedeutung wegen. Vgl. Dancy, Ethics Without Principles, S. 165, und Langton, „Objective and Unconditioned Value“, S. 162–164. (Für die Literaturhinweise danke ich Philipp Schwind.) 27 Vgl. Rabinowicz und Rønnow-Rasmussen, „A Distinction in Value – Intrinsic and For Its Own Sake“, S. 116. 28 Ähnlich argumentieren auch Kagan, „The Limits of Well-Being“, S. 184, O’Neill, „The Varieties of Intrinsic Value“, S. 124, und Rabinowicz und Rønnow-Rasmussen, „A Distinction in Value – Intrinsic and For Its Own Sake“, S. 121f.
14 | 1 Der Magnetismus des Guten. Zur Einleitung sein als bei einem zweckmäßigeren, aber architektonisch weniger herausragenden Gebäude. Goethe nennt die Villa Rotonda „wohnbar, aber nicht wöhnlich“.) Es ist also insbesondere nicht der besondere Wert der Art Gebäude, von dem das Gutsein des palladianischen Landhauses abhängt. Ähnlich verhält es sich bei den anderen eingangs genannten Beispielen für die Vortrefflichkeit: Kunstwerke und Gegenstände der Natur sind ebenso um ihrer selbst willen schätzenswert wie tiefe wissenschaftliche Theorien. Es gilt aber auch für die ethische Leistung eines Pater Kolbe. Auch wenn deren Wert sich nicht ohne den Wert des durch sie gesicherten Gutes (das Leben des Mitgefangenen) verstehen lässt, eignet ihr mehr als ein nur instrumenteller Charakter. Gleichwohl bleibt es möglich, dass dieser Wert von der Beziehung auf etwas anderes abhängt und insofern ontologisch extrinsisch ist, etwa dann, wenn man die Artzugehörigkeit im platonischen Sinne als Beziehung auf eine transzendente Idee oder ein abstraktes Objekt deutet. Doch kann diese Frage zunächst offenbleiben. Wesentlich für das Verständnis der Vortrefflichkeit im hier gemeinten Sinne ist dagegen, dass es sich bei ihr um ein artrelatives, aber finales Gutsein handelt – ein Gutsein, das nur vor dem Hintergrund einer bestimmten Artzugehörigkeit verständlich ist, seinen Träger aber nichtsdestotrotz um seiner selbst willen wertvoll macht. Diese Art der Vortrefflichkeit stellt gleichzeitig, um es in einem Bild zu sagen, den Leuchtturm dar, der das ganze Feld des Gutseins in seiner jeweiligen Art erhellt und Orientierung bietet. Weniger metaphorisch gesprochen, ist die Vortrefflichkeit der Ansatzpunkt und der Maßstab für ein angemessenes Verständnis auch der Art und des Grades des Gutseins anderer Exemplare derselben Art, die sich an ihrer jeweiligen Nähe zu den herausragenden Vertretern bemisst. Die Deutung und Erklärung dieses ganzen, durch die Vortrefflichkeit aufgespannten Feldes des (final, aber artrelativ) Guten durch den metanormativen Platonismus stellt das Thema dieser Arbeit dar. Obwohl die Tugend (als Inbegriff des moralischen Gutseins des Menschen) einen wichtigen Bestandteil der Vortrefflichkeit des Menschen ausmacht, ist die gemeinte Art des Gutseins doch nichts weniger als eng moralisch. Wenn daher im Folgenden von einem „metanormativen“ – und nicht nur einem „metaethischen“ – Platonismus die Rede ist, so reflektiert dies den Umstand, dass darunter eine Position der allgemeinen Werttheorie verstanden werden soll, die etwa auch die ästhetische Dimension der Vortrefflichkeit umfasst. Dennoch ist die Vortrefflichkeit in zweierlei Weise von ethischer Relevanz, wenn man diesen Ausdruck auf die Lebensführung insgesamt, nicht nur auf den Umgang mit anderen Menschen beziehen möchte. Zum einen gibt es, wie oben am Beispiel Maximilian Kolbes gezeigt werden sollte, eine spezifisch moralische Vortrefflichkeit; zum anderen ist die Vortrefflichkeit des Menschen nicht beschränkt auf zwischenmenschliches Wohlverhalten oder selbst vorbildliche Tugendhaftigkeit, sondern kann sich auch
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in der Liebe zum Vortrefflichen in Kunst oder Natur niederschlagen. Damit, so ist zu hoffen, leistet diese Arbeit auch einen Beitrag zur Überwindung der fragwürdigen Verengung des ethischen Denkens auf die Frage, was im zwischenmenschlichen Umgang erlaubt und was verboten sei. Die Beziehungen des Menschen zu der ganzen ihn umgebenden Welt, einschließlich der Natur und der Kunst, in den Blick nehmen zu können, ist gerade ein Anliegen und ein Vorzug des metanormativen Platonismus – wie zu zeigen sein wird.
1.3 Gang der Untersuchung In dieser Arbeit soll der metanormative Platonismus als systematische Theorie der Vortrefflichkeit auf seine Erklärungskraft untersucht werden. Diesem übergeordneten Ziel nähert sich die Untersuchung in vier Teilschritten. Erstens ist zu klären, was von einer Theorie der Vortrefflichkeit überhaupt geleistet werden soll. Sodann bedarf es einer präzisen Bestimmung der definierenden Thesen des Platonismus in Abgrenzung zu anderen normativitätstheoretischen Positionen. Auf dieser Grundlage werden, drittens, die explanatorischen Stärken und Schwächen des Platonismus in seiner allgemeinen Struktur herauszuarbeiten sein. Viertens schließlich bleibt zu analysieren, welche Varianten des Platonismus sich unterscheiden lassen und wie diese mit denjenigen Desiderata einer Theorie der Vortrefflichkeit umgehen können, die auf der Ebene der allgemeinen Struktur keine befriedigende Erklärung finden. Der Aufbau dieser Untersuchung orientiert sich an diesen vier Aufgaben. Demgemäß sind die Kapitel 1 bis 3 der phänomenologischen und werttheoretischen Beschreibung der Vortrefflichkeit, der methodologischen Reflexion über die Normativitätstheorie im Allgemeinen und der Bestimmung der Explananda einer Theorie der Vortrefflichkeit gewidmet. Anschließend bereitet Kapitel 4 durch die Entwicklung einer Interpretation der platonischen Ideenlehre den Boden für die Beschreibung der allgemeinen Struktur des metanormativen Platonismus und die Prüfung anhand der herausgearbeiteten Explananda in Kapitel 5. Die Kapitel 6 bis 8 befassen sich schließlich anhand der Lehren Plotins, Iris Murdochs und Robert Adams’ mit der exemplarischen Darstellung und Kritik dreier unterschiedlicher Unterformen des metanormativen Platonismus. Nachdem einleitend bereits der Magnetismus der Vortrefflichkeit als deren zentrales phänomenologisches Merkmal sowie der logisch attributive und finale Charakter als ihre wesentlichen werttheoretischen Kennzeichen dargestellt worden sind, widmet sich das folgende Kap. 2 im Sinne eines Methodenkapitels der Theoriebildung und Theorienwahl im Bereich der Normativitätstheorie. Die These wird lauten, dass metanormative Theorien am plausibelsten als komplexer
16 | 1 Der Magnetismus des Guten. Zur Einleitung Schluss auf die beste Erklärung zu verstehen sind: Sie stellen den Versuch dar, eine bestimmte Hypothese aufgrund gewisser Kriterien als die beste Erklärung von Phänomenen der praktischen Normativität zu empfehlen. Das wirft die Fragen auf, um welche Art von erklärungsbedürftigen Phänomenen es geht, in welchem Sinne diese erklärt werden sollen und woran sich die beste Erklärung erkennen lässt. Die zu erklärenden Phänomene bestehen, so werde ich argumentieren, in den sprachlichen Regeln für den Gebrauch normativer Ausdrücke, die festlegen, welche kommunikativen Akte man mit ihnen vollziehen kann. So scheint es beispielsweise nicht möglich zu sein, angesichts zweier in ihren natürlichen Eigenschaften vollkommen identischer Objekte zu sagen, das eine von ihnen sei gut, das andere nicht (Supervenienz). Die Art der Erklärung, die solche linguistischen Normen durch metanormative Theorien erfahren, unterscheidet sich jedoch von Kausalerklärungen insofern, als es hier nicht um die Beschreibung von Entstehungsbedingungen, sondern um den systematischen Ort in der Wirklichkeit, den Zusammenhang mit anderen Phänomenen und Entitäten geht. Was dabei als die beste Erklärung zu gelten hat, folgt im Wesentlichen denselben Kriterien wie in anderen Bereichen (etwa Einfachheit oder Vereinheitlichungsgrad), doch mit der Besonderheit, dass in die Bewertung metanormativer Theorien auch normative Hintergrundannahmen einfließen. Für die weitere Untersuchung des metanormativen Platonismus als Theorie eines Teilfeldes der praktischen Normativität, nämlich der Vortrefflichkeit, folgt daraus, dass zunächst ihre Explananda näher zu bestimmen sind: die Regeln, die den Gebrauch sprachlicher Ausdrücke in diesem Feld leiten, vor allem den des Guten, insofern er im Sinne von „vortrefflich“ verwendet wird. Dieser Aufgabe wendet sich Kap. 3 zu. Zu den erklärungsbedürftigen allgemeinen semantischen Regeln der Vortrefflichkeit zählt zunächst ihr logisch attributiver Charakter selbst, insbesondere in Verbindung mit ihrer Finalität. Die Vortrefflichkeit zeichnet sich jedoch noch durch weitere, ebenfalls erklärungsbedürftige Regularitäten aus. Ein zuverlässiger Zugang zu diesen sprachlichen Normen ist in einem Rückgriff auf die Geschichte der Metaethik des 20. Jahrhunderts zu finden, hat sich doch gerade diese philosophische Disziplin der Analyse moralsprachlicher Phänomene zur Stützung und Kritik ihrer Positionen in besonderem Ausmaß bedient. Dabei lassen sich zumindest sechs charakteristische Regeln der logischen Grammatik von „gut“ aufzeigen, die von unterschiedlichen metaethischen Theorien mehr oder minder einhellig als solche anerkannt, aber in völlig verschiedener Weise erklärt werden. Zu ihnen zählt neben der schon erwähnten Supervenienz beispielsweise die Kategorizität: Wer etwas als „gut“ bezeichnet, scheint damit zugleich zum Ausdruck bringen zu wollen, dass jeder – unabhängig von seinen Vorlieben – Grund hat, sich diesem Objekt gegenüber in bestimmten Weisen zu verhalten, es etwa nicht zu zerstören. Außer diesen sechs Regeln sind auch die Beziehungen des
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Guten zu anderen Phänomenen der normativen Erfahrung erklärungsbedürftig, insbesondere die zum Bösen und zur Pflicht. Einerseits lassen sich diese Phänomene nicht ohne Weiteres auf das Gute zurückführen; andererseits sind sie davon nicht völlig unabhängig, insofern beispielsweise in der Regel nur gute Handlungen unsere Pflicht sein können. Diese Zusammenhänge näher zu erhellen, stellt ebenfalls ein Explanandum einer Vortrefflichkeitstheorie dar. Zur Vorbereitung der allgemeinen Charakterisierung des Platonismus wird in Kap. 4 eine Interpretation der platonischen Ideenlehre vorgestellt, der zufolge die Ideen nicht als allgemeine Eigenschaften, sondern als individuelle Objekte zu betrachten sind. Diese individuellen Objekte zeichnen sich gegenüber konkreten Gegenständen dadurch aus, dass ihre jeweilige Bestimmtheit für sie nicht nur notwendig, sondern auch spezifisch ist. Kein anderer Gegenstand kann daher dieser Interpretation zufolge die individuelle Bestimmtheit einer Idee aufweisen, so dass diese Idee letztlich mit dieser Bestimmtheit selbst identisch ist. Die Eigenschaften konkreter Einzeldinge lassen sich dann verstehen als Beziehungen der Ähnlichkeit oder Nachahmung zur individuellen Idee. Ziel kann es dabei nicht sein, diese Interpretation als die korrekte zu erweisen, sondern nur, sie soweit zu plausibilisieren, dass sie als Anknüpfungspunkt für die Beschreibung des systematischen metanormativen Platonismus dienen kann (und die Wahl seines Namensgebers rechtfertigt). Kapitel 5 unternimmt es dann, eingebettet in einen skizzenhaften Überblick über die normativitätstheoretische Debatte der jüngeren Vergangenheit, den metanormativen Platonismus als systematische Theorie allgemein darzustellen. Während der Ausdruck „Platonismus“ heute, vielleicht unter dem Einfluss des Sprachgebrauchs in der Philosophie der Mathematik, meist gleichbedeutend mit „Realismus“ gebraucht wird, bezeichnet er im Zusammenhang dieser Arbeit eine spezifischere Position. Der Platonismus im hier gemeinten Sinne deutet die Vortrefflichkeit als subjektunabhängig bestehende Beziehung zu einem Ideal. Vortreffliche Objekte nehmen also nicht nur auf ein Ideal Bezug, die Vortrefflichkeit selbst ist dieser Auffassung zufolge nichts anderes als das In-Beziehung-Stehen zu einem Ideal. Diese Kernidee entspricht der Phänomenologie unserer Werterfahrung, zieht aber eine Reihe von Fragen nach sich. Fraglich ist zunächst vor allem, was unter einem Ideal zu verstehen ist. Ausgehend vom Gegensatz zu konkreten Objekten wird hier die These vertreten, dass es sich bei Idealen um abstrakte Objekte einer bestimmten Art handelt. Doch wie lassen sich abstrakte Objekte näher bestimmen? Was verbindet Ideale mit Zahlen und Propositionen, die als paradigmatische abstrakte Objekte gelten können? Dazu mache ich einen Vorschlag, der im Wesentlichen auf dem Gedanken beruht, dass es notwendigerweise nur ein abstraktes Objekt einer Art geben kann. Zweitens: Wie unterscheiden sich dann die abstrakten Objekte, die als idealer
18 | 1 Der Magnetismus des Guten. Zur Einleitung Maßstab für konkrete Entitäten fungieren, von anderen, normativ irrelevanten abstrakten Entitäten wie Zahlen? Die Antwort auf diese Frage wird auf den engen Zusammenhang verweisen, der zwischen der Natur der idealen abstrakten Objekte und dem Seinsollen bestimmter konkreter Entitäten besteht. Schließlich bleibt zu fragen, wie die Beziehung zwischen dem idealen abstrakten Objekt und dem vortrefflichen konkreten Gegenstand näher gefasst werden kann. Platonistische Theorien machen häufig von bestimmten Metaphern Gebrauch, um diese Relation zu veranschaulichen: Metaphern der Teilhabe, der Nachahmung, der Nähe. Es ist jedoch keineswegs klar, ob und wie sich solche figurativen Ausdrucksweisen in eine nicht-bildliche Sprache übersetzen lassen. Es bleibt auch die Möglichkeit, dass es sich bei der fraglichen Beziehung um eine Relation sui generis handelt, die sich zwar in gewissen Aspekten mit anderen Relationen, etwa der Ähnlichkeit oder der Repräsentation, überschneidet, mit keiner von ihnen jedoch schlechthin identisch ist. Auf der Grundlage der näheren Bestimmung des metanormativen Platonismus lässt sich dann die Frage stellen, welche der in Kap. 3 herausgearbeiteten Explananda vom metanormativen Platonismus durch seine Grundstruktur erhellt werden können und welche nicht. Dabei zeigt sich, dass der Platonismus einige der charakteristischen Merkmale der Vortrefflichkeit befriedigend zu erklären vermag, insbesondere ihren logisch attributiven Charakter; gleichzeitig bleiben andere Charakteristika, vor allem die Finalität der Vortrefflichkeit und ihre Beziehung zu den normativen Phänomenen des Bösen und der Pflicht, auf der Ebene der allgemeinen Struktur unerklärt. Es bedarf daher einer Untersuchung verschiedener Varianten des Platonismus, um zu prüfen, ob es einer von ihnen gelingt, die problematischen Explananda überzeugend aufzulösen. Grundsätzlich lassen sich verschiedene Formen des Platonismus anhand zweier voneinander unabhängiger Dimensionen unterscheiden. Je nachdem, ob das Ideal selbst als irreduzibel normativ charakterisiert wird oder nicht, können platonistische Theorien als reduktionistisch oder nicht-reduktionistisch bezeichnet werden. Zum anderen kann der Platonismus in einer theistischen und in einer nicht-theistischen Form vertreten werden. Aus der Kombination dieser beiden Dimensionen ergeben sich vier verschiedene Unterformen des Platonismus. Zu ihnen zählt auch der reine theologische Voluntarismus, dem zufolge das Gutsein nichts anderes ist als Übereinstimmung mit dem unbeschränkten Willen Gottes; diese Theorie wird hier aufgrund der bekannten Schwierigkeiten (Einwand der Willkür) nicht näher behandelt. Die übrigen drei Varianten des Platonismus werden in den Kapiteln 6 bis 8 anhand exemplarischer Autoren näher beleuchtet. Der Neuplatoniker Plotin steht dabei in Kap. 6 für eine „reduktionistische“, aber nicht-theistische Variante des Platonismus. Wie die Interpretation plausibel machen soll, identifiziert er die Vortrefflichkeit mit der Relation größtmöglicher
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Angleichung an das „Eine“, das vollkommen differenzlose erste Prinzip der Wirklichkeit. Dieses Eine wird von ihm weitgehend frei von personalen Zügen konzipiert und gewinnt seinen Status als abstrakter Pol der Vortrefflichkeit nur durch das Phänomen des Strebens, dessen idealer Ziel- und Endpunkt es gerade aufgrund seiner radikalen Undifferenziertheit ist; erst hier kommt das Streben, das immer ein Streben nach Aneignung seines Objekts ist, zur Ruhe. Ohne eine strebende Instanz wäre es mithin sinnlos, das Eine als das Gute bezeichnen zu wollen. Das Eine ist daher zwar durch seine Natur das Gute, aber gleichzeitig nur in Bezug „auf uns“ als strebende Wesen. Plotins metanormatives Denken ist jedoch trotz mancher bedenkenswerter Züge nicht angetan, die offenen Probleme des Platonismus zu lösen. Denn da er das Eine als von sich her evaluativ neutrale Instanz begreift, die ihre normative Bedeutung als Ziel erst durch die Seele und ihr Suchen gewinnt, vermag er letztlich nicht einsichtig zu machen, weshalb jeder Grund haben sollte, nach der Vereinigung mit dem Einen zu streben. Zudem führt die Identifizierung des abstrakten Ideals mit dem Einen zu einer Reihe von moralisch problematischen Folgerungen, zu denen etwa die Bedeutungslosigkeit des Leidens zählt. Auch gelingt es Plotin nicht, die Phänomene des Bösen und der Pflicht angemessen in den Blick zu nehmen, geschweige denn auf Grundlage seiner Auffassung vom Guten zu erklären. Aus all diesen Gründen scheint es ratsam, sich nicht-reduktionistischen Versionen des Platonismus zuzuwenden. Eine solche vertritt die englische Philosophin Iris Murdoch (Kap. 7). Auch sie lässt sich gemäß der hier vorgelegten Interpretation dem metanormativen Platonismus zurechnen, wobei sich ihre Version allerdings durch einige originelle Züge auszeichnet; so betont sie besonders die Bedeutung der „Sicht“ des Individuums auf die Wirklichkeit sowie den uneinholbar individuellen normativen Charakter von Handlungen und Situationen. Vor allem aber betrachtet sie das abstrakte Ideal, das selbst kein Teil der erfahrbaren normativen Wirklichkeit ist, als stets erst zu realisierende, nie ganz realisierte Vollkommenheit der konkreten Objekte, ohne diese mit einer „anderswo“ existierenden vollkommenen Entität, wie etwa Gott, zu identifizieren. Auf diese Weise umgeht sie nicht nur den Verdacht der Vergegenständlichung von Idealen, sondern kann auch eine Reihe der Explananda, die auf der Ebene der allgemeinen Struktur des metanormativen Platonismus offen bleiben mussten, einer plausiblen Erklärung zuführen. Allerdings gelingt es auch ihr nicht, die Phänomene des Bösen und der Pflicht in einen überzeugenden Zusammenhang mit dem Guten zu bringen. Dies verspricht dagegen eine theistische Konzeption zu leisten, wie sie der amerikanische Philosoph Robert M. Adams verteidigt (Kap. 8). Denn für eine Theorie, die die abstrakte Idee des Guten mit einem personalen Gott identifiziert, liegt es nahe, die Pflicht als das von Gott Gebotene aufzufassen. Der Einwand, dass damit
20 | 1 Der Magnetismus des Guten. Zur Einleitung beliebige Handlungen zur Pflicht werden könnten, wenn sie nur von Gott verlangt werden, verfängt nicht: Da Gott selbst von Adams als essentiell und unendlich gut charakterisiert wird, ist es ihm von vornherein gar nicht möglich, Beliebiges zu wollen und zu befehlen. Die Vortrefflichkeit konkreter Objekte kann Adams dann als Ähnlichkeit zu Gott als dem unendlich Guten verstehen, das Böse als Verletzung der Heiligkeit der menschlichen Person, die wiederum als Ausdruck der Gottähnlichkeit des Menschen konzipiert wird. Er entwickelt so eine schlüssige Gesamtkonzeption, die die Dimensionen des Guten, der Pflicht und des Bösen übergreift. Allerdings tut sich unter anderem das Problem auf, dass dieser Gewinn an Vereinheitlichung womöglich auf Kosten der Verständlichkeit der Idee des Guten erkauft ist. Ein Gott, der Befehle erteilt, kann ja kein stets nur zu realisierendes Ideal sein, sondern muss als reale vollkommene Entität gedacht werden. Dann ergeben sich jedoch eine Reihe von Schwierigkeiten. Erstens scheint es fragwürdig, die Vortrefflichkeit ganz unterschiedlicher konkreter Entitäten sämtlich als Gottähnlichkeit aufzufassen, wenn man nicht die Ähnlichkeit übermäßig abstrahieren und eine Pluralität von Aspekten in das göttliche Gutsein selbst einführen will. Vor allem aber darf, wenn die Bestimmung der Vortrefflichkeit als Gottähnlichkeit informativ sein soll, Gott nicht in demselben Sinne als gut gedacht werden wie die vortrefflichen konkreten Gegenstände. Es gelingt Adams jedoch nicht, die Rede vom „unendlichen Gutsein“ Gottes in erhellender Weise zu explizieren. So ergibt sich in der Schlussbetrachtung (Kap. 9) ein gemischtes Bild. Einerseits nimmt der Platonismus eine natürliche Position im Theoriespektrum ein, die trotz ihrer historischen Bedeutung in der gegenwärtigen Normativitätstheorie weithin vernachlässigt wird, und kann verschiedenen Explananda für eine Theorie der Vortrefflichkeit Rechnung tragen. Problematisch erscheint jedoch, dass sich die systematisch überzeugendste Konzeption des abstrakten Ideals nicht leicht mit anderen normativen Phänomenen, insbesondere dem der Pflicht und dem des Bösen, in Verbindung bringen lässt, während umgekehrt eine vereinheitlichte Theorie, die um eine personal verstandene Idee des Guten kreist, Schwierigkeiten hat, die spezifische Art des Gutseins Gottes zu erklären. In dieser Frage plädiere ich abschließend für eine Variante des Platonismus, die eine Pluralität essentiell nichtrealisierter Ideale auch um den Preis einer geringeren Vereinheitlichungsleistung annimmt.
2 Theorien der Normativität und der Schluss auf die beste Erklärung Eingangs wurde der metanormative Platonismus als eine metaphysische Deutung des Phänomens der Vortrefflichkeit und des durch sie konstituierten Feldes des (logisch attributiven, aber finalen) Gutseins bezeichnet. Diese Bestimmung ist einigermaßen vage, und vor einer näheren Charakterisierung dieser Theorie bedarf es daher einer Verständigung darüber, welches Ziel metanormative Theoriebildung eigentlich verfolgt, ob und was in einer solchen Theorie eigentlich erklärt werden soll und was ihr dabei zur Richtschnur dienen kann. Dies wird es dann auch erlauben, die Zielsetzung und die Grenzen dieser Untersuchung besser einzuordnen. Ich werde in diesem Kapitel vorschlagen, metanormative Theoriebildung allgemein nach dem aus der Wissenschaftstheorie bekannten Modell vom Schluss auf die beste Erklärung (inference to the best explanation, daher auch IBE) zu verstehen. Da sich die Wissenschaftstheorie traditionell als Philosophie der Naturwissenschaften begreift und die Bedeutung des induktiven Schließens für die Naturwissenschaften den Eindruck erzeugt, dieses sei auf naturwissenschaftliches Denken beschränkt, sind die Anwendungsmöglichkeiten der Theorie vom Schluss auf die beste Erklärung für andere Disziplinen bislang nicht in der wünschenswerten Klarheit beleuchtet worden. Doch hat Paul R. Thagard bereits 1978 darauf hingewiesen, dass der Schluss auf die beste Erklärung „viele Anwendungen in der Philosophie, insbesondere in der Metaphysik“ habe, und als Beispiele die Probleme des Fremdpsychischen, der Außenwelt und der Existenz Gottes genannt.¹ Auch Richard Swinburne verteidigt die Hypothese von der Existenz Gottes – in Absetzung von der mittelalterlichen Tradition des deduktiven Gottesbeweises – expressis verbis durch induktive Argumente, bei denen es sich strukturell um einen Schluss auf die beste Erklärung handelt.² Es ist daher nicht abwegig anzunehmen, dass die Deutung als komplexer Schluss auf die beste Erklärung auch dem Selbstverständnis und dem tatsächlichen Vorgehen der metanormativen Forschung am besten entspricht. Diese These wird gestützt durch einzelne Bemerkungen bedeutender Metaethiker. So schreibt Richard Boyd in „How to Be a Moral Realist“ über den metanormativen Nonkognitivismus: Diese Argumente stellen ein indirektes Argument gegen den moralischen Realismus dar: Sie verweisen auf Eigenschaften moralischer Urteile oder Überlegungen, deren beste Erklärung,
1 Thagard, „The Best Explanation: Criteria for Theory Choice“, S. 92. 2 Swinburne, „Die Existenz Gottes“, S. 522f. Für den Hinweis danke ich Sebastian Muders. https://doi.org/10.1515/9783110623871-002
22 | 2 Theorien der Normativität und der Schluss auf die beste Erklärung so wird behauptet, die Zurückweisung des moralischen Realismus beinhalten würde. […] Im Großen und Ganzen haben die Positivisten und von ihnen beeinflusste Philosophen nicht direkt für die Nichtverifizierbarkeit moralischer Aussagen argumentiert; sie haben nicht auf die Nichtbeobachtbarkeit angeblicher moralischer Eigenschaften verwiesen oder bestritten, dass moralische Theorien beobachtbare Folgen hätten. Vielmehr scheinen sie angenommen zu haben, eine nonkognitivistische Sicht auf die Ethik werde durch einen „induktiven Schluss auf die beste Erklärung“ für Tatsachen der angeführten Art nachgewiesen […].³
Ähnlich ist beispielsweise auch Mackies argument from disagreement als Schluss auf die beste Erklärung charakterisiert worden.⁴ Um zu prüfen, ob sich der Schluss auf die beste Erklärung als Modell der Theorienwahl in der Normativitätstheorie insgesamt eignet, soll in diesem Kapitel zunächst anhand eines Beispiels die Theorie vom Schluss auf die beste Erklärung dargestellt (Abschnitt 2.1) und die Pluralität von Arten des Erklärens verteidigt werden (2.2), bevor die Theorie auf die Normativitätstheorie angewandt wird (2.3) und Folgerungen für das weitere Vorgehen (2.4) gezogen werden.
2.1 Was ist ein Schluss auf die beste Erklärung? Beginnen wir mit einer kleinen Fallstudie. Im Januar 1903 betritt Mr. James M. Dodd, ein großer, sonnengebräunter ehemaliger Soldat der britischen Südafrikatruppen, die Wohnung in der ersten Etage von Baker Street 221B. Er sei, berichtet er, in Südafrika eng befreundet gewesen mit Godfrey Emsworth, dem Sohn des berühmten Colonel Emsworth; nach einer Verwundung Godfreys habe er jedoch außer zweier Briefe nichts mehr von ihm gehört. Nach der Rückkehr aus dem Krieg habe er sich daher an den Vater gewandt. Dieser habe ihm nach einiger Zeit kurz und barsch geantwortet, Godfrey befinde sich auf Weltreise. Da ihn diese Auskunft nicht zufriedenstellte, sei er nach Tuxbury Old Park, dem Landsitz der Emsworths, gereist, wo sich der alte Colonel zunächst nach Kräften bemüht habe, ihn von weiteren Nachforschungen in dieser Sache abzubringen; doch in der Nacht sei Godfreys Gesicht, gespenstisch und totenblass, am Fenster des Gästezimmers erschienen. Am folgenden Tag sei es ihm gelungen, herauszufinden, dass Godfrey offenbar mit einem kleinen, bärtigen Mann in einem Nebengebäude des Landhauses lebt. Bevor er einen Plan für das weitere Vorgehen habe fassen können, sei er von dem
3 Boyd, „How to Be a Moral Realist“, S. 187. 4 Van Roojen, Metaethics, S. 20–22.
2.1 Was ist ein Schluss auf die beste Erklärung?
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erbosten Colonel Emsworth des Grundstücks verwiesen worden. Daher bittet er den berühmten Detektiv um Rat und Hilfe.⁵ Als der Fall geklärt ist (und sich in Wohlgefallen aufgelöst hat), stellt Sherlock Holmes seinen verblüfften Zuhörern den Weg dar, der ihn auf die Spur der richtigen Lösung brachte. Zunächst stellt er seinem Klienten eine Reihe von Fragen, „um die Zahl der möglichen Lösungen des Falles herunterzusetzen“. Danach bleiben drei mögliche Erklärungen für die Absonderung oder Gefangenhaltung Godfreys übrig: „Entweder versteckte er sich wegen eines begangenen Verbrechens, oder er war geisteskrank, und man wollte nicht, dass er in eine Anstalt eingewiesen wurde, oder der Grund seiner Isolierung war eine ansteckende Krankheit.“ Bei näherer Betrachtung scheiden die ersten beiden Erklärungen aus: Eine Meldung über ein unaufgeklärtes Verbrechen liegt aus dem Bezirk nicht vor; eine geistige Erkrankung wird zwar durch die Anwesenheit einer zweiten Person in der Hütte nahegelegt, doch andererseits scheint Godfrey nicht konsequent eingesperrt zu sein, und das verzweifelte Bemühen um Geheimhaltung wird durch diese Hypothese nicht erklärt. Was aber „übrigbleibt, wenn man alles Unmögliche abgezogen hat, [muss] die Wahrheit sein, wie unmöglich sie auch erscheinen mag“ – und die Hypothese, dass Godfrey sich eine ansteckende Krankheit zugezogen hat, gewinnt dadurch an Plausibilität, dass der Butler desinfizierte Handschuhe trägt. Diese Krankheit identifiziert Holmes wegen des Aufenthaltes in Südafrika und der bleichen Gesichtsfarbe als Lepra. Darin wird er beim großen Finale von Colonel Emsworth bestätigt. Auch wenn Sherlock Holmes von seiner „Methode logischer Analyse“ spricht, handelt es sich hier doch gerade nicht um die Deduktion einer Konklusion aus einer Menge von Prämissen; es bleibt nämlich immer möglich, dass eine der anderen Erklärungen wahr ist (weil das Verbrechen z. B. in einem anderen Bezirk begangen wurde) oder dass eine andere, bislang nicht beachtete Hypothese zutrifft. Dennoch ist Holmes’ Schluss berechtigt, weil die Lepra-Hypothese von den betrachteten Kandidaten die vorliegenden Tatsachen am besten erklärt – sie erklärt alle Tatsachen, nicht nur einige, sie fügt sich ein in das Hintergrundwissen (Südafrika) und lässt sich durch weitere Beobachtungen stützen. Und sie wird von den Betroffenen selbst bestätigt.⁶ In vielen anderen Fällen jedoch, auch in der wissenschaftlichen Forschung, gibt es keine solche epistemische Autorität, die uns sagen könnte, ob unsere Schlussfolgerungen auch tatsächlich richtig sind. Dennoch gibt es gute Gründe, an-
5 Arthur Conan Doyles Erzählung „Der bleiche Soldat“ findet sich beispielsweise in Das Notizbuch von Sherlock Holmes, S. 43–72. 6 Vgl. Lipton, „Précis of Inference to the Best Explanation“, S. 422.
24 | 2 Theorien der Normativität und der Schluss auf die beste Erklärung zunehmen, dass die Theoriewahl in der wissenschaftlichen Praxis im Wesentlichen dieselbe Struktur wie das Vorgehen von Sherlock Holmes aufweist. Als Beispiele aus der Geschichte der Naturforschung werden von Paul Thagard Lavoisiers Verteidigung der Sauerstofftheorie der Verbrennung gegen die weithin akzeptierte Phlogistontheorie, Fresnels Angriff auf Newtons Teilchentheorie des Lichts und „Charles Darwins langes Argument für seine Theorie der Entwicklung der Arten durch natürliche Auslese“⁷ angeführt. Darwin schreibt wörtlich: „Es kann kaum davon ausgegangen werden, dass eine falsche Theorie in so befriedigender Weise wie die Theorie der natürlichen Auslese die verschiedenen großen Klassen von Tatsachen erklärt, die oben genannt wurden.“⁸ In jedem dieser Fälle wird eine Theorie von ihren Vertretern dadurch verteidigt, dass sie die vorliegenden Informationen besser erklärt als ihre Konkurrenten. Die Grundidee des Schlusses auf die beste Erklärung ist einfach zu formulieren: Wann immer es eine Menge von Informationen M und eine Reihe konkurrierender Hypothesen gibt, die sämtlich potentielle Erklärungen von M darstellen, sollen wir uns für diejenige Hypothese entscheiden, die, falls wahr, die vorhandenen Informationen am besten erklären würde. Es handelt sich beim Schluss auf die beste Erklärung also um eine doxastische Entscheidungsprozedur, die Anweisungen für die Auszeichnung einer Hypothese enthält.⁹ Diese Formulierung der Kernidee des Schlusses auf die beste Erklärung macht zugleich deutlich, worin er sich von Peirces Konzept der Abduktion unterscheidet, obwohl er häufig damit verwechselt oder gleichgesetzt wird. Laut Peirce bezeichnet die Abduktion ein Argument der folgenden Art: (1) Eine überraschende Tatsache C wird beobachtet; (2) doch wenn A der Fall wäre, würde C zwanglos folgen; (C) daher haben wir Grund anzunehmen, dass A der Fall ist.¹⁰
Doch eine Überlegung dieser Art gibt uns zunächst nur einen vorläufigen oder Prima-facie-Grund, A anzunehmen; es könnte schließlich auch andere Erklärungen geben, aus denen (C) ebenfalls „zwanglos folgen“ würde. Abduktive Argumente bewegen sich daher mehr im Bereich der Hypothesenbildung und generieren potentielle Erklärungen, während es sich beim Schluss auf die beste Erklärung um eine Methode handelt, zwischen verschiedenen konkurrierenden Hypothesen
7 Thagard, „The Best Explanation: Criteria for Theory Choice“, S. 77. 8 Darwin, The Origin of Species, S. 476. 9 Der normative Charakter der Theorie vom Schluss auf die beste Erklärung (oder „Explanationismus“) wird auch herausgestellt von Lycan, „Epistemic Value“, S. 137. 10 Peirce, The Collected Papers of Charles Sanders Peirce, 5.189.
2.1 Was ist ein Schluss auf die beste Erklärung?
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zu wählen.¹¹ In den Worten Paul Thagards: „Wir argumentieren für eine Hypothese oder Theorie, indem wir darauf verweisen, dass sie die vorhandenen Informationen am besten erklärt.“ Doch hier beginnen die Schwierigkeiten erst. Zunächst ist festzuhalten, dass die beste Erklärung nicht unbedingt auch die richtige ist. In einem gewissen Sinne ist die richtige Erklärung natürlich immer „die beste“, denn Erklären zielt nun einmal darauf ab, ein zutreffendes Bild der Welt zu gewinnen. Doch wenn wir den Ausdruck „die beste Erklärung“ lediglich als „die richtige Erklärung“ verstehen, dann droht die ganze Theorie trivial zu werden: Natürlich soll man sich bei der Wahl zwischen konkurrierenden Hypothesen für „die richtige“ entscheiden, aber woran lässt sich die erkennen? Mit anderen Worten, wenn „die beste Erklärung“ nur ein Synonym für „die richtige“ wäre, verlöre der Schluss auf die beste Erklärung seine normative, entscheidungsleitende Funktion. Er soll ja gerade als Instrument dienen, um zu beurteilen, ob eine Theorie A bessere Aussichten hat, wahr zu sein, als ihre Konkurrenten. Aus demselben Grund kann mit der „besten Erklärung“, wie Peter Lipton gezeigt hat,¹² auch nicht einfach „die Erklärung mit der höchsten Wahrscheinlichkeit, wahr zu sein“ (oder, kurz, die „wahrscheinlichste Erklärung“) gemeint sein – auch wenn die wahrscheinlichste Theorie falsch sein kann, etwa dann, wenn die vorhandenen Informationen unvollständig, verzerrt oder von begrenzter Aussagekraft sind. Doch wiederum wäre es in der Entscheidung zwischen konkurrierenden potentiellen Erklärungen wenig hilfreich, wenn man sich daran orientieren sollte, die wahrscheinlichste zu wählen; was wir brauchen, sind vielmehr Kriterien, die es uns erlauben, diese zu erkennen. „Die beste Erklärung“ bedeutet also weder „die richtige“ noch „die wahrscheinlichste“, obwohl der Schluss auf die beste Erklärung via Wahrscheinlichkeit auf die Wahrheit abzielt. Um dem Vorwurf der Trivialität zu entgehen, benötigen wir daher ein alternatives Verständnis der Wendung „die beste Erklärung“. Diese Notwendigkeit wird auch von den Vertretern der Theorie vom Schluss auf die beste Erklärung gesehen. Gilbert Harman, auf den die Formulierung „Schluss auf die beste Erklärung“ zurückgeht, schreibt: Es besteht natürlich das Problem, wie man entscheidet, ob eine Hypothese wirklich hinreichend besser ist als eine andere. Vermutlich muss diese Entscheidung auf Erwägungen
11 Es besteht natürlich Uneinigkeit über die genaue Beziehung zwischen Abduktion und Schluss auf die beste Erklärung. Fodor, Niiniluoto und Psillos haben (unter anderen) Schluss auf die beste Erklärung und Abduktion als gleichbedeutend behandelt, während Hintikka, Minnameier und Mackonis auf einem Unterschied insistieren. 12 Lipton, Inference to the Best Explanation, S. 59.
26 | 2 Theorien der Normativität und der Schluss auf die beste Erklärung wie die zurückgreifen, welche Hypothese einfacher ist, welche plausibler ist, welche mehr erklärt, welche weniger ad hoc ist usw.¹³
Diese Erwägungen werden üblicherweise als die „explanatorischen Tugenden“ (explanatory virtues) im Sinne von theoretischen Vorzügen bezeichnet. Welche und wie viele explanatorische Tugenden es gibt, ist Gegenstand einer intensiven Debatte, die hier nicht nachgezeichnet, geschweige denn entschieden werden kann; zu den meistgenannten explanatorischen Tugenden zählen jedenfalls Einfachheit (entweder verstanden als die Anzahl der durch eine Theorie postulierten Entitäten oder als die Anzahl der benötigten Hilfshypothesen), Reichweite (scope) oder Vereinheitlichungsgrad (unification) sowie Kohärenz (Zusammenhang mit Hintergrundüberzeugungen, fit with background belief ).¹⁴ Was auch immer sich als die endgültige Liste herausstellen wird, die „beste Erklärung“ bezeichnet jedenfalls diejenige, die den höchsten Grad an explanatorischen Tugenden aufweist. Das ist zumindest das Kernverständnis der Theorie vom Schluss auf die beste Erklärung, wie sie hier verstanden werden soll.¹⁵ Aber wie bestimmen wir, welche theoretischen Eigenschaften auf der Liste erscheinen und welche nicht? Gehören etwa ästhetische Tugenden dazu oder nicht? Es lassen sich zwei grundlegende Strategien unterscheiden, mit diesem Problem umzugehen. Die erste besteht darin, die explanatorischen Tugenden, wie dies etwa Thagard tut,¹⁶ einfach an der bestehenden wissenschaftlichen Praxis abzulesen. Diese Strategie erlaubt eine realistische und praxisnahe Rekonstruktion des tatsächlichen Vorgehens in der Wissenschaft, zieht jedoch auch den Einwand auf sich, dass es ihr an der normativen Kraft mangelt, als Korrektiv für fehlgeleitete wissenschaftliche Praktiken zu dienen. Andererseits kann man nach einem vereinheitlichenden Prinzip hinter den explanatorischen Tugenden suchen. Peter Lipton, einer der führenden Vertreter der
13 Harman, „The Inference to the Best Explanation“, S. 89. 14 Vgl. Mackonis, „Inference to the Best Explanation, Coherence and other Explanatory Virtues“, S. 978. 15 Streng genommen ist die so definierte Theorie vom Schluss auf die beste Erklärung von der stärkeren wissenschaftstheoretischen Behauptung zu unterscheiden, dass der Schluss auf die beste Erklärung tatsächlich nicht nur eine Art induktiven Schließens unter anderen darstellt, sondern „die grundlegende Form nicht-deduktiven Schließens“ (Harman, „The Inference to the Best Explanation“, S. 88). Für die Zwecke dieser Arbeit können wir uns agnostisch in Bezug auf das Verhältnis des Schlusses auf die beste Erklärung zu anderen Formen induktiven Schließens verhalten. Hier kommt es lediglich darauf an, dass der Schluss auf die beste Erklärung einen wichtigen und unabhängigen Typ in der Logik der Forschung darstellt, selbst wenn er nicht der einzige sein sollte. 16 Vgl. Thagard, „The Best Explanation: Criteria for Theory Choice“, S. 79.
2.1 Was ist ein Schluss auf die beste Erklärung?
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Theorie vom Schluss auf die beste Erklärung, versteht unter der besten Erklärung deshalb die attraktivste (loveliest): diejenige, die, falls korrekt, das tiefste Verständnis (greatest understanding) bieten würde.¹⁷ Explanatorische Tugenden sind dann solche Eigenschaften einer Theorie, die in der einen oder anderen Weise unser Verständnis des betrachteten Gegenstandsbereichs vergrößern, beispielsweise indem sie auf fundamentalere Tatsachen verweisen oder einen Prozess detaillierter beschreiben. Statt Erklärung und Verstehen einander als zwei verschiedene Erkenntnismodi gegenüberzustellen, wie es in der von Dilthey ausgehenden hermeneutischen Tradition üblich war, ergibt sich aus dieser Interpretation der Lehre vom Schluss auf die beste Erklärung eine begriffliche Gleichursprünglichkeit: Eine Erklärung ist etwas, was zum Verstehen beiträgt; etwas zu verstehen bedeutet, eine Erklärung geben zu können. Versteht man unter der besten Theorie diejenige, die unser Verständnis am meisten vertiefen würde, so stellt sich die Frage, warum die explanatorisch tugendhafteste Theorie auch die größte Chance haben sollte, wahr zu sein. Dieses Problem hat Peter Lipton den „Voltaire’schen Einwand“ genannt: Warum sollten wir annehmen, dass wir die erklärungsfreundlichste aller möglichen Welten bewohnen, also die, in der die besten Erklärungen auch mit der größten Wahrscheinlichkeit wahr sind?¹⁸ Oben wurde darauf hingewiesen, dass der Zusammenhang zwischen der Richtigkeit einer Erklärung und ihrem explanatorischen Wert nicht zu eng gefasst werden darf, damit letzterer seine Funktion als Wegweiser zur Wahrheit erfüllen kann. Nun aber zeigt sich, dass die Verbindung auch nicht völlig gelöst werden darf, wenn ein Schluss auf die beste Erklärung nicht rein instrumentalistisch aufzufassen ist, sondern (fallibel, aber prinzipiell verlässlich) Auskunft darüber geben soll, wie sich die Dinge in Wirklichkeit verhalten. Die Auskunft, dass es sich bei dem Schluss auf die beste Erklärung um die (oder eine) fundamentale Schlussform handelt, ist von wenig Nutzen, selbst wenn sie wahr ist: die Frage ist, wieso wir glauben sollten, dass es die Entitäten, von denen die beste Erklärung spricht, auch tatsächlich gibt. Nun kann man sagen, etwas für die richtige Erklärung zu halten impliziert, dass man die in ihr postulierten erklärenden Entitäten auch tatsächlich für existent hält – andernfalls wird das Explanandum eben nicht erklärt, sondern bestenfalls subsumiert. Ein ähnliches Argument lässt sich bei Nancy Cartwright finden, die in How the Laws of Physics Lie schreibt: „In kausale Erklärungen ist die Wahrheit eingebaut. […] Die Begründung [für die Existenz theoretischer Entitäten] ist kausal, und die Erklärung zu akzeptie-
17 Lipton, „Précis of Inference to the Best Explanation“, S. 422. 18 Vgl. Lipton, Inference to the Best Explanation, S. 70.
28 | 2 Theorien der Normativität und der Schluss auf die beste Erklärung ren heißt die Ursache anzunehmen.“¹⁹ Cartwright ist allerdings der Auffassung, dass auch die hochgradig abstrakten Gesetze der Physik, die lediglich die phänomenologischen Gesetze „zusammenfassen und logisch klassifizieren“, sie aber nicht „wahr machen“, als explanatorisch bezeichnet werden können; dagegen scheint es mir plausibler, den Erklärungsbegriff für solche Theorien zu reservieren, bei denen das Explanans auch angibt, weshalb das Explanandum der Fall ist, wie es etwa Duhem tut.²⁰ Man kann jedenfalls eine Theorie, die explanatorischen Anspruch besitzt, nicht akzeptieren, ohne ihre Existenzpräsuppositionen zu akzeptieren; man kann nicht glauben, dass A durch B erklärt wird, ohne zu glauben, dass B auch existiert. Es bleibt jedoch die Frage, warum wir die Theorie, die unser Verständnis am meisten erweitert, auch als die richtige Erklärung akzeptieren sollten; wäre es nicht auch möglich, sie für bloß empirisch adäquat zu halten und auf ihrer Grundlage zu handeln, ohne sie als wahr zu betrachten? Andererseits haben wir die starke Intuition, dass eine Erklärung umso bessere Aussichten hat, wahr zu sein, je besser sie ist. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass die beste Erklärung dafür, dass eine bestimmte Theorie unser Verständnis am meisten erweitert und den höchsten Grad an explanatorischen Tugenden aufweist, selbst darin besteht, dass sich die Wirklichkeit so verhält, wie sie behauptet – dass sie der Wahrheit am nächsten kommt. Wie könnte eine Theorie unser Verständnis so erweitern wie die Evolutionstheorie, wenn die Welt nicht wesentlich so wäre, wie sie sagt? Daraus ergibt sich ein zweistufiges Bild des Schlusses auf die beste Erklärung: Auf der ersten Stufe wählen wir unter allen zur Verfügung stehenden Erklärungen die „beste“, d. h. die, die unser Verständnis am meisten erweitert; auf der zweiten halten wir sie für „richtig“ – nicht nur für empirisch halbwegs adäquat, sondern für die korrekte Darstellung der Wirklichkeit –, weil dies die beste Erklärung dafür darstellt, dass sie den hohen Grad an explanatorischen Tugenden besitzt, den sie hat. Dieser Gedanke lässt sich auch in dem bereits angeführten Darwin-Zitat finden, nach dem „kaum davon ausgegangen werden [kann], dass eine falsche Theorie in so befriedigender Weise wie die Theorie der natürlichen Auslese die verschiedenen großen Klassen von Tatsachen erklärt, die oben genannt wurden“.²¹ Gleichzeitig wird daraus deutlich, warum wir bei einer sehr mageren oder vorläufigen Auswahl an Hypothesen nicht berechtigt sind, die beste als die richtige auszuzeichnen: Hier besteht die beste Erklärung für den relativ höheren Grad an explanatorischen Tugenden eben nicht darin, dass sie die Wirklichkeit trifft. Und schließlich wird
19 Cartwright, How the Laws of Physics Lie, S. 91. 20 Duhem, The Aim and Structure of Physical Theory, S. 7. 21 Vgl. o. S. 24.
2.2 Zum Begriff der Erklärung
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ebenfalls klar, warum der Schluss von der besten auf die richtige Erklärung, so berechtigt er sein mag, doch immer noch fallibel ist. So können etwa neue Phänomene hinzukommen, die von der explanatorisch tugendhaftesten Erklärung nicht erfasst werden; oder die Welt könnte fundamental erklärungsfeindlich sein. Das Ergebnis dieser Überlegungen ist, dass wir unter bestimmten Bedingungen berechtigt sind, unsere beste, d. h. am meisten verständniserweiternde Erklärung auch für die richtige, d. h. wahre Erklärung zu halten – weil ihre Wahrheit die beste Erklärung dafür ist, dass sie unser Verständnis erweitert. Diese Art der Selbstanwendung ist nicht problematisch, weil sie nicht auf die Rechtfertigung einer fundamentalen Schlussform abzielt, sondern auf eine Begründung dafür, den Brückenschlag von der explanatorisch besten Theorie zur Wirklichkeit vorzunehmen. Etwas für die (und nicht nur eine) Erklärung zu halten impliziert jedoch, die von ihr postulierten Entitäten für existent zu halten, denn anders wäre unverständlich, wie es sich überhaupt um die Erklärung handeln sollte.
2.2 Zum Begriff der Erklärung Üblicherweise beschränken sich Theorien vom Schluss auf die beste Erklärung auf Kausalerklärungen, also solche Erklärungen, die eine Wirkursache eines Ereignisses oder Phänomens angeben. Dies hat seine Ursache darin, dass vielfach der Begriff der Erklärung überhaupt mit der Angabe einer Ursache im kausalen Sinne identifiziert wird. So heißt es in einer einflussreichen Internet-Enzyklopädie unter dem Stichwort „Theorien der Erklärung“: „Historisch ist das Erklären mit Verursachung (causation) verknüpft worden: ein Ereignis oder Phänomen zu erklären bedeutet, seine kausale Ursache (cause) zu identifizieren.“²² Man kann jedoch seine Zweifel haben, ob dies auch nur als historische Bemerkung richtig ist. Aristoteles beispielsweise unterscheidet bekanntlich neben der kausalen Verursachung noch drei weitere Arten von Antworten auf Warum-Fragen, die es sämtlich mit der Erklärung von Sachverhalten zu tun haben;²³ neuere Übersetzungen sprechen daher statt der traditionellen, aber etwas irreführenden Rede von „vier Ursachen“ eher von vier verschiedenen Modi des Erklärens.²⁴ Auch in der alltäglichen Rede ist das Erklären, vom Erklären eines Wortes über das des Verhaltens einer Person 22 S. Mayes, „Theories of Explanation“ (in der Internet Encyclopedia of Philosophy). 23 Aristoteles, Physik, II.3. 24 Vgl. beispielsweise Jonathan Barnes’ Übersetzung von An. Post. I.1, 71b 5–10 (in The Complete Works of Aristotle): „We think we understand a thing […] whenever we think we are aware both that the explanation because of which the object is is its explanation, and that it is not possible for this to be otherwise.“
30 | 2 Theorien der Normativität und der Schluss auf die beste Erklärung bis hin zur Funktionsweise eines Geräts, offenbar nicht auf die Darlegung eines Kausalzusammenhangs beschränkt. Wenn die Leistung von Theorien praktischer Normativität als Erklärung bestimmter Phänomene oder Sachverhalte verstanden und die Theorienwahl in diesem Feld wesentlich als Schluss auf die beste Erklärung rekonstruiert werden soll, bedarf es also zunächst einer Verständigung darüber, in welchem Sinne man hier überhaupt von einer Erklärung sprechen kann; denn obwohl in unterschiedlichem Maße kompatibel mit verschiedenen Theorien der Entstehung ihres Gegenstandes, bieten Normativitätstheorien doch selbst keine kausalen Erklärungen. Dies setzt wiederum eine Unterscheidung verschiedener Erklärungstypen voraus, die im vorliegenden Abschnitt geliefert werden soll. Am Schluss wird dies die Frage aufwerfen, was die verschiedenen Formen des Erklärens, wenn sie denn wirklich grundlegend sind, überhaupt miteinander verbindet, um nicht von einer bloßen Homonymie des Erklärungsbegriffs sprechen zu müssen. In einer ersten Bedeutung des Ausdrucks „Erklärung“ macht die Erklärung verständlich, worum es sich bei einem gegebenen Objekt handelt; wir können hier von Was-Erklärungen sprechen. Jemandem die Bedeutung eines natürlichsprachlichen Ausdrucks zu erklären heißt, ihm zu vermitteln, wofür dieser Ausdruck steht und wie er in der Rede gebraucht wird. Andere Beispiele für eine Was-Erklärung wären die Ausführung einer Kunsthistorikerin, dass es sich bei der dargestellten Figur auf dem Gemälde um Maria Magdalena handelt, oder die Erläuterung des Biologielehrers, dass dies der Stempel der Blüte ist und er im Prozess der Befruchtung diese oder jene Rolle spielt. In all diesen Fällen setzt uns die Was-Erklärung durch den Aufweis von Verbindungen eines gegebenen Objekts mit anderen in den Stand, das Verhalten oder die Merkmale der erklärten Entität besser zu verstehen. Hiervon zu unterscheiden sind Erklärungen, die auf die Frage antworten, warum etwas der Fall ist; warum weist ein Gegenstand (im weitesten Sinne), x, das Merkmal oder die Eigenschaft auf, F zu sein? Verlangt wird hier die Angabe einer weiteren Tatsache (oder einer Menge von Tatsachen), des Explanans, dessen Vorliegen das Vorliegen der erklärungsbedürftigen Tatsache (des Explanandums) verständlich macht. An dieser Stelle taucht die grundsätzliche Frage auf, ob man Erklärungen als Relationen zwischen Sachverhalten in der Welt, als Beziehungen zwischen einer Tatsache und einer Überzeugung oder als rein innermentale Beziehungen zwischen Subjektzuständen begreifen soll. Der natürliche Sprachgebrauch, der als Explanantia typischerweise auf Tatsachen in der Welt verweist, spricht für das erstere Verständnis; der offenbar enge Zusammenhang mit dem
2.2 Zum Begriff der Erklärung
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Begriff des Verstehens dagegen für eine der letzteren beiden Lesarten. Ich komme auf diese Frage zurück.²⁵ Die Frage nach dem Warum einer Tatsache lässt sich wiederum auf unterschiedliche Weisen verstehen, denen verschiedene Modi des Erklärens entsprechen. Einerseits kann sie als Frage nach den Bedingungen des Eintretens eines bestimmten Zustandes oder Ereignisses aufgefasst werden; für die Frage „Warum ist das Zarenreich untergegangen?“ dürfte dies beispielsweise das natürlichste Verständnis sein. In der Antwort werden dann häufig dispositionale Faktoren (etwa die soziale Verfassung der spätzaristischen Gesellschaft) in Verbindung mit auslösenden Ereignissen (der Erste Weltkrieg) genannt. Dasselbe Muster findet sich, wenn der Einsturz einer Brücke durch die Sprödigkeit des Betons in Verbindung mit der Befahrung durch einen überladenen Lastwagen erklärt wird. Zu den auslösenden Ereignissen können auch Handlungen zählen, deren Intention auf die Erzeugung des zu erklärenden Zustandes gerichtet ist, obwohl deren Verhältnis zu anderen Arten von Ursachen hier ebenso wenig zu diskutieren ist wie das richtige Verständnis von Kausalität. Wesentlich ist, dass dieser kausale Erklärungsmodus einen Übergang voraussetzt, eine Veränderung in der Zeit, denn er erklärt ja gerade, wie es zu einem bestimmten Zustand gekommen ist. Das gilt jedoch mitnichten für alle Arten von Erklärungen. Um das zu sehen, ist ein Blick auf die Mathematik hilfreich. Mathematische Beziehungen sind natürlich Teil aller möglichen kausalen Erklärungen physischer Phänomene; der Umstand, dass Bienenwaben sechseckig sind (und nicht etwa dreieckig, quadratisch oder rund) lässt sich beispielsweise nur unter Rückgriff auf das (erst 2001 bewiesene) mathematische Theorem erklären, dass das regelmäßige Sechseck unter allen Pflasterungen, die eine Ebene lückenlos überdecken, den geringsten Umfang hat.²⁶ Mathematische Tatsachen können jedoch auch selbst erklärungsbedürftig sein. So schreibt beispielsweise der Mathematiker und Fieldsmedaillenträger W. T. Gowers in seinem Aufsatz „The Two Cultures of Mathematics“: Andere Zweige der Mathematik beziehen ihre Attraktivität aus einer Unmenge mysteriöser Phänomene, die nach einer Erklärung verlangen. Das können zum Beispiel überraschende numerische Übereinstimmungen sein, die eine tiefe Beziehung zwischen zwei Bereichen nahelegen, die an der Oberfläche nichts miteinander zu tun zu haben scheinen; Argumente, die interessante Ergebnisse durch rohe Gewalt beweisen und sie daher nicht befriedigend erklären; Beweise, die anscheinend von einer Reihe glücklicher Zufälle abhängen; oder
25 Vgl. u. S. 35. 26 Vgl. Lyon und Colyvan, „The Explanatory Power of Phase Spaces“, und Mancosu, „Explanation in Mathematics“.
32 | 2 Theorien der Normativität und der Schluss auf die beste Erklärung heuristische Argumente, die gut funktionieren, sich aber kaum in strenge Form bringen lassen.²⁷
Es geht vielen Mathematikern also anscheinend nicht nur darum, zu beweisen, dass etwas der Fall ist; ein mathematischer Satz kann bekanntermaßen wahr, sogar bewiesen sein, aber dennoch nicht zu einem tieferen Verständnis der mathematischen Zusammenhänge führen.²⁸ Dies führt zu einer Unterscheidung zwischen erklärenden und nicht-erklärenden Beweisen, die sich anscheinend schon bei Aristoteles finden lässt (An. Post. I.13) und eine „lange und erfolgreiche Geschichte“ bis ins neunzehnte Jahrhundert hatte,²⁹ als Philosophen der Mathematik wie Bolzano und Cournot ihre Hauptaufgabe in einer Untersuchung des Unterschieds zwischen erklärenden und nicht-erklärenden Beweisen sahen.³⁰ Dies zeigt bereits, dass die Erklärung eines Phänomens oder einer Tatsache nicht mit der Angabe seiner Entstehungsbedingungen gleichgesetzt werden sollte, denn von den erklärungsbedürftigen „mysteriösen Phänomenen“ der Mathematik lässt sich sicher nicht sinnvoll sagen, dass sie zu einem bestimmten Zeitpunkt entstanden sind. Neben dem kausalen Erklärungstypus müssen wir demnach auch nicht-kausale Erklärungen akzeptieren: solche, die nicht auf zeitlich vorausliegende Bedingungen rekurrieren, also auch dann funktionieren, wenn angenommen wird, dass das Explanandum „immer schon so war“. Zum nicht-kausalen Erklärungstypus dürften auch solche Antworten auf die Warum-Frage zählen, die auf das Material, aus dem ein Gegenstand besteht, oder auf ein Merkmal seiner Gestalt verweisen, insbesondere in Fällen, wo dispositionale Eigenschaften in Frage stehen; auf die Frage „Warum ist die Statue so leicht?“ kann man beispielsweise befriedigend sowohl mit „weil sie aus Kunststoff ist“ als auch mit „weil sie innen hohl ist“ antworten – beides sind vollgültige potentielle Explanantia der erklärungsbedürftigen Tatsache. Selbst wenn man daran festhält, dass hier zumindest insofern ein begrifflicher Bezug zur kausalen Erklärung besteht, als sich die Disposition (leicht zu sein) nur verstehen lässt durch den Bezug zu möglichen kausalen Veränderungen (angehoben zu werden), ist die Erklärung der Disposition eines Körpers selbst durch seine materiellen oder morphologischen Eigenschaften doch von der kausalen Erklärung zu unterscheiden. Das Vorliegen einer solchen Eigenschaft kann natürlich auch kausal erklärt werden, etwa wenn man sich fragt, warum der Beton spröde geworden ist. Aber in vielen Fällen setzt 27 Gowers, „The Two Cultures of Mathematics“, S. 10. 28 In dieselbe Richtung weisen Äußerungen von Sir Michael Atiyah in einem Interview mit Roberto Minio (Minio, „An Interview with Michael Atiyah“, S. 17). 29 Mancosu, „Explanation in Mathematics“. 30 Vgl. Kitcher, „Bolzano’s Ideal of Algebraic Analysis“.
2.2 Zum Begriff der Erklärung
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die Antwort auf die Frage nicht voraus, dass die dispositionale Eigenschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt erworben wurde. In einem solchen Fall handelt es sich um eine nicht-kausale Erklärung, die man als konstitutive Erklärung bezeichnen kann. Ein drittes, wenngleich umstritteneres Beispiel für den nicht-kausalen Erklärungstypus stellen funktionale Erklärungen dar: Erklärungen, bei denen das erklärungsbedürftige Merkmal eines Gegenstandes durch dessen Beitrag zum Funktionieren eines Gesamtsystems erhellt wird. Die Frage, warum der Gegenstand x die Eigenschaft F hat, wird dann dadurch beantwortet, dass man seine Funktion Φ sowie die Art und Weise angibt, wie das Merkmal F die Erfüllung von Φ ermöglicht oder erleichtert. Ein klares Beispiel für diese Erklärungsform stellt die Erklärung der Gestalt bestimmter Artefakte dar, die eigens für einen bestimmten Zweck konstruiert wurden; so lässt sich etwa die charakteristische Form eines Zahnrads durch seine Funktion der Energietransmission erklären. Sie ist aber nicht darauf beschränkt. Die konkrete Ausgestaltung religiöser Rituale kann beispielsweise im Rahmen soziologischer Ansätze durch ihre soziale Funktion erklärt werden, ohne dass sie eigens zu diesem Zweck etabliert worden sein müssen. Für diese Art von Erklärung wird nicht vorausgesetzt, dass das jeweilige System seine Funktion zu irgendeinem Zeitpunkt erworben hat – theoretisch könnte es sie schon immer besessen haben. Dass solche funktionalen Erklärungen bei Artefakten und sozialen Systemen gegeben werden können, zeigt bereits, dass man die Warum-Frage in manchen Kontexten als die Frage auffassen kann, wie die Eigenschaft F eines Gegenstands x zur Erfüllung seiner Funktion Φ beiträgt. So verstanden, ist die Frage weitgehend unabhängig davon, ob und in welcher Weise Φ zum Erwerb von F beigetragen hat. Es ist jedoch zu vermuten, dass sich auch die Frage, warum eine biologische Spezies ein bestimmtes Merkmal aufweist, sinnvoll als Ersuchen um eine funktionale Erklärung verstehen lässt, ohne dass man damit einen naturalistischen Standpunkt verlassen müsste. Beispielsweise lässt sich die unterschiedliche Schnabelform von Singvögeln dadurch erklären, dass die Schnäbel bei unterschiedlichen Spezies der Aufnahme unterschiedlicher Nahrung (weiche und harte Sämereien, Insekten, Früchte) dienen und ihre Form für die Erfassung der jeweils spezifischen Nahrung besonders geeignet ist: Weil der Schnabel diese Funktion hat und diese Form für die Erfüllung dieser Funktion besonders geeignet ist, hat der Schnabel diese Form. Es ist nur im Kopf zu behalten, dass damit nicht auch die (kausale) Frage beantwortet ist, wie sich diese Form entwickelt hat. Es wäre ein Fehler, die Funktion zu einer aus der Zukunft wirkenden Kausalursache ihrer eigenen Reali-
34 | 2 Theorien der Normativität und der Schluss auf die beste Erklärung sierung zu machen, aber ebenso ein Fehler, alle möglichen Erklärungsarten über einen Leisten zu schlagen.³¹ Man könnte sich freilich auf den Standpunkt stellen, dass der Erklärungsbegriff dem Aufweis kausaler Beziehungen vorbehalten bleiben sollte und nicht-kausale Erklärungen nicht Erklärungen „im eigentlichen Sinne“ seien. Angesichts der Natürlichkeit und Verbreitung der Verwendung des Ausdrucks „Erklärung“ für nicht-kausale Antworten auf die Warum-Frage, etwa funktionale oder innermathematische Erklärungen, könnte eine solche Beschränkung jedoch nur als Ergebnis einer einseitigen Orientierung an bestimmten Wissenschaften erscheinen, solange kein überzeugender Grund für die Privilegierung eines Erklärungstyps gegenüber anderen aufgezeigt wird. Man kann die Frage „Warum ist x F?“ eben in unterschiedlichen Kontexten verschieden verstehen, bisweilen als die Frage danach, wie x die Eigenschaft F erworben hat, manchmal als die Frage, wie sich F aus anderen, charakteristischen Merkmalen von x ergibt, manchmal als die Frage nach dem Beitrag der Tatsache, dass x F ist, zur Erfüllung der Funktion von F in einem Gesamtsystem. Welche dieser Fragen gemeint ist, ergibt sich meist aus dem Zusammenhang.³² Nachdem wir derart die Pluralität der Erklärungstypen betont haben: Was verbindet sie, dass wir sie doch alle gemeinsam als Erklärungen ansprechen? Alle Warum-Erklärungen machen eine Tatsache verständlich, indem sie ihren Zusammenhang mit anderen Tatsachen ans Licht bringen. Diese Beziehungen sind stets asymmetrisch (wenn A B erklärt, dann erklärt nicht auch B A), irreflexiv (nichts erklärt sich selbst) und transitiv (wenn A B erklärt und B C, dann erklärt auch A C), also das, was in der mathematischen Relationstheorie als Striktordnung bezeichnet wird. Zudem können wir sagen, dass das Explanandum global über dem
31 Ich werde mich an dieser Stelle nicht zu einer Aussage darüber verleiten lassen, wie man den Begriff der Funktion in biologischen Zusammenhängen zu verstehen hat; aber mir scheint klar, dass erstens der Begriff der Funktion, wie er in Biologie, Soziologie und Ingenieurswissenschaft verwendet wird, nicht notwendigerweise etwas mit einem extern gesetzten Zweck oder gar „intelligent design“ zu tun hat; dass er sich durch einen gemeinsamen Kern vom z. B. mathematischen Funktionsbegriff abgrenzt; und dass dieser Kern mit der charakteristischen Aktivität einer Entität (aristotelisch gesprochen, ihrem ἔργον) in Verbindung steht. Für neuere Diskussionen des Funktionsbegriffs insbesondere in der Biologie vgl. insbesondere Toepfer, Zweckbegriff und Organismus, Krohs, Philosophie der Biologie sowie ders., Functions in Biological and Artificial Worlds. 32 Auch die Beziehung des metaphysischen Grounding wird als nicht-kausale explanatorische Relation konzipiert (vgl. dazu K. Fine, „The Question of Realism“, S. 15, ders., „Guide to Ground“ und Bliss und Trogdon, „Metaphysical Grounding“). Sofern es sich dabei tatsächlich um eine eigenständige Beziehung und nicht nur um einen Sammelnamen für andere explanatorische Beziehungen wie die hier diskutierten handelt, ist auch das Grounding angetan, die These von der Existenz nicht-kausaler Erklärungen zu stützen. Für grundsätzliche Einwände vgl. etwa Wilson, „No Work for a Theory of Grounding“.
2.2 Zum Begriff der Erklärung
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Explanans superveniert: Es gilt, dass stets dann, wenn A (ceteris paribus), auch B der Fall sein muss, so dass wir eine Differenz in den erklärenden Bedingungen angeben können müssen, wenn A einmal vorliegt und einmal nicht; dass jedoch das Explanandum gleichermaßen durch verschiedene Explanantia erklärt werden kann. Es ist jedoch nicht jede Striktordnung erklärend (z. B. die Relation „später als“ oder die Teilmengerelation), und es gibt kein allgemeines Kriterium für die Unterscheidung erklärender von nicht-erklärenden, außer dass die erklärenden, im Unterschied zu den nicht-erklärenden, unserem Verständnis aufhelfen. Daher ist es letztlich auch nicht entscheidend, ob man die Erklärung im Geist oder in der Welt verortet: Wenn man unter einer Erklärung eine Menge von Aussagen begreift, die das Verstehen einer Tatsache ermöglichen, dann tun sie dies dadurch, dass sie auf Tatsachen verweisen, die zu der zu erklärenden Tatsache in einer der genannten verschiedenen Relationen stehen; möchte man dagegen diese Relationen selbst als Erklärungen bezeichnen, so wird man ihren erklärenden Charakter in ihrer je unterschiedlichen Weise suchen müssen, zum Verstehen eines Gegenstandes beizutragen. Es kann als ausgemacht gelten, dass wir in all diesen verschiedenen Typen bessere von schlechteren Erklärungen unterscheiden; nicht jedoch, dass die explanatorischen Tugenden, durch die sich eine bessere von einer schlechteren Erklärung unterscheidet, überall die gleichen sein müssen. Wenn den unterschiedlichen Erklärungsformen verschiedene Arten des Verstehens eines Gegenstandes korrespondieren, wie ich behauptet habe, dann liegt es sogar nahe, dass nicht die gleichen explanatorischen Tugenden gelten: So mögen etwa die empirische Testbarkeit und die Fähigkeit, möglichst exakte Prognosen über zukünftige Ereignisse abzugeben, den Erklärungswert einer naturwissenschaftlichen Theorie erhöhen; für eine metaphysische Theorie gilt das dagegen beispielsweise nicht. Das bedeutet, dass die explanatorischen Tugenden für jeden Erklärungstyp eigenständig zu erarbeiten sind. Maßstab muss dabei jeweils sein, inwiefern eine bestimmte explanatorische Tugend zum Verständnis des Gegenstandsbereichs und zur Wahrscheinlichkeit einer Theorie beiträgt. Unter der Annahme, dass dies gelingt, sind dann die von der besten (und hinreichend guten) Theorie postulierten Entitäten in unsere Ontologie aufzunehmen – es wäre dogmatisch, sie auf kausal relevante Entitäten zu beschränken, wenn es sich bei konstitutiven Erklärungen ebenso sehr um Erklärungen handelt wie bei kausalen. Dies bedeutet gleichzeitig eine Zurückweisung von Gilbert Harmans Prinzip, dass die Ausübung einer kausalen Funktion eine notwendige Bedingung für die Berechtigung der Überzeugung von der Existenz einer Art von Tatsachen
36 | 2 Theorien der Normativität und der Schluss auf die beste Erklärung ist.³³ Es ist vielmehr mit Paul Grice zu einem „Prinzip der explanatorischen Funktion“ zu erweitern, nach dem wir alle und nur solche Entitäten in unsere Ontologie aufnehmen sollten, die in unseren besten Erklärungen jeglicher Art eine Rolle spielen. Grice schreibt: „Mein Geschmack tendiert dazu, das Haus für alle Arten und Formen von Entitäten offenzuhalten, solange sie bei der Hausarbeit mithelfen. Vorausgesetzt, ich sehe sie bei der Arbeit und erwische sie nicht bei unerlaubtem logischem Verhalten, […] finde ich sie mitnichten merkwürdig oder mysteriös.“³⁴ „Hausarbeit“ leisten die Entitäten, wenn sie eine Rolle in unseren besten Erklärungen spielen. Die dem Prinzip der funktionalen Rolle zugrundeliegende Überlegung ist einfach und einleuchtend: Eine Tatsache kann nur dann eine andere erklären, wenn sie mindestens denselben Grad von Realität aufweist wie diese. Gleichzeitig genügt dieses Prinzip, um die Existenz von fliegenden Teetassen und ähnlichen unbekannten Flugobjekten auszuschließen.³⁵
2.3 Erklärung in der Theorie der Normativität Um zu plausibilisieren, dass auch die Formulierung metanormativer Theorien als Versuch eines Schlusses auf die beste Erklärung verstanden werden sollte, ist dem Gesagten zufolge dreierlei erforderlich. Erstens ist darzulegen, was genau eigentlich erklärt werden soll – das Explanandum. Zweitens müssen wir uns darüber klarwerden, in welcher der oben unterschiedenen Bedeutungen – kausal, konstitutiv, funktional, mathematisch – bei metanormativen Theorien von „Erklärungen“ gesprochen werden kann; vielleicht kann ein und dasselbe Explanandum sogar verschiedenen Typen von Erklärung unterzogen werden. Schließlich ist die Frage zu klären, nach welchen Kriterien der relative Wert verschiedener metanormativer Theorien bestimmt werden soll, also die Frage nach den explanatorischen Tugenden einer metanormativen Theorie. Für deren relative Gewichtung ein Prinzip angeben zu wollen, ist vermutlich ein von vornherein zum Scheitern bestimmtes Unterfangen; so bleibt nur, die Arten explanatorischer Tugenden grob zu benennen und auf eine Besonderheit im Bereich metanormativer Theorien hinzuweisen. Bei all dem ist im Hinterkopf zu behalten, dass selbst die angesehensten Vertreter
33 Vgl. dazu insbesondere Harman, The Nature of Morality, Kap. 1. 34 Grice, „Method in Philosophical Psychology“, S. 31. 35 Der Sache nach folge ich damit David Enoch, der die harmansche Forderung ebenfalls zurückweist, jedoch mit dem Hinweis, dass die Hausarbeit nicht unbedingt explanatorischer Natur sein müsse. Im Unterschied zu ihm möchte ich jedoch den Begriff der Erklärung nicht auf Kausalerklärungen beschränken und sehe daher keinen Grund, das Prinzip der explanatorischen Rolle aufzugeben. Vgl. Enoch, Taking Morality Seriously, S. 53f.
2.3 Erklärung in der Theorie der Normativität |
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ihres Faches nicht immer im Klaren darüber zu sein brauchen, welcher Art von Methode sie implizit folgen – siehe Sherlock Holmes.
2.3.1 Der Gegenstand von Theorien der praktischen Normativität Beginnen wir mit der vielleicht einfachsten von drei schwierigen Fragen, der nach dem Gegenstand metanormativer Theorien: Was soll erklärt werden (wenn überhaupt erklärt werden soll)? Die nächstliegende Antwort lautet natürlich, dass metanormative Theorien Erklärungen normativer Phänomene sind. Aber was ist „das Normative“? Die Verhaltensregeln einer bestimmten Zeit, Kultur oder Gruppe? Sicher nicht, wenn die Theorie der praktischen Normativität doch auf etwas Allgemeines abzielt. Doch ebenso wenig können darunter moralische Universalien zu verstehen sein, Normen und Prinzipien, die sich zu vielen, vielleicht allen Zeiten und Orten allgemeiner Anerkennung erfreut haben; das Nichtschadensprinzip oder die Goldene Regel springen als mögliche Beispiele ins Auge. Den Versuch, solche normativen Prinzipien zu erklären, würde man am natürlichsten entweder als den Versuch interpretieren, sie aus anderen, noch grundlegenderen Prinzipien abzuleiten – oder als das Unterfangen, die große Akzeptanz solcher Regeln als das Resultat evolutionärer Anpassungsvorgänge deuten. Was auch immer man von derartigen Versuchen halten mag, es ist klar, dass sie selbst nicht metanormativen Charakters sind. Die Lehre daraus ist, dass die Normativitätstheorie überhaupt nicht als Erklärung einzelner normativer Urteile (oder einer beliebigen Menge davon) zu verstehen ist. Es geht ihr vielmehr um die Erklärung der (einer) normativen Praxis überhaupt. Was bedeutet es, Normativität als eine Praxis zu betrachten? Es heißt weder notwendigerweise, dass es für eine solche Praxis keine externen Maßstäbe geben kann, noch dass die Bedeutung ethischer Ausdrücke in nichts anderem besteht als den Regeln für ihren Gebrauch. Auch ohne eine solche Festlegung auf einen Quietismus oder einen Inferentialismus lässt sich eine normative Praxis charakterisieren als ein System von Regeln, die es erlauben oder fordern, bestimmte Übergänge in einem Sprachspiel zu machen. Im Unterschied zu einem System normativer Urteile, das festlegt, unter welchen Bedingungen welche normativen Ausdrücke auf welche Handlungen, Personen, Verhältnisse angewendet werden dürfen oder sollen, ist die normative Praxis bestimmt als die Gesamtheit der Regeln, die mit normativen Ausdrücken als solchen verbunden sind. Wir erkennen diese Regeln, wie so oft, durch ihre Verletzung: da sie konstitutiv für das normative Sprachspiel sind, bricht die Kommunikation (lokal) zusammen, wenn sie nicht eingehalten werden (so wie eine Schachpartie zusammenbricht, wenn einer der Spieler wiederholt regelwidrige Züge macht).
38 | 2 Theorien der Normativität und der Schluss auf die beste Erklärung Mit Wilfrid Sellars können wir dabei drei verschiedene Arten von Regeln unterscheiden: Regeln für den Spracheintritt (language-entry transitions), für innersprachliche Übergänge (intralinguistic transitions) sowie für den Sprachaustritt (language-departure transitions).³⁶ Spracheintrittsregeln sind solche Regeln, die es einem erlauben, von außen kommend eine bestimmte Position innerhalb des Sprachspiels einzunehmen; Sellars’ Beispiel dafür sind Beobachtungssätze, die bei entsprechenden visuellen Eindrücken geformt werden.³⁷ Analog kann uns etwa das Empfinden eines bestimmten Gefühls wie Empörung bei der Beobachtung einer Handlung erlauben, eine Position innerhalb des normativen Sprachspiels einzunehmen: zu „denken, urteilen, behaupten“, dass hier Unschuldige misshandelt werden. Von solchen Positionen aus kann man dann aufgrund von „Zügen“ innerhalb des Sprachspiels zu anderen Positionen übergehen, etwa dem Urteil, dass man den Täter an der weiteren Ausführung dieser Handlung hindern sollte. Drittens gibt es Regeln, die festlegen, wie man von einer Position innerhalb des Sprachspiels zu einem Verhalten gelangt, das selbst keine Position innerhalb des Spiels ist: das Urteil „man sollte den Täter an seiner Tat hindern“ kann oder sollte ein entsprechendes (nicht-sprachliches) Handeln vonseiten des Beobachters nach sich ziehen. Die Regeln können dabei bestimmte Übergänge erlauben, verbieten oder erzwingen; wie die Regeln des Schachspiels teils bestimmte Züge erlauben und verbieten (den Läufer auf der Diagonalen beliebig weit zu bewegen, wobei keine andere Figur übersprungen werden darf), andererseits fordern (den bedrohten König aus dem Schach zu ziehen), so ist der Zug von „mir wurde unrecht getan“ zu „ich habe ein Recht, mich zu beklagen“ obligatorisch, der Übergang von „ich habe ein Recht, mich zu beklagen“ zu „ich beklage mich“ dagegen optional. Das normative Sprachspiel zu erklären, möchte ich nun behaupten, würde bedeuten, die konstitutiven Regeln für den Sprachein- und -austritt sowie die innersprachlichen Übergänge im Gebrauch von Ausdrücken wie „gut“, „richtig“, „falsch“, „böse“, „tugendhaft“, „Pflicht“ usw. zu erklären, und zwar vis-à-vis den Regeln für den Gebrauch nicht-normativer Ausdrücke – wobei die Gemeinsamkeit normativer Ausdrücke vermutlich darin besteht, dass sie eine besondere Rolle beim Sprachaustritt spielen. Dabei sind es in erster Linie die Differenzen zu anderen (nicht-normativen) Sprachspielen, die erklärungsbedürftig sind; insofern die gegebenen Erklärungen jedoch grundlegende Unterschiede zwischen dem normativen und anderen Sprachspielen behaupten, werden dann auch die Gemeinsamkeiten erklärungsbedürftig (weil ein und dieselbe Regel dann offenbar unterschiedliche Erklärungen verlangt). Damit ergibt sich als eine erste Aufgabe für die weitere
36 Vgl. Sellars, „Some Reflections on Language-Games“, S. 36. 37 Ebd., S. 36.
2.3 Erklärung in der Theorie der Normativität |
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Arbeit, die konstitutiven Regeln für den Gebrauch des Ausdrucks „vortrefflich“ und seiner Verwandten zu bestimmen.
2.3.2 In welchem Sinne erklären metanormative Theorien? Wie gesagt, kann diese Beschreibung einer normativen Praxis als ein System von Übergangsregeln auch dann erhellend sein, wenn man nicht der inferentialistischen Auffassung zuneigt, dass die Bedeutung der enthaltenen Ausdrücke in nichts anderem besteht als ihrer Rolle innerhalb eines solchen Systems. Was würde es nun bedeuten, eine solche Praxis insgesamt zu „erklären“? Allgemein gesprochen, bedeutet es, eine Antwort zu geben auf die Frage, warum gerade diese Regeln Geltung besitzen und nicht andere; warum das System von Übergangsregeln so ist und nicht anders. Den Versuch, die normative Praxis zu erklären, kann man jedoch in zwei Weisen verstehen: Zum einen als Antwort auf die Frage, wie diese Regeln dazu gekommen sind, Geltung zu besitzen; dies wäre den obigen Ausführungen zufolge dem kausalen Erklärungstypus zuzuordnen. In diesem Sinne sind etwa Bemühungen zu verstehen, „die Moral“ aus der evolutionären Notwendigkeit zu erklären, Gruppenkohäsion zu erzeugen und so das Überleben in einer feindlichen Umwelt zu ermöglichen. Die klassischen metanormativen Theorien – vom Nonnaturalismus über den Nonkognitivismus und die Irrtumstheorie bis hin zum naturalistischen Realismus – geben jedoch nicht etwa andere Antworten auf diese Frage, sondern haben ein gänzlich anders gelagertes Interesse; grundsätzlich ist jede von ihnen vereinbar mit jeder möglichen Theorie der Entstehung „der Moral“. Damit soll natürlich nicht geleugnet werden, dass solche kausalen Theorien auch auf metanormative Theorien ein Licht werfen und mit ihnen besser oder schlechter harmonieren können. Dennoch handelt es sich um zwei verschiedene Fragen. Die Normativitätstheorie hat es dagegen mit der nicht-kausalen Erklärung des normativen Sprachspiels zu tun: einer Art der Erklärung, die nicht voraussetzt, dass ihr Gegenstand zu irgendeinem Zeitpunkt entstanden ist. Sie antwortet also nicht auf die Frage, wie die Regeln der normativen Praxis dazu gekommen sind, Geltung unter ihren Teilnehmern zu besitzen, sondern darauf, was es mit dieser Geltung überhaupt auf sich hat. Doch um welche Art nicht-kausaler Erklärung handelt es sich – mathematisch, funktional, konstitutiv? Um eine mathematische Erklärung wohl nicht, wenn diese voraussetzt, dass ihr Gegenstand nicht in der Zeit entstanden ist. Geht die Erklärung also konstitutiv oder funktional vor? Betrachtet man einflussreiche Theorien der praktischen Normativität – den starken Realismus, Konstruktivismen kantischer und humescher Spielart, den Nonkognitivismus, die Irrtumstheorie –, so fällt auf, dass sie allesamt eine Antwort
40 | 2 Theorien der Normativität und der Schluss auf die beste Erklärung auf die Frage geben, was diese Praxis eigentlich ausmacht, was der Kern (oder der „Witz“) dieser Praxis ist. Darin ist reflektiert die gängige Redeweise, dass es die Metaethik – im Unterschied zu den einzelnen normativen Theorien, aber auch zu einer Kausalerklärung – mit dem „Wesen“ der Moral zu tun hat. Damit ist jedoch nicht gemeint, dass sie die für diese Praxis wesentlichen Eigenschaften im Sinne hinreichender und notwendiger Bedingungen angeben. Diese bestehen vermutlich vielmehr in eben den für sie konstitutiven Regeln, mit denen wir im Sozialisationsprozess vertraut gemacht werden und die wir im Zuge der philosophischen Reflexion explizieren können. Nein, die Frage nach dem „Wesen“ der Moral oder, allgemeiner, der normativen Praxis zielt vielmehr auf eine Bestimmung ihres Verhältnisses „nach außen“ ab, gegenüber dem, was selbst nicht Teil dieser Praxis ist; beispielsweise die Rationalität von Akteuren, ihre Interessen, Gefühle oder Wünsche, natürliche und moralische Eigenschaften von Handlungen oder soziale Konventionen. Eine solche Verhältnisbestimmung kann man eine Lokalisierung der Praxis nennen. Auch bei der Lokalisierung handelt es sich wohl um eine essentielle Eigenschaft, aber nicht um eine, deren auch nur implizite Erfassung für eine kompetente Beherrschung der Praxis vorausgesetzt wird. Ähnliches lässt sich etwa im Fall der Kunst konstatieren – auch hier sind wir primär mit einer bestimmten Praxis vertraut, deren Verhältnis zur Gesellschaft, zur Psyche oder zum Göttlichen im Laufe der Geschichte sehr unterschiedlich gedeutet worden ist. Können wir derart die praxiskonstituierenden Regeln von der Lokalisierung der normativen Praxis gegenüber anderem unterscheiden, dann ist es nicht unplausibel, dass es in der Normativitätstheorie um eine Erklärung der ersteren durch die letztere geht, mit anderen Worten: um eine Erklärung der internen Struktur des normativen Sprachspiels, wie sie sich in den Regeln des Sprachein- und -austritts sowie der innersprachlichen Übergänge ausdrückt, durch sein Verhältnis zu anderem (nennen wir dies eine relationale Erklärung). Eine solche Form des Erklärens ist uns auch sonst nicht unbekannt. Tatsächlich kann man den funktionalen Erklärungstypus als eine Art relationaler Erklärung betrachten: Wenn man den Aufbau einer Maschine über den Zweck erklärt, den sie erfüllen soll (der die Maschine gleichzeitig zur Maschine einer bestimmten Art macht), dann wird ebenfalls zur Erklärung ihrer inneren Struktur etwas herangezogen, was der Maschine extern ist. Relationale Erklärungen sind jedoch nicht auf die Angabe einer bestimmten Funktion beschränkt, sondern finden sich überall dort, wo versucht wird, die Verfasstheit eines Gegenstands (wie etwa der Sprache oder der Kunst) durch die Feststellung ihres Ortes im Gesamt der Dinge zu erhellen. Dass uns einerseits der ontologische Ort der normativen Praxis nicht gegeben ist, sondern wir ihn erst aus den charakteristischen Merkmalen dieser Praxis erschließen müssen, andererseits aber diese Merkmale durch die relationale Veror-
2.3 Erklärung in der Theorie der Normativität | 41
tung der Praxis erklärt werden sollen, ist an sich keine problematische Form von Zirkularität. Im Grunde handelt es sich lediglich um die aristotelische Unterscheidung von πρότερον ἡμῖν und πρότερον τῇ φύσει, „früher für uns“ und „früher von Natur“, die in den scholastischen Termini ordo essendi und ordo cognoscendi aufgenommen ist: Aus dem, was „der Erkenntnis nach“ früher ist, was wir also zuerst und gewisser wissen, schließen wir auf das Spätere, das aber dennoch „dem Sein nach“, d. h. explanatorisch, Vorrang hat vor dem epistemisch Primären. Die Deutung von metanormativen Theorien als relationale Erklärungen passt sowohl auf solche Theorien, die die normative Praxis durch eine bestimmte ihr äußerliche Funktion wie die Beeinflussung der Mitmenschen oder einen Ausgleich von primären Interessen bestimmt sehen, als auch auf Positionen, die – wie der Emotivismus – Werturteile für einen Ausdruck von Gefühlen oder aber – wie Moore – für die Wiedergabe einer Struktur in der Realität halten. In jedem Falle ist jedoch die vorgeschlagene Art der Verbindung zwischen der Praxis und dem sie wesentlich mitkonstituierenden externen Faktor durch die Art und Weise zu plausibilisieren, wie sie zum Verständnis von charakteristischen Merkmalen der Praxis beiträgt. Wie aber können wir einschätzen, wie gut dies verschiedenen Theorien gelingt?
2.3.3 Explanatorische Tugenden metanormativer Theorien Wenn unter der besten Erklärung tatsächlich diejenige zu verstehen ist, die uns das größtmögliche Verständnis ermöglicht, dann müssen sich die explanatorischen Tugenden über ihren Beitrag zu unserem Verständnis ausweisen lassen. Dies gilt entsprechend auch für Theorien der praktischen Normativität. Da umgekehrt das Verständnis für einen Gegenstandsbereich daran zu messen ist, wie man ihn erklären kann, d. h. welche und wie viele Warum-Fragen man über ihn beantworten kann, können wir uns der Frage nach den explanatorischen Tugenden metanormativer Theorien darüber nähern, in welcher Weise sie unser Erklärungsvermögen erweitern können. Zunächst ist festzuhalten, dass eine solche Theorie dann (ceteris paribus) besser ist, wenn es ihr gelingt, eine größere Zahl an Merkmalen der normativen Praxis zu erklären; wir verstehen mehr, können mehr Warum-Fragen beantworten, wenn die Theorie Aussagen über einen weiteren Gegenstandsbereich trifft. Dabei ist zu beachten, dass es nicht so sehr um die schiere Zahl erklärter Phänomene aus dem Bereich der praktischen Normativität geht, sondern vielmehr um das, was Paul Thagard mit William Whewell als „Konsilienz“ bezeichnet, nämlich um die Fähig-
42 | 2 Theorien der Normativität und der Schluss auf die beste Erklärung keit einer Theorie, verschiedene Klassen von Tatsachen zu erklären.³⁸ Der Begriff einer Klasse von Tatsachen ist notorisch schwierig zu explizieren und teilweise abhängig von der kulturellen Organisation des Wissensbestandes,³⁹ doch können wir für unsere Zwecke zumindest diejenigen Regeln des normativen Sprachspiels, die evaluative Ausdrücke wie „gut“, „tugendhaft“ etc. leiten, als Klasse von Regeln für deontische Ausdrücke, die um den der Pflicht zentriert sind, trennen. Ähnlich dürften auch (wenn auch quer zur Unterscheidung evaluativ/deontisch) moralische, prudentielle, ästhetische usw. Begriffe mit ihren Regeln als eigene Klassen von Tatsachen gelten. Eine Theorie kann, zweitens, dann als vorzugswürdig (ceteris paribus) gelten, wenn es ihr gelingt zu zeigen, wie diese Merkmale miteinander in Verbindung stehen; wenn sie die verschiedenen Bereiche der normativen Praxis vereinheitlicht, etwa indem sie sie auf gemeinsame fundamentalere Begriffe zurückführt. Ein Beispiel dafür kann man in der Theorie T. M. Scanlons sehen, in der einerseits der Begriff des Guten auf den des Grundes zurückgeführt wird (indem das Gutsein mit dem Besitz von Eigenschaften identifiziert wird, die Gründe darstellen, uns dem Gegenstand gegenüber in einer bestimmten Weise zu verhalten),⁴⁰ andererseits aber eine Handlung dann als moralisch falsch zu gelten hat, „wenn und weil sich ein solches Handeln nicht gegenüber anderen auf einer Grundlage rechtfertigen lässt, die sie nicht vernünftigerweise zurückweisen können“.⁴¹ Evaluative und deontische Ausdrücke werden so durch den des Grundes vereinheitlicht. Vereinheitlichung kann natürlich auch dadurch geschehen, dass das Richtige auf das Gute, das Moralische auf das Prudentielle usw. zurückgeführt wird. Auch eine solche Vereinheitlichung, wenn sie denn gelingt, ohne auf Kosten der Adäquatheit zu gehen, vergrößert unser Verständnis des Gegenstandsbereichs. Häufig wird als explanatorische Tugend wissenschaftlicher Theorien auch die Einfachheit genannt, doch ist, wie Mackonis formuliert, die „Einfachheit ironischerweise die komplexeste der explanatorischen Tugenden“.⁴² Unter Einfachheit lässt sich nämlich recht Verschiedenes verstehen. Dabei ist schwer zu sehen, wie die bloß geringere Zahl an postulierten Entitäten(-typen) unser Verständnis vertiefen könnte, außer vielleicht insofern, als (bei gleicher Konsilienz und Vereinheitlichung) damit zugleich die fundamentaleren Beziehungen zwischen den Phänomenen erfasst sind; im Übrigen ist Ockhams Prinzip entia non sunt multi38 Thagard, „The Best Explanation: Criteria for Theory Choice“, S. 79. 39 Vgl. ebd., S. 80. 40 Scanlon, What We Owe to Each Other, S. 95–100. 41 Ebd., S. 170. 42 Mackonis, „Inference to the Best Explanation, Coherence and other Explanatory Virtues“, S. 987.
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plicanda praeter necessitatem damit abgegolten, dass die und nur die Entitäten zu postulieren sind, von denen die beste Theorie spricht, also im Übergang von der „besten“, erklärungsmächtigsten zur „richtigen“, wahren Theorie. Hingegen ist die größere Einfachheit im Sinne der geringeren Zahl an nicht ohnehin aus anderweitigen Gründen schon angenommenen Entitäten als Vorzug einer Theorie zu werten, da solche Entitäten leicht im Verdacht stehen, ad hoc postuliert zu werden. In diesem letzteren Sinne grenzt die Einfachheit an ein viertes Kriterium, nämlich die Passung zu Hintergrundüberzeugungen (engl. fit with background belief ). Eine Theorie, die in Widerspruch zu anderen Theorien oder zu allgemein akzeptierten Alltagsüberzeugungen steht, verringert damit zumindest in dieser Hinsicht unser Verständnis der Welt. Das gilt auch im Bereich der Normativitätstheorie, auch wenn nur wenige philosophische Theorien, wenn überhaupt, den Status etablierter Erkenntnisse in Anspruch nehmen können. Doch lassen sich zumindest weit verbreitete methodische Prinzipien wie ein genereller Naturalismus anführen, die die Beweislast auf die Schultern desjenigen zu legen scheinen, der ihnen zuwiderlaufende Theorien vertreten möchte. Darüber hinaus lässt sich fragen, ob die Tatsache, dass der Gegenstand der Normativitätstheorie eben eine normative Praxis ist, Rückwirkungen darauf hat, welche Art von Überlegungen wir als Gründe für und wider bestimmte einzelne Theorien zulassen sollten. Insbesondere könnten wesentliche normative Prinzipien selbst zu den Hintergrundüberzeugungen gezählt werden, denen sich eine Theorie der Normativität einzufügen hätte. Dies könnte in zwei Weisen der Fall sein, direkt und indirekt. Eine direkte Verbindung bestünde dann, wenn einzelne normative Erwägungen gegen das Vertreten einer bestimmten Normativitätstheorie sprechen würden; eine indirekte Verbindung läge hingegen dann vor, wenn sich aus der normativitätstheoretischen Position in Verbindung mit einer weiteren normativen Prämisse fragwürdige oder sogar inakzeptable normative Forderungen ergäben. Betrachten wir zunächst die Möglichkeit einer direkten Verbindung. Auch wenn dies von Vertretern subjektivistischer Theorien der praktischen Normativität routinemäßig bestritten wird,⁴³ scheint es durchaus plausibel, dass ein bestimmtes Bild der normativen Praxis die Ausübung dieser Praxis selbst beeinflusst; man kann sogar vermuten, dass die eine oder andere Form solcher Beeinflussung die tiefere Sorge ist, die (psychologisch) viele metanormative Theorien antreibt. Beispielsweise wird oft (wenn auch weniger explizit in philosophi-
43 So schreibt beispielsweise A. J. Ayer (in „On the Analysis of Moral Judgements“, S. 246): „Alle Moraltheorien, Intuitionismus, Naturalismus, Objektivismus, Emotivismus usw., sind, insofern sie philosophische Theorien sind, neutral in Bezug auf tatsächliches Verhalten.“
44 | 2 Theorien der Normativität und der Schluss auf die beste Erklärung schen Diskussionen) befürchtet, dass die Überzeugung von der Objektivität der Moral dazu tendiert, ihre Vertreter dogmatisch, intolerant oder moralistisch zu machen.⁴⁴ Umgekehrt könnte man meinen, dass ein Subjektivismus dazu führt, dass moralische Überzeugungen als disponibel betrachtet und bei zu großen Kosten aufgegeben werden. Sind derlei empirische Überlegungen (wenn sie denn wahr sind) gute Gründe für normativitätstheoretische Positionen, und sollten sie Berücksichtigung finden in der Aufzählung der explanatorischen Tugenden im Bereich der Metanormativität? Ja und nein. Insofern es tatsächlich wichtig ist, einerseits nicht dogmatisch und intolerant zu sein, sich aber andererseits auch unter großem Druck an seinen wohlerwogenen, authentischen moralischen Überzeugungen orientieren zu können, und wenn es eine empirische Verbindung der bezeichneten Weise zwischen der Art, wie man die eigenen normativen Überzeugungen konzeptioniert, und dem Umgang mit ihnen gibt, dann scheint es sich bei ihnen tatsächlich um gute Gründe für das Vertreten bestimmter metanormativer Positionen zu handeln. Die Situation lässt sich hier mit der in der berühmten Pascal’schen Wette vergleichen: Auch dort ist (wäre) das ewige Seelenheil und die ewige Verdammnis ja ein starker Grund, an Gott zu glauben. Dennoch haben solche pragmatischen Überlegungen keinen Platz unter den explanatorischen Tugenden, weil sie dem Inhalt des Geglaubten äußerlich bleiben. Sie lassen sich mit einer neueren metanormativen Unterscheidung als Zustandsgründe (engl. state-given reasons) beschreiben: Es sind Gründe, die dafür sprechen, die entsprechende doxastische Einstellung zu haben (sie geben eine Antwort auf die Frage, weshalb es gut wäre, sie zu besitzen); diese Gründe stammen jedoch nicht aus dem Objekt der Einstellung, sind also keine Inhaltsgründe (content-given reasons). Inhaltsgründe sind Gründe, die nicht nur dafür sprechen, die Einstellung E(p) einzunehmen, sondern die auch dafür sprechen, dass p tatsächlich der Fall ist.⁴⁵ 44 Vgl. Enoch, Taking Morality Seriously, S. 26, Fn. 18. 45 Diese Unterscheidung ist weithin auch als die zwischen Gründen der „richtigen“ und solchen der „falschen“ Art bekannt geworden; s. Jacobson, „Wrong Kind of Reasons Problem“. Da diese Terminologie jedoch das Missverständnis nahelegt, Gründe der falschen Art könnten nicht gute Gründe sein, wird auf sie zugunsten der im Text verfolgten Sprachregelung verzichtet. Wichtig ist ferner, zu sehen, dass die Unterscheidung von Zustands- und Inhaltsgründen quer zu der von praktischen und theoretischen Gründen steht: Sowohl für praktische Einstellungen wie Handlungen als auch für doxastische Einstellungen wie Überzeugungen können Inhalts- wie Zustandsgründe sprechen (vgl. Shah, „How Truth Governs Belief“, Olson, „Buck-Passing and the Wrong Kind of Reason“ und Rabinowicz und Rønnow-Rasmussen, „The Strike of the Demon: On Fitting Pro-attitudes and Value“). Für Literaturhinweise bin ich Michel Meliopoulos zu Dank verpflichtet.
2.3 Erklärung in der Theorie der Normativität |
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Dass Zustandsgründe nichts mit den explanatorischen Tugenden zu tun haben, wird durch zwei Überlegungen nahegelegt. Erstens: Wie wünschenswert es aus pragmatischen Gründen auch sein mag, ein Anti-Realist oder ein Realist zu sein, wenn die rein theoretischen Gründe – wie Reichweite, Einfachheit, Kohärenz usw. – eindeutig einer Theorie den Vorzug geben vor einer anderen, dann scheinen die moralischen Auswirkungen einfach überhaupt nicht mehr zu zählen. Mit anderen Worten: Pragmatische Tugenden wiegen theoretische Laster nicht auf. Wichtiger und in unserem Zusammenhang entscheidend ist jedoch eine zweite Überlegung. Die explanatorischen Tugenden sind diejenigen Eigenschaften einer Theorie, die sie zu einer guten Erklärung machen; Zustandsgründe machen eine bestimmte Position jedoch nicht als Erklärung besser, weil sich nicht erkennen lässt, wie sie unser Verständnis des betrachteten Gegenstandsbereichs erweitern können. Daher sollten die moralischen Auswirkungen des Vertretens der einen oder anderen Theorie der praktischen Normativität nicht unter ihre explanatorischen Tugenden gerechnet werden. Anders sieht es bei Argumenten aus einer indirekten Verbindung zwischen einer normativitätstheoretischen Position und der normativen Praxis aus. Ein Beispiel für ein solches Argument stellt David Enochs „Unparteilichkeitsargument“ (argument from impartiality) dar.⁴⁶ Er betrachtet eine bestimmte Theorie der praktischen Normativität, den (von ihm) so genannten „karikierten Subjektivismus“, dem zufolge moralische Urteile nichts anderes sind als Berichte über einfache Präferenzen und moralische Konflikte dementsprechend interpersonale Konflikte aufgrund von bloßen Präferenzunterschieden. In Verbindung mit der normativen Prämisse, dass Konflikte, die lediglich auf verschiedenen Präferenzen beruhen, in egalitärer Weise durch einen Kompromiss gelöst werden sollten und das Insistieren auf der eigenen Position in einer solchen Situation falsch ist, folgt daraus, dass auch moralische Konflikte nach einer Kompromisslösung verlangen. Das jedoch ist falsch: In (vielen) moralischen Konflikten ist es erlaubt oder sogar gefordert, auf dem eigenen Standpunkt zu beharren. Daher muss der karikierte Subjektivismus falsch sein. Enoch bleibt dabei nicht stehen, sondern versucht durch verschiedene Erweiterungen zu zeigen, dass das Argument auch nicht-karikierte Formen des Subjektivismus trifft. Für die hier verfolgte Frage ist dies jedoch zweitrangig, denn es geht darum, ob normative Folgerungen aus einer normativitätstheoretischen Position im Sinne eines Inhaltsgrundes gegen diese sprechen können. Und es scheint, dass Enochs Argument zeigt, dass derlei zumindest prinzipiell möglich ist. Normativ halten wir es für gefordert, einen Unterschied zu machen zwischen (auch unseren
46 Enoch, Taking Morality Seriously, S. 16–49, bes. S. 25f.
46 | 2 Theorien der Normativität und der Schluss auf die beste Erklärung eigenen) „bloßen Präferenzen“ und wirklichen moralischen Überzeugungen. Der „Nichts-anderes-als“-Reduktionismus des karikierten Subjektivismus erlaubt es jedoch anscheinend nicht, solche Unterschiede zu rechtfertigen. Daher ist er mit einer wichtigen normativen Hintergrundüberzeugung unvereinbar, und eines von beidem ist aufzugeben. Es ist wichtig, dass diese Unvereinbarkeit – im Unterschied zu den pragmatischen Zustandsgründen – tatsächlich gegen die Wahrheit der normativitätstheoretischen Position spricht: Wenn eine metanormative Theorie einen bedeutenden normativen Unterschied nicht abbilden kann, dann gelingt es ihr zumindest in dieser Hinsicht nicht, die normative Praxis verständlich zu machen. Daraus ist zu folgern, dass bei metanormativen Positionen auch normative Urteile zu den Hintergrundüberzeugungen zählen, mit denen sich eine vorgeschlagene Theorie prima facie (d. h. auf eine prinzipiell revidierbare Weise) als vereinbar erweisen sollte. Gleichzeitig wird daraus deutlich, dass Normativitätstheorien in dieser Hinsicht eine Sonderstellung besitzen. Denn die Notwendigkeit bestimmter normativer Folgerungen aus einer metanormativen These kann ein Grund sein, diese in Frage zu stellen, während zwar auch aus sprachphilosophischen oder biologischen Sätzen in Verbindung mit einer normativen Prämisse weitere normative Urteile folgen können, diese aber niemals einen Grund darstellen, die nicht-normativen Prämissen zu bezweifeln.
2.4 Zusammenfassung und Folgerungen Man kann die Überlegungen dieses Kapitels als eine Übung in „Metametaethik“ oder der Methodologie metanormativer Theoriebildung bezeichnen: Ich habe versucht, mein Verständnis der methodischen und wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Theorie praktischer Normativität offenzulegen, um daraus zugleich einen Anhalt für das weitere Vorgehen zu gewinnen. Vergleicht man verschiedene Theorien in diesem Bereich auf ihre Argumentationsmuster, dann drängt sich die Beobachtung auf, dass es sich bei ihnen häufig um verschiedene Erklärungen derselben Phänomene handelt, für die dann mit unterschiedlichen Gründen Überlegenheit in Anspruch genommen wird. Es liegt daher nahe, sie als Schluss auf die beste Erklärung zu verstehen. Ein Schluss auf die beste Erklärung ist, wie in Abschnitt 2.1 im Anschluss v. a. an Peter Lipton ausgeführt wurde, die kontrastive Wahl einer von mehreren konkurrierenden potentiellen Erklärungen aufgrund der Tatsache, dass sie (falls wahr) das tiefste Verständnis des zu erklärenden Gegenstands ermöglichen würde. Beim Erklären geht es daher schon im Alltag, ebenso aber in der Wissenschaft letztlich nicht um die Generierung von Daten oder die Identifikation von Mustern,
2.4 Zusammenfassung und Folgerungen
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sondern um die Gewinnung eines möglichst tiefen und vielseitigen Verständnisses der betrachteten Prozesse, Strukturen oder Gegenstände. Wissenschaftliche Theorien können aber entlang verschiedener Dimensionen, der sog. explanatorischen Tugenden, zum Verständnis ihres Gegenstandes beitragen, etwa durch die Vereinheitlichung verschiedener Phänomene, eine genauere Beschreibung der zugrundeliegenden Prozesse oder eine geringere Zahl an beteiligten Entitäten. Weit davon entfernt, dass Erklären und Verstehen einander ausschließen, sind sie daher wechselseitig aufeinander verwiesen: Eine erfolgreiche Erklärung führt uns zu einem besseren Verständnis des betrachteten Sachverhalts, und umgekehrt lässt sich das Verstehen nicht begreifen ohne das Verfügen über Erklärungen. Erklären kann jedoch, wie ich in Abschnitt 2.2 argumentiert habe, in verschiedenen Kontexten Unterschiedliches bedeuten: nicht nur die kausale Nachzeichnung des Prozesses, der zu einem bestimmten Zustand geführt hat, sondern beispielsweise auch die Beweisbarkeit aus charakteristischen Eigenschaften in der Mathematik oder den Aufweis des Beitrags eines Merkmals zur Erfüllung seiner funktionalen Rolle innerhalb eines Gesamtsystems. Diesen unterschiedlichen Erklärungstypen können unterschiedliche explanatorische Tugenden entsprechen, die aber alle auf die jeweils angezielte Art des Verstehens bezogen sein müssen. Diese Überlegungen sollten den Boden bereiten für eine Rekonstruktion der metanormativen Praxis in Abschnitt 2.3, die die verschiedenen Normativitätstheorien als potentielle Erklärungen versteht, unter denen wiederum die beste auszuzeichnen ist. Die Analyse ging in drei Schritten vor. Der Gegenstand der Normativitätstheorie, ihr Explanandum, wurde bestimmt als die normative Praxis, d. h. die Gesamtheit der sprachinternen und -externen Übergangsregeln für den Gebrauch normativer Ausdrücke. Solche Regeln erklären zu wollen, muss nach dem oben Gesagten nicht bedeuten, ihre historischen Entstehungsbedingungen anzugeben, etwa durch ihre Deutung als evolutionäre Anpassungsstrategie; der Normativitätstheorie geht es vielmehr darum, die Merkmale dieser Praxis über ihren systematischen Ort in der Wirklichkeit zu erhellen. Für die Bewertung solcher Theorien gelten zwar im Wesentlichen ähnliche, schwer abwägbare Kriterien wie in anderen Feldern (Konsilienz, Vereinheitlichung, Einfachheit, Passung zu Hintergrundüberzeugungen), doch mit einer bedeutenden Ausnahme. Zwar sind direkte normative Argumente für und wider das Vertreten bestimmter Theorien auszuschließen, weil sie Gründe „der falschen Art“ darstellen und diese Theorien nicht als Erklärungen treffen; normative Auffassungen gehören aber zu den Hintergrundüberzeugungen, in die sich metanormative Theorien einfügen müssen, so dass normative Folgerungen, die sich aus ihnen ergeben und weitverbreiteten und wohlerwogenen moralischen Intuitionen widersprechen, zumindest als Prima-facie-Grund gegen diese Theorien betrachtet werden dürfen.
