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German Pages 368 Year 1993
Der Kulturkampf in Italien und in den deutschsprachigen Ländern
Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient Band 5
Der Kulturkampf in Italien und in den deutschsprachigen Ländern
Herausgegeben von
Rudolf Lill Francesco Traniello
Duncker & Humblot · Berlin
Italienisch-Deutsches Historisches Institut in Trient Der Kulturkampf in Italien und in Deutschland 32. Studienwoche 17. - 21. September 1990 Leiter der Studienwoche Rudo1f Lill Francesco Traniello Italienische Ausgabe 11 "Kulturkampf' in Italia e nei paesi di lingua tedesca (Annali dell 'Istituto storico italo-germanico in Trento. Quademo 31 ), il Mulino, Bologna 1992 Übersetzung und Revision der italienischen Texte Judith Elze Johannes Lill
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Der Kulturkampf in Italien und in den deutschsprachigen Ländern: [17.-21. St?ptember 1990] I hrsg. von Rudolf Lill ; Francesco Traniello. [Ubers. der ital. Texte: Judith Elze ; Johannes Lill].- Berlin : Duncker und Humblot, 1993 (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient ; Bd. 5) ( .. . Studienwoche I Italienisch-Deutsches Historisches Institut in Trient ; 32) ISBN 3-428-07709-1 NE: Lill, Rudolf [Hrsg.]; Istituto Storico Italo-Germanico (Trento): Schriften des Italienisch-Deutschen ... ; Istituto Storico ltalo-Germanico (Trento): .. . Studienwoche
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0939-0960 ISBN 3-428-07709-1
Inhaltsverzeichnis
Rudolf Lill Zur Einführung
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Francesco Traniello Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Hans Maier Katholisch-protestantische Ungleichgewichte seit dem 18. Jahrhundert. Ein Vorspiel zum Kulturkampf .. .. .. .... .... .. .. .. .. ...... ..... 19 Guido Verucci Antiklerikalismus und Laizismus in den Jahren des Kulturkampfes ................ . ............................ .. . .. ............. . ..... .... . .. 27 Winfried Becker Otto von Bismarcks Rolle bei Ausbruch, Verschärfung und Beilegung des preußischen Kulturkampfes ..... . . . .. .. .. . . . . . .. . . .. .. ..... . .. 57 Daniele Menozzi Einstellungen der katholischen Kultur Italiens in der Epoche des Kulturkampfes .... .. ...................... .. .. . ............... .. .. . ..... 87 Margaret Lavinia Anderson Liberalismus, Demokratie und die Entstehung des Kulturkampfes . ... . . ... . .. . . . . ....... .. . ... . . .. . .. . . .... . ...... ........ . .. . ..... . .. . ... 109 Giovanni Battista Varnier Aspekte der italienischen Kirchenpolitik in den Jahren der Konsolidierung des italienischen Staates ....... .. ................. .. ...... .. 127 Giacomo Martina Die Archivdaten des Vatikans zur ersten Phase des Kulturkampfes. 1871-1878 ... . . . .... . .......... . ... . . . .. ... . . ...... . ... . ........ . .. . . . 167 Otto WeijS Der deutsche Kulturkampf (1871-1890) in der öffentlichen Meinung Italiens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Cbristopb Weber Die liberale ReichsparteL Antiultramontane Katholiken in der ersten Phase des Kulturkampfes .. . .. .. .. .. .. .. .. . . .. .. .. .. .. .. . . . . . . . .. . 251
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Inhaltsverzeichnis
Giorgio Chiosso Die Schulfrage in Italien: Volksschulbildung . .. .. . ................. . ... . .. . . 257 Norbert Trippen Die katholisch-theologischen Fakultäten Deutschlands im 19. Jahrhundert zwischen staatlichem Anspruch und kirchlichem Mißtrauen .............. . .................. . .. . .. .. ................ .. .. ... 299 Silvio Ferrari und Andrea Zanotti Familie und Familienrecht im Konflikt zwischen Staat und Kirche ..... .. .. .... .. .... . . . ....... . .. ........ . .. . . . ... . .. . .. ..... . . . .. . . . . . . .. . .. . 321 Peter Stad/er Kulturkampf in der Schweiz - ein Sonderfall? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Kar! Voce/ka Der Kulturkampf in der Cisleithanischen Reichshälfte der Habsburgermonarchie .............. .. . ...................... . ..... . .. .. . . . .... . 355 Verzeichnis der Autoren ... . . . . .. . .. .. .. . ... . . . . . . . . . . . . . .. .......... . . .. . .. ... . ... 367
Zur Einführung Von Rudolf Lill
Der Liberalismus des 19. Jahrhunderts sah bekanntlich eine seiner Hauptaufgaben in der Schaffung einer säkularisierten Gesellschaftsordnung und einer dieser entsprechenden Neubestimmung der "Grenzen zwischen Staat und Kirche"1; und so haben gerade auch die beiden unter liberalen Impulsen entstandenen "verspäteten" Nationalstaaten, das ganz von ihnen bestimmte Königreich Italien und das wenigstens in seiner Anfangsphase von den Nationalliberalen mitbestimmte Deutsche Reich heftige kirchenpolitische Konflikte geführt. Der Kulturkampf gehört daher zu den Themen, welche beim Vergleich von Staat und Gesellschaft im modernen Italien und im modernen Deutschland oft diskutiert worden sind, am meisten wohl von Zeitgenossen in den 1860er und 1870er Jahren2 ; und wie sehr die kirchenpolitische oder konfessionelle Dimension den Diskurs der Eliten unserer Länder mitgeprägt hat, erwies zuletzt unser hiesiges Seminar über die Italienbilder der Deutschen und die Deutschlandbilder der Italiener im 19. Jahrhundert3. So der programmatische Titel eines Buches des evangelischen Staatskirchenrechtiers Emil Friedberg (Die Grenzen zwischen Staat und Kirche, Tübingen 1872), der damals im Auftrag der preußischen Staatsregierung auch an der Ausarbeitung der Kulturkampfgesetze beteiligt war. Damals sowohl von katholischer wie von nationalliberaler Seite, z.B. einerseits von]osef Hergenröther und den "Historisch-Politischen Blättern", andererseits von Heinrich von Sybel, Heinrich von Treitschke und der "Historischen Zeitschrift". Vgl. W. Altgeld, Das politische Italienbild der Deutschen zwischen Aufklärung und europäischer Revolution von 1848, Tübingen 1984, bes. ab S. 132. Besonders Treitschke hat wie in seine Historiographie überhaupt so auch in seine reiche Italien-Publizistik jene antikatholische und antirömische Grundtendenz eingebracht, die für die kleindeutsche Geschichtsschreibung charakteristisch geworden ist und in der Gegenwart von prominenten Sozialhistorikern fortgesetzt wird. Vgl. hierzu M .L. Anderson, The Kulturkampf and the Course of German History, in: Centtal European History, XIX (1986), 82-115, bes. 82 f.; und kürzlich Hans Maier, in F.A.Z. 6. November 1991, S. 12. - Für den selektiven Umgang der Nationalliberalen mit dem zeitgenössischen Italien sind ebenfalls höchst aufschlußreich die soeben neu edierten Römischen Tagebücher 1852-1889 von F. Gregorovius, hrsg. und kommentiert von H.-W. Kruft IM. Völkl, München 1991. Eine Überwindung der kulturkämpferischen Vorurteile aus liberal-katholischer Sicht hatte Franz Xaver Kraus unternommen: Cavour. Weltgeschichte in Karakterbildern, Mainz 1902. 3 A. Ara I L. Lill (Hrsg.), Immagini a confronto: Italia e Germania da! 1830 all'unificazione nazionale I Deutsche Italienbilder und italienische Deutschlandbilder in der Zeit der nationalen Bewegungen (1830-1870), Bologna I Berlin 1991.
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Aber wie bei vielen solcher italienisch-deutscher Vergleiche zeigt die gründliche Betrachtung, daß die Unterschiede fast ebenso gewichtig sind wie die Gemeinsamkeiten. Die Schul- und Kirchengesetze Italiens waren wesentllich maßvoller als die der beiden deutschen Stataen, welche die Protagonisten des Kulturkampfes waren: Baden und Preußen4; und die Regierung Minghettis und Visconti-Venostas wußte nur zu gut, weshalb sie sich nicht von Bismarck in dessen bürokratisch durchorganisierte Kirchenverfolgung hineinziehen ließ5. Zwar polemisierten nationalliberale Publizisten in Florenz und Rom fast ebenso heftig wie in Berlin gegen das Papsttum und ebenso gegen das katholische und übernationale, darum ebenfalls als anachronistisch betrachtete Österreich, aber in der Kirchenpolitik bestand in den 1870er Jahren zwischen Rom und Wien weitaus größere Übereinstimmung als zwischen Rom und Berlin! Generell ist zu sagen, daß die Kulturkämpfe Modernisierungskrisen6 waren, Entscheidungs- oder Kulminationsphasen im langen Prozeß der Säkularisierung, welcher konstitutiv für die Ausprägung des modernen Europas gewesen ist. Ein zweifacher Hintergrund wirkte in die konkreten Konflikte hinein, ein historischkultureller infolge dieses Gesamtprozesses und ein sozialer, der auf spezifischen Klassendifferenzen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beruhte. Zum einen durchzog eben das ganze Jahrhundert der Grundsatzkonflikt zwischen der progressiven Idee von Staat und Gesellschaft, welche auf der Aufklärung, in Deutschland zumeist zusätzlich auf der Postulierung einer protestantisch oder postprotestantisch geprägten bürgerlichen Kulturnation beruhte, und dem traditionalen System der Normen und Werte, welches dagegen weiterhin vor allem die katholische Kirche verfochr7. Daß diese damit zugleich eigene politiZum Stand der Erforschung des Kulturkampfes in Deutschland: R. Lill, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 2 0978), S. 1246-1257; M.L. Anderson, The Kulturkampf; dies., Windthorst. Zentrumspolitiker und Gegenspieler Bismarcks, Düsseldorf 1988; Tb. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866, München 1983; v.a . Kapitel IV; ders., Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, v.a. Kap. XII. Siehe auch: W Real (Hrsg.), Katholizismus und Reichsgründung. Neue Quellen aus dem Nachlaß K.F. von Savignys, Paderbom u.a. 1988. 5 Vgl. Minghettis Aufzeichnungen über seine Gespräche mit Bismarck im September 1873, also auf dem Höhepunkt des preußischen Kulturkampfes: Quellen und Forschungen aus Italienischen Archiven und Bibliotheken, 46 (1966), S. 449 ff. - Über Italiens liberale Innenpolitik generell: A. Berselli, La Destra storica dopo l'unita, 2 Bde., Bologna 1963, 1965. Über die Auswirkungen des Kulturkampfes auf die deutsch-italienischen Beziehungen siehe demnächst auch die Bonner Dissertation von ]. Scboltyseck, "Kulturkampf" und "Krieg-in-Sicht"-Krise. Italien und Deutschland 1875. 6 Vgl. die kurzen Bemerkungen Jacob Burckhardts in: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Kap. IV: Die geschichtlichen Krisen (j. Burckbardt, Gesammelte Werken, Bd. IV, Darmstadt 1956, S. 148, 150). 7 Eine klassisch gewordene Interpretation: F. Schnabel, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 1, Freiburg 1929, Bd. 4, ebd. 1937 (Neudruck, mit Einleitung von E. Weis, München 1987). Vgl. aus der neueren Forschung zuletzt W . Altgeld, Katholizismus, Protestantismus, Judentum. Über religiös begründete Gegensätze und nationalreligiöse Ideen in der Geschichte des deutschen Nationalismus, Mainz 1992.
