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German Pages 435 Year 2015
Beiträge zum Europäischen Wirtschaftsrecht Band 62
Der Kartellgehilfe als Bußgeldadressat im Europäischen Kartellrecht Von
Jannik Otto
Duncker & Humblot · Berlin
JANNIK OTTO
Der Kartellgehilfe als Bußgeldadressat im Europäischen Kartellrecht
Beiträge zum Europäischen Wirtschaftsrecht Begründet von Professor Dr. Wolfgang Blomeyer † und Professor Dr. Karl Albrecht Schachtschneider
Band 62
Der Kartellgehilfe als Bußgeldadressat im Europäischen Kartellrecht
Von
Jannik Otto
Duncker & Humblot · Berlin
Gedruckt mit finanzieller Unterstützung der Johanna und Fritz Buch-Gedächtnis-Stiftung, Hamburg und der Köhler-Osbahr-Stiftung zur Förderung von Kunst und Wissenschaft, Düsseldorf
Die Juristische Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf hat diese Arbeit im Jahre 2014 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
D 61 Alle Rechte vorbehalten © 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0947-2452 ISBN 978-3-428-14516-4 (Print) ISBN 978-3-428-54516-2 (E-Book) ISBN 978-3-428-84516-3 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Meinen Eltern
Vorwort Die Juristische Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf hat die vorliegende Arbeit im Sommersemester 2014 als Dissertation angenommen. Für die Veröffentlichung konnten Rechtsprechung und Literatur bis einschließlich Oktober 2014 berücksichtigt werden. Mein erster und ganz herzlicher Dank gilt meinem verehrten Doktorvater Herrn Prof. Dr. Christian Kersting, LL.M. (Yale), für die hervorragende Betreuung und jederzeitige Unterstützung meiner Dissertation. Herzlich danken möchte ich auch Herrn Prof. Dr. Horst Schlehofer, der nicht nur das Zweitgutachten übernommen hat, sondern an dessen Lehrstuhl ich seit dem 2. Semester zunächst als studentische Hilfskraft, später als Wissenschaftlicher Mitarbeiter beschäftigt war. Bedanken möchte ich mich für eine überaus angenehme und lehrreiche Zeit, von der auch die vorliegende Arbeit profitiert. Dank gebührt ferner meinen ehemaligen und aktuellen Lehrstuhlkollegen sowie den weiteren befreundeten Doktoranden der Fakultät für die schöne gemeinsame Zeit. Unter ihnen bin ich besonders Herrn Dr. Jochen Tillmanns und Herrn Dominik Schnieder für wertvolle Diskussionen und die Mühen des gelegentlichen Korrekturlesens zu Dank verpflichtet. Der Johanna und Fritz Buch-Gedächtnis-Stiftung, Hamburg, und der KöhlerOsbahr-Stiftung zur Förderung von Kunst und Wissenschaft gebührt mein Dank für die großzügige Unterstützung bei der Drucklegung, dem Freundeskreis der Juristischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf e.V. für die großzügige Förderung. Mein größter Dank gilt aber meinen Eltern, die mich stets und in jeder Hinsicht unterstützt haben. Duisburg, im November 2014
Jannik Otto
Inhaltsübersicht Teil 1 Einleitung
31
A. Der Begriff des Kartellgehilfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 B. Einführung in die rechtliche Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 C. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Teil 2 Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
39
A. Die Auslegung des europäischen Kartellrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 B. Die richterliche Rechtsfortbildung im Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 C. Grenzen der Rechtsanwendung des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 D. Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip (auch) als primärrechtliche Interorgangrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 E. Bewertung der aktuellen Rechtsprechungspraxis des EuGH zum nullum crimen-Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 F. Folgerungen für die nachfolgende Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Teil 3 Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen wegen Verstößen gegen das Kartellverbot nach Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV
221
A. Die Bestimmung der Täterschaft als zentrale Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 B. Die Tathandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 C. Wettbewerbsbeschränkung bezwecken oder bewirken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 D. Eignung zur Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
10
Inhaltsübersicht
E. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 F. Der Normadressat: „Unternehmen“ und „Unternehmensvereinigungen“ . . . . . . . . . . . 327 G. Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 H. Ergebnis der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361
Teil 4 Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen wegen Verstößen gegen das Kartellverbot nach ergänzenden Strafnormen
363
A. Die Anforderungen des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 B. Keine ergänzenden Strafnormen im europäischen Kartellsanktionenrecht . . . . . . . . . . 363 C. Der Einheitstäterbegriff aus dem sonstigen Verwaltungssanktionenrecht . . . . . . . . . . . 364 D. Die Unzulässigkeit der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 E. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368
Teil 5 Die Verantwortlichkeit des Kartellgehilfen nach weiteren Sanktionsnormen des europäischen Kartellrechts
369
A. Die Bußgeldverantwortlichkeit wegen Verstößen gegen das Missbrauchsverbot nach Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 2 VO 1/2003 i.V.m. Art. 102 AEUV . . . . . . . . . . . . 369 B. Die Bußgeldverantwortlichkeit wegen Verstößen gegen die „materielle“ Zusammenschlusskontrolle nach Art. 14 Abs. 2 FKVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 C. Die Bußgeldverantwortlichkeit wegen formeller Verstöße gegen das europäische Kartellrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 D. Das verwaltungsrechtliche Zwangsgeld gem. Art. 24 VO 1/2003 . . . . . . . . . . . . . . . . 372 E. Die zivilrechtliche Haftung des Kartellgehilfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 F. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
Inhaltsübersicht
11
Teil 6 Ausblick: Die Bußgeldverantwortlichkeit von Kartellgehilfen wegen Verstößen gegen das Kartellverbot de lege ferenda
384
A. Die Verbandskompetenz der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 B. Vorschläge zur Ergänzung der Art. 101 AEUV, VO 1/2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392
Teil 7 Ergebnisse
399
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431
Inhaltsverzeichnis Teil 1 Einleitung
31
A. Der Begriff des Kartellgehilfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 B. Einführung in die rechtliche Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 C. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
Teil 2 Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
39
A. Die Auslegung des europäischen Kartellrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 I. Eigenständige unionsrechtliche Auslegungsmethodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 II. Die unionsrechtlichen Auslegungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 1. Ziel der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2. Grammatikalische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 a) Die Besonderheit der Mehrsprachenauthentizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 b) Autonome unionsrechtliche Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 3. Historische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 4. Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 5. Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 a) Die Ermittlung von Sinn und Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 b) Der sog. more economic approach und seine Bedeutung für die Auslegung 51 c) Der sog. effet utile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 d) Zielbestimmungskonflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 6. Die Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 III. Das Rangverhältnis der Auslegungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 B. Die richterliche Rechtsfortbildung im Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 I. Befugnis des Gerichtshofs auch zur Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 II. Begrifflichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 C. Grenzen der Rechtsanwendung des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
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Inhaltsverzeichnis
D. Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip (auch) als primärrechtliche Interorgangrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 I. Herleitung und Geltung im Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 1. Das unionsrechtliche Rechtsstaatsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 2. Das Grundrecht aus allgemeinem Rechtsgrundsatz gem. Art. 6 Abs. 3 EUV . 70 a) Die mitgliedstaatlichen Verfassungsüberlieferungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 b) Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 c) Weitere internationale völkerrechtliche Menschenrechtsabkommen . . . . . 78 d) Zwischenergebnis: Art. 6 Abs. 3 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 3. Das justizielle Recht aus Art. 49 Abs. 1 GRC i.V.m. Art. 6 Abs. 1 EUV . . . . 80 4. Art. 6 Abs. 2 S. 1 EUV und der Beitritt der EU zur EMRK . . . . . . . . . . . . . . 81 5. Niederschlag im Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 6. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 II. Anwendbarkeit im unionsrechtlichen Kartellbußgeldrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 1. Keine sekundärrechtliche Normierung im Kartellbußgeldrecht . . . . . . . . . . . 84 2. Die Anwendbarkeit des allgemeinen Rechtsstaatsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . 84 3. Der Anwendungsbereich des Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 a) Niemand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 b) Strafbare Handlung oder Unterlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 aa) Die Einstufung des Kartellbußgelds im Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . 89 (1) Die sekundärgesetzgeberische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 (2) Die Einordnung in Rechtsprechung und Schrifttum . . . . . . . . . . . . 91 bb) Die Einordnung nach Art und Zweck der Geldbuße . . . . . . . . . . . . . . 93 (1) Abschöpfung des unrechtmäßigen Gewinns . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 (2) Präventive Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 (3) Repressive Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 (4) Die sozial-ethische Verwerflichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 (5) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 cc) Die Einordnung nach dem bei der Anordnung und dem Vollzug der Geldbuße angewandten Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 dd) Die Einordnung nach der Schwere der Bußgeldsanktion . . . . . . . . . . . 105 ee) Zwischenergebnis: Gesamtbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 c) Verurteilung und Verhängung von Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 4. Der Anwendungsbereich des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips im Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 5. Zwischenergebnis: Der Anwendungsbereich des allgemeinen Rechtsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 6. Der Anwendungsbereich des Art. 49 Abs. 1 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 a) Art. 52 Abs. 3 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 aa) Das „Entsprechen“ der Chartarechte mit denen der EMRK . . . . . . . . . 112
Inhaltsverzeichnis
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bb) Die gleiche „Bedeutung und Tragweite“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 cc) „Wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird“ . . . . . . . 116 dd) Die „gleiche“ Bedeutung und Tragweite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 ee) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 (1) Kein Abweichen „nach unten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 (2) Abweichen „nach oben“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 b) Art. 52 Abs. 4 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 7. Das Konkurrenzverhältnis der verschiedenen Gewährleistungen . . . . . . . . . . 127 a) Das Verhältnis zwischen Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 EUV . . . . . . . . . . . . . . 129 aa) Vorrang der Grundrechtecharta im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 bb) Bindung an den höheren Grundrechtsstandard im Hoheitsgewalt-Bürger-Verhältnis im Besonderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 b) Das Verhältnis der Gewährleistungen des allgemeinen Rechtsstaatsprinzips zu denen der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 c) Das Verhältnis zu den nationalen Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 8. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 III. Der Gewährleistungsgehalt des unionsrechtlichen strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 1. Nullum crimen sine lege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 a) Der Gehalt des Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 b) Der Gehalt des Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 aa) Der allgemeine unionsrechtliche Gesetzesvorbehalt als Mindestniveau 146 (1) Die Anwendung des allgemeinen Gesetzesvorbehalts auf Kartellbußgelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 (2) Der Begriff des Gesetzes i.S.d. allgemeinen grundrechtlichen Gesetzesvorbehalts des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 bb) Der Gesetzesbegriff des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips im Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 (1) Chartainterne Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 (2) Lösung über Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC i.V.m. dem prätorischen Grundrechtsschutz nach Art. 6 Abs. 3 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 (3) Gemeinsamkeiten der beiden Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 (4) Der rechtsstaatlich-gewaltenteilende Gehalt des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips im Recht der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . 159 (5) Der demokratisch-gewaltenteilende Gehalt des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips im Recht der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . 161 cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 dd) Der Gesetzesbegriff des Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC für mitgliedstaatliche Strafnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 ee) Die Position der Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 ff) Das „innerstaatliche“ und „internationale“ Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
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Inhaltsverzeichnis c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 2. Nullum crimen sine lege scripta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 3. Nullum crimen sine lege certa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 a) Die Anwendbarkeit auch auf die Merkmale der Ausfüllungsnorm des Art. 101 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 aa) Der Verweis auf das Kartellverbot des Art. 81 EG bzw. Art. 101 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 bb) Die Blanketttechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 cc) Das dogmatische Problem der Normambivalenz . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 (1) Normspaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 (2) Einheitliche Auslegung nach strafrechtlichen Grundsätzen . . . . . . 172 (3) Einheitliche Auslegung nach nicht-strafrechtlichen Grundsätzen, aber korrigierende restriktive Mechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 (4) Die europäische Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 (5) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 b) Die Grenzen der bewussten Delegation des Gesetzgebers an die Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 c) Die Intensität des Bestimmtheitsgrundsatzes im unionsrechtlichen Kartellbußgeldrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 aa) Der Gewährleistungsgehalt des Art. 7 EMRK als Mindestschutzniveau 178 bb) Die verwaltungsrechtlichen Grundsätze als Mindestschutzniveau . . . . 178 cc) Die Sprache als Ausschluss absoluter Bestimmtheit . . . . . . . . . . . . . . 179 dd) Art. 52 GRC als gesetzliche Grundlage einer Einschränkung des unionsrechtlichen strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes . . . . . . . . . . 180 (1) Das Schrankenregime der GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 (2) Das Verhältnis von Art. 52 Abs. 1 S. 1 und Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 (3) Vorbehaltlose Gewährleistung des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 (4) Immanente Schranken (engl. „inherent limitations“, frz. „limitations implicites“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 (a) Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC und die immanenten Schranken der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 (b) Der Gesetzesbegriff als Einfallstor des allgemeinen Gleichheitssatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 (c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 (5) Zur Abstufung zwischen Kriminalstrafrecht und Strafrecht i.w.S. . 190 (a) Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC und die immanenten Schranken der GRC: Die Jussila/Finnland-Rechtsprechung des EGMR . . . . . 190 (b) Art. 52 Abs. 4 GRC und die Abstufungen im Recht der Mitgliedstaaten: Die je desto-Formel des BVerfG . . . . . . . . . . . . . 191 (c) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
Inhaltsverzeichnis
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(d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 (6) Keine Abstufung in der Intensität des strafrechtlichen und des allgemeinen Bestimmtheitsgrundsatzes in Bezug auf die Vorhersehbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 (7) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 d) Keine Kompensation durch volle gerichtliche Nachprüfung . . . . . . . . . . . 198 e) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 4. Nullum crimen sine lege stricta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 a) Das Analogieverbot des Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 b) Das Analogieverbot des Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 aa) Der Begriff der Analogie i.S.d. strafrechtlichen Analogieverbots . . . . 203 bb) Der gesetzliche Rahmen als Grenze der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . 203 (1) Spiegelbild des Bestimmtheitsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 (2) Zum Wortlaut als Grenze der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 (3) Zum Telos als Grenze der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 (4) Zum allgemeinen Sprachgebrauch als Grenze der Auslegung . . . . 208 cc) Die Grenzziehung durch den gesetzlichen Rahmen bei Mehrsprachenauthentizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 dd) Das Gebot restriktiver Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 c) Ergebnis: Schrittweise Klärung der Strafvorschriften durch richterliche Auslegung und Verbot jeglicher täterbelastender Rechtsfortbildung . . . . . 214 5. Nullum crimen sine lege praevia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 E. Bewertung der aktuellen Rechtsprechungspraxis des EuGH zum nullum crimenGrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 F. Folgerungen für die nachfolgende Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
Teil 3 Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen wegen Verstößen gegen das Kartellverbot nach Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV
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A. Die Bestimmung der Täterschaft als zentrale Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 I. Der Begriff der Täterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 II. Der rechtsstaatliche, primärrechtliche Rahmen der Ausgestaltung der Täterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 1. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 2. Der Schuldgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 3. Der nullum crimen-Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
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Inhaltsverzeichnis III. Die verschiedenen Beteiligungsmodelle in den Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . 225 1. Modell des Allgemeinen Teils und Modell des Besonderen Teils . . . . . . . . . . 226 2. Einheitstätermodell und Differenzierungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 a) Das dualistische Beteiligungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 b) Das Einheitstätermodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 c) Der strafrechtliche Täterbegriff im wertenden Rechtsvergleich . . . . . . . . . 228 d) Die Rezeption der Tätermodelle im kodifizierten Unionsrecht . . . . . . . . . 229 e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 IV. Die verschiedenen Differenzierungsmöglichkeiten auf Tatbestandsebene . . . . . 231 1. Der Adressatenkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 a) Sonderdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 b) Pflichtdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 2. Die Umschreibung der Tathandlung: Extensiver und restriktiver Täterbegriff 233 3. Die subjektive Tatseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 V. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234
B. Die Tathandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 I. Handlungsfähigkeit des Unternehmens wie der Unternehmensvereinigung . . . . 235 II. Identifizierung der potentiellen Tathandlungen des Kartellgehilfen . . . . . . . . . . 236 1. Die drei möglichen Ansatzpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 2. Die bisherige Praxis der Unionsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 III. Grammatikalische Auslegung der Tathandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 1. „Vereinbarungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 a) Das Kriterium der Partei der Vereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 b) Die Anwendung des Kriteriums der Partei der Vereinbarung auf die Fallgruppe der Kartellgehilfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 2. „Beschlüsse“ von Unternehmensvereinigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 3. „Aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 4. Zwischenfazit: Zur Grenzziehung durch das Analogieverbot . . . . . . . . . . . . . 248 IV. Historische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 V. Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 1. Art. 101 Abs. 2 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 2. Die Berücksichtigung strafrechtlicher Täterkriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 a) Objektive Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 b) Subjektive Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 c) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 aa) Objektive Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 bb) Subjektive Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262
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VI. Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 1. Der Schutzzweck des Art. 101 Abs. 1 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 a) Art. 101 AEUV im Regelungsrahmen des Binnenmarkts . . . . . . . . . . . . . . 266 b) Das Schutzgut: Wettbewerb innerhalb des Binnenmarkts . . . . . . . . . . . . . . 268 c) Die Beschränkung auf kollusive Tathandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 aa) Rückschlüsse für die Tathandlung der „aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 bb) Rückschlüsse für die beiden anderen Tathandlungen . . . . . . . . . . . . . . 274 d) Zwischenergebnis: Die Bedeutung des sog. Selbständigkeitspostulats für die Auslegung der Tathandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 aa) Das Selbständigkeitspostulat als Abgrenzungskriterium von verbotenem zu erlaubtem Wettbewerbsverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 bb) Die dem Selbständigkeitspostulat vorgelagerten Voraussetzungen . . . 276 cc) Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a VO 1/2003 als Pflichtdelikt . . . . . . . . . . 278 e) Die Anwendung dieser Auslegungsmaxime auf den Dienstvertrag . . . . . . 278 2. Die Ansätze einer Gesamtbetrachtung von Dienstvertrag und Kartellabrede unter den Kartellanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 a) Keine Übertragbarkeit der Rechtsprechung zur einheitlichen, komplexen und fortgesetzten Zuwiderhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 aa) Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 bb) Herleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 cc) Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 dd) Keine Übertragbarkeit auf die Fallgruppe der Kartellgehilfen . . . . . . . 285 b) Keine Übertragbarkeit der Rechtsprechung zur passiven Beteiligung an einem Kartell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 c) Keine Übertragbarkeit der völkerrechtlichen Rechtsfigur des joint criminal enterprise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 aa) Der Ansatz Hardings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 bb) Die Rechtsfigur des joint criminal enterprise im Völkerstrafrecht . . . 291 cc) Rechtsstaatliche und methodische Unzulässigkeit der Übertragung . . 292 dd) Übertragbarkeit der Figur des joint criminal enterprise de lege ferenda 293 d) Keine Übertragbarkeit der Rechtsprechung zur sog. Bündeltheorie . . . . . . 293 3. Der Umgehungsgedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 4. Zwischenergebnis: Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 VII. Die abschließende Grenzziehung durch den Bestimmtheitsgrundsatz und das Analogieverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 VIII. Auslegungsergebnis: Tathandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 C. Wettbewerbsbeschränkung bezwecken oder bewirken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 I. Wettbewerbsbeschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 1. Das Schutzgut: „Wettbewerb“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 2. Sonderdelikt: Wettbewerbsverhältnis als Tätervoraussetzung? . . . . . . . . . . . . 300
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Inhaltsverzeichnis 3. „Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 a) Annäherung mittels des Selbständigkeitspostulats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 b) Einschränkung Dritter in ihrer Handlungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 c) Die neuere Entwicklung durch den more economic approach . . . . . . . . . . 306 d) Zwischenergebnis, insb. der Bezug zur Fallgruppe der Kartellgehilfen . . . 307 II. Spürbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 1. Die Bedeutung dieses ungeschriebenen Kriteriums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 2. Der relevante Markt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 III. „Bezwecken oder bewirken“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 1. Das Problem: Die Weite des Wortlauts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 a) Die sog. Bündeltheorie der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 b) Lösungsvorschläge in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 aa) Der Dienstvertrag als akzessorische Wettbewerbsbeschränkung . . . . . 317 bb) Heranziehen sachlicher Kriterien zur teleologischen Reduktion der mittelbaren Eignung bzw. mittelbaren Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 cc) Herauslesen eines Unmittelbarkeitskriteriums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 2. Eigene Lösung: Selbständigkeitspostulat und Pflichtwidrigkeitszusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324
D. Eignung zur Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 E. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 F. Der Normadressat: „Unternehmen“ und „Unternehmensvereinigungen“ . . . . . . . . . . . 327 I. „Unternehmen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 1. Begriffsbestimmung durch die ständige Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . 328 2. Zur Grenzziehung durch das Analogieverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 II. „Unternehmensvereinigung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 1. These: Die „Unternehmensvereinigung“ als ein gesetzlich normierter Fall eines Kartellgehilfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 2. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 III. Ansätze der Literatur: Rückschlüsse aus der Beschränkung des Täterkreises auf Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 1. Teilnahme des Unternehmens am von der Wettbewerbsbeschränkung betroffenen Markt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 2. Modifizierung des Begriffs der Marktteilnahme unter Schutzzweckgesichtspunkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 3. Produktbezogene wirtschaftliche Nähe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 4. Besondere Pflichtenstellung des Unternehmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340
Inhaltsverzeichnis
21
5. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 a) Grammatikalische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 aa) Folgerungen aus den Merkmalen der Tathandlungen . . . . . . . . . . . . . . 341 bb) Folgerungen aus dem Merkmal der bezweckten oder bewirkten Wettbewerbsbeschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 cc) Folgerungen aus dem Merkmal der sog. Zwischenstaatlichkeitsklausel 343 dd) Folgerungen aus den Regelbeispielen des Art. 101 Abs. 1 Hs. 2 AEUV 344 ee) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 b) Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 aa) Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 2 VO 1/2003 i.V.m. Art. 102 AEUV 345 bb) Art. 23 Abs. 2 UAbs. 3 VO 1/2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 cc) Soft law der EU-Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 dd) Zwischenergebnis: Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 c) Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 aa) Der Schutzzweck des Unternehmensbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 bb) Keine Abgrenzung der Täterschaft über die Pflichtenposition der beteiligten Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 cc) Die Rückbindung an das Selbständigkeitspostulat . . . . . . . . . . . . . . . . 355 dd) Zwischenergebnis: Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 G. Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 H. Ergebnis der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361
Teil 4 Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen wegen Verstößen gegen das Kartellverbot nach ergänzenden Strafnormen
363
A. Die Anforderungen des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 B. Keine ergänzenden Strafnormen im europäischen Kartellsanktionenrecht . . . . . . . . . . 363 C. Der Einheitstäterbegriff aus dem sonstigen Verwaltungssanktionenrecht . . . . . . . . . . . 364 I. Art. 66 § 6 Spiegelstrich 4 EGKSV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 II. Die Rahmenregelung des Art. 7 S. 2 VO 2988/95 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 III. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 D. Die Unzulässigkeit der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 I. Analogieschluss und allgemeine Rechtsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 II. Die Rechtsprechung zur mittelbaren staatlichen Verantwortung für die Einhaltung der Wettbewerbsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367
22
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E. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368
Teil 5 Die Verantwortlichkeit des Kartellgehilfen nach weiteren Sanktionsnormen des europäischen Kartellrechts
369
A. Die Bußgeldverantwortlichkeit wegen Verstößen gegen das Missbrauchsverbot nach Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 2 VO 1/2003 i.V.m. Art. 102 AEUV . . . . . . . . . . . . 369 B. Die Bußgeldverantwortlichkeit wegen Verstößen gegen die „materielle“ Zusammenschlusskontrolle nach Art. 14 Abs. 2 FKVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 C. Die Bußgeldverantwortlichkeit wegen formeller Verstöße gegen das europäische Kartellrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 D. Das verwaltungsrechtliche Zwangsgeld gem. Art. 24 VO 1/2003 . . . . . . . . . . . . . . . . 372 E. Die zivilrechtliche Haftung des Kartellgehilfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 I. Die Nichtigkeit des Dienstvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 II. Exkurs: Das Verhältnis des nationalen zum unionsrechtlichen Kartellrecht . . . . 374 1. Die Regelung des Art. 3 VO 1/2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 2. Das zugrundeliegende Kompetenzgefüge zwischen der EU und den Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 III. Die Haftung auf Beseitigung, Unterlassung und Schadensersatz, § 33 GWB . . . 381 F. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
Teil 6 Ausblick: Die Bußgeldverantwortlichkeit von Kartellgehilfen wegen Verstößen gegen das Kartellverbot de lege ferenda
384
A. Die Verbandskompetenz der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 I. Art. 103 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 II. Art. 352 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 1. Zur Verwirklichung eines der Ziele der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 2. Im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Politikbereiche . . . . . . . . . . . . 387 3. Das Fehlen der hierfür erforderlichen Befugnisse in den Verträgen . . . . . . . . 387 4. Die Erforderlichkeit des Tätigwerdens der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 5. Der Umfang der sog. Flexibilitätsklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 a) Der Erlass geeigneter Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 b) Die Abgrenzung zur Vertragsänderung und -ergänzung nach Art. 48 EUV 390
Inhaltsverzeichnis
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c) Der Erlass strafrechtlicher Normen i.w.S. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 6. Die Grenzen der Kompetenzausübung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 B. Vorschläge zur Ergänzung der Art. 101 AEUV, VO 1/2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392
Teil 7 Ergebnisse
399
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431
Abkürzungsverzeichnis a.A. a.a.O. Abs. ABl. AcP a.E. AEUV AEVO a.F. aff. AIDP AK allg. allg. M. Alt. amtl. amtl. Slg. Anm. AöR Art. AT Aufl. AVR Bd. BeckOK Begr. ber. Beschl. BGB BGBl. BGH BGHR BGHSt BK BRD BR-Drs. BT-Drs. BVerfG BVerfGE bzgl.
anderer Auffassung am angegebenen Ort Absatz Amtsblatt der Europäischen Union, früher: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Archiv für die civilistische Praxis am Ende Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Ausfuhrerstattungsverordnung alte Fassung affaire Association Internationale de Droit Pénal Alternativkommentar allgemein allgemeine Meinung Alternative amtlich amtliche Sammlung Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Allgemeiner Teil Auflage Archiv des Vökerrechts Band Beck’scher Online-Kommentar Begründer berichtigt Beschluss Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Systematische Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs Entscheidungssammlung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Bonner Kommentar Bundesrepublik Deutschland Bundesratsdrucksache Bundestagsdrucksache Bundesverfassungsgericht Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts bezüglich
Abkürzungsverzeichnis bzw. c/ CMLR DAOR DB ders. d. h. dies. Dig Diss. iur. DÖV DR dt. DVBl. E.C.L.R. EFTA EG EGKSV EGMR EGMR-E EGV Einf. Einl. EKMR EMRK engl. Entsch. EP EU EuG EuGH EuGRZ EuR Euratom europ. EUV EuZ EuZW EV EVV EWG EWGV EWiR EWR
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beziehungsweise contre Common Market Law Review Le droit des affaires: DA = Het ondernemingsrecht: OR Der Betrieb derselbe das heißt dieselbe, dieselben Digesten juristische Dissertation Die Öffentliche Verwaltung Decisions and Reports/Décision et Rapports deutsch Deutsches Verwaltungsblatt European Competition Law Review European Free Trade Association Europäische Gemeinschaft, Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Deutschsprachige Sammlung der Entscheidungen des EGMR, hrsg. von Erika und Norbert Engel, Bd., S. Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Einführung Einleitung Europäische Kommission für Menschenrechte Konvention zum Schutze der Menschenrechte, Kurzform: Europäische Menschenrechtskonvention englisch Entscheidung Europäisches Parlament Europäische Union Gericht, früher: Gericht erster Instanz Gerichtshof, früher: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europarecht Europäische Atomgemeinschaft europäisch Vertrag über die Europäische Union Zeitschrift für Europarecht Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa Vertrag über eine Verfassung für Europa Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht Europäischer Wirtschaftsraum
26 EWS f. FAZ ff. FK FKVO Fn. frz. FS GA GATT GbR GCLC G.C.L.R. GCP gem. GemR GG ggf. G/H/N GK GRC GrCh GRUR GRUR Int. GS GW GWB Hdb. HK h.L. h.M. HRRS Hrsg. hrsg. Hs. ICTR ICTY i. d. F. i. d. R. i.E. i. e.S. i.H.v. ILO insb. IntKomm
Abkürzungsverzeichnis Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht folgende Frankfurter Allgemeine Zeitung folgende (Plural) Frankfurter Kommentar Fusionskontrollverordnung Fußnote französisch Festschrift Generalanwalt/Generalanwältin, Goltdammer’s Archiv für Strafrecht General Agreement on Tariffs and Trade Gesellschaft bürgerlichen Rechts Global Competition Law Centre Global Competition Litigation Review Competition Policy International, The Online Magazine for Global Competition Policy gemäß Gemeinschaftsrecht Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland gegebenenfalls Grabitz/Hilf/Nettesheim Große Kammer Charta der Grundrechte der Europäischen Union Charta der Grundrechte der Europäischen Union Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, Auslands- und internationaler Teil Gedächtnisschrift Grundwerk Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Handbuch Handkommentar herrschende Lehre herrschende Meinung Online-Zeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung im Strafrecht Herausgeber herausgegeben Halbsatz International Criminal Tribunal for Rwanda International Criminal Tribunal for former Yugoslavia in der Fassung in der Regel im Ergebnis im engeren Sinne in Höhe von International Labour Organisation, Internationale Arbeitsorganisation insbesondere Internationaler Kommentar
Abkürzungsverzeichnis I/M IPBPR i.S. i.S.d. IStGH ital. i.V.m. i.w.S. JA JCE jew. JR Jura JuS JZ Kap. KartellR KartellverfahrensR KG KK KöKo KSzW Lfg. LG lit. LK L/M/R MJ MüKo m.w.N. n8 Nachw. n.F. niederl. NK NJOZ NJW Nma Nr. NStZ NStZ-RR NTER NVwZ o.g. OLG ÖJZ OWiG OZK
Immenga/Mestmäcker Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte im Sinne im Sinne des Internationaler Strafgerichtshof italienisch in Verbindung mit im weiteren Sinne Juristische Arbeitsblätter joint criminal enterprise jeweils Juristische Rundschau Juristische Ausbildung Juristische Schulung Juristenzeitung Kapitel Kartellrecht Kartellverfahrensrecht Kammergericht Karlsruher Kommentar Kölner Kommentar Kölner Schrift zum Wirtschaftsrecht Lieferung Landgericht litera Leipziger Kommentar Loewenheim/Meessen/Riesenkampff Maastricht Journal of European and Comparative Law Münchener Kommentar mit weiteren Nachweisen numéro Nachweise neue Fassung niederländisch NomosKommentar Neue Juristische Online-Zeitschrift Neue Juristische Wochenschrift Nederlandse Mededingingsautoriteit Nummer Neue Zeitschrift für Strafrecht NStZ-Rechtsprechungsreport Strafrecht Nederlands tijdschrift voor Europees recht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht oben genannt Oberlandesgericht Österreichische Juristen-Zeitung Gesetz über Ordnungswidrigkeiten Österreichische Zeitschrift für Kartell- und Wettbewerbsrecht
27
28 ÖZK RabelsZ RGSt RIW RL Rn. Rs. Rspr. S. Série A/Series A Série B/Series B SEV SK Slg. sog. span. StGB StPO str. st. Rspr. Teildr. teilw. TPICE u. a. UAbs. u.d.T. UN unstr. Urt. usw. u. U. v v. v. a. Var. verb. Rs. Verf. VerfV VerfVO vgl. v.H. VO Vol.
Abkürzungsverzeichnis Österreichische Zeitschrift für Kartellrecht Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Recht der internationalen Wirtschaft, Betriebs-Berater International Richtlinie Randnummer Rechtssache Rechtsprechung Satz, Seite Publications de la Cour Européenne de Droits de l’Homme, Série A: Arrêts et decisions/Publications of the European Court of Human Rights, Series A: Judgments and decisions Publications de la Cour Européenne de Droits de l’Homme, Série B: Mémoires, Plaidoiries et Documents/Publications of the European Court of Human Rights, Series B: Pleadings, Oral Arguments and Documents Sammlung der Europaratsverträge Systematischer Kommentar Sammlung der Entscheidungen des Gerichtshofs und des Gerichts so genannt spanisch Strafgesetzbuch Strafprozessordnung streitig ständige Rechtsprechung Teildruck teilweise Tribunal de première instance des Communautés européennes; nunmehr: Tribunal und andere, unter anderem Unterabsatz unter dem Titel United Nations unstreitig Urteil und so weiter unter Umständen versus vom vor allem Variante verbundene Rechtssachen Verfasser Vertrag über eine Verfassung für Europa Kartellverfahrensverordnung (VO 1/2003) vergleiche vom Hundert Verordnung Volume
Abkürzungsverzeichnis Vor. VVDStRL WettbR WirtschaftsR WirtschaftsstrafR wistra WRP WuW WuW/E WVK Yb z. B. ZEuP ZEuS ZfRV ZfZ ZGR ZHR ZIS zit. ZP ZPO ZRP ZStrR ZStW zugl. zust. ZWeR
29
Vorbemerkung Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Wettbewerbsrecht Wirtschaftsrecht Wirtschaftsstrafrecht Zeitschrift für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht Wettbewerb in Recht und Praxis Wirtschaft und Wettbewerb WuW, Entscheidungssammlung zum Kartellrecht Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge Yearbook of the European Convention on Human Rights/Annuaire de la Convention Européenne des Droits de l’Homme zum Beispiel Zeitschrift für europäisches Privatrecht Zeitschrift für Europarechtliche Studien Zeitschrift für Europarecht, internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung Zeitschrift für Zölle und Verbrauchssteuern Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik zitiert Zusatzprotokoll Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft zugleich zustimmend Zeitschrift für Wettbewerbsrecht
Nationale Gesetze ohne nähere Bezeichnung sind solche des deutschen Rechts.
Teil 1
Einleitung In der Bußgeldpraxis des europäischen Kartellrechts lassen sich in der jüngeren Vergangenheit zwei Entwicklungen erkennen. Zum einen haben die Bußgeldhöhen einen immer neuen Höchstwert erreicht.1 Zum anderen wird der Kreis der für einen Kartellverstoß Verantwortlichen ausgeweitet.2 Schon früh wurde auch das hoheitliche Handeln der Mitgliedstaaten über die Verpflichtungen der Grundfreiheiten und des Art. 106 AEUV hinaus in die Kartellrechtsverantwortlichkeit einbezogen.3 Ferner hat sich die Bebußung von Muttergesellschaften „für Kartellrechtsverstöße ihrer Tochtergesellschaften“ in der Praxis längst durchgesetzt.4 Diese Zurechnung über die Figur der wirtschaftlichen Einheit wird im Falle gemeinsam kontrollierter Gemeinschaftsunternehmen zudem auf sämtliche Muttergesellschaften erstreckt.5 Nachdem das Konzept der einheitlichen, komplexen und fortgesetzten Zuwiderhandlung ausgeweitet wurde,6 wonach nunmehr Unternehmen für das Gesamtkartell verantwortlich gemacht werden, die selbst nur an einzelnen Zuwiderhandlungen beteiligt waren, ist die Kommission erstmals dazu übergegangen, sog. Kartellgehilfen oder Kartellwächter7 mit einem Bußgeld zu belegen.8 Das EuG hat diese Praxis jüngst gebilligt.9 Begleitet wurde die Bußgeldentscheidung der Kommission von der 1 Siehe die Aufstellung bei Kommission, Cartel Statistics, Abbildungen 1.1 bis 1.4, abrufbar unter http://ec.europa.eu/competition/cartels/statistics/statistics.pdf, zuletzt besucht am 18. 11. 2014. Aus dem Schrifttum etwa Möschel, DB 2010, 2377. 2 Meyring, WuW 2010, 157. 3 Dazu siehe noch näher unten S. 367 ff. 4 Zuletzt bedeutend EuGH, Urt. v. 10. 9. 2009, Rs. C-97/08 P – Akzo Nobel u. a./Kommission, Slg. 2009, I-8237. Eine Nachzeichnung der Rechtsprechungsentwicklung findet sich in EuG, Urt. v. 27. 6. 2012, Rs. T-372/10 – Bolloré/Kommission, noch nicht in amtl. Slg., Rn. 38 ff. Dazu siehe noch unten Teil 3, insb. zur Terminologie, in und bei Fn. 290. 5 Kommission, Entsch. v. 24. 1. 2007, COMP/F/38.899 – Gasisolierte Schaltanlagen, Rn. 383 ff. Siehe auch Thomas, KSzW 2011, 10, 11 m.w.N. auf Ausweitungen der Rechtsfigur der wirtschaftlichen Einheit. 6 Überblickartige Darstellung der Entwicklung bei Meyring, WuW 2010, 157, 159 f. Zu dieser Rechtsfigur noch näher unten S. 280 ff. 7 Im Folgenden soll von Kartellgehilfen gesprochen werden, weil der Begriff der Kartellwächter zuweilen als Synonym für die Kartellbehörden verwandt wird. Dabei ist indes zu beachten, dass die Terminologie frei vom deutschen Verständnis der Beihilfe i.S.d. § 27 StGB ist. Zur Autonomie der unionsrechtlichen Begrifflichkeit siehe noch unten S. 46 f. 8 Kommission, Entsch. v. 10. 12. 2003, COMP/E-2/37.857 – Organische Peroxide. 9 EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501.
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Teil 1: Einleitung
Ankündigung, die Bußgelder gegen Kartellgehilfen zukünftig deutlich anzuheben.10 Seitdem hat die Kommission erneut zwei Bußgelder gegen dieselbe Unternehmensberatungsgesellschaft erlassen, diesmal entsprechend nicht nur in symbolischer Höhe von 1.000 E,11 sondern jeweils in Höhe von 174.000 E.12 Dies billigte das EuG ebenfalls.13 Auch die niederländische Kartellbehörde14 sowie das Bundeskartellamt15 haben sich dieser Praxis angeschlossen. Im Vereinigten Königreich wurde sogar erstmalig eine Haftstrafe gegen eine natürliche Person wegen Kartellgehilfentätigkeiten verhängt.16 Gleichwohl überrascht, dass die Kommission im letztgenannten Fall17 bei erster Gelegenheit nach dem Ergehen des AC-Treuhand/Kommission-Urteils des EuG auf ein Bußgeld gegen den Kartellgehilfen verzichtet hat.18 Diese nur grob umrissene Praxis zeugt von den Bemühungen der Kartellbehörden, einen effektiven und umfassenden Wettbewerbsschutz zu gewährleisten. Mit dieser Ausweitung korrespondiert jedoch in rechtsstaatlicher Hinsicht die Frage nach der Belastbarkeit der rechtlichen Grundlagen. Dieser Frage ist in der vorliegenden Arbeit für die Fallgruppe der Kartellgehilfen im europäischen Kartellrecht nachzugehen.
A. Der Begriff des Kartellgehilfen Der Begriff des Kartellgehilfen ist geprägt von dem Sachverhalt, den das EuG in jüngerer Vergangenheit in der Rechtssache AC Treuhand/Kommission entschieden 10 Kommission, Pressemitteilung IP/03/1700 v. 10. 12. 2003, abrufbar unter http://europa. eu/rapid/press-release_IP-03-1700_de.htm?locale=en, zuletzt besucht am 18. 11. 2014. 11 Vgl. zur symbolischen Geldbuße Kommission, Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1/ 2003, ABl. 2006 C 210, S. 2, 4 Rn. 36. 12 Kommission, Entsch. v. 11. 11. 2009, COMP/38.589 – Wärmestabilisatoren, ABl. 2010 C 307, S. 9, 11 f. Rn. 19 f. 13 EuG, Urt. v. 6. 2. 2014, Rs. T-27/10 – AC Treuhand/Kommission, noch nicht in amtl. Slg. Das verhängte Bußgeld schöpfte nach Auffassung der EU-Organe den Bußgeldrahmen vollständig aus, vgl. EuG, a.a.O., Rn. 46. 14 Nederlandse Mededingingsautoriteit, Pressebericht v. 12. 6. 2009, abrufbar unter https:// www.acm.nl/en/publications/publication/6366/NMa-imposes-fine-on-two-cartels-and-cartel-fa cilitator-in-Dutch-painting-industry/, zuletzt besucht am 18. 11. 2014. 15 Bundeskartellamt, Pressemitteilung vom 10. Februar 2011, abrufbar unter http://www. bundeskartellamt.de/SharedDocs/Meldung/DE/Pressemitteilungen/2011/10_02_2011_Feuer wehrfahrzeuge.html, zuletzt besucht am 18. 11. 2014. 16 Siehe Office of Fair Trading, press release 72/08 of 11 june 2008, abrufbar unter http:// webarchive.nationalarchives.gov.uk/20140402142426/http://www.oft.gov.uk/news-and-up dates/press/2008/72-08, zuletzt besucht am 18. 11. 2014. Vgl. auch Harding/Joshua, Regulating Cartels in Europe, S. 265 f. 17 Kommission, Entsch. v. 28. 1. 2009, COMP/39.406 – Marineschläuche, ABl. 2009 C 168, S. 6. 18 Howe/Lawrence/Whiteford, G.C.L.R. 2009, 83, 87 f.
A. Der Begriff des Kartellgehilfen
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hat.19 Erfasst werden Unternehmen, die weder an der Kartellabrede an sich beteiligt sind, noch auf dem kartellierten Markt auftreten, dafür aber das Kartell organisatorisch unterstützen, indem sie Daten erheben, Kartelltreffen organisieren, Maßnahmen zur Geheimhaltung des Kartells treffen, bei Meinungsverschiedenheiten unter den Kartellanten vermitteln sowie die Einhaltung der Kartellabrede überwachen.20 Der Kartellgehilfe stärkt das Kartell damit in seiner Stabilität und erhöht die Sicherheit gegenüber den Kartellbehörden. Damit kann auch die Bereitschaft der Kartellmitglieder sinken, von der Kronzeugenregelung21 Gebrauch zu machen und das Kartell aufzudecken. Für die Kommission ist es damit besonders schwer, von Kartellgehilfen unterstützte Kartelle aufzudecken. Die Kartellhilfe erhöht somit die Beständigkeit und Lebensdauer der Kartelle.22 Dieser wettbewerbsschädliche Nutzen für das Kartell erklärt auch das allgemein beigemessene Strafbedürfnis zur Bekämpfung auch der Kartellgehilfen. Noch aus einem anderen Grund ist die Erfassung von Kartellgehilfen für die Kommission wertvoll. Als Bußgeldverantwortliche könnten Kartellgehilfen auch die Kronzeugenregelungen in Anspruch nehmen.23 Dies würde die Kartellrechtsdurchsetzung vereinfachen, verfügen die Kartellgehilfen doch regelmäßig über zahlreiche bedeutende Unterlagen des Kartells und haben sie in der Regel doch geringere wirtschaftliche Vorteile von der Aufrechterhaltung des Kartells als die Parteien der Kartellabrede. Gerade das würde auch den Druck auf die Kartellanten erhöhen, sich der Kommission als erster zu offenbaren, da nach dem Offenbaren des Kartellgehilfen meist nur noch wenig Raum für einen erheblichen Mehrwert i.S.d. Rn. 24 der Kronzeugenregelung und damit einer weiteren Bußgeldermäßigung
19 EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501; nachfolgend EuG, Urt. v. 6. 2. 2014, Rs. T-27/10 – AC Treuhand/Kommission, noch nicht in amtl. Slg. 20 Ausführlich zur modellhaften Tätigkeit der AC Treuhand AG im o.g. Sachverhalt Kommission, Entsch. v. 10. 12. 2003, COMP/E-2/37.857 – Organische Peroxide, Rn. 92; siehe auch Kommission, Entsch. v. 11. 11. 2009, COMP/38.589 – Wärmestabilisatoren, Rn. 108 ff., 356, 358. 21 Kommission, Mitteilung über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, ABl. 2006 C 298, S. 17. 22 Das von der AC-Treuhand AG unterstützte Kartell für organische Peroxide bestand 29 Jahre und damit die bisher längste Zeit eines von der Kommission aufgedeckten Kartells; siehe Kommission, Pressemitteilung IP/03/1700 vom 10. 12. 2003, abrufbar unter http://europa. eu/rapid/press-release_IP-03-1700_de.htm?locale=en, zuletzt besucht am 18. 11. 2014. 23 Von ihrer Anwendbarkeit auch auf Kartellgehilfen gehen ebenfalls aus Albrecht/von dem Bussche, EWiR 2008, 489, 490; Beumer, Actualiteiten Mededingingsrecht 2008, 185, 190; von dem Bussche/Albrecht, EWS 2008, 416, 422; Caruso/Sakkers, GCP November 2008 (2), 1, 16; Howe/Lawrence/Whiteford, G.C.L.R. 2009, 83, 89; C. Mayer, European Law Reporter 2009, 34, 42. Zum niederländischen Recht siehe Nederlandse Mededingingsautoriteit, Pressebericht v. 29. 7. 2008, Ook kartelondersteuners kunnen om clementie vragen, abrufbar unter https:// www.acm.nl/nl/publicaties/publicatie/5289/Ook-kartelondersteuners-kunnen-om-clementie-vra gen/, zuletzt besucht am 18. 11. 2014.
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Teil 1: Einleitung
bliebe.24 Noch wirkungsvoller würde die Kronzeugenregelung freilich für die Kartellbehörden, wenn auch die Bußgelder für Kartellgehilfen – wie von der Kommission angekündigt –25 beträchtliche Höhen26 erreichten, sodass sich der Anreiz zur Inanspruchnahme durch die Kartellgehilfen erhöhte.27 Die Bestrebungen der Kommission, Kartellgehilfen zukünftig verstärkt in die Kartellrechtsverantwortlichkeit zu ziehen, und die erstmalige Billigung ihrer Bebußung durch das EuG muss damit breite Verkehrskreise aufhorchen lassen. Als Kartellgehilfen kommen nicht allein Wirtschaftsberatungsunternehmen wie die verfahrensführende AC Treuhand AG in Betracht.28 Selbst Hotels, die ihre Konferenzräume vorsätzlich oder fahrlässig für Kartelltreffen vermieten und etwa bei Diskretion und Geheimhaltung helfen, könnten sich nunmehr für Kartellrechtsverstöße verantworten müssen.29 Ebenso können die betreuenden Tätigkeiten beruflicher Interessenverbände Kartellgehilfenbeiträge darstellen.30 Nicht zuletzt könnte auch die anwaltliche Beratung in den Fokus kartellrechtlicher Ermittlung geraten.31 GA Kokott nannte jüngst anwaltliche Gefälligkeitsgutachten als einen Anwendungsfall.32
24
Howe/Lawrence/Whiteford, G.C.L.R. 2009, 83, 89. Siehe oben in und bei Teil 1 Fn. 10. 26 Das Rekordbußgeld für einen Kartellrechtsverstoß eines einzigen Unternehmens beträgt 880 Millionen Euro; vgl. Kommission, Entsch. v. 12. 11. 2008, COMP/39.125 – Autoglas, zusammengefasst in ABl. 2009 C 173, S. 13; geändert durch zwei Korrekturen v. 4. 12. 2008 und 11. 2. 2009. 27 Vgl. von dem Bussche/Albrecht, EWS 2008, 416, 422. Ein Kronzeugenantrag eines Kartellgehilfen würde auch die besonderen Beweisschwierigkeiten der Kommission für seinen Verstoß beseitigen, auf die Beumer, Actualiteiten Mededingingsrecht 2008, 185, 189 hinweist. 28 Verschärfte und neuartige Risiken für Beratungsunternehmen sieht Depuydt, DAOR 2008, 406, 413; C. Mayer, European Law Reporter 2009, 34, 42. Auf besondere Prüfpflichten weisen Neumayr/Simon, OZK 2008, 156, 157 hin. 29 Das Verbot bereits passiver Duldung in Kenntnis oder fahrlässiger Unkenntnis der Kartellrechtswidrigkeit von Kartelltreffen in ihren Räumlichkeiten käme einer Pflicht der Unternehmen gleich, solche Treffen der Kommission zu melden und sich so öffentlich von der Vereinbarung zu distanzieren (zu dieser Rechtsprechung noch unten S. 288 ff.) oder von der Kronzeugenregelung Gebrauch zu machen; vgl. dazu Dawes, Revue du Droit de l’Union Européenne 2008, 632, 635. 30 M. Mayer, ecolex 2008, 936, 938. Siehe auch Whelan, Bulletin of international legal developments 2008, 169, 171. Howe/Lawrence/Whiteford, G.C.L.R. 2009, 83, 87 sehen auch „trade associations“ und „agents“ als den Beratungsunternehmen vergleichbar an. 31 Vgl. Dannecker, ÖZK 2010, 171, 172; Dawes, Revue du Droit de l’Union Européenne 2008, 632, 635; Depuydt, DAOR 2008, 406, 413. In der Sache unter Hinweis auf die anders geartete Tätigkeit und die anwaltliche Vertrauensbeziehung (legal privilege) ablehnend Beumers, Actualiteiten Mededingingsrecht 2008, 185, 190; van Heezik, NTER 2009, 59, 63. 32 GA Kokott, Schlussanträge v. 28. 2. 2013, Rs. C-681/11 – Schenker, noch nicht in amtl. Slg., Rn. 74. 25
B. Einführung in die rechtliche Problemstellung
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B. Einführung in die rechtliche Problemstellung Im nationalen deutschen Kartellrecht bereitet die Behandlung der Kartellgehilfen keine Schwierigkeiten. Der zentrale Bußgeldtatbestand des § 81 Abs. 2 Nr. 1 GWB33 für Verstöße gegen das Kartellverbot wird um die Normierung des Einheitstäterbegriffs des allgemeinen Ordnungswidrigkeitenrechts in § 14 Abs. 1 S. 1 OWiG34 im Einklang mit den Anforderungen des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzip der Art. 103 Abs. 2 GG, § 3 OWiG ergänzt.35 Bußgeldverantwortlich36 ist danach nicht nur, wer in eigener Person gegen § 1 GWB verstößt, sondern auch jeder, der sich an dieser Ordnungswidrigkeit beteiligt.37 Ungleich schwieriger stellt sich die Beurteilung im Kartellrecht der Europäischen Union dar.38 Auch das europäische Kartellordnungswidrigkeitenrecht ermächtigt zwar die Kommission als Kartellbehörde gem. Art. 105 AEUV zur Verhängung von Geldbußen wegen Verstößen gegen das Kartellverbot: In Art. 101 AEUV enthält es die Modellregelung des Kartellverbots nach § 1 GWB.39 Mit Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/200340 steht auch eine § 81 Abs. 2 Nr. 1 GWB entsprechende Bußgeldnorm zur Ahndung von Verstößen gegen das Kartellverbot bereit. Anders als nach § 14 OWiG sind Kartellgehilfen indes nicht ausdrücklich erfasst. Gleichwohl spricht die praktische Wirksamkeit der Wettbewerbsregeln (sog. effet utile) für eine weite Auslegung der bestehenden Sanktionsbefugnisse. Die in Frage stehenden Geldbußen stellen allerdings nicht nur ein Instrument zur Sicherung unverfälschten Wettbewerbs im Binnenmarkt, sondern auch einen hoheitlichen Eingriff in die Rechte der betroffenen Unternehmen dar. Auch auf der Ebene der Europäischen Union sind letzterem rechtsstaatliche Grenzen gesetzt. In Betracht kommt vor allem das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip (nullum crimen, nulla poena sine lege), das strenge Anforderungen an die Strafbarkeitsgrundlage stellt. In dieser Untersuchung 33
Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, BGBl. 2013 I S. 1750, ber. S. 3245. Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, BGBl. 1987 I S. 602. 35 Zur Anwendbarkeit des § 14 OWiG im nationalen Kartellordnungswidrigkeitenrecht Achenbach, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. VI, Vor. § 81 GWB Rn. 60 ff. [61. Lfg.: Oktober 2006]; Cramer/Pananis, in: L/M/R, KartellR, § 81 GWB Rn. 4, 13; Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. II/1, Vor. § 81 GWB Rn. 86 f.; Eufinger, WRP 2012, 1488, 1490. 36 Zum disparaten Begriffspaar der Haftung und der Ahndung Achenbach, ZIS 2012, 178 ff. Auch im Folgenden soll von der Bußgeldverantwortlichkeit der Unternehmen gesprochen und der Begriff der Haftung dem Recht des zivilrechtlichen Schadensersatzes vorbehalten werden. 37 Beispiele aus der dt. Praxis bei Brunner, Der Täterkreis bei Kartellordnungswidrigkeiten, S. 138 f. 38 Einschließlich der Anwendung des deutschen Rechts im Anwendungsbereich des Unionsrechts, vgl. Art. 3 Abs. 1, 2 S. 1 VO 1/2003. 39 Zur Entstehungsgeschichte des § 1 GWB vor dem Hintergrund des unionsrechtlichen Kartellverbots etwa Zimmer, in: I/M, WettbR, Bd. II/1, § 1 GWB Rn. 2 ff. 40 Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl. 2003 L 1, S. 1. 34
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Teil 1: Einleitung
ist mithin auch ein Ausgleich zwischen dem Grundsatz des effet utile und den rechtsstaatlichen Gewährleistungen nach Maßgabe der bestehenden gesetzlichen Grundlagen zu finden. Eine höchstrichterliche Klärung der Verantwortlichkeit von Kartellgehilfen steht noch aus. Die AC Treuhand AG scheint im ersten Verfahren eine solche verpasst zu haben. Sie befasste indes den EuGH in einem weiteren Verfahren.41 Im Schrifttum ist die neuere, i.S.d. Effektivitätsgrundsatzes und damit zugunsten einer Bußgeldverantwortlichkeit der Kartellgehilfen entscheidende Praxis unterschiedlich aufgenommen worden.42 Zuvor wurde eine Verantwortlichkeit der Kartellgehilfen soweit ersichtlich einstimmig abgelehnt.43 Wer daran weiter festhält, bemüht den Gegenpol rechtsstaatlicher Gewährleistungen.44 Ein paralleler Befund zwischen voreilender Praxis und teilweise kritischer Literatur lässt sich schließlich zu den eingangs45 geschilderten weiteren Ausweitungen der Bußgeldverantwortlichkeit feststellen.46
41 Klage v. 17. 4. 2014 in der Rs. C-194/14 P – AC-Treuhand/Kommission, noch nicht im ABl., in der sich die AC-Treuhand AG gegen das die Entscheidung der Kommission COMP/ 38.589 – Wärmestabilisatoren billigende Urteil EuG, Urt. v. 6. 2. 2014, Rs. T-27/10 – AC Treuhand/Kommission, noch nicht in amtl. Slg., wendet. 42 Zustimmend Albrecht/von dem Bussche, EWiR 2008, 489, 490; Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 8 ff.; von dem Bussche/Albrecht, EWS 2008, 422; Caruso/ Sakkers, GCP November 2008 (2), 1, 6 ff.; Schuhmacher, ZfRV 2009, 9 ff.; Eufinger, WRP 2012, 1488 ff.; Weitbrecht/Baudenbacher, EuR 2010, 237 f.; ablehnend Dannecker, ÖZK 2010, 171 ff.; ders./Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 137; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 185 [77. Lfg.: Oktober 2012]; J. Koch, ZWeR 2009, 370 ff.; Muders, wistra 2011, 405, 408. 43 Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR4, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 125; Feddersen, in: Dalheimer/Feddersen/Miersch, VO 1/2003, Art. 23 Rn. 35 [26. Lfg.: März 2005]; Gleiss/Hirsch, EWG-KartellR, Art. 15 VO 17 Rn. 5; Hamann, Das Unternehmen als Täter im europ. WettbR, S. 20 f., 185 ff.; N. Koch, in: Grabitz, EWG-Vertrag, Art. 15 VO Nr. 17 Rn. 46 [1. Lfg.: September 1989]; Krajewski, Geldbußen und Zwangsgelder, S. 128; Tiedemann, in: Vogler u. a., FS Jescheck, Bd. II, 1411, 1420 f., 1424. 44 Siehe die ablehnenden Stimmen aus Teil 1 Fn. 42 und 43. 45 S. 31. 46 Zur rechtsstaatlichen Kritik an der von der Praxis erreichten Bußgeldhöhe siehe nur Möschel, DB 2010, 2377 ff.; Schwarze, EuR 2009, 171 ff.; zur rechtsstaatlichen Kritik an der in der Praxis durchgesetzten Bußgeldverantwortlichkeit der Konzernmutter für Kartellrechtsverstöße des Tochterunternehmens etwa Thomas, KSzW 2011, 10 ff.; Voet van Vormizeele, WuW 2010, 1018, 1012 ff.; zur rechsstaatlichen Kritik an der Ausweitung der Rechtsfigur der einheitlichen, komplexen und fortgesetzten Zuwiderhandlung Dreher, ZWeR 2007, 276 ff.; allgemein und fallgruppenübergreifend auch Meyring, WuW 2010, 157 ff.; Schwarze/Bechtold/ Bosch, Rechtsstaatliche Defizite, S. 13 ff.
C. Gang der Untersuchung
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C. Gang der Untersuchung Die Frage nach der Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen für Zuwiderhandlungen gegen das unionsrechtliche Kartellverbot ist durch Auslegung der Bußgeldnorm des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV zu beantworten, um das „in gewisser Weise Neuland“47 juristisch zu erschließen. Die geringe Überzeugungskraft des Urteils des EuG in der Rechtssache ACTreuhand kann auch in seiner schwachen methodischen Begründung gesehen werden. So bleibt vor allem die Bestimmung des Auslegungsmaßstabes ungewiss. Auf der einen Seite wird das Kartellverbot in der Sache entsprechend der stetigen Rechtsprechung einheitlich extensiv ausgelegt, auf der anderen Seite wird das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip ausdrücklich angeführt. Es müsse zwar „nicht unbedingt dieselbe Tragweite“ wie im (Kriminal-)Strafrecht haben,48 ausweislich einer Überschrift nimmt das EuG aber eine Auslegung „im Hinblick auf den Grundsatz der Gesetzlichkeit der Straftatbestände und Strafen“ vor.49 Dies bildet mithin das methodische Abbild des soeben angesprochenen Ausgleichs zwischen effektiver Kartellrechtsdurchsetzung und den rechtsstaatlichen Gewährleistungen, namentlich dem strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzip. Letzteres öffnet auch eine kompetenzielle Dimension, indem es die Kompetenzen des Rechtsanwenders von denen des Gesetzgebers abgrenzt. So soll zunächst die dem Rechtsanwender (und damit auch den Gerichten) zugewiesene Rechtsanwendung betrachtet werden. Zu diesem Zwecke möchte diese Arbeit zunächst mit der unionsrechtlichen Auslegungsmethodik speziell in Bezug auf das Kartellrecht (Teil 2 A.) sowie der Rechtsfortbildung (Teil 2 B.) vertraut machen. Vor dem Hintergrund der Kompetenzordnung sind dann die Grenzen dieser Rechtsanwendung zu ziehen (Teil 2 C.). Dies geht über in die strengen Anforderungen des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips (nullum crimen, nulla poena sine lege). Seine Rechtsquellen werden aufzufinden, seine Anwendbarkeit und sein Gewährleistungsgehalt im Unionsrecht im Allgemeinen und im unionsrechtlichen Kartellrecht im Besonderen aus seinen Rechtsquellen heraus, insbesondere aus ihrem Zusammenspiel, zu entwickeln sein (Teil 2 C.). Die Neuordnung des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes durch den Vertrag von Lissabon50 sowie Unklarheiten bezüglich des Gewährleistungsgehalts
47
Kommission, Entsch. v. 10. 12. 2003, COMP/E-2/37.857 – Organische Peroxide, Rn. 454. 48 EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1553 Rn. 113. 49 EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1562 Rn. 136. 50 Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, unterzeichnet in Lissabon am 13. Dezember 2007, ABl. 2007 C 306, S. 1 ff.
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Teil 1: Einleitung
machen eine vertiefte Betrachtung notwendig.51 Namentlich Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK verlangt lediglich eine Strafbarkeitsgrundlage im „Recht“ (engl. „law“, frz. „droit“). Dieser Gehalt wird dem Wortlaut nach gem. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC zum Ausgangspunkt des chartarechtlichen Schutzes nach Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC. Dieses dem bloßen Textbefund nach geringe Schutzniveau wird zu überprüfen sein. Die Rechtsprechung könnte die Strafbarkeitsgrundlage des Kartellgehilfen selbst schaffen. Wenn das EuG – wie die bereits zitierten Ausführungen des EuG belegen – nunmehr noch Abstufungen des Schutzniveaus für das Strafrecht i.w.S. vornimmt, so würde das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzips weiter bedenklich verwässert.52 Um sich nicht wie das EuG in einer bloßen Behauptung zu erschöpfen, bedarf daher insbesondere die Intensität der Gewährleistungen speziell im Kartellbußgeldrecht im Vergleich zum Kriminalstrafrecht eingehender Prüfung. Über deren gesetzlichen Schranken wird schließlich der oben angesprochene Ausgleich zwischen effektiver Kartellrechtsdurchsetzung und strafrechtlicher Garantien auf gesetzlicher Grundlage vorzunehmen sein. Auf diesem methodischen Fundament soll dann die Auslegung der Bußgeldnorm aufbauen können. Diese folgt in Teil 3, bevor in Teil 4 Strafnormen aufzusuchen sind, die Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV ergänzen. Auf die dann mögliche abschließende Beantwortung der Frage nach der Bußgeldverantwortlichkeit von Kartellgehilfen wegen Zuwiderhandlungen gegen das Kartellverbot, die ganz im Zentrum der Arbeit steht, folgt eine kurze Betrachtung der Verantwortlichkeit von Kartellgehilfen nach weiteren Bußgeldnormen des europäischen Kartellrechts, verwaltungsrechtlichen Grundsätzen sowie der zivilrechtlichen Haftung (Teil 5). Die Arbeit wird in Teil 6 abgeschlossen mit einem Ausblick auf mögliche gesetzliche Einfassungen de lege ferenda. Es schließt sich die Zusammenfassung der Ergebnisse an (Teil 7).
51
Vgl. zur Notwendigkeit einer vertieften Betrachtung des nullum crimen, nulla poenaGrundsatzes Schuhr, in: Kudlich/Montiel/Schuhr, Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 255, 255 f. 52 Zur „Erosion“ der Garantien des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzip als weit verbreitete Entwicklung Jähnke, ZIS 2010, 463 ff.; Schünemann, Nulla poena sine lege?, S. 3 ff.
Teil 2
Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs Eine maßgebliche Weichenstellung für die Auslegung des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV kommt dem Auslegungsmaßstab zu. Angesprochen ist damit eine Frage, die das EuG in seinem Urteil in der Sache AC-Treuhand nur ungenügend beantwortet. Es begnügt sich mit der Feststellung, dass das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip „nicht unbedingt dieselbe Tragweite haben [muss] wie im Fall ihrer Anwendung auf eine Situation, die dem Strafrecht im strikten Sinne unterliegt.“1 Schon aufgrund ihrer vorentscheidenden Bedeutung für das sachliche Ergebnis müssen die Regeln der Rechtsanwendung vertieft betrachtet werden. Bereits hier tritt das Konfliktverhältnis von extensiver Auslegung nach dem effet utile-Grundsatz und den rechtsstaatlichen Grundsätzen zutage. Letztgenannte Garantien, insbesondere der gewaltenteilende Gehalt des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips, spiegeln sich in der Frage nach der Befugnis des Rechtsanwenders, was hier als Auslegungsmaßstab bezeichnet wird. Diese bei der Rechtsanwendung anleitende Perspektive soll nachfolgend eingenommen werden.
A. Die Auslegung des europäischen Kartellrechts Das Kartellrecht der Europäischen Union ist auf die Schaffung freien Wettbewerbs im Binnenmarkt gerichtet, Protokoll (Nr. 27) über den Binnenmarkt und den Wettbewerb.2 Dieser Wettbewerb ist ein offener dynamischer Prozess.3 Um diese sich ständig entwickelnde Materie einer rechtlichen Regelung zuzuführen, ist die weitgehende Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe unvermeidbar.4 Die Anwendung des EU-Kartellrechts bedarf daher ihrer Konkretisierung. Den dazu heranzuzie1
EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1553 Rn. 113 Rn. 113. 2 Protokoll (Nr. 27) über den Binnenmarkt und den Wettbewerb, ABl. 2008 C 115, S. 201, 309. 3 Bunte, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Einl. Rn. 35; Dannecker/Fischer-Fritsch, Das EG-Kartellrecht in der Bußgeldpraxis, S. 28; Gleiss/Hirsch, EG-KartellR, Bd. 1, Art. 85 (1) EG Rn. 113. 4 Dannecker/Fischer-Fritsch, Das EG-Kartellrecht in der Bußgeldpraxis, S. 28; Immenga/ Mestmäcker, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Einl. D. Rn. 2.
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
henden Auslegungsprinzipien kommt somit in der Kartellrechtspraxis große Bedeutung zu. Eine fundierte methodische Vorgehensweise gewährt zudem eine bessere Vorhersehbarkeit sowie eine erhöhte Akzeptanz der Ergebnisse.5 Dies kann dem EuG in seinem Urteil AC-Treuhand/Kommission nicht bescheinigt werden. Selbst Befürworter des gefundenen Ergebnisses wünschen sich eine bessere methodische Begründung.6 Die einschlägige, erst im Entstehen befindliche7 europäische Auslegungsmethodik soll hier daher zunächst in Beziehung auf das Kartellrecht beleuchtet werden, bevor durch ihre Anwendung eine Antwort auf die Frage der Bußgeldverantwortlichkeit von Kartellgehilfen gegeben werden kann (Teil 3 und 4).