48 | 2 Theorien der Normativität und der Schluss auf die beste Erklärung Die vorliegende Arbeit versteht sich somit als Teil eines Forschungsfeldes, in dem sich wesentliche Argumente als Teil eines Schlusses auf die beste (nichtkausale) Erklärung des praktisch-normativen Diskursbereiches darstellen. Sie beschränkt sich notgedrungen in zwei Hinsichten: Ihr Gegenstand ist erstens nur ein Ausschnitt der normativen Praxis und zweitens nur eine Theorie dieses Bereichs. Der Ausschnitt ist gegeben durch die Fokussierung auf den Begriff der Vortrefflichkeit als artrelatives finales Gutsein, wie er im ersten Kapitel eingeführt wurde; nur in Verbindung damit betrachtet oder ganz ausgeschlossen werden andere zentrale Begriffe der normativen Praxis wie „Pflicht“, „böse“, „Wohl“, „Würde“ oder „Grund“. Die Explananda, die eine Theorie der Vortrefflichkeit zu erläutern hat, werden im folgenden Kapitel herausgearbeitet (Kap. 3). Erst dann kann der metanormative Platonismus, ausgehend von einer bestimmten Interpretation der platonischen Ideenlehre (Kap. 4), als eine mögliche Erklärung dieser Explananda dargestellt werden (Kap. 5). Seine Beurteilung, das ist die zweite Einschränkung, kann nur vis-à-vis anderen Theorien erfolgen; aber es ist klar, dass eine umfassende Würdigung der relativen Vorzüge und Nachteile der einzelnen metanormativen Theorien in ihrer Anwendung auf die Vortrefflichkeit hier nicht zu leisten ist. Stattdessen werden wir uns auf die Identifikation derjenigen Explananda beschränken, die im Rahmen einer realistischen Theorie besonders problematisch erscheinen, und sehen, ob der Platonismus Mittel besitzt, mit ihnen umzugehen.
3 Explananda einer Theorie der Vortrefflichkeit Das Ziel dieses Kapitels besteht in der Herausarbeitung der konstitutiven Spielregeln, die die Praxis des Sprechens (und Denkens) über das Gute im Sinne des Vortrefflichen anleiten. Entsprechend der im letzten Kapitel entwickelten Methodologie stellen diese Regeln in ihrer Gesamtheit das Explanandum dar, das von metanormativen Theorien des Guten wie dem Platonismus erklärt werden soll. Worin also bestehen die erklärungsbedürftigen grammatischen Merkmale der Vortrefflichkeit (neben ihrem logisch attributiven und finalen Charakter, der in Kap. 1 herausgestellt wurde)? Als methodischer Ansatzpunkt für ihre Ermittlung bietet sich ein selektiver Durchgang durch die Geschichte der Metaethik im 20. Jahrhundert an. Viele der Probleme, die heute unter dem Titel Metaethik verhandelt werden, ziehen sich natürlich durch die Geschichte des Nachdenkens über das menschliche Handeln und seine Normen: ob wir zum Beispiel nur dann einen Grund haben, die Forderungen der Moral zu befolgen, wenn sie unserem wohlverstandenen Eigeninteresse dienlich sind;¹ ob es Werteigenschaften als „ewige und notwendige Unterschiede“ in den Dingen gibt, die es angemessen und vernünftig machen, in einer bestimmten Weise zu handeln;² und ob „reine Vernunft zur Bestimmung des Willens für sich allein zulange“, wie Kant formuliert.³ Doch indem G. E. Moore in seinen Principia Ethica von 1903 die Frage aufwirft, was der Ausdruck „gut“ bedeutet, richtet er den Blick zugleich auf die sprachliche Verfasstheit der Rede vom Guten selbst und auf bestimmte erklärungsbedürftige Phänomene, die die normative Sprache gegenüber anderen Diskursbereichen auszuzeichnen scheinen. Damit initiiert er eine Debatte, in der die kommunikative Grammatik normativer Ausdrücke für und wider bestimmte Positionen ins Feld geführt wird, was sie zum geeigneten Fundort für die Sammlung der praxiskonstituierenden Regeln macht. Gegenstand der an Moore anschließenden metaethischen Diskussion des 20. Jahrhunderts ist zumeist entweder das intrinsische Gutsein von Gütern wie Gesundheit, Wissen und Tugend oder aber ein spezifischer verstandenes moralisches Gutsein, in erster Linie von Handlungen. Dennoch lassen sich viele der sprachlichen und „grammatischen“ Eigentümlichkeiten, die sich in der Debatte als charakteristisch für den Gebrauch des Ausdrucks „gut“ herauskristallisiert haben, ohne Weiteres auch auf die Vortrefflichkeit als artrelatives finales Gutsein übertragen. Die Rekonstruktion zentraler Topoi der Metaethik im 20. Jahrhundert 1 Platon, Rep. 357a–367e. 2 Samuel Clarke in Raphael, British Moralists 1650–1800, § 225. 3 Kant, „Kritik der praktischen Vernunft“, A 30. https://doi.org/10.1515/9783110623871-003
50 | 3 Explananda einer Theorie der Vortrefflichkeit wird nahelegen, dass über die semantischen Eigentümlichkeiten zwischen den verschiedenen Positionen der Metaethik ein relativ hohes Maß an Übereinstimmung besteht und sich der Dissens zumeist eher auf die Frage bezieht, wie diese sprachlichen Charakteristika am besten zu erklären sind. Eine erste Klasse von Explananda hat es dabei mit dem logischen Verhältnis des Guten zu nicht-normativen Ausdrücken, zum Handeln sowie zu spezifischeren evaluativen Charakterisierungen zu tun (Abschnitt 3.1). Daneben treten die semantischen Charakteristika der Rede vom Guten in seinem Verhältnis zu anderen Feldern der normativen Praxis; als exemplarisch können insbesondere diejenigen gelten, die um die Begriffe der Pflicht und des Bösen organisiert sind. Diese Beziehungen der Vortrefflichkeit zu anderen normativen Phänomenen stellen den Gegenstand von Abschnitt 3.2 dar.
3.1 Allgemeine Explananda der Vortrefflichkeit 3.1.1 Nichtsubstituierbarkeit Ein zweiter Grund für die besondere Stellung Moores in der Geschichte der Metaethik neben der durch ihn initiierten Wende zur Sprache liegt in einem einzigen, aber sehr wirkmächtigen Argument: dem berühmten „Argument der offenen Frage“ (open question argument). Dieses Argument richtet sich gegen jeden Versuch, das, was wir mit dem Ausdruck „gut“ meinen, mit einer natürlichen Eigenschaft oder einem Komplex solcher Eigenschaften zu identifizieren. Wenn dies der Fall wäre, „gut“ also dieselbe Bedeutung hätte wie ein beliebiger eine natürliche Eigenschaft bezeichnender Ausdruck „F“, müsste zwar gelten, dass der Satz „x ist dann und nur dann gut, wenn x F ist“ notwendigerweise wahr ist. Doch obwohl Moore der Auffassung ist, dass ein wahrer Satz dieser Form gefunden werden kann,⁴ wäre dies noch nicht hinreichend, um „gut“ und „F“ als bedeutungsgleich bezeichnen zu können. Denn zwei Ausdrücke bedeuten nach Moore nur dann dasselbe, wenn wir dabei auch „dasselbe im Sinn haben“ (have before our mind).⁵ Die „offene Frage“ lässt sich nun als ein Test verstehen, ob wir mit zwei verschiedenen Ausdrücken dasselbe im Sinn haben. Immer wenn dies der Fall ist, müssen sich diese Ausdrücke ohne Veränderung der Eigenschaften des Satzes, in dem sie auftreten, durch einander ersetzen lassen. Wenn also die Frage „Ist x gut?“ offen ist in dem Sinne, dass sowohl eine bejahende als auch eine verneinende Ant-
4 Moore, Principia Ethica, § 9 (S. 61). 5 Ebd., § 13 (S. 68).
3.1 Allgemeine Explananda der Vortrefflichkeit | 51
wort möglich erscheinen, während dies für die Frage „Ist x F?“ nicht gilt, können die Ausdrücke „F“ und „gut“ nicht bedeutungsgleich sein. Nun ist Moore nicht der Auffassung, dass es überhaupt keine Ausdrücke gäbe, die in einem Satz wie „x ist gut“ an die Stelle von „ist gut“ treten könnten: Er nennt etwa „ist intrinsisch wertvoll“ und „sollte existieren“ als Synonyme.⁶ Aber eine Vielzahl von Vorschlägen, die Moore, ob zu Recht oder zu Unrecht, als Versuche einer Definition von „gut“ betrachtet, scheitern tatsächlich an dem genannten Kriterium der Bedeutungsgleichheit. So mag es etwa der Fall sein, dass alles, was lustvoll (pleasant) ist, auch gut ist;⁷ aber während sich nicht sinnvoll fragen lässt, ob Lust lustvoll ist, scheint es durchaus eine offene Frage zu sein, ob Lust auch gut ist. Ähnliche Argumente lassen sich gegen andere Definitionsversuche richten, etwa gegen „begehrt“ (desired)⁸ oder „gebilligt“ (approved).⁹ Wenn wir etwas als gut bezeichnen, müssen wir also etwas anderes meinen, als wenn wir es als angenehm, begehrt oder gebilligt bezeichnen. Was haben diese Ausdrücke gemeinsam, was sie von „ist intrinsisch wertvoll“ und „sollte existieren“ unterscheidet? Es ist naheliegend, sie dadurch zu charakterisieren, dass sie „natürliche“ Eigenschaften bezeichnen. Moore folgt diesem Gedanken und bestimmt die natürlichen Eigenschaften als diejenigen, die „in der Zeit allein für sich existieren könnten“ (could exist in time by themselves) – ein Vorschlag, der ihm später selbst „äußerst dumm und unsinnig“ vorkam, denn es gibt natürlich überhaupt keine Eigenschaften, die „allein für sich“, ohne einen Träger existieren könnten.¹⁰ Die Frage, was genau die natürlichen Eigenschaften auszeichnet, muss daher offenbleiben. Dennoch scheint es nicht unplausibel, zu sagen, dass „angenehm“, „begehrt“, „gebilligt“ – und auch andere Beispiele wie
6 Ebd., § 13 (S. 68). 7 So wirft Moore beispielsweise John Stuart Mill vor: „Mill hat einen so naiven und kunstwidrigen (artless) Gebrauch vom naturalistischen Fehlschluss gemacht, wie man sich nur wünschen kann. ‚Gut‘, behauptet er, bedeute ‚wünschenswert‘, und man kann nur herausfinden, was wünschenswert ist, indem man versucht herauszufinden, was tatsächlich gewünscht wird.“ Principia Ethica, § 40. Gegen die These, Mill habe einen naturalistischen Fehlschluss begangen, wendet sich beispielsweise Ryan, „Mill and the Naturalistic Fallacy“. 8 Eine Auffassung, die man Hobbes zuschreiben kann: „Das, was der Gegenstand des Strebens oder Begehrens eines Menschen ist, ist das, was er für sein Teil gut nennt, und der Gegenstand seines Hasses und seiner Abneigung böse.“ Hobbes, Leviathan, Teil I, Kap. 6. Vgl. Stevenson, „Die emotive Bedeutung ethischer Ausdrücke“, S. 117. 9 Moore, Principia Ethica, § 13; dass nach Auffassung Humes „gut“ bedeute „von den meisten Menschen wertgeschätzt“, behauptet etwa Stevenson, „Die emotive Bedeutung ethischer Ausdrücke“, S. 117. 10 Vgl. Broads Kritik in „Certain Features in Moore’s Ethical Doctrines“, S. 59, und Moores Antwort in „A Reply to My Critics“, S. 582.
52 | 3 Explananda einer Theorie der Vortrefflichkeit „rot“ oder „süß“ – etwas gemeinsam haben, was sie von „gut“, „intrinsisch wertvoll“ oder „sollte existieren“ trennt. Wenn wir an dem Sprachgebrauch festhalten, dass sie „natürliche Eigenschaften“ bezeichnen, können wir als semantischen Befund des Tests der offenen Frage festhalten, dass sich der Ausdruck „gut“ nicht ohne Bedeutungsveränderung durch einen Begriff ersetzen lässt, der eine natürliche Eigenschaft bezeichnet. Dies können wir abkürzend als Nichtsubstituierbarkeit von „gut“ durch natürliche Begriffe bezeichnen. Moore selbst zieht aus diesem weithin geteilten Befund jedoch eine weitere Folgerung, die erst das eigentliche Argument der offenen Frage ausmacht: Er behauptet, damit gleichzeitig gezeigt zu haben, dass der Ausdruck „gut“ eine „einzigartige Eigenschaft von Dingen“ (unique property of things) bezeichne.¹¹ Um dies aus der Nichtsubstituierbarkeit folgern zu können, muss man jedoch offenbar mehrere durchaus kontroverse Annahmen treffen. Zum einen nimmt Moore implizit an, dass jeder Ausdruck, der eine Bedeutung hat, ipso facto auch als Zeichen für etwas steht, etwas bezeichnet. Zweitens wird vorausgesetzt, dass zwei Ausdrücke mit distinkten Bedeutungen auch ebenso distinkte Aspekte der Wirklichkeit bezeichnen. Und drittens geht Moore davon aus, dass es das, was da bezeichnet wird, auch gibt – er schließt also die Möglichkeit aus, dass wir uns in einem kollektiven Irrtum bezüglich der Existenz der Eigenschaft gut befinden. Erst wenn man diese drei impliziten Annahmen des Arguments der offenen Frage akzeptiert, ergibt sich die These, dass es eine nicht-natürliche Eigenschaft gut gibt, die von dem Ausdruck „gut“ bezeichnet wird (Nonnaturalismus). Doch jede von ihnen ist im Laufe des 20. Jahrhunderts – wie wir sehen werden – von verschiedenen Seiten in Frage gestellt worden. Dabei ist der semantische Befund der Nichtsubstituierbarkeit von „gut“ durch natürliche Begriffe auch aufseiten der Kritiker nicht-natürlicher Eigenschaften vielfach unwidersprochen geblieben: Offenbar lässt sich der Ausdruck „gut“ im Sinne von „intrinsisch wertvoll“ tatsächlich nicht durch „natürliche“ Begriffe ersetzen, ohne dass sich die Bedeutung (der fregesche „Sinn“) des ihn enthaltenden Satzes ändert. Ähnliches lässt sich auch für „vortrefflich“ und seine Synonyme konstatieren – wenig überraschend, bedenkt man, dass es sich dabei ja um eine Form des finalen Gutseins handelt. Behandelt man beispielsweise „überwältigend“ als einen „natürlichen“ Ausdruck – so dass er allein die Fähigkeit bezeichnet, einen starken Eindruck hervorzurufen, ungeachtet seiner normativen Angemessenheit 11 Die genaue Rekonstruktion des Arguments der offenen Frage ist nach wie vor Gegenstand von Debatten (vgl. etwa Horgan und Timmons, Metaethics after Moore, und Baldwin, „The Open Question Argument“). Die folgende Skizze dient eher der Darstellung von leitenden Vorannahmen Moores als einer exakten Analyse des Arguments, obwohl sich eine solche m. E. aus den genannten Thesen entwickeln lässt.
3.1 Allgemeine Explananda der Vortrefflichkeit | 53
–, dann ist für ein beliebiges x die Frage „x ist überwältigend, aber ist x auch vortrefflich?“ offen. In der Nichtsubstituierbarkeit durch natürliche Begriffe können wir also ein erstes erklärungsbedürftiges sprachliches Merkmal der Vortrefflichkeit festhalten.
3.1.2 Motivationaler Internalismus Die genannte erste Annahme des Arguments der offenen Frage – dass jeder sinnvoll verwendete Ausdruck etwas bezeichnet – wurde schon bald nach dem Ersten Weltkrieg von verschiedenen Seiten kritisiert, zuerst in dem besonders im englischsprachigen Raum einflussreichen Werk The Meaning of Meaning von C. K. Ogden und I. A. Richards (1923). Die beiden Cambridger Linguisten weisen auf die Existenz von Wörtern „in bisher ganz unerwarteter Anzahl“ hin, die „irrtümlich unhinterfragt als symbolisch [d. h. bezeichnend] in ihrer Funktion betrachtet werden“.¹² Zu diesen nicht-bezeichnenden Ausdrücken zählen sie ausdrücklich auch das Wort „gut“, zumindest in seinem „spezifisch ethischen Gebrauch“. „In diesem Gebrauch“, schreiben Ogden und Richards, „steht das Wort für überhaupt nichts und hat keinerlei symbolische Funktion.“¹³ Das ist der Kerngedanke des sog. Nonkognitivismus, der in der Mitte des 20. Jahrhunderts die metanormative Szenerie beherrschen sollte. Wenn der Ausdruck „gut“ – und verwandte Wertausdrücke – nichts bezeichnen, worin besteht dann ihre kommunikative Funktion? Von frühen Nonkognitivisten wie A. J. Ayer (Language, Truth, and Logic, 1936) und C. L. Stevenson („The Emotive Meaning of Ethical Terms“, 1937) werden im Wesentlichen zwei Funktionen genannt, die sich andeutungsweise ebenfalls schon bei Ogden und Richards finden.¹⁴ Erstens kann ein „emotives Zeichen“ (emotive sign) wie „gut“ dem Ausdruck unserer Einstellungen oder Gefühle gegenüber einer Handlung, einer Situation oder einer Person dienen; so schreibt Ayer: „Ich drücke [mit einem moralischen Urteil] lediglich bestimmte moralische Gefühle (moral sentiments) aus.“¹⁵ Andererseits haben moralische Äußerungen auch die Funktion, bei anderen ähnliche Einstellungen hervorzurufen oder sie zu bestimmten Handlungen zu bewegen. Dies wird plastisch illustriert von Stevenson:
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Ogden und Richards, The Meaning of Meaning, S. 124. Ebd., S. 125. Vgl. ebd., S. 125. Ayer, Language, Truth, and Logic, S. 110.
54 | 3 Explananda einer Theorie der Vortrefflichkeit Wenn man jemandem sagt, er solle nicht stehlen, so will man ihm nicht bloß zu verstehen geben, dass die Leute Diebstahl missbilligen. Vielmehr versucht man, ihn dazu zu bringen, Diebstahl zu missbilligen. Dieses Moralurteil hat eine quasi-imperative Kraft. Wird diese Kraft durch Suggestion wirksam und durch den Tonfall intensiviert, so gestattet sie einem ohne weiteres, mit der Beeinflussung, der Modifikation seiner Einstellungen zu beginnen.¹⁶
Natürlich stehen die Ausdrucks- und die Beeinflussungsfunktion moralischer Ausdrücke nicht in einem Konkurrenzverhältnis zueinander, sondern können sich wechselseitig ergänzen;¹⁷ da beide Funktionen auf eine entscheidende Rolle von Gefühlen abheben, werden die frühen Formen des Nonkognitivismus zusammenfassend auch als Emotivismus bezeichnet. Wichtig ist jedoch, festzuhalten, dass der Ausdruck eines Gefühls oder einer Einstellung nicht mit dem Sprechen über dieses Gefühl zu verwechseln ist (wie der reine Subjektivismus annimmt). Zu behaupten, dass die Tötung eines Unschuldigen falsch ist, ist nicht nur eine andere Weise, zu sagen, man lehne die Tötung von Unschuldigen ab. Denn diese Aussage ist ebenfalls ein Tatsachenurteil, das wahr oder falsch sein kann. Die Pointe des Nonkognitivismus besteht jedoch gerade darin, dass moralische und allgemein normative Urteile nicht wahr oder falsch sein können. Der Emotivismus bietet eine einfache und überzeugende Erklärung dafür, weshalb sich normative Ausdrücke wie „gut“ nicht ohne Verlust in nicht-normative Ausdrücke übersetzen lassen und entsprechende Definitionsversuche stets leichte Beute für das Argument der offenen Frage sind. Das „Mehr“ (the ‘something more’), das von allen Versuchen einer Definition von „gut“ angeblich verfehlt werde, sei, so Ogden und Richards, nichts anderes als „die emotionale Aura des Wortes“.¹⁸ Nicht weil „gut“ eine Eigenschaft anderer Art bezeichne, ist es unanalysierbar, sondern weil es eine andere sprachliche Funktion als die des Bezeichnens erfüllt. Der Emotivismus umgeht also Moores Schluss auf die Existenz moralischer Eigenschaften sui generis, indem er eine alternative Erklärung für das Phänomen der Nichtdefinierbarkeit moralischer durch natürliche Ausdrücke liefert. Auf diese Weise lässt sich die Undefinierbarkeit des Ausdrucks „gut“ erklären, ohne auf die Annahme epistemologisch problematischer nicht-natürlicher Eigenschaften zurückgreifen zu müssen.¹⁹ Doch es gibt noch eine weitere Eigentümlichkeit der moralischen Sprache, die durch das nonkognitivistische Bild anscheinend besser wiedergegeben wird
16 Stevenson, „Die emotive Bedeutung ethischer Ausdrücke“, S. 122. Hervorhebungen im Original. 17 Vgl. Ayer, Language, Truth, and Logic, S. 111. 18 Ogden und Richards, The Meaning of Meaning, S. 125. 19 Vgl. Stevenson, „Die emotive Bedeutung ethischer Ausdrücke“, S. 135, und Ayer, Language, Truth, and Logic, S. 110.
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als durch dasjenige Moores. Dieses Merkmal besteht in einer engen – vielleicht notwendigen – Verbindung zwischen der Bezeichnung von etwas als „gut“ durch einen Sprecher und seiner Bereitschaft, sich handelnd dafür einzusetzen. Dass eine solche Verbindung offenbar besteht, zeigt sich daran, dass wir mit einer gewissen Verwunderung reagieren würden, wenn uns jemand aufrichtig versicherte, dass eine bestimmte Handlungsweise die beste sei, aber im selben Atemzug daranginge, das Entgegengesetzte zu tun. Natürlich könnte dabei auch ein Fall von Willensschwäche oder eine bloße Gewohnheit vorliegen. Aber wenn jemand tatsächlich nicht im Geringsten motiviert ist, in der Weise zu handeln, die er selbst für die richtige erklärt, sind wir geneigt, seine Äußerung als ein bloßes Lippenbekenntnis, als reines Zugeständnis an die herrschende Auffassung abzutun und ihm die genuine Überzeugung abzusprechen. Dies gilt zumindest für den Fall, dass wir es mit einem rationalen Akteur zu tun haben, der nicht durch Bedingungen wie etwa eine depressive Erkrankung am Verfolgen des für richtig Erkannten gehindert wird.²⁰ Diese Verbindung wird von C. L. Stevenson als „Magnetismus“ bezeichnet;²¹ heute ist dafür eher der Ausdruck „motivationstheoretischer Internalismus“ oder (genauer) „moralischer Urteils-Motivations-Internalismus“ (Morals/Motives Judgement Internalism) gebräuchlich.²² Zumindest mit Einführung einer Rationalitätsbedingung kann ein solcher bedingter Zusammenhang zwischen Urteil und Motivation (defeasible morals/motives judgement internalism) mit einer gewissen Plausibilität als grammatische Eigentümlichkeit normativer Ausdrücke betrachtet werden. Dies wird meist auch von Philosophen anerkannt, die eine externalistische Erklärung der internalistischen Moralphänomenologie anstreben, etwa durch die soziale Nützlichkeit einer engen Verbindung von Urteil und Handlungsbereitschaft.²³ Auch dieses zweite Merkmal lässt sich problemlos auf die Vortrefflichkeit übertragen: Wenn man etwas als großartig oder herausragend anerkennt, scheint dies den Willen zu beinhalten, sich damit zu befassen, es zu schützen, anderen zugänglich zu machen usw.; wer ein solches Urteil fällt, ist – wenn es sich denn um einen rationalen Akteur handelt – auch mindestens in einem gewissen Grade dazu motiviert, entsprechend zu handeln. Ist er dies nicht, so haben wir nicht nur gute
20 Vgl. Korsgaard, „Skepticism about Practical Reason“. 21 Stevenson selbst verweist auf Field, Moral Theory, S. 52 und 56–57 für die Beschreibung des „Magnetismus“. 22 Vgl. Darwall, „Reasons, Motives, and the Demands of Morality: An Introduction“. 23 Vgl. Frankena, „Obligation and Motivation in Recent Moral Philosophy“, S. 41, Schaber, Moralischer Realismus, S. 214–219, und Halbig, Praktische Gründe, S. 354–364.
56 | 3 Explananda einer Theorie der Vortrefflichkeit Gründe, sondern auch das Recht, das Vorliegen der entsprechenden Überzeugung anzuzweifeln. Dieses Kennzeichen normativer Urteile stellt den Nonnaturalismus moorescher Prägung vor gewisse Probleme. Denn wenn normative Ausdrücke ebenso Eigenschaften bezeichnen wie „natürliche“, nur eben Eigenschaften einer „besonderen Art“, weshalb sollte die Erkenntnis dieser Eigenschaften mit einer besonderen Motivation einhergehen, in der einen oder anderen Weise zu handeln? Der Emotivist hat dagegen eine einfache und elegante Erklärung zur Hand. Wenn moralische Urteile nämlich primär dem Ausdruck von Gefühlen oder Einstellungen dienen, ist es wenig überraschend, dass sie Hand in Hand mit der entsprechenden Handlungsmotivation gehen, sind solche Gefühle oder Einstellungen doch plausiblerweise zumindest partiell durch die Disponiertheit zu bestimmten Handlungen individuiert.²⁴ Allerdings lassen sich gegen beide von den Emotivisten favorisierten sprachlichen Funktionen von „gut“ Einwände erheben. Zum einen ist kritisiert worden, dass die Rede vom „Ausdruck“ einer Einstellung das Bild eines „inneren Drucks“ nahelege, dem durch die Äußerung „Luft gemacht“ werde, etwa wie der Schrei den Schmerz ausdrückt.²⁵ Es sei jedoch „philosophisch irreführend zu denken, dass die Billigung, die ausgedrückt wird, ein eigenartiges warmes Gefühl in unserm Innern sei“;²⁶ immerhin kann man offenbar bestimmte Handlungen auch ohne unmittelbare, selbst ohne mittelbare emotionale Regung billigen oder missbilligen. Und ebenso irreführend ist der Vorschlag, die Funktion der moralischen Sprache bestünde darin, „auf den Hörer kausal einzuwirken oder ihn dazu zu bringen, etwas zu tun“.²⁷ Denn dies mache es unmöglich, zwischen der Funktion moralischer Urteile und der von manipulativer Propaganda zu unterscheiden.²⁸
3.1.3 Supervenienz Es gibt jedoch Möglichkeiten, am Kerngedanken des Nonkognitivismus – der nichtbezeichnenden Bedeutung moralischer Ausdrücke – festzuhalten, ohne ihre Funktion im Ausdruck von Gefühlen oder der Beeinflussung des Gegenübers zu erbli-
24 Vgl. Stevenson, „Die emotive Bedeutung ethischer Ausdrücke“, S. 132. 25 R. M. Hare, The Language of Morals, S. 10. 26 Ebd., S. 10, zitiert nach der deutschen Übersetzung in R. M. Hare, Die Sprache der Moral, S. 29. 27 Ebd., S. 33. 28 Ebd., S. 33f.; vgl. schon Moores paralleles (gegen den reinen Subjektivismus gerichtetes) Argument in seinem Aufsatz „The Nature of Moral Philosophy“, S. 333 f.
3.1 Allgemeine Explananda der Vortrefflichkeit | 57
cken und so den „rationalen Charakter moralischer Rede anzugreifen“.²⁹ Richard M. Hare zufolge besteht die primäre Funktion des Ausdrucks „gut“ darin, jemandem zu sagen, er solle etwas tun, also im „Empfehlen“ (commending) eines Verhaltens. Diesen präskriptiven Charakter teilen Werturteile laut Hare mit Befehlen oder Imperativen; sie unterscheiden sich jedoch von ihnen durch das Merkmal der Verallgemeinerbarkeit (universalizability). „Das bedeutet“, führt Hare aus, „dass man widerspruchslos einen Befehl und dessen Verneinung in Bezug auf jeweils eine von zwei numerisch verschiedenen, aber qualitativ identischen Situationen aussprechen kann, während man dies im Falle von normativen und wertenden Urteilen nicht tun kann.“³⁰ Bezeichnet man ein bestimmtes Verhalten als schlecht, dann ist das also nicht nur die Aufforderung, hier und jetzt davon Abstand zu nehmen; es umfasst zusätzlich das Moment der Anerkennung eines allgemeinen, in allen ähnlichen Situationen einschlägigen Prinzip des Sollens. Daher wird die Position Hares auch als universaler Präskriptivismus bezeichnet. Auch diese Analyse kann die Undefinierbarkeit von „gut“ durch natürliche Ausdrücke erklären. Zwar sieht sie die Funktion von „gut“ – und von normativen Ausdrücken im Allgemeinen – nicht im Ausdruck oder im Hervorrufen einer bestimmten Einstellung, sondern im Empfehlen einer Handlung. Auch diese Funktion unterscheidet sich jedoch von derjenigen „natürlicher“ Ausdrücke, die darin besteht, etwas zu beschreiben. Genau aus diesem Grund muss jede naturalistische Definition von Wertwörtern Hare zufolge scheitern, da sie deren empfehlende Funktion nie erfassen kann.³¹ Hare macht jedoch (wenn auch nicht als erster) noch auf eine weitere Eigentümlichkeit der normativen Sprache aufmerksam, die als Supervenienz von „gut“ über natürlichen Begriffen bezeichnet wird.³² Damit ist gemeint, dass A und B nur dann unterschiedlich gut genannt werden können, wenn auch ein Unterschied hinsichtlich ihrer natürlichen Eigenschaften aufgezeigt werden kann. Hare erläutert dies anhand eines Beispiels: Wenn ein Bild hinsichtlich aller seiner Eigenschaften einem anderen gleicht und wir von beiden lediglich wissen, dass sie etwa zur selben Zeit von demselben Künstler gemalt wurden, kann nicht das eine von ihnen als gut bezeichnet werden und das andere nicht.³³ Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen kontingenten Umstand, sondern um eine mit der Grammatik des Ausdrucks „gut“ verbundene logische Notwendigkeit, die sich mutatis mutandis 29 Ebd., S. 35. 30 Ebd., S. 9. 31 Ebd., S. 112, 123. 32 Der Sache nach verweist bereits Moore in „The Conception of Intrinsic Value“, S. 263, auf das Supervenienzphänomen. 33 Ebd., S. 110 f.
58 | 3 Explananda einer Theorie der Vortrefflichkeit auch auf den artrelativ finalen Gebrauch von „gut“ übertragen lässt, wie bereits Hares eigenes Beispiel nahelegt. Diese Art der Supervenienz stellt damit ein drittes Explanandum für eine Theorie der Vortrefflichkeit dar.³⁴ Die Erklärung der (notwendigen) Supervenienz ist ein weiteres Problem für den Nonnaturalismus. Denn wenn der Ausdruck „gut“ (und andere evaluative Ausdrücke) eine „einzigartige Eigenschaft von Dingen“ bezeichnet, warum kann diese den Dingen dann nicht unabhängig von ihren natürlichen Eigenschaften zukommen?³⁵ Hare kann diese logische Eigentümlichkeit wertender Ausdrücke dagegen über die Funktion erklären, die ihnen innerhalb der Sprache zukommt. Wertwörter sollen die praktische Frage „Was soll ich tun?“ beantworten, indem sie ein bestimmtes Verhalten empfehlen. Diese Funktion erfüllen sie, indem sie Maßstäbe oder Entscheidungsprinzipien vermitteln, die sich auf mehrere Gegenstände oder Situationen anwenden lassen; genau dies wird aber unterlaufen, wenn identische Objekte unterschiedlich bewertet werden.³⁶ Das Merkmal der Supervenienz normativer Ausdrücke folgt so direkt aus ihrer sprachlichen Funktion, Handlungen zu empfehlen.
3.1.4 Spezifizierbarkeit Es ist für den universalen Präskriptivismus zentral, dass die Bedeutung von „gut“ und verwandten Ausdrücken „unabhängig von den Kriterien für [ihre] Anwendung“ ist, wie Hare formuliert.³⁷ Wie er anhand des Beispiels von Missionaren und Kannibalen ausführt, ist aufgrund ihrer primär empfehlenden Funktion ein sinnvoller Gebrauch solcher Ausdrücke auch dann möglich, wenn vollständiger Dissens darüber besteht, worauf sie anzuwenden sind.³⁸ Daraus folgt, dass „gut“ auf praktisch beliebige Klassen von Gegenständen angewendet werden kann, solange sein universell empfehlender Charakter berücksichtigt wird.³⁹ Mit anderen 34 Aus dieser Weise, die Supervenienz einzuführen, wird bereits deutlich, dass die Supervenienz hier – wie auch bei Hare und Blackburn – primär als ein semantisches Verhältnis betrachtet wird. Demgegenüber findet sich in der Literatur häufig die Formulierung, Supervenienz sei eine metaphysische oder ontologische Beziehung zwischen Eigenschaften. Ein Nonkognitivist, der weder an natürliche noch an nicht-natürliche moralische Eigenschaften glaubt, müsste die Supervenienz demnach bestreiten. 35 Vgl. dazu auch Simon Blackburns Aufsätze „Moral Realism“ und „Supervenience Revisited“ sowie Dreier, „The Supervenience Argument against Moral Realism“. 36 R. M. Hare, Die Sprache der Moral, S. 169–172. 37 Ebd., S. 139. 38 Ebd., S. 185. 39 Ebd., S. 128.
3.1 Allgemeine Explananda der Vortrefflichkeit | 59
Worten: Man kann einen beliebigen Satz zu seinem Handlungsprinzip erklären, wenn man sich nur nicht selbst widerspricht. Eben dies wird von Philippa Foot bestritten. In ihren frühen Aufsätzen „Moral Arguments“ (1958) und „Moral Beliefs“ (1958) weist sie im Anschluss an Wittgenstein darauf hin, dass viele wertende Begriffe in einer „inneren Beziehung zu einem Gegenstand“ stehen (Foots einführende Beispiele sind sog. „dichte Begriffe“ (thick concepts) wie „Grobheit“, rudeness, und „Stolz“, pride).⁴⁰ Damit ist gemeint, dass ihr Anwendungsbereich durch die öffentlichen Regeln des Sprachgebrauchs beschränkt ist; so kann man stolz nur sein auf etwas Eigenes, das zudem als Leistung oder zumindest als Vorzug betrachtet wird. Die Regeln für die Anwendung solcher Begriffe umfassen auch Kriterien dafür, was als Beleg für oder gegen ein bestimmtes Werturteil zu gelten hat. Auf diese Weise hofft die frühe Foot, die Kluft zwischen Wert- und Tatsachenurteilen zu überbrücken. Auch die allgemeinsten (die sog. „dünnen“) Wertbegriffe wie „Gut“, „Pflicht“ oder „Tugend“ stehen in begrifflichen Beziehungen untereinander und zu den dichten Begriffen. Bezeichnet man eine anscheinend unsinnige Handlungsweise – Foots Beispiel: dreimal in der Stunde in die Hände klatschen – als gut, dann, so Foot, müsse man in der Lage sein, eine Hinsicht zu spezifizieren, in der die Handlung gut ist.⁴¹ Handelt es sich um die Erfüllung einer Pflicht, etwa seinen Eltern oder seinen Kindern gegenüber? Ist sie nützlich für das Erreichen eines Ziels? Fällt sie unter eine Tugend wie Nächstenliebe oder Mut? Lässt sich kein solcher Aspekt angeben, wird die Bezeichnung der Handlung als „gut“ unverständlich. Daher kann gegen Hare nicht einfach ein beliebiger Akt gut genannt werden, auch dann nicht, wenn man seine Ausführung in Situationen einer bestimmten Art als universelles Prinzip empfiehlt und selbst akzeptiert. Wiederum handelt es sich hier um ein Phänomen der Grammatik des Ausdrucks „gut“: Was als gut bezeichnet werden kann, muss sich auch in anderen, reichhaltigeren normativen Kategorien beschreiben lassen. Diese Regel, die wir auch als Spezifizierbarkeitsprinzip bezeichnen können, ist dabei keineswegs auf Handlungen beschränkt, sondern lässt sich unverändert auf ästhetische Diskurse übertragen. Beispielsweise heißt es in einer japanischen Kunstgeschichte über den Ise-Schrein: „Die Strenge und Klarheit der Konstruktion, die Wohlausgewogenheit und die wenigen einfachen Dekorationen verleihen diesem Bauwerk […] eine in ihrer Schlichtheit tief beeindruckende Schönheit.“⁴² Die Schönheit anderer Bauwerke, von der Naturschönheit ganz zu schweigen, mag auf anderen Merkmalen
40 Vgl. „Moral Arguments“, S. 507–509 und „Moral Beliefs“, S. 87. 41 Foot, „Moral Beliefs“, S. 92f. 42 Yoshizawa, Miyagawa und Ito, Japanische Kunst I, S. 21.
60 | 3 Explananda einer Theorie der Vortrefflichkeit beruhen; doch auch in ihrem Fall müssen sich dichte Begriffe wie die „Wohlausgewogenheit“ anführen lassen, die die Schönheit näher bestimmen. Ähnliches gilt auch für herausragende Taten wie die des Maximilian Kolbe, die mit Begriffen wie „opfermutig“, „demütig“ und „entschlossen“ beschrieben werden kann. Damit dürfte das Spezifizierbarkeitsprinzip auch für das artrelative finale Gutsein hinreichend plausibilisiert sein.⁴³
3.1.5 Der Frege-Geach-Punkt Nicht nur gegen den hareschen Präskriptivismus, sondern gegen jede Form des Nonkognitivismus macht Peter Geach 1965 auf den „Frege-Punkt“ (Frege’s point) aufmerksam: „Ein Gedanke kann genau denselben Inhalt haben, ob man seiner Wahrheit zustimmt oder nicht; eine Proposition kann in der Rede bald behauptet (asserted), bald unbehauptet auftreten und doch erkennbar dieselbe Proposition sein.“⁴⁴ Unbehauptet ist eine Proposition p insbesondere dann, wenn sie als Teil bestimmter logisch komplexer Ausdrücke wie Konditionalgefügen auftritt. So kann man etwa behaupten: „Wenn du den Halys überschreitest, wirst du ein großes Reich zerstören“ – ohne damit auch zu behaupten, dass der Angesprochene den Halys überschreitet (oder dass er ein großes Reich zerstören wird). Dennoch müssen die enthaltenen Propositionen dieselbe Bedeutung haben wie in Behauptungen. Denn wenn wir das behauptete Konditional verbinden mit der Behauptung, dass der Angesprochene den Halys überschreiten wird, folgt daraus (nach Modus ponens) logisch gültig, dass er ein großes Reich zerstört. Das ist aber nur möglich, wenn die enthaltenen Propositionen überall dasselbe bedeuten. Nun können aber auch Propositionen, die normative Ausdrücke enthalten, in solche komplexeren Behauptungen eingebettet verwendet und innerhalb von Argumenten gebraucht werden. Um Geachs eigenes Beispiel etwas abzuwandeln: Verbindet man das Konditional (1) „Wenn es gut ist, etwas zu tun, dann ist es auch gut, seinem Kind beizubringen, es zu tun“ mit der Behauptung (2) „Es ist gut, älteren Menschen in der Straßenbahn einen Sitzplatz anzubieten“, so folgt daraus,
43 Weniger klar ist, ob man auch für den Vergleich von Weltzuständen Hinsichten angeben können muss, um den einen als besser, den anderen als schlechter auszuzeichnen; denn die Begründung, dass die eine Welt mehr Lust enthält als die andere, ist kaum als dicht-evaluative Charakterisierung dieser Welt zu betrachten. Dieser Umstand könnte ebenso die Sinnhaftigkeit derartiger Globalvergleiche wie das Spezifizierbarkeitsprinzip für den Vergleich von Sachverhalten in Zweifel ziehen (vgl. etwa Scanlon, What We Owe to Each Other, S. 79–87). In jedem Falle bleibt das Spezifizierbarkeitsprinzip für die Vortrefflichkeit davon offenbar unberührt. 44 Geach, „Assertion“, S. 449.
3.1 Allgemeine Explananda der Vortrefflichkeit | 61
dass es gut ist, seinem Kind beizubringen, älteren Menschen in der Straßenbahn ihren Sitzplatz anzubieten. Das wiederum ist nur möglich, wenn „gut“ an allen Stellen innerhalb des Arguments dieselbe Bedeutung hat. Doch während nonkognitivistische Analysen für (2) plausibel erscheinen mögen, sind sie für (1) nicht einmal recht verständlich. Daher, so folgert Geach, ist der Nonkognitivismus auch für den nicht-eingebetteten Gebrauch von „gut“ abzulehnen. Das Problem, das seither als Frege-Geach-Problem bezeichnet wird, lässt sich noch ausweiten auf andere komplexe Ausdrücke wie Fragen oder Negationen.⁴⁵ Das für den Nonkognitivisten problematische sprachliche Phänomen ist dabei die schlichte Tatsache, dass sich die Bedeutung evaluativer Ausdrücke wie „gut“ durch syntaktische Operationen in genau derselben Weise verändert wie die deskriptiver Ausdrücke. Wiederum gilt dasselbe für das artrelative finale Gutsein, so dass wir die Bedeutungsgleichheit in eingebetteten und nicht-eingebetteten Kontexten als fünftes Merkmal der Vortrefflichkeit festhalten können.
3.1.6 Kategorizität In ihrem Aufsatz „Morality as a System of Hypothetical Imperatives“ von 1972 kritisiert Philippa Foot, in Fortführung ihrer früheren Überlegungen, die Vorstellung, moralische Urteile besäßen einen besonderen, kategorischen Charakter. Mit „kategorisch“ kann, wie Foot ausführt, zweierlei gemeint sein. Erstens eine Geltung unabhängig von individuellen Wünschen und Interessen; in diesem Sinne seien jedoch auch die Regeln der Etikette oder die eines Klubs „kategorisch“. Wenn moralische Urteile als kategorisch bezeichnet würden, müsse daher noch etwas anderes gemeint sein als bloß wunschunabhängige Geltung. Dieses Etwas lokalisiert Foot darin, dass „üblicherweise angenommen wird (it is supposed), moralische Erwägungen gäben notwendigerweise jedermann Gründe zu handeln“.⁴⁶ Diese Annahme einer „automatischen Gründe-gebenden Kraft“, die tatsächlich in unserer Sprachpraxis vorgezeichnet zu sein scheint, wird heute als „moralischer Rationalismus“ oder als „moralisch-normativer Existenzinternalismus“ (morals/reasons existence internalism) bezeichnet: Wenn es wahr ist, dass ein Akteur A eine Handlung φ vom Standpunkt der Moral aus tun sollte, hat er auch einen (wenn auch nicht notwendigerweise zwingenden) Grund, φ zu tun. Dies bestreitet Foot. Ihr zufolge „haben moralische Urteile keinen begründeteren Anspruch darauf, kategorische Imperative zu sein, als Aussagen über 45 Vgl. van Roojen, Metaethics, S. 149, sowie M. Schroeder, „What is the Frege-Geach Problem?“, S. 708. 46 Foot, „Morality as a System of Hypothetical Imperatives“, S. 309.
62 | 3 Explananda einer Theorie der Vortrefflichkeit Fragen der Etikette“.⁴⁷ Die Schwierigkeit liege darin, zu erklären, worin sich das moralische Sollen von anderen Arten des Sollens, etwa dem der instrumentellen Rationalität, unterscheidet, die für (die „mittlere“) Foot klarerweise von einem Wollen abhängig sind. Das mit moralischen Urteilen einhergehende Gefühl einer besonderen Verbindlichkeit sei lediglich ein Reflex der „relativen Strenge unserer moralischen Erziehung“,⁴⁸ und ein Selbstverständnis als „freiwillig Verbündete im Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit“⁴⁹ statt als Dienstverpflichteter stelle auch keine Bedrohung für die Sache der Moral dar. Foot spricht hier ausdrücklich und ausschließlich von moralischen Urteilen, insbesondere einem moralischen Sollen, dem – selbst wenn sich dies letztlich als irrig herausstellen sollte – im gewöhnlichen Sprachgebrauch das Merkmal der Kategorizität im Sinne einer subjektunabhängig gründegebenden Kraft zukomme. Lässt sich dieses Merkmal ebenso unproblematisch auf die Vortrefflichkeit übertragen wie die zuvor genannten, obwohl die Vortrefflichkeit nicht auf das Moralische im engeren Sinne beschränkt ist und ihr Verhältnis zu Sollensaussagen mindestens unklar ist? Einerseits ist klar, dass die Bezeichnung als gut im relevanten Sinne dem urteilenden Subjekt eine weit größere Reaktionsfreiheit lässt, als dies eine moralische Sollensaussage tut. Beispielsweise bleibt es ins Belieben des Individuums gestellt, sich mit den Messen Palestrinas oder den Stillen Liedern Valentin Silvestrovs, mit dem Straßburger Münster oder der Sagrada Familia, mit Zahlentheorie oder alpiner Botanik oder mit gar nichts davon zu befassen, und selbst das bewundernswerte Handeln Maximilian Kolbes erzeugt anscheinend kein unbedingtes Sollen der Nachahmung, soweit diese überhaupt möglich wäre. Andererseits stellen jedoch alle vortrefflichen Werke, Personen oder Gegenstände Ansprüche der Achtung an uns, die es verbieten, sie beispielsweise (wie die Buddha-Statuen von Bamiyan) zu zerstören oder anderen die Beschäftigung mit ihnen unmöglich zu machen. Es lässt sich daher sagen, dass dem Vortrefflichen ebenfalls das Merkmal der Kategorizität in dem Sinne eignet, dass es für jedermann Handlungsgründe, vor allem Unterlassungsgründe zu liefern scheint.⁵⁰ Ob dieser Anschein einen Anhalt in der Wirklichkeit hat oder, wie Foot meint, lediglich ein Merkmal unserer Psychologie ist, ist natürlich eine weitere Frage. ∗∗∗
47 Foot, „Morality as a System of Hypothetical Imperatives“, S. 312. 48 Ebd., S. 310. 49 Ebd., S. 315. 50 Vgl. dazu etwa auch Joseph Raz’ Unterscheidung verschiedener Arten von Gründen, die von wertvollen Gegenständen geliefert werden, in Value, Respect and Attachment, S. 161–164.
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Die auf diesem Durchgang durch die Metaethik im 20. Jahrhundert gesammelten Merkmale der normativen Sprache lassen sich gut anhand von John L. Mackies Werk Ethik von 1977 zusammenfassen. Dabei wird noch einmal deutlich, dass sie in unterschiedliche Richtungen weisen. Einerseits gesteht Mackie zu, dass moralische und allgemein normative Aussagen mit einem „Anspruch auf objektive Präskriptivität“ (claim to objective prescriptivity) auftreten. So schreibt er: Der gewöhnliche Mensch meint, wenn er sich der moralischen Sprache bedient, etwas über das, was er moralisch qualifiziert, auszusagen. [...] Doch das, was er auszusagen wünscht, ist nicht rein beschreibender, rein theoretischer Art, sondern etwas, das zum Handeln bzw. zum Unterlassen aufruft, und etwas, was unbedingt gilt und nicht abhängig ist von irgendwelchen Wünschen, Vorlieben, Absichten oder Entscheidungen, seien es nun seine eigenen oder die anderer.⁵¹
Wenn die Theorie praktischer Normativität beschränkt wäre auf die Bedeutungsanalyse von Wertausdrücken im Sinne einer Rekonstruktion der „impliziten Theorien“ gewöhnlicher Sprecher, müsste man daher zu dem Schluss kommen, dass es sich bei Werten, zumindest bei sittlichen Werten, um objektive Eigenschaften der bezeichneten Gegenstände handelt. In diese Richtung weist insbesondere das „normale“ syntaktische Verhalten von Wertadjektiven (der Frege-Geach-Punkt). Insofern diese Eigenschaften jedoch als aus sich heraus handlungsleitend erscheinen, also als kategorisch in der zweiten der von Foot unterschiedenen Bedeutungen gedacht werden müssen, greift eine naturalistische Deutung, die die „handlungsanleitende Funktion vollständig von den Wünschen oder der möglichen Wunschbefriedigung der zum sittlichen Handeln Aufgerufenen“⁵² abhängig macht, zu kurz. Auch die Nichtsubstituierbarkeit normativer durch natürliche Ausdrücke, so lässt sich ergänzen, scheint prima facie die Annahme nicht-natürlicher Eigenschaften im mooreschen Sinne zu stützen. Doch geht die Ontologie nicht in der Bedeutungsanalyse auf, und gegen den Nonnaturalismus sprechen laut Mackie – neben dem Eindruck, dass sich grundlegende moralische Meinungsverschiedenheiten besser als Reflex unterschiedlicher Lebensformen deuten lassen denn als unzureichende Versuche, objektive moralische Maßstäbe zu erfassen (argument from relativity)⁵³ – eine Reihe von genuin ontologischen und erkenntnistheoretischen Problemen, die Mackie unter das Schlagwort ihrer queerness (etwa „Absonderlichkeit“, „Merkwürdigkeit“) stellt. Während die epistemologischen Probleme, im Wesentlichen die Notwendigkeit, ein eigenes Vermögen für die Erkenntnis normativer Eigenschaften und ihrer Bezie51 Mackie, Ethik, S. 36f. Vgl. S. 58. 52 Ebd., S. 36. 53 Ebd., S. 40–43.
64 | 3 Explananda einer Theorie der Vortrefflichkeit hungen untereinander sowie zu den natürlichen Eigenschaften zu postulieren,⁵⁴ in dieser Arbeit nicht weiter verhandelt werden können,⁵⁵ entsprechen die ontologischen Aspekte der Absonderlichkeit insbesondere den oben genannten Merkmalen des motivationstheoretischen Internalismus, der Supervenienz sowie der Kategorizität. Mackies Aussage „die Tatsache, dass etwas gut ist, sagt demjenigen, der dies erkennt, was er zu tun hat, und zugleich bringt sie ihn dazu, es zu tun“⁵⁶ ist zwar zu stark – der motivationstheoretische Internalismus impliziert nicht, dass sich das von der Erkenntnis ausgehende Motiv auch tatsächlich durchsetzt –, benennt aber im Kern sowohl die Kategorizität im Sinne der objektiven Präskriptivität als auch das Moment der intrinsisch motivierenden Kraft. Auf das Problem der Supervenienz weist Mackie hin, indem er es als die Schwierigkeit fasst, die Bedeutung des Ausdrucks „weil“ in einem Satz wie „eine solche Handlung ist falsch, weil sie das Zufügen von Schmerzen rein aus Spaß darstellt“ zu erklären: Handelt es sich hier um eine oder zwei Eigenschaften, und wenn um zwei, wie begründet dann das Vorliegen der einen das der anderen?⁵⁷ Das einzige sprachliche Charakteristikum, auf das Mackie in diesem Zusammenhang nicht hinweist, ist das Spezifikationsprinzip, das das Verhältnis von dichten und dünnen normativen Eigenschaften thematisiert. Auch hier ließe sich fragen, ob es sich dabei um eine oder zwei verschiedene Eigenschaften handelt, welche von ihnen primär ist und welche das normative Gewicht trägt. Mackie selbst zieht aus diesen Befunden wie die Nonkognitivisten den Schluss, dass es nicht-natürliche Werteigenschaften nicht gibt; aber im Unterschied zu jenen nimmt sein Moralskeptizismus nicht die Form einer revisionären Deutung der Semantik moralischer Ausdrücke, sondern die einer Irrtumstheorie an. „Obwohl die meisten Menschen“, schreibt Mackie, „bei ihren moralischen Äußerungen implizit auch den Anspruch erheben, auf etwas im objektiven Sinne Präskriptives zu verweisen, ist dieser Anspruch doch falsch.“⁵⁸ Damit greift er die dritte der oben52 unterschiedenen impliziten Prämissen von Moores Argument der offenen Frage an, nämlich die Annahme, dass jedem Ausdruck, der seiner Funktion nach bezeichnend ist, auch etwas in der Wirklichkeit korrespondiert. Für eine grundlegend realistisch orientierte Position wie den metanormativen Platonismus, die an der bezeichnenden Funktion des Ausdrucks „gut“ festhalten will, ergibt sich dagegen als besondere Herausforderung die Deutung der Merkmale des motivationstheoretischen Internalismus, der Supervenienz, der Spezifizierbar54 55 56 57 58
Mackie, Ethik, S. 44 und 48. Vgl. dazu beispielsweise Enoch, Taking Morality Seriously, Kap. 7. Mackie, Ethik, S. 46. Ebd., S. 47. Ebd., S. 39.
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keit und der Kategorizität. Bevor wir jedoch zur Darstellung des Platonismus und seiner möglichen Antworten auf diese Probleme kommen, gilt es, die Vortrefflichkeit in Beziehung zu setzen zu zwei anderen Phänomenen unserer Werterfahrung: dem des Übels und dem der Pflicht. Dies wird das Bild vervollständigen, das wir bislang vom artrelativen finalen Gutsein gewonnen haben.
3.2 Beziehungen der Vortrefflichkeit zu anderen normativen Phänomenen Auch wenn ich in Kap. 1 am Beispiel Maximilian Kolbes dafür argumentiert habe, dass die Vortrefflichkeit ein (auch) genuin moralisches Phänomen ist, versteht es sich, dass ein umfassendes Bild der praktischen Normativität weit mehr zu leisten hätte als eine Theorie der Vortrefflichkeit. Denn es gibt daneben andere Phänomene, die sich zweifelsfrei ebenfalls dem Bereich der praktischen Normativität zurechnen lassen, die aber anscheinend vom Guten nicht vollkommen unabhängig sind. Zu ihnen zählen die Erfahrung der Pflicht – nicht einer Pflicht, die sich aus bestimmten sozialen Rollen wie der eines Ehemanns oder einer Soldatin ergibt, nicht einer Pflicht für Bürger eines bestimmten Staates, sondern einer allgemeinen Pflicht als Mensch – sowie die Erfahrung des Bösen. Die notwendigen Beziehungen dieser Phänomene zur Vortrefflichkeit konstituieren eine zweite Klasse von Explananda für eine Theorie des artrelativen finalen Gutseins.
3.2.1 Reue, Empörung, Kritik: Das Phänomen der Pflicht Die Erfahrung der moralischen Pflicht wird exemplarisch in dem folgenden autobiographischen Bericht Robert Spaemanns über eine Episode während seiner Jugend im Dritten Reich deutlich: Ich war auf der Heimfahrt vom Gymnasium nach Hause. Es war die kurze Zeit, in der die Juden einen Stern tragen mussten, aber die öffentlichen Verkehrsmittel noch benutzen durften. Ein würdiger alter Herr mit Stern saß in der Bahn. An der nächsten Station stieg ein junger Mann in die Bahn, sah den Alten und schnauzte ihn an, er solle gefälligst aufstehen und als Jude nicht einen Sitzplatz in Anspruch nehmen, wenn andere Leute stehen müssten. Der alte Herr stand wortlos auf. Der junge Schnösel setzte sich auf seinen Platz. In diesem Augenblick war mir bewusst – ich war damals immerhin schon 14 –, dass es jetzt nur eine anständige Weise des Verhaltens geben könne, nämlich aufzustehen und dem Herrn meinen Platz anzubieten. Ich tat das nicht. Ich blieb sitzen. Ich hatte Angst. Bis heute schäme ich mich. In diesem Augenblick erfasste mich eine ungeheure Wut – eine Wut gegen die,
66 | 3 Explananda einer Theorie der Vortrefflichkeit die es fertiggebracht hatten, mich zu diesem unwürdigen Sitzenbleiben, diesem Sieg der Feigheit, zu veranlassen. Auch 14-Jährige haben ein Gewissen.⁵⁹
Das Phänomen der Pflichterfahrung, wie sie in diesem Bericht paradigmatisch geschildert wird, lässt sich durch drei Merkmale näher charakterisieren. Erstens ist die Pflicht phänomenologisch durch eine besondere Art von Notwendigkeit gekennzeichnet, die für gewöhnlich als Verbindlichkeit oder Nötigung bezeichnet wird: In einem gewissen Sinne muss das Subjekt den Akt ausführen, den es als seine Pflicht betrachtet.⁶⁰ Diese Verbindlichkeit ist so grundlegend, dass sie sich nicht beschreibend bestimmen lassen dürfte, sondern lediglich ihre Eigenart gegen andere Formen der Notwendigkeit abzuheben ist. Zunächst handelt es sich bei der Verbindlichkeit natürlich nicht um eine physische Notwendigkeit, gemäß der etwas notwendig geschieht, wie eine aufgezogene Spieldose notwendig eine bestimmte Melodie abspielt, obwohl es Vergleichbares auch beim Menschen gibt (anankastische oder zwanghafte Handlungen). Spaemann hat das, was er als seine Pflicht ansah, ja gerade nicht getan. Entscheidend scheint vielmehr zu sein, dass das Subjekt in einem anderen Sinne nicht mehr frei gegenüber der Ausführung des Aktes ist, den es als seine Pflicht betrachtet. Es ist in einer Weise „gebunden“, die die Rücksichtnahme auf eigene Interessen nicht faktisch unmöglich macht, aber normativ ausschließt.⁶¹ Ebenso muss die Verbindlichkeit unterschieden werden von der instrumentellen Notwendigkeit, die dann vorliegt, wenn etwas als Mittel zu einem Zweck unabdingbar ist, der Zweck also einzig durch dieses Mittel erreicht werden kann. Beispielsweise kann die gezielte Tötung eines Terroristen unter Umständen das einzige Mittel sein, ein Attentat zu verhindern. Ähnlich mag Spaemanns Aufstehen der einzige Weg sein, die Würde des alten Juden zu verteidigen oder dem „Schnösel“ seine Missbilligung auszudrücken. Auf diese Weise sind verbindliche Handlungen in der Regel, vielleicht immer auch instrumentell notwendig zum Erreichen eines wertvollen Zwecks. Dennoch ist die Verbindlichkeit einer pflichtgemäßen Handlung nicht mit der instrumentellen Notwendigkeit zu verwechseln. Häufig genug kann ein hehrer Zweck nur durch eine zweifelhafte oder eindeutig unmoralische Handlung erreicht werden, und es ist abwegig, dass die bestehende instrumentelle Notwendigkeit eine solche Handlung zu einer Pflicht macht. Die
59 Spaemann, Über Gott und die Welt, S. 40. 60 Kant formuliert diesen Gedanken so, dass der Pflicht „auch wider Neigung Folge geleistet werden muß“: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 416. 61 Dass für solche Handlungen ein besonderer „Mangel an Wahlfreiheit“ (lack of discretion) charakteristisch ist, wird auch von R. Jay Wallace behauptet (Wallace, „The Deontic Structure of Morality“, S. 139 f. und 145.)
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Verbindlichkeit kann daher mit der instrumentellen Notwendigkeit ebenso wenig wie mit der physischen identisch sein, sondern ist eine Notwendigkeit sui generis. Zweitens ist die Pflicht gekennzeichnet durch eine klare Dichotomie der Handlungsmöglichkeiten. Sie schneidet den Raum möglicher Handlungen bzw. Unterlassungen gewissermaßen scharf entzwei: in solche, die die Pflicht erfüllen oder ihr genügen (richtige, erlaubte oder pflichtgemäße Handlungen), und in solche, die vor ihr versagen (falsche, verbotene oder pflichtwidrige Handlungen). Dies dürfte Elizabeth Anscombe im Sinn gehabt haben, als sie schrieb, der Gebrauch des Ausdrucks „sollen“ im „moralischen Sinne“ impliziere „ein absolutes Urteil (wie schuldig/nicht schuldig bei einem Menschen)“.⁶² Auch Spaemann spricht davon, es habe ihm nur „eine anständige Weise des Verhaltens“ offengestanden. Dieses Merkmal der Nicht-Gradualität lässt sich als der „binäre Charakter“⁶³ der Pflichterfahrung fassen: Eine Pflicht hat man entweder, oder man hat sie nicht; man kann nicht „ein wenig verpflichtet“ sein. Dem widerspricht nur scheinbar, dass es Pflichten unterschiedlichen Gewichts gibt, etwa das Lügenverbot und das Nothilfegebot. Geraten diese miteinander in Konflikt, so weicht zwar die schwächere, sie wird suspendiert, aber sie lässt sich nicht mit der stärkeren zu einer Gesamtpflicht verrechnen. Drittens ist die Pflicht in besonders enger Weise mit bestimmten Gefühlen und sozialen Praktiken verbunden. Versagt das handelnde Subjekt vor dem, was es selbst als seine Pflicht betrachtet, so kann es dem gegenüber als rationale Person nicht gleichgültig bleiben: Es reagiert mit Schuldgefühlen oder Reue, von Spaemann als „Scham“ bezeichnet und mit dem Gewissen in Verbindung gebracht. Das Opfer, in diesem Falle: der alte Herr, kann seinerseits Groll empfinden, eine Art moralischer Erbitterung. Diese Reaktion ist nicht zu verwechseln mit der Empörung, die ebenfalls eine Reaktion auf die Verletzung einer moralischen Pflicht ist. Empören können sich alle Mitglieder der moralischen Gemeinschaft, während nur derjenige grollen kann, der in seinen Rechten durch einen anderen verletzt worden ist. All diese Gefühle richten sich typischerweise auf die Verletzung einer Pflicht, während ihre Erfüllung kein vergleichbar charakteristisches Gefühl auslöst. Handelt jemand falsch, ohne überzeugende Entschuldigungsgründe anführen zu können, dann muss er mit sozialen Sanktionen rechnen, von Tadel, Kritik und Vorwürfen (engl. blame) bis hin zu physischen Strafen. John Stuart Mill drückt diese Beziehung so aus: „Wir nennen etwas nur dann falsch, wenn wir damit sagen wollen, dass eine Person in der einen oder anderen Weise dafür bestraft werden sollte; wenn nicht durch das Gesetz, dann durch die Meinung seiner Mitmenschen,
62 Anscombe, „Modern Moral Philosophy“, S. 5. 63 Evans, God and Moral Obligation, S. 13.
68 | 3 Explananda einer Theorie der Vortrefflichkeit wenn nicht durch die Meinung, dann durch die Vorwürfe seines eigenen Gewissens.“⁶⁴ Entscheidend ist dabei, wie Allan Gibbard ausführt, dass zur Praxis des Kritisierens ein (berechtigtes oder unberechtigtes) Bewusstsein der Berechtigung der Kritik gehört. „Jemand“, schreibt Gibbard, „ist genau dann für etwas zu kritisieren (engl. to blame) […], wenn Groll (resentment) gegen ihn berechtigt (warranted) wäre.“⁶⁵ Dieser enge Zusammenhang legt den Gedanken nahe, falsche und richtige Handlungen über unsere berechtigten emotionalen und sozialen Reaktionen auf sie zu individuieren: Falsch wäre eine wissentlich und willentlich ausgeführte Handlung demnach genau dann, wenn ihre Ausführung das Gefühl der Reue (beim Täter) bzw. das der Empörung bei Dritten sowie die entsprechenden Vorwürfe rechtfertigt; richtig, wenn dies nicht der Fall ist. Doch obwohl diese Bikonditionale durchaus Geltung für sich in Anspruch nehmen können – es gibt keine falsche Handlung, die nicht zumindest schwache Vorwürfe zulässt,⁶⁶ und solche Vorwürfe sind wiederum als Reaktion nur auf für falsch gehaltene Handlungen denkmöglich –, reichen sie nicht hin, um anzunehmen, dass das Falschsein einer Handlung in nichts anderem besteht als dem Berechtigtsein der genannten Reaktionen. Denn dazu müssten die entsprechenden Begriffe nicht nur notwendig koextensional sein, sich also genau auf dieselben Gegenstände anwenden lassen, sondern auch explanatorisch äquivalent sein. Dies aber ist, wie aus den folgenden Überlegungen hervorgeht, nicht der Fall. Dass die Ausdrücke „ist falsch“ und „lässt sich berechtigt kritisieren“ notwendigerweise die gleiche Extension aufweisen, lässt sich über ihre reziproke begriffliche Abhängigkeit begründen. Zwei Ausdrücke A und B sind – im Anschluss an Ralph Wedgwood⁶⁷ – dann reziprok begrifflich abhängig, wenn sich A nicht verstehen lässt, ohne B zu verstehen, aber umgekehrt auch ein Verständnis von B nicht möglich ist, ohne A zu verstehen. Mit anderen Worten, ein adäquates Verständnis eines der beiden Begriffe setzt das des jeweils anderen voraus. So scheint es sich auch mit den Begriffen der Falschheit einer Handlung und ihrer berechtigten Kritisierbarkeit (oder den anderen genannten Reaktionen) zu verhalten: Wir verstehen die Praxis des Vorwerfens nur, wenn wir wissen, dass sie sich auf falsche Handlungen bezieht; falsche Handlungen lassen sich aber ihrerseits nur begreiflich machen als solche, die berechtigten Tadel nach sich ziehen. Man kann diese beiden Begriffe 64 Mill, Der Utilitarismus, Kap. 5, § 14. 65 Gibbard, „Moral Concepts: Substance and Sentiment“, S. 201. 66 Ähnlich fragt Gibbard („Moral Concepts: Substance and Sentiment“, S. 201) rhetorisch: „Ist es für irgendjemanden denkmöglich, dass bestimmte Handlungsweisen moralisch falsch sind, aber dass niemand jemals dafür kritisiert werden kann?“ 67 Vgl. Wedgwood, „The “Good” and the “Right” Revisited“, S. 500.
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nur gemeinsam verstehen. Genau aus diesem Grund ist jede falsche Handlung auch berechtigterweise kritisierbar (ausgenommen allenfalls entschuldbare Unwissenheit aufseiten des Handelnden), und jede Handlung, die berechtigte Kritik erlaubt, in mindestens einer Hinsicht falsch. Doch was macht Vorwürfe und Strafen berechtigt? Hier ist es sehr naheliegend, darauf zu verweisen, dass diese Reaktionen eben dadurch berechtigt werden, dass eine bestimmte Handlung – vielleicht auch eine Geisteshaltung, eine Gesinnung oder Ähnliches – falsch ist, wobei sich die Art der Falschheit, analog zum oben festgehaltenen Spezifizierbarkeitsprinzip für „gut“, durch einen dichteren deontischen Begriff wie „illoyal“ oder „unaufrichtig“ konkretisieren lassen muss. Umgekehrt gilt jedoch keinesfalls, dass eine Handlung deshalb falsch ist, weil sie Reue, Groll oder Vorwürfe verdient; das Falschsein ist der Grund der Berechtigung der Kritik, das Berechtigtsein von Vorwürfen aber nicht der Grund der Falschheit einer Handlung. Diese explanatorische Asymmetrie zeigt an, dass es sich bei ihnen um zwei unterschiedliche Eigenschaften handelt. Hätte Spaemann nicht vor dem, was er als moralische Pflicht empfand, versagt, sondern mutig und ohne zu zögern dem alten Herrn seinen Platz angeboten, könnte sein Verhalten als Muster an Solidarität und Zivilcourage gewürdigt und dementsprechend gelobt oder (wenn wir uns nicht ganz sicher sind, ob wir zu Ähnlichem imstande wären) bewundert werden. Lob, Bewunderung und andere Formen der Anerkennung beziehen sich jedoch auf Eigenschaften des Handelnden in Bezug auf seine Handlung, die ihn in unseren Augen besonders gut erscheinen lassen, und zwar gut als Mensch (und die Handlung gut als Handlung). Es liegt daher nahe, zu fragen, wie sich der Pflichtcharakter einer Handlung zu ihrem artrelativen finalen Gutsein verhält. Sind alle pflichtgemäßen Handlungen ipso facto auch in der relevanten Weise gute Handlungen? Sind umgekehrt alle guten Handlungen auch Pflicht? Oder handelt es sich bei der Pflicht und dem Guten um zwei letztlich voneinander unabhängige Beurteilungsschemata? Dass nicht jede gute Handlung auch unsere Pflicht ist, legt neben vielen anderen das oben angeführte Beispiel von Maximilian Kolbe nahe – eine Handlung, die zweifellos Bewunderung verdient, aber (im Gegensatz zu Spaemanns Fall) kaum die einzig „anständige Weise des Verhaltens“ ist. Selbstverständlich kann man niemandem einen Vorwurf machen, nicht wie Kolbe den freiwilligen Tod gewählt zu haben, wenn der Kelch noch einmal vorübergegangen ist. Reue wäre ebenso fehl am Platze wie Empörung oder andere soziale Sanktionen vonseiten Dritter. Dies zeigt, wenn das oben Gesagte über den reziproken Zusammenhang von Pflicht und berechtigter Kritisierbarkeit stimmt, dass es gute Handlungen gibt,
70 | 3 Explananda einer Theorie der Vortrefflichkeit zu denen wir nicht im strengen Sinne verpflichtet sind. Solche Handlungen werden supererogatorisch genannt.⁶⁸ Die Möglichkeit supererogatorischer Handlungen kann jedoch durch ein Argument in Zweifel gezogen werden, das von Terry Horgan und Mark Timmons als „Paradox der Supererogation“ bezeichnet wird.⁶⁹ Als erste Prämisse (1) nimmt das Argument an, dass eine Handlung nur dann moralisch gut ist, wenn gute moralische Gründe für sie sprechen. Dies kann hier als unkontrovers betrachtet werden. Das Argument geht in der Fassung von Horgan und Timmons ferner davon aus, dass (2) eine supererogatorische Handlung nicht nur von guten, sondern von den besten verfügbaren Gründen gestützt wird; die supererogatorische Handlung ist demnach die, für die bessere Gründe sprechen als für jede mögliche Handlungsalternative. Das mag intuitiv schon weit weniger plausibel erscheinen; kann eine Handlung wirklich nur dann über die Pflicht hinausgehen, wenn sie die bestmögliche ist? Die Prämisse lässt sich jedoch ohne Schaden für die Gültigkeit des Arguments etwas abschwächen, indem man den zugrundeliegenden Gedanken wie folgt formuliert: Wenn eine Handlung besser ist als eine andere, dann sprechen für sie stärkere Gründe als für ihre Alternative; es ist nicht recht verständlich, wie eine Handlung sonst besser als ihre Alternative sein sollte. Da nun die supererogatorische Handlung besser sein soll als ihre (verbindliche) Alternative, folgt, dass (2a) für sie auch die stärkeren Gründe sprechen. Und dies scheint weitgehend korrekt zu sein. So kann Maximilian Kolbe in dem obigen Beispiel⁷⁰ nicht zufällig einen Grund anführen, weshalb er den Tod anstelle Gajowniczeks antreten will: Dieser habe Frau und Kinder, er aber sei allein. Die dritte Prämisse besagt nun, dass (3) man verpflichtet ist, diejenige Handlung auszuführen, für die die relativ stärksten Gründe sprechen. Aus dieser Prämisse folgt in Verbindung mit (2a), dass supererogatorische Handlungen immer verbindlich sind. Damit ist jedoch der Begriff der supererogatorischen Handlung selbst ad absurdum geführt, denn dabei soll es sich ja gerade um Handlungen handeln, die eben nicht verbindlich sind. Das zeigt, so die Vertreter des Arguments, dass es sich bei supererogatorischen Handlungen eben schon begrifflich um eine Unmöglichkeit handelt, es solche Handlungen also gar nicht geben kann. Aber warum sollte die Handlung, für die die besten Gründe sprechen, auch verbindlich sein? Der Zusammenhang wird nach den Verfechtern dieser Prämisse 68 Vgl. zu Inhalt und Geschichte des Begriffs der Supererogation David Heyds Artikel in der Stanford Encyclopedia of Philosophy („Supererogation“). Die moderne moralphilosophische Auseinandersetzung mit der Supererogation beginnt mit Urmson, „Saints and Heroes“ (1958). Für eine Auswahl zeitgenössischer Behandlungen des Themas s. Cowley, Supererogation. 69 Horgan und Timmons, „Untying a Knot from the Inside Out“. 70 Siehe o. S. 4.
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vom Begriff des Sollens gestiftet.⁷¹ Wenn eine Handlung verbindlich ist, dann „müssen“ oder „sollen“ wir sie tun; das erscheint als eine begriffliche Notwendigkeit. Dass wir etwas tun sollen, impliziert jedoch, dass wir einen Grund haben, es zu tun. Es wäre sprachlich absonderlich, zu sagen, man solle etwas tun, es gebe aber keinen Grund dafür. Vielmehr scheint es im Kern des Begriffs Grund zu liegen, dass er für etwas spricht und man das, wofür er spricht, zumindest pro tanto auch tun soll. Wenn man es jedoch tun soll, dann muss es nach dem oben Gesagten auch verbindlich sein. Der Fehler dieses Arguments liegt in der Vermischung zweier Begriffe, dem (deontischen) Müssen und dem (normativen) Sollen. Das Erstere entspricht der Pflicht mit ihrer Verbindlichkeit. Das Letztere ist dagegen gewissermaßen das subjektseitige Korrelat zum Für-etwas-Sprechen von Gründen: Wann immer ein Grund für eine Handlung spricht, soll das Subjekt pro tanto die Handlung ausführen und umgekehrt. Dieses allgemeine „Sollen“ trägt aber nicht immer den oben dargestellten Charakter der Notwendigkeit, sondern kann auch lediglich empfehlenden Charakter besitzen, etwa wenn wir sagen: Du solltest rechtzeitig für das Alter vorsorgen. Nicht alle Gründe haben es also mit dem deontischen Status von Handlungen zu tun, und entsprechend ist das Sollen, das logisch mit dem Begriff des Grundes verknüpft ist, nicht notwendigerweise das der Verbindlichkeit. Die Konfusion wird zum einen durch den uneinheitlichen alltäglichen Sprachgebrauch erleichtert (vgl. „Du sollst nicht töten“ und „Das muss man gesehen haben“).⁷² Zum anderen besteht tatsächlich eine Implikation, wenn auch nur in einer Richtung; denn eine Verbindlichkeit kann nur dann vorliegen, wenn es auch einen rechtfertigenden Grund dafür und damit ein Sollen gibt, während umgekehrt manche Gründe zwar ein Sollen generieren, das aber nicht der Verbindlichkeit gleichkommt. Das Argument gegen die Supererogation leidet daher an einer Äquivokation im Begriff „Sollen“, der zum einen die deontische Notwendigkeit und zum anderen das Begründetsein einer Handlung für ein Subjekt ausdrücken kann. Solange es keine anderen, schlagenderen Argumente gegen die Möglichkeit supererogatorischer Handlungen gibt, sind wir daher berechtigt, unsere Intuitionen beim Wort zu nehmen und davon auszugehen, dass es gute Handlungen gibt, die dennoch nicht verbindlich sind. Gibt es umgekehrt Handlungen, die verbindlich sind, aber dennoch jeglichen Wertes entbehren? Die Frage, was eine Handlung gut macht, führt zwar zu weit, um hier diskutiert zu werden; doch kann man zumindest den Handlungstyp (z. B. 71 Eine bündige Darstellung dieser Überlegung bietet Raz, „Permissions and Supererogation“, S. 164. 72 Die Verwechslung liegt im Englischen wohl noch näher: Der Ausdruck „ought“ kann gleichermaßen für das deontische „Müssen“ wie für das normative „Sollen“ gebraucht werden.
72 | 3 Explananda einer Theorie der Vortrefflichkeit Spenden), das Ziel (z. B. den Erhalt einer Tierart) und den Charakterzug, aus dem man handelt (z. B. Tierliebe) als mögliche Hinsichten anführen, in denen eine Handlung gut ist. Es fällt nun allerdings schwer, ein Beispiel für eine Handlung zu finden, die in keiner erdenklichen Hinsicht gut ist, aber dennoch verbindlich sein soll. Allenfalls könnte man an bestimmte gegebene Versprechen denken, die keinem erkennbaren Zweck dienen und deren Einhaltung auch nicht überprüft werden kann, etwa weil der Versprechensnehmer verschieden ist.⁷³ Hier ist es – könnte man argumentieren – rein der Akt des Versprechens, der die Verbindlichkeit stiftet, sofern er unter der Bedingung der vollständigen Informiertheit über Umstände und Inhalt des Versprechens vollzogen wurde. Derlei Grenzfälle könnten zeigen, dass tatsächlich nicht jede verbindliche Handlung auch gut ist. Dennoch zeigt gerade die Schwierigkeit ihrer Konstruktion, dass zumindest eine regelhafte Implikationsbeziehung zwischen der Verbindlichkeit und dem moralischen Wert einer Handlung besteht: Eine Handlung, die verbindlich ist, ist in der Regel auch eine gute Handlung. Da jedoch das Umgekehrte anscheinend nicht gilt (die Möglichkeit der Supererogation), steht eine Theorie des artrelativen finalen Gutseins vor der Aufgabe, zu erklären, was die verbindlichen guten Handlungen von den nicht-verbindlichen unterscheidet. Welches Merkmal, in anderen Worten, muss zum Gutsein einer Handlung noch hinzutreten, um sie verbindlich zu machen?
3.2.2 „Sprachloses Entsetzen“: das Böse In ihrer Vorlesung „Einige Fragen der Ethik“ (Some Questions of Moral Philosophy), gehalten 1965 an der New School for Social Research in New York, spricht Hannah Arendt vom „Horror selbst in seiner nackten Monstrosität“, den das „Ausrottungsprogramm“ des Nazi-Regimes auslöse. „Das wirklich Böse“, schreibt sie, „ist das, was bei uns sprachloses Entsetzen verursacht, wenn wir nichts anderes mehr sagen können als: Dies hätte nie geschehen dürfen.“⁷⁴ Beispielhaft für die Art von Handlungen, die Arendt vor Augen standen, und für die Reaktion eines nicht direkt beteiligten Beobachters darauf dürfte folgende Passage aus dem Tagebuch des Chaim Kaplan, eines Chronisten des Warschauer Ghettos, stehen: 73 Jonathan Dancy diskutiert im Zusammenhang des sog. buck-passing account of value den Fall, wo jemand seinem Kind verspricht, sich an geraden Wochentagen zuerst den rechten, an ungeraden aber zuerst den linken Schuh zu schnüren, wenn es ohne Umstände seine Hausaufgaben macht; dies könnte ein Beispiel für Handlungen sein, die (qua Versprechen) verbindlich sind, aber keinerlei Wert haben. Vgl. Dancy, „Should we Pass the Buck?“, S. 168. 74 Arendt, Über das Böse, S. 45.
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In weniger als einer Minute kam ein Nazimörder mit feuerrotem Gesicht, der in jeder seiner Bewegungen seinen rasenden Zorn ausdrückte, mit besonders schweren Tritten anmarschiert und suchte nach einem Opfer. In seiner Hand hielt er eine Peitsche. Ein paar Schritte hinter ihm folgte ihm sein Gefährte. Beide hielten mit boshaften Blicken nach jeder Richtung hin Ausschau. Die Juden waren alle verschwunden. In der Nähe des Hauses Karmelickastraße 25 stießen sie auf einen armen zerlumpten Hausierer, ein wahres Jammerbild, der neben seinem Korb mit Waren stand. Eine entsetzliche Begegnung. Der unglückliche Hausierer wurde die Zielscheibe für die Schläge der Bestien. Er fiel sogleich zu Boden, und der eine ließ von ihm ab und ging fort. Aber nicht so der andere. Gerade die körperliche Schwäche seines Opfers entflammte den Soldaten. Sowie der Hausierer zu Boden fiel, begann er auf ihm herumzutrampeln und ihn erbarmungslos auszupeitschen. Er schlug ihn auf verschiedene Weise, grausam und sadistisch, manchmal auf den Kopf, manchmal ins Gesicht, manchmal trat er ihn mit den Füßen, manchmal versetzte er ihm einen Fausthieb. Er ließ keinen Flecken seines Körpers unversehrt. Von der Ferne sah es aus, als schlage er auf einen Leichnam ein.
Und wenige Zeilen später verleiht Kaplan seiner vollkommenen Verständnislosigkeit in ratlosen Fragen Ausdruck: Es war schwer, das Geheimnis dieses sadistischen Phänomens zu begreifen. Schließlich war das Opfer ein Fremder, nicht ein alter Feind; er sprach nicht unhöflich zu ihm, er tat ihm nichts zuleide. Warum diese grausame Wut? Wie kann man einen Menschen, der einem fremd ist, einen Menschen von Fleisch und Blut wie man selbst einer ist, ohne jeden Grund verletzen, mit Füßen treten, ihn so schlagen, dass er blutüberströmt, zerschunden und mit Striemen übersät liegenbleibt? Wie ist das möglich? Aber ich schwöre, dass ich all das mit meinen eigenen Augen mitangesehen habe.⁷⁵
Wie Raimond Gaita in der Reflexion über einen ähnlichen Fall richtig schreibt, handelt es sich bei Kaplans Frage „Wie ist das möglich?“ um eine „Frage ohne Antwort“ – eine Frage, bei der wir nicht einmal zu sagen wüssten, was eine befriedigende Antwort darstellen würde.⁷⁶ Sie ist keine Bitte um Erhellung. Stattdessen drückt sie das Scheitern aller gängigen Rationalisierungen und Erklärungen menschlichen Handelns aus. Das Böse entzieht sich so seiner Erfassung in sprachlichen Kategorien, die ja zugleich Kategorien des Begreifens sind; und die Benennung bestimmter Ereignisse oder Personen als böse bezeichnet demnach nichts anderes als unsere Unfähigkeit, sie in die Totalität eines umfassenden moralphilosophischen (oder religiösen) Systems zu integrieren. Aber diese Unfähigkeit ist nichts Kontingentes, kein Mangel, der sich durch fortgesetzte Forschung, historische, sozialpsycholo-
75 Kaplan, Buch der Agonie, S. 286. 76 Gaita, „Evil beyond Vice“, S. 39.
74 | 3 Explananda einer Theorie der Vortrefflichkeit gische⁷⁷ oder auch philosophische, beheben ließe. Damit soll der Wert solcher Untersuchungen nicht bestritten werden. Im Gegenteil, die genaue Kenntnis der Mechanismen, durch die „aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden“, wie es im Untertitel von Welzers Werk Täter heißt, vermag vielleicht nachdrücklicher die Versuchbarkeit des Menschen vor Augen zu führen als jede philosophische oder theologische Abhandlung. Dennoch verweist die Frage „Wie ist das möglich?“ auf eine letztliche Unerklärlichkeit des Bösen, die man mit Gaita seinen essentiell, nicht bloß vorläufig und kontingent, mysteriösen Charakter nennen kann.⁷⁸ Das „sprachlose Entsetzen“ besitzt jedoch noch eine zweite, eine normative Dimension. Sie besteht darin, dass der Versuch eines restlosen Einordnen-, Verstehenwollens des Bösen nicht nur als zum Scheitern verurteilt, sondern auch als unangemessen erscheint. Arendt betont diesen Punkt, indem sie das sprachlose Entsetzen als „eine adäquate Reaktion auf das System als ganzes“ bezeichnet.⁷⁹ Wiederum wäre es ein Missverständnis, damit die Bedeutung wissenschaftlicher Forschung oder einer öffentlichen Erinnerungskultur in Frage gestellt zu sehen. Bei all ihrem Wert muss aber das Schweigen das letzte Wort haben. Anders formuliert: Alles Wissen um historische, biographische, massenpsychologische Umstände darf nicht dazu führen, das böse Ereignis oder den bösen Charakter zu entskandalisieren, ihn für katalogisiert zu halten, die anfängliche Sprachlosigkeit als ein überwundenes Stadium zu betrachten. Mit der Betonung des essentiell mysteriösen Charakters des Bösen soll keine Mystifikation betrieben werden. Neben der empirischen „Täterforschung“ bleibt der Versuch, das in Frage stehende Phänomen philosophisch präzise zu analysieren und seine Beziehungen zu anderen ethischen Kategorien zu erhellen, ohne es aufzulösen, eine wichtige Aufgabe. Im Zusammenhang dieser Arbeit kann es dabei freilich nur darum gehen, das Verhältnis des Bösen zur Vortrefflichkeit näher herauszuarbeiten. Als Gegenbegriff zur Vortrefflichkeit kann der des Schlechten oder des Übels im weitesten Sinne gelten. Wie aber verhält sich das Böse zum Schlechten? Aus den bisherigen Ausführungen ist bereits klargeworden, dass es bei dem hier gemeinten Bösen nicht um Übel im Allgemeinen geht, insbesondere nicht um diejenigen Übel, die in der Tradition unter dem Titel malum physicum verhandelt wurden, etwa Krankheit, Einsamkeit oder Tod. Das sind Übel, die einen Menschen auch ohne das Zutun anderer treffen können; und auch diese können „schrecklich“ (horrendous) sein in dem Sinne, dass ihr Vorkommen, wie es Marilyn McCord 77 Vgl. für solche Untersuchungen beispielsweise Browning, Ganz normale Männer, und Welzer, Täter. 78 Gaita, „Evil beyond Vice“, S. 39. 79 Arendt, Über das Böse, S. 22.
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Adams formuliert, „einem einen Prima-facie-Grund gibt, zu bezweifeln, ob das eigene Leben mit ihnen noch insgesamt ein großes Gut für einen selbst sein kann“.⁸⁰ Der Tod des einzigen Kindes, verursacht durch eine seltene und qualvolle Krankheit oder auch durch einen Unfall, kann beispielsweise einen solchen Schatten auf ein Leben werfen, dass die positiven Aspekte daran nicht nur überwogen, sondern geradezu verschlungen zu werden scheinen;⁸¹ bis hin zu dem Punkt, an dem man den Tag seiner Geburt verflucht. Die Frage nach der Theodizee, nach der Möglichkeit eines guten und zugleich allmächtigen Gottes im Angesicht einer Welt, die schreckliche Übel enthält, stellt sich daher auch bereits unabhängig von allen Übeln, die Menschen von Menschen angetan werden.⁸² Das Böse zählt dagegen zum sogenannten malum morale, dem moralischen Übel. Dabei ist es eigentlich irreführend, vom malum physicum und vom malum morale wie von zwei gleichrangigen Arten desselben Genus zu sprechen. Denn alles, was ein natürliches Übel darstellt, kann anscheinend – als Übel erster Ordnung – zu einem Gegenstand eines moralischen Übels werden, wenn dies auf die Zufügung eines solchen abzielt. Umgekehrt scheint aber nicht alles, was Gegenstand eines moralischen Übels ist, auch als natürliches Übel aufzutreten. Insbesondere die Versklavung von Menschen, die vollständige Unterwerfung ihres Handelns, Wollens und Denkens unter den Willen eines anderen, muss als ein essentiell nicht-natürliches Übel gelten. Dennoch ist keineswegs jedes moralische Übel angetan, die beschriebene Reaktion des Grauens oder Entsetzens auszulösen, von der Arendt spricht. Eine Lüge etwa kann, wenn viel auf dem Spiel steht, scharfe Missbilligung und Empörung auslösen; sprachloses Entsetzen, ein fassungsloses „Wie ist das möglich?“ dagegen nicht. Ähnliches gilt für betrügerische materielle Bereicherung. Anders ist es, wenn die Lüge konstitutiver Bestandteil des Verrats an einem engen Freund ist oder der Betrug dem Opfer die Lebensgrundlagen zu entziehen droht; hier erscheint die Bezeichnung als böse nicht als so abwegig. Mit anderen Worten, es gibt ein „Böses jenseits des Lasters“, wie wiederum Hannah Arendt formuliert.⁸³ Was aber unterscheidet das Böse von anderen Formen des moralischen Übels? Drei naheliegende Antworten auf diese Frage können als Missverständnis ausgeschlossen werden. Erstens könnte man sagen: Böse ist das, was man unter keinen Umständen tun darf; was absolut gegen die Pflicht verstößt; was durch keine entgegenstehende Pflicht, durch kein zu erreichendes Gut gerechtfertigt werden kann. Doch selbst abgesehen davon, dass es schwierig sein dürfte, auf diese Weise das 80 McCord Adams, „Horrendous Evils and the Goodness of God“, S. 211. 81 Ebd., S. 211. 82 Vgl. McCord Adams und Adams, The Problem of Evil. 83 Arendt, „Das Bild der Hölle“, S. 52.
76 | 3 Explananda einer Theorie der Vortrefflichkeit Böse von anderen Formen moralischer Übel zu unterscheiden, wirkt es seltsam inadäquat, den Begriff des Bösen an die Pflichtwidrigkeit zu knüpfen. Natürlich ist das Böse „moralisch verboten“. Aber insofern der deontische Status, wie oben ausgeführt, begrifflich eng mit der Möglichkeit berechtigten Tadels verknüpft ist, lähmt und sprengt genuin böses Handeln die Praxis der moralischen Kritik als ganze, weil die Hoffnung, den Täter durch Vorwurf und Strafe zur Einsicht in das Grauenhafte seines Tuns zu führen, von vornherein so abwegig erscheint; ohne diese Hoffnung handelt es sich aber nicht mehr um eine eigentlich moralische Praxis, sondern um eine bloße Unschädlichmachung.⁸⁴ Diese Lähmung der gewöhnlichen moralischen Mechanismen der Transgressionssanktionierung ist ein weiterer Aspekt des moralischen Entsetzens, das hier als Leitfaden zur Charakterisierung des Bösen dient. Ein anderer Ansatz würde Arendts Bemerkung aufgreifen, der „Horror“ sei „etwas […], das niemals hätte geschehen dürfen; denn die Menschen werden unfähig sein, es zu bestrafen oder zu vergeben“.⁸⁵ Eine Wiedergutmachung, eine Sühne durch Vergebung oder Bestrafung, steht, wie es an anderer Stelle heißt, „nicht in unserer Macht“.⁸⁶ Versteht man diese Äußerungen als mehr denn als kreisende Annäherungen, nämlich als den Versuch einer Bestimmung des Bösen, so ergibt sich die Schwierigkeit, dass es allem Anschein nach genau die moralische Qualität der Handlung und ihres Täters ist, die eine Vergebung unmöglich macht: Weil die Handlung böse ist, ist sie unentschuldbar, nicht umgekehrt. Dann aber kann die Unentschuldbarkeit nicht mehr als Kriterium des Bösen gelten. Schließlich bleibt der Versuch, das Böse zu fassen als ein Handeln, das das Schlechte als solches zum Gegenstand des Strebens macht: „Evil, be thou my good“, wie es bei Milton heißt.⁸⁷ Ob derlei „satanisches Handeln“ möglich ist oder nicht vielmehr, wie es die philosophische Tradition wollte, jedes Handeln ein Gut anstrebt, zumindest für den Handelnden selbst,⁸⁸ ist Gegenstand lebhafter Diskussion.⁸⁹ Sie zu entscheiden ist hier weder möglich noch notwendig. Denn der Umstand, dass eine Handlung auf ein Gut für den Handelnden abzielt, ist 84 Ein ähnlicher Gedanke wird formuliert von Gary Watson in „Responsibility and the Limits of Evil“. Für den Hinweis danke ich Stefan Riedener. 85 Arendt, Über das Böse, S. 17. 86 Ebd., S. 121. 87 Milton, Paradise Lost, IV, 110. 88 Für eine klassische Formulierung dieses Gedankens vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae I-II, q. 1, art. 6, corp. art.: quidquid homo appetit, appetit sub ratione boni. Er geht zurück auf Aristoteles, De anima III.10 (433a28–29), wo Aristoteles allerdings das Gute von dem lediglich gut Scheinenden unterscheidet. 89 Einen guten Überblick über die Debatte bietet Orsi, „The Guise of the Good“. Die These, dass das Handeln stets sub ratione boni stehe, wurde kritisiert von Stocker („Desiring the Bad: An Essay
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selbst keineswegs hinreichend, um ausschließen zu können, dass die Handlung böse ist. Philip P. Hallie schreibt in seiner detailreichen Studie Grausamkeit, dass „Menschen einander martern können, ohne es eigentlich zu wollen. Es muss nicht immer nur sadistisches Vergnügen sein, was zu grausamem Vorgehen veranlasst; als Motive können unter anderem auch Geldgier, gesellschaftliche Rücksichten, Bequemlichkeit dienen.“ Und weiter: „Mancher Peiniger quält seine Opfer in einer seltsam anmutenden Arglosigkeit, ohne der Auswirkungen seines Tuns auf die Opfer gewahr zu werden. […] Ein solcher Peiniger braucht sein Opfer gar nicht drangsalieren zu wollen – er braucht nur nach etwas zu gieren, dessen Beschaffung ihn zwingt, sein Opfer zu foltern.“⁹⁰ Das Böse verbindet sich, so ist festzuhalten, mit einer Vielzahl von Motiven, vom Sadismus (wie in der eingangs geschilderten Episode aus dem Warschauer Ghetto) bis zum Neid (wie in Hermann Melvilles Erzählung Billy Budd), vielleicht sogar bis hin zur Gedankenlosigkeit: So kann Gleichgültigkeit gegenüber dem Bösen selbst böse sein. Das Böse muss keineswegs in der Weise teuflisch sein, dass, wie Kant es (wenn auch als Erklärung ablehnend) formuliert, „der Widerstreit gegen das Gesetz selbst zur Triebfeder“ des Handelns wird.⁹¹ Für eine Theorie der Vortrefflichkeit sind aus diesen vorläufigen Überlegungen zumindest zwei Schlussfolgerungen zu ziehen. Zum einen wäre es offenkundig ein Fehler, das Böse lediglich mit dem Schlechten – demjenigen, was beschreib- und begreifbar, wenn auch in außergewöhnlich großem Maße hinter dem Vortrefflichen zurückbleibt – zu identifizieren und es so direkt begrifflich abhängig von dem final Guten zu machen. Dazu besitzt das Böse eine zu eigenständige Phänomenologie, die hier unter den Begriff des „sprachlosen Entsetzens“ gestellt wurde. Doch obwohl das Böse nicht nur die Abwesenheit von Gutem bezeichnet, sondern eine distinkte moralische Qualität, steht es, zweitens, in begrifflichen Beziehungen zum Guten, nicht nur indem das Böse dem Guten offenbar konträr entgegengesetzt ist, sondern auch, indem die Charakterisierung als böse ebenfalls einen Bezug auf artspezifische Standards impliziert. Eine vollständige Theorie der Vortrefflichkeit muss daher auch diese Beziehungen, soweit möglich, erklären.
in Moral Psychology“) und Velleman („The Guise of the Good“), verteidigt von Raz (in „On the Guise of the Good“). 90 Hallie, Grausamkeit, S. 24. 91 Kant, „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, S. 682.
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3.3 Zusammenfassung Gemäß der in Kap. 2 vorgelegten Methodologie eines Schlusses auf die beste Erklärung bestand das Ziel dieses Kapitels darin, die Explananda einer Theorie der Vortrefflichkeit zu ermitteln. Eine erste erklärungsbedürftige Eigentümlichkeit der Vortrefflichkeit wurde dabei bereits in der Einleitung herausgearbeitet. Das exzellente Gutsein verhält sich einerseits logisch attributiv: Das herausragende Kunstwerk ist als Kunstwerk herausragend, ein vortrefflicher Mensch als Mensch. Andererseits lassen sich (entgegen dem, was Aristoteles im Ergon-Argument anzunehmen scheint) aus dem Begriff des jeweils zugehörigen Substantivs keine Kriterien entwickeln, die uns ein gutes von einem weniger guten Exemplar dieser Art unterscheiden ließen; alles andere würde eine funktionale Verkürzung einer wesentlich finalen Form des Gutseins bedeuten. Damit stellt sich – insbesondere für ein grundsätzlich realistisches Verständnis der Vortrefflichkeit – die Frage, worin der jeweilige artspezifische Maßstab besteht. Ferner lassen sich anhand der Geschichte der Metaethik (mindestens) sechs Merkmale der logischen Grammatik des Ausdrucks „gut“ und so auch des spezifischeren finalen Gutseins in einer Art unterscheiden. Sie sollen hier noch einmal in Form eines thesenartigen Überblicks zusammengefasst werden: 1. „Gut“ lässt sich nicht ohne Bedeutungsveränderung durch einen Ausdruck ersetzen, der eine natürliche Eigenschaft bezeichnet (Nichtsubstituierbarkeit). 2. Das aufrichtig geäußerte Urteil „x ist gut“ impliziert zumindest eine minimale Bereitschaft aufseiten eines rationalen Sprechers, sich, falls möglich, in bestimmten positiven Weisen ihm gegenüber zu verhalten (motivationstheoretischer Internalismus). 3. Zwei Urteile „x ist G“ und „y ist nicht G“ implizieren zusammen für einen beliebigen normativen Ausdruck „G“, dass sich x und y in ihren natürlichen Eigenschaften unterscheiden (Supervenienz). 4. Das Urteil „x ist gut“ impliziert, dass sich x in anderen, dichteren normativen Begriffen charakterisieren lässt (Spezifizierbarkeit). index[Sachen]Spezifizierbarkeit (dünner durch dichte normative Kategorien) 5. „Gut“ verhält sich auch eingebettet in nicht-behauptete, logisch komplexe Kontexte syntaktisch „normal“, d. h. wie eindeutig beschreibende Adjektive (Frege-Geach-Punkt). 6. Das Urteil „x ist gut“ impliziert, dass jeder zumindest einen prima-facie-Grund hat, x gegenüber bestimmte Handlungen zu unterlassen (Kategorizität). Auch wenn einzelne dieser Behauptungen bestritten worden sind, dürfen sie doch ein hohes Maß an Ausgangsplausibilität beanspruchen; dies geht insbesondere daraus hervor, dass sie, wie die obige Nachzeichnung der Entwicklung der Meta-
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ethik von Moore bis Mackie zeigen sollte, von Vertretern der unterschiedlichsten metanormativen Positionen akzeptiert worden sind, auch wenn diese naturgemäß verschiedene Folgerungen daraus gezogen haben. Damit dürfte die Beweislast aufseiten derjenigen liegen, die eine oder mehrere dieser Thesen nicht akzeptieren, was in der Regel auch ausdrücklich anerkannt wird.⁹² Für den weiteren Verlauf dieser Arbeit bedeutet das, dass der metanormative Platonismus als eine Theorie des artrelativen finalen Gutseins daran zu messen ist, wie überzeugend er die genannten sechs Explananda mit den ihm eigenen begrifflichen Mitteln erklärt. Für eine Bewertung der Erklärungsleistung des metanormativen Platonismus sind jedoch auch die Beziehungen der Vortrefflichkeit zu zwei anderen zentralen Kategorien heranzuziehen, nämlich zu der der Pflicht und der des Bösen. Es wurde festgehalten, dass eine verbindliche Handlung zumindest in der Regel auch als eine gute Handlung gelten kann, während wir umgekehrt zumindest von der begrifflichen Möglichkeit supererogatorischer Handlungen ausgehen müssen, d. h. solcher, die gut sind, ohne jedoch verbindlich zu sein. Selbst wenn eine Erklärung des Unterschieds zwischen verbindlichen und nicht-verbindlichen guten Handlungen strenggenommen nicht mehr in den Bereich einer Theorie der Vortrefflichkeit fällt, würde es dennoch einen klaren Vorzug einer solchen Theorie bedeuten, wenn sie mit den ihr eigenen Mitteln den Begriff der Pflicht auf den eines artrelativen finalen Gutseins zurückführen könnte. Auch zum Begriff des Bösen bestehen regelhafte Zusammenhänge. Es ist offensichtlich, dass das Vortreffliche und das Böse einander konträr entgegengesetzt sind, so dass sie einander ausschließen, ohne dass auf alle Personen oder Handlungen entweder das eine oder das andere wahrheitsgemäß prädiziert werden kann. Das Böse scheint sich nicht durch einfache Negation aus dem Vortrefflichen zu ergeben, sondern eine phänomenologisch distinkte normative Realität zu bezeichnen. Das Verhältnis des Bösen zur Vortrefflichkeit ist daher ähnlich erklärungsbedürftig wie die Pflicht. Damit ist nach der methodologischen Reflexion auf den Begriff der Erklärung in der Normativitätstheorie auch die zweite der in der Einleitung (Abschnitt 1.3, S. 16) gesetzten Aufgaben erfüllt, nämlich die Klärung der Explananda einer Theorie der Vortrefflichkeit. Wir können somit zur Untersuchung des eigentlichen Gegenstandes dieser Arbeit übergehen, des metanormativen Platonismus. Die Darstellung und Plausibilisierung einer bestimmten Interpretation der platonischen Ideenlehre im folgenden Kap. 4 soll das Fundament für die Darlegung der allge-
92 Foot beispielsweise schreibt: „Dass moralische Urteile keine hypothetischen Imperative sein können, hat den Status einer unbezweifelbaren Wahrheit erlangt. Ich werde dafür argumentieren, dass es keine ist“ („Morality as a System of Hypothetical Imperatives“, S. 305).
80 | 3 Explananda einer Theorie der Vortrefflichkeit meinen Struktur des metanormativen Platonismus in Kap. 5 legen, bevor in den Kapiteln 6 bis 8 verschiedene Ausprägungen dieses Grundmodells untersucht werden. Leitend wird dabei die Frage sein, ob und wie sich die in diesem Kapitel ausgeführten Explananda durch die Struktur des Platonismus oder durch seine einzelnen Varianten erklären lassen.
4 Platon und die Metaphysik der Ideen 4.1 Auf dem Weg zur Idee: Vorüberlegungen In Platons Dialog Phaidon, an dessen Ende bekanntlich der Tod des Sokrates steht, wird dieser von seinem Gesprächspartner Kebes aufgefordert zu zeigen, „dass die Seele noch ist nach dem Tode des Menschen und noch irgend Kraft und Einsicht hat“.¹ Nachdem sich die ersten drei Antwortversuche des Sokrates als unzulänglich erwiesen haben und Kebes die Herausforderung an Sokrates erneuert hat, holt dieser weiter aus und geht zur „Untersuchung der Ursache (αἰτία) von Entstehen und Vergehen im Allgemeinen“ über. In einer Art autobiographischem Exkurs schildert er, wie er sich als junger Mensch, begierig danach, die „Ursachen aller Dinge“ zu kennen, zunächst auf die Naturforschung (ἡ περὶ φύσεως ἱστορία) geworfen habe; freilich mit keinem anderen Ergebnis, als dass ihm auch das Wissen, über das er zuvor selbstverständlich zu verfügen glaubte, fragwürdig geworden sei.² Dass sich seine Enttäuschung nicht so sehr auf eine unbefriedigende Naturwissenschaft als vielmehr auf die Art der von ihr vorgebrachten Erklärungen generell bezieht, wird aus der sich anschließenden Kritik an Anaxagoras deutlich. Dessen These, dass „die Vernunft das Anordnende und aller Dinge Ursache“ sei, habe für ihn zunächst sehr vielversprechend geklungen; denn sie legt nahe, dass man physikalische Fragen – etwa die, ob die Erde flach oder rund sei – dadurch beantworten könne, dass man darlegt, auf welche Weise es sich am besten verhalte. Anaxagoras jedoch habe diese Erwartung enttäuscht. Denn er „fängt mit der Vernunft gar nichts an“, sondern führt als Ursache wiederum lediglich materielle Bestandteile („Knochen und Sehnen“) an. Diese aber verdienten nicht einmal wirklich den Namen einer Ursache, denn die Ursache sei von dem zu unterscheiden, „ohne welches die Ursache nicht Ursache sein könnte“.³ Allerdings zeigt sich auch kein anderer Lehrer, der aufzuzeigen vermöchte, wie sich physikalische Fragen durch den Verweis auf das Gute beantworten lassen, noch ist Sokrates imstande, dies selbst herauszufinden. Er begibt sich daher auf die „zweitbeste Fahrt“ (δεύτερος πλοῦς) und wendet sich einer anderen „Art von Ursache“ (τῆς αἰτίας τὸ εἶδος) zu:⁴ einem anderen Modus des Erklärens als der
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Phd. 70b. Phd. 95a–97b. Phd. 97c–99c. Phd. 99d–100c.
https://doi.org/10.1515/9783110623871-004
82 | 4 Platon und die Metaphysik der Ideen erstrebten, aber unerreichbaren Naturteleologie.⁵ Statt die wahrnehmbaren Dinge direkt zu betrachten, nimmt er Zuflucht zu den λόγοι, zur rationalen Struktur der Gegenstände. Ausgangspunkt ist die „vielbesprochene“ (πολυθρύλητα) Voraussetzung, dass es „ein an sich selbst Schönes“ (καλὸν αὐτὸ καθ’ αὑτὸ) gebe, und (mit entsprechendem Status) „ein Gutes, ein Großes usw.“. Wenn außer diesem Schönen selbst noch etwas anderes schön ist – und aus dem Symposion kann man als Beispiele schöne Körper, schöne Seelen, schöne Erkenntnisse heranziehen –, dann, so Sokrates, ist dies „durch nichts anderes schön, als weil es an jenem Schönen teilhat“ (οὐδὲ δι’ ἓν ἄλλο καλὸν εἶναι ἢ διότι μετέχει ἐκείνου τοῦ καλοῦ). Weder die leuchtende Farbe, noch die (wohlgeformte) Gestalt sind Ursache des Schönseins schöner Dinge, sondern ein an sich selbst Schönes. Dies ist, Sokrates zufolge, die „allersicherste Antwort“ auf die Frage, was schöne Gegenstände schön macht.⁶ Bezeichnen wir dieses „Schöne selbst“, das Platon, terminologische Fixierungen vermeidend, verschiedentlich „Form“ (εἶδος), „Gestalt“ (ἰδέα) oder „das, was es ist“ (ὃ ἔστιν) nennt,⁷ wie üblich als „Idee des Schönen“, so können wir die Grundüberlegung der zitierten Passage verallgemeinernd wie folgt zusammenfassen: Es geht Sokrates um die Erklärung bestimmter Eigenschaften von Dingen durch ihre Teilhabe an Ideen. Schöne Dinge beispielsweise sind schön, weil sie an der Idee des Schönen teilhaben. Die Postulierung der Ideen ist also keine metaphysische Spekulation um ihrer selbst willen, sondern besitzt eine explanatorische Funktion. Wenn Sokrates dabei von „Ursachen“ spricht, so ist dies nicht im Sinne einer physischen Wirkursache zu verstehen, sondern als nicht-kausale Erklärung;⁸ Sokrates ist, wie es ein Platon-Forscher formuliert hat, „mehr am Sein als am Werden interessiert“.⁹ Sekundär freilich kann dann auch das Schön-Werden als Einsetzen der Teilhabe (μετάσχεσις, vom ingressiv gebrauchten Aorist) am Schönen verstanden werden.¹⁰ Gegenstand der Erklärung ist die – weder von Sokrates noch von seinen Gesprächspartnern angezweifelte – Tatsache, dass andere Dinge neben der Idee des Schönen als schön gelten können, oder, wie wir auch sagen können, dass Schönheit von einer Vielzahl von schönen Dingen prädiziert werden kann. Sokrates kann sich auch so ausdrücken, dass diese Dinge ihre „Benennung“ (τὴν ἐπωνυμίαν) durch ihre Teilhabe an der Idee des Schönen erhalten.¹¹ Dieser Wechsel ins lin5 Vgl. Horn, „Kritik der bisherigen Naturforschung“, S. 139. 6 Phd. 99d–100c. 7 Erler, Platon, S. 391; doch vgl. Devereux, „Separation and Immanence“, S. 71. 8 Vgl. oben Abschnitt 2.2. 9 Sharma, „Socrates’ new Aitia“, S. 139. 10 Phd. 101c. 11 Phd. 102b–c, 103b.