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sehe und soziale Besitzstände verteidigte, wirkte ebenso verschärfend wie die Überzeugung der Liberalen von ihrem historischen Recht zur gesellschaftlichen Umgestaltung, auch gegen den Willen vieler, die davon betroffen wurden. Gerade gegen diesen Anspruch zogen sich Kirche und Papsttum auf autoritäre Defensive zurück, welche im Syllabus (1864) und im Unfehlbarkeitsdogma (1870) ihre extremsten, aus der in Rom beschworenen kirchlichen Tradition höchstens partiell ableitbaren Formulierungen erfuhr. Das Pathos von Autorität und Bewahrung stand gegen das der Modernisierung oder der Emanzipation. Der soziale Konflikt war aktuellerer Natur: gegen die liberalen Führungsschichten, welche trotz des universalen Geltungsanspruchs ihrer Prinzipien vornehmlich die Interessen der Bourgeoisie vertraten, standen untere Mittel- und Unterschichten auf, welche in der katholischen Bewegung und in den katholischen Parteien (in Deutschland seit den 1840er bzw. 1860er Jahren) ihre ersten wirksamen politischen Vertretungen fanden. Die Zentrumspartei (seit 1870) war interklassistisch, sozialpolitisch aktiv und zumindest partiell demokratisch, auch forderte sie die Anerkennung von vorstaatlichen Grundrechten; infolgedessen paßte sie weder ins Konzept der Liberalen noch in das der Konservativen, und Bismarck gedachte sie entweder zu vernichten oder zu domestizieren. Dieser doppelte Hintergrundkontrast, dem im folgenden die Beiträge von Hans Maier und Margaret Lavinia Anderson nachgehen, ist eben stets mitzubedenken, wenn es um die konkrete Erörterung der kulturkämpferischen Konflikte geht, welche in den Ländern deutscher Sprache und in Italien zwischen ca. 1830 und 1880 ausgefochten wurden: wie schon gesagt, mit Parallelen, welche sich aus analogen historischen Situationen wie aus der weitgehenden kulturellen Konvergenz der liberalen, mit der Zeit nationalliberalen Kräfte ergaben, aber ebenso mit Differenzen, welche nicht nur aus der unterschiedlichen politischen Mentalität von Deutschen und Italienern zu erklären sind. Sie ergaben sich vielmehr aus unterschiedlichen Konzeptionen von Staat und Individuum, von öffentlichem Recht und Gesellschaft in den in die Kulturkämpfe verwickelten Ländern; es waren Differenzen, die auch weitgehend auf den unterschiedlichen konfessionellen Traditionen und ihrer Einwirkung auf die jeweilige politische Kultur beruhten. Die Extrempositionen nahmen einerseits Preußen, andererseits Italien und Österreich ein. Die preußischen Oberschichten erblickten aus langer, durch Hegels Schule verfestigter Tradition im Staat den "fons unicus juris", dem sich ebenso wie die protestantische letztlich auch die katholische Kirche zu unterwerfen hätte; der Kulturkampf schien die willkommene Gelegenheit zu bieten, die rechtliche Emanzipation der letzteren, welche unter König Friedrich Wilhelm IV. und besonders seit 1848 erfolgt war, rückgängig zu machen8 . Gerade Guter Aufweis der beiderseitigen Positionen:]. Hecket, Die Beilegung des Kulturkampfes in Preußen, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (Kan. Abt.), 19 (1930), wieder gedruckt in:]. Hecket, Das blinde, undeutliche Wort Kirche, Köln 1964. - H. jedin, Freiheit und Aufstieg des deutschen Katholizismus zwischen 1848 und 1870, in: H. jedin, Kirche des Glaubens, Kirche der Geschichte. Ausgewählte Vorträge und
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Bismarck folgte diesem Konzept, in dessen Konsequenz Bischöfe, die den Kulturkampfgesetzen widerstanden, für abgesetzt erklärt wurden. Zudem entwickelte der Reichskanzler erstmals seine agonale Geschichts- und Staatstheorie: die Katholiken wurden wie später die Sozialdemokraten als "Reichsfeinde" diffamiert und ausgegrenzt. Winfried Becker, einer der besten Kenner der Zentrumsgeschichte9 , berichtet darüber wie über die Gründe, die Bismarck trotzdem seit 1877 zu praktischen Kompromissen bewogen haben. Die der preußischen Staatsidee nahestehenden protestantisch-norddeutschen Liberalen, die überzeugtesten Kulturkämpfer in Deutschland, begrüßten die volle Einsetzung der Staatsmacht zur Unterdrückung hierarchischen, d.h. in ihren Augen anachronistischen Kirchenturns. Eben solche prinzipielle Unbedingtheit haben sich die führenden Liberalen in Italien wie in Österreich nicht angeeignet. Sie gingen, wie Kar! Vocelka am Beispiel der Österreichischen Schul- und Kirchengesetze zeigt, einen pragmatischeren Weg und begnügten sich damit, gemäß der modernen Auffassung vom Staat dessen Souveränität auf den Gebieten von Schule, Zivilstand und Familie durchzusetzen. Aber den Anspruch der katholischen Kirche auf eine auch öffentlich-rechtliche Autonomie haben sie als solchen nicht in Frage gestellt; auch suchten sie reformistische und liberale Strömungen innerhalb des Katholizismus zu unterstützen. Die seit 1859 bzw. 1866 in Wien regierenden Deutsch-Liberalen dachten in josephinischen Traditionen. Sie widersetzten sich daher im wesentlichen dem durch das Konkordat von 1855 heraufgeführten konfessionellen Absolutismus, wollten aber nicht in das innere Gebiet der Kirche eindringen. Dem etatistischen und doktrinären Liberalismus des Nordens stand somit im Süden ein authentisch bleibender, weil Pluralismus und Autonomien anerkennender Liberalismus gegenüber. In Preußen und im preußisch geführten Deutschen Reich haben Überschätzung staatlicher Autorität und Rechtspositivismus die kirchlichen Auseinandersetzungen bestimmt; insofern hat schon der Kulturkampf die Grundproblematik des Bismarck-Reichs offengelegt und entsprechend auf das europäische Deutschlandbild gewirkt, Otto Weiss berichtet darüber aufgrund seiner Recherchen über Italiens öffentliche Meinung. Wie sehr die "lunga durata" konfessioneller und kirchenpolitischer Traditionen in die Konflikte der 1860er und 1870er Jahre hineinwirkte, zeigt auch der Blick auf die anderen darin involvierten Staaten, zunächst auf Bayern und Baden, über die wegen der unserer Tagung gebotenen Kürze leider keine eigenen Referate gehalten werden konnten. Das bayerische Ministerium Lutz drängte zwar 1871/ 72 auf die Einführung der beiden kulturkämpferischen Reichsgesetze,
Aufsätze, Freiburg 1966, S. 469-484. S. außerdem A.M. Birke, Bischof Ketteler und der deutsche Liberalismus, Mainz 1971. W. Becker, Georg von Herding 1843-1919, Bd. I, Mainz 1981. Ders. (Hrsg.), Die Minderheit als Mitte. Die deutsche Zentrumspartei in der Innenpolitik des Reiches 18711933, Pade rbom 1986.
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welche den "Kanzelparagraphen" einführten und die Jesuiten auswiesen, blieb aber seitdem mehr auf der Österreichischen Linie, freilich mit neuartig entschiedener Betonung des traditionellen, seit 1848 abgeschwächten Staatskirchentums 10• In Baden dagegen wandte die seit den 1860er Jahren regierende nationalliberale Partei schon damals die Machtmittel des modernen Staates gegen die katholische Kirche an; die dortige Gesetzgebung über Schule, Ehe und kirchliche Stiftungen (1868/70)11 wurde das Vorbild für die preußische der Jahre 1872/74. In der Schweiz, wo die Auseinandersetzungen schon in den 1840er Jahren begonnen hatten und 1847/48 sogar den "Sonderbundskrieg" hervorgebracht hatten, standen katholische gegen evangelische Kantone. Letztere gingen, wie Peter Stadler aufgrund seiner ausgedehnten und abgewogenen Studien12 aufweist, nach 1870 mit derselben Schärfe vor wie Baden und Preußen; auch in Basel wurde der Bischof staatlicherseits abgesetzt! Schließlich erzwangen sie die Erneuerung der Bundesverfassung (1874) mit ihren konfessionellen Sonderartikeln. Erst der Pontifikat Leos XIII. (seit 1878) eröffnete Wege zu praktischen Kompromissen. Um Kompromisse, ja um Versöhnung von katholischer Tradition und modernen Ideen hatten sich nicht wenige Personen und Gruppen schon vorher bemüht, waren aber an der Intransigenz der Mehrheiten vordergründig gescheitert. Christoph Weber, bekannt durch die Erforschung vieler Aspekte des Kulturkampfs und besonders der Kontraste zwischen liberalen und ultramontanen Katholiken13 , stellt eine dieser Gruppen vor, die freilich nur auf der politischen Ebene und für kurze Zeit agierte: die Liberale Reichspartei, welche antiultramontane, dem weltanschaulichen Liberalismus und dem Bismarckschen Etatismus sehr weit entgegenkommende, mehrheitlich den Oberschichten angehörende Katholiken urnfaßte. Ein gerade singuläres Spannungsfeld zwischen ultramontaner und "deutscher", dogmatischer und historischer Theologie wie zwischen Staat und Kirche stellten die theologischen Fakultäten an den staatlichen Universitäten Deutschlands dar. Norbert Trippen, der wichtige Studien zu deren Mentalität und Ge-
10 F. von Rummel, Das Ministerium Lutz und seine Gegner, München 1935. W Grasser, ]oh. Frhr. von Lutz, München 1967. H.-M. Körner, Staat und Kirche in Bayern
1866-1918, Mainz 1977. 11 L. Gal/, Der Liberalismus als regierende Partei. Das Großherzogtum Baden zwischen Restauration und Reichsgründung, Wiesbaden 1%9. j. Becker, Liberaler Staat und Kirche in der Ära von Reichsgründung und Kulturkampf ... Baden 1860-1876, Mainz 1973. 12 P. Stad/er, Der Kulturkampf in der Schweiz. Eidgenossenschaft und katholische Kirche im europäischen Umkreis 1848-1888, Frauenfeld I Stuttgart 1984. Ders. , Kulturkampf in der Schweiz- ein Sonderfall?, in: Historische Zeitschrift, 254 (1992), S. 33-49. 13 Ch. Weber, Kirchliche Politik zwischen Rom, Berlin und Trier 1876-1888, Mainz 1970. Ders., Quellen und Studien zur Kurie und zur vatikanischen Politik unter Leo XIII., Tübingen 1973.
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schichte seit dem 19. Jahrhundert veröffentlicht hari\ beschreibt die existentielle Krise, in welche mehrere dieser Fakultäten infolge des Unfehlbarkeitsdogmas geraten sind und wie diese Krise von den Kulturkampfparteien ausgenutzt worden ist. Viele Professoren glaubten das neue Dogma nicht akzeptieren zu können, etliche von ihnen wurden Führer oder Förderer der dagegen aufstehenden altkatholischen Bewegung, welche von den Regierungen in Berlin, München und Karlsruhe (und ähnlich in der Schweiz) eine Zeit lang im Streit mit der Kurie Pius' IX. instrumentalisiert worden ist. Trotzdem haben Deutschlands theologische Fakultäten, anders als in Italien, jene Krise überlebt, weil die Regierungen und auch etliche Bischöfe sie nicht aufgeben wollten. Über die langwierige Beilegung der Kulturkämpfe, die durch deren desintegrierende Wirkungen, auch durch Patt-Situationen infolge unbeugsamen katholischen Widerstands nahegelegt und allenthalben seit 1878 durch die versöhnlichen Initiativen Leos XIII. 15 ermöglicht wurde, konnte kein eigenes Referat gehalten werden. Mit Recht hat Peter Stadler von einem Kampf ohne Sieger und Besiegte gesprochen; allenthalben wurden schließlich neue Gleichgewichte zwischen Staat und Kirche gefunden, die sich als dauerhaft oder entwicklungsfähig erwiesen haben. Aber in Preußen hat, wie Winfried Becker hervorhob, gerade bei der Beilegung des Kulturkampfes die zuvor skizzierte Problematik weitergewirkt. Bismarck hat an seinem Konzept staatlicher Souveränität ohne jeden Abstrich festgehalten und nur praktische, inhaltlich freilich weitgehende Zugeständnisse gewährt: eine Koordination von Staat und Kirche durch vertragliche Absprachen zwischen Preußen und dem Hl. Stuhl (auf die Leo XIII. so sehr gehofft hatte!) kam für ihn nicht in Frage. Es ging eben in den Kulturkämpfen nicht nur um die Grenzen zwischen Staat und Kirche, sondern um den Machtanspruch des modernen Staates, um dessen Omnipotenz mit deren prä-totalitären Zügen. Die für eine humane Gesellschaft grundlegende Frage nach der Existenz und der Anerkennung von Rechten und Werten, die dem Staat vorgegeben und für ihn nicht verfügbar sind, wurde in neuartiger Zuspitzung gestellt. Das Verdikt erst nationalliberaler, dann sozialliberaler Historiker über eine autoritäre und monolithische Kirche ist daher wohl nicht das letzte Wort. Indem Männer wie Wilhelm Emanuel von Kettelerund Ludwig Windthorst für die Anerkennung solcher Rechte und Werte, dazu für die soziale Integration der Unterschichten kämpften, dachten und handelten sie moderner als Bismarck, Treitschke oder Virchow. Modeme Staatsidee und katholische Naturrechtslehre standen gegeneinander. Die Kulturkämpfe und deren Beilegung lehren auch (was damals die Protagonisten beider Seiten 14 N. Trippen, Theologie und Lehramt im Konflikt. Die kirchlichen Maßnahmen gegen den Modemismus im Jahre 1907 und ihre Auswirkungen in Deutschland, Freiburg 1977. 15 Vgl. über dessen Konzept partieller Verständigung mit der Moderne die Beiträge von 0. Köhler, in: H. jedin (Hrsg.), Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. VI/ 2, Freiburg 1973.
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nicht wahrhaben wollten), daß beide zu versöhnen sind, ja daß sie einander im Sinne humaner Ausgestaltung moderner Gesellschaften durchaus ergänzen können.
Einleitung Von Francesco Traniello
An erster Stelle steht die Frage, ob es in Italien einen dem deutschen ähnlichen Kulturkampf gegeben hat. Ein Teil der Geschichtswissenschaft hat den Konflikt zwischen Staat und Kirche in Italien nach der Einheit als relative Randerscheinung gewertet, da er sich nicht auf die Strukturen auswirkte und vor allem ideologischer Natur war. Sie hat ihn als einen Konflikt gewertet, der außer in kurzen Momenten größerer Schärfe begrenzt blieb, und zwar sowohl infolge der besonderen Entwicklung der bürgerlichen Revolution in Italien als auch infolge des Zusammengehens der traditionellen bürgerlichen Führungsschichten gegenüber der Bedrohung durch Sozialismus und Arbeiterbewegung. Da das italienische Bürgertum nicht fähig war, die eigene Hegemonie auf die unteren Volksschichten und insbesondere auf die Bauern auszudehnen, fuhr dieser Meinung nach die katholische Kirche fort, eine stabilisierende und erhaltende Rolle im sozialen und ideologischen Bereich auszuüben, an der die herrschenden Schichten nicht vorbeikamen.