I. Eigenständige unionsrechtliche Auslegungsmethodik Bei der Auslegung von Unionsrecht lassen sich drei verschiedene methodische Ansätze denken. Es kommt eine Auslegung nach völkerrechtlichen Grundsätzen, eine nach den nationalen Auslegungsregeln der Mitgliedstaaten und schließlich eine eigene europäische Auslegungsmethodik in Betracht.8 Dabei entscheiden die Rechtsnatur der Rechtsordnung sowie die für die Auslegung berufenen Organe über die anzuwendenden Auslegungsgrundsätze.9 Die unionsrechtlichen Verträge sind völkerrechtlicher Natur.10 Dieser völkerrechtliche Ursprung der Verträge allein kann jedoch nicht zur Beurteilung der Rechtsnatur der unionsrechtlichen Rechtsordnung herangezogen werden. Entscheidendes Kriterium ist vielmehr die Struktur derselben.11 Diese hat sich zunehmend durch die verschiedenen Änderungsverträge mit eigenen Regelungen von den klassischen Prinzipien des Völkerrechts entfernt. Das völkerrechtliche Konsensprinzip12 wurde von den Regelungen der Art. 289, 293 ff. AEUV über das Gesetz5
Vgl. Langenbucher, Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1999, S. 65, 67. So Kallaugher/Weitbrecht, E.C.L.R. 2010, 307, 317; Weitbrecht/Baudenbacher, EuR 2010, 230, 237 f.; Weitbrecht/Mühle, EuZW 2010, 327, 333. Dazu noch unten S. 57. 7 Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, S. 333. Erst in letzter Zeit hat die europäische Auslegungsmethodik verstärkt Beachtung erfahren, vgl. etwa Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, 2009; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des EuGH, 1997; Buck, Über die Auslegungsmethoden des EuGH, 1998; Buerstedde, Juristische Methodik des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 2006; Colneric, ZEuP 2005, 225 ff.; Dederichs, Die Methodik des EuGH, 2004; Steph. Grundmann, Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH, 1997; Stef. Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529 ff.; Höpfner/Rüthers, AcP 2009, 1 ff.; Leisner, EuR 2007, 689 ff.; Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, 2. Aufl., 2010; Schroeder, JuS 2004, 180 ff. 8 Zum Streitstand Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 77 ff. 9 Pechstein/Drechsler, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 8 Rn. 3. 10 Vgl. Art. 1 Abs. 1 EUV. 11 Pechstein/Drechsler, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 8 Rn. 4. 12 Dazu etwa Herdegen, Völkerrecht, § 3 Rn. 4 ff. 6
A. Die Auslegung des europäischen Kartellrechts
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gebungsverfahren der Sekundärrechtssetzung abgelöst.13 Anders als im Völkerrecht gilt auf den Gebieten, auf denen die Mitgliedstaaten der Union Hoheitsgewalt übertragen haben, ferner das völkerrechtliche Prinzip der staatlichen Souveränität14 nur eingeschränkt.15 So zeichnet sich das Unionsrecht durch in weiten Teilen unmittelbar geltendes,16 stets mit Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht ausgestattetes17 Recht aus. Abschließend weist Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV dem Gerichtshof der Europäischen Union die letztverbindliche Auslegung zu. Auch das völkerrechtliche Prinzip der autonomen Vertragsauslegung durch die Vertragsstaaten18 findet somit keine Anwendung auf das Unionsrecht.19 Mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon besitzt die Europäische Union nunmehr gem. Art. 47 EUV eigene Rechtspersönlichkeit. Das Unionsrecht stellt daher die Rechtsordnung eines einheitlichen (völkerrechtlichen) Rechtssubjekts dar.20 Wegen ihres auf die Integration nationaler Rechtsordnungen angelegten Charakters sowie ihrer Supranationalität ist die Unionsrechtsordnung ebenfalls mit den Merkmalen einer nationalstaatlichen Rechtsordnung nicht mehr vergleichbar.21 Aufgrund dieser hier nur kurz aufgezeigten Besonderheiten des Unionsrechts handelt es sich um eine supranationale Rechtsordnung sui generis.22 Die herge13
Vgl. Pechstein/Drechsler, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 8 Rn. 4. Dazu etwa Herdegen, Völkerrecht, § 1 Rn. 17, § 28 Rn. 1 ff.; Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/3, S. 614. 15 Pechstein/Drechsler, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 8 Rn. 4. 16 So Art. 288 Abs. 2 AEUV für die Verordnung; zu Vertragsbestimmungen, die unbedingt und derart bestimmt sind, dass sie keiner weiteren Umsetzung bedürfen; EuGH, Urt. v. 5. 2. 1963, Rs. 26/62 – van Gend & Loos/Niederländische Finanzverwaltung, Slg. 1963, 1, 24 ff.; Urt. v. 21. 6. 1974, Rs. 2/74 – Reyners/Belgien, Slg. 1974, 631, 651 f. Rn. 15 ff.; Urt. v. 3. 12. 1974, Rs. 33/74 – van Binsbergen/Bedrijfsvereniging Metaalnijverheid, Slg. 1974, 1299, 1310 ff. Rn. 18 ff.; Urt. v. 9. 3. 1978, Rs. 106/77 – Staatliche Finanzverwaltung/Simmenthal, Slg. 1978, 629, 644 f. Rn. 19/20 f.; speziell zu Art. 101 AEUV EuGH, Urt. v. 30. 1. 1974, Rs. 127/73 – BRT/SABAM, Slg. 1974, 51, 62 Rn. 15/17. Zu den entsprechenden Voraussetzungen einer unmittelbaren Wirkung einer Richtlinie EuGH, Urt. v. 19. 1. 1982, Rs. 8/81 – Becker/Finanzamt Münster-Innentsadt, Slg. 1982, 53, 70 f. Rn. 21 ff. 17 EuGH, Urt. v. 15. 7. 1964, Rs. 6/64 – Costa/E.N.E.L., Slg. 1964, 1251, 1269 ff.; Urt. v. 17. 12. 1970, Rs. 11/70 – Internationale Handelsgesellschaft/Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide, Slg. 1970, 1125, 1135 Rn. 3; Urt. v. 9. 3. 1978, Rs. 106/77 – Staatliche Finanzverwaltung/Simmenthal, Slg. 1978, 629, 644 f. Rn. 17/18 ff. 18 Dazu Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/3, S. 634 ff. 19 Kutscher, in: EuGH, Begegnung von Justiz und Hochschule, S. I-1, I-33 f.; Ohler, in: G/ H/N, Das Recht der EU, Bd. I, Art. 48 EUV Rn. 14 [45. Lfg.: August 2011]; Pechstein/ Drechsler, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 8 Rn. 6. 20 Pechstein/Drechsler, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 8 Rn. 3. 21 Pechstein/Drechsler, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 8 Rn. 3. 22 St. Rspr.; EuGH, Urt. v. 5. 2. 1963, Rs. 26/62 – van Gend & Loos/Niederländische Finanzverwaltung, Slg. 1963, 1, 25; Urt. v. 15. 7. 1964, Rs. 6/64 – Costa/E.N.E.L., Slg. 1964, 1251, 1270; Urt. v. 20. 9. 2001, Rs. C-453/99 – Courage und Crehan, Slg. 2001, I-6297, I-6321 Rn. 19; von Danwitz, in: Dauses, Hdb. des EU-WirtschaftsR, Bd. 1, B. II. Rn. 4 [26. Lfg.: Juni 2010]; Henniner, Europ. Privatrecht und Methode, S. 270; Kutscher, in: EuGH, Begegnung von 14
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
brachten Auslegungsgrundsätze des Völkerrechts, wie sie im Wesentlichen in Art. 31 ff. Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. 05. 1969 (WVK)23 niedergelegt sind, und die der nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten werden dem allein nicht gerecht. Es sind vielmehr eigenständige europäische Methodengrundsätze anzuwenden.24 Diese rekurrieren zwar grundsätzlich auf den hergebrachten völkerrechtlichen und den verschiedenen nationalen Auslegungsgrundsätzen, die Eigenständigkeit des Unionsrechts bleibt aber wesentlicher Orientierungspunkt.25
II. Die unionsrechtlichen Auslegungskriterien Auch die unionsrechtliche Auslegung speist sich aus einem Kanon unterschiedlicher Auslegungskriterien, um den Sinngehalt einer Norm zu erfassen. Diese entsprechen grundsätzlich den klassischen Auslegungscanones und lassen sich in grammatikalische, historische, systematische und teleologische Auslegung einteilen. Hinzu tritt die Rechtsvergleichung. 1. Ziel der Auslegung Im deutschen Recht herrscht ein alter Streit um das richtige Ziel der Auslegung, der sich in der unionsrechtlichen Methodik ebenso stellt. Dabei gelten die Positionen und die sie stützenden Erwägungen für das Unionsrecht gleichermaßen wie für das nationale Recht.26
Justiz und Hochschule, S. I-1, I-41; Pechstein/Drechsler, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 8 Rn. 4, 6; ebenso BVerfGE 22, 293, 296; Terhechte, EuZW 2009, 724, 729 beobachtet aber Rückschritte hin zu einer rein völkerrechtlichen Qualifizierung im Lissabon-Urteil des BVerfG, BVerfGE 123, 267 ff. 23 UN Treaty Series, Bd. 1155, S. 331; in Deutschland ratifiziert durch Gesetz v. 3. 8. 1985, BGBl. II S. 926. 24 Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, S. 247 ff.; Borchardt, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 15 Rn. 31; Colneric, ZEuP 2005, 225; Henninger, Europ. Privatrecht und Methode, S. 271; Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 9 Rn. 168; Pechstein/Drechsler, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 8 Rn. 12; etwas zurückhaltender Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 377; a.A. Schneiders, Die Grundrechte der EU und die EMRK, S. 34 ff., der auf völkerrechtliche Auslegungsgrundsätze rekurriert. 25 Vgl. Borchardt, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 15 Rn. 31; Buck, Über die Auslegungsmethoden des EuGH, S. 141 f.; Dobler, in: Roth/Hilpold, Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten, S. 509, 515; Stef. Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529; Langenbucher, Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1999, S. 65, 69; Pechstein/ Drechsler, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 8 Rn. 61. 26 Riesenhuber, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 11 Rn. 9.
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Während die sog. subjektive Theorie27 die Erforschung des subjektiv-historischen Gesetzgeberwillens als das Ziel der Auslegung erachtet, sieht die sog. objektive Theorie28 dieses im objektiv-geltungszeitlichen Normzweck. Die subjektive Theorie stützen Argumente aus dem Demokratieprinzip und dem Grundsatz der Gewaltenteilung.29 Den Regelungswillen des demokratisch legitimierten und zur Normgebung ausschließlich berufenen Gesetzgebers gelte es vorrangig zu beachten.30 Dagegen kann die objektive Theorie das rechtsstaatliche Gebot der Rechtssicherheit, das das Vertrauen auf den nach Art. 297 AEUV veröffentlichen Wortlaut schützt, sowie eine zwingende Weiterentwicklung der Norm durch ständige Rechtsanwendung ins Feld führen.31 Diese zentralen Argumente lassen bereits erkennen, dass kein Exklusivitätsverhältnis zwischen den beiden Ansätzen besteht.32 Vielmehr lassen sich Synthesen mit unterschiedlichen Gewichtungen im Detail und vermittelnde Positionen bilden.33 Verschiedene stufenlose Kombinationsansätze sind deshalb möglich, da sich dieser hier nur überblicksartig dargestellte Streit in der praktischen Rechtsanwendung, um die Ausrichtung und die Gewichtung der verschiedenen Auslegungskriterien dreht. Die sog. subjektive Theorie misst der historischen Auslegungsmethode, die nach dem Willen des historischen Gesetzgebers fragt, die größte Bedeutung bei. Demgegenüber hält die sog. objektive Theorie den durch den Wortlaut erkennbaren objektiven, geltungszeitlichen Sinn und Zweck für maßgeblich. Entsprechend werden die übrigen Auslegungskriterien herangezogen und modifiziert. Die Rechtsprechung des EuGH lässt sich, soweit bisher erkennbar, nicht auf eine der referierten Positionen zurückführen.34 Ohnehin spärliche Ausführungen zur 27
Für das sekundäre Unionsrecht Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 7, 13 ff.; Neuner, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 13 Rn. 18; Riesenhuber, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 11 Rn. 12, 30 ff., 50; für das dt. Recht etwa Hassemer/Kargl, in: Kindhäuser/ Neumann/Paeffgen, NK, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 108, 115. 28 Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 67 f.; Bleckmann, NJW 1982, 1177, 1181; Henninger, Europ. Privatrecht und Methode, S. 375 f.; Zuleeg, EuR 1969, 97, 102; für das dt. Recht st. Rspr. des BVerfG; BVerfGE 1, 299, 312; 11, 126, 130; 20, 283, 293; 53, 207, 212. 29 Neuner, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 13 Rn. 18; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 13; Riesenhuber, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 11 Rn. 12. 30 Zum horizontalen Kompetenzgefüge der EU siehe noch unten S. 64 ff. 31 Bleckmann, NJW 1982, 1177, 1181. 32 Riesenhuber, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 11 Rn. 12. 33 So die sog. „Vereinigungstheorien“; Stef. Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529. Henninger, Europ. Privatrecht und Methode, S. 278 f. sieht auch den EuGH als Anhänger dieser Kombinationslösung. Eine klare Unterscheidung hält Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, S. 850 f. gänzlich für unmöglich; für das dt. Recht Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 139. 34 Leisner, EuR 2007, 689, 698 ff.; so ordnet Riesenhuber, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 11 Rn. 12 den EuGH der subjektiven Theorie zu, während Bleckmann/Pieper, in: Dauses, Hdb. des EU-WirtschaftsR, Bd. 1, B. I. Rn. 40 [5. Lfg.: April 1997] ihn der objektiven Theorie nahe sehen.
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
Methodik finden sich lediglich jeweils eingebunden in die komplexe Argumentation der Einzelfallentscheidung.35 Hier sollen zunächst die Besonderheiten der unionsrechtlichen Auslegungskriterien dargestellt werden, bevor eine – unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH – daraus zu gewinnende Rangfolge der Auslegungskriterien für die nachfolgende Untersuchung zu behandeln ist.36 2. Grammatikalische Auslegung Ausgangspunkt der Auslegung ist auch im Unionsrecht der Wortlaut der Norm.37 Dazu bedarf es der Betrachtung der Worte in ihrem unmittelbaren Zusammenhang des Satzes, Absatzes und der Norm.38 Grundlage ist der gewöhnliche Sprachgebrauch.39 Der Wortlaut ist zudem auf den Sprachgebrauch des relevanten Rechtsaktes zu untersuchen.40 Diesem juristischen Sprachgebrauch kommt grundsätzlich der Vorrang zu.41 a) Die Besonderheit der Mehrsprachenauthentizität Kennzeichnend für die grammatikalische Auslegung im Unionsrecht ist dessen Mehrsprachigkeit.42 Nach Art. 55 Abs. 1 EUV, 358 AEUV sind die Verträge inzwischen in 24 Sprachen verbindlich. Entsprechendes gilt gem. Art. 342 AEUV, 35
Bleckmann, NJW 1982, 1177; Leisner, EuR 2007, 689, 695; Zuleeg, EuR 1969, 97, 98. Unten S. 58 ff. 37 Allg. M.; GA Roemer, Schlussanträge v. 13. 10. 1970, Rs. 16/70 – Necomout/Hoofdproduktschap Akkerbouwprodukten, Slg. 1970, 935, 938; EuGH, Urt. v. 23. 3. 1982, Rs. 53/81 – Levin/Staatssecretaris van Justitie, Slg. 1982, 1035, 1048 Rn. 9; Urt. v. 11. 7. 1985, Rs. 107/84 – Kommission/Deutschland, Slg. 1985, 2655, 2666 Rn. 10; Urt. v. 11. 11. 1997, Rs. C-251/95 – Sabèl, Slg. 1997, I-6191, I-6223 Rn. 18; Urt. v. 17. 4. 2008, Rs. C-404/06 – Quelle, Slg. 2008, I-2685, I-2725 f. Rn. 31; Borchardt, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 15 Rn. 34; Colneric, ZEuP 2005, 225, 226; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 9; Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 9 Rn. 170; Zuleeg, EuR 1969, 97, 99. 38 Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 145 f. m.w.N. aus der Rspr. des EuGH; Oppermann/ Classen/Nettesheim, Europarecht, § 9 Rn. 170; Schroeder, JuS 2004, 180, 182. 39 EuGH, Urt. v. 21. 12. 1954, Rs. 1/54 – Frankreich/Hohe Behörde, Slg. 1954 – 1955, 13, 27; Urt. v. 23. 2. 1961, Rs. 30/59, – De Gezamenlijke Steenkolenmijnen/Hohe Behörde, Slg. 1961, 7, 42 f.; Urt. v. 15. 7. 1982, Rs. 207/81 – Felicitas/Finanzamt für Verkehrssteuern, Slg. 1982, 2771, 2784 Rn. 15; Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 145; Kutscher, in: EuGH, Begegnung von Justiz und Hochschule, S. I-1, I-18; Schroeder, JuS 2004, 180, 182; zum dt. Recht Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 141. 40 Vgl. EuGH, Urt. v. 8. 4. 1976, Rs. 43/75 – Defrenne/Sabena, Slg. 1976, 455, 475 Rn. 28/ 29: „Sprachgebrauch des Vertrages“; Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 145. 41 Riesenhuber, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 11 Rn. 18; zum dt. Recht Dannecker, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 303; Larenz/ Canaris, Methodenlehre, S. 142 f. 42 Vgl. die Zielbestimmung zur Wahrung des Reichtums sprachlicher Vielfalt, Art. 3 Abs. 3 UAbs. 4 EUV. 36
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Art. 1 der VO zur Regelung der Sprachenfrage43 auch für das Sekundärrecht. Da das Unionsrecht in allen Mitgliedstaaten einheitlich anzuwenden ist,44 sind bei der grammatikalischen Auslegung sämtliche Sprachfassungen gleichgewichtig zu berücksichtigen.45 Dazu sind die verschiedenen Texte zu vergleichen.46 Der jeweiligen Arbeitssprache des Rechtsaktes kann dabei keine darüber hinausgehende Bedeutung zukommen.47 Die Sprachenvielfalt erweitert somit tendenziell die Wortsinngrenze der Norm.48 Hinzu tritt im Falle der Verträge eine, einer staatlichen Verfassung49 ähnliche, ohnehin weite Formulierung der Bestimmungen.50 Auf diese Ausdehnung 43 Verordnung Nr. 1 des Rates zur Regelung der Sprachenfrage für die europäische Wirtschaftsgemeinschaft, ABl. 1958 P 17, S. 385, zuletzt geändert anlässlich des Beitritts Kroatiens durch Verordnung (EU) Nr. 517/2013 des Rates vom 13. 5. 2013, ABl. 2013 L 158, S. 1. 44 Vgl. Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV, der die Festlegung auf ein einziges „Recht“ enthält (Mayer, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. I, Art. 19 EUV Rn. 25 [41. Lfg.:Juli 2010]) sowie die institutionelle Absicherung in Art. 344 AEUV (Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 19 Rn. 33 (Fn. 137)). Zur methodischen Begründung der einheitlichen Auslegung Schilling, ZEuP 2007, 754, 766 f. 45 EuGH, Urt. v. 12. 11. 1969, Rs. 26/69 – Stauder/Ulm, Slg. 1969, 419, 425 Rn. 3; Urt. v. 12. 7. 1979, Rs. 9/79 – Koschniske/Raad van Arbeid, Slg. 1979, 2717, 2724 Rn. 6; Urt. v. 7. 7. 1988, Rs. 55/87 – Moksel/BALM, Slg. 1988, 3845, 3871 Rn. 15; Urt. v. 17. 7. 1997, Rs. C-219/ 95 P – Ferriere Nord/Kommission, Slg. 1997, I-4411, I-4435 Rn. 15; Urt. v. 20. 11. 2001, Rs. C-268/99 – Jany u. a., Slg. 2001, I-8615, I-8678 f. Rn. 47; Urt. v. 27. 1. 2005, Rs. C-188/03 – Junk, Slg. 2005, I-885, I-918 Rn. 33; Urt. v. 9. 3. 2006, Rs. C-174/05 – Zuid-Hollandse Milieufederatie und Natuur en Milieu, Slg. 2006, I-2443, I-2455 Rn. 20; Borchardt, in: Schulze/ Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 15 Rn. 36; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 10; Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 9 Rn. 170; Riesenhuber, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 11 Rn. 15. 46 EuGH, Urt. v. 27. 10. 1977, Rs. 30/77 – Boucherau, Slg. 1977, 1999, 2010 Rn. 13/14; Urt. v. 11. 7. 1985, Rs. 107/84 – Kommission/Deutschland, Slg. 1985, 2655, 2666 f. Rn. 10 f.; Urt. v. 17. 7. 1997, Rs. C-219/95 P – Ferriere Nord/Kommission, Slg. 1997, I-4411, I-4435 Rn. 14 f.; Urt. v. 11. 11. 1999, Rs. C-48/98 – Söhl & Söhlke, Slg. 1999, I-7877, I-7935 f. Rn. 47 f.; Urt. v. 24. 2. 2000, Rs. C-434/97 – Kommission/Frankreich, Slg. 2000, I-1129, I-1151 ff. Rn. 23 ff.; Neuner, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 13 Rn. 4; Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, S. 36. 47 Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 9 Rn. 171; Riesenhuber, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 11 Rn. 17. Sie kann lediglich bei offensichtlichen Übersetzungsfehlern herangezogen werden, vgl. Stef. Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 530; hingegen zur Praxis des EuGH Colneric, ZEuP 2005, 225, 227. 48 Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 147, 404; Colneric, ZEuP 2005, 225, 227; Dederichs, EuR 2004, 345, 353; Dobler, in: Roth/Hilpold, Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten, S. 509, 516; Riesenhuber, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 11 Rn. 19; Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 248; Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, S. 37; Zuleeg, EuR 1969, 97, 100 nimmt dies freilich bei bereits nur vier Sprachen an. 49 Wird im Fortgang dieser Arbeit das Primärrecht einer „Verfassung“ gleichgesetzt, so ist dieser Begriff in einem materiellen Sinne zu verstehen; näher dazu Rengeling, in: Ipsen/ Schmidt-Jortzig, FS Rauschning, S. 225, 246 ff. 50 Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 404; Everling, JZ 2000, 217, 222 f.; Schroeder, JuS 2004, 180, 182.
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
wird bei der Bestimmung des Garantiegehalts des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips zurückzukommen sein.51 b) Autonome unionsrechtliche Terminologie In der grammatikalischen Auslegung wird zudem die Autonomie der unionsrechtlichen Auslegung offenbar.52 Dem Unionsrecht liegt eine „eigene, besondere Terminologie“ zugrunde.53 Der autonome Gehalt ist dabei das Ergebnis einer vollständigen Auslegung.54 Sofern der Norm nicht Gegenteiliges zu entnehmen ist,55 sind gleichlautende Begriffsauslegungen in den nationalen Rechtsordnungen für das Verständnis des Wortsinns nicht verbindlich zu übernehmen.56 Nur so kann das Unionsrecht in allen Mitgliedstaaten eine einheitliche Auslegung erreichen sowie die Gleichheit der nationalen Rechtsordnungen verwirklichen.57 Speziell das europäische Kartellrecht ist durch den Wettbewerbsschutz im Binnenmarkt in einen normativen Kontext eigebunden, der es gebietet, die verwendeten Begriffe zudem kartellrechtsautonom auszulegen.58 Begriffsverständnisse aus anderen normativen Zusammenhängen, auch denen des Unionsrechts, können nicht unbesehen auf das Kartellrecht übertragen werden. Das EU-Kartellrecht zeichnet sich somit durch ein doppelt autonomes Begriffsverständnis aus.
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Zur Zulässigkeit unbestimmter Rechtsbegriffe siehe unten S. 187; zur Bestimmung der Wortlautgrenze bei Mehrsprachigkeit S. 210 ff. 52 Vgl. EuGH, Urt. v. 22. 11. 1977, Rs. 43/77 – Industrial Diamond Supplies/Riva, Slg. 1977, 2175, 2187 f. Rn. 22/27 f.; Urt. v. 14. 1. 1982, Rs. 64/81 – Corman/Hauptzollamt Gronau, Slg. 1982, 13, 24 Rn. 8; Urt. v. 18. 1. 1984, Rs. 327/82 – Ekro/Produktschap voor Vee en Vlees, Slg. 1984, 107, 119 Rn. 11; Urt. v. 15. 6. 2006, Rs. C-466/04 – Acereda Herrera, Slg. 2006, I-5341, I-5373 Rn. 30; Urt. v. 16. 7. 2009, Rs. C-208/07 – von Chamier-Glisczinski, Slg. 2009, I-6095, I-6141 Rn. 48; Bleckmann/Pieper, in: Dauses, Hdb. des EU-WirtschaftsR, Bd. 1, B. I. Rn. 53 ff. [5. Lfg.: April 1997]; Stef. Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 26 [77. Lfg.: Oktober 2012]. 53 EuGH, Urt. v. 6. 10. 1982, Rs. 283/81 – C.I.L.F.I.T./Ministero della Sanità, Slg. 1982, 3415, 3430 Rn. 19. 54 Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 165 ff.; Buck, Über die Auslegungmethoden des EuGH, S. 167. 55 Dazu siehe noch unten Teil 2 in und bei Fn. 133. 56 EuGH, Urt. v. 19. 3. 1964, Rs. 75/63 – Unger/Bedrijfsvereniging voor Detailhandel en Ambachten, Slg. 1964, 379, 395 ff.; Urt. v. 14. 1. 1982, Rs. 64/81 – Corman/Hauptzollamt Gronau, Slg. 1982, 13, 24 Rn. 8; Urt. v. 23. 3. 1982, Rs. 53/81 – Levin/Staatssecretaris van Justitie, Slg. 1982, 1035, 1049 Rn. 11; Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, S. 336 f.; Steph. Grundmann, Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH, S. 208; Immenga/Mestmäcker, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Einl. C. Rn. 5; zur Methodik des Rechtsvergleichs siehe hingegen unten S. 56 ff. 57 Stef. Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529; Pechstein/Drechsler, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 8 Rn. 19 f.; Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 250. 58 Ackermann, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 21 Rn. 15.
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3. Historische Auslegung Im Rahmen der historischen Auslegung ist die Entstehungsgeschichte des Rechtsaktes zu untersuchen, um den Willen des historischen Gesetzgebers zu ermitteln.59 Unterschieden wird dabei zwischen der sog. historischen Auslegung i. e.S., die frühere Rechtsnormen in den Blick nimmt, und der die Gesetzesmaterialien betrachtenden sog. genetischen Auslegung.60 Dabei ist dieses Auslegungskriterium für das Primärrecht einigen Problemen ausgesetzt. Dieses wird von völkerrechtlichen Verträgen gebildet. Ihre Entstehung geht auf einen Willensbildungsakt der politischen Vertreter der Vertragsstaaten zurück. Innerstaatlich bedürfen völkerrechtliche Verträge der Ratifizierung durch die nationalen Parlamente.61 In diesem komplexen Verfahren sind unzählige Organe verschiedener Rechtssubjekte beteiligt, sodass die Identifizierung eines maßgeblichen Normgebers kaum gelingen kann.62 Zudem existieren keine Materialien zur Entstehungsgeschichte der Verträge, um zu verhindern dass sich die entgegengesetzten Standpunkte der Mitgliedstaaten bei der Verhandlung der Verträge in der Auslegung widerspiegeln.63 Der genetischen Auslegung ist damit für die Verträge die Grundlage entzogen. Die aufgezeigten Probleme der historischen Auslegung bestehen bei der Auslegung von Sekundärrecht hingegen nicht. Als Gesetzgeber können die im Gesetzgebungsverfahren entscheidenden, demokratisch legitimierten Organe identifiziert werden.64 Zudem werden abgeleitete Unionsrechtsakte gem. Art. 269 Abs. 2, 297 AEUV unter Bezugnahme auf die in den Verträgen vorgesehenen Vorschläge, Initiativen, Empfehlungen, Anträge oder Stellungnahmen veröffentlicht.65 Schließlich können für das Primär- wie Sekundärrecht etwaige Vorgängernormen herangezogen werden. 4. Systematische Auslegung Weitere Erkenntnisse kann die Erfassung der Systematik der auszulegenden Norm erbringen. Betrachtet wird die Stellung der Norm im Zusammenhang mit anderen Normen im Gesamtgefüge des Rechtsaktes und der gesamten Rechtsord-
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Leisner, EuR 2007, 689; zum dt. Recht Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 149. Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, Rn. 64; zum dt. Recht Hassemer/ Kargl, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, NK, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 108. 61 Vgl. für das dt. Recht Art. 59 Abs. 2 GG bzw. Art. 23 GG als Spezialregelung für Fragen der europäischen Integration. 62 Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 9 Rn. 174. 63 Immenga/Mestmäcker, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Einl. C. Rn. 20. 64 Riesenhuber, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 11 Rn. 31 f.; zur demokratischen Legitimation der Rechtsetzung noch unten S. 149 ff., 161 ff. 65 Riesenhuber, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 11 Rn. 33. 60
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nung.66 Neben einer äußeren Ordnung kann trotz strukturell bedingter unvollständiger Regelungsdichte des Unionsrechts67 auch eine innere Ordnung herangezogen werden.68 Im Rahmen der äußeren Systematik wird der Aufbau der Rechtsvorschriften in Rechtsakte, Abschnitte, Artikel, Absätze und weitere untergeordnete Einheiten analysiert.69 Die innere Systematik wird hingegen untersucht, wenn zusammenhängende Prinzipien identifiziert werden, die den Regelungen eine innere, möglichst widerspruchsfreie Ordnung verleihen.70 Da diese innere Ordnung immer nur anhand von Sinn und Zweck der Regelungsgesamtheit bestimmt werden kann, geht die systematische Auslegung nahtlos in die teleologische Auslegung über.71 5. Teleologische Auslegung Diese schließlich fragt nach dem „Sinn und Zweck“72, dem „Geist“73 der Regelung. a) Die Ermittlung von Sinn und Zweck Wie bereits oben bei der Analyse der Rechtsnatur der unionsrechtlichen Rechtsordnung angedeutet, ist das Unionsrecht offen auf Integration angelegt, ein 66 Pechstein/Drechsler, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 8 Rn. 23; Schroeder, JuS 2004, 180, 182. In den Worten des EuGH, Urt. v. 6. 10. 1982 – Rs. 283/81 – C.I.L.F.I.T./Ministero della Sanità, Slg. 1982, 3415, 3430 Rn. 20 ist „jede Vorschrift des Gemeinschaftsrechts in ihrem Zusammenhang zu sehen und im Lichte des gesamten Gemeinschaftsrechts, seiner Ziele und seines Entwicklungsstands zur Zeit der Anwendung der betreffenden Vorschrift auszulegen.“ 67 Siehe unten zur auch dadurch begründeten Notwendigkeit der Rechtsfortbildung im Unionsrecht S. 61. 68 Kutscher, in: EuGH, Begegnung von Justiz und Hochschule, S. I-1, I-40; Riesenhuber, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 11 Rn. 23. Auch wenn Richter des common law der inneren Systematik traditionell wenig Beachtung schenken (vgl. Colneric, ZEuP 2005, 225, 230; Vogenauer, ZEuP 2005, 234, 252), bildet doch das autonome Unionsrecht hier den Gegenstand der Auslegung, sodass seine eigenen Auslegungsregeln anzuwenden sind, siehe oben S. 40 ff. 69 Riesenhuber, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 11 Rn. 24. 70 Vgl. Riesenhuber, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 11 Rn. 25 f. 71 Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 200 f.; Colneric, ZEuP 2005, 225, 227; Immenga/ Mestmäcker, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Einl. C. Rn. 8; Kutscher, in: EuGH, Begegnung von Justiz und Hochschule, S. I-1, I-42; Riesenhuber, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 11 Rn. 25. Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 7 f. verneinen gar die Existenz einer teleologischen Auslegung und ordnen die dort gewonnenen Erkenntnisse der inneren Systematik zu. 72 So etwa EuGH, Urt. v. 3. 10. 1995, Rs. 154/84 – FKF/Hauptzollamt Berlin-Süd, Slg. 1995, 3165, 3177 Rn. 22; Urt. v. 17. 12. 1998, Rs. C-186/96 – Demand, Slg. 1998, I-8529, I-8560 Rn. 38; Urt. v. 1. 3. 2012, Rs. C-393/10 – O’Brien, noch nicht in amtl. Slg., Rn. 44. 73 So etwa EuGH, Urt. v.9.12.1965 Rs. 44/65 – Hessische Knappschaft/Singer et fils, Slg. 1965, 1268, 1275; Urt. v. 18. 6. 2002, Rs. C-92/00 – HI, Slg. 2002, I-5553, I-5598 Rn. 63; Urt. v. 11. 11. 2010, Rs. C-232/09 – Danosa, Slg. 2010, I-11405, I-11457 Rn. 55.
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Prozess, der keineswegs beendet ist.74 Erreicht wird diese dynamische Ausrichtung durch das Voranstellen von Zielen.75 Diese ergeben sich aus dem Primärrecht.76 Art. 3 EUV enthält die allgemeinen Zielbestimmungen. Des Weiteren kennen die Verträge zahlreiche weitere sektorspezifische Zielbestimmungen.77 Die für das europäische Kartellrecht maßgebliche Zielbestimmung, die Errichtung des Binnenmarkts nach Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 S. 1 EUV umfasse ein System, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt, findet sich nunmehr in Protokoll (Nr. 27) zu den Verträgen. Seine Auslagerung im Vergleich zur prominenten Stellung in Art. 3 Abs. 1 lit. g EG geht aber nicht einher mit einem Bedeutungsverlust. Formal sind die Protokolle nach Art. 51 EUV Bestandteil der Verträge. Der rechtliche Rang des Wettbewerbsschutzes bleibt damit unverändert.78 Auch der EuGH scheint von einer unverminderten Bedeutung des Wettbewerbsschutzes im Recht der EU auszugehen.79 Diese Zielbestimmungen sind nicht nur politischer Natur, sondern verkörpern auch ein normatives Programm.80 Sie sind normativer Fixpunkt jeder unionsrechtlichen Regelung. Jene richten sich nach ihnen hin aus.81 Damit prägen sie ent-
74 Vgl. Präambel des EUV: „ENTSCHLOSSEN, den Prozess der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas, in der die Entscheidungen entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip möglichst bürgernah getroffen werden, weiterzuführen“ (Abs. 13) und „IM HINBLICK auf weitere Schritte, die getan werden müssen, um die europäische Integration voranzutreiben“ (Abs. 14). 75 Vgl. aber auch die sich wandelnde Bedeutung der Zielbestimmung durch die Einführung von Kompetenztiteln in Art. 2 – 6 AEUV mit dem Vertrag von Lissabon; dazu – allerdings noch zum VerfV – Reimer, EuR 2003, 992, 1007 ff. 76 Reimer, EuR 2003, 992, 997 f. Unklar ist, ob bereits die Präambel des EUV Ziele der EU enthält; bejahend Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, S. 398; Terhechte, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. I, Art. 3 EUV Rn. 14 [53. Lfg.: Mai 2014]; Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 1, Präambel EUV Rn. 3; verneinend unter Hinweis auf den fehlenden Normcharakter Reimer, EuR 2003, 992, 998 (Fn. 55). 77 Terhechte, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. I, Art. 3 EUV Rn. 16 [53. Lfg.: Mai 2014]. 78 Basedow, EuZW 2008, 225; Behrens, EuZW 2008, 193; Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 12 f.; Brinker, in: Schwarze u. a., EU-Kommentar, Art. 101 AEUV Rn. 41; Drexl, in: von Bogdandy/Bast, Europ. Verfassungsrecht, S. 905, 908 ff.; Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 3; Terhechte, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. I, Art. 3 EUV Rn. 41 [53. Lfg.: Mai 2014]; Thomas, JZ 2011, 185, 487 ff.; zurückhaltender hingegen Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 2 [77. Lfg.: Oktober 2012]. 79 EuGH, Urt. v. 17. 2. 2011, Rs. C-52/09 – TeliaSonera Sverige, Slg. 2011, I-527, I-574 Rn. 20; Urt. v. 17. 9. 2011, Rs. C-496/09 – Kommission/Italien, Slg. 2011, I-11483, I-11512 Rn. 60. 80 Kutscher, in: EuGH, Begegnung von Justiz und Hochschule, S. I-1, I-41 f.; Reimer, EuR 2003, 992, 1000 f.; Schroeder, JuS 2004, 180, 186; Streinz, in: Streinz, Art. 3 EUV Rn. 3; Terhechte, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. I, Art. 3 EUV Rn. 28 [53. Lfg.: Mai 2014]. 81 Vgl. zur Steuerungs- und Maßstabsfunktion der Zielbestimmungen Reimer, EuR 2003, 992, 1003 f.
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
scheidend deren innere Systematik.82 Der bedeutende Wesenszug der Finalität des Unionsrechts schlägt sich somit auch prominent in der Auslegung nieder. Darüber hinaus bedingt dieses fortwährende Integrationsprogramm eine sog. dynamische Auslegung.83 „Schließlich ist jede Vorschrift des Gemeinschaftsrechts in ihrem Zusammenhang zu sehen und im Lichte des gesamten Gemeinschaftsrechts, seiner Ziele und seines Entwicklungsstands zur Zeit der Anwendung der betroffenen Vorschrift auszulegen.“84 Die Kompetenzgrundlage einer abgeleiteten Norm kann ausdrücklich Auskunft über das Regelungsziel geben.85 Namentlich Art. 103 Abs. 1 AEUV ermächtigt, zweckdienliche Verordnungen oder Richtlinien zur Verwirklichung der in den Artikeln 101 und 102 niedergelegten Grundsätze zu erlassen und nennt damit ausdrücklich das Gesetzgebungsziel. Dieses wird durch die insbesondere-Aufzählung in Abs. 2 bekräftigt. So wird die Verknüpfung mit der Zielbestimmung des Protokolls (Nr. 27) zu den Verträgen hergestellt. Ebenso können zur Ermittlung der verfolgten Ziele eines Sekundärrechtsaktes die Begründungserwägungen (vgl. Art. 296 Abs. 2 AEUV) herangezogen werden.86 Für den hier relevanten Bereich des Strafrechts i.w.S. schließlich kann das Schutzgut Auskunft über die Zwecksetzung einer Norm geben.87 Strafrechtliche 82 Vgl. Colneric, ZEuP 2005, 225, 227; Mayer, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. I, Art. 19 EUV Rn. 55 [41. Lfg.: Juli 2010]. 83 EuGH, Urt. v. 6. 10. 1982, Rs. 283/81 – C.I.L.F.I.T./Ministero della Sanità, Slg. 1982, 3415, 3430 Rn. 20; Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, S. 412 f.; Everling, JZ 2000, 217, 226; Kutscher, in: EuGH, Begegnung von Justiz und Hochschule, S. I-1, I-41; Riesenhuber, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 11 Rn. 43. 84 EuGH, Urt. v. 6. 10. 1982, Rs. 283/81 – C.I.L.F.I.T./Ministero della Sanità, Slg. 1982, 3415, 3430 Rn. 20 [Hervorhebungen durch Verf.]. 85 Stef. Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 531; Riesenhuber, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 11 Rn. 40. 86 So etwa Bleckmann/Pieper, in: Dauses, Hdb des EU-WirtschaftsR, Bd. 1, B. I. Rn. 17, 25 [5. Lfg.: April 1997]; Borchardt, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 15 Rn. 44; Buck, Über die Auslegungsmethoden des EuGH, S. 148; Stef. Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 531; König, Das Europäische Verwaltungssanktionsrecht und die Anwendung strafrechtlicher Rechtsgrundsätze, S. 79; Pechstein/Drechsler, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 8 Rn. 31, die zur Begründung die Zugehörigkeit der Begründungserwägungen zum Rechtsakt selbst bemühen und auf ihren Systematik und Normzweck erläuternden Inhalt hinweisen. Gleichwohl kann in ihnen auch die Wiedergabe der subjektiven Vorstellungen des Unionsgesetzgebers gesehen werden, sodass sie (auch) im Rahmen der historischen Auslegung herangezogen werden können; vgl. etwa Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 253 f.; Immenga/ Mestmäcker, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Einl. C. Rn. 20; Riesenhuber, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 11 Rn. 33; zu ihrer Ambivalenz näher Steph. Grundmann, Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH, S. 258 ff. 87 Für das dt. Recht Dannecker, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 319; Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder, StGB, § 1 Rn. 48; Rogall, in: Senge, KK, OWiG, § 3 Rn. 81; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. VI, Art. 103 Abs. 2
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Tatbestände dienen dem Schutz eines bestimmten Rechtsguts.88 Zudem erfasst der strafrechtliche Tatbestand meist eine gewisse Art und Weise, wie dieser Schutz gewährleistet werden soll und umschreibt damit die in der Straftat als konkretisierte Rechtsgutsgefährdung oder -verletzung89 liegende Pflichtverletzung.90 Dies kann etwa die Beschränkung auf eine bestimmte Begehungsart oder ein nur eingeschränkter Täterkreis sein. Auch für das unionsrechtliche Kartellbußgeldrecht kann dieser Auslegungsgesichtspunkt noch fruchtbar gemacht werden.91 b) Der sog. more economic approach und seine Bedeutung für die Auslegung Kernstück der Europäischen Union ist seit jeher das Bestreben der Verwirklichung des Europäischen Binnenmarktes, Art. 3 Abs. 3 S. 1 EUV. Das an die Marktakteure gerichtete europäische Kartellrecht bildet neben den jeweils staatsgerichteten Grundfreiheiten (Art. 26 Abs. 2, 34 ff., 45 ff., 49 ff., 56 ff., 63 ff. AEUV), dem Recht der Beihilfen (Art. 107 – 109 AEUV) sowie den steuerlichen Vorschriften (Art. 110 – 113 AEUV) und Angleichungsvorschriften (Art. 114 – 118 AEUV) das Wettbewerbsrecht der Europäischen Union. Es stellt den rechtlichen Rahmen zur Sicherung freien Wettbewerbs auf dem Binnenmarkt dar. Innerhalb dieses Rahmens wird der Wettbewerb von ökonomischen Parametern beherrscht. Die Rechtsanwendung ist damit auch von wirtschaftlichen Erkenntnissen geprägt.92 Während die Wirtschaftswissenschaften aufgrund realer Zusammenhänge deren Wirkungen im Markt analysieren, begrenzt der rechtliche Tatbestand diese zu untersuchenden Faktoren auf die in der Norm zum Ausdruck kommenden Kriterien.93 Da die Wettbewerbsvorschriften den Prozess des Wettbewerbs jedoch weitgehend nur durch unbestimmte Rechtsbegriffe umschreiben können, kommt der ökonomischen Analyse großes Gewicht zur Erfassung des maßgeblichen Sachverhalts und damit zur Anwendung der Norm zu.94 Es stellt sich also die Frage, inwieweit ökoRn. 228 [30. Lfg.: Dezember 1992]; verhaltener die Anhänger der subjektiven Theorie; vgl. Hassemer/Kargl, in: Kindhäuser/Neumann/Peffgen, NK, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 114. 88 So die h.M. im dt. Strafrecht; BVerfGE 96, 245, 249; Radtke, in: Joecks/Miebach, MüKo, StGB, Bd. I, Vor. §§ 38 ff. Rn. 1 ff.; Roxin, Strafrecht AT/I, § 2 Rn. 2 ff.; Rudolphi, in: Rudolphi/ Horn/Samson, SK, StGB, Bd. I, Vor. § 1 Rn. 2 [26. Lfg.: Juni 1997]; Stree/Kinzig, in: Schönke/ Schröder, StGB, Vor. §§ 38 ff. Rn. 1. 89 Hassemer/Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, NK, StGB, Bd. 1, Vor. § 1 Rn. 112. 90 Zur Pflichtverletzung als weiterer Wesenszug der Straftat plädieren etwa Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor. §§ 13 ff. Rn. 8, 11. 91 Siehe unten S. 232 f., 264 ff., 337 ff. 92 Allg. M.; statt vieler Ackermann, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 21 Rn. 18; Immenga/Mestmäcker, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Einl. D. Rn. 2; Meessen, in: L/M/R, KartellR, Einf. Rn. 51; Mestmäcker/Schweitzer, Europ. WettbR, § 2 Rn 76 ff. 93 Immenga/Mestmäcker, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Einl. D. Rn. 1; Mestmäcker/Schweitzer, Europ. WettbR, § 2 Rn. 76; Thomas, JZ 2011, 485, 487 ff. 94 Immenga/Mestmäcker, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Einl. D. Rn. 2.
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
nomische Aspekte Bedeutung für die rein rechtliche Methodik der Auslegung haben. Die umfassende Bewertung des Einzelfalls verbleibt schließlich eine juristische Aufgabe.95 Dabei kann eine Aussage über die Reichweite der Berücksichtigung nur im jeweiligen Einzelfall erfolgen.96 Durch diese Verknüpfung des Kartellrechts mit wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnissen über den Wettbewerb können Umschwünge in Bezug auf wettbewerbspolitische Leitbilder auch auf den Bereich des Rechts durchschlagen.97 Dies kann zum einen in einer veränderten Kartellrechtsgesetzgebung, zum anderen in einer Änderung in der Kartellrechtsanwendung Ausdruck finden. Während der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung wettbewerbspolitisch beständig bleibt,98 befolgt die Europäische Kommission seit Ende der 1990er Jahre einen veränderten Ansatz. Sie verfolgt nunmehr das Anliegen, die kartellrechtliche Bewertung unternehmerischen Handelns stärker nach ihren wirtschaftlichen Auswirkungen als nach formalen Kriterien vorzunehmen.99 Die Kommission orientiert sich danach zunehmend an wohlfahrtsökonomischen Aspekten, die ein Wettbewerbsverständnis ablösen, nach dem formal zugeschnittene Verhaltensverbote die Wettbewerbsfreiheit sichern sollten.100 An der Wohlfahrt, überwiegend der Verbraucherwohlfahrt, orientierte Effizienzkriterien entscheiden danach über die Wettbewerbsschädlichkeit des unternehmerischen Handelns und sollen so die Grenze zu kartellrechtlich verbotenen Verhaltensweisen ziehen. Zur Beurteilung der Auswirkungen dieses more economic approach auf die Auslegung ist zu differenzieren. Soweit dieser neue Ansatz in die gesetzlichen Regelungen des Kartellrechts eingeflossen ist,101 ist diese Betrachtungsweise freilich bei der Auslegung zu beachten.102 Die am more economic approach ausgerichtete Praxis der EU-Kommission in der Rechtsanwendung stellt sich in allen anderen Fällen hingegen als veränderte Auslegung auf unveränderter Rechtsgrundlage dar. Aus ihr sind daher keine verbindlichen Rückschlüsse auf die Auslegung und Anwendung der entsprechenden Normen durch andere Organe, namentlich den Gerichtshof, zu ziehen. Dies gilt auch, wenn der more economic approach Ausdruck in den Leitlinien der Kommission zur Auslegung der Kartelltatbestände findet.103 Der 95
Meessen, in: L/M/R, KartellR, Einf. Rn. 58; Schuhmacher, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 17 [47. Lfg.: April 2012]. 96 Immenga/Mestmäcker, in: I/M, WettbR4, Bd. I/1, Einl. C. Rn. 27. 97 Ackermann, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 21 Rn. 21. 98 Ackermann, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 21 Rn. 21. 99 Ackermann, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 21 Rn. 22. 100 Ackermann, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 21 Rn. 22. 101 Zur Beteiligung der Kommission am unionsrechtlichen Gesetzgebungsverfahren etwa vgl. Art. 17 Abs. 2 EUV. 102 Meessen, in: L/M/R, KartellR, Einf. Rn. 60. 103 So etwa in Rn. 50, 51 der Leitlinien zur Anwendung von Art. 81 Absatz 3 EG-Vertrag, ABl. 2004 C 101, S. 97, 104 f.; vgl. Meessen, in: L/M/R, KartellR, Einf. Rn. 61.
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Kommission fehlt insoweit die Kompetenz.104 Ihre Leitlinien sind allein für die Kommission selbst verbindlich.105 Sie vermögen gerade nicht die Gesetzeslage, die allein den Gegenstand der Auslegung bildet, zu ändern.106 Die Norm selbst legt die relevanten wirtschaftlichen Aspekte fest.107 Diese zu identifizieren ist gerade Aufgabe der Auslegung. Überschreitet die Anwendung anhand von außen einbezogener wettbewerbspolitischer Vorstellungen die so gewonnenen gesetzlichen Kriterien und damit die Grenze der Auslegung, handelt es sich um eine für die EU-Kommission als Verwaltungsbehörde unzulässige Rechtsfortbildung. Der more economic approach ist damit keinesfalls als Auslegungsmethode zu verstehen.108 c) Der sog. effet utile Mit der soeben unter a) beschriebenen Finalität des Unionsrechts korrespondiert das unionsrechtliche Normverständnis, dass jede Norm auf die Verwirklichung eines dieser bestimmten Ziele ausgerichtet ist und ihr dient.109 Jede Norm muss damit darauf gerichtet eine Wirkung entfalten. Der unionsrechtliche Effektivitätsgrundsatz des effet utile geht dabei über die Verhinderung der Sinnentleerung einer Norm hinaus.110 Er verlangt, dass jede Norm zur Absicherung der Funktionsfähigkeit des Unionsrechts in den übersetzten deutschen Worten des EuGH weitergehend jene „nützliche Wirkung“111, „volle Wirksamkeit“112 oder „praktische Wirksamkeit“113 104
Meessen, in: L/M/R, KartellR, Einf. Rn. 61. Zur Selbstbindung der Kommission siehe etwa Bechtold, in: Müller/Osterloh/Stein, FS G. Hirsch, S. 223, 224; König, Das Europäische Verwaltungssanktionsrecht und die Anwendung strafrechtlicher Rechtsgrundsätze, S. 196; Meessen, in: L/M/R, KartellR, Einf. Rn. 61; Pampel, EuZW 2005, 11, 12; Pohlmann, WuW 2005, 1005; Schmidt, in: I/M; WettbR, Bd. I/2, Art. 1 VO 1/2003 Rn. 19; Thomas, EuR 2009, 423, 426 ff. Über ihre Bindungswirkung für andere staatliche Stellen wird dabei gestritten; vgl. nur einerseits Schweda, WuW 2004, 1133 ff., andererseits Pohlmann, WuW 2005, 1005 ff. 106 Vgl. Thomas, EuR 2009, 423, 428. 107 Siehe oben Teil 2 in und bei Fn. 93. 108 Immenga/Mestmäcker, in: I/M, WettbR4, Bd. I/1, Einl. C. Rn. 31. 109 Pechstein/Drechsler, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 8 Rn. 30; Potacs, EuR 2009, 465, 469; Schroeder, JuS 2004, 180, 186. 110 So bereits der Inhalt des von Julian beschriebenen römischen Prinzips des ut res magis valeat quam pereat, Dig 34, 5, 12; vertiefend zur historischen Entwicklung des effet utile Honsell, in: Bernat, FS Krejci, Bd. II, S. 1929, 1930 ff.; Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, S. 94 f. 111 Siehe etwa EuGH, Urt. v. 6. 10. 1970, Rs. 9/70 – Grad/Finanzamt Traunstein, Slg. 1970, 825, 838 Rn. 5; Urt. v. 21. 10. 1970, Rs. 23/70 – Haselhorst/Finanzamt Düsseldorf, Slg. 1970, 881, 893 Rn. 5; Urt. v. 4. 12. 1974, Rs. 41/74 – Van Duyn/Home Office, Slg. 1974, 1337, 1348 Rn. 12. 112 Siehe etwa EuGH, Urt. v. 4. 6. 2006, Rs. C-212/04 – Adeneler u. a., Slg. 2006, I-6057, I-6127 Rn. 94, I-6131 Rn. 109; Urt. v. 23. 4. 2009, verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 – Angelidaki u. a., Slg. 2009, I-3071, I-3184 ff. Rn. 158, 161, 174; Urt. v. 22. 6. 2010, verb. Rs. C-188/10 und C-189/10 – Melki und Abdelki, Slg. 2010, I-5667, I-5728 Rn. 43 f.; Urt. v. 24. 5. 2012, Rs. C-97/ 11 – Amia, noch nicht in amtl. Slg., Rn. 28 f. 105
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entfaltet. Dies überzeugt umso mehr für Normen, die den zentralen Integrationsbereichen zuzuordnen sind.114 Neben den Grundfreiheiten115 gilt dies auch für das Kartellverbot, das den unverfälschten Wettbewerb auf dem Binnenmarkt mitgewährleiten soll. Die Auslegung nach dem Grundsatz des effet utile fragt somit danach, wie ein bereits ermittelter Normzweck bestmöglich verwirklicht werden kann.116 Durch diese Anknüpfung an den Normtelos kann der Auslegungsgrundsatz des effet utile der teleologischen Auslegung zugeordnet werden.117 Allerdings führt diese Argumentationsfigur nahtlos in den Bereich richterlicher Rechtsfortbildung über.118 Gestützt auf eine solche dynamische Anwendung des Unionsrechts hat der EuGH zahlreiche fortschrittliche Entscheidungen im „Geiste der Verträge“ getroffen und sich so als „Motor der Integration“ erwiesen. Der Verweis auf die bedeutenden Urteile zum Vorrang des Unionsrechts,119 zur unmittelbaren Anwendbarkeit des Unionsrechts,120 zur unmittelbaren Wirkung (sog. Direktwirkung) von Richtlinien,121 zur Forderung effektiven Vollzugs des Gemein-
113 Siehe etwa EuGH, Urt. v. 8. 4. 1976, Rs. 48/75 – Royer, Slg. 1976, 497, 517 Rn. 69/73; Urt. v. 17. 1. 1980, Rs. 792/79 R – Camera Care, Slg. 1980, 119, 131 Rn. 18; Urt. v. 6. 10. 1981, Rs. 246/80 – Broekmeulen/Huisarts Registratie Commissie, Slg. 1981, 2311, 2328 Rn. 16; Urt. v. 17. 11. 1993, Rs. C-2/91 – Meng, Slg. 1993, I-5751, I-5797 Rn. 14, I-5798 Rn. 21; Urt. v. 22. 12. 2010, Rs. C-491/10 PPU – Aguirre Zarraga, Slg. 2010, I-14247, I-14302 Rn. 55, I-14305 Rn. 66; Urt. v. 20. 10. 2011, Rs. C-123/10 – Brachner, Slg. 2011, I-10003, I-10060 Rn. 52. 114 Vgl. Potacs, EuR 2009, 465, 475 f. 115 Potacs, EuR 2009, 465, 475. 116 Buerstedde, Juristische Methodik des Europ. GemR, S. 77; Steph. Grundmann, Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH, S. 372; Honsell, in: Bernat, FS Krejci, Bd. II, S. 1929, 1933; Potacs, EuR 2009, 465, 469. 117 Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 219; Dederichs, Die Methodik des EuGH, S. 27; Steph. Grundmann, Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH, S. 375; Honsell, in: Bernat, FS Krejci, Bd. II, S. 1929, 1933; Kutscher, in: EuGH, Begegnung von Justiz und Hochschule, S. I-1, I-44; Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 9 Rn. 178; Potacs, EuR 2009, 465, 469; Riesenhuber, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 11 Rn. 42a; Streinz, in: Due/Lutter/Schwarze, FS Everling, Bd. II, S. 1491, 1495 f.; Zuleeg, EuR 1969, 97, 107; den effet utile fasst als eigenständige, über die teleologische Auslegung hinausgehende Auslegungsmethode auf Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, S. 272 ff. 118 Vgl. Calliess, NJW 2005, 929, 931; Pechstein/Drechsler, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 8 Rn. 36. 119 Siehe die Nachw. in Teil 2 Fn. 17. 120 Siehe die Nachw. in Teil 2 Fn. 16. 121 EuGH, Urt. v. 4. 12. 1974, Rs. 41/74 – Van Duyn/Home Office, Slg. 1974, 1337, 1348 f. Rn. 12 ff.; Urt. v. 19. 1. 1982, Rs. 8/81 – Becker/Finanzamt Münster-Innenstadt, Slg. 1982, 53, 70 f. Rn. 21 ff.; Urt. v. 22. 6. 1989, Rs. 103/88 – Fratelli Costanzo/Stadt Mailand, Slg. 1989, 1839, 1870 f. Rn. 28 ff.; Urt. v. 14. 7. 1994, Rs. C-91/92 – Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325, I-3356 Rn. 24.
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schaftsrechts durch die Mitgliedstaaten122 sowie zur Herausbildung eines unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs gegen die Mitgliedstaaten für Verstöße gegen das Unionsrecht123 sollen hier als Beleg für die überragende Bedeutung teleologischer Argumentation anhand des effet utile im Unionsrecht genügen.124 d) Zielbestimmungskonflikte Vor diesem Hintergrund bleibt allerdings zu beachten, dass Normen nicht immer nur ein einzelner Telos innewohnt.125 Die besondere Bedeutung des effet utile darf nicht dazu führen, dass ein Ziel einseitig überbetont wird.126 Auch das soeben beschriebene Integrationsprogramm enthält mitunter gegenläufige Zielbestimmungen. Diese sind im Wege praktischer Konkordanz zum Ausgleich zu bringen.127 Namentlich die hier zu behandelnde kartellrechtliche Bußgeldnorm des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a VO 1/2003 steht zwischen zwei diametralen Zielen. Als Mittel der Wettbewerbspolitik dient sie in Ausfüllung der Kompetenz des Art. 103 Abs. 1 AEUV nach Protokoll (Nr. 27) zu den Verträgen der Verwirklichung eines Systems, das den Wettbewerb im Binnenmarkt vor Verfälschungen schützt. Als Sanktionsnorm soll sie dem Schutzgut den bestmöglichen Schutz verschaffen.128 Demgegenüber unterliegt sie als eben solche rechtsstaatlichen Sicherungen. Die Verpflichtung auf den Rechtsstaat findet sich bereits in der Präambel des EUV wie derjenigen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC).129 In Art. 2 EUV wird die Rechtsstaatlichkeit als grundlegender Wert genannt, dessen Förderung 122 EuGH, Urt. v. 8. 4. 1976, Rs. 48/75 – Royer, Slg. 1976, 497, 517 Rn. 69/73; Urt. v. 21. 9. 1983, Rs. 205 bis 215/82 – Deutsche Milchkontor/Deutschland, Slg. 1983, 2633, 2666 Rn. 22; Urt. v. 20. 9. 2001, Rs. C-453/99 – Courage und Crehan, Slg. 2001, I-6297, I-6324 Rn. 29. 123 EuGH, Urt. v. 19. 11. 1991, verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 – Francovich u. a./Italien, Slg. 1991, I-5357, I-5414 f. Rn. 33 ff.; Urt. v. 16. 12. 1993, Rs. C-334/92 – Wagner Miret, Slg. 1993, I-6911, I-6931 ff. Rn. 15 ff.; Urt. v. 5. 3. 1996, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 – Brasserie de pêcheur und Factortame, Slg. 1996, I-1029, I-1141 ff. Rn. 17 ff. 124 Vgl. zur herausragenden Bedeutung nur Steph. Grundmann, Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH, S. 364 ff.; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/ Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 28 f. [77. Lfg.: Oktober 2012]; Streinz, in: Due/Lutter/Schwarze, FS Everling, Bd. II, S. 1491, 1495. 125 Vgl. EuGH, Urt. v. 8. 4. 1976, Rs. 43/75 – Defrenne/Sabena, Slg. 1976, 455, 473 Rn. 8/ 11; Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 214 f. 126 Kritisch ebenso Riesenhuber, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 11 Rn. 41a, 42a; zur Gefahr kompetenzüberschreitender Rechtsanwendung anhand des effet utile sogleich S. 61 ff.; vgl. aber auch BVerfGE 126, 286 – Honeywell. 127 Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 218; Buerstedde, Juristische Methodik des Europ. GemR, S. 52, 163; Steph. Grundmann, Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH, S. 346. 128 Vgl. zum dt. Recht Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder, StGB, § 1 Rn. 48, die auch in dieser Beziehung für das nationale Recht unausgesprochen den Gedanken des effet utile bemühen. 129 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. 2007 C 303, S. 1.
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nach Art. 3 Abs. 1 EUV Ziel der Union ist. Über die Verankerung des allgemeinen Rechtsstaatsprinzips hinausgehend wurde dieses für den Bereich des Strafrechts in Form des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips konkretisiert und im Primärrecht aufgenommen. Da es kompetenzbegrenzend wirkt, soll die inhaltliche Auflösung des Zielbestimmungskonflikts mit dieser Seite beginnen. So kann das untere rechtsstaatliche Minimum identifiziert werden. Die Umsetzung letzteren Zieles ist in diesem Teil 2 herauszuarbeiten, seine Anwendbarkeit und Anforderungen sind darzulegen, bevor Teil 3 und 4 eine inhaltliche Auflösung anhand der gesetzlichen Voraussetzungen liefern können. 6. Die Rechtsvergleichung In der Praxis des EuGH130 nimmt die Rechtsvergleichung nach überwiegender Auffassung131 den Platz einer fünften Auslegungsmethode ein. Zwar sind die vergleichend herangezogenen nationalen Rechtsordnungen für den Rechtsanwender des Unionsrechts grundsätzlich unverbindlich.132 Allerdings kann die unionsrechtliche Norm selbst den Rechtsanwender auf die Gemeinsamkeiten der mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen verweisen.133 Zudem baut das Unionsrecht auf den mitgliedstaatlichen Rechtstraditionen und -ordnungen auf und ist mit ihnen materiell verwoben.134 Entsprechend greift der EuGH vergleichend auf parallele Regelungen in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zurück, um den autonom unionsrechtlichen Gehalt zu bestimmen.135 Institutionell ist der Gerichtshof dazu bestens geeignet, 130 Vgl. EuGH, Urt. v. 15. 5. 1982, Rs. 155/79 – AM & S/Kommission, Slg. 1982, 1575, 1612 Rn. 27: Dort schließt der EuGH „bei wörtlicher, systematischer und am Verordnungszweck orientierter Auslegung sowie unter Berücksichtigung des Rechts der Mitgliedstaaten“ auf sein Ergebnis. 131 Bleckmann, in: Zacher, Sozialrechtsvergleich im Bezugsrahmen internationalen und supranationalen Rechts, S. 97, 114; Kutscher, in: EuGH, Begegnung von Justiz und Hochschule, S. I-1, I-23 ff.; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, Rn. 514; Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, S. 81; a.A. Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 17. 132 Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 17. 133 So etwa Art. 340 Abs. 2 AEUV; dazu etwa Daig, in: Bernstein/Drobnig/Kötz, FS Zweigert, S. 395, 400. 134 EuGH, Urt. v. 15. 5. 1982, Rs. 155/79 – AM & S/Kommission, Slg. 1982, 1575, 1610 Rn. 18; Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 280; Mayer, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. I, Art. 19 EUV Rn. 21, 59 [41. Lfg.: Juli 2010]; Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, S. 82. 135 GA Lagrange, verb. Schlussanträge v. 11. 11. 1954, Rs. 3/54 – ASSIDER und Rs. 4/54 – ISA, Slg. 1954 – 1955, 151, 157 ff.; EuGH, Urt. v. 16. 12. 1960, Rs. 6/60 – Humblet, Slg. 1960, 1163, 1195; Urt. v. 15. 5. 1982, Rs. 155/79 – AM & S/Kommission, Slg. 1982, 1575, 1610 ff. Rn. 18 ff.; Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 284 ff.; Bleckmann, in: Zacher, Sozialrechtsvergleich im Bezugsrahmen internationalen und supranationalen Rechts, S. 97, 112 ff.; Daig, in: Bernstein/Drobnig/Kötz, FS Zweigert, S. 395, 400, 409 f.; Kutscher, in: EuGH, Begegnung von Justiz und Hochschule, S. I-1, I-26 f.; Mayer, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. I, Art. 19 EUV Rn. 60 [41. Lfg.: Juli 2010]; Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 263 f.;
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setzt er sich doch gem. Art. 19 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 EUV aus Richtern aller Mitgliedstaaten zusammen und kann auf eine eigene Forschungsabteilung zurückgreifen.136 Methodisch versucht der EuGH dabei weder einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu identifizieren, noch ein Maximalniveau herzustellen, vielmehr vergleicht er die jeweiligen nationalen Bestimmungen und fragt, inwieweit sich das Gemeinsame auch in die Besonderheiten des Unionsrechts als bestgeeignete Lösung einfügen lässt.137 Die Rechtsvergleichung zeigt dabei mögliche Problemlösungen der mit dem Problem bereits systematisch vertrauten nationalen Rechtsordnungen auf.138 Auf dieser Grundlage kann der EuGH die eigenständige unionsrechtliche Bedeutung gewinnen.139 Allgemein140 wird zutreffend von „wertender Rechtsvergleichung“ gesprochen. In Bezug auf Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a VO 1/2003 wird gefordert, das EuG hätte den gewonnenen Einheitstäterbegriff rechtsvergleichend absichern sollen.141 Wie tragfähig diese Forderung ist, wird sich aber erst noch beweisen müssen. Der Rechtsvergleichung kommt nämlich ebenso als Mittel der Rechtsfortbildung, namentlich zur Gewinnung allgemeiner Rechtsgrundsätze, besondere Bedeutung zu.142 Bedeutendster Anwendungsfall sind die durch den EuGH so geschaffenen Grundrechte.143 Die so im Wege der Rechtsfortbildung gewonnenen allgemeinen Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, S. 85; zur autonomen Auslegung siehe bereits oben S. 46. 136 Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 281; Borchardt, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 15 Rn. 24; Daig, in: Bernstein/Drobnig/Kötz, FS Zweigert, S. 395, 413. Kritisch zur diesbezüglichen Zurückhaltung des EuGH Schilling, ZEuP 2007, 754, 763. 137 In den Worten des EuGH, Urt. v. 17. 12. 1970, Rs. 11/70 – Internationale Handelsgesellschaft/Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide, Slg. 1970, 1125, 1135 Rn. 4 muss die Gewährleistung der Rechte „zwar von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten getragen sein, sie muß sich aber auch in die Struktur und die Ziele der Gemeinschaft einfügen.“; dazu allgemein Bleckmann, in: Zacher, Sozialrechtsvergleich im Bezugsrahmen internationalen und supranationalen Rechts, S. 97, 104 ff.; Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, S. 83 f.; Skouris, in: Merten/Papier, Hdb. der Grundrechte, Bd. VI/ 1, § 157 Rn. 32; Zweigert, RabelsZ 1964, 601, 611. 138 Sog. Inspirationsfunktion; Stef. Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 533; Höpfner/ Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 17; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 32 [77. Lfg.: Oktober 2012]; Schwartze, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 4 Rn. 25. 139 Zur autonomen Auslegung siehe bereits oben S. 46. 140 In Anlehnung an Zweigert, RabelsZ 1964, 601, 611; siehe nur Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 338 f.; Buerstedde, Juristische Methodik des Europ. GemR, S. 167; Calliess, EuZW 2001, 261, 262; Ehlers, in: Ehlers, Europ. Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 6; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, Rn. 530 f.; Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, S. 83; Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 168 ff. 141 Kallaugher/Weitbrecht, E.C.L.R. 2010, 307, 317; Weitbrecht/Baudenbacher, EuR 2010, 230, 237 f.; Weitbrecht/Mühle, EuZW 2010, 327, 333. 142 Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 339; Bleckmann, in: Zacher, Sozialrechtsvergleich im Bezugsrahmen internationalen und supranationalen Rechts, S. 97, 97 ff., 112; Müller/ Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, Rn. 529. 143 Dazu noch (ausführlich) unten S. 70 ff.