4.1 Auf dem Weg zur Idee: Vorüberlegungen |
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guistische Register legt nahe, dass Sokrates die Frage „Was macht schöne Dinge schön?“ als Frage nach den Bedingungen der Wahrheit des entsprechenden Urteils verstanden wissen will. Dennoch zielt sie nicht auf die semantische Analyse der Sprecherbedeutung ab, sondern auf eine Untersuchung der metaphysischen Struktur, die immer dann vorliegen muss, wenn der Satz „x ist schön“ wahr ist (wobei x so unbestimmt wie möglich verstanden werden soll). Die metaphysische Struktur, die ein Urteil der Form „x ist F“ zumindest für bestimmte Ausdrücke wie „schön“, „gut“ und „groß“ wahr macht, ist Sokrates zufolge die Teilhabe von x an der mit F verbundenen Idee, die im Folgenden mit Φ abgekürzt wird.¹² Dies wirft die kritische Frage auf, wie sowohl Φ als auch die Teilhabe zu konzipieren sind. Weitgehender Konsens dürfte heute darüber bestehen, dass den Ideen ihr spezifisches Sein unabhängig von menschlichen Bewusstseinsakten und -strukturen, aber auch von sinnlich wahrnehmbaren Einzeldingen zukommt. Für eine in diesem Sinne realistische Deutung sprechen nicht nur die Einwände, die der platonische Parmenides gegen die Überlegung des jungen Sokrates erhebt, die Ideen seien vielleicht nur ein Konzept (νόημα) in den Seelen;¹³ es ist vor allem der ontologische und epistemologische Vorrang der Ideen gegenüber den Einzeldingen, der nur recht verständlich wird, wenn die Ideen als genuine Bestandteile der Wirklichkeit verstanden werden. So bezeichnet Platon die Idee sowohl als „mehr“ als auch als „rein“ seiend (μᾶλλον bzw. εἰλικρινῶς ὄν, sog. „ontologischer Komparativ“),¹⁴ während gleichzeitig dem Wissen (ἐπιστήμη) als der gegenüber der bloßen Meinung (δόξα) fundierenden Erkenntnisform die Ideen als spezifische Erkenntnisgegenstände zugewiesen werden.¹⁵ Deutungen, die die Ideen als „reine Begriffe“ oder „Gesetze des Denkens“¹⁶ betrachten, haben sich dementsprechend nicht durchsetzen können.¹⁷ Umstritten bleibt jedoch, wie die spezifische Seins-
12 Die Wahl eines Symbols, wie es in der modernen Logik üblich ist, kann nicht vermeiden, schon gewisse irreführende Assoziationen zu wecken. Die geläufigere Symbolisierung der Idee durch den Großbuchstaben „F“ oder die Wendung „F-heit“ („F-ness“) etwa suggeriert, dass es sich bei der Idee um das ontologische Korrelat eines Allgemeinbegriffs handelt; vgl. Geach, „The Third Man Again“, S. 266. Demgegenüber soll der griechische Großbuchstabe zwar zum einen den Zusammenhang mit der Eigenschaft F zum Ausdruck bringen, zum anderen aber sowohl die Deutung der Idee als Universale als auch die als Individuum zulassen. Wenn im Folgenden von „der Idee Φ“ die Rede ist, ist damit also stets gemeint: „dasjenige, woran x teilhaben muss, um F zu sein – was auch immer es sei (und wie auch immer ‚teilhaben‘ zu verstehen ist)“. 13 Parm. 132b. 14 Rep. 477a, 479d, 513d; vgl. Bröcker, „Platons Ontologischer Komparativ“. 15 Vgl. Rep. 476e–480a, Tim. 27d–28a sowie Phlb. 59a–d. 16 So der Neukantianismus der Marburger Schule um Paul Natorp und Hermann Cohen, vgl. Natorp, Platos Ideenlehre. 17 Vgl. Erler, Platon, S. 392.
84 | 4 Platon und die Metaphysik der Ideen weise der Ideen im Verhältnis zu den wahrnehmbaren Trägern von Eigenschaften und zu diesen Eigenschaften selbst zu rekonstruieren ist. Dieser Frage ist dieses Kapitel gewidmet. Doch wovon gibt es überhaupt Ideen? In einer Reihe von sokratisch geprägten Dialogen sind es zunächst evaluative Eigenschaften, die durch die Annahme einer einheitlichen Gestalt oder Idee erklärt werden. So bevorzugt Platon an vielen Stellen positive Wertbegriffe wie „schön“, „gut“ oder „tugendhaft“ zur Einführung einer einheitlichen, gemeinsamen Idee über der Vielzahl an Dingen, von denen sie prädiziert werden können.¹⁸ Die evaluativen Eigenschaften müssen jedoch keineswegs positiv sein: In der Politeia beispielsweise spricht Sokrates von einer Idee des Ungerechten und einer Idee des Schlechten, im Euthyphron von einer Idee des Frevelhaften.¹⁹ Ferner werden in einer Reihe von (vor allem mittleren) Dialogen auch evaluativ neutrale Eigenschaften genannt, etwa Ähnlichkeit (ὁμοιότης), Größe (μέγεθος) und Gleichheit (τὸ ἴσον).²⁰ Weitere Stellen legen nahe, dass Platon die Ideen zudem nicht auf qualitative Eigenschaften beschränkt sehen will, sondern bereit ist, auch Artbegriffen, selbst solchen von Artefakten wie dem Bett oder der Weberlade, eine korrespondierende Idee zuzuschreiben.²¹ Man könnte dies so zusammenfassen wollen, dass es eine Idee für schlechterdings jedes Prädikat gibt, und tatsächlich weisen explizite Äußerungen Platons in diese Richtung: „Eine einheitliche Idee pflegen wir jedesmal für jede Menge von Dingen zu postulieren, die wir mit demselben Ausdruck bezeichnen.“²² Doch macht Gail Fine darauf aufmerksam, dass Platon an anderen Stellen ebenso ausdrücklich bestreitet, dass jedem Prädikat auch eine Idee entspricht; im Politikos etwa heißt es, es wäre ein Fehler anzunehmen, dass alle nicht-griechischen Völker, nur weil sie mit demselben Ausdruck „Barbaren“ bezeichnet werden, auch einer einzigen Art (γένος) zugehörten.²³ Wir können diese Streitfrage jedoch auf sich beruhen lassen; entscheidend für die Zwecke dieser Arbeit ist lediglich, dass (a) Ideen offenbar mit Prädikaten, mit allgemeinen Ausdrücken in einer engen Verbindung stehen, und (b) den Ideen für normative Ausdrücke wie „gut“, „schön“ oder „tugendhaft“ dabei eine zentrale Rolle zukommt. Dies genügt, um die Ideenlehre als Ausgangspunkt für eine systematische Theorie evaluativer Eigenschaften, insbesondere für eine Theorie der Vortrefflichkeit zu nutzen. 18 Vgl. etwa Phd. 65d, Symp. 210a–212c oder Men. 72c. 19 Rep. 476a; Euth. 6d. 20 ὁμοιότης: Parm. 129a; μέγεθος: Phd. 65d; τὸ ἴσον: Phd. 74c. 21 Krat. 389b. 22 Rep. 596a. Vgl. Ep. 7, 342d. 23 Pol. 262d; vgl. G. Fine, On Ideas, S. 111, und Lienemann, Die Argumente des Dritten Menschen, S. 53d.
4.1 Auf dem Weg zur Idee: Vorüberlegungen
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Die Platon-Interpretation stellt mithin keinen Selbstzweck dar, sondern dient der Vorbereitung einer allgemeinen systematischen Beschreibung der Struktur des metanormativen Platonismus als einer Form des moralischen Realismus im folgenden Kap. 5. Ihr Anspruch ist daher auch nicht, in der Frage nach dem ontologischen Status der Ideen bei Platon zu einer Entscheidung zu gelangen, sondern nur, eine Karte möglicher Interpretationen mit ihren Vor- und Nachteilen zu zeichnen. In der gegenwärtigen Platonforschung lassen sich vereinfachend zwei Hauptströmungen ausmachen: Die eine betrachtet Ideen als allgemeine Eigenschaften, die andere als individuelle Entitäten.²⁴ Dies entspricht in etwa den zwei Lagern der modernen Platon-Exegese (in je zwei Varianten), die Strobel unterscheidet;²⁵ Vertreter des ersten Lagers rekonstruieren die Ideen als „vorbildhafte Eigenschaftsträger“,²⁶ während die des zweiten Lagers an der Identität der Ideen mit Eigenschaften festhalten.²⁷ (Die folgende Diskussion soll jedoch den Gedanken plausibilisieren, dass man die Ideen auch als Individuen betrachten kann, ohne sie als paradigmatische Träger von Eigenschaften anzusehen.) Diesen unterschiedlichen Interpretationen des ontologischen Status platonischer Ideen entsprechen, wie wir sehen werden, auch die Deutungen, die die Beziehung zwischen dem konkreten, raumzeitlichen Gegenstand und der Idee jeweils erfährt. Eine solche Interpretation soll dabei sowohl systematisch soweit geschärft werden, dass sie als Ausgangspunkt für die Charakterisierung des metanormativen Platonismus dienen kann, als auch interpretatorisch hinreichend plausibel gemacht werden, um diese Benennung zu rechtfertigen. Bezüglich der methodischen Vorannahmen werde ich mich auf den moderat unitarischen Standpunkt Dorothea Fredes stellen, die bei der Ideenlehre von einer „Entwicklung von zunehmender Komplexität“ spricht, aber nicht davon ausgeht, dass der Parmenides eine radikale Umkehr Platons, etwa ein Abrücken von der Annahme transzendenter Ideen, beinhalte.²⁸ Bezugspunkte der Diskussion werden vor allem mittlere Dialoge Platons wie der Phaidon, das Symposion sowie der Parmenides sein, in denen die Ideenlehre die ausführlichste und expliziteste Behandlung erfährt; doch werden punktuell auch Texte aus der früheren und aus
24 Vgl. Erler, Platon, S. 396 und Strobel, „Ontologie“, S. 133. 25 Strobel, „Dieses“ und „So etwas“, S. 24–31. 26 Ebd., S. 26. 27 Ebd., S. 27. 28 Vgl. Fredes Kommentar zum Philebos, S. 337. Zur Debatte um die chronologische Deutung der durch Stilanalyse gewonnenen Werkgruppen, eine wesentliche Voraussetzung der entwicklungsgeschichtlichen Interpretationsrichtung, vgl. Söder, „Zu Platons Werken“, S. 26–28, und die dort genannte Literatur, besonders Nails, „Problems with Vlastos’s Platonic Developmentalism“.
86 | 4 Platon und die Metaphysik der Ideen der späteren Werkgruppe herbeigezogen, wie der Euthyphron beziehungsweise der Timaios. Ebenfalls neutral verhalten sich die folgenden Ausführungen zur Frage nach einer ungeschriebenen Lehre Platons, wie sie in den bei Gaiser²⁹ gesammelten antiken Zeugnissen durchscheint. Zwar hätte die durch Aristoteles überlieferte esoterisch-platonische These, dass allem Seienden die zwei fundamentalen Prinzipien (ἀρχαί) oder Elemente (στοιχεῖα) des Einen (τὸ ἕν) und des Groß-und-Kleinen (μέγα καὶ μικρόν) zugrunde liegen,³⁰ weitreichende Implikationen für die Konstitution der Ideen: Es würde sich dann bei ihnen nicht mehr um Grundbausteine der Wirklichkeit handeln, sondern um ihrerseits abgeleitete, vermittelnde Instanzen, auf deren Eigenart die zugrundeliegenden Prinzipien ein neues Licht werfen würden.³¹ Doch würde eine solche Prinzipienlehre eine tiefere Begründungsebene darstellen, die die Äußerungen der Dialoge über die Ideen nicht aufzuheben, sondern allenfalls in einen weiteren Horizont zu rücken vermag. Daher besteht das Problem einer adäquaten und präzisen Formulierung der ontologischen Eigenart der Idee aus den Dialogen heraus unabhängig von ihrer Rückführbarkeit auf etwaige noch grundlegendere Prinzipien.
4.2 Ideen als Universalien Die nächstliegende und heute wohl verbreitetste Position identifiziert die Idee Φ in den sog. mittleren Dialogen wie dem Symposion, dem Phaidon oder der Politeia mit der Eigenschaft F, verstanden als „allgemeine Charakteristik“³² oder Universale in einem realistischen Sinne: etwas, was als dasselbe grundsätzlich gleichzeitig an oder in einer Vielzahl von Gegenständen vorliegen kann (nennen wir dies die Universalieninterpretation). So schreibt beispielsweise Gail Fine in On Ideas, Ideen seien „nicht Bedeutungen oder Einzeldinge, sondern explanatorische Eigenschaften“.³³ Eine ähnliche Position vertreten Irwin³⁴ und Bostock,³⁵ so dass Malcolm 29 Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre, S. 443–557. 30 Met. I 6, 987b14–988a17. 31 So etwa in der Beschreibung der „Konstitution des Ideenkosmos“ als „Bestimmung des Unbestimmten durch das Unbestimmbare, der unbegrenzten Zweiheit durch das absolute Eine“ bei Halfwassen (Der Aufstieg zum Einen, S. 24). Vgl. auch Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles, S. 137f. 32 So bei Stemmer, Platons Dialektik, S. 56. Auch Parry („Paradigms, Characteristics, and Forms in Plato’s Middle Dialogues“) spricht von general characteristic (S. 1). 33 G. Fine, On Ideas, S. 24. 34 Irwin, Plato’s Ethics, S. 262–266. 35 Bostock, Plato’s Phaedo, S. 200–201.
4.2 Ideen als Universalien
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von „weitgehender Anerkennung der Ideen der mittleren Dialoge als Universalien“ sprechen kann.³⁶ Schon Allen bezeichnet die Auffassung, die Form sei „ein kommutatives Universale, ein Merkmal oder Attribut, eine Kernidentität, die in verschiedenen materiellen Zusammenhängen instantiiert sein kann“, als die „fast einhellige“ Ansicht der Forschung seiner Zeit,³⁷ wobei er etwa an Autoren wie Ross, Cherniss oder Taylor denken mag.³⁸ Entsprechend legt sich dann eine Deutung der Teilhabe an Ideen als Exemplifikation oder Instantiierung von Eigenschaften nahe. Schöne Dinge sind demnach dadurch schön, dass sie die Eigenschaft Schönheit exemplifizieren. Für die Interpretation von Ideen als Universalien im Sinne von Eigenschaften, die gleichzeitig einer Vielzahl von Dingen zukommen können, spricht zunächst ihr Auftreten als möglicher Gegenstand von Definitionen. In einer Reihe von als früh betrachteten Dialogen wirft Sokrates bekanntlich in Entgegnung auf die eine oder andere Äußerung seines jeweiligen Gesprächspartners die Frage auf, was denn „das Fromme“ (Euthyphron), „die Tugend“ (Menon) oder „das Schöne“ (Hippias maior) eigentlich sei. Da der erste Zugriff darauf meist der Allgemeinheit und Einheitlichkeit ermangelt, sieht sich Sokrates häufiger gezwungen, den Zweck der Frage zu verdeutlichen, indem er von einer „Form“ (εἶδος) oder „Gestalt“ (ἰδέα) spricht, die allen einzelnen derartigen Dingen gemeinsam sei.³⁹ Damit scheint er auf die jeweilige Eigenschaft, etwa Frömmigkeit, Tugend oder Schönheit, im Gegensatz zu den Dingen, die durch diese Eigenschaften charakterisiert sind, abzuheben. Zudem hat die Idee Φ offenbar die Funktion, als primäres Referenzobjekt des allgemeinen Ausdrucks „F“ zu dienen. In der Politeia hält Sokrates fest: „Wir postulieren für gewöhnlich je eine Idee für jede Gruppe von (Einzel-)Dingen (περὶ ἕκαστα τὰ πολλά), die wir mit derselben Benennung bezeichnen (οἷς ταὐτὸν ὄνομα ἐπιφέρομεν).“⁴⁰ Die Idee hat also die Funktion, als „gegenständliches Korrelat des entsprechenden Prädikats“ zu dienen, wie Stemmer formuliert;⁴¹ das Prädikat fungiert als Benennung (ὄνομα) für einen Gegenstand, ein „Etwas“ (τι). Wenn
36 Malcolm, Plato on the Self-Predication of Forms, S. 54. Auch Strobel und Lienemann sprechen davon, dass die Mehrzahl der Interpreten Ideen als Eigenschaften oder als Begriffe betrachtet („Dieses“ und „So etwas“, S. 17; Die Argumente des Dritten Menschen, S. 287), wobei zumindest Strobel ein deutlich anderes Verständnis des Begriffs „Eigenschaft“ zugrunde legt (vgl. u. S. 97). 37 Allen, „Participation and Predication in Plato’s Middle Dialogues“, S. 53. 38 Vgl. Cross, „Logos and Forms in Plato“, S. 18. 39 Siehe beispielsweise Men. 72c–e und 75a sowie Euth. 5d und 6d–e. 40 Rep. 596a. Äußerungen, die in dieselbe Richtung weisen, finden sich Phd. 102a–b und Parm. 130e. 41 Stemmer, Platons Dialektik, S. 166.
88 | 4 Platon und die Metaphysik der Ideen allgemeinen Ausdrücken wie „schön“ oder „Mensch“ aber überhaupt eine bezeichnende Funktion zugeschrieben werden kann, dann beziehen sie sich sicherlich auf etwas Allgemeines, etwas, was in mehreren Gegenständen gleichzeitig vorliegen kann. Ideen wären daher als Universalien zu interpretieren.⁴² Doch sieht sich die naheliegende Universalieninterpretation zugleich einer Reihe von Problemen ausgesetzt, deren schwerwiegendstes das sog. „Problem der Selbstprädikation“ ist. Der Ausdruck „Selbstprädikation“ stammt aus Vlastos’ Aufsatz „The Third Man Argument“. Dort bezeichnet er die These, dass Platon dasjenige, wodurch (in virtue of which) die an ihm teilhabenden Dinge F sind, selbst als F betrachtet.⁴³ Strobel präzisiert diese These so: Mit dem Subjekt-Term eines singulären prädikativen Satzes „wird auf eine Form Bezug genommen, und sein Prädikat-Term wird so erwendet, dass er laut der Formkonzeption, die Formen als Designate von Prädikat-Termen konzipiert, für die Form steht, auf die mit dem Subjekt-Term des Satzes Bezug genommen wird“.⁴⁴ Béatrice Lienemann wiederum definiert echte selbstprädikative Sätze (vereinfacht formuliert) als Sätze, mit denen von einer Idee etwas ausgesagt wird, was ihre Partizipanten nur deshalb sind, weil sie an der Idee teilhaben.⁴⁵ Der zugrundeliegende Gedanke ist in all diesen Fällen, dass die Idee Φ – was auch immer sie sein mag – selbst die Eigenschaft F hat, die mit ihr verbunden ist. In keinem dieser Ansätze ist jedoch impliziert, dass die Idee selbst eine Eigenschaft sein muss, die sich selbst als Eigenschaft hat, sondern nur, dass die Idee einer Klasse von Gegenständen selbst ein Mitglied dieser Klasse sein muss.⁴⁶ An einer Vielzahl von Stellen in verschiedenen Dialogen drückt sich Platon nun in einer Weise aus, die suggeriert oder gar explizit formuliert, dass die Idee Φ selbst F ist. Der stufenweise Aufstieg zum Schönen etwa, von dem die mantineische Fremde im Symposion berichtet, endet mit der Schau eines „seiner Natur nach wunderbar Schönen“ (κατόψεταί τι θαυμαστὸν τὴν φύσιν καλόν), nämlich dessen, „was schön ist“ (ὃ ἔστι καλόν). Im Dialog Protagoras fragt Sokrates rhetorisch, wie irgend etwas anderes fromm sein könnte, wenn die Frömmigkeit selbst (αὐτὴ ἡ ὁσιότης) nicht fromm wäre. Und im Sophistes erklärt der Fremde aus Elea bündig, dass „das Große groß und das Schöne schön“ ist.⁴⁷ Diese und ähnliche Aussagen lassen die These, Platon habe die Wahrheit von Urteilen der Form „Φ 42 32. 43 44 45 46 47
Zu den „Ideen als Gegenständen sprachlicher Referenz“ vgl. Graeser, Platons Ideenlehre, S. 24– Vlastos, „The Third Man Argument“, S. 263. Strobel, „Dieses“ und „So etwas“, S. 22. Lienemann, Die Argumente des Dritten Menschen, S. 133. Vgl. Vlastos, „The Unity of Virtues in the Protagoras“, S. 258. Symp. 211c; Prot. 330d–e; Soph. 258b–c.
4.2 Ideen als Universalien
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ist F“ behauptet, als „unbestritten“ (beyond dispute) erscheinen.⁴⁸ Wenn die Idee Φ nun gemäß der Universalieninterpretation als mit der Eigenschaft F identisch aufgefasst wird, ergibt sich, dass jede Eigenschaft selbst die Eigenschaft haben muss, die sie ist. Das aber erscheint als ein flagranter Fehlgriff, als reine Absurdität: Fromm sind allenfalls einzelne Menschen und Handlungen, nicht die Eigenschaft der Frömmigkeit; groß ist nicht die Eigenschaft der Größe, sondern dasjenige, dem sie zukommt.⁴⁹ Zudem scheint die Annahme der Selbstprädikation von als Eigenschaften verstandenen Ideen in Widersprüche zu führen, die als „Zwei-Ebenen-Paradoxien“ bekannt sind.⁵⁰ Platon schreibt den Ideen bestimmte Merkmale zu: Sie sind als solche „immerseiend“ (ἀεὶ ὄν),⁵¹ „ungeworden und unvergänglich“ (ἀγέννητον καὶ ἀνώλεθρον),⁵² und lassen sich nur „durch das Denken erfassen“ (νοητόν), nicht aber mit den Sinnen wahrnehmen.⁵³ Wenn nun eine als Eigenschaft verstandene Idee von sich selbst prädiziert werden kann, kommt es möglicherweise zu Widersprüchen zwischen den ihr qua Idee zukommenden Prädikaten auf der einen und den ihr durch die Selbstprädikation zukommenden Merkmalen auf der anderen Seite. Zum Bett-Sein scheint es zu gehören, dass es zerstört werden kann; soll also die Idee des Bettes ebenfalls zerstörbar sein und so ihrer Unvergänglichkeit als Idee widerstreiten? Die Farbe Weiß ist, verstanden als allgemeine Eigenschaft, wahrnehmbar; als Idee dürfte sie jedoch nicht Gegenstand der Sinneswahrnehmung, sondern allein des Denkens sein. Und im Sophistes erklärt der Fremde, es wäre nicht absurd (ἄτοπον), die Bewegung selbst als ruhend zu bezeichnen.⁵⁴ Doch wie kann die Bewegung ruhend sein, wenn sie sich qua Selbstprädikation gleichzeitig bewegt? Ein zweites Problem für die Universalieninterpretation besteht darin, dass Platon in einer Reihe von Dialogen anscheinend zwischen einer Eigenschaft „in uns“ und einer Idee unterscheidet, die „abgetrennt“ (χωρίς) oder „für sich“ (αὐτὸ καθ’ αὑτό) existiert. Im Phaidon beispielsweise ist neben der „Größe selbst“ (αὐτὸ τὸ μέγεθος) von einer „Größe in uns“ (τὸ ἐν ἡμῖν μέγεθος) die Rede;⁵⁵ die nächstliegen48 Heinaman, „Self-Predication in Plato’s Middle Dialogues“, S. 56. 49 Vgl. Allen, „Participation and Predication in Plato’s Middle Dialogues“, S. 43, Strobel, „Dieses“ und „So etwas“, S. 13 und Lienemann, Die Argumente des Dritten Menschen, 118 f. 50 Der Ausdruck geht zurück auf Owen, „Dialectic and Eristic in the Treatment of the Forms“. Vgl. auch Vlastos, „The “Two-Level Paradoxes” in Aristotle“. 51 Phd. 79d; Symp. 211a–b; Tim. 28a. 52 Tim. 52a–b, Phlb. 15b. 53 Phd. 80b, Tim. 48e–52a. Zu den wesentlichen Eigenschaften der Ideen vgl. Lienemann, Die Argumente des Dritten Menschen, Kap. 2.1 (S. 34–50). 54 Soph. 256b. 55 Phd. 102b–103b.
90 | 4 Platon und die Metaphysik der Ideen de Interpretation lautet, dass mit der „Größe in uns“ eine immanente Eigenschaft gemeint ist, während die Größe selbst „abgetrennt“, d. h. nicht „in“ wahrnehmbaren Gegenständen existiert.⁵⁶ Ähnliches scheint auch durch Tim. 52a–d nahegelegt zu werden: „Das eine ist die Idee, die sich stets gleich verhält, unerzeugt und unvergänglich, weder in sich selbst etwas anderes von anderswo aufnehmend noch auch irgendwohin in etwas anderes gehend […].“⁵⁷ Dann aber kann die Idee, etwa das „Große selbst“, nicht mehr als Universale betrachtet werden, ist dieses doch gerade als das bestimmt, was seiner Natur nach an mehreren Gegenständen auftreten kann. Der Verteidiger der Universalieninterpretation muss daher die Position vertreten, dass das „Große selbst“ (oder das „Große in der Natur“) und die „Größe in uns“ ein und dieselbe Entität bezeichnen.⁵⁸ Doch dies scheint dem Wortlaut der Dialoge kaum gerecht zu werden, denn die Eigenschaften wie die „Größe in uns“ werden häufig ausdrücklich als vergänglich in den Gegensatz zur unveränderlichen Idee selbst gestellt.⁵⁹ Drittens werden die Ideen verschiedentlich als „Muster“ oder „Vorbilder“ (παραδείγματα) angesprochen, die eine Zuordnung bestimmter einzelner Exemplare zu einer Klasse erlauben oder ausschließen. Im Euthyphron fordert Sokrates beispielsweise den Namensgeber des Dialogs wie folgt auf: „Was diese Idee selbst nun also ist, lehre mich, damit ich, auf sie blickend und mich ihrer als eines Musters bedienend (χρώμενος αὐτῇ παραδείγματι), das, was so ist wie sie (ὃ μὲν ἂν τοιοῦτον ᾖ), von dem, was du oder sonst jemand tut, fromm nenne, was aber nicht so ist wie sie, nicht.“⁶⁰ Auch im Parmenides spricht der junge Sokrates davon, „dass diese Ideen gleichsam als Muster dastehen in der Natur, die anderen Dinge aber
56 Auch Lienemann versteht unter der Abgetrenntheit über die Zugehörigkeit zu verschiedenen Gegenstandsklassen hinaus auch „die ontologische Unabhängigkeit der Ideen“, d. h. „dass Ideen auch dann existieren, wenn kein Gegenstand an ihnen teilhat“ (Lienemann, Die Argumente des Dritten Menschen, S. 48). 57 Vgl. ferner Parm. 130b: „Und scheint dir etwas die Ähnlichkeit selbst (αὐτὴ ὁμοιότης) zu sein neben der Ähnlichkeit, die wir besitzen, und auch das Eine und das Viele und all das andere, was du von Zenon gehört hast?“, sowie Symp. 211a: „Noch auch wird ihm das Schöne als ein Gesicht oder als Hände oder als irgendetwas anderes von dem erscheinen, woran Körper teilhat, und auch nicht als rationale Struktur (λόγος) noch als Erkenntnis, und überhaupt nicht an etwas anderem existierend, etwa an Lebewesen, Erde, Himmel oder sonst etwas.“ 58 So etwa Fine, „Immanence“, S. 73. 59 So Tim. 102e, Symp. 211b, Phd. 103a; vgl. Devereux, „Separation and Immanence“, S. 64–69. Auch Vlastos hält in „The Third Man Argument“ fest, dass die Unterscheidung zwischen der zu F gehörigen Idee und dem F-Sein von Einzeldingen interpretatorisch notwendig sei, selbst wenn ihre Gleichsetzung das sei, was Platons Theorie „hätte sein sollen“ (S. 253, Fn. 1). 60 Euth. 6e.
4.2 Ideen als Universalien
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diesen ähnlich und Abbilder (ὁμοιώματα) sind“.⁶¹ Allen zieht daraus folgenden Schluss: Die Ideen „fungieren in den frühen und mittleren Dialogen eindeutig als Maßstab (standard) und Muster“.⁶² Lienemann warnt jedoch zurecht davor, die Redeweise von παραδείγματα als „Standards“ im Sinne von „paradigmatische[n] und perfekte[n] Exemplare[n] einer bestimmten Art“ aufzufassen.⁶³ Vielmehr seien die Ideen mit Patterson als „Urbilder“ zu verstehen, die nicht unter denselben Typ fallen wie ihre „Abbilder“, und nur von der Idee Φ lässt sich Platon zufolge im eigentlichen Sinne F prädizieren, während den konkreten Gegenständen F nur in sekundärer Weise zukommt.⁶⁴ Wenn die Ideen tatsächlich in eminenter Weise F und dadurch παραδείγματα ihrer Abbilder sind, stellt sich der Universalieninterpretation ein zusätzliches Problem. Nicht nur haben Eigenschaften in der Regel nicht selbst die Eigenschaft, die sie sind; sie sind auch schwerlich Vorbilder, Muster, Maßstäbe für die Dinge, deren Eigenschaften sie sind. Allen führt aus, dass „kommutative Universalien oder Attribute offensichtlich nicht mit Maßstäben oder Mustern gleichgesetzt werden können; denn die letzteren sind Gegenstände mit Merkmalen (things characterised), keine Merkmale (characters)“.⁶⁵ Die Entgegnung, dass mit der Bezeichnung der Idee als παράδειγμα lediglich ein „Orientierungs- und Anhaltspunkt für die Beurteilung anderer Dinge“ gemeint sei und diese Funktion auch von Eigenschaften erfüllt werden könne (auch wenn Platon sich selbst möglicherweise von der Suggestivkraft seiner παράδειγμα-Metapher habe mitreißen lassen),⁶⁶ erscheint wenig überzeugend, wenn man bedenkt, dass das Verhältnis zwischen παράδειγμα und Einzelding mit dem zwischen Vorbild und Abbild verglichen wird. Der Ausweg aus diesen Schwierigkeiten wird von den Vertretern der Universalieninterpretation häufig darin gesucht, dass dem Subjekt oder dem Prädikat in Sätzen der vermeintlich selbstprädikativen Form „Φ ist F“ eine andere, sekundäre Bedeutung gegenüber derjenigen zugeschrieben wird, in der von konkreten, sinnlich wahrnehmbaren Einzeldingen oder vergänglichen Sachverhalten gesagt werden kann, dass sie F sind.⁶⁷ Dies entspricht dem zweiten Lager der von Strobel unterschiedenen Ansätze zur Lösung des Problems der Selbstprädikation, dem zufolge entweder das Prädikat gegenüber seiner üblichen Bedeutung umzuinterpretieren ist oder aber in selbstprädikativen Sätzen gar keine Aussage über Ideen, 61 62 63 64 65 66 67
Parm. 132c–d. Allen, „Participation and Predication in Plato’s Middle Dialogues“, S. 47. Lienemann, Die Argumente des Dritten Menschen, S. 262. Ebd., S. 263. Allen, „Participation and Predication in Plato’s Middle Dialogues“, S. 53. Stemmer, Platons Dialektik, S. 54. Vgl. Parry, „Paradigms, Characteristics, and Forms in Plato’s Middle Dialogues“, S. 3.
92 | 4 Platon und die Metaphysik der Ideen sondern über Mengen von Einzeldingen getroffen werde.⁶⁸ Die letztere Art der Umdeutung wird illustriert durch Vlastos’ These von der „paulinischen Prädikation“: Demnach ist etwa im Protagoras die Aussage „das Gerechte ist gerecht“ nicht als Aussage über das Universale Gerechtigkeit zu verstehen, sondern drückt lediglich „die Tautologie aus, dass jeder, der gerecht ist, notwendigerweise gerecht ist“.⁶⁹ Wie auch immer es mit der Deutungskraft dieser Interpretation für den Protagoras bestellt sein mag,⁷⁰ Vlastos selbst hält fest, dass sich die Bezeichnung des Schönen selbst im Symposion als „das, was schön ist“ (ὃ ἔστι καλόν) nicht im Sinne einer paulinischen Prädikation deuten lässt.⁷¹ Dennoch ist sie angetan, ein bestimmtes Muster der Interpretation zu illustrieren: Die (unter der Universalieninterpretation) problematische Prädikation der Eigenschaften von sich selbst wird umgangen, indem die fraglichen Sätze entweder als Urteil über etwas anderes (etwa die Instanzen der Eigenschaft) oder als Zuschreibung einer anderen Eigenschaft verstanden werden. So schreibt beispielsweise Gail Fine, dass für Platon wie für Sokrates dasjenige, was das F-Sein von Einzeldingen erklärt, selbst F sein müsse, jedoch „in einer spezifischen Weise (in a sui generis way), schlicht wegen seiner explanatorischen Rolle“.⁷² Dass die Eigenschaft Schönheit schön ist, würde demnach nichts weiter bedeuten, als dass sie das Schönsein der schönen Dinge erklärt – ohne auf eine innere Natur der Idee zu verweisen, die es ihr erlaubt, diese Rolle zu spielen. Das ist jedoch, wie Parry vermerkt, „ein zu schwaches Zugeständnis an Diotimas starke Sprache“.⁷³ Es ist in der Tat nicht recht einzusehen, weshalb Diotima die „reine, lautere, unvermischte Schau“ des Schönen als den Gipfel des menschlichen Lebens preisen sollte, wenn das Schöne nichts anderes ist als die Erklärung des Schönseins schöner Dinge. Angesichts dieser Lage vertreten andere Autoren die Ansicht, Platon sei fundamentalen Verwirrungen aufgesessen, indem er seinen Ideen sowohl Merkmale von (universalen) Eigenschaften als auch solche von (paradigmatischen) Einzeldingen zugeschrieben habe. Laut Stemmer habe die Verhaftung an einem „vorstellungshaften Modell“ Platon dazu verleitet, „die Allgemeinheit der Ideen zu verkennen
68 Strobel, „Dieses“ und „So etwas“, S. 27–30. 69 Vlastos, „The Unity of Virtues in the Protagoras“, S. 238; vgl. S. 234 und S. 252–255 sowie Vlastos, „A Note on “Pauline Predication” in Plato“, S. 408. 70 Vgl. für Kritik an Vlastos’ These Malcolm, „Vlastos on Pauline Predication“, Heinaman, „SelfPredication in Plato’s Middle Dialogues“, S. 67–70 sowie Strobel, „Dieses“ und „So etwas“, S. 29f. 71 Vlastos, „The Unity of Virtues in the Protagoras“, S. 262. 72 G. Fine, On Ideas, S. 62. 73 Parry, „Paradigms, Characteristics, and Forms in Plato’s Middle Dialogues“, S. 4, Fn. 7.
4.3 Ideen als Individuen
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und sie als Einzeldinge besonderer Art zu denken“,⁷⁴ und Gregory Vlastos führte schon 1956 in seiner Entgegnung auf eine entsprechende Kritik von Peter Geach aus: „Die Wahrheit ist meines Erachtens, dass Platon seine Ideen (in gewissen Grenzen) sowohl als Attribute als auch als paradigmatische Gegenstände verstanden wissen will (wants his Forms to be both attributes and standard objects) und dass ihre logischen Probleme das Resultat dieser unerfüllbaren Aufgabe sind.“⁷⁵ Andererseits sollte, wie Allen erklärt, eine „so elementare und kindische Konfusion“ niemandem ohne triftige Gründe unterstellt werden, erst recht nicht Platon, „der als erster explizit zwischen Universalien und Einzeldingen unterschieden hat“.⁷⁶
4.3 Ideen als Individuen Aus den genannten Gründen betrachtet eine alternative Interpretation die Ideen nicht als Universalien, sondern als Individuen einer besonderen Art (Individueninterpretation). Die Ideen als Individuen zu betrachten impliziert zunächst, dass sie nicht als begriffliche Aspekte an oder in konkreten, sinnlich wahrnehmbaren Objekten auftreten und daher auch in sprachlichen Urteilen niemals Prädikat-, sondern stets nur Subjektstelle einnehmen.⁷⁷ Deshalb bedeutet die Zuschreibung von sowohl Universalien- als auch Individuencharakter an Platons Auffassung der Ideen stets die Unterstellung einer elementaren begrifflichen Konfusion; denn das Allgemeine ist, wie es Aristoteles formuliert, „das, was seiner Natur nach von mehreren Dingen prädiziert werden kann“, während das Einzelne dasjenige ist, was „nicht von mehreren Dingen ausgesagt werden kann“.⁷⁸ Universalien und Individuen sind einander daher in der Weise kontradiktorisch entgegengesetzt, dass alles entweder Universale oder Individuum ist, aber nicht beides. Die Individueninterpretation hat den unmittelbaren Vorteil, dass sie sowohl der „Selbstprädikation“ als auch der Paradigmatizität der Ideen anscheinend leichter gerecht werden kann: Wenn Φ ein Individuum ist, bedeutet ein Urteil der Form
74 Stemmer, Platons Dialektik, S. 167. 75 Vlastos, „Postscript to the Third Man“, S. 287. Für eine ähnliche Auffassung s. auch Malcolm, Plato on the Self-Predication of Forms, S. 165. 76 Allen, „Participation and Predication in Plato’s Middle Dialogues“, S. 44. 77 Die Individueninterpretation versteht somit den aristotelischen Ausdruck ἓν ἐπὶ πολλῶν als Bezeichnung einer von den konkreten Gegenständen unabhängigen Entität; in diesem Sinne spricht Halfwassen von jeder Idee als einer „transzendente[n] Einheit für einen Bereich des Vielen“ (Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen, S. 59, 85, 246). 78 De int. 7, 17a39–40.
94 | 4 Platon und die Metaphysik der Ideen „Φ ist F“ zumindest keine problematische Selbstprädikation, sondern allenfalls die Prädikation einer mit ihr verbundenen Eigenschaft F. Damit ist auch der Weg geöffnet für ein Verständnis des paradigmatischen Charakters der Idee als Verfügen über diese Eigenschaft in besonders reiner Form oder ungewöhnlich hohem Maße. Gleichwohl stellen sich auch für die Individueninterpretation gewisse Probleme. So ist offen, wie ihr zufolge die Teilhabe zu deuten ist. Teilhabe an einer Eigenschaft lässt sich zumindest leichter als Exemplifikation verstehen, auch wenn deren metaphysische Interpretation eigene komplexe Probleme aufwirft.⁷⁹ Doch was kann es heißen, an einem Individuum teilzuhaben?⁸⁰
4.3.1 Die univoke Deutung von Aussagen über Ideen und Aussagen über Einzeldinge Die naheliegende Antwort lautet, dass einem konkreten, sinnlich wahrnehmbaren individuellen Objekt a und der Idee Φ ein und dieselbe Eigenschaft F in genau derselben Bedeutung des Wortes (univok) zukommt. Diese univoke Variante der Individueninterpretation entspricht dem ersten Lager der von Strobel unterschiedenen Ansätze zur Lösung des Problems der Selbstprädikation: Die Ideen werden als Gegenstand betrachtet, „der eine bestimmte Eigenschaft so besitzt, dass im Rekurs auf ihn beurteilt wird, ob andere, konkrete Gegenstände diese Eigenschaft besitzen, und der sie im Gegensatz zu den konkreten Dingen vorbildhaft […] exemplifiziert“.⁸¹ Robert Heinaman etwa vertritt die These, Urteile der Form „Φ ist F“ seien so zu deuten, dass die Idee „durch F charakterisiert wird, F besitzt“.⁸² Dasselbe gilt dieser Interpretation zufolge für a. Da jedoch a und Φ zwar dieselbe Eigenschaft F aufweisen, aber irgendwie in unterschiedlicher Weise, und die Weise, in der Φ F ist, derjenigen von a überlegen ist, kann Φ, so der Gedanke, als der paradigmatische Träger von F angesprochen werden. Die Teilhabe von a an Φ besteht dann darin, dass a zwar dieselbe Eigenschaft F besitzt wie Φ, aber in defizienter Form, während Φ F in vollkommener Weise aufweist. Doch worin bestehen diese unterschiedlichen „Weisen“, in denen jeweils dem konkreten Objekt und der Idee die Eigenschaft F zukommt? Hier lassen sich im Wesentlichen wiederum zwei Ansätze unterscheiden. Der traditionellen Auffassung zufolge, wie sie etwa von Taylor, Burnet und Ross vertreten wird, handelt es sich um einen Unterschied im Grad; eine Ansicht, die Alexander Nehamas als „Annä79 Vgl. dazu Loux, Metaphysics, S. 30–36. 80 Vgl. Parry, „Paradigms, Characteristics, and Forms in Plato’s Middle Dialogues“, S. 3. 81 Strobel, „Dieses“ und „So etwas“, S. 25. 82 Heinaman, „Self-Predication in Plato’s Middle Dialogues“, S. 56.
4.3 Ideen als Individuen
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herungsthese“ (approximation view) bezeichnet. Bei Taylor heißt es beispielsweise: „Der reine logische Begriff [concept, die Idee] ist in keinem wahrnehmbaren Fall wirklich vollständig verwirklicht; zwei Gegenstände etwa, die auf den ersten Blick gleich erscheinen, werden bei genauerer Betrachtung als nur näherungsweise (approximately) gleich erkannt […].“⁸³ In dieser Sicht ist z. B. nur die Idee des Dreiecks wirklich ein Dreieck, während jedes wahrnehmbare Dreieck in unterschiedlichem Maße und auf je eigene Weise das vollkommene Dreieck-Sein verfehlt.⁸⁴ Die Einzeldinge sind, wie Nehamas formuliert, „in just der Hinsicht defizient, in der sie der jeweiligen Idee ähnlich sind“.⁸⁵ Das Problem dieser Auffassung, auf das Nehamas hinweist, ist (illustriert am Beispiel der Gleichheit) folgendes: Wenn sich die anscheinend gleichen Gegenstände bei näherem Hinsehen als ungleich herausstellen, warum sollte man dann nicht sagen, dass sie nur scheinbar an der Idee der Gleichheit, tatsächlich aber an der Idee der Ungleichheit teilhaben? Die Antwort, dass die Teilhabe an der Gleichheit (oder einer anderen Idee) verschiedene Grade aufweisen kann, erscheint nicht überzeugend. Denn die Ideen sind Platons Versuch einer Antwort auf die sokratische Frage „Was ist x?“, und andere mögliche Kandidaten für x werden in den Dialogen nicht deshalb ausgeschlossen, weil sie die fragliche Eigenschaft nur näherungsweise besitzen, sondern weil es Kontexte gibt, in denen man ihnen diese Eigenschaften gar nicht zuschreiben kann. Ein schönes Mädchen mag zwar verglichen mit anderen Mädchen schön sein, aber im Vergleich mit einer Göttin ist es hässlich; die Rückgabe eines geliehenen Messers ist eine richtige Handlung, aber nicht, wenn sein Besitzer unzurechnungsfähig ist; Simmias ist groß im Verhältnis zu Sokrates, aber klein im Vergleich zu Phaidon.⁸⁶ In all diesen Fällen hat das Subjekt die Eigenschaft nicht nur näherungsweise, sondern vollständig, aber eben nur in bestimmten Hinsichten, Situationen oder Vergleichskontexten. Nehamas optiert daher für eine Alternative. Ihm zufolge besteht die Unvollkommenheit der wahrnehmbaren Gegenstände darin, dass sie nur akzidentell schön oder gerecht sind, während die Schönheit oder die Gerechtigkeit essentiell schön bzw. gerecht sind. Was „an sich“ (καθ’ αὑτό), was „wirklich“ schön ist, muss dies in allen möglichen Kontexten sein.⁸⁷ Anders formuliert: Φ ist (in allen möglichen Kontexten) ausschließlich F und nicht auch nicht-F, während jeder konkrete 83 Taylor, Plato: The Man and his Work, S. 41. 84 Auch Halfwassens Position, nach der „die Erscheinungen […] je und je hinter der vollen Bestimmung ihres Wesens zurück[bleiben] und […] so das, was sie sind, zugleich auch nicht [sind]“ (Der Aufstieg zum Einen, S. 222), lässt sich der traditionellen Auffassung zuordnen. 85 Nehamas, „Plato on the Imperfection of the Sensible World“, S. 82. 86 Hipp. mai. 287e; Phd. 102a; Rep. 331c. 87 Ebd., S. 78.
96 | 4 Platon und die Metaphysik der Ideen Gegenstand immer in bestimmten Hinsichten F, in anderen aber nicht-F ist. Die Teilhabe eines Gegenstands a an der Idee Φ besteht dann darin, dass a nur zum Teil hat, was Φ in allen Situationen und Hinsichten wesentlich auszeichnet. Diese Auffassung des Unterschieds zwischen vollkommenem und defizientem F-Sein erlaubt es, die Annahme zu vermeiden, es könne verschiedene Grade der Teilhabe von Einzeldingen an den Ideen geben. Freilich zeigen verschiedene andere Textstellen, dass Platon selbst nicht viel daran gelegen war, diese Annahme zu vermeiden. Im Parmenides fragt Sokrates: „Und was an der Ähnlichkeit teilhat, wird ähnlich, eben dadurch und in dem Maße (κατὰ τοσοῦτον), als es teilhat […]?“⁸⁸ – eine Frage, die im Kontext eindeutig affirmativ gemeint ist. Mit Heinaman ist daraus der Schluss zu ziehen, dass Platon tatsächlich der Auffassung war, es gebe Grade der Teilhabe, wenn auch vielleicht nicht für alle Eigenschaften. Tatsächlich scheint es, als könne das unvollkommene F-Sein konkreter Gegenstände sowohl in nur akzidentellem als auch in nur annäherndem F-Sein zum Ausdruck kommen. Keine der betrachteten Analysen der unterschiedlichen Modi des F-Seins kann daher restlos überzeugen. Das eigentliche Hauptproblem univoker Interpretationen ist aber das folgende: Sie weisen, in Strobels Formulierung, den Ideen „die Aufgabe zu, Eigenschaften vorbildhaft zu exemplifizieren, die nur von konkreten Gegenständen exemplifiziert werden können“,⁸⁹ und was auch immer die Ideen sind, sie sind sicher keine konkreten Gegenstände. Strobel verdeutlicht dies an den „Gleichen selbst“ (αὐτὰ τὰ ἴσα) aus dem Phaidon,⁹⁰ entsprechend der Idee des Gleichen: Wenn es sich dabei um ein „Paar von absolut gleichen Gegenständen“ handelt, wie Geach vorschlägt,⁹¹ müssten die Gegenstände in irgendeiner bestimmten Hinsicht gleich sein; in welcher Hinsicht aber auch immer die Gegenstände als gleich gedacht werden, immer müssen wir die Gegenstände als räumlich ausgedehnt und damit als konkret vorstellen.⁹² Grundsätzlich ist schwer zu sehen, wie Ideen die gleichen Eigenschaften haben könnten wie konkrete Gegenstände, ohne selbst welche zu sein. Zudem stellt sich ein weiteres Problem, das alle Formen univoker Analyse gleichermaßen betrifft. Die Annahme von Ideen dient, wie oben ausgeführt, der Erklärung von Eigenschaften, indem sie eine Antwort auf die sokratische Frage liefert, was das F-Sein ist. Für eine Antwort auf diese Frage ist aber offensichtlich wenig damit gewonnen, dass es Ideen gibt, die in derselben Bedeutung über die88 Parm. 129a. 89 Strobel, „Dieses“ und „So etwas“, S. 26. 90 Phd. 74c1. 91 Geach, „The Third Man Again“, S. 269. 92 Strobel, „Dieses“ und „So etwas“, S. 26.
4.3 Ideen als Individuen
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selbe Eigenschaft verfügen, wenn auch vielleicht in einer herausgehobenen Weise. Konkrete Gegenstände sind schlicht dadurch F, dass ihnen diese Eigenschaft zukommt, und sie würde ihnen in genau derselben Weise zukommen, wenn es keine Ideen gäbe. Das F-Sein von a hängt dieser Analyse zufolge in keiner Weise von Φ ab. Dann aber handelt es sich bei den Ideen tatsächlich um eine zumindest explanatorisch nutzlose Verdoppelung der Wirklichkeit – ein Vorwurf, der sich bekanntlich schon bei Aristoteles findet.⁹³ Die Ideen sind somit, wenn die notierten Kritikpunkte schlagend sind, weder als Eigenschaften im Sinne der Universalieninterpretation zu verstehen noch als herausragende Träger von Eigenschaften, die auch konkreten Objekten (ihren Partizipanten) zukommen. Zu diesem Schluss kommt auch Strobel in seiner Analyse der gängigsten zeitgenössischen Lösungsversuche für das Problem der Selbstprädikation.⁹⁴ Sein eigener Vorschlag besteht darin, die Ideen ausgehend von Aristoteles’ Unterscheidung von „Dieses“ (τόδε τι) und „So etwas“ (τοιόνδε) in den Kategorien⁹⁵ zu verstehen. Dieser Unterscheidung zufolge, die der von erster und zweiter Substanz entspricht, wird mit einem singulären Term wie „Sokrates“ ein τόδε τι oder eine erste Substanz bezeichnet, während Artausdrücke wie „Mensch“ auf ein τοιόνδε oder eine zweite Substanz referieren; zweite Substanzen oder „Gegenstände vom Typ So etwas“ sind das, was von Ausdrücken wie „Mensch“ bezeichnet wird. Diese zweiten Substanzen können grundsätzlich von verschiedenen Gegenständen ausgesagt werden und sind daher der oben⁹⁶ zitierten Stelle aus De interpretatione gemäß dem Allgemeinen zuzurechnen. Sie sind aber Strobel zufolge keine Eigenschaften, wenn anders man auf Eigenschaften mit singulären Ausdrücken wie „die Eigenschaft, ein Mensch zu sein“ Bezug nehmen kann.⁹⁷ Strobel will nun seine Heranziehung der Unterscheidung zwischen Gegenständen des Typs Dieses und solchen des Typs „So etwas“ nicht so verstanden wissen, dass die platonischen Ideen als Gegenstände des letzteren Typus, also als zweite Substanzen, zu betrachten seien. Vielmehr fänden sich bei Platon in verschiedenen Dialogen unterschiedliche Konzeptionen des ontologischen Status der Ideen: Bisweilen werden sie als Gegenstände des Typs „Dieses“, bisweilen als solche des Typs „So etwas“, bisweilen auch als Hybridformen aus beidem gesehen.⁹⁸ Es scheint jedoch, dass auch eine Interpretation der Ideen als zweite Substanzen die Probleme der Universalieninterpretation nicht ohne Weiteres zu 93 94 95 96 97 98
Vgl. Met. I 9 und XIII 4–5. Ebd., S. 30. Cat. 3b13–21. S. 93. Strobel, „Dieses“ und „So etwas“, S. 38. Ebd., S. 10.
98 | 4 Platon und die Metaphysik der Ideen beheben vermag. Denn einerseits bleibt auch unter dieser Annahme schwierig zu sehen, wie das Problem der Selbstprädikation umgangen werden soll, ohne die Aussagen im Sinne der paulinischen Prädikation als Aussagen über Mengen von Einzeldingen zu fassen: Wenn „das Schöne ist schön“ verstanden wird als „So etwas: Schönes, ist schön“,⁹⁹ liegt es zumindest nahe, dies als „Alles, was schön ist, ist schön“ zu verstehen, was kaum die Pointe der Diotimarede sein kann. Zweitens verfehlt die Deutung der Ideen als Gegenstände vom Typ So etwas den paradigmatischen Charakter der Ideen: Wie kann etwas, was kein Individuum ist, sondern von Individuen ausgesagt wird, vorbildhaft für ebendiese Individuen sein? Und schließlich scheint es, dass die Theorie von den Ideen als zweiten Substanzen in erster Linie auf eine bestimmte Art von Ideen passt: nämlich auf die, die mit Artbegriffen wie „Mensch“ oder „Feuer“ verbunden ist, und weniger gut auf Ideen von Qualitäten wie schön, gerecht oder gut. Denn Aristoteles führt die zweiten Substanzen ja ausdrücklich für Art und Genus ein,¹⁰⁰ während die Qualitäten in die Kategorie der ποιότης fallen. Dies hat seinen Grund darin, dass die zweiten Substanzen im Unterschied zu den akzidentellen Bestimmungen nicht an ihrem Substrat vorkommen.¹⁰¹ Es wäre daher begründungsbedürftig, warum gerade für die Eigenschaften, die Aristoteles nicht zu den zweiten Substanzen zählt, eine Einordnung als Gegenstände vom Typ So etwas angemessen ist. Angesichts dieser Schwierigkeiten dürfte es berechtigt erscheinen, auf die Interpretation von Ideen als Individuen zurückzukommen und zu fragen, ob die Idee Φ tatsächlich in genau demselben Sinne F sein muss wie die an ihr teilhabenden konkreten Gegenstände. Gegen eine negative Antwort scheint zunächst zu sprechen, dass der platonische Sokrates im Phaidon das bereits erwählte Postulat aufstellt: „Wenn etwas anderes schön ist außer dem Schönen selbst, dann aus keinem anderen Grund, als weil es an jenem Schönen teilhat.“¹⁰² Strobel sieht darin impliziert, dass „der Ausdruck ‚schön‘ […] auf das Schöne selbst in derselben Bedeutung zutrifft wie auf jeden anderen Gegenstand, der schön ist“; denn andernfalls würde es sich bei der Aussage „Außer dem Schönen selbst ist auch Helena schön“ um eine sinnlose Äquivokation handeln.¹⁰³ Dies gilt jedoch nur dann, wenn die Anwendung des Ausdrucks auf die konkreten Gegenstände in keinerlei semantischem Zusammenhang mit seiner Anwendung auf die Idee steht. Wie ein solcher systematischer Zusammenhang aussehen könnte, ist jetzt zu prüfen.
99 Strobel, „Dieses“ und „So etwas“, S. 42. 100 Cat. 5, 2a14. 101 Cat. 5, 3a10–12. 102 Phd. 100c4–6. 103 Ebd., S. 29.
4.3 Ideen als Individuen
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4.3.2 Aussagen über Ideen und Aussagen über Einzeldinge als systematisch äquivok Wenn die Ideenhypothese tatsächlich die Wirklichkeit nicht verdoppeln, sondern etwas zur Erhellung ihrer Struktur beitragen soll, muss die Idee Φ in einem anderen, jedoch verwandten Sinne als die sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände F sein; in einem Urteil der Form „Φ ist F“ muss dem Ausdruck „ist F“ demnach systematisch eine andere Bedeutung zukommen als in einem Satz „a ist F“, an dem ein konkretes Objekt die Subjektstelle einnimmt, wobei der Bedeutung in „Φ ist F“ Vorrang gegenüber der in „a ist F“ zukommt. Ein solches Verhältnis wird heute meist als „systematisch äquivok“ bezeichnet: „äquivok“, weil dem Ausdruck unterschiedliche Bedeutungen zukommen, und „systematisch“, weil es sich nicht um eine bloß zufällige Homonymie (wie etwa bei „Rost“ oder „wachsen“) handelt. Der Sache nach lässt es sich in der aristotelischen πρὸς-ἕν-Prädikation (auch als focal meaning bezeichnet) finden, die im Mittelalter als Analogie diskutiert wurde. Das klassische, von Aristoteles selbst gebrauchte¹⁰⁴ und von der scholastischen Philosophie¹⁰⁵ aufgegriffene Beispiel dafür ist der Ausdruck „gesund“: Sowohl von einem Menschen als auch von seiner Nahrung und seiner Gesichtsfarbe können wir sagen, dass sie gesund seien; doch während sich letztere in einer Weise paraphrasieren lassen, die unterschiedlich auf die Gesundheit des Menschen Bezug nimmt (als „trägt zur Gesundheit des Menschen bei“ bzw. „ist ein Anzeichen seiner Gesundheit“), wird die Gesundheit von einem Menschen unmittelbar prädiziert. Daher kommt dieser Aussageweise der semantische Primat zu. Ähnlich ist der hier betrachteten äquivoken Variante der Individueninterpretation zufolge das F in „Φ ist F“ primär gegenüber dem F in „a ist F“. So erklärt beispielsweise Andreas Graeser: „‚Wirklich Sein‘ als Charakteristikum der Idee nimmt auf den Umstand Bezug, dass Ausdrücke wie ‚ist F‘ systematisch äquivok verwendet werden und im Falle ihrer Anwendung auf die Idee nicht dasselbe bedeuten sollen wie im Falle ihrer Anwendung auf die nach den Ideen benannten raumzeitlichen Gegenständen [sic].“¹⁰⁶ Gegen die Möglichkeit einer Deutung als äquivoke Prädikation wendet Robert Heinaman grundsätzlich ein, dass sinnlich wahrnehmbare Objekte und Ideen hinsichtlich ihres F-Seins vergleichbar seien.¹⁰⁷ Wie kann den Ideen ein höherer Grad an F-Sein zugeschrieben werden als den Konkreta, wenn es für beide etwas anderes heißt, F zu sein? Platon sagt ausdrücklich, dass gleiche Gegenstände so zu 104 105 106 107
Met. IV 2, 1003a34–b1. Vgl. etwa Thomas von Aquin, Summa Theologiae, 1.13.5–6. Graeser, Platons Ideenlehre, S. 154. Heinaman, „Self-Predication in Plato’s Middle Dialogues“, S. 74.
100 | 4 Platon und die Metaphysik der Ideen sein strebten wie das Gleiche, d. h. die Idee des Gleichen (ὀρέγεται μὲν πάντα ταῦτα εἶναι οἷον τὸ ἴσον), aber doch dahinter zurückblieben (ἔχει δὲ ἐνδεέστερον),¹⁰⁸ und dass der gerechte Mann nicht unbedingt ganz und gar so sein (τοιοῦτον εἶναι) müsse wie die Gerechtigkeit; es genüge, wenn er ihr „so nahe wie möglich kommt“ (ὅτι ἐγγύτατα αὐτῆς ᾖ).¹⁰⁹ Diese Formulierungen sprechen prima facie gegen eine Deutung als πρὸς-ἕν-Prädikation. Sie scheinen vorauszusetzen, dass es eine Ähnlichkeit zwischen Idee und konkretem Gegenstand geben kann, und eine solche Ähnlichkeit kann wiederum nur bestehen, in den Worten des platonischen Parmenides, wenn „das Ähnliche mit dem Ähnlichen ein und dieselbe Form aufgenommen hat“.¹¹⁰ Auf dieses Problem kann ein Vertreter der äquivoken Lesart der Individueninterpretation auf zweierlei Weise reagieren. Zum einen kann er entgegnen, dass auch die Ähnlichkeit selbst in der Beziehung zwischen Idee und konkretem Objekt nur systematisch äquivok prädiziert wird gegenüber der Ähnlichkeit zwischen zwei sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen. Zur Veranschaulichung dieses Verhältnisses bietet sich die Abbildungsmetaphorik an: Zwei bildliche Darstellungen desselben Gegenstandes, etwa zwei Zeichnungen des Kolosseums, können einander mehr oder weniger ähnlich sein, bis hin zu dem Punkt, an dem sie sich nicht mehr unterscheiden lassen; ein Bild kann aber auch dem abgebildeten Objekt mehr oder weniger nahe kommen, wir sprechen dann auch von der Treue der Abbildung. Doch auch die beste und getreueste Zeichnung kann dem Kolosseum niemals so ähnlich sein, dass sie sich nicht mehr von ihm unterscheiden ließe. Zudem würden wir, wie Wollheim geltend macht, von einem Gemälde sagen, es ähnele Napoleon, nicht aber von Napoleon, er ähnele einem Gemälde.¹¹¹ Unterscheidet man in dieser Weise zwei Arten von Ähnlichkeit, eine symmetrische und eine asymmetrische, dann kann man Platons Aussagen über die Nähe zwischen Idee und wahrnehmbarem Objekt im Sinne des letzteren Typus als Abbildungsähnlichkeit deuten. Zweitens kann man mit modernen Bildtheorien in radikalerer Weise bestreiten, dass zwischen Urbild und Abbild, zwischen Idee und konkretem Objekt überhaupt irgendeine Relation der Ähnlichkeit bestehen muss; Ähnlichkeit ist nach solchen Theorien weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für die Bildrelation. Wenn sich die Annahme plausibel machen lässt, wie Lienemann dies versucht, dass auch Platon die Ähnlichkeit nicht als notwendig oder hinreichend 108 Phd. 75a. 109 Rep. 472b–c. 110 Parm. 132d–e. 111 Wollheim, Art and its objects, S. 18. Ich übernehme den Hinweis auf Wollheim von Lienemann (Die Argumente des Dritten Menschen, S. 268).
4.3 Ideen als Individuen
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für das Vorliegen eines Abbildungsverhältnisses betrachtet hat,¹¹² bietet sich ein bequemer Ausweg aus Heinamans Dilemma an: Konkrete Objekte sind dann eben nicht vergleichbar hinsichtlich ihres F-Seins mit den Ideen, zumindest nicht in einem Sinne von „Vergleichbarkeit“, der eine mögliche Ähnlichkeit voraussetzt. In beiden Fällen ist Abstand zu nehmen von der Vorstellung, mit der Abbildrelation sei impliziert, konkrete Gegenstände könnten dieselbe Eigenschaft, nur in geringerem Grade, verwirklichen wie die Ideen. Vielmehr wäre nach alternativen Konzeptionen zu suchen, wie die „Nähe“ eines konkreten Objekts zu einer Idee zu verstehen ist. Dass etwa der gerechte Mensch der Idee der Gerechtigkeit so nahe wie möglich kommen soll, würde dann nicht bedeuten, dass er selbst das Gerechte zu werden versucht, sondern dass er das Sein der Idee der Gerechtigkeit in dem ihm eigenen Medium, nämlich: der ihn umgebenden Lebenswirklichkeit, so gut und getreu wie möglich abzubilden versucht. Die entscheidende Frage ist dann: Was ist das „Sein der Idee“, dem die wahrnehmbaren Dinge nahekommen sollen? Was ist das F, das von der Idee Φ prädiziert wird? Eine erste Antwort greift zurück auf einen Vorschlag, der oben¹¹³ bereits im Zusammenhang mit Fines Universalieninterpretation diskutiert worden ist: „Φ ist F“ ist demnach zu verstehen als „Φ macht das, was an ihm teilhat, zu F“; da Φ in einer Individueninterpretation nicht als Teil oder Aspekt an oder in den sinnlich wahrnehmbaren Einzeldingen vorkommt, ist seine explanatorische Rolle hier vermutlich (im Unterschied zur Universalieninterpretation) nicht als konstitutive, sondern als kausale zu denken. Obwohl einiges dafür spricht, dass Platon eine derartige Auffassung vertreten hat, greift sie als alleiniges Verständnis des F-Seins von Φ zu kurz. Zum einen wird es der ekstatischen Sprache nicht gerecht, mit der Diotima die Schau der Idee des Schönen preist. Zum anderen liefert es allenfalls eine zirkuläre Antwort auf die Frage, in welchem Sinne die Teilhabe an Φ die teilhabenden Gegenstände zu Fs macht: Ein konkretes Objekt a würde demnach dadurch F, dass es an Φ teilhat – das wiederum in dem Sinne F ist, dass es Gegenstände wie a zu F macht. Wenn „ist F“ in dem Satz „Φ ist F“ nicht nur ein anderes Prädikat beinhalten, sondern eine andere Aussageweise als in „a ist F“ bedeuten soll – wenn also nicht nur das „F“, sondern auch das „ist“ anders zu verstehen ist als in der Prädikation einer Eigenschaft von einem Subjekt –, worin kann dann diese alternative Aussageform bestehen? Eine Möglichkeit zeigt Peter Geach auf, der (in Anknüpfung an Überlegungen Wittgensteins) Ideen als „Maßstäbe“ (standards) deutet, vergleichbar etwa den festgelegten Normgrößen für Maßeinheiten wie Meter oder
112 Lienemann, Die Argumente des Dritten Menschen, S. 262 und 274–282. 113 Kap. 4.2, S. 92.
102 | 4 Platon und die Metaphysik der Ideen Pfund. Wir würden, so Geach, zögern, eine Aussage wie „das Urmeter ist einen Meter lang“ zu unterschreiben; tatsächlich würde es uns sogar schwerfallen, mit ihr einen klar erkennbaren Sinn zu verbinden.¹¹⁴ Wenn andere Objekte einen Meter lang sind, dann bedeutet das, dass sie genauso lang sind wie das Urmeter. Das Urmeter dagegen kann nicht an sich selbst gemessen werden, und deshalb ist fraglich, ob es überhaupt als einen Meter lang bezeichnet werden kann. (Wie sähe es aus, wenn es nicht einen Meter lang wäre?) Das hindert jedoch nicht, dass es das Urmeter ist. Freilich ist es dies durch Konvention, nicht durch ein in seiner Natur liegendes Merkmal; und es ist Maßstab als ein Objekt vom wesentlich selben Typ wie die an ihm gemessenen Gegenstände, nämlich als physischer Körper. Dies beides soll jedoch für die Idee als Muster der an ihr teilhabenden sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände nicht gelten: Die Idee ist zum einen, wie Allen formuliert, „von einer anderen ontologischen Ordnung“ als die Konkreta,¹¹⁵ oder, mit Patterson, „von einem anderen Typ“;¹¹⁶ zum anderen wird beispielsweise die Idee des Schönen genau dadurch zum Maßstab der schönen Dinge, dass sie eben selbst an sich in eminenter Weise schön ist. Obwohl die Ideen tatsächlich in einem gewissen Sinne dasjenige sind, woran das Wahrnehmbare gemessen wird, bedarf es daher einer noch genaueren Bestimmung der logischen Form von Aussagen des Typs „Φ ist F“. R. E. Allen schlägt vor: „Was als selbstprädikative Aussagen erscheint, sind in Wirklichkeit Identitätsaussagen“;¹¹⁷ ähnlich äußern sich auch Cherniss und Sier.¹¹⁸ In „Φ ist F“ wird dann nicht eine Eigenschaft F von einem Subjekt (der Idee Φ) prädiziert, sondern die Idee mit sich selbst identifiziert. Gegen diese Auffassung wendet Vlastos ein, es gebe gute Gründe, die Bezeichnung der Idee des Schönen als „was schön ist“ (ὃ ἔστι καλόν) im Kontext des Symposion als Prädikation aufzufassen. „Wenn die Idee Schönheit“, schreibt Vlastos, „nicht selbst das ewig, absolut, universell und makellos schöne Objekt wäre, nach dem sich der platonische Liebhaber sehnt, dann bricht Platons ganze substantielle Liebestheorie zusammen; denn sie beruht ersichtlich auf den Annahmen, dass Gegenstand der Liebe das Schöne ist und dass Schönheit selbst liebenswerter ist als alles, was an ihr teilhat
114 Geach, „The Third Man Again“, S. 267. 115 Allen, „Participation and Predication in Plato’s Middle Dialogues“, S. 47, Fn. 1. 116 Patterson, Image and Reality in Plato’s Metaphysics, S. 40; vgl. Lienemann, Die Argumente des Dritten Menschen, S. 272f. 117 Allen, „Participation and Predication in Plato’s Middle Dialogues“, S. 46. 118 Vgl. Cherniss, „The Relation of the Timaeus to Plato’s Later Dialogues“, S. 371: „‚Die Idee von x ist x‘ bedeutet ‚die Idee von x und x sind identisch und die Idee von x hat daher nicht das Merkmal x‘“, sowie Sier, Die Rede der Diotima, S. 174, Fn. 153.
4.3 Ideen als Individuen
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(any of its instances).“¹¹⁹ Eine Identitätsaussage wie „das Schöne ist das Schöne“ oder „die Schönheit ist die Schönheit“ könne diese Lehre jedoch „nicht einmal ansatzweise erfassen“.¹²⁰ Ganz ähnlich äußert sich auch Lienemann: „Die Pointe dieses Lobliedes auf die Schönheit ist gewiss nicht, lediglich festzuhalten, dass die Schönheit mit der Schönheit identisch ist, sondern ihr Schön-Sein soll von demjenigen der vielen schönen Dinge, die an ihr teilhaben, unterschieden und abgehoben werden.“¹²¹ Vlastos ist darin zuzustimmen, dass die Idee des Schönen durch das, was sie von sich her ist, durch ihr Wesen oder ihre Natur, der höchste und eigentliche Gegenstand der Sehnsucht eines platonischen Liebhabers ist, und dass diese Wahrheit in der Bezeichnung des Schönen als „was schön ist“ ausgedrückt sein muss. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass ein Satz wie „das Schöne selbst ist einzigartig schön“ nicht als Identitätsaussage aufgefasst werden kann. Indem Vlastos und Lienemann ihn als Satz der Form a = a formalisieren, trivialisieren sie ihn; dabei können Identitätsaussagen durchaus Erkenntniswert haben, wenn sich nämlich die mit den verknüpften Zeichen subjektiv oder intersubjektiv verbundenen Identifizierungskriterien unterscheiden. Deswegen war es eine Entdeckung, dass der Morgenstern und der Abendstern identisch sind.¹²² Es ist jedoch tatsächlich fraglich, wie die Idee des Schönen identisch sein soll mit ihrem Schönsein. Würde das nicht doch bedeuten, die Idee letztlich wieder zu einer Eigenschaft zu machen und damit auf die Universalieninterpretation zurückzufallen? Sieht man den Text jedoch genauer an, so stellt man fest, dass Platon keineswegs behauptet, die Idee des Schönen „sei schön“. Auch Vlastos hatte in seinem klassischen Aufsatz „The Third Man Argument“ festgehalten, dass kein Zweifel daran bestehen könne, dass Platon in keiner seiner Schriften Ideen von sich selbst prädiziert; er war jedoch der Ansicht, Selbstprädikation werde „eindeutig impliziert durch verschiedene seiner Äußerungen und Überlegungen“, unter ihnen die Diotima-Rede im Symposion.¹²³ Was Diotima jedoch behauptet, ist, dass die Idee des Schönen das sei, „was schön ist“ (ὃ ἔστι καλόν). Dabei handelt es sich um eine Identitätsaussage, bei der sich auf der linken Seite ein Name findet („das Schöne selbst“ oder „die Idee
119 Vlastos, „The Unity of Virtues in the Protagoras“, S. 262. 120 Ebd., S. 262. 121 Lienemann, Die Argumente des Dritten Menschen, S. 209. 122 Das Beispiel stammt ebenso wie die Einsicht, dass Identitätsaussagen Erkenntniswert haben können, von Frege: vgl. „Über Sinn und Bedeutung“, S. 23–28, und „Über Begriff und Gegenstand“, S. 48–49. 123 Vlastos, „The Third Man Argument“, S. 250; vgl. auch Vlastos, „The Unity of Virtues in the Protagoras“, S. 259 Fn. 99 mit weiteren Verweisen.
104 | 4 Platon und die Metaphysik der Ideen des Schönen“), auf der rechten dagegen eine definite Kennzeichnung (definite description). Eine definite Kennzeichnung strebt zumindest ihrer Intention nach an, eine Entität eindeutig herauszugreifen, indem sie sie in einer Weise beschreibt, die auf diese und nur diese Entität zutrifft. Sie kann daher als eine Art EigennamenStellvertreter mit fregeschem Sinn, also mit einem semantischen Gehalt betrachtet werden. Dies macht sie für informative Identitätsaussagen so geeignet: „Platon ist der Mann mit dem zum Himmel weisenden Zeigefinger.“ Wenn es sich bei dem Satz „Die Idee des Schönen ist das, was schön ist“ um eine Identitätsaussage handeln soll, muss die in ihr enthaltene Phrase „das, was schön ist“ als definite Kennzeichnung verstanden werden, und das kann sie nur, wenn der Gedanke, dass die Idee das einzige ist, was „schön ist“, plausibel erscheint. Platon leugnet, wie gesagt, nicht, dass es eine Vielzahl schöner Dinge gibt: schöne Körper, schöne Seelen, schöne Einsichten (πολὺ τὸ καλόν).¹²⁴ Die Phrase „das, was schön ist“ soll dagegen eindeutig eine Entität herausheben, wie der Vergleich mit Parallelstellen belegt; so heißt es beispielsweise in der Politeia, der Tischler mache nicht die Idee, „von der wir ja auch sagen, dass sie das ist, was Bett ist“ (ὃ δή φαμεν εἶναι ὃ ἔστι κλίνη), sondern lediglich ein bestimmtes Bett (κλίνην τινά). Die definite Kennzeichnung „das, was schön ist“ (ὃ ἔστι καλόν) muss daher etwas anderes meinen als „das, was schön ist“ (ὃ καλόν ἐστι), denn mit Letzterem könnte man allenfalls die Gesamtheit aller schönen Dinge meinen. Was kann also durch die betonte syntaktische Stellung des ἔστι (in der deutschen Übersetzung wiedergegeben als Kursivierung) zum Ausdruck gebracht sein? Es liegt nahe, diesen Unterschied in der Betonung als einen Hinweis darauf zu deuten, dass der Unterschied zwischen beidem in der Weise zu suchen ist, in der sie jeweils schön sind. Die erste Möglichkeit dazu bestünde wiederum darin, der Idee des Schönen die Schönheit als eine notwendige oder essentielle Bestimmung zuzuschreiben. Das ist jedoch zweifelhaft. Denn im Phaidon hält Sokrates fest, dass das Feuer (τὸ πῦρ) und das Warme (τὸ θερμόν) zwar zwei verschiedene Dinge sind, das Feuer aber dennoch immer „die Gestalt“ (τὴν μορφὴν) des Warmen „an sich trägt, solange es ist“.¹²⁵ Das Warmsein ist also zumindest eine notwendige Eigenschaft des Feuers. Wenn analog zum Schönen gilt, dass das Warme, aber nicht das Feuer das ist, „was warm ist“, kann mit dieser Phrase also nicht bloß der Besitz einer notwendigen Eigenschaft gemeint sein, insofern das Feuer zwar notwendigerweise warm ist, aber im Unterschied zum Warmen nicht das ist, was warm ist. Wenn also eine äquivoke Deutung verteidigt werden soll, ist eine funda-
124 Symp. 210d. 125 Phd. 103e.
4.3 Ideen als Individuen
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mental andere Auffassung des Satzes „Die Idee des Schönen ist das, was schön ist“ und der in ihm enthaltenen Phrase „was schön ist“ vonnöten. Ein solches alternatives Verständnis bietet die Theorie, der zufolge sich an der Idee weder real noch begrifflich die „Eigenschaft“ von ihrem „Träger“ unterscheiden lässt, wie es bei sinnlich wahrnehmbaren Objekten der Fall ist. Die Idee des Schönen hat demnach die Schönheit nicht als Eigenschaft, weder als notwendige noch als essentielle, sondern sie ist mit ihrem Schönsein identisch. Eine Reihe von Interpreten haben eine solche Auffassung verteidigt. Beispielsweise schreibt Sier in seinem Kommentar zum Symposion: „[D]as Sein als καλόν gehört zu ihm [dem idealen Schönen] als solchem, es ist nicht differenzierbar in die Aspekte der Existenz (als Idee) und des Soseins (als καλόν).“¹²⁶ Ähnlich heißt es bei Mohr: Jede [Idee] ist weder durch den Besitz einer Menge von Eigenschaften noch durch den Besitz einer einzigen, einfachen, unanalysierbaren Eigenschaft als einzigartige Idee ausgezeichnet. Jede Idee ist wesentlich ein Individuum, nicht ein qualifizierter Gegenstand. Als die Idee, die sie jeweils ist, ist jede τι [etwas Bestimmtes] oder τοῦτο [ein Dieses], nicht ποιόν [eine Qualität].¹²⁷
Auch Halfwassens Ausführungen, dass die Idee dasjenige ist, „was ganz und gar ist, was es ist“,¹²⁸ lassen sich in diesem Sinne verstehen. Die verschiedenen Ideen sind dieser Theorie zufolge zwar numerisch verschieden und besitzen – in den Worten Mohrs – „einzigartigen Gehalt“ (oder vielmehr: sind nichts anderes als ihr je einzigartiger Gehalt, unique content),¹²⁹ doch lassen sie sich nicht in Eigenschaften analysieren. Man kann die Idee daher auch, wie es Halfwassen tut, als „die reine, an sich selbst seiende Wesenheit“ bezeichnen.¹³⁰ Lässt sich dieser Unterschied noch klarer herausarbeiten? Was ist in der Redeweise von „Eigenschaften“ und ihren „Trägern“ vorausgesetzt, was für die Idee abgelehnt wird? Wo immer die Rede von den Eigenschaften eines Gegenstands (im weitesten Sinne) ist, ist vorausgesetzt, dass die Eigenschaft von dem Gegenstand, dessen Eigenschaft sie ist, verschieden ist; dass wir entsprechend sprachlich auf Unterschiedliches Bezug nehmen, wenn wir zum einen von dem Gegenstand, zum anderen von seiner Eigenschaft sprechen. Das ist offensichtlich dort, wo es sich um eine Eigenschaft handelt, die ihr Träger wieder verlieren kann, etwa seine Färbung. Es gilt aber selbst für notwendige Eigenschaften, denn diese können immer noch an anderen Entitäten auftreten, und auch für hinreichende Eigenschaften, denn 126 127 128 129 130
Sier, Die Rede der Diotima, S. 175. Mohr, „Forms as Individuals: Unity, Being and Cognition in Plato’s Ideal Theory“, S. 114. Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen, S. 43. Mohr, „Forms as Individuals: Unity, Being and Cognition in Plato’s Ideal Theory“, S. 118. Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen, S. 43.
106 | 4 Platon und die Metaphysik der Ideen sie müssen ihren Trägern natürlich nicht zukommen. In all diesen Fällen können wir trotz ihres gemeinsamen Auftretens den Träger und seine Eigenschaft unterscheiden, weil es potentielle Kontexte gibt, in denen das eine ohne das andere vorliegen kann. Wenn das nicht der Fall ist, wird es sinnlos, überhaupt von einem Träger und seinen Eigenschaften sprechen zu wollen. Auf die Idee übertragen bedeutet das, dass ihr jeweiliges Bestimmtsein für sie sowohl spezifisch (hinreichend) als auch notwendig ist und sie sich daher von diesem ihrem Bestimmtsein nicht trennen lässt, weil dies (a) nicht an anderem auftreten kann und (b) die Idee umgekehrt nicht ohne es existiert. In diesem Sinne ist die Idee ihr je individuelles Bestimmtsein. Sie unterscheidet sich so auch von anderen Ideen mit ihrem jeweiligen individuellen Charakter, ohne dass sich der Unterschied in die Form geteilter und spezifischer Eigenschaften bringen ließe. Auf diese Weise lässt sich denn auch dem Satz „Das Schöne selbst ist das, was schön ist“ ein plausibler Sinn als Identitätsaussage abgewinnen: Mit dem Ausdruck „das Schöne selbst“ oder „die Idee des Schönen“ nehmen wir auf dasjenige Bezug, was mit seinem Schönsein identisch ist. Wenn sich in der Idee Träger und Eigenschaft nicht einmal begrifflich unterscheiden lassen, vielmehr ineins fallen, so bedeutet das zugleich, dass den Ideen ein höherer Grad von Einheitlichkeit eignet als den an ihnen teilhabenden konkreten Objekten. Dies stimmt, folgt man der neuplatonischen Interpretation des Parmenides, zu Platons Bestimmung der Idee als ἕν τι ὃ καλοῦμεν ὅλον, „ein Eines, das wir Ganzes nennen“.¹³¹ Auch Halfwassen betont den höheren Einheitscharakter der Ideen, der sie von der „Vielheit ihrer Erscheinungen“ unterscheidet.¹³² Freilich darf die Einheitlichkeit der Idee, wie Halfwassen zurecht anmerkt, nicht als „einfache, unterschiedslose Einheit“ verstanden werden, sondern als über einem komplexen wechselseitigen Bestimmungsverhältnis (συμπλοκὴ τῶν εἰδῶν, κοινωνία) supervenierende „geeinte Gestalt“.¹³³ Dass jede Idee so auf einer horizontalen Ebene gleichzeitig auf eine Pluralität anderer Ideen verweist und durch diese mitkonstituiert ist, spricht jedoch keineswegs gegen die Identität von Bestimmtem und Bestimmung, die der diskutierten Interpretation zufolge das Wesen der Idee ausmacht und sie so in vertikaler Richtung von allen an ihr teilhabenden konkreten Gegenständen unterscheidet. Vielmehr wird dadurch verständlich, was Platon
131 Parm. 157d. 132 Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, S. 40. 133 Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen, S. 48, 24; vgl. ebd., S. 59.
4.4 Eigenschaften als Teilhabe an Ideen
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mit der Bezeichnung der Ideen als das „wirklich Seiende“ (τὸ ὄντως ὂν) gemeint haben mag.¹³⁴ ¹³⁵
4.4 Eigenschaften als Teilhabe an Ideen Wenn die Idee des Schönen als identisch mit dem ihr und nur ihr zukommenden Schönsein konzipiert wird, welches Licht wird dadurch auf Sätze wie „Charmides ist schön“ oder „Die Athene-Statue des Pheidias ist schön“ geworfen? Die Annahme von Ideen soll ja, wie eingangs des Kapitels erläutert, dazu beitragen, die Eigenschaften sinnlich wahrnehmbarer Gegenstände zu erklären. Dies kann sie jedoch nur, wenn sich ein nachvollziehbarer Zusammenhang zwischen dem F-Sein eines Gegenstandes a und der Idee Φ aufweisen lässt. Der systematisch-äquivoken Variante der Individueninterpretation zufolge kann dieser Zusammenhang nicht darin bestehen, dass Φ zwar dieselbe Eigenschaft F zukommt wie a, allerdings nur in reinerer Form oder in höherem Maße. Wie also kann das wesenhafte SchönSein der Idee des Schönen das akzidentelle Schönsein von Charmides und der Athene-Statue erklären? Platons Rede von einem „Großen in uns“ (τὸ ἐν ἡμῖν μέγεθος) im Unterschied zum „Großen selbst“ (αὐτὸ τὸ μέγεθος) lässt daran denken, dass den Gegenständen die Eigenschaft als ein Merkmal zukommt, das als solches „in“ oder „an“ einer Vielzahl von Objekten realisiert sein kann; „neben“ die Ideen treten damit „als deren Abbilder die immanenten εἴδη, ἰδέαι oder μορφαί, die den Dingen innewohnen“.¹³⁶ Diese immanenten Formen sind demnach wie die aristotelischen εἴδη in ihrer realistischen Deutung Universalien in der Materie; im Unterschied zu diesen stehen sie jedoch in einer Teilhabebeziehung zu einem als transzendent oder uninstantiiert existierend gedachten idealen Muster, der Idee. Gegen diese Interpretation des F-Seins von raumzeitlich existierenden Gegenständen sprechen jedoch verschiedene Überlegungen. Zum einen spricht Platon auch im Phaidon stets davon, dass es die Gegenstände selbst sind, die an den Ideen teilhaben, nicht ihre Eigenschaft;¹³⁷ obwohl ja tatsächlich unzweideutig das Φ
134 Vgl. ebd., S. 202. 135 Diese Interpretation eröffnet zugleich einen Weg, wie sich die bei Aristoteles für Platon belegte These der ungeschriebenen Prinzipienlehre, nach der „die Ideen durch Teilhabe am Einen“ entstünden (κατὰ μέθεξιν τοῦ ἑνὸς τὰ εἴδη εἶναι, Met. I 6, 987b21f.), verstehen ließe. Doch setzt die dargestellte Interpretation, wie gesagt, die Prinzipienlehre nicht voraus. Für eine umfassende Rekonstruktion der Ideenlehre im Lichte eines henologischen Prinzipienmonismus vgl. ebd. 136 Baltes, „Idee (Ideenlehre)“, S. 278. 137 Siehe etwa Phd. 100c–d.
108 | 4 Platon und die Metaphysik der Ideen „in der Natur“ sowohl von dem F „in uns“ als auch von dem zugrundeliegenden „Ding“ unterschieden wird.¹³⁸ Wenn es sich also um drei verschiedene Entitäten handelt, die Teilhabebeziehung aber zwischen dem Ding und der Idee besteht, in welchem Verhältnis steht dann die Eigenschaft, das F „in uns“, zur Idee? Ebenfalls in einer Teilhabebeziehung? Dann müsste es sich aber zumindest um eine deutlich andere Art von Beziehung als die zwischen Ding und Idee handeln. Oder soll man sagen, der Gegenstand habe qua seiner Eigenschaft an der Idee teil? Auch dann bleibt das Verhältnis zwischen Eigenschaft und Idee klärungsbedürftig. Vor allem aber bleibt wiederum offen, welchen Beitrag die Idee in diesem Modell zur Erklärung der Eigenschaft F liefert. Das zugrundeliegende Bild scheint ja nahezulegen, dass die Eigenschaft F als Abbild der Idee nur in Abhängigkeit von dieser existieren kann; das wirft die Frage auf, in welchem Sinne die Eigenschaft als „Abbild“ der Idee gelten kann, und lässt ferner auch im Dunkeln, wie das Verhältnis des Gegenstands zu seiner Eigenschaft zu denken ist. Die Konzeption von Eigenschaften als eine Art Zwischenstücke, die einerseits an der Idee teilhaben, andererseits aber vollständig „in“ oder „an“ denjenigen Gegenständen vorliegen, deren Eigenschaften sie jeweils sind, trägt daher wenig zur Klärung der Ausgangsfrage bei, nämlich: was es für einen konkreten Gegenstand a bedeutet, F zu sein. Es ist daher vielversprechender, auf die Annahme von als Universalien verstandenen immanenten Formen zu verzichten und die Eigenschaften sinnlich wahrnehmbarer Gegenstände direkt mit deren Teilhabe an der entsprechenden Idee zu identifizieren: die Schönheit des Charmides ist demnach nichts anderes als seine Teilhabe an der Idee des Schönen.¹³⁹ Was an der sprachlichen Oberfläche als einstelliges Prädikat („ist schön“) erscheint, verweist in der Wirklichkeit auf eine zweistellige Beziehung (hat teil an der Idee des Schönen). Das ist auch sonst kein ungewöhnliches Phänomen: Der Satz „Rosinante ist groß“ enthält beispielsweise ein einstelliges Prädikat, wird aber in der Wirklichkeit durch das Größenverhältnis zwischen Rosinante und einem (meist implizit verstandenen) Vergleichsobjekt, etwa einem durchschnittlichen Pferd, wahrgemacht. Dabei ist zu beachten, dass es sich bei diesem Vorschlag nicht um eine semantische Analyse der Prädikation handelt; Allens These, von etwas zu sagen, es sei F, sei dasselbe wie zu sagen, es sei kausal abhängig von der Idee Φ,¹⁴⁰ wird von Lienemann mit Recht als „abwegig“ bezeichnet.¹⁴¹ Vielmehr geht es um eine Analyse der zugrundeliegenden 138 Phd. 103b. 139 So auch Sier, Die Rede der Diotima, S. 176: „die Eigenschaften der Dinge [bestehen] eben in ihrer Teilhabe an den Ideen […].“ 140 Allen, „Participation and Predication in Plato’s Middle Dialogues“, S. 46. 141 Lienemann, Die Argumente des Dritten Menschen, S. 205.
4.4 Eigenschaften als Teilhabe an Ideen
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ontologischen Verhältnisse, durch die solche Prädikationen wahr gemacht werden können. Der Vorteil dieser Interpretation besteht darin, dass sie im Unterschied zur zuvor betrachteten nicht drei Relata (Ding, Eigenschaft, Idee) mit den entsprechenden Beziehungen zwischen ihnen stipuliert, sondern lediglich zwei (den wahrnehmbaren Gegenstand und die Idee), die durch die Eigenschaft als relationale Entität miteinander verbunden werden. Ferner lässt sich zugunsten dieser Interpretation ins Feld führen, dass sie – als Analyse der ontologischen Struktur, die sich hinter dem jeweiligen sprachlichen Ausdruck verbirgt – verständlich macht, weshalb es sich bei ihr um eine Erklärung (αἰτία) des F-Seins wahrnehmbarer Gegenstände handeln sollte. Vor allem aber stimmt sie zu verschiedenen Formulierungen Platons. Phaidon hält als Fazit der Einführung der Ideen durch Sokrates fest, dass „jede Idee etwas Bestimmtes (τι) sei und die anderen Gegenstände durch Teilhabe an ihnen ihre Bezeichnung erhielten“;¹⁴² der Ausdruck ἐπωνυμία legt nahe, dass sich die Bezeichnung eines Gegenstands a als F direkt auf seine Teilhabe an der Idee Φ bezieht. Und etwas zuvor hat Sokrates erklärt, dass „nichts anderes [die schönen Dinge] schön macht als die Anwesenheit (παρουσία) oder Gemeinschaft (κοινωνία) eben jenes Schönen“.¹⁴³ Durch die Konzeption der Eigenschaften als Teilhaberelation erklärt sich auch, weshalb die Idee nach platonischer Auffassung ontologischen Primat gegenüber den Dingen besitzt, die an ihr teilhaben. Damit ist gemeint, dass die an ihr teilhabenden Dinge für ihre Existenz, zumindest für ihr jeweiliges Bestimmtsein auf die Existenz der Idee angewiesen sind, diese aber ihrerseits nicht von der Existenz der sinnlich wahrnehmbaren Dinge abhängt, die an ihr teilhaben; diese asymmetrische Existenzabhängigkeit (Hysteron-Proteron-Struktur), von Krämer als „Grundformel des Platonismus“ bezeichnet,¹⁴⁴ ist eine der Thesen, die mit dem Schlagwort von der Transzendenz der Ideen gemeint sein können.¹⁴⁵ Sie erfährt jedoch eine völlig unverdächtige und natürliche Deutung, wenn man sich vor Augen führt, dass eine Relation für ihr Bestehen auf die Existenz ihrer beiden Relata angewiesen ist, während diese ihrerseits auch ohne die Beziehung bestehen könnten. Daher kann der teilhabende Gegenstand ohne die Idee nicht das sein, was er ist, während die Idee auch ohne an ihr partizipierende Einzeldinge existiert.
142 Phd. 102b. 143 Phd. 100d. 144 Krämer, „Die Idee des Guten“, S. 200. 145 So gebrauchen etwa Fine („Separation“, S. 43) und Vlastos (Socrates: Ironist and Moral Philosopher, S. 75), aber auch Halfwassen (Plotin und der Neuplatonismus, S. 39) den Begriff der Transzendenz.
110 | 4 Platon und die Metaphysik der Ideen Wie die „Teilhabe“ der Einzelgegenstände an ihrer gemeinsamen Idee genau zu verstehen ist, ist eine Frage, die von Sokrates im Phaidon offenbar bewusst offengelassen wird.¹⁴⁶ Das hat seinen Grund vermutlich in der dialektischen Konstellation, denn es geht Sokrates ja um einen Beweis für die Unsterblichkeit der Seele; und für diesen ist lediglich von Bedeutung, dass erstens die Seele essentiell an der Idee des Lebens teilhat und zweitens die essentielle Teilhabe an etwas die Teilhabe an der entgegengesetzten Idee ausschließt. Dafür ist eine genauere Bestimmung der Relation der Teilhabe offensichtlich nicht vonnöten. Der weitere Erklärungswert dieser Theorie hängt jedoch weitgehend davon ab, ob es gelingt, die Teilhabe als Beziehung in eine präzisere begriffliche Form zu bringen. Eine genauere Untersuchung der Voraussetzungen und Implikationen dieser unterschiedlichen Metaphern liegt jedoch außerhalb der Reichweite dieser Arbeit. An dieser Stelle können lediglich knappe relationentheoretische Adäquatheitsbedingungen für eine präzisere Fassung der Leistung und Grenzen der Analogien formuliert werden. Platon erprobt, wie gesehen, in verschiedenen Dialogen verschiedene Analogien zur Verdeutlichung des Verhältnisses von Einzelding und Idee: von Gemeinschaft und Anwesenheit über Teilhabe und Ähnlichkeit bis hin zu Abbildung und Nachahmung. All diesen Relationen (mit der möglichen Ausnahme der Ähnlichkeit) sind bestimmte formale Merkmale gemeinsam.¹⁴⁷ Sie sind (a) irreflexiv, d. h. nichts steht zu sich selbst in den genannten Beziehungen: nichts bildet sich selbst ab, ist sich selbst ähnlich oder hat an sich selbst teil. Zweitens (b) sind diese Relationen asymmetrisch; wenn ein Objekt a ein anderes Objekt b abbildet, dann bildet b nicht auch a ab. Und schließlich (c) soll das Verhältnis von Gegenstand und Idee transitiv sein, wie die Diskussion der Nachahmung (μίμησις) im zehnten Buch der Politeia zeigt: Das Bild eines Bettes stellt das konkrete, wahrnehmbare Bett dar, das seinerseits wieder ein Abbild der Idee des Bettes ist; auch das Bild des Bettes ist damit ein (wenn auch abgeblasstes und schattenhaftes) Abbild (εἴδωλον) der Idee. Relationentheoretisch gesprochen, handelt es sich also bei der Teilhaberelation um eine Striktordnung.¹⁴⁸
146 Phd. 100a. 147 Dies könnte ein weiterer Grund sein, Lienemanns Überlegungen zu folgen und auch für Platon die Ähnlichkeit als notwendige Bedingung für das Vorliegen der Abbildrelation zu verwerfen. Vgl. Lienemann, Die Argumente des Dritten Menschen, S. 274–282. 148 Fraglich bleibt, ob sich diese Beziehung, wie es Halfwassen nahezulegen scheint, mit einem dynamischen Verständnis der Teilhaberelation als „Sichrichten des Vielen auf das Eine“ (Der Aufstieg zum Einen, S. 71) in Verbindung bringen lässt. Zwar ist auch die Beziehung des Strebens irreflexiv, aber nicht notwendig asymmetrisch und auch nicht transitiv. Zudem klingt es reichlich merkwürdig, beispielsweise das Schön-Sein des Charmides mit seinem Streben nach der Idee des Schönen zu identifizieren. Es scheint daher, als müsse man sich zwischen einer Interpretation
4.5 Zusammenfassung | 111
4.5 Zusammenfassung Anspruch dieses Abschnitts konnte und sollte es nicht sein, die Frage nach der Deutung des ontologischen Status der platonischen Idee einer verbindlichen Entscheidung zuzuführen; dies würde nicht nur eine weit genauere Analyse der angeführten Textstellen sowie der Forschungsliteratur erfordern, sondern auch die Beantwortung weiterer Fragen, die hier nicht einmal oberflächlich betrachtet werden konnten (etwa die nach einer möglichen Entwicklung der Ansichten Platons oder nach dem Verhältnis der entwickelten Interpretation der Ideenlehre zur Idee des Guten aus Rep. VI–VII).¹⁴⁹ Ziel war es vielmehr, hinreichenden Zweifel an der Interpretation der Ideen als Universalien zu wecken, um die Individueninterpretation zumindest als bedenkenswerte Alternative zu empfehlen, auch wenn sie mitnichten als unproblematisch gelten kann; und zweitens, diese Alternative in einer Weise zu entwickeln, die sie als möglichen Anknüpfungspunkt für eine systematisch-metanormative Theorie der Vortrefflichkeit attraktiv macht.¹⁵⁰ Wenn diese beiden Ziele erreicht worden sind, kann Platon zurecht als Pate für den metanormativen Platonismus in Anspruch genommen werden. Für die im nächsten Kapitel anzustellenden Überlegungen über die systematische Struktur eines metanormativen Platonismus erweist sich dabei besonders die systematisch-äquivoke Lesart der Individueninterpretation als fruchtbarer Bezugspunkt. Sie ist, zusammenfassend, ausgezeichnet durch folgende drei Thesen: 1. Die Ideen sind Individuen, nicht allgemeine Eigenschaften. Das bedeutet, dass sie selbst nicht „an“ oder „in“ anderen Objekten vorkommen und nicht von anderem prädiziert werden können. 2. Die Ideen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie in besonderer Weise sind, was sie jeweils sind: Da ihre je individuelle Bestimmtheit für sie spezifisch und notwendig zugleich ist, sind sie von ihr weder begrifflich noch real zu unterscheiden. 3. Die Eigenschaften konkreter Einzeldinge lassen sich verstehen als Relationen der Teilhabe an den Ideen, wobei die Relation der Teilhabe der näheren Interpretation bedarf.
der Eigenschaften konkreter Gegenstände als Teilhabe auf der einen Seite und einer Deutung der Teilhabe als Streben nach der Idee entscheiden. 149 Für einen Überblick über zeitgenössische Interpretationen der Idee des Guten vgl. Krämer, „Die Idee des Guten“. 150 Diese beiden Ziele rechtfertigen es, einige auch in der neueren analytischen PlatonInterpretation meist vernachlässigte, in Platons Sicht aber womöglich zentrale Aspekte der Ideenlehre zu übergehen, etwa die Bestimmung der Ideen als „Leben“ und „Geist“ (vgl. Soph. 248e–249a). Vgl. dazu Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen, S. 48 und Beierwaltes, „Einführung“, XXII.
5 Die Struktur des metanormativen Platonismus Nach den methodologischen Vorüberlegungen in Kap. 2, der Auszeichnung der Explananda einer Theorie der Vortrefflichkeit in Kap. 3 und der vorbereitenden Diskussion verschiedener Interpretationen der platonischen Ideentheorie in Kap. 4 soll in diesem Kapitel nun die systematische Struktur des metanormativen Platonismus herausgearbeitet werden. Zum Zwecke seiner Verortung im Feld der zeitgenössischen Normativitätstheorie werde ich zunächst sein genus proximum, den (metanormativen) Realismus, in einem sehr kurzen und notgedrungen schematischen Überblick über normativitätstheoretische Hauptpositionen in der Zeit seit dem Erscheinen von Mackies Ethics kontrastiv charakterisieren (5.1). Darauf lege ich dar, wie sich der metanormative Platonismus von anderen realistischen Positionen unterscheidet: Er deutet das in Kap. 1 dargestellte Phänomen der Vortrefflichkeit als Relation zwischen einem konkreten Objekt und einem abstrakten Ideal (5.2). Dies wirft weitere Fragen auf: zum einen die, was unter einem abstrakten Objekt zu verstehen ist (5.3); zum anderen die, in welcher Beziehung die Vortrefflichkeit besteht und wodurch sich ihr abstrakter Bezugspunkt gegenüber anderen, nicht-idealen abstrakten Objekten auszeichnet (5.4). Schließlich wende ich mich der Frage zu, welche Erklärung der Platonismus für die oben dargestellten Charakteristika des Phänomens der Vortrefflichkeit zu bieten vermag (5.5).
5.1 Normativitätstheorie nach Mackie Der Platonismus ist eine realistische Position. Was damit gemeint ist, dürfte am besten in der Gegenüberstellung mit anderen wesentlichen Positionen der zeitgenössischen Normativitätstheorie deutlich werden. Auch wenn sich in der normativitätstheoretischen Debatte der letzten Jahrzehnte einerseits eine zunehmende Pluralisierung und Ausdifferenzierung konstatieren lässt, kann man doch idealtypisch nach wie vor einen moral- und normativitätsskeptischen, subjektivistischen Zugang von einem affirmativen, objektivistischen unterscheiden.¹ Die (selektive und sehr skizzenhafte) Charakterisierung wichtiger Auffassungen und einiger ihrer Probleme lässt dabei zugleich etwas von dem Druck erkennen, der in den letzten drei Jahrzehnten zu einer Rehabilitierung realistischer, insbesondere „robust“-realistischer Positionen geführt hat. Es versteht sich, dass eine solche grobe Skizze der Komplexität und Ingenuität, mit der die Vertreter dieser Theorien auf die
1 Vgl. die Verwendung von „Skeptizismus“ und „Subjektivismus“ bei Mackie, Ethik, Kap. 1, §§ 1–2. https://doi.org/10.1515/9783110623871-005
5.1 Normativitätstheorie nach Mackie
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entsprechenden Einwände reagiert haben, nicht im Entferntesten gerecht werden kann. Als Hauptform einer subjektivistischen Normativitätstheorie kann weiterhin der Nonkognitivismus (vgl. o. S. 53) gelten, wenn er auch angesichts der Kritik am Emotivismus und Präskriptivismus üblicherweise in modernisierter Form (als Expressivismus) vertreten wird. Das expressivistische Programm besteht darin, für jede sprachliche Äußerung, die einen normativen Ausdruck enthält, einen zugehörigen nicht-repräsentierenden mentalen Zustand zu identifizieren; dabei sind die mentalen Zustände in einer Weise zu entwickeln, die verständlich macht, wie sie in logischen Beziehungen zueinander stehen können. Simon Blackburn analysiert Konditionale etwa als Ausdruck höherstufiger Einstellungen gegenüber den Einstellungen, die in Antezedens und Konsequens genannt werden.² Dies erlaubt es, logische Beziehungen zwischen normativen Sätzen auf entsprechende Beziehungen zwischen (nicht-repräsentierenden) mentalen Zuständen zurückzuführen und so das Frege-Geach-Problem zu umgehen.³ Freilich erfordert die vollständige Entwicklung einer kompositionalen Semantik für alle Arten zusammengesetzter normativer Phrasen (nicht nur Konditionale, sondern auch etwa Negationen oder modal qualifizierte Aussagen) einen enormen technischen Aufwand, der der Tatsache schlecht gerecht zu werden scheint, dass sich normative Ausdrücke in ihrem syntaktischen Verhalten in der natürlichen Sprache nicht von eindeutig deskriptiven Ausdrücken unterscheiden.⁴ Wer dagegen die Irrtumstheorie (vgl. o. S. 62) akzeptiert, steht unweigerlich vor der Frage, wie man mit der etablierten normativen, insbesondere moralischen Sprachpraxis umgehen soll; denn die vollständige Verbannung solcher Ausdrücke aus unserem Sprachgebrauch erscheint zwar konsequent, aber schwierig umzusetzen. Sie ist jedoch auch gar nicht notwendig und nicht einmal wünschenswert, argumentieren Fiktionalisten.⁵ Die normative Sprache erfülle nämlich wichtige praktische Funktionen wie die Ermöglichung sozialer Kooperation. Daher sei es das Beste, in vollem Bewusstsein so zu tun, als ob solche Urteile buchstäblich wahr sein könnten – etwa wie Eltern gegenüber ihren kleinen Kindern vorgeben, an den Osterhasen zu glauben. Der Fiktionalismus steht jedoch vor der Schwierigkeit, dass der vorgeschlagene nicht-wörtliche Gebrauch moralischer Ausdrücke droht, auf lange Frist auch ihre Bedeutung zu untergraben.⁶ 2 Blackburn, Spreading the Word, Kap. 6; vgl. van Roojen, Metaethics, S. 154. 3 Zum Frege-Geach-Problem vgl. oben Abschnitt 3.1.5 (S. 60). 4 So auch M. Schroeder, „What is the Frege-Geach Problem?“ 5 Vgl. z. B. Joyce, The myth of morality, Joyce, The evolution of morality und Nolan, Restall und West, „Moral Fictionalism versus the Rest“. 6 Vgl. van Roojen, Metaethics, S. 194–196.