Diese Darstellung der Geschichte Italiens nach der Einheit erscheint übermäßig schematisch, auch wenn sie eine Reihe von nicht zweitrangigen Fragen enthält und aufwirft. Skizziert man einen Vergleich zwischen dem deutschen Kulturkampf und dem Komplex der italienischen Kirchenpolitik nach der Einheit, würde ich folgende Unterscheidungsmerkmale aufzeigen: 1. Die Gründe für den Konflikt zwischen Staat und Kirche haben in Italien länger Bestand als in Deutschland, und zwar für eine Periode, die praktisch sowohl die Regierungszeit der historischen Rechten (1861-1876) als auch die der Linken zumindest bis zur Krise am Ende des Jahrhunderts umfaßt. Wenn die Linke auch ideologisch entschieden antiklerikaler ausgerichtet ist als die Rechte, so kann man doch nicht sagen, ihre Kirchenpolitik sei vom Standpunkt der angewandten und durchgesetzten Gesetzesverordnungen aus wesentlich aggressiver gewesen. Es stimmt allerdings, daß in der Epoche der Linken das Freimaurertum eine größere Macht in der öffentlichen Verwaltung und im Staatsapparat erhält - auch das Freimaurertum ist aber in bezug auf Kirche und katholische Religion unterschiedlich orientiert. 2. Die Beziehungen zwischen Staat und Kirche sind in Italien anders als im deutschen Reich ständig durch die anhaltende "römische Frage" bedingt und beeinflußt, d .h. durch die nicht erfolgte Konsenslösung bei der päpstlichen
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Francesco Traniello
Forderung nach territorialer Souveränität und Unabhängigkeit, nachdem der neue Staat Rom eingenommen hatte. In der "römischen Frage", die schon Cavour als wichtigste und heikelste Frage für den geeinten Nationalstaat beurteilt hatte, verflechten und überlagern sich geradezu verschiedene Aspekte, die einen sehr weiten und komplexen Problembogen bilden: a) Natur und Rolle der päpstlichen Macht in bezug auf die Weltkirche und die italienische Kirche im besonderen. Zu erwähnen ist, daß das Ende der weltlichen Macht mit der Verkündung der päpstlichen Unfehlbarkeit von seiten des I. Vatikanischen Konzils zusammentrifft. Fragen also der internen Kirchenordnung, des Funktionierens des institutionellen Kirchenapparats und schließlich Fragen theoretischer Orientierung in bezug auf den liberalen Staat und dessen bestimmende Prinzipien; b) die "Garantien" für eine wirkliche Unabhängigkeit des Heiligen Stuhls und die Verantwortlichkeiten gegenüber den anderen europäischen Staaten (und öffentlichen Meinungen) mit offenkundiger Widerspiegelung in den internationalen Beziehungen; c) die Aktivierung oder Neustrukturierung organisierter, dem Papst unterstellter Kräfte, die auf weltliche Macht hin und ebenfalls "klerikal" orientiert sind und den ursprünglichen Kern einer katholischen Bewegung bilden, welche schnell stärker wird und gerade aufgrund der "römischen Frage" nicht durch eine verfassungsmäßige Opposition (wie es dagegen das deutsche "Zentrum" ist), sondern tendenziell durch ihre "Anti-System"-Haltung gekennzeichnet ist. Es muß aber hervorgehoben werden, daß Fortschritte in der Forschung und eine fortschreitende Verlagerung des geschichtswissenschaftliehen Interesses vom Bereich der Gesetzgebung, der Verwaltung und der Führung des Staates hin zu einer genaueren Untersuchung der in der italienischen Gesellschaft wirklich vorhandenen Dynamiken erlaubt haben, generell eine gewisse Abweichung zwischen den von den Regierungen verfolgten Programmen und Zielen der Kirchenpolitik und ihrer tatsächlichen Verwirklichung festzustellen. Dies hat eine - nicht mehr so sehr auf allgemeinen Interpretationen ideologischer Natur, sondern auch durch den Rückgriff auf neue dokumentarische Quellen mehr auf der Überprüfung der tatsächlichen Wirklichkeit fußende - Revision der Darstellungen der politisch-religiösen und politisch-kirchlichen Situation zu Folge, die über lange Zeit hinweg das Feld beherrschten und nicht immer auf einer detaillierten Kenntnis der verborgenen Einzelheiten gründeten, welche die italienische Gesellschaft nach der Einheit vom religiösen, kulturellen und sozialen Standpunkt her charakterisieren. Im Licht dieser jüngeren Forschungsrichtungen - von denen die italienischen, an unserem Seminar beteiligten Kollegen einige wichtige Beispiele geben werden - finden alle direkt oder indirekt mit der Kirchenpolitik und den Beziehungen zwischen Staat und Kirche in Zusammenhang stehenden Fragen eine zum Teil neue Einordnung, während sich neue Forschungsbereiche auftun, die zu lange übersehen oder vernachlässigt worden sind - wie: Formen des
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religiösen Lebens, öffentliche Fürsorge und Mildtätigkeit, Anwendung der Gesetzgebung im Bereich von Ehe und Familie, kollektive Verhaltensweisen und Praktiken, usw.
Katholisch-protestantische Ungleichgewichte seit dem 18. Jahrhundert. Ein Vorspiel zum Kulturkampf Von Hans Maier
I.
Das 19. Jahrhundert war für die deutschen Katholiken verlustreich: In der Säkularisation büßten sie ihre in der Reichskirche verankerte öffentliche Repräsentation ein und verloren ihr Bildungswesen; in den Staaten des Deutschen Bundes geriet die Kirche in immer tiefere Abhängigkeit von der staatlichen Gewalt. Gleichzeitig veränderten die Ereignisse von 1803-1815 das seit dem Westfälischen Frieden leidlich stabile Gleichgewicht der Konfessionen: nachdem das "stiftische Deutschland" untergegangen war, hatte die protestantische Kultur des Nordens und Ostens kein ebenbürtiges Gleichgewicht mehr im Westen, Süden und Südosten. So wundert es nicht, daß der Protestantismus in der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts dominierte: stand am Anfang ein paritätisch verfaßte Reich (mit leichtem Vowiegen der katholischen Stände), so wies das Zweite Kaiserreich nach 1871 eine deutliche protestantische Mehrheit auf. Der Ausschluß Österreichs aus dem Deutschen Reich beraubte die Katholiken ihrer politischen Vormacht. Katholizismus und deutsche Nation waren zu verschiedenen Größen geworden. Im mehrheitlich protestantischen Kaiserreich waren die Katholiken als Konfession eine Minderheit. Im mehrheitlichen katholischen Mehrvölkerstaat Österreich waren sie es als Deutsche. Dieser Prozeß der Gewichtsverlagerung vom katholischen zum protestantischen Volksteil hat eine lange Vorgeschichte. Sie beginnt mit dem Westfälischen Frieden; ihr Schwerpunkt liegt im 18. Jahrhundert. Der Vorgang ist in seinen Einzelheiten, seinen Schwerpunkten, seinem regional sehr unterschiedlichen Verlauf noch kaum zureichend erforscht. Die folgenden Bemerkungen haben daher durchaus vorläufigen und thesenhaften Charakter. Bevölkerungsstatistik 1. Es ist nicht so, daß der katholische Volksteil gegenüber dem evangelischen im 18. Jahrhundert zahlenmäßig abgenommen hätte. Zu Ende des Alten Reiches stellen die Katholiken noch immer - wie in der Zeit vorher - die Mehrheit der Reichsbevölkerung. So schwierig eine Quantifizierung im einzel-
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nen ist, so stehen doch die großen Linien der demographischen Entwicklung fest: nachdem von der Mitte bis zum Ende des 16. Jahrhunderts die Evangelischen übelWiegen (die Schätzungen gehen von 60-90%!), gewinnt der erneuerte Katholizismus in den folgenden Jahrzehnten Boden zurück, vor allem durch die Gegenreformation in den habsburgischen Erblanden. Am Ende des Dreißigjährigen Krieges wird klar: Die Konfessionen können einander weder bekehren noch verdrängen oder gar vernichten; und so bleibt Religionszweiheit (wenn auch noch nicht Religionsfreiheit) der einzige Ausweg. Seit dem Westfälischen Frieden stabilisieren sich dann die territorial-konfessionallen Verhältnisse. Deutschland zerfällt in zwei konfessionelle Lager: "der Norden und Osten meist evangelisch mit einigen katholischen Enklaven (Bistum Ermland, Münster, Fulda, früher auch das Erzbistum Bremen), der Süden und Westen meist katholisch mit zahlreichen protestantischen Einschlüssen (Württemberg, die pfälzischen Gebiete, anfänglich auch die Oberpfalz, viele Reichsstädte in Oberdeutschland, Baden-Durlach, Nieder-Elsaß, Ansbach-Bayreuth. Die Massenverschiebung auf konfessionellem Gebiet, früher oft durch Fürstenlaune bestimmt, erstarrte. Diese Erstarrung hinterließ aber scharf ausgeprägte, von der politischen Zugehörigkeit der Gegend bestimmte konfessionelle Grenzen" (Schneider, 1928). Man kann hinzufügen: diese Stabilisierung kam, wenigstens zunächst, der katholischen Seite zugute (größere Geburtenhäufigkeit, größere Anhänglichkeit an Traditionen usw.). Allerdings gab es auch protestantische Regionen mit starker Bevölkerungszunahme: Württemberg, Pommern, Ostpreußen, Schlesien.
Ortsverteilung 2. Das Bild ändert sich, wenn wir die Ortsverteilung von Katholiken und Protestanten ansehen. Mit aller Vorsicht kann man eine gewisse Neigung der Katholiken zu ländlichen Räumen und Kleinstädten, der Protestanten zu mittleren und größeren Städten schon im 18. Jahrhundert, ja bereits früher voraussetzen: war doch schon die Reformation, wie wir heute genauer wissen, ein wesentlich urbanes Geschehen. Es wäre eine reizvolle Aufgabe historischer Statistik, im einzelnen zu klären, wie sich innerhalb territorial abgegrenzter Ordnungen unterschiedliche Sozialstrukturen herausbilden: eine stärker städtische im Norden, Nordosten und Westen, eine stärker ländliche im Süden und Südosten. Immerhin sind so volkreiche, rasch wachsende Städte wie Hamburg, Leipzig und Breslau ganz oder übelWiegend evangelisch, und die ältesten Verbindungen von Aufklärung und Protestantismus eiWachsen im städtischen Milieu - Halle, Göttingen, Berlin, Königsberg.
Politische Strnkturen 3. Seit Friedrichs II. Schlesischen Kriegen stellt Preußen den politischen status quo im Reich immer entschiedener in Frage. Das protestantische Deutschland -das im Dreißigjährigen Krieg noch die Hilfe einer fremden Macht, Schwedens, in Anspruch nehmen mußte - gewinnt damit eine eigene, zur Expansion ent-
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schlossene politische Vormacht. Das Echo wirkt bis in die katholischen Gebiete West- und Süddeutschlands hinein - man spürt es vor allem in der zeitgenössischen Literatur von Möser und Herder bis zum "fritzisch gesinnten" jungen Goethe. Demgegenüber gerät das ältere Deutschland in die Defensive: das Reich verliert seine integrierende Kraft; den geistlichen Staaten fehlt es zur Selbstbehauptung an einer ausreichenden Machtbasis; ihr Lebensrecht wird immer mehr bestritten. Die geistlichen Territorien werden in der Konfrontation zwischen Preußen und Österreich, zwischen protestantischem Norden und katholischem Süden, immer mehr zu Manövriermasse. Der die katholische Position schwächende Siegeszug der Säkularisationen beginnt schon im Alten Reich, lange vor der Französischen Revolution und Napoleon.