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
Rechtsgrundsätze werden wiederum als ungeschriebener Teil des Unionsrechts144 zum einen für die systematische Auslegung etwa unbestimmter Rechtsbegriffe relevant.145 Zum anderen werden sie maßgeblich zur Lückenschließung herangezogen.146
III. Das Rangverhältnis der Auslegungskriterien Kommen die dargestellten einzelnen Auslegungskriterien zu übereinstimmenden Ergebnissen, kann das gefundene Ergebnis fundiert begründet werden. Einem Rangverhältnis unter den Auslegungsarten kommt hingegen Bedeutung zu, wenn einzelne Auslegungsmethoden zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Dies gilt umso mehr, als dass der oben angerissene Streit um das richtige Ziel der Auslegung zu einer unterschiedlichen Gewichtung der Auslegungsmethoden führt und daher hier aufzulösen ist. Eine starre Regel ergibt sich aus dem Gebot primärrechtskonformer Auslegung. Von mehreren möglichen Auslegungsergebnissen des Sekundärrechts setzt sich dasjenige durch, das mit dem Primärrecht vereinbar ist.147 Allerdings schließt diese Vorrangregel nur bereits gefundene Auslegungsergebnisse aus und trifft keine Aussage zur Gewichtung der verschiedenen Auslegungskriterien bei der Ermittlung eben jenes Auslegungsergebnisses.148 Da das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip wie die Zielbestimmung des Protokolls (Nr. 27) zu den Verträgen im Rang des Primärrechts stehen, wird ihr Ausgleich zugleich eine Grenzlinie primärrechtskonformer Auslegungsergebnisse ziehen. Wie noch zu zeigen ist, wird diese durch 144 Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 9 Rn. 26 f.; nach h.M. sind sie Teil des Primärrechts; siehe etwa Herdegen, Europarecht, § 8 Rn. 16; Schilling, EuGRZ 2000, 3, 30; Schneiders, Die Grundrechte der EU und die EMRK, S. 96 f. 145 Vgl. EuGH, Urt. v. 21. 9. 1989, verb. Rs. 46/87 und 227/88 – Hoechst/Kommission, Slg. 1989, 2859, 2923 Rn. 12; Urt. v. 16. 7. 1992, Rs. C-67/91 – Asociacón Española de Banca Privada u. a., Slg. 1992, I-4785, I-4830 Rn. 30; Engels, Unternehmensvorsatz, S. 54; Gröblinghoff, Die Verpflichtung des dt. Strafgesetzgebers, S. 115; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/ Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 32 [77. Lfg.: Oktober 2012]; Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, S. 118. 146 Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 333 ff.; Gröblinghoff, Die Verpflichtung des dt. Strafgesetzgebers, S. 115; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 32 [77. Lfg.: Oktober 2012]; Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, S. 118. 147 EuGH, Urt. v. 5. 5. 1982, Rs. 15/81 – Schul/Inspecteur der Invoerrechten en Accijnzen, Slg. 1982, 1409, 1434 Rn. 44; Urt. v. 13. 12. 1983, Rs. 218/82 – Kommission/Rat, Slg. 1983, 4063, 4075 Rn. 15; Urt. v. 25. 11. 1986, verb. Rs. 201 und 202/85 – Klensch/Staatssekretär, Slg. 1986, 3477, 3510 Rn. 21; Urt. v. 4. 12. 1986, Rs. 205/84 – Kommission/Deutschland, Slg. 1986, 3755, 3812 Rn. 62; Urt. v. 21. 3. 1991, Rs. C-314/89 – Rauh, Slg. 1991, I-1647, I-1672 Rn. 17; Urt. v. 27. 1. 1994, Rs. C-98/91 – Herbrink, Slg. 1994, I-223, I-252 f. Rn. 9; Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 186; Stef. Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 532; Riesenhuber, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 11 Rn. 49. 148 Stef. Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 534; Riesenhuber, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 11 Rn. 49.
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den gewaltenteilenden Gehalt des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips kompetenziell abgesichert. Ergebnis ist eine Grenze der Tätigkeit des Rechtsanwenders, hier als Auslegungsmaßstab bezeichnet. Eine Vorrangregelung, die das Verhältnis der Auslegungskriterien untereinander betrifft, stellt die aus der französischen Methodik stammende sog. acte clair-Regel dar. Danach kommt dem Wortlaut der Vorrang zu, wenn dieser eindeutig ist.149 Allerdings wird die Vielsprachigkeit unionsrechtlicher Vorschriften selten zu einem eindeutigen Ergebnis führen.150 Zudem ist das Ergebnis der Eindeutigkeit eine Bewertung der gesamten Norm und nicht nur ihres Wortlautes.151 Die grammatikalische Auslegung allein kann daher nicht genügen.152 Schließlich stellen die subjektive und die objektive Theorie entgegengesetzte Vorrangregeln auf. Während die subjektive Theorie dem Gesetzgeberwillen den Vorrang zukommen lässt,153 setzt sich nach der objektiven Theorie eine objektivsystematische Auslegung durch.154 Da sich diese Positionen in der praktischen Rechtsanwendung annähern, sind auch solche starren Vorrangregeln für die Auslegung im Einzelfall wenig hilfreich. Vielmehr ist jeweils im Einzelfall zu entscheiden, für welche Position die besseren Sachargumente sprechen. Auch die Auslegungspraxis des EuGH erscheint als an dem jeweiligen Einzelfall orientiert. Die verschiedenen Auslegungskriterien tragen zur Begründung des gefundenen Auslegungsergebnisses bei. Dabei variiert die Bedeutung der einzelnen Auslegungsmethoden. Eine gesicherte Auslegungsmethode des EuGH ist nicht erkennbar.155 Dies kann auch auf die Zusammensetzung des Gerichts zurückgeführt werden, die gem. Art. 19 Abs. 2 EUV sämtliche Nationalitäten und damit verbunden verschiedene Methodenverständnisse zusammenbringt.156 Das Auslegungsergebnis 149 So EuGH, Urt. v. 9. 3. 1978, Rs. 79/77 – Kühlhaus Zentrum, Slg. 1978, 611, 619 Rn. 6; zust. Bleckmann/Pieper, in: Dauses, Hdb. des EU-WirtschaftsR, Bd. 1, B. I. Rn. 10 [5. Lfg.: April 1997]; Leisner, EuR 2007, 689, 701. 150 Siehe bereits oben S. 45 f. 151 Riesenhuber, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 11 Rn. 48; dies gestehen auch Bleckmann/Pieper, in: Dauses, Hdb des EU-WirtschaftsR, Bd. 1, B. I. Rn. 10 [5. Lfg.: April 1997] ein. 152 EuGH, Urt. v. 16. 12. 1960, Rs. 6/60 – Humblet, Slg. 1960, 1163, 1194; Urt. v. 6. 7. 1977, Rs. 6/77 – Schouten/Hoofdproduktschap voor Akkerbouwprodukten, Slg. 1977, 1291, 1298 Rn. 8/12; Urt. v. 20. 3. 1980, Rs. 118/79 – Knauf Westdeutsche Gipswerke/Hauptzollamt Hamburg-Jonas, Slg. 1980, 1183, 1190 Rn. 5; Dobler, in: Roth/Hilpold, Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten, S. 509, 517; Riesenhuber, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 11 Rn. 16, 48; Schroeder, JuS 2004, 180, 182; Zuleeg, EuR 1969, 97, 100. 153 So etwa Riesenhuber, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 11 Rn 50. 154 So etwa Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, S. 494. 155 Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 9; Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, S. 90 ff. weist zur Begründung auf die zeitliche Entwicklung hin. 156 Colneric, ZEuP 2005, 225, 230; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 9; Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, S. 91.
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
ist daher – mit dem Gerichtshof157 – durch eine rangfreie Gewichtung der Auslegungskriterien im Einzelfall zu gewinnen. Eine empirische Untersuchung aller Entscheidungen des Jahres 1999 hat ergeben, dass der Verweis auf die frühere Rechtsprechung vor Argumenten aus dem Wortlaut, teleologischen, systematischen und schließlich historischen Argumenten die Argumentation des EuGH dominiert.158 In dem Verweis auf frühere Entscheidungen ist allerdings kein selbstständiges Argumentationsmittel neben den klassischen Auslegungskriterien zu sehen. Vielmehr stellt der Verweis eine verkürzte Übernahme des dort durch eben jene Auslegungskriterien gewonnenen Auslegungsergebnisses dar.159 Auch trifft diese Untersuchung über die qualitative Bewertung der analysierten Argumente keine Aussage.160 Jedes Auslegungskriterium trägt vielmehr Erkenntnisse zur Ermittlung des Auslegungsergebnisses bei. Aus deren Zahl und Gewicht im Einzelfall ist dann das Auslegungsergebnis zu bestimmen. Die Überzeugungskraft eines Wortlautarguments kann etwa durch die auf der Sprachenvielfalt beruhenden Weite und damit verbundener nur geringer Eingrenzungsfunktion des möglichen Wortsinns geschwächt sein.161 Auch kann das Gewicht der historischen Auslegung durch nicht zugängliche Materialien verringert sein,162 ebenso wie das der systematischen Auslegung unter der geringen Regelungsdichte leiden kann.163 Regelmäßig größeres Gewicht ist indes teleologischen Argumenten zuzumessen.164 Auf diesem Weg ist damit in sachgerechter Weise im jeweiligen Einzelfall zu entscheiden, welcher der im Widerstreit stehenden Theorien zwischen objektiver und subjektiver Auslegung im Ergebnis zuzuneigen ist. Auch im Unionsrecht herrscht also ein „bewegliches System der Auslegungskriterien“.165 157
Steph. Grundmann, Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH, S. 366; Pechstein/Drechsler, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 8 Rn. 39; Potacs, EuR 2009, 465, 472 f.; Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, S. 90. 158 Dederichs, Die Methodik des EuGH, passim; dies., EuR 2004, 345 ff. 159 Ebenso Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, S. 92; Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 57. 160 Ebenfalls kritisch Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 57. 161 Dazu bereits oben S. 45. 162 Vgl. Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 9 Rn. 174. Der historischen Auslegung wird verbreitet nur geringe Bedeutung beigemessen; siehe etwa Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 262 ff.; Buck, Über die Auslegungsmethoden des EuGH, S. 151; Schroeder, JuS 2004, 180, 183; Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 19 EUV Rn. 13; Zuleeg, EuR 1969, 97, 101 f.; a.A. Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 13 ff.; Leisner, EuR 2007, 689, 699 ff. 163 Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 12. 164 Siehe bereits oben S. 48 ff. 165 Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 103 ff.; Buck, Über die Auslegungsmethoden des EuGH, S. 141 f.; Eufinger, WRP 2012, 1488, 1491; Stef. Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 534; Leisner, EuR 2007, 689, 698 ff.; Pechstein/Drechsler, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 8 Rn. 39; Potacs, EuR 2009, 465, 472 f.; Zuleeg, EuR 1969, 97, 99; zum dt. Recht etwa BVerfGE 11, 126, 130; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 166 f.; zur verfassungsrechtlichen Begründung Schlehofer, JuS 1992, 572, 573 ff.
B. Die richterliche Rechtsfortbildung im Unionsrecht
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B. Die richterliche Rechtsfortbildung im Unionsrecht Durch den i. d. R. weiten Wortlaut166 kommt die systematisch-teleologisch dominierte Auslegung unionsrechtlicher Normen bereits nicht selten zu sehr extensiven Ergebnissen. Gerade167 im Unionsrecht geht die Auslegung zudem fließend in Rechtsfortbildung über.168 Das Unionsrecht ist ein „Recht im Werden“169 und besteht daher verbreitet nur aus fragmentarischen, im Falle von Primärrecht auch aus recht abstrakten Normen.170 Gleichwohl sieht sich der Gerichtshof gehalten, auf der Grundlage dieses Normbestandes zu entscheiden, um dem Rechtsverweigerungsverbot nachzukommen.171 Hinzu tritt, dass die Unionsrechtsordnung auf dynamische Integration angelegt ist, sodass der fortschreitende Wandel ein wesentliches Merkmal ist, das nach stetiger Anpassung des Rechts verlangt.172 Richterliche Rechtsfortbildung nimmt damit unter dem beherrschenden Argumentationstopos des effet utile im Unionsrecht breiten Raum ein.173
166
Siehe oben S. 45. Zum Unterschied zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung und ihren Gemeinsamkeiten im dt. Recht grundlegend Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 187 ff. 168 Calliess, NJW 2005, 929, 931; Daig, in: Bernstein/Drobnig/Kötz, FS Zweigert, S. 395, 402; Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 ff. VO 1/2003, Rn. 31; Engels, Unternehmensvorsatz, S. 52; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 26 [77. Lfg.: Oktober 2012]. 169 Stef. Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 531; Riesenhuber, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 11 Rn. 43. 170 Buck, Über die Auslegungsmethoden des EuGH, S. 50; Dänzer-Vanotti, RIW 1992, 733, 734; Everling, JZ 2000, 217, 220 f.; Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, S. 330. 171 EuGH, Urt. v. 10. 7. 1957, verb. Rs. 7/56 und 3 – 7/57 – Algera u. a., Slg. 1957, 85, 118; Borchardt, in: Randelzhofer/Scholz/Wilke, GS Grabitz, S. 29, 30; Hummer/Obwexer, EuZW 1997, 295, 296; Mayer, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. I, Art. 19 EUV Rn. 70 [41. Lfg.: Juli 2010]; unter Verweis auf die stattdessen grundsätzlich bestehende Möglichkeit der Rückverweisung auf die mitgliedstaatliche Rechtsordnung kritisch Dobler, in: Roth/Hilpold, Der EuGH und die Souveränität der Mitlgiedstaaten, S. 509, 522 f. Siehe auch Dänzer-Vanotti, in: Due/ Lutter/Schwarze, FS Everling, Bd. I, S. 205, 211 ff., 218. 172 Vgl. Dänzer-Vanotti, RIW 1992, 733, 734; Dobler, in: Roth/Hilpold, Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten, S. 509, 523 f.; Everling, JZ 2000, 217, 220; Kutscher, in: EuGH, Begegnung von Justiz und Hochschule, S. I-1, I-35 ff. Zur dynamischen Auslegung siehe bereits oben S. 50. 173 Dänzer-Vanotti, RIW 1992, 733, 734; Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, S. 333; siehe bereits oben S. 53 ff. 167
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
I. Befugnis des Gerichtshofs auch zur Rechtsfortbildung Der Gerichtshof ist nicht nur zur Auslegung, sondern auch unstreitig zur Rechtsfortbildung befugt.174 Dies ergibt sich aus „jahrhundertelanger gemeineuropäischer Rechtsüberlieferung und Rechtskultur“,175 niedergelegt in Art. 2 EUV,176 und ist in Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV festgeschrieben, der dem EuGH umfänglich die „Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge“ zuschreibt.177 Der Begriff der „Wahrung“ erscheint danach als der leitende Oberbegriff für „Auslegung und Anwendung“,178 der Begriff des „Rechts“ geht wiederum über die geschriebenen Regelungen des Unionsrechts hinaus.179
II. Begrifflichkeiten Im deutschen Recht wird herkömmlich streng zwischen Auslegung und richterlicher Rechtsfortbildung unterschieden. Mit Auslegung wird der Prozess der Bestimmung des Gehalts einer geschriebenen Norm aus ihr selbst bezeichnet.180 Die Rechtsfortbildung erfasst demgegenüber die Ausfüllung der durch Auslegung ermittelten Lücken mit übergeordneten Prinzipien und Rechtsgrundsätzen.181 Die deutsche Methodik kann allerdings wie gesehen182 allein nicht maßgeblich sein. Auch für die Grenzziehung zur Rechtsfortbildung ist eine eigenständige unions174 Siehe nur BVerfGE 75, 223, 242 ff.; Dänzer-Vanotti, RIW 1992, 733, 734; Daig, in: Bernstein/Drobnig/Kötz, FS Zweigert, S. 395, 402; Everling, JZ 2000, 217, 221 f.; Hummer/ Obwexer, EuZW 1997, 295, 296 f.; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 18; Kutscher, in: EuGH, Begegnung von Justiz und Hochschule, S. I-1, I-10, I-12; Mayer, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. I, Art. 19 EUV Rn. 30 [41. Lfg.: Juni 2011]; Neuner, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 13 Rn. 8. 175 BVerfGE 75, 223, 243; vgl. auch Everling, JZ 2000, 217, 218 f. 176 Vgl. Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 18; Neuner, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 13 Rn. 8. 177 Calliess, NJW 2005, 929, 929 f.; Everling, JZ 2000, 217, 221; Kutscher, in: EuGH, Begegnung von Justiz und Hochschule, S. I-1, I-12; Mayer, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. I, Art. 19 EUV Rn. 30 [41. Lfg.: Juni 2011]; Neuner, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 13 Rn. 8; zur neben diese Aufgabenzuweisung tretenden Legitimation Everling, JZ 2000, 217, 221 f. 178 Calliess, NJW 2005, 929, 929 f. 179 Calliess, NJW 2005, 929, 929 f.; Dobler, in: Roth/Hilpold, Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten, S. 509, 521; Hummer/Obwexer, EuZW 1997, 295, 296; Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, S. 329; Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 19 EUV Rn. 9. 180 Vgl. Borchardt, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 15 Rn. 2; Calliess, NJW 2005, 929. 181 Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 30; Borchardt, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 15 Rn. 3. Siehe auch Borchardt, in: Randelzhofer/Scholz/Wilke, GS Grabitz, S. 29, 37. Zum dt. Recht siehe etwa Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 187. 182 S. 40 ff.
B. Die richterliche Rechtsfortbildung im Unionsrecht
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rechtliche Lösung zu suchen, die allerdings auch hier wieder Anleihen im Recht der Mitgliedstaaten nimmt.183 Der Gerichtshof trifft keine solche Differenzierung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung. Er spricht in seiner französischen Arbeitssprache und entsprechend der französischen Methodik einheitlich von „interprétation“.184 Entsprechend misst er der Feststellung von planwidrigen Regelungslücken keine maßgebliche Bedeutung zu.185 Gleichwohl unterscheiden zahlreiche Stimmen im deutschen Schrifttum Auslegung und Rechtsfortbildung auch im Unionsrecht.186 Anhänger der sog. objektiven Theorie187 ziehen die Grenze dabei entlang des Wortlauts der Norm,188 Verfechter der subjektiven Theorie grenzen hingegen entlang des historischen Normzwecks ab.189 Andere190 nehmen schließlich unter Betonung der objektiven Auslegung und entsprechender teleologischer Argumente mit dem Gerichtshof keine Unterscheidung im Unionsrecht vor. Eine Unterscheidung von Auslegung und Rechtsfortbildung lässt sich rechtfertigen, wenn damit unterschiedliche rechtliche Voraussetzungen und Folgen verbunden sind. Dies wird unter dem Gesichtspunkt der Grenzen der richterlichen Rechtsanwendung zu klären sein. Dabei steht das Strafrecht im Fokus.
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Neuner, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 13 Rn. 5. Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 39; Dänzer-Vanotti, RIW 1992, 733, 734; Dobler, in: Roth/Hilpold, Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten, S. 509, 512 f.; Neuner, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 13 Rn. 2; Schroeder, JuS 2004, 180, 184; Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 55 f. 185 Dobler, in: Roth/Hilpold, Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten, S. 509, 513. 186 Buck, Über die Auslegungsmethoden des EuGH, S. 50; Dänzer-Vanotti, RIW 1992, 733, 734 ff.; Daig, in: Bernstein/Drobnig/Kötz, FS Zweigert, S. 395, 401 f.; Dobler, in: Roth/Hilpold, Der EuGH und die Souveränität der Migliedstaaten, S. 509, 514; Stef. Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 535; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 5; Pechstein/Drechsler, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 8 Rn. 2, 55; Riesenhuber, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 11 Rn. 20; Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 58 ff. Zu den Gefahren einer bloß terminologisch verhafteten Betrachtung Neuner, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 13 Rn. 2 f.; diese umgehend noch sogleich S. 67 f. 187 Zum Streit um das Ziel der Auslegung siehe bereits S. 42 f., zu seiner Auflösung im „beweglichen System der Auslegungskriterien“ siehe S. 58 ff. 188 So Borchardt, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 15 Rn. 48; Steph. Grundmann, Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH, S. 213 ff.; Stef. Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 535; Riesenhuber, in Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 11 Rn. 20; Schilling, ZEuP 2007, 754, 757 ff. 189 So Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 4 f., 16; Neuner, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 13 Rn. 18. 190 So Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 38 f.; Borchardt, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 15 Rn. 3, 57; Schroeder, JuS 2004, 180, 184. 184
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
C. Grenzen der Rechtsanwendung des Unionsrechts Dem einheitlichen Auftrag der Rechtsprechung zur Wahrung des Rechts entsprechen einheitliche Grenzen der Rechtsanwendung.191 Sowohl Auslegung als auch Rechtsfortbildung i.S. deutscher Methodenlehre sind ein schöpferischer Vorgang.192 Durch die Rückbindung an die konkrete gesetzgeberische Norm erweckt die Auslegung keine Bedenken. Die Grenzen richterlicher Tätigkeit werden allein im Bereich der Rechtsfortbildung relevant, wo sich der Gerichtshof zunehmend von der konkreten gesetzgeberischen Norm löst. Dies ergibt sich aus den verfassungsrechtlichen Vorgaben der Judikative, auf der Ebene der Europäischen Union mithin aus den dem Primärrecht zugrundeliegenden rechtsstaatlichen Grundsätzen.193 Die Schranken der Rechtsanwendung ergeben sich damit namentlich aus der unionsrechtlichen Kompetenzordnung und dem Vertrauensschutz des Bürgers. Diese Grenzen sind ebenso Bestandteil des „Rechts“, das der Gerichtshof gem. Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV zu wahren hat. Auch wenn sich die terminologische Differenzierung nicht aus den Vorgaben des Unionsrechts ergibt, ist es hilfreich, an ihr festzuhalten, da sie die Grenzen richterlicher Tätigkeit verdeutlicht.194 Nach dem Kompetenzgefüge der EU muss jedes supranationale Organ zunächst die Kompetenzgrenzen der Union gegenüber den Mitgliedstaaten wahren (sog. Verbandskompetenz).195 Dieses zeichnet sich durch den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung gem. Art. 5 Abs. 1 S. 1 EUV, das Subsidiaritätsprinzip nach Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 EUV196 sowie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit des 191 Vgl. Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, Rn. 593 ff.; Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, S. 337 (wenngleich sie eine andere Terminologie verwendet). 192 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 187; zust. etwa Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 32 f.; Dobler, in: Roth/Hilpold, Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten, S. 509, 514. 193 Calliess, NJW 2005, 929, 930; Dänzer-Vanotti, RIW 1992, 733, 734 f.; Dobler, in: Roth/ Hilpold, Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten, S. 509, 528; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 8 f.; Potacs, EuR 2009, 465, 476 ff.; Vogenauer, ZEuP 2005, 234, 246; zur Verwendung des materiellrechtlichen Verfassungsbegriffs in Bezug auf das Primärrecht siehe bereits oben Teil 2 Fn. 49. 194 Vgl. Dobler, in: Roth/Hilpold, Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten, S. 509, 514; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 5; Neuner, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 13 Rn. 2 f. Vgl. auch Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, S. 335 ff. 195 Speziell zum EuGH: Borchardt, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 15 Rn. 25; Dobler, in: Roth/Hilpold, Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten, S. 509, 533 ff.; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 6,19; Neuner, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 13Rn. 15; Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, S. 338 f. 196 Die Bindung des EuGH an das Subsidiaritätsprinzip bei der Rechtsfortbildung wird in der Literatur uneinheitlich beurteilt; bejahend Dobler, in: Roth/Hilpold, Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten, S. 509, 540; Hummer/Obwexer, EuZW 1997, 295, 303; Neuner, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 13 Rn. 15; verneinend Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, S. 339. Borchardt, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht,
C. Grenzen der Rechtsanwendung des Unionsrechts
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Art. 5 Abs. 4 EUV aus. Regelungslücken, deren Ausfüllung aufgrund dieser Verbandskompetenzordnung den Mitgliedstaaten vorbehalten ist, dürfen weder vom europäischen Gesetzgeber noch durch den europäischen Richter ausgefüllt werden.197 Innerhalb der Verbandskompetenzordnung der Europäischen Union sind die Kompetenzen der Rechtsprechung zu denen der unionsrechtlichen Verwaltung und denen der Gesetzgebung abzugrenzen. Entsprechend dem Grundsatz der Gewaltenteilung auf nationaler Ebene muss auch auf Ebene der Europäischen Union ein sog. institutionelles Gleichgewicht gewahrt bleiben.198 So hat der EuGH zum einen den Handlungsspielraum der Verwaltung zu achten.199 Zum anderen muss der EuGH – und das ist hier näher zu betrachten – die Kompetenzen des europäischen Gesetzgebers wahren.200 Dieser ist primär zur Gesetzgebung auf europäischer Ebene berufen (Art. 14 Abs. 1 S. 1, 16 Abs. 1 S. 1 EUV), institutionell und verfahrensrechtlich geeignet201 und entsprechend demokratisch legitimiert.202 Dem Gerichtshof kommt als dritte Gewalt die Kontrolle von Legislative und Exekutive zu (sog. Organkompetenz).203 Maßstab ist das „Recht“. Gem. Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV „sichert“ der Gerichtshof dieses. Ihm kommt also – im Gegensatz zur Gestaltung – § 15 Rn. 28 spricht den Bindungen des Subsidiaritätsprinzips bei der Rechtsfortbildung schließlich jegliche Bedeutung ab. 197 EuGH, Urt. v. 11. 5. 1983, Rs. 87/82 – Rogers/Darthenay, Slg. 1983, 1579, 1592 Rn. 21; Urt. v. 19. 9. 2000, Rs. C-454/98 – Schmeink & Cofreth und Strobel, Slg. 2000, I-6973, I-7005 Rn. 48 f.; Urt. v. 18. 6. 2009, Rs. C-566/07 – Stadeco, Slg. 2009, I-5295, I-5318 Rn. 35; Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 324 ff.; Dänzer-Vanotti, RIW 1992, 733, 735. 198 EuGH, Urt. v. 29. 10. 1980, Rs. 138/79 – Roquette Frères, Slg. 1980, 3333, 3360 Rn. 33; Urt. v. 22. 5. 1990, Rs. C-70/88 – Parlament/Rat, Slg. 1990, I-2041, I-2072 Rn. 21 f.; Urt. v. 30. 3. 1995, Rs. C-65/93 – Parlament/Rat, Slg. 1995, I-643, I-668 Rn. 21; Urt. v. 6. 5. 2008, Rs. C-133/06 – Parlament/Rat, Slg. 2008, I-3189, I-3227 Rn. 56 f.; Dänzer-Vanotti, RIW 1992, 733, 735 f.; Neuner, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 13 Rn. 14; Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, S. 339 f.; Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 280 ff.; Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 19 EUV Rn. 34. 199 Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 412 f.; Mayer, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. I, Art. 19 EUV Rn. 71 [41. Lfg.: Juli 2010]; Neuner, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 13 Rn. 14; Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 19 EUV Rn. 23 f. 200 Dänzer-Vanotti, RIW 1992, 733, 734 ff.; Dobler, in: Roth/Hilpold, Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten, S. 509, 544; Stef. Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 535; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 19; Neuner, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 13 Rn. 14; Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 280 ff.; Wegener, in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, Art. 19 EUV Rn. 23. 201 Vgl. Dänzer/Vanotti, RIW 1992, 733, 735 f.; ders., in: Due/Lutter/Schwarze, FS Everling, Bd. I, S. 205, 213; Dobler, in: Roth/Hilpold, Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten, S. 509, 545 ff. 202 Eingehend zur demokratischen Legitimation von Gesetzgebungsakten des Unionsrechts noch unten S. 149 ff. 203 Borchardt, in: Randelzhofer/Scholz/Wilke, GS Grabitz, S. 29; Calliess, NJW 2005, 929; Dänzer-Vanotti, RIW 1992, 733, 735; Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 19 EUV Rn. 3.
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
grundsätzlich eine das Recht bewahrende Funktion zu.204 Der Begriff des „Rechts“ ist wie soeben205 gesehen zwar weit zu verstehen. Allerdings umfasst es in seiner Konkretisierung in erster Linie das geschriebene Unionsrecht.206 Dem Gerichtshof kommt somit zunächst die Auslegung der vom Gesetzgeber geschaffenen Normen, d. h. die Ausfüllung des gesetzgeberisch gesetzten Rahmens, zu. Erst darüber hinausgehend erkennt er das ungeschriebene sonstige Recht und entwickelt das Unionsrecht fort. Um die gesetzesschaffende Kompetenz des Gesetzgebers zu wahren, ist der Gerichtshof mithin an die von der Norm verkörperte demokratisch legitimierte inhaltliche Wertentscheidung gebunden. Geht der Richter über diese Gesetzesbindung hinaus und schafft selbst Recht, so greift er grundsätzlich in den Kompetenzbereich des unionsrechtlichen Gesetzgebers ein.207 Zur abstrakt-generellen Normsetzung ist der Gerichthof mangels hinreichender demokratischer Legitimation dabei jedenfalls nicht befugt.208 Der richterlichen Rechtsfortbildung stehen demokratietheoretische Argumente indes nicht entgegen, da sich Demokratie auch durch andere Elemente als die direkte Rückbindung an das Volk verwirklicht.209 Gerade zur Sicherung von Gewaltenteilung, Transparenz, Bürgerrechten und effektivem Rechtsschutz ist der Gerichtshof im Verfassungsgefüge der EU berufen.210 Zur Rechtsfortbildung bedarf er allerdings neben einer hinreichenden, Akzeptanz stiftenden,211 Begründung der Einzelfallentscheidung einer sachlichen Rechtfertigung in Form einer planwidrigen Regelungslücke (sog. lückenfüllende Rechtsfortbildung).212 Erst dann liegt keine inhaltliche Wertentscheidung des Gesetzgebers vor, die untergraben werden könnte. Die (politische)213 Entscheidungsprärogative des 204
Dänzer-Vanotti, RIW 1992, 733, 735; Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, S. 339 f. 205 S. 62. 206 Mayer, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. I, Art. 19 EUV Rn. 26 [41. Lfg.: Juli 2010]; Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 19 EUV Rn. 9. 207 Vgl. Borchardt, in: Randelzhofer/Scholz/Wilke, GS Grabitz, S. 29, 30, 38; Stef. Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 535. 208 Dänzer-Vanotti, RIW 1992, 733, 735 f.; Dobler, in: Roth/Hilpold, Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten, S. 509, 545. 209 Dobler, in: Roth/Hilpold, Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten, S. 509, 545; Everling, JZ 2000, 217, 221; Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, S. 340. 210 Everling, JZ 2000, 217, 221. 211 Zur Akzeptanz der Urteile als Grenze auch der Rechtsfortbildung Dobler, in: Roth/ Hilpold, Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten, S. 509, 550 ff. 212 Calliess, NJW 2005, 929, 932; Pechstein/Drechsler, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 8 Rn. 55; nur scheinbar a.A. Borchardt, in: Randelzhofer/Scholz/Wilke, GS Grabitz, S. 29, 39; ders., in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 15 Rn. 60, der von einer konkurrierenden Kompetenz der Judikative zur Gesetzgebung und der grundsätzlichen Zulässigkeit richterlicher Rechtsfortbildung ausgeht. Dabei setzt er aber voraus, dass der Gesetzgeber ungerechtfertigt nicht tätig wird und verlangt der Sache nach ebenfalls eine planwidrige Regelungslücke im hier verstandenen Sinne. 213 Zur politischen Entscheidung als Differenzierungsmerkmal zwischen Gesetzgeber und Rechtsprechung Calliess, NJW 2005, 929, 932; Dänzer-Vanotti, RIW 1992, 733, 734 f.; Dobler,
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Gesetzgebers, die auch in einem bewussten Regelungsverzicht zum Ausdruck kommen kann,214 bleibt gewahrt. Gelegentlich215 werden Bedenken gegen die Übernahme der deutschen Lückendogmatik in die unionsrechtliche Methodenlehre geäußert. Die soeben verwandten Begrifflichkeiten sind auch nicht deckungsgleich im Sinne deutscher Methodik zu verstehen, sondern erhalten vor dem Hintergrund der genannten Grenzen sowie den Besonderheiten des Unionsrechts, namentlich seiner Dynamik und damit verbundenen steten Unvollständigkeit, eine eigenständige unionsrechtliche Bedeutung.216 Die Figur der plan- oder systemwidrigen Regelungslücke ist mithin stets in Relation zur jeweiligen Rechtsordnung, dem jeweiligen (Rechts-)System, zu verstehen. Danach liegt eine zur Rechtsfortbildung berechtigende planwidrige Regelungslücke vor, wenn der Gesetzgeber selbst nicht tätig wurde, obwohl eine entsprechende Regelung im Unionsrecht, vor allem im Primärrecht, dort i. d. R. in den Zielbestimmungen, angelegt ist. Auf die inhaltliche Geschlossenheit der Rechtsordnung kommt es stattdessen nicht an. Dieses Recht erkennt dann der Gerichtshof. Eine die richterliche Rechtsfortbildung sperrende planmäßige Regelungslücke liegt demgegenüber vor, wenn eine entsprechende Regelung der EU nicht im Integrationsprogramm angelegt oder innerunionsrechtlich ausschließlich der Gesetzgeber zur Regelung berufen ist. Letzteres ist insbesondere der Fall, wenn (ausdrückliche) primärrechtliche Vorgaben die grundsätzlichen Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung verschärfen.217 Weist das Primärecht die Normgebung ausschließlich dem Gesetzgeber, wie etwa bei einem strengen Gesetzesvorbehalt, zu (sog. Interorgangrenze), so rechtfertigt auch dessen Untätigkeit keine richterliche Rechtsfortbildung. Gegenständlich werden Beschränkungen durch die Verbandskompetenz der EU nicht relevant. Das europäische Kartellrecht im Binnenmarkt gehört seit jeher zum zentralen Integrationsprogramm der EU, vgl. Art. 3 lit. f EG218 a.F., Art. 3 Abs. 1 in: Roth/Hilpold, Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten, S. 509, 546 f.; Everling, JZ 2000, 217, 224; Grosche, Rechtsfortbildung im Unionsrecht, S. 110 ff. 214 Calliess, NJW 2005, 929, 932; Dänzer-Vanotti, RIW 1992, 733, 737. 215 Dobler, in: Roth/Hilpold, Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten, S. 509, 513; Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, S. 335 (Fn. 330 a.E.); Vogenauer, ZEuP 2005, 234, 254. 216 Vgl. dazu Neuner, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 13 Rn. 3. Zur Unbeachtlichkeit rein nationaler methodischer Maßstäbe bereits S. 62 f. 217 Beispiele eines sog. judicial self-restraint, einer Selbstbeschränkung des Gerichtshofs zugunsten des Gesetzgebers, liefern darüber hinaus etwa EuGH, Urt. v. 26. 4. 1972, Rs. 92/71 – Interfood Hauptzollamt Hamburg, Slg. 1972, 231, 242 Rn. 5; Urt. v. 14. 7. 1972, Rs. 48/69 – ICI/Kommission, Slg. 1972, 619, 656 Rn. 46/49; Urt. v. 19. 10. 1977, verb. Rs. 117/76 und 16/77 – Ruckdeschel/Hauptzollamt Hamburg-St. Annen, Slg. 1977, 1753, 1771 Rn. 13; Urt. v. 15. 6. 1978, Rs. 149/77 – Defrenne/Sabena, Slg. 1978, 1365, 1378 Rn. 23; Urt. v. 9. 7. 1981, Rs. C169/80 – Zollverwaltung/Gondrand Frères, Slg. 1981, 1931, 1942 Rn. 17; vgl. aber auch Bedenken erweckend EuGH, Urt. v. 11. 12. 1973, Rs. 120/73 – Lorenz/Deutschland, Slg. 1973, 1471, 1481 f. Rn. 4; Urt. v. 17. 1. 1980, Rs. 792/97 R – Camera Care/Kommission, Slg. 1980, 119, 129 ff. Rn. 12 ff.; dazu Mayer, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. I, Art. 19 EUV Rn. 72 ff. 218 Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, ABl. 1992 C 224, S. 1, 6.
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
lit. g EG. Entsprechend ist die EU gem. Art. 3 Abs. 1 lit. b AEUV jedenfalls für die Rechtsetzung219 zur „Festlegung der für das Funktionieren des Binnenmarkts erforderlichen Wettbewerbsregeln“ ausschließlich zuständig. Bei Anwendung der beschriebenen allgemeinen Regeln ist die Rechtsprechung daher auch im europäischen Kartellrecht zur Rechtsfortbildung befugt. Vor dem Hintergrund der Zielbestimmung des Protokolls (Nr. 27) zu den Verträgen spricht dabei die praktische Wirksamkeit des Kartellverbots des Art. 101 AEUV (effet utile) zweifelsohne für die Sanktionierung auch der Kartellgehilfen. Aufgrund der Grundrechtsrelevanz kommen aber rechtsstaatliche Grundsätze zum Tragen, die als Ausprägung des institutionellen Gleichgewichts innerhalb der Verbandskompetenz der EU richterliche Rechtsfortbildung ausschließen könnten, indem sie die Rechtsetzung ausschließlich dem Gesetzgeber zuweisen.
D. Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip (auch) als primärrechtliche Interorgangrenze Für den Bereich des Strafrechts bildet eine solche Interorgangrenze das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip (nullum crimen, nulla poena sine lege).220 Es stellt sich in seinem Anwendungsbereich als besonders strenger Gesetzesvorbehalt dar. Die Kompetenzabgrenzung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative innerhalb des institutionellen Gleichgewichts fällt für den Bereich von Strafnormen streng zugunsten des Gesetzgebers aus.221 Der nullum crimen-Grundsatz geht zudem über die Funktion einer Organkompetenzabgrenzung weit hinaus. Jede strafrechtliche Verurteilung bedarf danach einer gesetzlichen Grundlage im Zeitpunkt der deliktischen Handlung oder Unterlassung. An diese sind hohe Bestimmtheitsanforderungen zu stellen. Einher geht ein Verbot der analogen Anwendung durch den Rechtsanwender. Auch diese Teilgewährleistungen sind freilich bei der primärrechtskonformen Auslegung zu berücksichtigen und ziehen die Grenze zulässiger Auslegung. Da letzteres im Fokus der Betrachtung steht, ist vor allem der im Schnittbereich von Rechtsstaats- und Demokratieprinzip liegende gewaltenteilende Gehalt des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips zu betonen. Es gehört wegen der besonderen 219 Allg. M.; Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 3 AEUV Rn. 9; Kotzur, in: Geiger/Khan/Kotzur, EUV/AEUV, Art. 3 AEUV Rn. 3; Lenski, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge, Art. 3 AEUV Rn. 9; Pelka, in: Schwarze u. a., EU-Kommentar, Art. 3 AEUV Rn. 10; Mögele, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 3 AEUV Rn. 6. Art. 3 Abs. 1 lit. b AEUV erstreckt sich darüber hinaus auch auf sämtliche Vorschriften des Kapitels 1 von Teil III, Titel VII des AEUV, insbesondere auch auf Art. 101, 102 AEUV; dazu noch vertiefend unten S. 378 ff. 220 Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 289 ff.; vgl. auch Neuner, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 13 Rn. 38. Die lateinische Formulierung geht zurück auf Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, § 20. 221 Zur allgemeinen Kompetenzabgrenzung zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung im Unionsrecht siehe soeben S. 64 ff.
D. Strafrechtliches Gesetzlichkeitsprinzip als primärrechtliche Interorgangrenze
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Grundrechtsbetroffenheit222 zum Kernbereich der Legislative, Strafnormen zu schaffen.223 Exekutive und Judikative ist die alleinige, strafbegründende Rechtsetzung, auch in Form der Rechtsfortbildung, verwehrt. Sie müssen sich auf die Anwendung und Ausfüllung der gesetzgeberischen Strafbarkeitsentscheidung, wie sie sich aus der Strafnorm ergibt, beschränken. Die Anwendbarkeit dieser strengen Rechtsfortbildungsgrenze zulasten des Täters setzt zunächst die Geltung des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips im Unionsrecht im Allgemeinen (I.) und im unionsrechtlichen Kartellbußgeldrecht im Besonderen (II.) voraus. Sodann bleibt der Gewährleistungsgehalt zu erörtern (III.).
I. Herleitung und Geltung im Unionsrecht Die Geltung des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips im Recht der Europäischen Union lässt sich auf zwei Säulen stützen. Es ergibt sich zum einen aus dem allgemeinen Rechtsstaatsgebot, zum anderen eröffnet sich eine grundrechtliche Anknüpfung.224 1. Das unionsrechtliche Rechtsstaatsgebot Das Rechtsstaatsprinzip liegt der Architektur des Unionsrechts zugrunde. Bereits in der Präambel des EUV findet sich eine Bestätigung des Bekenntnisses zur Rechtsstaatlichkeit, die in Art. 2 EUV als grundlegender Wert genannt ist. Dessen Förderung ist nach Art. 3 Abs. 1 EUV Ziel der Union. Zudem bestätigt die Präambel der Charta der wiederum nach Art. 6 Abs. 1 EUV mit den Verträgen rechtlich gleichrangigen GRC, das Beruhen der Union auf dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit. Das Rechtsstaatsgebot verlangt die (Selbst-)Bindung der Ausübung aller Hoheitsgewalt an das Recht. Diese Begrenzung öffentlicher Gewalt hat wesentlich die Sicherung individueller Freiheit des Bürgers im Blick.225 Hier wird die Abwehrdimension der Grundrechte aktuell. Die beiden Geltungsgründe des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips sind somit miteinander verwoben. Die grundrechtliche Anknüpfung ist mithin ebenso Ausdruck des Rechtsstaatsgebots.226 Vermittelt wird der Schutz individueller Freiheit auch durch die gewaltenteilende Komponente des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips. Diese bindet den Rechtsanwender an das zuvor vom Gesetzgeber verfasste Strafgesetz. Der Gesetzgeber wiederum wird selbst 222
Dazu ausführlich unten S. 138 f. Zu Art. 103 Abs. 2 GG BVerfGE 47, 109, 120; 71, 108, 114; 87, 209, 224; 92, 1, 12; 95, 96, 132; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. VI, Art. 103 Abs. 2 Rn. 180 [30. Lfg.: Dezember 1992]; Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 289. 224 So auch Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 290 f. 225 Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber, Beck-OK, GG, Art. 20 Rn. 138. 226 Zum Konkurrenzverhältnis siehe noch unten S. 135 f. 223
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
verpflichtet, die Strafnorm bestimmt genug auszugestalten. So wird für den besonders schutzbedürftigen Bereich des Strafrechts im Wege der Vorhersehbarkeit für den Bürger Rechtssicherheit geschaffen. Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip ist damit eine besonders wichtige, bereichsspezifische Verdichtung des allgemeinen Rechtsstaatsprinzips227 und auf diesem Weg im Unionsrecht verwurzelt.228 Davon zeugt auch die Rückbindung des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips an den allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsatz der Rechtssicherheit durch den Gerichtshof.229 2. Das Grundrecht aus allgemeinem Rechtsgrundsatz230 gem. Art. 6 Abs. 3 EUV Die grundrechtliche Verankerung des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips lässt sich wiederum nunmehr auf zwei nebeneinanderstehende231 Grundrechtsregime, den sog. prätorischen Grundrechtsschutz (Art. 6 Abs. 3 EUV) und den chartarechtlichen Grundrechtsschutz (Art. 6 Abs. 1 EUV), zurückführen. In Ermangelung eines geschriebenen Grundrechtskatalogs war der EuGH anfangs zurückhaltend bei der Entwicklung ungeschriebener Grundrechte.232 Mit zunehmender Rechtsentwicklung des Gemeinschaftsrechts durch die Anerkennung unmittelbarer Geltung auch gegenüber dem Einzelnen233 und dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht, einschließlich des Verfassungsrechts,234 wurde ein Grundrechtsschutz auch auf Gemeinschaftsebene notwendig.235 227 Vgl. zu Art. 103 Abs. 2 GG Appel, Verfassung und Strafe, S. 563; ders., Jura 2000, 571, 576 f.; Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103 Rn. 54; Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 910; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. VI, Art. 103 Abs. 2 Rn. 166 f. [30. Lfg.: Dezember 1992]. 228 Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 290 f. 229 EuGH, Urt. v. 3. 5. 2007, Rs. C-303/05 – Advocaten voor de Wereld, Slg. 2007, I-3672, I-3693 f. Rn. 45 f.; Urt. v. 3. 6. 2008, Rs. C-308/06 – Intertanko u. a., Slg. 2008, I-4057, I-4126 Rn. 70: „besondere Ausprägung des allgemeinen Grundsatzes der Rechtssicherheit“; EuG, Urt. v. 5. 4. 2006, Rs. T-279/02 – Degussa/Kommission, Slg. 2006, II-897, II-934 Rn. 66; Urt. v. 8. 10. 2008, Rs. T-69/04 – Schunk und Schunk Kohlenstoff-Technik/Kommission, Slg. 2008, II-2567, II-2589 Rn. 28: „Korrelat des Grundsatzes der Rechtssicherheit“ jew. m.w.N. aus der Rspr.; vgl. auch Mayer, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. I, Nach Art. 6 EUV Rn. 380 f. [41. Lfg.: Juli 2010]; zur Einordnung der Rspr. sogeich S. 78 f. 230 Terminologie nach Jarass, EU-Grundrechte, § 2 Rn. 12; ders., GRC, Einl. Rn. 28. 231 Zum Konkurrenzverhältnis noch eingehend S. 129 ff. 232 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 6 EUV Rn. 5; Schmitz, EuR 2004, 691, 691 f. 233 EuGH, Urt. v. 5. 2. 1963, Rs. 26/62 – van Gend & Loos/Niederländische Finanzverwaltung, Slg. 1963, 1, 25. 234 EuGH, Urt. v. 15. 7. 1964, Rs. 6/64 – Costa/ENEL, Slg. 1964, 1251, 1269 ff.; Urt. v. 17. 12. 1970, Rs. 11/70 – Internationale Handelsgesellschaft/Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide, Slg. 1970, 1125, 1135 Rn. 3. 235 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 6 EUV Rn. 5; Schulte-Herbrüggen, ZEuS 2009, 343, 346; siehe auch Beutler, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag,
D. Strafrechtliches Gesetzlichkeitsprinzip als primärrechtliche Interorgangrenze
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Fortan entwickelte der Gerichtshof einen fundierten ungeschriebenen Grundrechtsstandard im Wege allgemeiner Rechtsgrundsätze.236 Diesen sah das BVerfG in seiner Solange II-Entscheidung als „nach Konzeption, Inhalt und Wirkungsweise dem Grundrechtsstandard des Grundgesetzes im wesentlichen gleichzuachten“ an.237 Auch nach dem Vertrag von Lissabon und dem Eintritt der Rechtsverbindlichkeit der Grundrechtecharta hält Art. 6 Abs. 3 EUV an diesem durch den Gerichtshof kasuistisch entwickelten, sog. prätorischen, Grundrechtsschutz fest und stellt ihn neben das Grundrechtsregime der Grundrechtecharta nach Art. 6 Abs. 1 EUV. Die vom EuGH richterrechtlich entwickelten Grundrechte sind danach „als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts“. a) Die mitgliedstaatlichen Verfassungsüberlieferungen Seit Beginn seiner Grundrechtsrechtsprechung beruft sich der Gerichtshof auf die gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten als externe Rechtserkenntnisquelle.238 Dies erscheint einleuchtend, baut die EU doch konstruktiv auf ihren Mitgliedstaaten auf und knüpft damit an deren Rechtstraditionen und -ordnungen an.239 Dabei geht der EuGH im Wege wertender Rechtsvergleichung vor.240 Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip findet sich in den Verfassungsordnungen sämtlicher Mitgliedstaaten mit Ausnahme Dänemarks.241 Weit überwiegend
Bd. 1, Art. 6 EUV Rn. 40; Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152, 153; vgl. ferner BVerfGE 37, 271, 285 – Solange I. 236 Beginnend mit EuGH, Urt. v. 12. 11. 1969, Rs. 29/69 – Stauder/Ulm, Slg. 1969, 419, 425 Rn. 7. 237 BVerfGE 73, 339, 378 – Solange II. 238 GA Roemer, Schlussanträge v. 4. 12. 1958, Rs. 18/57 – Nold/Hohe Behörde, Slg. 1958 – 1959, 119, 163; GA Roemer, Schlussanträge v. 29. 10. 1969, Rs. 29/69 – Stauder/Ulm, Slg. 1969, 427, 428; in EuGH, Urt. v. 12. 11. 1969, Rs. 29/69 – Stauder/Ulm, Slg. 1969, 419, 425 Rn. 7 noch ohne ausdrückliche Herleitung, danach st. Rspr. seit EuGH, Urt. v. 17. 12. 1970, Rs. 11/70 – Internationale Handelsgesellschaft/Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide, Slg. 1970, 1125, 1135 Rn. 4. 239 Skouris, in: Merten/Papier, Hdb. der Grundrechte, Bd. VI/1, § 157 Rn. 31. 240 Zu diesem methodischen Vorgehen siehe bereits oben S. 57. 241 In Dänemark gilt das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip – eingeschränkt durch eine begrenzte, in der Praxis aber wenig relevante, Zulassung der Analogie – im Rang einfachen Rechts gem. § 1 dänisches StGB und Art. 7 EMRK, die den Rang eines einfachen Gesetzes einnimmt; dazu Chryssogonos, EuR 2001, 49, 57; Hofmann, EuGRZ 1992, 253, 255. Auch in den anderen Mitgliedstaaten wird es einfachgesetzlich bestätigt, siehe etwa § 1 deutsches StGB, § 3 deutsches OWiG, Art. 111-3 französischer Code pénal, Art. 1 – 3 griechisches StGB, Art. 1, 2 italienischer Codice penale, Art. 1 niederländisches Wetboek van Strafrecht, § 1 österreichisches StGB, Art. 1 portugiesisches StGB, Art. 1 Abs. 1; 2 Abs. 1 spanischer Codigo penal, Art. 3 litauisches StGB.
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
enthält das jeweilige nationale Verfassungsrecht eine ausdrückliche Bestimmung.242 In Österreich erhält das Gesetzlichkeitsprinzip über Art. 7 EMRK Einzug in das Verfassungsrecht, da die EMRK Teil der Verfassung ist.243 Auch wenn der EMRK in Lettland kein solcher Verfassungsrang zukommt,244 spricht Art. 89 lettische Verfassung einen Schutzauftrag für Grundrechte aus internationalen Übereinkommen aus. Das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland verfügt über keine geschriebene Verfassung nach kontinentaleuropäischem Verständnis. Allerdings ist der Grundsatz der rule of law in der Verfassungsordnung allgemein anerkannt.245 Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip stellt sich dabei als Ausfluss dieses, dem Rechtsstaatsgebot entfernt vergleichbaren246 Prinzips dar247 und findet somit eine Verankerung im Verfassungsrecht. Die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten sprechen somit eine eindeutige Sprache. Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip ist ein
242 So Art. 14 belgische Verfassung, Art. 5 Abs. 3 bulgarische Verfassung, Art. 103 Abs. 2 deutsches GG, § 23 estnische Verfassung, § 8 finnische Verfassung, Art. 8 französische Déclaration des Droites de l’Homme et Citoyen 1789 i.V.m. Präambel der frz. Verfassung, Art. 7 Abs. 1 griechische Verfassung, Art. 15 Abs. 5; 38 irische Verfassung, Art. 25 Abs. 2 italienische Verfassung, Art. 31 kroatische Verfassung, Art. 31 litauische Verfassung, Art. 14 luxemburgische Verfassung, Art. 39 Abs. 8 maltesische Verfassung, Art. 16 niederländische Verfassung, Art. 42 Abs. 1 polnische Verfassung, Art. 29 Abs. 1 portugiesische Verfassung, Art. 23 Abs. 12 rumänische Verfassung, Kap. 2 § 10 schwedische Verfassung, Art. 50 Abs. 6 slowakische Verfassung, Art. 28 slowenische Verfassung, Art. 39 tschechische GrundrechteCharta, Art. XXVIII Abs. 4 ungarische Verfassung, Art. 12 Abs. 1 zypriotische Verfassung. Art. 25 Abs. 1 spanische Verfassung enthält ausdrücklich lediglich ein Rückwirkungsverbot, allerdings sind die anderen Teilgarantien des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips in der Verfassungsrechtsprechung etabliert; Arroyo Zapatero, ZStW 110 (1998), 438, 440; Pascu, Strafrechtliche Fundamentalprinzipien im Gemeinschaftsrecht, S. 117. 243 Durch Beschluss des Nationalrates v. 4. 3. 1964, österreichisches BGBl. Nr. 59/1964, wurde die EMRK gem. Art. 49 Abs. 2 österreichischer Verfassung in den Verfassungsrang erhoben. Zudem findet sich in Art. 18 Abs. 1 österreichisches Bundes-Verfassungsgesetz ein allgemeines Legalitätsprinzip, aus dem auch der nulla poena-Grundsatz abgeleitet werden kann. 244 Vgl. Chryssogonos, EuR 2001, 49, 57. 245 Dicey, Introduction to the Study of the Constitution, S. 179 ff.; Forster, in: Sieber/ Cornils, Nationales Strafrecht in rechtsvergleichender Darstellung, Bd. 1, S. 147, 150; Tsolka, Der allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 74. 246 Forster, in: Sieber/Cornils, Nationales Strafrecht in rechtsvergleichender Darstellung, Bd. 1, S. 147, 150; Pascu, Strafrechtliche Fundamentalprinzipien im Gemeinschaftsrecht, S. 122; zu den Abweichungen zum Rechtsstaatsprinzip kontinentaleuropäischer Prägung Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis von Großbritannien, Bd. I, S. 75 ff. 247 Vgl. Ashworth/Horder, Principles of Criminal Law, S. 56 ff.; Forster, in: Sieber/Cornils, Nationales Strafrecht in rechtsvergleichender Darstellung, Bd. 1, S. 147, 150, Bd. 2, S. 29, 29 f.; Schroth, Economic Offences in EEC Law, S. 164. Zudem wurde mit dem Human Rights Act 1998 die EMRK inkorporiert; dazu Chryssogonos, EuR 2001, 49, 58 f., sodass das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip nunmehr auch in legislativer Gestalt ausdrücklich Eingang in die Rechtsordnung gefunden hat.
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elementarer Grundsatz der mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen, der als gemeinsame Rechtsüberzeugung auch für das Unionsrecht Geltung beansprucht. b) Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK Zeitlich nachfolgend hat sich der EuGH zur Begründung allgemeiner Rechtsgrundsätze auch auf die EMRK gestützt.248 Diesem völkerrechtlichen Vertrag249 zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats zum Schutz elementarer Menschenrechte, dessen Einhaltung vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) überwacht wird, sind fortlaufend sämtliche Mitgliedstaaten der EU beigetreten. Entsprechend sind sie innerstaatlich an die grundlegenden Menschenrechtsgarantien der EMRK gebunden. Die Garantien der EMRK können daher als völkerrechtlicher Ausdruck der gemeinsamen Wertüberzeugungen der EU-Mitgliedstaaten angesehen werden. So ist es nur überzeugend, diese Gewährleistungen auch für den Grundrechtsschutz im Unionsrecht heranzuziehen.250 Dabei berücksichtigt der Gerichtshof die Konventionsgrundrechte in ihrer Auslegung durch den EGMR251 und misst ihnen „besondere Bedeutung“ bei.252 Da die EU (noch) nicht der EMRK beigetreten ist, kann diese nicht in einer formellen Bindung an die Konventionsgrundrechte und einer institutionellen Einbindung in dessen Rechts-
248 Erste Erwähnung findet sie in EuGH, Urt. v. 28. 10. 1975, Rs. 36/75 – Rutili/Minister des Innern, Slg. 1975, 1219, 1232 Rn. 32. In EuGH, Urt. v. 14. 5. 1974, Rs. 4/73 – Nold/Kommission, Slg. 1974, 491, 507 Rn. 13 hat sich der EuGH erstmals in allgemeiner Form auf die internationalen Verträge zum Schutz der Menschenrechte berufen. 249 Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK, Einf. Rn. 5; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 2 Rn. 1; Meyer-Ladewig, EMRK, Einl. Rn. 1; Paeffgen, in: Wolter, SK, StPO, Bd. X, Einl. Rn. 19; Schädler/Jakobs, in: Hannich, KK, StPO, Vor. EMRK Rn. 8. 250 Vgl. Skouris, in: Merten/Papier, Hdb. der Grundrechte, Bd. VI/1, § 157 Rn. 34. 251 EuGH, Urt. v. 12. 12. 1996, verb. Rs. C-74/95 und C-129/95 – X, Slg. 1996, I-6609, I-6637 Rn. 25 (Art. 7 EMRK); Urt. v. 17. 12. 1998, Rs. C-185/95 P – Baustahlgewebe/Kommission, Slg. 1998, I-8417, I-8499 Rn. 29 (Art. 6 EMRK); Urt. v. 3. 5. 2007, Rs. C-303/05 P – Advocaten voor de Wereld, Slg. 2007, I-3672, I-3695 Rn. 50 (Art. 7 EMRK); EuG, Urt. v. 8. 7. 2004, verb Rs. T-67/00, T-68/00, T-71/00 und T-78/00 – JFE Engeneering u. a./Kommission, Slg. 2004, II-2501, II-2582 f. Rn. 178 (Art. 6 EMRK); Urt. v. 5. 4. 2006, Rs. T-279/02 – Degussa/Kommission, Slg. 2006, II-897, II-935 Rn. 69, II-936 Rn. 72 (Art. 7 EMRK); Rodríguez Iglesias, in: Beyerlin u. a., FS Bernhardt, S. 1269, 1275 f.; Skouris, in: Merten/Papier, Hdb. der Grundrechte, Bd. VI/1, § 157 Rn. 36; Theurer, Geldbußen im EU-WettbR, S. 63 m.w.N. aus der Rspr. auch andere Rechte der EMRK betreffend. Nach Inkraftreten der GRC ist diese Berücksichtigung in Abs. 5 S. 1 der Präambel der GRC festgeschrieben. 252 EuGH, Urt. v. 15. 6. 1986, Rs. 222/84 – Johnston/Chief Constable of the Royal Ulster Constabulary, Slg. 1986, 1651, 1682 Rn. 18; Urt. v. 21. 9. 1989, verb. Rs. 46/87 und 227/88 – Hoechst/Kommission, Slg. 1989, 2859, 2923 Rn. 13; Urt. v. 17. 10. 1989, verb. Rs. 97 bis 99/87 – Dow Chemical Ibéria u. a./Kommission, Slg. 1989, 3165, 3184 Rn. 10; Urt. v. 18. 6. 1991, Rs. C-260/89 – ERT, Slg. 1991, I-2925, I-2963 f. Rn. 41; Urt. v. 29. 5. 1997, Rs. C-299/95 – Kremzow, Slg. 1997, I-2629, I-2645 Rn. 14; Urt. v. 12. 6. 2003, Rs. C-112/00 – Schmidberger, Slg. 2003, I-5659, I-5717 Rn. 71.