114 | 5 Die Struktur des metanormativen Platonismus Andere wollen deshalb an der Objektivität und Kategorizität normativer Urteile festhalten, ohne sich dadurch auf die Annahme der Existenz objektiver Werte zu verpflichten. Ihre zentrale Idee besteht darin, dass normative Urteile auch dann wahr oder richtig sein können, wenn die enthaltenen normativen Ausdrücke keine bezeichnende Funktion haben. In diesem Fall kann die Wahrheit eines normativen Urteils jedoch nicht, wie es einem intuitiven Verständnis von Wahrheit entspricht,⁷ in seiner Übereinstimmung mit einer (evaluativen) Tatsache bestehen; denn ein Urteil kann nur dann eine Tatsache bezeichnen, wenn sich seine semantischen Komponenten ihrerseits auf Bestandteile der Tatsache beziehen. Solche Positionen, die wir mit Bernard Williams als nicht-realistischen Objektivismus bezeichnen können,⁸ stehen daher vor der Aufgabe, zu erklären, was es für ein moralisches Urteil bedeutet, wahr zu sein. Üblicherweise wird nun die Wahrheit eines normativen Urteils mit seiner Fähigkeit identifiziert, ein bestimmtes Testverfahren zu bestehen – weshalb dieser Theorietyp auch als prozeduraler Realismus bezeichnet wird.⁹ Als ein solches Verfahren wird beispielsweise von Nagel der „Blick von nirgendwo“ angeführt: die Distanzierung von den eigenen Wünschen und Interessen und die gleichberechtigte Berücksichtigung derjenigen anderer Subjekte.¹⁰ Ähnlich sind für Korsgaard in kantischer Nachfolge Begierden, die sich uns aufdrängen, daran zu messen, ob sie als Gesetz von Wesen mit moralischer Identität gewollt werden können.¹¹ Diese Verfahren sind dabei nicht etwa Methoden, um zu einer unabhängig von ihnen bestehenden objektiven normativen Wahrheit zu gelangen, sondern konstitutiv für die richtige Antwort auf die normative Frage. Ein generelles Problem für prozedural-realistische Positionen besteht daher darin, dass das Begründungsverfahren seinerseits nicht mehr an einem externen Maßstab gemessen werden kann. Dagegen halten John McDowell und David Wiggins im Rahmen sog. Sensibilitätstheorien nicht nur an der Wahrheitsfähigkeit normativer Urteile, sondern auch an der bezeichnenden Funktion normativer Ausdrücke fest. Gleichzeitig lehnen sie aber mit Mackie die Vorstellung von „mysteriösen Zusatzeigenschaften“ (mysterious extra features),¹² zu deren Erkenntnis ein nicht weiter erklärbares intuitives Vermögen postuliert werden muss, ab.¹³ Stattdessen rekonstruieren sie 7 Vgl. Met. IV 7, 1011b26. 8 Vgl. Williams, „Ethics and the Fabric of the World“, S. 174. 9 Korsgaard, The Sources of Normativity, S. 35. 10 Siehe Nagel, Der Blick von nirgendwo, Kap. VIII und IX. 11 Vgl. Korsgaard, The Sources of Normativity, S. 100–113. 12 McDowell, „Projection and Truth in Ethics“, S. 218. 13 McDowell, „Werte und sekundäre Qualitäten“, S. 206.
5.1 Normativitätstheorie nach Mackie
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Werte als Dispositionen, was McDowell anhand einer Analogie mit sekundären Qualitäten wie Farben ausführt.¹⁴ Demnach sollen Werteigenschaften durch den begrifflichen Bezug auf Reaktionen menschlicher Subjekte mitkonstituiert sein; im Unterschied zu Farben sind Werte aber nicht einfach Dispositionen, bestimmte Reaktionen hervorzurufen, sondern verdienen sie. Da sich aber die konstituierenden Reaktionen ihrerseits nicht individuieren lassen ohne Verweis auf normative Eigenschaften als ihre intentionalen Objekte, ergibt sich eine wechselseitige begriffliche Abhängigkeit, die von McDowell als no-priority view tituliert wird.¹⁵ Normative Eigenschaften sind daher subjektiv in dem Sinne, dass sie sich nicht ohne Bezug auf Dispositionen von Subjekten verstehen lassen, aber objektiv insofern, als sie den Gegenstand möglicher Erfahrung bilden und nicht lediglich „Einbildung“ (figment) eines Subjekts sind.¹⁶ Allerdings steht die Sensibilitätstheorie vor einigen Schwierigkeiten, die in ihrer Gesamtheit die Frage aufwerfen, ob es sich bei ihr überhaupt um eine stabile Position handelt. Insbesondere scheint zwischen der normativen Eigenschaft einer Handlung (z. B. ihrer Schamlosigkeit) und der angemessenen Reaktion darauf (Empörung) eine explanatorische Asymmetrie zu bestehen: Die Empörung ist angemessen, weil die Handlung schamlos ist, und nicht etwa umgekehrt. Dieser normative Primat der Eigenschaft ist (im Unterschied zum Fall der Farben) bereits darin angelegt, dass das Verhältnis zwischen Werteigenschaft und Reaktion als eines der Angemessenheit gefasst wird. Dann aber wird fraglich, wie eine Eigenschaft durch eine Reaktion mitkonstituiert sein soll, für die sie gleichzeitig den Maßstab der Angemessenheit abgeben soll.¹⁷ Aus diesen Gründen haben in den letzten etwa dreißig Jahren realistische Positionen neuen Auftrieb gewonnen. Realisten nehmen wie nicht-realistische Objektivisten und Sensibilitätstheoretiker gegen Nonkognitivisten und Irrtumstheoretiker an, dass normative Urteile grundsätzlich wahr sein können und manche von ihnen auch tatsächlich wahr sind. Ihre Wahrheit besteht jedoch nicht im Bestehen eines Testverfahrens und hängt auch nicht konstitutiv von den Reaktionen, Einstellungen, Wünschen usw. ab, die entweder der Beurteiler oder der Handelnde mit Bezug auf sie haben mag.¹⁸ Die Wahrheit normativer Urteile ist vielmehr von einer Übereinstimmung mit einer vorsprachlichen und nicht durch Subjektakte mitkonstituierten Dimension der Wirklichkeit abhängig; normative Ausdrücke wie „gut“ oder „richtig“ werden entsprechend als referierend auf bestimmte Aspekte 14 15 16 17 18
Ebd., S. 207–218; ähnlich Wiggins, „A Sensible Subjectivism?“ McDowell, „Projection and Truth in Ethics“, S. 221. McDowell, „Werte und sekundäre Qualitäten“, S. 210f. Vgl. Halbig, Praktische Gründe, S. 272; s. a. Sosa, „Pathetic Ethics“. Svavarsdóttir, „Objective Values“, S. 162.
116 | 5 Die Struktur des metanormativen Platonismus der Realität gedeutet. An der Frage, worum es sich bei dieser Dimension der Wirklichkeit handelt und wie sie sich zu anderen Aspekten verhält, lassen sich nun wiederum verschiedene Varianten des Realismus unterscheiden. Eine erste Gruppe von Theorien kann als „reduktionistischer Realismus“ bezeichnet werden. „Reduktionismus“ ist dabei in einem weiten Sinne zu verstehen, der alle Arten eines engen metaphysischen Abhängigkeitsverhältnisses wie Identität, Konstitutionsbeziehung, grounding usw. umfasst; normative Tatsachen werden also durch den Reduktionisten als abhängig von Tatsachen gedacht, auf die wir uns mit nicht-normativen Ausdrücken beziehen können. Entsprechend kommt den normativen Begriffen wesentlich bezeichnende Funktion zu; sie beziehen sich jedoch auf etwas, auf das man sich auch mit nicht-normativen Begriffen beziehen könnte. Solche Theorien weisen daher in der Regel die zweite der oben (S. 52) unterschiedenen Prämissen des Open-Question-Arguments zurück: Normative Begriffe stehen zwar wie nicht-normative tatsächlich in der Regel für etwas, aber Ausdrücke mit distinkten Bedeutungen müssen nicht auch auf verschiedene Entitäten referieren. Dies wird ermöglicht durch neuere Entwicklungen in der Sprachphilosophie der 1970er-Jahre. Während nach der traditionellen Auffassung die Referenz von Prädikaten durch ihren deskriptiven Gehalt bestimmt wird und Ausdrücke mit unterschiedlichem Gehalt daher typischerweise auch unterschiedliche Entitäten herausgreifen, beziehen sich sprachliche Ausdrücke sogenannten Direct-referenceTheorien zufolge unmittelbar auf ihre Referenten, ohne Vermittlung durch einen fregeschen Sinn. Das eröffnet die Möglichkeit, dass die Eigenschaften, auf die wir mit normativen Ausdrücken Bezug nehmen, mit Eigenschaften identisch sind, auf die wir mit nicht-normativen Ausdrücken Bezug nehmen, auch wenn es selbst für einen idealen Sprecher keine Möglichkeit gibt, diese Identität a priori, rein aufgrund der Bedeutung der enthaltenen Begriffe festzustellen. Die Reduktionsbasis für die normativen Eigenschaften wird von unterschiedlichen Spielarten des Reduktionismus verschieden konzipiert. Am nächstliegenden ist es sicherlich, die normativen Eigenschaften mit (Mengen von) natürlichen zu identifizieren. Richard Boyd etwa betrachtet das Wohlergehen des Menschen als ein komplexes homöostatisches, d. h. selbstverstärkendes Bündel von Gütern, die wichtige menschliche Bedürfnisse wie das Bedürfnis nach Liebe und Freundschaft oder das nach Ausübung von Kontrolle über das eigene Leben erfüllen; diese Güter werden dabei ebenso wie die relevanten Bedürfnisse vollkommen naturalistisch
5.1 Normativitätstheorie nach Mackie
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konzipiert.¹⁹ In der Grundidee ähnlich analysiert Peter Railton das menschliche Wohl als Erfüllung seiner „objektivierten subjektiven Interessen“.²⁰ Es ist jedoch wichtig zu sehen, dass ein reduktionistischer Realismus auch in Form eines Supernaturalismus auftreten kann, der normative Eigenschaften systematisch mit übernatürlichen, aber ebenfalls in einem nicht-normativen Vokabular beschreibbaren Entitäten in Verbindung bringt. Die bekannteste Form solcher Theorien ist der theologische Voluntarismus (oder divine command theory), der die Richtigkeit einer Handlung mit ihrem Gebotensein durch Gott identifiziert; vollständig reduktionistisch ist eine solche Theorie freilich erst dann, wenn sich auch Gott in einer nicht-evaluativen Weise erfassen lässt, etwa durch Verweis auf seine Allmacht. Es mag zunächst überraschen, Naturalismus und Supernaturalismus dergestalt als Geschwister in der Theorienfamilie kategorisiert zu sehen; doch wird dies durch die grundlegende strukturelle Übereinstimmung gerechtfertigt, dass wir uns sowohl dem Naturalisten als auch dem Supernaturalisten zufolge mit normativen Ausdrücken auf Entitäten beziehen, auf die wir uns prinzipiell auch mit nicht-normativen Ausdrücken beziehen können. Dies bestreiten die Anhänger einer „starken“ oder „robusten“ Form des Realismus. Solchen nicht-reduktionistischen Varianten zufolge ist die Wahrheit normativer Urteile nicht nur abhängig von ihrer Übereinstimmung mit einer vorsprachlichen Dimension der Wirklichkeit; diese Dimension muss zudem als „irreduzibel normativ“ in dem Sinne betrachtet werden, dass sich die normativen Eigenschaften nicht mit Eigenschaften einer anderen Art, insbesondere nicht mit natürlichen identifizieren lassen.²¹ Ein robuster oder starker metanormativer Realismus lässt sich also charakterisieren als die Konjunktion aus Kognitivismus, Erfolgstheorie, Subjektunabhängigkeit und Irreduzibilität normativer Tatsachen.²² Gelegentlich wird ein solcher starker Realismus auch als „Platonismus“ bezeichnet, womit jedoch in der Regel keine Bezugnahme auf den historischen Platon intendiert ist, sondern lediglich ein Anti-Reduktionismus zum Ausdruck gebracht wird. John Hare beispielsweise zufolge ist Platonismus die Position, nach der „das Gutsein (goodness) objektiv ist, in dem Sinne, dass es unabhängig von uns da ist […]. Etwas gut zu nennen bedeutet, es zu bewerten (evaluate) und auf eine Werteigenschaft zu verweisen – das Gutsein, was der Gegenstand besitzt“.²³ Und David Enoch versichert, er fühle sich nicht beleidigt, wenn man ihn als Platonisten bezeichne, auch wenn er nicht kompetent genug sei, die Ähnlichkeiten zwischen 19 Vgl. Boyd, „How to Be a Moral Realist“. 20 Railton, „Moral Realism“, S. 173–176. 21 Enoch, Taking Morality Seriously, S. 4. 22 Vgl. auch Oddie, Value, Reality, and Desire, Kap. 1 und Halbig, Praktische Gründe, S. 212. 23 J. Hare, God’s Call, S. 4.
118 | 5 Die Struktur des metanormativen Platonismus seiner eigenen Position und derjenigen Platons einzuschätzen.²⁴ Hier soll, wie im Folgenden deutlich werden wird, unter „Platonismus“ eine andere Position verstanden werden, die sich sowohl mit einem starken Realismus als auch mit „reduktionistischen“ Theorien verbinden lässt. Die paradoxe Aneignung bei gleichzeitiger Ablehnung des Ausdrucks „Platonismus“ in der gegenwärtigen Theorie der praktischen Normativität spiegelt den Umstand wieder, dass Platon, wie das vorige Kapitel plausibel machen sollte, zwar durchaus einen robusten metanormativen Realismus vertritt, aber in einer speziellen Spielart, die eine essentielle Bezugnahme auf Ideen beinhaltet – und dies ist eine Gesellschaft, in der die meisten zeitgenössischen Realisten, auch solche non-naturalistischer Couleur, lieber nicht gesehen werden möchten. Ausgehend von einer intuitiv plausiblen wahrheitstheoretischen Äquivalenz beschränken sich daher manche Realisten auf die Rede von normativen Tatsachen als ontologischem Gegenstück wahrer moralischer Urteile, so etwa Russ Shafer-Landau.²⁵ Andere dagegen – beispielsweise David Enoch²⁶ – sprechen aufgrund einer naheliegenden Ontologie der Tatsachen darüber hinaus auch von moralischen und allgemein evaluativen Eigenschaften.²⁷ Diesen Eigenschaften wird dann ein irreduzibel normativer Charakter zugesprochen, der sie von anderen Arten von Eigenschaften unterscheidet, wobei für die Bestimmung ihres ontologischen Status nichtsdestotrotz die Gegenstände der (Natur-)Wissenschaften den Bezugspunkt bilden: „In welchem Sinne auch immer es physikalische Tatsachen gibt, gibt es auch normative; in welchem Sinne auch immer es Wahrheit in der Biologie gibt, gibt es sie auch in der normativen Rede; in welchem Sinne auch immer es mathematische Eigenschaften gibt, gibt es auch normative.“²⁸ Nun wird die Frage nach der Ontologie von Eigenschaften in zeitgenössischen Konzeptionen eines starken Realismus meist implizit ausgeklammert; Enoch erklärt sogar ausdrücklich: „Ich möchte also […] gegenüber solchen allgemeinen metaphysischen Fragen [wie der nach dem Wesen von Eigenschaften] neutral bleiben“.²⁹ Er räumt aber zugleich auch ein, dass es „interessante Beziehungen“ zwischen einer metanormativen Theorie und der Metaphysik von Eigenschaften
24 Enoch, Taking Morality Seriously, S. 8. 25 Vgl. sein Moral Realism: a Defence, Index s. v. „moral facts“ (keine Einträge unter „moral properties“). 26 Vgl. ebd., S. 5. 27 Vgl. Halbig, Praktische Gründe, S. 212f. „Gegenstand unserer [moralischen] Urteile sind mithin keine evaluativen Einzeldinge […], sondern vielmehr evaluative Eigenschaften, von denen wir annehmen, dass sie durch die beurteilte Entität […] realisiert sind.“ (Hervorhebungen im Original.) 28 Enoch, Taking Morality Seriously, S. 5. 29 Ebd., S. 5.
5.2 Thesen, Typen und Probleme
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geben könne.³⁰ Ein bestimmtes Bild von Eigenschaften scheint beispielsweise G. E. Moore vor Augen zu haben, wenn er gut zu einer „einfache[n] und undefinierbare[n] Eigenschaft“ erklärt.³¹ Undefinierbar ist sie genau deshalb, weil sie einfach ist; nur komplexe, aus mehreren Bestandteilen in einer bestimmten Weise zusammengesetzte Entitäten lassen sich Moore zufolge definieren. Die Analogie, die er zur Verdeutlichung bemüht, ist die Farbe gelb; nicht verstanden als sekundäre Eigenschaft, die sich im Zusammenspiel von Objekt und Betrachter ergibt, sondern offensichtlich gedacht als einfacher Gegenstand der Wahrnehmung. In beiden Fällen, gut und gelb, besitzt die Eigenschaft keine interne Struktur mehr, über die sich sinnvoll etwas aussagen ließe, sondern bildet selbst einen der „letzten Bezugspunkte, über die alles Definierbare definiert werden muss“.³² Nach der Auffassung Platons dagegen kann man, wie das letzte Kapitel zeigen sollte, durchaus etwas über die interne Struktur und die ontologischen Voraussetzungen von Eigenschaften, auch normativen Eigenschaften, sagen. Aus der im letzten Kapitel an Platon gewonnenen metaphysischen Struktur sollen daher im Folgenden die Grundzüge einer systematischen Theorie des Guten im Sinne der (ethischen, ästhetischen, intellektuellen) Vortrefflichkeit entwickelt werden. Als metanormative Theorie kann der Platonismus dabei gegenüber der ontologischen Konstitution nicht-normativer Eigenschaften ausdrücklich neutral bleiben. Er tritt zudem, wie wir sehen werden, sowohl in reduktionistischen als auch in nicht-reduktionistischen Varianten auf.
5.2 Thesen, Typen und Probleme Im ersten Kapitel sind zwei wesentliche axiologische Charakteristika der Vortrefflichkeit (engl. excellence) herausgearbeitet worden: Zum einen verhält sie sich logisch attributiv, lässt sich also stets nur unter Bezug auf eine Art, der der betreffende Gegenstand zugehört, prädizieren. Zum anderen handelt es sich nichtsdestotrotz um eine Form des finalen Gutseins, insofern der vortreffliche Gegenstand um seiner selbst willen, nicht aufgrund seiner instrumentellen, kontributiven oder symbolischen Beziehung zum Wert von etwas anderem zu schätzen ist. Sein Wert lässt sich daher auch nicht durch Kriterientests abprüfen, die sich aus dem zugehörigen Artbegriff ergeben.
30 Ebd., S. 5. 31 Moore, Principia Ethica, S. 62. 32 Ebd., S. 61.
120 | 5 Die Struktur des metanormativen Platonismus Der metanormative Platonismus ist, das ist ein erstes wesentliches Bestimmungsmerkmal, eine realistische Theorie der Vortrefflichkeit. Als solche ist er, wie oben herausgearbeitet, zunächst auf einen Objektivismus verpflichtet: die These, dass es sich bei Aussagen über das Vorliegen von Vortrefflichkeit ihrer illokutionären Rolle nach um Urteile oder Behauptungssätze handelt (Kognitivismus), und dass manche dieser Urteile auch tatsächlich wahr sind (Erfolgstheorie). Im Unterschied zu anderen, prozeduralen Varianten des Objektivismus geht der Realismus zudem davon aus, dass ihre Wahrheit von der korrekten Repräsentation einer entsprechenden Dimension der vorsprachlichen Realität abhängt. Als genus proximum des Platonismus ist also ein realistischer Objektivismus festzuhalten, der sowohl reduktionistische als auch nicht-reduktionistische Spielarten besitzt. Eine realistische Deutung des Phänomens der Vortrefflichkeit sollte nun beide genannten Merkmale als Reflex einer zugrundeliegenden ontologischen Struktur verständlich machen. Insbesondere der logisch attributive Charakter legt eine platonistische Deutung nahe, nach der die Vortrefflichkeit (im Sinne der Individueninterpretation der Ideenlehre) als besondere Nähe oder Übereinstimmung mit einem idealen Maßstab zu bestimmen ist. Einerseits kann die Beziehung auf je unterschiedliche Ideale für verschiedene Typen von Gegenständen dem Umstand Rechnung tragen, dass ein Gegenstand immer nur vortrefflich als etwas ist; andererseits lässt sich die Verwandtschaft, das gemeinsame Merkmal der Vortrefflichkeit entweder so abbilden, dass es sich um dieselbe Art von Beziehung handelt, oder dadurch, dass sich die Ideale, wiewohl verschieden, durch ein gemeinsames Charakteristikum auszeichnen. Von anderen Arten des Realismus unterscheidet sich der Platonismus mithin (dies ist ein zweites konstitutives Merkmal) durch die Relationalität des Guten: die Vortrefflichkeit – dasjenige Element der Wirklichkeit, das unsere entsprechenden Urteile wahr macht – ist keine einfache Eigenschaft, sondern eine Relation. Wie dem auf der sprachlichen Oberfläche einfachen Attribut groß in der Wirklichkeit die Ist-größer-als-Beziehung entspricht und der Satz „Rosinante ist groß“ nur durch den Bezug auf eine (implizite) Vergleichsklasse wahr gemacht wird, so entspricht den linguistisch einstelligen Attributen wie „gut“ im Sinne von vortrefflich ontologisch eine zweistellige Entität. Das bedeutet nicht, dass dieser Umstand kompetenten Sprachbenutzern auch bewusst sein muss – es handelt sich beim metanormativen Platonismus also nicht um eine These über die Sprecherbedeutung dieser Ausdrücke. Nichtsdestotrotz ist es das Bestehen dieser Relation, was dem Platonismus zufolge die entsprechenden Urteile wahr macht. Diese Beziehung ist, wie wir schon am Begriff der Teilhabe bei Platon gesehen hatten, auf unterschiedliche Weise genauer gefasst worden: als Ähnlichkeit, als Nachahmung, als Abbildung. Die genauere Beschreibung dieser Beziehung, die Untersuchung
5.2 Thesen, Typen und Probleme
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der Vorzüge und Nachteile unterschiedlicher Varianten des metanormativen Platonismus stellt mithin eines der Desiderate für seine nähere Untersuchung dar. Eine dritte für den metanormativen Platonismus wesentliche These besagt, dass vortreffliche konkrete, raumzeitliche Objekte und Ereignisse wie Personen, Kunstwerke oder Handlungen in Beziehung zu einem abstrakten Ideal stehen. Um seine Funktion zu erfüllen, kann der ideale Maßstab, an dem die konkreten raumzeitlichen Objekte oder Ereignisse zu messen sind, nicht selbst ein Gegenstand von der Art sein, wie es die an ihm gemessenen Objekte sind; denn dies würde unweigerlich die Frage aufwerfen, weshalb genau dieses Exemplar das Ideal sein sollte. Wenn er selbst also keine konkrete Entität sein kann, ist er vermutlich als abstraktes Objekt zu betrachten, doch wie ist dieser Gegensatz genauer zu bestimmen? Und wodurch unterscheiden sich diejenigen abstrakten Entitäten, zu denen vortreffliche konkrete Gegenstände in Beziehung stehen, von anderen, nicht normativ paradigmatischen abstrakten Gegenständen wie Zahlen oder Propositionen? Das sind weitere Fragen, die von einer näheren Untersuchung des metanormativen Platonismus zu beantworten sind. Doch läuft die Bestimmung der Vortrefflichkeit als Relation zu einem abstraktidealen Objekt nicht schon dem zweiten genannten Charakteristikum der Vortrefflichkeit zuwider: ihrem finalen Charakter? Können Dinge noch um ihrer selbst willen wertvoll sein, wenn ihr Gutsein in einer Beziehung auf ein ihnen externes Ideal besteht? Es ist nicht zu leugnen, dass an dieser Stelle ein für den Platonismus kritisches Problem vorliegt, eines, dem Platoniker in der Geschichte der Philosophie³³ und der Theologie³⁴ oft genug zum Opfer gefallen sind. Wir können es als Problem der Weltabgewandtheit oder der teleologischen Unterordnung bezeichnen: Wenn konkrete Menschen, Ereignisse, Landschaften deshalb wertvoll sein sollen, weil sie in Beziehung zu einem vollkommenen Ideal stehen, dann ist dieses Ideal offenbar das „eigentlich“ oder „primär“ Wertvolle, und damit auch das angemessene Ziel des Strebens; das konkrete vortreffliche Objekt erscheint dann leicht entweder lediglich als Durchgangsstation auf dem Weg zu diesem Ziel, als Stufe, die man hinter sich lassen muss, oder als bloßer Fall einer Gattung. In beiden Fällen wird man seinem finalen Wert nicht gerecht. Etwas um seiner selbst willen zu schätzen oder zu lieben würde dagegen heißen, es wegen seiner individuellen Einzigartigkeit zu erstreben oder zu bewundern; und das bedeutet, dass, erstens, nicht ohne Verlust völlig darauf verzichtet werden kann und es sich zweitens auch nicht durch einen anderen, gleichartigen Gegenstand vollkommen schadlos ersetzen lässt (wie ein Bleistift durch einen
33 Dazu s. unten, Kap. 6 (Plotin). 34 S. etwa Augustinus, De doctrina christiana I, iv, 4.
122 | 5 Die Struktur des metanormativen Platonismus anderen). Um das Problem der teleologischen Unterordnung zu umgehen und den finalen Charakter der Vortrefflichkeit zu wahren, muss der Platonismus die Relation zwischen endlichem Objekt und abstraktem Ideal daher in einer Weise fassen, die die Bedingungen der Unverzichtbarkeit und der Unvertretbarkeit erfüllen kann. Der Umgang mit dem Problem der teleologischen Unterordnung bildet somit ein Adäquatheitskriterium für den Platonismus in seinen verschiedenen Ausprägungen. Die einfachste Form des metanormativen Platonismus stellt der reine theologische Voluntarismus dar: die These, dass etwas genau deshalb und in dem Maße gut ist, als es dem Willen Gottes als seines Schöpfers entspricht, wobei dieser Wille selbst nicht oder nur auf triviale Weise normativ qualifiziert werden kann – eine Auffassung, die mit dem Namen Ockhams verbunden ist. Damit wird das Gutsein als eine Entsprechungsbeziehung zum Willen eines abstrakten Objekts (obwohl man vielleicht besser von einem abstrakten Subjekt sprechen sollte) gedeutet, denn Gott kann es ja notwendigerweise nur einmal geben.³⁵ Doch auch wenn Wittgenstein diese Lösung des Euthyphron-Dilemmas als die „tiefere“ bezeichnet,³⁶ ist sie bekanntlich mit schweren Problemen belastet. „Was kann widersinniger sein“, fragt bereits Richard Price, „als aus der Gottheit einen bloßen Willen zu machen und ihn dann auf den Trümmern aller anderen Attribute zu preisen?“³⁷ Dieser Einwand läuft darauf hinaus, dass die Normativität evaluativer Eigenschaften verlorenginge, wenn man sie als Beziehung zu einer Entität erklärt, die ihrerseits von allen axiologischen Bestimmungen frei ist. Das entscheidende Merkmal Gottes ist dem reinen theologischen Voluntarismus zufolge seine Macht (auch Freiheit genannt); und daher muss alles, was so ist, wie es ein allmächtiges Wesen will – und sei es ein allmächtiger Teufel –, gut sein. Tatsächlich könnte man einen allmächtigen Teufel nicht einmal von einem allmächtigen Gott unterscheiden. Indem er evaluative Eigenschaften mit Strukturen identifiziert, die als solche selbst normativ neutral sind (die Übereinstimmung mit dem Willen eines allmächtigen Wesens), handelt es sich beim theologischen Voluntarismus um eine reduktionistische Form des metanormativen Platonismus – eine Variante, die die Irreduzibilität des Normativen leugnet. Es ist aber wichtig zu sehen, dass ein solcher platonistischer Reduktionismus keineswegs in theistischer Form auftreten muss; man kann sich beispielsweise eine Sicht vorstellen, die „Ideale“ als Mengen von natürlichen Eigenschaften bestimmt und dann den Grad des Gutseins als die Nähe zwischen der Menge aller Eigenschaften eines konkreten Objekts und seinem
35 Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles, cap. XLII. 36 So zitiert von Friedrich Waismann, Wittgenstein und der Wiener Kreis, S. 153. 37 Price, A Review of the Principal Questions in Morals (1758), Kap. 5, § 1.
5.3 Was ist ein abstraktes Objekt?
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jeweiligen Ideal bestimmt. Auch sie steht jedoch vor einem strukturell gleichen Problem wie der theologische Voluntarismus: Es bleibt keine Möglichkeit mehr, verschiedene solcher „Ideale“ selbst hinsichtlich ihres Wertes zu vergleichen; und damit droht die Identifizierung des Gutseins mit der Nähe zu einer bestimmten Menge von Eigenschaften selbst arbiträr zu werden. Eine solche Art von (in letzter Instanz) reduktionistischem nicht-theistischem metanormativem Platonismus vertritt, wie ich in Kap. 6 argumentieren werde, auch Plotin. Nichtreduktionistische, stark realistische Formen des metanormativen Platonismus setzen evaluative Eigenschaften dagegen mit der Beziehung zu einem seinerseits irreduzibel normativen abstrakten Objekt gleich. Auch solche Theorien können in einer theistischen und einer nicht-theistischen Variante vertreten werden, indem man den irreduzibel normativen abstrakten Pol der Beziehung entweder mit einem personalen Wesen gleichsetzt oder nicht; eine nicht-theistische Form wird in Kap. 7 (Murdoch) behandelt, ein nichtreduktionistisch-theistischer Platonismus in Kap. 8 (Adams). Alle Varianten des metanormativen Platonismus sind jedoch, wie sich zusammenfassend festhalten lässt, gekennzeichnet durch die genannten drei Thesen des Realismus (die Vortrefflichkeit ist ein subjektunabhängiger Bestandteil der Wirklichkeit), der Relationalität der Vortrefflichkeit (die Vortrefflichkeit ist ontologisch eine Relation) und der Abstraktheit des Ideals (das Ideal, auf das vortreffliche Gegenstände bezogen sind, ist ein abstraktes Objekt). Dies hatte, wie oben gesehen, bereits auf der Ebene der allgemeinen Bestimmung des metanormativen Platonismus weitere Fragen aufgeworfen: Was ist überhaupt ein abstraktes Objekt? Wie unterscheiden sich die abstrakten Objekte, die als idealer Maßstab für konkrete Objekte fungieren, von anderen, normativ irrelevanten abstrakten Gegenständen (wenn es solche gibt)? Und wie kann vor dem Hintergrund der ontologischen Bestimmung des abstrakten Objekts die Beziehung zwischen ihm und dem vortrefflichen konkreten Gegenstand näher gefasst werden? Diesen Fragen sind die folgenden Abschnitte dieses Kapitels gewidmet, bevor in den Folgekapiteln unterschiedliche Varianten des metanormativen Platonismus diskutiert werden sollen.
5.3 Was ist ein abstraktes Objekt? Nach weithin geteilter Auffassung ist alles, was es gibt, entweder konkret oder abstrakt.³⁸ Konkret sind beispielsweise Steine, Bäume, Häuser; Tiere und Personen; Protonen und elektromagnetische Felder; Wahrnehmungen und Gedankenblitze;
38 Vgl. Rosen, „Abstract Objects“.
124 | 5 Die Struktur des metanormativen Platonismus Sonnenfinsternisse, Schachpartien und Konzerte; das Schwarze Quadrat und das Autograph der Missa solemnis. Kandidaten für Abstrakta sind Zahlen, geometrische Figuren, Mengen, Begriffe, Propositionen, natürliche Arten, Eigenschaften, Beziehungen, fiktionale Objekte und platonische Ideen.³⁹ So gut wie niemand bestreitet, dass es konkrete Entitäten gibt; hingegen ist es ein spätestens seit Frege (wieder) heiß umkämpftes Problem, ob und, wenn ja, in welchem Sinne es abstrakte Objekte gibt. Das Hauptargument für die Existenz abstrakter Objekte geht dabei von einem von ihren Freunden und Gegnern geteilten Kriterium dafür aus, welche ontologische Verpflichtung (ontological commitment) man mit der Äußerung eines Satzes eingeht. Demnach verpflichten uns, vereinfacht gesprochen, nichtparaphrasierbare singuläre Ausdrücke in einfachen Sätzen, die wir für wörtlich wahr halten, auf die Existenz entsprechender Entitäten, nicht jedoch Prädikate. Wenn wir einen Satz der Form „a ist F“ für wörtlich wahr halten, sind wir also auf die Existenz von a verpflichtet, nicht aber auf die von F.⁴⁰ Wenn es nun wahre Sätze mit singulären Ausdrücken gibt, die man nicht anders denn als Bezeichnung eines abstrakten Objekts verstehen kann (z. B. „die Drei ist eine ungerade Zahl“), dann folgt trivialerweise, dass es abstrakte Gegenstände gibt.⁴¹ Umstritten ist natürlich für alle möglichen Arten singulärer Ausdrücke, ob sie tatsächlich nur als Namen für abstrakte Objekte verstanden werden können. Es wäre daher sicher hilfreich, über die Aufführung möglicher Beispiele hinaus notwendige und hinreichende Kriterien dafür angeben zu können, was ein abstraktes Objekt als solches gegenüber Konkreta auszeichnet (wobei die oben genannten Beispiele als Testfälle dienen können); dazu soll im Folgenden in Abgrenzung gegen gängige Bestimmungsversuche ein Vorschlag gemacht werden. Die naheliegende Charakterisierung als „nicht-physisch“ oder „immateriell“ etwa ist so lange wenig hilfreich, als diese notorisch problematischen Begriffe nicht in einer der im Folgenden zu diskutierenden Weisen näher bestimmt worden sind.⁴² Selbst dann aber, so lässt sich bereits jetzt festhalten, stellt sie allenfalls eine notwendige, nicht auch eine hinreichende Bedingung für Abstraktheit auf; denn wie auch immer man „physisch“ versteht, es scheint klar zu sein, dass es zumindest keine begriffliche Wahrheit sein kann, dass paradigmatisch konkrete Entitäten wie einzelne 39 Vgl. die Beispiele bei Künne (Abstrakte Gegenstände, S. 15) und Rosen („Abstract Objects“). 40 Vgl. Balaguer, „Platonism in Metaphysics“ und Bricker, „Ontological Commitment“. 41 Vgl. Balaguer, „Platonism in Metaphysics“. 42 Das Problem der Bestimmung des Physischen stellt sich insbesondere für die modernen Nachfahren der Giganten, die Physikalisten; denn ihre These besteht ja gerade darin, dass alles entweder physisch ist oder sich auf Physisches zurückführen lässt. Vgl. Crane und Mellor, „There is no Question of Physicalism“ und Stoljar, „Physicalism“.
5.3 Was ist ein abstraktes Objekt?
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mentale Zustände und Akte (Wahrnehmungen, Gefühle, Urteile) physischer Natur sind. Wenn jedoch diese konkreten Entitäten zumindest nicht in allen möglichen Welten auch physische Objekte sind, kann die Nicht-Physikalität nicht mehr als hinreichende Bedingung in die Intension der Abstraktheit eingehen. Ebenfalls naheliegend ist es, abstrakte Objekte durch ihre Nicht-Räumlichkeit zu bestimmen: Etwas ist ein abstraktes Objekt genau dann, wenn die Frage, wo es sich befindet, sinnlos ist (oder mit „nirgendwo“ beantwortet werden muss). Das gilt offenbar für Zahlen, Propositionen und abstrakte Artefakte, während Lampen, Schmerzen und Konzerte einen bestimmten Ort haben. Doch wird zumindest für Mengen diskutiert, ob sie nicht an dem Ort zu lokalisieren sind, wo sich ihre Elemente befinden,⁴³ so dass das Kriterium, wenn auch hinreichend, vielleicht nicht als notwendig gelten kann.⁴⁴ Frege, der als Vater des modernen Platonismus gilt, nutzt darum zwei andere Merkmale, um „logische Gegenstände“ wie Zahlen von physischen Gegenständen einerseits, von mentalen Gehalten (Vorstellungen) andererseits zu unterscheiden.⁴⁵ Sie sind zum einen „objektiv“ in dem Sinne, dass sie unabhängig von Bewusstseinsleistungen sind, für ihre Existenz also nicht auf die Existenz von Wesen mit mentalen Zuständen angewiesen sind; dies gilt natürlich auch für einen Großteil der genannten Beispiele für konkrete Objekte. Von diesen unterscheidet sie aber Frege zufolge ihre „Unwirklichkeit“. Damit kann jedoch zweierlei gemeint sein (und ist bei Frege an verschiedenen Stellen auch Verschiedenes gemeint).⁴⁶ Zum einen kann man „wirklich“ nennen, was, wie Frege schreibt, „auf die Sinne wirkt, oder was wenigstens Wirkungen hat, die Sinneswahrnehmungen zur nähern oder entferntern Folge haben können“;⁴⁷ abstrakte Objekte wären demnach in dem Sinne unwirklich, dass es ihnen an der Fähigkeit fehlt, „unmittelbar oder mittelbar auf die Sinne zu wirken“.⁴⁸ Dieses Kriterium spiegelt die einfache Tatsache wieder, dass man Zahlen im Unterschied zu Steinen eben nicht anfassen und nicht sehen kann, und besitzt daher eine hohe Anfangsplausibilität, obwohl auch die Möglichkeit wahrnehmbarer abstrakter Objekte vertreten worden ist.⁴⁹ Aber 43 Vgl. Maddy, Realism in Mathematics. 44 Räumlichkeit ist zudem einer plausiblen Auffassung zufolge ihrerseits von der Existenz konkreter Objekte abhängig. Diese Position ist als „Raumzeit-Relationalismus“ (spacetime relationalism) bekannt, im Gegensatz zum spacetime substantivalism, dem zufolge die Raumzeit und ihre Bestandteile fundamentale Bausteine der Wirklichkeit sind. Vgl. für einen Überblick über Positionen und Argumente Pooley, „Substantivalist and Relationalist Approaches to Spacetime“. 45 Vgl. Frege, Grundgesetze der Arithmetik, Bd. 2, S. 86. 46 Vgl. Künne, Abstrakte Gegenstände, S. 67. 47 Frege, Grundlagen der Arithmetik, S. 97. 48 Frege, Grundgesetze der Arithmetik, S. xviii. 49 Loux, Substance and Attribute, S. 60.
126 | 5 Die Struktur des metanormativen Platonismus selbst wenn es sich bei der Nicht-Wahrnehmbarkeit um eine notwendige Bedingung für Abstraktheit handelt, ist sie kaum hinreichend: Denn manche konkreten Objekte, beispielsweise Protonen oder Ultraschallwellen, sind zumindest für Menschen prinzipiell nicht wahrnehmbar. Versteht man die Nicht-Wahrnehmbarkeit hingegen so, dass sie sich auf alle nur denkbaren wahrnehmungsfähigen Wesen bezieht, kollabiert dieses Kriterium in die zweite Bedeutung, die „unwirklich“ bei Frege haben kann.⁵⁰ Laut dieser Auffassung kann etwas „Wirkliches“ „eine Wirkung hervorrufen und erleiden“,⁵¹ also in kausalen Beziehungen zu anderem stehen – als Ursache oder als Folge (oder beides, wenn auch nicht gleichzeitig). Die Unwirklichkeit abstrakter Objekte bestünde demnach darin, nicht kausal mit anderem verknüpft zu sein. Dass sie nicht in kausalen Wechselwirkungen stehen, dürfte für einen guten Teil der paradigmatischen abstrakten Objekte unumstritten sein: Zahlen und Mengen sind weder Ursachen noch Folgen von Ereignissen, und von der Idee, wie auch immer sie genau zu verstehen ist, sagt Platon, dass sie im Unterschied zu „dem anderen, was entsteht und vergeht“, „weder größer noch kleiner wird noch sonst eine Einwirkung erfahre“.⁵² Andererseits bezeichnet Platon die Ideen auch als „Ursachen“ (αἰτίαι), und dies ist zumindest von manchen Interpreten als Beleg dafür verstanden worden, dass von ihnen eine kausale Wirksamkeit ausgeht.⁵³ Auch Frege hält es, wie Künne hervorhebt,⁵⁴ in seiner späten Schrift „Der Gedanke“ für möglich, dass „Gedanken“ (Propositionen) kausal wirksam sind; denn „[w]elchen Wert könnte das ewig Unveränderliche für uns haben, das Wirkungen weder erfahren noch auf uns haben könnte?“.⁵⁵ Eine kausale Unwirksamkeit in dem Sinne, dass von abstrakten Objekte keinerlei Wirkungen ausgehen können, kann daher nicht als notwendige Bedingung angesetzt werden. Und sie ist sogar nicht einmal hinreichend. Denn wie der Epiphänomenalismus zeigt, dem zufolge das Bewusstsein nur ein Nebenprodukt körperlicher Vorgänge „ohne irgendwelche Kraft, Veränderungen hervorzurufen“ (without any power of modifying)⁵⁶ ist, sind nicht-abstrakte Entitäten, die keine kausale Wirksamkeit aufweisen, zumindest
50 Künne, Abstrakte Gegenstände, S. 65. 51 Frege, „Le Nombre Entier“, S. 212. 52 Platon, Symp. 211b. 53 So Bostock, Plato’s Phaedo, S. 151. Vgl. auch Platon, Rep. 379b, wo das Gute als Ursache des Guten – und nur des Guten – bezeichnet wird. 54 Künne, Abstrakte Gegenstände, S. 139. 55 Frege, „Der Gedanke“, S. 52 f. 56 Huxley, „On the Hypothesis that Animals are Automata, and Its History“, S. 240.
5.3 Was ist ein abstraktes Objekt?
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denkbar. Künne erklärt zurecht: „Der Epiphänomenalismus mag falsch sein, – inkonsistent ist er nicht.“⁵⁷ Frege erwägt daher am Ende von „Der Gedanke“, die Eigentümlichkeit von Gedanken (Propositionen) gegenüber konkreten Objekten dadurch zu fassen, dass erstere lediglich keine Veränderungen erfahren, während letztere in kausaler Wechselwirkung stehen.⁵⁸ Dies ist gleichbedeutend damit, Unveränderlichkeit als Kriterium der Abstraktheit auszuzeichnen. Dagegen lässt sich jedoch ins Feld führen, dass bestimmte abstrakte Objekte, insbesondere natürliche (biologische) Arten, durchaus eine Geschichte haben, die sich nicht ohne Weiteres als Geschichte einzelner ihrer Exemplare deuten lässt.⁵⁹ Zudem ist auch nicht klar, ob nicht manche Abstrakta zu einem bestimmten Zeitpunkt entstehen; abstrakte Artefakte, etwa die Missa Solemnis (im Unterschied sowohl zu Beethovens Autograph als auch zu ihren konkreten raumzeitlichen Aufführungen), könnten ein Beispiel dafür sein.⁶⁰ Umgekehrt dagegen scheint etwas, was sich (aus logischen Gründen) nicht verändern kann, auf den ersten Blick auch ein abstraktes Objekt sein zu müssen. Dieser Anschein wird zwar, wie Künne ausführt, durch von ihm sogenannte „Punkt-Ereignisse“ wie das Auftreffen eines Pfeils auf eine Zielscheibe widerlegt, die keine zeitliche Ausdehnung haben und daher auch keiner Veränderung unterliegen können, aber klarerweise Konkreta sind.⁶¹ Auch solche Ereignisse haben jedoch ein „Wann“, einen Ort in der Zeit. Eine Entität dagegen, die sich zeitlich nicht lokalisieren lässt, scheint zwingend ein abstraktes Objekt sein zu müssen. Zumindest das Fehlen einer zeitlichen Lokalisierbarkeit kann daher ebenso wie die Nicht-Räumlichkeit als hinreichende Bedingung für Abstraktheit gelten. Keines der betrachteten Kriterien ist also sowohl notwendig als auch hinreichend: Raumzeitlich nicht lokalisierbar zu sein, scheint zwar hinreichend zu sein, um als abstraktes Objekt gelten zu können, doch kann manchen abstrakten Objekten eine Position im Raum (Mengen) oder eine Geschichte in der Zeit (Arten, Artefakte) zugeschrieben werden. Nicht-Wahrnehmbarkeit und Objektivität wiederum sind zwar gute Kandidaten für notwendige Eigenschaften, aber nicht hinreichend, da es auch objektive und nicht-wahrnehmbare konkrete Entitäten gibt. Angesichts dieser Situation liegt es nahe, Abstraktheit mit Künne schlicht zu einer Familienähnlichkeit zu erklären.⁶² Doch möchte ich zumindest noch einen weiteren Vorschlag machen, die Unterscheidung zwischen abstrakten und 57 Künne, Abstrakte Gegenstände, S. 68. Vgl. auch Rosen, „Abstract Objects“. 58 Frege, „Der Gedanke“, S. 53. 59 Künne, Abstrakte Gegenstände, S. 49. 60 Vgl. Rosen, „Abstract Objects“. 61 Künne, Abstrakte Gegenstände, S. 59. 62 S. ebd., S. 95.
128 | 5 Die Struktur des metanormativen Platonismus konkreten Gegenständen präziser zu fassen. Falls sich dieser als unzureichend herausstellt, können wir, wie Mark Steiner in anderem Zusammenhang sagt, „immer noch auf Familienähnlichkeiten zurückgreifen“.⁶³ Der Anspruch dieses Vorschlags besteht durchaus darin, die intuitive Klassifikation von Entitäten zu rekonstruieren, wie sie sich in den einführend genannten Beispielen widerspiegelt; dabei gilt es freilich im Auge zu behalten, dass es, wie Gideon Rosen zurecht mahnt, „nicht unbedingt ein einzige ‚richtige‘ Erklärung“ dieser Unterscheidung gibt.⁶⁴ Der folgende Vorschlag soll daher auch nicht so sehr als Entscheidungskriterium für Zweifelsfälle dienen, sondern vielmehr eine gleichzeitig klare und fruchtbare Arbeitsgrundlage für die anschließenden Überlegungen liefern. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass es mehrere qualitativ identische Konkreta – zum Beispiel zwei in jeder Hinsicht gleiche Gläser – zumindest geben kann, während unverständlich ist, wie es den Typ „Glas“ zweimal geben sollte. Natürlich gibt es verschiedene Arten von Gläsern, etwa Weingläser und Wassergläser; nur sind diese dann eben untereinander nicht qualitativ identisch, sondern durch ihre Funktion und dadurch auch durch ihre Form verschieden. Ähnlich gibt es zwar viele Zeichen und Darstellungen von Zahlen, aber nur eine Zahl Sechs; viele Protonen, aber nur eine Menge aller Protonen; viele Aufführungen des Weihnachtsoratoriums, aber das Weihnachtsoratorium nur einmal. Selbst dort, wo es ein konkretes Objekt nur einmal gibt, ist zumindest denkbar, dass es weitere gleichartige Exemplare geben könnte, während jedes abstrakte Objekt notwendigerweise nur einmal existiert. Nun lässt sich einwenden, dass es die Sonnenfinsternis am 28. Mai 585 v. Chr. sicherlich genauso nur ein einziges Mal geben konnte wie den Koloss von Rhodos: zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort wären es ipso facto nicht mehr dieselben Entitäten. In diesem Sinne, der alle relationalen Eigenschaften wie Zeit- und Ortsbestimmungen mitumfasst, ist natürlich auch jedes konkrete Objekt allein mit sich selbst identisch. Dennoch bleibt es wahr, dass es eine zweite, „genau gleiche“ Statue auf Samos und eine zweite, „genau gleiche“ Sonnenfinsternis (mit identischem Anfangs- und Endpunkt, gleicher Größe usw.) hundert Jahre später hätte geben können. Trotz der notorischen Schwierigkeiten mit der Terminologie erscheint es am besten, diesen Gedanken in die Form zu kleiden, dass für jedes konkrete Objekt ein „Zwilling“ existieren könnte, der mit ihm alle intrinsischen Eigenschaften gemeinsam hat. Intrinsische Eigenschaften werden dabei verstanden als alle Ei-
63 Steiner, „Mathematical Explanation“, S. 135. 64 Rosen, „Abstract Objects“.
5.3 Was ist ein abstraktes Objekt?
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genschaften, die nicht extrinsisch sind, und extrinsische Eigenschaften als solche, die konstitutiv auf anderes Bezug nehmen; dazu zählen all jene Bestimmungen, die Aristoteles unter die Kategorie des Relativen (πρός τι) subsumiert, etwa größer, doppelt, Zustand, Wissen oder Sklave.⁶⁵ Es scheint mir plausibel, dass auch räumliche und zeitliche Bestimmungen in diesem Sinne als versteckt extrinsische Eigenschaften zu verstehen sind, da sie die Lage relativ zu anderen Objekten bzw. zu anderen Ereignissen bezeichnen.⁶⁶ Wenn dies korrekt ist, können wir ein abstraktes Objekt folgendermaßen bestimmen. Etwas (x) ist genau dann ein abstraktes Objekt, wenn für beliebiges y gilt: Wenn x und y alle intrinsischen Eigenschaften gemeinsam haben, dann sind x und y identisch. Logisch präziser ausgedrückt: Während das Prinzip der Ununterscheidbarkeit des Identischen (𝑥 = 𝑦 ⇒ ∀𝐹 (𝐹 𝑥 ⇔ 𝐹 𝑦)) sowohl für Konkreta als auch für Abstrakta uneingeschränkt gilt, kommt es beim konversen Identitätsprinzip des Ununterscheidbaren (∀𝐹 (𝐹 𝑥 ⇔ 𝐹 𝑦) ⇒ 𝑥 = 𝑦) auf die Interpretation der Formel an. Besteht der Wertebereich (das Universum, das die möglichen Werte für F umfasst) sowohl aus intrinsischen als auch aus extrinsischen Eigenschaften, so gilt das Prinzip sowohl für konkrete als auch für abstrakte Objekte: Es kann keine zwei Objekte x und y geben, weder konkrete noch abstrakte, die sich in allen Eigenschaften einschließlich ihrer räumlichen und zeitlichen Position gleichen, ohne identisch zu sein. Wird die Wertemenge dagegen auf intrinsische Eigenschaften beschränkt, so gilt es zwar weiterhin für abstrakte Objekte, für Konkreta dagegen Leibniz zum Trotz nicht. Auf diesem Umstand basiert die obige Definition eines abstrakten Objekts. Sie hat den Vorzug, dass sie die Welt „an den Gelenken“ zerlegt, also die intuitive Klassifikation ohne Probleme wiedergibt. Da ein Objekt dann als konkret zu gelten hat, wenn es nicht notwendigerweise nur einmal existiert, wird auch verständlich, weshalb die Dichotomie von abstrakt und konkret erschöpfend ist. Damit bleibt freilich vereinbar, dass die Klassifikation bestimmter Objekte problematisch ist, etwa die von Personen. Wo dies der Fall ist, reflektiert es jedoch lediglich den Umstand, dass unklar ist, ob sie mehrfach existieren könnten oder nicht. Offen kann ebenso bleiben, wie sich die Abstraktheit zu den anderen vorgeschlagenen Bestimmungen verhält, etwa der raumzeitlichen Nichtlokalisierbarkeit oder der Unveränderlichkeit; möglicherweise bestehen hier philosophisch interessante Beziehungen. Für unsere Zwecke ist jedoch vor allem interessant, dass 65 Vgl. Aristoteles, Cat. 7 (6a36–8b24). 66 Dies ist natürlich eine kontroverse Position in einer andauernden Debatte. Historisch verbindet sich der Name Newtons mit einer „absolutistischen“, derjenige Leibniz’ mit einer „relationalen“ Konzeption von Raum und Zeit; vgl. dazu Huggett und Hoefer, „Absolute and Relational Theories of Space and Motion“.
130 | 5 Die Struktur des metanormativen Platonismus Platon seinen Ideen ausdrücklich genau die Art von Singularität zuschreibt, die hier als Kern des Begriffs eines abstrakten Objekts entwickelt worden ist. An zwei Stellen diskutiert und verwirft Platon nämlich die Möglichkeit, dass es mehrere gleichartige Ideen geben könnte: in der Behandlung der „Idee des Bettes“ in Rep. X und im Beweis für die Einzigkeit des Kosmos im Timaios.⁶⁷ In beiden Fällen beruht das Argument darauf, dass die Annahme zweier gleichartiger Ideen (des Bettes bzw. des Lebewesens an sich) die Existenz einer weiteren Idee „über“ diesen impliziert, die die Gleichartigkeit der beiden erstgenannten erklärt; in diesem Fall ist aber die eine, höhere Idee richtigerweise als „das, was es ist“ (ὃ ἔστιν), also als eigentliche Idee anzusprechen, weil die Ideen wesentlich zur Erklärung der Gemeinsamkeit zwischen verschiedenen Gegenständen, die mit demselben Ausdruck belegt werden, dienen.⁶⁸ Es ist mithin genau die funktionale Rolle der Idee, die ihre notwendige Singularität garantiert. Auch platonische Ideen sind demnach abstrakte Objekte in dem hier entwickelten Sinn.
5.4 Ideale und Relationen Es ist problemlos möglich, ein metanormativer Realist zu sein und an die Existenz abstrakter Objekte zu glauben, ohne deshalb auch schon metanormativer Platonist in dem hier verwendeten Sinne zu sein: Man braucht lediglich die Behauptung, dass es eine einfache, unanalysierbare Eigenschaft des Gutseins gibt, mit der metaphysischen These zu verbinden, dass alle Eigenschaften abstrakte Objekte sind. Es lässt sich dafür argumentieren, dass dies tatsächlich die Position Moores darstellt.⁶⁹ Der metanormative Platonismus, wie er oben (Abschnitt 5.2) bestimmt wurde, betrachtet die Vortrefflichkeit dagegen nicht wie Moore als eine einfache, unanalysierbare Eigenschaft, sondern als Beziehung zwischen konkreten Objekten wie Personen, Werken oder Handlungen auf der einen Seite und abstrakten Idealen auf der anderen, die selbst nicht als Eigenschaften oder Aspekte in das konkrete Objekt eingehen. Gegenüber der Existenz anderer abstrakter Objekte, auch gegenüber der ontologischen Konstitution von Eigenschaften im Allgemeinen kann er sich als „selektiver Platonismus“ (Künne) neutral verhalten. Mit der Bestimmung abstrakter Objekte als notwendig singulärer Entitäten ist daher nicht mehr als ein genus proximum für eines der beiden Relata der Vortreff67 Rep. 597c, Tim. 31a. 68 Vgl. oben Abschnitt 4.1, S. 82. 69 Vgl. Darwall, Gibbard und Railton, „Toward Fin de siècle Ethics: Some Trends“, S. 115, wo Moore ein „heute weitgehend überholter intuitionistischer Platonismus“ zugeschrieben wird, offenbar als Position der allgemeinen Metaphysik.
5.4 Ideale und Relationen
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lichkeitsbeziehung gewonnen; es bleibt die Frage, wodurch sich die abstrakten Ideale von anderen möglichen Arten abstrakter Objekte, etwa Zahlen oder Mengen, unterscheiden und in welcher Beziehung die konkreten Objekte zu ihnen stehen. Denn offensichtlich ist nicht jede Beziehung zu einem beliebigen abstrakten Objekt eine evaluative Eigenschaft, etwa das Wissen um einen mathematischen Lehrsatz. Dabei wäre es vorschnell, die abstrakten Ideale als irreduzibel normative Entitäten zu konstruieren, gibt es doch, wie wir oben (Abschnitt 5.2, S. 122) sahen, auch reduktionistische Formen des Platonismus. Umso dringender stellt sich das Problem einer formalen Abgrenzung der abstrakten Ideale gegenüber anderen abstrakten Objekten. Worin also besteht die Idealität abstrakter Ideale? Sie kann nicht darin liegen, dass das abstrakte Objekt in genau derselben Weise (wenn auch vielleicht notwendigerweise oder in einem höheren Grade) über eine evaluative Eigenschaft verfügt wie ein konkretes Objekt; in diesem Fall wäre der metanormative Platonismus nämlich bereits aufgegeben, denn evaluative Eigenschaften sollen ja gerade als Beziehungen zu idealen abstrakten Objekten analysiert werden. Ebenso wenig kann man sich auf Nicolai Hartmanns Konzeption eines „idealen Seinsollens“ stützen, das seiner Auffassung nach noch vor jedem aktualen Seinsollen und jedem Tunsollen als „eigentümliche Modalität“ die Werte gegenüber anderem ideal Ansichseienden wie den mathematischen Objekten auszeichnet, ohne dass es deswegen mit dem Wertcharakter selbst identisch wäre. Dieses ideale Seinsollen der Werte besteht in ihrem „Gerichtetsein auf die Sphäre des Wirklichen“, ihrer „Tendenz auf Realität“, ihrem „Durchbrechen aus dem Idealen ins Reale“;⁷⁰ damit gemeint ist aber nichts anderes als ein „Realisiert-Sein-Sollen“ idealer (d. h. bei Hartmann abstrakter, unveränderlicher und kausal unwirksamer) Werteigenschaften. Hartmanns Äußerung zum Trotz, dass Werte „der Seinsweise nach platonische Ideen“ seien,⁷¹ ist er daher nicht als metanormativer Platonist im hier gemeinten Sinne zu betrachten (sondern „Platoniker“ allenfalls im Sinne der Universalieninterpretation der Ideenlehre). Dennoch können seine Überlegungen vielleicht in die richtige Richtung weisen. Ihnen liegt ja der Gedanke zugrunde, dass sich die idealen Werte gegenüber anderen abstrakten Objekten, z. B. denen der Mathematik, durch ihre besondere Beziehung auf den Bereich konkreter Objekte auszeichnen; der Zahl Drei ist es gewissermaßen einerlei, wie viele Gruppen die Anzahl drei haben, während das Schöne gleichsam „nicht gleichgültig gegen reales Sein und Nichtsein“ ist.⁷² Dieser
70 Hartmann, Ethik, S. 172. 71 Ebd., S. 121. 72 Ebd., S. 172.
132 | 5 Die Struktur des metanormativen Platonismus Unterschied lässt sich so fassen, dass den idealen abstrakten Objekten ein Vorbildcharakter für einen mehr oder weniger weiten, mehr oder weniger eng umrissenen Bereich konkreter Objekte zukommt. Just dies scheint Platon ja auch im Sinn zu haben, wenn er von den Ideen als παραδείγματα spricht. Was bedeutet und woher rührt diese Paradigmatizität? Sie ist insofern relational, als ein vorbildliches Objekt notwendig immer vorbildlich in Bezug auf etwas anderes ist; ein für sich allein existierendes Objekt lässt sich nicht sinnvoll als Muster bezeichnen (außer vielleicht im Hinblick auf potentiell existierende Gegenstände). Dieses andere wird am Vorbild gemessen, das daher übertragen als Maßstab bezeichnet wird. In diesem Sinne war zumindest längere Zeit per Konvention das Urmeter in Paris Maßstab für andere Messinstrumente; so kann aber auch eine Person als Vorbild für ihre Abbildungen dienen, die entsprechend als mehr oder weniger getreu bezeichnet werden können. Nichts scheint jedoch vorbildlich für sich selbst sein zu können, denn Vorbildlichkeit oder Maßstäblichkeit impliziert, dass das Gemessene unterschiedlich abschneiden kann mit Bezug auf den Maßstab. Wenn daher ein Ausdruck dergestalt relational zu verstehen ist, dass er angibt, wie nahe etwas einem Maßstab kommt, kann er nicht in demselben Sinne auf den Maßstab angewendet werden. (Deshalb ist das Urmeter nicht einen Meter lang.)⁷³ Wenn wir die idealen abstrakten Objekte als Paradigmata begreifen, müssen wir also sagen, dass sie tatsächlich nicht in derselben Beziehung zu sich selbst stehen können, in der sich die konkreten Objekte zu ihnen befinden. Bei evaluativen Relationen wie der Vortrefflichkeit geht es jedoch um eine spezifische Form von Paradigmatizität. Ein Stock, der fast so lang ist wie das Urmeter, ist dadurch nicht besser als einer, der nur einen halben Meter lang ist; und eine Abbildung, die weniger exakt ist, ist nur dann schlechter als die getreuere, wenn maximale Wirklichkeitstreue das Ziel des Künstlers war. Konkrete Objekte, die auf abstrakte in der Weise der Vortrefflichkeit bezogen sind, sind dagegen desto besser, je näher sie ihnen kommen. Dies ist darin begründet, dass die Vorbildlichkeit des Urmeters ein Ergebnis bloßer Konventionen ist, während die Paradigmatizität idealer abstrakter Objekte Folge ihrer natürlichen Konstitution ist. Ein abstraktes Objekt ist demnach genau dann ideal, wenn es mögliche konkrete Objekte gibt, für die gilt: Die Natur des abstrakten Objekts legt fest, wie sie sein sollen. (Man kann dies als die These vom idealen Seinsollen der konkreten Objekte bezeichnen.) Anders formuliert: Ein Ideal ist ein von Natur aus paradigmatisches abstraktes Objekt. Man beachte, dass diese allgemeine Bestimmung einer näheren Charakterisierung der Quellen der Paradigmatizität sowohl bedürftig als auch fähig ist:
73 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 50.
5.4 Ideale und Relationen
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Der Vorbildcharakter wird ja nicht als primitive Eigenschaft abstrakter Objekte betrachtet, sondern als in ihrer Natur gegründet. Dies eröffnet Raum sowohl für reduktionistische als auch für nicht-reduktionistische Spielarten des Platonismus. Während reduktionistische, etwa supernaturalistische Varianten die relevante Natur in einem nicht-normativen Vokabular beschreiben zu können meinen, betrachten nicht-reduktionistische Platonismen abstrakte Ideale als irreduzibel normativ in dem Sinne, dass evaluative Eigenschaften wie die Vollkommenheit zu ihren intrinsischen Merkmalen zählen. Zwischen der Paradigmatizität und der intrinsischen Natur muss dabei – ähnlich wie bei Hartmann im Verhältnis zwischen Wertcharakter und „idealem Seinsollen“⁷⁴ – eine „strenge Korrelation“, eine „Wechselbedingtheit“ bestehen, ohne dass beide als identisch zu betrachten sind: Einerseits verweist der Paradigmacharakter des Ideals auf eine dahinterstehende Natur, andererseits bringt die Natur notwendig die Paradigmatizität für konkrete Objekte mit sich. Beide Formen stehen daher gleichermaßen vor der Aufgabe, verständlich zu machen, wie sich die Paradigmatizität aus der jeweiligen Natur ergibt: Weshalb sollten konkrete Objekte in einer bestimmten Weise sein, nur weil abstrakte Objekte in einer bestimmten Weise sind? Zweitens ist mit der Feststellung, dass sich die idealen abstrakten Objekte durch ihre natürliche Paradigmatizität auszeichnen, noch nichts darüber gesagt, in welcher Beziehung vortreffliche konkrete Objekte wie Personen oder Handlungen zu ihren Idealen stehen. Wenn die Paradigmatizität auf der intrinsischen Natur der Ideale beruht, so dass diese Natur festlegt, wie bestimmte konkrete Objekte sein sollen, liegt es jedoch nahe, deren Gutsein in einer „Übereinstimmung“, „Entsprechung“ oder „Ähnlichkeit“ mit dem abstrakten Ideal zu sehen. Eine solche Entsprechungsbeziehung setzt nicht unbedingt Gleichheit von Eigenschaften voraus: Wir können auch sagen, jemand habe dem Willen eines anderen „entsprochen“, ohne dass Wille und Handlung irgendwelche gemeinsamen Merkmale aufwiesen. Alles, was dazu erforderlich ist, ist, dass die Handlung diejenige ist, die der andere gewollt hat. Wenn man die Vortrefflichkeitsbeziehung also als eine Entsprechungsrelation fasst, ist dieser Begriff so weit zu verstehen, dass er alle möglichen Weisen umfasst, so zu sein, wie es eine äußere Instanz vorgibt. Wie genau die Übereinstimmung oder Entsprechung konzipiert wird, hängt entscheidend davon ab, ob man ein reduktionistisches oder nicht-reduktionistisches, personales oder nicht-personales Bild der idealen abstrakten Objekte vertritt. Versteht man die Ideen beispielsweise als Gedanken Gottes – eine Konzeption, die zuerst im Mittelplatonismus formuliert wurde –, dann liegt es nahe, die Übereinstimmung konkreter Objekte mit ihnen nach dem Muster der Verwirklichung der
74 Hartmann, Ethik, S. 172.
134 | 5 Die Struktur des metanormativen Platonismus Konzeption eines Künstlers im Kunstwerk zu deuten; sind die idealen abstrakten Objekte dagegen allgemeine Strukturen, so kann die Entsprechung sehr viel punktueller und unspezifischer sein. Dennoch lassen sich in Anlehnung an die obige Analyse der Teilhaberelation bei Platon⁷⁵ zumindest vier Punkte nennen, durch die sich eine Entsprechungsbeziehung auszeichnen muss. Die Relation zwischen konkretem Objekt und abstraktem Ideal ist zum einen graduell; sie besteht nicht nur (oder eben nicht) wie die Eltern-Kind-Beziehung, sondern weist auch höhere und niedrigere Grade auf, etwa wie die Beziehung „ist wärmer als“. Zweitens ist die Beziehung asymmetrisch, vergleichbar der Größerals-Relation: Wenn A zu B in dieser Beziehung steht, bedeutet das, dass dasselbe nicht auch für B im Verhältnis zu A gilt; wenn A B entspricht, bedeutet das, dass B nicht auch A entspricht. Aus diesem Grund sind Nachahmung und Abbildung im Übrigen weniger irreführende Metaphern für das Gemeinte als der Ausdruck „Ähnlichkeit“, der üblicherweise als symmetrisch verstanden wird. Drittens ist die Entsprechungsbeziehung irreflexiv: Nichts entspricht in der gemeinten Weise sich selbst. Und schließlich lässt sich sagen, dass die Entsprechungsbeziehung grundsätzlich transitiv ist: Wenn A B entspricht und B C, dann entspricht A auch C. Dies ist jedoch insofern einzuschränken, als die Gradualität der Beziehung dazu führen kann, dass zwei sehr schwache Entsprechungsbeziehungen zwischen A und B sowie B und C dazu führen, dass zwischen A und C keine Entsprechung mehr vorliegt. Das abstrakte Ideal ist also ein abstraktes Objekt, das durch seine Natur paradigmatisch für einen gewissen Bereich von konkreten Objekten ist; wenn diese vortrefflich sind, stehen sie zur paradigmatischen Natur des abstrakten Objekts in einer graduellen, asymmetrischen, irreflexiven und meist transitiven Entsprechungsbeziehung. Diese Bestimmungen sind freilich noch sehr allgemein gehalten und bedürfen der Konkretisierung durch eine nähere Charakterisierung der Natur sowie der Art und Weise, in der konkrete Objekte ihr entsprechen oder mit ihr übereinstimmen können. Drei unterschiedliche Weisen, dies vorzunehmen, werden in den nächsten Kapiteln dargestellt und diskutiert. Dennoch lässt sich bereits an dieser Stelle die Frage stellen, ob der metanormative Platonismus schon aufgrund seiner allgemeinen Struktur mit bestimmten Explananda einer Theorie der Vortrefflichkeit besonders gut umgehen kann oder besondere Probleme hat. Dies wird dann zugleich einen Leitfaden für die kritische Betrachtung seiner einzelnen Formen an die Hand geben.
75 Vgl. oben Abschnitt 4.4, S. 110.
5.5 Der Platonismus und die Explananda der Vortrefflichkeit | 135
5.5 Der Platonismus und die Explananda der Vortrefflichkeit Es dürfte deutlich geworden sein, dass der metanormative Platonismus keine ontologisch sparsame Theorie ist; nicht nur nimmt er (zumindest in seinen stärkeren Varianten) intrinsisch und irreduzibel normative Entitäten an, sondern hält diese auch noch für abstrakte Objekte. Damit macht er sich gewissermaßen zweier Verbrechen schuldig. Zwar kann der metanormative Platonismus in beiden Fällen auf Komplizen verweisen: für die intrinsische Normativität realistisch konzipierter Entitäten auf den robusten Realismus, für die Annahme abstrakter Objekte auf den Platonismus in der Philosophie der Mathematik. Daher ist diese Position metaphysisch vielleicht nicht so abwegig, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Dennoch bleibt natürlich die Frage, welche Gründe dafür sprechen könnten, sie einem „mooreschen Realismus“ einfacher, unanalysierbarer evaluativer Eigenschaften vorzuziehen. In diesem Abschnitt soll der Platonismus daher einer Prüfung anhand der oben (Kap. 3) herausgearbeiteten Explananda einer Theorie der Vortrefflichkeit unterzogen werden. Dabei zeigt sich, dass der logisch attributive Charakter der Vortrefflichkeit, die Parallelität ihres syntaktischen Verhaltens zu dem rein deskriptiver Ausdrücke, die Spezifizierbarkeit und die Supervenienz zugunsten des Platonismus sprechen, während die Nichtsubstituierbarkeit, der (phänomenologische) motivationale Internalismus und die Kategorizität weiterer Erklärungsarbeit bedürfen. Beginnen wir mit dem logisch attributiven Charakter der Vortrefflichkeit, der in Kap. 1 ausgeführt wurde: Wenn zwei Gegenstände, etwa ein Musikstück und eine bewundernswerte Handlung, beide als vortrefflich bezeichnet werden, dann scheinen sie nicht einfach dieselbe Eigenschaft, Vortrefflichkeit, aufzuweisen – sonst ergäben sich inakzeptable Folgerungen. Darin liegt eine Schwäche des mooreschen Realismus, der das Gutsein und somit auch die Vortrefflichkeit als eine einfache Eigenschaft versteht. Denn wenn das richtig ist, dann müsste sich die Vortrefflichkeit logisch prädikativ verhalten. Daraus folgte jedoch, dass Sokrates, ein vortrefflicher Philosoph, auch ein vortrefflicher Ehemann ist – er ist ja vortrefflich und Ehemann. Das aber erscheint als so absurd wie die Behauptung, ein großer Floh sei ein großes Tier. Vielmehr ist sowohl beim Musikstück als auch bei einer bewundernswerten Handlung ein impliziter Maßstab mitzudenken: die Komposition ist vortrefflich als Musikstück, die Tat als Handlung. Dieser Relativierung auf eine zugehörige Bezugsklasse vermag der Platonismus in eminenter Weise gerecht zu werden: Er kann einerseits darauf verweisen, dass verschiedene Klassen von konkreten Objekten zu unterschiedlichen abstrakten Objekten in Beziehung stehen können, die ihnen entsprechend als Maßstab dienen. Dennoch muss der Begriff der Vortrefflichkeit
136 | 5 Die Struktur des metanormativen Platonismus nicht als äquivok betrachtet werden, so als bezeichne er in der Anwendung auf verschiedene Gegenstände völlig Unterschiedliches und nur zufällig mit dem gleichen Namen Belegtes. Denn es ist, zweitens, trotzdem dieselbe Entsprechungsbeziehung (je nach Variante Ähnlichkeit, Nachahmung o. Ä.), in der die unterschiedlichen konkreten Objekte zu ihren jeweiligen Idealen stehen. Es ist daher gerade die doppelte Charakterisierung der Vortrefflichkeit durch die Art der Beziehung einerseits und das abstrakte Bezugsobjekt andererseits, die es dieser Deutung ermöglicht, die Artrelativität der Vortrefflichkeit abzubilden. Etwas ist genau deshalb vortrefflich nur als Mitglied einer bestimmten Klasse von Objekten, weil diese Klasse auf ein gemeinsames, für sie spezifisches Ideal bezogen ist. Der Platonismus kann ferner auch leicht erklären, weshalb sich Ausdrücke, die in der einen oder anderen Weise auf die Vortrefflichkeit Bezug nehmen, in unbehaupteten Kontexten wie Konditionalgefügen genau so verhalten wie in behaupteten (der Frege-Geach-Punkt, vgl. o. Abschnitt 3.1.5). Dies ist eine Stärke, die er mit anderen realistischen Theorien normativer Eigenschaften, ob in naturalistischer oder in nicht-naturalistischer Form, teilt: Einer Theorie, die solche evaluativen Ausdrücke für im Wesentlichen beschreibender Natur hält, kann es naturgemäß nicht schwerfallen, zu erklären, weshalb sich ihre Bedeutung durch syntaktische Operationen in derselben Weise verändert wie die (anderer) deskriptiver Ausdrücke. Auch in nicht-behaupteten Kontexten beziehen diese Ausdrücke ihre Bedeutung aus der Beziehung auf denjenigen Gegenstand in der Wirklichkeit, für den sie stehen, und dies erlaubt es, gültige komplexe Argumente aus ihnen zu formen. Dass der Ausdruck „gut“ im Sinne von „vortrefflich“ dem Platonismus zufolge für eine Relation auf ein abstraktes Objekt und nicht für eine einfache Eigenschaft steht, tut dem keinen Abbruch: Er ließe sich an allen Stellen seines Vorkommens durch einen Ausdruck wie „realisiert das Ideal X“ ersetzen, und der Wahrheitswert der ihn enthaltenden Propositionen bliebe identisch. Drittens ist darauf zu verweisen, dass der Platonismus auch das Merkmal der Spezifizierbarkeit sehr gut erfassen kann. Als „Spezifizierbarkeit“ war oben (Abschnitt 3.1.4) das Merkmal der logischen Grammatik des Ausdrucks „gut“ bezeichnet worden, dass sich jedes Objekt, das gut genannt wird, auch in anderen, dichteren normativen Kategorien beschreiben lassen muss. Eine herausragende Handlung mag etwa mutig, selbstlos und großzügig sein, ein überwältigendes Kunstwerk tief, wohlausgewogen oder klar; in jedem Fall muss eine Charakterisierung eines Objekts als gut auf nähere Nachfrage – was macht diese Handlung oder dieses Kunstwerk so großartig, so besonders? – die Spezifikation durch dichtere evaluative Merkmale erlauben. Dies erklärt sich nun dem Platonismus zufolge dadurch, dass die Vortrefflichkeit in einer Entsprechungsbeziehung mit einem abstrakten Objekt besteht. Denn ganz allgemein gilt, dass eine Entsprechung zwischen zwei Objekten nur dann vorliegen kann, wenn diese in einer bestimmten
5.5 Der Platonismus und die Explananda der Vortrefflichkeit | 137
Weise konstituiert sind: eine bildliche Darstellung kann beispielsweise nur dann getreu sein (auch dies eine Entsprechungsbeziehung), wenn sich bestimmte ihrer Merkmale erkennbar auf Merkmale des Vorbilds beziehen; eine Operation kann einen Befehl nur dadurch erfüllen, dass sie ein bestimmtes Ziel verfolgt, sich dabei gewisser Mittel bedient und von anderen Abstand nimmt usw. Im Falle der Vortrefflichkeit ist die Entsprechungsrelation nun dadurch konstituiert, dass das konkrete Objekt bestimmte evaluative Merkmale aufweist – diese sind eben die Merkmale, durch die das konkrete Objekt mit seinem abstrakten Ideal übereinstimmt. Die nähere Spezifizierbarkeit der Vortrefflichkeit erweist sich so als Spezialfall einer allgemeineren metaphysischen Gesetzmäßigkeit. Man beachte, dass diese Erklärung der Spezifizierbarkeit dem Realismus nur in seiner platonischen, nicht in seiner einfachen, „mooreschen“ Form zu Gebote steht. Die Supervenienz scheint für den Realismus ein besonderes Problem darzustellen. Als sprachliches Phänomen wurde sie oben (Abschnitt 3.1.3) wie folgt eingeführt: „Zwei Urteile ‚x ist G‘ und ‚y ist nicht G‘ implizieren zusammen für einen beliebigen normativen Ausdruck ‚G‘, dass sich x und y in ihren natürlichen Eigenschaften unterscheiden.“ Bezeichnet „G“, wie der Realist meint, eine Eigenschaft in der Wirklichkeit, dann wird die Supervenienz zu einer erklärungsbedürftigen ontologischen Tatsache, nämlich dem Umstand, dass sich zwei Gegenstände nur dann in ihren evaluativen Eigenschaften unterscheiden können, wenn sie sich auch in ihren natürlichen Eigenschaften unterscheiden. Aber warum sollten die evaluativen Eigenschaften nicht frei über den natürlichen verteilt sein? Mark Schroeder schreibt: Es wird allgemein für (fast) unumstritten gehalten, dass die Menge aller normativen Eigenschaften und Relationen in allen möglichen Welten über der Menge aller nicht-normativen Eigenschaften und Relationen superveniert. Wenn dies stimmt, folgt daraus, dass sich eine Vielzahl möglicher Kombinationen normativer mit nicht-normativen Eigenschaften als metaphysisch unmöglich erweist. Dies jedoch scheint zumindest nach irgendeiner Art von Erklärung zu verlangen. Immerhin braucht es nicht besonders viel, um einfach nur möglich zu sein.⁷⁶
Kann ein metanormativer Platonismus eine überzeugende Antwort auf die Herausforderung geben? Wenn die Vortrefflichkeit metaphysisch in nichts anderem besteht als in einer (asymmetrischen) Entsprechungsrelation eines konkreten zu einem abstrakten Objekt, dann, so scheint es, verwandelt sich die Aufgabe in die folgende: Warum steht ein Objekt x, das in allen seinen natürlichen Eigenschaften identisch mit Objekt y ist, notwendigerweise in der Entsprechungsbeziehung zum idealen abstrakten Objekt X, wenn y in dieser Beziehung zu X steht? Un76 M. Schroeder, Slaves of the Passions, S. 70.
138 | 5 Die Struktur des metanormativen Platonismus ter natürlichen Eigenschaften können wir dabei für die gegenwärtigen Zwecke schlicht nicht-normative Eigenschaften verstehen. Dazu zählen sämtliche, auch extrinsische Merkmale des in Frage stehenden Gegenstandes; andernfalls wäre die Supervenienzthese nicht einmal plausibel. Während ein Original ein geniales Kunstwerk sein kann, handelt es sich bei der x-ten Reproduktion unter Umständen nur noch um ein Klischee. Daher müssen auch relationale Eigenschaften wie die Produktionsbedingungen, Seltenheit usw. zur subvenienten Basis zählen. Es ist natürlich schwierig, das Supervenienzproblem einer Auflösung zuzuführen, ohne an irgendeiner Stelle bereits eine metaphysisch primitive Supervenienzrelation zu postulieren. Immerhin wirkt die Annahme, dass zwei konkrete Objekte x und y, die sich hinsichtlich aller ihrer natürlichen Eigenschaften entsprechen, auch in derselben Entsprechungsbeziehung zu einem idealen abstrakten Objekt X befinden, mehr als natürlich; sie könnten diesem Ideal, so scheint es, nur dann in unterschiedlichem Grade entsprechen, wenn sich auch ein Unterschied in ihren natürlichen Eigenschaften aufweisen lässt. Doch worin besteht der Zusammenhang zwischen den natürlichen Eigenschaften eines Objekts und dem Grad, in dem es seinem Ideal X entspricht? Es dürfte wohl unplausibel sein, anzunehmen, dass das Ideal bis auf die Ebene der subvenientesten nicht-normativen Eigenschaften festlegt, wie das konkrete Objekt sein soll. Plausibler ist es, davon auszugehen, dass das abstrakte Objekt durch seine Natur das Seinsollen eines bestimmten Bereichs von konkreten Objekten in Bezug auf ihre dichten Eigenschaften bestimmt: etwa so, wie das Ideal eines tugendhaften Menschen bestimmte Kardinaltugenden wie Gerechtigkeit, Mut, oder Besonnenheit (oder bestimmte kardinale Laster wie Grausamkeit, Zynismus oder Hochmut) festlegt; dabei kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass die dichten Eigenschaften in antinomischer Form auftreten und sich nicht gemeinsam im höchsten Grade realisieren lassen, wie etwa Feinfühligkeit und Gestaltungskraft. Der Grad, in dem ein konkretes Objekt dem Ideal entspricht, besteht dann in dem Maße, in dem es die durch dieses bestimmten dichten Eigenschaften aufweist. Zwei Gegenstände, die dieselben dichten Eigenschaften aufweisen, würden demnach dem Ideal im gleichen Maße entsprechen. Nun erscheint es jedoch als eine begriffliche Wahrheit, dass zwei Gegenstände mit denselben natürlichen (nicht-normativen) Eigenschaften auch dieselben dichten Eigenschaften aufweisen, dass also die dichten Eigenschaften über den natürlichen (global) supervenieren; dichte Eigenschaften sind ja gewissermaßen hylemorphistische Gebilde, die ein charakteristisches normatives Gepräge an oder in einer nicht-normativen Materie realisieren. Aber wenn gilt, dass zwei konkrete Objekte mit denselben natürlichen Eigenschaften dieselben dichten Eigenschaften haben und zwei Objekte mit denselben dichten Eigenschaften ihrem abstrakten Ideal in demselben Maße entsprechen, dann entsprechen konkrete Objekte mit
5.6 Zusammenfassung | 139
denselben natürlichen Eigenschaften dem Ideal in demselben Maße. Dann aber sind sie nach platonistischer Auffassung auch in gleichem Maße vortrefflich; und damit ist die Supervenienz erklärt. Freilich hängt diese Erklärung an der (recht plausiblen) Annahme, dass dichte normative Eigenschaften über natürlichen supervenieren. Dagegen lassen sich die Merkmale der Nichtsubstituierbarkeit normativer durch nicht-normative Begriffe, des motivationalen Internalismus und der Kategorizität auf der Ebene der allgemeinen Struktur des metanormativen Platonismus keiner überzeugenden Erklärung zuführen, was nicht ausschließt, dass diese Merkmale bestimmte Formen des Platonismus eher nahelegen als andere. Ausdrücke mit normativem Gehalt lassen sich nicht ohne Bedeutungsveränderung durch natürliche Begriffe ersetzen; dies gilt nicht weniger für Ausdrücke wie „vortrefflich“ oder „gut“ im einschlägigen Sinne. Dieser Umstand wird nicht dadurch erklärt, dass diese Ausdrücke eine Relation zwischen einem konkreten Objekt und seinem abstrakten Ideal bezeichnen; wenn diese Relation etwa so beschaffen ist, dass sich auf sie auch mit vollständig nicht-natürlichem Vokabular Bezug nehmen lässt, dann ist es prima facie eine offene Frage, worin der Bedeutungsunterschied zwischen einer normativen und einer nicht-normativen Bezeichnung begründet sein sollte. Ähnlich lässt sich fragen, warum die Tatsache, dass etwas in einer Entsprechungsbeziehung zu einem abstrakten Ideal steht, jedermann einen Grund geben sollte, ihm gegenüber bestimmte Handlungen zu unterlassen (Kategorizität). Genauso wenig ist klar, warum die Einsicht in das Bestehen dieser Entsprechungsbeziehung dazu führen sollte, dass Akteure bereit sind, sich ihm gegenüber in einer bestimmten Weise zu verhalten. Diese Merkmale der Phänomenologie des Ausdrucks „gut“ und seiner Verwandten sind daher auf der Ebene der unterschiedlichen Spielarten platonistischer Theorien zu erklären.
5.6 Zusammenfassung In diesem Kapitel wurde der metanormative Platonismus als systematische Struktur der Normativitätstheorie eingeführt, auf allgemeiner Ebene expliziert und anhand der Explananda der Vortrefflichkeit geprüft. Innerhalb des in Abschnitt 5.1 skizzierten Spektrums der zeitgenössischen Theorien praktischer Normativität lässt sich der Platonismus als eine Form des Realismus einordnen: Ausdrücke für die Vortrefflichkeit (wie etwa „gut“ im einschlägigen Sinne) beziehen sich auf eine subjektunabhängige Dimension der Realität, und sie enthaltende Urteile sind wahr, wenn das bezeichnete Merkmal dem Subjekt der Aussage tatsächlich zukommt. Doch lässt sich der Platonismus nicht eindeutig der „reduktionistischen“ oder der „starken“ Variante des Realismus zuordnen, sondern tritt in beiden Spielar-
140 | 5 Die Struktur des metanormativen Platonismus ten auf. Was ihn auszeichnet, ist vielmehr, dass er das logisch attributive finale Gutsein nicht als einfache Eigenschaft betrachtet, sondern als Relation zu einem abstrakten Ideal (Abschnitt 5.2). Je nachdem, ob dieses abstrakte Ideal als irreduzibel normativ konzipiert wird oder nicht, lässt sich dann ein „starker“ von einem „reduktionistischen“ Platonismus unterscheiden. Unter einem abstrakten Objekt ist dabei, wie in Abschnitt 5.3 vorgeschlagen wurde, eine notwendig singuläre Entität zu verstehen: eine Entität, mit der kein anderes Objekt sämtliche intrinsischen Eigenschaften teilen könnte, ohne mit ihm auch numerisch identisch zu sein. Von anderen abstrakten Objekten unterscheiden sich die Ideale der Vortrefflichkeitsrelation durch ihre Paradigmatizität, d. h. den Umstand, dass sie durch ihre Natur für einen kleineren oder größeren Bereich konkreter Gegenstände festlegen, wie diese sein sollen. Wenn sie so sind, wie sie sollen, stehen diese Gegenstände in einer (weit gefassten) Entsprechungsbeziehung zu ihren Idealen, die graduell, asymmetrisch, irreflexiv und (zumeist) transitiv ist (Abschnitt 5.4). Eine solche allgemeine Struktur kann mit einer Reihe von Explananda der Vortrefflichkeit gut umgehen, wie der Abschnitt 5.5 zeigen sollte: Während der Frege-Geach-Punkt natürlich für keine Variante des Realismus ein Problem darstellt, spricht der logisch attributive Charakter der Vortrefflichkeit spezifisch für den Platonismus, und auch die Spezifizierbarkeit des Guten durch dichtere evaluative Begriffe und die Supervenienz über natürlichen Eigenschaften lassen sich durch den Platonismus mit einigen nicht zu abwegigen Zusatzannahmen plausibel erklären. Dagegen finden die Charakteristika der Nichtsubstituierbarkeit des Ausdrucks „gut“ durch natürliche Begriffe, des motivationalen Internalismus und der Kategorizität nicht ohne Weiteres eine Erklärung auf der Ebene der allgemeinen Struktur. Sie sind daher, ebenso wie die Fragen nach der Beziehung der Vortrefflichkeit zum Bösen und zur Pflicht und das Problem der teleologischen Unterordnung (Wie kann etwas um seiner selbst willen und damit final gut sein, wenn seine Vortrefflichkeit in der Beziehung auf ein abstraktes Ideal besteht?), in der sich anschließenden Untersuchung verschiedener Formen des metanormativen Platonismus zu betrachten.
6 Plotin: Streben nach dem Einen An die Darstellung der Struktur des metanormativen Platonismus schließen sich in diesem und den folgenden beiden Kapiteln drei Studien zu Philosophen an, deren Positionen – so die These – sich als je verschiedene Ausprägungen dieser Grundstruktur verstehen lassen (neben Plotin Iris Murdoch als moderne nicht-theistische Platonistin in Kap. 7 und Robert M. Adams als Theist in Kap. 8). Alle drei beziehen sich explizit und affirmativ auf Platon als den „Philosophen, unter dessen Banner sie kämpfen“ (Murdoch). Die Auswahl dieser Autoren rechtfertigt sich dadurch, dass sie zum einen bestimmte Varianten des Platonismus in prototypischer Form entfalten, was erlaubt, strukturelle Vorzüge und Schwächen dieser Varianten herauszuarbeiten. Zum anderen verweist sie sowohl auf die philosophiehistorische als auch auf die fortgesetzte systematische Relevanz des Platonismus. Daran, dass sich Plotin in der Nachfolge Platons sieht, lässt er keinen Zweifel:¹ „Diese Lehren sind also nicht neu, nicht jetzt erst, sondern schon längst, wenn auch nicht klar und ausdrücklich, gesagt, und unsere jetzigen Lehren stellen sich nur dar als Auslegung jener alten, und die Tatsache dass diese Lehren alt sind, erhärten sie aus dem Zeugnis von Platos eigenen Schriften.“² Nicht unmittelbar klar ist dagegen, ob Plotin auch als metanormativer Platonist in dem im letzten Kapitel eingeführten Sinne gelten kann. Die Schwierigkeit der Beantwortung dieser Frage resultiert vornehmlich daraus, dass sich Plotin in einem Kontext wesentlich anders strukturierter philosophischer Debatten bewegt und seine Überlegungen demgemäß in einer völlig anderen Sprache formuliert als der der zeitgenössischen Normativitätstheorie. Nichtsdestotrotz lässt sich an seine Position die systematische Anfrage richten, ob sie eine Form von metanormativem Platonismus darstellt: ob Plotin als Realist zu verstehen ist, ob die relevante Eigenschaft des Gutseins als 1 Ob zu Recht oder zu Unrecht, ist natürlich die Gretchenfrage nicht so sehr der Plotin-, aber doch der Platonforschung. Für eine Perspektive, die Plotins Metaphysik des Einen „in allen wesentlichen Aspekten schon bei Platon ausgebildet“ sieht, vgl. Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen, hier S. 32. 2 V 1 [10] 8, 11–15. Die Übersetzungen sind hier wie im Folgenden der Übersetzung Richard Harders, fortgeführt von Rudolf Beutler und Willy Theiler (Neubearbeitung Hamburg (Meiner) 1956–1967), entnommen. Zusätzlich zur traditionellen Enneadenzählung ist in eckigen Klammern, wie seit einiger Zeit üblich, die Nummer nach der chronologischen Zählung angegeben. Sie ist durch Plotins Schüler und Herausgeber Porphyrios überliefert, auf den auch ihre systematische Einteilung in sechs Gruppen à neun Schriften, die sogenannten Enneaden, zurückgeht. Diese Einteilung ließ sich freilich nicht ganz ohne Gewalt erreichen; so hat erst Porphyrios die Traktate III 8, V 8, V 5 und II 9 (30–33 der chronologischen Ordnung), die ursprünglich „eine einzige zusammenhängende Schrift bildeten“, getrennt und „in drei verschiedenen ‚Enneaden‘ untergebracht“ (Richard Harder, Vorwort zum ersten Band der Plotin-Übersetzung, S. IX). Es ist daher nicht ganz korrekt, von 54 Traktaten Plotins zu sprechen. https://doi.org/10.1515/9783110623871-006
142 | 6 Plotin: Streben nach dem Einen Relation gedeutet wird und ob es sich bei der Entität, zu der vortreffliche konkrete Objekte in Beziehung stehen können, um ein abstraktes Objekt handelt. Die positive Antwort auf diese Fragen erlaubt es, Plotin auch systematisch als Platonisten zu bezeichnen (Abschnitt 6.1). Sie leitet über zu der weiteren Frage, welcher Variante des metanormativen Platonismus sich Plotins Position zurechnen lässt. Ist die relevante Natur des „Einen“, das in seiner Konzeption als abstraktes Ideal fungiert, selbst als irreduzibel normativ zu betrachten oder nicht? Trotz einiger gegenteiliger Indizien werde ich in Abschnitt 6.2 dafür plädieren, dass das Eine Plotin zufolge zwar aufgrund seiner Natur Quelle der Normativität (des Sein-Sollens) für andere, konkrete Objekte ist, aber selbst in keinem Sinne mehr als gut bezeichnet werden kann. Damit handelt es sich bei Plotin um einen Vertreter eines reduktionistischen Platonismus. Diese Position ist gleichzeitig – wenn auch nicht ausschließlich – für eine Reihe problematischer Aspekte seiner Moralphilosophie verantwortlich (Abschnitt 6.3). Auch eine platonistische Normativitätstheorie ist nicht immun gegen Einwände, die sich aus ihren vermeintlichen oder tatsächlichen moralischen Irrtümern speisen; dies gilt umso mehr für einen Philosophen wie Plotin, der die „Härte der antiken Ethik“³ auf einen Höhepunkt treibt. Die moralischen Schwierigkeiten betreffen insbesondere Plotins fragwürdiges Verhältnis zu menschlichem Leiden überhaupt und zum Bösen im Besonderen, das Problem der Selbstzentriertheit sowie das Problem der teleologischen Unterordnung (siehe o. S. 121). Dabei bedarf es freilich einer genauen Offenlegung der Grundlagen, aus denen heraus Plotin seine Urteile fällt, um festzustellen, welche Probleme dem metanormativen Platonismus anzulasten sind, welche nur Plotins bestimmter Version der allgemeinen Struktur und welche solchen Auffassungen, die sich auf ganz andere Gebiete, etwa die Seelenlehre oder die Kosmologie, beziehen.
6.1 Plotins Platonismus In diesem Abschnitt wird es um die Frage gehen, ob die Lehre Plotins die Bedingungen erfüllt, die oben als gemeinsam hinreichend und notwendig für die Klassifikation als metanormativer Platonismus genannt wurden. Zunächst ist dabei zu prüfen, ob es sich um eine Form von metanormativem Realismus handelt; danach, ob die normativen Eigenschaften als Relation konzipiert werden; und schließlich, ob diese Relation auf ein ideales abstraktes Objekt verweist.
3 Inge, The Philosophy of Plotinus, Bd. 2, S. 124.
6.1 Plotins Platonismus | 143
6.1.1 Plotin als metanormativer Realist Fraglos hält Plotin einige normative Aussagen in einem ganz elementaren Sinne für wahr, wenn auch nicht unbedingt dieselben, die wir für wahr zu halten geneigt sind. Immer wieder fordert er zur „Flucht“ auf, die eine Rückkehr in die geistige Wirklichkeit meint, der die Seele entstammt (Werner Beierwaltes spricht von einem „Appell an den Einzelnen, aus dem als ‚normal‘ erfahrenen Leben herauszukommen“).⁴ Demselben Geist entstammt die wohl berühmteste Mahnung des Plotin: Kehre ein zu dir selbst und sieh dich an; und wenn du siehst daß du noch nicht schön bist, so tu wie der Bildhauer, der von einer Büste, welche schön werden soll, hier etwas fortmeißelt, hier etwas ebnet, dies glättet das klärt, bis er das schöne Antlitz an der Büste vollbracht hat: so meißle auch du fort was unnütz und richte was krumm ist, das Dunkle säubere und mach es hell und laß nicht ab ,an deinem Bild zu handwerken‘ bis dir hervorstrahlt der göttliche Glanz der Tugend, bis du die Zucht erblickst ,thronend auf ihrem heiligreinen Postament‘.⁵
Die Notwendigkeit dieser Reinigung, der „Flucht“ wird häufig dadurch begründet, dass „dort“ für uns das Gute sei.⁶ Auch der Geist, der die sich selbst denkenden Ideen umspannt, wird mit seinen Attributen Vernunft und Leben als „gutgestaltig“ (ἀγαθοειδής) bezeichnet, und eine rein formale Bestimmung des Guten als Objekt eines (beliebigen) Strebens wird von Plotin strikt abgelehnt: „Ziel des Trachtens nun muss das Gute sein; es darf aber nicht dadurch, dass es das Ziel des Trachtens ist, gut werden, sondern dadurch, dass es gut ist, das Ziel des Trachtens.“⁷ Dabei geht es um mehr als um die bekannte These der klassischen, antik-mittelalterlichen Handlungstheorie, nach der jedes Handeln auf ein Gut gerichtet ist, d. h. das Ziel eines Handelns immer nur in einer Hinsicht angestrebt werden kann, in der es als gut begriffen wird (sub specie boni), wie etwa auch der erste Satz der
4 Beierwaltes, Das wahre Selbst, S. 100. 5 I 6 [1], 9, 7–15. 6 Zum Beispiel VI 9 [9], 9, 21–23: „Jenes ist ihr [der Seele] Urgrund und Ziel, Urgrund weil sie von dort, und Ziel weil das Gute dort, weil sie dort einmal angelangt wieder das wird was sie eigentlich war.“ 7 VI 7 [38], 25, 16–18. Ähnlich I 6 [1], 7, 4: „Erstrebt wird es sofern es gut ist, und unser Streben richtet sich auf es als ein Gutes“, und VI 7 [38], 28, 24–28: „So ergreift also, wenn diese Darlegungen richtig sind, der Aufstieg nach oben das Gute als etwas in der Wirklichkeit Vorhandenes (ἐν φύσει τινὶ κείμενον), es macht nicht das Trachten das Gute, sondern das Trachten findet statt, weil ein Gutes da ist, es wird denen, die das Gute besitzen, in diesem Besitz etwas Lustvolles zuteil.“
144 | 6 Plotin: Streben nach dem Einen Nikomachischen Ethik ausdrückt.⁸ Die sokratisch-platonische Tradition⁹ versteht die Aussage, dass „das Gute dasjenige ist, wonach alles strebt“, durchaus so, dass sich jedes Streben auf das tatsächlich Gute, niemals auf ein bloßes Scheingut bezieht. So schreibt Plotin: „Ferner genügt es den Menschen, nur ,schön zu scheinen, auch wenn sie es nicht sind‘; das Gute aber wollen sie ,nicht nur dem Anschein nach besitzen‘.“¹⁰ Im Phänomen des Strebens ist daher dieser Analyse zufolge eine Unterscheidung zwischen einem nur scheinbaren und einem tatsächlichen Guten bereits mitgegeben. Diese Unterscheidung, die nicht durch Subjektleistungen konstituiert ist, ist hinreichend, um Plotin als metanormativen Realisten zu betrachten. Ist sie auch hinreichend, um nicht nur von „dem Guten“, sondern auch vom Gutsein konkreter Objekte sprechen zu können?
6.1.2 Das Gut der Seele In seiner chronologisch letzten Schrift „Das erste Gute“ (I 7 [54]) fasst Plotin seine Überlegungen in Bezug auf das Gute in folgender Weise zusammen: Wer könnte in etwas anderem das Gute für jedes Wesen erblicken, als in dem seiner Anlage gemäßen Vollzug des Lebens? Und hat ein Wesen Vielheit in sich, was anderes könnte man sein Gutes nennen, als die eigene Betätigung (τὴν ἐνεργείαν οἰκείαν) seiner besten Kraft ihrer Anlage gemäß und ohne je nachzulassen? Für die Seele also ist die Betätigung ihrer selbst ihr anlagegemäßes Gute [sic] (τὸ κατὰ φύσιν ἀγαθόν). Richtet sie nun gar ihre Betätigung auf das Beste und ist selber von bester Art, dann ist das nicht allein für sie das Gute, sondern das ist schlechthin gut (ἁπλῶς τοῦτο ἀγαθὸν ἂν εἴη). Und wenn ein Ding nun nicht sich in Richtung auf ein anderes betätigt, weil es selber das Beste von allem Seienden ist und jenseits alles Seienden, die andern Dinge vielmehr richten sich auf Es, dann ist klar, dass dies das Gute (τὸ ἀγαθόν) sein muss, durch welches den andern erst am Guten teilzunehmen ermöglicht wird; und zwar haben die andern, soweit sie es in diesem Sinne überhaupt haben, das Gute in zweifacher Weise, einmal, indem sie Ihm ähnlich geworden sind, ein andermal, indem sie ihre Betätigung auf Es richten.¹¹
In dieser Passage lassen sich mindestens drei verschiedene Bedeutungen unterscheiden, in denen von „dem Guten“ gesprochen wird. Die erste ist der Vollzug der natürlichen (anlagegemäßen) Lebensaktivität; dieser lässt sich entsprechend
8 „Jede Kunst und jede Lehre, desgleichen jede Handlung und jeder Entschluß, scheint ein Gut zu erstreben, weshalb man das Gute treffend als dasjenige bezeichnet hat, wonach alles strebt.“ EN I.1, 1094a 1–3. 9 Vgl. EN III.6, 1113a 15–23. 10 V 5 [32], 12, 23–24. 11 I 7 [54], 1, 1–13.
6.1 Plotins Platonismus | 145
als das „anlagegemäße“, „natürliche“ oder, wie ich es im Folgenden bezeichnen werde, das interne Gut (τὸ κατὰ φύσιν ἀγαθόν) bezeichnen. Dabei handelt es sich um den „Zustand“ eines Wesens, das von sich her in unterschiedlichen Zuständen sein kann; der „gute Zustand“, das natürliche Gutsein ist daher relativ zur Art der Entität, um die es jeweils geht. Das interne Gut verweist jedoch gleichzeitig auf eine externe Entität, etwas, das zu unterscheiden ist sowohl von der im internen Sinne guten Entität als auch von ihrer Aktivität; dies ist insofern gut für anderes, als es die Beziehung oder Betätigung in Richtung auf diese Entität (πρὸς αὐτὸ) ist, die das interne Gutsein für anderes konstituiert. Bislang haben wir zwei relative Bedeutungen von „gut“ betrachtet: Die Aktivität von A ist für A gut; insofern die Aktivität von A auf B gerichtet ist, kann aber auch B als „das Gute für A“ bezeichnet werden. Plotin will davon jedoch einen nicht-relativen, absoluten Sinn von „gut“ abheben, wenn er schreibt, dass die Betätigung auf „das Beste“ nicht nur gut für A ist, sondern „schlechthin gut“. Betrachten wir diese drei miteinander verbundenen Bedeutungen von „gut“ im Einzelnen. Für den Menschen besteht das interne Gut im Glück. Glück (τὸ εὐδαιμονεῖν) ist für Plotin keine Qualität oder Eigenschaft eines Lebens, sondern eine Form von Leben.¹² Wäre das Glück einer der anderen Kandidaten der antiken Tradition, etwa Wohlleben oder Lust (εὐζωία, ἡδονή), die Erfüllung der spezifischen Funktion (des ἔργον) oder das naturgemäße Leben (κατὰ φύσιν ζῆν), dann müssten auch außermenschliche Lebewesen, bis hin zu den Pflanzen, glücklich sein können; dies jedoch wird von Plotin abgelehnt. Da er gleichzeitig an der Auffassung festhält, dass Glück eine Form von Leben ist, bleibt nur, verschiedene Arten von Leben zu unterscheiden: „Leben“ ist äquivok, wie Plotin ganz ausdrücklich erklärt;¹³ es kann sowohl das vegetative Leben bezeichnen wie das Leben des vernunftlosen Tieres und das geistige, vernünftige Leben. Für einen Menschen und einen Kaktus heißt Leben also durchaus nicht dasselbe, obwohl auch die Seele des Menschen vegetative Funktionen wie Wachstum und Fortpflanzung übernimmt. Diese verschiedenen Bedeutungen von „Leben“ sind jedoch keineswegs bloß homonym, sondern stehen in einem bestimmten systematischen Zusammenhang. Primär ist dabei nicht, wie modernem Denken naheliegt, das vegetative Leben als die am weitesten geteilte Bedeutung von Leben, sondern im Gegenteil das vernünftige Leben. Es stellt die eigentliche, paradigmatische Form von Leben dar; alle anderen Arten von Leben sind demgegenüber unvollkommen, bloße Abbilder, nicht rein.¹⁴
12 I 4 [46], 3, 2. 13 I 4 [46], 3, 20. 14 I 4 [46], 3, 35–37.
146 | 6 Plotin: Streben nach dem Einen Näherhin unterscheiden sich die verschiedenen Lebensformen hinsichtlich ihres Grades an „Trübung“ (ἀμυδρότης) und „Bestimmtheit“ (τρανότης), also etwa: an Bewusstheit und Expliziertheit (I 4 [46], 3, 21f.). Plotin folgert daraus, dass auch das gute Leben einer bestimmten Art zum guten Leben des Geistes in einem Abbildverhältnis steht.¹⁵ Dies schafft Raum für eine gleichzeitige prinzipielle Anerkennung des axiologischen Vorrangs der menschlichen, geistig bestimmten Natur und der Möglichkeit eines guten Lebens anderer Lebensformen, wenn auch notwendig geringerer Art.¹⁶ Das Vernunftleben ist nun nicht eine akzidentell hinzutretende Bestimmung des Menschseins, sondern das Menschsein besteht im Besitz des Vernunftlebens, wenn auch nur potentiell; der aktuale Besitz des Vernunftlebens ist das Glück.¹⁷ Dies bezeichnet Plotin auch als das „vollkommene Leben“,¹⁸ weil dieses Leben „hinreichend“ (αὐτάρκης) zum Glück ist – für den Glücklichen gibt es kein Gut mehr, das er nicht schon besitzt.¹⁹ Zwar verbleiben ihm weiterhin gewisse äußere Ziele; was er jedoch weiterhin erstrebt, ist für ihn kein Gut (ἀγαθόν), sondern eine bloße Notwendigkeit für etwas ihm Angehöriges, nämlich seinen Körper.²⁰ Wenn das interne Gut des Menschen in aktualer Vernunftaktivität besteht, wird gleichzeitig deutlich, wie das interne Gut auf ein externes Gut angewiesen ist. Im plotinischen Kosmos ist für alles das jeweils „vor“ ihm Seiende das Gute. Wie Dominic J. O’Meara ausgeführt hat, drückt die natürliche oder ontologische Priorität (πρότερος κατὰ φύσιν καὶ οὐσίαν) eine nichtreziproke Abhängigkeit aus: A ist demnach primär gegenüber B, wenn das Sein von B von dem von A abhängig ist, während das Umgekehrte nicht gilt. In dieser Bestimmung wurde bewusst der unbestimmte Ausdruck „das Sein von“ gewählt, um zu verdeutlichen, dass die natürliche Priorität nicht auf kausale oder materielle Abhängigkeit beschränkt ist: Sie bezeichnet jede Art von einseitiger Existenzbedingung, so etwa auch das Verhältnis einfacher mathematischer Strukturen zu komplexeren wie das der Zahl Eins zur Zwei (die Zwei ist für ihr Sein auf das der Eins angewiesen, aber nicht umgekehrt) oder das des Punkts zur Linie (der Punkt kann ohne die Linie existieren, die Linie aber nicht ohne Punkte). Diese Konzeption der ontologischen Priorität geht auf Platon zurück, wie Aristoteles und Alexander von Aphrodisias bezeugen. Für Platon sind die wahrnehmbaren Gegenstände ontologisch abhängig von den 15 I 4 [46] 3, 23f. 16 Zum Begriff der εὐδαιμονία bei Plotin vgl. auch Himmerich, Eudaimonia, Rist, The Road to Reality, Kap. 11, sowie den Kommentar von Kieran McGroarty zu Enn. I 4, Plotinus on Eudaimonia. 17 I 4 [46], 4, 9–11. 18 I 4 [46], 3, 30f.; I 4 [46], 3, 36; I 4 [46], 4, 1; I 4 [46], 4, 12. 19 I 4 [46], 4, 23. 20 I 4 [46], 4, 25–27.