n. 4. Das Zentrum des Kräftemessens zwischen Katholizismus und Protestantismus lag freilich nicht auf militärischem, sondern auf sprachlichem, literarischem, wissenschaftlichem Feld. Hier entstand das entscheidende "Ungleichgewicht" zwischen beiden Konfessions- und Bevölkerungsgruppen - mit der Folge eines dauerhaften Überlegenheitsgefühls auf der einen, eines Minderwertigkeitskomplexes auf der anderen Seite. Sucht man nach den Ursprüngen der im Kulturkampf oft beschworenen protestantischen "Superiorität" und katholischen "Inferiorität", so werden sie erstmals in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sichtbar. Die katholische Kultur des Südens trat vor der mittel- und norddeutschen Aufklärung den Rückzug an. Die kulturelle Überlegenheit des norddeutschen Protestantismus im 18. Jahrhundert war in erheblichem Maß ein Phänomen sprachlicher Art. Innerhalb des Protestantismus entwickelte sich seit der Lutherbibel eine deutsche Kultur- und Geistessprache. Diesen Vorsprung mußten die Katholiken seit etwa 1760 erst aufholen. Gewiß war Martin Luther nicht der Schöpfer der deutschen Hochsprache. Man muß in dieser Hinsicht die Entwicklung der Sprache und die literarischgeistigen Folgewirkungen der Reformation voneinander trennen. Luther war nicht der erste, der die Bibel ins Deutsche übersetzte. Aber seine Übersetzung drang erstmals in breitere Kreise; sie brachte den längst in Gang befindlichen Sprachausgleich zwischen "Ober- und Niederländern" zum vorläufigen Abschluß; sie wurde zum Modell für das literarische Deutsch der Zukunft. In seiner Wirkung als Sprachschöpfer hat Luther für Deutschland eine ähnliche Bedeutung wie Dante, Boccaccio, Petrarca für Italien. In seiner Sprache erkannte sich die Nation. Wenn aber die Voraussetzung für die Entstehung des modernen Deutsch in der - wenigstens partiellen - Konvergenz eines landschaftlichen (sächsischen) und eines kaiserlichen Deutsch lag (so sah es übrigens auch Luther selbst!), dann kann man umgekehrt die folgende Entwicklung daraus erklären, daß diese
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Konvergenz durch die Glaubensspaltung und die Entstehung getrennter religiöser und politischer Kulturen Zug um Zug verschwand. Deutschland wurde zum nahezu einzigen Land des Kontinents, in dem sich, annähernd gleichstark, eine katholische und eine protestantische Kultur entwickelte; die eine, im Süden, in enger Verbindung zur romanischen Welt; die andere, im Norden, im Austausch mit England, Skandinavien, Holland. Das erklärt freilich noch nicht, weshalb die protestantische Kultur auf dem Gebiet der Literatur und Bildung in den folgenden Jahrhunderten eine so starke Überlegenheit entwickelte. 5. Hier empfiehlt sich ein Blick auf die Wissenschafts- und Schulgeschichte. Für Katholiken wie Protestanten blieb zunächst die gemeinsame humanistische Bildungstradition verpflichtend. Im evangelischen wie im katholischen Humanismus blieb das Verhältnis von Vernunft und Glauben spannungsreich; doch herrschten noch lange die Symbiosen vor- melanchthonianischer Humanismus auf der einen Seite, die Schul- und Studienordnungen der Jesuiten auf der anderen. Die vera philosphia der Alten verband sich bruchlos mit der christlichen Lehre. Insofern waren Altprotestantismus und Katholizismus in ihrem Bildungsverständnis nicht grundsätzlich verschieden. Nicht nur im katholischen, auch im evangelischen Deutschland beherrschte die aristotelische Tradition noch lange Zeit das Feld. Im Zeichen der Galubensvermittlung war man um enge Abstimmung von Erziehung und Studium, Schul- und Hochschulbildung bemüht. So blieben auch die deutschen Universitäten im Rahmen des "paritätisch" die Konfessionen überwölbenden Reiches konfessionsgebundene Landesanstalten in Staatshand - dotiert überwiegend aus originalem oder säkularisiertem Kirchengut, durch Bekenntnisformeln und Konkordienbücher mit der Religion des Territorialstaats verbunden, unter den europäischen Nachbarn auffallend durch enge kirchliche Bindungen, durch das Vorwiegen von Theologie und Philosophie und eine bibelbezogene Buchgelehrsamkeit. Die Unterschiede zwischen den katholischen und den evangelischen Ländern machen sich denn auch sehr viel mehr in den Schulen als in den Hochschulen bemerkbar. Zunächst: in den evangelischen Staaten war die Organisation des Schulwesens keine kirchliche, sondern in erster Linie eine staatliche Aufgabe. Das ergab sich schon aus der Säkularisation der Kloster- und Domschulen. Gewiß gab es in den Anfängen noch eine geistliche Schulaufsicht. Aber die disziplinäre Kontrolle durch die Kirche lockerte sich früh und verschwand bald ganz. Ein Zweites: die humanistische Symbiose wird im evangelischen Bereich zu Ende des 17. Jahrhunderts schwächer und löst sich allmählich auf. Das hat zunächst zur Folge, daß das Lateinische als Sprache der Bildung zurücktritt, das Deutsche dagegen immer stärker vordringt. Übrigens war Deutsch in den evangelischen Territorien von Anfang an im Katechismusunterricht üblich. Fast durchweg deutsch waren auch die Formen der Verkündigung: man denke nur an die Lutherbibel und an das deutsche Kirchenlied!
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Auch in den katholischen Territorien dringt im späteren 17. und im 18. Jahrhundert das Deutsche vor. Auch hier lockert sich die Bindung an das Lateinische. Der entscheidende Unterschied liegt aber darin, daß der gebildete Katholik, wie Kar! Vietor hervorgehoben hat, nur den Dialekt seiner Landschaft kannte, während der gebildete Protestant in ständigem Kontakt mit einer über den Mundarten stehenden gemeindeutschen Sprache lebte. "Als Geistlicher brauchte er sie in der Predigt; war er Laie, so lernte er sie lesend verstehen. Als das Zeitalter des Späthumanismus mit seiner lateinischen Literatur zu Ende ging und eine kunstvolle Literatur in deutscher Sprache sich herauszubilden begann, da konnte dieser epochemachende Übergang nirgends anders geschehen als im protestantischen Norden und Osten". Diesen letzten Satz Vietors wird man differenzieren müssen: Luthers Sprache hatte sich ja nicht so sehr am Norden als vielmehr am Ostmitteldeutschen und Oberdeutschen orientiert. Daß freilich der Norden und Osten im 17. und 18. Jahrhundert einen schwer einholbaren sprachlich-literarischen Vorsprung gewann, steht außer Zweifel. Das Problem des katholischen Deutschland lag darin, daß es aus Selbsterhaltungsgründen bis weit ins 18. Jahrhundert hinein eine religiöse Abgrenzungsstrategie verfolgte, die sich alsbald ins Sprachliche übertrug. Die dem katholischen Glauben zurückgewonnenen Länder grenzten sich auch kulturell und sprachlich von den protestantischen Staaten ab. Was einstmals auf sprachlichen Gemeinsamkeiten beruhte, das wurde jetzt zu "lutherischem Deutsch". Es ist gewiß eine Übertreibung ex post, aus der neuprotestantischen Sicht des 19. Jahrhunderts, wenn Jacob Grimm das Neuhochdeutsche im Gegenzug als "protestantischen Dialekt" bezeichnet hat. Aber es trifft doch die Sache, wenn Vietor von einer "weitgehenden Personalunion zwischen Protestantismus und säkularer Literatur" in Deutschland spricht. Während im katholischen Deutschland die Literatur überwiegend in die Hände von Ordensgeistlichen überging (Spee, Balde, Angelus Silesius), blieb im evangelischen Deutschland das Wechselspiel von geistlicher und weltlicher Literatur erhalten. Hier lagen die Voraussetzungen für den späteren Siegeszug der klassischen Literatur.
m. 6. Das Ergebnis war eine weitgehende Trennung von Katholizismus und Zeitkultur im Deutschland des 19. Jahrhunderts -verstärkt durch die eingangs erwähnten Tendenzen der Säkularisation und die wachsende Einbindung der Kirche in die Staaten des Deutschen Bundes. Zu Anfang des Jahrhunderts stehen Sailer und der Münsteraner Kreis noch in enger Verbindung mit der klassischen Bildung, dem Weimar Herders und Goethes; die Romantik versucht noch einmal den Brückenschlag zwischen Gegenwart und Mittelalter, katholischem und evangelischem Fühlen; die Generation der Görres, Drey, Mähler, Diepenbrock und Radowitz hält noch an der Verbindung von Katholizismus und Nationalkultur fest. Aber bald darauf gehen die Wege auseinander. Eichendorff ist der letzte katholische Dichter, der im 19. Jahrhundert von der
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deutschen Gesamtkultur rezipiert wird (nicht mehr die Droste, nicht mehr Stifter); das Kölner Domfest, 1842 gefeiert, vereinigt ein allerletztes Mal katholische, dynastische, historische und nationale Interessen. Für die spätere, von Liberalismus und Fortschrittsglauben geprägte nationale Kultur ist der Katholizismus unwiderruflich Vergangeheit. 7. Mit dem Ende der Romantik verliert der Katholizismus in Deutschland seine kulturelle Ausdruckskraft vor allem im Bereich der Sprache und Dichtung; er hat an der Nationalliteratur nur noch ephemeren Anteil, während im Bereich der Musik und Volkskunst - alten Domänen katholischen Ausdrucks - die Produktionskraft zumal im Süden (Österreich und Bayern) unvermindert anhält. Am schärfsten macht sich die kulturelle Trennung von der Nation auf dem Gebiet der Wissenschaften geltend: Auf den indifferenten oder glaubensfeindlichen Geist der Schulen und Universitäten und die antikatholische Personalpolitik der Unterrichtsverwaltungen antworten die Katholiken mit dem Rückzug aus Wissenschaft und Bildung (ausgenommen die Theologie); Bildungsniveau und Bildungsanteil sinken entsprechend ab. 8. Der Rückzug aus der Zeitkultur äußert sich im wesentlichen in drei Formen: der einseitigen Traditionsorientierung, der Fragmentierung der Kulturpflege, dem Nicht-Beteiligt-Stein an neuen Kultur- und Wissenschaftsaufgaben. a) Die Traditionsorientierung findet ihren deutlichsten Ausdruck in der nazarenischen Kunst, in der einseitigen Präkonisierung der Gotik, in der puristischen Rückwendung zur Frühklassik in der Kirchenmusik, im lange verbreiteten Mediävalismus der katholischen Literatur. Sie ist in starkem Maße Flucht aus der Zeit, historisierende Selbstabkapselung, Symptom künstlerischer Urkraft und Unfruchtbarkeit. b) Es setzt ein Prozeß der Fragmentierung ein: Während die ältere katholische Kultur Fruchtbarkeit auf allen Gebieten entfaltete, zieht sich der Katholizismus im 19. Jahrhundert mehr und mehr auf bestimmte Domänen zurück; Theologie und Philosohie (zumeist in ihrer traditionsbestimmten Form); Kulturund Kirchengeschichte; Pädagogik; Ästhetik; Sozialpolitik. Hier liegen die großen, zu ihrer Zeit auch innerkirchlich oft verkannten Leistungen der Drey, Möhler, Baader, Deutiger, Janssen, Schell, Ebner. Einer ähnlichen Selektion und Schrumpfung unterliegen die künstlerischen Ausdrucksformen: Im Vordergrund stehen Lyrik und Versepos als Nachklang der Romantik, während die großen Prosaepiker der Zeit (Stifter ausgenommen) Nichtkatholiken sind. c) An zahlreichen spezifisch neuen, im 19. Jahrhundert erschlossenen wissenschafliehen und kulturellen Bereichen - Naturwissenschaft und Technik, lange Zeit auch Philologie und Historie - sind die Katholiken nicht oder verspätet, auf jeden Fall unzureichend beteiligt.
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9. Dies war der Hintergrund, auf dem die herausfordernde Formel des "Kulturkampfs" - verstanden als Kampf des Staates gegen den Katholizismus um die "Kultur"! - für viele Protestanten vorübergehend einen Schein von Berechtigung gewann, während die Katholiken, in die Defensive getrieben, sich gegen diesen Angriff nur politisch, nicht aber kulturell zu wehren vermochten. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann sich die Situation für die deutschen Katholiken zu ändern. Doch dauerte es noch lange, bis sie im 20. Jahrhundert - bei allmählichem Schwächerwerden der kulturprotestantischen Impulse - mit der politischen auch ihre kulturelle Handlungsfähigkeit zurückerlangten.
Antiklerikalismus und Laizismus in den Jahren des Kulturkampfes Von Guido Verucci
1. Einige Eingangsbemerkungen
Ein Thema wie das, das hier angeschnitten wird, verlangt vielleicht mehr als jedes andere Vorbemerkungen, und seien es auch nur zusammenfassende nähere Bestimmungen terminologischer und begrifflicher Art sowie eine genauere Definiton des Untersuchungsbereiches. Was die verwendeten Begriffe Antiklerikalismus und Laizismus - angeht, so ist vor allen Dingen hervorzuheben, daß sie nur sehr bedingt dem Sprachgebrauch jener Jahre entliehen sind, auf die wir uns beziehen. So findet man den Begriff Antiklerikalismus in der Form des Substantivs oder auch in der des Adjektivs in Italien und auch anderswo, wie mir scheint, nicht oder nur sehr selten von jenen verwendet, die diesen gewissermaßen auf ihre Fahnen geschrieben haben, er findet sich eher in der Sprache ihrer Widersacher1• Bei diesen ist der Begriff aber auch nicht wirklich überzeugend angewandt, da sie dazu neigen, ihn allen denen zuzuordnen, die eine bestimmte Auffassung über die Stellung und Funktion von Klerus und Kirche in der Gesellschaft nicht teilen, und ihnen zum Beispiel einen besonderen Groll gegenüber dem geistlichen Stand vorwerfen. Der zweite Begriff ist dagegen in den genannten Jahren in der Form des Substantivs praktisch unauffindbar. Später erscheint er in verschiedenen Bedeutungsnuancen, und erst in jüngerer Zeit ist insbesondere im katholischen Umfeld die Unterscheidung zwischen Laientum, das die Unabhängigkeit des Staates von einer Religion und seine Nichtzuständigkeit in religiösen Dingen bezeichnet und aber trotzdem die. Wichtigkeit der religiösen Prinzipien und der Kirche im sozialen Leben anerkennt, und Laizismus eingeführt worden, der eine militante Haltung gegenüber Eine Untersuchung der Begriffe "clericale I clericalismo" [klerikal I Klerikalismus], "anticlericale I anticlericalismo" [antiklerikal I Antiklerikalismus), .laico I laicita" [laizistisch I Laientum) usw. , die aber vor allem auf den französischen Sprachraum begrenzt ist, findet sich in den Aufsätzen von P. Scoppola, Laicismo e anticlericalismo, in: Chiesa e religiosita in Italia dopo l'Unita (1861-1878), Atti del quarto Convegno di Storia della Chiesa, La Mendola, 31 agosto - 5 settembre 1971, Relazioni, II, Milano 1973, S. 225-274, und von F. Traniello, Clericalismo e laicismo nell'eta moderna fino al Concilio Vaticano II, in: Laicitä. Problemi e prospettive, Atti del XLVII Corso di aggiornamento culturale dell'Universita Cattolica, Verona, 25 - 30 settembre 1977, Milano 1977, S. 113-140.