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schutzsystem bestehen.253 Eine solche unmittelbare Bindung ergibt sich mangels Vorliegen der Voraussetzungen auch nicht im Wege der völkerrechtlichen Funktionsnachfolge der EU in die Position ihrer Mitgliedstaaten ähnlich wie beim GATT 1947254 geschehen.255 Umstritten ist aber, ob die „besondere Bedeutung“ der EMRK als eine besondere Berücksichtigung als Rechtserkenntnisquelle256 oder weitergehend in einer Transformation unmittelbar als allgemeiner Rechtsgrundsatz und damit Teil des Primärrechts257 Ausdruck findet. Die Unterschiede der beiden Positionen werden in den daraus folgenden Bindungen der EU-Organe an die EMRK offenbar. Während letztere Auffassung von einer mittelbaren rechtlichen Bindung an die EMRK-Rechte in unmittelbarer Gestalt
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Zu den rechtlichen Folgen eines solchen Beitritts siehe sogleich S. 81 f. Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen (General Agreement on Tariffs and Trade, GATT) v. 30. 10. 1947, dem Deutschland erst mit Gesetz v. 10. 8. 1951 beigetreten ist, BGBl. II S. 173, siehe auch die Bekanntmachung über den Zeitpunkt des Inkrafttretens, BGBl. II S. 200. Die Rechtsnachfolge der EG bestätigend EuGH, Urt. v. 12. 12. 1972, verb. Rs. 21 bis 24/72 – International Fruit Company/Produktschap voor Groenten en Fruit, Slg. 1972, 1219, 1227 f. Rn. 7/9 ff. 255 Bleckmann, Die Bindung der EG an die EMRK, S. 79; Klein, in: Klein/Pieper/Ress, GS Bleckmann, S. 257, 263 f.; Molthagen, Das Verhältnis der EU-Grundrechte zur EMRK, S. 55 f.; Rengeling, in: Ipsen/Schmidt-Jortzig, FS Rauschning, S. 225, 232 f.; ders./Szczekalla, Grundrechte in der EU, Rn. 174; Ress, in: Haller u. a., FS Winkler, S. 897, 921 f.; Rodríguez Iglesias, in: Beyerlin u. a., FS Bernhardt, S. 1269, 1273 f.; Schmahl, EuR-Beiheft 1/2008, 7, 25; a.A. Pescatore, in: Mosler/Bernhardt/Hilf, Grundrechtssschutz in Europa, S. 64, 70 ff.; Tomuschat, EuR 1990, 340, 357; gewisse Sympathien für den Gedanken der Sukzession auch bei Griller, in: Duschanek/Griller, Grundrechte für Europa, S. 131, 157. 256 So die überwiegende Auffassung; siehe etwa Beutler, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 1, Art. 6 EUV Rn. 57; Ehlers, in: Ehlers, Europ. Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 6, 11, 32; Eiffler, JuS 1999, 1068, 1072; Engels, Unternehmensvorsatz, S. 61; Giegerich, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 2 Rn. 29; Jarass, GRC, Einl. Rn. 29; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 6 EUV Rn. 6, 20 f.; Kizil, JA 2011, 277, 278; Kühling, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 657, 663; Lorenzmeier, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. III, Art. 351 AEUV Rn. 48 [45. Lfg.: August 2011]; Pauly, EuR 1998, 242, 252; Rengeling, in: Ipsen/ Schmidt-Jortzig, FS Rauschning, S. 225, 233; Schorkopf, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. I, Art. 6 EUV Rn. 51 [51. Lfg.: September 2013]; Streinz, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 6 Rn. 25; Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152, 153. Angeknüpft wird an verhaltene Formulierungen des Gerichtshofs, etwa EuG, Urt. v. 14. 5. 1998, Rs. T-347/94 – Mayr-Melnhof/Kommission, Slg. 1998, II-1751, II-1847 Rn. 312, er lasse sich „von den Hinweisen leiten, die die völkerrechtlichen Verträge über den Schutz der Menschenrechte geben, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind.“ 257 So noch gestützt auf den Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 EUV a.F. Klein, in: Klein/Pieper/ Ress, GS Bleckmann, S. 257, 265; ders., in: Merten/Papier, Hdb. der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. VI/1, § 167 Rn. 8. Jedoch sieht Klein, a.a.O. die Argumentation auf den Wortlaut des Art. I-9 Abs. 3 VerfV, der mit Art. 6 Abs. 3 EUV identisch ist, übertragbar. Bleckmann, Die Bindung der EG an die EMRK, S. 79 ff. geht noch darüber hinaus, indem er mit mehrgliedriger Begründung eine unmittelbare Bindung der EU an die EMRK herleitet. 254
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allgemeiner Rechtsgrundsätze ausgeht und ein Unterschreiten258 des Schutzniveaus der EMRK ausschließt,259 verneint erstgenannte Position jegliche rechtliche Bindungen. Ein Unterschreiten des EMRK-Niveaus ist nach ihr rechtlich möglich.260 Allerdings nähern sich die beiden Positionen in der Praxis an. Der Gerichtshof war in seinen Urteilen bemüht, das Schutzniveau der EMRK zu gewährleisten und einen Gleichlauf der Grundrechtsregime herzustellen.261 Bei den bislang aufgetretenen Rechtsprechungsdivergenzen hat der EuGH stets vor dem EGMR entschieden, sodass er sich nicht auf die Straßburger Auslegung stützen konnte.262 Wollte der EuGH von einem Urteil des EGMR abweichen, so arbeitete er die Unterschiede der Sachverhaltskonstellationen sorgfältig heraus und vermied so ein widersprechendes Urteil.263 Zudem berief sich der Gerichtshof zunehmend direkt auf die Vorschriften der EMRK.264 Darin wird bereits ein Verzicht auf seinen Spielraum zur Anerkennung allgemeiner Rechtsgrundsätze gesehen.265 In der Praxis unter Art. 6 Abs. 2 EUV a.F. 258 Ein Überschreiten dieses Mindestschutzniveaus sei hingegen möglich, vgl. Art. 53 EMRK. 259 Klein, in: Klein/Pieper/Ress, GS Bleckmann, S. 257, 266; ders., in: Merten/Papier, Hdb. der Grundrechte, Bd. VI/1, § 167 Rn. 8; Schmahl, EuR-Beiheft 1/2008, 7, 24 f.; unter Hinweis auf das völkerrechtliche Verhältnis der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen zur EMRK ebenfalls die EMRK als Mindestniveau allgemeiner Rechtsgrundsätze ansehend Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290, 326 f. 260 von Danwitz, in: Tettinger/Stern, KöKo, GRC, Art. 52 Rn. 22; Griller, in: Duschanek/ Griller, Grundrechte für Europa, S. 131, 155, aber wiederum kritisch auf S. 156 f.; im Umkehrschluss auch Naumann, EuR 2008, 424, 430. 261 Alber/Widmaier, EuGRZ 2006, 113, 121; Eiffler, JuS 1999, 1068, 1072; Griller, in: Duschanek/Griller, Grundrechte für Europa, S. 131, 155; Kühling, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 657, 703; Rodríguez Iglesias, in: Beyerlin u. a., FS Bernhardt, S. 1269, 1275 ff.; Schneiders, Die Grundrechte der EU und die EMRK, S. 82 f.; Streinz/ Michl, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 6 EUV Rn. 25; Thym, in: Mahler/N. Weiß, Menschenrechtsschutz im Spiegel von Wissenschaft und Praxis, S. 110, 142 ff. Insb. Vertreter einer mittelbaren Bindung der EU an die EMRK (Nachw. in Teil 2 Fn. 257) verweisen darauf, dass der EuGH allein die mitgliedstaatlichen Verfassungsüberlieferungen einer wertenden Betrachtung unterzieht, sich jedoch umfassend an den EMRK-Rechten orientiert. Eine Annäherung der Gerichte verneinend hingegen Ress, in: Haller u. a., FS Winkler, S. 897, 917 ff. 262 Alber/Widmaier, EuGRZ 2006, 113, 118; Calliess, EuZW 2001, 261; Eiffler, JuS 1999, 1068, 1072; Griller, in: Duschanek/Griller, Grundrechte für Europa, S. 131, 155 f.; Rengeling, in: Ipsen/Schmidt-Jortzig, FS Rauschning, S. 225, 233; Rohleder, Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenensystem, S. 370; Thym, in: Mahler/N. Weiß, Menschenrechtsschutz im Spiegel von Wissenschaft und Praxis, S. 110, 142. 263 Griller, in: Duschanek/Griller, Grundrechte für Europa, S. 131, 156; Rohleder, Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenensystem, S. 370 f. 264 Urt. v. 6. 3. 2001, Rs. C-274/99 P – Connolly/Kommission, Slg. 2001, I-1611, I-1675 ff. Rn. 39 ff.; EuGH, Urt. v. 11. 7. 2002, Rs. C-60/00 – Carpenter, Slg. 2002, I-6279, I-6321 Rn. 41 f.; Urt. v. 27. 4. 2006, Rs. C-441/02 – Kommission/Deutschland, Slg. 2006, I-3449, I-3553 Rn. 109; EuG, Urt. v. 5. 4. 2006, Rs. T-279/02 – Degussa/Kommission, Slg. 2006, II-897, II-935 Rn. 67 ff. 265 So Callewaert, EuGRZ 2003, 198, 200; Rohleder, Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenensystem, S. 376; a.A. Skouris, in: Merten/Papier, Hdb. der Grundrechte, Bd. VI/1,
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
entwickelte sich somit jedenfalls eine „faktische Bindung“ an die EMRK.266 Der Gerichtshof kommt damit seiner unionalen Loyaliätspflicht267 sowie dem Gebot völkerrechtsfreundlicher Interpretation nach.268 Über den Wortlaut hinausgehend leitet der EuGH aus Art. 351 Abs. 1 AEUV, nach dem völkerrechtliche Altverträge der Mitgliedstaaten von den Verträgen unberührt bleiben, in Konkretisierung des unionalen Loyalitätsgebots gem. Art. 4 Abs. 3 EUV die Pflicht der EU ab, die Erfüllung der sich aus diesen völkerrechtlichen Verträgen für die Mitgliedstaaten ergebenden Pflichten nicht zu behindern.269 Die EMRK stellt einen Altvertrag i.S.d. Art. 351 Abs. 1 AEUV dar.270 Die sich aus der EMRK ergebenden Pflichten der Mitgliedstaaten hat der EGMR auf die Übertragung von Hoheitsgewalt auf supranationale Organisationen erstreckt, sodass sich die Mitgliedstaaten für konventionswidriges Handeln der EU verantworten müssen.271 Gem. Art. 351 Abs. 2 S. 1 AEUV ist es zunächst den Mitgliedstaaten aufgegeben, die Konfliktlage zu besei§ 157 Rn. 29, der darin lediglich die Verkürzung der herkömmlichen Begründung allgemeiner Rechtsgrundsätze sieht. 266 So Alber/Widmaier, EuGRZ 2006, 113, 121; Kühling, EuGRZ 1997, 296, 297; Rohleder, Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenensystem, S. 376; vgl. auch GA Jacobs, Schlussanträge v. 30. 4. 1996, Rs. C-84/95 – Bosphorus, Slg. 1996, I-3953, I-3972 Rn. 53: „Auch wenn die Gemeinschaft selbst der Konvention nicht beigetreten ist und ohne Änderung sowohl der Konvention als auch des Vertrages nicht beitreten kann, und auch wenn die Gemeinschaft formal nicht an die Konvention gebunden sein mag, kann die Konvention in praktischer Hinsicht doch als Teil des Gemeinschaftsrechts angesehen […] werden.“; Callewaert, EuGRZ 2003, 198, 200 beurteilt diese Rechtsprechungsentwicklung als weitgehende inhaltliche Vorwegnahme des Art. 52 Abs. 3 GRC; Dörr, DVBl. 2006, 1088, 1098 als „freiwillige Rechtsprechungssynchronisierung“ durch sogar „nahtlose („1:1“) Übernahme“; Thym, in: Mahler/N. Weiß, Menschenrechtsschutz im Spiegel von Wissenschaft und Praxis, S. 110, 138 als „de facto-Grundrechtskatalog der Europäischen Union“. Nach Streinz, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 6 EUV Rn. 25 sieht der EuGH die EMRK entsprechend als Mindeststandard an. 267 Giegerich, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 2 Rn. 29; Kühling, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 657, 673. 268 Vgl. Griller, in: Duschanek/Griller, Grundrechte für Europa, S. 131, 157. 269 EuGH, Urt. v. 14. 10. 1980, Rs. 812/79 – Burgoa, Slg. 1980, 2787, 2803 Rn. 9, 11; Lorenzmeier, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. III, Art. 351 AEUV Rn. 28 [45. Lfg.: August 2011]; ders., in: Becker u. a., Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 209, 216 f.; Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 351 AEUV Rn. 20. 270 Molthagen, Das Verhältnis der EU-Grundrechte zur EMRK, S. 61 f.; Kokott, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 351 AEUV Rn. 3; W. Weiß, ZEuS 2005, 323, 343; ders., Die Verteidigungsrecht im Kartellverfahren, S. 120; dies voraussetzend auch Griller, in: Duschanek/Griller, Grundrechte für Europa, S. 131, 156 f. 271 EGMR, Urt. v. 18. 2. 1999 (GK), Nr. 24833/94 – Matthews/Vereinigtes Königreich, Reports of judgments and decisions 1999-I, 255, 265 ff. Rn. 29 ff. = NJW 1999, 3107, 3108; Urt. v. 30. 6. 2005 (GK), Nr. 45036/98 – Bosphorus Hava Yollari Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi/Irland, Reports of judgments and decisions 2005-VI, 113, 156 ff. Rn. 150 ff. = NJW 2006, 197, 201 ff.; Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290, 330 f.; Lenaerts/de Smijter, CMLR 38 (2001), 273, 291; Schmahl, EuR-Beiheft 1/2008, 7, 26; W. Weiß, ZEuS 2005, 323, 343; Winkler, EuGRZ 2001, 18, 24 f.; zuvor bereits schon Ress, in: Haller u. a., FS Winkler, S. 897, 920 f.; W. Weiß, Die Verteidigungsrechte im EG-Kartellverfahren, S. 117 f.
D. Strafrechtliches Gesetzlichkeitsprinzip als primärrechtliche Interorgangrenze
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tigen. Allerdings versperrt Art. 6 Abs. 2 EUV den Ausweg über einen Austritt der Mitgliedstaaten aus der EMRK. Die EU verhielte sich treuwidrig, wenn sie die Mitgliedstaaten zur Kündigung der EMRK bewege, da sie gem. Art. 6 Abs. 2 S. 1 EUV selbst verpflichtet ist, der EMRK beizutreten.272 Die EU muss vielmehr ihrerseits die konventionsrechtlichen Pflichten der Mitgliedstaaten wahren helfen. Entsprechend ist der Gerichtshof gehalten, etwa im Wege völkerrechtsfreundlicher Auslegung des Unionsrechts273 Konflikte mit dem Völkerrecht, hier den mitgliedstaatlichen Pflichten aus der EMRK, zu vermeiden.274 Allerdings darf diese konkretisierte Loyalitätspflicht auch nicht weiterreichen als die diesbezügliche, ausdrückliche Pflichtfestsetzung der Mitgliedstaaten in Art. 6 Abs. 3 EUV.275 Die sich aus der Gesamtschau beider Normen ergebende weitgehende Verpflichtung zur Achtung der konventionsrechtlichen Pflichten der Mitgliedstaaten wird jedenfalls erfüllt, wenn die EMRK das Mindestniveau bildet.276 Zudem kann die Herleitung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes aus den Verfassungsüberlieferungen nicht den Schutz der EMRK unterschreiten, sind die Mitgliedstaaten doch ihrerseits an die EMRK gebunden und müssen durch ihr Recht mindestens das Schutzniveau der EMRK gewährleisten.277 Diese Praxis wird so schließlich auch materiell der Bedeutung der EMRK als gemeinsame Wertübereinkunft der Mitgliedstaaten, die auch für die darauf aufbauende EU Bedeutung verlangt, gerecht. Für das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip ist im Rahmen dieser Arbeit Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK nutzbar zu machen.
272
W. Weiß, ZEuS 2005, 323, 344. Zum Grundsatz völkerrechtsfreundlicher Auslegung etwa Tomuschat, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 4, Art. 281 EG Rn. 65. 274 Vgl. Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290, 331; Lorenzmeier, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. III, Art. 351 AEUV Rn. 28 [45. Lfg.: August 2011]; ders., in: Becker u. a., Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 209, 216 f. (Fn. 40); Molthagen, Das Verhältnis der EU-Grundrechte zur EMRK, S. 62; Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 351 AEUV Rn. 21; kritisch Schneiders, Die Grundrechte der EU und die EMRK, S. 61 f. 275 Nach Klein, in: Hailbronner u. a., HK, EUV/EGV, Art. 234 EG Rn. 7; Kokott, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 351 AEUV Rn. 3 bedarf es für die EMRK wegen ihrer Berücksichtigung im Rahmen allgemeiner Rechtsgrundsätze gem. Art. 6 Abs. 3 EUV keines Rückgriffs auf Art. 351 AEUV. 276 Mit dieser Begründung sieht Molthagen, Das Verhältnis der EU-Grundrechte zur EMRK, S. 62 f. die EMRK als Mindestschutzniveau der Grundrechte aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen an; ebenso unter Betonung allein des Loyalitätsgebots Kühling, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 657, 673; i.E. ebenso Schildknecht, Grundrechtsschranken in der EG, S. 247 f.; Rodríguez Iglesias, in: Beyerlin u. a., FS Bernhardt, S. 1269, 1280. I. E. auch, wenngleich ohne den Zwischenschritt einer unionsrechtlichen Grundlage, Ress, in: Haller u. a., FS Winkler, S. 897, 921, 923. 277 Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290, 326 f. sieht entsprechend ebenso die EMRK als Mindeststandard des prätorischen Grundrechtsschutzes an. 273
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
c) Weitere internationale völkerrechtliche Menschenrechtsabkommen Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip ist darüber hinaus auch völkerrechtlich anerkannt.278 Es findet sich in Art. 11 Nr. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. 12. 1948,279 Art. 15 Abs. 1 S. 1 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vom 19. 12. 1966 (IPBPR)280 sowie in Art. 22, 23, 24 IStGH-Statut.281 Die Rechtsprechung des EuGH zog auch solche anderen internationalen völkerrechtlichen Menschenrechtsabkommen, die für alle Mitgliedstaaten verbindlich sind, als Grundrechtserkenntnisquelle heran,282 betonte aber stets die besondere Bedeutung der EMRK.283 Art. 6 Abs. 3 EUV beschränkt die Rechtserkenntnisquellen hingegen nunmehr auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen und die EMRK. In Bezug auf das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip ändert sich im Ergebnis nichts, da die genannten völkerrechtlichen Verträge ohnehin gleichgerichtet sind und auch zuvor vom EuGH lediglich ergänzend mit dem Ziel der Bestätigung des gefundenen Ergebnisses im völkerrechtlichen Kontext284 herangezogen wurden. d) Zwischenergebnis: Art. 6 Abs. 3 EUV Beide Bezugsquellen allgemeiner Rechtsgrundsätze halten ein strafrechtliches Gesetzlichkeitsprinzip vor. Als allgemeiner Rechtsgrundsatz ist das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip daher gem. Art. 6 Abs. 3 EUV Teil des Unionsrechts.285 Die 278 Ambos, Internationales Strafrecht, § 7 Rn. 8; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 15 Rn. 13 f. 279 Resolution 217 A (III) der Generalversammlung vom 10. 12. 1948, UN-Doc. A/810, S. 71; dt. Übersetzung abrufbar unter http://www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr. pdf, zuletzt besucht am 18. 11. 2014. 280 UN Treaty Series, Bd. 999, S. 171; in der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert durch Gesetz v. 15. 11. 1973, BGBl. II S. 1533. 281 Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. 7. 1998, UN-Doc. A/ CONF.183/9; in der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert durch Gesetz v. 4. 12. 2000, BGBl. II S. 1393. 282 So etwa EuGH, Urt. v. 18. 10. 1989, Rs. 374/87 – Orkem/Kommission, Slg. 1989, 3283, 3351 Rn. 31; Urt. v. 18. 10. 1990, verb. Rs. C-297/88 und C-197/89 – Dzodzi, Slg. 1990, I-3763, I-3800 Rn. 68; Urt. v. 17. 2. 1998, Rs. C-249/96 – Grant, Slg. 1998, I-621, I-650 f. Rn. 44 ff. (jew. zum IPBPR); Urt. v. 27. 6. 2006, Rs. C-540/03 – Parlament/Rat, Slg. 2006, I-5769, I-5822 Rn. 37 (zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes); Urt. v. 11. 12. 2007, Rs. C-438/05 – International Transport Workers’ Federation und Finnish Seamen’s Union, Slg. 2007, I-10779, I-10826 Rn. 43 (zum ILO-Übereinkommen Nr. 87 über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechts). 283 Siehe Nachw. in Teil 2 Fn. 252. 284 Schorkopf, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. I, Art. 6 EUV Rn. 51 (Fn. 90) [51. Lfg.: September 2013]. 285 EuGH, Urt. v. 12. 12. 1996, verb. Rs. C-74/95 und C-129/95 – X, Slg. 1996, I-6609, I-6637 Rn. 25; Urt. v. 3. 5. 2007, Rs. C-303/05 P – Advocaten voor de Wereld, Slg. 2007, I-3672, I-3694 f. Rn. 46, 49; EuG, Urt. v. 5. 4. 2006, Rs. T-279/02 – Degussa/Kommission, Slg. 2006,
D. Strafrechtliches Gesetzlichkeitsprinzip als primärrechtliche Interorgangrenze
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Teilgarantien des Vorbehalts des Gesetzes,286 der Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit von Rechtsnormen287 entwickelte der EuGH dabei ursprünglich ohne Rückgriff auf das spezifisch strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip allein als Ausfluss des allgemeinen Grundsatzes der Rechtssicherheit. Allein zur Begründung des Rückwirkungsverbots von Sanktionsnormen zog er speziell den strafrechtlichen Garantiegehalt des Art. 7 EMRK heran.288 Auch wenn der allgemeine Grundsatz der Rechtssicherheit auf die Intensität des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips verdichtet werden kann, begründet diese Herleitung die Gefahr, das Wesen der spezifisch strafrechtlichen Grundsätze aus dem Blick zu verlieren. Wesentlich sind ihre Formalisierung und Strenge.289 Der allgemeine Grundsatz der Rechtssicherheit ist demgegenüber auf einem denkbar breitem Spektrum abwägungsunterworfen.290 Je stärker der Eingriff, desto größeren Schutz bedarf der Bürger. Diese Gefahr der Verwässerung spezifisch strafrechtlichen Schutzniveaus nach Art. 6 Abs. 3 EUV sollte nunmehr obsolet geworden sein. Der Gerichtshof hat nun jedenfalls in formaler Hinsicht ausdrücklich den Grundsatz des nullum crimen, nulla poena sine lege als spezifisch strafrechtlichen Grundsatz auch für die anderen Teilgarantien anerkannt.291 Unter Rückgriff auf Art. 7 EMRK inklusive der dazu ergangenen Rechtsprechung des EGMR292 und neuerdings verstärkenden Hinweis auf Art. 49 GRC zieht der Gerichtshof unter diesem Stichwort spezifisch strafrechtliche Maßstäbe II-897, II-934 Rn. 66; Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1553 Rn. 113; Satzger, Die Europäisiserung des Strafrechts, S. 177 f. 286 EuGH, Urt. v. 21. 9. 1989, verb. Rs. 46/87 und 227/88 – Hoechst/Kommission, Slg. 1989, 2859, 2924 Rn. 19; Urt. v. 17. 10. 1989, verb. Rs. 97 bis 99/87 – Dow Chemical Ibéria u. a./ Kommission, Slg. 1989, 3165, 3186 Rn. 16; bestätigend EuG, Urt. v. 9. 7. 2003, Rs. T-224/00 – Archer Daniels Midland und Archer Daniels Midland Ingredients/Kommission, Slg. 2003, II-2597, II-2715 Rn. 340 f. 287 EuGH, Urt. v. 9. 7. 1981, Rs. 169/80 – Zollverwaltung/Gondrand Frères, Slg. 1981, 1931, 1942 Rn. 17: „klar und deutlich“; Urt. v. 25. 9. 1984, Rs. 117/83 – Könecke/BALM, Slg. 1984, 3291, 3302 Rn. 11: „klaren und unzweideutigen Rechtsgrundlage“. 288 EuGH, Urt. v. 10. 7. 1984, Rs. 63/83 – Regina/Kirk, Slg. 1984, 2689, 2718 Rn. 22; Urt. v. 28. 6. 2005, verb. Rs. C-189/02 P, C-202/02 P, C-205/02 P bis C-208/02 P und C-213/02 P – Dansk Rørindustri u. a./Kommission, Slg. 2005, I-5425, I-5564 Rn. 202. 289 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. VI, Art. 103 Abs. 2 Rn. 167 [30. Lfg.: Dezember], 255 [48. Lfg.: November 2006]; Schwarze, EuZW 2003, 261, 264; vgl. auch BVerfGE 95, 96, 131; eingehend dazu noch unten S. 179 ff. 290 Beispielhaft ist die Rechtsprechung des EuGH zum allgemeinen Rückwirkungsverbot, die Ausnahmen vom Rückwirkungsverbot nach einer Interessenabwägung zulässt; etwa EuGH, Urt. v. 25. 1. 1979, Rs. 98/78 – Racke/Hauptzollamt Mainz, Slg. 1979, 69, 86 Rn. 20; Urt. v. 25. 1. 1979, Rs. 99/78 – Decker/Hauptzollamt Landau, Slg. 1979, 101, 111 Rn. 8; Urt. v. 12. 11. 1981, verb. Rs. 212 bis 217/80 – Amministrazione delle finanze dello Stato/Salumi Slg. 1981, 2735, 2751 Rn. 10. 291 Bei formaler Betrachtung unzutreffend ist daher die Einschätzung von Mayer, in: G/H/ N, Das Recht der EU, Bd. I, Nach Art. 6 EUV Rn. 380 [41. Lfg.: Juli 2010], ihm folgend Streinz, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 49 GRC Rn. 3, der Gerichtshof verzichte auf eine strafrechtliche Anknüpfung unter dem Stichwort nullum crimen, nulla poena sine lege. 292 Siehe die Nachw. in Teil 2 Fn. 251.
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
heran.293 Noch eingehender Erörterung bedarf aber, ob der Gerichtshof auch materiell die Konsequenzen der spezifisch strafrechtlichen Grundsätze zieht oder der Sache nach auch weiterhin einer flexiblen Anwendung der allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätze verhaftet ist, wo es die spezifisch strafrechtlichen Garantien aber nicht erlauben.294 3. Das justizielle Recht aus Art. 49 Abs. 1 GRC i.V.m. Art. 6 Abs. 1 EUV Eine unmittelbar verbindliche Kodifizierung des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips findet sich nunmehr in Art. 49 Abs. 1, 2 GRC. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union geht auf die Arbeiten eines Konvents unter der Leitung von Roman Herzog zurück. Sie wurde bereits im Jahr 2000 feierlich proklamiert,295 was 2007 in überarbeiteter und ergänzter Fassung wiederholt wurde.296 Nachdem der EuGH seinen Grundrechtsschutz allein durch Herausbilden ungeschriebener allgemeiner Rechtsgrundsätze, gestützt auf gemeinsame Verfassungsüberlieferungen und völkerrechtliche Abkommen und Institute, insbesondere die EMRK, entwickelte,297 zog er erstmals die GRC in seinem Urteil Familienzusammenführung heran.298 Dabei dienten die Gewährleistungen der GRC lediglich der Bestärkung des aus den genannten externen Quellen hergeleiteten Grundrechtsschutzes.299 Diese Bedeutung leitete der EuGH allein aus einer Selbstbindung der Legislative her, die sich auf einer Bezugnahme auf die GRC in den Erwägungsgründen des jeweiligen Rechtsaktes gründete.300
293 EuGH, Urt. v. 3. 5. 2007, Rs. C-303/05 P – Advocaten voor de Wereld, Slg. 2007, I-3672, I-3694 ff. Rn. 46, 49 ff.; Urt. v. 3. 6. 2008, Rs. C-308/06 – Intertanko u. a., Slg. 2008, I-4057, I-4126 Rn. 70 f.; Urt. v. 22. 8. 2008, Rs. C-266/06 P – Degussa/Kommission, Slg. 2008, I-81*, Rn. 38; Urt. v. 29. 3. 2011, Rs. C-352/09 P – Thyssen Krupp Nirosta/Kommission, Slg. 2011, I-2359, I-2436 Rn. 80; EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1552 f. Rn. 112 ff., II-1563 f. Rn. 139 f. 294 Zum Problem der Normambivalenz S. 173 ff., zur Frage nach Abstufungen des Gewährleistungsgehalts S. 177 ff., zusammenfassend S. 218 ff. 295 ABl. 2000 C 364, S. 1. 296 ABl. 2007 C 303, S. 1. 297 Dazu oben S. 70 ff. 298 EuGH, Urt. v. 27. 6. 2006, Rs. C-540/03 – Parlament/Rat (Familienzusammenführung), Slg. 2006, I-5769, I-5822 f. Rn. 38. 299 EuGH, Urt. v. 3. 5. 2007, Rs. C-303/05 P – Advocaten voor de Wereld, Slg. 2007, I-3672, I-3694 Rn. 46; EuG, Urt. v. 30. 1. 2002, Rs. T-54/99 – max.mobil/Kommission, Slg. 2002, II-313, II-333 Rn. 48; Urt. v. 3. 5. 2002, Rs. T-177/01 – Jégo-Quéré/Kommission, Slg. 2002, II-2365, II-2381 Rn. 42; Urt.v. 18. 12. 2007, Rs. C-341/05 – Laval un Partneri , Slg. 2005, I-11767, I-11884 Rn. 91; Calliess, EuZW 2001, 261, 267; Ehlers, in: Ehlers, Europ. Grundrechte und Grundfreiheiten3, § 14 Rn. 25; Grabenwarter, DVBl. 2001, 1, 11. 300 EuGH, Urt. v. 27. 6. 2006, Rs. C-540/03 – Parlament/Rat, Slg. 2006, I-5769, I-5822 f. Rn. 38; Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 1 GRC Rn. 1; Ehlers, in: Ehlers, Europ. Grundrechte und Grundfreiheiten3, § 14 Rn. 25.
D. Strafrechtliches Gesetzlichkeitsprinzip als primärrechtliche Interorgangrenze
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Erst mit dem Vertrag von Lissabon wurde die GRC schließlich rechtsverbindlich.301 War nach dem Entwurf für eine Verfassung für Europa anfangs noch vorgesehen, den Grundrechtskatalog der GRC dem Verfassungsvertrag voranzustellen,302 später ihn in seiner Mitte aufzunehmen,303 so bestimmt Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 Hs. 2 EUV nun ohne Bedeutungsverlust,304 dass die eigenständige GRC und die Verträge, EUV und AEUV (Art. 1 Abs. 3 S. 1 EUV), rechtlich gleichrangig sind. Die Europäische Union verfügt somit nunmehr über einen eigenständigen, geschriebenen Grundrechtskatalog. Das Unionsrecht enthält in Art. 49 Abs. 1, 2 GRC somit ebenfalls ein geschriebenes strafrechtliches Gesetzlichkeitsprinzip, das gem. Art. 6 Abs. 1 EUV auf dem Rechtsrang der Verträge steht. 4. Art. 6 Abs. 2 S. 1 EUV und der Beitritt der EU zur EMRK Durch den Vertrag von Lissabon wurde in Art. 6 Abs. 2 EUV zudem die Absicht der Europäischen Union aufgenommen, der EMRK selbst beizutreten. Dadurch würde die EMRK auch für die Unionsorgane gem. Art. 216 Abs. 2 AEUV unmittelbar verbindlich,305 über deren Einhaltung der EGMR als externes Rechtsprechungsorgan wachte.306 Durch das 14. Protokoll zur EMRK307 wurden im Europarat bereits im Jahr 2004 die rechtlichen Weichen für einen Beitritt gestellt.308 Allerdings 301 Erklärungen zur Schlussakte der Regierungskonferenz, die den am 13. Dezember 2007 unterzeichneten Vertrag von Lissabon angenommen hat, A. 1. Abs. 1, ABl. 2010 C 83, S. 335, 337; Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 1 GRC Rn. 1; Jarass, GRC, Einl. Rn. 6; Schulte-Herbrüggen, ZEuS 2009, 343, 346. 302 Europäischer Konvent, Bericht des Vorsitzenden der Gruppe II – „Einbeziehung der Charta/Beitritt zur EMRK“ v. 22. 10. 2002, CONV 354/02, S. 3. 303 So die Endfassung des Vertrags über eine Verfassung für Europa; vgl. Teil II (Art. II-61 bis Art. II-114 EVV), ABl. 2004 C 310, S. 41 ff. 304 Geiger, in: Geiger/Khan/Kotzur, EUV/AEUV, Art. 6 EUV Rn. 8; Schorkopf, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. I, Art. 6 EUV Rn. 9 [51. Lfg.: September 2013]; Streinz, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 6 EUV Rn. 2. 305 Die EMRK nähme im Unionsrecht einen Rang zwischen Primär- und Sekundärrecht ein; Kizil, JA 2011, 277, 278; Obwexer, EuR 2012, 115, 143; Pache/Rösch, EuR 2009, 769, 785; Schulte-Herbrüggen, ZEuS 2009, 343, 363; Streinz/Michl, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 6 EUV Rn. 21; Weber, DVBl. 2003, 220, 226; W. Weiß, ZEuS 2005, 323, 348. 306 Ehlers, in: Ehlers, Europ. Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 32; Schorkopf, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. I, Art. 6 EUV Rn. 48 [51. Lfg.: September 2013]; SchulteHerbrüggen, ZEuS 2009, 343, 362 f.; vertiefend zu den Auswirkungen eines Beitritts der EU zur EMRK auf den Grundrechtsschutz in der EU etwa W. Weiß, ZEuS 2005, 323, 348 ff.; speziell zum Verhältnis von EuGH und EGMR etwa Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563, 569. 307 Protokoll Nr. 14 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Änderung des Kontrollsystems der Konvention, SEV 194; in Deutschland ratifiziert durch Gesetz vom 21. 2. 2006, BGBl. II S. 138. 308 Art. 59 Abs. 2 EMRK n.F. lautet nunmehr: „Die Europäische Union kann dieser Konvention beitreten.“
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
ist das unionsrechtliche Beitrittsverfahren nach Art. 216 Abs. 1, 218 AEUV weiter zu beschreiten.309 Die EMRK ist daher (noch) keine direkte310 Grundrechtsquelle des Unionsrechts. 5. Niederschlag im Sekundärrecht Schon vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon und dem einhergehenden Eintritt der Rechtsverbindlichkeit der GRC wurde das richterrechtlich als allgemeiner Rechtsgrundsatz gewonnene strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip bereits in Vorschriften des Sekundärrechts niedergelegt. Für verwaltungsrechtliche Maßnahmen und Sanktionen zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union bestimmt etwa Art. 2 Abs. 2 VO 2988/95,311 dass eine „verwaltungsrechtliche Sanktion“ nur dann verhängt werden kann, „wenn sie in einem Rechtsakt der Gemeinschaften vor dem Zeitpunkt der Unregelmäßigkeit vorgesehen wurde.“ Im Rang des Sekundärrechts gewinnen diese Normen allerdings nur Bedeutung im Anwendungsbereich des jeweiligen Rechtsaktes.312 6. Zwischenergebnis Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip findet somit in mehrfacher Verankerung Anwendung im Recht der Europäischen Union.
II. Anwendbarkeit im unionsrechtlichen Kartellbußgeldrecht Von seiner allgemeinen Geltung im Unionsrecht kann indes nicht auf die Anwendbarkeit des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips auch im unionsrechtlichen Kartellbußgeldrecht geschlossen werden. Unstreitig zielt das Gesetzlichkeitsprinzip zunächst auf die Kriminalstraftat und die Kriminalstrafe. Es stellt sich daher die Frage, ob auch das Kartellbußgeldrecht dem Kriminalstrafrecht zuzuordnen oder ob zumindest der Anwendungsbereich des Gesetzlichkeitsgrundsatzes auf verwandte Sanktionen zu erstrecken ist. Erstgenannter Weg ist schon deshalb verbaut, weil der EU – auch nach dem Vertrag von Lissabon – keine Kompetenz für das Kriminal309
Vgl. dazu das beim EuGH anhängige Gutachtenverfahren 2/13, mit dem die Kommission gem. Art. 218 Abs. 11 AEUV prüfen lässt, ob der Entwurf des Vertrags über den Beitritt der Europäischen Union zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten mit den Unionsverträgen vereinbar ist. 310 Zur Bedeutung der EMRK für die GRC nach Art. 52 Abs. 3 GRC siehe unten S. 112 ff., zur Bedeutung der EMRK im Rahmen des prätorischen Grundrechtsschutzes nach Art. 6 Abs. 3 EUV siehe bereits S. 73 ff. 311 Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, ABl. 1995 L 312, S. 1. 312 Zur VO 2988/95 und der Übertragbarkeit ihrer Bestimmungen auf die VO 1/2003 siehe noch unten S. 365 ff.
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strafrecht im Bereich des Wettbewerbsrechts zukommt.313 Zu klären ist mithin der Anwendungsbereich des „strafrechtlichen“ Gesetzlichkeitsprinzips im Unionsrecht. Zentrale Bedeutung gewinnt mithin der Begriff der „Strafe“. Dazu sind wiederum die fünf genannten Verbürgungen im Unionsrecht und ihre jeweiligen Anwendungsbereiche in den Blick zu nehmen. Die Bedeutung der EMRK und der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen für den unionsrechtlichen Grundrechtsschutz erschöpft sich dabei nicht nur in der Gewinnung von Grundrechten aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen durch den Gerichtshof gem. Art. 6 Abs. 3 EUV. Über die konventionsrechtliche Bindung der Mitgliedstaaten, die sich auch auf die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Organisationen erstreckt,314 ist auch das supranationale Unionsrecht an den Garantien der EMRK zu messen, wenngleich diese die EU nicht formell binden.315 Betroffene, die in ihren Geltungsbereich fallen, können bei Verstößen Individualbeschwerde gem. Art. 34 S. 1 EMRK gegen die Mitgliedstaaten einlegen, in deren Staatsgebiet sich die Verletzung ereignet hat.316 Beide Grundrechtsgehalte sind zudem durch primärrechtliche Anordnung in Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 EUV i.V.m. Art. 52 Abs. 3 und 4 GRC bei der Auslegung und Anwendung der Grundrechte der GRC heranzuziehen. Daher ist hier, nachdem das sekundäre Kartellbußgeldrecht sowie das allgemeine Rechtsstaatsprinzip betrachtet wurde, zunächst der Anwendungsbereich des Gesetzlichkeitsprinzips, wie es sich aus Art. 7 Abs. 1 EMRK sowie aus den gemein313
Diskutiert wird allerdings über eine Kompetenz zum Erlass supranationalen Strafrechts v. a. zum Schutz der finanziellen Interessen der EU nach Art. 325 Abs. 4 AEUV; diese bejahend etwa Grünewald, JZ 2011, 972, 973 ff.; Hecker, Europäisches Strafrecht, § 4 Rn. 82; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 8 Rn. 24 f.; Vogel, in: Sieber u. a., Europäisches Strafrecht, § 5 Rn. 6; ablehnend hingegen Sturies, HRRS 2012, 273, 276 ff. Satzger, a.a.O., § 8 Rn. 25 sieht auch in Art. 33 AEUV eine Kompetenz zum Erlass supranationaler Kriminalstraftatbestände zum Schutz des Zollwesens. Gleiches erkennt ders., a.a.O., § 8 Rn. 26 Art. 79 Abs. 2 lit. c und lit. d AEUV zum Schutz der dort genannten Rechtsgüter zu; diesbezüglich ablehnend hingegen Grünewald, JZ 2011, 972, 974. 314 Siehe bereits oben S. 76. 315 A. Koch, Verwaltungssanktionen im europäischen und niederländischen Verwaltungsund Kartellrecht, S. 51 f.; Lorenzmeier, ZIS 2008, 20, 24 f.; Paeffgen, in: Wolter, SK, StPO, Bd. X, Art. 7 EMRK Rn. 11; Renzikowski, in: Pabel/Schmahl, IntKomm, EMRK, Bd. 1, Art. 7 Rn. 22 [12. Lfg.: Mai 2009]; Rodríguez Iglesias, in: Beyerlin u. a., FS Bernhardt, S. 1269, 1279; siehe auch Weber, DVBl. 2003, 220, 225; auf die „gesteigerte Indizwirkung der EMRK“ für den prätorischen Grundrechtsschutz verweisend Heine, ZStrR 2007, 105, 114 (Fn. 41); ähnlich Kindhäuser, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 EG Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 17 [69. Lfg.: August 2009]. Siehe oben S. 73 ff. zur EMRK als jedenfalls faktischer Mindeststandard des prätorischen Grundrechtsschutzes nach Art. 6 Abs. 3 EUV. 316 Busse, NJW 2000, 1074, 1078; Ress, in: Haller u. a., FS Winkler, S. 897, 920 f. Die Bestimmung des Beschwerdegegners hängt mit davon ab, woran man die konventionsrechtliche Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten knüpft, an die Übertragung von Hoheitsrechten oder die gemeinsame Aufgabenerfüllung auf supranationaler Ebene. Zugunsten letzterer und damit aller Mitgliedstaaten als Beschwerdegegner für ein Außenhandeln eines EU-Organs S. Winkler, EuGRZ 2001, 18, 24 f., für eine individuelle Verantwortlichkeit anhand des betroffenen Staatsgebiets hingegen Ress, a.a.O.
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samen Verfassungsüberlieferungen ergibt, zu bestimmen, bevor mit dieser Hilfe der Anwendungsbereich des allgemeinen Rechtsgrundsatzes abzuleiten und sodann anhand der Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 EUV i.V.m. Art. 52 Abs. 3 und 4 GRC zu erörtern ist, ob die Gewährleistungen des Art. 49 Abs. 1 GRC auch im unionsrechtlichen Kartellverfahrensrecht Anwendung finden. 1. Keine sekundärrechtliche Normierung im Kartellbußgeldrecht Die Vorgaben des Gesetzlichkeitsprinzips wurden nicht in der VO 1/2003, der die Sanktionsnorm zu entnehmen ist, niedergelegt. Allerdings „wahrt“ diese Verordnung nach Erwägungsgrund 37 S. 1 „die Grundrechte und steht im Einklang mit den Prinzipien, die insbesondere in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert sind.“317 „Demzufolge ist diese Verordnung in Übereinstimmung mit diesen Rechten und Prinzipien auszulegen und anzuwenden.“ Dieser Aussage kommt nach der Rechtsverbindlichkeit der GRC kein über das Gebot primärrechtskonformer Auslegung318 hinausgehender rechtlicher Gehalt zu. Im Folgenden sind daher diese primärrechtlichen Vorgaben zu betrachten. 2. Die Anwendbarkeit des allgemeinen Rechtsstaatsprinzips Da die Gewährleistungen des Rechtsstaatsprinzips auf jegliches hoheitliches Eingriffshandeln Anwendung finden, steht ihre Geltung im unionsrechtlichen Kartellrecht außer Frage. Art. 23 VO 1/2003 ermächtigt die Kommission zur Bußgeldverhängung bei Kartellrechtsverstößen. Das Kartellsanktionenrecht ist mithin – formell betrachtet – der Eingriffsverwaltung zuzuordnen. Der Grundsatz der Rechtssicherheit gebietet dabei die Geltung des Vorbehalts des Gesetzes,319 das weiter „klar und deutlich“ sein muss, „damit er [der Betroffene] seine Rechte und Pflichten unzweideutig erkennen und somit seine Vorkehrungen treffen kann“320 und den Rechtsanwender bindet321 sowie ein allgemeines Rückwirkungsverbot.322 Erst in 317
Zur ambivalenten Berücksichtigung der Begründungserwägungen bei der Auslegung siehe in und bei Teil 2 Fn. 86. 318 Dazu bereits oben S. 58. Da die Unionsgrundrechte Teil des Primärrechts sind, kann auch von unionsgrundrechtskonformer Auslegung gesprochen werden, so etwa Ehlers, in: Ehlers, Europ. Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 49. 319 EuGH, Urt. v. 21. 9. 1989, verb. Rs. 46/87 und 227/88 – Hoechst/Kommission, Slg. 1989, 2859, 2924 Rn. 19; Urt. v. 17. 10. 1989, verb. Rs. 97 bis 99/87 – Dow Chemical Ibéria u. a./ Kommission, Slg. 1989, 3165, 3186 Rn. 16; bestätigend EuG, Urt. v. 9. 7. 2003, Rs. T-224/00 – Archer Daniels Midland und Archer Daniels Midland Ingredients/Kommission, Slg. 2003, II-2597, II-2715 Rn. 340 f. 320 EuGH, Urt. v. 9. 7. 1981, Rs. 169/80 – Zollverwaltung/Gondrand Frères, Slg. 1981, 1931, 1942 Rn. 17; ähnlich Urt. v. 25. 9. 1984, Rs. 117/83 – Könecke/BALM, Slg. 1984, 3291, 3302 Rn. 11. 321 Ein aus dem allgemeinen Bestimmtheitsgebot folgendes verwaltungsrechtliches Analogieverbot bejahen etwa Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 402 f. m.w.N. zur Rspr. des
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einem zweiten Schritt bliebe zu klären, welche Intensität dieser Maßstab des allgemeinen Rechtsstaatsprinzips im Kartellrecht erreicht. Diese Bestimmung des Gewährleistungsgehalts ist eine Frage der Abwägung mit der Effektivität des Verwaltungshandelns. Als allgemeiner rechtsstaatlicher Grundsatz ist er der Abwägung zugänglich und bildet mithin einen gleitenden Maßstab.323
3. Der Anwendungsbereich des Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK Nach Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK darf „niemand […] wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war.“ Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK erweitert das enthaltene Rückwirkungsverbot (nullum crimen, nulla poena sine lege praevia) auf eine verschärfte Strafe. Art. 7 Abs. 2 EMRK schränkt Abs. 1 ein, indem er eine Strafbarkeit und Verurteilung „nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ erlaubt. Der Anwendungsbereich des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips der EMRK erstreckt sich damit in persönlicher Hinsicht auf die Umschreibung „niemand“ (engl. „No one“, frz. „Nul“)324 und in sachlicher Hinsicht auf Verurteilungen (engl. „be held guilty“, frz. „être condamné“, Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK) oder die Verhängung von Strafe (engl. „penalty be imposed“, frz. „il n’est infligé aucune peine“, Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK) wegen einer strafbaren Handlung oder Unterlassung (engl. „any act or omission“, frz. „une action ou une omission“). Die im zweiten Halbsatz des Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK enthaltenen Merkmale, namentlich das Erfordernis der Strafbarkeit der Handlung oder Unterlassung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht zur Zeit ihrer Begehung, benennen dagegen den Gewährleistungsgehalt dieser Garantie. Darauf wird später noch einzugehen sein.325 Zunächst ist zu klären, ob Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK auch auf das unionsrechtliche Kartellbußgeldverfahrensrecht Anwendung findet. EuGH; Langenbucher, Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1999, S. 65, 77; Neuner, in: Riesenhuber, Europ. Methodenlehre, § 13 Rn. 39; im dt. Recht BVerfG, NJW 1996, 3146; Krey, Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht, S. 241 ff.; ders., in: Schwind u. a., FS Blau, S. 123, 147 ff.; zu den verfassungsrechtlichen Grenzen der Rechtsanwendung siehe bereits oben S. 64 f. 322 EuGH, Urt. v. 25. 1. 1979, Rs. 98/78 – Racke/Hauptzollamt Mainz, Slg. 1979, 69, 86 f. Rn. 20; Urt. v. 25. 1. 1979, Rs. 99/78 – Decker/Hauptzollamt Landau, Slg. 1979, 101, 111 f. Rn. 8; Urt. v. 12. 11. 1981, verb. Rs. 212 bis 217/80 – Amministrazione delle finanze dello Stato/ Salumi, Slg. 1981, 2735, 2751 Rn. 10; Urt. v. 9. 1. 1990, Rs. C-337/88 – SAFA, Slg. 1990, I-1, I-18 f. Rn. 13; Urt. v. 13. 11. 1990, Rs. C-331/88 – Fedesa u. a., Slg. 1990, I-4023, I-4069 Rn. 45, 47; Urt. v. 21. 2. 1991, verb. Rs. C-143/88 und 92/89 – Zuckerfabrik Süderdithmarschen und Zuckerfabrik Soest, Slg. 1991, I-421, I-548 Rn. 49. 323 Siehe soeben S. 78 f. 324 Nur die englische und französische Sprachfassungen der EMRK sind gleichermaßen verbindlich. 325 S. 138 ff.
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a) Niemand Betroffene im Kartellverfahren nach der VO 1/2003 sind ausschließlich „Unternehmen“ und „Unternehmensvereinigungen“. Adressat der Bußgeldentscheidung sind die Inhaber dieser Unternehmen,326 mithin fast ausschließlich juristische Personen.327 Im deutschen Schrifttum wird vereinzelt328 die Strafrechtlichkeit der Geldbuße abgelehnt, da sich eine strafrechtliche Sanktion nur gegen natürliche Personen richten könne. Auch juristische Personen sind jedoch vom umfassenden Wortlaut „niemand“ (engl. „no one“, frz. „nul“) erfasst.329 Eine Beschränkung des Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK auf natürliche Personen gebieten auch nicht Systematik und Telos der Norm.330 So sind juristische Personen allgemein gem. Art. 34 EMRK beschwerdeberechtigt.331 Auch der Wortlaut des Art. 1 EMRK, nach dem „die Hohen Vertragsparteien […] allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in Abschnitt I bestimmten Rechte und Freiheiten“ zusichern, beschränkt die Bindungen der Signatarstaaten nicht auf natürliche Personen.332 Schließlich knüpft Art. 7 EMRK nicht an Eigenschaften an, die nur natürlichen Personen zu Eigen sind, sodass die strafrechtlichen Garantien ihrem Wesen nach auch auf juristische Personen anwendbar sind.333 Soweit Strafvorschriften auch juristische Personen adressieren, sind 326
Siehe noch näher unten S. 331 f. Vgl. Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. II/1, Vor. § 81 GWB Rn. 88 zur Kommissionspraxis. 328 Frenz, Hdb. Europarecht1, Bd. 2: Europ. KartellR, Rn. 1587; nunmehr unklar ders., Hdb. Europarecht, Bd. 2: Europ. KartellR., Rn. 2887 ff. 329 So auch zum Gewährleistungsgehalt des nicht wortgleichen Art. 6 EMRK („Jede Person“, engl. „everyone“, frz. „Toute personne“) A. Koch, Verwaltungssanktionen im europäischen und niederländischen Verwaltungs- und Kartellrecht, S. 57; Lorenzmeier, ZIS 2008, 20, 26. 330 Ebenso zum prätorischen Grundrechtsschutz Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 295; zu Art. 6 EMRK EKMR, Bericht v. 30. 5. 1991, Nr. 11.598/85 – Société Stenuit/ Frankreich, Série B n8 213-A = Anhang zu EGMR, Urt. v. 27. 2. 1992, Nr. 11598/85 – Société Stenuit/Frankreich, Série A n8 232, S. 9, 14 Rn. 66. 331 Engels, Unternehmensvorsatz, S. 61 (noch zu Art. 25 EMRK a.F.); Lorenzmeier, ZIS 2008, 20, 26; vgl. einerseits Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 34 Rn. 10; Frowein, in: Frowein/ Peukert, EMRK, Art. 1 Rn. 3, die juristische Personen unter das Merkmal der „Personengruppe“ (engl. „group of individuals“; frz. „group de particuliers“) subsumieren und andererseits Paeffgen, in: Wolter, SK, StPO, Bd. X, Einl. EMRK Rn. 126; Rogge, in: Pabel/Schmahl, IntKomm, EMRK, Bd. 2, Art. 34 Rn. 130 ff. [6. Lfg.: Februar 2004], die juristische Personen – im Ergebnis identisch – als „nichtstaatliche Organisation“ (engl. „non-governmental organisation“; frz. „organisation non gouvernementale“) erfassen. 332 Lorenzmeier, ZIS 2008, 20, 26. Vgl. Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 1 Rn. 3; Johann, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art. 1 Rn. 17; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 1 Rn. 16. 333 Allgemein zur Abgrenzung der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen nach dem Wesen des jeweiligen Rechts Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 17 Rn. 5; speziell zu Art. 6 EMRK EKMR, Bericht v. 30. 5. 1991, Nr. 11.598/85 – Société Stenuit/Frankreich, Série B n8 213-A = Anhang zu EGMR, Urt. v. 27. 2. 1992, Nr. 11598/85 – Société Stenuit/Frankreich, Série A n8 232, S. 9, 14 Rn. 66; A. Koch, Verwaltungssanktionen im europäischen und niederländischen Verwaltungs- und Kartellrecht, S. 57; Lorenzmeier, ZIS 2008, 20, 26. 327
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diese in Bezug auf die Vorhersehbarkeit und Einrichtung ihres Verhaltens gleichermaßen schutzbedürftig. Die EMRK ist zudem als völkerrechtlicher Vertrag nach den allgemeinen Regeln der WVK sowie autonom, d. h. ohne Rückgriff auf das nationale Rechtsverständnis der Signatarstaaten, auszulegen.334 Mangels einheitlicher Behandlung der Strafbarkeit juristischer Personen in den nationalen Rechtsordnungen335 könnten daraus ohnehin keine Hinweise gewonnen werden.336 Der persönliche Anwendungsbereich des Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK ist damit auch für juristische Personen eröffnet.337 b) Strafbare Handlung oder Unterlassung Auch wenn der Gerichtsgarantie des fair trial in Art. 6 EMRK eine andere Formulierung zugrunde liegt, entsprechen sich die Anwendungsbereiche der beiden Garantien des Art. 6 und 7 EMRK in Bezug auf die strafbare Handlung oder Unterlassung (engl. „criminal offence“, frz. „infraction“) und der „strafrechtlichen Anklage“ (engl. „criminal charge“, frz. „accusation en matière pénale“).338 Die Begriffe sind dabei unabhängig von nationalrechtlichen Verständnissen autonom auszulegen.339 Dass mit dem Kartellverstoß eine Handlung oder Unterlassung vor334 Meyer-Ladewig, EMRK, Einl. Rn. 35, 44; Schädler/Jakobs, in: Hannich, KK, StPO, Vor. EMRK Rn. 30 f.; siehe auch Nachw. aus der Rspr. speziell zum Anwendungsbereich der Art. 6, 7 EMRK sogleich in Teil 2 Fn. 339. 335 Siehe den Überblick bei BT-Drs. 13/11 425 S. 11 ff.; Dannecker/Körtek, in: Dannecker/ Jansen, Competition Law Sanctioning in the European Union, S. 1, 87 ff.; Schünemann, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK, StGB, Bd. 1, Vor. § 25 Rn. 20 ff. 336 EKMR, Bericht v. 30. 5. 1991, Nr. 11.598/85 – Société Stenuit/Frankreich, Série B n8 213-A = Anhang zu EGMR, Urt. v. 27. 2. 1992, Nr. 11598/85 – Société Stenuit/Frankreich, Série A n8 232, S. 9, 14 Rn. 66. 337 So zieht der Europäische Gerichtshof (Nachw. in Teil 2 Fn. 501) wie die Literatur (Nachw. in Teil 2 Fn. 491) Art. 7 EMRK unreflektiert für „Unternehmen und Unternehmensvereinigungen“ heran. Zu Art. 6 EMRK EKMR, Bericht v. 30. 5. 1991, Nr. 11.598/85 – Société Stenuit/Frankreich, Série B n8 213-A = Anhang zu EGMR, Urt. v. 27. 2. 1992, Nr. 11598/85 – Société Stenuit/Frankreich, Série A n8 232, S. 9, 14 Rn. 66; Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 4; siehe auch die Nachweise auf die Rspr. des EuGH in Teil 2 Fn. 500. Im Ergebnis auch Schubert, Legal Privilege und Nemo tenetur, S. 91 f. 338 Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Bd. 11, Art. 7 EMRK Rn. 26 (Fn. 90); Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24 Rn. 134; Kadelbach, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 15 Rn. 11; Paeffgen, in: Wolter, SK, StPO, Bd. X, Art. 7 EMRK Rn. 5; Renzikowski, in: Karl, Int. Komm. EMRK, Art. 7 Rn. 21 [12. Lfg.: Mai 2009]. 339 EGMR, Urt. v. 28. 6. 1978 (Plenum), Nr. 6232/73 – König/Deutschland, Série A n8 27, 5, 29 f. Rn. 88 = EGMR-E 1 (Nr. 29), 278, 298; Urt. v. 27. 2. 1980, Nr. 6903/75 – Deweer/Belgien, Série A n8 35, 4, 22 Rn. 42 = EGMR-E 1 (Nr. 42), 463, 471; Urt. v. 26. 3. 1982, Nr. 8269/78 – Adolf/Österreich, Série A n8 49, 4, 15 Rn. 30 = EGMR-E 2 (Nr. 7), 70, 78; Urt. v. 9. 2. 1995, Nr. 17440/90 – Welch/Vereinigtes Königreich, Série A n8 307-A, 5, 13 Rn. 27 = ÖJZ 1995, 511; Urt. v. 8. 6. 1995, Nr. 15917/89 – Jamil/Frankreich, Série A n8 317-B, 18, 27 Rn. 30 = ÖJZ 1995, 796, 797; Urt. v. 23. 9. 1998, Nr. 27812/95 – Malige/Frankreich, Recueil des arrêts et décisions 1998-VII n893, 2925, 2935 Rn. 34 = ÖJZ 1999, 654, 655; Urt. v. 22. 6. 2000, Nr. 32492/96, 32547/96, 32548/96, 33209/96 und 33210/96 – Coëme u. a./Belgien, Reports of
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liegt, bedarf keiner Erläuterung. Zentral ist vielmehr der Begriff der „Strafe“. Nach dem EGMR ist die Frage, ob eine solche vorliegt, danach zu beurteilen, ob die Maßnahmen nach Verurteilung wegen einer Straftat, d. h. mit dem übersetzten Normtext des Art. 7 EMRK einer strafbaren Handlung oder Unterlassung, verhängt wurden.340 In erster Annäherung zeichnet sich eine Strafnorm dadurch aus, dass sie einen Verstoß gegen eine Verhaltensnorm mit einer Sanktion verknüpft.341 Auf die Vornahme der strafbaren Handlung oder Unterlassung reagiert die Hoheitsgewalt mit einer Übelzufügung. So ermächtigt Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a VO 1/2003 bei materiellen Kartellrechtsverstößen ein Bußgeld zu verhängen. Ein weiteres Übel stellt die nunmehr zwingende342 Veröffentlichung der Bußgeldentscheidung gem. Art. 30 VO 1/2003 dar. Die Übelzufügung ist gleichwohl nur ein notwendiges Kriterium der Strafe, kein hinreichendes. Jede Strafe ist eine Sanktion, aber nicht jede Sanktion eine Strafe. Als weitere Gesichtspunkte zieht der Gerichtshof die Einstufung im innerstaatlichen Recht, Art und Zweck der Maßnahme, das zur Anordnung und der Vollziehung bestrittene Verfahren und die Schwere der Maßnahme heran.343 Die klassischen sog. Engel-Kriterien, die der EGMR in der gleichnamigen Entscheidung als grundsätzlich alternative344 Einzelkriterien im Rahmen des Art. 6 EMRK herausstellte,345 werden judgments and decisions 2000-VII, 9, 60 f. Rn. 145; Urt. v. 12. 2. 2008 (GK), Nr. 21906/04 – Kafkaris/Zypern, Reports of judgments and decisions 2008-I, 229, 281 f. Rn. 142 = NJOZ 2010, 1599, 1604; Urt. v. 17. 12. 2009, Nr. 19359/04 – M./Deutschland, nicht in amtl. Slg., Rn. 120 = NJW 2010, 2495, 2497; Renzikowski, in: Karl, Int. Komm., EMRK, Art. 7 Rn. 21 [12. Lfg.: Mai 2009]. 340 EGMR, Urt. v. 9. 2. 1995, Nr. 17440/90 – Welch/Vereinigtes Königreich, Série A n8 307A, 5, 13 Rn. 28 = ÖJZ 1995, 511; Urt. v. 8. 6. 1995, Nr. 15917/89 – Jamil/Frankreich, Série A n8 317-B, 18, 27 f. Rn. 31 = ÖJZ 1995, 796, 797; Urt. v. 12. 2. 2008 (GK), Nr. 21906/04 – Kafkaris/Zypern, Reports of judgments and decisions 2008-I, 229, 281 f. Rn. 142 = NJOZ 2010, 1599, 1604; Urt. v. 17. 12. 2009, Nr. 19359/04 – M./Deutschland, nicht in amtl. Slg., Rn. 120 = NJW 2010, 2495, 2497 f. 341 Renzikowski, in: Karl, Int. Komm., EMRK, Art. 7 Rn. 22 [12. Lfg.: Mai 2009]. 342 Nach der VO (EWG) 17/62, Erste Durchführungsverordnung des Rates zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages, ABl. 1962 P 13, S. 204 war die Kommission noch zur Veröffentlichung von Entscheidungen über Geldbußen und Zwangsgelder lediglich berechtigt. 343 EGMR, Urt. v. 9. 2. 1995, Nr. 17440/90 – Welch/Vereinigtes Königreich, Série A n8 307A, 5, 13 Rn. 28 = ÖJZ 1995, 511, 511; Urt. v. 8. 6. 1995, Nr. 15917/89 – Jamil/Frankreich, Série A n8 317-B, 18, 27 f. Rn. 31 = ÖJZ 1995, 796, 797; Entsch. v. 7. 12. 2006, Nr. 29514/05 – Van der Velden/Niederlande, Reports of judgments and decisions 2006-XV, 339, 343 ff. Rn. 1; Urt. v. 12. 2. 2008 (GK), Nr. 21906/04 – Kafkaris/Zypern, Reports of judgments and decisions 2008I, 229, 281 f. Rn. 142 = NJOZ 2010, 1599, 1604; Urt. v. 17. 12. 2009, Nr. 16428/05 – Gardel/ Frankreich, nicht in amtl. Slg., Rn. 40; Urt. v. 17. 12. 2009, Nr. 19359/04 – M./Deutschland, nicht in amtl. Slg., Rn. 120 = NJW 2010, 2495, 2497. 344 EGMR, Urt. v. 9. 10. 2003 (GK), Nr. 39665/98 und 40086/98 – Ezeh und Connors/ Vereinigtes Königreich, Reports of judgments and decisions 2003-X, 107, 129 Rn. 86; Urt. v. 23. 11. 2006 (GK), Nr. 73053/01 – Jussila/Finnland, Reports of judgments and decisions 2006-XIV, 7, 13 f. Rn. 31; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24 Rn. 17; Lorenzmeier, ZIS 2008, 20, 23; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 11 Rn. 83.
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somit für Art. 7 EMRK wieder aufgegriffen, aber leicht modifiziert, sog. WelchKriterien. Insbesondere nimmt der EGMR anders als bei Art. 6 EMRK eine Gesamtbetrachtung der genannten Einzelkriterien vor.346 Aufgrund des identischen Strafbegriffs können aber die zu den Engel-Kriterien herausgearbeiteten Indizien auf Art. 7 EMRK übertragen werden. aa) Die Einstufung des Kartellbußgelds im Unionsrecht Als erstes Kriterium zieht der EGMR die Einordnung der Maßnahme im Recht des Konventionsstaates heran. Der Gerichtshof nimmt im Ausgangspunkt (engl. „no more than a starting point“, frz. „simple point de départ“) zur Kenntnis, ob die Strafnorm im nationalen Recht347 dem Strafrecht zugeordnet wird.348 (1) Die sekundärgesetzgeberische Einordnung Das Kartellverfahrensrecht der VO 1/2003 sieht in Kapitel VI ausweislich der Überschrift „Sanktionen“, namentlich die Geldbuße (Art. 23 VO 1/2003) und das Zwangsgeld (Art. 24 VO 1/2003), vor. Dem Wortlaut der Sanktionsnorm des Art. 23 Abs. 2 VO 1/2003 ist kein Hinweis auf ihre Rechtsnatur zu entnehmen.349 Während die deutsche Sprachfassung von einer „Geldbuße“ und nicht von einer „Geldstrafe“ spricht und damit dem deutschen Ordnungswidrigkeitenrecht entspricht,350 der Begriff der „amende“ im französischen Recht ebenso Verwaltungssanktionen um-
345 EGMR, Urt. v. 8. 6. 1976/23. 11. 1976 (Plenum), Nr. 5100/71, 5101/71, 5102/71, 5354/ 72 und 5370/72 – Engel u. a./Niederlande, Série A n8 22, 4, 33 ff. Rn. 80 ff. = EGMR-E 1 (Nr. 23), 178, 188 ff.: Einordnung im nationalen Recht, Art der Zuwiderhandlung und Art und Schwere der angedrohten Sanktion. 346 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24 Rn. 134; Paeffgen, in: Wolter, SK, StPO, Bd. X, Art. 7 EMRK Rn. 6; Renzikowski, in: Pabel/Schmahl, Int. Komm., EMRK, Art. 7 Rn. 21 [12. Lfg.: Mai 2009]. 347 Da das Unionsrecht und die Rechtsakte der Unionsorgane jedoch in den Mitgliedstaaten unmittelbare Geltung beanspruchen und die Mitgliedstaaten die jeweiligen Kompetenzen auf die supranationale Ebene übertragen haben, ist im Folgenden das Unionsrecht als im jeweiligen, den Pflichten der EMRK unterliegenden, Mitgliedstaat geltendens Recht maßgeblich. Im Übrigen kommt es auf eine vertiefte Betrachtung hier nicht an. Wie noch zu zeigen sein wird, kann eine Einordnung durch das nationale, bzw. supranationale Recht nicht maßgeblich sein. 348 Zu Art. 6 EMRK EGMR, Urt. v. 8. 6. 1976/23. 11. 1976 (Plenum), Nr. 5100/71, 5101/71, 5102/71, 5354/72 und 5370/72 – Engel u. a./Niederlande, Série A n8 22, 4, 34 f. Rn. 82 = EGMR-E 1 (Nr. 23), 178, 190. 349 Böse, Strafen und Sanktionen im europ. GemR, S. 142; Hecker, Europäisches Strafrecht, § 4 Rn. 60; A. Koch, Verwaltungssanktionen im europäischen und niederländischen Verwaltungs- und Kartellrecht, S. 47; König, Das Europäische Verwaltungssanktionsrecht und die Anwendung strafrechtlicher Rechtsgrundsätze, S. 72 ff.; Schubert, Legal privilege und Nemo tenetur, S. 57 f.; Tsolka, Der allgemeine Teil eines europäischen supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 43 f. 350 Vgl. § 1 Abs. 1 OWiG.