6.1 Plotins Platonismus | 147
Formen oder Ideen (eine einzelne, wahrnehmbare Pflanze ist für ihr Sein auf das Pflanze-Sein angewiesen), und die Ideen wiederum sind – den Berichten über die sogenannte „ungeschriebene Lehre“ zufolge – ontologisch abhängig von den zwei fundamentalen Prinzipien der platonischen Metaphysik, dem „Einen“ und der „unbestimmten Zweiheit“ oder dem „Groß-und-Kleinen“. Auch Plotin gebraucht explizit das Konzept der natürlichen Priorität, ergänzt es aber durch den Gedanken, dass alles „Spätere“ oder Sekundäre potentiell in dem „Früheren“ oder Primären enthalten sein muss.²¹ In diesem Sinne ist für Plotin das externe Gut einer Entität – dasjenige, worauf ihr internes Gut oder guter Zustand konstitutiv bezogen ist – jeweils das, was im Verhältnis zu ihm ontologisch primär ist. So ist für die Materie die Form das Gute, für den Körper die Seele, für die Seele die Tugend und für den Geist die „Erste Wesenheit“.²² Dieses Gute, schreibt Plotin, „wirkt nun in der Tat etwas in dem, dessen Gutes es ist: das eine [die Materie] empfängt Ordnung und Gliederung [von der Form], das andere [der Körper] bereits Leben [von der Seele], das andere [die Seele] Vernunft und rechtes Leben [vom Geist]; für den Geist aber ist das Gute, welches nach unserer Auffassung auch in ihn eintritt (weil er nämlich Wirkungskraft von Jenem her ist, und weil Jenes es ihm auch heute noch dargibt), das was wir Licht nennen“.²³ Die Seele des Menschen nimmt jedoch – anders als etwa die Materie – in der Seinshierarchie des plotinischen Kosmos keine ein für allemal fixierte Position ein, sondern ist wesentlich durch ihre „metaphysische Mobilität“ charakterisiert: ihre Fähigkeit, sich mit unterschiedlichen Elementen der Wirklichkeit zu identifizieren, sich aber auch von ihnen zu distanzieren.²⁴ Der natürliche Zustand der meisten Menschen besteht in der Identifizierung ihrer Seele mit ihrem Körper, mit dessen Begierden, Leidenschaften und Schmerzen. Es ist jedoch just diese Verquickung der Seele mit dem Körper, die sie schlecht macht und nach ihrer Loslösung von ihm verlangt;²⁵ einer Loslösung nicht im Sinne des Freitods, sondern eines Freiwerdens von den Affekten des Körpers. Plotin sieht sehr genau, dass die Neigung zum Suizid in der Regel nicht das Resultat einer übertriebenen Distanzierung vom Körperlichen, sondern einer problematischen Identifizierung darstellt.²⁶
21 O’Meara, „The Hierarchical Ordering of Reality in Plotinus“, S. 72. 22 VI 7 [38], 25, 24–28 und 28, 12–14. 23 VI 7 [38], 25, 28–32. 24 Vgl. O’Meara, Plotinus, S. 102. Die Mobilität der Seele wird sehr deutlich herausgearbeitet von Hadot, Plotin ou La simplicité du regard und O’Daly, Plotinus’ Philosophy of the Self. 25 I 2 [19], 3, 12–14. 26 I 9 [16], 9–11.
148 | 6 Plotin: Streben nach dem Einen Die Trennung vom Körper nimmt vielmehr zunächst die Form der Geistwerdung an: der Orientierung der Seele am Bereich des intelligiblen Seins. Diese Gleichwerdung gelingt Plotin zufolge durch die Tugend, obwohl dem Geist selbst keine Tugenden wie Tapferkeit oder Besonnenheit zukommen, da er selbst frei von Affekten ist. Im Geist sind jedoch insofern die Vorbilder (παραδείγματα) der Tugenden festgelegt, als die sozialen Tugenden Abbildungen von Merkmalen des Geistes auf den Umgang mit Affekten sind. Beispielsweise sei die Gerechtigkeit des Menschen, die – Platon zufolge – darin besteht, dass innerhalb einer Pluralität „jeder Teil die ihm eigene Aufgabe erfüllt“, ein Reflex der „Funktion eines Einheitlichen zu sich selbst, in welchem es kein eines und anderes gibt“.²⁷ Aus diesem Grund besitzt der neuplatonische Weise kraft seiner Angleichung an das Eine auch die sozialen Tugenden, zumindest in Potenz; man kann freilich mit Wildberg fragen, ob nicht im „Zustand höchster Menschwerdung“ die „eigentlich ethische Reflexion […] überflüssig“ wird.²⁸ Der Aufstieg der Seele macht jedoch bei der Identifikation mit dem Geist oder Intellekt nicht halt. „Man darf aber auch nicht“, schreibt Plotin, „für immer in diesem vielfältigen Schönen verweilen, sondern muss noch weiter steigen, muß sich nach oben schwingen, auch dies hinter sich lassen, muß, ausgehend nicht von dem hiesigen Weltbau, sondern von dem jenseitigen, sich verwundern, wer ihn erzeugt hat und auf welche Weise.“²⁹ Das eigentliche Ziel des Aufstiegs besteht somit in der Identifikation mit der transzendenten Ursache des Geistes, dem Einen (ἕνωσις).³⁰ Für alles, nicht nur für die zu verschiedenen Identifikationen fähige Seele, gilt jedoch, dass das Gute – im Sinne des „internen Guten“, des guten Zustands – in der „seiner Anlage entsprechenden Verwirklichung in Richtung auf das Eine“ besteht. Daraus ergibt sich Plotin zufolge, dass „dies sein Gutes eine auf das Gute gerichtete Verwirklichung (ἐνέργεια) ist“.³¹ Damit lässt sich auch konstatieren, dass für Plotin das Gutsein eine Relation ist, nämlich die Aktivität auf das Eine als das Gute. Diese Aktivität kann sich jedoch je nach Art von Seiendem, um die es geht, und seinen Fähigkeiten unterscheiden: Für die Materie besteht es in einem Geordnetwerden durch die Formen, für die menschliche Seele in einem Aufstieg
27 I 2 [19], 6, 31–33. 28 Wildberg, „Pros to telos“, S. 274. 29 VI 7 [38], 16, 1–4. 30 Wie genau die ἕνωσις zu verstehen ist, ob sie insbesondere eine vollständige Aufgabe des Selbst bedeutet oder nicht, ist Gegenstand intensiver Debatten, die hier nicht zu entscheiden sind. Fünf Interpretationen werden nützlich unterschieden von Corrigan, Reading Plotinus, S. 33. Siehe ferner Beierwaltes, Denken des Einen, S. 123–154, und Rist, The Road to Reality, S. 16. 31 V 2 [11], 17, 25–29.
6.1 Plotins Platonismus | 149
bis hin zur Vereinigung mit dem Einen selbst. Das wirft unweigerlich die Frage auf, wie dieses Eine als das absolute oder höchste externe Gut näher zu charakterisieren ist.
6.1.3 Was ist „das Eine“, und (wie) lässt sich darüber sprechen? Man kann offenbar von allem, was überhaupt etwas ist, auch sagen, dass es eines ist. Plotin drückt diesen Gedanken so aus: Alles Seiende ist durch das Eine seiend, sowohl das, was ein ursprünglich und eigentlich Seiendes ist, als auch dasjenige, was nur in einem beliebigen Sinne als vorhanden seiend bezeichnet wird. Denn was könnte es sein, wenn es nicht Eines wäre? Da ja, wenn man ihm die Einheit, die von ihm ausgesagt wird, nimmt, es nicht mehr das ist, was man es nennt.³²
Alles, was ist, ist, um sein zu können, angewiesen auf und abhängig von dem Moment der Einheit; in diesem Sinne hat alles Seiende am Einen teil. Aber das Sein ist, dem Platonismus Plotins zufolge, nicht das Eine. Denn alles Seiende ist immer auch Anderes als Eines; insbesondere ist jedes Seiende mitbestimmt durch das Netz des anderen Seienden (συμπλοκὴ τῶν ἰδεῶν, κοινωνία), zu dem es in vielfältigen Beziehungen steht. „Das Seiende ist deshalb“, schreibt Jens Halfwassen, „Einheit nur in der Weise, dass es als ein Ganzes ein Eines aus Vielem ist“.³³ Ein vollkommen Einheitliches darf dagegen, wenn anders es wirklich in jeder Beziehung Eines sein soll, selbst keine Pluralität von Momenten mehr umfassen. Eine solche radikale Einheit nennt Plotin „das Eine“ (τὸ ἕν). Während alles Seiende immer auch eines ist und in diesem Sinne die Einheit voraussetzt, ist das Eine umgekehrt nicht mehr als Seiendes anzusprechen; denn als solches wäre es schon ein „seiendes Eines“, damit eine Vielheit, und mithin nicht mehr das „einfachhin“ oder radikal Eine. Dieses ist also „jenseits des Seins“, und damit absolut transzendent gegenüber der Totalität des Seienden.³⁴ Plotins Ausführungen präsentieren sich somit als Form eines henologischen, nicht ontologischen Denkens, insofern ihnen zufolge dem Einen gegenüber dem Sein der Primat zukommt.³⁵ Wie kann man ein solches radikal Eines überhaupt denken? Denken setzt ja, so scheint es, schon eine Dualität von Subjekt und Objekt, von Denkendem und Gedachtem voraus. Gleichzeitig müssen das Denkende und das Gedachte 32 VI 9 [9], 1, 2–5. 33 Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen, S. 40. Vgl. ebd., S. 59, und ebd., S. 240. 34 Vgl. ebd., S. 52. Ähnlich auch Beierwaltes, „Einführung“, S. XXVII, der das Eine als das „von jeglicher Differenz in ihm selbst Freie“ bezeichnet. 35 Vgl. Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen, S. 38, 54.
150 | 6 Plotin: Streben nach dem Einen doch auch wieder identisch sein, zumindest in dem Sinne, dass die eigentlichen Objekte des Denkens eine wesentlich geistige Verfasstheit besitzen. Wegen dieser internen Differenzierung des Denkens besitzt die Erkenntnis oder, vielleicht besser, Erfassung des Einen eine grundsätzlich andere Form, nämlich das Einswerden (die ἕνωσις) des Subjekts selbst.³⁶ Um dies zu erreichen, gilt es, wie Plotin ausführt, „alles andere von sich abzutun und in ihm allein stille zu stehen, es zu werden in reinem Alleinsein, alles übrigen uns entschlagend was uns umkleidet“;³⁷ da das Eine sich durch völlige Undifferenziertheit auszeichnet, ist es allein unsere Vielheit und Differenz, die einer Einswerdung im Wege steht. Das Eine lässt sich jedoch nicht nur nicht denken; es lässt sich auch, streng genommen, nicht darüber sprechen. Denn nach antiker, mindestens seit Aristoteles formulierter und m. W. zumindest in der Antike unbestrittener Auffassung implizieren sprachlich verfasste Urteile eine Pluralität, mindestens aber eine Dualität unterscheidbarer Aspekte an ein und demselben Redegegenstand (τὶ κατά τινος);³⁸ dies ist auch als die „Differenzstruktur der Sprache“ bezeichnet wurden.³⁹ Wann immer wir ein Objekt x herausgreifen und sagen „x ist F“ (wobei „F“ irgendein beliebiges Prädikat ist), haben wir schon zwei Momente an x unterschieden – F und diejenige Beschreibung, unter der wir x herausgegriffen haben (lassen wir an dieser Stelle das komplexe Problem beiseite, wie man Eigennamen sprachphilosophisch zu interpretieren hat). Wenn wir also versuchen, irgendetwas über das Eine auszusagen, unterstellen wir ihm schon eine interne Differenziertheit, die das Eine per definitionem nicht aufweisen kann – sonst wäre es eben nicht mehr das Eine.⁴⁰ Um es durch einen Vergleich anschaulicher zu machen: In der Aussage „Der Kreis ist viereckig“ widerspricht das Prädikat (die Viereckigkeit) dem, was im Subjekt (dem Kreis) schon enthalten ist, nämlich seiner Rundheit; aber es gibt natürlich viele Prädikate, die dem Subjektbegriff nicht widersprechen, z. B. „rot“. Bei dem Einen hingegen würde jedes Prädikat dem Subjektbegriff widersprechen, weil in diesem schon enthalten ist, dass es keine Pluralität von Aspekten an dem Subjekt geben kann. Andererseits spricht Plotin selbst oft und ausdauernd über „das Eine“. Weshalb tut er das, und wie versteht er selbst diese Rede? Im Grunde bestehen hier zwei
36 Vgl. Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen, S. 14: Die „nicht-denkende Schau (θέα, θέαμα) des Einen“ ist „keine Schau mehr“, weil sie „über die Zweiheit von Schauendem und Geschautem hinaus ist“, sondern „die unterschiedslose Einswerdung (ἑνωθῆναι, VI 9,9,33) mit dem Einen selbst“. Vgl. VI 9 [9], 10,11–11,7. 37 VI 9 [9], 9, 51–53. 38 De int. 6, 17a 25; vgl. Soph. 262e. Vgl. F. M. Schroeder, „Plotinus and Language“, S. 343. 39 Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen, S. 14. 40 Vgl. Beierwaltes, „Einführung“, S. XXVIII.
6.1 Plotins Platonismus | 151
Möglichkeiten, und Plotin macht von beiden von ihnen Gebrauch.⁴¹ Zum einen können Aussagen über das Eine negativen, d. h. absprechenden, „apophatischen“ Charakter haben. Das sind solche Aussagen über das Eine, die ihm eine bestimmte Eigenschaft absprechen, etwa „das Eine ist keine Pluralität“, „das Eine ist nicht“, „das Eine ist nicht gut“. Diese Formulierungen legen jedoch nahe, das Eine wäre eine Idee neben anderen, nur ohne jegliche interne Differenzierung – eine Art intelligibles Ding, eine vollkommene Kugel etwa oder ein Punkt; dieser Eindruck wird, vielleicht unvermeidlich, erzeugt, indem man mit dem bestimmten Artikel über das Eine spricht. Aber das suggeriert – fälschlich –, dass das Eine ein bestimmtes Seiendes auf derselben Stufe ist wie andere Ideen. Wäre dies jedoch der Fall, dann wäre das Eine gleichsam von außen begrenzt durch Anderes; und das würde bedeuten, dass dem Einen das Moment der Differenz eignen würde, womit wiederum seine vollkommene Einheitlichkeit aufgehoben wäre. Schon jedem einzelnen bezeichnenden Ausdruck, nicht erst jedem Satz liegt also die Abgrenzung eines irgendwie bestimmten Seienden gegen anderes zugrunde. Diesen Gedanken nimmt Plotin auf und radikalisiert ihn zu der Einsicht, dass überhaupt jede Bezeichnung des ersten Prinzips, nicht nur die als „Eines“, sondern selbst die als „Dieses“ (τόδε), als „jenes“ (ἐκεῖνο) und als „so“ (οὕτω) potentiell irreführend ist: Es derart zu bezeichnen bedeutet, es gegen anderes, auf derselben Seinsstufe Befindliches abgrenzen und bestimmen zu wollen. Wir können also nicht nur nichts über das Eine aussagen; schon der Versuch, es benennen zu wollen, ist verfehlt. Plotin formuliert dies so: „Das Eine ist in Wahrheit unaussagbar; denn was du von ihm aussagen magst, immer musst du ein Etwas aussagen.“⁴² Obwohl also auch „das Eine“ keine angemessene Bezeichnung darstellt (weil es so etwas wie eine angemessene Bezeichnung für „es“ gar nicht geben kann), hält Plotin dennoch am Gebrauch dieses Ausdrucks fest. Wie das konsequente Verfolgen der vollkommenen Einheitlichkeit des Einen auf die Unmöglichkeit positiver Rede und auf negatives Sprechen als einzige Form der Kommunikation führt, so die begriffliche Unbestimmbarkeit des Einen zu einem negativen Verständnis der Benennungspraxis; „das Eine“ sagt dann nichts anderes mehr als „nicht Vieles“. In diesem Sinne verweist Plotin auch auf die pythagoräische Deutung des Namens des Gottes Apollo als A-pollon mit alpha privativum, „der Nicht-Viele“.⁴³ Werner Beierwaltes spricht treffend von „eine[r] Weise des apophatischen, umkreisen-
41 Vgl. zu den folgenden Ausführungen F. M. Schroeder, „Saying and Having in Plotinus“, und O’Meara, „Le problème du discours sur l’indicible chez Plotin“. 42 V 3 [49], 13, 1–2. 43 V 5 [32], 6, 26–28.
152 | 6 Plotin: Streben nach dem Einen den Denkens“, die dem Einen die „dem Nicht-Einen zukommenden Wesenszüge abspricht“.⁴⁴ Vor diesem Hintergrund erscheint die Bezeichnung des Einen als „das Absolute“, wie sie sich vor allem bei Beierwaltes und Halfwassen⁴⁵ findet, keineswegs als anachronistisch, sondern vielmehr als angetan, die absolute Einfachheit, „das Herausgenommensein aus jeder Vielheit, auch aus jeder nur begrifflichen Vielheit“, und „damit zugleich das Herausgenommensein aus jedweder Bestimmtheit“⁴⁶ zum Ausdruck zu bringen. „Gerade in seiner begrifflichen Negativität“, formuliert Halfwassen prägnant, kommt aber „das über alle Bestimmungen hinausliegende, selbst nur noch negativ (als Nicht-Vielheit) bestimmte Wesen des Absoluten“ zum Ausdruck.⁴⁷ Zwar wird die via negativa von Plotin stark betont, doch finden sich auch explizite Hinweise auf eine zweite Art von Aussagen über das Eine, die man als Rede „von uns her“ oder als via obliqua bezeichnen könnte. Beispielsweise führt Plotin aus: Wenn wir das Eine als die Ursache bezeichnen, so bedeutet das auch nicht ein Akzidentelles von ihm aussagen, sondern von uns (ἡμῖν), dass wir nämlich etwas von ihm her haben, während es selbst in sich verharrt. Ja selbst „jenes“ dürften wir es im eigentlichen Sinne nicht nennen, wenn wir genau reden wollen, sondern es will das nur die Auslegung dessen sein, was wir selbst, die wir das Eine gleichsam von außen umspielen, dabei erleben, indem wir ihm bald nahe bleiben, bald ganz zurückgeworfen werden durch die Schwierigkeiten die ihm anhaften.⁴⁸
Auch diese Art von Aussagen stellen keine Zuschreibung positiver Eigenschaften an das Eine dar, auch nicht eine Zuschreibung relationaler Eigenschaften. Sie sind verkappte Aussagen über uns selbst; man könnte sagen, Aussagen, in denen zwar das grammatische Subjekt das Eine ist, aber das logische Subjekt – dasjenige, über das wirklich etwas gesagt wird – wir selbst.⁴⁹ Kann man vor dem Hintergrund der radikalen Einheitlichkeit des Einen und der daraus resultierenden Unmöglichkeit, positive Aussagen darüber zu treffen oder „es“ auch nur zu benennen, noch davon sprechen, dass das Eine ein abstraktes Objekt sei, wie es die obige Bestimmung des Platonismus verlangt? Weniger
44 Beierwaltes, „Plotins Metaphysik des Lichtes“, S. 92. 45 Zum Beispiel Beierwaltes, Das wahre Selbst, S. 103 und Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen, S. 12 und passim. 46 Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, S. 44. 47 Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen, S. 194. 48 VI 9 [9], 3, 49–55. 49 Vgl. zu dieser zweiten Weise des Sprechens „über“ das Eine O’Meara, Plotinus, S. 56–57.
6.1 Plotins Platonismus | 153
Schwierigkeiten bereitet dabei der Begriff der Abstraktheit, mit dem nach unserem Verständnis ja die notwendige Einzigartigkeit einer Entität zum Ausdruck gebracht werden soll.⁵⁰ Von etwas zu sagen, es sei ein abstraktes Objekt, ist damit in erster Linie eine negative Aussage: Es bedeutet, dass es eine zweite, numerisch verschiedene Entität mit den gleichen intrinsischen Eigenschaften nicht geben kann. Dies ist nun beim Einen sicher der Fall. Denn wenn man überhaupt davon sprechen kann, dass es das Eine „gibt“, dann existiert es sicher nur einmal: Gäbe es zwei radikal einheitliche Entitäten, dann müsste eines von ihnen, damit sie verschieden sind, das Moment der Differenz an sich tragen; dann aber wäre es schon nicht mehr eines. Problematischer ist die Frage, ob man das Eine überhaupt als Objekt bezeichnen darf; durchgehend und konsistent vertritt Plotin die These, dass dem Einen kein Sein zukommen könne, da damit schon wieder eine Dualität unterscheidbarer Aspekte in seine Charakterisierung eingeführt wäre. Wesentlich daran ist jedoch, wie Lloyd Gerson hervorgehoben hat, dass dem Einen das Sein nicht als distinktes Merkmal zukommen kann. Dem widerspricht nicht, die „einzigartige Unzusammengesetztheit des Einen“ als „Identität von Essenz und Existenz“ zu verstehen;⁵¹ Eines und Eines-Sein sind dann dasselbe und nur begrifflich unterschieden. „Es wäre“, schreibt Gerson, „korrekter zu sagen, das Eine existiere nicht in einer Weise, in der irgendetwas anderes existiert, oder, noch besser, das Eine habe keine endliche Existenz.“⁵² Mit anderen Worten: Beim Einen lässt sich nicht in derselben Bedeutung des Wortes von Existenz sprechen, „Sein“ ist kein univoker Begriff. Daraus folgt insofern eine Klarstellung der Kernthese des metanormativen Platonismus, als mit dem abstrakten „Objekt“, mit dem vortreffliche Gegenstände in Beziehung stehen, sowohl ein Seiendes als auch das überseiende Eine gemeint sein können. Mit dieser Interpretation sollte die Bezeichnung als „abstraktes Objekt“ nicht unzulässig sein, solange man sich der mit dem Ausdruck „Objekt“ verbundenen irreführenden Assoziationen bewusst bleibt.
50 Siehe o. Abschnitt 5.3. 51 Gerson, Plotinus, S. 15. Vgl. Bussanich, „Plotinus’ metaphysics of the One“, S. 39: „Die Existenz des Einen steht mit Sicherheit nicht in Zweifel; sonst wären Denken und Sprechen unmöglich (VI 6 [34], 13, 44–49). Doch um das erste Prinzip der Vernunft sein zu können, ist es notwendig, dass das Eine das bestimmte Sein und selbst die höchste Form des Denkens transzendiert (vgl. VI 9 [9], 4, 1–16).“ 52 Gerson, Plotinus, S. 231, Anm. 2.
154 | 6 Plotin: Streben nach dem Einen
6.2 Das Eine als „das Gute“ Diese Ausführungen zum Einen und der Weise, wie wir über es sprechen können, waren notwendig, um das Problem in den Blick zu bekommen, um das es in dem nun folgenden zweiten Abschnitt dieses Kapitels gehen soll. Wenn „das Eine“ intern vollständig undifferenziert ist, also keine Pluralität an Aspekten aufweist, die man von ihm prädizieren könnte, was kann Plotin dann damit meinen, dass er es wiederholt, man könnte fast sagen: gewohnheitsmäßig, „das Gute“ (τἀγαθόν) nennt?⁵³ Diese Bezeichnung taucht schon im Titel einer Reihe von Traktaten auf (etwa I 7, VI 7 und VI 9) und zieht sich durch diese und weitere Abhandlungen. Beispielsweise schreibt Plotin, er wolle „den Urgrund aller Dinge ins Auge fassen, nämlich das Gute und Erste“.⁵⁴ Ferner heißt es, das Eine sei „das Übergute, welches nicht für sich selbst, sondern für die andern Dinge gut ist, die etwa an ihm teilzuhaben vermögen“.⁵⁵ Was ist also damit gemeint, wenn Plotin das Eine als das Gute bezeichnet? Wie haben wir die Rede von dem Einen und dem Guten als „je verschiedene[n] Perspektiven der Einen und Ersten intensivsten Wirklichkeit“⁵⁶ zu verstehen? Handelt es sich bei Einheit und Gutsein um zwei distinkte Aspekte, die sich von derselben Entität prädizieren lassen – und wenn ja, welcher ist primär? Oder ist in Wahrheit das Eines-Sein nichts anderes als das Gut-Sein, so dass Plotin als metanormativer Naturalist avant la lettre bezeichnet werden muss (wie es John Dillon tut)?⁵⁷ Dieses Problem wird dadurch virulent, dass keine der geläufigen Verwendungsweisen der Substantivierung „das Gute“ auf das Eine zu passen scheint. Zunächst gebrauchen wir manchmal „das Gute“ in einem generischen Sinn als Bezeichnung für die Gesamtheit alles dessen, was gut ist, also etwa die Gesamtheit von Tugend, Wissen und Lust, wenn dies Güter sind. Da das Eine natürlich per definitionem keine Menge ist, scheidet diese Bedeutung von „das Gute“ als Interpretation offenkundig aus. Zum anderen könnten wir mit „das Gute“ so etwas meinen wie „das, was wahrhaft und seinem Wesen nach gut ist“; vor allem in einem religiösen Kontext kann ein solches Verständnis hinter Aussagen wie „Gott ist das Gute“ stecken. Doch wenn dies nichts anderes meint, als dass jemandem oder etwas eine bestimmte Eigenschaft, nämlich die, gut zu sein, mit Notwendigkeit und aufgrund seines Wesens zukommt, kann auch dies nicht die Interpretation sein, die wir 53 Zur Bedeutung der Kontraktion des Artikels mit dem Adjektiv vgl. Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen, S. 169. 54 VI 9 [9], 3, 15f. 55 VI 9 [9], S. 6, 41–42. 56 Beierwaltes, „Das Eine als Norm des Lebens“, S. 126. 57 Dillon, „An Ethic for the Late Antique Sage“, S. 318.
6.2 Das Eine als „das Gute“
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dem Ausdruck „das Gute“, wie er von Plotin gebraucht wird, geben müssen. Denn als vollkommen unterschiedslose Einheit kann das Eine keinerlei Eigenschaften besitzen, ob nun wesentliche oder akzidentelle. Genau das ist das Kernproblem, vor das man sich bei der Interpretation des Guten bei Plotin gestellt sieht: Was leitet die Anwendung dieses Begriffs „das Gute“ auf das Eine, wenn es ein inneres, intrinsisches Attribut des Einen selbst wegen seiner vollkommenen Undifferenziertheit nicht sein kann? Ich möchte im Folgenden zunächst drei mögliche Interpretationen dieser Bezeichnung näher betrachten, die nach meiner Auffassung zwar sämtlich wesentliche Aspekte der Bedeutung von „das Gute“ treffen, aber jeweils zu kurz greifen und letztlich in (hoffentlich) erhellender Weise scheitern. Denn diese für sich genommen unzureichenden Deutungen können gerade dadurch die Bedingungen klären, denen eine befriedigendere Interpretation genügen müsste. Diese wird dann zugleich Aufschluss darüber geben, ob es sich bei Plotins Platonismus um eine nicht-reduktionistische oder (letztlich) reduktionistische Form des Platonismus handelt.
6.2.1 Die ontologische Deutung Die erste Interpretation kann man als die ontologische bezeichnen. Im Kern besteht sie darin, dass etwas – ein Gegenstand, ein Objekt im weitesten Sinne, eine Entität oder ein Seiendes – umso besser ist, je weniger abhängig es von der Existenz anderer Wesenheiten ist; und da das Eine, wie dargestellt, als einziges von nichts ontologisch abhängig ist (weil es keine konstitutiven Aspekte besitzt, die ihm vorausgehen), ist es zwingend „das Beste“. Ein solches Verständnis von ontologischem Wert ist in der Antike weit verbreitet: Man kann etwa Aristoteles anführen, der die Überlegenheit der theoretischen Lebensform, des βίος θεωρητικός, über die praktische vor allem damit begründet, dass sie auf die höheren oder wertvolleren Objekte, zum Beispiel die der Mathematik, gerichtet sei.⁵⁸ Auch stoische und skeptische Autarkieideale finden ihre letzte Wurzel vielleicht in einer ontologischen Hochschätzung der unabhängigeren Daseinsform. In jedem Falle würde eine solche Interpretation guten Anhalt in den Schriften Plotins finden. So bezeichnet Plotin das Eine nicht nur als das Gute, sondern auch als „das Beste“ (ἄριστον);⁵⁹ und an den entsprechenden Stellen liegt gewiss ein ontologisches Verständnis dieser Bezeichnung zugrunde. Das Eine wird von Plotin zudem
58 EN X.7, 1177a27f. 59 Zum Beispiel VI 9 [9], 5, 36; III 9 [13], II, 6; VI 8 [39], 10, 25–26.
156 | 6 Plotin: Streben nach dem Einen als „vollkommen“ oder „vollendet“ (τέλειον) bezeichnet.⁶⁰ Seine Vollkommenheit ist dabei keine Bestimmung, die zu seiner Einfachheit hinzutritt; vielmehr ergibt sich die radikale Einfachheit aus der Suche nach dem vollkommenen Prinzip. Das Vollkommene ist nämlich für Plotin etwas, was – in dem oben dargestellten Sinne – gegenüber allem anderen ontologisch primär ist und von nichts anderem abhängt; die Vollkommenheit ist daher identisch mit der „Unabhängigkeit“ (αὐταρκεία). Unabhängig und vollkommen ist mithin das, was zu seinem Sein auf nichts anderes angewiesen ist oder, wie Plotin es terminologisch fasst, was nichts anderes „braucht“ (ἐνδεῖται). Das aber gilt einzig für das Eine. Doch nicht nur die Bezeichnung als „das Beste“, sondern auch der Gebrauch von „das Gute“ scheint an einer Reihe von Stellen die absolute ontologische Priorität des Einen ausdrücken zu sollen. In der spätesten Schrift „Das erste Gute“ heißt es etwa: „Man muss das als das Gute ansetzen, von dem alle Dinge abhängen, während es selbst von nichts abhängt“.⁶¹ Allerdings geht aus der entsprechenden Passage nicht eindeutig hervor, ob es sich hier um eine Behauptung über die Bedeutung von „das Gute“ handelt oder ob nur zum Ausdruck gebracht werden soll, dass dasjenige, „von dem alle Dinge abhängen, während es selbst von nichts abhängt“, darüber hinaus als das Gute in einem anderen, unabhängigen Sinne bezeichnet werden kann. In VI 7 [38], 41, 27–31 heißt es: Folglich ist es [das Eine] für sich selber auch nicht ein Gutes, sondern für die andern Dinge; denn sie bedürfen Seiner, Es selber bedarf aber Seiner selbst nicht, das wäre lächerlich, denn dann müsste Es auch Seiner selbst ermangeln.
Aus dieser und verwandten Stellen scheint auch Jens Halfwassen auf ein ontologisches Verständnis des Guten bei Plotin zu schließen. Er schreibt, die Kennzeichnung des Einen als das Gute stehe „in Relation zur Bedürftigkeit“; diese Bedürftigkeit sei aber „die Beziehung des Seienden, das nur als Einheit sein kann“, zum absoluten Einen.⁶² Dies dürfte so zu verstehen sein, dass die „Bedürftigkeit“, von der Plotin spricht, mit der ontologischen Abhängigkeit alles Seienden von dem überseienden Einen zu identifizieren ist; eine Abhängigkeit, die wiederum darin besteht, dass nicht ohne das Eine bestehen kann, während das absolute Eine selbst „als absolut Einfaches vollkommen unbedürftig“ ist.⁶³ Trotz ihres Anhalts in den Schriften Plotins erscheint die ontologische Deutung jedoch unzulänglich. Denn wenn man „das Gute“ in dem genannten Sinne versteht
60 V 4 [7], 1, 24; V 2 [11], 1, 8; V 6 [24], 2, 12–15. 61 I 7 [54], 1, 21–23. 62 Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen, S. 177. 63 Ebd., S. 177.
6.2 Das Eine als „das Gute“
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(als „in seiner Existenz von nichts anderem abhängig“), drückt diese Bezeichnung nichts anderes mehr aus als das, was schon mit der Bezeichnung als „das Eine“ selbst gesagt ist: Die vollständige Einheitlichkeit, denn nur in dem Sinne, dass alles andere an dem Einen teilhat, das Eine aber an nichts anderem, ist alles Seiende abhängig von dem Einen. Man sollte aber erwarten, dass Plotin die Ausdrücke „das Eine“ und „das Gute“ nicht nur als stilistische Varianten verwendet, sondern damit unterschiedliche – nicht Aspekte oder Eigenschaften, aber doch Bedeutungen für uns bezeichnen will.
6.2.2 Die kausale Deutung Eine alternative Deutung, die dieser Erwartung entspricht, könnte von folgender Äußerung Plotins ihren Ausgang nehmen: „Mithin gibt es auch für das Eine kein Gutes, folglich auch keinen Willen nach irgendeinem Guten, sondern es ist das Übergute (ὑπεραγαθόν), welches nicht für sich selbst, sondern für die anderen Dinge gut ist, die etwa an ihm teilzuhaben vermögen.“⁶⁴ Das kann man in folgender Weise deuten: Das Eine hat selbst nicht die Eigenschaft, gut zu sein; es ist aber insofern die Ursache dieser Eigenschaft (und in diesem Sinne das Gute), als das Gutsein darin besteht, vom Einen verursacht zu sein. (Daher werde ich dies die kausale Interpretation nennen.) Diese Deutung lässt sich im Ansatz bei Werner Beierwaltes finden, wenn er schreibt: „Das Erste oder Eine ist […] ‚wesenhaft‘ auch gut oder das Gute, sofern es an seiner eigenen Fülle (ὑπερπλῆρες; V 2,1,8 f.) und Mächtigkeit (δύναμις) frei und ‚neidlos‘ teilgibt“.⁶⁵ Auch für diese Interpretation lassen sich Indizien finden, wie man überhaupt sagen muss, dass viele Stellen in unterschiedliche Richtungen zu weisen scheinen. So schreibt Plotin:
64 VI 9 [9], 6, 40–42. 65 Beierwaltes, „Plotins Theologik“, 93, Fn. 4. Freilich ist die Zuschreibung dieser Interpretation an Beierwaltes sofort wieder einzuschränken, da er im Weiteren (und auch schon in seinem grundlegenden Aufsatz „Plotins Metaphysik des Lichtes“, vgl. ebd. S. 90) die Zielhaftigkeit und Normativität des Einen in Bezug auf das menschliche Streben stark betont. Insofern das Eine aber auch durch sein Schaffen des Anderen, in sich Differenten als das Gute bezeichnet wird (vgl. Beierwaltes, Das wahre Selbst, S. 95), scheint die Verursachung durch das Eine aber für Beierwaltes doch zumindest einen Aspekt seines Gutseins auszumachen (aber vgl. u. S. 162). Auch Jens Halfwassen schreibt, dass Plotin Platon darin folge, dass das Eine „als Urgrund allen Seins […] zugleich das Gute sei“, was sich ebenfalls am natürlichsten im Sinne der kausalen Interpretation deuten lässt (Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, S. 14).
158 | 6 Plotin: Streben nach dem Einen Wenn du aber denkst, dann denke das von ihm, was du gegenwärtig hast, und zwar: dass er das Gute ist – denn er ist Urheber des vernunfterfüllten, geisthaften Lebens, da er die Kraft des Lebens und des Geistes ist, und ferner Urheber des Seins und des Seienden ist.⁶⁶
Und ähnlich heißt es an späterer Stelle: „So ist auch die Wesenheit des Guten, welche Ursache der Substanz und des Geistes ist und dem Lichte entspricht für das, was dort oben Gegenstand und Träger des Sehens ist, weder das Seiende noch der Geist, sondern Ursache von beiden und ermöglicht mit ihrer Art Licht dem Seienden und dem Geiste das Denken.“⁶⁷ Die Bezeichnung als „das Gute“ würde damit im Unterschied zur ontologischen Deutung nicht lediglich dasselbe aussagen wie „das Eine“, weil sie es eben als Ursache für die Existenz von anderem anspricht, wobei es sich hier um eine Verursachung handelt, bei der sich das Wirkende nicht erschöpft. Doch auch diese Deutung ist unzulänglich, und zwar weil sie diejenige Dimension des Guten nicht erfassen kann, die ich als die „existenzielle“ bezeichnen möchte. Wenn das Eine das Gute genannt wird, muss dies in irgendeiner Weise, vereinfacht formuliert, etwas mit uns zu tun haben. Denn das Eine ist nicht lediglich das ontologisch erste Prinzip, die ἀρχή, oder der Ursprung des Seins, sondern es ist auch das „Endziel (τέλος) für die Seele“, dasjenige, wonach sie strebt. So schreibt Plotin: „Und dies (das Eine) ist für sie (die Seele) Prinzip und Ziel: Prinzip, weil sie von dort stammt, und Ziel, weil das Gute dort ist und sie dort angelangt wieder sie selbst wird und das, was sie war“.⁶⁸ Ziel ist das Eine also genau deshalb, weil es das Gute ist. Würde „das Gute“ nur bedeuten, „Ursache des Seienden“ zu sein, wäre unverständlich, weshalb es gleichzeitig auch das Ziel sein sollte. Dann wäre denkbar, dass jemand das Bild, das Plotin von der Struktur der Wirklichkeit entwirft, in toto akzeptiert, insbesondere dass er den ontologischen Primat des Einen gegenüber dem Sein anerkennt, und dass er bereit ist, das Eine in diesem Sinne das Beste zu nennen – aber dass er daran kein anderes Interesse nimmt als ein Astronom, der eine bestimmte (vollkommen respektable) wissenschaftliche Neugierde in der Klassifikation der Himmelskörper befriedigt.
6.2.3 Die voluntaristische Deutung Nimmt man dagegen ernst, dass das Gute in einem begrifflichen Zusammenhang mit der praktischen Orientierung des Menschen stehen muss, tut sich eine dritte 66 V 5 [32], 10, 10–13. 67 VI 7 [38], 16, 27–31. 68 VI 9 [9], 9, 21–23.
6.2 Das Eine als „das Gute“
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Interpretation der Bedeutung des Guten auf: „das Gute“ heißt dann nichts anderes als „das Ziel des Handelns“ oder „das Objekt des menschlichen Strebens“. Nennen wir dies für den Moment die voluntaristische Lesart. Auch diese Deutung kann der vollständigen Einheitlichkeit des Einen gerecht werden, allerdings auf andere Weise als die ontologische Interpretation. Diese stellte sich dar als eine Variante der via negativa; indem „das Gute“ verstanden wird als „das, was vollständig unabhängig ist“, wird ihm ja die Abhängigkeit von irgend etwas anderem abgesprochen und letztlich wiederum die innere Differenzierung negiert. Wenn dagegen „das Gute“ verstanden wird als „Objekt des Strebens“, wird keine negative Aussage getroffen; doch wird auch auf diese Weise keine innere Differenzierung in das Eine eingeführt, weil es sich um eine Aussage „von uns her“ handelt, die Bezug nimmt auf eine wesentlich menschliche Einstellung: das Streben. Auch die voluntaristische Lesart verstößt also nicht gegen das Verbot der Zuweisung positiver Eigenschaften an das Eine. Aber im Gegensatz zur ontologischen Interpretation macht sie den Zusammenhang zwischen dem Einen und seinem Zielcharakter verständlich: Wenn Plotin mit dem Guten gar nichts anderes meint als „das, was wir erstreben“, und dies mit der quasi empirischen These verbindet, dass wir – oder vielleicht sogar die gesamte vom Einen ausgehende und auf es bezogene Natur – nach dem Einen streben, dann stellt sich die Frage nicht mehr, woher das Eine seine existenzielle Bedeutung bezieht. In diesem Sinne lässt sich Halfwassens Formulierung verstehen, dass das Eine das Gute als „Ziel der ursprünglichen Intention des Zweiten“, d. h. des Geistes sei.⁶⁹ Das Gute als Objekt des Strebens zu verstehen hat ebenfalls eine antike Vorgeschichte; man denkt an den Anfang der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, wo er schreibt: „Jede Kunst und jede Lehre, desgleichen jede Handlung und jeder Entschluss, scheint ein Gut zu erstreben, weshalb man das Gute treffend als dasjenige bezeichnet hat, wonach alles strebt.“⁷⁰ Doch auch diese Formulierung lässt sich wiederum auf zwei Weisen verstehen. Zum einen kann man sie so interpretieren, dass „das Gute“ – worin auch immer es bestehen mag – de facto erstrebt wird, so dass das Gutsein dem Streben vorausgeht: Das Streben sucht nach dem Guten und orientiert sich an ihm. In diesem empirischen Verständnis ist die These plausibel, hilft uns aber nicht für die Beantwortung der Frage weiter, was „das Gute“ eigentlich bedeutet. Dieses Problem stellt sich nicht, wenn man die Aussage als eine begriffliche versteht: Gut zu sein heißt dann nichts anderes als Gegenstand eines Strebens zu sein. Die Schwierigkeit mit dieser Interpretation liegt jedoch darin, dass sie das Gute in inakzeptabler Weise abhängig macht von anscheinend kontin-
69 Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, S. 94. 70 EN I 1, 1094a1.
160 | 6 Plotin: Streben nach dem Einen genten menschlichen Strebungen, während sich doch in der phänomenologischen Innenperspektive das Wollen als eine Reaktion auf die Erfahrung oder Ahnung eines Guten darstellt. Das wird auch von Plotin selbst klar gesehen. Er schreibt: „Das Erstrebte muss also das Gute sein, es wird aber nicht dadurch gut, dass es erstrebt wird, sondern aufgrund seines Gutseins wird es erstrebt.“⁷¹ Und etwas später heißt es: „Nicht das Streben erzeugt das Gute, sondern das Streben findet statt, weil Gutes da ist (ἡ ἔφεσις ὅτι ἀγαθόν).“⁷² Dieses Problem wird auch nicht dadurch behoben, dass man versucht, ein „eigentliches“, „echtes“ Streben von einem bloß oberflächlichen oder irregeleiteten abzuheben, wie manche Äußerungen Plotins in der Tat nahelegen könnten. Beispielsweise schreibt er (Übersetzung des Zitats leicht abgewandelt): [Man bedenke, dass] diese Gegenstände irdischer Liebe sterblich sind und Unheil bringen und diese Liebe nur auf Nachbilder geht, dass sie sich wandeln, weil sie nicht der Gegenstand wahrhaftiger Liebe sind, nicht unser wahrhaft Gutes und nicht das was wir suchen; dass dort oben dagegen das wahrhaft und eigentlich Geliebte (τὸ ἀληθινὸν ἐρώμενον) ist, mit dem auch eine wirkliche Vereinigung möglich ist indem man Teil an ihm gewinnt und es wahrhaft besitzt, nicht nur es von außen mit dem Fleisch umfängt.⁷³
Noch deutlicher wird dies an folgender Stelle: „Man muss sich darauf besinnen, dass die Menschen vergessen haben, wonach sie in Wahrheit von Anbeginn bis heut verlangen und streben. Denn alle Dinge trachten nach Jenem, sie streben zu ihm aus einem Zwange ihrer Natur, gleich als ahnten sie, dass sie ohne es nicht sein können.“⁷⁴ Aber auch die Beschränkung der Aussage auf das wahrhafte, eigentliche Streben entgeht nicht dem Einwand, dass das Streben eine Reaktion auf das Gute darstellt, nicht umgekehrt: Die Aussage, dass das Gute der Gegenstand eines universalen Strebens ist, lässt uns, so Carlos Steel, noch nicht verstehen, warum dies so ist.⁷⁵ Mehr noch, sie kann die große Eindringlichkeit nicht abbilden, mit der Plotin immer wieder dazu auffordert, die Welt des Werdens in einem bestimmten Sinne hinter sich zu lassen und aufzusteigen zur Erkenntnis oder Erfassung des Einen. An einer der berühmtesten Stellen schreibt er: Und das ist das wahrhafte Endziel (τέλος) für die Seele: Jenes Licht [das Eine] anzurühren und es kraft dieses Lichtes zu erschauen, nicht in einem fremden Licht, sondern in eben dem, durch welches sie überhaupt sieht. Denn das, wodurch sie erleuchtet wurde, ist eben das
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VI 7 [38], 25, 16–18. VI 7 [38], 27, 26f. VI 9 [9], 9, 42–47. V 5 [32], 12, 5–9. Steel, „L’Un et le Bien“, S. 74.
6.2 Das Eine als „das Gute“ | 161
Licht, das es zu erschauen gilt (man sieht ja auch die Sonne nicht in einem fremden Licht). – Und wie kann dies Ziel Wirklichkeit werden? – Tu alle Dinge fort (ἄφελε πάντα)!⁷⁶
Das Eine ist also nicht lediglich der metaphysische Schlussstein des Weltgebäudes, analog zu den kleinsten physikalischen Teilchen in einem neuzeitlich-naturalistischen Weltbild; es hat darüber hinaus noch eine ganz wesentliche praktische, ja existenzielle Funktion. Es stellt gleichsam einen Magneten dar, der auf Wesen, die sich daran auszurichten vermögen, eine anziehende Kraft ausübt; und gleichzeitig macht er diese Orientierung auf das Eine, die von Plotin gerne als „Flucht“ bezeichnet wird, zu einer Forderung, an der sich die Lebensführung des Einzelnen messen lassen muss. Es ist genau dieser normative Aspekt des Einen, der weder mit der ontologischen noch mit der kausalen oder der voluntaristischen Deutung des Guten erfasst werden kann.
6.2.4 Das angemessene Ziel des Strebens Aus den bisherigen Überlegungen ergeben sich einige Schlüsse bezüglich der Frage, welche Bedingungen eine adäquate Interpretation der Bezeichnung des Einen als das Gute erfüllen muss. Zunächst soll noch einmal festgehalten werden, dass die vollkommene Einheitlichkeit des Einen dadurch, dass es auch „das Gute“ ist, nicht untergraben werden darf; und das bedeutet, dass „das Gute“ entweder gemäß der via negativa als implizite Negation verstanden werden muss oder aber via obliqua als auf uns bezügliche Bezeichnung, aber nicht als Zuschreibung einer positiven intrinsischen Eigenschaft. Zweitens muss die Interpretation die praktischexistenzielle Dimension berücksichtigen und verständlich machen, weshalb das Eine das „Ziel für die Seele“ ist; das war der Grund, weshalb die ontologische und die kausale Interpretation zu kurz greifen. Drittens sollte sie aber auch eine kritische Funktion gegenüber den tatsächlichen Strebungen und Willensregungen erfüllen; und das kann sie nur dann, wenn sie „das Gute“ nicht mit dem faktisch Angestrebten in eins setzt, sondern es seinerseits als dessen Maßstab auszeichnet. Ich möchte nun einen weiteren Vorschlag skizzieren, der meiner Meinung nach diesen Bedingungen in einer befriedigenderen Weise Rechnung tragen kann als die bisher betrachteten. Ihm zufolge ist „das Gute“ zu verstehen als „das angemessene Objekt des Strebens“ oder als „dasjenige, wonach wir streben sollten“; die vielen Stellen, an denen Plotin das Eine als τέλος bezeichnet, lassen sich auf mindestens ebenso natürliche Weise im normativen Sinne des „richtigen“, adäquaten, angezeigten Ziels deuten. Wenn er beispielsweise schreibt, man müsse „sein 76 V 3 [49], 17, 33–38.
162 | 6 Plotin: Streben nach dem Einen Ich zurüsten, dass die Urgründe (ἀρχὰς) in ihm zugleich auch sein Endziel (τέλη) sind“,⁷⁷ so scheint dies die Aufgabe anzuzeigen, sich das angemessene Ziel zu eigen zu machen. Versteht man den Begriff auf diese Weise, so führt man sicher keine versteckte Dualität in das Eine ein; indem man sagt, dass das Gute dasjenige ist, was wir anstreben sollten, treffen wir viel eher eine Aussage über uns selbst – über das, was das Eine für uns ist – als eine positive, intrinsische Eigenschaft von dem Einen selbst zu prädizieren. Die Interpretation kann daher als eine Form der auf uns bezüglichen Redeweise (der via obliqua) verstanden werden. Zweitens steht die Deutung als angemessenes Objekt des Strebens zumindest auf einer abstrakten Ebene in Verbindung mit der praktischen Orientierung. Und drittens kann sie eine korrigierende Wirkung gegenüber den faktischen Strebungen entfalten, da diese natürlich auch auf andere, nicht angemessene Objekte gerichtet sein können. Die Auffassung, dass mit der Bezeichnung des Einen als „das Gute“ seine Bedeutung als adäquates Strebensziel für uns intendiert ist, lässt sich zwanglos auch mit Beierwaltes’ Formel vom „Einen als Norm des Lebens“⁷⁸ fassen; wenn Beierwaltes schreibt, das Eine/Gute sei „als der das Denken und Handeln bestimmende, leitende und motivierende Orientierungspunkt, das bewusst und frei ins Auge gefasste und zu verwirklichende Ziel des gesamten menschlichen Tätigseins zu begreifen“,⁷⁹ so drückt sich darin ebenfalls die Einsicht aus, dass die Bezeichnung des Einen als das Gute dessen normativen Charakter, seine Eigenart als „appellative[r] Ziel-Grund“⁸⁰ für das menschliche Dasein gegenüber voluntaristischen und deterministischen Verständnissen von „Ziel“ betont. Doch eine wichtige Frage bleibt bei dieser Bestimmung noch offen, und das mag dazu führen, dass sie noch nicht vollständig befriedigt: Was macht das Eine zum „angemessenen Objekt des Strebens“, wodurch ist es die „Norm des Lebens“? Es liegt nahe, zu sagen: Das Eine ist das angemessene Objekt des Strebens, weil es gut ist. Das klingt wie eine informative Antwort. Aber wenn „das Gute“ nichts anderes bedeutet als „das angemessene Objekt des Strebens“, dann läuft diese Antwort darauf hinaus, dass Plotin sagen müsste: Das Eine ist das angemessene Objekt des Strebens, weil es das angemessene Objekt des Strebens ist. Und das klingt nicht mehr nach einer informativen Antwort. Die einzig konsequente Antwort, die Plotin zu Gebote steht, lautet: Das Eine ist tatsächlich das angemessene Objekt des Strebens nicht deshalb, weil es in einer darüber hinausgehenden Weise noch irgendwie gut ist. In diesem Sinne ist 77 III 9 [13], II, 5. 78 So der programmatische Titel eines seiner Aufsätze. 79 Beierwaltes, „Das Eine als Norm des Lebens“, S. 127. 80 Ebd., S. 128.
6.2 Das Eine als „das Gute“ | 163
das Eine tatsächlich nicht mehr gutförmig oder von der Art des Guten, sondern das „Übergute“, ὑπεραγαθόν, wie Plotin sagt. Dennoch ist verhältnismäßig wenig gewonnen mit der Bestimmung des Guten als angemessenes Objekt des Strebens, solange keine überzeugende Antwort auf die Frage gegeben wird, weshalb es denn das angemessene Objekt des Strebens ist, was es dazu macht. Solange diese Frage offen bleibt, wirkt die Bezeichnung des Einen als das Gute thetisch und willkürlich. Warum sollte das angemessene Objekt des Strebens nicht viel eher das maximal Vielgestaltige sein oder, wem das zu chaotisch ist, die größtmögliche Vielfalt, die von einer die Fliehkräfte noch bewältigenden Einheit umfasst werden kann? Was macht ausgerechnet das Eine zum angemessenen Objekt des Strebens? Die traditionelle Antwort auf diese Frage findet sich in klassischer Formulierung bei Proklos, der sich für sie allerdings auf die pseudo-platonischen Definitionen berufen kann. Dort heißt es: „Gut ist das, was für das Seiende Ursache seiner Erhaltung ist“ (Ἀγαθὸν τὸ αἴτιον σωτηρίας τοῖς οὖσιν).⁸¹ Proklos greift diese Bestimmung auf und wendet sie auf das Eine, wenn er schreibt: „Denn wenn das Gute alles Seiende erhält, und was das Wesen von allem erhält und zusammenhält ihre Einheit ist, dann macht das Gute das, dem es innewohnt, zu einem und hält es entsprechend dieser Einung zusammen; […] wenn aber die Einung an sich gut ist und das Gute einsmachend, dann sind das schlechthin Gute und das schlechthin Eine identisch, indem es das Seiende zugleich eines und gut macht.“⁸² Indem das Eine also die Dinge „unifiziert“ und sie so im Sein bewahrt, ist es qua seiner Natur als das Eine gleichzeitig das Gute; der Beweis für die Identität des Guten und des Einen ist damit, wie Carlos Steel ausführt, auf das Prinzip „Eadem substantia est eorum, quorum naturaliter non est effectus diversus“ gegründet.⁸³ Doch greift die proklische Erklärung für die Identität des Einen und des Guten wiederum auf ein Verständnis des Gutseins des Einen im rein kausalen Sinne zurück und verfehlt damit die normative Dimension der angemessenen Zielhaftigkeit. Gleichwohl exemplifiziert sie den Zusammenhang, der zwischen der zugrundegelegten Bedeutung, in der von dem Guten gesprochen wird (der ratio boni), und der Bestimmung des Einen als des substantiellen Trägers dieser Bezeichnung (der natura boni) bestehen muss: Gerade als das Eine muss das Eine der ideale Kandidat für die Erfüllung der durch das „Gute“ bezeichneten Rolle sein.⁸⁴ 81 Def. 414e. Vgl. zu dieser Bestimmung des Gutseins bereits Platon, Rep. X, 608e: „Hast du denn nun auch die Ansicht darüber, die ich habe? – Welche denn? – Dass zerstörend und verderbend alles Übel, dass dagegen erhaltend und wohltuend das Gute ist (τὸ δὲ σῷζον καὶ ὠφελοῦν τὸ ἀγαθόν).“ 82 El. theol. prop. 13, Z. 26–3. 83 „L’Un et le Bien“, S. 71; vgl. Boethius, de cons. phil. III, 11, 22–24. 84 Vgl. „L’Un et le Bien“, S. 74.
164 | 6 Plotin: Streben nach dem Einen Halten wir an der normativen Bestimmung des Guten als das angemessene Ziel des Strebens statt, so bedeutet dies, dass es eben seine vollkommene Einheitlichkeit, sein Mangel an jeglicher interner und externer Differenz sein muss, die das Eine zum angemessenen Objekt des Strebens macht. Denn das Phänomen des Strebens (auch das des Liebens) ist nach Auffassung Plotins gerichtet auf den Besitz, die Vereinigung mit dem Erstrebten,⁸⁵ und das bedeutet eine Auslöschung der Differenz zwischen strebendem Subjekt und erstrebtem Objekt. Genau diesen Charakter des Liebens unterstreicht auch Halfwassen, in dem er das plotinische Verständnis der Liebe als „das Verlangen nach unterschiedsloser Einheit“ beschreibt, die sich „als Verschmelzung mit dem Geliebten in differenzloser Einheit, die alle Unterschiede auslöscht“ erfülle.⁸⁶ Vollständige, nicht nur äußerliche und temporäre Aufhebung der Differenz ist aber wiederum nur möglich mit dem Einen, denn bei jedem anderen Besitz – selbst dem geistigen „Besitz“ der Ideen – bleibt die eine oder andere Form von Differenz bestehen. Das Eine ist also, zusammengefasst, das angemessene, richtige Objekt des Strebens; und zwar aufgrund seiner höchsteigenen Natur, nämlich der Nichtzusammengesetztheit, der absoluten Simplizität; das liegt aber am Phänomen des Strebens selbst, das auf Einheit abzielt. Insofern ist das Gutsein nicht Teil seiner inneren Natur, und es ist „das Gute“ nur für anderes, nämlich: für Wesen, die nach ihm streben und mit ihm vereint sein können; es ist aber das Gute dennoch aufgrund seiner eigenen Natur. Dies ist, wie mir scheint, die insgesamt überzeugendste Interpretation von Plotins später Aussage: „Nicht also durch wirkende Betätigung und nicht durch das Denken darf es das Gute sein, sondern eben vermöge seines Stillestehens (τῇ μονῇ).“ ⁸⁷ Das Eine besitzt demnach seine Paradigmatizität für uns durch das, was es von sich her ist, seine Natur; aber diese Natur ist selbst nicht in irgendeiner Weise normativ aufgeladen, sondern durch vollständige Einheitlichkeit charakterisiert. Die Normativität entsteht vielmehr durch das Phänomen des Strebens, das notwendig auf das Erreichen eines Ziels gerichtet ist. Vollständige Erfüllung kann es jedoch erst in der Vereinigung mit dem Einen geben, weshalb das Eine zurecht als das „eigentliche“ oder „wahre“ Ziel des Strebens bezeichnet werden kann. Da es dies jedoch qua seiner nicht-normativ bestimmten Natur ist, haben wir es bei Plotin mit einer letztlich reduktionistischen Form von Platonismus zu tun. Die Struktur von Plotins Reflexion über Normativität lässt sich daher zusammenfassend als eine reduktionistische Form von metanormativem Platonismus
85 VI 9 [9], 9, 42–47. 86 Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, S. 57. 87 I 7 [54], 1, 17–19.
6.3 Kritik der Ethik Plotins | 165
klassifizieren: Plotin bejaht einen Realismus, dem zufolge das Gutsein von konkreten Entitäten in ihrer Gerichtetheit auf ein abstraktes Ideal, das Eine, besteht; da das Eine Ziel des Strebens jedoch qua seiner nicht-normativ bestimmten Natur ist, ist Plotin letztlich als Reduktionist zu bezeichnen. Es bleibt zu sehen, welcher Zusammenhang zwischen dieser metanormativen Struktur und einigen fragwürdigen Aspekten seiner normativen Positionen besteht.
6.3 Kritik der Ethik Plotins Seit einiger Zeit mehren sich Versuche, das traditionelle Bild von Plotin als einem weltfremden, körper- und lustfeindlichen Asketen zu revidieren und stattdessen die zugewandte Seite seiner Persönlichkeit und seines Denkens zu betonen – neben den Aufstieg aus der Höhle stellt sich die komplementäre Bewegung des Abstiegs, der Rückkehr in die Gesellschaft.⁸⁸ Man könnte als Beleg für ein fortbestehendes sachliches Interesse an der Ethik Plotins seine persönliche moralische Integrität, seine Sanftmut und Besonnenheit im Umgang und seinen selbstlosen und hingebungsvollen Einsatz für ihm anvertraute Kinder heranziehen.⁸⁹ Demgegenüber ist jedoch erstens daran zu erinnern, dass das Verhalten eines Philosophen seiner verlautbarten Lehre auch widersprechen und so wider diese zeugen kann, und dass er zweitens auch aus den falschen Gründen richtig handeln kann. Der antike Vegetarismus (einmal zugestanden, die grundsätzliche Ablehnung des Verzehrs von Fleisch sei moralisch richtig) ist etwa wesentlich motiviert durch die Vorstellung der Metempsychose; der moderne Vegetarier dagegen wird seine Einstellung meist anders, und vielleicht überzeugender, begründen. Selbst eine vorbildliche Lebensführung ist also an sich noch kein zwingender Beleg für den Besitz einer zutreffenden ethischen Theorie. Die Frage nach dem Gehalt der Ethik Plotins wird verkompliziert durch den Umstand, dass man nicht ohne Weiteres von einer Ethik Plotins im heutigen Verständnis des Wortes sprechen kann. Eine Ethik im Sinne eines Moralsystems, das das Verhalten der Menschen untereinander normativ reguliert und unterschiedli-
88 Vgl. dazu Beierwaltes, „Das Eine als Norm des Lebens“; Smith, „The Significance of Practical Ethics for Plotinus“; Schniewind, L’ éthique du sage chez Plotin; Song, Aufstieg und Abstieg der Seele; sowie Remes, „Plotinus’ Ethics of Disinterested Interest“. Die traditionelle Beurteilung findet sich etwa bei Dillon, „An Ethic for the Late Antique Sage“: Plotins Ethik sei „kompromisslos selbstzentriert und weltabgewandt“ (S. 331, ähnlich S. 320); sie biete keinen Raum für eine Dimension, die für die von der jüdisch-christlichen Tradition beeinflusste moderne Ethik zentral sei: die der Liebe oder Sorge für den anderen um seiner selbst willen. 89 Wie von Porphyrios dargestellt in der „Vita Plotini“, Kap. 9.
166 | 6 Plotin: Streben nach dem Einen che Handlungen beurteilt, findet sich bei Plotin nur punktuell, weit weniger noch Überlegungen zur politischen Philosophie.⁹⁰ Wildberg betrachtet es geradezu als ein „Hauptmerkmal der neuplatonischen Ethik“, dass es ihr – im Gegensatz zu Stoikern und Epikureern, aber auch zu Aristoteles und Platon selbst – nicht darum ginge, „Leitgedanken für das rechte Selbstverhältnis des Menschen und die echte Zwischenmenschlichkeit zu entwickeln, damit sich für den Einzelnen das gute Leben in der Gemeinschaft mit den anderen verwirklichen kann“, sondern vielmehr um „das Heil der eigenen Seele“, „welches bereits Platon mit einer Art mystischer Rückkehr zum Ursprung identifizierte, nämlich der Angleichung des Menschen an Gott (ὁμοίωσις θεῷ)“.⁹¹ Diese Angleichung an Gott, die bereits im Mittelplatonismus als Telosformel gebraucht wurde,⁹² stellt dabei gleichzeitig eine Rückkehr zum „wahren Selbst“ dar.⁹³ Die Betonung der Individualethik unter Hintansetzung der sozialen Beziehungen hat ihren Grund darin, dass Plotin äußeres Handeln, den Umgang mit anderen Menschen überhaupt für ein normativ wie deskriptiv sekundäres Phänomen hält: Alles Handeln geschieht um eines Gutes willen, und das letzte Gut oder Ziel, um dessen willen alles Handeln geschieht, ist die Schau, verstanden als ἕνωσις.⁹⁴ Die Schau wird von ihm jedoch als ein wesentlich individuelles Phänomen rekonstruiert, das zu seiner Realisierung zwar bestimmter Bedingungen bedarf, die selbst jedoch nicht den Status von Gütern, sondern von bloßen „Notwendigkeiten“ oder notwendigen Voraussetzungen genießen. Der Brennpunkt der Frage nach dem richtigen Leben verschiebt sich damit vom richtigen Umgang mit anderen Menschen hin zur Begründung der Notwendigkeit des Aufstiegs und den dazu geeigneten Praktiken. Wie John Dillon schreibt,⁹⁵ sollte uns das Fehlen von Elementen, die wir für konstitutiv für eine genuine Ethik halten, etwa das der Sorge für den anderen um seiner selbst willen, jedoch nicht davon abhalten, Plotin eine ethische Theorie zuzuschreiben. Plotin hat, wie oben dargestellt, nicht nur sehr entschiedene, sondern auch hinreichend begründete Vorstellungen darüber, worum wir uns im Leben primär bemühen sollten, um von einer ethischen Lehre zu sprechen. 90 Diesen Punkt hat Willy Theiler in die berühmte Formel vom „halbierten Platon“, Plato dimidiatus, gegossen („Plotin zwischen Platon und Stoa“, S. 67). Auch in der heutigen Forschung, die die Bedeutung der politischen Philosophie im neuplatonischen Denken stärker betont, wird nicht bestritten, dass „wir bei Plotin, anders als bei Platon und Aristoteles, keine ausführliche Diskussion idealer oder realer politischer Strukturen finden“ (O’Meara, Plotinus, S. 109). 91 Wildberg, „Pros to telos“, S. 264. 92 Alkinoos, Didaskalikos, cap. XXVIII.1. 93 Vgl. Beierwaltes, Das wahre Selbst, S. 103, Beierwaltes, „Das Eine als Norm des Lebens“, S. 137 sowie Alt, Weltflucht und Weltbejahung, S. 245. 94 Wildberg, „Pros to telos“, S. 265. 95 „An Ethic for the Late Antique Sage“, S. 332.
6.3 Kritik der Ethik Plotins | 167
Zu fragen ist jedoch, welche möglicherweise problematischen Implikationen diese Lehre hat und auf welche Prämissen diese im Einzelnen zurückzuführen sind. Im Folgenden sollen vier kritische Charakteristika der Ethik Plotins kurz diskutiert werden.
6.3.1 Bedeutungslosigkeit von Tod und Leid Wenn der Tod für Plotin eine Bedeutung hat, dann ist es eine positive; die „Trennung der Seele vom Körper“ ist kein Verlust, sondern im Gegenteil ein Gewinn. Das ist ein Ergebnis der Anthropologie Plotins, insbesondere seiner Seelenlehre. Gleich im chronologisch zweiten seiner insgesamt 54 Traktate legt Plotin ausführlich seine Argumente für die Unsterblichkeit der Seele dar. Die Seele, das „eigentliche Selbst“ (ἅπερ ἐστὶν αὐτός) des Menschen, ist nicht nur vom Körper verschieden, sie ist auch keine Affektion des Körpers, nicht „etwas am Körper“ (σώματός τι), etwa eine „Harmonie“ des Körpers, die aus einer bestimmten Konstellation materieller Bestandteile entstehe,⁹⁶ oder eine Entelechie, also eine immanente Form (wie die Gestalt der Statue).⁹⁷ Ihre Existenz hängt so in keiner Weise von der Existenz des Körpers ab, den sie beseelt. Obwohl die Seele somit als Substanz (οὐσία) zu bezeichnen ist, handelt es sich nicht um einen cartesianischen Substanz-Dualismus; das liegt daran, dass die Seele die einzige, die Substanz des Menschen ist, während sein Körper nur sekundär und temporär als solche bezeichnet werden kann. Die Seele – auch die der Tiere und Pflanzen übrigens – kann daher zwar verstümmelt werden, bleibt aber unsterblich.⁹⁸ Plotins Argumente für die Unsterblichkeit der Seele mögen dahingestellt sein; wesentlich für die Geringschätzung des Todes ist, dass der Körper, zu dem sich die Seele wie ein Handwerker zu seinem Werkzeug verhält, als Hindernis für die wahre Eigenaktivität der Seele betrachtet wird.⁹⁹ Zwar ist die Fürsorge für den Körper nicht schlechthin ein Übel für die Seele, da es ihr weiterhin möglich bleibt, dass sie selbst im „höchsten und besten Sein“ verharrt;¹⁰⁰ im Einzelnen kann die Gemeinschaft der Seele mit dem Körper aber dennoch ein „Hindernis im reinen Denken“ sein.¹⁰¹ Dieses Hindernis zu überwinden ist schon, so gut es geht, Aufgabe während des Lebens; durch die Trennung der Seele vom Körper im Tode aber wird sie befähigt, 96 IV 7 [2], 84 , 2–9. 97 IV 7 [2], 85 , 1–10. 98 IV 7 [2], 10, 25 und passim. 99 III 1 [3], 8, 10–12. 100 IV 8 [6], 2, 25–27. 101 IV 8 [6], 2, 15.
168 | 6 Plotin: Streben nach dem Einen rein und ohne Ablenkung der Kontemplation des Geistes nachzugehen. Daher kann der Tod allenfalls für den Körper ein Übel sein, der ohne die Seele dem Zerfall ausgesetzt ist; für die Seele aber ist er ein Gut. Dies versteht der Weise, und so blickt er auf die Aussicht des Todes, eigenen wie fremden, mit einer Ungerührtheit, die uns geradezu zynisch anmutet: „Wirst du ermordet – so hast du, was du wünschst.“¹⁰² Wenn es uns hier nicht gefällt, können wir ja nach drüben gehen: „Hast du überhaupt etwas auszusetzen an dieser Welt – es zwingt dich niemand, ihr Bürger zu bleiben“¹⁰³ – „der Weg ist frei“.¹⁰⁴ Auch über den Tod von Angehörigen oder Freunden zu klagen, verrät einen Mangel an philosophischer Bildung oder Vernunft: Und wenn ihm Verwandte und Freunde sterben – er weiß, was der Tod ist, und auch die ihn erleiden wissen es, wenn sie edel und ernst sind. Und mag ihn auch der Tod von Verwandten und Nahestehenden betrüben, so trifft das nicht sein Selbst, sondern nur das in ihm, das nicht Vernunft hat, und von dessen Betrübnissen wird er sich selber nicht berühren lassen.¹⁰⁵
Nicht einmal der Verlust eines Kindes, selbst wenn er natürlich nicht gewollt wird, kann den Weisen aus der heiteren Ruhe bringen, die das Kennzeichen des Glücks ist.¹⁰⁶ Eines ist es, den Tod nicht als Übel anzuerkennen – ein anderes, Leid nicht als solches ansehen zu wollen. Während sich der Tod in Plotins Perspektive nur als etwas verstehen lässt, was dem Gesamtlebewesen aus Seele und Körper widerfährt, sind körperlicher Schmerz und psychisches Leiden Affektionen der Seele, nicht des Körpers. Doch ist diese Aussage sogleich einzuschränken. Ausdrücklich erklärt Plotin, dass der eigentliche Schmerz eine den Körper schädigende Affektion sei, die von der Seele lediglich wahrgenommen werde – beispielsweise ein Riss im Muskelgewebe, dessen Wahrnehmung dann die Empfindungsqualität aufweist, die wir mit dem Wort Schmerz zu bezeichnen gewohnt sind.¹⁰⁷ Damit ist der Weg vorgezeichnet, mit Schmerzen umzugehen: Wenn er sie nicht mit wenig Mühe beheben kann, wird der Weise sie aushalten, was ihm besser gelingt als den übrigen Menschen, weil er sich leichter von ihnen distanzieren kann. Darin geht er so weit, dass er selbst unter extremen Schmerzen – für die in der griechischen Philoso-
102 103 104 105 106 107
II 9 [33], 9, 16. II 9 [33]. 9, 16–17. I 4 [46], 7, 31–32. I 4 [46], 4, 32–36. I 4 [46], 7, 1–12. IV 4 [28], 19, 4–12.
6.3 Kritik der Ethik Plotins | 169
phie der „vielberedete Stier des Phalaris“ steht¹⁰⁸ – zur Schau des Guten imstande bleibt: „das ‚größte Lehrstück‘ liegt jederzeit bereit und ihm gegenwärtig“.¹⁰⁹ Wenn ein hochgradiger Schmerz anhält, ohne jedoch den Tod herbeizuführen, wird der Weise eben „das Nötige in Erwägung ziehen“,¹¹⁰ womit wohl wiederum auf die Möglichkeit des Suizids angespielt sein soll, den Plotin in der kurzen Abhandlung „Berechtigter Freitod?“ (I 9 [16]) trotz grundsätzlicher Bedenken als Notmittel zulässt.¹¹¹ Zwar weist Beierwaltes zurecht darauf hin, dass sich diese Erlaubnis nicht auf alle „Irritationen und Bedrängnisse“ bezieht, die „dem Menschen durch seinen Leib zukommen“, sondern nur auf Extremsituationen, in denen „die Verstrickung in den Leib den Weg zum ‚wahren Selbst‘ abschneidet“.¹¹² Doch erscheint als moralisch problematisch nicht so sehr Plotins Bewertung des Suizids, sondern sein Bild von der Bedeutung menschlichen Leides. Der Grund für die geringe Einschätzung des Leides, sowohl eigenen als auch fremden, findet sich in der Unterscheidung nicht schon zwischen Körper und Seele, sondern innerhalb der Gesamtseele zwischen dem „Wahrnehmungsvermögen“ und dem eigentlichen Menschen, seiner unsterblichen Geistseele. Das wird erkennbar etwa an dem berühmten Laternengleichnis:¹¹³ Der Weise gleicht dem „Licht in der Laterne, wenn es draußen gewaltig stürmt in Windgebraus und Unwetter“; die „einzelnen Eindrücke [wirken auf den Weisen] nicht in gleicher Weise […] wie auf die andern Menschen, sie dringen nicht jeweils bis in sein Inneres, die übrigen Eindrücke so wenig wie vor allem Schmerz und Unlust.“¹¹⁴ Auch an anderer Stelle unterscheidet Plotin „das Schmerzen leidende Subjekt“ von „jenem andern Subjekt, welches, solange es jenem gezwungen beiwohnt, doch das Anschauen des Guten in seiner Gänze nicht einzubüßen hat“.¹¹⁵ Dies lässt sich mit Karin Alt so verstehen, dass „Plotin von zwei Seelen oder zwei Arten von Seelen ausgeht, die im Menschen vereint sind“, wobei die „zweite Seele […] der göttlicheren Seele innerhalb des Kosmos, im Prozess des Werdens, das ihr Daseins- und Funktionsbereich ist, hinzugefügt“ wird.¹¹⁶ In jedem Fall gilt, dass wir, das Selbst, mit dem
108 I 4 [46], 13, 7. Phalaris war im 6. Jahrhundert v. Chr. ein Tyrann in Agrigent, der seine Feinde dadurch folterte, dass er sie in die Bronzefigur eines Stieres zwang und diesen über einem Feuer erhitzte. 109 I 4 [46], 13, 5–6. 110 I 4 [46], 8, 8–9. 111 Vgl. I 9 [16], 13. 112 Beierwaltes, „Das Eine als Norm des Lebens“, S. 136. 113 I 4 [46], 8, 3–5. 114 I 4 [46], 8, 9–12. 115 I 4 [46], 13, 10–12. 116 Alt, Weltflucht und Weltbejahung, S. 116.
170 | 6 Plotin: Streben nach dem Einen denkenden, dem geistigen Seelenteil identifiziert werden, der daher auch als der „wahre Mensch“, ἀληθὴς ἄνθρωπος, bezeichnet werden kann. Da dieser jeder Affizierbarkeit durch den Schmerz entzogen ist, kann uns im eigentlichen Sinn gar kein Schmerz treffen. Auch anderes Leid, das von Vorgängen in dieser Welt ausgelöst wird – nicht nur Verlust von Macht und Eigentum, sondern auch „Zerstörung der eigenen Vaterstadt“, Vertreibung, Kriegsgefangenschaft, Versklavung, selbst Vergewaltigung der nächsten Angehörigen – besitzt Plotin zufolge keine Berechtigung, macht den Leidenden sogar lächerlich, weil er für wichtig hält, was im Grunde keinerlei Bedeutung besitzt.¹¹⁷ Wenn schon „das Sterben Sterblicher“ nichts Großes ist, können auch andere materielle Vorgänge kein Übel darstellen, da man sich ja – wenn man nur weise genug ist – stets reflexiv von ihnen distanzieren kann. Dem „eigentlichen Menschen“, der unsterblichen Seele, kann schlechterdings kein Übel angetan werden. Was hier verloren geht, ist die psychische Dimension, die Schmerzen, aber auch traumatisierenden Erfahrungen anderer Art eignet. Wo uns die von Plotin geforderte radikale Distanzierung von unserem Körper und unserer sozialen Umwelt überhaupt möglich ist, da erscheint sie selbst eher als Symptom einer Verletzung der Seele denn als Zeichen ihrer Unverletzlichkeit. Überhaupt kann Plotins Trennung von „eigentlichem Ich“ und „Wahrnehmungsseele“ als Versuch gedeutet werden, die Vulnerabilität und Fragilität des Seelischen durch eine Reduzierung des Menschen abzulegen. Verantwortlich für die inadäquate Schätzung des Leids ist daher die einseitige Identifikation „des Selbst“ mit dem vernünftigen Teil der Seele. Davon bleibt nicht nur Plotins metanormativer Platonismus unberührt; auch dem Begriff der Seele kann, recht verstanden, weiterhin eine zentrale Rolle in der Ethik zukommen, wenn es etwa darum geht, moralisch relevante Phänomene wie die rechte Aufmerksamkeit und Wahrnehmung, das Zusammenspiel von Kognition und Emotion im Charakter oder den Schaden durch moralische Korrumpierung zu beschreiben. Es gilt dabei jedoch Plotins eigene Mahnung zu beherzigen, dass die Seele in all ihren Fähigkeiten gleichzeitig als ganze wirkt, so dass sie keinen „Teil“ hat, der durch Widerfahrnisse anderer Teile unberührt bleibt.
6.3.2 Inadäquate Auffassung des Bösen Eng mit dem vorgenannten verwandt ist ein weiterer Punkt, der Plotins Ethik charakterisiert: Eine besondere Beurteilung des Unrechtleidens gegenüber bloßen
117 I 4 [46], 7, 22–26.
6.3 Kritik der Ethik Plotins | 171
Unglücksfällen, die nicht durch Menschen verschuldet wurden, lässt sich bei ihm nirgends erkennen. Damit geht die besondere Dimension, die dem Erleiden von wirklich moralischen Übeln durch andere Menschen (Grausamkeit, Folter, Vergewaltigung) gegenüber lediglich natürlichen Unglücken (Krankheit und Schmerzen, Tod von Angehörigen) zukommt, verloren; der Schaden, den Opfer von Gewalttaten erleiden, wird auf die Ebene bloß materieller Verluste gedrängt. Dies hängt gewiss auch mit der Konzeption der unverletzlichen und unsterblichen Seele zusammen, die im letzten Abschnitt betrachtet wurde, enthüllt aber noch einen weiteren Mangel der Theorie. Das wird offenbar, wenn man etwa eine Stelle wie die folgende betrachtet: Und wenn seine Angehörigen gefangen gesetzt werden, und ,Schwiegertochter und Tochter vergewaltigt‘? Laßt sehen, werden wir entgegnen: gesetzt er stürbe, ohne etwas derartiges erlebt zu haben, würde er dann beim Hinscheiden des Glaubens leben, derartige Ereignisse seien unmöglich? Dann wäre er ein Tropf. Muß er also nicht glauben, daß es möglich ist, daß seinen Verwandten solche Schicksalsschläge widerfahren? Und hindert ihn nun der Glaube, daß derartiges geschehen kann, an der Glückseligkeit? Nein, er ist trotz dieses Glaubens glückselig, mithin auch dann, wenn es nun wirklich eintritt. Denn er wird sich vor Augen halten, daß unser Weltall nun einmal so angelegt ist, daß es derartiges mitführt, und daß man diesem All Gefolgschaft leisten muß.¹¹⁸
Wir neigen zu der Annahme, dass es einen ganz entscheidenden Unterschied macht, ob das mögliche Übel auch tatsächlich eintritt oder nicht, und dass es in der Verantwortung des Täters liegt, ob ein Unrecht getan wird oder nicht – im Unterschied zum Unglück „geschieht“ ein Unrecht nicht einfach, sondern wird ausgeführt. Plotin dagegen scheint das Unrecht für eine notwendige Begleiterscheinung eines insgesamt doch gut eingerichteten Universums zu halten. Dass es im All zu sei es außermoralischen, sei es moralischen Übeln kommt, ist zurückzuführen auf seine Zusammensetzung aus Seele und Materie. Die erste Materie ist von sich her völlig unbestimmt, und da sie so des Maßes, der Form und der Grenze entbehrt, die das Gute kennzeichnen, ist sie die „Substanz des Schlechten“.¹¹⁹ In zweiter Linie schlecht sind die (materiellen) Körper, die wesensnotwendig an der Materie teilhaben; von diesen wiederum erhalten die Seelen in ihrem unvernünftigen Teil Anteil an „Ungemessenheit und Übermaß und Mangel“, und aus ihnen erwächst dann Zuchtlosigkeit und Feigheit und was es sonst Böses in der Seele gibt.¹²⁰ Der bösen Seele fehlt es somit lediglich an besserer Einsicht, weil sie dem vernunft-
118 I 4 [46], 7, 32–42. 119 I 8 [51], 3, 35–40. 120 I 8 [51], 4, 9–11.
172 | 6 Plotin: Streben nach dem Einen losen Seelenteil nachgibt und sich auf die Materie statt auf den Geist richtet;¹²¹ Augustinus gießt diesen Gedanken später in die berühmte Formel, das Böse sei eine „Beraubung an Gutem“ (privatio boni).¹²² Moralische Schlechtigkeit kann gewiss viele Gestalten annehmen, von Gleichgültigkeit über Grausamkeit bis zum Blutrausch; sie aber alle als Formen bloßer „Unbestimmtheit“ oder eines „Mangels an Gutem“ betrachten zu wollen, widerspricht ganz elementarer Erfahrung. Dem Sadisten etwa fehlt es nicht einfach nur an Einfühlungsvermögen für seine Opfer; er handelt, wie er handelt, gerade weil er dieses Einfühlungsvermögen besitzt und aus dem wahrgenommenen Leid der Opfer seine Lust bezieht. Plotin könnte darauf entgegnen, dass der Sadist gerade aus einer maßlosen Orientierung an der Lust heraus handelt. Doch die maßlose Orientierung an der Lust kann sich auch in anderen Formen äußern, etwa in Fresssucht oder Sexbesessenheit – schlechten Eigenschaften gewiss, die als solche einen Menschen aber noch nicht unbedingt böse machen. Das Böse würde vielmehr nach weithin geteilter Auffassung da ins Spiel kommen, wo andere verletzt oder beeinträchtigt werden. Plotin ist jedoch vorgehalten worden, seine Ethik sei „egozentrisch“ und verfüge gar nicht über die Mittel, den anderen als anderen wirklich in den Blick zu nehmen. Ist dieser Vorwurf berechtigt?
6.3.3 Selbstzentriertheit Handelt der Weise zumindest manchmal nicht um des eigenen Wohls (der εὐδαιμονία), sondern um dessen der anderen willen? Bietet Plotins Ethik, mit anderen Worten, Raum für genuin selbstloses Verhalten, wie wir es als essentiell für eine ethische Perspektive betrachten, die diesen Namen verdient? Gegen die traditionelle Interpretation, die Plotin eine solche abspricht, haben neuere Arbeiten den Versuch unternommen, „zu zeigen, wie die geistigen Anstrengungen neuplatonischer Philosophen zu einer echten ethischen Theorie führen, einer, die wir verstehen können, die sogar zu einem gewissen Grade bekannt vorkommt, deren Aspekte vielleicht sogar ansprechend sind“ – so Pauliina Remes in ihrem Aufsatz „Plotinus’ Ethics of Disinterested Interest“.¹²³ Sie führt dazu vor allem die Verbindung zwischen kosmologischem Verständnis und moralischen Entscheidungen 121 I 8 [51], 4, 12 und 25–28; vgl. Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, S. 125, der zurecht festhält, dass die Seele Plotin zufolge „an sich selbst immer gut“ sei und die moralische Schlechtigkeit „erst dadurch zustande [kommt], dass die Seele sich von der Materie zur Irrationalität verführen lässt“. 122 Augustinus, de civ. Dei, XI, 22. 123 „Plotinus’ Ethics of Disinterested Interest“, S. 20.
6.3 Kritik der Ethik Plotins | 173
ins Feld.¹²⁴ Der Weise verfügt dank seiner Kenntnis um die geistigen Vorbilder über ein umfassendes Verständnis etwa der „Arten von Aktivitäten und Zielen, die Menschen eigen sind“.¹²⁵ Seine Entscheidungen (προαίρεσις) kann der Weise daher im Blick auf das Ziel des ganzen Universums fällen; Plotin fordert sogar explizit, man solle „nicht darauf […] sehen, was dem einzelnen nach dem Sinn ist, sondern auf das Ganze, das All“.¹²⁶ Ähnlich heißt es an einer anderen Stelle: Das Ganze aber bewirkt gewiß diese Vorgänge in den Einzeldingen; es selber aber trachtet nur nach dem Guten, vielmehr es schaut das Gute. Danach trachtet auch der rechte Wille (ἡ ὀρθὴ προαίρεσις), welcher über den Leidenschaften steht, und trägt damit zu demselben Ziele bei. So ist es auch bei denen, die bei einem anderen als Kolonen arbeiten: vieles von dem, was sie tun, hat nur die Aufträge ihres Herrn zum Gegenstand; ihr Trachten nach dem Guten aber hat dasselbe Ziel wie das Trachten ihres Herrn.¹²⁷
Remes folgert daraus, dass es sich bei der plotinischen Ethik nicht um eine rein akteurszentrierte Perspektive handle; der „kosmologische Standpunkt“ mache statt des individuellen Wohls das des Kosmos als ganzen zum τέλος des Lebens. Beim moralischen Fortschritt handle es sich somit um einen Prozess hin zur „Erkenntnis der Begrenztheit akteurszentrierter Überlegungen und zur gleichzeitigen schrittweisen Eröffnung der akteursneutralen Perspektive“.¹²⁸ Die erste Frage, die sich im Zusammenhang mit diesen Überlegungen stellt, ist, ob sie als Interpretation Plotins angemessen sind; die zweite, ob die in ihnen ausgedrückte moralische Perspektive zu überzeugen vermag. Was die Frage der interpretatorischen Adäquatheit betrifft, dürfen Zweifel angemeldet werden. Aus der ersten zitierten Stelle in der Schrift „Gegen die Gnostiker“ (II 9 [33]) geht zwar hervor, dass es ein Wohl, einen geordneten Zustand des Universums gibt, der über das Wohl der darin enthaltenen Individuen hinausgeht. Damit ist jedoch keineswegs die Forderung verbunden, sich dieses Wohl als Ziel des eigenen Lebens zu eigen zu machen; es wird lediglich verlangt, „geduldig hinzunehmen, was infolge der Bewegung des Alls […] etwa Unvermeidliches zustößt“.¹²⁹ Ähnliches ist uns oben schon im Zusammenhang mit den Schicksalsschlägen begegnet, die uns selbst oder unseren Angehörigen widerfahren. Es ist richtig, dass der plotinische Weise weder seinem eigenen irdischen Wohlergehen noch dem irgendeines anderen Menschen eine besondere Bedeutung beimisst.
124 125 126 127 128 129
„Plotinus’ Ethics of Disinterested Interest“, S. 18. Ebd. II 9 [33], 9, 74–76. IV 4 [28], 35, 31–37. „Plotinus’ Ethics of Disinterested Interest“, S. 19. II 9 [33], 9, 73–75.
174 | 6 Plotin: Streben nach dem Einen An einer Reihe von Stellen hält er jedoch unmissverständlich fest, dass es dem Handelnden im Handeln stets um sein eigenes Gut geht; nur besteht dieses Gut eben nicht in irdischem Wohlergehen, in Reichtum, Schönheit, Macht, sondern in der zunehmenden Vergeistigung der dynamischen Seele und ihrer Abtrennung von der materiellen Welt. So schreibt er, dass „ein jedes seinem Wesen gemäß nach seinem eigenen Besten strebt“¹³⁰ und alle Dinge – ausdrücklich nicht nur die vernünftigen, sondern „auch die vernunftlosen Geschöpfe und die Naturkraft, die in den Pflanzen ist, und die Erde, die die Pflanzen hervorbringt“ – nach der Schau als ihrem eigentlichen Ziel streben, auch wenn sie nur zu einer Nachahmung der Schau in der Lage sein sollten.¹³¹ Und auch die zweite angeführte Stelle vermag die These einer Akteursneutralität in der Ethik Plotins nicht zu stützen. Ganz im Gegenteil: Das „Ganze“ – das „Weltwesen“ als einheitliches, also die Weltseele – ist durch den Geist auf das Gute gerichtet; die einzelne Seele ist auf dasselbe gerichtet, weil es für sie selbst ebenfalls das Gute ist. Einige andere Stellen scheinen indes nahezulegen, dass Plotins Ethik des Aufstiegs, des „Erwachens zu sich selbst“ von einer komplementären Forderung nach einer Rückkehr in die „Höhle“ ergänzt wird, wo sich der Weise um seine Mitmenschen bemühen muss. Einschlägig ist hier vor allem VI 9 [9], 7, 21–28: Und ist man so mit Jenem vereint und hat genug gleichsam Umgang gepflogen, so möge man wiederkehren und wenn mans vermag auch andern von der Vereinigung mit Jenem Kunde geben; in solcher Vereinigung stand vielleicht auch Minos, weshalb er in der Sage als ‘des Zeus vertrauter Genosse’ galt, und dieser Gemeinschaft gedenkend gab er als ihr Abbild seine Gesetze, durch die Berührung des Göttlichen befruchtet zur Gesetzgebung; oder man möge, hält man das Politische seiner nicht für würdig, oben verweilen wenn man will (?) – und das wird dessen Haltung sein der viel geschaut hat.
Die Aufforderung, in die Höhle zurückzukehren, erscheint hochgradig überraschend, wenn man sich vor Augen führt, wie häufig und wie nachdrücklich Plotin zur „Flucht“ (φυγή) aus dieser Welt hin zum Einen auffordert. Woher also die Forderung nach der Rückkehr? O’Meara äußert sich zurückhaltend über die Möglichkeit einer Begründung: „Die Gründe für die Pflicht, das Eine mitzuteilen und im Lichte des Göttlichen Gesetze zu geben, werden bei Plotin nicht näher ausgeführt.“¹³² Und tatsächlich kommt auch an der zitierten Textstelle die Forderung nach der Sorge um die Mitmenschen etwas unvermittelt. Mehr noch, eine echte Sorge um den anderen scheint der eudaimonistischen, von Plotin geteilten Grundüberzeugung zu widersprechen, dass das Handeln nicht nur immer auf ein Gut, sondern auch 130 IV 4 [28], 32, 37–39. 131 III 8 [30], 1, 2–7. 132 „Neoplatonic Conceptions of the Philosopher-king“, S. 282.
6.3 Kritik der Ethik Plotins | 175
immer auf ein eigenes Gut zielt. Vielleicht findet dieser scheinbare Widerspruch jedoch seine Auflösung darin, dass es sich bei dem anderen nur partiell um einen Fremden handelt. Denn die Seele, so zitiert Plotin Platon immer wieder, „teilt sich an den Körpern“;¹³³ diese Teilung beruht auf dem mangelhaften Aufnahmevermögen der Körper, so dass die Teilung eher eine Affektion der Körper als der Seele ist.¹³⁴ Soweit sie nicht an den Körpern geteilt ist, bleibt somit auch die Einheit der Seele gewahrt. Dies führt Plotin zu dem Schluss, dass die Seelen aller Menschen, ja überhaupt aller lebenden Wesen identisch sind, obwohl nicht zwangsläufig deshalb auch das „Gesamtlebewesen“ aus Körper und Seele identisch sein muss. Die Identität der Seelen wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass verschiedene Individuen unterschiedliche Empfindungen haben und nicht jede Empfindung des einen auch dem anderen bewusst werden muss. Wenn nun das Vernünftige das an der Seele ist, was sich nicht an den Körpern teilt, sondern ungeteilt und ganz im geistigen Bereich verbleibt, und wenn ferner der vernünftige Seelenteil unser eigentliches Ich ist, dann sind alle vernünftigen Seelen eine. Weshalb können diese Spekulationen der Seelenlehre Plotins von weiterem Interesse sein? Sie zeigen, dass Plotin die grundlegende Konzeption der Sorge für sich selbst auch in der scheinbar philanthropischen Aufforderung nicht verlässt, für die Seelen der anderen Sorge zu tragen; diese anderen sind in Wahrheit gar keine anderen, sie sind mit uns selbst identisch. Das vermag zwar die Vorstellung der Solidarität zu wecken, ist aber letztlich doch nichts anderes als eine Spielart des ethischen Egoismus. Dieser wird, wie gesehen, genährt von der Konzeption des Guten als notwendigen Gegenstand eines Strebens. Als eines der Grundübel der Ethik Plotins erweist sich somit der nicht erst normative, sondern schon handlungstheoretische Egoismus, der den Begriff des Guten eng an den des wesentlichen Mangels bindet. Dies ist freilich kein idiosynkratischer Zug plotinischer Ethik, sondern bereits ein Erbstück der Auffassungen Platons selbst.
6.3.4 Teleologische Unterordnung Eng damit verbunden ist der Vorwurf der „Weltflucht“ (other-worldliness). Zwar betont Plotin gegen die Gnostiker, die die wahrnehmbare Welt für die Schöpfung eines „bösen Gottes“ hielten, dass auch sie ein Spross des Guten sei; bei Plotin findet sich „kein Dualismus zwischen Geist oder Gott und Materie, sondern zwischen dem geistig-göttlichen Bereich und der Welt, einer Welt, die ein beseelter und
133 Tim. 35a; zitiert etwa IV 2 [4], 1, 74, IV 2 [4], 1, 34; IV 9 [8], 2, 27. 134 IV 2 [4], 1, 74
176 | 6 Plotin: Streben nach dem Einen vom Geist geprägter Kosmos ist“.¹³⁵ Diese Welt ist daher von bewundernswerter Schönheit und Ordnung, und die sinnlich wahrnehmbare Schönheit stellt die erste Stufe des Aufstiegs zum Einen dar ¹³⁶. Aber: Sie ist doch nur eine Stufe, die es zu überwinden gilt; auf sie folgen schöne Handlungen, Charaktere, Erkenntnisse, dann die Schönheit des geistigen Kosmos selbst und schließlich die Ursache des Schönen. Plotin glaubt, im Anschluss an Platon, an die Möglichkeit, „das Schöne selbst“ zu schauen, „an und für sich und in seiner Reinheit, nicht mit Fleisch und Körper befleckt“.¹³⁷ Denjenigen von uns, die nicht zu den Glücklichen gehören, von denen Plotin sagt: „Wer es gesehen hat, weiß, was ich meine“,¹³⁸ fällt es schwer, an die Möglichkeit der direkten Erkenntnis eines in dieser Art nicht inkarnierten Schönen zu glauben. Das gilt nicht nur von dem Schönen, sondern vom gesamten Kosmos der Ideen und vom transzendenten Einen selbst. Ebenso problematisch wie die Frage nach der Erkennbarkeit eines abstrakten Ideals des Schönen ist jedoch die Folgerung, dass die schönen Einzeldinge lediglich eine zu überwindende Stufe beim Aufstieg zum Einen bilden. Ähnliches lässt sich mutatis mutandis auch für das Gutsein konkreter Objekte sagen: Stets ist es das Eine, dass das eigentlich Wertvolle darstellt, während alles andere seinen Wert daraus bezieht, wie sehr es dem geforderten Eins-Sein nahekommt. Es ist dann schwer zu sehen, wie es noch um seiner selbst willen erstrebt oder geschätzt werden könnte. Das macht das Problem der teleologischen Unterordnung, das oben (S. 121) dargestellt wurde, in voller Schärfe deutlich: Was nur als etwas gut ist, entweder als Mittel zu einem vorgegebenen Zweck oder als Fall einer Gattung, kann stets durch etwas anderes ersetzt werden, das in demselben Sinne gut ist – falls nicht sogar gänzlich darauf verzichtet werden kann. Der einzigartige Wert, die unersetzbare Individualität etwa menschlicher Personen, herausragender Kunstwerke oder natürlicher Landschaften spielt bei Plotin dagegen keinerlei Rolle. Als Theorie der Vortrefflichkeit kann seine Lehre daher das Merkmal der Finalität nicht hinreichend abbilden.
6.4 Zusammenfassung Als Resultat dieser Ausführungen lässt sich zunächst festhalten, dass Plotins philosophisches System eine Form des metanormativen Platonismus exemplifiziert. Das Gutsein ist eine wirkliche Eigenschaft, ein reales Merkmal konkreter Gegenstände; 135 136 137 138
Alt, Weltflucht und Weltbejahung, S. 14. I 6 [1]. Vgl. Beierwaltes, „Das Eine als Norm des Lebens“, S. 148. I 6 [1], 7, 22f. I 6 [1], 7, 2.
6.4 Zusammenfassung | 177
es ist identisch mit dem Grad ihrer Nähe zu einem idealen abstrakten „Objekt“, nämlich dem Einen. Dieses erhält, wenn die hier vorgestellten Überlegungen zutreffend sind, seinen Status als Paradigma gerade aus seiner vollkommenen Einheitlichkeit, denn diese ist es, die es zum einzig angemessenen Ziel des Strebens macht: Nur in der völligen Einswerdung kann das Streben an einen endgültigen Schlusspunkt gelangen. Da das Eine somit aufgrund seiner intrinsisch nicht-normativen Natur zum abstrakten Relat der Beziehung des Gutseins wird, können wir bei Plotin von einer reduktionistischen Variante des Platonismus sprechen. Die Identifizierung des Gutseins mit der Nähe zum vollkommenen Einen führt jedoch zu einer Reihe von Schwierigkeiten, die die enge Verschränkung metanormativer und normativer Aspekte aufzeigen. Die These, dass das Gutsein von Menschen in nichts anderem besteht als in dem Grad ihrer Angleichung an das Eine, ist auch daran zu messen, ob die sich durch diese Gleichsetzung ergebenden Urteile normativer Natur in Konflikt mit unseren wohlerwogenen, kritisch geprüften ethischen Intuitionen stehen. Und obwohl diese prinzipiell der Kritik und Revision offenstehen müssen und nicht als sakrosankt betrachtet werden können, ist ein ethisches System, das moralisch eindeutig fragwürdige Verhaltensweisen und Einstellungen empfiehlt, aus eben diesem Grunde selbst in Frage zu stellen. Solche normativ problematischen Aspekte sind nun bei Plotin in der Tat zu konstatieren: Der (physische) Tod wird von ihm ebenso wie körperliches und seelisches Leid als letztlich bedeutungslos betrachtet; die normative Realität des Bösen, die die Reaktion des „sprachlosen Entsetzens“ herausfordert, findet in der Lehre von der privatio boni, wie oft vermerkt worden ist, keinen hinreichenden Widerhall; das Handeln des „guten“ Menschen ist aufgrund des handlungstheoretischen Egoismus letztlich nur auf das Wohl der eigenen Seele gerichtet; und auch die vortreffliche Seele, die die Einheit mit dem Einen erreicht hat, ist letztlich nicht um ihrer selbst willen gut, sondern nur, insofern sie die radikale Einheit des Einen repräsentiert. Als fraglich kann zudem gelten, ob die Identifizierung des abstrakten Ideals mit dem Einen den kategorischen Charakter, den seine Erstrebung Plotin zufolge besitzt, angemessen erklären kann; dass sich das Streben im Einzelnen jeweils auf seine Erfüllung richtet, bedeutet ja noch keineswegs, dass das Phänomen des Strebens als solches auf ein Ziel gerichtet sein sollte, in dem es vollständig zur Ruhe kommt. Die Probleme der Bedeutungslosigkeit von Leid und Tod und des kategorischen Charakters der „Flucht“ in die geistige Wirklichkeit lassen sich nun direkt auf die Identifizierung des Guten mit dem Einen zurückführen, die inadäquate Auffassung des Bösen zumindest indirekt: Selbst wenn das Handeln des Bösen anders denn als bloßer Mangel an Form beschrieben würde, etwa als Abwendung und Gegnerschaft zum Guten, bliebe unverständlich, worin das distinkte Übel darin besteht, wenn dies bloß als Feindschaft zum Einen gemeint wäre. Der handlungstheoretische
178 | 6 Plotin: Streben nach dem Einen Egoismus – die These, dass jeder in seinem Handeln de facto stets das eigene Wohl anstrebt – ist dagegen zwar ein platonisches Erbstück, aber von den konstitutiven Thesen des metanormativen Platonismus unabhängig. Fraglich ist, ob sich das Problem der teleologischen Unterordnung durch andere Varianten des Platonismus umgehen lässt; Plotins Reduktionismus ist dazu jedenfalls nicht angetan. Trotz all dieser Schwächen und Fragwürdigkeiten demonstriert die Philosophie Plotins jedoch auch einige der Vorzüge, die einen metanormativen Platonismus auch auf der Ebene der durch ihn ermöglichten ethischen Perspektive zu empfehlen vermögen. Dazu zählt insbesondere seine existenzielle Relevanz: Plotins Ethik ist (wie alle ethischen Systeme der Antike) eine Position, die eine umfassende Lebensform empfiehlt, nicht lediglich Handlungsanweisungen gibt. Diese Lebensform verlangt eine klare Transformation der Sicht auf das Leben, indem die natürliche Identifikation des Menschen überwunden werden soll. All diese Motive finden sich mit noch größerer Deutlichkeit im Mittelpunkt des Denkens Iris Murdochs.
7 Iris Murdoch: die Idee der Vollkommenheit Im Mittelpunkt der Ausführungen dieses Kapitels steht das Werk der englischen Philosophin und Schriftstellerin Iris Murdoch (1919–1999). Obwohl eine Reihe der bedeutendsten Gegenwartsphilosophen Zeugnis von Murdochs Einfluss abgelegt haben,¹ sind ihre philosophischen Schriften (insbesondere die 1970 unter dem Titel The Sovereignty of Good erschienenen Essays,² aber auch ihr letzter Band Metaphysics as a Guide to Morals³) erst in den letzten Jahren zunehmend auch zum Gegenstand der fachphilosophischen Diskussion geworden.⁴ Nach wie vor ist jedoch umstritten, wie Murdochs Position metanormativ einzuordnen ist. Diese Schwierigkeiten haben sicher mehrere Gründe, zu denen der in den 1960er Jahren erreichte Grad der Theoriebildung ebenso gehören dürfte wie Murdochs essayistischer, bei aller gedanklichen Präzision bisweilen weniger an einer einheitlichen Begriffssprache als an einer möglichst effektvollen Bekämpfung des jeweiligen Gegners interessierter Stil. Die meisten bisherigen Kommentatoren haben sich zwar gezwungen gesehen, ihre Ansichten als eine Art von Realismus zu betiteln, doch steckt der Teufel im Attribut. Denn hinter den Bezeichnungen „klassischer moralischer Realismus“, „irdischer Realismus“, „revisionärer Realismus“, „pragmatischer Realismus“ und „reflexiver Realismus“ verbergen sich nichts weniger als bloße Varianten derselben Grundidee, sondern ein breites Spektrum von dezidiert konstruktivistischen bis hin zu „robust“ realistischen Ansätzen. Angesichts dieser Lage liegt es nahe, zu fragen, ob der Versuch, Murdochs Position in eine der bekannten metanormativen Großtheorien einzuordnen, nicht schon im Ansatz verfehlt ist und eine wirklich originelle und eigenständige Stimme „knebelt“, um einen Ausdruck von Mark McLean zu gebrauchen. Auch die Klassifizierung Murdochs als Tugendethikerin, wie sie lange üblich war⁵ und bisweilen noch heute anzutreffen ist, ist in dieser Weise irreführend, insofern sie Murdochs platonisches Verständnis von Tugend und insbesondere deren Beziehung auf „das
1 Unter ihnen John McDowell, Charles Taylor und Martha Nussbaum. Vgl. Antonaccio, Picturing the Human, S. 156, und Broackes, Iris Murdoch, Philosopher, S. 7. 2 Umfassend „The Idea of Perfection“ (entstanden 1962/Erstveröffentlichung 1964), „On ‘God’ and ‘Good’“ (1969/1970) und „The Sovereignty of Good over other Concepts“ (1967/1970). 3 London 1992. 4 Einen Meilenstein in dieser Debatte stellt der Band Iris Murdoch, Philosopher (hrsg. Justin Broackes) von 2012 dar, in dem sich Autoren wie Roger Crisp und Julia Driver mit Murdochs Werk auseinandersetzen. 5 Vgl. Crisp und Slote, Virtue Ethics sowie Crisp, „Virtue Ethics“ (in der Routledge Encyclopedia of Philosophy). https://doi.org/10.1515/9783110623871-007
180 | 7 Iris Murdoch: die Idee der Vollkommenheit Gute“ zu verfehlen droht.⁶ Ähnlich könnte man fragen, ob sich etwa die Klassifizierung von Murdochs Position als „response-dependent account of moral properties“ mit einem „ideal-observer standard of correctness“⁷ einer geduldigen Lektüre ihrer Texte tatsächlich aufdrängt und nicht viel eher dem Bedürfnis entspringt, Murdochs „Theorie“ verorten zu können und so ihrer habhaft zu werden. Es wäre jedoch ein Fehler, denke ich, daraus den Schluss zu ziehen, man müsse Murdochs Werk gleichsam als einen Solitär betrachten, der sich nicht in abgrenzender oder affirmierender Weise auf andere Positionen beziehen lässt – schon deshalb, weil Murdoch selbst ja die Auseinandersetzung mit ihren philosophischen Gegnern sucht und diese Auseinandersetzung nicht allein in negativ-kritischer Weise bestreitet. Was Murdoch jedoch in der Tat vom Hauptstrom der zeitgenössischen Moralphilosophie trennt, ist ihr wiederholtes Bekenntnis zu Platon als dem „Philosophen, unter dessen Banner sie kämpft“.⁸ Ich möchte daher im Folgenden der Frage nachgehen, ob sich Murdochs Position als eine Form von metanormativem Platonismus kennzeichnen lässt: eine Position, in der realistisch verstandene Werteigenschaften als Beziehungen zu einem abstrakten Ideal des Guten verstanden werden. Weitgehend unumstritten ist, dass Murdoch einen Objektivismus vertritt, der jedoch einige ungewöhnliche Züge aufweist (Abschnitt 7.1). An der Frage, welche ontologischen Verpflichtungen mit diesem Objektivismus einhergehen, scheiden sich realistische und konstruktivistische Interpretationen; in Abschnitt 7.2 wird für eine realistische Deutung argumentiert. Abschnitt 7.3 befasst sich dann mit der Frage, welchen ontologischen Status für Murdoch „das Gute“, auch als „Idee der Vollkommenheit“ bezeichnet, einnimmt. Sowohl gegen bewusstseinsinternalistische Deutungen, die „das Gute“ innerhalb des menschlichen Bewusstseins verorten, als auch gegen quasitheistische Interpretationen, die es als eine Art Gott ohne alle personalen Attribute verstehen, wird die Idee der Vollkommenheit hier als ein zu realisierendes, aber essentiell unrealisiertes Ideal gedeutet. Murdoch vertritt demnach eine Variante des metanormativen Platonismus, die wie diejenige Plotins nicht-theistisch, aber im Unterschied zu dieser auch nicht-reduktionistisch ist. Das erlaubt es, einige der zuletzt betrachteten Schwierigkeiten zu vermeiden, bringt aber andere Probleme mit sich (7.4).
6 Vgl. McLean, „On Muffling Murdoch“. 7 Jordan, „Reconsidering Iris Murdoch’s Moral Realism“. 8 Murdoch, „The Sovereignty of Good“, S. 364.