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Religion und Kirche bezeichnet, die aus dem sozialen Leben ausgegrenzt werden sollen2 • In der Tat sind die Begriffe, die sich im Wortschatz der Kritiker des Klerus und der Kirche finden, wie aus einer ziemlich umfassenden Bestandsaufnahme der Reden von Politikern und Schriftstellern, der Zeitungen und der Publizistik, hervorgeht, folgende: "laico", weltlich im Sinne von Laienturn als Adjektiv, Freidenker, Rationalist oder einfach Befürworter der Unabhängigkeit der bürgerlichen Gesellschaft von der Kirche, Befürworter der Trennung von Staat und Kirche, Gegner der Einmischungen des Klerus in das politische Leben, Befürworter des Fortschritts im Gegensatz zur geistlichen Starrheit usw. oder das andere Substantiv Laientum3. Auch ist hervorzuheben, daß der italienische Begriff ,laico" oder "laicale" in den 60er Jahren und später eine gewisse Ambivalenz zeigt - er wird von den Laizisten selbst zum Teil noch in der traditionellen Vgl. im Aufsatz von F. Traniello, Clericalismo e laicismo, passim. Um nur einige Beispiele zur Definition des Begriffes "laico", weltlich im Sinne von Laientum, zu nennen: M. Macchi, in: .,La Ragione" von Turin: .,eine ,weltliche' Zeitung oder . . . eine Zeitung, die nicht mit der Absicht geschaffen worden ist, die bedrohten Interessen des Klerus zu verteidigen" (11. Juli 1857, S. 103); der Abgeordnete G. Guerzoni am 30. Januar 1873 im Parlament während der Diskussion über den Haushaltsplan der öffentlichen Schulerziehung: .,wir müssen erkennen, daß der Staat für den Religionsunterricht nicht zuständig ist; wir müssen bekannt machen, daß der Staat nur eine ,weltliche' Erziehung vermittelt, daß der Staat- um es mit amerikanischen Worten zu sagen - neither godless, nor sectorian, weder gottlos, noch sektiererisch ist; aber daß er die Prinzipien der Morallehrt und es denen, die dazu beauftragt sind, überläßt, .. . die Regeln des Glaubens zu verbreiten" (Atti del Parlamento italiano, Sessionedel 1871-72, Camera, V, S. 4495); R. Bonghi am 31. Januar 1873 im Laufe derselben Debatte: ..Die ,weltliche' Schule, wenn man unter dieser jene Schule verstehen will, in der kein Unterricht irgendeiner wirklichen Religion gegeben wird ... "(ebd., S. 4540); die pädagogische Zeitschrift .,Il Nuovo educatore" am 26. April1873 in der Übersetzung eines Artikels von C. Coignet über die weltliche Erziehung in Frankreich und England, veröffentlicht in der französischen .Revue politique et litteraire" vom 29. März: "Das Wort ,laico' hat eine Bedeutung, die sich auf was Wesen selbst der unterrichteten Fächer bezieht. Sie begrenzt die Fächer auf den Bereich von Natur und Mensch und schließt den religiösen Bereich aus. ,Weltlicher' Unterricht ist Unterricht der Wissenschaften, der Literatur, der Kunst, der Wirtschaft, alles dessen also, was in irgendeiner Beziehung zum menschlichen Leben steht, ohne jedoch die Grenzen dieses Lebens zu überschreiten, ohne die Probleme zu berühren, die für die Vernunft Gegenstand von unüberpüfbaren Hypothesen sind oder eine mystische Gefühlslösung erhalten. Der ,weltliche' Unterricht ficht die Wahrheit der Religion nicht an, erklärt sich aber als nicht zuständig dafür, sie zu kennen, und siedelt sich auf einem anderen Terrain an" (S. 49-50); Francesco Veniali in demselben "Il Nuovo educatore" in einem Artikel vom 25. Januar 1874: .,,weltlicher' Unterricht, ich meine nicht nur den Ausschluß jeglichen Religionsunterrichtes aus unseren Schulprogrammen, sondern ich meine auch die vollständige Säkularisierung des Unterrichts durch Ausschluß der Priester aus allen Schulen und allen ihren Leitungs- oder Verwaltungsämtern ... " (S. 195); die Definition von .,Personen, die im Gegensatz zur kirchlichen Rückschrittlichkeil für den Fortschritt offen sind", eine Definition, die eine kämpferischere, parteilichere Bedeutung des Begriffes ,laico' bietet, stammt von Arcangelo Ghisleri aus einer Konferenz von 1893 und ist zitert in: A. Ghisleri, Scuola e liberta. Questioni varie d'educazione e d'insegnamento, Bergamo 1902, S. 115.
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Bedeutung des Nicht-Geistlichen, des vom Klerus Unterschiedenen (Weltlichen) verwendet. So bedienen wir uns, wenn wir die Begriffe Antiklerikalismus und Laizismus für die 60er, 70er und 80er Jahre verwenden, im wesentlichen ziemlich konventioneller Begriffe, die erst später neu geprägt worden sind und deshalb begrifflich deutlicher definiert werden müssen. Von diesem Standpunkt aus sind sie im jüngeren geschichtswissenschaftliehen Gebrauch beinahe Synonyme, da der Antiklerikalismus trotz seines Namens eine positive politische Ideologie bedeutet, wie Remond hervorgehoben hat4. Wenn man akzeptieren kann, sie als Hendiadyoin zu verwenden, so geschieht dies aus mehreren Gründen. Der erste ist die Tatsache, daß der Antiklerikalismus ein Phänomen darstellt, das in verschiedenen Ländern seine Wurzeln im Mittelalter hat, er entsteht als Kritik an bestimmten Seiten des Lebens und der Funktion des Klerus innerhalb der katholischen Welt, und in den darauffolgenden Jahrhunderten der Neuzeit fließt er mit einer mehr aus außerkirchlichen als Massenphänomen Zusammenhängen herstammenden rationalistischen Kritik zusammen, bis er sich - insbesondere in den Ländern mit katholischer Mehrheit wie Frankreich, Belgien, Italien, Spanien und Portugal, in vielen lateinamerikanischen Ländern, sowie in besonderer antirömischer und gegen den Papst gerichteter Form in England und Deutschland - seit der französischen Revolution in ein relatives Massenphänomen verwandelt5. Die ersten Äußerungen dieses Antiklerikalismus als Massenphänomen treten in Frankreich mit der Bewegung für die Entchristlichung in den Jahren 1793-94 auf sowie später an einem Wendepunkt der Restauration seit 1825-26; in Italien im Piemont seit 1850 in Zusammenhang mit den Siccardischen Gesetzen (",eggi Siccardi") und 1855 in Zusammenhang mit dem Gesetz über die Religionsgemeinschaften·. Der Laizismus dagegen entsteht als kulturelle, politische und institutionelle Bewegung mit der französischen Revolution und den auf sie folgenden Jahrzehnten. Der zweite Grund besteht darin, daß sich auch im 19. Jahrhundert- und insbesondere in der ersten Hälfte des Jahrhundertsin einem weitergefaßten Rahmen ein Antiklerikalismus von katholischer oder christlicher Prägung ausmachen läßt6 , dessen Charakteristika und Ziele aber von
s.
7-8.
Vgl. R. Remond, L'anticlericalisme en France, de 1815 a nos jours, Paris 1976,
Diesbezüglich erlaube ich mir, auf meinen Stichwortartikel "Anticlericalismo", in: Dizionario di politica, unter Leitung von N. Bobbio I N. Matteucci I G. Pasquino, 2. Auf!., Torino 1983, S. 21-23, zu verweisen. Die .Leggi Siccardi" (benannt nach dem Siegelbewahrer Siccardi) sehen die Abschaffung kirchlicher Gerichtshöfe vor, entbinden den Staat von der Pflicht, kirchliche Feiertage als verbindlich anzusehen und verlangen eine staatliche Genehmigung für den Kauf oder Donationen von Gütern an die Kirche. Das Gesetz über die Religionsgemeinschaften nimmt diesen ihre Privilegien und stellt sie rechtlich mit anderen Vereinen gleich. [Anm. d . Übers.]. 6 Hierfür verweise ich auf meine Arbeit: L'Italia laica prima e dopo l'Unita, 18481876, Anticlericalismo, Iibero pensiero e ateismo nella societa italiana, Roma I Bari 1981, besonders das erste Kapitel.
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denen des ersteren so sehr unterschieden sind, daß die Übereinstimmung mit dem Begriff Laizismus nicht mehr gegeben ist. Der dritte Grund, der das Hendiadyoin rechtfertigt, ist der, daß man mit dem ersten Begriff eher einen Komplex von Ideen und Verhaltensweisen bezeichen kann, die dem Widerstand zu leisten beabsichtigen, was als Tendenz der Kirche und des Klerus, über den spezifischen religiösen Bereich hinaus im politischen und sozialen Leben einzugreifen und sich dort einzumischen, wahrgenommen wird, und die sich Gruppen, Parteien und Regierungen entgegenzustellen beabsichtigen, die diese Tendenz unterstützen. Mit dem zweiten Begriff läßt sich in Verbindung zum ersteren das Ergebnis der Verweltlichung des Staates und der Gesellschaft, der Gebräuche und der Mentalität beschreiben, zu dem - historisch gesehen - im 19. Jahrhundert antiklerikale Ideen und Einflüsse führen. Für das 19. Jahrhundert kann man so von einem Antiklerikalismus sprechen, der den Vorstoß zur Verweltlichung rechtfertigt und stützt. Von Laizismus kann man sprechen als von einer Einstellung, die die volle Selbständigkeit von kulturellen, zivilen und politischen Werten gegenüber der Kirche und anderen Religionsgruppen verteidigt, die natürliche und rationale Legitimation dieser Werte voraussetzt und daher also für die Gewissensfreiheit und gegen religiöse lntolleranz kämpft; eine Einstellung, die dem Staat eine Autorität, welche keine ihm übergeordnete Gewalt duldet, und einen selbständigen Kodex moralischer Werte zugesteht7. Dieser Antiklerikalismus/Laizismus tritt im Italien der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts um so kämpferischer und auch aggressiver in Erscheinung, je mehr die Kirche gegenüber den liberalen Forderungen des Einheitsstaates insbesondere seit den frühen 60er Jahren eine ablehnende und intransi-
Dies ist eine Formulierung, die im großen und ganzen der philologisch sehr aufmerksamen und genauen Definition folgt, die im Stichwortartikel "laicismo" des Grande dizionario della lingua italiana von S. Battaglia, VIII, Torino 1973, wiedergegeben ist: "Gesamtheit von Haltungen und Auffassungen, die durch die Forderung nach einer aus sich selbst heraus gegebenen außerordentlichen Würde und vollkommenen Selbständigkeit der zeitlichen und weltlichen gegenüber den religiösen (und insbesondere den von den positiven Religionen vorgegebenen) Werten gekennzeichnet sind ... "; und weiter: "Auffassungen, die auf politisch-ideologischer Ebene durch die Ablehnung ... jeglicher Einmischung seitens der Religion und ihrer Institutionen ... ins politische, soziale und kulturelle Leben geprägt sind und vom Verständnis des Staates als einer Gemeinschaft ausgehen, die eigene unabhängige und immanente Ziele verfolgt und mit einer weltlichen Ordnung, mit von den kirchlichen getrennten Institutionen und einer souveränen politischen und gegenüber der Kirche vollkommen unabhängigen Macht versehen ist." Die Definition von "laiciti" ist beinahe synonym, aber eine kleine Nuancierung ist vorhanden: .Weltlicher Charakter einer gesellschaftlichen und politischen (insbesondere staatlichen oder schulischen) Institution, weshalb diese gegenüber der kirchlich-religiösen Obrigkeit und deren Kontrollen unabhängig ist und die eigene Ordnung und Tätigkeit nach ethisch-politischen und kulturellen Prinzipien richtet, die einzig aus der Gesellschaft, der Vernunft und dem allgemeinen menschlichen Bewußtsein herrühren und von jeglicher spezifischen religiös-konfessionellen Auffassung absehen (ohne daß dies notwendigerweise antireligöse oder areligiöse Einstellungen mit sich bringen müßte); Bekenntnislosigkeit".
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gente Haltung einnimmt, je weniger und schwächer in der katholischen Welt die Stimmen werden, die für eine irgend geartete Verbindung zwischen den entgegengesetzten Prinzipien sind, je mehr die Kirchenreformvorschläge beiseite geschoben werden und je mehr innerhalb der Kirche die Linie der ideologischen Verurteilung des Liberalismus sowie die päpstliche Vorherrschaft und die Zentralisierung der Organisation überhandnehmen. Es ist eine Einstellung, die - in den oben zusammenfassend beschriebenen Grenzen und daher als relativ vereinendes Element mit dem Ziel der Bildung des neuen italienseben Staates - in ihren Reihen Theisten und Atheisten, Freidenker und Rationalisten, Christen und liberale Katholiken, also die unterschiedlichsten Männer vertreten sieht. Um nur einige Namen zu nennen - dazu gehören Cavour, Minghetti und Bertrando Spaventa, Ferdinando Petruccelli della Gattina, der sich im Parlament für Beschränkungsmaßnahmen der Aktivitäten der Geistlichen einsetzte, und Mauro Macchi, der den Positionen des Freidenkerturns nahestand und ein hartnäckiger Verfechter der Abschaffung des Artikels 1 der Verfassung, aber dagegen war, die Priester dazu zu verpflichten, an Staatsfesten teilzunehmen und ihnen die Sammlung des Peterspfennigs zu verbieten8. Es ist eine Einstellung, in deren Bereich sich auf der Ebene der Beziehungen zwischen Staat und Kirche verschiedene, mitunter sehr unterschiedliche Positionen finden, die vom Neojurisdiktionalismus bis zu einem allerdings korrigierten Separatismus reichen, vom ethischen Staat als Träger einer politischen Religion zum neutralen Staat, der in religiösen Dingen nicht zuständig ist. Gewiß, auf theoretischer Ebene gab es große Unterschiede zwischen denjenigen, die - wie ein Großteil der Vertreter der historischen Rechten - in der Kirchenpolitik auch die Möglichkeit sahen, die, wie man sagte, geistigen Aspekte des Katholizismus aus den weltlichen Fesseln und Abhängigkeiten zu befreien und so dem Staat die Unterstützung einer auf diese Weise reformierten Kirche zu sichern, und die einen Kodex moralischer Werte anerkannten, der zum Teil christlichen Ursprungs war, oder denjenigen, die - wie später die Vertreter der politischen Klasse in der Zeit Giolittis- der katholischen Kirche de facto gemäß einer Anschauung, die schließlich im wesentlichen die Oberhand gewann, eine Funktion als instrnmentum regni zusprachen, und denjenigen, die- wie die Vertreter der historischen Linken- der katholischen Religion die Ideale der Wissenschaft entgegensetzen wollten. Dennoch ist es notwendig, zwischen diesen theoretischen Positionen und den Aktivitäten und Äußerungen, die auf gesellschaftlicher Ebene im Italien nach der Einheit gegen die Kirche und den Katholizismus und in Polemik zu ihnen durchgeführt wurden, und der konkreten Regierungspolitik zu unterscheiden. Letztere mündete, dem glaubwürdigsten und jüngsten geschichts-
Zu den verschiedenen Gesetzesvorhaben, die Petruccelli della Gattina in den Jahren 1862 und 1864 vorstellte, sowie zur Position und den verschiedenen Initiativen Macchis vgl. G. Verncci, L'Italia laica prima e dopo l'Uniti, S. 244 ff.