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fasst,351 bezeichnen hingegen die – sämtlich gleichgewichtig zu berücksichtigenden –352 Sprachfassungen des Niederländischen („geldboete“)353, des Italienischen („ammenda“)354 sowie des Englischen („fine“) im nationalen Recht Kriminalstrafen.355 Eine eindeutige Einordnung trifft allerdings Art. 23 Abs. 5 VO 1/2003. Danach haben die nach Art. 23 Abs. 1 und 2 VO 1/2003 getroffenen Entscheidungen „keinen strafrechtlichen Charakter.“ Entsprechend wird die Geldbuße, die im Anwendungsbereich der VO 2988/95 ausgesprochen werden kann,356 gem. Art. 5 Abs. 1 lit. a VO 2988/95 als bloß „verwaltungsrechtliche Sanktion“ eingeführt.357 Jedoch wird Art. 23 Abs. 5 VO 1/2003 allgemein358 lediglich als deklaratorischer Hinweis auf die fehlende kriminalstrafrechtliche Kompetenz der EU verstanden. Die Mitgliedstaaten hätten sich gescheut, ihre Souveränität auf dem so grundrechtsrelevanten Bereich des Kriminalstrafrechts zugunsten der Europäischen Union zu verlieren.359 Auch wenn der Vertrag von Lissabon Kompetenzen zum Erlass suprana351 Böse, Strafen und Sanktionen im europ. GemR, S. 141 f.; Schubert, Legal Privilege und Nemo tenetur, S. 57 (Fn. 91); a.A. R. Winkler, Die Rechtsnatur der Geldbuße, S. 52; König, Das Europäische Verwaltungssanktionsrecht und die Anwendung strafrechtlicher Rechtsgrundsätze, S. 72 f., die eine kriminalstrafrechtliche Zuordnung vornehmen. 352 Siehe oben S. 45. 353 Böse, Strafen und Sanktionen im europ. GemR, S. 141; Hecker, Europäisches Strafrecht, § 4 Rn. 60; Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, S. 64; Schubert, Legal privilege und Nemo tenetur, S. 57; R. Winkler, Die Rechtsnatur der Geldbuße, S. 52. Vgl. Art. 9 Abs. 1 a iv. Wetboek van Strafrecht. 354 Böse, Strafen und Sanktionen im europ. GemR, S. 141; Hecker, Europäisches Strafrecht, § 4 Rn. 60; Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, S. 64; Schubert, Legal privilege und Nemo tenetur, S. 57; R. Winkler, Die Rechtsnatur der Geldbuße, S. 52. 355 Böse, Strafen und Sanktionen im europ. GemR, S. 141; Engels, Unternehmensvorsatz, S. 62; Hecker, Europäisches Strafrecht, § 4 Rn. 60; Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, S. 64; Schubert, Legal privilege und Nemo tenetur, S. 57; Schroth, Economic offences in EEC Law, S. 155; Tsolka, Der allgemeine Teil eines europäischen supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 43. 356 Zum Anwendungsbereich der VO 2988/95 noch eingehend unten S. 365 f. 357 Ebenso etwa auch Art. 13 Abs. 4 Durchführungsverordnung (EU) Nr. 646/2012 der Kommission vom 16. Juli 2012 mit Bestimmungen über Geldbußen und Zwangsgelder gemäß der Verordnung (EG) Nr. 216/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. 2012 L 187, S. 29. 358 Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 328; Dannecker/ Fischer-Fritsch, Das EG-Kartellrecht in der Bußgeldpraxis, S. 6; Engels, Unternehmensvorsatz, S. 66; Feddersen, in: Dalheimer/Feddersen/Miersch, VO 1/2003, Art. 23 Rn. 18 [26. Lfg.: März 2005]; Mestmäcker/Schweitzer, Europ. WettbR, § 21 Rn. 9; Nowak, in: L/M/R, KartellR, Art. 23 VerfVO Rn. 50; Pascu, Strafrechtliche Fundamentalprinzipien im Gemeinschaftsrecht, S. 55; Schwarze, EuR 2009, 171, 181; Tsolka, Der allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 43, 49. 359 Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 328; Dannecker/ Fischer-Fritsch, Das EG-Kartellrecht in der Bußgeldpraxis, S. 6; Engels, Unternehmensvorsatz, S. 66 f.; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 15 [77. Lfg.: Oktober 2012]; Möschel, DB 2010, 2377, 2378; Möhlenkamp, in: Schwarze, Instrumente zur Durchsetzung des europäischen
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tionalen Kriminalstrafrechts mit sich brachte,360 sieht dieser jedenfalls keine solchen im Wettbewerbsrecht vor. Gleichwohl spricht die sekundärgesetzgeberische Einordnung gegen die Annahme einer Strafe. Die bereits erwähnte Veröffentlichung der Kommissionsentscheidung ist ausweislich der systematischen Stellung des Art. 30 VO 1/2003 hingegen nicht einmal den „Sanktionen“, Geldbuße und Zwangsgeld, des Kapitel VI zuzuordnen. (2) Die Einordnung in Rechtsprechung und Schrifttum Entsprechend der Abgrenzung von Straftat und Ordnungswidrigkeit im nationalen deutschen Recht wird der Unterschied361 des Strafrechts zu anderen Sanktionsnormen weit überwiegend362 auch im Unionsrecht in der in der Strafe zum Ausdruck kommenden sozial-ethischen Missbilligung gesehen. Dieses Unwerturteil wird für das kartellrechtliche Bußgeld nur vereinzelt363 bejaht, weit überwiegend364 hingegen verneint. Das Kartellbußgeld ist nach weit überwiegender Auffassung somit entsprechend Art. 23 Abs. 5 VO 1/2003 nicht dem Kriminalstrafrecht zuzuordnen. Eine abschließende Beurteilung der Rechtsnatur der Kartellgeldbuße als rein verwaltungsrechtlich soll dieser Vorschrift jedoch nicht entnommen werden könWettbewerbsrechts, S. 121, 124; Nowak, in: L/M/R, KartellR, Art. 23 VerfVO Rn. 50; Oehler, in: Hiraba u. a., FS Dando, S. 129, 136; Schwarze/Weitbrecht, Grundzüge des europ. KartellverfahrensR, § 7 Rn. 16; Schwarze/Bechtold/Bosch, Rechtsstaatliche Defizite, S. 22. 360 Dazu bereits oben in Teil 2 Fn. 313. Gegenwärtig existiert jedenfalls (noch) keine supranationale Kriminalstrafnorm; Grünewald, JZ 2011, 972, 973 m.w.N. 361 Vgl. BVerfGE 45, 272, 288 f. Ob dieser nun qualitativer, quantitativer oder vermittelnd gemischter Natur ist, kann hier offen bleiben; Streitdarstellung etwa bei Bohnert, in: Senge, KK, OWiG, Einl. Rn. 50 ff.; König, Das Europäische Verwaltungssanktionsrecht und die Anwendung strafrechtlicher Rechtsgrundsätze, S. 39 ff. 362 GA Jacobs, Schlussanträge v. 3. 6. 1992, Rs. C-240/90 – Deutschland/Kommission, Slg. 1992, I-5383, I-5408 Rn. 11; GA Stix-Hackl, Schlussanträge v. 27. 11. 2001, Rs. C-210/00 – Käserei Champignon, Slg. 2002, I-6453, I-6465 Rn. 33; GA Mazák, Schlussanträge v. 28. 6. 2007, Rs. C-440/05 – Kommission/Rat, Slg. 2007, I-9100, I-9111 f. Rn. 67; Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 337; Schubert, Legal privilege und nemo tenetur, S. 87; Schwarze, EuZW 2003, 261, 264; Schwarze/Weitbrecht, Grundzüge des europ. KartellverfahrensR, § 7 Rn. 5; Schweitzer/Raible, ZfZ 2001, 290, 292; Theurer, Geldbußen im EU-WettbR, S. 69; ähnlich Heine, ZStrR 2007, 105, 113. 363 Sog. „Kriminalstrafrechtliche Theorie“; Schroth, Economic Offences in EEC Law, S. 154 ff., 186 f.; ders., wistra 1984, 164, 165 (Fn. 9); wohl auch Wolf, WuW 1962, 645, 659; weitere Nachw. vor allem aus der belgischen, italienischen und niederländischen Literatur etwa bei Engels, Unternehmensvorsatz, S. 62; R. Winkler, Die Rechtsnatur der Geldbuße, S. 50. 364 Bechtold/Bosch/Brinker, EU-KartellR, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 90; Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 338; Engels, Unternehmensvorsatz, S. 66; Hecker, Europäisches Strafrecht, § 4 Rn. 65; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/ Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 18 [77. Lfg.: Oktober 2012]; König, Das Europäische Verwaltungssanktionsrecht und die Anwendung strafrechtlicher Rechtsgrundsätze, S. 81 f., 87, 92; Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, S. 83; Schubert, Legal privilege und Nemo tenetur, S. 87 ff.; Theurer, Geldbußen im EUWettbR, S. 73.
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
nen.365 Die Rechtsnatur des Bußgelds nach Art. 23 Abs. 2 VO 1/2003 wird vielmehr als strafrechtsähnlich,366 quasi- oder para-strafrechtlich,367 Verwaltungsstrafrecht,368 punitive Verwaltungssanktion,369 Strafrecht im weiteren Sinne,370 speziell als den Ordnungswidrigkeiten im deutschen, italienischen und portugiesischen Recht entsprechende Sanktion,371 Sanktion sui generis,372 aber auch als den sanctions administratives des französischen, belgischen, niederländischen und italienischen Rechts verwandte Sanktion373 bezeichnet. Der EuGH hat eine Bestimmung der Rechtsnatur der unionsrechtlichen Geldbuße noch nicht eindeutig vorgenommen.374 Uneinheit365 Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 328; Dannecker/ Fischer-Fritsch, Das EG-Kartellrecht in der Bußgeldpraxis, S. 6; Heine, ZStrR 2007, 105, 112; König, Das Europäische Verwaltungssanktionsrecht und die Anwendung strafrechtlicher Rechtsgrundsätze, S. 75 f.; Schroth, Economic Offences in EEC Law, S. 154 ff.; Schwarze/ Weitbrecht, Grundzüge des europ. KartellverfahrensR, § 7 Rn. 16. 366 Schwarze, WuW 2009, 6, 8; Schwarze/Weitbrecht, Grundzüge des europ. KartellverfahrensR, § 7 Rn. 19; Sura, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art 23 VO 1/2003 Rn. 6. 367 Heine, ZStrR 2007, 105, 112 f.; vgl. auch Bechtold/Bosch/Brinker, EU-KartellR, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 90. 368 Tiedemann, ZStW 116 (2004), 945, 947. 369 Vgl. Eisele, JA 2000, 896, 899; Tiedemann, NJW 1993, 23, 27 f. 370 Dannecker, ZStW 111 (1999), 256, 257; ders./Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 338; Engels, Unternehmensvorsatz, S. 67; Hecker, Europäisches Strafrecht, § 4 Rn. 65; Lorenzmeier, ZIS 2008, 20, 23; Nowak, in: L/M/R, KartellR, Art. 23 VerfVO Rn. 50; Pascu, Strafrechtliche Fundamentalkriterien im Gemeinschaftsrecht, S. 46 ff.; Schubert, Legal privilege und Nemo tenetur, S. 90 f. 371 GA Roemer, Schlussanträge v. 19. 12. 1968, Rs. 14/68 – Wilhelm/Bundeskartellamt, Slg. 1969, 17, 24; GA Mayras, Schlussanträge v. 16. und 17. 6. 1975, verb. Rs. 40 bis 48, 50, 54 bis 56, 111, 113 und 114/73 – Suiker Unie und andere/Kommission, Slg. 1975, 2062, 2141; Böse, Strafen und Sanktionen im europ. GemR, S. 148; Dannecker, in: Schünemann/Suárez Gonzáles, Bausteine des europ. WirtschaftsstrafR, S. 331, 333; ders./Fischer-Fritsch, Das EGKartellrecht in der Bußgeldpraxis, S. 7.; Jescheck, ZStW 64 (1952), 496, 503; Kindhäuser/ Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 17 [77. Lfg.: Oktober 2012]; König, Das Europäische Verwaltungssanktionsrecht und die Anwendung strafrechtlicher Rechtsgrundsätze, S. 114 f.; Mestmäcker/ Schweitzer, Europ. WettbR, § 21 Rn. 9; Schwarze/Bechtold/Bosch, Rechtsstaatliche Defizite, S. 24 f.; Tiedemann, in: Vogler u. a., FS Jescheck, Bd. II, S. 1411, 1417; R. Winkler, Die Rechtsnatur der Geldbuße, S. 81 ff.; Zuleeg, JZ 1992, 761, 763. 372 Bahnmüller, Strafrechtliche Unternehmensverantwortlichkeit im Europäischen Gemeinschafts- und Unionsrecht, S. 123 f., 139; Engelsing/Schneider, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 15; Oehler, Internationales Strafrecht, Rn. 938 f., 944; ders., in: Hiraba u. a., FS Dando, S. 129, 138; Papakiriakou, Das Europ. Unternehmensstrafrecht in Kartellsachen, S. 17; Valls Prieto, ZStW 120 (2008), 403, 414. 373 Krajewski, Geldbußen und Zwangsgelder, S. 62 ff.; weitere Nachw. vor allem aus dem fanzösischem und italienischem Schrifttum etwa bei Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/ Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 17 [77. Lfg.: Oktober 2012]; Pascu, Strafrechtliche Fundamentalprinzipien im Gemeinschaftsrecht, S. 41. 374 Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 330; König, Das Europäische Verwaltungssanktionsrecht und die Anwendung strafrechtlicher Rechtsgrundsätze, S. 58; Lorenzmeier, ZIS 2008, 20, 22.
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lich wird seine Position der des Strafrechts i.w.S. zugeordnet,375 sowie der Auffassung, die eine Entsprechung deutscher, italienischer und portugiesischer Ordnungswidrigkeiten annimmt, verwandt vermutet,376 aber auch als der bloß verwaltungsrechtlichen Qualifikation nahe stehend verstanden.377 Letztere Position wird im Schrifttum nur vereinzelt378 eingenommen. Allein diese verwaltungsrechtliche Qualifikation führt in letzter Konsequenz zur Nichtanwendbarkeit spezifisch strafrechtlicher Garantien, die allenfalls durch Rückgriff und Steigerung der allgemeinen verwaltungsrechtlichen Grundsätze des Rechtsstaates ausgeglichen werden können.379 In der Bewertung lassen sich die verschiedenen Positionen auf eine unterschiedliche Gewichtung der auch vom EGMR herangezogenen Kriterien zurückführen. Während formale Kriterien bemüht werden, um eine verwaltungsrechtliche Natur zu begründen, ziehen Verfechter der Zuordnung zum Strafrecht materielle Kriterien heran. Maßgeblich kann aber nur der Maßstab des Art. 7 Abs. 1 EMRK in seiner Konkretisierung durch die Rechtsprechung des EGMR sein, der im Folgenden zur Auflösung der Frage nach der Anwendbarkeit im europäischen Kartellbußgeldrecht näher zu betrachten ist. bb) Die Einordnung nach Art und Zweck der Geldbuße Der EGMR legt die EMRK und damit auch den Begriff der „Strafe“ autonom aus.380 Daher ist er auch nicht an die formale Einstufung durch das nationale Recht gebunden. Nur so kann eine einheitliche Auslegung für alle Konventionsstaaten erreicht werden.381 Zudem darf die Geltung der strafrechtlichen Grundsätze der EMRK nicht zur Disposition der Signatarstaaten stehen, indem sie innerstaatlich eine Sanktionsnorm nicht dem Strafrecht zuordnen.382 Der nationale Gesetzgeber bleibt 375
So Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 330. So König, Das Europäische Verwaltungssanktionsrecht und die Anwendung strafrechtlicher Rechtsgrundsätze, S. 59. 377 So Lorenzmeier, ZIS 2008, 20, 22; Möschel, DB 2010, 2377, 2378; Schwarze, EuZW 2003, 261, 264; ders./Weitbrecht, Grundzüge des europ. KartellverfahrensR, § 7 Rn. 9. 378 Sog. „reine Verwaltungstheorie“; Frenz, Hdb. Europarecht1, Bd. 2: Europ. KartellR, Rn. 1586; unklar nun ders., Hdb. Europarecht, Bd. 2: Europ. KartellR, Rn. 2887 ff. 379 Nach der Theorie der sanctions administratives (siehe die Nachw. in Teil 2 Fn. 373) kommen die spezifisch strafrechtlichen Garantien lediglich eingeschränkt zur Anwendung; Krajewski, Geldbußen und Zwangsgelder, S. 62. 380 Siehe die Nachw. aus Teil 2 Fn. 339. 381 Vgl. Anwendungsbeispiel bei EGMR, Urt. v. 17. 12. 2009, Nr. 19359/04 – M./Deutschland, nicht in amtl. Slg., Rn. 127 = NJW 2010, 2495, 2497; zudem Lorenzmeier, ZIS 2008, 20, 23; Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 15 f. 382 EGMR, Urt. v. 8. 6. 1976/23. 11. 1976 (Plenum), Nr. 5100/71, 5101/71, 5102/71, 5354/ 72 und 5370/72 – Engel u. a./Niederlande, Série A n8 22, 4, 34 Rn. 81 = EGMR-E 1 (Nr. 23), 178, 189 f.; Urt. v. 21. 2. 1984 (Plenum), Nr. 8544/79 – Öztürk/Deutschland, Série A n8 73, 6, 17 f. Rn. 49 = EGMR-E 2 (Nr. 29), 329, 337 f.; Appel, Verfassung und Strafe, S. 273; Engels, Unternehmensvorsatz, S. 65; Lorenzmeier, ZIS 2008, 20, 23; ohne Bezug zur EMRK auch 376
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
bei seiner Einordnung der Sanktion und der Ausgestaltung des Verfahrensrechts an das höherrangige Recht gebunden.383 Ein Ausschluss grundlegender strafrechtlicher Garantien kann Art. 23 Abs. 5 VO 1/2003 mithin nicht entnommen werden.384 Dieser Norm liegt vielmehr ein kompetenzrechtliches Verständnis des Strafbegriffs zugrunde. Sie nimmt Bezug auf die Grenzen der Verbandskompetenz der EU,385 indem sie die Kompetenzverteilung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten wiederholt.386 Ihre Begriffsbestimmung kann sich somit allein auf das Vorverständnis in den Mitgliedstaaten beziehen. Die EMRK hingegen bezieht sich allein auf die Gesetzgebung des Staates und seiner Maßnahmen gegenüber dem Bürger. Da sie letzteren gegenüber der Hoheitsgewalt zu schützen beabsichtigt, kommt es auf das Vorliegen der jeweils vertypten Bedrohungslage des Grundrechts an. Da beide Rechtsregime ohnehin neben dieser unterschiedlichen funktionalen Ausrichtung jeweils autonom auszulegen sind,387 muss der Strafbegriff des Unionsrechts zudem nicht identisch mit dem der EMRK sein. Auch eine rein verwaltungsrechtliche Qualifikation im Recht der Union kann zur Geltung der spezifischen strafrechtlichen Garantien der EMRK führen. Der Streit um die Rechtsnatur der Geldbuße im unionsrechtlichen Kartellrecht zwischen Straf-, Ordnungswidrigkeiten- und Verwaltungsrecht bleibt somit für die Geltung der strafrechtlichen Garantien der EMRK und damit für die weitere Untersuchung ohne Bedeutung.388 Entsprechend bleiben die Begrifflichkeiten in dieser Hinsicht ohne Erkenntnisgewinn.389 Entscheidend ist hier allein der garantierechtliche Begriff des Strafrechts der Art. 6, 7 EMRK.390 Diesem hat das konMöhlenkamp, in: Schwarze, Instrumente zur Durchsetzung des europäischen Wettbewerbsrechts, S. 121, 124 f. 383 Vgl. Möschel, DB 2010, 2377, 2378; Schwarze, EuZW 2003, 261, 268. 384 Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 38 f.; Engels, Unternehmensvorsatz, S. 66 f.; Engelsing/Schneider, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 15; Möschel, DB 2010, 2377, 2378; Nowak, in: L/M/R, KartellR, Art. 23 VerfVO Rn. 51; Schwarze, EuZW 2003, 261, 268; ders./Weitbrecht, Grundzüge des europ. KartellverfahrensR, § 17 Rn. 18; Sura, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 6. 385 Dazu oben S. 64. 386 So misst die h.M. Art. 23 Abs. 5 VO 1/2003 lediglich deklaratorischen Charakter bei; siehe die Nachw. in Teil 2 Fn. 358. 387 Zum Unionsrecht siehe oben S. 46 f., zur EMRK die Nachw. aus Teil 2 Fn. 339. 388 Vgl. A. Koch, Verwaltungssanktionen im europäischen und niederländischen Verwaltungs- und Kartellrecht, S. 295; Lorenzmeier, ZIS 2008, 20, 23; Nowak, in: L/M/R, KartellR, Art. 23 VerfVO Rn. 51; ebenso zur Unergiebigkeit des Rückgriffs auf nationale Sanktionsmodelle Heitzer, Punitive Sanktionen, S. 22; Papakiriakou, Das Europ. Unternehmensstrafrecht in Kartellsachen, S. 14; Schubert, Legal privilege und Nemo tenetur, S. 90 f.; Schweitzer/ Raible, ZfZ 2001, 290, 292. 389 Soweit bislang und im Folgenden der Begriff des Kartellordnungswidrigkeitenrechts verwendet wird, so ist damit keine Festlegung auf die Rechtsnatur verbunden. Er bezeichnet lediglich das europäische Kartellbußgeldrecht. 390 Nach Vogel, JZ 1995, 331, 337 geht es „richtigerweise […] um den teleologischen Sinn der strafrechtlichen Garantien“. Entsprechend spricht ders., in: Sieber u. a., Europäisches Strafrecht, § 5 Rn. 28 passend vom „Strafrecht im garantierechtlichen Sinne“.
D. Strafrechtliches Gesetzlichkeitsprinzip als primärrechtliche Interorgangrenze
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ventionsstaatliche Recht zu folgen. Ihn bestimmt der EGMR maßgeblich391 aus den materiellen Kriterien der Art und dem Zweck der Maßnahme, der Natur des Verfahrens sowie der Schwere der verhängten Maßnahme. Er legt mithin einen materiellen Strafbegriff zugrunde.392 Nur wenn schon das Recht des jeweiligen Konventionsstaates die Maßnahme dem Strafrecht zuordnet, folgt dem der EGMR.393 Um einen wirksamen Schutz zu gewährleisten, blickt der Gerichtshof andernfalls „hinter das äußere Erscheinungsbild“ (engl. „go behind appearances“, frz. „aller au-delà des apparences“).394 Der Einordnung nach dem nationalen Recht kommt somit lediglich ein „formeller und relativer Wert“ (engl. „formal and relative value“, frz. „n’a qu’une valeur formelle et relative“) zu.395 Dass dadurch anders als bei Befolgung der Ein-
391
Zu Art. 6 EMRK EGMR, Urt. v. 8. 6. 1976/23. 11. 1976 (Plenum), Nr. 5100/71, 5101/71, 5102/71, 5354/72 und 5370/72 – Engel u. a./Niederlande, Série A n8 22, 4, 34 Rn. 81 = EGMRE 1 (Nr. 23), 178, 189 f.; Urt. v. 21. 2. 1984 (Plenum), Nr. 8544/79 – Öztürk/Deutschland, Série A n8 73, 6, 19 f. Rn. 52 = EGMR-E 2 (Nr. 29), 329, 338 f.; Gundel, in: Merten/Papier, Hdb. der Grundrechte, Bd. VI/1, § 146 Rn. 53; Meyer, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art. 6 Rn. 25; in der Sache ebenso ohne Bezug zur Rspr. des EGMR Engels, Unternehmensvorsatz, S. 65; Heitzer, Punitive Sanktionen, S. 35 ff.; Schwarze/Weitbrecht, Grundzüge des europ. KartellverfahrensR, § 7 Rn. 10; Schweitzer/Raible, ZfZ 2001, 290, 292; Tiedemann, NJW 1993, 23, 27 f.; Tsolka, Der allgemeine Teil des supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 44. 392 EKMR, Bericht v. 30. 5. 1991, Nr. 11.598/85 – Société Stenuit/Frankreich, Série B n8 213-A = Anhang zu EGMR, Urt. v. 27. 2. 1992, Nr. 11598/85 – Société Stenuit/Frankreich, Série A n8 232, 9, 14 Rn. 58; EGMR, Urt. v. 27. 2. 1980, Nr. 6903/75 – Deweer/Belgien, Série A n8 35, 4, 23 Rn. 44 = EGMR-E 1 (Nr. 42), 436, 471; Urt. v. 19. 2. 2009, Nr. 16404/03 – Shabelnik/Ukraine, nicht in amtl. Slg., Rn. 52: „,substantive‘, rather than a ,formal‘, conception“, frz. „une conception ,matérielle‘, et non ,formelle‘“; Appel, Verfassung und Strafe, S. 266 f.; Jarass, EU-Grundrechte, § 42 Rn. 6; ebenso BVerfGE 20, 323, 332 und die Verfassungsgerichte in Frankreich und Spanien; vgl. Tiedemann, NJW 1993, 23, 28. 393 EGMR, Urt. v. 8. 6. 1976/23. 11. 1976 (Plenum), Nr. 5100/71, 5101/71, 5102/71, 5354/ 72 und 5370/72 – Engel u. a./Niederlande, Série A n8 22, 4, 34 Rn. 81 = EGMR-E 1 (Nr. 23), 178, 189. 394 EGMR, Urt. v. 9. 2. 1995, Nr. 17440/90 – Welch/Vereinigtes Königreich, Série A n8307A, 5, 13 Rn. 27 = ÖJZ 1995, 511; Urt. v. 8. 6. 1995, Nr. 15917/89 – Jamil/Frankreich, Série A n8 317-B, 18, 27 Rn. 30 = ÖJZ 1995, 796, 797 (jew. zu Art. 7 EMRK); ähnlich Urt. v. 27. 2. 1980, Nr. 6903/75 – Deweer/Belgien, Série A n8 35, 4, 23 Rn. 44 = EGMR-E 1 (Nr. 42), 463, 471 (Art. 6 EMRK); Urt. v. 26. 3. 1982, Nr. 8269/78 – Adolf/Österreich, Série A n8. 49, 4, 15 Rn. 30 = EGMR-E 2 (Nr. 7), 70, 78 (Art. 6 EMRK); Urt. v. 24. 6. 1982 (Plenum), Nr. 7906/77 – Van Droogenbroeck/Belgien, Série A n8 50, 6, 20 Rn. 38 = EGMR-E 2 (Nr. 8), 83, 86 (Art. 5 Abs. 1 EMRK); Urt. v. 22. 5. 1984, Nr. 9626/81 und 9736/82 – Duinhof und Duijf/Niederlande, Série A n8 79, 5, 15 Rn. 34 (Art. 5 Abs. 3 EMRK). 395 EGMR, Urt. v. 8. 6. 1976/23. 11. 1976 (Plenum), Nr. 5100/71, 5101/71, 5102/71, 5354/ 72 und 5370/72 – Engel u. a./Niederlande, Série A n8 22, 4, 34 f. Rn. 82 = EGMR-E 1 (Nr. 23), 178, 190; ebenso Urt. v. 26. 3. 1982, Nr. 8269/78 – Adolf/Österreich, Série A n8 49, 4, 15 Rn. 30 = EGMR-E 2 (Nr. 7), 70, 78; Urt. v. 21. 2. 1984 (Plenum), Nr. 8544/79 – Öztürk/Deutschland, Série A n8 73, 6, 19 f. Rn. 52 = EGMR-E 2 (Nr. 29), 329, 338 f.; Urt. v. 2. 9. 1998, Nr. 27061/95 – Kadubec/Slowakei, Recueil des arrêts et décisions 1998-VI n8 89, 2521, 2529 Rn. 51.
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
ordnung durch den nationalen Gesetzgeber Abgrenzungsschwierigkeiten entstehen können,396 kann diesem Vorgehen schließlich nicht entgegengehalten werden.397 Zur Begutachtung der Art der Maßnahme findet trotz autonomer Auslegung398 die Beurteilung im nationalen Recht anderer Konventionsstaaten in der Rechtsprechung des EGMR gewichtige Berücksichtigung.399 In manchen Mitgliedstaaten der EU werden Kartellverstöße mit Kriminalstrafen geahndet bzw. dem nationalen Strafrecht zugeordnet.400 Dies weist auf einen strafrechtlichen Charakter hin.401 Hingegen lässt an der strafrechtlichen Natur der Zuwiderhandlung zweifeln, dass das Kartellverbot einem wirtschaftlichen und keinem strafrechtlichen Kontext entspringt.402 Als weiteres Kriterium zur Bestimmung der Natur des Vergehens zieht der EGMR, vor allem zur Abgrenzung des Strafrechts vom Disziplinarrecht,403 den von der Verhaltensnorm adressierten Personenkreis heran.404 Richtet sich die in Bezug genommene Sanktionsnorm an jedermann, so streite dies für das Vorliegen einer Strafe.405 Das europäische Kartellrecht ist sektorübergreifend im Binnenmarkt anwendbar. Zwar ist der Adressatenkreis auf „Unternehmen“ und „Unternehmensvereinigungen“ beschränkt, jedoch erfasst die wirtschaftliche Auslegung jeden 396 Kritisch zur fehlenden Trennschärfe der Abgrenzung anhand der Sanktionszwecke Krüger, ZfZ 1999, 74, 79. 397 Schwarze/Weitbrecht, Grundzüge des europ. KartellverfahrensR, § 7 Rn. 14. 398 Kritisch zum methodischen Vorgehen im Hinblick auf die autonome Auslegung Appel, Verfassung und Strafe, S. 274 f. 399 EGMR, Urt. v. 21. 2. 1984 (Plenum), Nr. 8544/79 – Öztürk/Deutschland, Série A n8 73, 6, 20 f. Rn. 53 = EGMR-E 2 (Nr. 29), 329, 339 f.; Urt. v. 17. 12. 2009, Nr. 19359/04 – M./Deutschland, nicht in amtl. Slg., Rn. 126 = NJW 2010, 2495, 2498. 400 In Großbritannien und Irland sind etwa auch Kriminalstrafen möglich. Auch in Deutschland sieht § 298 StGB für wettbewerbsbeschränkende Absprachen bei Ausschreibungen Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe vor; vgl. Möschel, DB 2010, 2377, 2379. Siehe auch die Übersicht in Kommission, Surveys of the Member States’ powers to investigate and sanction violations of national competition laws, S. 57 f.; Dannecker/Körtek, in: Dannecker/Jansen, Competition Law Sanctioning in the European Union, S. 1, 81 ff. 401 Vgl. Bechtold/Bosch, ZWeR 2011, 160, 164; Riley, E.C.L.R. 2010, 191, 200. 402 So A. Koch, Verwaltungssanktionen im europäischen und niederländischen Verwaltungs- und Kartellrecht, S. 56. 403 Vgl. EGMR, Urt. v. 21. 2. 1984 (Plenum), Nr. 8544/79 – Öztürk/Deutschland, Série A n8 73, 6, 20 f. Rn. 53 = EGMR-E 2 (Nr. 29), 329, 339 f.; Appel, Verfassung und Strafe, S. 270; Gundel, in: Merten/Papier, Hdb. der Grundrechte, Bd. VI/1, § 146 Rn. 55 ff.; A. Koch, Verwaltungssanktionen im europäischen und niederländischen Verwaltungs- und Kartellrecht, S. 56 (Fn. 177). 404 Zu Art. 6 EMRK EGMR, Urt. v. 22. 5. 1990, Nr. 11034/84 – Weber/Schweiz, Série A n8 177, 6, 18 Rn. 32 f. = NJW 1991, 623, 624; Urt. v. 24. 2. 1994, Nr. 12547/86 – Bendenoun/ Frankreich, Série A n8 284, 6, 20 Rn. 47 = ÖJZ 1994, 634, 634 f.; Urt. v. 23. 11. 2006 (GK), Nr. 73053/01 – Jussila/Finnland, Reports of judgments and decisions 2006-XIV, 7, 14 Rn. 32; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24 Rn. 19; Lorenzmeier, ZIS 2008, 20, 24. 405 EGMR, Urt. v. 24. 2. 1994, Nr. 12547/86 – Bendenoun/Frankreich, Série A n8 284, 6, 20 Rn. 47 = ÖJZ 1994, 634, 634 f.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24 Rn. 19; Meyer, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art. 6 Rn. 25.
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Marktteilnehmer ohne eine besondere Gruppe auszunehmen.406 Auch dieses Kriterium deutet damit auf die Zuordnung zum Strafrecht hin.407 Schließlich ist der Zweck der Geldbuße im Kartellrecht zu betrachten. Ob Rechte oder Interessen des Einzelnen oder der Allgemeinheit geschützt werden, ist dabei nach dem EGMR nicht maßgeblich.408 Die Bußgeldkompetenz des Art. 23 Abs. 2 VO 1/2003 dient dazu, ein System durchzusetzen, das den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarktes vor Verfälschungen schützt, Art. 103 Abs. 2 lit. a AEUV i.V.m. Protokoll (Nr. 27) zu den Verträgen. Die Geldbußen sind mithin ein „Instrument der Wettbewerbspolitik der Kommission“.409 Um dessen Zweck näher bestimmen zu können, ist auf die klassischen Strafzwecktheorien zu rekurrieren. (1) Abschöpfung des unrechtmäßigen Gewinns Zunächst kommt der Geldbuße wegen materiellen Kartellrechtsverstößen die Funktion zu, den unrechtmäßigen Gewinn der Kartellanten abzuschöpfen.410 Rn. 31 der Bußgeldleitlinien411 ermöglicht eine Erhöhung der Geldbuße, damit diese den aus der Zuwiderhandlung erzielten widerrechtlichen Gewinn stets übersteigt. Ein adäquater Schadensausgleich für den Geschädigten ist damit jedoch nicht verbunden.412 Dem – allerdings nicht spezifisch strafrechtlichen –413 Sanktionszweck der Restitution dient daher in erster Linie die neben die behördliche Kartellrechtsdurchsetzung tretende Sanktionierung von Kartelltätern durch nationale private Schadens406
Ausführlicher zum kartellrechtlichen Unternehmensbegriff unten S. 327 ff. Ebenso zu Art. 6 EMRK Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Bd. 11, Art. 6 EMRK Rn. 76; Riley, E.C.L.R. 2010, 191, 198. 408 EGMR, Urt. v. 21. 2. 1984 (Plenum), Nr. 8544/79 – Öztürk/Deutschland, Série A n8 73, 6, 20 f. Rn. 53 = EGMR-E 2 (Nr. 29), 329, 339 f. 409 EuG, Urt. v. 6. 4. 1995, Rs. T-150/89 – Martinelli/Kommission, Slg. 1995, II-1165, II-1186 Rn. 59. 410 Kommission, Entsch. v. 17. 12. 1975, COMP IV/26.699 – Chiquita, ABl. 1976 L 95, S. 1, 18; Entsch. v. 12. 12. 1978, COMP IV/29.430 – Kawasaki, ABl. 1979 L 16, S. 9, 16 Rn. 59; Entsch. v. 25. 3. 1992, COMP IV/30.717-A – Eurocheque: Helsinki-Vereinbarung, ABl. 1992, L 95, S. 50, 65 Rn. 80 f.; Entsch. v. 1. 4. 1992, COMP IV/32.450 – Reederausschüsse in der Frankreich-Westafrika-Fahrt, ABl. 1992 L 134, S. 1, 23 Rn. 74; dies., XXI. Bericht über die Wettbewerbspolitik, Rn. 139; Arbault, Competition Policy Newsletter 2003/2, 1; Dannecker/ Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 27; Nowak, in: L/M/R, KartellR, Art. 23 VerfVO Rn. 4; Scholz/Haus, EuZW 2002, 682 ff.; Theurer, Geldbußen im EUWettbR, S. 76. 411 Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, ABl. 2006, C 210, S. 2. 412 Näher Theurer, Geldbußen im EU-WettbR, S. 77. 413 Die strafrechtlichen Garantien finden mithin keine Anwendung auf rein restitutive Sanktionen; vgl. EuGH, Urt. v. 17. 12. 1970, Rs. 11/70 – Internationale Handelsgesellschaft/ Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide, Slg. 1970, 1125, 1138 Rn. 18; Urt. v. 18. 11. 1987, Rs. 137/ 85 – Maizena/BALM, Slg. 1987, 4587, 4607 Rn. 13; Schwarze, EuZW 2003, 261, 265. Art. 4 Abs. 4 VO 2988/95 nimmt sogar weiter gehend die bloße Entziehung rechtswidrig erlangter Vorteile aus dem Sanktionsbegriff. 407
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
ersatzansprüche.414 Allerdings bleibt die Funktion der Geldbuße bei der Gewinnabschöpfung nicht stehen. Das Kartellbußgeld verfolgt darüber hinaus auch präventive und repressive Zwecke. Diese beiden Strafzwecke erfordern gerade, dass die Sanktion den unrechtmäßigen Gewinn übertrifft.415 Dieses Übersteigen hat der EGMR mithin als ein punitives Kriterium anerkannt.416 (2) Präventive Funktion Die Prävention zielt auf die Verhinderung zukünftiger Straftaten.417 Anknüpfungspunkt ist dabei die Gefährlichkeit des Täters bzw. die latente Neigung der Allgemeinheit zur Begehung entsprechender Straftaten.418 Das durch die Maßnahme ausgesprochene materielle Übel wird dabei nicht bezweckt, sondern ist nur Mittel zu diesem Zweck.419 Im Sinne der negativen Generalprävention wird die Allgemeinheit durch die Verhängung von Kartellgeldbußen von der Begehung zukünftiger Kartellrechtsverstöße, im Sinne der negativen Spezialprävention die Täterunternehmen selbst von einer widerholten Begehung abgeschreckt.420 So sehen Rn. 25, 30 der Bußgeldleitlinien einen Bußgeldaufschlag zur Gewährleistung einer abschreckenden Wirkung vor.421 Zudem hat der Gerichtshof der Kommission die Befugnis zugesprochen, im Interesse der praktischen Wirksamkeit der Wettbewerbsregeln jederzeit das Niveau der Geldbußen anzuheben, um eine abschreckende Wirkung sicherzustellen.422 Zugleich wird im Sinne der positiven Generalprävention die Gel414
Zur dt. Rechtslage nach § 33 GWB siehe noch unten S. 381 ff. Speziell zur präventiven Funktion EuGH, Urt. v. 28. 6. 2005, verb. Rs. C-189/02 P, C202/02 P, C-205/02 P bis C-208/02 P und C-213/02 P – Dansk Rørindustri u. a./Kommission, Slg. 2005, I-5425, I-5590 Rn. 292; EuG, Urt. v. 15. 3. 2006, Rs. T-15/02 – BASF/Kommission, Slg. 2006, II-497, II-588 Rn. 227; allgemein Scholz/Haus, EuZW 2002, 682, 688; Theurer, Geldbußen im EU-WettbR, S. 77. 416 Vgl. EGMR, Urt. v. 9. 2. 1995, Nr. 17440/90 – Welch/Vereinigtes Königreich, Série A n8 307-A, 5, 13 Rn. 33 = ÖJZ 1995, 511. 417 Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 66; Schwarze, EuZW 2003, 261, 265. 418 Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 66. 419 Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 66. 420 Kommission, Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, ABl. 2006 C 210, S. 2 Rn. 4; EuG, Urt. v. 21. 10. 1997, Rs. T-229/94 – Deutsche Bahn/Kommission, Slg. 1997, II-1689, II-1736 Rn. 127; Urt. v. 5. 4. 2006, Rs. T-279/02 – Degussa, Slg. 2006, II-897, II-1020 Rn. 349 (Spezialprävention), II-1023 Rn. 360 (Generalprävention); Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 25; Eufinger, WRP 2012, 1488, 1489; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 12 [77. Lfg.: Oktober 2012]. 421 Vgl. auch Art. 2 Abs. 1 S. 2 VO 2988/95. Danach müssen die in dieser VO vorgesehenen Maßnahmen und Sanktionen „abschreckend sein, um einen angemessenen Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften zu gewährleisten.“ 422 EuGH, Urt. v. 7. 6. 1983, verb. Rs. 100 bis 103/80 – Musique diffusion française/ Kommission, Slg. 1983, 1825, 1906 Rn. 108 f.; Urt. v. 28. 6. 2005, verb. Rs. C-189/02 P, C-202/ 02 P, C-205/02 P bis C-208/02 P und C-213/02 P – Dansk Rørindustri u. a./Kommission, 415
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tungskraft der verletzten Norm gestärkt.423 Der generalpräventive Charakter wird zudem durch die Veröffentlichungspflicht der Bußgeldentscheidung gem. Art. 30 VO 1/2003 verstärkt.424 Die so geschaffene Transparenz soll anderen Unternehmen neben dem gerichtlichen Vorgehen gegen die Maßnahme vor dem Gericht gem. Art. 31 VO 1/2003 i.V.m. Art. 263, 256 Abs. 1 S. 1 AEUV wie gegen die Kartellunternehmen im mitgliedstaatlichen Zivilprozess auf Schadensersatz eine Anpassung ihres eigenen Marktverhaltens ermöglichen.425 Dem Kartellbußgeld kommt damit eine vorbeugende Funktion im Sinne der präventiven Strafzwecktheorie zu. Europäische Kommission und Gerichtshof erblicken in der Abschreckungswirkung gar den überwiegenden Strafzweck der Kartellgeldbuße.426 Dies erklärt die zunehmende Steigerung der Bußgeldhöhen. (3) Repressive Funktion Einen repressiven Strafzweck verfolgt hingegen eine Sanktion, wenn sie in die Vergangenheit blickend den gerechten Ausgleich der Rechtsverletzung selbst anstrebt.427 Anders als die Fusionskontrolle nach der FKVO428 ist das Kartellverfahren der VO 1/2003 eine ex post-Kontrolle und reagiert damit auf bereits in der Vergangenheit begangene oder fortdauernde Kartellrechtsverstöße. Ferner verlangt Art. 23 Abs. 2 VO 1/2003 einen vorsätzlichen oder fahrlässigen Verstoß gegen das Kartellrecht. Schließlich richtet sich die Bemessung der Bußgeldhöhe gem. Art. 23 Abs. 3 VO 1/2003 nach der Schwere und Dauer der Zuwiderhandlung. BemesSlg. 2005, I-5425, I-5570 Rn. 227; EuG, Urt. v. 14. 5. 1998, Rs. T-304/94 – Europa Carton/ Kommission, Slg. 1998, II-869, II-901 Rn. 89; Urt. v. 12. 7. 2001, verb. Rs. T-202/98, T-204/98 und T-207/98 – Tate & Lyle u. a./Kommission, Slg. 2001, II-2035, II-2082 f. Rn. 143 f.; Urt. v. 20. 3. 2002, Rs. T-23/99 – LR AF 1998/Kommission, Slg. 2002, II-1705, II-1791 Rn. 236 f. 423 Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 26; Dannecker/Fischer-Fritsch, Das EG-Kartellrecht in der Bußgeldpraxis, S. 348; Engels, Unternehmensvorsatz, S. 66; Eufinger, WRP 2012, 1488, 1489; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/ Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 12 [77. Lfg.: Oktober 2012]. 424 Vgl. Engels, Unternehmensvorsatz, S. 66; siehe auch de Bronett, VO 1/2003, Art. 30 Rn. 1; Klees, Kartellverfahrensrecht, § 5 Rn. 33; Vogel, in: Sieber u. a., Europäisches Strafrecht, § 6 Rn. 25. 425 Vgl. de Bronett, VO 1/2003, Art. 30 Rn. 1; Miersch, in: Dalheimer/Feddersen/Miersch, VO 1/2003, Art. 30 Rn. 1 [26. Lfg.: März 2005]; Ritter, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Art. 30 VO 1/ 2003 Rn. 1 f.; Sura, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 30 VO 1/2003 Rn. 2; Theurer, Geldbußen im EU-WettbR, S. 79; W. Weiß, in: L/M/R, KartellR, Art. 30 VerfVO Rn. 2; vgl. auch EuGH, Urt. v. 15. 7. 1970, Rs. 41/69 – ACF Chemiefarma/Kommission, Slg. 1970, 661, 695 Rn. 101/104. 426 Vgl. Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 25; Theurer, Geldbußen im EU-WettbR, S. 77. Für den Präventionsgedanken im Kartellrecht dezidiert Ackermann, ZWeR 2010, 329 ff. 427 Vgl. Heitzer, Punitive Sanktionen, S. 38; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 4. 428 Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20. Januar 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen („EG-Fusionskontrollverordnung“), ABl. 2004 L 24, S. 1.
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sungsmaßstab ist danach wie bei repressiven Sanktionen zwingend das begangene Unrecht.429 So kommt dem repressiven Zweck wie dem allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der eine spezielle Ausformung in Art. 49 Abs. 3 GRC gefunden hat, eine limitierende Funktion für die Bußgeldhöhe zu.430 Das Kartellbußgeld hat damit eine ahnende Funktion.431 Insoweit unterscheidet es sich von dem bloß beugenden und präventiven Wesen432 des Zwangsgeldes nach Art. 24 VO 1/2003, der anderen Sanktion des Kapitel VI der VO 1/2003.433 Entsprechend hat der EGMR das Voraussetzen von Schuld434 sowie die Berücksichtigung des Maßes an Verschulden bei der Strafzumessung435 als punitive Elemente bei seiner auf Einzelkriterien gestützten Beurteilung einer „strafrechtlichen Anklage“ i.S.d. Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK angesehen. Der Veröffentlichung der Bußgeldentscheidung gem.
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König, Das Europäische Verwaltungssanktionsrecht und die Anwendung strafrechtlicher Rechtsgrundsätze, S. 87; Theurer, Geldbußen im EU-WettbR, S. 62; vgl. auch Heine, ZStrR 2007, 105, 114. 430 Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 24; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 13 [77. Lfg.: Oktober 2012], Bd. III, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 13 [70. Lfg.: Januar 2010]. 431 Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 24; Dannecker/Müller, in: Wabnitz/Janovsky, Hdb. des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, Kap. 18 Rn. 217; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 12 [77. Lfg.: Oktober 2012]. Engels, Unternehmensvorsatz, S. 66 sieht diese nicht in einer Vergeltung oder Sühne, sondern in der Bekräftigung, dass an der Norm auch in Zukunft festgehalten werden solle; dazu auch Heitzer, Punitive Sanktionen, S. 38; ähnlich Kindhäuser/Meyer, a.a.O., Rn. 13; eine Sühnefunktion annehmend Dannecker/Fischer-Fritsch, Das EG-Kartellrecht in der Bußgeldpraxis, S. 6. 432 de Bronett, VO 1/2003, Art. 24 Rn. 2; Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 29 f., Art. 24 VO 1/2003 Rn. 6 ff.; Feddersen, in: Dalheimer/ Feddersen/Miersch, VO 1/2003, Art. 24 Rn. 1 [26. Lfg.: März 2005]; Klees, Kartellverfahrensrecht, § 10 Rn. 139; Schütz, in: Busche/Röhling, KöKo, KartellR, Bd. 4, Art. 24 VO 1/2003 Rn. 1. 433 Dannecker/Müller, in: Wabnitz/Janovsky, Hdb. des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, Kap. 18 Rn. 217; Heine, ZStrR 2007, 105, 114; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/ Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 14 [77. Lfg.: Oktober 2012]; König, Das Europäische Verwaltungssanktionsrecht und die Anwendung strafrechtlicher Rechtsgrundsätze, S. 80; Mestmäcker/Schweitzer, Europ. WettbR, § 21 Rn. 2; Pascu, Strafrechtliche Fundamentalprinzipien im Gemeinschaftsrecht, S. 51; R. Winkler, Die Rechtsnatur der Geldbuße, S. 26 f. 434 EGMR, Urt. v. 10. 6. 1996 (GK), Nr. 19380/92 – Benham/Vereinigtes Königreich, Recueil des arrêts et décisions 1996-III n8 10, 741, 756 Rn. 56 = ÖJZ 1996, 915, 915 f.; Meyer, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art. 6 Rn. 25; ebenso argumentieren Heitzer, Punitive Sanktionen, S. 36; Lorenzmeier, ZIS 2008, 20, 22. 435 EGMR, Urt. v. 9. 2. 1995, Nr. 17440/90 – Welch/Vereinigtes Königreich, Série A n8 307A, 5, 14 Rn. 33 = ÖJZ 1995, 511. Vgl. zur Fahrlässigkeit als Milderungsgrund, Kommission, Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, ABl. 2006 C 210, S. 2, 4 Rn. 29 2. Spiegelstrich.
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Art. 30 VO 1/2003 kommt hingegen keine solche repressive Funktion zu.436 Mit ihr wird keine öffentliche Stigmatisierung angestrebt, sondern soll die präventive Funktion der Geldbuße bestärkt werden.437 Die einhergehende Rufschädigung des Unternehmens ist ein bloß faktischer, der oben beschriebenen Funktion wegen in Kauf genommener Reflex.438 (4) Die sozial-ethische Verwerflichkeit Der Qualifikation des Zwecks der Kartellgeldbuße als strafrechtlich i.S.d. Art. 6, 7 EMRK steht schließlich nicht entgegen, dass ihr verbreitet439 die als das wesentliche Kriterium einer Kriminalstrafe identifizierte sozial-ethische Verwerflichkeit abgesprochen wird. Für den Strafbegriff der EMRK kommt es auf eine über den repressiven Zweck hinausgehende moralische Verwerflichkeit nicht an. Im Urteil in der Rechtssache Öztürk/Deutschland hat der EGMR ein Straßenverkehrsvergehen, das in Deutschland durch das Gesetz über Ordnungswidrigkeiten aus dem Kriminalstrafrecht herausgenommen wurde, weiterhin als Strafe angesehen. Neben dem allgemeinen Charakter des Tatbestandes reiche vor allem der sowohl präventive als auch repressive Zweck der Maßnahme aus, um eine Strafe bejahen zu können.440 In der Rechtsprechung des EGMR findet sich zudem der Begriff des „significant degree of stigma“ bzw. „caractère infamant“, der wohl mit der sozial-ethischen Verwerflichkeit gleichgesetzt werden muss, da der EGMR anhand dieses Merkmals das Strafrecht im garantierechtlichen Sinne in Kernstrafrecht (engl. „hard core of criminal law“, frz. „noyau dur du droit pénal“) und sonstiges Strafrecht unterteilt und so Abstufungen des Gewährleistungsgehalts des Art. 6 Abs. 1 EMRK begründet.441 Der Art. 7 Abs. 1 EMRK entsprechende Anwendungsbereich der „strafrechtlichen Anklage“ (engl. „criminal charge“, frz. „accusation en matière pénale“) ist aber jeweils eröffnet. Ein sittlich-ethisches Unwerturteil kann daher nicht als spezifisch punitives Kriterium identifiziert werden. Der Streit um den sittlich-ethischen Tadel als das (vermeintliche) Abgrenzungskriterium des Kriminalstrafrechts und seine Übernahme im europäischen Recht kann damit dahinstehen. Kartelle „verurteilende“
436 Engels, Unternehmensvorsatz, S. 66; A. Koch, Verwaltungssanktionen im europäischen und niederländischen Verwaltungs- und Kartellrecht, S. 303 f.; zur rein präventiven Funktion siehe bereits die Nachw. in Teil 2 Fn. 425. 437 Engels, Unternehmensvorsatz, S. 66; A. Koch, Verwaltungssanktionen im europäischen und niederländischen Verwaltungs- und Kartellrecht, S. 303 f.; siehe soeben S. 99. 438 A. Koch, Verwaltungssanktionen im europäischen und niederländischen Verwaltungsund Kartellrecht, S. 304. Theurer, Geldbußen im EU-WettbR, S. 79 misst der Veröffentlichung daher, wenn schon keine repressive Funktion, doch „eine gewisse repressive Wirkung“ zu. 439 Siehe die Nachw. in Teil 2 Fn. 364. 440 EGMR, Urt. v. 21. 2. 1984 (Plenum), Nr. 8544/79 – Öztürk/Deutschland, Série A n8 73, 6, 20 f. Rn. 53 = EGMR-E 2 (Nr. 29), 329, 339 f.; ebenso Urt. v. 23. 11. 2006 (GK), Nr. 73053/ 01 – Jussila/Finnland, Reports of judgments and decisions 2006-XIV, 7, 10 f. Rn. 38. 441 Vertiefend zu dieser Rspr. noch unten S. 190 ff.
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Stellungnahmen der Europäischen Kommission oder einzelner Mitglieder442 enthalten ferner ohnehin keinen moralischen Tadel.443 Nach dem obigen Ergebnis kann in der bloßstellenden Nebenwirkung der Veröffentlichung der Bußgeldentscheidung erst Recht kein solches sozial-ethisches Unwerturteil gesehen werden.444 Gleichwohl misst der EGMR jeder Strafe ein demütigendes Element zu.445 Bei der Beurteilung, ob eine unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung (engl. „inhuman or degrading treatment or punishment“, frz. „des peines ou traitements inhumains ou dégradants“) i.S.d. Folterverbots des Art. 3 EMRK vorlag, stellte der EGMR fest, dass eine strafrechtliche Verurteilung nicht allein wegen ihres gewöhnlichen und vielleicht fast unvermeidlichen Elements der Demütigung (engl. „usual and perhaps almost inevitable element of humiliation“, frz. „aspect humiliant qu’elle [la peine] présente d’ordinaire et presque inévitablement“) den Qualifizierungen des Art. 3 EMRK genüge.446 Vielmehr könne der Betroffene „be humiliated by the mere fact of being criminally convicted“ (frz. „peut être humilié par le simple fait qu’on le condamne au pénal“).447 Dieses Kriterium der Demütigung deckt sich damit nicht mit dem soeben identifizierten sozialethischen Unwerturteil.448 Der EGMR knüpft vielmehr an den mit jeder hoheitlichen Strafe verbundenen spezifischen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen an.449
442 Siehe etwa Kroes, zitiert nach Kommission, Pressemitteilung IP/07/80 vom 24. 1. 2007, abrufbar unter http://europa.eu/rapid/press-release_IP-07-80_de.htm, zuletzt besucht am 18. 11. 2014: ein Kartell habe „die öffentlichen Versorgungsunternehmen und die Verbraucher mehr als 16 Jahre lang betrogen“; Monti, Fighting Cartels Why and How?, Speech at 3rd Nordic Competition Policy Conference Stockholm, 11./12. 9. 2000, SPEECH/00/295, abrufbar unter http:// europa.eu/rapid/press-release_SPEECH-00-295_en.htm?locale=en, zuletzt besucht am 18. 11. 2014: „Cartels are cancers on the open market economy“. 443 Theurer, Geldbußen im EU-WettbR, S. 73. 444 Vgl. zur Beeinträchtigung des Rufs und des Ansehens des betroffenen Unternehmens durch die der Zustellung der Bußgeldentscheidung vorgezogene Bekanntgabe des Entscheidungsinhaltes in der Presse EuG, Urt. v. 6. 7. 2000, Rs. T-62/98 – Volkswagen/Kommission, Slg. 2000, II-2707, II-2818 f. Rn. 281 f.; bestätigt durch EuGH, Urt. v. 18. 9. 2003, Rs. C-338/00 P – Volkswagen/Kommission, Slg. 2003, I-9189, I-9285 ff. Rn. 163 ff.; EuG, Urt. v.5.4.2006, Rs. T-279/02 – Degussa/Kommission, Slg. 2006, II-897, II-1037 Rn. 410 f. 445 Appel, Verfassung und Strafe, S. 283 f. 446 EGMR, Urt. v. 25. 4. 1978, Nr. 5856/72 – Tyrer/Vereinigtes Königreich, Série A n8 26, 4, 15 Rn. 30 = EGMR-E 1 (Nr. 28), 268, 272 f. 447 EGMR, Urt. v. 25. 4. 1978, Nr. 5856/72 – Tyrer/Vereinigtes Königreich, Série A n8 26, 4, 15 Rn. 30 = EGMR-E 1 (Nr. 28), 268, 272 f. 448 So auch Appel, Verfassung und Strafe, S. 284 (Fn. 144). 449 Appel, Verfassung und Strafe, S. 284; zu den mit einer hoheitlichen Strafe verbundenen Grundrechtsseingriffe siehe noch unten S. 138 f.
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(5) Bewertung Mit Kommission,450 Rechtsprechung451 und Literatur452 ist festzustellen, dass das kartellrechtliche Bußgeld sowohl präventive als auch repressive Strafzwecke verfolgt. Damit erfüllt es die klassischen Merkmale einer Strafe.453 Den strafrechtlichen Zweck einer Maßnahme i.S.d. EMRK macht nur eine sowohl präventive als auch repressive Funktion aus. Auf eine sozialethische Missbilligung kommt es nicht an. Das trotz der gebotenen Gesamtbetrachtung durchaus zentrale Kriterium der Art und des Zwecks der Maßnahme deutet damit auf das Vorliegen einer Strafe hin. cc) Die Einordnung nach dem bei der Anordnung und dem Vollzug der Geldbuße angewandten Verfahren Der EGMR nimmt ferner die Natur des konventionsstaatlichen Verfahrens in den Blick. Das unionsrechtliche Kartellbußgeldverfahren nach der VO 1/2003 ist bei allein formaler Betrachtung dem Verwaltungsrecht zuzuordnen. Die VO 1/2003 unterscheidet nicht nach den verfahrensabschließenden Entscheidungen.454 Es handelt sich einheitlich um ein bloßes Verwaltungsverfahren,455 sodass auch die 450 Kommission, Dreizehnter Bericht über die Wettbewerbspolitik, Rn. 62; dies., Entsch. v. 21. 10. 1998, IV/35.691/E-4 – Fernwärmetechnik-Kartell, ABl. 1999 L 24, S. 1, 63 Rn. 168; Entsch. v. 18. 7. 2001, COMP/E-1/36.490 – Graphitelektroden, ABl. 2002 L 100, S. 1, 33 Rn. 152. 451 EuGH, Urt. v. 15. 7. 1970, Rs. 41/69 – ACF Chemiefarma/Kommission, Slg. 1970, 661, 703 Rn. 172/176; Urt. v. 15. 7. 1970, Rs. 44/69 – Buchler/Kommission, Slg. 1970, 733, 763 f. Rn. 49; Urt. v. 15. 7. 1970, Rs. 45/69 – Boehringer/Kommission, Slg. 1970, 769, 810 Rn. 53; EuG, Urt. v. 5. 4. 2006, Rs. T-279/02 – Degussa/Kommission, Slg. 2006, II-897, II-1023 f. Rn. 362; Urt. v. 12. 12. 2007, verb. Rs. T-101/05 und T-111/05 – BASF und UCB/Kommission, Slg. 2007, II-4949, II-4974 Rn. 43. 452 Arbault, Competition Policy Newsletter 2003/2, 1 f.; Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 23 ff.; Dannecker/Fischer-Fritsch, Das EGKartellrecht in der Bußgeldpraxis, S. 6; Heitzer, Punitive Sanktionen, S. 21; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 12 f. [77. Lfg.: Oktober 2012]; Nowak, in: L/M/R, KartellR, Art. 23 VerfVO Rn. 4; Schwarze, EuZW 2003, 261, 267 f.; ders./Weitbrecht, Grundzüge des europ. KartellverfahrensR, § 7 Rn. 17; Soltész/Steinle/Bielesz, EuZW 2003, 202, 206; Sura, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 6; Tiedemann, in: Vogler u. a., FS Jescheck, Bd. II, S. 1411, 1416. 453 I.S.d. herrschenden sog. Vereinigungstheorie; vgl. Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 4 f.; Schwarze, EuZW 2003, 261, 265. 454 Dannecker, ZStW 111 (1999), 256, 257; ders./Müller, in: Wabnitz/Janovsky, Hdb. des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, Kap. 18 Rn. 238; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/ Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 195 [77. Lfg.: Oktober 2012]. 455 St. Rspr.; EuGH, Urt. v. 13. 7. 1966, verb. Rs. 56 und 58/64 – Consten und Grundig/ Kommission, Slg. 1966, 322, 385 f.; Urt. v. 15. 7. 1970, Rs. 44/69 – Buchler/Kommission, Slg. 1970, 733, 756 Rn. 20; Urt. v. 18. 5. 1982, Rs. 155/79 – AM & S/Kommission, Slg. 1982, 1575, 1611 Rn. 23; EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008,
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verwaltungsrechtlichen Grundsätze wie etwa ein Ermessensspielraum der Verwaltungsbehörde und die damit verbundene Öffnung der Sanktionsentscheidung für Zweckmäßigkeits- und Effizienzgesichtspunkte anzuwenden sind.456 Auch ist die die Sanktion aussprechende hoheitliche Stelle, die Europäische Kommission, eine bloße Verwaltungsbehörde, die bereits das Ermittlungsverfahren geführt hat, und kein Gericht.457 Gleichwohl trifft Art. 23 Abs. 5 VO 1/2003 keine entsprechende Aussage über das zur Anordnung führende Verfahren. Die Norm bleibt allein auf die nach Art. 23 Abs. 1, 2 VO 1/2003 getroffenen „Entscheidungen“ beschränkt.458 Auch das Vollstreckungsverfahren unterscheidet sich von einem klassischen Strafvollzug. Das Kartellbußgeld wird gem. Art. 299 Abs. 2 S. 1 AEUV nach den Vorschriften des Zivilprozessrechts des Staates, in dessen Hoheitsgebiet es stattfindet, vollstreckt. Entsprechend besteht auch keine Möglichkeit einer Ersatzfreiheitsstrafe,459 die der EGMR als punitives Indiz identifiziert hat.460 Auch kann schließlich offen bleiben, ob mit der zwingenden Veröffentlichung der Bußgeldentscheidung gem. Art. 30 VO 1/2003 eine Parallele zur Eintragung in ein Strafregister gezogen werden kann. Selbst wenn dies anzunehmen wäre, so ist letztere nach der Rechtsprechung des EGMR nicht entscheidend.461 Das Wesen des Kartellverfahrens spricht daher gegen das Vorliegen einer Strafe. Allerdings muss hier wie oben462 zur schwachen Gewichtung des Kriteriums der II-1501, II-1553 Rn. 113; Dannecker, ZStW 111 (1999), 256, 257; ders./Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 214; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/ Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 195 [77. Lfg.: Oktober 2012]. 456 Vgl. auch König, Das Europäische Verwaltungssanktionsrecht und die Anwendung strafrechtlicher Rechtsgrundsätze, S. 47; Schwarze, EuZW 2003, 261, 266. 457 Hierauf wird u. a. verwiesen, um eine kriminalstrafrechtliche Rechtsnatur der Kartellgeldbuße zu verneinen; Dannecker/Fischer-Fritsch, Das EG-Kartellrecht in der Bußgeldpraxis, S. 7; Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 337; Mestmäcker/ Schweitzer, Europ. WettbR, § 21 Rn. 9. Vgl. Art. 92 GG zum dt. Recht; dazu Möschel, WuW 2010, 869 ff. 458 Engelsing/Schneider, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 23 VO 1/ 2003 Rn. 15. 459 Lorenzmeier, ZIS 2008, 20, 24. Dies unabhängig davon, dass gegen „Unternehmen“ und „Unternehmensvereinigungen“ ohnehin keine Freiheitsstrafe denkbar ist. Die dt. ZPO sieht als ultima ratio den persönlichen Sicherheitsarrest in Form des Haftarrestes gem. §§ 918, 922, 933 ZPO, bei juristischen Personen gegen den gesetzlichen Vertreter (Huber, in: Musielak, ZPO, § 918 Rn. 2), vor. Dieser dient aber allein der Sicherung der Zwangsvollstreckung, nicht als Ersatz der Geldleistung. Eine Anrechnung auf die Freiheitsstrafe gem. § 51 Abs. 1 S. 1 StGB ist aber nach KG, NStZ-RR 2005, 388 möglich. 460 EGMR, Urt. v. 9. 2. 1995, Nr. 17440/90 – Welch/Vereinigtes Königreich, Série A n8 307A, 5, 14 Rn. 33 = ÖJZ 1995, 511. 461 EGMR, Urt. v. 2. 9. 1998, Nr. 26138/95 – Lauko/Slowakei, Recueil des arrêts et decisions 1998-VI n888, 2495, 2505 Rn. 58; kritischer Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 24. 462 S. 93 ff.