7.1 Murdochs Objektivismus der richtigen Sicht | 181
7.1 Murdochs Objektivismus der richtigen Sicht 7.1.1 Der Gegenstand der Moral Murdochs Essays der 50er und 60er Jahre, insbesondere „Vision and Choice in Morality“ und „The Idea of Perfection“, richten sich gegen die „schwer befestigte Stellung“⁹ des philosophisch dominierenden Menschen- und Moralbildes ihrer Zeit, das Murdoch zufolge gleichzeitig als behavioristisch, existentialistisch und utilitaristisch bezeichnet werden kann: behavioristisch, insofern es die „Bedeutung und das Wesen des Handelns mit dem öffentlich Beobachtbaren“ verknüpft; existentialistisch in seiner „Betonung des solitären, allmächtigen Willens“; und utilitaristisch durch seine Annahme, dass es die Moral „einzig und allein mit öffentlichen Akten zu tun haben kann“, während dem inneren Leben des moralischen Subjekts bestenfalls eine untergeordnete Rolle zufällt.¹⁰ In diesem Menschenbild begegnen sich die „unambitioniert optimistischen“ analytischen Philosophen (Hampshire, Hare, Ayer, Ryle) mit dem kontinentalen Existentialismus Sartres. „Schwer befestigt“ ist diese Position vor allem deshalb, weil sie sich mit einer bestimmten Theorie der Bedeutung moralischer Ausdrücke verknüpft, die alternative Auffassungen vom Charakter der Moral fast begrifflich auszuschließen scheint. Um diese Theorie zu untergraben, führt Murdoch ein längeres Beispiel ein, anhand dessen sie auch ihre eigene Sicht moralischer Begriffe ausführt: Eine Mutter (M) empfindet Feindseligkeit gegenüber ihrer Schwiegertochter (D). M hält D zwar für ein herzensgutes Mädchen, aber, wenn auch nicht gerade für vulgär, so doch definitiv für ungeschliffen, zu wenig würdevoll, zu wenig fein. D neigt dazu, schnippisch und aufdringlich zu sein, ungenügend zeremoniös, brüsk, manchmal geradezu grob, stets in ermüdender Weise mädchenhaft. M gefällt weder Ds Akzent noch ihr Kleidungsstil. Sie glaubt, dass ihr Sohn unter seinem Niveau geheiratet hat. Nehmen wir weiter an, dass sich die Mutter, eine sehr „korrekte“ Person, stets tadellos gegen das Mädchen benimmt und ihre wahre Meinung nie in irgendeiner Form durchscheinen lässt. Wir könnten diesen Aspekt des Beispiels betonen, indem wir annehmen, dass das junge Paar ausgewandert oder D in der Zwischenzeit gestorben ist, um sicherzustellen, dass alles, was vielleicht noch geschieht, allein in Ms Kopf (mind) geschieht. Soviel zu Ms ersten Gedanken über D. Die Zeit vergeht, und es wäre möglich, dass sich M, ein verfestigtes Bild von D im Kopf, einem Gefühl der Trauer hingibt, gefangen (um einen präjudizierenden Ausdruck zu gebrauchen) von dem Klischee: Mein armer Sohn hat ein dummes, gewöhnliches Mädchen geheiratet. Aber die M unseres Beispiels ist eine kluge Person mit gutem Willen, fähig zur Selbstkritik und fähig dazu, einem Gegenstand, dem sie begegnet, sorgfältige und gerechte Aufmerksamkeit zu schenken. So sagt sie sich: „Ich
9 Murdoch, „The Idea of Perfection“, S. 311. 10 Ebd., S. 305.
182 | 7 Iris Murdoch: die Idee der Vollkommenheit bin altmodisch und konventionell. Vielleicht habe ich Vorurteile und bin unaufgeschlossen. Vielleicht bin ich auch dünkelhaft. Auf jeden Fall bin ich eifersüchtig. Sehen wir noch einmal genauer hin.“ Und jetzt nehmen wir an, dass M D beobachtet oder zumindest bewusst über D nachdenkt, bis sich langsam ihr Blick auf D ändert. Wenn wir annehmen, dass D mittlerweile abwesend oder tot ist, können wir sicherstellen, dass der Wandel nicht in Ms Verhalten stattfindet, sondern nur in ihrem Kopf. Sie entdeckt, dass D nicht gewöhnlich ist, sondern erfrischend schlicht, nicht zu wenig würdevoll, sondern spontan, nicht laut, sondern fröhlich, nicht ermüdend mädchenhaft, sondern wunderbar jugendlich. Und dabei, wie gesagt, ändert sich ex hypothesi Ms äußeres Verhalten, das von Anfang an tadellos war, in keiner Weise.¹¹
Die „behavioristische“ Konzeption der Bedeutung moralischer Begriffe, gegen die Murdoch dieses Beispiel richtet, wird von ihr auch als „genetisch“ bezeichnet. „Genetisch“ deshalb, weil dieser Konzeption zufolge die Bedeutung eines Begriffs durch den Kontext, in dem wir ihn erlernen, also durch seinen öffentlichen Gebrauch vollständig bestimmt wird. Wir erlernen einen Begriff wie den der Entscheidung durch die Beobachtung einer Verknüpfung des Ausdrucks „entscheiden“ mit einem bestimmten Verhalten, etwa der Ausführung dessen, was zuvor mit einem Satz der Form „ich habe mich entschieden, x zu tun“ angekündigt wurde.¹² Soviel wird auch von Murdoch zugestanden. Die „genetische Begriffsanalyse“ geht jedoch darüber hinaus, indem sie behauptet, man habe mit dieser Verbindung zugleich auch schon das Wesen des Begriffs erfasst; es gibt keinen weiteren Fortschritt hin zu „mentalen“ Begriffen. Kurz gesagt, identifiziert die „genetische“ Begriffsanalyse die Bedeutung von moralisch und psychologisch bedeutsamen Begriffen mit einem bestimmten äußeren Verhalten: „Der Begriff hat keine innere Struktur – er ist seine äußere Struktur.“¹³ Das „Innere“ oder „Private“ wird von dieser Theorie für vollkommen irrelevant und daher inexistent erklärt. Murdoch hält die genetische Methode für durchschlagend, wenn es um die Analyse etwa von Farbausdrücken geht. Für fragwürdig hält sie jedoch deren Anwendung auf moralische und psychologische Begriffe. Der Gedanke, den sie hier als leitend ansieht, lässt sich etwa wie folgt formulieren: Wenn mentale Begriffe nur genetisch, also durch den Bezug auf öffentlichen Gebrauch analysiert werden können, dann hängt ihre Bedeutung einzig vom öffentlich beobachtbaren Handeln ab. Dann ist es eine Sache der Logik – eine Sache der Bedeutung der enthaltenen Begriffe –, dass der Gegenstand der Moral das Handeln im Sinne des beobachtbaren Verhaltens ist: „Die Moral muss es mit dem Handeln zu tun haben, weil mentale Begriffe nur genetisch analysiert werden können.“¹⁴ 11 12 13 14
Murdoch, „The Idea of Perfection“, S. 312f. Ebd., S. 309. Ebd., S. 309. Ebd., S. 311.
7.1 Murdochs Objektivismus der richtigen Sicht | 183
Die erste Funktion des Beispiels von M und ihrer Schwiegertochter D besteht nun darin, diese Auffassung des Wesens der Moral in Zweifel zu ziehen. Gegenüber der heute genauso wie zu ihrer Zeit verbreiteten Auffassung, dass die Moral es primär oder ausschließlich mit dem „guten und richtigen Sichverhalten“¹⁵ zu tun hat, insistiert sie auf der Bedeutung des „inneren Lebens“, freilich ohne dadurch die Bedeutung des Handelns bestreiten zu wollen oder, wie Murdoch sagt, „Reinheit des Herzens als wichtiger denn das Handeln“ zu empfehlen. Im Gegenteil, Handlungen sind sowohl intrinsisch wichtig als auch als sichtbarer Ausdruck des inneren Lebens, und sie können „psychische Energien freisetzen, die sich anders nicht freisetzen lassen“.¹⁶ Aber so wenig sich Handlungen in ihrer Ausdrucks- oder Ermöglichungsfunktion des inneren Lebens erschöpft, sowenig ist das innere Leben, Murdoch zufolge, ein bloßer Schatten des öffentlichen. Auch wenn Murdoch dem Handeln abspricht, der alleinige Bezugspunkt der Ethik zu sein, betont sie die Bedeutung der Aktivität und des Umstands, dass nicht alle Formen von Aktivität auch öffentlich beobachtbare Handlungen sind. Genau darin liegt die Pointe des M-und-D-Beispiels: M ist aktiv gewesen, ihre Aktivität hat moralischen Charakter („das ist das, was wir sagen wollen und philosophisch sagen dürfen wollen“), und das, was sie getan hat, ist „an sich wertvoll“.¹⁷ Wir werden also weiterhin sagen können, dass es die Moral mit der Bewertung von menschlicher Aktivität zu tun hat, wenn wir dabei im Kopf behalten, dass dies sowohl beobachtbare Handlungen („moving things about in the world“) als auch innere Akte umfasst. Was für Akte sind das? Die zentrale Rolle in diesem Bild der „inneren Aktivität“ spielt der Begriff der Aufmerksamkeit (den Murdoch von Simone Weil übernimmt). Dieser Begriff verbindet sich auf natürliche Weise mit der Metapher des Sehens, die Murdoch als ihre Hauptmetapher der nonkognitivistischen Metapher des Bewegens gegenüberstellt. Der Nonkognitivismus analysiert moralische Begriffe über ihre Funktion für die Beeinflussung des Handelns im Sinne des Modifizierens von Dingen im Raum. Im oben genannten Beispiel von M und D findet ein solches äußeres Handeln dagegen gar nicht statt, und dennoch ist M moralisch aktiv gewesen. Durch bewusste Anstrengung, durchaus moralische Anstrengung, kommt sie dazu, D „so zu sehen, wie sie wirklich ist“,¹⁸ nicht mehr verzerrt. War ihre Sicht vorher durch bestimmte Defizite des Charakters oder zumindest der Aufmerksamkeit verstellt, die sie selbst
15 16 17 18
Kettner, „Moral“, S. 410 (im Handbuch Ethik). Murdoch, „The Idea of Perfection“, S. 334. Ebd., S. 314. Ebd., S. 329.
184 | 7 Iris Murdoch: die Idee der Vollkommenheit benennt – Eifersucht, Standesdünkel, Engstirnigkeit –,¹⁹ so gelangt sie, dank ihres bereits vorhandenen guten Willen und ihrer Fähigkeit zur Selbstkritik, schließlich zu einem liebevolleren und gerechteren Blick auf ihre Schwiegertochter. Für Murdoch ist es wichtig, dass diese klare Sicht kein natürlicher Zustand ist, sondern das Ergebnis eines langen und mühevollen Umorientierungsprozesses, der die natürlicherweise auf die Befriedigung der eigenen Interessen gerichtete psychische Energie reinigt und umlenkt. Diese säkularisierte Erbsündentheorie können wir für den Augenblick jedoch vernachlässigen. Entscheidend ist zunächst, dass Murdoch klar zwischen „überzeugend kohärenten, aber falschen Bildern der Welt“ auf der einen Seite und einer „gereinigten und ehrlichen Wahrnehmung dessen, was wirklich der Fall ist“ auf der anderen unterscheidet.²⁰ Die ersteren werden von ihr auch als „Zustände der Illusion“ bezeichnet, während sich die letzteren auf natürliche Weise mit dem Begriff der Wahrheit verbinden. Obwohl das vorgeschlagene Bild ein metaphysischer Hintergrund für die Moral, keine Formel zur Lösung moralischer Probleme ist – eine solche gibt es, so Murdoch, nicht –, erklärt Murdoch in der Diskussion einiger konkreter moralischer Probleme (Soll ein behindertes Kind zu Hause behalten oder in ein Heim geschickt werden? Soll eine unglückliche Ehe der Kinder wegen fortgesetzt werden? Soll ich meine Familie wegen meiner politischen Arbeit verlassen?) kurz und bündig: „Die Liebe, die die richtige Antwort bringt, ist eine Übung von Gerechtigkeitssinn und Realismus und wirklichem Hinsehen.“²¹ Das bedeutet nicht, dass es in jedem Fall genau eine richtige Antwort gibt; es mag durchaus sein, dass eine andere Person – etwa Ds Schwiegervater – bei liebevoller, unverstellter Betrachtung immer noch an dem Urteil festhält, dass seine Schwiegertochter etwas gewöhnlich ist. Es belegt jedoch, dass es ein Spektrum richtiger Antworten gibt und dass dessen Grenzen durch die Art der Betrachtung bestimmt werden. Dies scheint überzeugend zu belegen, dass Murdoch einer Art von Objektivismus anhängt; diese These besteht ja gerade darin, dass es richtige Antworten auf moralische Fragen gibt, dass also manche moralischen Urteile subjektunabhängig wahr sind.
19 Wie Bagnoli bemerkt („The Exploration of Moral Life“, S. 218 Fn. 52), weist diese Liste an charakterlichen Hindernissen eines klaren Blicks bemerkenswerte Übereinstimmungen mit den von Austin in „A Plea for Excuses“ genannten auf. 20 Murdoch, „The Idea of Perfection“, S. 329f. 21 Murdoch, „The Sovereignty of Good“, S. 375. Erste Hervorhebung von mir, d. Verf.
7.1 Murdochs Objektivismus der richtigen Sicht | 185
7.1.2 Bedeutung und Charakter dichter Begriffe Moralische Urteile (und Werturteile allgemein) sind allerdings auf ein moralisches Vokabular angewiesen; dabei spielen die von Murdoch so genannten „primären“ Ausdrücke wie „richtig“ und „gut“ eine geringere Rolle als die „sekundären“, „spezialisierten“ oder „deskriptiv-normativen“, die heute meist im Anschluss an Bernard Williams „dichte“ Begriffe genannt werden. Dazu gehören in dem Beispiel von M und D etwa „vulgär“, „ungeschliffen“, „aufdringlich“, „spontan“, „schlicht“ und „fröhlich“. Murdoch ist nicht die einzige Philosophin, die in den 50er Jahren auf die Bedeutung der dichten Begriffe hinweist; auch Elizabeth Anscombe und Philippa Foot haben ähnliche Punkte vorgebracht. In Murdochs Verständnis sind diese Begriffe jedoch „viel idiosynkratischer, als [auch von Foot und Anscombe, d. Verf.] zugegeben wird“,²² und dies könnte in Zweifel ziehen, ob moralische Urteile tatsächlich in der Weise subjektunabhängig wahr sind, wie dies der Objektivismus fordert. Zumindest wird das Verständnis dessen, was ein moralisches Urteil ist, nicht unbeeinflusst davon bleiben, wie man die enthaltenen Begriffe versteht. Worin also besteht dieser „idiosynkratische“ Charakter moralischer Begriffe? Auch Murdoch bestreitet nicht, dass eine Person moralische Begriffe wie den der Liebe ursprünglich von ihrer Umgebung erlernt und es entsprechend einen Sinn von „die Bedeutung eines Wortes kennen“ gibt, der darin besteht, den Ausdruck aufgrund unserer Kenntnis des „unpersönlichen Netzes“ der Alltagssprache korrekt einsetzen zu können. Die eigentliche Bedeutung moralischer Ausdrücke beginnt aber erst dort, wo „ein Individuum spezialisierten persönlichen Gebrauch von einem Begriff macht“.²³ Dieser zweite Sinn von „Bedeutung eines moralischen Ausdrucks“ zeigt sich etwa in Wendungen der Art „du weißt gar nicht, was Verrat heißt“: Was wir damit meinen, ist nicht, dass der Gesprächspartner den Begriff nicht korrekt anwenden kann; eher, dass er nicht aus eigenem Erleben oder Erfahren über die damit verbundenen Phänomene sprechen kann. Mit dem Versuch, durch solche Begriffe Gegenstände der eigenen Erfahrung zu konzeptionalisieren – indem man sich z. B. fragt, ob ein bestimmtes Gefühl Reue ist oder nicht²⁴ – werden diese Begriffe personalisiert und vom Sprecher „in seine Privatsphäre davongetragen“.²⁵ Den Unterschied zu anderen Begriffen, etwa Farbausdrücken, sieht Murdoch wohl darin, dass die Anwendung eines Begriffs wie „rot“ auf einen neuen Erfahrungsgegenstand uns nichts Neues über den Begriff verrät bzw. diesen Begriff nicht 22 23 24 25
Murdoch, „The Idea of Perfection“, S. 326. Ebd., S. 319. Ebd., S. 319. Ebd., S. 319.
186 | 7 Iris Murdoch: die Idee der Vollkommenheit verändert (obwohl sie auch diese Möglichkeit erwägt), während die Bezeichnung eines Menschen als eitel nicht nur unser Bild dieses Menschen, sondern auch unseren Begriff der Eitelkeit verändern kann. Ob er das tut, ob sich also unser persönlicher Gebrauch verändert, ist nicht allein und nicht einmal in erster Linie eine Sache der Entscheidung, sondern hängt sowohl von der individuellen Biographie als auch von dem kulturell geprägten Begriffsschema ab, in dem man sich bewegt. Die Ränder des Begriffs der Eitelkeit sind beispielsweise definiert durch seine Nachbarschaft zu Begriffen wie Selbsteingenommenheit, Prahlerei oder Aufgeblasenheit, durch den Gegensatz zur Bescheidenheit, aber auch durch die paradigmatische Verkörperung in kulturell wirksamen Figuren, z. B. Filmcharakteren oder gewissen Politikern, ebenso wie Personen unserer Bekanntschaft.²⁶ Vielleicht ist es hilfreich, diese Individualisierung der Begriffe – anders als Murdoch es tut – terminologisch von ihrer öffentlich kontrollierten Bedeutung (verstanden als der Bereich dessen, worauf der Begriff legitimerweise Anwendung finden kann) zu trennen und vom individuellen Verständnis zu sprechen. Das mögliche Verständnis eines Begriffs bewegt sich im Wesentlichen im Rahmen des durch die öffentliche Bedeutung Vorgegebenen, kann aber etwa im Zuge metonymischer Übertragung auch darüber hinausragen; dagegen wäre ein privates Verständnis eines Ausdrucks, der in keiner Weise an seinen öffentlichen Gebrauch gebunden ist, nicht mehr ein Verständnis dieses Begriffs. Während das Begriffsverständnis in diesem Sinne also abhängig von der öffentlichen Bedeutung bleibt, ohne dadurch determiniert zu sein, ist auch der öffentliche Gebrauch eines Begriffs auf lange Sicht nicht überlebensfähig, wenn er nicht in vielfacher Weise Gegenstand individueller Aneignung wird; was sich an einem Begriff wie dem der Sünde vielleicht ganz gut studieren lässt, ob man diesen Prozess nun als einen Verlust betrachtet oder ihn im Gegenteil begrüßt. Moralische Begriffe sind also durch Historizität, Holismus und zunehmende Privatheit ausgezeichnet. Bedrohen diese anscheinend relativierenden Merkmale die Möglichkeit der Wahrheit moralischer Urteile (die im Zusammenhang mit der Frage nach der Reichweite der Geltung moralischer Gründe steht)? Zumindest scheinen sie zu implizieren, dass sich die Wahrheit eines moralischen Urteils nur beurteilen lässt, wenn man die grundlegend selbe Perspektive teilt, die sich etwa aus bestimmten historischen Erfahrungen speisen kann. Das scheint Murdoch mit den Worten ausdrücken zu wollen: „Gründe sind nicht notwendig und qua Gründe öffentlich. Sie können Gründe für einige wenige sein, und darum nicht
26 Ähnliches gilt übrigens für ästhetische Begriffe wie den des Kitsches. Vgl. etwa Killy, Deutscher Kitsch.
7.1 Murdochs Objektivismus der richtigen Sicht | 187
weniger Gründe.“²⁷ Dass die Feststellung der Wahrheit einer Behauptung und ihr Verständnis auf dem Verfügen über bestimmte Begriffe verfügt, ist freilich eine wenig spektakuläre These, die den Objektivismus in keiner Weise bedroht – auch die Wahrheit eines wissenschaftlichen Theorems lässt sich ja nur durch jemanden überprüfen, der die enthaltenen Begriffe versteht. Kritisch ist erst die Frage, ob die genannten Merkmale moralischer Begriffe implizieren, dass die Wahrheit dieser Behauptung – oder die Geltung der entsprechenden Forderung – selbst nur relativ zu einem bestimmten Begriffsschema zu verstehen ist, so dass es moralische Urteile gibt, die relativ zu einem Begriffsschema (etwa einem marxistischen) wahr sind, relativ zu einem anderen (z. B. einem christlichen) dagegen falsch. Das scheint jedoch nicht der Fall zu sein. Vielmehr ist es gerade die Pointe der obigen Überlegungen über die Bedeutung moralischer Begriffe, dass in zwei verschiedenen Begriffsschemata gar nicht dasselbe Urteil formuliert werden kann. Das heißt natürlich nicht, dass sich nicht dieselben „Äußerungen“ treffen lassen – in beiden Begriffsschemata kann man mit demselben Wort, etwa „gerecht“, eine Bedeutung verbinden, aber ex hypothesi eben nicht dieselbe. Das könnte jedoch den Gedanken nahelegen, dass es so etwas wie unvereinbare Begriffsschemata gar nicht geben kann: Wie können sich die verschiedenen Schemata noch widersprechen? Wenn dies unmöglich ist, wird aber fraglich, warum es nicht zumindest theoretisch möglich sein sollte, sämtliche wahren Urteile zu teilen, womit die angestrebte Privatheit der moralischen Begriffe und die notwendige Perspektivität des moralischen Urteils verlorenzugehen scheint. Dagegen ist festzuhalten, dass der Umstand, dass es keinen theoretischen Widerspruch zwischen zwei Begriffsschemata gibt, nicht bedeutet, dass die Bedingungen, unter denen sie erworben werden können, auch nur theoretisch vereinbar sind. Um ein etwas klischeehaftes Beispiel anzuführen: Die Bedeutung von Solidarität als kollektiver Reaktion auf Unterdrückung lässt sich vielleicht nur wirklich erfassen, wenn man zu den Ausgebeuteten gehört; während das volle Verfügen über den Begriff des Gentleman voraussetzt, dass man gerade nicht unterdrückt wird. Das führt dazu, dass ein und dieselbe Person nicht im Vollsinne sowohl über den Begriff der Solidarität als auch den des Gentleman verfügen kann, weil die dazu erforderlichen Perspektiven radikal unvereinbar sind. Dieser Gedanke eröffnet die Möglichkeit, dass es eine Vielzahl von Begriffsschemata gibt, die von verschiedenen inkompatiblen Perspektiven unterschiedliche (aber gleichermaßen reale) Aspekte der Wirklichkeit erfassen.
27 Murdoch, „The Idea of Perfection“, S. 326.
188 | 7 Iris Murdoch: die Idee der Vollkommenheit 7.1.3 Was unterscheidet gute von schlechten moralischen Begriffen? Aber natürlich ist nicht jedes Begriffsschema und damit nicht jeder sekundäre oder dichte normative Begriff dazu angetan, Aspekte der Wirklichkeit zu erfassen. Im Gegenteil verweist bereits Murdoch auf das Phänomen der sog. „schlechten moralischen Begriffe“ und behauptet, „ein clever gewähltes Begriffsschema“ sei ein höchst effektives Mittel, das Denken und mit ihm die Moral zu korrumpieren;²⁸ ein wohlbekanntes Beispiel ist die Sprache des Dritten Reiches mit ihrer Rede von „Aktionen“, vom „Organisieren“, von „Menschenbehandlung“.²⁹ Aber auch alltägliche Gespräche sind für Murdoch moralisch nicht unbedingt neutral, und bestimmte Arten, Menschen zu beschreiben, können korrumpierend und falsch sein,³⁰ was womöglich auch für die gesamte Weise gilt, in der M ihre Schwiegertochter zunächst beschrieben hat.³¹ Diese Falschheit bestimmter Begriffsschemata als ganzer scheint ihrerseits aber schemaunabhängig zu gelten. Was unterscheidet nun zulässige von den falschen und korrumpierenden Begriffsschemata? Ironischerweise muss die Antwort auf diese Frage selbst wiederum „genetisch“ verfahren, indem sie auf den Ursprung der Schemata verweist. Eine bestimmte zusammenhängende Menge von Begriffen – eine „Sicht“ der Welt – kann zum einen von selbstbezogener psychischer Energie aufgebaut werden. Sie kann aber auch das Ergebnis von Aufmerksamkeit sein, unter der Murdoch einen „auf eine individuelle Wirklichkeit gerichteten gerechten und liebevollen Blick“ verstanden wissen will.³² Es ist nicht ganz klar, ob mit dieser individuellen Realität notwendig ein individueller Mensch gemeint ist oder ob, wie Murdochs Bemerkungen über die Erziehung nahezulegen scheinen, auch etwa eine Fremdsprache oder ein Bereich der Naturkunde Gegenstand der Aufmerksamkeit sein können; man mag auch an einen Dirigenten denken, der in höchster Konzentration herauszufinden versucht, wie eine bestimmte Stelle seiner Partitur gespielt werden muss. Jedenfalls sei der gerechte und liebevolle Blick das „charakteristische und eigentliche (proper) Kennzeichen des aktiven moralischen Akteurs“.³³ Moralischer Fortschritt finde statt, wenn im Kontext einzelner Aufmerksamkeitsakte dichte Begriffe gebraucht
28 Murdoch, „The Idea of Perfection“, S. 325. 29 Vgl. Klemperer, LTI, und Sternberger, Storz und Süskind, Aus dem Wörterbuch des Unmenschen. 30 Murdoch, „The Idea of Perfection“, S. 325. 31 Vgl. Blum, „Visual Metaphors in Murdoch’s Moral Philosophy“, S. 318. 32 Murdoch, „The Idea of Perfection“, S. 327. 33 Ebd., S. 327.
7.1 Murdochs Objektivismus der richtigen Sicht | 189
werden,³⁴ aber umgekehrt entwickelt sich eine gemeinsame Sprache auch erst im Zusammenhang der geteilten Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand.³⁵ Der Begriff der Aufmerksamkeit ist nicht unproblematisch, weil die beiden Merkmale der Gerechtigkeit und der Liebe, die Murdoch ihr zuschreibt, anscheinend in Konflikt stehen können. Zwar ist auch mit einem „gerechten Blick“ mehr gemeint als lediglich ein präziser,³⁶ nämlich offenbar der gelingende Versuch, der betrachteten Realität gerecht zu werden; insofern lässt er sich vielleicht verstehen als Ausdruck oder Form von Liebe. Andererseits scheint es für den liebevollen Blick auf eine bestimmte individuelle Wirklichkeit charakteristisch zu sein, bestimmte Aspekte gerade nicht sehen zu wollen; man denke etwa daran, wie ein jugendlicher Straftäter von einem Richter und wie er von seiner Mutter gesehen wird. Zudem führt letzteres Beispiel auch die Schwierigkeiten vor Augen, die damit verbunden sind, wenn es in einer Situation nicht nur eine, sondern mehrere „individuelle Wirklichkeiten“ liebevoll zu betrachten gilt. Nichtsdestotrotz lässt sich der Begriff der Aufmerksamkeit vielleicht als Kriterium für die Abgrenzung der zulässigen von den korrumpierenden und falschen Begriffsschemata nutzen. Zulässig wären demnach alle Begriffsschemata, die sich in einer geteilten Praxis der gerechten und liebevollen Aufmerksamkeit auf einen gemeinsamen Gegenstand ergeben. Eine solche Bestimmung ist wiederum nicht frei von Problemen, da beispielsweise nicht klar ist, ob und wie sich das notwendige negative Vokabular (einschließlich eines Vokabulars für Phänomene des Bösen) durch liebevolle Aufmerksamkeit entwickeln lassen soll. Immerhin dürfte es schwierig sein, Begriffe wie „Rassenschande“, „Nigger“ oder „Schwuchtel“ im Kontext einer aufmerksamen und gerechten Betrachtung der bezeichneten individuellen Realität zu entwickeln. Zudem kann diese Interpretation zwei weitere Aspekte von Murdochs Bild der Moral und ihrer Sprache verständlich machen. Zum einen ist der liebevolle und gerechte Blick nicht nur eine Perspektive unter anderen, sondern ausgezeichnet durch einen speziellen normativen Status: „Es ist eine Aufgabe, die Welt so zu sehen, wie sie ist.“³⁷ Der kategorische Charakter dieser Forderung wird deutlich vor dem Hintergrund der Behandlung des Pflichtbegriffs in Metaphysics as a Guide to Morals, wo Murdoch auf den Charakter der Pflicht als etwas „Fremdes“, „Äußeres“, als eines „Befehls“ verweist, der eine „besondere Art von Gewissheit über die Bedeutung der Moral“ ausdrückt.³⁸ 34 35 36 37 38
Ebd., S. 324. Ebd., S. 325. Ebd., S. 317. Murdoch, „The Sovereignty of Good“, S. 375. Murdoch, Metaphysics as a Guide to Morals, S. 294 und 382.
190 | 7 Iris Murdoch: die Idee der Vollkommenheit Zweitens schreibt Murdoch den Moralbegriffen eine unendliche Perfektibilität zu, die darin besteht, dass jeder moralische Ausdruck einen Bezug auf eine „ideale Grenze des Wissens und der Liebe hat, die sich ständig zurückzieht“.³⁹ Dieser Bezug lässt sich verstehen als Bezug auf die Aufmerksamkeit, die ihrerseits auf eine unendliche Realität verweist. Wenn dies der Grund für die Perfektibilität der moralischen Begriffe ist, dann sollte für die amoralischen dichten Begriffe, denen ein solcher Bezug nicht eignet, gelten, dass sie eine solche unendliche Perfektibilität gerade nicht aufweisen, sondern dazu verurteilt sind, entweder als Klischee oder als bloßes Machtmittel, d. h. als Form der Gewaltausübung über die Wirklichkeit gebraucht zu werden. Diese Annahme kann zumindest prima facie eine gewisse Plausibilität für sich in Anspruch nehmen. Für die Ausgangsfrage dieses Abschnitts bedeutet das, dass Murdoch als Objektivistin bezeichnet werden kann, insofern es richtigere und falsche Sichten der Wirklichkeiten gibt, die mit entsprechenden normativen Urteilen einhergehen. Eine Sicht der moralischen Wirklichkeit ist die Anwendung eines bestimmten Systems von Begriffen in ihrem individuellen Verständnis auf die menschliche Realität. Die in einem solchen Begriffsschema verkörperte Sicht der Wirklichkeit kann sich sowohl darin manifestieren, wie diese Wirklichkeit als ganze gesehen wird – ob man etwa meint, dass Gott uns „auf sich hin“ geschaffen hat, dass alle Menschen frei und gleich an Rechten geboren sind oder die Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen ist –, als auch darin, wie (im Lichte dieser Auffassungen über die Wirklichkeit als ganze) einzelne Erfahrungen und Ereignisse gedeutet werden: z. B. als Vorboten der Revolution, als Sündenfall oder als (Wieder-)Herstellung einer „natürlichen“ Ordnung. Eine Sicht ist immer das Sehen von etwas als etwas. Da die Art von Sehen, um die es hier geht, also selbst schon begrifflich strukturiert ist, umfasst sie auch das Fällen von (moralischen) Urteilen im Sinne von Bewusstseinsakten. Heißt das, dass eine bestimmte Sicht auf die Wirklichkeit zu haben nichts anderes bedeutet, als disponiert zu sein, moralische Urteile in einem bestimmten Vokabular zu fällen? Nicht nur, obwohl dies sicher ein wesentlicher Teil ist; die Disposition, bestimmte moralische Urteile zu fällen, kann sich aber durchaus unterschiedlichen Gründen verdanken. Als was man die Wirklichkeit oder ein bestimmtes Ereignis oder Erlebnis in ihr versteht, hängt aber zudem auch davon ab, im Lichte welcher Tatsachen oder Überzeugungen man sie sieht. Eine Sicht der moralischen Wirklichkeit umfasst daher über die Disposition zu bestimmten Urteilen hinaus auch die Frage, im Lichte welcher Überzeugungen oder Erfahrungen man zu diesen Urteilen disponiert ist.
39 Murdoch, „The Idea of Perfection“, S. 321.
7.2 Konstruktivismus oder Realismus?
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Der wesentlich historische, holistische und private Charakter der darin enthaltenen dichten Begriffe scheint aber einen Perspektivismus nahezulegen, dem zufolge es gleich akzeptable, gleich richtige, aber miteinander unvereinbare (wenn auch nicht einander widersprechende) Sichten der Wirklichkeit geben kann. Was die richtigen von den korrumpierenden und falschen Sichten unterscheidet, ist, dass letztere Ausdruck der Selbstbezogenheit sind, während erstere im Kontext liebender Aufmerksamkeit auf eine individuelle Realität gebildet wurden.
7.2 Konstruktivismus oder Realismus? Die These eines Objektivismus der richtigen Sicht kann man jedoch auf zwei Weisen interpretieren, konstruktivistisch und realistisch. Für eine Konstruktivistin wie Carla Bagnoli⁴⁰ (die sich gleichzeitig als Objektivistin versteht) werden die der Welt anhand eines bestimmten Begriffsschemas zugeschriebenen normativen Eigenschaften im Akt der Interpretation erst „konstruiert“ und nicht an der Wirklichkeit abgelesen, wobei weder der einzelne Akt noch das Begriffsschema als ganzes in der Verfügung des Subjekts stehen müssen. Der Realist dagegen nimmt an, dass diese Begriffe auf Eigenschaften referieren, die den Dingen tatsächlich und unabhängig von Subjektakten bereits zukommen. Beide Interpretationen werden in der Sekundärliteratur zu Murdoch vertreten, und eine genauere Untersuchung ihrer Position muss daher entscheiden, welche der beiden Varianten des Objektivismus Murdoch tatsächlich vertritt. Verschiedene Autoren haben versucht, Murdochs Position als nicht-realistischen Objektivismus zu lesen; in diese Kategorie fällt auch die einflussreiche⁴¹ Interpretation von Maria Antonaccio, die Murdoch als „reflexive Realistin“ tituliert. Da diese jedoch im folgenden Abschnitt, in dem es um Murdochs Verständnis des Guten im nicht-generischen Sinne geht, noch einer ausführlichen Untersuchung unterzogen wird, auch nicht immer klar zwischen den verschiedenen ontologischen Ebenen unterscheidet (ein Mangel, der sich allerdings durch einen Großteil der Murdoch-Literatur zieht), soll die nicht-realistische Interpretation Murdochs zunächst anhand einer anderen Autorin exemplarisch dargelegt und geprüft werden. Dafür erscheint als besonders geeignet Carla Bagnolis Aufsatz „The Exploration of Moral Life“, in dem sie Murdochs Position als „echte Alternative sowohl zum Standard-Realismus als auch zum Nonkognitivismus“ bezeichnet.⁴²
40 Vgl. Bagnoli, „The Exploration of Moral Life“. 41 Vgl. David Robjants Kritik in „As a Buddhist Christian: The Misappropriation of Iris Murdoch“. 42 Ebd., S. 208.
192 | 7 Iris Murdoch: die Idee der Vollkommenheit Unter einem „Standard-Realismus“ will sie die Auffassung verstanden wissen, dass „moralische Eigenschaften genuine Eigenschaften in dem Sinne sind, dass sie weder konstituiert sind durch die Verfügbarkeit einer charakteristischen menschlichen Reaktion noch von einer solchen abhängen“.⁴³ Welche Auffassung genau sie Murdoch selbst zuschreibt, bleibt allerdings auf den ersten Blick einigermaßen unklar: Einerseits „besteht sie auf der Nützlichkeit der Metapher der ‚Konstruktion‘“, ohne Murdoch dabei „irgendeine spezifische Form von Konstruktivismus zuschreiben“ zu wollen;⁴⁴ andererseits stellt sie eine Verwandtschaft zwischen Murdochs Ansichten und denjenigen John McDowells fest, der für gewöhnlich nicht als Konstruktivist interpretiert wird.⁴⁵ Bevor wir uns mit den Argumenten für Bagnolis Sichtweise näher befassen können, ist es daher nötig, ihr Bild etwas genauer darzustellen. Das erste Charakteristikum ihrer Interpretation besteht darin, dass moralische Normativität kein Bestandteil der Welt ist: „die normative Bedeutung (salience) mancher Tatsachen ist nichts, was wir schon in der Welt vorfinden“; es sei daher „irreführend, von einer normativen Wirklichkeit vor und unabhängig von unserem moralischen Denken zu sprechen“.⁴⁶ Vielmehr wird der Welt – bestimmten Tatsachen – Normativität verliehen: „Indem wir die Tatsachen interpretieren, verleihen wir ihnen Bedeutung, wir machen sie normativ, und so formen wir sie durch unsere begriffliche und kognitive Aktivität in Werte um.“⁴⁷ Das bedeutet für Bagnoli jedoch nicht, dass wir als Individuen auch die Quelle oder der Ausgangspunkt der Normativität sind. Insbesondere werden die Dinge im Gegensatz zur nonkognitivistischen Analyse nicht dadurch wertvoll, dass abgrenzbare Bereiche einer normativitätsfreien, empirisch erfass- und beschreibbaren Wirklichkeit von moralischen Subjekten in Akten bloßer Präferenz gebilligt oder missbilligt werden; denn jede Beschreibung ist ein interpretatorischer Akt, in dem „Wert“ und „Tatsache“, die Aktivitäten des Beschreibens und Bewertens durch dichte Begriffe unauflöslich miteinander verflochten sind. Die naheliegende Frage an dieser Stelle ist, wie Bagnoli ihre konstruktivistische Sicht Murdochs mit der Idee der richtigen Sicht auf die Wirklichkeit verbindet, die – wie wir oben gesehen hatten – eine zentrale Bedeutung für Murdochs Bild der Moral hat. Wenn ihr Konstruktivismus adäquat sein soll, muss er sich sinnvoll als 43 Bagnoli, „The Exploration of Moral Life“, S. 210. Vgl. Fn. 33. 44 Ebd., S. 211, Fn. 37. 45 Ebd., S. 210, Fn. 33. 46 Ebd., S. 209. 47 Ebd., S. 209. Vgl. auch die folgende Aussage: „Im Unterschied zum Standard-Realisten gibt es für Murdoch nichts außerhalb des Bildes, das wir uns von der Wirklichkeit machen, was dieses Bild normativ machen würde.“ (Ebd., S. 213.)
7.2 Konstruktivismus oder Realismus?
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eine Form von Objektivismus verstehen lassen. Aber was unterscheidet in ihrem Bild eine bessere, eine genauere Interpretation von einer schlechteren? Bagnoli bestreitet die Notwendigkeit eines „Vermögens, eine unabhängige moralische Wirklichkeit zu entdecken“; alles, was wir brauchen, um uns moralisch leiten zu lassen, seien die „angemessenen Begriffe“ (appropriate concepts).⁴⁸ Begriffe sind für Bagnoli jedoch nicht einfach „Werkzeuge, durch die wir eine äußere Wirklichkeit erfassen“. Doch was macht einen Begriff angemessen, wenn nicht der Umstand, dass er auf eine unabhängige Realität referiert? Bagnolis Antwort kann vielleicht dem folgenden Zitat entnommen werden: Der Realist hat recht, dass manche Wahrnehmungen präziser sind als andere und dass die Wirklichkeit unabhängig von uns besteht. Er hat auch recht, dass wir, um die Wirklichkeit korrekt wahrzunehmen, angemessen ausgestattet sein müssen. Aber dass die Wirklichkeit unabhängig von unserem Selbst ist, bedeutet nicht, dass sie unabhängig von unserem Geist ist. Es bedeutet, dass die Anstrengung der Wahrheitssuche identisch ist mit der Anstrengung, unseren Geist von unseren egoistischen Phantasien zu befreien.⁴⁹
Die Unabhängigkeit der moralischen Wirklichkeit wird von Bagnoli also nicht als mind-independence, sondern lediglich als Unabhängigkeit von unserem Selbst, der Quelle egoistischer Fehlwahrnehmungen und Verzerrungen, verstanden. Liest man diese Bemerkung in einem stark konstruktivistischen Sinne, so lässt sie sich etwa so wiedergeben, dass die Sicht einer Person auf die Wirklichkeit (und entsprechend ihre Urteile über diese Wirklichkeit) genau dann richtig ist, wenn sich diese Person in einem bestimmten Zustand befindet (nämlich dem Zustand, nicht durch das Selbst bestimmt zu sein). Insbesondere erfordert die Richtigkeit der Sicht und die Wahrheit des Urteils weiter keine Übereinstimmung mit einem Sachverhalt in der Wirklichkeit. Diese kann vielmehr als weitgehend geistabhängig verstanden werden, indem sie ihre Normativität erst in einem imaginativen Prozess der Interpretation gewinnt. Dieser findet nicht in einem Vakuum statt, sondern auf der Grundlage „geteilter Praktiken“ und durch eine „spezifische Art von Imagination“.⁵⁰ Die Unterscheidung zwischen besseren und schlechteren Sichten der Realität hat ihren Grund aber eindeutig auf der subjektiven, nicht auf der objektiven Seite des Interpretationsprozesses. Moralische Wahrheit wird dabei wesentlich negativ verstanden, nämlich als die Abwesenheit von egoistischen Deformationen. Was spricht nun für eine Interpretation Murdochs als Konstruktivistin, wie Bagnoli sie verstehen möchte? Eine Überlegung, die wiederholt angeführt wird, kann hier sogleich ausgeschlossen werden. Der bloße Umstand, dass Murdoch den 48 Ebd., S. 211. 49 Ebd., S. 211. 50 Ebd., S. 209.
194 | 7 Iris Murdoch: die Idee der Vollkommenheit Aktivitätscharakter des moralischen „Sehens“, der Interpretation einer Situation in Hinsicht auf ihre moralisch relevanten Merkmale betont, ist für sich genommen noch kein Beleg dafür, dass es diese Interpretation selbst ist, die der Situation allererst ihre Normativität verleiht. Dieser Fehler scheint Bagnoli zu unterlaufen, wenn sie aus der zutreffenden Beobachtung, dass unser Blick auf die Welt eine Aktivität ist, für die wir entsprechend auch die Verantwortung tragen, ohne Umschweife folgert: „Werte sind in der Welt verankert durch die Tätigkeiten unseres Geistes.“⁵¹ Zugunsten einer konstruktivistischen Interpretation in dem dargestellten Sinne kann Bagnoli zunächst verschiedene Äußerungen Murdochs anführen, die tatsächlich in diese Richtung zu weisen scheinen. So schreibt sie in „The Darkness of Practical Reason“, einer Rezension von Stuart Hampshires Freedom of the Individual: Eine Konstruktionstätigkeit (constructive activity) von Vorstellungskraft und Aufmerksamkeit „führt“ Werte in die Welt „ein“, der wir begegnen. Wir haben unsere Welt zum Teil schon gewollt, wenn wir anfangen, sie zu betrachten – und wir müssen die moralische Verantwortung für diese „gemachte“ (fabricated) Welt übernehmen, wie schwierig es auch sein mag, den Vorgang des Machens zu kontrollieren.⁵²
Ähnlich heißt es in „The Sovereignty of Good over Other Concepts“: „Die Wertbegriffe sind hier ganz offenkundig an die Welt gebunden, gewissermaßen ausgedehnt zwischen dem Geist auf seiner Suche nach der Wahrheit und der Welt – sie bewegen sich nicht frei herum als Anhängsel des persönlichen Willens.“⁵³ Beide Stellen können den Gedanken nahelegen, dass „die Welt“ – zumindest die wesentlich normativ charakterisierte Welt unserer Erfahrung – ein Erzeugnis, ein Resultat unserer imaginativen Aktivitäten ist. Während jedoch das letztgenannte Zitat von einer Bindung des normativen Vokabulars an die Welt spricht, wird der Wert der erstgenannten Stelle als Beleg für Murdoch Konstruktivismus durch die Anführungszeichen um „einführen“ und „gemacht“ sowie durch die Qualifikation „zum Teil“ herabgesetzt. Ein weiteres Motiv für eine konstruktivistische Deutung des murdochschen Objektivismus ist der Gedanke, dass wir für die Welt, der wir begegnen, und die Werte, die wir wählen, Verantwortung übernehmen müssen. Dies klingt ebenfalls verschiedentlich bei Murdoch an, so etwa auch in dem ersten der beiden angeführten Stellen. Bagnoli will dies als Verantwortung für die Wirklichkeit verstehen in dem doppelten Sinne, in dem der Schöpfer von etwas für sein Werk verantwortlich
51 Bagnoli, „The Exploration of Moral Life“, S. 209. 52 Murdoch, „The Darkness of Practical Reason“, S. 201. 53 Murdoch, „The Sovereignty of Good“, S. 374.
7.2 Konstruktivismus oder Realismus?
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ist: Er ist sein Urheber, und ebendeshalb auch rechenschaftspflichtig für seine Mängel und Fehler. In derselben Weise ist dann, so offenbar Bagnolis Gedanke, auch jeder verantwortlich für die moralische Welt, die er um sich erschafft (auch wenn sie die Metapher der Konstruktion der der Schöpfung vorzieht). Doch vor welchem Forum? Eine realistische Deutung kann darauf verweisen, dass wir zwar – wie der Konstruktivist zurecht behauptet – verantwortlich sind für unsere Sicht der Wirklichkeit, dass diese Verantwortung aber nicht voraussetzt, dass wir diese moralische Welt frei konstruieren; der Verantwortung gerecht zu werden bedeutet vielmehr, unser Bild der Wirklichkeit beständig an dieser Wirklichkeit selbst zu hinterfragen, zu prüfen und zu revidieren. Den Gedanken, dass wir nicht nur für unsere Sicht der moralischen Wirklichkeit, sondern für diese selbst verantwortlich sein müssen, wird ein Realist nicht nur als einen Ausdruck von Hybris zurückweisen; er kann sich zudem darauf berufen, dass es sich dabei um ein im Kern existentialistisches Motiv handelt, das von Murdoch – in Gestalt des eingängigen Bildes eines „Ladens“, in dem wir unsere Werte wählen – explizit zurückgewiesen wird.⁵⁴ Wesentlich wichtiger als Autonomie und Verantwortung für eine konstruierte moralische Realität ist für Murdoch der Gehorsam, den sie mit dem essentiell heteronomen Charakter der Moral verknüpft.⁵⁵ Dies zeigt sich auch daran, dass Murdoch selbst eher ein Vokabular des Entdeckens und Wahrnehmens als eines des Konstruierens oder Erschaffens verwendet. In dem oben angeführten Beispiel von M und D entdeckt M, dass D „nicht gewöhnlich ist, sondern erfrischend schlicht, nicht zu wenig würdevoll, sondern spontan, nicht laut, sondern fröhlich, nicht ermüdend mädchenhaft, sondern wunderbar jugendlich“.⁵⁶ Durch den „liebevollen Blick“, durch sorgfältige und gerechte Aufmerksamkeit lassen sich die „überzeugend kohärenten, aber falschen Weltbilder, die von selbstsüchtiger Energie aufgebaut werden“, zerstören.⁵⁷ In dieser kreativen Zerstörung kann es gelingen, den Schleier zu zerreißen und die Welt so zu sehen, wie sie ist.⁵⁸ Der tugendhafte Mensch unterwirft sich der Autorität der Wirklichkeit und gelangt so in einen Zustand, in dem er nicht weniger, sondern mehr normative Unterschiede in der Welt selbst sieht.⁵⁹ Eine konstruktivistische Deutung wie die Bagnolis sieht sich zudem vor die unangenehme Frage gestellt, ob die Geistabhängigkeit für die gesamte Realität 54 Murdoch, „The Idea of Perfection“, S. 305. 55 Vgl. ebd., S. 330. 56 Murdoch, „The Sovereignty of Good“, S. 313. 57 Murdoch, „The Idea of Perfection“, S. 327. 58 Vgl. Murdoch, „The Sovereignty of Good“, S. 377. 59 Vgl. „On ‘God’ and ‘Good’“, S. 347; Metaphysics as a Guide to Morals, S. 331; Metaphysics as a Guide to Morals, S. 378.
196 | 7 Iris Murdoch: die Idee der Vollkommenheit oder nur für die vielfältigen moralischen Wirklichkeiten gelten soll. Ersteres klingt in Bagnolis Bemerkung an, dass die „Suche nach Wahrheit“ stets „eine Art von Teilnahme, eine ziemlich schwierige Art von Teilnahme, die den Geist umfasst“ sei, gelte für „die Wirklichkeit generell“;⁶⁰ dann wird aber erstens allgemein fraglich, was uns überhaupt erlaubt, noch von einer „Suche nach Wahrheit“ zu sprechen, und es wird zweitens unklar, wie die vielen Stellen bei Murdoch zu interpretieren sind, die von einer „transzendenten Wirklichkeit“ sprechen und die „die unendliche Aufgabe ihrer Aneignung“ betonen.⁶¹ Sind hingegen nur die normativen Realitäten (und alle gleichermaßen) „konstruiert“, dann müsste, sollte man meinen, die Aufgabe, „die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist“,⁶² dadurch erfüllt werden, dass man jeglichem normativen Vokabular in ihrer Beschreibung abschwört, nicht etwa nur demjenigen, was von unserem „fetten, gnadenlosen Ego“⁶³ zur Verschleierung über die Welt gelegt wird. Diese Aufgabe hat, wie Murdoch immer wieder unmissverständlich klarmacht, „absoluten“ oder „kategorischen“ Charakter. Nicht nur ist die Wirklichkeit, die durch die liebevolle und gerechte Perspektive der Aufmerksamkeit entdeckt wird, anscheinend eine Welt „tiefer moralischer Konfigurationen“.⁶⁴ Auch der liebevolle und gerechte Blick ist nicht nur eine Perspektive unter anderen, sondern ausgezeichnet durch einen speziellen normativen Status: „Das einzige, was wirklich Bedeutung hat“, schreibt sie in „The Sovereignty of Good Over Other Concepts“, „ist jene Fähigkeit, alles klar zu sehen und gerecht darauf zu reagieren, die sich von Tugend nicht trennen lässt“.⁶⁵ Die Forderung, diese Fähigkeit zu entwickeln und den Schleier zu zerreißen, ist selbst weder abhängig von individuellen Präferenzen noch auch von einer moralischen Sensibilität, und sie ergibt sich allem Anschein nach auch nicht aus einem Konstruktionsprozess. Eine konstruktivistische Deutung kann also nur schwerlich der Betonung gerecht werden, die Murdoch auf den Durchbruch zur Wirklichkeit, wie sie von sich her ist, legt. Dennoch ist Bagnoli darin recht zu geben, dass Murdoch auch keine ganz gewöhnliche Realistin ist, wenn darunter die Position verstanden wird, dass moralische und allgemein normative Eigenschaften als identische an ganz verschiedenen Gegenständen auftreten können. Denn zum einen ist die Aufmerksamkeit, der „liebevolle Blick“, gerichtet auf eine individuelle Wirklichkeit, die sich 60 Bagnoli, „The Exploration of Moral Life“, S. 210 Fn. 36. 61 Vgl. beispielsweise „On ‘God’ and ‘Good’“, S. 338; Metaphysics as a Guide to Morals, S. 268; Metaphysics as a Guide to Morals, S. 301. 62 Murdoch, „The Sovereignty of Good“, S. 375. 63 Murdoch, „On ‘God’ and ‘Good’“, S. 342. 64 Murdoch, „Vision and Choice in Morality“, S. 95. 65 Murdoch, „The Sovereignty of Good“, S. 372.
7.3 Die Idee der Vollkommenheit | 197
nicht einfach als Bündel oder Konstellation abstrakter Universalien rekonstruieren lässt. Statt dessen greift Murdoch auf das (neo-)hegelianische Konzept „konkreter Universalien“ zurück, d. h. solcher Merkmale, die sich weder von dem konkreten Gegenstand, an dem sie vorliegen, noch von anderen, verwandten Eigenschaften scharf trennen lassen.⁶⁶ Da unsere Beschreibungen dieser Realität aber notwendig von allgemeinen Begriffen Gebrauch machen, können sie der radikalen Individualität sowohl des konkreten Objekts als auch des konkreten, mannigfach realisierten Universale nie vollständig gerecht werden. In diesem Sinne ist die Wirklichkeit immer „sowohl mehr als auch anders als unsere Beschreibungen von ihr“.⁶⁷ Zweitens: Obwohl Murdoch an verschiedenen Stellen betont, dass „man auf die primären allgemeinen Ausdrücke völlig verzichten und die moralische Arbeit ganz von den sekundären spezialisierten Wörtern geleistet werden könnte“,⁶⁸ ist sie doch keineswegs geneigt, den Begriff des Guten zu begraben. Im Gegenteil: Sie will ihm „die Würde und Autorität zurückgeben, die er besaß, bevor Moore die Bühne betrat“.⁶⁹ Das ist so gemeint, dass „das Gute“ nicht wie die dichten Begriffe seinen ursprünglichen Ort in der Beschreibung der Realität hat, sondern „immer jenseits liegt und aus diesem Jenseits seine Autorität ausübt“.⁷⁰ Wie hat man das zu verstehen?
7.3 Die Idee der Vollkommenheit 7.3.1 Ein Ideal des Bewusstseins? Entgegen dem gängigen Sprachgebrauch verwendet Murdoch den Ausdruck „das Gute“ (Good) weder zur Bezeichnung einer prädizierbaren Eigenschaft noch im generischen Sinne zur Bezeichnung der Gesamtheit dessen, was diese Eigenschaft besitzt. Obwohl sie verwirrenderweise anscheinend synonym auch von „Gutsein“ (goodness) spricht, geht der Unterschied klar aus Stellen wie dieser hervor: „Der eigentliche und ernsthafte Gebrauch des Ausdrucks [gut] verweist uns auf eine Vollkommenheit, die in der Welt, die wir kennen, vielleicht niemals vollständig verwirklicht ist (‚Es ist kein Heil in uns‘) und die die Ideen der Hierarchie und
66 Broackes, „Introduction“, S. 43. Zur Geschichte des Begriffs eines konkreten Universale vgl. Stern, „Hegel, British Idealism, and the Curious Case of the Concrete Universal“. 67 Murdoch, Sartre: Romantic Rationalist, S. 8. 68 Murdoch, „The Idea of Perfection“, S. 333. 69 Ebd., S. 333. 70 Murdoch, „On ‘God’ and ‘Good’“, S. 350.
198 | 7 Iris Murdoch: die Idee der Vollkommenheit der Transzendenz mit sich bringt.“⁷¹ Murdoch bezeichnet das Gute in diesem Sinne auch als die „Idee der Vollkommenheit“. Da man gleichzeitig ernsthaft von gewöhnlichen Gegenständen, Personen oder Kunstwerken als gut sprechen kann, obwohl man sich ihrer Unvollkommenheiten sehr wohl bewusst ist,⁷² ist klar, dass das Gute im Sinne der Idee der Vollkommenheit nicht mit dieser Eigenschaft identifiziert werden darf.⁷³ Dies wirft jedoch die Frage auf, welcher metaphysische Ort dieser „Idee“ zukommt und in welcher Beziehung die niemals verwirklichte Vollkommenheit zum realen Gutsein sowie zu den konkreten Universalien, die den dichten normativen Begriffen entsprechen, steht. Auch in dieser Frage stehen sich innerhalb der Murdoch-Exegese zwei Lager gegenüber, die man als „bewusstseinsinternalistisch“ und „-externalistisch“ bezeichnen kann – insofern das erste Lager die These vertritt, dass das Gute eine „inhärente Eigenschaft des Bewusstseins selbst“⁷⁴ sei, während die Externalisten jegliche solche Bewusstseinsabhängigkeit der Idee des Guten bestreiten. Beide Parteien können dabei für sich in Anspruch nehmen, Murdochs Ablehnung einer fiktionalistischen oder pragmatistischen Rekonstruktion des Guten – „This is not a sort of pragmatism or a philosophy of ‚as if‘“⁷⁵ – ernstzunehmen. Auch die Bewusstseinsinternalisten behaupten ja nicht, dass das Gute eine bloße Setzung oder Erfindung des individuellen Subjekts sei, sondern verstehen es als ein notwendiges Element der Struktur des Bewusstseins überhaupt. Dabei ist es sicher kein Zufall, dass die Bewusstseinsinternalisten in Bezug auf das Gute zu konstruktivistischen Positionen in Bezug auf die moralische Wirklichkeit neigen, während der Externalismus häufiger mit einer Form von Realismus verbunden wird. Dennoch sind beide Fragen, die nach dem ontologischen Status des Guten und die nach dem korrekten Verständnis des „Objektivismus der richtigen Sicht“, systematisch streng auseinanderzuhalten und getrennt voneinander zu untersuchen. Die internalistische Seite, die am einflussreichsten von Maria Antonaccio vertreten wird,⁷⁶ kann sich auf verschiedene Äußerungen Murdochs, insbesondere in Metaphysics as a Guide to Morals stützen, die den engen Zusammenhang zwi-
71 Murdoch, „The Sovereignty of Good“, S. 376. 72 Ebd., S. 376. 73 Dies gegen Broackes, der das Gute als „einfach eine Eigenschaft“ versteht, deren Natur und Extension immer über das hinausgehen, was Menschen in ihrer Umgebung instantiiert finden, und auch über das, was wir exakt erfassen und definieren können (Broackes, Iris Murdoch, Philosopher, S. 70). 74 Antonaccio, Picturing the Human, S. 115. 75 Murdoch, „On ‘God’ and ‘Good’“, S. 360. 76 In ihrem Werk Picturing the Human (Oxford 2000), aber auch in einer Reihe von Essays, die jetzt gesammelt erschienen sind in A Philosophy to Live By (Oxford 2012).
7.3 Die Idee der Vollkommenheit | 199
schen der Idee des Guten und dem Bewusstsein betonen. So schreibt sie: „In einem wichtigen Sinne muss das Gutsein (goodness) eine Idee (Idea) sein.“⁷⁷ Die Internalistin versteht solche Aussagen als Einladung, das Gute als eine Art kantische Idee der Vernunft zu interpretieren: eine notwendige transzendentale Bedingung des Bewusstseins, der aber keine darüber hinausreichende oder von ihm unabhängige Wirklichkeit zukommt. Antonaccio entwickelt diesen Ansatz, indem sie zwei „Ebenen“ oder „Dimensionen“ des Guten unterscheidet, eine formale und eine substantielle, wobei die formale Ebene wieder eine transzendentale und eine perfektionistische Komponente hat.⁷⁸ Die transzendentale Komponente besteht darin, dass jeder Mensch sein Leben unter einer bestimmten Konzeption des Guten lebt, dass die (zumindest eine) Moral unvermeidlich ist und nicht aus dem Leben weggedacht werden kann. Zumindest Teil dessen, was es heißt, über eine Moral zu verfügen, ist es jedoch, Unterschiede hinsichtlich des Wertes bestimmter Handlungsweisen, Personen oder Zustände machen zu können. Dies wiederum setzt, so Murdoch, einen Maßstab der Perfektion voraus, an dem diese Gegenstände gemessen werden können; in diesem Sinn bringt die Idee der Vollkommenheit den Gedanken einer Hierarchie mit sich. Das bedeutet freilich nicht, dass wir von Anfang an über die Vollkommenheit verfügen und diesen Maßstab einfach an die Dinge herantragen. Vielmehr ist die Idee der Vollkommenheit etwas, worüber wir erst im Zuge der Begegnung und Auseinandersetzung mit einem bestimmten Themenfeld zunehmende Klarheit gewinnen, ohne dass sie dadurch allerdings ihren geheimnisvollen Charakter verlieren und vollständig transparent werden würde.⁷⁹ Im Zuge größerer Vertrautheit mit einem bestimmten Bereich wird auch das Gefühl für den Maßstab sicherer, weil die Idee der Vollkommenheit einen „zunehmenden Richtungssinn“ erzeugt.⁸⁰ Dies gilt laut Murdoch genauso für den Bereich der Kunst – wo man feststellen kann, dass „Shakespeare und Piero, wenn auch fast Götter, so doch nicht ganz Götter sind“⁸¹ – wie für den eigentlich moralischen Bereich des menschlichen Verhaltens. In diesem Sinne liegt das Gute immer jenseits (dessen, was wir erfahren und erfassen können), „und aus diesem Jenseits übt es seine Autorität aus“.⁸² Wenn also eine Idee der Vollkommenheit, wie unspezifiziert auch immer, notwendig Teil dessen ist, was es heißt, über eine Moral zu verfügen, gehört auch die Perfektion als Komponente zur formalen Dimension des Guten. Diese formalen 77 Murdoch, Metaphysics as a Guide to Morals, S. 478. 78 Antonaccio, Picturing the Human, S. 15. 79 Murdoch, „On ‘God’ and ‘Good’“, S. 351. 80 Ebd., S. 350. 81 Ebd., S. 351. 82 Ebd., S. 350.
200 | 7 Iris Murdoch: die Idee der Vollkommenheit Merkmale der Idee des Guten können jedoch – wie weiter unten noch deutlich werden wird – auch von einer externalistischen Interpretation der Idee des Guten erfasst werden. Was Antonaccios Interpretation internalistisch macht, ist die substantielle Ebene ihrer Interpretation der Idee des Guten. Diese „spezifiziert den spezifisch moralischen Gehalt dieser Idee der Vollkommenheit als Maßstab für die kritische Bewertung des egoistischen Bewusstseins“.⁸³ In diesem Sinne repräsentiert die Idee des Guten, so Antonaccio, „ein Ideal des vervollkommneten (d. h. realistischen oder illusionslosen) Wissens, das paradigmatisch ausgedrückt ist in der Erfassung der Wirklichkeit anderer Personen“.⁸⁴ Antonaccios Ansatz zufolge ist das Gute also als vollkommener Zustand des menschlichen Bewusstseins zu denken: als die idealisierte, vollkommene Aufmerksamkeit auf die uns umgebende Welt. Zu dieser Interpretation stimmt nicht nur die enge Verbindung, die Murdoch zwischen der Idee des Guten und der Bedeutung des Bewusstseins und des „inneren Lebens“ herstellt, sondern auch bestimmte Äußerungen, die in eine ontologisch deflationäre Richtung weisen, etwa die folgende: „‚Das Gute ist eine transzendente Realität‘ heißt, dass Tugend der Versuch ist, den Schleier des egoistischen Bewusstseins zu durchstechen und der Welt zu begegnen, wie sie wirklich ist. Es ist eine empirische Tatsache der menschlichen Natur, dass dieser Versuch nicht vollständig gelingen kann.“⁸⁵ Jede plausible Interpretation der Idee des Guten bei Murdoch muss diese enge Verbindung zwischen ihr und der unerreichbaren Vollkommenheit der Aufmerksamkeit aufnehmen. Sie muss beides aber nicht miteinander gleichsetzen. Gegen eine Identifikation sprechen nicht nur bestimmte andere Stellen, an denen Murdoch „eine abgetrennte ‚Form‘ des Guten“ von den „vielfältigen Fällen guten Verhaltens“ unterscheiden will,⁸⁶ sondern vor allem ihre Überlegungen zum Verhältnis zwischen dem Guten und der Liebe. Liebe dient, so Murdoch, nicht nur in vielen Fällen der Selbstbestätigung.⁸⁷ Selbst wenn es sich um eine gereinigte Liebe handle, spielten die Begriffe der Liebe und des Guten unterschiedliche Rollen. Das Gute sei das „magnetische Zentrum“, die „magnetische Perfektion“, zu der die Liebe natürlicherweise strebe.⁸⁸ Das, wonach die Liebe strebt, ist jedoch schwerlich allein als ihre eigene Vervollkommnung zu verstehen; gerade die vollkommene Liebe ist ja durch die Beziehung auf etwas außerhalb ihrer selbst charakterisiert. Das Gute ist der Ge83 84 85 86 87 88
Antonaccio, Picturing the Human, S. 15. Ebd., S. 15. Murdoch, „The Sovereignty of Good“, S. 376. Murdoch, „On ‘God’ and ‘Good’“, S. 349. Murdoch, „The Sovereignty of Good“, S. 384. Ebd., S. 384.
7.3 Die Idee der Vollkommenheit | 201
genstand der Liebe, nicht die Liebe selbst: „Das Gute ist das, was alle Menschen lieben und für immer besitzen wollen.“⁸⁹ Es wäre Ausdruck einer fragwürdigen (und für Murdochs Denken untypischen) Selbstzentriertheit, wenn das liebende Bewusstsein auf seine eigene Vervollkommnung gerichtet sein sollte.⁹⁰ Zudem ist die Wirksamkeit des Guten bei Murdoch, obwohl eng mit der Tugend verbunden, nicht auf das menschliche Bewusstsein beschränkt. „Das Gute“, schreibt Murdoch, „übt einen Magnetismus aus, der durch die ganze kontingente Welt läuft, und die Antwort auf diesen Magnetismus ist Liebe“;⁹¹ es sei „offenkundig und aktiv überall um uns herum inkarniert“.⁹² Diese Äußerungen deuten darauf hin, dass die Idee des Guten nicht lediglich ein Ideal des vervollkommneten Bewusstseins bezeichnet, sondern ein, wenn auch „fernes und abgetrenntes“, aktives Prinzip der Realität, das „nicht auf psychologische oder irgendeine andere Menge von Begriffen reduziert werden kann“.⁹³ Zudem legt Murdoch (in ihrem Versuch einer Aktualisierung des ontologischen Gottesbeweises) großes Gewicht auf die Unterscheidung zwischen der subjektiven Gewissheit der Idee des Guten und deren „notwendiger Existenz“. Ginge es ihr lediglich um eine „Idee der Vernunft“, selbst um eine notwendige und nicht in das individuelle Belieben gestellte, wäre es kaum nötig, über die subjektive Unvermeidlichkeit und Autorität der Idee eines vollkommenen Bewusstseins hinaus auf der „Reinheit und Abgetrenntheit“ der Idee des Guten zu insistieren.
7.3.2 Der Schatten Gottes? Verwirft man aus diesen Gründen die bewusstseinsinternalistische Interpretation und greift Murdochs Behauptung auf, das Gute repräsentiere „die Wirklichkeit, deren Traum Gott ist“,⁹⁴ wird man zu einer quasi-theistischen Lesart des Guten geführt. Dass „das Gute“ in Murdochs Denken wesentliche Funktionen ausfüllen soll, die zuvor von Gott übernommen wurden, geht aus den Ausführungen in ihrem Aufsatz „On ‚God‘ and ‚Good‘“ hervor. Dort charakterisiert sie Gott als ein „einziges, vollkommenes, transzendentes, nicht-abbildbares und notwendig wirkliches
89 Murdoch, Metaphysics as a Guide to Morals, S. 343. 90 Vgl. „On ‘God’ and ‘Good’“, S. 348: „Die Aufmerksamkeit sollte korrekterweise nach außen gerichtet sein, weg vom Selbst.“ 91 Ebd., S. 343. 92 Ebd., S. 478. 93 Murdoch, „On ‘God’ and ‘Good’“, S. 349. 94 Murdoch, Metaphysics as a Guide to Morals, S. 496.
202 | 7 Iris Murdoch: die Idee der Vollkommenheit Objekt der Aufmerksamkeit“ und wirbt für eine Moralphilosophie, die um einen Begriff mit diesen Merkmalen als ihren Mittelpunkt kreist.⁹⁵ Gleichzeitig lehnt Murdoch das traditionelle Bild von Gott entschieden und grundsätzlich ab. Grund dafür sind weniger Schwierigkeiten mit der Theodizee angesichts des Leidens in der Welt als vielmehr der von Freud inspirierte Verdacht, der Glaube an eine göttliche Vaterfigur, wie sie das Christentum konzipiert, möchte nichts anderes sein als ein Wunschtraum, die Projektion einer Allmachtsphantasie, und auf diese Weise der nüchternen, präzisen Wahrnehmung des Leidens gerade entgegenstehen. Das gilt für die Idee eines gerechten Urteils ebenso wie für die der Umwandlung des Todes in ein reinigendes Leiden, eine Vorstellung, die Murdoch in der Romantik lokalisiert. In all diesen Feldern hindert uns der Glaube an einen persönlichen, mächtigen und gerechten Gott daran, das Leiden als das zu sehen, was es ist: zwecklos, absolut, endgültig. Der Verdacht einer möglichen Projektion erstreckt sich bei Murdoch auf jeden Aspekt der Gottesvorstellung, der in irgendeiner Weise als trostspendend oder stützend wahrgenommen werden kann: auf die Idee übernatürlicher Hilfe,⁹⁶ auf Gott als liebendes Subjekt, auch auf die Vorstellung eines Gegenübers im Dialog, eines ewigen Du – das sei immer noch „dasselbe trostvolle religiöse Bild“, schreibt sie in Auseinandersetzung mit Martin Bubers Plädoyer für das „beladenste aller menschlichen Worte“.⁹⁷ Alles, was Gott als eine äußere, übernatürliche Person erscheinen lässt, als den „alten, wortwörtlichen, personalen Gott“, wird von ihr abgelehnt. Versteht man das Gute, wie es die obigen Äußerungen nahelegen, im Sinne der quasi-theistischen Interpretation als den Nachfolger des Gottesbegriffs, dann erscheint es leicht als eine Art Gott ohne Willen, ohne Wissen, ohne Macht; ein bloßer Schatten des „alten“ Gottes, das Resultat der Subtraktion aller personalen Züge von der Fülle der Gottesfigur, ein Abziehbild. Übrig bliebe allein seine Vollkommenheit in Verbindung mit einer Art übernatürlicher Existenz in einem „Anderswo“, natürlich nicht räumlich zu verstehen. Die übernatürliche Existenz ist als notwendige Existenz zu deuten, und das Gute, die vollkommene Entität, könnte auf diese Weise gleichzeitig als idealer Maßstab für das Sein der konkreten Gegenstände dienen. Genau diese Vorstellung lehnt Murdoch aber ab, wie es scheint: „Dieses ‚Gute‘ ist nicht der alte Gott in Verkleidung, sondern vielmehr das, wofür der alte Gott stand.“⁹⁸ An einer anderen Stelle antwortet sie auf die Frage eines imaginierten 95 96 97 98
Murdoch, „On ‘God’ and ‘Good’“, S. 344. Murdoch, Metaphysics as a Guide to Morals, S. 400. Ebd., S. 421. Ebd., S. 428.
7.3 Die Idee der Vollkommenheit | 203
Gesprächspartners, ob sie denn glaube, dass die Idee des Guten existiere: „Nein, nicht so, wie die Leute an die Existenz Gottes geglaubt haben.“⁹⁹ Es ist natürlich eine schwierige Frage, welche Art der Existenz „die Leute“ Gott zuschrieben; in der Glaubensgeschichte findet sich vom abenteuerlichsten Aberglauben bis hin zur subtilsten Spekulation bekanntlich so ziemlich jede Position. Aber was Murdoch hier unterstellt, ist vermutlich, dass Gott als „eine Art von transzendentem ‚Ding‘“¹⁰⁰ betrachtet wurde, eine Vorstellung, die sich leicht mit der eines „Anderswo“ (elsewhere) verbindet.¹⁰¹ In diesem Bild existiert Gott „wie“ einer der kontingenten Gegenstände unserer Wahrnehmung (wenn auch natürlich nicht als wahrnehmbares Objekt), nur eben nicht „in“ der natürlichen Welt und nicht in kontingenter Weise. Entsprechendes würde dann in der quasi-theistischen Interpretation für die Idee des Guten gelten. Doch würde dies – und dies dürfte Murdochs Bedenken gegen ein solches Bild widerspiegeln – eine entscheidende Verendlichung und Vergegenständlichung des Guten bedeuten: Es wäre ein Objekt „neben“ anderen, und es wäre ein Objekt, das die Vollkommenheit realisiert, während das Gute doch „keine übernatürliche Entität“ ist¹⁰² und die Vollkommenheit „nie völlig realisiert“.¹⁰³ Die quasi-theistische Interpretation greift also deutlich zu kurz. Auch wenn das Gute demnach nicht so existiert, wie sich die Leute die Existenz Gottes vorgestellt haben, handelt es sich dennoch nicht um „eine Art Pragmatismus oder eine Philosophie des ‚Als ob‘“.¹⁰⁴ Wie also kann eine Interpretation der Idee des Guten bei Murdoch aussehen, die ihren Aussagen über das Gute als den Nachfolgerbegriff Gottes Rechnung trägt, ohne es mit einer Art depersonalisiertem Gott zu identifizieren?
7.3.3 Magnet und Licht Um auf dem Weg zu einer genaueren Bestimmung des ontologischen Status der Idee des Guten Fortschritte zu machen, dürfte es hilfreich sein zu fragen, welche Funktionen die Idee des Guten innerhalb von Murdochs moralphilosophischem Gesamtbild erfüllen soll. Denn die Idee des Guten ist ja nicht einfach ein Axiom des Platonismus, sondern wird eingeführt, um bestimmte Aspekte unserer moralischen 99 Murdoch, „On ‘God’ and ‘Good’“, S. 361. 100 Murdoch, Metaphysics as a Guide to Morals, S. 304. 101 Ebd., S. 399. 102 Ebd., S. 475. 103 Ebd., S. 427. 104 Murdoch, „On ‘God’ and ‘Good’“, S. 360.
204 | 7 Iris Murdoch: die Idee der Vollkommenheit Erfahrung zu erläutern oder zu ermöglichen. Aus einem genaueren Verständnis dieser Funktionen des Guten, so ist zu hoffen, lassen sich dann Rückschlüsse darauf ziehen, wie es beschaffen sein muss, um diese Aufgaben leisten zu können. Die Funktionen, die Murdoch dieser Idee zuweist, werden in Form von zwei Metaphern dargestellt, deren eine die älteste und deren andere die jüngste Metapher des Platonismus ist. Die Metapher des Magnetismus übernimmt Murdoch, wie Bagnoli richtig anmerkt,¹⁰⁵ von niemand anderem als C. L. Stevenson, gibt ihr aber eine andere Wendung. Stevenson versteht unter der „magnetische[n] Wirkung“ der „Eigenschaft, ‚gut‘ zu sein“ eine Form von motivationalem Internalismus: „Wer X als ‚gut‘ anerkennt, muss sich ipso facto eher für es einsetzen, als er es sonst getan hätte.“¹⁰⁶ Ihm geht es also um den phänomenologisch zumindest unter normalen Bedingungen feststellbaren Zusammenhang zwischen moralischen Urteilen und einer entsprechenden Handlungsmotivation, dessen Rekonstruktion er als Adäquatheitsbedingung für eine Definition des „typischen Sinns von ‚gut‘“ ansieht.¹⁰⁷ Murdochs Gebrauch der Metapher weicht schon deshalb von demjenigen Stevensons ab, weil es ihr (hier) nicht um die „Eigenschaft, ‚gut‘ zu sein“ geht, sondern um die „magnetische, nicht-darstellbare Idee des Guten“¹⁰⁸ in ihrer Wirkung auf das moralische Subjekt. Die Metapher wird aber von Murdoch nicht nur für eine andere Beziehung verwendet, sondern gewinnt dabei auch eine größere Vielschichtigkeit als bei Stevenson. Zwei wesentliche Aspekte lassen sich unterscheiden. Den Kern scheint eine Anziehungsdynamik zu bilden, durch die sich etwas in Richtung des „Magneten“, der Idee des Guten, bewegt. Diese Bewegung wird einerseits erfahren als Wirkung einer von der Idee des Guten ausgehenden anziehenden Kraft; andererseits hat diese Kraft aber keinen gewaltsamen oder zwingenden Charakter, vielmehr wird ihr bereitwillig und mit innerer Zustimmung Folge geleistet.¹⁰⁹ Wofür stehen diese beiden Aspekte der Metapher, und was verraten sie über die Ontologie „des Guten“? Die „magnetische Kraft“¹¹⁰ der Idee des Guten lässt sich nur angemessen explizieren über den Begriff der Liebe („Love“ großgeschrieben, nicht mit kleinem l), den Murdoch als „den allgemeinen Namen der Qualität der Bezogenheit (quality
105 Bagnoli, „The Exploration of Moral Life“, S. 208, Fn. 29. 106 Stevenson, „Die emotive Bedeutung ethischer Ausdrücke“, S. 119. Vgl. a. Halbig, Praktische Gründe, S. 349. 107 Vgl. Abschnitt 3.1.2 dieser Arbeit. 108 Murdoch, „On ‘God’ and ‘Good’“, S. 351. 109 Vgl. die phänomenologische Vorbetrachtung in Abschnitt 1.1. 110 Murdoch, Metaphysics as a Guide to Morals, S. 400.
7.3 Die Idee der Vollkommenheit | 205
of attachment)“ versteht.¹¹¹ „Bewusstseinsqualität“ ist weder ein sonderlich scharfer noch ein allgemein gebräuchlicher Ausdruck, wie Murdoch selbst anmerkt – eine Tatsache, die sie selbst auf die Leugnung jeder philosophischen Rolle für die Erfahrung in der Moralphilosophie des 20. Jahrhunderts zurückführt.¹¹² In ihrem eigenen Gebrauch verbindet sich dieser Begriff mit dem „inneren Leben“, der eine „komplexe Haltung zum Leben“ bezeichnet, die sich andauernd in öffentlicher und privater Rede äußert, aber nicht in zeitlich verschiedene Situationen trennen lässt.¹¹³ Liebe in diesem Verständnis muss nichts Positives sein, sondern „kann etwas Schlechtes bezeichnen“: nämlich dann, wenn die Bewusstseinsqualität selbst negativ ist. Dass die Idee des Guten eine anziehende Wirkung ausübt, führt Murdoch an verschiedenen Stellen aus. In „The Sovereignty of Good over other Concepts“ heißt es etwa: „Das Gute ist das magnetische Zentrum, zu dem sich die Liebe natürlicherweise hinbewegt.“¹¹⁴ Hier wird der Gedanke der Anziehungskraft mit dem der Liebe verbunden, so dass man geradezu festhalten kann, dass das Gute der natürliche Gegenstand der Liebe ist; es ist, wie Murdoch sagt, „das, was alle Menschen lieben und für immer besitzen wollen“.¹¹⁵ Diese Behauptung sollte weder in einem bloß normativen Sinne verstanden werden als das, was alle Menschen lieben sollten, obwohl natürlich auch der Gedanke mit hineinspielt, dass das Gute der angemessene Gegenstand der Liebe ist; noch ist die Aussage bloße Tatsachenaussage in dem Sinne, dass sie widerlegt werden könnte durch den Verweis auf ein menschliches Subjekt, das das Gute ganz sicher nicht liebt. Vielmehr handelt es sich um eine Aussage darum, was Menschen natürlicherweise lieben, wobei dies wiederum evaluative und deskriptive Implikationen mit sich bringt: Es ist gut für Menschen, „das Gute“ zu lieben; und daher ist eine Orientierung auf das Gute tatsächlich fundamental für die Natur des Menschen. Doch die Idee des Guten ist nicht nur der – unendlich ferne – Gegenstand unserer Liebe, sondern wird auch – das ist der zweite Aspekt der Magnetismus-Metapher – als kausal aktiv empfunden. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf das Gute richten, so Murdoch, erhalten wir neue Energie; das Gute ist ein „magnetisches Zentrum der Vitalität“.¹¹⁶ Sowohl im jüdisch-christlichen als auch im platonischen Denken spiele die Reinigung von Gefühlen durch ein reines Objekt der Aufmerksamkeit – im Christentum Gott, im Platonismus das Gute – eine entscheidende Rolle für 111 112 113 114 115 116
Murdoch, „The Sovereignty of Good“, S. 384. Murdoch, Metaphysics as a Guide to Morals, S. 159. „Vision and Choice in Morality“, S. 81f.; vgl. „The Sovereignty of Good“, S. 384. Murdoch, „The Sovereignty of Good“, S. 384. Murdoch, Metaphysics as a Guide to Morals, S. 343. Ebd., S. 344; vgl. ebd., S. 474.
206 | 7 Iris Murdoch: die Idee der Vollkommenheit den moralischen Fortschritt des Individuums. Das Gebet sei recht verstanden kein Bitten, sondern „schlicht Aufmerksamkeit auf Gott, eine Form der Liebe“.¹¹⁷ Ohne meditative Techniken als Ersatz für das Beten empfehlen zu wollen, hält Murdoch die Umorientierung der von Natur auf die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse und die Aufrechterhaltung eines positiven Selbstbildes gerichteten psychischen Energie auf wertvolle Gegenstände für eine absolute moralische Notwendigkeit. Die andere Metapher, von der Murdoch zur Charakterisierung des Guten vielfachen Gebrauch macht, ist so alt wie der Platonismus selbst: Es ist die Metapher des Lichts.¹¹⁸ Auch mit dem Licht verbinden sich wiederum zwei verschiedene, wenn auch zusammenhängende Funktionen. Wie bereits im platonischen Sonnengleichnis ausgeführt, ist das Licht die Bedingung der Erkennbarkeit der wahrnehmbaren Objekte. Auf das Gute übertragen bedeutet dies, dass es als absoluter Maßstab Wertunterschiede zwischen den Dingen erst erfassbar macht: „Die Idee der Vollkommenheit erzeugt gleichzeitig auf natürliche Weise Ordnung. In ihrem Licht erkennen wir, dass A, was B oberflächlich ähnelt, in Wahrheit besser ist als B.“¹¹⁹ Das bedeutet jedoch nicht, dass man mit einem inhaltlich fixierten (taped) Verständnis von Vollkommenheit an den Vergleich herantritt. Vielmehr handelt es sich um eine Art hermeneutischen Schaukelprozess, in dem einerseits die Erfahrung von qualitativen Unterschieden eine Richtung suggeriert, in der das reine Gute liegt, und andererseits der so gewonnene Richtungssinn wieder eine feinere Unterscheidung zwischen Gegenständen erlaubt.¹²⁰ Dabei bleibt das Gute, das „Licht“, selbst stets der direkten Erkenntnis entzogen: „Die Quelle der Schau ist nicht im gewöhnlichen Sinne sichtbar“.¹²¹ Die Idee der Vollkommenheit macht die Wertdifferenzen aber nicht nur sichtbar; sie ist auch die ontologische Bedingung dafür, dass es Hierarchien überhaupt gibt. Das Gute ist nicht einfach nur transzendent, sondern „inkarniert in Wissen, Arbeit und Liebe“;¹²² es lebt gewissermaßen „auf beiden Seiten der Grenze“, wie Murdoch schreibt.¹²³ Es ist nicht nur eine Erkenntnisbedingung, die Dinge – Handlungen, Kunstwerke, Personen – in ihrem Wert erkennbar macht; dieser Wert besteht allererst in dem Grad, in dem etwas dem Guten nahekommt. Dies zeigt sich daran, dass das Gute, der „souveräne“ Begriff, erst die Unterscheidung zwischen wahrem Mut, wahrer Treue, wahrer Freundschaft und ihren falschen 117 Murdoch, „On ‘God’ and ‘Good’“, S. 344. 118 Vgl. Rep. 506b–509b. 119 „On ‘God’ and ‘Good’“, S. 350. Vgl. ebd., S. 357, und Metaphysics as a Guide to Morals, S. 475. 120 Ebd., S. 350. 121 Murdoch, „The Sovereignty of Good“, S. 380. 122 Murdoch, Metaphysics as a Guide to Morals, S. 508. 123 Murdoch, „The Sovereignty of Good“, S. 376.
7.3 Die Idee der Vollkommenheit | 207
Zerrbildern ermöglicht: Die Erklärung, worin die wahren Tugenden bestehen, muss vom Begriff des Guten Gebrauch machen.¹²⁴ Hierarchie kann es nur geben, wenn es Vollkommenheit gibt. Diesen Gedanken kann man auch als die Pointe des ontologischen Beweises betrachten, wie Murdoch ihn rekonstruiert. Sie bezieht sich dabei freilich weniger auf Anselms bekannte Überlegung, dass ein Wesen, „größer als welches nichts gedacht werden kann“ (aliquid quo nihil maius cogitari possit), nicht nur im Geist (in intellectu), sondern auch in der Wirklichkeit (in re) existieren müsse, weil ein Wesen, das nur im Geist existiert, nicht das größte (vollkommenste) denkbare Wesen ist. Entscheidend ist für sie die Antwort Anselms auf die Kritik seines Mitbruders Gaunilo, wir könnten uns überhaupt keine Vorstellung vom Wesen Gottes machen. Dagegen vertritt Anselm die Auffassung, dass die Erkenntnis und Identifikation von Graden des Gutseins den Schluss auf Gott als das höchste vorstellbare Gute erlaube.¹²⁵ Gott ist aber nicht etwa ein mögliches oder kontingenterweise vollkommenes Wesen; er besitzt notwendige Existenz, weil nur ein solcher idealer Fluchtpunkt Werthierarchien überhaupt ermöglicht. Dieses Argument greift Murdoch auf, wenn auch „entmythologisiert“, indem sie an die Stelle Gottes „das Gute“ setzt. Was können uns nun die vier dargestellten theoretischen Funktionen des Guten – als Gegenstand von Liebe, als Quelle neuer und besserer Energie, als erkenntnisermöglichendes „Licht“ und als metaphysische Ermöglichungsbedingung von Wertabstufungen – über seinen ontologischen Charakter verraten? Einerseits scheint klar zu sein, dass eine bewusstseinsinternalistische Deutung Schwierigkeiten hat, insbesondere der ontologischen Funktion sowie der als Liebesobjekt gerecht zu werden. Andererseits scheidet die quasitheistische Lesart, nach der das Gute gewissermaßen ein unpersönlicher Gott ist, aus den oben genannten Gründen aus. Angesichts dieser Situation dürfte es letztlich am plausibelsten sein, das Gute als das Ideal der Vollkommenheit selbst zu interpretieren. Im Unterschied zur quasi-theistischen Interpretation ist das Gute damit nicht ein – „anderswo“, wenn auch natürlich nicht räumlich gemeint – existierendes vollkommenes Objekt, eine realisierte Vollkommenheit, sondern eine stets erst zu realisierende, eine „Grenze, die ständig zurückweicht“.¹²⁶ Doch im Gegensatz zur bewusstseinsinternalistischen Deutung des Guten handelt es sich auch nicht lediglich um ein Ideal des vervollkommneten Bewusstseins, ebenso wenig um ein Element oder eine Struktur
124 Ebd., S. 380. 125 Murdoch, Metaphysics as a Guide to Morals, S. 395. 126 Murdoch, „The Idea of Perfection“, S. 321.
208 | 7 Iris Murdoch: die Idee der Vollkommenheit des Bewusstseins selbst; das Gute übt einen Magnetismus aus, der „durch die ganze kontingente Welt läuft“.¹²⁷ Murdoch wendet sich dabei gegen das Argument, dass „alles, was Grade des Gutseins (excellence) zeigen kann, es in seiner je spezifischen Weise aufweist“, so dass „die Idee der Vollkommenheit in einzelnen Fällen nur als die jeweils einschlägige Art von Vollkommenheit exemplifiziert sein kann“,¹²⁸ etwa als künstlerische oder moralische Vollkommenheit. In verschiedenen Fällen – in einem mozartschen Klavierkonzert wie in dem selbstlosen Menschen im Konzentrationslager – scheint für Murdoch dieselbe Vollkommenheit auf, nicht einmal die Vollkommenheit als Komposition und einmal die Vollkommenheit als Mensch. Dieses unerreichbare und unrealisierbare nicht-spezifische Gute übersteigt also das menschliche Bewusstsein und seine Werke, die aber im Sinne des Ideals auf sie verwiesen bleiben. Existiert das Gute also oder nicht? Murdochs diesbezügliche Äußerungen weisen in unterschiedliche Richtungen und sind anscheinend nur äußerst schwer miteinander in Einklang zu bringen. Gott existiere zwar nicht und könne auch nicht existieren, doch das, was unsere Vorstellung von einem Gott inspiriert hat – das Gute – existiere sehr wohl;¹²⁹ das Gute ist „wirklich“, „eine Realität“.¹³⁰ Andererseits will sie „gewichtige Konnotationen des irreführenden Wortes ‚existieren‘ vermeiden“¹³¹ und lehnt die Vorstellung einer übernatürlichen Entität ab.¹³² Die hier vertretene Interpretation des Guten als essentiell nicht-realisiertes Ideal der Vollkommenheit kann diese Aussagen vielleicht am ehesten harmonisieren: Das Gute existiert demnach nicht als ein endliches Objekt im selben Sinne wie die Gegenstände unserer Erfahrung, ist aber auch keine bloße Fiktion;¹³³ es besitzt einen „einzigartigen Status“ als „fundamental, essentiell und notwendig“.¹³⁴ Das Gute wäre demnach in einer Weise wirklich, die keine Existenz impliziert, „wirklich als Idee“.¹³⁵ Wie kann das so verstandene Gute die vier in diesem Abschnitt herausgearbeiteten Funktionen erfüllen? Wenig Schwierigkeiten bereiten die beiden Aspekte, die unter der Metapher „Licht“ verhandelt wurden: Ermöglichung von Wertdifferenzen und ihrer Erkennbarkeit. Eine Idee der Vollkommenheit führt Hierarchien
127 Murdoch, Metaphysics as a Guide to Morals, S. 343. 128 Murdoch, „The Sovereignty of Good“, S. 381. 129 Murdoch, Metaphysics as a Guide to Morals, S. 508. 130 Ebd., S. 496; vgl. „The Fire and the Sun“, S. 408. 131 Murdoch, „On ‘God’ and ‘Good’“, S. 351. 132 Murdoch, Metaphysics as a Guide to Morals, S. 475. 133 Vgl. „On ‘God’ and ‘Good’“, S. 360; Metaphysics as a Guide to Morals, S. 508. 134 Ebd., S. 430. 135 Ebd., S. 508.
7.3 Die Idee der Vollkommenheit | 209
in die Welt ein, indem verschiedene Objekte diesem Ideal unterschiedlich nahe kommen; freilich bleibt Murdoch auffällig schweigsam in Bezug auf die Frage, wie man sich dieses „Nahekommen“ genauer vorzustellen hat. Die uns begegnenden qualitativen Unterschiede in den Dingen suggerieren jedenfalls eine Vorstellung, die wir uns von einem Ideal machen, welche dann ihrerseits wieder eine schärfere Differenzierung zwischen Gegenständen ermöglicht. In dieser Differenzierung spielen dann die „spezialisierten sekundären deskriptiv-normativen Ausdrücke“, also die dichten Begriffe, eine wesentliche Rolle. Auch die Kennzeichen des Guten, die unter die Magnet-Metapher fallen, lassen sich mit der Interpretation des Guten als nicht-realisiertes Ideal der Vollkommenheit abbilden, wenn auch vielleicht weniger leicht. Auch als nichtexistentes, stets noch und weiter zu realisierendes Ideal kann das Gute, wie es scheint, ein möglicher Gegenstand von „Eros“, liebendem Verlangen sein; aber die Liebe wird eine wesentlich andere Form annehmen als die zu einem wirklich existierenden Gegenstand. Kann es auch eine Quelle neuer und reinerer Energie sein? Zumindest lässt sich sinnvoll sagen, dass ein Ideal die Aufmerksamkeitsenergie, die auf es gerichtet wird, in dem Sinne „reinigt“, dass es das Subjekt zu neuer und präziserer Betrachtung der unvollkommenen Gegenstände befähigt und selbst zu einem gerechteren Blick auf die Wirklichkeit inspiriert. Zugegebenermaßen ist schon der Begriff der psychischen Energie, wie wichtig und unverzichtbar er auch sein mag, vage, noch mehr der einer „Reinigung“ solcher Energie. Wenn diese Interpretation dennoch richtig ist, dürfte Murdochs Idee des Guten als abstraktes Objekt im Sinne einer notwendig singulären Entität gelten. Als nie vollständig realisiertes Ideal unterscheidet sie sich von allen Phänomenen unserer Erfahrung, die ihrerseits durch den Bezug auf dieses Ideal konstituiert sind. Ebenso wenig ist sie aber eine bloße „Idee der Vernunft“ (oder des Bewusstseins), da gerade das vervollkommnete Bewusstsein dadurch charakterisiert ist, dass es sich auf etwas außerhalb seiner selbst bezieht. Weder ist die Vollkommenheit also ein möglicher Inhalt des Bewusstseins (es ist unmöglich, in die Sonne zu blicken), noch ist sie ein Element oder eine Struktur des Bewusstseins selbst. Das Gute ist, in Murdochs eigenen Worten, „weder ein logisches Universale noch eine Person, es ist sui generis. Es ist ein ‚Realitätsprinzip‘, das uns hilft, uns in der Welt zurechtzufinden.“¹³⁶
136 Ebd., S. 474.
210 | 7 Iris Murdoch: die Idee der Vollkommenheit
7.4 Zusammenfassung und Kritik Murdochs metanormative Position, ihr Bild vom Wesen der Moral, aber auch etwa der ästhetischen Normativität, lässt sich nur schwer aus ihren schillernden und zum Teil widersprüchlich scheinenden Ausführungen herausdestillieren und in die Sprache der gegenwärtigen Normativitätstheorie bringen; zu sehr unterscheiden sich ihr Verständnis des ethischen Lebens selbst, ihre Betonung der Bedeutung des Individuellen sowie ihre metaphernreiche, mäandernde, gewollt untechnische Ausdrucksweise von allen heutigen Usancen. Immerhin wird sehr deutlich, dass sie gegen die dominierenden Strömungen ihrer Zeit eine objektivistische Position vertritt. Dabei handelt es sich um einen unorthodoxen „Objektivismus der richtigen Sicht“, wobei unter einer „Sicht“ eine komplexe, durch dichte Begriffe strukturierte Perspektive auf die Wirklichkeit einschließlich der Dispositionen zum Fällen entsprechender Urteile zu verstehen ist. Richtige oder bessere Sichten unterscheiden sich von den schlechteren dadurch, dass sie sich dem „gerechten und liebevollen Blick“ auf eine individuelle Realität verdanken. Dieser Objektivismus, so habe ich argumentiert, ist besser als Realismus denn als Konstruktivismus zu verstehen; schon die Metapher der Sicht, noch mehr aber Murdochs wiederkehrende Betonung der Bedeutung einer „transzendenten“, d. h. gerade unseren Konzeptionen und Konstruktionen vorgelagerten Wirklichkeit machen klar, dass der Maßstab für die richtige Betrachtung der Realität in dieser selbst liegen muss, nicht in uns. Es ist aber schwer zu sehen, wie die Wirklichkeit selbst Richter über unsere Sicht auf sie sein soll, wenn sie nicht von sich her, und unabhängig von uns, normative Differenzen enthält. Diese normativen Differenzen entsprechen der hier vorgelegten Interpretation zufolge in Murdochs Auffassung den dichten Begriffen, soweit sie einer Haltung der Aufmerksamkeit entspringen. Sie sind jedoch im Unterschied zu anderen realistischen Positionen als „konkrete Universalien“ zu betrachten, also als essentiell individuelle, kontextualisierte Charakteristika einzelner Gegenstände. „Das Gute“, dem Murdoch einen entscheidenden Stellenwert für die Erkenntnis und Konstitution der normativen Dimension der Wirklichkeit beimisst, ist jedoch selbst kein direkt erkennbares Element der Realität. Als Ideal der Vollkommenheit ist es nichts Realisiertes, sondern stets nur etwas zu Realisierendes. Es mag daher zunächst etwas fragwürdig anmuten, es als ein abstraktes Objekt zu bezeichnen; immerhin wehrt Murdoch sich ausdrücklich dagegen, es als „einen Gegenstand unter anderen“ zu bezeichnen.¹³⁷ Doch in dem weiten Sinne, der oben (Abschnitt 5.3) dem Begriff eines abstrakten Gegenstands gegeben wurde und dem
137 Murdoch, Metaphysics as a Guide to Morals, S. 405.
7.4 Zusammenfassung und Kritik | 211
zufolge er als notwendig singuläre Entität zu verstehen ist, kann das Gute bei Murdoch durchaus als abstraktes Objekt gelten; einerseits ist es „außerhalb der Welt des existierenden Seins“, andererseits „etwas Einzigartiges und Besonderes“ (something of a different unique and special sort).¹³⁸ Da nun die konkreten Gegenstände ihr jeweiliges Gutsein aus der Relation zu diesem Ideal der Vollkommenheit beziehen, kann Murdoch als metanormative Platonistin in dem Sinne bezeichnet werden, in dem dieser Ausdruck in Kap. 5 eingeführt wurde. Die spezifische Form, in der Murdoch den Platonismus vertritt, ist deshalb originell und interessant, weil einerseits das abstrakte Ideal als intrinsisch normative (zu realisierende) Vollkommenheit betrachtet wird, sie es aber andererseits nicht mit einer realen personalen Wesenheit identifiziert. Es handelt sich demnach, wenn die obige Interpretation richtig ist, um eine nichtreduktionistische nichttheistische Variante des Platonismus. Das erlaubt es ihr, einer Reihe der in Kap. 3 dargestellten Explananda einer Theorie der Vortrefflichkeit Rechnung zu tragen, ohne sich die mit dem Gottesbegriff verbundenen ontologischen Beweislasten, vor allem aber den Verdacht einer Projektion menschlicher Wunschphantasien auf eine äußere Wirklichkeit aufzuladen. So macht ihr Ansatz beispielsweise die (in Moores „Argument der offenen Frage ausgedrückte“) Einsicht verständlich, dass sich der Begriff des Guten nicht ohne Bedeutungsverlust durch einen anderen, nicht-normativen Ausdruck ersetzen lässt; „gut“, von konkreten Objekten ausgesagt, bezeichnet eben eine Beziehung zu einer intrinsisch normativen Entität. Auch die Merkmale der Kategorizität und des motivationalen Internalismus finden in Murdochs Modell eine einfache und plausible Erklärung. Jeder hat Grund, gegenüber einer als gut bezeichneten konkreten Entität bestimmte Einstellungen des Bewunderns, Anerkennens oder zumindest Schützens einzunehmen, weil sich einerseits in diesen Gegenständen in je einzigartiger Weise das transzendente Ideal realisiert (das sich auch nicht anders „inkarnieren“ kann als so), wir aber andererseits auch selbst unter dem Ideal der vervollkommneten Aufmerksamkeit auf die uns umgebende Wirklichkeit stehen. Und mit dem Urteil „x ist gut“ geht deshalb typischerweise eine Bereitschaft zum entsprechenden Handeln einher, weil die Aufmerksamkeit auf ein gutes Objekt aus dieser Betrachtung selbst neue und „gereinigte“ Energie bezieht. Dies erklärt gleichzeitig auch, warum solche Urteile, wenn sie nicht der Aufmerksamkeit auf dieses Objekt entspringen (sondern etwa der Konvention oder der Gewohnheit), keine solche motivationale Wirkung zu entfalten vermögen. Murdoch liefert zugleich auch einen Hinweis darauf, wie das Problem der teleologischen Unterordnung zu lösen sein könnte. Dieses Problem besteht ja nach
138 Ebd., S. 508.
212 | 7 Iris Murdoch: die Idee der Vollkommenheit dem oben Gesagten¹³⁹ darin, dass die Identifikation der Vortrefflichkeit mit der Beziehung auf ein abstraktes Ideal den finalen Wert der konkreten vortrefflichen Objekte zu untergraben droht: Sind sie lediglich eine Stufe auf dem Weg zur Idee des Guten, ein Mittel zu ihrer Erkenntnis oder eine Exemplifikation, warum sollten wir dann sagen, dass sie um ihrer selbst willen zu schätzen sind, unverzichtbar und unersetzlich? Wenn dagegen, wie es Murdoch nahezulegen scheint, das Ideal der Vollkommenheit in vortrefflichen Menschen (der „selbstlose Mann im Konzentrationslager“) und Kunstwerken (Shakespeare, Piero) aufscheint, das Ideal aber selbst kein vortreffliches Objekt ist, ist die Beziehung zwischen Gegenstand und Idee weder als instrumentell noch als Exemplifikation eines abstrakten Merkmals zu deuten, sondern als jeweils individuelle Konkretisierung oder Aneignung. Freilich bedarf diese Idee noch näherer Ausführung, als sie bei Murdoch erfährt. Gleichzeitig werden jedoch auch Grenzen und Schwächen der murdochschen Position deutlich. Die Idee der Vollkommenheit ist inhaltlich unbestimmt, „leer“ (blank), wie Murdoch selbst sagt;¹⁴⁰ und das wirft die Frage auf, wie eine solche material unspezifizierte, abgetrennte Idee der Vollkommenheit das Ideal für die große Vielzahl verschiedener einzelner Arten konkreter Objekte abgeben soll, von Personen und ihren Handlungen über Kunstwerke bis hin zu natürlichen Entitäten. Im Zusammenhang damit scheint es, als ob die Postulierung eines einzigen abstrakten Ideals über alle konkreten Gegenstände dem in Abschnitt 1.2.1 herausgearbeiteten attributiven Charakter der Vortrefflichkeit zuwiderläuft: Für ein Kunstwerk und einen Menschen bedeutet es eben nicht dasselbe, in der relevanten Weise gut zu sein; selbst wenn es in letzter Instanz einen Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen Idealen geben sollte, bleibt dieser Unterschied doch zu berücksichtigen. Noch schwerer wiegt, dass der Zusammenhang zwischen den „spezialisierten normativ-deskriptiven Ausdrücken“, also den dichten Begriffen, und der Idee des Guten letztlich unklar bleibt. Einerseits entwickelt sich das entsprechende Vokabular in Kontexten der geteilten Aufmerksamkeit auf eine individuelle Realität, wie Murdoch ausführt. Andererseits ist es das Gute, was Wert und Hierarchie in die Welt einführt. Aber wie erzeugt die Idee der Vollkommenheit dichte normative Eigenschaften, oder anders herum: Wie sind die dichten Eigenschaften – und nicht nur ein „dünnes“ relatives Gutsein – durch den Bezug auf ein transzendentes, abstraktes Ideal konstituiert? Wieso sind konkrete Objekte nicht einfach nur gut, sondern gut stets in einer durch dichte Begriffe spezifizierbaren Weise? Auf diese Fragen gibt Murdoch keine Auskunft.
139 Vgl. Abschnitt 5.2, S. 121. 140 Murdoch, „On ‘God’ and ‘Good’“, S. 358.
7.4 Zusammenfassung und Kritik | 213
Schließlich bleibt festzuhalten, dass sie sich zwar einschlägig zu den Phänomenen der Pflicht und des Bösen äußert, aber in einer Weise, die sie als weitgehend unabhängig vom Guten kennzeichnet. In ihren früheren Essays aus The Sovereignty of Good scheint der Begriff des Guten noch den der Pflicht als zentralen Reflexionspunkt ablösen zu sollen; dagegen entwirft sie in Metaphysics as a Guide to Morals das Bild der Moral als eines „Feldes“, in dem verschiedene auf einander nicht reduzierbare „Modi“ operieren.¹⁴¹ Dazu gehören neben „Eros“, der den Phänomenbereich des Guten bezeichnet, auch die Pflicht und die „Axiome“ einer eher utilitaristisch interpretierten öffentlich-politischen Moral, aber auch die „Leere“ (void) der trostlosen, verzweifelten Abwesenheit des Guten.¹⁴² Diese Modi des ethischen Seins sind sämtlich unverzichtbar, ohne dass einer von ihnen als vorrangig betrachtet werden könnte. Ein solches pluralistisches Bild bleibt jedoch, wenngleich sympathisch, systematisch letztlich unbefriedigend; besser wäre es, das Gute und die Pflicht in einen Zusammenhang zu bringen, der beispielsweise erklärlich macht, weshalb grosso modo nur gute Handlungen auch unsere Pflicht sein können, und der die Art, in der sich das Böse dem Guten widersetzt, genauer bestimmt. Kann eine theistische Variante des Platonismus, wie Robert M. Adams sie vertritt, diesen Desiderata besser gerecht werden?
141 Murdoch, Metaphysics as a Guide to Morals, S. 492. 142 Ebd., S. 498.
8 Robert M. Adams: Gott als das unendlich Gute Für den amerikanischen Philosophen Robert Merrihew Adams (*1937) besteht das Gutsein endlicher Gegenstände in einer Ähnlichkeit mit Gott.¹ Damit vertritt er eine theistische Variante des metanormativen Platonismus: Die Vortrefflichkeit ist eine Beziehung zu einer abstrakten Entität, die jedoch – anders als bei Plotin oder Murdoch – als personales Wesen mit kognitiven, affektiven und voluntativen Einstellungen konzipiert wird. Das bedeutet allerdings nicht, dass Adams, wie es der voluntaristische Strang der theologischen Tradition tut, die in Frage stehende Art des Gutseins auf die Entsprechung mit den Willensakten einer göttlichen Person reduzieren will. Im Gegenteil verteidigt er eine nicht-reduktionistische Form des Platonismus, indem Gott, das abstrakte Ideal, selbst als ein „robustes“, irreduzibles Gutes charakterisiert wird. Doch die These, dass Gutsein in einer Ähnlichkeit mit Gott besteht, dürfte heute vielfach spontan auf Skepsis, vielleicht sogar Ablehnung stoßen. Müssen wir wirklich erst etwas über Gottes Wesen wissen, um ein Urteil darüber fällen zu können, ob und in welchem Maße etwas gut ist? Ist es nicht abwegig anzunehmen, dass mit der Zuschreibung von Werteigenschaften implizit Aussagen über die Ähnlichkeit mit Gott getroffen werden sollen? Und was soll Gottähnlichkeit in Sätzen wie „Gut, dass Bremen gewonnen hat“, „Nimm die Zange, die ist gut“ oder „Es ist gut, zuerst eine solide Ausbildung abzuschließen“ überhaupt bedeuten? Bei diesen vermeintlichen Folgerungen handelt es sich jedoch um drei Missverständnisse von Adams’ These. Weder behauptet Adams, dass jeder Gebrauch des Ausdrucks „gut“ über die Beziehung der Ähnlichkeit zu Gott zu verstehen wäre (dies wäre ein Missverständnis der Reichweite seiner These), noch ist Gottähnlichkeit für Adams das, was wir alltäglich meinen, wenn wir etwas als gut bezeichnen (ein semantisches Missverständnis). Ebenso wenig handelt es sich um eine Behauptung darüber, wie wir zur Erkenntnis des Guten gelangen, wie ein drittes, epistemologisches Missverständnis meinen könnte. Vielmehr ist es das (metaphysische) Wesen des Gutseins (the nature of goodness)² im Sinne der Vortrefflichkeit (excellence), das Adams mit seiner theistischen These analysieren will. Selbst wenn man diese Präzisierungen akzeptiert, dürfte die systematischkonstruktive Verwendung des Gottesbegriffs im sogenannten „nachmetaphysischen Zeitalter“ bei vielen Philosophen Unbehagen erzeugen. Daher werde ich im folgenden Abschnitt (8.1) zunächst versuchen, das Ziel seiner Überlegungen gegen 1 Adams, Finite and Infinite Goods, S. 7 und passim. 2 Ebd., S. 15. https://doi.org/10.1515/9783110623871-008
8.1 Bedeutung und Reichweite von Adams’ Theorie
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die genannten Missverständnisse herauszuarbeiten und so ihre philosophische Respektabilität zu sichern. Darauf soll Adams’ Theorie des Guten zunächst detaillierter dargestellt werden (8.2), bevor ich in Abschnitt 8.3 verschiedene Einwände gegen sein Modell diskutiere, die sich zum Teil gegen seine metaphilosophischen Vorannahmen, zum Teil gegen die Kohärenz der Idee eines transzendenten Guten und zum Teil gegen die Möglichkeit und den Erklärungswert der Ähnlichkeitsbeziehung richten. Einer der Hauptvorzüge, die Adams für seine theistische Theorie in Anspruch nimmt, ist ihre vereinheitlichende Kraft in Bezug auf verschiedene Phänomene aus dem Feld der Moral, insbesondere die des Guten, des Bösen und der Pflicht. Der Abschnitt 8.4 widmet sich daher einer Erläuterung von Adams’ Theorie der Pflicht, die in Abschnitt 8.5 ebenfalls einer kritischen Analyse unterzogen wird. Fazit wird sein, dass Adams seine Position nur mit gewissen theoretischen Kosten gegen die vorgebrachten Einwände verteidigen kann, was ihre Gesamtattraktivität sichtlich mindert.
8.1 Bedeutung und Reichweite von Adams’ Theorie Adams bezieht sich mit seiner These von der Identität des Gutseins mit der Gottähnlichkeit nur auf einen ganz bestimmten Gebrauch des Begriffs des Guten. Das Missverständnis der Reichweite geht dagegen von der Annahme aus, dass alle möglichen Bedeutungen von „gut“ durch eine einzige Theorie abgedeckt werden sollten. Das jedoch würde laut Adams geradezu bedeuten, einen Nonkognitivismus zu präjudizieren.³ Denn es gebe mögliche Verwendungsweisen, in denen der Ausdruck „gut“ tatsächlich – wie vom Nonkognitivismus behauptet – kaum mehr leiste, als ein Ereignis gutzuheißen, etwa in der Reaktion auf das Ergebnis eines Sportmatches;⁴ und es scheine kaum einen Kontext zu geben, in dem die Äußerung dieses Wortes nicht auch eine irgendwie geartete positive Einstellung des Sprechers zu dem bezeichneten Ereignis zum Ausdruck brächte.⁵ Daraus folge jedoch, so Adams, nicht, dass in anderen Kontexten mit dem Gebrauch von „gut“ ebenfalls nicht auf „eine vermeintliche objektive Tatsache“ (a supposed objective fact) verwiesen werden solle.⁶ Um die Untersuchung des Wesens des Guten in Fällen der letzteren Art geht es Adams.