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wissenschaftlichen Urteil nach9 , in Italien nicht einmal in den Jahren der Linken - in den Jahren, die als Zeit des staatlichen Antiklerikalismus definiert worden sind und nicht nur während der Regierung Crispi eher die Zeit einer ambivalenten Politik waren - de facto in einen Staat, der sich als solcher in seinen Eigenschaften und seinen institutionellen Zielen dem Katholizismus und der Kirche bewußt entgegengestellt hätte. Eine Ausnahme bilden nur einige äußere, aufsehenerregende staatliche Eingriffe, sowie natürlich verschiedene Töne und Nuancen. Diese sind aber von so geringer Bedeutung, daß man hat feststellen können, daß sich mit der laizistischen Einstellung auf institutioneller Ebene mit Ausnahme des Schul- und des Strafbereiches im Staat nach der Einheit eine gemäßigte konfessionistische und theistische Gesetzgebung verband, und daß man mithin nicht von einem wirklich neutralen Staat und einer wirklich neutralen Gesellschaft sprechen kann 10• Und eine weitere Unterscheidung auf begrifflicher Ebene ist notwendig. Auf der einen Seite stehen da die Prinzipien, zu deren Träger sich der italienische Staat mit der Rechten und der Linken machte und die tendenziell, mit den eben angedeuteten Unterschieden zwischen den beiden Gruppierungen, die gegenseitige Autonomie von politischer und religiöser Sphäre, die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, die Achtung aller Konfessionen und Meinungen beinhalteten - Prinzipien, für deren Einführung und Durchsetzung man einen harten Widerstand gegen die Kirche entwikkeln mußte. Und auf der anderen Seite steht die Haltung des Staates, die Kirche bis zum Äußersten bekämpfen, ihre Freiheit tatsächlich beschränken und in die religiöse Tätigkeit eingreifen zu wollen, was in Wirklichkeit nicht geschehen ist. Die Bedeutung, die der Laizismus in Italien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts annimmt, kann schließlich nur vollständig verstanden werden, wenn man ihn in Bezug setzt zu einer katholischen Welt, in der die religiöse Überzeugung ein Massenphänomen ist und in der die Mentalität der breiten Mehrheit eng verknüpft ist mit einer bestimmten philosophischen Richtung (der scholastisch-thomistischen), mit einer bestimmten Auffassung der Biologie (d.h. der Theorie von der Unveränderlichkeit der Arten) und mit einer bestimmten politischen Kultur (die gegenüber der sogenannten modernen Welt konterrevolutionär und intransigent eingestellt ist). So wird jeder Schritt in Richtung einer Verweltlichung oder menschlichen Fundierung von Philosophie, Wissenschaft und Politik sowohl von denen, die deren Vertreter sind, als auch von ihren Gegnern wie ein direkt auf den Glauben gerichteter Angriff aufgefaßt. Zum Beispiel blieben die ungefähr seit der Mitte der 60er Jahre entbrannten Diskussionen, als in Italien der Darwinismus und später die Vivisektion zu wissenschaftlichen Zwecken eingeführt wurden, über lange Zeit hinweg von beiden Seiten aus geladen mit politischen und ideologischen Bedeutungen. Und dies aufgrundder engen Verbindung, in der die religiöse Vision von der Vgl. für alle F. Fonzi, Stato e Chiesa, in: Nuove questioni di storia del Risorgimento e dell'Unitä d'Italia, II, Milano 1969, S. 325-388, S. 335 ff. 10 Vgl. C. Cardia, Ateismo e libertä religiosa nell'ordinamento giuridico, nella scuola, nell'informazione dall'Unitä ai giorni nostri, Bari 1973, S. 23 ff.
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Schöpfung, dem göttlichen Ursprung des Menschen nicht nur mit der Theorie der Unveränderlichkeit der Arten, sondern auch mit einer bestimmten wortwörtlichen Interpretation der Bibel und ihrer Chronologie und einer Auffassung von der menschlichen Welt stand, die von der Welt der Tiere und der Natur so vollkommen getrennt war, daß man Experimente an Tieren in bezug auf den Menschen für vollkommen sinnlos hielt11 • Es sollte noch eine lange Zeit dauern, bis eine solche Auffassung und eine solche Mentalität sich wenigstens teilweise wandelten, bevor zum Beispiel in der katholischen Welt um die Jahrhundertwende Positionen hervorzutreten begannen, die danach strebten, die Religion mit einem wissenschaftlichen Verfahren zu versöhnen, das auf Erfahrung beruht und daher in der Lage ist, die Gültigkeit der Evolutionstheorie der Arten anzuerkennen. Was schließlich die Definition des Untersuchungsgegenstandes betrifft, so ist zweifellos eine gewisse Schwierigkeit vorhanden, antiklerikale und insbesondere laizistische Einstellungen und Tendenzen als spezifischen Gegenstand einer historischen Untersuchung zu bestimmen - und dies aufgrund ihres diffusen Charakters, den Antiklerikalismus und Laizismus trotz allem haben, aufgrund der Bindungen, die sie natürlich mit der nicht antiklerikalen und laizistischen Welt auf kultureller, wie auch auf politischer, staatlicher und gesellschaftlicher Ebene behalten. Es geht daher darum, die Antiklerikalismus- und LaizismusÄußerungen zu untersuchen, die am eigenartigsten, am besten begrenzbar und am unbekanntesten sind; es geht auf kultureller Ebene darum, sie auf die Frage ihrer Verbreitung in den mittleren und unteren Schichten der Bevölkerung hin zu erforschen, ihre geistigen Zentren sowie ihre Möglichkeiten der Äußerung und des Eingriffes in die öffentlichen Debatten zu untersuchen.
2. Zusammenfassende Übersicht über die Forschung: Mängel und Errungenschaften Während der langen Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg ist in Italien nur sehr sporadisch und begrenzt zum Thema Antiklerikalismus und Laizismus geforscht worden, und nur von Zeit zu Zeit ist der Wall spärlichen Interesses, um nicht 11 Man vgl. die mit Klarheit und Ausgewogenheit erstellte Rekonstruktion dieser Diskussionen und Polemiken für den florentinischen Raum von G. Landucci, Darwinismo a Firenze. Tra scienza e ideologia (186o), Firenze 1977, wo er schreibt: "Als die Hinwendung zu Darwin bedeutete, sich für die Wissenschaft zu entscheiden, ging es nicht so sehr um den Darwinismus selbst, als vielmehr um eine umfassende Wertung der wissenschaftlichen Methode und Untersuchung. Und es handelte sich letzten Endes nicht nur um ein moralisches, sondern auch um ein philosophisches, politisches und organisatorisches Problem" (S. 88). Und er unterstreicht, daß die Verbreitung der positivistischen Philosophie und die Begeisterung für die Wissenschaft dem Bedürfnis entsprachen, zu einer kulturellen Erneuerung beizutragen, die Italien erlauben würde, den in manchen Bereichen vorhandenen Abstand zu anderen, fortgeschritteneren Ländern aufzuheben. Vgl. auch den jüngeren Beitrag von G. Landucci, L'occhio e Ia mente. Scienza e filosofia neii'Italia del secondo Ottocento, Firenze 1987.
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zu sagen der Gleichgültigkeit, gegenüber diesen Themen durch wenige allgemeine oder speziellere Untersuchungen durchbrachen worden. Erst in den letzten Jahren sind interessante Untersuchungen zum sozialistischen Antiklerikalismus durchgeführt worden, zu denen weiter unten Stellung genommen wird. Diese Mängel erscheinen - wie kürzlich von einem nicht italienischen Wissenschaftler hervorgehoben ist - um so einzigartiger in einer Geschichtswissenschaft, die für das 19. Jahrhundert der historischen Betrachtung Erkenntnisse zugänglich gemacht hat, welche von der liberalen Geschichtswissenschaft zum Großteil vernachlässigt worden waren. Trotzdem hat diese Geschichtswissenschaft - zumindest bis zur Mitte der 70er Jahre und mit nur einigen Ausnahmen - weder bei den Historikern der Arbeiter- und sozialistischen Bewegung, die deren wesentliche kulturelle Bestandteile und darunter sicherlich auch den Antiklerikalismus untersucht haben, noch bei den Historikern der katholischen Bewegung, für die die Antiklerikalen die Gegner darstellten, und auch nicht bei den Historikern laizistischer Ausrichtung dem Antiklerikalismus angemessenen Raum gewidmet. Zudem haben laizistische Strömungen der Historiographie mit dem Begriff Antiklerikalismus nur die radikalsten und gew altvollsten Erscheinungsformen desselben bezeichnet und diesem ein angeblich gesundes Laienturn entgegengehalten 12 . Die Mängel sind um so schwerwiegender, als - wie beinahe überflüssig zu bemerken - es nicht nur ein antiklerikales und laizistisches Italien gegeben hat, sondern auch weil dieses trotz allem, trotz seiner begrenzten Erfolge und des p artielle n Scheite rns, trotz der Tatsache , daß neben Beständigke iten im Wandlungsprozeß jenes Italiens von vor hundert, hundertvierzig Jahren zu dem laizistischen Italien von heute auch erhebliche Diskontinuitäten ermessen werden müssen, damals und später in der Geschichte des Landes von nicht geringer Bedeutung gewesen ist. Vor allem sind Bedürfnisse und Forderungen jener fernen Jahre, von denen viele utopisch und illusorisch schienen, de facto Wirklichkeit geworden und haben zur kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung des Landes erheblich beigetragen. Außerdem hat der antiklerikale und weltliche Anstoß seit damals die katholische Welt immer direkt und indirekt in ihrer Gesamtheit, ihre Haltung gegenüber der politischen Klasse, gegenüber dem Staat und in der Gesellschaft beeinflußt. Um nur einige kleine, bekannte Beispiele zu nennen, die sich speziell auf die hier betrachteten Jahre beziehen: Man darf nicht unterschätzen, wie sehr in den 60er, 70er und 80er Jahren die laizistisch ausgerichteten Initiativen , die für die Einrichtung von Volksbüchereien und -schulen, von Vereinigungen für Volksbildung, Volkskonferenzen usw. sorgten, dazu beigetragen haben, die Gründung und Förderung einer entsprechenden katholischen Bewegung für Bibliotheken, Schulen und Konferenzen anzuregen. Man darf nicht unterschätzen, inwieweit insbesondere nach 1876 12 Vgl. die intelligente und anregende, wenn auch trotz anderer Absicht von einem gewissen Gallozentrismus nicht freie, Übersicht vonj.-P. Via/let, Anticlericalisme et la"icite en Italie. Bilan historiographique, in: Melanges de l'Ecole fran~aise de Rome - Moyen Age - Temps modernes, 98, (1986), 2, S. 837-862, S. 837 ff.
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und nach der Machtübernahme durch die historische Linke - also durch eine politische Gruppierung, die programmatisch im Sinne des Antiklerikalismus und des Laizismus engagierter war - die Furcht vor einer noch radikaleren Verweltlichung der Institutionen zu den Versuchen seitens der transigenten Katholiken geführt hat, seit den Jahren 1878-79 mit den gemäßigten Liberalen zusammen eine konservative nationale Front zu bilden. Dieser Anstoß hat die katholische Welt und die Kirche über die lange Zeit hinweg auch in anderer Weise geprägt, denn in dem Maße, in dem einige Ziele des Antiklerikalismus und Laizismus verfolgt worden sind - und wenn dies auch in Italien wesentlich weniger stark und einschneidend geschah als in anderen Ländern - , in dem Maße, in dem die kirchliche Institution bestimmte Privilegien, bestimmte Funktionen und bestimmte Machtbefugnisse in der Gesellschaft verloren hat, sind die Katholiken und die Kirche zunehmend dazu angehalten worden, sich die Frage nach den Beziehungen zwischen Kirche und Staat und Gesellschaft neu und zum Teil unter anderen Gesichtspunkten- nicht mehr so sehr an historisch überholte Situationen und Gegebenheiten gebunden - zu stellen. Die Gründe für die erwähnte verhältnismäßige Gleichgültigkeit, für die von einem breiten Teil der italienischen Geschichtswissenschaft ausgeübte Verdrängung der Themen des Antiklerikalismus und Laizismus sind unterschiedlicher Art und zum Teil anderswo benannt worden. Paradoxerweise könnte man vielleicht sagen, daß sich in ihnen zugleich das Unbehagen gegenüber einer Verweltlichung äußert, die tatsächlich oder angeblich stattgefunden hat, die mit den gewaltvollen Äußerungen des Antiklerikalismus wie den irredenten römischen Karnevalszügen oder dem Versuch vom 13. Juli 1881, den Leichnam von Pius IX. zu überfallen, identifiziert wird, und es äußert sich das Unbehagen gegenüber einer Verweltlichung, die wesentlich triftigeren Urteilen zufolge nicht stattgefunden hat, wie zum Beispiel dem bekannten Urteil von Gramsei über das Scheitern der Laizisten in ihrer historischen Aufgabe, der gemäß sie das Volk I die Nation zu Intellektualität und moralischem Bewußtsein hätten erziehen und beides bei diesen hätten entwickeln sollen. Die Mängel der italienischen Geschichtswissenschaft zeichnen sich noch in den letzten Jahren durch eine schwerwiegende Verspätung gegenüber anderen Ländern aus, gegenüber einigen Versuchen vergleichender Geschichtsforschung zu Antiklerikalismus und Laizismus in Europa im 19. und 20. Jahrhundert, die in dem Bewußtsein durchgeführt worden sind, daß "the study of anticlericalism lies squarely in the historical mainstream, of which it is an essential component; without it, our understanding of a whole chapter of modern European history would be severely compromised" 13.