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Einordnung der Maßnahme durch das Unionsrecht argumentiert werden. Die autonome Auslegung der EMRK dient der Verhinderung nationaler Rechtsumgehungsversuche.463 Da der nationale Gesetzgeber neben der materiellrechtlichen Qualifikation der Maßnahme auch zur Ausgestaltung des Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahren berufen ist, darf er ebenfalls nicht in die Lage versetzt werden, über die Ausgestaltung des jeweiligen Verfahrens die Geltung strafrechtlicher Grundsätze der EMRK auszuschließen. Nur wenn es sich um ein Strafverfahren im nationalen Sinn handelt, hält sich der EGMR wiederum an diese nationale Beurteilung gebunden.464 Wurde das Verfahren hingegen abweichend ausgestaltet, so ermittelt der EGMR „the realities of the procedure in question“ (frz. „analyser les réalités de la procédure en litige“)465 und überprüft es auf Indizien des Strafverfahrensrechts.466 Von der konkreten Ausgestaltung des Kartellverfahrens im Recht der EU kann daher nicht auf die fehlende Strafrechtlichkeit der Geldbuße geschlossen werden. Es wird wie die Einordnung der Geldbuße im Recht der EU als ein schwaches Indiz in die Gesamtbetrachtung einzubeziehen sein.467 Auch das Fehlen einer Ersatzfreiheitsstrafe steht dem strafrechtlichen Charakter mithin nicht entgegen.468 dd) Die Einordnung nach der Schwere der Bußgeldsanktion Abschließend zieht der EGMR die Schwere der verhängten Sanktion heran.469 Diese richtet sich nach der abstrakten Maximalstrafdrohung.470 Allerdings kommt 463 EGMR, Urt. v. 21. 2. 1984 (Plenum), Nr. 8544/79 – Öztürk/Deutschland, Série A n8 73, 6, 17 f. Rn. 49 = EGMR-E 2 (Nr. 29), 329, 337 f.; Lorenzmeier, ZIS 2008, 20, 23. 464 EGMR, Urt. v. 8. 6. 1976/23. 11. 1976 (Plenum), Nr. 5100/71, 5101/71, 5102/71, 5354/ 72 und 5370/72 – Engel u. a./Niederlande, Série A n8 22, 4, 34 Rn. 81 = EGMR-E 1 (Nr. 23), 178,189 f. zu Art. 6 EMRK. 465 Zu Art. 6 EMRK EKMR, Bericht v. 30. 5. 1991, Nr. 11.598/85 – Société Stenuit/ Frankreich, Série B n8 213-A = Anhang zu EGMR, Urt. v. 27. 2. 1992, Nr. 11598/85 – Société Stenuit/Frankreich, Série A n8 232, 9, 12 Rn. 58; Urt. v. 27. 2. 1980, Nr. 6903/75 – Deweer/ Belgien, Série A n8 35, 4, 23 Rn. 44 = EGMR-E 1 (Nr. 42), 463, 471; Urt. v. 19. 2. 2009, Nr. 16404/03 – Shabelnik/Ukraine, nicht in amtl. Slg., Rn. 52. 466 In EGMR, Urt. v. 9. 2. 1995, Nr. 17440/90 – Welch/Vereinigtes Königreich, Série A n8 307-A, 5, 14 Rn. 33 = ÖJZ 1995, 511 stellte der EGMR auf die Möglichkeit einer Ersatzfreiheitsstrafe ab, in EGMR, Urt. v. 17. 12. 2009, Nr. 19359/04 – M./Deutschland, nicht in amtl. Slg., Rn. 127 = NJW 2010, 2495, 2498 f. etwa auf die weitgehende Identität mit dem Strafvollzug. 467 Ebenso ohne Bezug zur Rspr. des EGMR Heitzer, Punitive Sanktionen, S. 44. 468 Zu Art. 6 EMRK EGMR, Urt. v. 23. 7. 2002, Nr. 34619/97 – Janosevic/Schweden, Reports of judgments and decisions 2002-VII, 7, 27 f. Rn. 69; Urt. v. 1. 2. 2005, Nr. 61821/00 – Ziliberberg/Moldawien, nicht im amtl. Slg., Rn. 34; A. Koch, Verwaltungssanktionen im europäischen und niederländischen Verwaltungs- und Kartellrecht, S. 56; Lorenzmeier, ZIS 2008, 20, 25; siehe auch Trechsel, Human Rights in Criminal Proceeding, S. 24. 469 Ohne Bezug zur EMRK bei der Prüfung der Anwendbarkeit des nulla poena-Grundsatzes ebenso Dannecker/Müller, in: Wabnitz/Janovsky, Hdb. des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, Kap. 18 Rn. 217; Heitzer, Punitive Sanktionen, S. 41 ff.; Möhlenkamp, in:
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diesem Kriterium kein allein entscheidendes Gewicht zu.471 Auch viele präventive Maßnahmen, die nicht strafrechtlich sind, können erhebliche Auswirkungen auf die betroffene Person haben.472 Auch kann die Geringfügigkeit der Sanktion den Strafcharakter nach dem Zweck der Maßnahme allein nicht nehmen.473 Eine drohende Freiheitsstrafe fällt nach dem EGMR grundsätzlich in den Anwendungsbereich der Art. 6, 7 EMRK,474 ist aber keine zwingende Voraussetzung.475 Zwar nennt der EGMR keine Grenzen, wann darunter eine ausreichende Schwere erreicht wurde,
Schwarze, Instrumente zur Durchsetzung des europäischen Wettbewerbsrechts, S. 121, 125; Möschel, DB 2010, 2377, 2378 f.; Schwarze, EuZW 2003, 261, 265; kritisch Appel, Verfassung und Strafe, S. 277 ff., der dieses Abgrenzungskriterium als untauglich erachtet. 470 Zu Art. 6 EMRK EGMR, Urt. v. 28. 6. 1984, Nr. 7819/77 und 7878/77 – Campbell und Fell/Vereinigtes Königreich, Série A n8 80, 7 , 37 f. Rn. 72 = EGMR-E 2 (Nr. 37), 409, 420 f.; Urt. v. 22. 5. 1990, Nr. 11034/84 – Weber/Schweiz, Série A n8 177, 6, 18 Rn. 34 = EuGRZ 1990, 265, 266; Urt. v.10. 6. 1996 (GK), Nr. 19380/92 – Benham/Vereinigtes Königreich, Recueil des arrêts et décisions 1996-III, n8 10, 741, 756 Rn. 56 = ÖJZ 1996, 915, 915 f.; Urt. v. 9. 10. 2003 (GK), Nr. 39665/98 und 40086/98 – Ezeh und Connors/Vereinigtes Königreich, Reports of judgments and decisions 2003-X, 107, 138 Rn. 120; Appel, Verfassung und Strafe, S. 275; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Bd. 11, Art. 6 EMRK Rn. 78; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 14 Rn. 20; A. Koch, Verwaltungssanktionen im europäischen und niederländischen Verwaltungs- und Kartellrecht, S. 56; Lorenzmeier, ZIS 2008, 20, 24; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 Rn. 25. 471 EGMR, Urt. v. 9. 2. 1995, Nr. 17440/90 – Welch/Vereinigtes Königreich, Série A n8 307A, 5, 14 Rn. 32 = ÖJZ 1995, 511, 512; Entsch. v. 7. 12. 2006, Nr. 29514/05 – Van der Velden/ Niederlande, Reports of judgments and decisions 2006-XV, 339, 345 Rn. 1; Urt. v. 17. 12. 2009, Nr. 19359/04 – M./Deutschland, nicht in amtl. Slg., Rn. 120 = NJW 2010, 2495, 2497 f.; ebenso zur Bestimmung der Rechtsnatur einer Sanktion ohne Bezug zur EMRK EuGH, Urt. v. 18. 11. 1987, Rs. 137/85 – Maizena/BALM, Slg. 1987, 4587, 4607 Rn. 13; Urt. v. 27. 10. 1992, Rs. C-240/90 – Deutschland/Kommission, Slg. 1992, I-5383, I-5431 Rn. 25; Urt. v. 11. 7. 2002, Rs. C-210/00 – Käserei Champignon Hofmeister, Slg. 2002, I-6453, I-6496 Rn. 33. 472 EGMR, Urt. v. 9. 2. 1995, Nr. 17440/90 – Welch/Vereinigtes Königreich, Série A n8 307A, 5, 14 Rn. 32 = ÖJZ 1995, 511, 512; Entsch. v. 7. 12. 2006, Nr. 29514/05 – Van der Velden/ Niederlande, Reports of judgments and decisions 2006-XV, 339, 345 Rn. 1; Urt. v. 17. 12. 2009, Nr. 19359/04 – M./Deutschland, nicht in amtl. Slg., Rn. 120 = NJW 2010, 2495, 2497 f.; Appel, Verfassung und Strafe, S. 277. 473 Zu Art. 6 EMRK EGMR, Urt. v. 21. 2. 1984 (Plenum), Nr. 8544/79 – Öztürk/Deutschland, Série A n8 73, 6, 21 Rn. 54 = EGMR-E 2 (Nr. 29), 329, 340; Urt. v. 25. 8. 1987 (Plenum), Nr. 9912/82 – Lutz/Deutschland, Série A n8 123, 7, 23 Rn. 54 = EGMR-E 3 (Nr. 56), 637, 646; Urt. v. 23. 11. 2006 (GK), Nr. 73053/01 – Jussila/Finnland, Reports of judgments and decisions 2006-XIV, 7, 13 f. Rn. 31; Appel, Verfassung und Strafe, S. 277. 474 Appel, Verfassung und Strafe, S. 275 f.; Lorenzmeier, ZIS 2008, 20, 25; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 Rn. 26. 475 So ausdrücklich EGMR, Urt. v. 2. 9. 1998, Nr. 26138/95 – Lauko/Slowakei, Recueil des arrêts et decisions 1998-VI n888, 2495, 2505 Rn. 58: „the fact that the commission of the offence is not punishable by imprisonment and is not entered on the criminal record are not decisive of the classification of the offence for the purpose of the applicability of Article 6 § 1“, frz. „le fait que l’auteur de l’infraction n’encourt pas l’emprisonnement ni de mention au casier judiciaire, ne sont pas déterminants quant à la qualification de l’infraction aux fins de l’applicabilité de l’article 6 § 1“.
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jedoch müssen von der Sanktion der Schwere einer nicht bloß unerheblichen Freiheitsstrafe vergleichbare Konsequenzen ausgehen.476 Nach Art. 23 Abs. 2 UAbs. 2 VO 1/2003 darf die Geldbuße gegen ein Unternehmen oder eine Unternehmensvereinigung „10 % seines bzw. ihres jeweiligen im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes nicht übersteigen.“ Rn. 13 der Bußgeldleitlinien beschränkt477 diesen Betrag, indem lediglich der „Wert der von dem betreffenden Unternehmen im relevanten räumlichen Markt innerhalb des EWR verkauften Waren oder Dienstleistungen, die mit dem Verstoß in einem unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang stehen“, zugrunde gelegt wird. Selbst wenn diese Beschränkung durch die Leitlinien berücksichtigt wird, so kann die Kappungsgrenze je nach Größe des Unternehmens im Bereich mehrerer hundert Millionen Euro liegen. Verstärkend kann auf die tatsächlich verhängten Bußgeldhöhen verwiesen werden,478 auch wenn sie die Kappungsgrenze vielfach nicht erreichen.479 Das bisherige Rekordbußgeld gegen ein einzelnes Unternehmen betrug 880 Millionen Euro.480 Die Tendenz der letzten Jahre ist steigend.481 Nicht darauf eingegangen werden muss allerdings, dass den betroffenen Unternehmen als Folge der Veröffentlichung der Bußgeldentscheidung meist auch private Schadensersatzklagen482 sowie wegen der Geltung des Auswirkungsprinzips auch Geldbußen anderer Kartellbehörden drohen.483 Diese sind vielmehr als Reflexe des EU-Kartellbußgeldes anzusehen. Das Kartellbußgeld unterscheidet sich damit nicht nur in seiner Art, der Zahlung einer Geldsumme, sondern auch in seiner Wirkung nicht von
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Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24 Rn. 22; Lorenzmeier, ZIS 2008, 20, 25. Zu den Bindungswirkungen der Leitlinien bereits oben S. 53. 478 Vgl. zur Berücksichtigung der tatsächlich verhängten Strafe im Rahmen des Art. 6 EMRK EGMR, Urt. v. 23. 7. 2002, Nr. 34619/97 – Janosevic/Schweden, Reports of judgments and decisions 2002-VII,7, 27 f. Rn. 69; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 Rn. 25. 479 Vgl. Kommission, Cartel Statistics, Abbildung 1.11, abrufbar unter http://ec.europa.eu/ competition/cartels/statistics/statistics.pdf, zuletzt besucht am 18. 11. 2014. 480 Kommission, Entsch. v. 12. 11. 2008, COMP/39.125 – Autoglas, zusammengefasst in ABl. 2009 C 173, S. 13; geändert durch zwei Korrekturen v. 4. 12. 2008 und 11. 2. 2009. Eine Aufstellung der höchsten Kartellbußgelder findet sich in Kommission, Cartel Statistics, Abbildung 1.5, abrufbar unter http://ec.europa.eu/competition/cartels/statistics/statistics.pdf, zuletzt besucht am 18. 11. 2014. 481 Vgl. Kommission, Cartel Statistics, Abbildungungen 1.1 bis 1.4, abrufbar unter http://ec. europa.eu/competition/cartels/statistics/statistics.pdf, zuletzt besucht am 18. 11. 2014. Siehe auch Meyring, WuW 2010, 157; Möschel, DB 2010, 2377, 2377 f. 482 Zur Funktion des Art. 30 VO 1/2003 siehe bereits S. 99; zur Vereinfachung von Schadensersatzklagen durch sog. follow on-Klagen vgl. § 33 Abs. 4 GWB. 483 Wegen der Geltung des ne bis in idem-Grundsatz werden im Wesentlichen Sanktionen von Drittstaaten relevant; allgemein dazu siehe etwa Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/ Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 257 ff., insb. Rn. 271 f. [77. Lfg.: Oktober 2012]. 477
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einer (Kriminal-)Geldstrafe in den nationalen Strafrechtsordnungen.484 Es überschreitet sogar die Höchstgrenzen nationaler Geldstrafen, etwa die des StGB, deutlich.485 Es ist wirtschaftlich stark einschränkend und kann sich gar existenzgefährdend auswirken.486 Entsprechend sieht Rn. 35 der Bußgeldleitlinien unter freilich engen Voraussetzungen eine Ermäßigung der Geldbuße in diesen Fällen vor.487 Auch das Kriterium der Schwere der verhängten Sanktion deutet damit auf die Strafrechtlichkeit des Kartellbußgeldes hin.488 ee) Zwischenergebnis: Gesamtbetrachtung Das kartellrechtliche Bußgeld im Recht der Union verfolgt präventive und repressive Zwecke und erfüllt damit die klassischen Merkmale einer Strafe. In manchen Mitgliedstaaten stellt es sich gar als Kriminalstrafe dar. Zudem adressiert die Verbotsnorm die Allgemeinheit. Verstärkend kommt hinzu, dass die Kartellgeldbußen eine Höhe erreicht haben, die sie in der Sanktionsschwere einer Freiheitsstrafe gleichen lassen. Dass das Unionsrecht es nicht dem (Kriminal-)Strafrecht zuordnet und kein strafrechtliches Verfahren bereitstellt, kann demgegenüber aus den dort genannten Gründen nicht ins Gewicht fallen. Ebenso wenig steht der wirtschaftsrechtliche Kontext entgegen, dem die Kartellgeldbuße entstammt. Der von Art. 23 Abs. 2 lit. a VO 1/2003 verlangte Kartellrechtsverstoß ist in der Gesamtschau daher eine „strafbare Handlung oder Unterlassung“ (engl. „criminal offence“, frz. „infraction“) i.S.d. Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK. c) Verurteilung und Verhängung von Strafe Nach dem Textbefund beschränkt sich der Anwendungsbereich des Art. 7 EMRK schließlich auf Verurteilungen (engl. „be held guilty“, frz. „être condamné“, Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK) und die Verhängung von Strafen (engl. „penalty be imposed“, 484 Vgl. zur Berücksichtigung der nationalen Rechtsordnungen auch beim Merkmal der Schwere der Maßnahme EKMR, Entsch. v. 3. 3. 1983, Nr. 8998/80 – X./Österreich, DR 32, 150, 153 = EuGRZ 1984, 74, 75; Appel, Verfassung und Strafe, S. 279. 485 Heine, ZStrR 2007, 105, 106. 486 Schwarze, EuZW 2003, 261, 268; Weck/Camasesca, WuW 2013, 17, 23. Vgl. auch die Argumentation der Klägerin in ihrer Klage v. 14. 9. 2009, Rs. T-532/09 – Novácke chemické zavody/Kommission, ABl. 2009 C 267, S. 77. 487 Siehe die Beispiele aus der Kommissionspraxis; Kommission, Entsch. v. 17. 10. 1983, IV/30.064 – Gußeisen- und Gußstahlwalzen, ABl. 1983 L 317, S. 1, 15 Rn. 74, 76; Entsch. v. 6. 8. 1984, IV/30.350 – Zinc Producer Group, ABl.1984 L 220, S. 27, 44 Rn. 104; Entsch. v. 10. 7. 1986, IV/31.371 – Dach- und Dichtungsbahnen, ABl. 1986 L 232, S. 15, 30 Rn. 10. 488 So auch Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Bd. 11, Art. 6 EMRK Rn. 76; König, Das Europäische Verwaltungssanktionsrecht und die Anwendung strafrechtlicher Rechtsgrundsätze, S. 65; Lorenzmeier, ZIS 2008, 20, 25 („unzweifelhaft erfüllt“); Möschel, DB 2010, 2377, 2378 f.; Riley, E.C.L.R. 2010, 191, 200; Schwarze, EuZW 2003, 261, 267 f.; Thomas, JZ 2011, 485, 489 (Fn. 34).
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frz. „il n’est infligé aucune peine“, Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK). Namentlich Freisprüche, verfahrensleitende Maßnahmen, Nebenentscheidungen des Gerichts oder Entscheidungen im Strafvollzug sind nicht erfasst.489 Die Bußgeldentscheidung beendet das Verfahren gemäß der VO 1/2003. Die Kommission übt darin ihr Ermessen endgültig und verbindlich aus. Dass die Sanktion von der Verwaltungsbehörde Kommission ausgesprochen wird, ist unbeachtlich. Auch wenn der unverbindliche deutsche Wortlaut des Art. 7 Abs. 1 EMRK es nahe zu legen scheint, setzt Art. 7 EMRK nicht voraus, dass ein Gericht die „Verurteilung“ ausspricht bzw. die Strafe verhängt.490 d) Zwischenergebnis Der Anwendungsbereich des Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK erstreckt sich somit auf das unionsrechtliche Kartellbußgeldrecht.491 Dass die EU seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon nur über sehr beschränkte kriminalstrafrechtliche Kompetenzen verfügt,492 die Täterschaft auf Unternehmen und Unternehmensvereinigungen beschränkt ist und die EU in der Konsequenz keine Freiheitsstrafe verhängen kann, steht dem nicht entgegen. Ebenso wenig kommt es auf eine Bestimmung der Rechtsnatur der kartellrechtlichen Geldbuße an. Das konventionsrechtliche strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip bildet vielmehr in seiner völkerrechtlichen Verbindlichkeit für die Mitgliedstaaten einen Maßstab für die Anwendung der hier maßgeblichen Sanktionsnorm des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 VO 1/2003.
489 Demko, HRRS 2004, 19, 24; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24 Rn. 134; Kadelbach, in: Grothe/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 15 Rn. 14; Paeffgen, in: Wolter, SK, StPO, Bd. X, Art. 7 EMRK Rn. 8. 490 I.E. ebenso die Rspr. des EuGH, die sich zur Herleitung des nulla poena-Grundsatzes auf Art. 7 EMRK bezieht; Nachw. in Teil 2 Fn. 501. Vgl. zu Art. 6 EMRK Kehl, Schutz von Informationen im europäischen Kartellverfahren, S. 79; A. Koch, Verwaltungssanktionen im europäischen und niederländischen Verwaltungs- und Kartellrecht, S. 57 und unten S. 198 f. 491 Speziell zu Art. 7 EMRK Paeffgen, in: Wolter, SK, StPO, Bd. X, Art. 7 EMRK Rn. 5; Renzikowski, in: Pabel/Schmahl, IntKomm, EMRK, Bd. 1, Art. 7 Rn. 22 [12. Lfg.: Mai 2009]; zum gleichbedeutenden Begriff der strafrechtlichen Anklage i.S.d. Art. 6 EMRK EKMR, Bericht v. 30. 5. 1991, Nr. 11.598/85 – Société Stenuit/Frankreich, Série B n8 213-A = Anhang zu EGMR, Urt. v. 27. 2. 1992, Nr. 11598/85 – Société Stenuit/Frankreich, Série A n8 232, 9, 14 f. Rn. 65 f.; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Bd. 11, Art. 6 EMRK Rn. 76; Kehl, Schutz von Informationen im europäischen Kartellverfahren, S. 81 ff.; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 16 [77. Lfg.: Oktober 2012]; A. Koch, Verwaltungssanktionen im europäischen und niederländischen Verwaltungs- und Kartellrecht, S. 57; Lorenzmeier, ZIS 2008, 20, 27; Riley, E.C.L.R. 2010, 191, 198; Schubert, Legal privilege und Nemo tenetur, S. 94; Schwarze/Bechtold/Bosch, Rechtsstaatliche Defizite, S. 21 ff. Zu den Kartllbußgeldern des italienischen Wettbewerbsrecht und Art. 6 EMRK zuletzt EGMR, Urt. v. 27. 9. 2011, Nr. 43509/08 – Menarini Diagnstics S.R.L./Italien, nicht in amtl. Slg., Rn. 38 ff. 492 Nicht unstr.; siehe die Nachw. in Teil 2 Fn. 313.
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
4. Der Anwendungsbereich des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips im Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten Wie bereits oben493 dargelegt, zieht der EuGH die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten im Wege „wertender Rechtsvergleichung“ heran. Ein vergleichender Blick soll diejenige der denkbaren Möglichkeiten finden, die am geeignetsten in das Unionsrecht Platz finden kann. Dabei ist in den Mitgliedstaaten weitgehend anerkannt, dass das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip seine Garantien auch auf das Strafrecht i.w.S. erstreckt.494 Entsprechend wird auch das Kartellbußgeldrecht erfasst, sofern es nicht bereits dem nationalen Kriminalstrafrecht zugeordnet wird.495 Allerdings wird mit der Anwendbarkeit des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips zugleich eine Aussage über den Umfang der Gewährleistungen im Strafrecht i.w.S. getroffen. Verbreitet496 soll die Stringenz dieses Maßstabs im Recht der Mitgliedstaaten abseits des Kriminalstrafrechts abnehmen. Dieser Umstand wird im Rahmen der Frage nach einer Einschränkbarkeit noch aufzugreifen sein.497 5. Zwischenergebnis: Der Anwendungsbereich des allgemeinen Rechtsgrundsatzes Sowohl Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK als auch die gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten gehen von einer Anwendbarkeit des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips auch im Kartellbußgeldrecht aus. Damit ist im Ergebnis498 auch der Anwendungsbereich des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips aus allgemeinem Rechtsgrundsatz gem. Art. 6 Abs. 3 EUV im unionsrechtlichen Kartellbußgeldrecht eröffnet.499 Davon geht auch der EuGH – vor Inkrafttreten des Vertrags 493
S. 71 f. Friedmann, Die Geltung rechtsstaatlicher Grundsätze, S. 72; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 35 [77. Lfg.: Oktober 2012]; Pascu, Strafrechtliche Fundamentalprinzipien im Gemeinschaftsrecht, S. 108 ff.; Tsolka, Der allgemeine Teil des supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 72 f.; vgl. auch die Forderungen des XIV. AIDP-Kongresses 1989, wiedergegeben von Jescheck, ZStW 101 (1989), 236, 239. 495 Dazu bereits oben Teil 2 bei Fn. 400. 496 Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 35 [77. Lfg.: Oktober 2012]; Pascu, Strafrechtliche Fundamentalprinzipien im Gemeinschaftsrecht, S. 124 f.; Tsolka, Der allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 73 f. 497 Siehe unten S. 179 ff. 498 Entweder durch unmittelbare Transformation des Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK in einen allgemeinen Rechtsgrundsatz oder über das Heranziehen der EMRK wie der gemeinsamen Verfassungstraditionen als Rechtserkenntnisquellen des allgemeinen Rechtsgrundsatzes; zu diesen beiden Positionen siehe bereits oben S. 74 ff. 499 de Bronett, VO 1/2003, Art. 23 Rn. 11; Dannecker/Fischer-Fritsch, Das EG-Kartellrecht in der Bußgeldpraxis, S. 6 f.; Engels, Unternehmensvorsatz, S. 66 f.; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche 494
D. Strafrechtliches Gesetzlichkeitsprinzip als primärrechtliche Interorgangrenze
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von Lissabon – aus, indem er sich in den Urteilen zum Polypropylen-Kartell auf die Rechtsprechung des EGMR zum Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK beruft und damit die Geltung der Garantien der EMRK im unionsrechtlichen Kartellrecht bestätigt.500 Diese Rechtsprechung wurde auf Art. 7 EMRK übertragen.501 Nur wenn von der grundsätzlichen Geltung ausgegangen wird, kann das EuG in der Rechtssache AC-Treuhand schließlich über Modifikationen des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips nachdenken.502 6. Der Anwendungsbereich des Art. 49 Abs. 1 GRC Nachdem festgestellt wurde, dass sowohl die Garantien des Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK als auch die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten einen materiellen Strafbegriff zugrunde legen und damit auch im Kartellverfahrensrecht Anwendung finden, ist nun der Anwendungsbereich des Art. 49 Abs. 1 GRC zu bestimmen. Die allgemeinen Auslegungsregeln503 werden dabei gem. Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1, UAbs. 3 EUV504 i.V.m. den Bestimmungen des Titels VII der GRC ergänzt. Aus Folgen Rn. 35 [77. Lfg.: Oktober 2012]; Möhlenkamp, in: Schwarze, Instrumente zur Durchsetzung des Europäischen Wettbewerbsrechts, S. 121, 125; Nowak, in: L/M/R, KartellR, Art. 23 VerfVO Rn. 5, 51; Papakiriakou, Das Europ. Unternehmensstrafrecht in Kartellsachen, S. 22 ff.; Pascu, Strafrechtliche Fundamentalprinzipien im Gemeinschaftsrecht, S. 129 f.; Rieckhoff, Vorbehalt des Gesetzes, S. 229, 221; Rütsch, Strafrechtlicher Durchgriff bei verbundenen Unternehmen?, S. 22; Schwarze/Bechtold/Bosch, Rechtsstaatliche Defizite, S. 21 ff.; Tiedemann, NJW 1993, 23, 27 f. Grundsätzlich gegen die Anerkennung strafrechtlicher Grundsätze im unionsrechtlichen Kartellrecht nur Oehler, Internationales Strafrecht, Rn. 940; ders., in: Hiraba u. a., FS Dando, S. 135, 137 f. sowie als Vertreter der sog. reinen Verwaltungstheorie Frenz, Hdb. Europarecht1, Bd. 2: Europ. KartellR, Rn. 1586. 500 EuGH, Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-199/92 P – Hüls, Slg. 1999, I-4287, I-4384 Rn. 150; Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-235/92 P – Montecatini/Kommission, Slg. 1999, I-4539, I-4631 Rn. 176; siehe aber bereits die Bemerkung in EuGH, Urt. v. 18. 10. 1987, Rs. 374/87 – Orkem/Kommission, Slg. 1989, 3283, 3350 Rn. 30. Ebenso in der Bewertung Lorenzmeier, ZIS 2008, 20, 26. Zum verstärkten Heranziehen der EMRK in der Rspr. des EuGH allgemein siehe bereits oben S. 73 ff. 501 EuGH, Urt. v. 22. 5. 2008, Rs. C-266/06 P – Degussa/Kommission, Slg. 2008, I-81*, Rn. 36 ff.; EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1563 Rn. 139; Urt. v. 8. 10. 2008, Rs. T-69/04 – Schunk und Schunk Kohlenstoff-Technik/ Kommission, Slg. 2008, II-2567, II-2589 f. Rn. 28 ff.; Urt. v. 28. 4. 2010, Rs. T-446/05 – Amann & Söhne und Cousin Filterie/Kommission, Slg. 2010, II-1255, II-1305 ff. Rn. 124 ff.; Urt. v. 13. 7. 2011, Rs. T-138/07 – Schindler Holding u. a./Kommission, Slg. 2011, II-4819, II-4881 ff. Rn 95 ff.; Urt. v. 27. 6. 2012, Rs. T-372/10 – Bolloré/Kommission, noch nicht in amtl. Slg., Rn. 33 ff.; noch offen gelassen in EuG, Urt. v. 5. 4. 2006, Rs. T-279/02 – Degussa/Kommission, Slg. 2006, II-897, II-936 Rn. 71; Urt. v. 27. 9. 2006, Rs. T-43/02 – Jungbunzlauer/Kommission, Slg. 2006, II-3435, II-3472 Rn. 79. 502 Vgl. EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1553 Rn. 113. 503 Siehe oben S. 42 ff.
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC ergibt sich zunächst die Anwendbarkeit der GRC. Die Kommission ist als Organ der EU (Art. 13 Abs. 1 EUV) an die GRC gebunden. Die weiteren allgemeinen Bestimmungen zur Auslegung und Anwendung der Charta umfassen ein Missbrauchsverbot (Art. 54 GRC), stellen klar, dass andere, d. h. chartaexterne, Grundrechtsregime unberührt bleiben (Art. 53 GRC) und regeln Tragweite und Auslegung der Rechte und Grundsätze (Art. 52 GRC). Letzterer Vorschrift kommt zur Bestimmung der Anwendungsvoraussetzungen und Gewährleistungsgehalte der Chartagrundrechte wesentliche Bedeutung zu. Dazu nimmt sie in Abs. 2 die Verträge, in Abs. 3 die EMRK und in Abs. 4 die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten in Bezug. Dass die Gewährleistungen des konventionsrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips und das der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten sich wie gesehen auf verwaltungsstrafrechtliche Zuwiderhandlungen erstrecken, fließt so in die Auslegung des Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC ein. Der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten kommt damit nicht nur im Wege prätorischen Grundrechtsschutzes nach Art. 6 Abs. 3 EUV Bedeutung zu. Sie bestimmen auch den chartarechtlichen Grundrechtsschutz gem. Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 EUV mit. Dies wirft zahlreiche Rechtsfragen auf. a) Art. 52 Abs. 3 GRC „Soweit“ die GRC nämlich Rechte enthält, die den durch die EMRK garantierten Rechten „entsprechen“, haben sie gem. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC „die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird.“ aa) Das „Entsprechen“ der Chartarechte mit denen der EMRK Um Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC vorliegend anwenden zu können, bedarf es zunächst einer Entsprechung des Rechts aus Art. 49 Abs. 1 GRC mit dem in Art. 7 EMRK garantierten.505 Ein „Entsprechen“ wird bereits am Gesetzeswortlaut deutlich, sind Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC doch wortgleich mit Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK und Art. 49 Abs. 1 S. 2 GRC sowie Art. 49 Abs. 2 GRC nahezu wortgleich mit Art. 7 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 EMRK verfasst. Eine textliche Identität wird dabei als eine hinreichende, nicht aber notwendige Voraussetzung des Entsprechens angesehen.506 Ein weiterer 504
Zum Verhältnis des Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 zu UAbs. 3 EUV im Einzelnen SchulteHerbrüggen, ZEuS 2009, 343, 350 f. 505 Das Merkmal des „Entsprechen“ ist die Tatbestandsvoraussetzung, die Anordnung gleicher Bedeutung und Tragweite wie jene Rechte der EMRK die Rechtsfolge der Norm; Frenz, Hdb. Europarecht, Bd. 4: Europ. Grundrechte, Rn. 50, 59; Grabenwarter, in: Cremer u. a., FS Steinberger, S. 1129, 1137; Schneiders, Die Grundrechte der EU und die EMRK, S. 156; Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK im Recht der EU-Grundrechtecharta, S. 152. 506 von Danwitz, in: Tettinger/Stern, KöKo, GRC, Art. 52 Rn. 53; Frenz, Hdb. Europarecht, Bd. 4: Europ. Grundrechte, Rn. 50; Schneiders, Die Grundrechte der EU und die EMRK, S. 157.
D. Strafrechtliches Gesetzlichkeitsprinzip als primärrechtliche Interorgangrenze
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Ansatzpunkt findet sich in den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte. Danach entspricht Art. 49 Abs. 1 S. 1, 2 und Abs. 2 GRC dem Recht aus Art. 7 EMRK.507 Diese Erläuterungen stellen ausweislich ihrer einleitenden Bemerkung „eine nützliche Interpretationshilfe dar, die dazu dient, die Bestimmungen der Charta zu verdeutlichen.“508 In Art. 52 Abs. 7 GRC sowie Abs. 5 S. 2 der Präambel findet sich angeordnet, dass die Erläuterungen bei der Auslegung der GRC „gebührend zu berücksichtigen“ sind. Dies wird in Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 EUV bestätigt.509 Die Charta-Erläuterungen sind damit zwar keine echte Rechtsquelle,510 stellen aber eine bedeutende Erkenntnisquelle dar.511 Als materielles Kriterium wird schließlich einerseits512 vorgebracht, ein Entsprechen läge vor, wenn die Rechte den gleichen Lebenssachverhalt regeln, mithin den gleichen Regelungsbereich erfassen. Entsprechend der deutschen Grundrechtsdogmatik, die sich übertragen lässt,513 bezeichnet der Regelungsbereich den Teil des betroffenen Lebensbereichs, für den das Grundrecht eine regelnde Aussage trifft.514 Dieser teilt sich wiederum in den vom Grundrecht ausdrücklich geschützten Schutzbereich und den ausdrücklich nicht geschützten Schutzbereichsausnahmen.515 Andere Stimmen516 stellen zur Bestimmung des Entsprechens hingegen auf eben jenen engeren Schutzbereich der Grundrechte ab, damit die Anwendungsvoraussetzung des „Entsprechens“ demzu507
Präsidium des Europäischen Konvents, Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. 2007 C 303, S. 17, 34. 508 Präsidium des Europäischen Konvents, Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. C 2007 303, S. 17. 509 Zum abweichenden Wortlaut der drei Bestimmungen und ihrem Verhältnis zueinander Schulte-Herbrüggen, ZEuS 2009, 343, 351 f.; Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK im Recht der EU-Grundrechtecharta, S. 64 ff. m.w.N. 510 So wird den Erläuterungen schon einleitend der „rechtliche Status“ abgesprochen; Präsidium des Europäischen Konvents, Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. C 2007 303, S. 17; Becker, in: Schwarze u. a., EU-Kommentar, Art. 52 GRC Rn. 21; Meyer, in: Meyer, GRC, Präambel Rn. 45a. 511 Jarass, GRC, Art. 52 Rn. 87; Lenaerts, EuR 2012, 3, 16; Ludwig, EuR 2011, 715, 722; Scheuing, EuR 2005, 162, 185; Streinz/Michl, in: Streinz, EUV/AEUV, Vor. GRC Rn. 9, Art. 52 GRC Rn. 32; Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK im Recht der EU-Grundrechtecharta, S. 59; zurückhaltender Alber/Widmaier, EuGRZ 2006, 113, 119; Becker, in: Schwarze u. a., EUKommentar, Art. 52 GRC Rn. 21; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 52 Rn. 43; für das Entsprechen mit seltenen Ausnahmen allein maßgeblich hält sie Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 52 Rn. 31, 31b. 512 Frenz, Hdb. Europarecht, Bd. 4: Europ. Grundrechte, Rn. 51; Grabenwarter, in: Cremer u. a., FS Steinberger, S. 1129, 1135; ders., DVBl. 2001, 1, 3; Molthagen, Das Verhältnis der EUGrundrechte zur EMRK, S. 77; W. Weiß, ZEuS 2005, 323, 329 f. 513 Schneiders, Die Grundrechte der EU und die EMRK, S. 142: „ohne Weiteres“. 514 Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte, Rn. 212 ff.; Schneiders, Die Grundrechte der EU und die EMRK, S. 152. 515 Schneiders, Die Grundrechte der EU und die EMRK, S. 142. 516 Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, S. 114 f.; Schmitz, JZ 2001, 833, 839; Schneiders, Die Grundrechte der EU und die EMRK, S. 158 f.; wohl auch von Danwitz, in: Tettinger/Stern, KöKo, GRC, Art. 52 Rn. 54 („geschützter Lebensbereich“).
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
folge weit ausgelegt werden kann. Auch bei Anwendung der beiden letztgenannten Kriterien ergibt sich ein Entsprechen der hier in Frage stehenden Rechte des Art. 49 GRC und des Art. 7 EMRK. Da die Tatbestände keine Schutzbereichsausnahmen enthalten,517 entspricht der Schutzbereich dem Regelungsbereich der Rechte. Dieser bezieht sich nach beiden Normen auf eine strafrechtliche Verurteilung bzw. die Verhängung von Strafe. Alle Kriterien weisen damit in die gleiche Richtung. Eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Ansätzen wird entbehrlich. Die Anwendungsvoraussetzung des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC ist daher erfüllt. Art. 49 Abs. 1 S. 1, 2 und Abs. 2 GRC entspricht Art. 7 EMRK. Allein Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRC geht mit seiner Sonderregelung zum Rückwirkungsverbot ebenso über Art. 7 EMRK hinaus wie Art. 49 Abs. 3 GRC. Das Gesetzlichkeitsprinzip des Art. 49 Abs. 1 GRC hat damit in der Rechtsfolge „die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie“ sie ihm in der EMRK „verliehen wird“. Art. 52 Abs. 3 GRC soll so die notwendige Kohärenz zwischen Grundrechtecharta und EMRK herstellen.518 Neben der Gefahr der Spaltung des Grundrechtsschutzes für den Grundrechtsberechtigten wird dies dem Interesse der Mitgliedstaaten gerecht, Konflikte zwischen ihren unionsrechtlichen und chartarechtlichen Bindungen zu vermeiden.519 Diese können entstehen, wenn die Mitgliedstaaten bei der Durchführung von Unionsrecht gem. Art. 51 GRC an die Grundrechtecharta gebunden sind, zugleich aber auch abweichenden Bindungen der EMRK unterliegen.520 Sie begehen also entweder einen Konventionsverstoß bei der Durchführung des Unionsrechts oder verstoßen gegen ihre unionsrechtliche Pflicht bei einer EMRKkonformen Weigerung. So eindeutig und eingängig die Zielrichtung, so umstritten ist jedoch das Verständnis dieser Anordnung. Dabei bewegt sich das Meinungsspektrum zwischen zwei Polen abstrakter Wertungen. Für eine bloß lose Anbindung der GRC an die EMRK streitet die Autonomie des Unionsrechts, während ein strenger Gleichlauf dem Gebot der Kohärenz und der Rechtssicherheit dient. Die Streitpunkte lassen sich gliedern und auf die Elemente des gesetzlichen Wortlauts zurückführen. 517
Vgl. etwa die Anwendbarkeit des Art. 7 EMRK auch auf das Strafrecht i.w.S. oben S. 85 ff. 518 Präsidium des Europäischen Konvents, Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. 2007 C 303, S. 17, 33; Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der GRC, S. 303 ff.; Callewaert, EuGRZ 2003, 198; Streinz/Michl, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 52 GRC Rn. 7; Thym, in: Mahler/N. Weiß, Menschenrechtsschutz im Spiegel von Wissenschaft und Praxis, S. 110, 140. 519 Schneiders, Die Grundrechte der EU und die EMRK, S. 147 ff.; Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK im Recht der EU-Grundrechtecharta, S. 136 ff.; zur Kollision von unions- und konventionsrechtlichen Pflichten auch W. Weiß, Die Verteidigungsrechte im EG-Kartellverfahren, S. 117. 520 Freilich ist der EGMR zuletzt in seiner Entscheidung EGMR, Urt. v. 30. 6. 2005 (GK), Nr. 45036/98 – Bosphorus Hava Yollari Turizm ve Ticaret Anonim Sirketi/Irland, Reports of judgments and decisions 2005-VI, 113 ff. = NJW 2006, 197 bemüht, dieses Konfliktpotential auszuschalten; vgl. auch die Bemühungen des EuGH um Gleichlauf mit den Gewährleistungen der EMRK im prätorischen Grundrechtsschutz, dazu bereits oben S. 74 ff.
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bb) Die gleiche „Bedeutung und Tragweite“ So bleibt zunächst der Gegenstand der Bezugnahme auf die EMRK unklar. Die Chartagrundrechte haben die gleiche „Bedeutung und Tragweite“. Eine genaue Auslegung der beiden Begriffe ist bislang nicht überzeugend gelungen. Bühler521 versteht unter „Bedeutung“ das Schutzgut des Grundrechts, unter „Tragweite“ dessen Schutzbereich und Schranken. Eisner522 und Molthagen523 setzen hingegen „Bedeutung“ dem Schutzbereich, „Tragweite“ den Schranken gleich. Nach Ziegenhorn524 bezeichnen beide Begriffe den materiellen Grundrechtsschutz, nehmen aber unterschiedliche Blickwinkel ein. Alber/Widmaier525 verstehen die „Tragweite“ als den sachlichen Anwendungsbereich, die „Bedeutung“ als den Geltungsumfang des jeweiligen Rechts. Borowsky526 schließlich hält eine exakte Definition und Abgrenzung für entbehrlich. Auch wenn die genaue Auslegung des Wortlauts in Beziehung auf die allgemeinen Grundrechtslehren unklar bleibt,527 so wird jedenfalls deutlich, dass „Bedeutung und Tragweite“ aufgrund der Dopplung in einem umfassenden Sinn zu verstehen sind. Die beiden Rechte sollen möglichst kohärent angewandt werden.528 Entsprechend wird die Wendung „Bedeutung und Tragweite“ weit überwiegend529 auf Schutzbereich, einschließlich etwaiger Negativdefinitionen,530 Eingriffsbegriff531 und Schranken, d. h. Rechtfertigungsvoraussetzungen eines Eingriffs, ver521
Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der GRC, S. 313. Eisner, Die Schrankenregelung der GRC, S. 124. 523 Molthagen, Das Verhältnis der EU-Grundrechte zur EMRK, S. 64. 524 Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK im Recht der EU-Grundrechtecharta, S. 141 ff. 525 Alber/Widmaier, EuGRZ 2006, 113, 119. 526 Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 52 Rn. 30a. 527 Grabenwarter, in: Cremer u. a., FS Steinberger, S. 1129, 1137; vgl. überdies, dass das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip keine gewöhnliche Grundrechtsstruktur aufweist, sondern aus dogmatischer Sicht vielmehr als Schranken-Schranke eingeordnet werden kann; dazu noch unten S. 146 f. 528 Siehe die Nachw. in Teil 2 Fn. 518. 529 Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 52 Rn. 30; Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der GRC, S. 313; von Danwitz, in: Tettinger/Stern, KöKo, GRC, Art. 52 Rn. 51; Dorf, JZ 2005, 126, 128; Folz, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 52 GRC Rn. 7; Frenz, Hdb. Europarecht, Bd. 4: Europ. Grundrechte, Rn. 59; Grabenwarter, DVBl. 2001, 1, 2; Streinz/Michl, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 52 GRC Rn. 1; UerpmannWittzack, DÖV 2005, 152, 155 f.; W. Weiß, ZEuS 2005, 323, 330; a.A. Philippi, Die GRC, S. 44, die nur die Schutzbereiche in Bezug genommen sieht. 530 Ausdrücklich Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 52 Rn. 15; Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der GRC, S. 313; Schneiders, Die Grundrechte der EU und die EMRK, S. 181 ff.; Streinz/Michl, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 52 GRC Rn. 1; siehe auch Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, S. 117. 531 Ausdrücklich Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 52 Rn. 30; Folz, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 52 GRC Rn. 7; Schneiders, Die Grundrechte der EU und die EMRK, S. 185; Wolffgang, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge, Art. 52 GRC Rn. 20. 522
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
standen. Teilweise532 wird „Bedeutung und Tragweite“ auch nur auf die Schrankenregelungen der EMRK bezogen. Zugleich wird das „Entsprechen“ der Rechte aber nach dem Schutzbereich bestimmt.533 Da sich die Schutzbereiche so bereits über diese Anwendungsvoraussetzung „entsprechen“, wird die notwendige Kohärenz hergestellt. Die Auffassungen unterscheiden sich daher im Ergebnis nicht. Sie bestimmen lediglich Anwendungsvoraussetzungen und Rechtsfolgen abweichend, vermeiden aber jeweils einen Zirkelschluss.534 Für die Auslegung und Anwendung konventionsentsprechender Rechte wird jedenfalls auf den gesamten Gewährleistungsumfang535 des EMRK-Rechts Bezug genommen. cc) „Wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird“ Ferner muss der Umfang der Inbezugnahme bestimmt werden. Die Chartagrundrechte haben die gleiche Bedeutung und Tragweite, „wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird“. Die Inbezugnahme reicht dabei über den Textbefund der EMRK hinaus. Erfasst sind zum einen auch die Rechte der Zusatzprotokolle (ZP).536 Um Rechtsprechungsdivergenzen möglichst zu vermeiden 532
Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, S. 117; in diese Richtung auch Schmitz, JZ 2001, 833, 838 f.; ders., EuR 2004, 691, 710 f., der zwar auch die Schutzbereiche als von „Bedeutung und Tragweite“ erfasst benennt, „der Sache nach“ aber die Rechtfertigungsvoraussetzungen als übertragen ansieht. Insgesamt wird die Übertragung der Schrankenregelungen durch Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC betont, da darüber letztlich die Abstufung und Feinjustierung des Grundrechtsschutzes vorgenommen wird; vgl. etwa Kokott, in: Merten/ Papier, Hdb. der Grundrechte, Bd. I, § 22 Rn. 1; Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152, 155 sowie die Betonung der Schrankenregelungen in den Erläuterungen zu Art. 52 Abs. 3 GRC (Präsidium des Europäischen Konvents, Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. 2007 C 303, S. 17, 33). 533 Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, S. 114 f. Schneiders, Die Grundrechte der EU und die EMRK, S. 158 f., 180 ff., der das Entsprechen zwar auch nach dem Schutzbereich bemisst, überträgt zudem aber auch den konventionsrechtlichen Schutzbereich und betont dabei (zwangsläufig) v. a. die Übertragung der konventionsrechtlichen Schutzbereichsausnahmen. 534 Vgl. Pietsch, Das Schrankenregieme der EU-Grundrechtecharta, S. 114; Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK im Recht der EU-Grundrechtecharta, S. 152. Nach Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 52 Rn. 31 ist die vermeintlich zirkuläre Norm hingegen nur durch Rückgriff auf die Erläuterungen zu durchbrechen. 535 Barriga, Die Entstehung der GRC, S. 163 spricht davon, dass „schlicht der ganze EMRK-Artikel“ eingefangen werden solle; Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 52 Rn. 30 und Streinz/Michl, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 52 GRC Rn. 1 sprechen von einer Inkorporation „in toto“; Callewaert, EuGRZ 2003, 198, 199 vom „ganzen Inhalt“; W. Weiß, ZEuS 2005, 323, 330 vom „effektiven Garantiebereich“, Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK im Recht der EUGrundrechtecharta, S. 145 vom „materiellen Grundrechtsschutz“. 536 Präsidium des Europäischen Konvents, Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. 2007 C 303, S. 17, 33; Frenz, Hdb. Europarecht, Bd. 4: Europ. Grundrechte, Rn. 55; Schneiders, Die Grundrechte der EU und die EMRK, S. 163 ff.; W. Weiß, ZEuS 2005, 323, 331; zum Sonderproblem der Bindung von Zusatzprotokollen, die (noch) nicht alle Mitgliedstaaten ratifiziert haben, bejahend etwa von Danwitz, in: Tettinger/Stern, KöKo, GRC, Art. 52 Rn. 59;
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und stattdessen Rechtssicherheit für die Mitgliedstaaten537 wie den Grundrechtsberechtigten sicherzustellen, ist zum anderen auch die Rechtsprechung des EGMR einbezogen.538 Dies sehen nicht nur die Erläuterungen ausdrücklich vor,539 auch die Präambel nennt in Abs. 5 S. 1 die Rechtsprechung des EGMR als Rechtserkenntnisquelle.540 Allein dieses Verständnis wird auch den Anforderungen an die GRC gerecht. Nur wenn die EMRK gerade in ihrer Auslegung durch den EGMR herangezogen wird, kann sie den bestehenden Grundrechtsschutz in der EU i.S.d. Abs. 4, 5 der Präambel der GRC abbilden und lässt sich die „Bedeutung und Tragweite“ der EMRK-Grundrechte bestimmen.541 Schließlich entspricht die Berücksichtigung der Interpretation des EGMR der ständigen Rechtsprechung des EuGH beim prätorischen Grundrechtsschutz.542 Weitergehend wird die Rechtsprechung des EGMR dynamisch, d. h. in ihrem gerade bestehenden Entwicklungsstand, in Bezug genommen.543 Nur so kann auch zukünftig ein kohärenter Gleichlauf der Grundrechtsregime gewährleistet werden.544 Zum Ausdruck kommt dies im Wortlaut des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC, der die Gegenwartsform „verliehen wird“ im Gegensatz zu einer Vergangenheitsform wählt.545 Schließlich sieht auch der EGMR die Konvention als „lebendiges Instrument“ (engl. „living instrument“, frz. „un instrument vivant“),
Frenz, a.a.O., Rn. 55 f.; Molthagen, Das Verhältnis der EU-Grundrechte zur EMRK, S. 93 ff.; Schneiders, a.a.O., S. 163 ff.; W. Weiß, a.a.O., 323, 331; verneinend etwa Beutler, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 1, Art. 6 EUV Rn. 120; Grabenwarter, DVBl. 2001, 1, 2; Schmitz, JZ 2001, 833, 839. 537 Zum Dilemma widersprechender konventionsrechtlicher und unionsrechtlicher Verpflichtungen siehe soeben S. 114. 538 Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 52 Rn. 37; Callewaert, EuGRZ 2003, 198, 199; von Danwitz, in: Tettinger/Stern, KöKo, GRC, Art. 52 Rn. 57; Frenz, Hdb. Europarecht, Bd. 4: Europ. Grundrechte, Rn. 57; Folz, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 52 GRC Rn. 8; Griller, in: Duschanek/Griller, Grundrechte für Europa, S. 131, 158; Lenaerts/de Smijter, CMLR 38 (2001), 273, 296; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der EU, Rn. 468; Ruffert, EuR 2004, 165, 173. 539 Präsidium des Europäischen Konvents, Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. 2007 C 303, S. 17, 32. 540 Bühler, Einschränkungen von Grundrechten nach der GRC, S. 321; von Danwitz, in: Tettinger/Stern, KöKo, GRC, Art. 52 Rn. 57; Griller, in: Duschanek/Griller, Grundrechte für Europa, S. 131, 158; Naumann, EuR 2008, 424, 425. 541 Callewaert, EuGRZ 2003, 198, 199; Naumann, EuR 2008, 424, 425. 542 Naumann, EuR 2008, 424, 425; vgl. die Nachw. in Teil 2 Fn. 251. 543 Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 52 Rn. 37; von Danwitz, in: Tettinger/Stern, KöKo, GRC, Art. 52 Rn. 57; Ehlers, in: Ehlers, Europ. Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 29 f.; Frenz, Hdb. Europarecht, Bd. 4: Europ. Grundrechte, Rn. 58; mit Ausnahmen zugunsten der Eigenständigkeit des EuGH auch Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der GRC, S. 323. 544 Frenz, Hdb. Europarecht, Bd. 4: Europ. Grundrechte, Rn. 58; Philippi, Die GRC, S. 44. 545 Ehlers, in: Ehlers, Europ. Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 30.
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
das „im Lichte der heutigen Verhältnisse“ (engl. „in the light of present-day conditions“, frz. „à la lumière des conditions d’aujourd’hui“) ausgelegt werden muss.546 Für das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip des Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC wird damit nicht nur der Textbefund des Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK bedeutsam, sondern auch die darauf bezogene Rechtsprechung des EGMR. Darauf wird vor allem bei der Herausarbeitung des Gewährleistungsgehalts zurückzukommen sein.547 dd) Die „gleiche“ Bedeutung und Tragweite Abschließend bleibt die Intensität dieser umfassenden Inbezugnahme zu klären. Die Chartagrundrechte haben die „gleiche“ Bedeutung und Tragweite. Dieses Merkmal entscheidet damit über den Grad des Gleichlaufs der beiden Grundrechtsregime und damit maßgeblich über die Frage, ob der Gerichtshof bei der Auslegung der GRC von dem Standard der EMRK abweichen darf. Im Fokus der Erläuterungen steht hierbei ein Abweichen „nach unten“, ein Unterschreiten des EMRK-Standards, da dieser bereits wie gesehen das Gesetzlichkeitsprinzip auf das Kartellverfahrensrecht erstreckt. Aktuell könnte dies zudem im Urteil des EuG in der Sache AC-Treuhand in Bezug auf den Gewährleistungsgehalt werden. Dort formuliert das Gericht Einschränkungen des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips für das Kartellbußgeldrecht.548 Die verschiedenen Stellungnahmen in der Literatur zur Auslegung der „gleichen“ Bedeutung und Tragweite lassen sich zunächst auf zwei entgegengesetzte Positionen bündeln. Das überwiegende Lager549 sieht in Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC eine sog. Transfer- oder Inkorporationsklausel. Der Bedeutungsgehalt des Grundrechts der EMRK werde in das entsprechende Grundrecht der GRC transferiert oder inkorporiert. Die Grundrechte seien so inhaltlich identisch.550 Mangels formellen Beitritts 546 EGMR, Urt. v. 25. 4. 1978, Nr. 5856/72 – Tyrer/Vereinigtes Königreich, Série A n8 26, 6, 16 f. Rn. 31 = EGMR-1 (Nr. 28), 268, 273; Urt. v. 23. 3. 1995 (GK), Nr. 15318/89 – Loizidou/ Türkei I (exceptions préliminaires), Série A n8 310, 7, 26 f. Rn. 71; Urt. v. 18. 2. 1999 (GK), Nr. 24833/94 – Matthews/Vereinigtes Königreich, Report of judgments and decisions 1999-I, 255, 267 f. Rn. 39 = NJW 1999, 3107, 3109. 547 Siehe unten S. 138 ff., insbesondere zu möglichen Abstufungen des nullum crimenGrundsatzes S. 177 ff. 548 EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1553 Rn. 113; eingehend noch unten S. 177 ff. 549 Barriga, Die Entstehung der GRC, S. 163; Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 52 Rn. 30; Callewaert, EuGRZ 2003, 198, 199; Calliess, EuZW 2001, 261, 264; von Danwitz, in: Tettinger/Stern, KöKo, GRC, Art. 52 Rn. 51; Lorenzmeier, in: Becker u. a., Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 209, 222; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der EU, Rn. 475; Schmitz, EuR 2004, 691, 710; Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152, 155; W. Weiß, ZEuS 2005, 323, 332; Zimmermann, in: Böllmann u. a., Menschenrechte, S. 63, 70. 550 Sog. Identitätskonzept; Barriga, Die Entstehung der GRC, S. 165; Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 52 Rn. 30; Callewaert, EuGRZ 2003, 198, 199; von Danwitz, in: Tettinger/Stern, KöKo, GRC, Art. 52 Rn. 51; Folz, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäisches Uni-
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ist die EU (noch) nicht direkt an die EMRK gebunden, Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC bewirkt nach diesem Verständnis aber eine strenge inhaltliche Bindung der EU.551 Zu belegen sei dieses Verständnis bereits mit dem Wortlaut des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC. Dieser gehe über den des Art. 52 Abs. 4 GRC hinaus, indem er nicht nur die angemessene Berücksichtigung bei der Auslegung verlange.552 Auch mache die französische („les mêmes“) und die englische („the same“) Sprachfassung deutlich, dass ein identischer Gehalt gemeint sei.553 Ferner könne das systematische Verhältnis zu Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC herangezogen werden.554 Dieser gewährleiste bereits die Autonomie des Unionsrechts und wäre überflüssig, wenn schon nach S. 1 ein von der EMRK abweichender Gehalt gewonnen werden könne.555 Schließlich werde so im Sinne der Rechtssicherheit die angestrebte Kohärenz der Grundrechtsregime bestmöglich hergestellt, wenngleich Rechtsprechungsdivergenzen – schon allein aus zeitlicher Abfolge – nicht gänzlich ausgeschlossen werden.556 Demgegenüber steht die Position,557 auch nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon in der EMRK eine bloße Rechtserkenntnisquelle zu sehen.558 Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC wird so als eine bloße Auslegungsregel verstanden.559 Dabei werden die besondere Bedeutung der EMRK und ihr Gewicht für die Auslegung betont.560 onsrecht, Art. 52 GRC Rn. 8; Lorenzmeier, in: Becker u. a., Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 209, 222; Schmitz, JZ 2001, 833, 839; ders., EuR 2004, 691, 710; W. Weiß, ZEuS 2005, 323, 330. Freilich sind die inkorporierten staatsbezogenen Grundrechtsschranken der EMRK, beispielsweise das Merkmal der nationalen Sicherheit i.S.d. Art. 8 Abs. 2 EMRK, an die Gegebenheiten des Unionsrechts anzupassen; Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 52 Rn. 38; Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der GRC, S. 315 f. 551 Alber/Widmaier, EuGRZ 2006, 113, 119: „materielle Bindung“; Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 52 Rn. 30b: „strenge Akzessorietät“, Rn. 34: „materieller Beitritt“; Callewaert, EuGRZ 2003, 198, 200: „indirekte Rechtsquelle“; W. Weiß, ZEuS 2005, 323, 326: „mittelbare Grundrechtsquelle“. 552 Naumann, EuR 2008, 424, 429. 553 Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 52 Rn. 31; Schmitz, JZ 2001, 833, 839; ders., EuR 2004, 691, 710; W. Weiß, ZEuS 2005, 323, 330 (Fn. 26). Zur grammatikalischen Auslegung bei Mehrsprachenauthentizität siehe bereits oben S. 44 f. 554 Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der GRC, S. 313 f. 555 Naumann, EuR 2008, 424, 429. 556 Vgl. Alber/Widmaier, EuGRZ 2006, 113, 119; Lindner, EuR 2007, 160, 171 f.; Lorenzmeier, in: Becker u. a., Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 209, 224; Weber, DVBl. 2003, 220, 225. 557 Frenz, Hdb. Europarecht, Bd. 4: Europ. Grundrechte, Rn. 49; Jarass, EU-Grundrechte, § 2 Rn. 19 ff., § 6 Rn. 33; ders., GRC, Art. 52 Rn. 64; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 52 GRC Rn. 37; Lindner, EuR 2007, 160, 172 f.; Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 130. 558 Zur alten Rechtslage siehe bereits oben S. 74 f. 559 So begrifflich auch Dorf, JZ 2005, 126, 128 f.; wohl auch Lemmens, MJ 8 (2001), 49, 52 ff.; Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 130. 560 Frenz, Hdb. Europarecht, Bd. 4: Europ. Grundrechte, Rn. 49; Jarass, EU-Grundrechte, § 2 Rn. 21; ders., GRC, Art. 52 Rn. 60 f. und Lindner, EuR 2007, 160, 172 f. entnehmen Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC weiter gehend eine Pflicht zur inhaltlichen Harmonisierung. Jegliche Ab-
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
Fortgeführt wird damit das vorherrschende Verständnis zu Art. 6 Abs. 2 EUV a.F.561 Dieses Vorgehen erinnert an das vom BVerfG562 ausgesprochene Gebot, die Gewährleistungen der EMRK und die Entscheidungen des EGMR im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung zu berücksichtigen.563 Angeführt wird für diese Lösung, dass nur so die Autonomie des Unionsrechts gewahrt bliebe.564 So zeige bereits Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC, dass ein vollständiger Gleichlauf von EMRK und GRC nicht zugrunde liegen könne.565 Vielmehr sei der Beitritt der EU zur EMRK in Art. 6 Abs. 2 EUV abschließend geregelt, sodass Art. 52 Abs. 3 GRC sich hierauf nicht beziehe.566 Bei vollständiger Übernahme der EMRK-Gewährleistungen würden zudem im Anwendungsbereich des Art. 52 Abs. 3 GRC die weiteren Auslegungsregeln des Art. 52 GRC gegenstandslos.567 Durch die Inkorporation der EMRK-Rechte würden die entsprechenden Gewährleistungen der GRC zudem überflüssig.568 Vielmehr nenne Abs. 5 S. 1 der Präambel der GRC die EMRK gleichberechtigt neben anderen bloßen Rechtserkenntnisquellen wie den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten oder den Sozialchartas.569 Ferner könne nur so angemessen berücksichtigt werden, dass sich die dynamische Verweisung mit der EMRK auf ein Vertragswerk bezieht, das nicht allein von den Mitgliedstaaten der EU geändert werden kann.570 Schließlich müsse die strikte Bindung an die EMRK ohnehin aufgegeben werden, wenn sog. mehrpolige Grundrechtsverhältnisse in Frage stehen, sich mithin die Grundrechte mehrerer Grundrechtsberechtigter und die damit einhergehenden Verpflichtungen der Hoheitsgewalt gegenüberstehen.571 Ein starrer Hinweis auf das Recht der EMRK ohne
weichungsmöglichkeiten verneinen schließlich Dorf, JZ 2005, 126, 128 f. und Lemmens, MJ 8 (2001), 49, 52 f., sodass sie letztlich im Ergebnis mit dem Verständnis als Transferklausel übereinstimmen (Lemmens, a.a.O.: „it would be as if the provisions of the Convention were simply taken over“). 561 Jarass, EU-Grundrechte, § 2 Rn. 19; ders., GRC, Art. 52 Rn. 64; zur alten Rechtslage vgl. die Nachw. in Teil 2 Fn. 256 auf die h.M. betreffend die Berücksichtigung der EMRK als bloße Rechtserkenntnisquelle im Rahmen des gleichlautenden Art. 6 Abs. 3 EUV. 562 BVerfGE 111, 307 – Görgülü. 563 Ebenso Naumann, EuR 2007, 424, 428. 564 Frenz, Hdb. Europarecht, Bd. 4: Europ. Grundrechte, Rn. 49; Jarass, EU-Grundrechte, § 2 Rn. 19; ders., GRC, Art. 52 Rn. 64. 565 Frenz, Hdb. Europarecht, Bd. 4: Europ. Grundrechte, Rn. 49; Jarass, EU-Grundrechte, § 2 Rn. 19; ders., GRC, Art. 52 Rn. 62. 566 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 52 GRC Rn. 37. 567 Naumann, EuR 2008, 424, 428. 568 Naumann, EuR 2008, 424, 428. 569 Frenz, Hdb. Europarecht, Bd. 4: Europ. Grundrechte, Rn. 49; Jarass, EU-Grundrechte, § 2 Rn. 20; ders., GRC, Art. 52 Rn. 64 (Fn. 203). 570 Jarass, GRC, Art. 52 Rn. 64. 571 Jarass, EU-Grundrechte, § 2 Rn. 21, § 6 Rn. 34.
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Abwägung der kollidierenden Rechte Dritter genüge dort nicht.572 Die Grundrechte der GRC erhalten nach dieser Lösung einen allein genuin chartarechtlichen Gehalt. Der EuGH kann daher bei ihrer Auslegung etwa aufgrund anderer Abwägungsgewichtungen oder -grundsätze von dem Gewährleistungsgehalt der EMRK abweichen.573 Ein vermittelnde Position nimmt schließlich ein, wer grundsätzlich von einer Inkorporation der EMRK-Rechte durch Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC ausgeht, in Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC aber eine Öffnung für einen weiter reichenden, daneben bestehen bleibenden genuin chartarechtlichen Gehalt sieht.574 ee) Stellungnahme Zur Auflösung der widerstreitenden Positionen ist zu differenzieren zwischen Abweichungen, die unter das Schutzniveau der EMRK sinken und solchen, die darüber hinaus reichen. (1) Kein Abweichen „nach unten“ Die GRC kann nur so verstanden werden, dass sie die Gewährleistungen der EMRK als Mindestschutz gewährleistet.575 Zu diesem Ergebnis kommt auch der 572
Vgl. Griller, in: Duschanek/Griller, Grundrechte für Europa, S. 131, 153 f.; Kober, Grundrechtsschutz in der EU, S. 261 ff.; Ruffert, EuR 2004, 165, 174; Weber, DVBl. 2003, 220, 224; Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK im Recht der EU-Grundrechtecharta, S. 248 ff.; für Auflösung allein zugunsten der EMRK Grabenwarter, DVBl. 2001, 1, 11; ders., in: Cremer u. a., FS Steinberger, S. 1129, 1142 ff.; ders., EuGRZ 2004, 563, 566. 573 Vgl. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 52 GRC Rn. 37; Naumann, EuR 2008, 424, 428. 574 So Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK im Recht der EU-Grundrechtecharta, S. 145 ff., 173 ff., der an einem genuin chartarechtlichen Gehalt neben dem inkorporierten EMRK-Recht festhält und diesem durch Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC v. a. eine Reservefunktion zumisst, Naumann, EuR 2008, 424, 431 f., der für eine Grundrechtsschutzintensivierung durch den EuGH innerhalb der GRC gem. Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC plädiert, sowie Zimmermann, in: Böllmann u. a., Menschenrechte, S. 63, 71 f.; ebenso jedenfalls für zweipolige Grundrechtsverhältnisse Kober, Grundrechtsschutz in der EU, S. 206 f.; Streinz/Michl, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 52 GRC Rn. 11. 575 Allg. M.; etwa Alber/Widmaier, EuGRZ 2006, 113, 117; Callewaert, EuGRZ 2003, 198, 199; Calliess, EuZW 2001, 261, 264; von Danwitz, in: Tettinger/Stern, KöKo, GRC, Art. 52 Rn. 52; Ehlers, in: Ehlers, Europ. Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 29; Frenz, Hdb. Europarecht, Bd. 4: Europ. Grundrechte, Rn. 59, 71; Folz, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 52 GRC Rn. 8; Griller, in: Duschanek/Griller, Grundrechte für Europa, S. 131, 157; Herringa/Verhey, MJ 2001, 11, 24 f.; Holoubek, in: Duschanek/Griller, Grundrechte in Europa, S. 25, 33; Kizil, JA 2011, 277, 280; Lenaerts, EuR 2012, 3, 12; ders./de Smijter, CMLR 38 (2001), 273, 293; Schmitz, JZ 2001, 833, 837; ders., EuR 2004, 691, 699; Thym, in: Mahler/N. Weiß, Menschenrechtsschutz im Spiegel von Wissenschaft und Praxis, S. 110, 141 f.; W. Weiß, ZEuS 2005, 323, 333. Da die GRC-Grundrechte im Ergebnis nicht unter das Niveau der EMRK eingeschränkt werden dürfen, kann der letzteren auch die Wirkung einer
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
EGMR in seinem Urteil in der Rechtssache Bosphorus.576 Zur Begründung kann zwar nicht auf die Bindungswirkung der EMRK für die EU verwiesen werden. Mangels Beitritts der EU gilt die EMRK nicht unmittelbar,577 sodass der Gerichtshof in der Auslegung der GRC auch nicht als Organ der EU gem. Art. 1 EMRK an die Gewährleistungen der Konvention gebunden ist. Gleichwohl ergibt sich dieses Ergebnis bereits vor dem Beitritt der EU zur EMRK aus der Auslegung der GRC. Diese „bekräftigt“ ausweislich des Absatzes 5 S. 1 der Präambel den bestehenden Grundrechtsschutz wie er sich u. a. aus der EMRK ergibt. Dieser Intention der Bekräftigung und Sichtbarmachung läuft es zuwider, wenn die GRC so ausgelegt wird, dass sie das Schutzniveau der EMRK unterschreite.578 Maßgeblich kann auch auf die Erläuterungen verwiesen werden.579 Zu Art. 52 GRC findet sich die deutliche Aussprache: „Auf jeden Fall darf der durch die Charta gewährleistete Schutz niemals geringer als der durch die EMRK gewährte Schutz sein.“580 Diese Intention findet ihren Niederschlag in Art. 52 Abs. 3 GRC.581 Überwiegend wird Satz 1 wie gesehen über eine Inkorporation des entsprechenden Konventionsrechts schon ein identischer Gehalt beigemessen. Dadurch ist ein Unterschreiten des EMRK-Standards bereits konstruktiv ausgeschlossen. Auch kann Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC entnommen werden, dass sich die EMRK als nicht zu unterschreitender Mindeststandard darstellt.582 Satz 1 ordnet eine „gleiche Bedeutung und Tragweite“ an, Satz 2 erlaubt ausschließlich eine Ausnahme für „weiter gehende“ Schutzgewährleistungen. Daher ist ein Unterschreiten auch durch die genuin chartarechtlichen Rechte i.S.d. Auffassung, die die EMRK lediglich als bedeutende Rechtserkenntnisquelle heranzieht,583 als Schranken-Schranke der GRC zugewiesen werden; so etwa Alber/Widmaier, EuGRZ 2006, 113, 120; Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152, 156. 576 EGMR, Urt. v. 30. 6. 2005 (GK), Nr. 45036/98 – Bosphorus Hava Yollari Turizm ve Ticaret Anonim Sirketi/Irland, Reports of judments and decisions 2005-VI, 113, 159 Rn. 159 = NJW 2006, 197, 203: „Die Bestimmungen der Charta der Grundrechte in der Europäischen Union, obwohl nicht rechtsverbindlich im eigentlichen Sinne, sind weitgehend beeinflusst von denen der Konvention, und die Charta erkennt die Konvention als Mindeststandard der Menschenrechte an.“ 577 Siehe bereits oben S. 74 ff. 578 Schneiders, Die Grundrechte der EU und die EMRK, S. 239 f. 579 Zur Bedeutung der Erläuterungen für die Auslegung der GRC siehe bereits oben S. 113. 580 Präsidium des Europäischen Konvents, Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. 2007 C 303, S. 17, 33. 581 Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der GRC, S. 323; Callewaert, EuGRZ 2003, 198, 199; Jarass, EU-Grundrechte, § 6 Rn. 34; der., GRC, Art. 52 Rn. 63; Lemmens, MJ 8 (2001), 49, 67; Thym, in: Mahler/N. Weiß, Menschenrechtsschutz im Spiegel von Wissenschaft und Praxis, S. 110, 141 f.; W. Weiß, ZEuS 2005, 323, 335. Griller, in: Duschanek/Griller, Grundrechte für Europa, S. 131, 157 beruft sich zudem noch auf Art. 53 GRC. 582 von Danwitz, in: Tettinger/Stern, KöKo, GRC, Art. 52 Rn. 62; W. Weiß, ZEuS 2005, 323, 331. Frenz, Hdb. Europarecht, Bd. 4: Europ. Grundrechte, Rn. 71 bezieht sich auf die Verbindung des S. 2 zu Abs. 3 S. 1. 583 Frenz, Hdb. Europarecht, Bd. 4: Europ. Grundrechte, Rn. 59; Jarass, EU-Grundrechte, § 2 Rn. 21; ders., GRC, Art. 52 Rn. 63; Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 130; siehe erneut
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auch der vermittelnden Position nicht möglich.584 Wenn auch nicht mit Art. 53 GRC selbst, der der GRC lediglich bei der Auslegung und Anwendung der dort genannten Grundrechtsregime eine Einwirkung abspricht,585 so kann aber schließlich außerhalb der GRC mit den danach unberührt bleibenden völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten durch die EMRK argumentiert werden. Aus Art. 351 AEUV i.V.m. dem unionalen Loyalitätsgebot des Art. 4 Abs. 3 UAbs. 1 EUV hat die EU die konventionsrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten zu wahren helfen.586 Dies wird jedenfalls gewährleistet, wenn die EMRK den Mindeststandard des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes bildet.587 Ebenfalls verhindert wird so das bereits588 skizzierte Dilemma der Mitgliedstaaten zwischen widersprechenden unionsrechtlichen und konventionsrechtlichen Verpflichtungen.589 (2) Abweichen „nach oben“ Ein Abweichen „nach oben“, mithin ein Überschreiten des Schutzniveaus der EMRK ist hingegen unbedenklich. Dies stellen Art. 52 Abs. 3 S. 2, 53 GRC und Art. 53 EMRK ausdrücklich klar. Zum einen enthält bereits der Textbefund der GRC weitere Gewährleistungen, die sich in der EMRK, ihren Protokollen und der Rechtsprechung des EGMR nicht finden.590 Art. 52 Abs. 3 GRC ist damit auf diese Rechte gerade nicht anwendbar. Der Gerichtshof kann sie daher im Rahmen der allgemeinen Methodik,591 modifiziert Dorf, JZ 2005, 126, 128; Lemmens, MJ 2001, 49, 67, die keine von der EMRK abweichende Auslegung zulassen. 584 Diese Auffassung geht vorrangig von einem Transfer der Konventionsrechte aus und nimmt den genuin chartarechtlichen Gehalt der Rechte allein als „weiter gehenden“ Schutz i.S.d. Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC in Bezug, vgl. Naumann, EuR 2008, 424, 428; Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK im Recht der EU-Grundrechtecharta, S. 151, 177 ff. 585 Barriga, Die Entstehung der GRC, S. 167 ff.; Becker, in: Schwarze u. a., EU-Kommentar, Art. 53 GRC Rn. 1; Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 53 Rn. 9, 16; Frenz, Hdb. Europarecht, Bd. 4: Europ. Grundrechte, Rn. 75; Jarass, in: GRC, Art. 53 Rn. 3; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 53 GRC Rn. 1; Schneiders, Die Grundrechte der EU und die EMRK, S. 237, 240 f. 586 Siehe bereits oben S. 74 ff. 587 Molthagen, Das Verhältnis der EU-Grundrechte zur EMRK, S. 61 f.; W. Weiß, ZEuS 2005, 323, 344; bereits zu Art. 6 Abs. 2 EUV a.F. Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290, 331 f.; im Ergebnis ebenso Ress, in: Haller u. a., FS Winkler, S. 897, 920 ff., der statt auf die Loyalitätspflicht auf die Überprüfbarkeit von EU-Akten vor dem EGMR gegen den jeweiligen Mitgliedstaat der EU abstellt; ebenfalls Sympathien bei Griller, in: Duschanek/Griller, Grundrechte für Europa, S. 131, 156 f.; zu den Bindungen der EMRK im prätorischen Grundrechtsschutz bereits S. 73 ff. 588 Siehe oben S. 114. 589 Rechtsprechungsdivergenzen sind hingegen freilich nicht gänzlich auszuschließen, siehe S. 119. 590 Beispielsweise Art. 3 Abs. 2, 5 Abs. 3, 15, 16, 18 GRC; vollständiger Überblick bei Molthagen, Das Verhältnis der EU-Grundrechte zur EMRK, S. 50 ff. 591 Siehe oben S. 39 ff.