3 4 5 6
Ebd., S. 17. Ebd., S. 17. Ebd., S. 17. Ebd., S. 17.
216 | 8 Robert M. Adams: Gott als das unendlich Gute Doch auch innerhalb des kognitivistisch zu verstehenden Guten gibt es verschiedene Bedeutungsdimensionen, von denen wiederum nur eine, jedoch zentrale Adams zufolge als Gottähnlichkeit zu analysieren ist. Was – wie die „gute“ Zange – lediglich instrumentell, d. h. für das Erreichen eines bestimmten Zwecks gut ist, ist ebenso wenig durch eine direkte Beziehung zu Gott charakterisiert wie das, was wie eine Ausbildung lediglich als gut für jemanden bezeichnet wird und somit in den Bereich des Wohls (well-being) fällt. Es ist vielmehr das Gutsein im Sinne des „Vortrefflichen“ (excellent), dessen, was „Liebe oder Bewunderung verdient hat“,⁷ was als Ähnlichkeit zu Gott als der Idee des Guten erklärt werden soll. Die Vortrefflichkeit ist dabei keineswegs, wie der häufige Gebrauch durch tugendethische Theorien nahelegen könnte, ausschließlich moralisch zu verstehen: Sie wird exemplifiziert durch „die Schönheit eines Sonnenuntergangs, ein Gemälde, einen mathematischen Beweis, durch die Größe eines Romans, den Edelmut einer selbstlosen Tat oder die Qualität einer athlethischen oder philosophischen Leistung“.⁸ Der Vortrefflichkeit kommt Adams zufolge eine zentrale Bedeutung für unser Verständnis des gesamten Feldes der evaluativ und deontisch verfassten Normativität zu. So lässt sich beispielsweise das individuelle Wohl seinerseits durch den Bezug auf die Vortrefflichkeit analysieren (als „Freude am Vortrefflichen“, enjoyment of the excellent),⁹ und die Tugend besteht nach Adams in einer „Vortrefflichkeit im Für-das-Gute-Sein“, excellence in being for the good.¹⁰ Darüber hinaus versteht Adams nicht nur das Schlechtsein weniger vortrefflicher Objekte als „Abwesenheit von Gutsein, was da sein sollte“, sondern integriert auch das Böse als Verletzung der Gottähnlichkeit des Menschen in seine Theorie.¹¹ Die Pflicht wird von ihm als dasjenige verstanden, was von der personalen Idee des Guten befohlen wird.¹² Und schließlich ist der Begriff des Guten Adams zufolge auch primär gegenüber dem eines Grundes. Damit wendet er sich gegen einen sog. Buck-passing account des Guten, wie er etwa von T. M. Scanlon vertreten wird. Dessen Theorie zufolge ist das Gute nicht eine Eigenschaft, die selbst einen Grund liefert (provides), auf etwas in einer bestimmten Weise zu reagieren. Gut oder wertvoll zu sein bedeutet vielmehr, andere Eigenschaften zu besitzen, die einen solchen Grund darstellen (constitute).¹³ 7 Adams, Finite and Infinite Goods, S. 13. 8 Ebd., S. 83. 9 Ebd., Kap. 3 (S. 83–101). 10 Vgl. Adams, A Theory of Virtue. 11 Adams, Finite and Infinite Goods, S. 103. Vgl. dazu unten Abschnitt 8.2.4. 12 Vgl. unten Abschnitt 8.4. 13 Scanlon, What We Owe to Each Other, S. 97.
8.1 Bedeutung und Reichweite von Adams’ Theorie
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Das Gutsein wird damit zu einer rein formalen Eigenschaft zweiter Stufe, die lediglich anzeigt, dass jemand einen Grund hat, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten. Die eigentlichen Träger der Normativität identifiziert Scanlon – zumindest der Tendenz nach – mit natürlichen Eigenschaften, wenn er schreibt: „Wenn ich einzelne Fälle betrachte, dann scheint es, dass diese Gründe [wertvolle Gegenstände zu wählen, vorzuziehen und zu empfehlen] von den natürlichen Eigenschaften geliefert werden, die einen Gegenstand gut oder wertvoll machen.“¹⁴ Dass ein Gegenstand gut ist, ist demnach identisch mit der höherstufigen Tatsache, dass er über natürliche Eigenschaften verfügt, die für und gegen ein bestimmtes Verhalten sprechen. Da die Tatsache, dass eine natürliche Tatsache für oder gegen etwas spricht, sich selbst weder mit einer natürlichen Tatsache identifizieren¹⁵ noch mittels anderer, noch grundlegenderer normativer Begriffe weiter analysieren lässt, betrachtet Scanlon den Begriff eines Grundes als das fundamentale und zentrale normative Konzept (auch wenn er gewichtige metaphysische Implikationen zu vermeiden trachtet).¹⁶ Eine solche rein formale Konzeption des Gutseins lässt sich mit einem theistischen Platonismus, der von einem substantiellen Guten ausgeht, kaum vereinbaren. In seiner Rezension von Scanlons Werk What We Owe to Each Other kritisiert Adams daher den Primat der Gründe. Zum einen, so Adams, lässt sich fragen, weshalb nur natürliche Tatsachen Gründe darstellen sollten; wenn einmal, wie Scanlon dies tut, zugegeben wird, dass es nicht-natürliche Tatsachen gibt (denn die Tatsache, dass eine bestimmte natürliche Tatsache für eine bestimmte Einstellung spricht, ist ja ihrerseits keine natürliche Tatsache mehr), kann eine besondere ontologische Sparsamkeit nicht mehr als Vorzug der Theorie in Anspruch genommen werden. Warum sollten dann nicht auch nicht-natürliche Tatsachen die Rolle der Träger von Normativität übernehmen können?¹⁷ Diese Frage wird umso drängender, wenn man tatsächliche Begründungspraktiken betrachtet: Die Gründe, die etwa ein Liebhaber von Beethovens späten Streichquartetten dafür anführen kann, diese Musik zu hören, lassen sich nur schwerlich in rein natürlichen Begriffen (sehr wohl dagegen in dichteren evaluativen) formulieren.¹⁸ Drittens scheint es, als könnte das Gutsein eines Gegenstandes durchaus einen Grund über die zugrundeliegenden (natürlichen oder nicht-natürlichen) Tatsachen hinaus abgeben.¹⁹ 14 15 16 17 18 19
Ebd., S. 97. Ebd., S. 57. Vgl. ebd., S. 62–63 Siehe auch Scanlon, Being Realistic About Reasons, Kap. 2. Adams, „Scanlon’s Contractualism“, S. 571. Ebd., S. 571. Ebd., S. 571f.
218 | 8 Robert M. Adams: Gott als das unendlich Gute Vor allem aber beruft sich Adams auf eine tiefsitzende Intuition: „Wenn wir Grund haben, etwas wertzuschätzen, dann gewiss deshalb, weil es wertvoll ist“²⁰ – und nicht umgekehrt, wie es Scanlons Ansatz impliziert. Es ist hier nicht der Ort, der Frage nachzugehen, wie mit derlei fundamentalen Intuitionenkonflikten über die richtige Richtung der Erklärung umzugehen ist. Wenn man aber Adams’ Intuition teilt und den Begriff des Guten für explanatorisch fundamental hält, legt sich ein anderes Bild des Verhältnisses zwischen Gutsein und Gründen nahe. Der Begriff eines Grundes für x lässt sich dann definieren als „eine Erwägung, von der wissentlich zugunsten von x beeinflusst zu werden (ceteris paribus) gut wäre“.²¹ Zwar lehnt Adams letztlich eine begriffliche Reduktion von Gründen auf das Gute ab: Er hält die „begrifflichen Rollen von Gründen und Werten für wechselseitig voneinander abhängig“, so dass keines der beiden Konzepte begriffliche Priorität gegenüber dem jeweils anderen besitzt. Dennoch ist er der Auffassung, dass es „eine Priorität […] des einen Typs von normativen Eigenschaften gegenüber dem anderen gibt“.²² Die Unterscheidung zwischen der „Semantik des ethischen Diskurses“ und dem „metaphysischen Teil der ethischen Theorie“ legt Adams auch seiner Zurückweisung des semantischen Missverständnisses zugrunde. Dieses Missverständnis besteht darin, dass es Adams in seiner Identifizierung der Vortrefflichkeit mit der Gottähnlichkeit um eine Explikation dessen geht, was wir alltäglich mit dem Ausdruck „gut“ (in einer seiner Verwendungen) meinen.²³ Adams greift in Erwiderung darauf Thesen von Saul Kripke und Hilary Putnam auf. Letzterer hatte anhand des Beispiels von Wasser dafür argumentiert, zwischen der Bedeutung eines natural kind term (wie „Wasser“) und dem metaphysischen Wesen oder der Natur der bezeichneten Entität (was Wasser ist) zu unterscheiden.²⁴ Die Bedeutung des Ausdrucks „Wasser“ sei, so Putnam, festgelegt durch die kausalen Beziehungen zwischen konkreten Vorkommnissen von Wasser und den Sprechern einer bestimmten natürlichen Sprache; daher konnte dieser Ausdruck schon vor der Entdeckung des atomaren Aufbaus der Materie korrekt gebraucht werden. Während auf diese Weise die Referenz von Wasser (mit unscharfen Grenzen) fixiert ist, bleibt die Frage nach dem Wesen des Wassers – also danach, welche Strukturen für die beobachtbaren Eigenschaften von Wasser verantwortlich sind – offen. Erst mit der naturwissenschaftlichen Entdeckung, dass Wasser H2 O ist, ist diese Frage beantwortet: Wasser ist notwendig H2 O; alles, was H2 O ist, ist Wasser, und alles, was 20 Adams, „Scanlon’s Contractualism“, S. 572. 21 Ebd., S. 570. 22 Ebd., S. 570. Vgl. Adams, Finite and Infinite Goods, S. 26. 23 Ebd., S. 16. 24 Vgl. Putnam, Mind, Language, and Reality, Bd. 2, S. 196–290.
8.1 Bedeutung und Reichweite von Adams’ Theorie
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Wasser ist, ist H2 O. Daher ist die Eigenschaft, Wasser zu sein, mit der Eigenschaft, H2 O zu sein, identisch, obwohl „Wasser“ nicht „H2 O“ bedeutet. Diese Unterscheidung verallgemeinert Adams nun auf das Verhältnis zwischen Metaphysik und Semantik insgesamt, um sie dann auf den Bereich der Metaethik anzuwenden. Wo der kompetente Sprecher nicht eo ipso um die Natur des Bezeichneten weiß, legen Bedeutung und Gebrauch eine Rolle fest, die vom metaphysischen Wesen „gespielt“ wird.²⁵ Mit einer „Rolle“ ist dabei so etwas wie eine Funktion gemeint, die durch die Gesamtheit der analytisch wahren Aussagen über einen Gegenstand fixiert wird und prinzipiell von verschiedenen Entitäten erfüllt werden könnte, etwa so wie eine politische Funktion von unterschiedlichen Personen wahrgenommen werden kann. Bei Ausdrücken, die natürliche Arten bezeichnen, besteht diese Rolle nun Adams zufolge im „kausalen Erklären“ (accounting causally) bestimmter beobachtbarer Eigenschaften:²⁶ Die Semantik des Ausdrucks „Wasser“ bestimmt Wasser als dasjenige (was auch immer es sein mag), das bei 0°C gefriert, einen Siedepunkt von 100°C hat, das seine geringste Ausdehnung bei 4°C hat, sich als Flüssigkeit in Teichen und anderen Gewässern findet, bei Regen vom Himmel fällt usw. H2 O erfüllt diese Rolle als metaphysisches Wesen von Wasser, weil der atomare Aufbau und die Molekülstruktur erklären, warum sich Wasser in der beschriebenen Weise verhält: Weil auf der atomaren Ebene bestimmte Prozesse (etwa das Eingehen und die Auflösung von Bindungen) ablaufen, steht Wasser in den beschriebenen Beziehungen zu seiner Umwelt. Auch im Falle von normativen Ausdrücken wie „vortrefflich“ oder „Pflicht“ besteht jedoch die Möglichkeit, dass kompetenter Sprachgebrauch und Wissen um die metaphysische Natur auseinanderfallen, wie Adams im Rückgriff auf Platon (Rep. 505d–e) plausibel zu machen versucht.²⁷ Die funktionale Rolle, die die Kandidaten für das metaphysische Wesen bei solchen Ausdrücken zu erfüllen haben, besteht hier allerdings nicht in einer kausalen Erklärung bestimmter Phänomene, sondern in einer Erklärung ihrer normativen Struktur.²⁸ Das bedeutet, dass das metaphysische Wesen erhellen soll, weshalb die normativen Ausdrücke in unserer Praxis die Funktion für die Rechtfertigung unserer Einstellungen haben können, die sie de facto einnehmen. Beispielsweise wäre ein möglicher Kandidat für das metaphysische Wesen von Gründen ein Paar aus einem Wunsch und einer instrumentellen Überzeugung (das desire/belief pair der humeanischen Normativitätstheorie). 25 Adams, Finite and Infinite Goods, S. 16. 26 Ebd., S. 16. 27 Ebd., S. 16. 28 Vgl. Finite and Infinite Goods, S. 27, und Railton, „Naturalism and Prescriptivity“, S. 165 und 168.
220 | 8 Robert M. Adams: Gott als das unendlich Gute Dies erlaubt es Adams, freimütig einzuräumen, dass theistisch-platonische Theorien des Guten „als Theorien darüber, was normalerweise mit ‚gut‘ gemeint ist, einfach nicht besonders plausibel sind“.²⁹ Man kann also ein vollständig kompetenter Benutzer des Ausdrucks „vortrefflich“ sein, ohne mit der Bezeichnung von etwas als vortrefflich auch etwas über seine Ähnlichkeit mit Gott aussagen zu wollen. Gleichzeitig mit dem semantischen Missverständnis ist damit auch das epistemologische ausgeräumt. Denn ein kompetenter Sprachgebrauch besteht wesentlich darin, zumindest eindeutige Exemplare einer bestimmten Art korrekt identifizieren zu können. Dieser kompetente Sprachgebrauch ist jedoch nicht auf das Wissen um das metaphysische Wesen dieser Art angewiesen. Ebenso können wir auch zumindest in klaren Fällen ein Urteil darüber fällen, ob etwas gut im Sinne der Vortrefflichkeit ist, ohne dies aus einem vorgängigen Wissen über das Wesen Gottes abzuleiten.³⁰ Vielmehr erlernen wir die Fähigkeit, korrekte Werturteile zu fällen, durch die Teilnahme an entsprechenden sozialen Praktiken im Zuge der Enkulturation, die gleichermaßen eine Einübung einer bestimmten Sprachpraxis wie eine Vermittlung bestimmter Überzeugungen darstellt.³¹ Dies schließt jedoch nicht aus, dass Überzeugungen über das Wesen des Guten „die Grundlage für eine Kritik und Revision von evaluativen Überzeugungen niedrigerer Stufe“ bilden können.³² So kann eine Identifizierung des Guten mit Gott als einem liebenden Subjekt durchaus bestimmte moralische Urteile der eigenen religiösen Tradition, etwa in Bezug auf die Homosexualität, in Zweifel ziehen. Gleichwohl dürfte auch mit diesen Präzisierungen bei vielen Philosophen ein Unbehagen bestehen bleiben angesichts der These, dass das metaphysische Wesen des Guten im Sinne der Vortrefflichkeit in einer Ähnlichkeit mit Gott bestehen soll. Obwohl Gott in jüngerer Vergangenheit wieder verstärkt zum Thema philosophischer Überlegungen geworden ist,³³ ist es, wie Adams selbst vermerkt,³⁴ unüblich geworden, über religionsphilosophische Fragen hinaus substantiellen Gebrauch von theistischen Hypothesen zu machen. Dies lässt die Frage aufkommen, ob nicht ein metanormativer „Rahmen“, der wie derjenige Adams’ die Figur Gottes ins Zentrum rückt, eher der Theologie als der Philosophie zuzuordnen wäre. Wie Jeffrey Stout richtig gesehen hat, wäre es jedoch ein Missverständnis, wollte man in Adams’ Ausführungen lediglich eine „Übung in expressiver Rationalität“ 29 Adams, Finite and Infinite Goods, S. 15. 30 Vgl. ebd., S. 355. 31 Ebd., S. 360. 32 Ebd., S. 356. 33 Vgl. exemplarisch für den deutschsprachigen Raum: Volker Gerhardt, Der Sinn des Sinns, und Holm Tetens, Gott denken. 34 Adams, Finite and Infinite Goods, S. 5.
8.1 Bedeutung und Reichweite von Adams’ Theorie
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sehen:³⁵ einen Versuch, die Implikationen des Theismus für den Bereich der Metaethik auszubuchstabieren.³⁶ Adams nimmt jedoch auch nicht in Anspruch, von der Gotteshypothese Gebrauch machen zu dürfen, weil er über einen unabhängigen Beweis für ihre Wahrheit verfügt.³⁷ Vielmehr stellt sein Werk selbst einen Teil eines Arguments für die Existenz Gottes dar: „Indem das Buch die Vorteile einer theistischen Theorie des Wesens der Ethik aufzeigt, liefert es tatsächlich Gründe, den Theismus zu akzeptieren.“³⁸ Adams argumentiert also weniger „von Gott her“ als vielmehr „auf Gott hin“; weil eine bestimmte Hypothese (hier die Identität von Vortrefflichkeit und Gottähnlichkeit) die normativen Phänomene überzeugend erklärt, haben wir Grund, deren Implikationen – nämlich die Existenz Gottes – zu akzeptieren. Der Charakter seines Unternehmens dürfte daher am besten erfasst sein, wenn man es gemäß Kapitel 2 als Schluss auf die beste Erklärung auffasst. Da es als solches keinen Gebrauch von arbiträr oder dogmatisch festgesetzten Annahmen über Existenz oder Wesen Gottes macht, sondern von allgemein zugänglichen Beobachtungen und Überlegungen ausgeht, dürfte seine Behandlung im Rahmen dieser Untersuchung damit als gerechtfertigt gelten. Als Schluss auf die beste Erklärung ist Adams’ theistischer Platonismus gemäß der hier zugrundegelegten Methodologie an den in Abschnitt 2.3.3 dargestellten Kriterien zu messen, die Adams grosso modo auch selbst anzuerkennen scheint. Das bedeutet insbesondere, dass ihr Erfolg neben der Konsilienz und der Passung zu unseren (normativen und nicht-normativen) Hintergrundüberzeugungen vor allem auch von ihrer Vereinheitlichungskraft in Bezug auf die Gesamtheit unserer normativen Praktiken abhängt. In dieser Hinsicht verspricht der theistische Platonismus Adams’ in der Tat einen Fortschritt gegenüber den oben behandelten nicht-theistischen Varianten, insbesondere was die Deutung des Phänomens des Bösen betrifft, vor allem aber auch den Zusammenhang zwischen dem Guten und der Pflicht. Voraussetzung dafür ist freilich, dass es gelingt, die theistische Konzeption des Guten befriedigend zu explizieren.
35 36 37 38
Jeffrey Stout, „Adams on the Nature of Obligation“, S. 387. Adams, Finite and Infinite Goods, S. 5. Ebd., S. 5. Ebd., S. 7.
222 | 8 Robert M. Adams: Gott als das unendlich Gute
8.2 Die Theorie des Guten: Vortrefflichkeit als Gottähnlichkeit 8.2.1 Die Phänomenologie der Vortrefflichkeit Wodurch wird nun die funktionale Rolle der Vortrefflichkeit festgelegt, die der Gottähnlichkeit als metaphysische Struktur zukommt? Adams hält zunächst fest, dass bestimmte Merkmale unseres Gebrauchs des Ausdrucks „gut“ (im Sinne von „vortrefflich“) eine Eigenschaft suggerieren, die den Objekten unserer Beurteilung objektiv, unabhängig von unseren Überzeugungen, zukommt oder nicht.³⁹ Zu diesen Merkmalen zählen die prädikative Struktur von Werturteilen, die Möglichkeit ihrer Verwendung in logisch gültigen Argumenten und die Annahme, dass wir uns in unseren Urteilen täuschen können. Sie können die Wahrheit des Realismus zwar nicht beweisen, stellen aber in ihrer Gesamtheit ein starkes Argument zu seinen Gunsten dar.⁴⁰ Dies legt nahe, dass ein aussichtsreicher metaphysischer Kandidat für die Rolle der Vortrefflichkeit ebenfalls eine realistisch verstandene Eigenschaft sein sollte.⁴¹ Für die nähere Beschreibung der Vortrefflichkeit greift Adams auf den platonischen Ansatz zurück, das Gute durch die charakteristische Antwort zu bestimmen, mit der wir auf es reagieren: die Liebe im Sinne des Eros (ἔρως). Dieser Ansatz wird in der Politeia in die Formel gekleidet, dass das Gute das sei, was jede Seele erstrebt und um dessen willen sie alles tue.⁴² Im Unterschied zu Platon drückt sich Eros für Adams jedoch nicht lediglich im Erstreben des geliebten Gegenstandes aus, sondern ebenso, sogar in erster Linie, in der Bewunderung für die wahrgenommene Schönheit oder andere Form der Vortrefflichkeit, die dann erst in zweiter Linie das Erstreben motiviert.⁴³ Ein wesentlicher Teil der Rolle des Guten besteht daher darin, dass es Gegenstand von Eros in Form von Bewunderung und Begehren ist.⁴⁴ Dem naheliegenden Einwand, dass wir häufig auch Dinge lieben, die nicht vortrefflich sind, begegnet Adams mit einer Präzisierung seiner These. Das Gute kann nicht einfach mit dem Objekt unseres tatsächlichen Bewunderns und Erstrebens identifiziert werden, denn dann scheint es keine Möglichkeit für irriges Streben mehr zu geben. Obwohl der Spielraum der Irrtumsmöglichkeiten andererseits auch nicht unbegrenzt sein kann, da wir andernfalls unseren Zugriff auf
39 Adams, Finite and Infinite Goods, S. 18. 40 Ebd., S. 18. 41 Ebd., S. 18. 42 Rep. 505d–e. 43 Ebd., S. 19. 44 Ebd., S. 19.
8.2 Die Theorie des Guten: Vortrefflichkeit als Gottähnlichkeit | 223
den Begriff des Guten verlieren würden,⁴⁵ liegt es nahe, die Behauptung, das Gute sei der Gegenstand unserer Liebe, als normativ aufzufassen; es ist mithin das, was Gegenstand unserer Liebe sein sollte. Da Adams dem Evaluativen Priorität gegenüber der Rede von Gründen einräumt, reformuliert er die These über den Zusammenhang des Guten mit der Liebe wie folgt: „In dem Maße, in dem etwas gut (im Sinne von vortrefflich) ist, ist es gut für uns, es zu lieben, zu bewundern und mit ihm in Beziehung stehen zu wollen, ob wir dies nun tatsächlich tun oder nicht“.⁴⁶ Obwohl Adams diese Behauptung für korrekt hält, weist er auf ein Problem hin, das man als Zirkularitätseinwand bezeichnen kann. Die Zirkularität besteht nicht darin, dass der Wertbegriff „gut“ auf beiden Seiten der Bestimmung auftritt, da es sich von vornherein nicht um eine Definition des Guten handelte, sondern lediglich um eine Herausarbeitung semantischer Implikate. Vielmehr sieht Adams eine Gefahr für die Verankerung des Gutseins in der Realität darin, dass nun auf beiden Seiten seiner Bestimmung Werturteile auftreten.⁴⁷ Diese Schwierigkeit will er vermeiden, indem er doch wieder auf das tatsächliche Streben des Menschen zurückgreift, ohne jedoch das Gute mit dem Gegenstand tatsächlicher einzelner Akte des Strebens zu identifizieren. Das menschliche Streben nach der Vortrefflichkeit weise nämlich insgesamt, so Adams, „in eine gewisse Richtung“ und bestimme so die Bedeutung von „gut“, wobei es weder notwendig sei, dass jeder einzelne Strebeakt auf ein tatsächliches Gut abziele, noch dass wir um das eigentliche Ziel dieses Strebens wissen.⁴⁸ Genauer gesagt, lege der Charakter unseres tatsächlichen Strebens nach Vortrefflichkeit einschließlich dessen, was wir für vortrefflich halten, fest, welche Art von Gegenständen das Streben befriedigen würde.⁴⁹ Gibt es nun eine Eigenschaft oder ein Wesen, durch das dieses Streben eindeutig am besten erfüllt würde (etwa indem sein Besitz das Streben nach anderen Gütern überflüssig macht), dann handelt es sich dabei um das eigentlich Gute.⁵⁰ Das ist Adams’ Version der platonischen Behauptung, dass das wahrhaft Gute der Gegenstand des tatsächlichen menschlichen Strebens sei. Er vertritt die These, dass das Wesen Gottes „der beste Kandidat für die Erfüllung dieser aktualen, gegenwärtigen Suche (quest) ist“.⁵¹
45 Ebd., S. 20. 46 Ebd., S. 20. 47 Ebd., S. 22. 48 Ebd., S. 22. 49 Ebd., S. 22. 50 Ebd., S. 22. 51 Ebd., S. 28.
224 | 8 Robert M. Adams: Gott als das unendlich Gute 8.2.2 Gott als transzendente Idee des Guten Weshalb aber sollte Gott ein besserer Kandidat für diese Rolle sein als eine oder mehrere natürliche Eigenschaften, wie es eine naturalistische Konzeption vorsieht? Adams diskutiert solche Positionen am Beispiel von Richard Boyds Theorie des Guten als eines „homöostatischen Eigenschaften-Bündels“ (homeostatic property cluster).⁵² Ein homöostatisches Eigenschaften-Bündel ist eine bestimmte Ansammlung von natürlichen Eigenschaften, die regelmäßig miteinander einhergehen, und zwar deshalb, weil kausale Mechanismen dafür sorgen, dass bei Anwesenheit einiger dieser Eigenschaften auch die anderen hervorgebracht werden.⁵³ Adams’ Haupteinwand gegen die Identifizierung des Gutseins mit einem solchen Bündel natürlicher Eigenschaften besteht darin, dass sie nicht in der Lage sei, ein „wesentliches Merkmal des ethischen Denkens“ abzubilden, das er als „kritische Haltung“ (critical stance) bezeichnet.⁵⁴ Diese kritische Haltung beschreibt er wie folgt: Für jede beliebige natürliche, empirisch identifizierbare Eigenschaft und jeden Handlungstyp, die wir oder andere als gut oder schlecht, richtig oder falsch betrachten können, sind wir verpflichtet (committed), immer die prinzipielle Möglichkeit offenzulassen, evaluative oder normative Fragen aufzuwerfen, indem wir fragen, ob diese Eigenschaft oder dieser Handlungstyp wirklich gut oder schlecht sind, oder eine evaluative oder normative Herausforderung vorzubringen, indem wir bestreiten, dass sie wirklich gut oder schlecht sind.⁵⁵
Warum kann es einer nicht semantisch reduktionistischen, aber metaphysisch naturalistischen Position wie derjenigen Boyds nicht gelingen, dieser Forderung Rechnung zu tragen? G. E. Moores Argument der offenen Frage, auf das Adams sich hier bezieht, richtete sich ja gegen semantische Reduktionsversuche und wird in dieser Form von Adams selbst abgelehnt.⁵⁶ Entscheidend für Adams’ Verständnis der „Wahrheit hinter“ dem mooreschen Argument ist jedoch die normative Forderung, dass die moralische Sprache jederzeit und unter allen Umständen kritisch gebraucht werden können muss, und das damit verbundene metaethische Prinzip, dass eine Bestimmung des metaphysischen Wesens des Guten diesen kritischen Gebrauch ermöglichen muss.⁵⁷ Wenn wir uns nun eine Situation vorstellen, in der, wie Boyd es als prinzipiell möglich und sogar wünschenswert zu betrachten scheint, eine empirische Moralwissenschaft zu einem endgültigen Ergebnis
52 53 54 55 56 57
Boyd, „How to Be a Moral Realist“, S. 196–199 und 217f. Vgl. Adams, Finite and Infinite Goods, S. 59. Ebd., S. 77. Ebd., S. 78. Ebd., S. 78. Ebd., S. 78.
8.2 Die Theorie des Guten: Vortrefflichkeit als Gottähnlichkeit | 225
hinsichtlich des homöostatischen Eigenschaften-Bündels gekommen ist, in dem das Gute besteht, ist Adams zufolge schwer zu sehen, wie Boyd noch einen Streit mit einem Gegner rekonstruieren soll, der bestreitet, dass einzelne Eigenschaften des Bündels gut sind.⁵⁸ Denn qua Voraussetzung sind sich die Kontrahenten über die natürlichen Eigenschaften der Handlungen einig; zu behaupten, der Gegner missbrauche oder missverstehe den Ausdruck „moralisch gut“, würde die kritische Haltung aufgeben; und einzuräumen, dass einzelne fundamentale Debatten unlösbar sind, käme einer Aufgabe des naturalistischen Realismus gleich. Dieser Einwand, so Adams, lässt sich gegen praktische jede Identifikation von ethischen mit natürlichen Eigenschaften richten.⁵⁹ Auch die mögliche Entgegnung, dass gerade aus Sicht eines naturalistischen Realismus jede Bestimmung des homöostatischen Eigenschaften-Bündels aufgrund ihres empirischen Charakters immer nur vorläufig sein kann, greift zu kurz. Denn der Kritiker bestreitet ja gerade nicht, dass bestimmte natürliche Eigenschaften zu diesem Bündel gehören, sondern dass sie trotz der Zugehörigkeit zu diesem Bündel auf das Gute verweisen. Aus diesem Grund favorisiert Adams die Alternative, die in einer Identifikation des Guten mit einer transzendenten Eigenschaft besteht.⁶⁰ Mit Transzendenz ist hier zunächst gemeint, dass das menschliche Wissen davon notwendigerweise „unvollkommen und fragmentarisch“⁶¹ bleibt: Die transzendente Idee des Guten ist „ein objektiver Maßstab, der tatsächlich erblickt wird, aber niemals vollständig oder fehlerfrei“;⁶² typische Erfahrungen des Vortrefflichen können „als fragmentarische Erfassungen […] eines transzendent wunderbaren (transcendently wonderful) Gegenstandes betrachtet werden“.⁶³ Dieses Merkmal erlaubt es, „alle wirklichen, substantiellen evaluativen Fragen offenzulassen“⁶⁴ und so der Forderung der kritischen Haltung gerecht zu werden. Adams’ Transzendenzbegriff ist aber nicht auf seine epistemologische Dimension beschränkt. Denn dass sich das transzendente Gute stets nur unvollständig erkennen lässt, liegt daran, dass Gott als das transzendente Gute selbst „viel wertvoller als andere Gegenstände ist, etwas, was zu gut ist, als dass wir es mehr als dunkel und unvollkommen erfassen können“.⁶⁵ Die epistemische Transzendenz wurzelt demnach in einer ontologischen Transzendenz.
58 Ebd., S. 80. 59 Ebd., S. 81. 60 Ebd., S. 81. 61 Ebd., S. 81. 62 Ebd., S. 82. 63 Ebd., S. 51. 64 Ebd., S. 81. 65 Ebd., S. 51.
226 | 8 Robert M. Adams: Gott als das unendlich Gute In welcher Weise ist Gott „zu gut“, um ihn klar erkennen zu können? Ein Aspekt der ontologischen Transzendenz besteht darin, dass Gott in bestimmten Dimensionen gut ist, die uns entweder vorübergehend (aufgrund der „Scheuklappen“ bestimmter kultureller Umstände) oder dauerhaft (aufgrund von Unzulänglichkeiten der menschlichen Natur) verschlossen bleiben. Dies dürfte gemeint sein, wenn Adams schreibt, das Gute habe „Eigenschaften, die über alles hinausgehen, was wir uns in irgendeiner Weise vorstellen oder begründeterweise glauben können“.⁶⁶ Demnach könnte es Dimensionen des Guten geben, die uns so verschlossen sind wie einem Tier die Schönheiten der Mathematik. Das Gute ist „nicht nur eine Erweiterung und Verfeinerung bekannter Werte“.⁶⁷ Andererseits geht das Gute auch in denjenigen Dimensionen, in denen wir es (wenn auch nur fragmentarisch) erfassen können, in seinem Gutsein über das hinaus, was wir von den endlichen Dingen prädizieren können. Wie kann man dieses Verhältnis näher fassen? Adams greift hier auf die scholastische Tradition zurück, wenn er schreibt: „Wenn die Geschöpfe gut sind, insofern sie Abbilder Gottes sind, könnten wir mit Thomas von Aquin sagen, dass ‚gut‘ analog von Gott und den Geschöpfen ausgesagt wird.“⁶⁸ Allerdings führt er nicht aus, was man unter der analogen Prädikation zu verstehen hat. Die folgenden Erläuterungen orientieren sich daher direkt an Ausführungen des Thomas von Aquin.⁶⁹ Die Analogie ist in ihrem traditionellen Verständnis zunächst, wie aus Thomas’ Ausführungen in der Summa theologiae hervorgeht,⁷⁰ ein theoretischer Reflex der Beobachtung, dass bisweilen ein und derselbe Ausdruck in unterschiedlichen Bedeutungen gebraucht wird, ohne dass es sich um eine bloße Homonymie handelt. Das klassische, schon von Aristoteles gebrauchte⁷¹ und auch von Thomas übernommene Beispiel hierfür ist der Ausdruck „gesund“. Sowohl einen Menschen als auch eine Medizin können wir als „gesund“ bezeichnen; beide Bedeutungen, wiewohl verschieden, stehen in einem systematischen Zusammenhang, denn die Bezeichnung einer Medizin als gesund bedeutet nichts anderes, als dass sie zur Gesundheit eines Lebewesens beiträgt. Das Verhältnis zwischen den beiden Bedeutungen ist daher insofern semantisch asymmetrisch, als das richtige Verständnis der einen einseitig abhängig ist von dem der anderen. Wie dieses Beispiel zeigt, handelt es sich bei der Analogie zunächst lediglich um ein nützliches Instrument zur differenzierteren Analyse semantischer Bezie66 Adams, Finite and Infinite Goods, S. 50. 67 Ebd., S. 51. 68 Ebd., S. 30. 69 Vgl. dazu auch die Überlegungen in Kap. 4.3.2. 70 Thomas von Aquin, Summa Theologiae, I, q. 13, art. 5–6. 71 Aristoteles, Met. IV 2, 1003a34–b1.
8.2 Die Theorie des Guten: Vortrefflichkeit als Gottähnlichkeit | 227
hungen. Versucht man jedoch, auch das Verhältnis zwischen der Bezeichnung Gottes und der endlicher Gegenstände als „gut“ nach diesem Muster zu verstehen, sieht man sich vor mindestens zwei Probleme gestellt. Erstens kann dem Begriff in seiner Anwendung auf Gott zumindest kein semantischer Primat wie der Bezeichnung des Menschen als gesund gegenüber der gesunden Medizin zukommen, denn die Pointe von Adams’ Unterscheidung zwischen der semantischen Rolle von „gut“ und dem metaphysischen Wesen des Gutseins bestand ja, wie wir gesehen haben, gerade darin, dass der kompetente Gebrauch des sprachlichen Ausdrucks vollkommen abgekoppelt ist vom metaphysischen Wesen des Gutseins.⁷² Wer das Verhältnis zwischen dem Gutsein Gottes und dem endlicher Gegenstände nach dem Muster der Analogie verstehen will, muss daher die Analogie dahingehend erweitern, dass der semantische Primat nicht unbedingt auch mit einem metaphysischen einhergehen muss. Das zweite Problem besteht in der Frage, welche Beziehung zwischen den beiden Eigenschaften besteht, die die Deutung des semantischen Verhältnisses als Analogie plausibel macht. Im klassischen Beispiel ist das klar: Die Medizin führt die Gesundheit kausal herbei. Für das Verhältnis zwischen der Vortrefflichkeit Gottes und dem sekundären Gutsein scheint dies aber nicht zu genügen. Denn wenn Gottes Gutsein lediglich darin besteht, Ursache für das sekundäre Gutsein konkreter Entitäten zu sein, würde die Antwort auf die Frage, was ihm diese Wirkung ermöglicht, doch wieder auf seine innere, wesenhaft gute Natur verweisen müssen; daher hält schon Thomas fest, Gott werde „nicht nur auf Grund seiner Ursächlichkeit“ als gut bezeichnet, sondern „zur Bezeichnung seines Wesens“.⁷³ Adams antwortet auf die Frage nach der Beziehung zwischen dem endlichen Gutsein und demjenigen Gottes, dass endliche Dinge als „gut“ bezeichnet werden, insofern sie dem Guten – Gott – ähnlich sind. Wie hat man diese Ähnlichkeit zu verstehen?
8.2.3 Die Beziehung der Ähnlichkeit Das Gutsein (im Sinne der Vortrefflichkeit) ist dieser Auffassung nach metaphysisch identisch mit einer Art von Ähnlichkeit zu einem transzendenten Guten, das selbst nur analog (wenn auch mit ontologischem Primat) als vortrefflich bezeichnet werden kann. Es ist wichtig festzuhalten, dass diese Theorie zumindest einem Vorwurf nicht anheimfällt, der theistischen Theorien häufig gemacht wird: Sie macht das Gute nicht abhängig von einem als unbeschränkt gedachten Willen 72 Vgl. oben, S. 219. 73 Thomas von Aquin, Summa Theologiae, I, q. 13, art. 6, corp. art.
228 | 8 Robert M. Adams: Gott als das unendlich Gute Gottes. Die Folgerungen einer in diesem Sinne voluntaristischen Theorie können leicht als willkürlich erscheinen. Adams dagegen nimmt an, dass das Wesen Gottes in seiner Vortrefflichkeit besteht und dieses Wesen so wenig der Veränderlichkeit durch seinen Willen unterliegt, wie ein Mensch durch einen bloßen Willensakt aufhören kann, ein Mensch zu sein. Obwohl der Wille Gottes, wie er sich in seinen Befehlen ausdrückt, durchaus eine zentrale Rolle in Adams’ Theorie der moralischen Pflicht spielt,⁷⁴ ist der Bereich des Guten daher unabhängig von (Gottes) subjektiven Einstellungen. Die Art von Ähnlichkeit zu Gott, in der die Vortrefflichkeit endlicher Dinge bestehen soll, unterscheidet sich von der „gewöhnlichen“ Ähnlichkeit zwischen endlichen Dingen durch ihre Asymmetrie. Daher hält Adams die platonische Bezeichnung der Nachahmung (μίμησις, imitation) für eine glücklichere Metapher, bringt sie doch zum Ausdruck, dass in dieser Beziehung eines der beiden Relata „eine gewisse Priorität“ besitzt und „das Original, den Maßstab“ abgibt.⁷⁵ Gleichzeitig muss die Ähnlichkeit aber in „Merkmalen der Wirklichkeit“ (features of reality) verankert sein, denn Ähnlichkeit besteht immer in einer bestimmten Hinsicht und qua (by virtue of ) anderen Eigenschaften.⁷⁶ Dennoch scheint es prima facie weiterhin wenig plausibel, dass die Eigenschaft des Gutseins in der Gottähnlichkeit besteht. Einerseits lässt sich bezweifeln, dass die Gottähnlichkeit notwendig für Vortrefflichkeit ist. So scheint zunächst eine Reihe von Dingen, die wir als gut (im Sinne von vortrefflich) bezeichnen können, nur schwerlich Gott ähneln zu können: etwa ein guter Koch oder ein gutes Abendessen. Die These der Identität von Vortrefflichkeit und Gottähnlichkeit bedeutet jedoch nicht, dass Gott selbst ein Koch sein müsste. Vielmehr genüge es, so Adams, dass der vortreffliche Koch eine Eigenschaft aufweise, die einem bestimmten Aspekt Gottes ähnlich ist. Im genannten Falle könne sich im Kochen beispielsweise „eine Ähnlichkeit zur göttlichen Kreativität manifestieren“.⁷⁷ Dies können wir als „Abstrahierungsstrategie“ bezeichnen. Zweitens lässt sich auch bestreiten, dass die Ähnlichkeit mit einem transzendenten Gott hinreichend für die Vortrefflichkeit ist. So mag sich ein Tyrann wie Caligula selbst für einen Gott halten; aber der Umstand, dass es dann zumindest eine Eigenschaft gibt, die Caligula mit Gott teilt, macht ihn nicht einmal in dieser Hinsicht vortrefflicher (sondern, wenn etwas, noch verwerflicher). Gegen derartige Beispiele lässt sich zwar zunächst einwenden, dass nicht jedes Teilen einer Eigenschaft schon eine Ähnlichkeit begründet; ob dies der Fall ist, hängt wesentlich 74 75 76 77
Vgl. unten Abschnitt 8.4.3. Adams, Finite and Infinite Goods, S. 28f. Ebd., S. 29. Ebd., S. 30.
8.2 Die Theorie des Guten: Vortrefflichkeit als Gottähnlichkeit | 229
davon ab, welche Rolle diese Eigenschaft in ihrem jeweiligen Kontext spielt. So kann etwa dieselbe Ausdrucksweise aus dem Mund eines erfahrenen Politikers altersweise, aus dem Mund eines Jugendlichen dagegen altklug klingen – obwohl sie eine Eigenschaft teilen, würden wir dennoch nicht sagen, dass der Politiker und der Jugendliche einander in dieser Hinsicht ähnlich sind. Die Ähnlichkeit ist mithin wesentlich eine holistische Beziehung.⁷⁸ Wenn dies richtig ist, könnte man sagen, dass Caligula und Gott eine Eigenschaft teilen, Caligula aber aufgrund des Kontextes, in dem diese Eigenschaft bei ihm steht, Gott dadurch dennoch nicht ähnlich wird. Doch zeigt das Beispiel der Parodie oder Karikatur, dass eine Darstellung ihrem Original auch holistisch ähnlich sein kann, ohne dessen Vortrefflichkeiten zu teilen.⁷⁹ Entsprechend könnte z. B. auch die Macht eines Tyrannen derjenigen Gottes ähneln, ohne ihn dadurch vortrefflicher zu machen. Die Bestimmung der Vortrefflichkeit als Gottähnlichkeit bedarf daher der Ergänzung. Diese gibt Adams, indem er die Vortrefflichkeit als getreues Abbilden Gottes (faithfulness in their imaging of God) fasst.⁸⁰ Eine getreue Abbildung unterscheide sich von einer Karikatur wesentlich dadurch, dass sie „Eigenschaften in einer ausgewogenen Weise und im richtigen Verhältnis zu den anderen Eigenschaften des Originals, auf die sie sich vorwiegend beziehen“, abbilde.⁸¹ Urteile darüber, ob das der Fall ist, stehen in einer engen Beziehung zu Urteilen hinsichtlich der Frage, wie wichtig bestimmte Eigenschaften an einer Sache für diese Sache sind.⁸² Wie lässt sich aber bestimmen, was wirklich wichtig an etwas ist? Zur Beantwortung dieser Frage greift Adams auf Gottes Einstellung gegenüber den Dingen zurück, indem er Gottes Sicht als den „definitiven Maßstab der Wichtigkeit“ bezeichnet.⁸³ Dabei ist jedoch wiederum das voluntaristische Missverständnis zu vermeiden, dass die Wichtigkeit in Gottes Einstellung zu etwas bestehe; die Vortrefflichkeit von etwas gibt Gott einen Grund, es wertzuschätzen, nicht umgekehrt.⁸⁴ Adams kommt daher schließlich zu der Formulierung, die Vortrefflichkeit eines endlichen Gegenstandes bestehe darin, „Gott in einer Weise ähnlich zu sein, die für Gott als Grund dienen könnte, es zu lieben“.⁸⁵ Demnach stellt sich die Vortrefflichkeit genauer als der Bereich derjenigen Eigenschaften dar, die Dinge Gott ähnlich machen in einer Weise, die Gott Gründe dafür gibt, ihren
78 Ebd., S. 32. 79 Ebd., S. 33. 80 Ebd., S. 33. Hervorhebung im Original. 81 Ebd., S. 33. 82 Ebd., S. 34. 83 Ebd., S. 34. 84 Ebd., S. 35f. 85 Ebd., S. 36.
230 | 8 Robert M. Adams: Gott als das unendlich Gute Träger zu lieben. Dies lässt die Möglichkeiten offen, dass Gott auch andere Gründe haben könnte, etwas zu lieben, und dass er auch ohne Grund (oder in einem Maß, das über die vorliegenden Gründe hinausgeht) Dinge lieben könnte. Wenn das Gutsein endlicher Gegenstände dergestalt als Ähnlichkeit mit einem transzendenten Gutsein konzipiert werden kann, wird auch verständlich, warum die Idee des Guten mit einem personal verstandenen Gott zu identifizieren ist. Denn „die meisten Vortrefflichkeiten, die uns am wichtigsten sind und von deren Wert wir am meisten überzeugt sind, sind Vortrefflichkeiten von Personen oder von Eigenschaften, Handlungen, Werken, Leben oder Geschichten von Personen“.⁸⁶ Damit diese in einer nicht zu abstrakten Weise dem transzendenten Guten ähnlich sein können, muss die Idee des Guten selbst eine Person (oder „in wichtigen Hinsichten (importantly) wie eine Person“) sein.⁸⁷
8.2.4 Das Schlechte und das Böse Das vermutlich bekannteste und offensichtlichste Problem für eine Theorie, die einen transzendent guten Gott in den Mittelpunkt der Ethik rückt, besteht in der Frage nach der Theodizee, also danach, wie sich seine Existenz mit dem Übel in der Welt vereinbaren lässt. Diese Frage behandelt Adams im Rahmen seiner metaethischen Theorie nicht, weil der metaethische Rahmen keine „ausreichend vollständige Theologie“ biete, um die „Gestalt des Problems des Bösen zu definieren“.⁸⁸ Was er jedoch zu leisten versucht, ist eine systematische Theorie des Bösen in seinem Verhältnis zu Gott als dem transzendenten Guten sowie zu anderen Formen des Schlechtseins. Ausgangspunkt dafür ist wie schon bei der Vortrefflichkeit eine Bestimmung der funktionalen Rolle, die von der (zu entdeckenden) zugrundeliegenden metaphysischen Struktur des Bösen erfüllt wird. Adams hält zunächst fest, dass es zwei Haupttypen des Übels gibt. Der erste besteht in dem Mangel an Gutem (privatio boni), und zwar genauer an einem Guten, das da sein sollte. In diesem Sinne kann man ein stumpfes Messer als schlecht bezeichnen, da ihm eine Eigenschaft fehlt, die ihm zukommen müsste, um seine Funktion zu erfüllen. Nicht jedes Übel lässt sich jedoch auf diese Weise negativ charakterisieren; manches stellt sich vielmehr dar als etwas, was sich etwas Gutem in irgendeiner Form widersetzt (opposition to something that is good), etwa indem
86 Adams, Finite and Infinite Goods, S. 42. 87 Ebd., S. 42. 88 Ebd., S. 7.
8.2 Die Theorie des Guten: Vortrefflichkeit als Gottähnlichkeit | 231
Gutes zersetzt oder zerstört wird. In dieser Kategorie verortet Adams auch das Böse.⁸⁹ Die Rolle des Bösen wird laut Adams wesentlich durch das Gefühl des moralischen Grauens (moral horror) bestimmt.⁹⁰ Diese Reaktion wird typischerweise ausgelöst durch Handlungen wie „Vergewaltigung, Mord, Verstümmelung, Folter oder Gehirnwäsche“;⁹¹ aber wiederum ist das Böse nicht einfach mit dem zu identifizieren, was bei einzelnen Individuen faktisch diese Reaktion auslöst, sondern mit dem, was sie verdient. Das Gefühl kann daher fehlgehen, und eine Theorie des Bösen sollte eine Grundlage für die Kritik einzelner Empfindungen moralischen Grauens bieten.⁹² Gleichwohl ist das Gefühl des moralischen Grauens nicht systematisch entbehrlich, stellt es doch einen „essentiellen Bestandteil jeder humanen Reaktion auf bestimmte Handlungstypen“ dar, ohne den das Böse nicht angemessen erfasst werden kann.⁹³ Das moralische Grauen präsentiert sich Adams zufolge nicht nur als Reaktion auf einen großen Schaden, der anderen angetan wurde (dann müsste etwa auch die böswillige Vernichtung einer Dissertation durch die Sabotage eines Computers moralisches Grauen auslösen können),⁹⁴ sondern als Ausdruck der Wahrnehmung einer Verletzung von etwas Heiligem.⁹⁵ Um von einer Verletzung sprechen zu können, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein. Zum einen muss es sich um einen Angriff auf eine Person handeln; und zweitens muss dieser Angriff „ernstlich“ und „direkt“ sein, d. h. das Opfer in seiner körperlichen oder geistigen Integrität treffen (und nicht etwa nur in seinem Besitztum). Diese Bedingungen sind z. B. im Falle von Folter oder Vergewaltigung evidentermaßen erfüllt, nicht jedoch etwa bei einvernehmlichen homosexuellen Akten. Obwohl diese bei manchen Menschen eine ähnliche moralische Abscheu auslösen können wie erstere Handlungen, kann Adams dieses Gefühl anhand seiner zwei Bedingungen somit als unberechtigt zurückweisen.⁹⁶ Den distinkten platonischen Charakter erhält diese Theorie des Bösen jedoch erst durch die Konzeption der Heiligkeit der menschlichen Person, die Adams unter Rückgriff auf die religiöse Tradition als Gottebenbildlichkeit interpretiert. Die Verwendung des Konzepts der Heiligkeit bedeutet dabei für sich genommen noch
89 Ebd., S. 103. 90 Ebd., S. 105. 91 Ebd., S. 104. 92 Ebd., S. 106. 93 Ebd., S. 106. 94 Ebd., S. 107. 95 Ebd., S. 107. 96 Ebd., S. 111.
232 | 8 Robert M. Adams: Gott als das unendlich Gute keine Vermischung religiöser und moralischer Rede, wie Adams unter Verweis auf Ronald Dworkin plausibel macht; der „Sinn für das Heilige“ sei „ein Gegebenes für die theologische Interpretation, nicht ihr Ergebnis“.⁹⁷ Wenn es die Ähnlichkeit mit der transzendenten Idee des Guten ist, die das Heilige ausmacht, warum ist dann nicht alles Vortreffliche ebenfalls zu einem gewissen Grade heilig? Schließlich besteht das Wesen des Vortrefflichen auch in der Kunst, in Naturobjekten oder in wissenschaftlichen Theorien nach Adams’ Auffassung in seiner Ähnlichkeit mit Gott. Dennoch kann die Zerstörung eines Kunstwerks, wie sehr wir sie auch verurteilen mögen, nicht dieselbe Art von moralischem Grauen hervorrufen wie die Vernichtung eines Menschen. Der Grund dafür ist laut Adams darin zu suchen, dass Menschen qua personale (kognitive, affektive, voluntative) Subjekte Gott in einer Weise ähnlich sein können, wie dies für andere Lebewesen und erst recht für nicht-lebendige Objekte niemals möglich ist. Gleichwohl sind menschliche Personen nicht allein durch ihre höheren kognitiven Fähigkeiten, etwa ihre rationale Handlungsfähigkeit, Ebenbilder Gottes, sondern ebenso durch die Vortrefflichkeit ihrer natürlichen Funktionen, angefangen bei den einfachsten vegetativen Lebensäußerungen.⁹⁸ Es ist das „komplexe System von Eigenschaften, die vernünftigerweise als vortrefflich betrachtet werden können“,⁹⁹ das den Menschen von Hund und Primel unterscheidet und ihm seine besondere Heiligkeit verleiht. Dies wirft unmittelbar die Frage auf, ob nicht das unterschiedliche Maß, in dem Menschen über diese Eigenschaften verfügen, auch Unterschiede hinsichtlich ihrer Heiligkeit nach sich ziehen müsste. Adams weist die Idee einer Rangordnung der Gottähnlichkeit unter den Menschen jedoch entschieden zurück. Zwar ließen sich einzelne Individuen hinsichtlich einzelner Fähigkeiten in eine Rangordnung bringen, daraus folge jedoch nicht, dass eine Ordnung in Bezug auf das „Gesamtpaket“ an Eigenschaften möglich sei, das die Gottähnlichkeit des Menschen konstituiere.¹⁰⁰ Ebenso, wie man einerseits sagen könne, dass Schimpansen Menschen ähnlicher seien als Biber, sich aber andererseits schwerlich einzelne Schimpansen als menschenähnlicher als andere auszeichnen ließen, seien Menschen gottähnlicher als Hunde, ohne dass man einzelne Menschen als besonders göttlich betrachten kann. Die Heiligkeit stellt mithin für Adams den Wert dar, der allen Menschen aufgrund ihrer komplexen Gottähnlichkeit in gleichem Maße zukommt und sie
97 Adams, Finite and Infinite Goods, S. 121. 98 Ebd., S. 116. 99 Ebd., S. 117. 100 Ebd., S. 117.
8.3 Kritik an Adams’ Theorie des Guten | 233
gegenüber anderen Spezies auszeichnet, ohne einzelne menschliche Individuen gegenüber anderen zu favorisieren.¹⁰¹ Mit dieser Auffassung vom Bösen als Verletzung der Heiligkeit der menschlichen Person und der Deutung dieser Heiligkeit als die für die Gattung Mensch spezifische Art der Gottähnlichkeit gelingt es Adams, die Abhängigkeit des Bösen vom transzendenten Guten herauszustellen und gleichzeitig eine bloß negative Charakterisierung dieser Form des Übels zu vermeiden. Während der erste Teil seiner These (das Böse als Verletzung der Heiligkeit des Menschen) auch von nicht-platonistischen Prämissen aus zugänglich ist, hängt der zweite (Heiligkeit als Gottähnlichkeit) stark von theistischen Prämissen ab und lässt sich nicht ohne Weiteres für einen nicht-theistischen Platonismus adaptieren. Denn was sollte es heißen, dass die Heiligkeit des Menschen in seiner Ähnlichkeit mit einer Idee des Guten begründet ist, wenn dieses Gute selbst nicht personal charakterisiert wäre? Sofern die dargestellte systematische Theorie des Bösen zu überzeugen vermag, spricht sie demnach auch für die theistische Form des Platonismus.
8.3 Kritik an Adams’ Theorie des Guten Adams’ Theorie ist, wie er selbst sagt, „organisiert um ein transzendentes Gutes“.¹⁰² Von besonderer Bedeutung ist dabei die These, dass das Gutsein endlicher Dinge in ihrer Ähnlichkeit mit dem transzendenten Guten besteht. Zwar kann die Theorie der Pflicht als Befohlensein durch Gott auch unabhängig von der Theorie des Guten vertreten werden, doch würde Adams’ Konzeption einen ihrer Hauptvorzüge – den ihrer vereinheitlichenden Kraft – verlieren, wenn sich die Theorie des Guten als inkohärent oder nicht überzeugend herausstellen würde. Dies könnte auf verschiedene Weisen geschehen, selbst wenn wir annehmen, dass Adams’ Darstellung der durch die Semantik bestimmten Rolle des Guten im Wesentlichen korrekt ist. Zum einen könnte sich das zugrunde gelegte Modell des Verhältnisses zwischen Rolle und Kandidat als nicht tragfähig erweisen. Zweitens ist es möglich, dass ein transzendentes Gutes überhaupt inkohärent ist oder zumindest nicht als Maßstab der endlichen Vortrefflichkeit taugt. Und schließlich bleibt fraglich, ob die Ähnlichkeit mit dem transzendenten Guten tatsächlich ein plausibler Kandidat für das metaphysische Wesen der Vortrefflichkeit ist.
101 Ebd., S. 117. 102 Adams, „Précis of Finite and Infinite Goods“, S. 439.
234 | 8 Robert M. Adams: Gott als das unendlich Gute 8.3.1 Zum Verhältnis von Semantik und Metaphysik Adams unterscheidet, wie oben dargestellt, nach dem Muster der Unterscheidung von Wasser und H2 O zwischen der semantisch indizierten Rolle von Wertbegriffen wie der Vortrefflichkeit und der dafür metaphysisch wesentlichen Eigenschaft.¹⁰³ Die Rolle wird bestimmt durch die Eigenschaften und Beziehungen zu anderen Begriffen, über die ein kompetenter Benutzer des entsprechenden Ausdrucks Auskunft zu geben weiß, also alle Merkmale, die in analytisch wahren Aussagen erfasst sind: etwa dass die angemessene Reaktion auf das Gute die Bewunderung und das Erstreben ist, dass die Pflicht mit der Vorwerfbarkeit und mit dem Zustand der Schuld in besonderen Beziehungen steht, usw. Die metaphysische Eigenschaft, die mit dem Gutsein und dem Gebotensein identisch ist, soll dagegen die semantische Rolle „erfüllen“; das bedeutet, dass sie erklären muss, weshalb die Rolle so ist, wie sie ist. Für das Beispiel von Wasser und H2 O scheint es nun recht plausibel zu sagen, dass die Struktur der Moleküle (im Verbund mit den Naturgesetzen, die deren Verhalten regieren) die Tatsache erklärt, dass Wasser z. B. bei Temperaturen zwischen seinem Gefrier- und Siedepunkt flüssig ist, mit Stoffen wie Natrium in charakteristischer Weise reagiert usw. Wenn es sich beim Erklären aber um ein Verhältnis zwischen Tatsachen handelt,¹⁰⁴ scheinen die erklärende und die erklärte Tatsache gerade nicht identisch sein zu können, denn erstens ist das Erklären eine asymmetrische Beziehung, und zweitens erklärt sich keine Tatsache selbst. Die Tatsache, dass Wasser mit Natrium in einer bestimmten Weise reagiert, kann dann jedoch nicht identisch sein etwa mit der Tatsache, dass H+-Ionen zu elementarem Wasserstoff reduziert werden und gleichzeitig Natrium zu Na+-Ionen oxidiert wird. Wenn dem so ist, stellt sich ein Problem für Adams’ Theorie: Wenn die GottähnlichkeitsTatsachen die Vortrefflichkeits-Tatsachen erklären sollen, kann die Vortrefflichkeit ebenfalls nicht mit der Gottähnlichkeit identisch sein. Aus diesem Dilemma bieten sich prima facie zwei Auswege an. Eine Möglichkeit besteht darin, zu bestreiten, dass das Erklären überhaupt eine Beziehung zwischen Tatsachen ist. Dann könnte man etwa darauf ausweichen, dass das Phänomen des Erklärens pragmatisch oder semantisch zu deuten wäre; auf diese Weise könnte die erklärende Tatsache doch mit der erklärten identisch sein, wenn auch unter anderer Beschreibung. Zum anderen könnte man aber auch die vermeintliche Identität zwischen erklärender und erklärter Tatsache aufgeben und eine andere Beziehung einführen. Für naturwissenschaftliche Erklärungen wird etwa die Auffassung vertreten, es sei plausibler, Wasser nicht als identisch mit H2 O 103 S. o. S. 219. 104 Vgl. oben S. 35.
8.3 Kritik an Adams’ Theorie des Guten | 235
zu betrachten, sondern lediglich als dadurch „materiell konstituiert“.¹⁰⁵ Dieser Ausweg steht Adams aber nicht frei, weil zwischen der Vortrefflichkeit und der Ähnlichkeit mit Gott sicher kein Verhältnis der materiellen Konstitution besteht. Wenn aber auch kein Identitätsverhältnis, was dann?¹⁰⁶ Zudem lässt sich ein allgemeines Argument gegen die Möglichkeit formulieren, dass zwei Ausdrücke, die nicht synonym sind, auf dieselbe Eigenschaft Bezug nehmen können. Es ist klar, dass wir mit verschiedenen Ausdrücken auf dasselbe Einzelding Bezug nehmen können (wie etwa in Freges klassischem Beispiel, in dem sich die Ausdrücke „der Morgenstern“ und „der Abendstern“ auf den Planeten Venus beziehen); und es kann geschehen, dass die Kontexte des Begriffserwerbs und -gebrauchs (oder die „Gegebenheitsweisen“) so verschieden voneinander sind, dass einzelnen Sprechern und sogar ganzen Sprachgemeinschaften der geteilte Bezug verborgen bleiben kann. Aber, so das Argument weiter, es erscheint zumindest zweifelhaft, ob man in derselben Weise wie bei individuellen Gegenständen oder natürlichen Arten auch bei Eigenschaften zwischen der Sache selbst und ihrer Gegebenheitsweise unterscheiden kann. Denn Ausdrücke, mit denen wir uns auf Eigenschaften beziehen, sind nicht bloße Benennungen, sondern haben einen semantischen Gehalt. Wenn der semantische Gehalt zweier Eigenschaftswörter nun so eng beieinanderliegt, dass jeder kompetente Sprecher der jeweiligen Sprache zustimmen würde, dass alles, was A ist, auch B ist, sind sie einfach synonym; unterscheiden sie sich aber so, dass auch zwischen kompetenten Sprachbenutzern Dissens entstehen kann, scheint nicht mehr in Frage zu stehen, ob sich beide Ausdrücke auf dieselbe Eigenschaft beziehen, sondern ob alles, was die eine Eigenschaft hat, notwendigerweise auch die andere aufweist. Es ist schwer zu sehen, wie zwischen diesen Deutungen Raum für genuinen Dissens bezüglich der Identität von Eigenschaften bei gleichzeitiger Anerkennung der semantischen Verschiedenheit der entsprechenden sprachlichen Ausdrücke bleiben soll. Drittens ist fraglich, wie genau man sich die Erklärungsleistung durch die zugrundeliegende Struktur vorzustellen hat. Wiederum ist dies für Wasser und H2 O einsichtig: Auf der Makroebene bestehen verschiedene kausale Beziehungen, die durch kausale Beziehungen auf der Mikroebene erklärt werden. Wie aber kann die angenommene normative Rolle erklärt werden durch das postulierte metaphysische Wesen? Bestenfalls scheint man einfach nur weitere Gründe für ein 105 Vgl. Johnston, „Constitution is Not Identity“ und Johnston, „Manifest Kinds“. 106 Die Antwort auf diese Frage könnte in einem Verhältnis des nicht-materiellen Konstituiertseins (oder einer grounding-Beziehung) zu suchen sein. Das würde jedoch nicht nur eine Umformulierung der adamsschen These und eine konsistente Theorie der nicht-materiellen Konstitution verlangen, sondern auch in Zweifel ziehen, ob die Analogie mit der naturwissenschaftlichen Theoriebildung haltbar ist.
236 | 8 Robert M. Adams: Gott als das unendlich Gute bestimmtes Verhalten anzugeben, statt die bestehenden zu erklären. Wenn etwa die Vortrefflichkeit eines Objekts wesentlich dadurch charakterisiert ist, dass wir Grund haben, es zu bewundern, wie genau erklärt dann die Gottähnlichkeit das Vorliegen solcher Gründe?
8.3.2 Inkohärenz der Idee des Guten Martha Nussbaum hat, aufbauend auf ihren früheren Überlegungen in Love’s Knowledge, Kritik an Adams’ Konzeption eines transzendenten Guten vorgebracht.¹⁰⁷ Wie schon dort vertritt sie in ihrem Beitrag zu einem Buchsymposium über Finite and Infinite Goods die These, „dass die charakteristischen Vortrefflichkeiten des menschlichen Lebens außerhalb des Kontextes menschlicher Endlichkeit unverständlich sind“.¹⁰⁸ Dies ist offensichtlich für bestimmte körperliche Vortrefflichkeiten wie sportliche Leistungen, die nur vor dem Hintergrund der Beschränkungen des menschlichen Körpers bewundernswert sind. Es gilt aber auch für viele moralische Tugenden. Denn die meisten dieser Tugenden – wie Mut, Treue, Aufrichtigkeit – erhalten ihre charakteristische Gestalt vor der Folie der menschlichen Bedürftigkeit, Verletzlichkeit, Sterblichkeit. Ein Gott, der mehr ist als die Projektion eines Übermenschen, ein Gott, für den unsere Beschränkungen in keiner Weise gelten, könnte diese Tugenden jedenfalls nicht haben. Dies scheint die Vorstellung einer transzendenten Idee des Guten in Gestalt eines personalen Gottes, der das Paradigma aller menschlichen Vortrefflichkeiten ist, zu untergraben. Doch Nussbaums Kritik verfehlt ihr Ziel. Der Gedanke, dass ein transzendentes Gutes ipso facto keine Instanz sein kann, an der sich endliche Vortrefflichkeit orientiert, kann nur aufkommen, wenn die Transzendenz des Guten rein negativ verstanden wird, als Abwesenheit aller Beschränkungen, die das menschliche Leben ausmachen. Zum einen gibt es aber eine Reihe von Vortrefflichkeiten, deren Wert offenbar nicht von der Anwesenheit bestimmter Hindernisse abhängt; hier ist etwa an Schönheit oder Verständnis zu denken. Soweit jedoch – wie etwa im Falle bestimmter Tugenden – tatsächlich bestimmte Machtbeschränkungen notwendige Voraussetzung der Vortrefflichkeit sind, ist es nötig, aber auch möglich, passende Entsprechungen auch bei der transzendenten Idee des Guten selbst vorzusehen.¹⁰⁹ So ist der Wert der Treue offenbar davon abhängig, dass man in seiner Beziehung zu einem anderen Wesen verletzt werden kann; diese Art der Verletzlichkeit kann 107 Sie bezieht sich insbesondere auf ihren Essay „Transcending Humanity“, in Love’s Knowledge, S. 365–390. 108 Nussbaum, „Transcendence and Human Values“, S. 446. 109 Adams, Finite and Infinite Goods, S. 31.
8.3 Kritik an Adams’ Theorie des Guten | 237
aber auch einem personalen Gott zugeschrieben werden. Die Kritik wäre nur dann durchschlagend, wenn die Abwesenheit jeglicher Beschränkungen als Kern des Begriffs der Transzendenz verstanden würde. Genau gegen ein solches Verständnis von Transzendenz wehrt Adams sich aber. Die Vorstellung eines transzendenten Guten ist daher nicht als solche schon inkohärent oder scheidet ihrer Andersartigkeit wegen als Vorbild für das menschliche Dasein aus. Das Modell der Analogie zwischen göttlicher und endlicher Vortrefflichkeit verpflichtet allerdings auch zur Beantwortung der Frage, in welcher Beziehung die sekundäre Bedeutung zur primären steht: wie im Fall der gesunden Medizin in einer kausalen (Herbeiführungs-)Relation oder im Fall des gesunden Urins in einer Anzeige-Beziehung. Adams antwortet darauf, wie gesehen, mit der Ähnlichkeit als der einschlägigen Relation, die aber ihre eigenen Probleme aufwirft.
8.3.3 Schwierigkeiten mit der Ähnlichkeit Der Gedanke, dass es möglich ist, dem Guten selbst ähnlicher zu werden, hat zwar eine lange platonische Tradition; doch erheben sich schnell eine Reihe von Fragen hinsichtlich der Möglichkeit der Ähnlichkeit mit einem solchen transzendenten Guten. Susan Wolf hat „die Vorstellung, dass das, was gut ist, gut ist, weil es Gott ähnlich ist oder ihn abbildet“, als „vollständig mysteriös“ (totally baffling) bezeichnet.¹¹⁰ „In welchem Sinne“, fragt sie, „können ein gutes Essen, ein gutes Basketballspiel, eine gute Aufführung der Brandenburgischen Konzerte, eine Wiese mit Wildblumen, die Kritik der reinen Vernunft und mein Nachbar alle derselben Sache ähnlich sein oder sie abbilden? Und wie soll überhaupt ein gutes Essen Gott ähnlich sein können?“¹¹¹ Damit hat sie bereits nicht nur einen, sondern zwei Kritikpunkte benannt, die gegen Adams’ Position vorgebracht werden können.¹¹² Den ersten können wir als „Intelligibilitätseinwand“ bezeichnen: Bei jedem einzelnen der genannten vortrefflichen Dinge können wir fragen, was es heißen soll, dass es Gott ähnlich ist. Diesen Einwand hat Adams in Finite and Infinite Goods bereits antizipiert, allerdings anhand des Beispiels des vortrefflichen Kochens, nicht des vortrefflichen Mahls. Dass auch die Vortrefflichkeit des Kochs in einer Gottähnlichkeit besteht, so Adams, „bedeutet nicht, dass Gott ein Koch ist“.¹¹³ 110 Wolf, „A World of Goods“, S. 472. 111 Ebd., S. 472. 112 Diese beiden Kritikpunkte unterscheidet auch Decosimo, „Intrinsic Goodness and Contingency, Resemblance and Particularity“, S. 433, Fn. 32. 113 Adams, Finite and Infinite Goods, S. 30.
238 | 8 Robert M. Adams: Gott als das unendlich Gute Die Behauptung, dass A und B einander ähnlich seien in Beziehung auf As φ-en, impliziere nicht, dass das φ-en eine Eigenschaft sei, die von A und B geteilt würde. Es genüge, wenn As φ-en eine Ähnlichkeit zu einem Aspekt von B aufweise. In diesem Sinne schlägt er vor, dass die Vortrefflichkeit des Kochens eine Ähnlichkeit zur göttlichen Kreativität manifestiere.¹¹⁴ Was allerdings im Falle des Kochens noch einigermaßen plausibel sein mag, ist bei anderen Gegenständen wie dem guten Essen weit schwieriger zu sehen, wie auch Adams einräumt.¹¹⁵ Dennoch seien wir immerhin bereit, Analogien zwischen einem guten Essen und anderen vortrefflichen Dingen, etwa guter Musik, herzustellen, so dass es scheine, sie könnten „eine gewisse Verwandtschaft in ihrer Vortrefflichkeit haben“.¹¹⁶ Dies leitet über zu Wolfs zweitem Einwand, den wir als „Pluralitätseinwand“ bezeichnen können. Es ist nämlich fraglich, wie sich die Vielfalt der guten Dinge durch die Ähnlichkeits- oder Abbildungsbeziehung zu einer einzigen Sache erklären lässt. Dabei stellt es natürlich kein größeres Problem dar, dass eine Vielfalt von Dingen, wörtlich verstanden, durch die Ähnlichkeit zu einem einzigen Vorbild vortrefflich sein soll; auch von der Venus von Milo kann es ja beliebig viele Kopien und Darstellungen geben, die alle durch ihre mehr oder minder große Ähnlichkeit zum Original das sind, was sie sind. Die Schwierigkeit beginnt vielmehr dort, wo es wie in Wolfs Beispielen um unterschiedliche Arten von Vortrefflichkeit geht: etwa die Schönheit der Wildblumenwiese, die Tugendhaftigkeit des Nachbarn oder der Reichtum an Einsichten in der Kritik der reinen Vernunft. Auch diesen Einwand hat Adams schon in Finite and Infinite Goods vorweggenommen, allerdings anhand des Beispiels von Schönheit und Erhabenheit – zwei ästhetischen Qualitäten, die beide ebenfalls von Gott ausgesagt werden können. Indem wir verschiedene Dinge als schön bezeichnen, unterstellen wir ihnen laut Adams eine gewisse Ähnlichkeit, die die erhabenen Dinge nicht mit ihnen teilen; und umgekehrt scheinen alle erhabenen Dinge in einer Weise miteinander ähnlich zu sein, die sie von den schönen Dingen trennt. Daher können, so Adams, „diese beiden Vortrefflichkeiten darin bestehen, Gott ähnlich zu sein oder abzubilden, jedoch in unterschiedlichen Weisen oder unterschiedlichen Hinsichten“.¹¹⁷ Diesen Versuch, der Vielzahl an Wertdimensionen durch unterschiedliche Aspekte an Gott gerecht zu werden, können wir als „Pluralisierungsstrategie“ bezeichnen. Was für Aspekte sind das? Adams gibt hierauf die wenig erhellende Antwort, wir seien vermutlich nicht in der Lage, sie zu erkennen, ohne auf den Begriff der 114 115 116 117
Adams, Finite and Infinite Goods, S. 30. Vgl. oben Abschnitt 8.2.3, S. 228. Adams, „Responses“, S. 476. Ebd., S. 476. Adams, Finite and Infinite Goods, S. 41.
8.3 Kritik an Adams’ Theorie des Guten | 239
Schönheit (respektive den des Erhabenen) zurückzugreifen, und unser kognitiver Zugang zu dieser Ähnlichkeit müsse abhängig bleiben von unserer Fähigkeit, endliche Objekte in die Kategorie des Schönen einzuordnen.¹¹⁸ Diese Bestimmung scheint Adams einem Zirkularitätsverdacht auszusetzen: Schönheit und Erhabenheit sind verschiedene Arten von Vortrefflichkeit, weil sie verschiedene Weisen darstellen, Gott ähnlich zu sein – verschieden insofern, als sie verschiedenen Aspekten an Gott ähnlich sind, nämlich seiner Schönheit respektive seiner Erhabenheit. Dieser Umstand ist problematisch, wie auch Adams selbst einräumt.¹¹⁹ So unbefriedigend diese Erläuterung aber auch sein mag, so bleibt doch festzuhalten, dass die bisher vorgebrachten Einwände keineswegs fatal für Adams’ Position sind; es scheint, als ob es einer Doppelstrategie aus Abstraktion und moderatem Pluralismus bezüglich Gottes Eigenschaften gelingen kann, sowohl dem Intelligibilitätsals auch dem Pluralitätseinwand zu begegnen. Noch grundsätzlicher hat David Decosimo infrage gestellt, ob endliche Dinge der transzendenten Idee des Guten überhaupt ähnlich sein können. Er hält zunächst fest, dass für Adams, wenn etwas Gott ähnlich ist, es ihm „in einer bestimmten Hinsicht und aufgrund (by virtue of ) anderen Eigenschaften“ ähnlich sein muss.¹²⁰ Etwas sei daher vortrefflich „nur aufgrund (in virtue of ) denjenigen Eigenschaften, die seine Vortrefflichkeiten bilden“, und „die Eigenschaften von etwas, die seine Vortrefflichkeiten sind, sind eben diejenigen, die Gott ähnlich sind und ihm einen Grund geben, sie zu lieben“.¹²¹ Jede Vortrefflichkeit von etwas bestehe daher darin, dass bestimmte seiner Eigenschaften Gott ähnlich sind.¹²² Decosimo formuliert seinen Einwand nun anhand des Beispiels einer vortrefflichen Erdbeere.¹²³ Die Vortrefflichkeit der Erdbeere hängt ab vom Besitz einer ganzen Reihe von Eigenschaften, etwa eines bestimmten Rottons, einer guten Zahl und Verteilung von Samen und einer guten erdbeerartigen Form. Dies sind Eigenschaften, die Gott, welche Eigenschaften auch immer wir ihm sonst zuschreiben, nicht besitzen kann, weil sie eine sinnlich wahrnehmbare Qualität oder eine bestimmte Form oder Struktur materieller Körper bezeichnen. Wenn allerdings, fährt Decosimo fort, die Vortrefflichkeit der Erdbeere wirklich, wie von Adams behauptet, in ihrer Gottähnlichkeit besteht, müssten diejenigen ihrer Eigenschaften, die die Erdbeere vortrefflich machen, von einer Art sein, die ihm ähnlich sein kann und 118 Ebd., S. 41. 119 Ebd., S. 41. 120 Ebd., S. 29; vgl. ebd., S. 40; Decosimo, „Intrinsic Goodness and Contingency, Resemblance and Particularity“, S. 423. 121 Ebd., S. 423. 122 Ebd., S. 424. 123 Ebd., S. 434.
240 | 8 Robert M. Adams: Gott als das unendlich Gute durch die dann auch die Erdbeere als ganze Gott ähnlich sein könnte.¹²⁴ Da sie dies nicht sind, könne die Vortrefflichkeit einer Erdbeere nicht in der Ähnlichkeit mit Gott bestehen. Dieses Argument lasse sich auf beinahe jedes vorstellbare endliche Gut übertragen. Es macht allerdings eine Prämisse, die der expliziten Verteidigung bedarf. Diese besteht darin, dass etwas (x) etwas anderem (y) nur ähnlich sein kann, wenn es mindestens eine Eigenschaft besitzt (F), die einer Eigenschaft von y (G) ähnlich ist: ∀(𝑥, 𝑦)(𝑥 ∼ 𝑦) → ∃(𝐹 , 𝐺)(𝐹 𝑥 ∧ 𝐺𝑦 ∧ 𝐹 ∼ 𝐺). Zwar ist es richtig, dass zwei Dinge einander nur ähnlich sein können, wenn sie in mindestens einer benennbaren Hinsicht ähnlich sind. Das ist aber nicht unmittelbar gleichbedeutend damit, dass es eine Eigenschaft gibt, die sie teilen oder hinsichtlich derer sie ähnlich sind; ein Klavierkonzert von Mozart und ein rembrandtsches Porträt können (vielleicht) ähnlich hinsichtlich ihrer Schönheit genannt werden, es dürfte aber schwierig sein, eine allgemein akzeptierte einzelne Eigenschaft zu nennen, in der sie einander ähnlich sind. Entsprechend erscheint es denkbar, dass z. B. auch Gott und ein menschliches Kunstwerk in ihrer Schönheit ähnlich sind, ohne dass es eine Eigenschaft gibt, in der sie einander ähnlich sind. Decosimo könnte auf diesen Einwand antworten, dass die Eigenschaften, aufgrund derer ein mozartsches Klavierkonzert gut ist, selbst vortrefflich sein müssen; wenn aber zum Beispiel das harmonische Zusammenspiel von Klavier und Orchester eines der Merkmale ist, die es zu einem vortrefflichen Kunstwerk machen, dann müsse diese Eigenschaft selbst wiederum Gott ähnlich sein, und das sei unmöglich. Doch zum einen setzt dies voraus, dass die Merkmale, durch die etwas vortrefflich ist, selbst vortrefflich sind, und das kann keineswegs als gesichert angenommen werden; es ist sehr wohl denkbar, dass für sich genommen nicht vortreffliche Merkmale in ihrem Zusammenspiel holistisch die Vortrefflichkeit eines Kunstwerks realisieren. So könnten beispielsweise das Spiel der Pauke und das des Kontrabasses gemeinsam die Schönheit eines Konzerts realisieren, obwohl weder das eine noch das andere für sich genommen sonderlich vortrefflich sind. Aber selbst wenn man annimmt, dass etwa das harmonische Zusammenspiel von Klavier und Orchester selbst eine Vortrefflichkeit ist, die Mozarts Klavierkonzerte vortrefflich macht, scheint sich hier nur von Neuem die Frage zu stellen, wie sich diese Vortrefflichkeit in Gott wiederfindet. Adams könnte daher im Gegenzug die schon erprobte Abstrahierungsstrategie für dichte Begriffe anwenden: Natürlich gibt es in Gott kein Zusammenspiel von Klavier und Orchester, womöglich aber eine Art von Harmonie; man denke etwa an die Übereinstimmung von Gottes Erkennen und
124 Decosimo, „Intrinsic Goodness and Contingency, Resemblance and Particularity“, S. 434.
8.3 Kritik an Adams’ Theorie des Guten | 241
Wollen.¹²⁵ Ähnlichkeit einer endlichen Eigenschaft mit einer Eigenschaft Gottes bedeutet nicht, dass es sich um genau dieselbe Eigenschaft handeln muss, solange man einen plausiblen Zusammenhang aufweisen kann. Decosimos Argument ist daher in der vorgebrachten Form nicht durchschlagend. Auch wenn keiner der bisher betrachteten Einwände für sich genommen fatal für die Konzeption der Vortrefflichkeit als Gottähnlichkeit ist, sind sie in ihrer Gesamtheit doch angetan, Zweifel an Adams’ Theorie zu säen. Denn indem sie ihn dazu zwingen, das zentrale Konzept der Ähnlichkeit mit Gott einerseits zu pluralisieren (so dass verschiedene Formen der Vortrefflichkeit verschiedenen Aspekten der göttlichen Natur ähnlich sind), andererseits zu abstrahieren (um beispielsweise der Annahme aus dem Weg zu gehen, ein hervorragendes Mahl müsse eine direkte Entsprechung in Gott haben), droht die Ähnlichkeit verwässert und entleert zu werden. Wenn sich die entsprechenden göttlichen „Eigenschaften“ zudem in einer nur analogen Beziehung zu den endlichen Vortrefflichkeiten befinden, kann man, so scheint es, auch nur in analoger Weise von einer Ähnlichkeit vortrefflicher konkreter Objekte zu Gott sprechen. Damit aber droht die Theorie dunkel zu werden, wie auch Jeffrey Stout befindet: In meinen Augen ist Adams’ Theorie der Vortrefflichkeit ziemlich obskur. Erstens ist nicht klar, worin Ähnlichkeit nach Adams’ Auffassung überhaupt besteht. Ebenso wenig ist klar, wie Ähnlichkeit zu einem transzendenten Gott uns erklären kann, was das Gutsein eines endlichen Dinges ist, in dem Sinne, dass es solches Gutsein weniger mysteriös macht, wenn die göttliche Transzendenz den einen Pol der postulierten Ähnlichkeitsrelation essentiell außerhalb des Bereichs stellt, in dem Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen endlichen Dingen bestehen.¹²⁶
Trotz dieser Unzulänglichkeiten der adamsschen Theorie bleibt jedoch festzuhalten, dass eine Gesamteinschätzung ihrer Überzeugungskraft aufgrund ihres Charakters als Schluss auf die beste Erklärung noch nicht abschließend möglich ist. Denn die Erklärung der Vortrefflichkeit ist nicht die einzige Funktion, die dem transzendenten Guten Adams zufolge zukommt: Auch das Phänomen der (moralischen) Pflicht wird von Adams theistisch gedeutet.
125 Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles, cap. LXXII. 126 Stout, „Adams on the Nature of Obligation“, S. 374.
242 | 8 Robert M. Adams: Gott als das unendlich Gute
8.4 Die Theorie der Pflicht: Moralische Pflichten als Forderungen Gottes Adams’ Argument für eine theistische Theorie der Pflicht hat drei Stufen. Nach der phänomenologischen Explikation des Pflichtbegriffs versucht er zu zeigen, dass sich die charakteristischen Merkmale der Pflicht am besten erklären lassen, wenn man diese als eine Form von sozialen Forderungen wie Befehlen oder Erwartungen betrachtet.¹²⁷ Forderungen können dabei auf vielfältige Weise transportiert werden, von der expliziten Aufforderung über die Androhung von Sanktionen bis hin zu den subtilen Mechanismen der Verhaltensregelung, denen wir alltäglich ausgesetzt sind. Auf der dritten Stufe schließlich soll sich erweisen, dass weder aktuale noch hypothetische Forderungen menschlicher Gruppen oder Individuen gut genug sind, um die Rolle der moralischen Pflichten spielen zu können. An ihre Stelle treten daher in Adams’ Theorie Gottes Befehle. Vor der Entfaltung seiner Theorie der Pflicht trifft Adams zwei Vorannahmen, die zwar nicht unplausibel, aber auch nicht unkontrovers sind. Zum einen betrachtet er den Begriff der Pflicht (obligation) als das zentrale Konzept des deontischen Begriffsfeldes. Dies hat insofern einen Anhalt im alltäglichen Sprachgebrauch, als es hier um die Frage geht, was man tun soll, darf und was zu tun untersagt ist (anders ausgedrückt: um das moralisch Gebotene, Zulässige und Verbotene). Wie es auch vielfach geschieht, wäre es jedoch ebenfalls denkbar, einen anderen Begriff als fundamental zu betrachten, etwa den des individuellen moralischen Rechtes oder den des Grundes. Gegen Letzteres wendet Adams jedoch ein: „Nicht jeder gute Grund, etwas zu tun, würde das Gefühl verständlich machen, dass ich es tun muss“ (that I have to do it).¹²⁸ Dieses Gefühl und der ihm entsprechende deontische Zustand von Handlungen sind aber das unterscheidende Merkmal der Dimension der Moral, die in ihrem Kern irreduzibel deontisch ist. Zweitens besitzt laut Adams das Falsche einen begrifflichen Vorrang vor dem Richtigen, dem kein vergleichbarer Primat des Schlechten gegenüber dem Guten entspricht. Genauer ist „die Bedeutung der Pflichtfamilie unter den ethischen Begriffen“ an die angemessenen Reaktionen auf das Falsche, nicht an die auf das Richtige gebunden.¹²⁹ Natürlich könnte das Verbotene logisch genau so gut bestimmt werden als das, was geboten ist zu unterlassen, wie das Gebotene als das, was zu unterlassen verboten ist, so dass die beiden Begriffe wechselseitig durch einander definiert werden können (wie „möglich“ und „notwendig“). Dennoch
127 Adams, Finite and Infinite Goods, S. 240. 128 Ebd., S. 246. Hervorhebung im Original. Vgl. zum „Sollen“ ebd., S. 234. 129 Ebd., S. 231 und 233.
8.4 Die Theorie der Pflicht: Moralische Pflichten als Forderungen Gottes | 243
scheint es korrekt zu sein, dass das Falsche mit charakteristischen Reaktionen verbunden ist, wie dies für das Richtige nicht gilt; auf moralisch falsche Handlungen reagieren wir etwa mit Empörung, auf ein nicht fragwürdiges und in diesem Sinne richtiges Verhalten dagegen in der Regel nicht mit einer typischen emotionalen Antwort. Und dabei handelt es sich keineswegs um ein bloß zufälliges Merkmal unseres Spracherwerbs, sondern um einen fortdauernden Bezug auf die Angemessenheit bestimmter Reaktionen, ohne die ein korrektes Verständnis dieser Ausdrücke nicht möglich ist. Wie schon bei der Verteidigung der These, dass sich die Vortrefflichkeit als Ähnlichkeit mit Gott erklären lässt, stützt sich Adams auch bei seiner Analyse des Pflichtbegriffs auf die Unterscheidung zwischen der durch die Semantik angezeigten Rolle der Pflicht und den metaphysischen Kandidaten, der diese Rolle erfüllt. Worin besteht nun die semantische Rolle der Pflicht, und was macht das Befohlensein durch Gott zu dem geeignetsten Kandidaten?
8.4.1 Die Phänomenologie der Pflicht Adams nennt vier Merkmale, die Teil des Begriffs der Pflicht sind und von einer adäquaten Metaphysik der Pflicht erklärt werden müssen. Erstens seien Pflichten etwas, was wir ernstzunehmen und für dessen Einhaltung wir Sorge zu tragen hätten (it is something one should take seriously and care about).¹³⁰ Das bedeutet nicht, dass alle Pflichten absolut in dem Sinne wären, dass sie unter allen Umständen ausgeführt werden müssen; häufig genug können wir gerechtfertigterweise von der Erfüllung einer Pflicht Abstand nehmen, weil es etwa ein großes Gut (für andere oder auch für uns selbst) zu sichern gilt. Für Adams ist es Teil dessen, was es heißt, eine Pflicht (im Unterschied zum Guten) ernstzunehmen, dass es sowohl für den Handelnden selbst als auch für seine Umgebung eine angemessene Weise gibt, auf ihre Verletzung zu reagieren: Jemanden, der seine moralische Pflicht verletzt hat, können wir tadeln (blame), ihm die Schuld zuweisen.¹³¹ Den Begriff des blaming versteht Adams dabei so weit, dass er im Grunde jede Form von Sanktionen umfasst, einschließlich des Erhebens von Vorwürfen (reproaching) und des Bestrafens (punishing).¹³² Dies muss zumindest für paradigmatische Fälle der Verletzung des moralisch Gebotenen gelten, in denen der Handelnde für die falsche Handlung voll verant-
130 Ebd., S. 235. 131 Ebd., S. 235. 132 Ebd., S. 235.
244 | 8 Robert M. Adams: Gott als das unendlich Gute wortlich ist.¹³³ Wenn der Handelnde dagegen auf einen entschuldigenden Grund verweisen kann, etwa seine unverschuldete Unwissenheit bezüglich eines oder mehrerer relevanter Umstände, schwindet in demselben Maße die Sanktionierbarkeit der Handlung. Dass sie dadurch nicht weniger falsch wird, ist jedoch kein Einwand gegen die von Adams vertretene These des Zusammenhangs von Falschheit und Sanktionierbarkeit, da sich diese nur auf Fälle bezieht, in denen keine entschuldigenden Gründe vorliegen. Nur wenn der Handelnde voll verantwortlich ist, impliziert die Falschheit einer Handlung, dass innere und äußere Sanktionen angemessen sind. Dieses Konditional kann auch dann wahr sein, wenn das Antezedens nicht erfüllt ist. Allerdings tut sich an dieser Stelle ein Problem auf. Was bedeutet denn, könnte man einwenden, dass wir einen Vorwurf erheben können? Doch nichts anderes, als dass derjenige, der diesen Vorwurf erhebt, dafür selbst nicht getadelt werden kann – wie es etwa der Fall ist, wenn sich jemand in Angelegenheiten einmischt, die ihn nichts angehen. Damit aber droht die Bestimmung der Pflicht uninformativ zu werden: Eine Handlung ist Pflicht, wenn ihre Unterlassung getadelt werden kann; und sie kann getadelt werden, wenn der Tadelnde für den Tadel selbst nicht getadelt werden kann. Auf diesen Einwand lässt sich aus Adams’ Perspektive zweierlei erwidern. Zum einen ist die angebliche Uninformativität nicht fatal, weil es an dieser Stelle nicht um eine Erklärung oder Theorie der Pflicht geht, sondern um den Aufweis eines semantischen Zusammenhangs mit einer bestimmten moralischen Praxis. Zweitens besteht die Angemessenheit des Tadels, um die es Adams hier geht, über seine bloße Möglichkeit hinaus noch in etwas anderem. Man kann dies so fassen, dass die Pflichtverletzung nicht nur nicht gegen einen Tadel spricht, sondern positiv dafür, wenn sie auch meist keine strenge Pflicht dazu konstituiert; doch kann es in Fällen schwerer Pflichtverletzung sogar falsch sein, auf einen Tadel zu verzichten, insbesondere dann, wenn Dritte beteiligt sind. In der Terminologie Jonathan Dancys ließe sich also sagen, dass die Verletzung einer moralischen Pflicht zumindest einen Anreizgrund (enticing reason) dafür darstellt, das entsprechende Verhalten zu tadeln. Adams fasst dies so, dass „angemessen“ eine Art des Gutseins ausdrückt.¹³⁴ Ein weiterer Aspekt der Ernsthaftigkeit der Pflicht besteht darin, dass die Erfüllung der Pflicht und die Ablehnung falscher Handlungen öffentlich bestärkt werden sollten; es ist also gut, „anderen diese Haltungen beizubringen und sie einzuüben“.¹³⁵ Die Bedingung, dass es zur Bedeutung von „moralisch falsch“ ge-
133 Adams, Finite and Infinite Goods, S. 236. 134 Ebd., S. 235. 135 Ebd., S. 236.
8.4 Die Theorie der Pflicht: Moralische Pflichten als Forderungen Gottes | 245
hört, dass ein entsprechendes Verhalten öffentlich als falsch gebrandmarkt werden sollte, nennt Adams mit Rawls die Öffentlichkeitsbedingung (publicity condition).¹³⁶ Dies gilt für das Gute in der Regel nicht: Es mag seinerseits gut und lobenswert sein, die Beschäftigung mit dem Guten öffentlich zu befördern (was Adams im Kapitel „Politics and the Good“ seines Buchs verteidigt),¹³⁷ aber das öffentliche Engagement für das Gute ist kein Teil seines Begriffs. Drittens stellen Pflichten Gründe dafür dar, das zu tun, wozu man verpflichtet ist, und dazu, das zu unterlassen, was von der Pflicht verboten wird. Diese Gründe müssen so beschaffen sein, dass sie uns auch motivieren können, der Pflicht gemäß zu handeln. Die kantische Position jedoch, nach der die schlichte Tatsache, dass eine Handlung moralisch falsch ist, einem gewissenhaften Akteur hinreichenden Grund gibt, von ihr Abstand zu nehmen, wird von Adams als „zu abstrakt“ abgelehnt.¹³⁸ In dieser Ablehnung weiß er sich mit John Rawls einig, der schreibt, dass der Wunsch, etwas zu tun, was richtig und gerecht ist, nur weil es richtig und gerecht ist, „einer Präferenz für Tee statt für Kaffee“ ähnele.¹³⁹ Es bedarf daher, so Adams, „eines reichhaltigeren, weniger abstrakten Verständnisses des Wesens der Pflicht, in dem wir etwas finden können, was uns motiviert“.¹⁴⁰ Besondere Bedeutung für die semantische Rolle der Pflicht nimmt für Adams das Phänomen der Schuld ein. Diese unterscheidet sich vom subjektiven Schuldgefühl dadurch, dass es sich bei ihr um einen „objektiven moralischen Zustand“ handelt, der von anderen auch dann richtig erkannt werden kann, wenn bei dem Schuldigen selbst keine Schuldgefühle vorliegen. Die Schuld ist jedoch auch nicht einfach identisch mit der Tatsache, etwas moralisch Falsches getan zu haben. Denn im Gegensatz zu dieser Tatsache, die unabänderlich immer Bestandteil des Lebens des Schuldigen bleibt, kann die Schuld vergeben und somit von dem Schuldigen genommen werden.¹⁴¹ Daher versteht Adams die Schuld als eine „Entfremdung“ (alienation) von anderen Personen, genauer: von jemandem, der von uns erwartet oder gefordert hat, zu tun, was unsere Pflicht gewesen wäre.
136 Ebd., S. 236. 137 Vgl. Finite and Infinite Goods, Kap. 14. 138 Ebd., S. 242. 139 Vgl. Rawls, A Theory of Justice, S. 477f. 140 Adams, Finite and Infinite Goods, S. 242. 141 Ebd., S. 239.
246 | 8 Robert M. Adams: Gott als das unendlich Gute 8.4.2 Pflichten als soziale Forderungen Nach der Charakterisierung der semantisch indizierten Rolle der Pflicht argumentiert Adams nun im zweiten Schritt seines Arguments dafür, dass soziale Forderungen der plausibelste Kandidat für ihr metaphysisches Wesen sind. Für eine Sozialforderungstheorie der Pflicht spricht laut Adams an erster Stelle das letztgenannte Charakteristikum der Pflicht, ihre Verbindung mit einem objektiven Zustand der Schuld. Wir erlernen den Begriff der Pflicht und seine Verwandten im Kontext der wahrgenommenen Bedrohung oder Beschädigung einer als wertvoll empfundenen Beziehung, oftmals zu einem Elternteil; einer Bedrohung, die von der Verletzung einer Erwartung oder Forderung des Beziehungspartners ausgeht.¹⁴² Dabei handelt es sich zwar um ein vormoralisches Stadium, insofern für den Begriff einer moralischen Pflicht die Fähigkeit der Unterscheidung zwischen legitimen und illegitimen Forderungen nötig ist. Nichtsdestotrotz lässt sich Adams zufolge auch ein reifes Verständnis moralischer Pflichten bei aller Bedeutung moralischer Prinzipien nicht vollständig vom Gefühl der Schuld gegenüber einer anderen Person abtrennen, die mit Recht etwas von uns gefordert hat. Eine Theorie, die moralische Pflichten mit Forderungen durch eine andere Person oder eine Gruppe von Personen identifiziert, kann zudem verständlich machen, wie solche Pflichten mit Gründen in Verbindung stehen können, entsprechend zu handeln. Insbesondere der Wunsch, eine soziale Beziehung einzugehen oder aufrechtzuerhalten, kann uns instrumentell motivieren, den Forderungen des anderen zu entsprechen; aber (und das ist für Adams der stärkste Grund) die Bereitschaft, eine solche Forderung zu erfüllen, kann auch Ausdruck der Wertschätzung einer bereits bestehenden Beziehung sein, ganz unabhängig davon, welche weiteren Ziele damit angestrebt werden. Auch die normative und motivierende Kraft von Pflichten wird demnach von einer Sozialforderungstheorie abgebildet.¹⁴³ Auch weiteren Merkmalen der Rolle der moralischen Pflicht kann eine solche Theorie gut Rechnung tragen. Zum einen wird ihre Ernsthaftigkeit, ihr nötigender Charakter – dass ich es tun muss – dadurch erklärt, dass, ähnlich einem Befehl, eine bestimmte Forderung tatsächlich an mich gerichtet wird.¹⁴⁴ Zweitens kann die Theorie erklären, weshalb sich die tatsächlichen moralischen Pflichten nicht beliebig weit von dem entfernen können, was in der Gesellschaft als Pflicht anerkannt wird.¹⁴⁵ Schließlich lässt sich ergänzen, dass auch die Öffentlichkeitsbedingung in einer Sozialforderungstheorie eingefangen wird: Dass es Teil der Semantik 142 143 144 145
Adams, Finite and Infinite Goods, S. 240. Ebd., S. 242. Ebd., S. 246. Ebd., S. 247.
8.4 Die Theorie der Pflicht: Moralische Pflichten als Forderungen Gottes | 247
von deontischen Ausdrücken ist, dass das entsprechende Verhalten öffentlich gebrandmarkt oder bestärkt werden sollte, dass die Pflicht also keine Privatsache ist, lässt sich auf ihren inhärent sozialen Charakter zurückführen – Verletzungen der Forderungen einer Gruppe gehen eben die ganze Gruppe an. Allerdings drängt sich unmittelbar der Einwand auf, dass die aktualen Forderungen menschlicher Gesellschaften schlicht nicht gut genug sind, um die Rolle moralischer Pflichten erfüllen zu können: Von Huckleberry Finn wurde verlangt, dass er seinen Freund, den entlaufenen Sklaven Jim, wieder seiner „rechtmäßigen Besitzerin“ zuführt; in Stalins Sowjetunion wurde von Kindern verlangt, ihre eigenen Eltern zu verraten; und in der Zeit des Nationalsozialismus forderte man Menschen, die in einer Ehe mit einer Jüdin oder einem Juden lebten, dazu auf, sich von ihrem Partner scheiden zu lassen – alles Fälle, in denen eindeutig moralisch pflichtwidrige Handlungen durch die Gesellschaft gefordert wurden. Dass eine Handlung innerhalb einer Gesellschaft oder von anderen Personen gefordert ist, ist daher allenfalls eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für ihre Richtigkeit. Auch eine Sozialforderungstheorie muss daher, wenn sie nicht vollständig unplausibel werden will, normative Ressourcen für eine Kritik illegitimer oder moralisch nicht bindender Forderungen aufweisen. Kann sie dabei auf Merkmale von Beziehungen, Forderungen und Handlungen zurückgreifen, die sich durch ein evaluatives Vokabular beschreiben lassen? Zum einen kann man darauf verweisen, dass nur gute Beziehungen tatsächlich Gründe erzeugen. So kann der Wert der Beziehung zwischen einem Individuum und anderen Personen bis hin zu einer Gemeinschaft einerseits davon abhängen, ob das Individuum selbst in seinem Wert von den anderen angemessen geschätzt wird und etwa die Möglichkeit zur Partizipation erhält, aber auch von der Haltung des Individuums gegenüber den anderen. Zweitens können die Gründe, die soziale Forderungen erzeugen, auch von den persönlichen Eigenschaften derjenigen abhängen, die diese Forderungen aufstellen, was allerdings nicht in allen Fällen gilt (z. B. nicht bei Grundbedürfnissen). Schließlich hängt die Normativität der Forderung nicht zuletzt auch davon ab, wie gut die Forderung selbst ist, und zwar sowohl hinsichtlich ihres Inhalts (der geforderten Handlung) als auch hinsichtlich des Aktes des Forderns selbst.¹⁴⁶ Aber wenn es die Werte von Handlungen, Forderungen und Beziehungen sind, die objektiv normative Forderungen von solchen unterscheiden, die keine normativen Gründe darstellen, braucht man dann überhaupt noch tatsächlich erhobene soziale Forderungen, um das Wesen der moralischen Pflicht zu erklären? Genügt es dann nicht, sich auf diejenigen guten Forderungen zu beschränken, die von
146 Ebd., S. 245.
248 | 8 Robert M. Adams: Gott als das unendlich Gute guten Personen in einem guten System sozialer Beziehungen gemacht werden würden? Folgt man diesem Weg, so wird man zu einer Theorie hypothetischer sozialer Forderungen geführt: Moralisch falsch ist demnach das, was von einer idealen Gemeinschaft oder Autorität unter bestimmten kontrafaktischen Bedingungen verlangt werden würde. Adams sieht zwei Schwierigkeiten mit solchen Ansätzen. Die erste ist metaphysischer Natur: Erstens ist nicht klar, ob die entsprechenden kontrafaktischen Aussagen tatsächlich wahr sind, weil sie sich auf freie Reaktionen beziehen, die nie tatsächlich gemacht werden. Lässt sich überhaupt eine Aussage darüber treffen, was jemand unter bestimmten nicht eingetretenen Bedingungen getan hätte, wenn die Handlungen dieser Person weder logisch noch kausal determiniert sind?¹⁴⁷ Aber selbst wenn solche Aussagen wahr sein können, scheint ihre motivationale Kraft schwach zu sein, verglichen mit den aktualen Forderungen, die an uns in Beziehungen gestellt werden, die wir wertschätzen. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, „dass die Forderungen tatsächlich gestellt werden“.¹⁴⁸ Auch in ihrer nicht-hypothetischen, aktualen Fassung bleibt jedoch das Hauptproblem der Sozialforderungstheorie ihr letztlich subjektivistischer Charakter. Zwar sind die sozialen Forderungen vollständig objektiv in Bezug auf das einzelne Individuum, insofern der einzelne nicht durch einen bloßen Akt des Willens entscheiden kann, dass er nicht mehr unter einer sozialen Forderung vonseiten der Gesellschaft oder eines anderen Individuums steht. Die Gesellschaft könnte aufgrund der oben dargestellten Einschränkungen bezüglich des Wertes von Handlung, Forderung und Beziehung auch nicht einfach Beliebiges moralisch verpflichtend machen. Aber die soziale Forderung scheint nicht einmal notwendig zu sein, um einer Handlung den deontischen Status einer Pflicht zu geben: Sich freiwillig in die Sklaverei zu begeben, ist auch dann noch falsch, wenn diese Praxis auf allgemeine Billigung stößt. Der Pflichtcharakter mancher Handlungen (und Unterlassungen) scheint somit unabhängig von ihrem Gefordertsein durch eine Gesellschaft zu sein.
8.4.3 Moralische Pflichten als Forderungen Gottes Adams’ Lösung für dieses Problem besteht darin, dass er an die Stelle der Forderungen durch menschliche Individuen oder Gesellschaften Befehle Gottes setzt und die moralische Pflicht mit dem Befohlensein durch Gott identifiziert. Da Gott das transzendente Gute selbst ist, würden seine herausragenden persönlichen
147 Vgl. Adams, „Mittleres Wissen und das Problem des Übels“. 148 Adams, Finite and Infinite Goods, S. 246.
8.4 Die Theorie der Pflicht: Moralische Pflichten als Forderungen Gottes | 249
Eigenschaften uns gute Gründe geben, seine Befehle zu befolgen.¹⁴⁹ Dass Gott Adams zufolge Befehle aussprechen muss und nicht etwa – wie es andere theistische Ansätze vorsehen – der göttliche Wille als solcher bereits hinreichend ist, um eine moralische Pflicht zu konstituieren,¹⁵⁰ beruht hauptsächlich darauf, dass eine Theorie des göttlichen Willens (divine will theory) Schwierigkeiten damit hat, die Möglichkeit supererogatorischer Handlungen zu erklären. In Adams’ Theorie wird das Supererogatorische dagegen schlicht durch den Bereich der von Gott gewollten, aber nicht befohlenen Handlungen gebildet.¹⁵¹ Doch was haben wir unter einem göttlichen Befehl überhaupt zu verstehen? Adams nennt als Antwort auf diese Frage drei Bedingungen. Erstens muss der göttliche Befehl als kommunikative Handlung ein Zeichen beinhalten, das von Gott absichtlich verursacht wurde.¹⁵² Zweitens muss Gott durch dieses Zeichen einen Befehl äußern wollen, und das Befohlene muss das sein, was Gott befehlen wollte.¹⁵³ Und schließlich muss das angestrebte Publikum das Zeichen als Ausdruck des gemeinten Befehls verstehen können.¹⁵⁴ Das bedeutet jedoch nicht, dass der Befehl von den Empfängern als Befehl von Gott erkannt werden muss; es genügt, wenn die Adressaten die Autorität der Forderung anerkennen.¹⁵⁵ Nicht nur kann eine solche Theorie göttlicher Befehle (divine command theory) durch den Rekurs auf die Befehle eines transzendent guten Gottes das Problem der Objektivität in einer Weise lösen, die für eine reine Sozialforderungstheorie nicht offen steht, sondern die Theorie bewährt sich auch in der Erfüllung der in Abschnitt 8.4.1 aufgestellten Desiderata für eine metaphysische Theorie der Pflicht. Zum einen liefert die Wertschätzung der Beziehung zu Gott Gründe für die Ausführung seiner Befehle, die vor allem Gründe der Dankbarkeit sind.¹⁵⁶ Zweitens lässt sich die Schuld als Riss oder Belastung der Beziehung zu Gott als dem Guten deuten, an deren Seite eine Beschädigung der Beziehung des Schuldigen zu anderen Menschen und zu sich selbst tritt.¹⁵⁷ Auch bei Adams’ Theorie göttlicher Befehle handelt es sich um eine These über die metaphysische Verfasstheit eines bestimmten Phänomenbereichs, nicht um eine epistemologische Behauptung. Dennoch drängt sich die Frage auf, wie wir
149 Ebd., S. 253. 150 Für eine solche Position vgl. Murphy, „Divine Command, Divine Will, and Moral Obligation“. 151 Vgl. Adams, Finite and Infinite Goods, S. 260f. 152 Ebd., S. 265. 153 Ebd., S. 266. 154 Ebd., S. 266. 155 Ebd., S. 268. 156 Ebd., S. 252. 157 Ebd., S. 257.