13 R. Remond, Anticlericalism: Some Reflections by Way of Introduction, in: European Studies Review, 13 (April 1983), 2, Special Issue: Anticlericalism, S. 121-126, S. 122. Der Band sammelt die folgenden Beiträge zum Antiklerikalismus in verschiedenen Ländern: ]. Gadille, On French Anticlericalism: Some Reflections, S. 127-144;]. Connelly Ullman, The Warp and Woof of Parliamentary Politics in Spain, 1808-1939: Anticlericalism versus
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So sind - um nur emtge Beispiele zu nennen - in Ländern wie Spanien, Belgien und vor allem Frankreich Studien und Untersuchungen nicht nur allgemeiner Art, sondern auch und besonders auf lokale Bereiche wie Städte und Regionen begrenzt betrieben worden, die auch jene Bewegung des Freidenkerturns einbeschließen, die hier seinerzeit nur wenig studiert wurden; so daß man sagen kann, daß besonders in Frankreich die Kenntnis der räumlichen und sozialen Verbreitung des Antiklerikalismus bis zu einem bestimmten Grad fortgeschritten ist14 . Und was die Möglichkeit betrifft, eine vergleichende historische Forschung zu betreiben, stimmt es zwar, daß die antiklerikalen und laizistischen Bewegungen in den einzelnen Ländern und insbesondere in Italien eigene Merkmale haben. Es stimmt aber bekanntermaßen auch, daß es eine Zeit - die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts- in Europa gibt, in der, nachdem die romantische Epoche der Wünsche und Träume untergegangen ist, diese Bewegungen alle zusammen eine größere Kraft und Kampfbereitschaft gewinnen, die Religion mit den neuen durch die französische Revolution entstandenen Idealen zu vereinen, nachdem eine Zeit schärferer Brüche und Gegensätze angebrochen ist, und daß also zwischen diesen Bewegungen Kontakte entstehen und ein Austausch stattfindet, die sich auch in die Bildung internationaler Organismen übertragen, und über deren Gehalt und Wirksamkeit es viel zu forschen gibe 5. ,Neo-Catholicism', S. 145-176; G.L. Freze, A Case of Stunted Antidericalism: Clergy and Society in Imperial Russia, S. 177-200; Ej. Evans, The Church in Danger? Antidericalism in Nineteenth-Century England, S. 201-223; / . Farr, From Anti-Catholicism to Antidericalism: Catholic Politics and the Peasantry in Bavaria, 1860-1900, S. 249-269. Der Italien gewidmete Aufsatz stammt von A . Lyttelton, An Old Church and a New State. Italian Antidericalism1876-1915,S.225-248. 14 Was Spanien betrifft, vgl. den eindrucksvollen und wichtigen Aufsatz von G. Ranzato, Dies irae. La persecuzione religiosa nelle zone repubblicane durante Ia guerra civile spagnola (1936-1939), in: Movimento operaio e socialista, Neue Folge, XI (1988), S. 195-220, der - auch mit anthropologischen Methoden und einer langen zeitlichen Perspektive den volkstümlichen Antiklerikalismus so analysiert, wie er während des spanischen Bürgerkrieges von 1936-1939 emportaucht. Für Belgien vgl. unter anderen die gesammelten Aufsätze in: Histoire de Ia la"icite principalement en Belgique et en France, Direction scientifique H. Hasquin (Editions de l'Universite de Bruxelles, 1981). Für Frankreich vgl. außer den Hinweisen von R. Remond, L'antidericalisme en France, S. 45 ff., und den Arbeiten über lokale Bereiche, die erwähnt werden im Aufsatz von G. P. Viallet, Antidericalisme et lalcite en Italie, die ebenso auf lokale Bereiche konzentrierten Aufsätze in: Libre pensee et religion la"ique en France. De Ia fin du Second Empire a Ia fin de Ia Troisieme Republique, ]oumee d'etudes tenue a l'Universite de Paris XII, 10 novembre 1979, Introduction par J.-M. Mayeur, Strasbourg 1980, und insbesondere: G.jacquemet, Edmond Lepelletier et Ia Libre pensee a Parisau debut de Ia I1I Republique, S. 104-125; R. Vandenbussche, Libre pensee et libres penseurs dans Je Nordsous Ia III Republique, S. 126-183;]. Faury, Religion laique et Libre pensee dans Je Tarn de Ia fin du Second Empire au debut du XX siede, S. 184-192; E. Fouilloux I Cl. Langlois, Les parrainages civils a Ivry-sur-Seine au XX siede, S. 193-210, in denen auch weitere Untersuchungen dieser Art erwähnt werden. 15 Einige Hinweise gehen nun aus der Arbeit hervor von P. Alvarez Llizaro, Libero pensiero e Massoneria, Einleitung von A. Mola, Roma 1991, passim.
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Sicher ist, daß die Gruppierungen, die innerhalb der verschiedenen Länder tätig waren, sich als Teil einer breiteren Front verstanden, die auf europäischer Ebene dieselben Gegner bekämpfte. Die Bestätigung dieses Gemeinsamkeitsgefühls findet man in dem großen Echo und der Volksbeteiligung in den verschiedenen Ländern auf Geschehnisse, die in einem anderen Land stattgefunden hatten, vom Fall Mortara (1858) zum Fall Coen (1864), zu den Ereignissen des Kulturkampfes, von denen später die Rede sein wird, von der DreyfusAffäre, die in Italien bei den politischen Kräften und der öffentlichen Meinung auf großen Widerhall stieß und sich auch in Volkskundgebungen äußerte16, zu den Gegensätzen zwischen Staat und Kirche in Frankreich, deren Auswirkungen in Italien vor Jahren von Enrico Decleva untersucht worden sind17 , bis zur Hinrichtung von Francisco Ferrer (1909), usw. Aber welches sind nun zusammenfassend die Hauptergebnisse der bisher durchgeführten Untersuchungen? Was vor allen Dingen die Kirchenpolitik des italienischen Staates von der Einheit bis zum ersten Weltkrieg betrifft, die zweifellos nicht nur hinsichtlich der Grundmotivationen, welche die verschiedenen Phasen dieser Politik angeregt haben, und der gesetzgeberischen Tätigkeit, sondern auch in Hinblick auf die Rechtsprechungspraxis einen der am meisten untersuchten Aspekte darstellt, lassen sich folgende Punkte nennen. Es ist erwiesen, daß die Gesetzesanwendung in verschiedenen Fällen anders, der Kirche und dem Klerus gegenüber positiver gestimmt war, als es die Gesetze selbst waren18; es ist erwiesen, daß seit 1870 und insbesondere 1871 im Anschluß an 16 Eine erste Untersuchung in dieser Richtung starrunt von G. Tortorelli, L'affare Dreyfus e i socialisti italiani, in: Societä e storia, IX (1986), 31, S. 105-132. 17 E. Decleva, Anticlericalismo e lotta politica nell'Italia giolittiana, I: L'"esempio della Francia" e i partiti popolari (1901-1904), Il: L'estrema sinistra e Ia formazine dei blocchi popolari (1905-1909), in: Nuova Rivista storica, LII (1968), S. 291-354, und LIII (1969), S. 541-617. 18 Man vgl. unter anderem die Hinweise von F. Margiotta Broglio, Legislazione italiana e vita della Chiesa (1861-1878), in: Chiesa e religiositä in Italia dopo l'Unitä, Relazioni, I, S. 101-146, insbes. S. 113, und die Arbeit von S. Ferrari, Legislazione ecclesiastica e prassi giurisprudenziale. Gli abusi dei ministri di culto tra laicizzazione della normativa e confessionismo della magistratura, Fadova 1977. Ferrari schreibt: "In der Zeit zwischen dem Regierungsantritt der Linken und dem Ende des Jahrhunderts ... enspricht den Versuchen, die geltende Gesetzgebung in bezugauf den Mißbrauch der Autorität der Pfarrer zu verschärfen, keinerlei Willen, weder von der politischen noch von der gesetzgeberischen Macht, diesen Normen eine tatsächliche Anwendung zu geben. Der (schon für die Regierungszeit der Rechten festgestellte) Gegensatz zwischen der Strenge, von der die Gesetzgebung geprägt ist, und der Nachsichtigkeit, mit der die Gesetze angewandt wurden, vergrößert sich: Von politischen Vergehen des Klerus spricht man immer häufiger in den Parlamentssälen und immer seltener dagegen in den Gerichtssälen. Man darf sich also nicht . . . von der Lebhaftigkeit in die Irre führen lassen, die die parlamentarischen, theoretischen, die Pressedebatten und mitunter sogar die diplomatischen Debatten um den Mißbrauch der Autorität der Pfarrer in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts annahmen - hinter dieser Fassade steht die Wirklichkeit von Normen, die unwiderruflich an einen nun im Verfall begriffenen historischen Kontext gebunden und lange Zeit vor ihrer Abschaffung durch politische, im ,transformistischen' Klima der
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die auch in Italien verbreitete Angst vor der Pariser Kommune sowohl bei der Rechten als auch bei der Linken die Sorgen um die Auswirkungen wuchsen, welche die weltliche Gesetzgebung auf die soziale Ordnung ausüben konnte 19 ; weiterhin ist erwiesen, daß - wie bereits erwähnt - auch die Politiker der Linken nach 1876 nicht bereit waren, die Anträge zu einer radikaleren Verweltlichung aufzugreifen, die von Teilen des Parlaments und der bürgerlichen Gesellschaft ausgingen20 • So wurde - beeinflußt von diesen Befürchtungen - die italienische Führungsschicht, die den Weg zur Verweltlichung ohnehin äußerst vorsichtig beschritten hatte, in der Ära Giolitti stufenweise immer mehr zu dem gebracht, was Spadolini die stille Versöhnung und Zusammenarbeit mit der Kirche und den Katholiken genannt hae1 . Eine Tatsache, die zu Unrecht verherrlicht worden ist, da man es versäumt hat, ihre Kehrseiten hervorzuheben. Denn damit hat man auf der einen Seite die Werte des Laienturns beiseite geschoben und aufgegeben und somit auch gegenüber der Kirche Niederlagen erlitten, auf der anderen Seite ist der Sinn des Religiösen instrumentalisiert und entkräftet und seine Neudefinition in einem authentischeren und strengeren Sinne aufgeschoben worden22 • Die Schulpolitik, die in Italien besonders - wenn auch mit einigen bedeutsamen Ausnahmen - in ihren legislativen Aspekten, im Denken der Pädagogen und in den von ihnen veranlaßten Debatten studiert worden ist, war sozusagen das deutlichste Indiz für die Unsicherheiten und Zweideutigkeiten der italienischen Führungsschicht auf ihrem Weg zur Verweltlichung und für die Unvollständigkeit der erreichten Ergebnisse. Ohne diesbezüglich noch einmal ein vollständiges Bild rekonstruieren zu wollen, das im übrigen zum Großteil bekannt ist, müssen hier zwei Aspekte unterschieden werden. Der erste betrifft den Religionsunterricht in den Schulen, zu dem zusammenfassend gesagt werden kann, daß der italienische Staat, wollte er auch nicht theologisch sein (Abschaffung der Theologie-Fakultäten im Jahre 1873 ), doch weiterhin katechetisch war, da seine Regierungen die formale Abschaffung des Katechismus-Unterrichts im Schulbereich nie einhielten. Denn Männer wie De Sanctis, Gabelli und Jahrhundertwende gereifte, Entscheidungen sinnentleert geworden sind" (S. 178). Als er die Einstellung der Justizbehörde beschreibt, hebt Ferrari hervor: "der Eindruck ist der, daß der ,Klerikalismus' des italienischen Justizapparats nicht so sehr aus einer wirklichen Bindung an jene religiösen Werte entstanden ist, die die katholische Kirche vertrat, als vielmehr nach Erhaltung der gesellschaftlichen Strukturen, für die die Kirche - zu Recht oder zu Unrecht - für das beste Bollwerk gehalten wurde ... " (S. 13). 19 Man vgl. das klassische Werk von F. Chabod, Storia della politica estera italiana da! 1870 al 1896, I: Le premesse, Bari 1951, insbes. S. 265 ff., S. 283. 20 Diesbezüglich verweise ich auf mein G. Verncci, L'Italia laica prima e dopo l'Unita, S. 244 ff. und passim. 21 Es wird von den Arbeiten Spadolinis natürlich vor allem auf das Buch: G. Spadolini, Giolitti e i cattolici (1901-1914), Firenze 1959, verwiesen. 22 Vgl. zum Beipiel G. Carocci, Storia d'Italia dali'Unita ad oggi, Milano 1975, S. 162 ff.