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
durch die gebührende Berücksichtigung der Erläuterungen gem. Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 EUV, Art. 52 Abs. 7 GRC sowie der Auslegungsregeln des Art. 52 Abs. 2, 4, 6 GRC, auch rechtsfortbildend592 – ähnlich der Rechtsprechung des BVerfG zum Grundrechtskatalog des Grundgesetzes – ausgestalten. Aber auch für solche „entsprechenden“ Rechte i.S.d. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC kann der Gerichtshof nach der Auffassung, die in Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC bloß eine Auslegungsregel sieht,593 sowie der vermittelnden Ansicht594 etwa aufgrund anderer Abwägungsgewichtungen zu einem weiter gehenden genuin chartarechtlichen Schutz gelangen. Nach diesem Verständnis ist die Auslegung der GRC offen, für andere, nicht der EMRK entnommenen Erwägungen, solange die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR hinreichend berücksichtigt worden sind. Dies komme gerade in Art. 52 Abs. 3 S. 2 zum Ausdruck.595 Danach steht der Bestimmung des Satz 1 „dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt“. Nach der überwiegenden Auffassung, die in Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC eine Transfer- oder Inkorporationsklausel sieht,596 ist hingegen ein weitergehender Schutz der Charta im Anwendungsbereich des S. 1 nicht möglich. Die Gehalte der entsprechenden Rechte sind vollumfänglich kongruent.597 Die Wendung „das Recht der Union“ in Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC kann sich damit nicht auf die Charta der Grundrechte der Europäischen Union beziehen.598 Vielmehr solle Satz 2 nur die Autonomie des Unionsrechts klarstellen.599 Allenfalls sichere Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC den chartarechtlichen Grundrechtsschutz vor einem zugegeben unwahrscheinlichen zukünftigen Absinken des EMRK-Standards.600 Dies könne aber nur durch gesetzgeberisches Tätigwerden oder chartaexterne Grundrechtsentwicklung durch den EuGH geschehen.601 Letzteres würde einen wesentlichen Anwendungsbereich des Art. 6 592 Zur Befugnis und den Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung siehe bereits oben S. 62 ff. 593 Siehe die Nachw. in Teil 2 Fn. 557, 559. 594 Siehe die Nachw. in Teil 2 Fn. 574. 595 Frenz, Hdb. Europarecht, Bd. 4: Europ. Grundrechte, Rn. 49; Jarass, EU-Grundrechte, § 2 Rn. 19; ders., GRC, Art. 52 Rn. 62. 596 Siehe die Nachw. in Teil 2 Fn. 549. 597 So das sog. Identitätskonzept, siehe die Nachw. in Teil 2 Fn. 550. 598 Barriga, Die Entstehung der GRC, S. 165; Schmitz, JZ 2001, 833, 839; ders., EuR 2004, 691, 710; vgl. auch Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, S. 126, der darauf hinweist, dass Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC lediglich das Verhältnis zu Art. 52 Abs. 2 GRC abstimme. 599 Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 52 Rn. 39; Lorenzmeier, in: Becker u. a., Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 209, 223. 600 Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 52 Rn. 39 f.; Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der GRC, S. 325; von Danwitz, in: Tettinger/Stern, KöKo, GRC, Art. 52 Rn. 62; Eisner, Die Schrankenregelung der GRC, S. 152. 601 Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 52 Rn. 39 f., der allerdings die Aufgabe des Gesetzgebers herausstellt. Auf den Gesetzgeber beschränkt ebenfalls Bühler, Einschränkungen von Grundrechten nach der GRC, S. 325.
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Abs. 3 EUV eröffnen.602 Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC stellt nach diesem Verständnis bereits klar, dass der prätorische Grundrechtsschutz nach Art. 6 Abs. 3 EUV den Mindestschutz der EMRK überschreiten darf. Dieses Ergebnis, dass jedenfalls das sonstige Unionsrecht, d. h. die Grundrechte außerhalb der GRC, das Schutzniveau der EMRK, wie es als Mindestniveau in der GRC Ausdruck findet, überschreiten darf, ergibt sich zudem – für erstgenannte Auffassung hingegen ausschließlich – aus Art. 53 GRC. Danach lässt die GRC die genannten Grundrechtsregime unberührt. Unangetastet bleibt damit auch „das Recht der Union“. In Bezug genommen werden damit die außerhalb der GRC normierten Grundrechte des Unionsrechts.603 Umfasst sind somit auch die nach Art. 6 Abs. 3 EUV als allgemeine Grundsätze richterrechtlich geschaffenen Grundrechte.604 Dass Art. 53 GRC wörtlich die „Menschenrechte“ in Bezug nimmt, scheint der Vorbildvorschrift des Art. 53 EMRK605 geschuldet zu sein, schließt das Erfassen der richterrechtlich geschaffenen „Grundrechte“ aber keinesfalls aus. Im Recht der EMRK wird die Zulässigkeit des Überschreitens des konventionsrechtlichen Standards spiegelbildlich durch Art. 53 EMRK bestätigt.606 Danach ist die EMRK „nicht so auszulegen, als beschränke oder beeinträchtige sie Menschenrechte und Grundfreiheiten, die in den Gesetzen einer Hohen Vertragspartei oder in einer anderen Übereinkunft, deren Vertragspartei sie ist, anerkannt werden.“ Da alle Mitgliedstaaten der EU Signatarstaaten der EMRK sind, stellt das Primärrecht, nun einschließlich der GRC, eine andere Übereinkunft i.S.d. Art. 53 EMRK dar, die von den Gewährleistungen der EMRK unberührt bleibt.607 Festgehalten werden kann folglich, dass die GRC gem. Art. 52 Abs. 3 GRC stets das Mindestniveau der EMRK wahrt. Der unionsrechtliche Grundrechtsschutz ist aber nicht gehindert, darüber hinaus zu gehen. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Es wird zu fragen sein, ob nicht der Integrationsstand der Unionsrechtsordnung ein Niveau erreicht hat, das ein Übersteigen des geringen gemeineuropäischen Standards des Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK durch das unionsrechtliche strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip notwendig macht. Diese Frage stellt sich insbesondere in Bezug auf die Rechtsgrundlage der Strafbarkeit, für die Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK
602
Vgl. Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK im Recht der EU-Grundrechtecharta, S. 48. Becker, in: Schwarze u. a., EU-Kommentar, Art. 53 GRC Rn. 4; Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 53 Rn. 16; Jarass, GRC, Art. 53 Rn. 4; W. Weiß, ZEuS 2005, 323, 334. 604 Ebenso Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 53 Rn. 16; Jarass, GRC, Art. 53 Rn. 4; W. Weiß, ZEuS 2005, 323, 334. 605 Barriga, Die Entstehung der GRC, S. 167; Folz, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 53 GRC Rn. 1; Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152, 156; vgl. auch Jarass, GRC, Art. 53 Rn. 2. 606 Vgl. Folz, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 52 GRC Rn. 9. 607 Molthagen, Das Verhältnis der EU-Grundrechte zur EMRK, S. 26 f. Vgl. auch EP, Entschließung vom 18. 1. 1994, EuGRZ 1994, 191, 193. 603
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
innerstaatliches oder internationales „Recht“ (engl. „law“, frz. „droit“) genügen lässt.608 b) Art. 52 Abs. 4 GRC Zur Auslegung der Grundrechtecharta sind zudem die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten heranzuziehen. „Soweit in dieser Charta Grundrechte anerkannt werden, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, werden sie“ gem. Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 EUV i.V.m. Art. 52 Abs. 4 GRC „im Einklang mit diesen Überlieferungen ausgelegt.“ Entsprechend dem gesetzlichen Wortlaut ist diese Norm eine bloße Auslegungsregel.609 Die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten enthalten ein strafrechtliches Gesetzlichkeitsprinzip, folgen dabei einem materiellen Strafbegriff und gehen damit von der Geltung im Kartellbußgeldrecht aus.610 Art. 49 Abs. 1 GRC ist „im Einklang“ mit diesem Ergebnis auszulegen. Allerdings gelangt Art. 52 Abs. 4 GRC nur nachrangig zur Anwendung. Sieht man in Art. 52 Abs. 3 GRC eine Transfer- oder Inkorporationsklausel,611 so tritt Art. 52 Abs. 4 GRC zurück, soweit diese greift.612 Der Inhalt des Chartagrundrechts wird dann allein durch das entsprechende Recht der EMRK bestimmt. Letzteres wird autonom ausgelegt,613 sodass die Erkenntnisse aus dem Recht der Mitgliedstaaten der EU grundsätzlich614 für die Auslegung der völkerrechtlichen Konvention keine Bedeutung haben. Liest man Art. 52 Abs. 3 GRC hingegen so, dass die EMRK eine bloße Rechtserkenntnisquelle bleibt,615 so treten die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen als eine ebensolche Auslegungsregel daneben. Allerdings sei ihr Gewicht für die Auslegung geringer, was sich bereits aus der zurückhaltenderen Formulierung des Abs. 4 ergebe.616 Hier treten die Erkenntnisse aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ohnehin unterstützend zum Verständnis des Art. 7 EMRK hinzu. 608
Dazu noch unten S. 156 ff. Präsidium des Europäischen Konvents, Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. 2007 C 303, S. 17, 34; Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 52 Rn. 44; Dorf, JZ 2005, 126, 129; Ehlers, in: Ehlers, Europ. Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 100; Streinz/Michel, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 52 GRC Rn. 31; W. Weiß, ZEuS 2005, 323, 341. 610 Siehe oben S. 71 f., 110. 611 Siehe Nachw. in. Teil 2 Fn. 549. 612 Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 52 Rn. 44b; Folz, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 52 GRC Rn. 11; Ladenburger, in: Tettinger/Stern, KöKo, GRC, Art. 52 Rn. 70; W. Weiß, ZEuS 2005, 323, 341. 613 Siehe die Nachw. in Teil 2 Fn. 334, 339. 614 Zu den Durchbrechungen in der Praxis in Bezug auf den Anwendungsbereich siehe bereits S. 96 f., den Gewährleistungsbereich betreffend noch S. 141 f. 615 Siehe die Nachw. in Teil 2 Fn. 557, 559. 616 Jarass, EU-Grundrechte, § 2 Rn. 26; ders., GRC, Art. 52 Rn. 67; Kingreen, in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, Art. 52 GRC Rn. 40; weiter gehend wiederum Dorf, JZ 2005, 126, 129, die Art. 52 Abs. 3 GRC als sich gegenüber Abs. 4 durchsetzend ansieht. 609
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Beide Gewährleistungen erfassen auch das Kartellbußgeldrecht. Für die Bestimmung des Anwendungsbereichs haben die unterschiedlichen Auffassungen in der Literatur daher keine Auswirkungen. Auf die verschiedenen Positionen wird aber bei der Bestimmung des Gewährleistungsgehalts noch zurückzukommen sein.617 c) Zwischenergebnis Auch das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip gem. Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC ist somit im unionsrechtlichen Kartellbußgeldrecht anwendbar, da der Gewährleistungsgehalt des Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC nach Art. 52 Abs. 3 GRC nicht den Mindeststandard der EMRK unterschreiten darf.618 Wer Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC als bloße Auslegungsregel ansieht,619 mag in systematischer Hinsicht bestärkend die weite Auslegung des Anwendungsbereichs der strafrechtlichen Garantien der Art. 48, 50 GRC heranziehen.620 Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC erfasst daher wie der entsprechende Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK auch juristische Personen,621 bleibt ebenso auf Verurteilungen und die Verhängung von Strafen beschränkt und geht von einem materiellen Strafbegriff aus. Dies wird – wenn nicht schon gesetzessystematisch als verdrängt angesehen – durch die Erkenntnisse aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten gem. Art. 52 Abs. 4 GRC bestätigt. Da Abs. 5 S. 1 der Präambel der GRC auch auf die Rechtsprechung des EuGH verweist, ist zudem eine möglichst harmonisierende Auslegung mit dem prätorischen Grundrechtsschutz anzustreben.622 Dies gelingt hier, da auch der EuGH von der Anwendbarkeit des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips im prätorischen Grundrechtsschutz ausgeht.623 7. Das Konkurrenzverhältnis der verschiedenen Gewährleistungen Zwar wurde bereits das Verhältnis der EMRK und der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten zur GRC bestimmt und erstere als Min617
Unten S. 190 ff. Ebenso Jarass, GRC, Art. 49 Rn. 8; i.E. auch Dannecker, ÖZK 2010, 171, 176; zu Art. 7 EMRK bereits oben S. 85 ff. 619 Siehe Nachw. in Teil 2 Fn. 557. 620 So Jarass, GRC, Art. 49 Rn. 7. Allerdings ist zu beachten, dass auch die entsprechenden Vorschriften der EMRK (Art. 6 Abs. 2 EMRK, Art. 4 7. ZP EMRK) gerade in Orientierung an den Strafbegriff der Art. 6, 7 EMRK weit ausgelegt werden, was wiederum gem. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC für die genannten GRC-Rechte bedeutsam wird, vgl. zu Art. 6 Abs. 2 EMRK oben S. 85 ff. und zu Art. 4 7. ZP EMRK EGMR, Urt. v. 10. 2. 2009 (GK), Nr. 14939/03 – Zolotukhin/ Russland, nicht in amtl. Slg., Rn. 52 f.; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 4 7. ZP Rn. 2. 621 Jarass, EU-Grundrechte, § 42 Rn. 7; ders., GRC, Art. 49 Rn. 6; allg. zur Grundrechtsberechtigung juristischer Personen im Unionsrecht Ehlers, in: Ehlers, Europ. Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 56. 622 Jarass, GRC, Einl. Rn. 34. 623 Siehe oben S. 110 f. 618
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
deststandard der letzteren identifiziert. Weiterhin zu klären bleibt jedoch das Verhältnis der GRC zu den aus den beiden genannten Quellen nach Art. 6 Abs. 3 EUV gespeisten allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Beide Grundrechtsregime halten wie gesehen ein strafrechtliches Gesetzlichkeitsprinzip vor, das auf das unionsrechtliche Kartellrecht anwendbar ist. Der Vertrag von Lissabon hat einen Dualismus dieser beiden Grundrechtsregime in Art. 6 EUV festgeschrieben. Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 EUV erklärt den geschriebenen Grundrechtskatalog der GRC für rechtsverbindlich. Gleichzeitig hält Art. 6 Abs. 3 GRC an dem richterrechtlich entwickelten Grundrechtsschutz durch allgemeine Rechtsgrundsätze fest. Dies verwundert auf den ersten Blick, diente die Rechtsprechung doch ursprünglich der Kompensation eines fehlenden geschriebenen Grundrechtskataloges624 und kommt der GRC doch gerade die „Sichtbarmachung“ des Grundrechtsbestandes der EU zu.625 Das Einfügen des heutigen Art. 6 Abs. 3 EUV neben Art. 6 Abs. 1 EUV war im Verfassungskonvent entsprechend umstritten.626 Teilweise627 wird Art. 6 Abs. 3 EUV heute nicht nur als verwirrende Doppelung, sondern gar als überflüssig erachtet. Die Befürworter haben sich im Konvent aber letztlich durchsetzen können. Sie brachten vor, Grundrechtskataloge seien niemals als erschöpfend anzusehen, „so daß im Wege der Rechtsprechung zusätzliche Rechte eingeführt werden können, mit denen den gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung getragen wird.“628 Übernommen wurde damit unter terminologischen Angleichungen der Gehalt des Art. 6 Abs. 2 EUV a.F.629 Auch wenn sich die GRC ebenfalls gem. Abs. 5 S. 1 der Präambel auf die Erkenntnisquellen der EMRK und der gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten beruft, was in Art. 52 Abs. 3, 4 GRC zum unmittelbaren Ausdruck kommt, sowie die Rechtsprechung des EuGH in Bezug nimmt, können sich abweichende Gewährleistungsgehalte ergeben und bestehen sogar bereits nach dem 624
S. 70 f. 625
Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 6 EUV Rn. 15; dazu bereits oben
Dorf, JZ 2005, 126, 131. Damals Art. I-9 Abs. 3 Verf.; vgl. Europäischer Konvent, Bericht des Vorsitzenden der Gruppe II – „Einbeziehung der Charta/Beitritt zur EMRK“ betreffend den Schlussbericht der Gruppe II über die Charta v. 22. 10. 2003, CONV 354/02, S. 9; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 6 EUV Rn. 16. 627 Frenz, Hdb. Europarecht, Bd. 4: Europ. Grundrechte, Rn. 108; Kingreen, in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, Art. 6 EUV Rn. 18; Schmitz, EuR 2004, 691, 698; T. Stein, EuZ 2008, 37, 43; ebenso bereits Calliess, EuZW 2001, 261, 268; zurückhaltender W. Weiß, ZEuS 2005, 323, 346: „Reminiszenz und Hommage“ an die Grundrechtsentwicklung der EU, wenngleich ihm kein materieller Gehalt zukommt. 628 Europäischer Konvent, Vermerk des Präsidiums v. 6. 2. 2003 betreffend den Entwurf der Artikel 1 bis 16 des Verfassungsvertrags v. 6. 2. 2003, CONV 528/03, S. 13. 629 Streinz/Michl, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 6 EUV Rn. 24; vgl. auch T. Stein, EuZ 2008, 37, 41. Art. 6 Abs. 2 EUV a.F. lautete: „Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben.“ 626
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Textbefund der GRC.630 Wenngleich beide Grundrechtsregime in der hier zu betrachtenden Fallkonstellation ein strafrechtliches Gesetzlichkeitsprinzip vorhalten, ist, bevor der Gewährleistungsgehalt behandelt werden soll, die grundsätzliche Frage des Konkurrenzverhältnisses zu beantworten. Dieses bestimmt über die Vorgaben und Bindungen, die für die richterliche Ausformung der Grundrechte relevant werden. a) Das Verhältnis zwischen Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 EUV Die Bestimmung des Konkurrenzverhältnisses der beiden unionsrechtlichen Grundrechtsregime findet seinen Ausgangspunkt im Verhältnis zwischen Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 EUV. Wie sich aus dieser Norm ergibt stehen die zwei631 Grundrechtsregime grundsätzlich nebeneinander.632 Beiden wird der gleiche rechtliche Rang zugewiesen.633 Die Grundrechte beider Grundrechtsquellen sind Teil des Primärrechts.634 aa) Vorrang der Grundrechtecharta im Allgemeinen Gleichwohl kommt die GRC vorrangig zur Anwendung.635 Dies wird bereits den Materialien der Europäischen Konvente entnommen. Aus ihnen ergebe sich, dass die GRC das zentrale Element künftigen Grundrechtsschutzes darstellen und der prätorische Grundrechtsschutz diesen lediglich ergänzen solle.636 Zudem wird in systematischer Hinsicht allein aus der Reihenfolge der Absätze des Art. 6 EUVauf einen
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Hingewiesen sei zum einen auf die Diskussion um eine allgemeine Handlungsfreiheit aus allgemeinem Rechtsgrundsatz, die sich in der GRC nicht findet (dazu etwa Jarass, GRC, Einl. Rn. 31 m.w.N.; zur Funktion einer Auffanggarantie in Form eines allgemeinen Gesetzesvorbehalts für belastende Maßnahmen noch unten S. 146 ff.), zum anderen auf die sozialen Rechte des Titel IV der GRC, die keine Entsprechung im prätorischen Grundrechtsschutz haben (dazu etwa Ludwig, EuR 2011, 715, 718 m.w.N.). 631 Nach dem Beitritt der EU zur EMRK tritt auch diese hinzu. 632 Jarass, GRC, Einl. Rn. 33; Kizil, JA 2011, 277, 280; siehe auch Schmitz, JZ 2001, 833, 836; ders., EuR 2004, 691, 698. 633 Schneiders, Die Grundrechte der EU und die EMRK, S. 141; Schorkopf, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. I, Art. 6 EUV Rn. 29, 50 [51. Lfg.: September 2013]; Streinz/Pechstein, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 6 EUV Rn. 36; W. Weiß, ZEuS 2005, 323, 325 f. 634 Jarass, GRC, Einl. Rn. 9; Kizil, JA 2011, 277, 279; Streinz/Pechstein, in: Streinz, EUV/ AEUV, Art. 6 EUV Rn. 36; für die GRC siehe Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 EUV a.E., für die allgemeinen Rechtsgrundsätze siehe bereits die Nachw. in Teil 2 Fn. 144. 635 Jarass, EU-Grundrechte, § 2 Rn. 15; ders., GRC, Einl. Rn. 33; Schmitz, EuR 2004, 691, 698; Schorkopf, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. I, Art. 6 EUV Rn. 56 [51. Lfg.: September 2013]; Schulte-Herbrüggen, ZEuS 2009, 343, 354 ff.; Streinz/Pechstein, in: Streinz, EUV/ AEUV, Art. 6 EUV Rn. 35. 636 Ludwig, EuR 2011, 715, 725 f.
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
Vorrang des Absatzes 1 geschlossen.637 Ferner wird für ihren Vorrang auf die höhere Legitimation der Grundrechtecharta verwiesen. Im Gegensatz zu den spärlich begründeten und sich überwiegend in Feststellungen erschöpfenden Herleitungen der Grundrechte im prätorischen Grundrechtsschutz nach Art. 6 Abs. 3 EUV war die Entstehung der Grundrechtscharta von großer Transparenz und Partizipation gekennzeichnet.638 Zudem wird der Vorrang der GRC als durch Art. 53 GRC bestätigt angesehen. Diese Vorschrift ergebe nur Sinn, wenn die GRC als Ausgangspunkt herangezogen werde, da andererseits auch im Einzelfall günstigere Grundrechtsregime gewählt werden könnten.639 Die GRC verfolgt ausweislich der Absätze 4, 5 S. 1 Präambel der GRC, den Zweck, den aus den dort genannten Quellen gespeisten, bereits bestehenden Grundrechtsschutz zu bekräftigen und sichtbar zu machen. Statt als unionsrechtsinterner Anker eines aus externen Grundrechtsquellen durch den EuGH gewonnenen Grundrechtsschutzes,640 wurde der Grundrechtecharta nunmehr Rechtsverbindlichkeit zugemessen. Diese Sichtbarmachung und Rechtssicherheit gewährleistet der prätorische Grundrechtsschutz nicht.641 Sinn und Zweck der GRC werden schließlich nur erreicht, wenn der in ihr verbürgte transparente Mindestschutz nicht nach Art. 6 Abs. 3 EUV zur freien Disposition der Rechtsprechung gestellt wird.642 Dies kann mit rechtsstaatlichen Argumenten bekräftigt werden. Namentlich der Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts kann in Ansatz gebracht werden.643 Art. 6 Abs. 1 EUV verweist auf einen geschriebenen Grundrechtskatalog im Rang des Primärrechts. Art. 6 Abs. 3 EUV bezieht sich hingegen nicht auf spezifisch unions(verfassungs)gesetzgeberische Wertentscheidungen.644 Seinen Ausdruck findet dies schließlich im rechtsstaatlichen Vorrang des geschriebenen Rechts.645 Entsprechend 637 Ludwig, EuR 2009, 715, 724; Schmitz, EuR 2004, 691, 698; Schulte-Herbrüggen, ZEuS 2009, 343, 354; diesbezüglich zu recht kritisch Kizil, JA 2011, 277, 280; W. Weiß, ZEuS 2005, 323, 325 f. (Fn. 8). 638 Schulte-Herbrüggen, ZEuS 2009, 343, 354 f.; einschränkend auch auf die Schwächen des Verfahrens hinweisend Schmitz, EuR 2004, 691, 694; zust., wenngleich nicht als durchgreifendes Argument ansehend, Kizil, JA 2011, 277, 280. 639 Schorkopf, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. I, Art. 6 EUV Rn. 56 [51. Lfg.: September 2013]; zum Hoheitsgewalt-Bürger-Verhältnis siehe aber sogleich S. 134 ff. 640 Zur Rechtslage vor Rechtsverbindlichkeit der GRC siehe S. 80 f. 641 Ludwig, EuR 2011, 715, 726 f. 642 Vgl. Ludwig, EuR 2011, 715, 727; Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, S. 31 (Fn. 76); Schmitz, EuR 2004, 691, 697 f.; Schorkopf, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. I, Art. 6 EUV Rn. 56 [51. Lfg.: September 2013]. 643 Dazu bereits oben S. 64 ff. 644 Vgl. zur „Anomalie“, dass der EuGH selbst gem. Art. 6 Abs. 2 EUV a.F. bei seiner Grundrechtsrechtsprechung an keine Norm gebunden war und der einfache europäische Gesetzgeber damit nicht korrigierend tätig werden konnte Schulte-Herbrüggen, ZEuS 2009, 343, 355 f.; T. Stein, EuZ 2008, 37, 40. 645 Dies betonend Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 6 EUV Rn. 17; SchulteHerbrüggen, ZEuS 2009, 343, 356; ähnlich Jarass, GRC1, Einl. Rn. 33.
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nimmt auch der EuGH in neueren Entscheidungen bei der Grundrechtsprüfung ausschließlich auf die GRC Bezug und lässt seinen prätorischen Grundrechtsschutz gänzlich unerwähnt.646 Gleichwohl hält Art. 6 Abs. 3 EUV am prätorischen Grundrechtsschutz fest. Ihm kommt eine ergänzende Funktion zu.647 Bereits die sich im Verfassungskonvent letztlich durchgesetzten Stimmen sahen die Notwendigkeit, den Grundrechtsschutz über das Instrument der GRC hinaus entwicklungsoffen zu halten.648 Der Weg über eine Änderung der textlichen Grundlage der GRC scheidet dabei allerdings praktisch aus. Selbst wenn Art. 48 EUV, der die Änderung der Verträge regelt, analog herangezogen werden könnte,649 so steht eine politische Einigung auf einen veränderten Chartatext nicht zu erwarten.650 Als Beleg diene nur der komplizierte Entstehungsprozess der Charta der Grundrechte,651 der einen hart ausgefochtenen Kompromiss darstellt,652 und die zahlreichen zurückhaltenden Klauseln, wie etwa Art. 6 Abs. 1 UAbs. 2 EUV oder Art. 51 Abs. 2 GRC, die die verbreitete Skepsis der Mitgliedstaaten gegenüber einem geschriebenen Grundrechtekatalog zum Ausdruck bringen.653 Jedoch ist die GRC gem. Art. 52 Abs. 3, 4 GRC inhaltlich an die Ent-
646 Siehe etwa EuGH, Urt. v. 23. 12. 2009, Rs. C-403/09 PPU – Deticˇek, Slg. 2009, I-12193, I-12239 Rn. 53; Urt. v. 19. 1. 2010, Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365, I-408 Rn. 22; Urt. v. 5. 10. 2010, Rs. C-400/10 PPU – McB, Slg. 2010, I-8965, I-9011 ff. Rn. 50 ff.; Urt. v. 9. 11. 2010, verb. Rs. C-92/09 und C-93/09 – Volker und Markus Schecke und Eifert, Slg. 2010, I-11063, I-11142 ff. Rn. 45 ff.; Urt. v. 29. 3. 2011, Rs. C-352/09 P – Thyssen Krupp Nirosta/ Kommission, Slg. 2011, I-2359, I-2436 Rn. 80. 647 Europäischer Konvent, Vermerk des Präsidiums v. 6. 2. 2003 betreffend den Entwurf der Artikel 1 bis 16 des Verfassungsvertrags, CONV 528/03, S. 13; Kober, Grundrechtsschutz in der EU, S. 258; Scheuing, EuR 2005, 162, 189 f.; Schneiders, Die Grundrechte der EU und die EMRK, S. 140 f.: „Supplementärverhältnis“; Schorkopf, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. I, Art. 6 EUV Rn. 52 f., 56 [51. Lfg.: September 2013]; Schulte-Herbrüggen, ZEuS 2009, 343, 357: „Auffangtatbestand“; Streinz, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 6 EUV Rn. 35; a.A. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 6 EUV Rn. 18, der die Bedeutung des Art. 6 Abs. 3 EUV lediglich darin sieht, dass der bisherige prätorische Grundrechtsschutz eine wesentliche Grundlage der Auslegung der GRC bildet und die GRC diesen Grundrechtsstandard nicht anzweifelt; weitere Nachw. aus Teil 2 Fn. 627, die den prätorischen Grundrechtsschutz für nunmehr überflüssig halten. 648 Europäischer Konvent, Bericht des Vorsitzenden der Gruppe II – „Einbeziehung der Charta/Beitritt zur EMRK“ v. 22. 10. 2002 betreffend den Schlussbericht der Gruppe II über die Charta, CONV 354/02, S. 9; ders., Vermerk des Präsidiums v. 6. 2. 2003 betreffend den Entwurf der Artikel 1 bis 16 des Verfassungsvertrags v. 6. 2. 2003, CONV 528/03, S. 13. 649 So Schulte-Herbrüggen, ZEuS 2009, 343, 348 f.; ihr folgend Kizil, JA 2011, 277, 277 f. 650 Borowsky, in: Meyer, GRC, Vor. Titel VII Rn. 15: „in Stein gemeißelt“. 651 Ausführliche Darstellung bei Barriga, Die Entstehung der GRC, passim. 652 Vgl. Borowsky, in: Meyer, GRC, Vor. Titel VII Rn. 15; Jarass, GRC, Einl. Rn. 3. 653 Hingewiesen sei auch auf das Protokoll (Nr. 30) über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich v. 13. 12. 2007, ABl. 2010 C 83, S. 201, 313.
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
wicklungen der EMRK und der Verfassungen der Mitgliedstaaten gebunden.654 Außerhalb des Anwendungsbereichs des Art. 52 Abs. 3, 4 GRC ist zudem eine Rechtsfortbildung von Grundrechten innerhalb der Grundrechtecharta möglich.655 Art. 6 Abs. 3 EUV fügt sich dennoch in den Grundrechtschutz neben der GRC ein. Bereits aus dem Festhalten am prätorischen Grundrechtsschutz nach Art. 6 Abs. 3 EUV lässt sich schließen, dass die GRC grundsätzlich keine Sperrwirkung entfaltet656 und damit richterliche Rechtsfortbildung nicht ausschließt.657 Auch der GRC selbst ist nicht zu entnehmen, dass sie abschließend zu verstehen sei.658 Ohnehin könnten Grundrechtskataloge nie als erschöpfend angesehen werden.659 Die GRC möchte ausweislich Abs. 4, 5 Abs. 1 der Präambel lediglich den bestehenden Grundrechtsschutz bestärken und für den Bürger sichtbar machen. Dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs und dessen Erkenntnisquellen zur Schaffung von Grundrechten durch allgemeine Rechtsgrundsätze als Quellen des Grundrechtsschutzes genannt werden und in der GRC nur geschrieben festgehalten werden sollen, kann schließlich nicht für den abschließenden Charakter der Charta sprechen.660 Zur Verdeutlichung genügt zudem, Art. 53 GRC heranzuziehen. Ein die GRC in dem jeweiligen Anwendungsbereich übersteigender richterrechtlicher Grundrechtsschutz außerhalb der GRC bleibt als „Recht der Union“ unberührt, präziser mit der gesetzlichen Bestimmung des Art. 53 GRC formuliert, kann dieser nicht von der GRC eingeschränkt werden.661 Die Aussage des Art. 53 GRC geht allerdings nicht darüber hinaus. Die Rechte der GRC müssen nicht den weiter gehenden Gehalt der genannten Grundrechtsregime annehmen,662 sodass die Konkurrenzfrage entfiele. 654 Vgl. Frenz, Hdb. Europarecht, Bd. 4: Europ. Grundrechte, Rn. 108; Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563, 569; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 6 EUV Rn. 17; Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152, 155. Insb. zur dynamischen Inbezugnahme der Rechtsprechung des EGMR siehe bereits S. 116 f. 655 Nach Schmitz, EuR 2004, 691, 698 ist dies der vorrangige Weg der Lückenschließung, auf Art. 6 Abs. 3 EUV sei nur sehr begrenzt zurückzugreifen. 656 Kober, Grundrechtsschutz in der EU, S. 256 ff.; Scheuring, EuR 2005, 162, 190; SchulteHerbrüggen, ZEuS 2009, 343, 357. 657 Zu den Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung siehe bereits S. 64 ff. 658 Schneiders, Die Grundrechte der EU und die EMRK, S.136 ff.; a.A. Schmitz, EuR 2004, 691, 697. 659 Europäischer Konvent, Vermerk des Präsidiums v. 6. 2. 2003 betreffend den Entwurf der Artikel 1 bis 16 des Verfassungsvertrags v. 6. 2. 2003, CONV 528/03, S. 13; siehe die wörtliche Wiedergabe bei Teil 2 Fn. 628. 660 Ebenso Schneiders, Die Grundrechte der EU und die EMRK, S. 136 f. 661 Siehe bereits oben S. 123. 662 Barriga, Die Entstehung der GRC, S. 167 ff.; Becker, in: Schwarze u. a., EU-Kommentar, Art. 53 GRC Rn. 9; Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 53 Rn. 9; Dorf, JZ 2005, 126, 130; Jarass, GRC, Art. 53 Rn. 3; Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, S. 173 ff.; Streinz/Michl, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 53 GRC Rn. 3; W. Weiß, ZEuS 2005, 323, 334; Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK im Recht der EU-Grundrechtecharta, S. 223 f.
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Soweit der Chartatext somit im Einzelfall planwidrige Lücken aufweist und diese nicht innerhalb der GRC geschlossen werden können, greift der prätorische Grundrechtsschutz nach Art. 6 Abs. 3 EUV. Bewusste Schutzlücken der GRC durch Schutzbereichsausnahmen663 hingegen dürfen vom EuGH nicht im Wege des Art. 6 Abs. 3 EUV geschlossen werden. Im Regelungsbereich eines Chartarechts verbietet sich somit der Rückgriff auf den prätorischen Grundrechtsschutz.664 Bei parallelem Schutzbereich ist das Grundrecht der GRC vorrangig, Schutzbereichsausnahmen der GRC greifen auf den richterlichen Grundrechtsschutz nach Art. 6 Abs. 3 EUV durch. Außerhalb des Regelungsbereichs eines Chartarechts findet Art. 6 Abs. 3 EUV seinen „ergänzenden“ Anwendungsbereich. Da der EuGH danach auf die EMRK wie die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen zurückgreift und die GRC gem. Abs. 5 S. 1 der Präambel den bereits auch daraus gespeisten Grundrechtsschutz kodifiziert, ist ausblickend eine inhaltlich harmonische Grundrechtsentwicklung zu erwarten.665 Lediglich bei der Beurteilung des Konkurrenzverhältnisses unter Grundrechten der verschiedenen Grundrechtsregime in sog. mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen stellen sich besondere Schwierigkeiten. Damit sind Rechtsverhältnisse angesprochen, in denen sich die Grundrechtsausübung der einen Partei zulasten der Grundrechte einer anderen auswirkt, mithin entgegengesetzte Grundrechte kollidieren.666 Befürchtet wird, dass in diesen Konstellationen ein verstärkter Grundrechtsschutz des EuGH zugunsten einer Partei möglicherweise zugleich in die Charta-Rechte einer anderen Partei eingriffe und damit die Rechte der GRC umgangen würden.667 Ein paralleler Konflikt stelle sich zudem zulasten der Kompetenzen der Mitgliedstaaten.668 Allerdings steht hier mit dem Gesetzlichkeitsprinzip ein justizielles Recht des Titel VI der GRC in Frage. Diese verbürgen keine Abwehrrechte, sondern unmittelbar anwendbare oder durch die Hoheitsgewalt zu gewährende Rechtspositionen des Grundrechtsberechtigten.669 Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC gewährleistet keinen (klassischen) Freiheitsbereich.670 Daher kann eine Kollision mit Grundrechten an-
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Zur Terminologie siehe bereits oben S. 113. So auch Schneiders, Die Grundrechte der EU und die EMRK, S. 142; ähnlich Schmitz, EuR 2004, 691, 698. 665 Näher zu den Gemeinsamkeiten der Grundrechtsentwicklung bei Überschreiten des EMRK-Standards nach Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC unten S. 156 ff. 666 Zur Terminologie eingehend Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK im Recht der EUGrundrechtecharta, S. 233 ff. 667 So etwa Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 6 Rn. 17. 668 So etwa Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 6 Rn. 17; ders., EuGRZ 2004, 570, 576. 669 Grabenwarter, in: Cremer u. a., FS Steinberger, S. 1129, 1137. 670 Zur parallelen dt. Rechtslage nach Art. 103 Abs. 2 GG Appel, Verfassung und Strafe, S. 564 f.; ders., Jura 2000, 571, 577; so auch Höfling/Burkiczak, in: Friauf/Höfling, Berliner 664
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derer Grundrechtsberechtigten nicht eintreten. In seinem Anwendungsbereich, der strafrechtlichen Verurteilung, stehen sich ausschließlich die Hoheitsgewalt und der Bürger, im kartellrechtlichen Bußgeldverfahren namentlich die Europäische Kommission als Kartellbehörde und das betroffene Unternehmen, gegenüber, indem das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip Anforderungen an die Hoheitsgewalt hinsichtlich Art und Weise ihrer Strafeingriffe formuliert. Die (Straf-)Hoheitsgewalt ist allein grundrechtsverpflichtet, nicht grundrechtsberechtigt. Grundrechte Dritter stehen nicht in Frage. Ebenso wenig sind Kompetenzen der Mitgliedstaaten betroffen. Beide Aspekte sind lediglich als den Garantien des nulla poena-Grundsatzes vorgelagerte Vorfragen relevant. Die EU kann Straftatbestände i.w.S. nur nach den ihr von den Mitgliedstaaten übertragenen Kompetenzen schaffen. Bei der Entscheidung über das Ob und das Wie der Sanktion werden die betroffenen Grundrechte Dritter in der gesetzgeberischen Abwägung maßgeblich. Im hier ausschließlich betroffenen Verhältnis zwischen Grundrechtsberechtigtem und Hoheitsgewalt treten diese Schwierigkeiten somit nicht auf. bb) Bindung an den höheren Grundrechtsstandard im Hoheitsgewalt-Bürger-Verhältnis im Besonderen Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC ist damit hier grundsätzlich vorrangig anzuwenden gegenüber dem parallelen strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzip aus allgemeinem Rechtsgrundsatz gem. Art. 6 Abs. 3 EUV. Die Rechtsprechung ist gem. Art. 51 Abs. 1 GRC als Organ der EU (Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 5. Spiegelstrich EUV) an die GRC gebunden und darf damit nicht nachteilig vom geschriebenen Grundrechtsstandard abweichen. Einem weitergehenden richterrechtlichen Schutz außerhalb ihres Regelungsbereichs steht die GRC hingegen nicht entgegen.671 Diese Zusammenhänge liegen im Hoheitsgewalt-Bürger-Verhältnis auf der Hand. Beide Grundrechtsregime stehen – vorbehaltlich der beschriebenen, recht begrenzten Sperrwirkung der GRC – nebeneinander. Die EU-Organe sind an beide gleichermaßen gebunden. Bei gleichgerichteten Grundrechtsgewährleistungen kommt die Hoheitsgewalt ihren Grundrechtsbindungen nur nach, wenn sie die strengeren Standards erfüllt.672 Kommt sie dem höchsten Schutzniveau nach, dann erfüllt sie zugleich auch das niedrigere des anderen Grundrechtsregimes. Dies lässt sich auch mit Art. 53 GRC belegen. Überschneiden sich die Anwendungsbereiche der Rechte der genannten Rechtsregime mit denen der GRC („in dem jeweiligen Anwendungsbereich“), dann kommt danach das schutzintensivere Recht zur Anwendung.673 EinKommentar, GG, Bd. 4, Art. 103 Rn. 130 [26. Lfg.: April 2009], die der grundrechtsdogmatischen Einordnung als Schranken-Schranke im Weiteren dezidiert widersprechen. 671 Siehe oben S. 123 ff. 672 Vgl. Jarass, EU-Grundrechte, § 2 Rn. 14; ders., GRC, Einl. Rn. 32; Schmitz, JZ 2001, 833, 836; ders., EuR 2004, 691, 698 f. 673 Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 53 Rn. 14; Frenz, Hdb. Europarecht, Bd. 4: Europ. Grundrechte, Rn. 81; Jarass, GRC, Art. 53 Rn. 3, 14; Streinz/Michl, in: Streinz, EUV/AEUV,
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schränkungen ergeben sich schließlich auch nicht aus der Überlegung, entgegenstehende Grundrechte Dritter im Wege einer Schutzpflicht zu berücksichtigen. Ein mehrpoliges Grundrechtsverhältnis ist beim strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzip wie gesehen ausgeschlossen. Einschränkungen des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips, wie es nach Art. 6 Abs. 3 EUV Teil des Unionsrechts ist, die das Schutzniveau des Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC unterschreiten, darf der Gerichtshof daher nicht vornehmen. Er bleibt gem. Art. 51 Abs. 1 GRC an die GRC gebunden. Die GRC ist damit eine Grenze der Absenkung des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes und damit in dieser Beziehung ein Mindestschutz.674 Der oben675 angesprochene Streit über die rechtlichen Bindungen des Gerichtshofs an die EMRK nach Art. 6 Abs. 3 EUV ist somit nunmehr im Anwendungsbereich der Grundrechtecharta obsolet. Das vorrangige Chartagrundrecht wahrt zwingend den Mindeststandard der EMRK. Insoweit hat Art. 52 Abs. 3 GRC die bisherige EuGH-Rechtsprechungspraxis lediglich festgeschrieben.676 Durch Schließung planwidriger Lücken der GRC kann der EuGH nach Art. 6 Abs. 3 EUV weiter gehenden Grundrechtsschutz gewährleisten. Diese Funktion kommt ihm allerdings bereits bei Auslegung und Rechtsfortbildung innerhalb der GRC zu.677 Art. 6 Abs. 3 EUV gewinnt seine Bedeutung daher vor allem678 in der Entwicklung neuer Grundrechtsgewährleistungen, dessen Bedrohungslagen bei Verfassen der GRC gänzlich nicht erkannt wurden. b) Das Verhältnis der Gewährleistungen des allgemeinen Rechtsstaatsprinzips zu denen der Grundrechte Ist das grundrechtliche Konkurrenzverhältnis geklärt, bereitet das Verhältnis der grundrechtlichen Anknüpfung und der Verankerung des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips im allgemeinen Rechtsstaatsprinzip keine Probleme. Die grundrechtlichen Gewährleistungen gehen im Wege der Spezialität vor.679 Es ist daher Art. 53 GRC Rn. 3; W. Weiß, ZEuS 2005, 323, 334; Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK im Recht der EU-Grundrechtecharta, S. 223; vgl. auch Grabenwarter, DVBl. 2001, 1, 11; ders., VVDStRL 6 (2001), 290, 341; ders., in: Cremer u. a., FS Steinberger, S. 1129, 1140. 674 Ebenso Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 53 Rn. 14. 675 S. 74 f. 676 Vgl. auch Griller, in: Duschanek/Griller, Grundrechte für Europa, S. 131, 157 f. 677 Dazu bereits S. 123 und S. 132. 678 Nach dem Identitätskonzept bedarf es eines Rückgriffs auf Art. 6 Abs. 3 EUV auch, um ein Überschreiten des EMRK-Standards eines entsprechenden Konventionsrechts nach Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC zu ermöglichen; dazu bereits S. 123 ff. 679 Für das dt. Recht Krey, Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht, S. 240; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 103 Rn. 43; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. VI, Art. 103 Abs. 2 Rn. 167 [30. Lfg.: Dezember 1992]; Schünemann, Nulla poena sine lege?, S. 26.
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nicht von Bedeutung, in wie weit die allgemeinen rechtsstaatlichen Garantien verdichtet werden können, um den strengen Maßstab des grundrechtlichen strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips zu erreichen. Dies entlastet einerseits die spezifisch strafrechtlichen Gewährleistungen der Grundrechte vor Abschwächungen, die mit den abwägungsoffenen allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätzen zwingend verbunden sind, und verhindert andererseits ihre Ausdehnung auf andere Bereiche, da für diese rechtsstaatliche Garantien auch über die allgemeinen Grundsätze gewährleistet werden.680 Im Ergebnis setzen sich somit die strengsten, bürgerfreundlichsten Maßstäbe durch. Die nachfolgende Untersuchung ist daher auf die grundrechtlichen Gewährleistungen des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips des Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC zu konzentrieren. Gleichwohl bleibt die Frage seiner Einschränkungen auch nach der GRC zu behandeln.681 c) Das Verhältnis zu den nationalen Grundrechten Abschließend sei noch angemerkt, dass die entsprechenden mitgliedstaatlichen Garantien wie etwa Art. 103 Abs. 2 GG im unionsrechtlichen Kartellbußgeldrecht nicht zur Anwendung kommen.682 Im unionsrechtlichen Kartellbußgeldverfahren übt die Europäische Kommission unionsrechtliche, supranationale Hoheitsgewalt aus. Sie ist entsprechend ausschließlich an die unionsrechtlichen Grundrechte gebunden.683 Die nationalen Grundrechte schützen nur gegenüber der jeweiligen nationalen Hoheitsgewalt.684 Als Überprüfungsakte kommen damit allein die nationalen Zustimmungsgesetze zur Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU in Betracht. In Deutschland werden diese durch Art. 23 Abs. 1 GG begrenzt. Bei ultra vires-Han-
680 Zum dt. Recht Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. VI, Art. 103 Abs. 2 Rn. 167 [30. Lfg.: Dezember 1992]. 681 Siehe noch unten S. 177 ff. 682 Eser, in: Meyer, GRC, Art. 49 Rn. 15 f.; allgemein Jarass, GRC, Art. 53 Rn. 9; SchmidtAßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. VI, Art. 103 Abs. 2 Rn. 247 [30. Lfg.: Dezember 1992]; Thym, in: Mahler/N. Weiß, Menschenrechtsschutz im Spiegel von Wissenschaft und Praxis, S. 110, 120. 683 Handelt indes – beispielhaft für die Kartellbehörden der Mitgliedstaaten – das Bundeskartellamt auf der Grundlage des § 81 Abs. 1 Nr. 1 GWB i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUVoder des § 81 Abs. 2 Nr. 1 GWB i.V.m. § 1 GWB einen zwischenstaatlichen Sachverhalt betreffend, sodass es gem. Art. 3 Abs. 1 S. 1 VO 1/2003 zugleich Art. 101 AEUV anwendet, handelt die nationale Kartellbehörde im Anwendungsbereich des Unionsrechts. Sie ist daher ebenfalls gem. Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC an die Charta-Grundrechte gebunden. Vgl. zur mitunter ungeklärten Bindung der Mitgliedstaaten an die GRC Präsidium des Europäischen Konvents, Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. 2007 C 303, S. 17, 32; Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 51 Rn. 24 ff.; Hatje, in: Schwarze u. a., EU-Kommentar, Art. 51 GRC Rn. 13 ff.; Jarass, GRC, Art. 51 Rn. 11 ff.; Lenaerts, EuR 2012, 3, 4 ff. 684 Thym, in: Mahler/N. Weiß, Menschenrechtsschutz im Spiegel von Wissenschaft und Praxis, S. 110, 120.
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deln der EU685 wie Verletzungen des Kerngehalts des GG nach Art. 23 Abs. 1 S. 1, 3; 79 Abs. 2, 3 GG durch das Unionsrecht, wozu ein dem Grundgesetz im wesentlichen gleichzuachtender Grundrechtsschutz gehört, ist das Unionsrecht nach der Rechtsprechung des BVerfG in Deutschland unanwendbar.686 Da das BVerfG seit der Solange II-Entscheidung687 diesen Standard durch das Unionsrecht gewahrt sieht, ist das Unionsrecht an den deutschen Grundrechten nur zu überprüfen, wenn geltend gemacht wird, der Grundrechtsschutz im Recht der Union sei im Allgemeinen ungenügend, d. h. dem GG nicht im Wesentlichen vergleichbar.688 Diese Reservekompetenz wird aber eine theoretische bleiben. 8. Zwischenergebnis Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC umfasst jedenfalls den Gewährleistungsumfang des entsprechenden Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK als Mindestschutz. Das chartarechtliche Gesetzlichkeitsprinzip ist damit auch im unionsrechtlichen Kartellbußgeldrecht anwendbar. Dieses Ergebnis wird durch die Berücksichtigung der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen gem. Art. 52 Abs. 4 GRC gestützt. Im Verhältnis zum prätorischen Grundrechtsschutz nach Art. 6 Abs. 3 EUV, der ebenfalls ein strafrechtliches Gesetzlichkeitsprinzip umfasst, findet letztlich der strengere Maßstab Anwendung. Dem vorrangigen Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC ist keine bewusste gesetzgeberische Einschränkung auf das normierte Schutzniveau zu entnehmen. Der Gerichtshof kann damit nach Art. 6 Abs. 3 EUV einen weiter gehenden Schutz gewährleisten, allerdings wegen seiner Bindung an die GRC gem. Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 EUV i.V.m. Art. 52 Abs. 1 GRC den Mindeststandard des Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK, der gem. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC in Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC zum chartarechtlichen Ausdruck kommt, nicht unterschreiten. Gerade auch Einschränkungen stehen somit nicht zur weitgehend freien Rechtsfindung der Rechtsprechung, sondern müssen sich ebenso aus der gesetzlichen Grundlage, der GRC, ergeben. Diese muss daher im Folgenden Ausgangspunkt der Betrachtung des Gewährleistungsgehalts und möglicher Einschränkungen sein.
685 BVerfGE 126, 286 – Honeywell beschränkt diese Grenze allerdings auf „hinreichend qualifizierte“ Kompetenzüberschreitungen (BVerfGE 126, 286, 304) und gesteht dem EuGH sogar einen „Anspruch auf Fehlertoleranz“ zu (BVerfGE 126, 286, 307). 686 Ehlers, in: Ehlers, Europ. Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 38. 687 BVerfGE 73, 339, 375 f., 387 – Solange II. Vgl. auch Lenaerts, EuR 2012, 3, 15 (Fn. 60) mit Nachw. zur Judikatur der italienischen und spanischen Verfassungsgerichte. 688 Der Solange II-Entscheidung nachfolgend BVerfGE 89, 155, 174 f. – Maastricht; 102, 147, 162 ff. – Bananenmarktordnung; 123, 267, 354 – Lissabon.
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III. Der Gewährleistungsgehalt des unionsrechtlichen strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips Gem. Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC darf „niemand […] wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war.“ Die Garantiefunktion des Strafrechts setzt sich dabei aus vier Teilgarantien zusammen.689 Es enthält das Erfordernis einer Rechtsgrundlage (nullum crimen, nulla poena sine lege), das Rückwirkungsverbot (nullum crimen, nulla poena sine lege praevia), den Bestimmtheitsgrundsatz (nullum crimen, nulla poena sine lege certa) und schließlich das Analogieverbot (nullum crimen, nulla poena sine lege stricta). Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip verschärft die Anforderungen allgemeiner rechtsstaatlicher Garantien für den Bereich des Strafrechts.690 Schon aus dem allgemeinen Rechtsstaatsprinzip folgen ein Gesetzesvorbehalt, ein Rückwirkungsverbot, ein Bestimmtheitsgrundsatz, ein Verbot analoger Anwendung von Eingriffsnormen sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.691 Ihre Verschärfung lässt sich dabei auf den freiheitlich besonders sensiblen Bereich des Strafrechts zurückführen. Mit hoheitlicher Strafe ist zwingend ein mehrfacher Grundrechtseingriff verbunden. Bereits die Verhaltensnorm greift in die Freiheitsgrundrechte des Bürgers ein, will sie sein Verhalten doch gezielt steuern.692 Die Strafbewährung selbst bedeutet zudem einen Eingriff in weitere Grundrechte des Bürgers. Das durch die Strafe ausgesprochene Übel greift zunächst im Falle einer Freiheitsstrafe in die persönliche Freiheit, im Falle einer Geldstrafe in die allgemeine Handlungsfreiheit ein.693 Die Hoheitsgewalt trifft durch die Verhängung einer Strafe schließlich eine abwertende Aussage über die Person des Verurteilten, indem seine defizitäre Einstellung zur Norm verbindlich festgestellt wird.694 Jede Strafe greift so konsequenterweise in das Persönlichkeitsrecht des Verurteilten ein.695 Diese zur Rehabilitierung der staatlich gesetzten Rechtsnorm eingesetzte hoheitliche Missachtung des per689 Siehe nur Eser, in: Meyer, GRC, Art. 49 Rn. 10; Voet van Vormizeele, in: Schwarze u. a., EU-Kommentar, Art. 49 GRC Rn. 5; zu Art. 7 EMRK etwa EGMR, Urt. v. 25. 5. 1993, Nr. 14307/88 – Kokkinakis/Griechenland, Série A n8 260-A, 6, 22 Rn. 52 = ÖJZ 1994, 59, 61; Renzikowski, in: Pabel/Schmahl, IntKomm, EMRK, Bd. 1, Art. 7 Rn. 1 [12. Lfg.: Mai 2009]; zum dt. Recht etwa BVerfGE 109, 133, 171 f.; Degenhardt, in: Sachs, GG, Art. 103 Rn. 53; Hassemer/Kargl, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, NK, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 13; Jescheck/ Weigend, Strafrecht AT, S. 128 ff. 690 Siehe bereits S. 84 ff. Zum Konkurrenzverhältnis der Spezialität bereits oben S. 135 f. 691 Zur rechtsstaatlichen Verankerung des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips siehe bereits oben S. 69 f. 692 Vgl. Appel, Verfassung und Strafe, S. 490 f. 693 Appel, Verfassung und Strafe, S. 493 f.; ders., Jura 2000, 571, 576. 694 Appel, Verfassung und Strafe, S. 460 ff., 492 f., 496; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. VI, Art. 103 Abs. 2 Rn. 165 [30. Lfg.: Dezember 1992]. 695 Appel, Verfassung und Strafe, S. 492 f.; ders., Jura 2000, 571, 575 f.; siehe bereits oben S. 101 f. zur Rspr. des EGMR; vgl. auch BVerfGE 95, 96, 131.
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sönlichen Achtungs- und Geltungsanspruchs des Täters stellt das Spezifische einer Strafe gegenüber anderen hoheitlichen Eingriffen dar, auf die die besonders schutzintensiven strafrechtlichen Garantien reagieren.696 Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip steht dem betroffenen Bürger bei, indem es ihn vor (nachträglicher) richterlicher Willkür697 zu schützen698 sowie die Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit des Strafrechts herzustellen sucht.699 In diesem Erfordernis der Erkennbarkeit strafbaren Verhaltens wie der Strafdrohung kommt die rechtsstaatliche Wurzel des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips zum Ausdruck. In jener verhaltenssteuernden Wirkung der Strafnorm erscheint zudem seine spezifisch strafrechtliche Substanz. Erst der vor der Tat zugänglichen und bestimmten Strafnorm kann eine generalpräventive Wirkung zukommen.700 Auch sichert diese Erkennbarkeit vor Tatbegehung das Schuldprinzip ab.701 Soweit zudem Elemente der Gewaltenteilung aufgegriffen werden, zeigt sich zusätzlich zum rechtsstaatlichen sein demokratietheoretischer Gehalt.702 Dem die gesamte Gesellschaft repräsentierenden Gesetzgeber sollen die abstrakt-generelle Strafbarkeitsentscheidung wie die Entscheidung über das abstrakte Strafmaß zugewiesen sein.703 Vor diesem freiheits- und vertrauensschützenden Hintergrund des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips wird auch dessen Schutzrichtung deutlich. Die verbürgten Garantien greifen allein bei Eingriffen zulasten des Täters.704 Allein strafbegründende oder strafschärfende Vorschriften bedürfen einer gesetzlichen Grundlage, müssen dem Bestimmtheitsund Rückwirkungsgebot genügen und unterliegen dem Analogieverbot. Täterbegünstigende Regeln können hingegen ungeschriebener oder gewohnheitsrechtlicher Natur sein, in Analogie herangezogen sowie auch rückwirkend angewandt werden. Die Teilgarantien erstrecken sich schließlich sowohl auf die Strafbarkeit (nullum 696 Zum dt. Recht Appel, Verfassung und Strafe, S. 460 ff., 492 f., 496; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. VI, Art. 103 Abs. 2 Rn. 165 [30. Lfg.: Dezember 1992]. 697 BVerfGE 64, 389, 394 sieht Art. 103 Abs. 2 GG als „spezielle Ausgestaltung des Willkürverbots des Grundgesetzes für die Strafgerichtsbarkeit“; Krey, Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht, S. 206 ff. 698 BVerfGE 85, 69, 73; Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103 Rn. 54; Pieroth, in: Jarass/ Pieroth, GG, Art. 103 Rn. 43; Renzikowski, in: Pabel/Schmahl, IntKomm, EMRK, Bd. 1, Art. 7 Rn. 2 [12. Lfg.: Mai 2009]. 699 Dies betonend etwa Eser, in: Meyer, GRC, Art. 49 Rn. 10; zum dt. Recht BVerfGE 87, 209, 224; 92, 1, 12; Hassemer/Kargl, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, NK, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 13. 700 Schünemann, Nulla poena sine lege?, S. 2, 13 f. 701 Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103 Rn. 55; Roxin, Strafrecht AT/I, § 5 Rn. 24; SchmidtAßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. VI, Art. 103 Abs. 2 Rn. 165 [30. Lfg.: Dezember 1992]. 702 Vertiefend zum demokratietheoretischen Gehalt des Art. 49 GRC bei der Bestimmung des Gesetzesbegriffs noch unten S. 149 ff. 703 Vgl. etwa BVerfG, NJW 2010, 2309, 2310 (Rn. 70 des Beschl.) m.w.N. 704 Eser, in: Meyer, GRC, Art. 49 Rn. 11; Jarass, EU-Grundrechte, § 42 Rn. 10; ders., GRC, Art. 49 Rn. 12; Schroth, Economic Offences in EEC Law, S. 164; Voet van Vormizeele, in: Schwarze u. a., EU-Kommentar, Art. 49 GRC Rn. 8; zu Art. 7 EMRK Frowein, in: Frowein/ Peukert, EMRK, Art. 7 Rn. 2.