250 | 8 Robert M. Adams: Gott als das unendlich Gute die Befehle Gottes erkennen können. Da moralische Pflichten für alle Menschen gelten, nicht nur für diejenigen, die sich einer bestimmten religiösen Tradition zugehörig fühlen, können heilige Schriften, prophetische Rede oder lehramtliche Verlautbarungen zumindest nicht der einzige „Kanal“ sein, durch den uns göttliche Befehle mitgeteilt werden.¹⁵⁸ Tatsächlich können laut Adams auch gesellschaftliche Forderungen das Vehikel sein, durch das göttliche Befehle kommuniziert werden. Dennoch bleiben menschliche Behauptungen darüber, was von Gott befohlen ist, der rationalen Kritik und Messung am Charakter eines Gottes unterworfen, der der höchste Maßstab des Guten ist.¹⁵⁹ Diese moralische Erkenntnistheorie bewährt Adams an der Frage, welche Handlungen möglicherweise von Gott befohlen sein könnten; ein Problem, das in der Tradition (von Thomas von Aquin und Raimundus Lullus über Kant bis hin zu Kierkegaard) anhand des Beispiels der Opferung Isaaks verhandelt wurde. In der biblischen Geschichte wird Abraham von Gott dazu aufgefordert, seinen Sohn zu nehmen, mit ihm in das Land Morija zu ziehen und ihn dort als Brandopfer darzubringen. Abraham gehorcht, doch kurz bevor er das Opfer vollzieht, wird er von einem Engel an der Opferung gehindert und opfert einen Widder anstatt seines Sohnes.¹⁶⁰ Das Problem, das sich aus dieser Erzählung für die Theorie göttlicher Befehle ergibt, lässt sich in Form dreier Aussagen fassen, die nicht alle gleichzeitig wahr sein können: 1. Wenn Gott befiehlt, etwas zu tun, ist es nicht moralisch falsch, es zu tun. 2. Gott befiehlt mir, meinen Sohn zu töten. 3. Es ist moralisch falsch, meinen Sohn zu töten. Adams will an (1) festhalten, was sich aus den Prämissen seiner Theorie göttlicher Befehle ergibt. Er muss daher (2) oder (3) zurückweisen. In dieser Debatte stimmt Adams im Wesentlichen der Lösung Kants zu, der gesagt hatte: „Abraham hätte auf diese vermeinte göttliche Stimme antworten müssen: Dass ich meinen guten Sohn nicht töten solle, ist ganz gewiss; dass du aber, der du mir erscheinst, Gott sei, davon bin ich nicht gewiss und kann es auch nicht werden, wenn sie auch vom (sichtbaren) Himmel herabschallte.“¹⁶¹ Aber woher wissen wir, worin wirklich Gottes Stimme zum Ausdruck kommt? Hier bietet die Konzeption von Gott als dem transzendenten Guten ein ethisches Kriterium dafür, tatsächliche Befehle Gottes von bloß vermeintlichen zu 158 Adams, Finite and Infinite Goods, S. 264. 159 Ebd., S. 264. 160 1. Mose 22, 1–14. 161 Kant, „Der Streit der Fakultäten“, S. 63 (Hervorhebungen im Original).
8.5 Probleme für Adams’ Theorie der Pflicht |
251
unterscheiden. Etwas kann nur dann als Befehl Gottes gelten, so lässt sich sagen, wenn es sich verstehen lässt als Aufforderung eines Gottes, der das transzendente Gute selbst ist. Andererseits ist laut Adams auch mit der Möglichkeit zu rechnen, dass diese Aufforderungen überraschend sein und unseren alltäglichen moralischen Intuitionen widersprechen können;¹⁶² hier mag er etwa an die Aufforderung an den reichen Jüngling denken, alles zu verkaufen, was er hat, und es den Armen zu geben,¹⁶³ auch wenn sich aus diesem individuellen Appell sicher keine generelle Pflicht ableiten lässt, das eigene materielle Wohlergehen zugunsten anderer zu opfern. Es kann daher in manchen Fällen durchaus geboten sein, das irdische Wohlergehen unserer Nächsten zu riskieren oder zu opfern.
8.5 Probleme für Adams’ Theorie der Pflicht Adams’ Argument für eine Theorie göttlicher Befehle der moralischen Pflicht hat, wie gesehen, drei Stufen. Auf der ersten wird die Phänomenologie der Pflicht in ihrem Zusammenhang insbesondere mit dem Begriff der Schuld entfaltet. Daraufhin versucht er zu zeigen, dass sich moralische Pflichten am besten als soziale Forderungen rekonstruieren lassen. Ist einmal so viel zugestanden, erscheint Gott als nicht unplausible Antwort auf die Frage, um wessen Forderungen es sich denn dabei handelt; denn tatsächliche menschliche Gesellschaften können offenbar nicht nur viele Dinge fordern, die moralisch nicht verpflichtend sind, sondern es auch unterlassen, das Richtige zu verlangen. An dieser Struktur orientieren sich auch die folgenden kritischen Überlegungen. Adams’ Phänomenologie zeichnet sich zwar im Allgemeinen durch ein hohes Maß an Sensibilität und Phänomentreue aus, erscheint jedoch in zwei Punkten als angreifbar: bei der Konzeption der Schuld als „objektiver moralischer Zustand“ sowie bei dem Verhältnis von Pflichten und Gründen, unglücklicherweise just die Charakteristika, die Adams zufolge eine Sozialforderungstheorie nahelegen. Doch selbst wenn man diese beiden Einwände ablehnt und Adams in der Auffassung folgt, dass die Phänomenologie am besten durch eine Theorie der Pflicht als Forderungen in oder aus Beziehungen erklärt wird, kann man Zweifel daran hegen, dass es sich dabei tatsächlich um Forderungen oder Befehle Gottes handelt. Warum sollte ein liebender Gott überhaupt Befehle erteilen, und welche Gründe hat er, diejenigen Befehle zu geben, die er gibt? Woher wissen wir, welche Befehle Gott gegeben hat? Was unterscheidet moralische von religiösen Pflichten,
162 Adams, Finite and Infinite Goods, S. 285. 163 Mk 10, 17–27.
252 | 8 Robert M. Adams: Gott als das unendlich Gute und wie kann eine Theorie göttlicher Befehle mit der Beobachtung umgehen, dass unsere Pflichten anscheinend primär Pflichten gegenüber anderen konkreten Wesen – v. a. Menschen, möglicherweise aber auch Tiere – sind, nicht gegenüber Gott? Diese Fragen werden in einem zweiten Teil dieses Abschnitts behandelt.
8.5.1 Kritik an der Phänomenologie Der erste Kritikpunkt betrifft die Konzeption der Schuld als „objektiver moralischer Zustand“ der Entfremdung von jemandem, der an uns zurecht bestimmte Erwartungen richten durfte. Es scheint nämlich, als ließen sich alle diesbezüglichen Phänomene vollkommen zufriedenstellend über die Begriffe der Pflicht und des Rechts analysieren. Wenn sich x gegenüber y verschuldet hat, dann hat er etwas getan, was y das Recht gibt, ihm Vorwürfe zu machen oder sich von ihm abzuwenden; x hat dann die Pflicht, um Entschuldigung zu bitten, vielleicht auch aktiv zur Wiedergutmachung, soweit möglich, beizutragen, seine Schuld zu bekennen, glaubhaft zu machen, dass sich das Fehlverhalten nicht wiederholen wird usw. Vergebung besteht nach diesem Bild darin, dass sich y durch einen eigenen Akt des Rechtes begibt, x zu zürnen und mit den Sanktionen der Entfremdung zu belegen. Hat er einmal der Versöhnung zugestimmt, macht er selbst einen (vorwerfbaren) Fehler, wenn er sich dennoch nachtragend verhält. Anders ausgedrückt, ist der „objektive moralische Zustand“ nichts anderes als ein Zustand zweiter Stufe: der Zustand, dass ein solches Konglomerat von Rechtfertigungspflichten und Forderungsrechten vorliegt. Diese Auffassung des Verhältnisses von Schuld und Rechten könnte man als einen Buck-passing account der Schuld bezeichnen: Der „objektive moralische Zustand“ der Schuld reicht lediglich die Begründung von den Pflichten und Rechten weiter an das, was diese Pflichten und Rechte eigentlich begründet, nämlich das ursprüngliche Fehlverhalten. Wenn man diese alternative Auffassung für plausibel hält, dann lässt sich zumindest der Begriff der Pflicht nicht mehr über den der Schuld explizieren, weil dieser seinerseits von der Pflicht abhängt.¹⁶⁴ Es ist allerdings nicht eindeutig klar, ob diese Alternative Adams’ Konzeption der Schuld als Belastung einer interpersonalen Beziehung wirklich untergräbt. Zweitens erscheint die Art und Weise, wie Adams die normative (und motivationale) Kraft moralischer Pflichten erklären will, problematisch. Es ist sehr plausibel zu sagen, dass das Vorliegen einer (moralischen) Pflicht das Bestehen eines Handlungsgrundes anzeigt; wer einräumt, dass eine bestimmte Handlung 164 Ich danke Lukas Naegeli für den Hinweis auf diese Möglichkeit, das Verhältnis von Pflicht und Schuld zu deuten.
8.5 Probleme für Adams’ Theorie der Pflicht |
253
seine Pflicht ist, scheint ipso facto auch anzuerkennen, dass er einen Grund hat, entsprechend zu handeln. Adams formuliert dies so, dass Pflichten etwas sind, was einen (normativen) Handlungsgrund darstellt und uns zum Handeln motivieren können muss.¹⁶⁵ Das bedeutet jedoch nicht, dass dieser Grund im obligatorischen Charakter der Handlung selbst zu suchen ist. Vielmehr ist die zugrundeliegende Tatsache, die eine Handlung zur Pflicht macht, selbst in der Regel auch der Grund, weshalb wir sie tun sollten. Wenn ich beispielsweise etwas versprochen habe, so habe ich damit die Verpflichtung begründet, so zu handeln; und auf die Frage, warum ich diese Handlung ausführen sollte, lautet die Antwort, dass ich es versprochen habe. Wenn das richtig ist, dann wird fraglich, inwiefern Adams’ Ansatz das Vorliegen von Gründen für obligatorische Handlungen wirklich erklären kann. In seiner Theorie besteht das metaphysische Wesen der Pflicht im Gebotensein durch Gott. Adams möchte nun die normative Kraft der Pflicht dadurch erklären, dass er auf die Arten von Gründen verweist, die für die Ausführung eines Befehls sprechen können, beispielsweise das Gutsein des Befehlenden oder die Wertschätzung für ihn oder für die Beziehung. Doch für wie plausibel man auch immer diese Gründe für das Befolgen von Befehlen halten mag (gibt uns das Gutsein des Befehlenden wirklich mehr als einen epistemischen Grund, seinem Befehl zu gehorchen?): Es scheint, dass diese vermeintlich „erklärenden“ Gründe uns allenfalls weitere Gründe liefern, in der pflichtgemäßen Weise zu handeln, aber nicht dazu helfen, die Normativität der Pflichten zu rekonstruieren. Das zeigt sich daran, dass die genannten Gründe, etwa der der „Wertschätzung der Beziehung“, eher expressiven Charakter haben und damit wenig geeignet sind, den streng deontischen Charakter der Pflichten abzubilden. Insgesamt betrachtet handelt es sich daher eher um eine Reduplikation der normativen Struktur und nicht um eine Erklärung auf einer tieferen Ebene (wie es bei der Erklärung des Verhaltens von Wasser durch seine Molekülstruktur der Fall ist).
8.5.2 Spezifische Probleme einer theistischen Metaphysik der Pflicht Unabhängig von allgemeinen Fragen der besten Charakterisierung der Phänomenologie der Pflicht stellen sich für eine Theorie göttlicher Befehle verschiedene Probleme, die sich für andere Theorien (auch andere Formen von Forderungstheorien) nicht stellen. Drei solcher spezifischer Probleme werden im Folgenden näher betrachtet.
165 Adams, Finite and Infinite Goods, S. 235.
254 | 8 Robert M. Adams: Gott als das unendlich Gute Einem ersten, kleineren Problem kann Adams durch eine geringfügige Ergänzung seiner Theorie relativ einfach begegnen. Seine Lösung für das AbrahamDilemma bestand, wie wir gesehen haben, darin, zu bestreiten, dass Gott Abraham den Befehl zur Opferung Isaaks tatsächlich gegeben hat (vgl. oben S. 250). Wenn man diese Strategie jedoch auf alle Fälle ausweitet und behauptet, dass Gott unter keinen Umständen eine so furchtbare Tat wie diese wirklich befehlen kann, schließt man eine Möglichkeit aus, die in verschiedenen religiösen Traditionen zumindest erwogen wird: die Möglichkeit, dass Gott einen moralisch zweifelhaften Befehl erteilt, um einen Menschen in Versuchung zu führen und so seine Gesinnung zu prüfen. Auch die Opferung Isaaks kann man in dieser Weise als Parabel gegen den blinden Gehorsam lesen, auch wenn dies vermutlich den Intentionen des biblischen Erzählers widerspricht: Gott befiehlt Abraham, seinen Sohn zu opfern, um herauszufinden, ob er sich empören würde gegen einen so grausamen Befehl, ob er ihm widersteht, oder ob er seinem Gott zutraut, ein sinnloses Menschenopfer zu verlangen. Wenn Gott eine Handlung ohne jeden tatsächlichen oder symbolischen Wert gar nicht befehlen kann, dann ist es ihm auch unmöglich, den Charakter eines Menschen auf diese Weise auf die Probe zu stellen. Dieses Problem kann Adams umgehen, indem er die moralische Pflicht als das betrachtet, was Gott befiehlt und von dem er auch will, dass es geschieht. Adams scheint fälschlich anzunehmen, dass Gott, wenn er etwas befiehlt, notwendigerweise auch will, dass es geschieht. Im Falle der Versuchung tritt beides aber auseinander, und um auszuschließen, dass dann das, was nur der Probe halber befohlen wurde, zur moralischen Pflicht wird, ist es notwendig, die Willensbedingung ausdrücklich einzuführen. Da es sich dabei aber um eine ermöglichende Bedingung dafür handelt, dass das Befohlene auch tatsächlich zur moralischen Pflicht wird, handelt es sich lediglich um eine Modifikation der Theorie. Alternativ könnte man den Begriff des Befehls so eng fassen, dass nur dann ein genuiner Befehl vorliegt, wenn das Befohlene auch das ist, was nach dem Willen des Befehlsgebers geschehen soll.¹⁶⁶ Für welche dieser Möglichkeiten man sich entscheidet, dürfte nicht sehr wichtig sein; immerhin scheint es näher an unserer Sprachpraxis zu sein, die Möglichkeit eines Befehls zum Zweck der Versuchung nicht aus begrifflichen Gründen auszuschließen. Ich werde daher im Folgenden davon ausgehen, dass eine Handlung dann moralisch geboten wird, wenn Gott sie befiehlt und auch will, dass sie ausgeführt wird. Folgendes weiteres Problem für eine divine command theory wird von Linda Zagzebski aufgeworfen: Warum sollte ein liebender Gott überhaupt irgendwelche Befehle erteilen? Prima facie, so Zagzebski, scheint das Erteilen von Befehlen
166 Dank für den Hinweis auf diese Möglichkeit an Sebastian Muders.
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nicht besonders liebevoll zu sein¹⁶⁷ und bedarf eines Grundes, etwa wenn Eltern von ihren Kindern mit Verweis auf deren Gesundheit fordern, nicht unbedacht auf die Straße zu laufen. Lediglich ein „moralischer Grund“, so Zagzebski weiter, könne aber „in Stärke und Art hinreichend“ sein, um das Erteilen von Befehlen zu rechtfertigen, wobei sie unter „moralischen Gründen“ offenbar jeden evaluativen Gesichtspunkt versteht. Wenn es aber das Gute in irgendeiner seiner Formen ist, das den Grund für die Forderung darstellt, dann sei unklar, worin die „metaphysische Quelle“ des moralischen Aspekts der Pflicht über das Gute hinaus bestehe.¹⁶⁸ Diese Frage lässt sich wiederum in zwei Weisen verstehen. Zum einen: Wie ergibt sich die moralische Pflicht aus dem Guten plus seiner Forderung durch Gott? Diese Frage betrifft die Metaphysik der Pflicht, und Adams kann darauf im Einklang mit seiner Grundposition klar antworten, dass die moralische Pflicht eben nichts anderes sei als das Befohlensein durch Gott. Die zweite und kritischere Frage ist, warum Gott überhaupt Befehle erteilen sollte. Befehle seien „grobe Akte“ und bedürften der Begründung. Die einzige Möglichkeit, die Zagzebski dafür ins Auge fasst – über das Gutsein der Handlung selbst hinaus – ist die Motivierung der Handelnden. Obwohl es zunächst unplausibel erscheinen mag, dass von einem Befehl stärkere motivationale Kraft ausgehen soll als von einer Bitte, kann man darauf verweisen, dass ein Befehl zumindest ein Gefühl der unmittelbaren Dringlichkeit vermittelt. Aber wenn diese stärkere Motivationskraft tatsächlich der einzige Grund sei, dann, so Zagzebski, müsse es sich nicht um einen echten Befehl handeln, ein fiktiver sei ausreichend.¹⁶⁹ Adams hält dagegen „die Möglichkeit, Forderungen zu stellen […] für wesentlich für Beziehungen der wechselseitigen Liebe“.¹⁷⁰ Er erläutert dies anhand der Ehe, wo mit dem Versprechen implizit gleichzeitig auch Forderungen gestellt werden, die häufig erst in krisenhaften Phasen an die Oberfläche gelangen. Solche Anforderungen müssen im Allgemeinen nicht unwillkommen sein, da sie einen wichtigen Teil der Verantwortung ausmachen, die eine wichtige Rolle im Leben vieler Menschen spielt. Allerdings ist festzuhalten, dass zumindest im Leben erwachsener Menschen das explizite Einfordern auch von implizit selbst übernommenen Pflichten üblicherweise Zeichen einer krisenhaften Verfassung der Beziehung oder des gemeinsamen Projekts ist. Mehr noch, sämtliche Beispiele Adams’ speisen sich aus freiwillig eingegangenen Beziehungen, wo die Äußerung der Aufforderung meist keine neuen Pflichten erzeugt, sondern lediglich der Erinnerung an bereits eingegangene Ver167 168 169 170
Zagzebski, „Obligation, Good Motives, and the Good“, S. 454. Ebd., S. 455. Ebd., S. 456. Adams, „Responses“, S. 481.
256 | 8 Robert M. Adams: Gott als das unendlich Gute pflichtungen dient – ein schlechtes Modell für die Erschaffung von Pflichten durch Befehle Gottes. Auch wo neue Pflichten erzeugt werden, beziehen sie sich aber in der Regel zumindest indirekt auf das Wohl von einem der beiden Partner, ihrer gemeinsamen Beziehung oder eines Dritten. Wenn dem so ist, kann man vielleicht festhalten, dass der Witz, die Pointe des Erteilens von Befehlen die Sicherung des Wohls von einer oder mehreren Personen ist. Als ein relativ grobes, harsches Mittel, das mit einiger Wahrscheinlichkeit einen gewissen Widerstand erzeugt, wird man es aber nur dann einsetzen, wenn andere Mittel nicht (mehr) erfolgversprechend oder zu langwierig sind. Eine dritte Schwierigkeit, auf die Susan Wolf hingewiesen hat, nimmt ihren Ausgang von der Unterscheidung zwischen eigentlich moralischen und religiösrituellen Pflichten, etwa den Geboten, den Feiertag zu heiligen, sich bestimmter Speisen zu enthalten oder den Kopf zu bedecken. Der Unterschied besteht offenbar darin, dass wir moralische Pflichten „direkt anderen Personen zu schulden scheinen, unabhängig von Gottes Zustimmung (endorsement)“, wie Wolf schreibt.¹⁷¹ Wenn dem so ist, so die unausgesprochene Prämisse, dann sind göttliche Befehle für die Erklärung moralischer Pflichten irrelevant. Der Bereich der moralischen Pflicht lasse sich daher mit Scanlon besser als das verstehen, „was wir einander schuldig sind“.¹⁷² Adams antwortet darauf zunächst mit dem Verweis, dass nichts dagegen spricht, dass wir bestimmte Handlungen sowohl („direkt“) unseren Mitmenschen als auch Gott schulden,¹⁷³ so wie es auch in vielen Strafrechtsfällen plausibel sei zu sagen, dass ein bestimmtes Verhalten auch der staatlichen Gemeinschaft geschuldet sei. Er weist jedoch Wolfs Annahme zurück, dass die Verpflichtung gegenüber anderen Menschen „unabhängig von der Beziehung zu einem transzendenten Guten“ und somit auch unabhängig von göttlichen Befehlen bestehe. Der Grund dafür liegt darin, dass wir anderen Menschen nicht nur und nicht immer das schulden, was sie tatsächlich von uns fordern, sondern das, was sie zurecht von uns verlangen können. Dies aber wird durch die Befehle Gottes bestimmt.¹⁷⁴ Wie kann man dann innerhalb dessen, was von Gott befohlen wurde, unterscheiden zwischen dem, was Gott geschuldet ist, und dem, was ihm und anderen Menschen geschuldet ist? Adams gibt hierfür eine Reihe von Prinzipien an. Zunächst sei das, was wir einander moralisch schuldig sind, ein Teil dessen, was durch Gottes Befehle von uns verlangt wird. Weiterhin fallen solche Befehle inhaltlich in die Sphäre einer allgemeineren Pflicht, die Interessen, Ansprüche und 171 172 173 174
Wolf, „A World of Goods“, S. 473. Ebd., S. 474. Adams, „Responses“, S. 488. Ebd., S. 488.
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den moralischen Status anderer Menschen in unserem praktischen Überlegen zu berücksichtigen. Häufig, aber nicht immer, sei es bei Pflichten, die wir anderen Menschen schulden, zudem möglich, einen anderen von einer Pflicht zu entbinden, die dieser uns gegenüber hat. Viertens gehöre es zur Grammatik des Schuldens, dass derjenige, dem gegenüber eine Pflicht verletzt wurde, ein Recht auf bestimmte Gefühle des Ärgers und der Wut hat, aber auch auf eine Entschuldigung oder eine substantiellere Kompensation; je nachdem, ob etwas nur Gott oder auch anderen Menschen geschuldet ist, haben auch diese derartige Reaktions- und Entschädigungsrechte. Schließlich sei festzuhalten, wie bereits Scanlon dies tut,¹⁷⁵ dass der Bereich dessen, was wir einander schuldig sind, das Feld der Moral nicht erschöpft: nicht nur deshalb, weil es den ganzen Bereich des Evaluativen gibt, sondern schon weil es Pflichten gibt, die wir niemand anderem schulden, „Pflichten der Ehre und Integrität, der Wohltätigkeit und Barmherzigkeit“.¹⁷⁶ Die letzten drei dieser fünf Punkte – die Möglichkeit der Pflichtentbindung, das Recht auf Entschuldigung und die Existenz anderer Arten von Pflichten – benennen wichtige und weitgehend unstrittige Aspekte der Phänomenologie des Bereichs moralischer Pflichten, vermögen aber gerade deshalb nicht zu erhellen, weshalb Gottes Zustimmung wichtig ist. Denn das eigentliche Problem liegt ja nicht darin, dass eine Handlung mehreren Personen oder Gruppen geschuldet sein kann, sondern in der Frage, wie Gottes Befehle zur Erklärung von Pflichten gegenüber anderen Menschen beitragen; wie sie, anders formuliert, nicht nur eine Pflicht dazu erzeugen können, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten, sondern anderen Menschen das Recht zu einem solchen Verhalten geben können. Die allgemeine Pflicht, die Interessen anderer Menschen zu berücksichtigen, ist sicher noch nicht hinreichend, um ein Verhalten zu einer Schuld einzelnen anderen Menschen gegenüber zu machen, so wenig wie die Pflicht, geliehenes fremdes Eigentum sorgsam zu behandeln, eine Pflicht den Dingen gegenüber ist. Dies legt eine Unterscheidung nahe, die von Adams in dieser Form nicht getroffen wird: die zwischen dem Objekt der Pflicht oder des pflichtgemäßen Handelns (diejenige Sache oder Person, an der sich dieses Handeln vollzieht) und ihrem Gegenüber, d. h. der Person, der dieses Verhalten geschuldet wird, die ein Recht darauf hat und die dementsprechend eine zumindest symbolische Entschädigung verlangen kann, wenn es nicht ausgeführt wird. Es scheint nun jedoch einleuchtend, dass Personen in vielen Fällen nicht nur das Objekt, sondern auch das Gegenüber von Pflichten sind. Unterlassen wir es etwa, dem Opfer einer Straftat oder eines Verkehrsunfalls zur Hilfe zu eilen, dann verletzen wir nicht nur eine Pflicht
175 Scanlon, What We Owe to Each Other, S. 171–177. 176 Adams, „Responses“, S. 488.
258 | 8 Robert M. Adams: Gott als das unendlich Gute an einer Person, sondern auch gegenüber dieser Person, was sich daran zeigt, dass sie uns später berechtigt Vorwürfe machen kann. Zwar können dies auch unbeteiligte Dritte; aber nicht, weil ihnen gegenüber eine Pflicht verletzt worden wäre, sondern gewissermaßen in Übernahme der Perspektive des Opfers. Susan Wolfs Frage lässt sich demzufolge dahingehend präzisieren, dass nicht klar ist, wie Adams’ Theorie der Tatsache Rechnung tragen kann, dass andere Menschen nicht nur Objekte, sondern auch Gegenüber der Pflicht sind. Es gelingt ihr zwar, verständlich zu machen, wie ein Verhalten, das sonst lediglich empfehlenswert gewesen wäre, durch einen göttlichen Befehl zu einer Pflicht gemacht werden kann; aber immer bleibt hier der Befehlsgeber das Gegenüber der Pflicht, so wie beim Versprechen derjenige, dem etwas versprochen wird. Doch sind moralische Pflichten eben vielfach auch direkt anderen Menschen geschuldet, so dass diese anderen ein Recht auf die entsprechenden Handlungen (oder Unterlassungen) haben. An die Seite einer Theorie der Pflicht muss daher eine Theorie der individuellen Rechte treten. Es ist nicht damit getan, dass Gott ein bestimmtes Verhalten befiehlt – er muss es auch in einer Weise tun, die die Rechte menschlicher Subjekte erklärt. Adams bietet selbst keine systematische Theorie moralischer Rechte an. In Übereinstimmung mit seiner Grundidee könnte man zusätzlich zu den göttlichen Befehlen (die ein Verhalten verpflichtend machen) eine Art Rechte-verleihenden Akt vonseiten Gottes postulieren, wie etwa in der Sphäre des Rechts einer bestimmten Institution durch eine höhere Instanz gewisse Privilegien verliehen werden können. Abgesehen von der Schwierigkeit, derartige Akte zu fassen und aufzuweisen, scheint es schwer vorstellbar, wie durch einen individuellen Akt ein individueller Anspruch einer anderen Person gegenüber einer dritten entstehen soll, es sei denn durch die freiwillige Übertragung von Rechten. In solchen Fällen handelt es sich jedoch nicht um die Schaffung neuer Rechte, sondern lediglich um die Übertragung schon bestehender. Für eine systematische Theorie individueller Rechte ist damit wenig gewonnen. Aussichtsreicher scheint es daher, das Recht eines individuellen Subjekts über seine Fähigkeit zu erklären, selbst durch Forderungen Pflichten zu kreieren. Diese Fähigkeit wäre dann nicht als durch einen göttlichen Akt konstituiert zu konzeptualisieren, sondern als Ausdruck und Teil der Gottähnlichkeit, in der Adams zufolge ja auch die „sekundäre Heiligkeit“ des Menschen besteht. Demnach hat eine (menschliche) Person dann ein Recht auf ein bestimmtes Verhalten vonseiten einer anderen, wenn sie eine legitime Forderung auf ein solches Verhalten erhebt, wobei eine Forderung dann als legitim zu betrachten ist, wenn sie gleichzeitig auch von Gott erhoben wird. Auf diese Weise könnte es gelingen, die Vorzüge der (säkularen) Sozialforderungstheorie mit denen der theistischen Konzeption zu
8.6 Zusammenfassung | 259
vereinbaren. Von Adams selbst wird diese Erklärung individueller Rechte jedoch nicht erwogen.¹⁷⁷
8.6 Zusammenfassung Insgesamt zeigt sich, dass Adams’ theistische Variante des Platonismus gegenüber der nicht-theistischen Position Iris Murdochs den Vorzug einer schlüssigen, die normativen Dimensionen des „Guten“ und des „Richtigen“ übergreifenden Gesamtkonzeption besitzt. Trotz ihrer Vereinheitlichungskraft ist sie jedoch mit Problemen behaftet, die ihre Überzeugungskraft insgesamt schmälern. Innerhalb der Theorie des Guten wirft vor allem die Identifikation der Vortrefflichkeit mit der Ähnlichkeit mit Gott als dem transzendenten Guten Fragen auf, die von Adams nur ansatzweise behandelt werden. Damit die Bestimmung der Vortrefflichkeit als Gottähnlichkeit informativ ist, darf Gott nicht in demselben Sinne gut sein wie vortreffliche endliche Objekte, sondern muss darüber hinausgehen; dabei muss jedoch ein hinreichender Zusammenhang gewahrt bleiben, damit die Bestimmung ausreichende Plausibilität besitzt. Diesen Zusammenhang versucht Adams über die Beziehung der Ähnlichkeit herzustellen, wobei er gleichzeitig einräumt, dass es sich um eine eigentümliche Art von Ähnlichkeit handelt, die mit einer gewissen Asymmetrie einhergeht. Die spezifische Art des „transzendenten“ Gutseins und die spezifische Form von „Ähnlichkeit“ erhellen sich darum letztlich nicht wechselseitig, sondern bleiben gemeinsam im Dunkeln. Unklar bleibt auch, wie man die vielen verschiedenen Vortrefflichkeiten durch den gemeinsamen Ähnlichkeitsbezug auf Gott erklären soll, wenn man nicht das göttliche Gutsein selbst pluralisiert; und wie sich sehr konkrete Vortrefflichkeiten wie ein hervorragendes Essen als Gottähnlichkeit fassen lassen, ohne die Ähnlichkeit zu stark zu abstrahieren. Entscheidet man sich jedoch, wie Adams das tut, für diese beiden Auswege, dann droht die Theorie der Vortrefflichkeit als Gottähnlichkeit an Erklärungswert zu verlieren. Während Adams’ Deutung des Bösen als einer Verletzung der Heiligkeit der menschlichen Person, die als eine „sekundäre Heiligkeit“ ein Resultat der für die menschliche Spezies charakteristischen Gottähnlichkeit sei, vor dem Hintergrund theistischer Annahmen eine gewisse Plausibilität besitzt, sieht sich Adams’ Theorie der Pflicht gewichtigen Einwänden ausgesetzt. Diese beziehen sich zum Teil auf fragwürdige Aspekte seiner Phänomenologie der Pflicht, insbesondere seine Konzeption der Schuld als eines „objektiven moralischen Zustands“ sowie die
177 Dank an Sebastian Muders für den Hinweis auf diese Möglichkeit.
260 | 8 Robert M. Adams: Gott als das unendlich Gute Problematik einer Erklärung der normativen Kraft moralischer Pflichten durch Gründe, die aus der Wertschätzung für eine Beziehung resultieren. Selbst wenn man jedoch diese Merkmale als zur Phänomenologie gehörig akzeptiert, bleibt in einer Theorie, die moralische Pflichten mit göttlichen Befehlen gleichsetzt, offen, wie der Umstand zu erklären ist, dass eine Reihe von Handlungen auch und in erster Linie anderen Menschen geschuldet sind. Die durch die Zurückführung der moralischen Pflicht auf die Befehle eines wesenhaft guten Gottes erreichte Vereinheitlichungsleistung wird daher durch die genannten Unklarheiten sowohl in der Theorie des Guten als auch in der Theorie der Pflicht konterkariert.
9 Schlussbetrachtung Gegenstand dieser Untersuchung war der metanormative Platonismus als systematische Theorie der Vortrefflichkeit. Mit „Vortrefflichkeit“ ist, wie in Kap. 1 ausgeführt wurde, der herausragende, überwältigend gute Charakter bestimmter Personen, menschlicher Werke und Gegenstände der Naturerfahrung gemeint, der über die Erfüllung jeder vorgegebenen Funktion weit hinausweist und beim Betrachter gleichsam magnetisch eine Reaktion der liebenden Bewunderung auszulösen vermag. Beispielhaft für die Vortrefflichkeit können etwa das Straßburger Münster, die Erhabenheit einer unberührten Landschaft, aber auch der freiwillige Opfertod des Maximilian Kolbe im Konzentrationslager Auschwitz stehen. Obwohl diese Dinge alle in ihrer je eigenen und unverwechselbaren Art vortrefflich sind, verbindet sie doch ein gemeinsamer Zug, der sie als in sich wertvoll erscheinen lässt. Ziel dieser Arbeit war es, den metanormativen Platonismus auf seine Überzeugungskraft als systematische Theorie der Vortrefflichkeit zu prüfen. Dies setzte neben einer Bestimmung der definierenden Thesen des Platonismus eine Verständigung darüber voraus, was von einer solchen Theorie überhaupt geleistet werden soll. Auf dieser Grundlage konnte dann gefragt werden, wie gut es dem Platonismus durch seine notwendigen und hinreichenden Merkmale gelingt, den herausgearbeiteten Explananda einer Theorie der Vortrefflichkeit gerecht zu werden. Da sich nicht alle erklärungsbedürftigen Charakteristika auf der Ebene der allgemeinen Struktur befriedigend erhellen ließen, wurden schließlich verschiedene Unterformen des Platonismus kategorisiert und untersucht. In diesem abschließenden Kapitel werden nun zunächst die Ergebnisse dieser Arbeit zusammenfassend präsentiert, bevor ich die im Vergleich überzeugendste Variante des Platonismus auszeichne und auf weiteren Forschungsbedarf hinweise. Der Platonismus lässt sich durch drei Thesen definieren (vgl. Kap. 5). Erstens handelt es sich um eine realistische Theorie: Wenn wir einen Menschen, ein Werk oder eine Handlung zurecht als gut im Sinne der Vortrefflichkeit bezeichnen, dann ist dem metanormativen Platonismus zufolge ein solches Urteil deshalb wahr, weil dem bezeichneten Gegenstand ein entsprechendes Merkmal von sich her und unabhängig von menschlichen Meinungen, Wünschen und Vorstellungen tatsächlich zukommt. Durch den Realismus als sein genus proximum unterscheidet sich der Platonismus zum einen von allen Positionen, die bestreiten, dass Urteile über das Gute überhaupt jemals wahr sein können (sowohl Nonkognitivismus als auch Irrtumstheorie). Als realistische Theorie ist der Platonismus zum anderen aber auch von all solchen Theorien verschieden, die zwar bereit sind, manchen normativen Urteilen das Etikett „wahr“ zuzuerkennen, aber gleichzeitig den Begriff der Wahrheit im Bereich der Normativität anders verstehen wollen als beispielsweise https://doi.org/10.1515/9783110623871-009
262 | Schlussbetrachtung in der Wissenschaft – weil etwa die Wahrheit normativer Urteile keine Implikationen über die Existenz von Entitäten „in der Welt“ mit sich bringe (Objektivismus). Demgegenüber beharrt der Platonismus mit anderen Formen des Realismus auf der Wahrheit normativer Urteile in einem ganz elementaren, korrespondenztheoretischen Sinne und auf der Existenz einer eigenständigen normativen Dimension der Realität. Nicht jeder Realismus ist jedoch ein Platonismus, zumindest nicht in dem hier gebrauchten Sinne. Denn für viele andere realistische Theorien, sowohl naturalistische als auch nicht-naturalistische, referiert der Ausdruck „gut“ im Sinne von „vortrefflich“ auf eine einfache, dem vortrefflichen Gegenstand intrinsische Eigenschaft; das Paradebeispiel dafür ist die Theorie G. E. Moores, für den gut eine „einfache und undefinierbare Qualität“ ist.¹ Für den metanormativen Platonismus, wie er hier verstanden worden ist, ist es hingegen charakteristisch, das realistisch verstandene Merkmal der Vortrefflichkeit als (zweistellige) Relation zu deuten. Wenn ein Satz der Form „x ist vortrefflich“ wahr ist, dann deshalb, weil x in einer bestimmten Beziehung zu einem anderen Objekt steht. Dies ist die zweite These des Platonismus. Die dritte für den Platonismus konstitutive These beantwortet die Frage, zu welchem Objekt x in welcher Beziehung stehen muss, um als vortrefflich zu gelten. Dem Platonismus zufolge ist ein konkreter Gegenstand wie eine Person, ein Werk oder eine Handlung genau dann vortrefflich ist, wenn er in einer Beziehung der Übereinstimmung oder Entsprechung mit einem Ideal steht. Ideale wurden dabei als ideale abstrakte Objekte interpretiert. Unter einem abstrakten Objekt ist dabei eine Entität zu verstehen, mit der kein anderes Objekt sämtliche intrinsischen Eigenschaften teilen könnte, ohne mit ihm auch numerisch identisch zu sein; ideal sind solche Objekte, wenn sie aufgrund ihrer Natur das Seinsollen für einen bestimmten Bereich konkreter Gegenstände festlegen (Paradigmatizität). Die Entsprechungsbeziehung, die zwischen dem vortrefflichen Objekt und dem abstrakten Ideal besteht, ist asymmetrisch, graduell und irreflexiv. Als ein erstes Resultat der vorliegenden Arbeit kann somit die systematische Beschreibung und Einordnung des Platonismus als eines Typus metanormativer Theorie festgehalten werden, der nicht nur eine entlegene theoretische Möglichkeit darstellt, sondern gewissermaßen eine natürliche Art im Theorienspektrum bildet. Zudem dürfte er auch philosophiehistorisch bedeutsam gewesen sein. Sollte die Interpretation der Ideen als paradigmatische Individuen (und nicht als allgemeine Eigenschaften) zutreffen, kann Platon als sein erster und wirkmächtigster Vertreter gelten: Konkrete Entitäten sind demnach dadurch vortrefflich (etwa schön oder
1 Moore, Principia Ethica, § 10 (S. 62).
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gerecht), dass sie in einer Beziehung der „Teilhabe“ oder der „Nachahmung“ zu den Ideen stehen, die als abstrakte ideale Objekte das Seinsollen für die an ihnen teilhabenden Konkreta bestimmen (vgl. Kap. 4). Der metanormative Platonismus kann zudem mit hoher Plausibilität als adäquate Rekonstruktion der normativitätstheoretischen Position des antiken Mittelund Neuplatonismus gelten. Dafür kann nicht nur die bekannte Telosformel von der „Angleichung an Gott“ (ὁμοίωσις θεῷ) als Ziel des menschlichen Lebens als Indiz dienen. Auch das folgende Zitat aus dem Didaskalikos des Alkinoos lässt sich am natürlichsten so deuten, dass die Vortrefflichkeit konkreter Gegenstände in einer Relation zu einem abstrakten Ideal besteht: „[Platon] nahm an, alles das, was auf irgendeine Weise bei den Menschen als gut gilt, erhalte diese Benennung dadurch, dass es auf irgendeine Weise an jenem ersten und ehrwürdigsten Guten teilhat.“² Dass Plotin als historisch wohl bedeutendster Neuplatoniker ebenfalls einen metanormativen Platonismus im angegebenen Sinne vertritt, wurde in Kap. 6 dargelegt. Auch verschiedene Philosophen des Mittelalters teilen anscheinend die genannten drei definierenden Thesen und können daher als Platonisten im Sinne der systematischen Theorie der Vortrefflichkeit interpretiert werden. Thomas von Aquin beispielsweise führt in der Summa contra Gentiles aus, dass Gott das „Gutsein selbst“ ist, das durch sein Wesen gut ist.³ Alles andere dagegen wird nur „durch Teilhabe“ (participative) gut genannt; was aber „durch Teilhabe so oder so beschaffen genannt wird, das wird nur insoweit so genannt, als es eine gewisse Ähnlichkeit mit dem hat, was auf Grund seines Wesens so genannt wird“.⁴ Daraus folgert Thomas, dass das Gutsein der Geschöpfe in einer Art Ähnlichkeit mit dem Gutsein Gottes besteht, wobei Gott und die Geschöpfe nicht in demselben Sinne – aber auch nicht nur homonym – „gut“ genannt werden.⁵ Dies zeigt, dass auch für Thomas das Gutsein vortrefflicher konkreter Objekte offenbar eine Beziehung zu einem abstrakten Ideal ist. In dieser Weise könnte sich die systematische Formulierung des metanormativen Platonismus als fruchtbar für die Rekonstruktion der normativitätstheoretischen Position historischer Autoren erweisen. Wie steht es nun aber jenseits der philosophiehistorischen Dimension mit der systematischen Überzeugungskraft des metanormativen Platonismus als einer Theorie der Vortrefflichkeit, und woran bemisst sich ihr Erklärungserfolg? In Kap. 2 wurde herausgearbeitet, dass die Theoriebildung im Bereich der Normativitätstheorie analog zum Schluss auf die beste Erklärung in den Naturwissenschaften 2 3 4 5
Alkinoos, Didaskalikos, cap. XXVII. Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles, cap. XXXVIII. Ebd., cap. XL. Ebd., cap. XXXIV.
264 | Schlussbetrachtung aufgefasst werden kann: In beiden Fällen geht es darum, welche Theorie mit den ihr eigenen Mitteln einen gegebenen Phänomenbereich am besten erklärt. Theorien der Normativität erklären jedoch insofern auf andere Weise als naturwissenschaftliche Theorien, als es ihnen nicht um das Aufweisen kausaler Zusammenhänge geht, sondern um die Erhellung der betrachteten Phänomene über ihren systematischen Ort in der Wirklichkeit. Vorzuziehen ist diesem Modell zufolge jene Theorie, der dies gegenüber konkurrierenden Ansätzen am besten gelingt. Der Erklärungserfolg bemisst sich dabei anhand einer Reihe sog. explanatorischer Tugenden, zu denen etwa neben der vereinheitlichenden Kraft und der Einfachheit einer Theorie auch ihre Passung zu Hintergrundüberzeugungen zu zählen sind, die im Falle von Normativitätstheorien auch selbst normativer Natur sein können. Diese Übertragung und Reformulierung des Modells vom Schluss auf die beste Erklärung für das Feld der Normativitätstheorie stellt einen zweiten Ertrag dieser Arbeit dar. Der erste Schritt für eine systematische Untersuchung des Platonismus ist diesem Modell zufolge die möglichst genaue Beschreibung des zu erklärenden Phänomenfeldes von Normativitätstheorien im Allgemeinen und Theorien der Vortrefflichkeit im Besonderen. Gegenstand und Explanandum von Normativitätstheorien, so habe ich argumentiert, sind die logischen und semantischen Regeln, die unabhängig von der vertretenen normativen Theorie für den Gebrauch solcher Ausdrücke wie „gut“, „Pflicht“ oder „Würde“ gelten. Diese Regeln legen fest, wie diese Ausdrücke sinnvoll mit anderen Sprachhandlungen und nichtsprachlichen Akten verbunden werden können, so dass ihre Missachtung die Kommunikation ins Leere laufen oder zusammenbrechen lässt. Entsprechend sollten die konstitutiven Regeln bei allem Dissens über ihre korrekte Erklärung bei den Vertretern verschiedenster Positionen auf ein relativ hohes Maß an Zustimmung stoßen. Anhand der Geschichte der Metaethik im 20. Jahrhundert ließ sich in Kap. 3 eine Reihe solcher Regeln für den Gebrauch des Ausdrucks „gut“ ermitteln, die auch das Verhalten von „vortrefflich“ leiten. Erstens (das ist die Lehre aus Moores Argument der offenen Frage) lässt sich der Ausdruck nicht ohne Bedeutungsveränderung durch einen Ausdruck ersetzen, der eine natürliche Eigenschaft bezeichnet (Nichtsubstituierbarkeit). Zweitens scheint zumindest in dem Sinne ein motivationstheoretischer (Urteils-Motivations-)Internalismus für unsere normative Sprachpraxis charakteristisch zu sein, dass die Bezeichnung einer Handlung, aber auch einer Person oder eines Kunstwerks als gut unter normalen Bedingungen (und unter Ausklammerung von prinzipiellen Amoralisten, Depressiven usw.) eine mindestens minimale Bereitschaft aufseiten des Sprechers impliziert, sich unter entsprechenden Bedingungen für x einzusetzen. Drittens scheinen die Aussagen „x ist gut“ und „y ist nicht gut“ zusammengenommen zu implizieren, dass sich x und y hinsichtlich ihrer natürlichen Eigenschaften unterscheiden (Supervenienz); zudem scheint aus dem Urteil „x ist gut“ zu folgen, dass sich x in anderen,
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dichteren normativen Begriffen charakterisieren lässt (Spezifizierbarkeit). Während diese ersten vier Charakteristika des semantischen Verhaltens von „gut“ auf dessen Unterschiede zu nicht-natürlichen Ausdrücken verweisen, hält der FregeGeach-Punkt als fünftes Merkmal fest, dass sich „gut“ auch in nicht-behaupteten, logisch komplexen Kontexten „normal“, d. h. wie eindeutig beschreibende Adjektive verhält. Schließlich impliziert das Urteil „x ist gut“, dass jeder zumindest einen (nicht notwendigerweise ausschlaggebenden) Prima-facie-Grund hat, x gegenüber bestimmte Handlungen zu unterlassen (Kategorizität). Es ist wichtig zu betonen, dass diese semantischen und logischen Merkmale des Ausdrucks „gut“ ein hohes Maß an Ausgangsplausibilität für sich in Anspruch nehmen dürfen, ungeachtet dessen, welcher Erklärung für diese Charakteristika man schlussendlich zuneigen wird. So kann beispielsweise das letztgenannte Merkmal der Kategorizität auch dann als konstitutive Regel für das normative Sprachspiel gelten, wenn man es dadurch erklärt, dass der Wunsch nach dem Fortbestehen von x universell geteilt wird. Der metanormative Platonismus als Theorie des Guten im Sinne der Vortrefflichkeit kann jedoch eine Reihe dieser Merkmale plausibel erhellen, wie in Kap. 5 gezeigt wurde. Besonders erklärungsbedürftig sind für realistische oder „deskriptivistische“ Theorien diejenigen Punkte, in denen sich die Regeln der normativen Sprache von denen zu unterscheiden scheinen, die für eindeutig beschreibende, natürliche Ausdrücke gelten. Hier kann die platonische Konzeption der Vortrefflichkeit als Beziehung zumindest auf die Merkmale der Supervenienz und der Spezifizierbarkeit ein neues und interessantes Licht werfen. Denn es scheint fast mit begrifflicher Notwendigkeit wahr zu sein, dass zwei konkrete Entitäten mit denselben dichten Eigenschaften auch denselben Grad der Entsprechung zu ihrem abstrakten Ideal aufweisen. Wenn sich nun zeigen lässt, dass zwei Entitäten mit denselben natürlichen Eigenschaften notwendigerweise auch dieselben dichten Eigenschaften teilen, folgt daraus, dass zwei Entitäten mit denselben natürlichen Eigenschaften in gleichem Maße vortrefflich sind, womit die Supervenienz der Vortrefflichkeit über den natürlichen Eigenschaften erklärt wäre. Wenn die Vortrefflichkeit in einer Entsprechungsbeziehung besteht, wird zudem deutlich, dass die Spezifizierbarkeit der Vortrefflichkeit durch dichtere Charakterisierungen lediglich ein Spezialfall eines allgemeineren metaphysischen Zusammenhangs ist. Es scheint nämlich, dass das Bestehen einer Entsprechungsbeziehung stets von einer bestimmten intrinsischen Konstitution der in Beziehung stehenden Entitäten abhängig ist. Erklärungsbedürftig bleiben dagegen auf der Ebene der allgemeinen Charakterisierung des Platonismus die Merkmale der Nichtsubstituierbarkeit, der Kategorizität und des motivationstheoretischen Internalismus. Dasselbe gilt auch für die Beziehungen des Guten zu anderen normativen Phänomenen, von denen hier insbesondere die der Pflicht und des Bösen beleuchtet wurden. Einerseits scheint
266 | Schlussbetrachtung klar, dass es sich bei ihnen um eigenständige normative Realitäten handelt; zu spezifisch ist die mit ihnen verbundene Phänomenologie unserer Reaktionen wie Empörung, Reue und Entsetzen, als dass dem Versuch, sie durch einfache logische Operationen an das Gute zurückzubinden, auch nur die geringsten Aussichten beschieden sein könnten. Andererseits besitzen offenbar beide Phänomene bestimmte begriffliche Beziehungen zum Guten: So muss eine moralisch verbindliche (pflichtgemäße) Handlung zumindest in der Regel auch eine gute Handlung sein, während das Umgekehrte nicht gilt; und das Böse scheint dem Guten konträr entgegengesetzt zu sein, so dass nichts sowohl böse als auch gut sein kann, sehr wohl aber vieles weder das eine noch das andere ist. Diese regelhaften Zusammenhänge sollten von einer Theorie des Guten ebenfalls erhellt werden. Zu diesen generellen Charakteristika des Ausdrucks „gut“, für sich genommen und im Verhältnis zur Pflicht und zum Bösen, treten die Eigentümlichkeiten des Guten im Sinne der Vortrefflichkeit (Kap. 1). Zum einen ist „gut“ im Sinne von „vortrefflich“ artrelativ oder logisch attributiv. Damit ist gemeint, dass die Vortrefflichkeit eines Gegenstands stets an eine Hinsicht oder an eine Klasse gebunden bleibt, der dieser Gegenstand zugehörig ist; so kann Platon etwa ein vortrefflicher Philosoph, aber ein nicht vortrefflicher Dichter gewesen sein. Im Unterschied zu anderen Arten des logisch attributiven oder artrelativen Gutseins, etwa dem technischen Gutsein, lässt sich die Vortrefflichkeit jedoch durch keinerlei logisch mit dem relevanten Artbegriff verbundenen Kriterientest prüfen; während sich am Begriff eines Messers ablesen lässt, was es heißt, ein gutes Messer zu sein, scheint dies für eine Handlung oder ein Kunstwerk nicht möglich zu sein. Dieser Eigentümlichkeit kann der Platonismus insofern Rechnung tragen, als er unterschiedlichen Klassen konkreter Entitäten verschiedene abstrakte Objekte als ihr Ideal zuweist. Dann erklärt sich, weshalb „gut“ im Sinne von „vortrefflich“ in der Anwendung auf unterschiedliche Arten von Konkreta nicht einfach etwas anderes zu bedeuten scheint (weil es sich eben um dieselbe Entsprechungsbeziehung zu einem abstrakten Objekt handelt), andererseits aber auch nicht synonym gebraucht wird (weil diese Beziehung zu jeweils unterschiedlichen abstrakten Objekten besteht). Zweitens besitzt die Vortrefflichkeit finalen Charakter: Ein vortreffliches Objekt ist um seiner selbst willen, nicht um eines anderen willen wertvoll. Diese intuitiv plausible Bedingung wurde hier so gedeutet, dass das Vortreffliche wegen seiner individuellen Einzigartigkeit zu erstreben ist, die es gleichzeitig unverzichtbar und unvertretbar macht. Für den Platonismus, der die Vortrefflichkeit mit der Relation zu einem idealen abstrakten Objekt identifiziert, stellt dieses Merkmal jedoch ein Problem dar, weil die genannte Gleichsetzung suggeriert, dass das vortreffliche konkrete Objekt durch sein abstraktes Ideal wertvoll sei. Dies kann wiederum den Gedanken nahelegen, dass das konkrete Objekt nur als Durchgangs- oder Zwischenstufe erstrebenswert sei, vielleicht notwendig auf dem Weg zum Ideal selbst,
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letztlich aber zugunsten von dessen direkter Schau überwunden werden muss – ein Gedanke, der sich an verschiedenen Stellen im platonischen Schrifttum findet, am prominentesten wohl in der Diotimarede Symp. 210–212. Dieses „Problem der teleologischen Unterordnung“, wie es hier genannt wurde, stellt sich sowohl in einer kausalen als auch in einer konstitutiven Fassung. Denn sowohl dann, wenn das Gutsein vortrefflicher Gegenstände in ihrer instrumentellen Nützlichkeit oder Notwendigkeit für das Erreichen des eigentlichen Endziels gesehen wird, als auch dann, wenn es lediglich als „Schatten“, als reduzierte Form des wahren Guten gedeutet wird, droht die Deutung der Vortrefflichkeit als Entsprechungsbeziehung zu einem abstrakten Ideal die vortrefflichen konkreten Objekte prinzipiell entbehrlich zu machen. Der Platonismus scheint demnach, das ist ein drittes Ergebnis dieser Untersuchung, aufgrund seiner allgemeinen Struktur mit dem logisch attributiven Charakter der Vortrefflichkeit ebenso gut umgehen zu können wie mit den Merkmalen der Supervenienz und der Spezifizierbarkeit sowie dem Frege-Geach-Punkt, die den Ausdruck „gut“ innerhalb des normativen Sprachspiels auszeichnen. Die Nichtsubstituierbarkeit durch natürliche Begriffe, der Urteils-Motivations-Internalismus sowie die Kategorizität und der finale Charakter bleiben dagegen auf der Ebene der allgemeinen Struktur unerklärt. Diese Explananda waren daher auf der Ebene der einzelnen Varianten des metanormativen Platonismus zu behandeln, genau wie die Fragen, ob es diesen Varianten gelingt, das Problem der teleologischen Unterordnung zu vermeiden und dem finalen Charakter der Vortrefflichkeit gerecht zu werden. Anhand dieser Fragen wurden in den Kapiteln 6 bis 8 die Theorien dreier Autoren untersucht, die sich selbst in der Nachfolge Platons sehen. Ihre Positionen unterscheiden sich wesentlich darin, wie sie die idealen Objekte konzeptualisieren, die jeweils die abstrakten Relata der Entsprechungsbeziehung bilden. Die Lehre Plotins exemplifiziert laut der in Kap. 6 vorgelegten Interpretation eine „reduktionistische“ Form des metanormativen Platonismus. Zwar sieht auch er die Vortrefflichkeit, insbesondere die menschliche Vortrefflichkeit, in der Übereinstimmung mit einem abstrakten Ideal des Guten, besteht sie doch in der größtmöglichen Einswerdung mit dem Einen selbst. Diese Rolle kommt dem Einen jedoch gerade nicht aufgrund einer besonderen Eigenschaft zu, sondern vielmehr durch seine radikale Nicht-Differenziertheit. Denn diese ist es, die das Eine in gewisser Weise zum natürlichen Ziel- und Endpunkt allen Strebens macht: Insofern jedes Streben in unterschiedlicher Form ein Streben nach Aneignung des und Vereinigung mit dem Erstrebten ist, kann es nur dort endgültig ans Ziel kommen, wo das Strebende und das Erstrebte eine Einheit eingehen, in der sie letztlich ununterscheidbar werden. Das aber ist, wenn überhaupt, nur in der Vereinigung mit dem Einen der Fall. Das Eine ist somit zwar durch seine Natur das ideale ab-
268 | Schlussbetrachtung strakte Objekt, diese Natur ist aber von sich her gerade nicht-normativ verfasst und gewinnt ihre Normativität erst im Verbund mit dem Faktum und dem Charakter des Strebens. Dies führt zu Schwierigkeiten, die obengenannten diskursiven Charakteristika des Ausdrucks „gut“ zu erklären. Das gilt erstens für das Merkmal seiner Nichtsubstituierbarkeit durch natürliche Ausdrücke: Warum sollte es, wenn Plotins Lehre richtig ist, nicht möglich sein, statt von Vortrefflichkeit schlicht von Einheitlichkeit zu sprechen? Noch mehr gilt dies aber für den motivationstheoretischen Internalismus und die Kategorizität. Selbst wenn es zutreffen sollte, dass die Einswerdung mit dem Einen ein Ende allen Strebens verspricht, kann dies offenbar nur dann einen Grund für das Streben nach ihr darstellen, wenn man das Ende allen Strebens als Ziel des Strebens betrachtet. Nun scheint es zwar plausibel, dass das Streben nach einem Ziel zumindest insofern auch immer auf seine eigene Beendigung abzielt, als mit dem Erreichen des Ziels auch das Streben aufhört. Aber dass jeder einzelne Strebensakt in dieser Weise auf sein Ende zielt, bedeutet nicht, dass das Streben insgesamt auf seine eigene Aufhebung hin angelegt wäre. Ebenso wenig wird in Plotins Theorie verständlich, weshalb man immer dann, wenn man etwas als vortrefflich bezeichnet, auch motiviert sein sollte, es zu erstreben – es sei denn, man setzt bestimmte kontingente Zwecke voraus. Ebenso wenig wie die genannten Explananda finden die normativen Phänomene der Pflicht und des Bösen in Plotins platonistischem Reduktionismus eine adäquate Erklärung. Zwar ist der Gedanke bedenkenswert, dass wir uns mit unterschiedlichen Dimensionen des Menschseins vom Körperlichen bis zum Geistigen identifizieren können (die „metaphysische Mobilität“ der Seele) und dass es darauf ankommt, sich mit dem „wahren“, eigentlichen Selbst zu identifizieren. Er führt Plotin aber zu der Vorstellung, die richtige Identifizierung mit dem vernünftigen Teil der Seele könne uns autark gegenüber körperlichen und sozialen Widerfahrnissen machen. Das hat zum Ergebnis, dass es ihm gar nicht erst gelingt, das Phänomen des Bösen angemessen in den Blick zu nehmen, denn auf der Ebene des „eigentlichen Ich“ sind wir unverletzlich, und Leid auf anderen Ebenen wird dann ebenso bedeutungslos wie der körperliche Tod. Eng damit verbunden ist Plotins „Weltabgewandtheit“, die Flucht in die geistige Wirklichkeit. Da das höchste Ziel die Vereinigung mit dem Einen ist, kann jede anderweitige Identifikation nur als Zwischenstufe gelten; und da das Streben für Plotin stets auf das „eigene“ Gut des Strebenden abzielt, kann es eine Pflicht höchstens zum Aufstieg zum Einen geben, aber nicht zu einer echten Sorge für den anderen um seiner selbst willen. Aus all diesen Gründen kann Plotins reduktionistischer Platonismus letztlich nicht als attraktives metanormatives Modell gelten. Es empfiehlt sich daher, die Möglichkeit einer normativ reichhaltigeren Konzeption des abstrakten Ideals einer näheren Prüfung zu unterziehen, als sie bei
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Plotin angelegt ist. In einer Theorie, die dem idealen Pol der Entsprechungsbeziehung einen intrinsisch evaluativen Charakter, ein herausgehobenes Gutsein zuschreibt, dürften nämlich die Nichtsubstituierbarkeit, der Urteils-MotivationsInternalismus und die Kategorizität, die mit dem Ausdruck „gut“ im Sinne der Vortrefflichkeit verbunden sind, eine einfache und natürliche Erklärung finden. Der Ausdruck „gut“ lässt sich genau deshalb nicht ohne Verlust durch einen natürlichen Ausdruck ersetzen, weil er die Beziehung zu einer nicht-natürlichen Entität bezeichnet. Die aufrichtige Anerkennung des Bestehens dieser Beziehung impliziert die Bereitschaft, sich in seinem Handeln dafür einzusetzen, weil das Streben wesenhaft auf das erkannte Gute gerichtet ist. Und weil dieses Ideal durch seine Natur in einer unpersönlichen Weise das Seinsollen konkreter Objekte festlegt, erlegt es allen potentiell Handelnden gleichermaßen die Pflicht auf, sich bestimmter Handlungen zu enthalten. Wird jedoch das abstrakte Objekt, das den idealen Pol der Entsprechungsbeziehung bildet, in demselben Sinne (wenn auch vielleicht in besonderem Maße) als „gut“ bezeichnet wie die konkreten Entitäten, die in der genannten Relation zu ihm stehen, droht der Platonismus seinen Erklärungswert als Theorie der Vortrefflichkeit einzubüßen; denn offenbar wäre wenig damit gewonnen, wenn die Vortrefflichkeit als Ähnlichkeit zu einem besonders vortrefflichen Objekt bestimmt würde. Wenn also dem abstrakten Ideal selbst eine evaluative Charakterisierung zukommen soll, so muss es in einem anderen Sinne als gut bezeichnet werden als die konkreten Objekte, deren Gutsein dem Platonismus zufolge ja gerade in der Übereinstimmung mit dem Ideal besteht. Worin also besteht dessen normativer Charakter? Für die englische Philosophin Iris Murdoch ist das Gute ein transzendentes Ideal, eine essentiell nicht-realisierte Vollkommenheit (vgl. Kap. 7). Ihr zufolge ist das abstrakte „Objekt“, dem sich vortreffliche konkrete Gegenstände annähern, keine tatsächlich existierende vollkommene Entität, ebenso wenig allerdings eine bloße Fiktion oder Projektion des menschlichen Bewusstseins. Denn indem es als stets zu realisierendes Ideal konstitutive Bedingung des realistisch verstandenen Gutseins konkreter Objekte ist, geht es seinerseits allen Phänomenen unserer normativen Erfahrung voran. In diesem Sinne ist es „wirklich als Idee“, aber kein Objekt, das die von ihm geforderte Vortrefflichkeit selbst als Eigenschaft besitzt oder exemplifiziert. Auf diese Weise umgeht Murdoch das Problem, dem abstrakten Ideal selbst das Merkmal zuzuschreiben, das durch es allererst erklärt werden soll. Der genaue ontologische Status eines solchen nicht-realisierten Ideals bedarf allerdings weiterer Ausarbeitung. Auf dieser Grundlage vertritt Murdoch einen „Objektivismus der richtigen Sicht“, wobei sich die schwer zu erlangende richtige Perspektive einem „gerechten und liebevollen Blick“ auf eine individuelle Person oder Situation verdankt. Die
270 | Schlussbetrachtung natürlichste und einfachste Interpretation dieser Metaphern besteht darin, dass die Realität selbst normative Charakteristika umfasst, die als metaphysisches Gegenstück zu den „dichten“ oder „normativ-deskriptiven“ Begriffen der moralischen Sprache anzusehen sind. Diese normativen Eigenschaften sind jedoch Murdoch zufolge „konkrete Universalien“, d. h. durch das Gesamtgepräge ihres jeweiligen Trägers holistisch bestimmte und individualisierte Merkmale. Allerdings bleibt Murdoch eine nähere Erklärung schuldig, wie sich diese dichten und konkreten Eigenschaften zum abstrakten Ideal der Vollkommenheit verhalten: Sind sie selbst ebenfalls durch den Bezug auf ein ideales abstraktes Objekt realisiert, und wenn ja, auf welche Weise? Unklar bleibt auch, ob und wie Murdochs Theorie die Phänomene der Pflicht und des Bösen integrieren kann. Während es in ihren früheren Schriften noch scheint, als sollte der Begriff des Guten den der Pflicht als zentrale moralphilosophische Reflexionskategorie ablösen, erkennt sie in ihrem Spätwerk die Existenz und Berechtigung verschiedener „Modi“ im Felde der Moral an, zu denen neben dem Guten auch die Pflicht und die „Leere“ (void) zählen. Doch stehen diese Modi weitgehend unverbunden nebeneinander, was die systematische Erklärungskraft ihrer Position merklich schmälert. Der theistische Platonismus des amerikanischen Philosophen Robert M. Adams verspricht dagegen, die normativen Dimensionen des Guten, der Pflicht und des Bösen zu integrieren (Kap. 8). Die Vortrefflichkeit konkreter Gegenstände versteht Adams als Ähnlichkeit mit einem personalen Gott, der selbst als transzendent gut bezeichnet wird. Diese Transzendenz besteht nicht allein darin, dass sich das göttliche Gutsein durch den Menschen nicht vollständig erfassen lässt; wenn Gott als „gut“ bezeichnet wird, wird ihm damit auch eine andere, höhere Form der Vortrefflichkeit zugeschrieben als die konkreter Objekte. Obwohl es sich also bei dem „unendlichen“ Gutsein Gottes um eine andere Eigenschaft handelt als bei dem „endlichen“ Gutsein konkreter Objekte, bleiben beide systematisch miteinander verbunden, weil die konkrete Vortrefflichkeit als Ähnlichkeit zu Gott von dessen unendlichem Gutsein abhängt. Vor dem Hintergrund dieser theistischen Theorie des Guten entwickelt Adams seine Bestimmungen des Bösen und der Pflicht. Das genuin Böse (im Unterschied zum lediglich Schlechten) sieht er in einem ernsten und direkten Angriff auf die Heiligkeit des Opfers, wobei diese Heiligkeit wiederum in der für die Gattung Mensch spezifischen Ähnlichkeit zum personalen Gott begründet ist. Die Pflicht identifiziert er dagegen mit denjenigen Handlungen, die von Gott gefordert werden. Es sei nämlich Teil der Phänomenologie der Pflicht, dass ihre Verletzung den „objektiven moralischen Zustand“ der Schuld nach sich ziehe; dieser Zustand bestehe in einer Entfremdung von anderen, in der Belastung einer wertvollen Beziehung. Eine solche Entfremdung könne jedoch nur durch die Verletzung tatsächlicher Forderungen realer Personen ausgelöst werden, nicht durch fiktive oder
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hypothetische Gebote. Die realen Forderungen menschlicher Individuen und Gesellschaften sind jedoch vielfach weder hinreichend noch notwendig, um eine Handlung als moralisch geboten zu betrachten: Wie nicht alles unsere Pflicht ist, was Menschen verlangen, verlangen Menschen auch nicht alles, was tatsächlich unsere Pflicht wäre. Aus diesem Grunde spricht Adams sich dafür aus, die Pflicht nicht mit menschlichen Forderungen gleichzusetzen, sondern mit den Geboten eines wesenhaft guten Gottes – denn nur er bietet die Gewähr, dass das Befohlene gut genug ist, um als unsere Pflicht gelten zu können. Gleichzeitig bietet diese Lösung Raum für Handlungen, die gut sind, aber nicht geboten (weil Gott sie nicht befohlen hat). Gottes Gebote können dabei auf unterschiedliche Weise kommuniziert werden, neben den traditionellen religiösen Auffassungen von Inspiration etwa auch durch gesellschaftliche Forderungen. Die vermeintlich göttlichen Befehle bleiben aber stets daran zu messen, ob sie tatsächlich als Forderungen eines guten Gottes verstanden werden können. Allerdings lassen sich sowohl gegen Adams’ Theorie der Pflicht als auch gegen seine Theorie der Vortrefflichkeit gewichtige Einwände ins Feld führen. Die Theorie der Pflicht scheint nur unzureichend der Tatsache Rechnung zu tragen, dass moralische Pflichten zuerst und direkt anderen Menschen geschuldet sind, die ein Recht darauf haben, in einer bestimmten Weise behandelt zu werden. Wie aber kann durch einen göttlichen Befehlsakt über die Handlungspflicht hinaus ein solches individuelles Recht eines menschlichen Subjekts kreiert werden? Selbst wenn sich dieses Problem lösen lassen sollte, bleibt jedoch die Art des von Adams postulierten „unendlichen“ Gutseins Gottes dunkel. Für das Funktionieren seiner Theorie der Pflicht ist Adams darauf angewiesen, das Gute (Gott) als tatsächlich existierende vollkommene Entität zu verstehen; ein Ideal im Sinne einer stets nur zu realisierenden Vortrefflichkeit kann kaum die sozialen Forderungen stellen, mit denen Adams die moralische Pflicht identifiziert. Die Vortrefflichkeit Gottes muss daher eine normative Eigenschaft von ihm sein, die sich aber von der Vortrefflichkeit konkreter Objekte unterscheidet; andernfalls ist sie nicht mehr geeignet, diese zu erklären. Aber um was für eine Eigenschaft handelt es sich bei der Vortrefflichkeit Gottes? Der einzige Zugang zu ihr verläuft über die vortrefflichen konkreten Objekte, die in einer Beziehung der Ähnlichkeit zum transzendenten Guten stehen. Doch diese Ähnlichkeit unterscheidet sich wiederum dadurch von der Ähnlichkeit zwischen konkreten Gegenständen, dass Gott als dem transzendenten Guten ein metaphysischer Vorrang zukommt. Daher bleibt das Wesen des „unendlichen“ Gutseins Gottes letztlich unklar. In der Zusammenschau ergibt sich damit folgendes Bild. Einerseits kann der Platonismus durch seine generelle Struktur auf eine Reihe der formulierten Explananda für eine Theorie der Vortrefflichkeit ein neues und interessantes Licht werfen; das gilt insbesondere für ihren logisch attributiven Charakter, die Super-
272 | Schlussbetrachtung venienz über natürlichen Eigenschaften und die Spezifizierbarkeit in dichteren Beschreibungen. Andererseits verlangt die Behandlung der weiteren, auf der allgemeinen Ebene noch unerklärten Explananda eine nähere Bestimmung des abstrakten Pols der Vortrefflichkeitsrelation. Zwar zeigt sich, dass ein intrinsisch nicht normatives Ideal wie im Falle Plotins nicht geeignet ist, diese Merkmale überzeugend zu erhellen. Doch wenn man das Ideal als intrinsisch normativ fasst, wie dies sowohl Murdoch als auch Adams tun, scheint sich folgendes Dilemma für den metanormativen Platonismus zu ergeben. Entweder betrachtet man das Ideal als eine in demselben Sinne reale, existierende Entität wie die konkreten Gegenstände; dann lässt sich zwar eine vereinheitlichte Theorie der Pflicht und des Bösen formulieren, aber nur um den Preis einer Verdunkelung des Gutseins des abstrakten Ideals, von dem sich lediglich sagen lässt, dass es sich von der Vortrefflichkeit konkreter Objekte unterscheidet, aber gleichzeitig durch eine nicht weiter explizierbare spezielle Beziehung als ontologisches Vorbild mit ihm verbunden bleibt. Das ist das Problem der adamsschen Lösung. Vermeidet man es dagegen wie Murdoch, das Ideal als eine (wenn auch „anderswo“) realisierte, existierende Entität zu fassen, und betrachtet man es stattdessen als stets nur zu realisierende Vollkommenheit, gewinnt man zumindest einen Anhalt für eine überzeugendere Theorie des idealen abstrakten Objekts; doch dann rückt eine integrierte Theorie der Vortrefflichkeit, der Pflicht und des Bösen in weite Ferne. Die Herausarbeitung dieses Dilemmas für die nähere Bestimmung des abstrakten Ideals kann als ein viertes Ergebnis dieser Arbeit neben der Definition des metanormativen Platonismus, der Deutung metanormativer Theorien als Schluss auf die beste Erklärung und der Prüfung des allgemeinen Platonismus anhand der Explananda einer Theorie der Vortrefflichkeit gelten. Insgesamt scheint Murdochs essentiell unrealisiertes Ideal dennoch der erfolgversprechendste Ansatz für eine Ausformulierung des idealen abstrakten Objekts. Zum einen umgeht man auf diese Weise sowohl die ontologische Kritik der Reifikation von Idealen als auch den Vorwurf einer Projektion von Wunschvorstellungen auf eine „andere“, „überirdische“ Realität, den Murdoch selbst an die Adresse theistischer Konzeptionen richtet. Wenn das Ideal nicht als ein existierendes vollkommenes Wesen vorgestellt wird, verliert es jegliche trostreiche Wirkung, die es andernfalls vielleicht haben könnte. Zum anderen lässt sich so die Frage umgehen, um welche Eigenschaft es sich bei der realisierten Vollkommenheit handelt und wie sich diese zu den vortrefflichen konkreten Objekten verhält. Im Unterschied zu Murdochs Konzeption einer einheitlichen „Idee der Vortrefflichkeit“ plädiere ich jedoch dafür, den Platonismus in einer Form zu vertreten, die unterschiedliche Ideale für verschiedene Klassen konkreter Objekte vorsieht. Denn nur auf diese Weise, so scheint es, lässt sich der logisch attributive Charakter der Vortrefflichkeit angemessen abbilden. Wenn das Kunstlied auf ein anderes Ideal bezogen ist als et-
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wa der psychologische Roman, wird verständlich, weshalb Schuberts Erlkönig und Tolstois Anna Karenina beide als vortrefflich bezeichnet werden können (indem sie ihrem jeweiligen Ideal nahekommen), aber doch in völlig unterschiedlicher Weise vortrefflich sind. Dass es am Ende nicht gelingt, die Phänomene der Pflicht und des Bösen auf der Grundlage dieser nicht-theistischen Form des Platonismus zu erklären, ist der Preis, den man dafür möglicherweise zahlen muss. Eine solche Theorie essentiell unrealisierter, aber zu realisierender Ideale bedürfte allerdings näherer Ausarbeitung durch weitere Forschung. Dies betrifft vor allem drei Fragen.⁶ Die erste ist ontologischer Natur: Welche Art von Existenz kommt den Idealen zu? Insbesondere: Wie lässt sich die subjektunabhängige Realität des Ideals mit seiner essentiellen Nicht-Realisiertheit vereinbaren? Einerseits sollen die Ideale im Platonismus, der ja eine realistische Position darstellt, vor jeglichen volitionalen, kognitiven oder affektiven Leistungen menschlicher Subjekte Geltung besitzen; sie hängen, in anderen Worten, in keiner Weise von unseren Meinungen oder Wünschen ab. Andererseits kann es sich, folgt man Murdoch, bei den Idealen nicht um eine Eigenschaft handeln, die an raumzeitlichen oder auch abstrakten Entitäten realisiert wäre. Um was für eine Art von Entität handelt es sich also bei den Idealen? Die zweite Schwierigkeit betrifft die Erkenntnis dieser Ideale. Einen direkten und unabhängigen Zugang zu ihnen im Sinne einer apriorischen Schau scheinen wir nicht zu besitzen; daher verfügen wir auch nicht über einen Maßstab, den wir gewissermaßen von außen an die konkreten vortrefflichen Objekte anlegen könnten. Umgekehrt lässt sich das Ideal aber auch nicht ohne Weiteres an diesen Objekten ablesen oder aus ihnen extrapolieren. Wie können wir also überhaupt jemals irgendein Wissen über diese Ideale erwerben? In die richtige Richtung weisen, wie mir scheint, wiederum Andeutungen Iris Murdochs, nach denen die Erkenntnis der Vortrefflichkeit konkreter Objekte und die Erkenntnis des Ideals wechselseitig aufeinander angewiesen sind: Wir erkennen die Vortrefflichkeit nur, wenn wir die Dinge im Lichte des Ideals betrachten; gleichzeitig aber erwerben wir unser Wissen von den Idealen erst durch eine sorgfältige, minutiöse Betrachtung der Gegenstände, die ihnen in unterschiedlichem Maße nahekommen. In diesem holistischen Bild ist die Erkenntnis größerer Vortrefflichkeit zugleich eine Erkenntnis größerer Nähe zum Ideal. Drittens schließlich wird zu klären sein, wovon genau es Ideale gibt und was diese alles umfassen. Gibt es Ideale für einzelne Konkreta, etwa für die Vertonung von Wanderers Nachtlied? Gibt es daneben noch ein Ideal des Kunstliedes und ein Ideal des Musikstücks überhaupt? Wenn ja, wie verhalten sich die spezifische-
6 Vgl. Curzer, „Against Idealization in Virtue Ethics“, S. 54.
274 | Schlussbetrachtung ren Ideale zu den allgemeineren? Klar ist, dass die Ideale in der Regel nicht eine einzige Realisierung präzise festlegen, sondern für verschiedene Ausprägungen offen sind; beispielsweise können John Coltranes A Love Supreme und Philip Glass’ Glassworks als gleichermaßen vortreffliche Verwirklichungen des Ideals des Musikstücks gelten. Aber wie gelingt es dem Ideal, derart unterschiedliche Gebilde zu normieren? Umfasst es minimalistisch nur die notwendigen Merkmale für ein vortreffliches Stück, oder enthält es im Gegenteil Vorschriften für alle möglichen Konkretisierungen? Und was, wenn diese miteinander im Widerspruch stehen? Gelingt es, diese Schwierigkeiten zu lösen, verspricht ein derartiger Platonismus nicht nur, den Explananda einer Theorie der Vortrefflichkeit gerecht zu werden, ohne sich auf eine fragwürdige „Verdoppelung“ der Wirklichkeit in Form realisierter Ideale festzulegen. Er verbindet sich auch auf natürliche Weise mit einer normativen Theorie, die das ethische Leben wesentlich als ein Streben nach dem Ideal eines tugendhaften Menschen sieht,⁷ und mit einer Form des philosophischen Perfektionismus, für die das Wohl des Menschen in einer Verwirklichung bestimmter Vortrefflichkeiten besteht.⁸ Auch wenn sowohl die Tugendethik als auch der Perfektionismus ihre eigenen Probleme besitzen, etwa die Gefahr der Überforderung durch unerreichbar hohe Ansprüche, haben diese Theorien den Vorzug, einer einseitig moralisierenden Auffassung der Ethik und des guten Lebens entgegenzuwirken und künstlerische, wissenschaftliche oder ästhetische Vortrefflichkeiten integrieren zu können. Der Platonismus kann sich so zu einer umfassenden Perspektive auf die ethische Wirklichkeit weiten, in der sich normative und metanormative Aspekte gegenseitig erhellen.
7 Für eine einführende Verteidigung einer derartigen Form der Tugendethik s. Annas, „Virtue Ethics“. 8 Vgl. zum Perfektionismus allgemein Thomas Hurkas grundlegende Monographie Perfectionism.
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Personenregister Adams, Robert Merrihew 3, 4, 75, 214–226, 228–233, 236–239, 242–251, 253, 255–257 Alkinoos 166, 263 Allen, R. E. 87, 89, 91, 93, 102, 108 Alt, Karin 166, 169, 176 Annas, Julia 274 Anscombe, G. E. M. 67 Antonaccio, Maria 179, 198–200 Arendt, Hannah 72, 74–76 Aristoteles 29, 76, 86, 93, 97–99, 107, 114, 129, 144, 150, 155, 159, 226 Augustinus, Aurelius 121, 172 Austin, John 184 Ayer, Alfred J. 43, 53, 54 Bagnoli, Carla 184, 191–194, 196, 204 Balaguer, Mark 124 Baldwin, Thomas 52 Baltes, Matthias 107 Beierwaltes, Werner 111, 143, 148–150, 152, 154, 157, 162, 165, 166, 169, 176 Blackburn, Simon 58, 113 Blackman, Reid D. 11 Blanshard, Brand 6 Bliss, Ricki 34 Blum, Lawrence 188 Boethius, Anicius Manlius Severinus 163 Bostock, David 86, 126 Boyd, Richard 22, 117, 224 Brentano, Franz 6 Bricker, Phillip 124 Broackes, Justin 179, 197, 198 Broad, C. D. 6, 51 Browning, Christopher R. 74 Bröcker, Walter 83 Bussanich, John 153 Cartwright, Nancy 28 Cherniss, H. F. 102 Chisholm, Roderick M. 6 Colyvan, Mark 31 Corrigan, Kevin 148 Cowley, Christopher 70 https://doi.org/10.1515/9783110623871-011
Crane, Tim 124 Crisp, Roger 5, 179 Cross, R. C. 87 Curzer, Howard J. 273 Dancy, Jonathan 6, 13, 72 Darwall, Stephen 55, 130 Darwin, Charles 24 Decosimo, David 237, 239, 240 Devereux, Daniel T. 82, 90 Dillon, John 154, 165, 166 Doyle, Arthur Conan 23 Dreier, James 58 Duhem, Pierre 28 Enoch, David 36, 44, 45, 64, 117–119 Erler, Michael 82, 83, 85 Evans, Charles Stephen 67 Ewing, A. C. 6 Field, G. C. 55 Fine, Gail 84, 86, 90, 92, 109 Fine, Kit 34 Foot, Philippa 8, 59, 61, 62, 79 Frankena, W. K. 55 Frege, Gottlob 103, 125–127 Gaiser, Konrad 86 Gaita, Raimond 73, 74 Geach, P. T. 7, 8, 60, 83, 96, 102 Gerson, Lloyd P. 153 Gibbard, Allan 68, 130 Goethe, Johann Wolfgang von 1, 3 Gowers, Timothy 32 Graeser, Andreas 88, 99 Grice, Paul 36 Hadot, Pierre 147 Halbig, Christoph 55, 115, 117, 118, 204 Halfwassen, Jens 86, 93, 95, 105–107, 109–111, 141, 149, 150, 152, 154, 156, 157, 159, 164, 172 Hallie, Philip P. 77 Hare, John 117
294 | Personenregister Hare, Richard M. 56–58 Harman, Gilbert H. 26, 36 Hartmann, Nicolai 5, 131, 133 Heinaman, Robert 89, 92, 94, 99 Heyd, David 70 Himmerich, Wilhelm 146 Hobbes, Thomas 51 Hoefer, Carl 129 Holmes, Sherlock 22–24, 37 Horgan, Terry 52, 70 Horn, Christoph 82 Huggett, Nick 129 Hurka, Thomas 274 Huxley, Thomas H. 126 Inge, William Ralph 142 Irwin, Terence 86 Ito, Nobuo 59 Jacobson, Daniel 44 Johnston, Mark 235 Jordan, Jessy 180 Joyce, Richard 113 Kagan, Shelly 13 Kant, Immanuel 1, 49, 66, 77, 250 Kaplan, Chaim A. 73 Kettner, Matthias 183 Killy, Walther 186 Kitcher, Philip 32 Klemperer, Victor 188 Kolbe, Maximilian 4, 5, 7, 12, 14, 60, 62, 65, 69, 70, 261 Korsgaard, Christine M. 13, 55, 114 Krohs, Ulrich 34 Krämer, Hans 86, 109, 111 Künne, Wolfgang 124–127 Langton, Rae 13 Lienemann, Béatrice 84, 87–91, 100–103, 108, 110 Lipton, Peter 23, 25, 27 Loux, Michael J. 94, 125 Lycan, William 24 Lyon, Aidan 31 Mackie, John L. 63, 64, 112
Mackonis, Adolfas 26, 42 Maddy, Penelope 125 Malcolm, John 87, 92, 93 Mancosu, Paolo 31, 32 Mayes, G. Randolph 29 McCord Adams, Marilyn 75 McDowell, John 114, 115 McGroarty, Kieran 146 McLean, Mark 180 Mellor, D. H. 124 Midgley, Mary 8 Mill, John Stuart 68 Milton, John 76 Minio, Roberto 32 Miyagawa, Torao 59 Mohr, Richard 105 Moore, George Edward 12, 49–51, 56, 57, 119, 262 Murdoch, Iris 179–185, 187–190, 194–213 Murphy, Mark C. 249 Nagel, Thomas 114 Nails, Debra 85 Natorp, Paul 83 Nehamas, Alexander 95 Nigg, Walter 4 Nolan, Daniel 113 Nussbaum, Martha C. 236 O’Daly, Gerard 147 O’Meara, Dominic J. 147, 151, 152, 166, 174 O’Neill, John 13 Oddie, Graham 117 Ogden, C. K. 53, 54 Olson, Jonas 44 Orsi, Francesco 6, 8, 76 Owen, G. E. L. 89 Parfit, Derek 6 Parry, Richard D. 86, 91, 92, 94 Patterson, Richard 102 Peirce, Charles S. 24 Platon 3, 49, 81–85, 87–91, 95, 96, 98, 100, 104, 106–111, 126, 130, 150, 163, 175, 206, 219, 222, 267 Plotin 141, 143–158, 160–162, 164, 167–176 Pooley, Oliver 125
Personenregister |
Porphyrios 165 Price, Richard 122 Proklos 163 Pseudo-Longinus 2 Pseudo-Platon 163 Rabinowicz, Wlodek 6, 13, 44 Railton, Peter 117, 130 Raphael, David D. 49 Rawls, John 245 Raz, Joseph 62, 71, 77 Remes, Pauliina 165, 172, 173 Restall, Greg 113 Richards, I. A. 53, 54 Rist, John 146, 148 Robjant, David 191 Rosen, Gideon 123, 124, 127, 128 Rowland, Richard 8 Ryan, Alan 51 Rønnow-Rasmussen, Toni 6, 13, 44 Scanlon, T. M. 6, 42, 60, 216, 217, 257 Schaber, Peter 55 Schniewind, Alexandrine 165 Schroeder, Frederic M. 150, 151 Schroeder, Mark 61, 113, 137 Sellars, Wilfrid 38 Shafer-Landau, Russ 118 Shah, Nishi 44 Sharma, Ravi 82 Sier, Kurt 102, 105, 108 Slote, Michael A. 179 Smith, Andrew 165 Song, Euree 165 Sosa, David 115 Spaemann, Robert 66 Steel, Carlos 160, 163 Steiner, Mark 128 Stemmer, Peter 86, 87, 91, 93 Stern, Robert 197 Sternberger, Dolf 188 Stevenson, C. L. 51, 53, 54, 56, 204 Stocker, Michael 76
295
Stoljar, Daniel 124 Storz, Gerhard 188 Stout, Jeffrey 241 Strobel, Benedikt 85, 87–89, 92, 94, 96–98 Svavarsdóttir, Sigrún 115 Swinburne, Richard 21 Söder, Joachim 85 Süskind, Wilhelm Emanuel 188 Taylor, A. E. 95 Thagard, Paul R. 21, 24, 26, 42 Theiler, Willy 166 Thomas von Aquin 76, 99, 122, 226, 227, 241, 263 Timmons, Mark 52, 70 Toepfer, Georg 34 Trogdon, Kelly 34 Urmson, J. O. 70 Van Roojen, Mark 22, 61, 113 Velleman, J. David 77 Vlastos, Gregory 88–90, 92, 93, 103, 109 Von Wright, Georg Henrik 8–10 Waismann, Friedrich 122 Wallace, R. Jay 66 Watson, Gary 76 Wedgwood, Ralph 68 Welzer, Harald 74 West, Caroline 113 Wiggins, David 115 Wildberg, Christian 148, 166 Williams, Bernard 114 Wilson, Jessica M. 34 Wittgenstein, Ludwig 59, 101, 122, 132 Wolf, Susan 4, 237, 256 Wollheim, Richard 100 Yoshizawa, Chu 59 Zagzebski, Linda 255 Zimmerman, Michael J. 6, 8
Sachregister Absolute, das 152, 156 Absonderlichkeit (queerness) 63 Ähnlichkeit 17, 18, 84, 96, 100, 110, 120, 133, 134, 136, 227, 230, 237, 238, 263, 269, siehe auch Nachahmung, Teilhabe – Gottähnlichkeit 20, 214–216, 218, 228–230, 232–241, 243, 258, 259, 270, 271 Aktivität, innere 183, 192, 194 Analogie 99, 226, 227, 235, 237 angemessen, Angemessenheit 6, 52, 74, 115, 121, 161–164, 177, 193, 205, 234, 242–244, 247 Annäherungsthese (approximation view) 95 Anspruch auf objektive Präskriptivität 63, 64 Argumente – abduktive 24 – argument from disagreement 22 – argument from relativity 63 – Argument der offenen Frage (open question argument) 50–54, 64, 116, 211, 264 – argument from impartiality 45 – deduktive 21 – ergon-Argument 10 – induktive 21 artrelativ, Artrelativität 8, 14, 48, 49, 136, 266 Aufmerksamkeit 2, 170, 181, 183, 188–191, 194–196, 200–202, 205, 209–212 Befehl 20, 57, 137, 189, 228, 242, 246, 248–251, 253–258, 260, 271 Begriffe – Artbegriff 8, 11, 12, 84, 98, 119, 266 – dichte 59, 60, 69, 78, 140, 185, 191, 192, 194, 198, 209, 210, 212, 217, 240, 265, 270 – dünne 59 – natürliche 52, 57, 217, 267 – schlechte moralische 188, 189 Behaviorismus 181, 182 Beweis – erklärender/nicht-erklärender 32 – Gottesbeweis – deduktiver 21 – ontologischer 201, 207 https://doi.org/10.1515/9783110623871-012
Bewunderung 1–3, 5, 121, 211, 216, 222, 234, 236, 261 Bewusstsein 83, 125, 126, 190, 197–201, 205, 208, 209, 269 Beziehung, Relation, Relationalität 1, 12, 14, 17, 18, 85, 100, 101, 108–112, 120–123, 130–134, 136, 137, 139, 140, 145, 156, 180, 200, 211, 212, 214, 228, 262, 263, 266, 267, 272 Böse, das 17–20, 50, 65, 72–77, 79, 140, 142, 170, 172, 177, 189, 213, 215, 216, 221, 230, 231, 233, 259, 265, 266, 268, 270, 272, 273 Dieses, Gegenstände vom Typ siehe Substanz, erste/zweite Differenz 19, 149–151, 153–155, 159, 164, 267 Eigenschaften 105, 108, 111, 118, 234, 240 – dichte 138, 212, 265, 270 – dispositionale 32 – evaluative, Wert- 1, 49, 63, 64, 84, 117, 118, 122, 123, 131, 135, 180, 214 – intrinsische/extrinsische 12, 13, 128, 129, 140, 153, 161, 162, 262 – moralische 40, 192 – natürliche 6, 16, 40, 50–52, 57, 64, 78, 117, 137, 138, 140, 224, 264, 272 – normative 56, 63, 115–117, 119, 136, 137, 142, 191, 196, 218, 224, 271 Eine, das 19, 86, 110, 142, 148–165, 174, 176, 177, 267 Einfachheit (einer Theorie) 16, 26, 42, 43, 45, 47, 264 Einheit, Einheitlichkeit 84, 93, 106, 148, 149, 151, 152, 154–157, 159, 161, 163, 164, 177, 267, 268 Einung, Einswerdung (ἕνωσις) 148, 150, 163, 166, 177, 267, 268 Einwand, Voltaire’scher 27 Emotivismus 41, 43, 54, 56, 113 Empfehlen 57, 58, 71 Empörung 38, 65, 67–69, 75, 115, 243, 266 Endlichkeit, menschliche 236
298 | Sachregister Energie, psychische 183, 184, 188, 195, 205, 207, 209, 211 Entsetzen, sprachloses 72, 74–77, 177, 266 Entsprechung (zum Ideal) 2, 122, 133, 134, 136–140, 214, 262, 265–267, 269 Epiphänomenalismus 126 Erfolgstheorie 117, 120 ergon-Argument siehe Argumente ἔργον 34, 145 erhaben, das Erhabene 1–4, 238, 239, 261 erklären, Erklärung 34, 36, 47, 81, 234 – funktionale 33 – kausale 29, 31, 35, 40, 219 – konstitutive 33, 35 – mathematische 31 – nicht-kausale 32–34, 39, 48 – Schluss auf die beste Erklärung 16, 21, 22, 24, 25, 27–30, 36, 46, 48, 78, 221, 241 – Warum-Erklärung 30 – Was-Erklärung 30 Erklärungskraft 79, 235, 270 Eros (ἔρως) 3, 5–7, 9, 209, 213, 222, siehe auch Bewunderung, Liebe, Streben ethisch, das Ethische 1, 4, 5, 14, 53, 119, 142, 148, 165–167, 170, 172–175, 177, 178, 210, 213, 216, 218, 224, 274 excellence siehe gut Existentialismus 181, 195 Existenz, existieren 19, 21, 27, 29, 35, 51, 52, 54, 89, 105–109, 125, 128, 129, 132, 146, 153, 155, 157, 158, 161, 167, 178, 201–203, 207–209, 211, 221, 262, 269, 271–273 Explananda (einer Theorie der Vortrefflichkeit) 16–20, 27, 30, 32, 34, 36, 47–50, 58, 65, 78, 79, 134, 135, 139, 140, 211, 261, 264, 267, 268, 271, 272, 274 Expressivismus 113 Faszination 1, 4 Fiktionalismus 113, 198 Forderungen, soziale 242, 246–248, 250, 251, 271, siehe auch Pflicht Frege-Geach-Punkt, -Problem 60, 61, 63, 78, 113, 136, 140, 265, 267 Funktion 9, 33, 35, 53, 54, 56–58, 63, 64, 82, 121, 145, 148, 161, 183, 203, 204, 206, 207, 219, 230, 261
Gegenstände siehe Objekte Gehorsam 195, 254 Geist 111, 143, 147, 148, 158, 159, 168, 169, 172, 174, 175, 193, 194, 207, 268 gerecht, Gerechtigkeit 7, 62, 84, 92, 100, 101, 138, 148, 181, 184, 188, 189, 195, 196, 202, 209, 210, 269 Glück (εὐδαιμονία) 145, 146, 168, 171 Gott 18–21, 44, 75, 117, 122, 133, 154, 166, 175, 180, 201–203, 205, 207, 208, 211, 214, 220, 223–230, 232, 235–240, 242, 243, 248–251, 253–259, 263, 270, 271 Groll 67–69 grounding 34, 116, 235 Grund 6, 16, 19, 42, 43, 61, 62, 70, 71, 78, 139, 211, 216–219, 223, 245–247, 251–253 – Anreizgrund (enticing reason) 244 – Grund der falschen Art 44 – Inhaltsgrund (content-given reason) 44, 45 – Zustandsgrund (state-given reason) 44–46 gut, das Gute, Gutsein 42, 49, 52, 71, 78, 117, 119, 130, 135, 143–145, 154–156, 158–161, 163, 164, 176, 177, 180, 197, 200, 201, 203, 205–208, 210, 214–216, 224, 226, 227, 230, 234, 244, 265, 268–271 – ästhetisches 1, 5, 14, 119, 274 – buck-passing-Analysen 6, 72, 216, 217 – externes 147 – finales 13, 77 – fitting-attitude-Analysen 6 – instrumentelles 8, 9 – internes 145, 146, 148 – intrinsisches 12, 13, 49 – moralisches 14, 70 – technisches 8–10, 13 – vortrefflich, Vortrefflichkeit 1–3, 5–14, 17, 18, 20, 21, 49, 52, 55, 60–62, 65, 77, 79, 84, 119, 120, 123, 130, 132, 134, 135, 137, 140, 212, 214, 216, 222, 223, 227, 228, 261–274 Handeln, Handlung 4, 5, 7, 8, 10, 17, 19, 20, 31, 37, 38, 40, 42, 44, 49, 50, 53, 55–59, 61, 63, 66, 68–73, 75, 76, 78, 79, 89, 95, 115, 117, 121, 135, 136, 139, 143, 159, 162, 166, 174, 176, 177, 181–183, 211, 212, 225, 230,
Sachregister
231, 242–250, 253–258, 260, 262, 265, 266, 269, 270 heilig, Heiligkeit, heiligmäßig 4, 20, 231–233, 258, 259, 270 heldenhaft 4 Hierarchie 147, 197, 199, 206–208, 212 homeostatic property cluster 116, 224, 225 Hypothesen 16, 21, 24–26, 28, 220 Ideal 2, 17–20, 107, 112, 121–123, 130–134, 136–140, 142, 165, 177, 180, 200, 201, 207–212, 214, 262, 263, 265–274 Idee, Ideenlehre 14, 17, 82–86, 88, 89, 100, 101, 103–111, 130, 133, 143, 147, 151, 164, 176 – Idee des Guten 20, 111, 198–201, 203–205, 209, 212, 216, 225, 230, 232, 233, 236 – Individueninterpretation 85, 93–96, 98–102, 120, 262 – Universalieninterpretation 85–92 Identifikation 148, 170, 178, 268 Identität des Ununterscheidbaren, Prinzip der 129 Illusion 184, 200 Internalismus, motivationaler 55, 64, 78, 135, 139, 140, 204, 211, 264, 265, 267–269 Irrtumstheorie 39, 64, 113, 115, 261 kategorisch, Kategorizität 16, 61–65, 78, 114, 135, 139, 140, 177, 189, 196, 211, 265, 267–269 Kognitivismus 117, 120, 216 Kohärenz 26, 45 Konsilienz 41, 42, 47, 221 Konstruktivismus, konstruktivistisch 39, 179, 191–196, 198, 210 Kritik siehe Vorwürfe Körper 82, 104, 146–148, 165, 167–171, 175–177, 231, 236, 268 Leere (void) 213, 270 Leid, Leiden 19, 142, 168–170, 172, 177, 202, 268 Licht 147, 158, 160, 206–208 Liebe 3, 5, 15, 102, 116, 121, 160, 164, 165, 184, 185, 189, 190, 196, 200, 201, 204–207,
| 299
216, 222, 251, 254, 255, 261, 269, siehe auch Eros logisch attributiv 7, 8, 10, 11, 15, 16, 18, 21, 49, 78, 119, 120, 135, 140, 266, 267, 271, 272 Lokalisierung 40 Lügen 67, 75
Magnetismus 2, 3, 5, 6, 9, 15, 55, 200, 201, 204, 205, 208, 261 Materie 107, 124, 147, 148, 171, 175, 218 Mathematik 31, 32, 34, 47, 118, 131, 146, 155 Menge 37, 92, 98, 105, 116, 122, 125–127, 131, 154, 201 metanormativ, Normativitätstheorie 1, 14–17, 20–22, 30, 36, 37, 39–41, 43, 44, 46, 47, 49, 79, 112, 113, 117–119, 177, 219, 262–264, 274 Motivation 6, 56, 248, 252, 255, siehe auch Internalismus
Nachahmung 17, 18, 110, 120, 134, 136, 174, 263, siehe auch Ähnlichkeit, Teilhabe Nähe (zum Ideal) 14, 100, 101, 120, 122, 177, 273 Natur, innere 12, 92, 164, 227 natural kind term 218 Naturalismus 33, 43, 57, 63, 116, 136, 154, 161, 224, 262 – aristotelischer 8 Nicht-Wahrnehmbarkeit 126, 127 Nichtsubstituierbarkeit (von „gut“ durch natürliche Begriffe) 52, 63, 78, 135, 139, 140, 264, 265, 267–269 no-priority view 115 Nonkognitivismus 21, 22, 39, 53, 54, 56, 58, 60, 61, 64, 113, 115, 183, 191, 192, 215, 261 Nonnaturalismus 39, 52, 56, 58, 63, 118 normativ, Normativität 6, 8, 16–18, 24–26, 37–45, 49, 52, 66, 71, 74, 79, 84, 113, 115–117, 122, 131, 136, 157, 161–166, 177, 191–196, 210, 211, 216, 217, 221, 223, 224, 235, 246, 247, 252, 253, 259, 260, 264, 265, 267–272, 274 Normativitätstheorie siehe metanormativ
300 | Sachregister Objekte, Gegenstände – abstrakte 14, 17, 121, 123–131, 134, 135, 140, 153, 209, 210, 266 – konkrete 17, 102, 105, 121, 127–130, 132, 134, 135, 138, 197, 263 Objektivismus 43, 112, 114, 115, 120, 180, 184, 185, 187, 190, 191, 193, 194, 198, 210, 262, 269 ontologische Verpflichtung (ontological commitment) 124, 180 open question argument siehe Argumente Opferung Isaaks 250, 254 Paradigma, Paradigmatizität 91–94, 98, 121, 132–134, 140, 164, 177, 236, 262 Perfektibilität, unendliche 190 Perfektionismus 199, 274 Person, personal, Personalität 19, 20, 79, 123, 133, 180, 202, 203, 209, 214, 216, 230, 232, 233, 236, 259, 269, 270 Perspektivismus 191 Pflicht 3, 5, 17–20, 42, 50, 65–67, 69–71, 75, 79, 140, 174, 189, 213, 215, 216, 219, 221, 234, 241–259, 264–266, 268, 270–273 – Sozialforderungstheorien 246–249, 251, 258 Platonismus – metanormativer 1, 2, 14–19, 21, 48, 49, 64, 79, 85, 111, 112, 119–123, 130, 131, 134–137, 139, 141, 142, 153, 164, 170, 176, 178, 180, 211, 214, 261–267, 269, 271–274 – Mittelplatonismus 133, 166 – nicht-reduktionistischer 18, 133, 211, 214 – nicht-theistischer 18, 233 – reduktionistischer 18, 133, 142, 164, 267, 268 – theistischer 18, 211, 213, 217, 220, 221, 259, 270 Präskriptivität 57, 58, 60, 113 Praxis 10, 68, 76, 189, 219, 248 – metanormative 47 – moralische 244 – normative 37, 39–43, 45, 46, 48, 50, 264 – sprachliche 49, 61, 113, 220, 254, 264 – wissenschaftliche 24, 26 Prinzip – der Identität des Ununterscheidbaren siehe Identität
– der Ununterscheidbarkeit des Identischen siehe Ununterscheidbarkeit – Urgrund, ἀρχή 19, 86, 107, 143, 147, 151, 153, 154, 156–158 privatio boni 172, 177, 230 Reaktion, normative 3–5, 67–69, 72, 74, 75, 115, 160, 177, 187, 192, 231, 234, 242, 261, 266 Realismus 1, 17, 115, 120, 123, 139–141, 165, 191–193, 195, 196, 198, 210, 222, 261, 262 – einfacher, moorescher 135, 137, 262 – metanormativer 64, 78, 112, 130, 142, 144 – moralischer 21, 85 – naturalistischer 39, 136, 225, 262 – prozeduraler 114 – reduktionistischer 116, 117 – starker, robuster 39, 117, 118, 123 Rechte, individuelle 190, 242, 258, 271 Regeln, praxiskonstituierende 16, 37–40, 42, 47, 49, 264, 265 Reichweite (einer Theorie) 26, 45 Relation, Relationalität siehe Beziehung Reue 67–69, 185, 266 Sadismus 73, 77, 172 Sanktionen, soziale 67, 69, 76, 242–244, 252 schlecht, das Schlechte, Schlechtigkeit 7, 57, 60, 74, 76, 77, 84, 147, 171, 172, 216, 230, 242, 270 Schluss auf die beste Erklärung siehe Erklärung Schmerz 56, 64, 147, 168–171 Schuld 67, 234, 243, 245, 246, 249, 251, 252, 259, 270 schön, das Schöne, Schönheit 3, 4, 88, 90, 92, 101–108, 176, 238, 239 – moralische 5 Seele 81–83, 104, 110, 143–145, 147, 148, 158, 160, 161, 166–171, 174, 175, 177, 222, 268 Selbst, das 167–170, 193, 268 Selbstprädikation 88, 89, 91, 93, 94, 97, 98, 102, 103 Selbstzentriertheit 142, 165, 172, 201 Sensibilitätstheorien 114, 115 So etwas, Gegenstände vom Typ siehe Substanz, erste/zweite
Sachregister
Sollen 57, 71, 242 – moralisches 62, 67 – nicht-moralisches 62 – Seinsollen 18, 138, 142, 262, 263, 269 – aktuales 131 – ideales 131–133 – Tunsollen 131 Sozialforderungstheorien der Pflicht siehe Pflicht Spezifizierbarkeit (dünner durch dichte normative Kategorien) 59, 65, 69, 135, 136, 140, 212, 265, 267, 272 Streben 3, 19, 51, 76, 110, 121, 143, 144, 157, 159–162, 164, 165, 175, 177, 209, 222, 223, 267–269, 274, siehe auch Eros Striktordnung 34, 35, 110 Subjektivismus 43, 45, 112, 113 – reiner 54, 56 Substanz, erste/zweite 71, 97, 98 supererogatorisch, Supererogation 5, 70–72, 79, 249 – Paradox der 70 Supernaturalismus 117, 133 Supervenienz 16, 57, 58, 64, 78, 106, 135, 137, 138, 140, 264, 265, 267, 272 Tadel siehe Vorwürfe Teilhabe 18, 82, 83, 87, 94–96, 101, 107–111, 120, 134, 263, siehe auch Ähnlichkeit, Nachahmung teleologische Unterordnung, Problem der 121, 122, 140, 142, 176, 178, 211, 267 Testbarkeit 35 Tests 10, 50, 52, 114, 115, 119 – Kriterien- 10, 11, 266 – Symptom- 10 theistisch, Theismus 19, 122, 180, 201–203, 207, 214, 215, 220, 221, 227, 233, 241, 242, 249, 258, 259, 270, 272, siehe auch Gott, Platonismus Tod 74, 167, 168, 171, 177, 202, 268 – Suizid 147 transzendent, Transzendenz 2, 4, 14, 85, 93, 107, 148, 149, 176, 196, 200, 201, 203, 206, 210–212, 215, 225, 227, 228, 230, 232, 233, 236, 237, 239, 241, 248–250, 256, 259, 269–271
| 301
Tugend 49, 138, 143, 147, 148, 195, 196, 200, 201, 207, 216, 236, 238, 274 – explanatorische 26–28, 35, 36, 41, 42, 44, 45, 47, 264 – moralische 14, 236 – ästhetische 26 Tugendethik 179, 216, 274 Übel 65, 74, 163, 167, 168, 170, 171, 177, 230, 233, siehe auch schlecht – moralisches 75, 171 – physisches 74 Übereinstimmung 18, 114, 115, 117, 120, 122, 133, 193, 240, 262, 267, 269, siehe auch Entsprechung Universalien 83, 86, 88, 93, 107, 108, 111, 209 – konkrete 197, 198, 210, 270 – moralische 37 Ununterscheidbarkeit des Identischen, Prinzip der 129 unveränderlich, Unveränderlichkeit 90, 126, 127, 129, 131 unvertretbar, Unvertretbarkeit 122, 212, 266 unverzichtbar, Unverzichtbarkeit 266 unwirklich, Unwirklichkeit 125, 126 Ursache, Wirkursache, Verursachung 28, 29, 31, 33, 81, 82, 126, 157, 158, 163, 176, 227, 249 Urteile – moralische 21, 37, 45, 53, 54, 56, 59, 61, 62, 118, 185, 186, 190, 204 – normative 37, 46, 56, 114, 115, 117, 177, 190, 261 – Tatsachen- 54, 59 – Wert- 41, 55, 57, 120, 185, 211, 223 Utilitarismus 181, 213 Verallgemeinerbarkeit 57 Verantwortung 171, 194, 195, 244, 255 Verbindlichkeit 62, 66, 70–72, 79, 243, 266 Vereinheitlichung (theoretische) 16, 20, 26, 42, 47, 221, 259, 260 Vereinigung (ἕνωσις) siehe Einung Verlangen siehe Streben Vernunft 81, 143, 146, 147, 153, 168 – Idee der 199, 201, 209 Versprechen 72, 255, 258
302 | Sachregister Verstehen 2, 27–29, 31, 32, 35, 41–43, 46, 47, 74 Verursachung siehe Ursache via negativa 151, 152, 159, 161 via obliqua 152, 161, 162 Vollkommenheit 1, 3, 5, 19, 20, 95, 96, 121, 133, 156, 197, 199, 200, 202, 203, 206–212, 269–272 Voluntarismus, theologischer 18, 117, 122, 214, 228, 229 vortrefflich, Vortrefflichkeit siehe gut Vorwürfe, Tadel, Kritik (blame) 67–69, 76, 234, 243, 244, 252, 258
Wahrheit 25, 27, 29, 46, 83, 88, 114, 115, 117, 120, 184, 193, 194, 261 Wahrnehmung 119, 168–170, 184, 193, 195, 202, 203 Weltabgewandtheit, Weltflucht (other-wordliness) 121, 165, 175, 268 Werte siehe Eigenschaften Wirklichkeit 16, 19, 28, 29, 47, 83, 86, 97, 99, 115, 117, 120, 123, 125, 136, 137, 143, 158, 161, 177, 187, 188, 190–196, 198, 199, 209–211, 228, 264, 268, 274 Zahl 17, 121, 124–126, 128, 131, 146 Ziel 19, 121, 143, 146, 148, 157, 159–166, 173, 177, 223, 263, 267, 268