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Villari, die - zwar mit verschiedenen Nuancen - eine weltliche Religion befürworteten, spürten die Unfähigkeit der positivistischen Wissenschaft, dem Gemeinschaftsleben einen irgend gearteten religiösen Sinn in weitestem Sinne zu geben und ein Mittel wirklicher Erziehung für die neuen Generationen zu sein. Und befürworteten sie auch einen Religionsunterricht als Ausdruck einer zum Beispiel in protestantischem Sinne reformierten Religion, die mit den bürgerlichen Prinzipien vereinbar war, auf denen der neue Staat gründete, so fügten sie sich doch in die reine und einfache Beibehaltung des KatechismusUnterrichts. Eines Unterrichts, der im übrigen von äußerst schlechter Qualität war, und der mehr als aus wirklichem und echtem Katechismus aus der Heiligen Geschichte bestand23 . Abschließend läßt sich vielleicht sagen, daß die Unmöglichkeit, eine in laizistischem Sinne radikalere Lösung der Schulorganisation zu verwirklichen, in der katholischen Welt eine Bewußtwerdung über die Überalterung und den Rückstand des von ihr gegebenen Religionsunterrichts nicht gerade begünstigte, und daß erst das neue Jahrhundert beginnen mußte, damit in ihrem Rahmen Stimmen aufkamen, die sich von denen der großen Mehrheit abhoben. Da war die Stimme von Antonio Fogazzaro, der gegen den Katechismus-Unterricht in öffentlichen Schulen war, da er den. Respekt gegenüber anderen Glaubensrichtungen beeinträchtigte, und der stattdessen sowohl das Unterrichten einer den verschiedenen Glaubensrichtungen gemeinsamen Moral als auch seitens des Staats die Gewährung einiger Stunden des Schulplans zur freien Verfügung der Familien befürwortete, damit diese eventuell außerhalb der Schule für Religionsunterricht sorgen konnten. Und es gab die Stimme der "Lega democratica nazionale", die für die Abschaffung des Katechismus-Unterrichts in Grundschulen, für Unterrichtsfreiheit auf allen Ebenen der Schulbildung und für die Wiedereinrichtung eines laizistischen und wissenschaftlichen Unterrichts von Religionsgeschichte und -philosophie in einigen staatlichen Universitäten war4 • Und es gibt noch einen zweiten Aspekt in der italienischen Schulfrage, nämlich den der allgemeinen Erneuerung des Unterrichts. Hier scheint es dagegen so zu sein, daß der Vorstoß in Richtung einer Verweltlichung durch die positivistische 23 Ich beschränke mich darauf, folgende Werke zu nennen: D. Bertonijovine(Hrsg.), Positivismo pedagogico, I: De Sanctis, Villari, Gabelli, unter Mitarbeit von R. Tisato, Torino 1973, und von den jüngeren Schriften: C. Betti, La religione a scuola tra obbligo e facoltativitä, I: (1859-1923), Firenze 1989. Für eine Rekonstruktion, die bis in jüngste Zeit, bis in die Jahre nach der Unterzeichnung des neuen Konkordats (1984), aufgearbeitet und mit Beiträgen pädagogischer und psychologischer Art versehen ist, vgl. die Aufsatzsammlung: E. Catarsi(Hrsg.), L'insegnamento della religione nella scuola italiana, Milano 1989. Einige interessante neue, auch methodologische Perspektiven zum Studium der Schulpolitik und zu Tendenzen und Bewegungen in Unterricht und Erziehung im liberalen Italien sind enthalten in den Büchern von G. Bonetta, Scuola e socializzazione fra '800 e '900, Milano 1989, und ders., Corpo e nazione. L'educazione ginnastica, igienica e sessuale neli'Italia liberale, Milano 1990. 24 Vgl. L. Pazzaglia, Stato laico e insegnamento religioso in aleuni dibattiti del primo Novecento (1902-1908), in: Pedagogia e Vita, 4 0991), S. 379-416.
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Pädagogik, durch Leute wie De Sanctis, Gabelli, Villari, Angiulli, usw. , in der Grundschule eine gewisse Wirksamkeit dabei zeitigte, unter anderem durch die neuen Programme gerade für Grundschulen aus dem Jahre 1888 eine neue Richtung zu bestimmen. Diese Richtung zielte - in Polemik zu einem eher verbalistischen und dogmatischen Unterricht, zu dem, was Gabe1li "äußerst zähe schulische und rhetorische Traditionen" nannte- darauf ab, einen auf der Beobachtung und Erfahrung gründenden Unterricht einzuführen, der den naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen größeren Raum zuwies, und der die Einführung von Gymnastik und handwerklicher Arbeit vorsah. Diese neue Ausrichtung war allerdings natürlich nicht in der Lage, die hierarchische und klassenmäßige Struktur der italienischen Schule wesentlich umzuwandeln25 . Und eine weitere Erkenntnis ist hervorzuheben. Wenn ein existierender bürgerlicher Antiklerikalismus und Laizismus liberaler Prägung nicht nur auf politischer, parlamentarischer und gesetzgeberischer Ebene, sondern auch in verschiedene Initiativen umgesetzt wird, die eine Ethik und eine weltliche Tradition einführen sollen, welche auf den Werten eines selbständigen kulturellen Aufstiegs, des Erwerbs wissenschaftlicher Kenntnisse, der Verherrlichung von Arbeit gründen - Initiativen, die sich, wie schon erwähnt, in der Bewegung für Volksbüchereien, in den Verbänden für Volksbildung, in verschiedenen Arten von Vereinen, in Volksverlagsreihen, usw. äußern-, so existiert auch, stark und zäh, ein volkstümlicher und demokratischer Antiklerikalismus, der nicht nur Schichten des kleinen und mittleren Bürgertums, also einen Teil beispielsweise der Schullehrer, sondern auch erhebliche Anteile der Handwerker, Arbeiter und Landarbeiter miteinbezieht Ein volkstümlicher Antiklerikalismus, der sich beschränkt man sich auf die Jahre der Rechten und auf einige wenige Beispiele - nicht nur in den obengenannten Initiativen, sondern auch in pädagogischen Zeitschriften und pädagogischen Gesellschaften in den Provinzen sowie in den verschiedenen Ausrichtungen des Freidenkerturns ausdrückt, die auch im Parlament ein gewisses Gewicht haben, außerdem in einem erheblichen Teil der Bewegung zur Emanzipation der Frauen, in der nach Mazzini ausgerichteten Demokratie- und Arbeiterbewegung und ebenso bei denen, die sich insbesondere nach der Pariser Kommune von Mazzini lösen. In den letzten Jahrzehnten des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts findet er in den verschiedenen Gruppierungen der extremen Linken, den Radikalen, den Republikanern, den anarchistischen Internationalisten und den verschiedenen Richtungen des Sozialismus vor und nach der Gründung des "Partita dei lavoratori italiani" [Partei der italienischen Arbeiter] im Jahre 1892 seinen Ausdruck26. Es handelt sich um eine Bewegung, die zur Zeit Giolittis keinesfalls im Schwinden begriffen ist, auch wenn dies behauptet worden ist, denn sie überlebt nicht nur, sondern lebt 25 Man vgl. unter anderem den kürzlich erschienenen, zusammenfassenden Aufsatz von R. Fornaca, La scuola italiana eil positivismo, in: E.R. Papa (Hrsg.), 11 positivismo nella cultura italiana, Milano 1985, S. 335-350. 26 Nochmals verweise ich auf mein G. Verucci, L'Italia laica prima e dopo l'Unit:a, auf die Kapitel II, III und IV.
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sogar wieder neu auf, wie Untersuchungen allgemeiner und lokaler Art zeigen27. Und diese Bewegung läßt sich nicht gänzlich und einfach mit dem gewaltvollen und derben, dem sogenannten "podrecchianischen" Antiklerikalismus identifizieren, der seinerseits jedoch in den italienischen politischen, kirchlichen und religiösen Kontext der Zeit eingeschlossen und also ebenso historisiert werden muß, bevor man sich eventuell davon distanziert28 . Im Gegenteil - je mehr der Antiklerikalismus und Laizismus wie oben erwähnt de facto von den Führungsschichten der Rechten und Linken aufgegeben werden, desto mehr werden sie Teil der Programme der verschiedenen Oppositionsströmungen und erhalten einen radikaleren Charakter, sei es aus dem Grunde, daß sie in Projekte tiefgreifenderer Umstrukturierung der italienischen Gesellschaft einbezogen werden, oder weil sie ein Kampfwerkzeug gegen die Regierung darstellen, oder weil vom Ende des 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts der Antiklerikalismus insbesondere der Sozialisten zum Kampf nicht nur gegen die Kirche, sondern auch gegen die organisierte katholische Bewegung wird. Folge dieses Phänomens ist die wachsende Kluft zwischen den Führungs- und Regierungsgruppen auf der einen Seite und den Oppositionsgruppen auf der anderen; eine Kluft, die die potentiell laizistische Front teilt und schließlich die Forderungen sehr schwächt, die de Jacto dann von den Oppositionskräften selbst zurückgestellt werden. Hierin liegt wahrscheinlich einer der Gründe für den Unterschied im Ergebnis des Verweltlichungsprozesses zwischen Italien und Frankreich, wo die relative Festigkeit der republikanischen Kräfte die Verabschiedung der weltlichen Gesetzgebung der 80er Jahre ermöglicht und nach verschiedenen Unsicherheiten die Lösung der Dreyfus-Affäre nach 1898 und die Verweltlichungsmaßnahmen möglich macht, die in die Trennung von Kirche und Staat im Jahre 1905 münden. Es kann auch hervorgehoben werden, daß jüngere Untersuchungen über das Freimaurertum die Rolle eingegrenzt haben, welche dieses im Verweltlichungsprozeß in Italien innegehabt hat. Dabei ist zwischen den verschiedenen Perioden und geographischen Gebieten der Verbreitung unterschieden worden, 27 Vgl. neben den Untersuchungen von E. Dec/eva, Anticlericalismo e lotta politica nell'Italia giolittiana, I und II, außerdem H. Ulrich, Fra intransigenza laica e blocco dell'ordine. I liberali fiorentini dalle prime elezioni a suffragio universale alle elezioni amministrative dell'estate 1914, in: Nuova Rivista storica, LI (1967), III-IV, S. 297-357; ders., Le elezioni del 1913 a Roma. I liberali fra Massoneria e Vaticano, Milano 1972; ders., La classe politica nella crisi di partecipazione deii'Italia giolittiana, 1909-1913, 3 Bde., Roma 1979; von L. Lotti, I repubblicani in Romagna dal1894 al 1915, Faenza 1957, und ders., La Settimana rossa, Firenze 1965. 28 Gemeint ist das unangemessene und im wesentlichen falsche Bild vom Antiklerikalismus und Laizismus nach der Einheit, und zwar insbesondere des volkstümlichen und demokratischen, eines vereinfacht und in abrechnender Weise dargestellten Antiklerikalismus, wie Spadolini es in seinen trotzdem wertvollen und reichhaltigen Schriften zeichnet, und insbesondere in: G. Spadolini, Giolitti e i cattolici (1901-1914); diesbezüglich vgl. die Bemerkungen vonj. -P. Via/let, Anticlericalisme et lalcite en Italie. Bilan historique, insbes. S. 844 ff.
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zwischen dem Einfluß auf die Gesellschaft, der zur Zeit Giolittis anhält und sogar wächst, und dem Einfluß auf den Staat, der sein einscheidendstes Moment in den Jahren 1887-1892 gehabt habe, die mehr oder weniger mit der ersten Regierung Crispi und der politischen und persönlichen Solidarität des Großmeisters Adriano Lemmi mit Crispi übereinstimmen29 . In Wirklichkeit ist die Tätigkeit des Freimaurertums nur ein Aspekt und ein - wenn auch bedeutsamer - Teil der komplexen, vielgestaltigen Tätigkeit, welche die verschiedenen ideologischen und politischen Strömungen ausübten, die an der Verweltlichung des Landes interessiert waren. Oben wurde auf positive Ausnahmen bei dem alten Mangel an Untersuchungen zum sozialistischen Antiklerikalismus hingewiesen, diese Ausnahmen sind in den letzten Jahren häufiger geworden. Ohne hier diese Untersuchungen ganz erfassen zu wollen, können doch von dem Standpunkt aus, der uns hier am meisten interessiert, einige Beobachtungen über ihre Ergebnisse formuliert werden. So haben zunächst Untersuchungen über die eklektische Ideologie der sozialistischen Bewegung, über die Vielfalt ihrer kulturellen Ursprünge sowohl auf theoretischer als auch vor allem auf der Ebene der Propaganda und auch hinsichtlich Religion und Kirche differenzierte Positionen zum Vorschein kommen lassen. Von diesen Positionen ist der wichtige und sogar vorrangige Platz hervorgehoben worden, den die Propaganda des sozialistischen Evangelismus unter den Bauern gehabt haben soll, und die Verbreitung des evangelischen Sozialismus nach Prampolini, d .h. einer Form von Antiklerikalismus und Antikatholizismus, die in eine räumliche Heilsbotschaft übertragen wurden, wonach der Sozialismus sich als neuer religiöser Glaube darstellt, der die authentischsten und tiefsten Wesenszüge des Evangeliums und des Christentums zu verwirklichen in der Lage ist und Sprache und Ritual des Christentums verändert30 • Dies ist eine Richtung, die weitere Untersuchungen und Vertiefungen verdient und vielleicht zu mehr interessanten Ergebnissen führen kann31 . Eine weitere Beob29 Man vgl. insbesondere außer A.A. Mola, Storia della Massoneria italiana dall'Unitä alla Repubblica, Milano 1976, passim, auch ].-P. Via/let, Anatomie d'une obedience ma