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crimen) als auch die Strafe (nulla poena).705 Ersteres ist Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC zu entnehmen, letzteres ergibt sich aus Art. 49 Abs. 1 S. 2, 3, Abs. 3 GRC.706 Diese Arbeit beleuchtet die Frage der Bußgeldverantwortlichkeit von Kartellgehilfen im unionsrechtlichen Kartellrecht. Dabei handelt es sich um eine Tatbestandsfrage der Sanktionsnorm. Relevant werden die spezifisch strafrechtlichen Garantien damit allein in ihrer Beziehung auf die Strafbarkeit (nullum crimen). So soll der Auslegungsmaßstab für den Tatbestand der Sanktionsnorm des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. VO 1/2003 identifiziert werden. Fragen der Verhältnismäßigkeit von Strafmaß zur Straftat gem. Art. 49 Abs. 3 GRC bleiben daher ebenso unbeleuchtet wie die Bestimmtheit der Rechtsfolge. Letztere sieht sich seitens des Schrifttums erheblichen Bedenken ausgesetzt. Art. 23 Abs. 2 UAbs. 2, Abs. 3 VO 1/2003 enthält Kriterien der Bußgeldzumessung. Diese werden von den Bußgeldleitlinien der Kommission konkretisiert. Allerdings sind die Kriterien der „Schwere der Zuwiderhandlung“ und „deren Dauer“ sowie eine Kappungsgrenze von „10 % seines bzw. ihres jeweiligen im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes“ die einzigen gesetzlichen Vorgaben. Somit ist der Kommission ein äußerst weites Ermessen eröffnet.707 Mit zunehmender Höhe der Bußgelder wird die Vereinbarkeit mit dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz im Schrifttum immer häufiger verneint.708 Die Rechtsprechung teilt diese Bedenken hingegen nicht.709 705 EuG, Urt. v. 5. 4. 2006, Rs. T-279/02 – Degussa/Kommission, Slg. 2006, II-897, II-935 Rn. 67; Urt. v. 8. 10. 2008, Rs. T-69/04 – Schunk und Schunk Kohlenstoff-Technik/Kommission, Slg. 2008, II-2567, II-2589 Rn. 29; Urt. v. 13. 7. 2011, Rs. T-138/07 – Schindler Holding u. a./ Kommission, Slg. 2011, II-4819, II-4882 Rn. 97; Alber, in: Tettinger/Stern, KöKo, GRC, Art. 49 Rn. 6; Eser, in: Meyer, GRC, Art. 49 Rn. 19; Jarass, EU-Grundrechte, § 42 Rn. 5; ders., GRC, Art. 49 Rn. 7; Voet van Vormizeele, in: Schwarze u. a., EU-Kommentar, Art. 49 GRC Rn. 7; zu Art. 7 EMRK EGMR, Urt. v. 25. 5. 1993, Nr. 14307/88 – Kokkinakis/Griechenland, Série A n8 260-A, 6, 22 Rn. 52 = ÖJZ 1994, 59, 61; Urt. v. 12. 2. 2008 (GK), Nr. 21906/04 – Kafkaris/Zypern, Reports of judgments and decisions 2008-I, 229, 280 Rn. 138 = NJOZ 2010, 1599,1603; Renzikowski, in: Pabel/Schmahl, IntKomm, EMRK, Bd. 1, Art. 7 Rn. 42 [12. Lfg.: Mai 2009]; zum dt. Recht etwa BVerfGE 105, 135, 153. 706 Eser, in: Meyer, GRC, Art. 49 Rn. 19. 707 Engelsing/Schneider, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 23 VO 1/ 2003 Rn. 17; Feddersen, in: Dalheimer/Feddersen/Miersch, VO 1/2003, Art. 23 Rn. 14 [26. Lfg.: März 2005]; Schwarze, EuR 2009, 171, 175; Thomas, KSzW 2011, 10. 708 Siehe etwa Bechtold/Bosch, ZWeR 2011, 160, 164 ff.; Friedmann, Die Geltung rechtsstaatlicher Grundsätze, S. 230 ff.; Hirsbrunner/Werner, jusletter 20. September 2010, Rn. 38 ff.; Kallmeyer/Haupt, EuZW 2002, 677, 682; Lorenzmeier, ZIS 2008, 20, 29; Möschel, DB 2010, 2377 ff.; Pascu, Strafrechtliche Fundamentalprinzipien im Gemeinschaftsrecht, S. 288 ff.; Schütz, in: Busche/Röhling, KöKo, KartellR, Bd. 4, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 4 ff.; Schwarze, EuZW 2003, 261, 267 f.; ders./Bechtold/Bosch, Rechtsstaatliche Defizite, S. 15 ff., 40 ff.; Soltész/Steinle/Bielesz, EuZW 2003, 202, 207 ff. 709 EuGH, Urt. v. 13. 2. 1979, Rs. 85/76 – Hoffmann-La Roche/Kommission, Slg. 1979, 461, 553 Rn. 128 ff.; aus jüngerer Zeit EuGH, Urt. v. 22. 5. 2008, Rs. C-266/06 – Degussa/Kommission, Slg. 2008, I-81*, Rn. 36 ff.; EuG, Urt. v. 5. 4. 2006, Rs. T-279/02 – Degussa/Kommission, Slg. 2006, II-897, II-937 ff. Rn. 74 ff.; Urt. v. 8. 10. 2008, Rs. T-69/04 – Schunk und
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1. Nullum crimen sine lege Zunächst muss sich die Strafbarkeit gem. Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC aus „innerstaatlichem oder internationalem Recht“ ergeben. a) Der Gehalt des Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK Der Begriff des Rechts wird im i.S.d. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC entsprechenden Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK710 trotz fehlender begrifflicher Identität wie der Begriff des „Gesetzes“ in den Gesetzesvorbehalten der übrigen Vorschriften, namentlich Art. 8 Abs. 2, 9 Abs. 2, 10 Abs. 2 und 11 Abs. 2 EMRK,711 verstanden.712 Erfasst werden damit jegliche Gesetze im materiellen Sinne.713 Darauf deutet bereits der Begriff des „law“ im Gegensatz zum auf ein formelles Gesetz verweisenden „statute“ oder „act“ hin.714 Auch der französische Wortlaut („droit“) ist für dieses Verständnis offen.715 Der EGMR richtet sich insoweit nach den Rechtsquellen der betroffenen nationalen Rechtsordnung.716 In der Rechtstradition des common law genügt somit auch ein richterrechtliches oder gewohnheitsrechtliches Delikt den Anforderungen der Schunk Kohlenstoff-Technik/Kommission, Slg. 2008, II-2567, II-2589 f. Rn. 28 ff.; Urt. v. 28. 4. 2010, Rs. T-446/05 – Amman & Söhne und Cousin Filterie/Kommission, Slg. 2010, II-1255, II-1304 ff. Rn. 123 ff.; Urt. v. 13. 7. 2011, Rs. T-138/07 – Schindler Holding u. a./Kommission, Slg. 2011, II-4819, II-4881 ff. Rn. 93 ff.; zust. Engelsing/Schneider, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 3; Rittner/Dreher, Europäisches und deutsches Wirtschaftsrecht, § 14 Rn. 92. Siehe aber zum dt. Recht BGH, NJW 2013, 1972 ff. zum Grauzementkartell. 710 Zum Merkmal des Entsprechens siehe bereits S. 112 ff. 711 Trotz abweichender Wortlaute der genannten Vorschriften in der englischen Sprachfassung ist mit dem Französischen von einem einheitlichen Gesetzesbegriff der EMRK auszugehen; Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK, Vor. Art. 8 – 11 Rn. 2; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 18 Rn. 8; Jacobs/White/Ovey, The European Convention on Human Rights, S. 312. 712 EGMR, Urt. v. 22. 11. 1995, Nr. 20166/92 – S.W./Vereinigtes Königreich, Série A n8 335B, 30, 441 f. Rn. 35 = ÖJZ 1996, 356, 356 f.; Urt. v. 22. 11. 1995, Nr. 20190/92 – C.R./Vereinigtes Königreich, Série A n8335-C, 58, 68 f. Rn. 33; Urt. v. 22. 6. 2000, Nr. 32492/96, 32547/ 96, 32548/96, 33209/96 und 33210/96 – Coëme u. a./Belgien, Reports of judgments and decisions 2000-VII, 9, 60 f. Rn. 145; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 7 Rn. 7; erstmals aufgenomen von EuGH, Urt. v. 28. 6. 2005, verb. Rs. C-189/02 P, C-202/02 P, C-205/02 P bis C-208/02 P und C-213/02 P – Dansk Rørindustri u. a./Kommission, Slg. 2005, I-5425, I-5567 Rn. 216. 713 EGMR, Urt. v. 12. 2. 2008 (GK), Nr. 21906/04 – Kafkaris/Zypern, Reports of judgments and decisions 2008-I, 229, 280 Rn. 139 = NJOZ 2010, 1599, 1603; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 7 Rn. 7. 714 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 18 Rn. 8; Ibing, Die Einschränkung der europäischen Grundrechte durch Gemeinschaftsrecht, S. 122. 715 Ibing, Die Einschränkung der europäischen Grundrechte durch Gemeinschaftsrecht, S. 122. 716 Vgl. Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Bd. 11, Art. 7 EMRK Rn. 12; Grabenwarter/ Pabel, EMRK, § 18 Rn. 8; Paeffgen, in: Wolter, SK, StPO, Bd. X, Einl. EMRK Rn. 333 a.E.; Renzikowski, in: Pabel/Schmahl, IntKomm, EMRK, Bd. 1, Art. 7 Rn. 45 [12. Lfg.: Mai 2009]; Rieckhoff, Vorbehalt des Gesetzes, S. 146.
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
EMRK.717 Dieser weite konventionsrechtliche Gesetzesbegriff erklärt sich daraus, dass die EMRK lediglich einen gemeinsamen Mindeststandard der Staaten des Europarates verfasst und nicht die Grundlagen der konventionsstaatlichen Rechtsordnungen verändern möchte (engl. „strike at the very roots of that State’s legal system“, frz. „l’on frapperait à la base son système juridique“).718 Dies entspricht dem offensichtlichen und gemeinsamen Willen der Konventionsstaaten und zieht in Form ihrer staatlichen Souveränität die Kompetenzgrenze des EGMR.719 Keine eindeutigen Aussagen sind der Rechtsprechung des EGMR jedoch zu formellen Anforderungen an das „Recht“, insbesondere zu seiner demokratischen Legitimation, zu entnehmen.720 Gerade im Unionsrecht sollte dem aber aufgrund des weitläufig attestierten „Demokratiedefizits“721 besondere Bedeutung zugemessen werden.722 Namentlich die Bußgeldnormen des Kartellrechts werden gem. Art. 103 Abs. 1, 2 lit. a AEUV lediglich vom Rat auf Vorschlag der Kommission und nach bloßer Anhörung des Europäischen Parlaments beschlossen. Ein strenger Parlamentsvorbehalt im deutschen Sinne kann mit obiger Begründung unter Hinweis auf die Kompetenzgrenzen des EGMR von der EMRK nicht
717 EKMR, Entsch. v. 7. 5. 1982, Nr. 8710/79 – X Ltd. und Y/Vereinigtes Königreich, DR 28, 77, 80 Rn. 6, 81 f. Rn. 9 f.; EGMR, Urt. v. 22. 11. 1995, Nr. 20166/92 – S.W./Vereinigtes Königreich, Série A n8 335-B, 30, 41 f. Rn. 35 = ÖJZ 1996, 356, 356 f.; Urt. v. 22. 11. 1995, Nr. 20190/92 – C.R./Vereinigtes Königreich, Série A n8 335-C, 58, 68 f. Rn. 33; Urt. v. 15. 11. 1996 (GK), Nr. 17862/91 – Cantoni/Frankreich, Recueil des arrêts et décisions 1996-V n8 20, 1616, 1627 Rn. 29 = EuGRZ 1999, 193, 197; Urt. v. 12. 2. 2008 (GK), Nr. 21906/04 – Kafkaris/ Zypern, Reports of judgments and decisions 2008-I, 229, 280 Rn. 139 = NJOZ 2010, 1599, 1603; Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 7 Rn. 4; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24 Rn. 136; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 7 Rn. 7; Renzikowski, in: Pabel/Schmahl, IntKomm, EMRK, Bd. 1, Art. 7 Rn. 43 [12. Lfg.: Mai 2009]. 718 EGMR, Urt. v. 26. 4. 1979 (Plenum), Nr. 6538/74 – Sunday Times/Vereinigtes Königreich, Série A n8 30, 5, 30 Rn. 47 = EGMR-E 1 (Nr. 34), 366, 370; vgl. auch Grabenwarter/ Pabel, EMRK, § 18 Rn. 8; Kokott, in: Merten/Papier, Hdb. der Grundrechte, Bd. I, § 22 Rn. 26; Renzikowski, in: Pabel/Schmahl, IntKomm, EMRK, Bd. 1, Art. 7 Rn. 43 [12. Lfg.: Mai 2009]. 719 Ibing, Die Einschränkung der europäischen Grundrechte durch Gemeinschaftsrecht, S. 126. 720 van Dijk/van Hoof, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, S. 767; Kadelbach, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 15 Rn. 6; zum Meinungsstand Ibing, Die Einschränkung der europäischen Grundrechte durch Gemeinschaftsrecht, S. 119 ff. 721 So etwa aus der strafrechtlichen Literatur Hecker, Europäisches Strafrecht, § 4 Rn. 29; Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, S. 122 ff.; Moll, Europäisches Strafrecht, S. 84 ff. 722 Vgl. auch Gröblinghoff, Die Verpflichtung des dt. Strafgesetzgebers, S. 115 f. Das Demokratiedefizit darf sich freilich nicht allein aus dem schematischen Vergleich des Unionsrechts mit nationalen Demokratiestandards ergeben; vgl. dazu Nettesheim, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. I, Art. 10 EUV Rn. 51 f. [41. Lfg.: Juli 2010]. Das im Begriff angelegte komparative Element weist damit bereits auf die maßgebliche, sogleich zu behandelnde Frage hin, wie das Unionsrecht an nationalstaatlichen Demokratiestandards gemessen oder welcher eigenständige Maßstab herangezogen werden kann.
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gefordert sein.723 Gleichwohl enthält die EMRK in der Präambel mit dem Bekenntnis zur Sicherung der Menschenrechte u. a. „durch eine wahrhaft demokratische politische Ordnung“ (engl. „an effective political democracy“, frz. „un régime politique véritablement démocratique“), den Gesetzesvorbehalten, nach denen ein Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sein muss (engl. „necessary in a democratic society“, frz. „qui, dans une société démocratique, est nécessaire“), sowie dem Recht auf freie Wahlen gem. Art. 3 1. ZP EMRK demokratische Elemente. Diese ausbauend wird dem Konventionsrecht gelegentlich724 ein abgeschwächter Parlamentsvorbehalt entnommen. Die EMRK erfordere demokratische Legitimation wenigstens insoweit, als dass das „Recht“, wenn es schon nicht auf das Parlament zurückzuführen sei,725 zumindest stillschweigend vom Parlament, das zur Aufhebung oder Änderung der betreffenden Rechtslage befugt und tatsächlich bzw. politisch in der Lage ist, durch Unterlassen legislativer Tätigkeit gebilligt werde.726 Diesem Ansatz ist zugute zu halten, dass er auch die Rechtstraditionen des common law wie die ebenfalls stark richterrechtlich geprägten kontinentalen Rechtsordnungen, beispielsweise die Frankreichs, erfasst, und damit die beschriebenen Kompetenzgrenzen achtet. Gleichwohl entspricht die Praxis des EGMR ihm nicht.727 Nur vereinzelt hat der EGMR bisher auf einen Parlamentsvorbehalt Bezug genommen. So fasste er in Silver u. a./Vereinigtes Königreich zum einen eine abgeleitete Norm der Exekutive,728 in Barthold/Deutschland zum anderen eine Satzung eines Berufsverbandes zusammen mit dem parlamentarischen Delegationsgesetz als Eingriffsgesetz zusammen.729 In Coëme u. a./Belgien verlangte der EGMR ein Par723 I.E. ebenso Ibing, Die Einschränkung der europäischen Grundrechte durch Gemeinschaftsrecht, S. 125 f.; Kadelbach, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 15 Rn. 6; Peters/Altwicker, EMRK, § 3 Rn. 8; R. Weiß, Das Gesetz i.S.d. EMRK, S. 120; Wildhaber/Breitenmoser, in: Pabel/Schmahl, IntKomm, EMRK, Bd. 1, Art. 8 Rn. 539 [2. Lfg.: April 1992]. 724 So Schilling, AVR 44 (2006), 57, 58 ff. 725 Dies verlangen Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 18 Rn. 7, 9; Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 64; ähnlich Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK, Vor. Art. 8 – 11 Rn. 9 („verfassungsrechtliche oder parlamentarische Ermächtigung“ notwendig); Paeffgen, in: Wolter, SK, StPO, Bd. X, Einl. EMRK Rn. 334, Art. 7 EMRK Rn. 3. Siehe auch die abweichende Meinung des Richters Bernhardt in EGMR, Urt. v. 28. 3. 1990, Nr. 10890/84 – Groppera Radio AG u. a./ Schweiz, Série A n8 173, 7, 37 f. = EuGRZ 1990, 255, 260. 726 Schilling, AVR 44 (2006), 57, 58 ff. Auf diesen gemeinsamen Nenner des common law mit dem kontinentaleuropäischen Rechtskreis verweist – ohne Bezug zur EMRK – auch Pauly, EuR 1998, 242, 244 f. 727 Dies muss auch Schilling, AVR 44 (2006), 57, 64 f. unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 10. 11. 2005 (GK), Nr. 44774/98 – Leyla S¸ahin/Türkei, Reports of judgments and decisions 2005-XI, 121, 143 Rn. 94 = NVwZ 2006, 1389, 1391 eingestehen. 728 EGMR, Urt. v. 25. 3. 1983, Nr. 5947/72, 6205/73, 7052/75, 7061/75, 7107/75, 7113/75 und 7136/75 – Silver u. a./Vereinigtes Königreich, Série A n8 61, 7, 33 Rn. 86 = EGMR-E 2 (Nr. 21), 227, 233. 729 EGMR, Urt.v. 25. 3. 1985, Nr. 8734/79 – Barthold/Deutschland, Série A n8 90, 6, 21 Rn. 46 = EGMR-E 3 (Nr. 3), 4, 27.
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
lamentsgesetz, das das anwendbare Strafprozessrecht festlegt, um einem „auf Gesetz beruhenden Gericht“ i.S.d. Art. 6 Abs. 1 EMRK (engl. „tribunal established by law“, frz. „tribunal […], établi par la loi,“) zu genügen und verhinderte so, dass die Rechtsprechung in gewissen Grenzen über ihr eigenes Verfahrensrecht befinden konnte. Auffallend ist, dass sich der EGMR in letzterer Entscheidung auf Staaten mit kodifiziertem Recht beschränkte.730 Schon aus den soeben genannten Kompetenzgründen kann diese Aussage nicht verallgemeinert werden.731 Die beiden erstgenannten Urteile betreffen ebenso mit Deutschland eine Rechtsordnung des kodifizierten Rechts wie auch das Vereinigte Königreich in einem Teilbereich des statutory law. Es wird mithin auf die Grundsätze der Rechtstradition des kodifizierten Rechts verwiesen. Die Entscheidungen können entsprechend so verstanden werden, dass der EGMR nicht Anforderungen der EMRK formuliert, sondern – auch bezüglich der demokratischen Legitimation – auf die Gegebenheiten des nationalen Rechts rekurriert.732 Darin fügt sich ein, dass der EGMR seine Kontrolldichte bei der Prüfung nationalen Rechts an nationalen Maßstäben stark zurücknimmt.733 Ohnehin beziehen sich die Entscheidungen auf die Abgrenzung exekutiver bzw. judikativer von legislativer Gewalt und damit auf eine Verhinderung von Willkür durch Gewaltenteilung. Um die beiden anderen Gewalten zu begrenzen, einem Hauptanliegen des grundrechtlichen Gesetzesvorbehalts, ist die Legislative berufen. Diese bedarf auf Ebene der Nationalstaaten zwingend der Handlungsform des Parlamentsgesetzes. Die angeführten Urteile des EGMR weisen daher nicht auf einen wie auch immer gearteten Parlamentsvorbehalt aus demokratischen Gründen hin.734 Der EGMR zieht neben den nationalen Rechtsmaßstäben gerade keine demokratischen,735 sondern weitere qualitative Anforderungen der Rechtsstaatlichkeit (engl. „rule of law“, frz. 730 EGMR, Urt. v. 22. 6. 2000, Nr. 32492/96, 32547/96, 32548/96, 33209/96 und 33210/96 – Coëme u. a./Belgien, Reports of judgments and decisions 2000-VII, 9, 46 Rn. 98. 731 Ibing, Die Einschränkung der europäischen Grundrechte durch Gemeinschaftsrecht, S. 129. 732 Vgl. Art. 53 EMRK, wonach ein etwaiger höherer nationaler Standard unberührt bleibt. Zur Inbezugnahme der jeweiligen nationalen Rechtsordnung siehe soeben S. 141. Als Grundsatz ohne Einschränkungen formulieren dies Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Bd. 11, Art. 7 EMRK Rn. 12; Paeffgen, in: Wolter, SK, StPO, Bd. X, Einl. EMRK Rn. 333 a.E. 733 Vgl. EGMR, Urt. v. 25. 5. 1993, Nr. 14307/88 – Kokkinakis/Griechenland, Série A n8 260-A, 6, 19 Rn. 40 = ÖJZ 1994, 59, 60 f.; Urt. v. 10. 11. 2005 (GK), Nr. 44774/98 – Leyla S¸ahin/Türkei, Reports of judments and decisions 2005-XI, 121, 143 Rn. 94 = NVwZ 2006, 1389, 1391. 734 Ebenfalls eine ausschließlich rechtsstaatliche Deutung der genannten Urteile nimmt Ibing, Die Einschränkung der europäischen Grundrechte durch Gemeinschaftsrecht, S. 127 ff. vor. Er sieht darin einen Ausfluss der rule of law, die bei den betroffenen schwerwiegenden Eingriffskonstellationen eine Verdichtung auf den Parlamentsvorbehalt verlange. I. E. auch Kadelbach, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 15 Rn. 6. 735 A.A. R. Weiß, Das Gesetz i.S.d. EMRK, S. 120, die aus dem Demokratieprinzip als einzige EMRK-autonome formelle Anforderung an das Gesetz ableitet, dass es in einem Verfahren unter Geltung des Mehrheitsprinzips zustande gekommenen ist. Dies ist allerdings für sämtliche in Frage stehende Gesetzgebungsakte der EU zu bejahen; näher noch unten S. 149 ff.
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„prééminence du droit“), wie sie sich in Abs. 5 der Präambel finden, heran (engl. „quality of the law“, frz. „qualité de la ,loi‘“).736 Das Gesetz muss dem Bürger zugänglich und derart bestimmt sein, dass es Willkür ausschließt, indem die Grundvoraussetzungen hoheitlicher Eingriffe vorhersehbar und berechenbar sind.737 Diese Kriterien werden sich in den Ausführungen zu den übrigen Teilgarantien der Garantiefunktion des Strafrechts wiederfinden.738 In Bezug auf die rechtliche Grundlage der Strafbarkeit verlangt die EMRK somit einen bloßen Rechtssatzvorbehalt in Form eines materiellen Gesetzes.739 Die Wortwahl der deutschen Übersetzung des Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK mit „Recht“ ist damit zutreffend. b) Der Gehalt des Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC Bedenken bestehen, ob es genügt, diesen geringen konventionsrechtlichen Gehalt gem. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC, der freilich das Mindestschutzniveau bildet,740 für das Unionsrecht des Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC zu übernehmen. Bereits die EMRK verweist, wie gesehen,741 auf die Rechtsquellen der betroffenen Rechtsordnung. Die Mitgliedstaaten der EU mit Rechtsordnungen des kodifizierten Rechts legen dabei verbreitet einen Parlamentsvorbehalt zugrunde.742 Auch das Unionsrecht stützt sich 736 EGMR, Urt. v. 2. 8. 1984 (Plenum), Nr. 8691/79 – Malone/Vereinigtes Königreich, Série A n8 82, 7, 32 Rn. 67 = EGMR-E 2 (Nr. 39), 452, 464 f. 737 EGMR, Urt. v. 26. 4. 1979 (Plenum), Nr. 6538/74 – Sunday Times/Vereinigtes Königreich, Série A n8 30, 5, 31 Rn. 49 = EGMR-E 1 (Nr. 34), 366, 371; Urt. v. 25. 3. 1983, Nr. 5947/ 72, 6205/73, 7052/75, 7061/75, 7107/75, 7113/75 und 7136/75 – Silver u. a./Vereinigtes Königreich, Série A n8 61, 7, 33 Rn. 87 = EGMR-E 2 (Nr. 21), 227, 233; Urt.v. 25. 3. 1985, Nr. 8734/79 – Barthold/Deutschland, Série A n8 90, 6, 21 Rn. 45 = EGMR-E 3 (Nr. 3), 14, 26 f.; Urt. v. 24. 5. 1988, Nr. 10737/84 – Müller u. a./Schweiz, Série A n8 133, 6, 20 Rn. 29 = EGMR-E 4 (Nr. 6), 98, 102 f.; Urt. v. 20. 5. 1999 (GK), Nr. 25390/94 – Rekvényi/Ungarn, Reports of judgments and decisions 1999-III, 427, 440 f. Rn. 34 = NVwZ 2000, 421, 422; Entsch. v. 26. 6. 2006, Nr. 54934/00 – Weber und Saravia/Deutschland, Reports of judments and decisions 2006-XI, 315, 333 Rn. 84 = NJW 2007, 1433, 1435; van Dijk/van Hoof/van Rijn/ Zwaak, Theory and practice of the European Convention on Human Rights, S. 654 f.; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Bd. 11, Art. 8 EMRK Rn. 37; Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK, Vor. Art. 8 – 11 Rn. 4 ff.; Ibing, Die Einschränkung der europäischen Grundrechte durch Gemeinschaftsrecht, S. 115 f.; Wildhaber/Breitenmoser, in: Pabel/Schmahl, IntKomm, EMRK, Bd. 1, Art. 8 Rn. 555 ff. [2. Lfg.: April 1992]. 738 Unten S. 167 f. (Schriftlichkeitsgebot), 168 ff. (Bestimmtheitsgebot), 200 ff. (Analogieverbot). 739 EGMR, Urt. v. 12. 2. 2008 (GK), Nr. 21906/04 – Kafkaris/Zypern, Reports of judgments and decisions 2008-I, 229, 280 Rn. 139 = NJOZ 2010, 1599, 1603; Kadelbach, in: Dörr/Grote/ Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 15 Rn. 7; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 7 Rn. 7; Paeffgen, in: Wolter, SK, StPO, Bd. X, Art. 8 EMRK Rn. 104 ff.; Peters/Altwicker, EMRK, § 23 Rn. 4. 740 Siehe oben S. 121 ff. 741 Oben S. 141. 742 Vgl. Gröblinghoff, Die Verpflichtung des dt. Strafgesetzgebers, S. 119 ff., Heitzer, Punitive Sanktionen, S. 158 f.; Moll, Europäisches Strafrecht, S. 247 ff.; Rieckhoff, Vorbehalt
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auf kodifiziertes Recht.743 Trotz der bedeutenden Rolle des Gerichtshofs gem. Art. 19 EUV, Art. 251 ff. AEUV744 ist die Unionsrechtsordnung nicht mit der des common law zu vergleichen.745 Sie ist vielmehr darauf aufgebaut, dass der Europäische Rat gem. Art. 15 Abs. 1 S. 1 EUV die grundlegenden politischen Entscheidungen trifft und Rat und Parlament diese als Gesetzgeber umsetzen, Art. 14 Abs. 1 S. 1; 15 Abs. 1 S. 2; 16 Abs. 1 S. 1 EUV. Schließlich sprechen demokratietheoretische Argumente für einen verschärften Gesetzesvorbehalt. Die EU ist gem. Abs. 2, 4, 7 der Präambel des EUV, Art. 9 bis 12 EUVauf einem demokratischen Fundament gebaut. Auch die GRC enthält in Abs. 2 S. 2 ihrer Präambel, mit den Wahlrechten der Art. 39, 40 GRC sowie den mit der parlamentarischen Kontrollfunktion im Zusammenhang stehenden Art. 43, 44 GRC demokratische Elemente.746 Das Verschärfen der Anforderungen des Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC hin zu einem „echten“ Gesetzesvorbehalt, verstanden als Gegenbegriff zum bloßen Rechtsvorbehalt des Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK, führt schließlich zurück zur dogmatischen Frage des Überschreitens des von Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC, Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK vorgegebenen Gehalts.747 aa) Der allgemeine unionsrechtliche Gesetzesvorbehalt als Mindestniveau Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC verschärft allein die allgemeinen rechtsstaatlichen Garantien, die auf jeden hoheitlichen Eingriff der Unionsorgane in Grundrechte der Bürger Anwendung finden, aufgrund der besonderen grundrechtlichen Sensibilität hoheitlichen Strafens.748 Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip sieht keinen eigenen (klassischen) Freiheitsbereich vor, sondern dient der Abwehr spezifischer Eingriffsformen, namentlich der Verurteilung bzw. Bestrafung.749 Jede strafrechtliche Verurteilung i.S.d. Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC stellt bereits einen mehrfachen Grundrechtseingriff dar.750 Wie die allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätze beschränkt es den Staat, seinerseits die Grundrechte einzuschränken. Auch im Uni-
des Gesetzes, S. 227 f.; Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, S. 129 f.; zum allgemeinen Gesetzesvorbehalt für hoheitliche Eingriffe Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der GRC, S. 250; Kokott, in: Merten/Papier, Hdb. der Grundrechte, Bd. I, § 22 Rn. 23, 29; Triantafyllou, CMLR 39 (2002), 53, 59; Weber, NJW 2000, 537, 543. 743 Eine zusätzliche Präjudizienbindung wie im case law besteht nicht; vgl. Langenbucher, Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1999, S. 65, 75 f.; vgl. auch Schuhr, in: Kudlich/ Montiel/Schuhr, Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 255, 264. 744 Siehe dazu bereits oben S. 62 ff. 745 Vgl. auch Schuhr, in: Kudlich/Montiel/Schuhr, Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 255, 264. 746 Näher Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der EU, Rn. 455. 747 Siehe oben S. 123 ff. 748 Dazu bereits oben S. 69 f. und S. 138 f. 749 Siehe bereits oben S. 133 f. 750 Siehe oben S. 138 f.
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onsrecht kann das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip mithin dogmatisch als Schranken-Schranke eingeordnet werden.751 (1) Die Anwendung des allgemeinen Gesetzesvorbehalts auf Kartellbußgelder Die als Anwendungsvoraussetzung des Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC vorausgesetzten Eingriffe in Grundrechte durch hoheitliches Strafen stellen ihrerseits in Gestalt von Rechtfertigungsvoraussetzungen bereits Anforderungen an die Hoheitsgewalt.752 Diesbezüglich bedarf es keines Rückgriffs auf den eigenen Gewährleistungsgehalt des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips. Die Frage der Herleitung eines über Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK hinausgehenden Gehalts stellt sich hier daher noch nicht. Für die Rechtfertigungsvoraussetzungen von Grundrechtseingriffen im Recht der Union muss unterschieden werden. Zunächst stehen spiegelbildlich zur Schutzbereichseröffnung die Anforderungen der GRC denen des prätorischen Grundrechtsschutzes gem. Art. 6 Abs. 3 EUV nebeneinander. Eingriffe in Chartagrundrechte müssen gem. der allgemeinen Schrankenklausel des Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRC „gesetzlich vorgesehen sein“. Mag diese Beschreibung auch auf die Formulierungen der EMRK zurückgehen,753 so ist ihr Inhalt nicht unmittelbar durch die EMRK vorgegeben. Er kann mithin vor allem auch höhere Anforderungen stellen. Auch die Rechtsprechung des EuGH zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen nach Art. 6 Abs. 3 EUV sieht ebenfalls einen allgemeinen Gesetzesvorbehalt für Grundrechtseingriffe vor.754 Danach „bedürfen in allen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten Eingriffe der öffentlichen Gewalt in die Sphäre der privaten Betätigung jeder – natürlichen oder juristischen – Person einer Rechtsgrundlage und müssen aus den gesetzlich vorgesehenen Gründen gerechtfertigt sein; diese Rechtsordnungen sehen daher, wenn auch in unterschiedlicher Ausgestaltung, einen Schutz gegen willkürliche oder unverhältnismäßige Eingriffe vor. Das Erfordernis eines solchen
751
Zur parallelen dt. Rechtslage nach Art. 103 Abs. 2 GG Appel, Verfassung und Strafe, S. 560 ff.; ders., Jura 2000, 571, 575 ff.; zust. Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 103 Rn. 43; Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte, Rn. 1187. Die traditionelle Lehre prüft Art. 103 Abs. 2 GG hingegen wie ein Abwehrgrundrecht (vgl. Nolte, in: von Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Bd. 3, Art. 103 Abs. 2 Rn. 119 ff. für das Rückwirkungsverbot; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. III, Art. 103 II Rn. 19 ff.); dezidiert gegen die Einordnung als SchrankenSchranke Höfling/Burkiczak, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar, GG, Bd. 4, Art. 103 Rn. 125 ff. [26. Lfg.: April 2009]. 752 Ähnlich argumentieren auch Schwarze/Bechtold/Bosch, Rechtsstaatliche Defizite, S. 21. 753 Barriga, Die Entstehung der GRC, S. 158 f. 754 Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der GRC, S. 75 ff.; Ehlers, in: Ehlers, Europ. Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 104; Gröblinghoff, Die Verpflichtung des dt. Strafgesetzgebers, S. 117 f.; Jarass, EU-Grundrechte, § 6 Rn. 36 ff., § 7 Rn. 44; Pauly, EuR 1998, 242, 255 f.; Rieckhoff, Vorbehalt des Gesetzes, S. 153 ff.; Triantafyllou, Vom Vertragszum Gesetzesvorbehalt, S. 169; Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 298.
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Schutzes ist folglich als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts anzuerkennen.“755 Innerhalb der GRC ist allerdings die Sonderregelung des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC zu beachten, die wie gesehen756 auch auf die Schranken Anwendung findet. Konventionsentsprechende Grundrechte unterliegen danach zunächst den Schranken der jeweiligen EMRK-Rechte. Wie gesehen757 liegt der EMRK allerdings kein „echter“ Gesetzesvorbehalt zugrunde. Sie verlangt lediglich ein materielles Gesetz. Allerdings wird vorgeschlagen, Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRC auch im Anwendungsbereich des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC kumulativ anzuwenden.758 Der hoheitliche Eingriff muss so den gesamten Rechtfertigungsvoraussetzungen genügen. Sieht man Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC hingegen als lex specialis zu Art. 52 Abs. 1 GRC an,759 so verbleibt wiederum Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC als Ausweg. Diese Vorschrift soll auch verhindern, dass die „strenge Akzessorietät“760 der GRC zur EMRK dazu führt, dass der vom „Recht der Union“ bereits außerhalb des Anwendungsbereichs der Transferklausel des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC gewährte Schutzstandard herabgesetzt wird.761 Dies ist gerade für den vom EuGH entwickelten allgemeinen Gesetzesvorbehalt der Fall. Im Kartellverbot als der sanktionsbewährten Verhaltensnorm und in der Bußgeldentscheidung als umsetzender Akt liegt ein Eingriff in das Grundrecht auf unternehmerische Freiheit gem. Art. 16 GRC, nach dem „die unternehmerische Freiheit […] nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt“ wird. Ein Entsprechen mit einem EMRK-Recht besteht nicht. Ihr persönlicher Anwendungsbereich erstreckt sich auch auf juristische Per755 EuGH, Urt. v. 21. 9. 1989, verb. Rs. 46/87 und 227/88 – Hoechst/Kommission, Slg. 1989, 2859, 2924 Rn. 19; Urt. v. 17. 10. 1989, verb. Rs. 97 bis 99/87 – Dow Chemical Ibéria u. a./ Kommission, Slg. 1989, 3165, 3186 Rn. 16; bestätigend EuG, Urt. v. 9. 7. 2003, Rs. T-224/00 – Archer Daniels Midland und Archer Daniels Midland Ingredients/Kommission, Slg. 2003, II-2597, II-2715 Rn. 340 f. 756 Oben S. 115 ff. 757 Soeben S. 141 ff. 758 von Danwitz, in: Tettinger/Stern, KöKo, GRC, Art. 52 Rn. 30; Eisner, Die Schrankenregelung der GRC, S. 150 ff.; Jarass, GRC, Art. 52 Rn. 25; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 52 GRC Rn. 59; Lenaerts/de Smijter, CMLR 38 (2001), 273, 293 f.; Molthagen, Das Verhältnis der EU-Grundrechte zur EMRK, S. 170 f.; Streinz/Michl, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 52 GRC Rn. 11. 759 Alber/Widmaier, EuGRZ 2006, 113, 119; Barriga, Die Entstehung der GRC, S. 157; Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 52 Rn. 13; Bühler, Einschränkungen von Grundrechten nach der GRC, S. 262; Folz, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 52 GRC Rn. 3; Frenz, Hdb. Europarecht, Bd. 4: Europ. Grundrechte, Rn. 61; Grabenwarter, in: Cremer u. a., FS Steinberger, S. 1129, 1138 f.; Schmitz, JZ 2001, 833, 838 f.; UerpmannWittzack, DÖV 2005, 152, 156; W. Weiß, ZEuS 2005, 323, 330 f.; Zimmermann, in: Böllmann u. a., Menschenrechte, S. 63, 70. Näheres ebenfalls unten S. 181 f. 760 Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 52 Rn. 30b. 761 Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 52 Rn. 41.
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sonen des Privatrechts,762 die letztlich die betroffenen Unternehmen tragen. Zur – im Ergebnis selbstverständlichen – Rechtfertigung bedarf dieser Eingriff gemäß der allgemeinen Schrankenregel des Art. 52 Abs. 1 GRC einer gesetzlichen Grundlage.763 Etwaige Einschränkungen nach „einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“ sind für das Handeln von EU-Organen, hier der Kommission, nicht einschlägig.764 Bereits das von der Verhaltensnorm betroffene Grundrecht verlangt somit bereits eine gesetzliche Grundlage i.S.d. Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRC. Der prätorisch entwickelte Gesetzesvorbehalt wird hingegen zum einen durch den in der Strafe selbst liegenden hoheitlichen Zugriff auf die Persönlichkeit wie der materiellen Sanktion durch das Kartellbußgeld aktuell. Die GRC schützt gerade nicht vor der materiellen Sanktion, weil sie eine allgemeine Handlungsfreiheit nicht gewährleistet. Da darin allerdings keine abschließende Wertung zum Ausdruck kommt, ist auf den prätorischen Grundrechtsschutz zurückzukommen.765 Allerdings ist noch ungeklärt, ob der EuGH nach Art. 6 Abs. 3 EUV eine allgemeine Handlungsfreiheit herausgebildet hat.766 Jedenfalls hat er sie aber wie gesehen in der Funktion eines allgemeinen Gesetzesvorbehalts für Eingriffe in die private Betätigung als allgemeinen Rechtsgrundsatz anerkannt.767 Die Verhängung eines Bußgeldes bedarf auch danach bereits einer gesetzlichen Grundlage. Im (kodifizierten) „Recht der Union“ erscheint damit ein Gesetzesvorbehalt als Mindestschutz. Diesen darf auch die Norm, die die Kohärenz der GRC zur EMRK anstrebt, nicht unterlaufen. (2) Der Begriff des Gesetzes i.S.d. allgemeinen grundrechtlichen Gesetzesvorbehalts des Unionsrechts Damit ist jedoch die zentrale Frage nach dem Begriff des „Gesetzes“ aufgeworfen. Die Formulierung „gesetzlich vorgesehen“ des Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRC geht dabei auf den vom EuGH herausgebildeten allgemeinen Rechtsgrundsatz eines 762 Bernsdorff, in: Meyer, GRC, Art. 16 Rn. 16; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 16 GRC Rn. 3; Schwarze, EuZW 2001, 517, 518; Streinz, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 16 GRC Rn. 7. 763 Vgl. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 16 GRC Rn. 5. 764 Vgl. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 16 GRC Rn. 5. 765 Zum Konkurrenzverhältnis siehe bereits S. 129 ff. 766 Bejahend etwa Beutler, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 1, Art. 6 EUV Rn. 78; Ehlers, in: Ehlers, Europ. Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 41; Hatje, in: Schwarze u. a., EU-Kommentar, Art. 6 EUV Rn. 22; Rengeling/Szczekalla, Die Grundrechte in der EU, Rn. 633; Schilling, EuGRZ 2000, 3, 14; Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 121; verhalten Schmitz, JZ 2001, 833, 837; verneinend etwa Jarass, EU-Grundrechte, § 2 Rn. 16. Ausgangspunkt der Diskussion sind die Äußerungen in EuGH, Urt. v. 21. 5. 1987, verb. Rs. 133 bis 136/85 – Rau/BALM, Slg. 1987, 2289, 2339 Rn. 15, 19 sowie EuGH, Urt. v. 21. 9. 1989, verb. Rs. 46/87 und 227/88 – Hoechst/Kommission, Slg. 1989, 2859, 2924 Rn. 19. 767 Bernsdorff, in: Meyer, GRC, Art. 7 Rn. 15; vgl. auch Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 44; ders., GRC, Einl. Rn. 35; Schilling, EuGRZ 2000, 3, 14.
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Gesetzesvorbehalts für Eingriffe in die private Betätigung zurück.768 Zudem bildet die GRC nach Abs. 5 S. 1 der Präambel auch eben jene grundrechtliche Rechtsprechung des Gerichtshofs ab. Eine einheitliche Betrachtung ist mithin angezeigt. Allerdings liegt dem Unionsrecht der Begriff des „Gesetzes“ nicht zugrunde. Daher ist sich diesem autonomen Begriff des Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRC unter Heranziehen der hergebrachten Begriffsverständnisse zu nähern. Gemeinhin unterschieden werden das „formelle Gesetz“ und das „materielle Gesetz“. Letzteres umfasst jede abstrakt-generelle, außenwirksame Anordnung, die an einen Adressatenkreis gerichtet ist. Wie gesehen769 entspricht dem der Gesetzesbegriff der EMRK. Der Begriff des „formellen Gesetzes“ und der des „Parlamentsgesetzes“ sind staatsgebunden entwickelt worden. Ihre Übertragung auf das Unionsrecht sieht sich daher Schwierigkeiten ausgesetzt.770 Im Folgenden wird der Begriff des Parlamentsgesetzes in diesem hergebrachten staatsbezogenen Verständnis verwandt. Als weiterer und das Parlamentsgesetz umfassender Begriff soll hier der des formellen Gesetzes vom Staatsbezug gelöst werden. Formelles Gesetz ist danach jedes materielle Gesetz, das allein aus der in der Verfassung vorgegebenen Gesetzgebung hervorgegangen ist. Dieses ist angesprochen, als bisher und künftig von einem „echten“ Gesetzesvorbehalt die Rede ist. Das Parlamentsgesetz zeichnet sich demgegenüber dadurch aus, dass diese Gesetzgebung ausschließlich dem Parlament übertragen ist. Ein solcher Vorbehalt des Parlamentsgesetzes kann im Unionsrecht allerdings nicht zu verlangen sein.771 Die EU ist kein Staat. So wie die Gewaltenteilung nicht in Reinform verwirklicht ist,772 sind auch für Fragen demokratischer Legitimation der Hoheitsgewalt im Unionsrecht die strukturellen Besonderheiten der EU zu beachten.773 Ein gemeineuropäisches Volk existiert nicht.774 Wer dem Europäischen Par-
768 Präsidium des Europäischen Konvents, Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. 2007 C 303, S. 17, 32; Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der GRC, S. 246; Folz, in: Veddel/Heintschel von Heinegg, Art. 52 GRC Rn. 3; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 52 GRC Rn. 61; Rieckhoff, Vorbehalt des Gesetzes, S. 152; Streinz/Michl, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 52 GRC Rn. 17. 769 S. 141 ff. 770 Vgl. Rieckhoff, Vorbehalt des Gesetzes, S. 87. 771 Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der GRC, S. 251; Ehlers, in: Ehlers, Europ. Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 104; Heitzer, Punitive Sanktionen, S. 161 f.; Hilf, in: Merten/Papier, Hdb. der Grundrechte, Bd. VI/1, § 164 Rn. 60; Kingreen, in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, Art. 52 GRC Rn. 62 („Ratsvorbehalt“); Lenaerts, EuR 2012, 3, 9; Pauly, EuR 1998, 242, 255; Philippi, Die GRC, S. 41; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der EU, Rn. 457; Streinz/Michl, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 52 GRC Rn. 25; Weber, NJW 2000, 537, 543; Zimmermann, in: Böllmann u. a., Menschenrechte, S. 63, 67. 772 Zum institutionellen Gleichgewicht siehe bereits S. 64 ff. 773 Zur Relativität des Gesetzesvorbehalts Hilf/Classen, in: Osterloh/Schmidt/Weber, FS Selmer, S. 71, 76; Vogel, JZ 1995, 331, 338 f.
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lament aus diesem Grund nicht sogar bereits jegliche Legitimationsfähigkeit abspricht,775 muss konstatieren, dass dem von den Unionsbürgern nach Art. 14 Abs. 2, 3 EUV, Art. 20 Abs. 2 S. 2 lit. b AEUV unmittelbar gewählten Europäischen Parlament aufgrund der Ungleichheit des Erfolgswertes der Wahlstimmen,776 der Uneinheitlichkeit des Wahlrechts777 wie des fehlenden Initiativrechts778 eine nicht mit den nationalen Parlamenten vergleichbare Legitimationskraft zukommt.779 Das Europäische Parlament (EP) ist entsprechend nicht einziger Unionsgesetzgeber, Art. 14 Abs. 1 S. 1 EUV.780 In der demokratischen Legitimation des Gesetzgebers kommt dem EP lediglich „stützende“ bzw. mit zunehmender Integration bestärkende Funktion zu.781 Nach derzeitigem Stand der Integration baut die EU auf ihren Mitgliedstaaten auf, Art. 1 Abs. 1 EUV. Entsprechend kann die demokratische Legitimation des europäischen Gesetzgebers auch über die Mitgliedstaaten, deren Parlamente und letztlich deren nationalen Völker verwirklicht werden.782 Diese Legitimationskette läuft im Rat zusammen, der nach Art. 16 Abs. 2 EUV aus je einem Repräsentanten jedes Mitgliedstaates besteht. Die unionsrechtliche Gesetzgebung richtet sich schließlich nach dem im Primärrecht geordneten Zusammenspiel zwischen Rat und Parlament, Art. 14 Abs. 1 S. 1; 16 Abs. 1 S. 1 EUV. Der Gesetzes-
774 Allg. M.; Haag/Bieber, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 4, Art. 189 EG Rn. 2; Moll, Europäisches Strafrecht, S. 81; Rieckhoff, Vorbehalt des Gesetzes, S. 96 m.w.N. 775 So etwa Ossenbühl, DVBl. 1993, 629, 634. 776 Vgl. Art. 14 Abs. 2 UAbs. 1 S. 3 EUV. Entsprechend fehlt in der Aufzählung der Wahlrechtsgrundsätze des Art. 14 Abs. 3 EUV die Gleichheit der Wahl. 777 Vgl. Art. 8 Abs. 1 Beschluss und Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments, ABl. 1976 L 278, S. 5, ber. ABl. 1976 L 326, S. 32. Einen Überblick über die Rechtsgrundlagen der Wahlen zum Europäischen Parlament gibt etwa Hölscheidt, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. I, Art. 14 EUV Rn. 67 ff. [52. Lfg.: Januar 2014]. 778 Art. 17 Abs. 2 EUV weist dieses der Europäischen Kommission zu. 779 Rieckhoff, Vorbehalt des Gesetzes, S. 96 ff.; Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, S. 122; vgl. auch Gröblinghoff, Die Verpflichtung des dt. Strafgesetzgebers, S. 128 ff.; Heitzer, Punitive Sanktionen, S. 161 f. 780 Dass EGMR, Urt. v. 18. 2. 1999 (GK), Nr. 24833/94 – Matthews/Vereinigtes Königreich, Reports of judgments and decisions 1999-I, 255, 267 ff. Rn. 36 ff. = NJW 1999, 3107, 3108 ff. indes das EP als gesetzgebende Körperschaft i.S.d. Art. 3 ZP 1 EMRK angesehen hat, kann auch damit erklärt werden, dass mit dem Rat oder dem Absprechen der Existenz einer solchen Institution für die EU keine mehrheitsfähigen Alternativen bestanden; dazu Rieckhoff, Vorbehalt des Gesetzes, S. 95 f. m.w.N. 781 BVerfGE 89, 155, 185 f. – Maastricht; Kluth, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 14 EUV Rn. 12; Schröder, Europäische Richtlinien und deutsches Strafrecht, S. 129 ff. 782 Nach Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 5 Rn. 43; Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, S. 131 soll dies den vorrangigen Legitimationsstrang ausmachen. A.A. Grosche, Rechtsfortbildung im Unionsrecht, S. 224: „weitgehende Parität“.
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
begriff des Unionsrechts ist mithin autonom zu bestimmen.783 Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC greift für Art. 52 Abs. 1 GRC nicht. Konstruktiv abzulehnen ist daher auch, den Begriff der EMRK auf das Unionsrecht zu übertragen.784 Als primärrechtlicher Anknüpfungspunkt unionsrechtlicher785 Grundrechtsschranken gerät vielmehr Art. 288 AEUV in den Blick. Inhaltlich dem Mindestschutzniveau der EMRK entsprechend786 wird ein materielles Gesetz verlangt, das mithin in abstrakt-genereller,787 rechtsverbindlicher,788 außenwirksamer Form789 den Grundrechtseingriff erfasst. Damit scheiden neben den nicht genannten Handlungsformen790 die Empfehlung sowie die Stellungnahme als gem. Art. 288 Abs. 5 AEUV unverbindliche Rechtsakte aus.791 Auch ein Beschluss ist kein „Gesetz“, da er eine bloße Einzelfallentscheidung darstellt.792 Obwohl Gesetze im materiellen Sinne, kommen 783 von Danwitz, in: Tettinger/Stern, KöKo, GRC, Art. 52 Rn. 33; Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 132. Zur autonomen Auslegung des Unionsrechts im Allgemeinen bereits oben S. 46. 784 So ausdrücklich auch von Danwitz, in: Tettinger/Stern, KöKo, GRC, Art. 52 Rn. 33; Triantafyllou, CMLR 39 (2002), 53, 60, die allerdings jeweils inhaltlich und nicht rein rechtstechnisch mit erhöhten Anforderungen im Unionsrecht argumentieren. 785 Die gesetzliche Grundlage kann freilich auch im Anwendungsbereich der GRC gem. Art. 51 Abs. 1 GRC dem mitgliedstaatlichen Recht entstammen. Anerkannt ist dabei, dass Art. 52 Abs. 1 GRC in diesem Fall mit Rücksicht auf die verschiedenen Rechtstraditionen wie die EMRK einen bloßen Rechtssatzvorbehalt genügen lässt. Dazu Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 52 Rn. 20; von Danwitz, in: Tettinger/Stern, KöKo, GRC, Art. 52 Rn. 34; Ehlers, in: Ehlers, Europ. Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 105; Jarass, GRC, Art. 52 Rn. 28; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 52 GRC Rn. 63; Kober, Grundrechtsschutz in der EU, S. 196 f. Zu den geringeren Anforderungen der GRC an die mitgliedsstaatliche Strafbarkeitsgrundlage siehe noch unten S. 164. 786 Jedenfalls für konventionsentsprechende Grundrechte wird gem. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC der Gesetzesbegriff der EMRK als formelle Rechtfertigungsvoraussetzung herangezogen. Gleiches gilt aufgrund der engen Orientierung des EuGH an der EMRK für den prätorischen Grundrechtsschutz. Dazu bereits S. 112 ff. und S. 73 ff. Zudem spricht die Auslegung nach dem Wortlaut für diesen Mindeststandard des materiellen Gesetzes. 787 Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der GRC, S. 248; Hector, in: Bröhmer, Der Grundrechtsschutz in Europa, S. 180, 202; Hilf, in: Merten/Papier, Hdb. der Grundrechte, Bd. VI/1, § 164 Rn. 60; Kokott, in: Merten/Papier, Hdb. der Grundrechte, Bd. I, § 22 Rn. 29; Philippi, Die GRC, S. 41. 788 Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der GRC, S. 80; Triantafyllou, Vom Vertrags- zum Gesetzesvorbehalt, S. 59, 66. 789 Bühler, Einschränkungen von Grundrechten nach der GRC, S. 248; Rieckhoff, Vorbehalt des Gesetzes, S. 154. 790 Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der EU, Rn. 456 a.E. 791 von Danwitz, in: Tettinger/Stern, KöKo, GRC, Art. 52 Rn. 33; Ehlers, in: Ehlers, Europ. Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 104; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der EU, Rn. 456. 792 Bühler, Einschränkungen von Grundrechten nach der GRC, S. 82, 248; Ehlers, in: Ehlers, Europ. Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 104; Kokott, in: Merten/Papier, Hdb. der Grundrechte, Bd. I, § 22 Rn. 29; Philippi, Die GRC, S. 41; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der EU, Rn. 456; a.A. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 52 GRC Rn. 62.
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schließlich auch Richtlinien nicht in Frage.793 Diese bedürfen gem. Art. 288 Abs. 3 AEUV einer mitgliedstaatlichen Umsetzung. Erst dieser Rechtsakt kommt als eingreifendes „Gesetz“ in Betracht, weil Richtlinien keine unmittelbaren Rechtswirkungen zulasten des Bürgers entfalten.794 Folglich kommt der Verordnung maßgebliche Bedeutung zu.795 Auch Primärrechtsnormen können schließlich genügen.796 Gemeinsam ist beiden Rechtsakten schließlich, dass sie eine geschriebene Grundlage bilden.797 Die qualitativen Anforderungen an den Rechtssatz sind damit geklärt. Das maßgebliche demokratische Kriterium des Urhebers dieser Rechtsnorm verbleibt jedoch offen; die Frage nach den beteiligten Rechtsetzungsorganen. Art. 14 Abs. 1 S. 1; 16 Abs. 1 S. 1 EUV bestimmen EP und den Rat als europäischen Gesetzgeber und ziehen so die Grenze der rechtsstaatlichen Gewaltenteilung im Unionsrecht.798 Die Rechtsprechung des EuGH liefert keine Antworten, sie bleibt auf die rechtsstaatlichen Anforderungen an den Rechtssatz beschränkt.799 Auflösung könnte Art. 289 Abs. 3 AEUV bringen. Dort wird der Begriff der „Gesetzgebungsakte“ als diejenigen Rechtsakte eingeführt, die gemäß einem Gesetzgebungsverfahren der 793 Rieckhoff, Vorbehalt des Gesetzes, S. 154 f.; Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 298; speziell zur Richtlinie als untaugliche Strafbarkeitsgrundlage siehe die Nachw. auf die allg. M. unten in Teil 2 Fn. 860; a.A. von Danwitz, in Tettinger/Stern, KöKo, GRC, Art. 52 Rn. 33; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 52 GRC Rn. 62; Kober, Grundrechtsschutz in der EU, S. 194; auf unmittelbar wirkende Richtlinien beschränkt Ehlers, in: Ehlers, Europ. Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 104. 794 Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der EU, Rn. 456 (Fn. 53); Rieckhoff, Vorbehalt des Gesetzes, S. 154 f.; unter Berufung auf die Großkrotzenburg-Entscheidung des EuGH, Urt. v. 11. 8. 1995, Rs. C-431/92 – Kommission/Deutschland, Slg. 1995, I-2189, I-2220 f. Rn. 26 kritisch Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der GRC, S. 81 f.; ebenfalls zweifelnd Jarass, GRC, Art. 52 Rn. 27; wie selbstverständlich von der unmittelbaren Wirkung der Richtlinie ausgehend Ehlers, in: Ehlers, Europ. Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 104. Zu den Auswirkungen unmittelbarer Wirkungen von Richtlinien auf die Strafbarkeit der für den Hoheitsträger handelnden Einzelnen hingegen Schröder, Europäische Richtlinien und deutsches Strafrecht, S. 21 ff. 795 Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der GRC, S. 80, 248; Kokott, in: Merten/ Papier, Hdb. der Grundrechte, Bd. I, § 22 Rn. 29; Rieckhoff, Vorbehalt des Gesetzes, S. 154. 796 Ehlers, in: Ehlers, Europ. Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 104; Jarass, EUGrundrechte, § 6 Rn. 37; ders., GRC, Art. 52 Rn. 27; Rieckhoff, Vorbehalt des Gesetzes, S. 154. 797 Dafür auch Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der GRC, S. 79, 252; Hilf/ Classen, in: Osterloh/Schmidt/Weber, FS Selmer, S. 71, 81, 86; Rieckhoff, Vorbehalt des Gesetzes, S. 154; Triantafyllou, CMLR 39 (2002), 53, 60. 798 Der Kommission fällt lediglich ein Vorschlagsrecht zu, Art. 17 Abs. 2 EUV. Gleichwohl ist auch sie durch die Einsetzung durch den Rat und das EP (Art. 17 Abs. 7 EUV) und die Überwachung durch das EP (Art. 17 Abs. 8 EUV) demokratisch legitmiert; vgl. Heitzer, Punitive Sanktionen, S. 161 f. 799 Vgl. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der GRC, S. 78; Eisner, Die Schrankenregelung der GRC, S. 175; Rieckhoff, Vorbehalt des Gesetzes, S. 154. Eisner, a.a.O., S. 180 kommt gar zu dem Ergebnis, dem Gesetzesvorbehalt des Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRC keinen klaren Gehalt beimessen zu können. Für einen bloßen Rechtssatzvorbehalt auch Hilf, in: Merten/Papier, Hdb. der Grundrechte, Bd. VI/1, § 164 Rn. 60.
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
Abs. 1, 2 angenommen werden, mithin vom Gesetzgeber stammen. Daran anschließend wird zum einen800 nur für im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren, dem Regelfall der Gesetzgebung gem. Art. 289 Abs. 1 AEUV, erlassene Rechtsakte die demokratische Legitimation eines grundrechtsbeschränkenden „Gesetzes“ bejaht. Weitergehend werden zum anderen801 auch Rechtsakte des besonderen Gesetzgebungsverfahrens nach Art. 289 Abs. 2 AEUV als erfasst angesehen, sodass die gesetzliche Grundlage von Grundrechtseingriffen in Gesetzgebungsakten nach Art. 289 Abs. 3 AEUV bestehen müsse. Allerdings knüpft das Primärrecht an diese Unterscheidung in Gesetzgebungsakte und nicht-legislative Rechtsakte allein verfahrensrechtliche Folgen ihres Zustandekommens.802 Eine qualitative Aussage ist damit nicht verbunden. Das Primärrecht sieht nach wie vor Kompetenzzuweisungen in Form anderer Rechtssetzungsverfahren und nicht-legislative Eingriffsgrundlagen vor.803 Auch diese entsprechen der Verfasstheit der Europäischen Union und nehmen an der demokratischen Legitimation des Primärrechts vermittelt über die Zustimmungsgesetze der nationalen Parlamente teil.804 Zudem ist Art. 52 Abs. 1 GRC nicht zu entnehmen, dass solche Rechtsakte nicht als „gesetzlich vorgesehen“ zu verstehen sind. Zum einen besteht anders als im VerfV805 keine terminologische Verknüpfung zwischen Art. 52 Abs. 1 GRC („gesetzlich vorgesehen“, engl. „provided for by law“, frz. „prévue par la loi“) und Art. 289 AEUV („Gesetzgebungsverfahren“, „Gesetzgebungsakt“, engl. „legislative procedure“, „legislative act“, frz. „procédure législative“, „acte législatif“).806 Auch lässt die historische Auslegung i. e.S. nicht erkennen, dass Art. 52 Abs. 1 GRC in der Konsequenz dazu führen sollte, dass in 800 von Danwitz, in: Tettinger/Stern, KöKo, GRC, Art. 52 Rn. 34; Jarass, GRC1, Art. 52 Rn. 27; Wolffgang, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge, Art. 52 GRC Rn. 11. Für weitgehende demokratische Anforderungen an das Eingriffsgesetz auch Röder, Der Gesetzesvorbehalt der GRC im Lichte einer europ. Wesentlichkeitstheorie, S. 110 f. 801 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 52 GRC Rn. 62. Unabhängig von den Kategorien des Art. 289 AEUV lässt Rieckhoff, Vorbehalt des Gesetzes, S. 163 zudem allein Mitentscheidungs- und Anhörungsgesetze, wobei er auch die Zustimmungsgestze der Mitentscheidung zuordnet (Rieckhoff, a.a.O., S. 113), genügen, verlangt mithin ebenfalls wie die Gesetzgebungsverfahren des Art. 289 Abs. 1, 2 AEUV die Beteiligung des Europäischen Parlaments. 802 Vgl. Krajewski/Rösslein, in: G/H/N, Das Recht der Europäischen Union, Bd. III, Art. 289 AEUV Rn. 66 [45. Lfg.: August 2011]; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 289 AEUV Rn. 9; Vedder, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 289 AEUV Rn. 3. 803 Siehe die Nachweise zum Primärrecht bei Vedder, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 289 AEUV Rn. 3 (Fn. 14 bis 18). Zur Zuordnung speziell des Art. 103 AEUV noch unten S. 160 f. 804 Vgl. BVerfGE 89, 155, 183 f. – Maastricht; Rieckhoff, Vorbehalt des Gesetzes, S. 90; darauf verweist auch Zimmermann, in: Böllmann u. a., Menschenrechte, S. 63, 67. Siehe auch Tsolka, Der allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 78. 805 Dazu von Danwitz, in: Tettinger/Stern, KöKo, GRC, Art. 52 Rn. 35; zweifelnd hingegen Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, S. 168 f. 806 Kober, Grundrechtsschutz in der EU, S. 194 lässt diese Ähnlichkeit im Wortlaut hingegen für ein grammatikalisches Argument ausreichen.
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früheren Rechtssetzungsverfahren erlassene Rechtsakte neu zu erlassen seien.807 Vielmehr kann auf den Strang demokratischer Legitimation verwiesen werden, der den Rat vermittelt über die nationalen Vertreter an die Parlamente der Mitgliedstaaten rückbindet.808 Dem Gesetzesvorbehalt des Unionsrechts genügt damit jede primärrechtskonform zustande gekommene, geschriebene außenwirksame, materielle Rechtsnorm.809 Ein Erlass durch den Gesetzgeber oder sogar eine Beteiligung des Europäischen Parlaments ist nach jetzigem Integrationsstand für den allgemeinen grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt nicht erforderlich. Es besteht mithin ein Vorbehalt des formellen Gesetzes im obigen810 Sinne. Gleichwohl findet sich verbreitet die Bemerkung, die Anforderungen an die gesetzliche Grundlage und die Beteiligung des Europäischen Parlaments an ihrer Entstehung müssten sich entsprechend der Wesentlichkeitstheorie des deutschen Rechts811 erhöhen, je schwerer der Grundrechtseingriff wiegt.812 Darauf wird bei der Bestimmung des Gesetzesbegriffs des nullum crimen sine lege-Grundsatzes zurückzukommen sein, wurde der Grundrechtseingriff durch das Strafrecht i.w.S. doch als besonders schwerwiegend identifiziert.813 807 Kober, Grundrechtsschutz in der EU, S. 195; ähnlich Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der GRC, S. 251; Hilf/Classen, in: Osterloh/Schmidt/Weber, FS Selmer, S. 71, 85; Philippi, Die GRC, S. 41; Streinz/Michl, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 52 GRC Rn. 25. Zur keine Erkenntnisse erbringenden Entstehungsgeschichte Rieckhoff, Vorbehalt des Gesetzes, S. 158 ff. 808 Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der GRC, S. 250; Zimmermann, in: Böllmann u. a., Menschenrechte, S. 63, 67; vgl. auch Heitzer, Punitive Sanktionen, S. 161. 809 Im Ergebnis ebenso Ehlers, in: Ehlers, Europ. Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 104; Jarass, GRC, Art. 52 Rn. 27; Streinz, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 51 GRC Rn. 25; zum prätorischen grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 52 Rn. 20a; von Danwitz, in: Tettinger/Stern, KöKo, GRC, Art. 52 Rn. 17; Pauly, EuR 1998, 242, 255 f.; zu Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRC Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der GRC, S. 244 ff.; Frenz, Hdb. Europarecht, Bd. 4: Europ. Grundrechte, Rn. 526; Hilf/Classen, in: Osterloh/Schmidt/Weber, FS Selmer, S. 71, 85 f.; Ohler, JZ 2006, 359, 361; Philippi, Die GRC, S. 41; Rengeling/Szczekalla, Die Grundrechte in der EU, Rn. 457 f.; Streinz/Michl, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 52 GRC Rn. 25; Weber, NJW 2000, 537, 543; wohl auch Hector, in: Bröhmer, Grundrechtsschutz in Europa, S. 180, 202; Kober, Grundrechtsschutz in der EU, S. 195; Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 132; ebenso, wenngleich in demokratietheoretischer Hinsicht zweifelnd Calliess, EuZW 2001, 261, 264. 810 S. 150 ff. 811 Dazu etwa BVerfGE 49, 89, 126 f. – Kalkar. 812 Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 52 Rn. 20a; Ehlers, in: Ehlers, Europ. Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 104; Frenz, Hdb. Europarecht, Bd. 4: Europ. Grundrechte, Rn. 523, 526; Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 302. Eine vergleichbare Argumentation zum Gesetzesbegriff der EMRK aus der rule of law bei Ibing, Die Einschränkung der europäischen Grundrechte durch Gemeinschaftsrecht, S. 129 f. Zu einer europäischen Wesentlichkeitstheorie eingehend Röder, Der Gesetzesvorbehalt der GRC im Lichte einer europ. Wesentlichkeitstheorie, S. 154 ff. 813 Dazu oben S. 138 ff., speziell zu den Grundrechtseingriffen des Kartellbußgelds siehe S. 147 ff.
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Zudem bleibt zu erwähnen, dass eine stärkere Legitimation jeglicher Eingriffsbefugnisse der EU verbreitet gefordert wird. Eine Beschränkung auf das ordentliche Gesetzgebungsverfahren, das gem. Art. 289 Abs. 1; 294 AEUV eine gemeinsame Annahme einer Verordnung, einer Richtlinie oder eines Beschlusses durch das EP und den Rat auf Vorschlag der Kommission vorsieht, sei daher wünschenswert.814 Alle Legitimationsstränge wirkten so zusammen. Durch das aufwendige parlamentarische Verfahren würde zudem über das allgemeine Transparenzgebot des Art. 1 Abs. 2; 10 Abs. 3 S. 2 EUV hinausgehend Transparenz, öffentliche Teilnahme und Vorhersehbarkeit erreicht. Einschränkend bleibt indes zu beachten, dass dieser öffentliche Diskurs gleichwohl nicht an den der Nationalstaaten heranreicht.815 bb) Der Gesetzesbegriff des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips im Unionsrecht Anknüpfend an die dogmatische Struktur des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips ist allerdings anzudenken, ob sich die Anforderungen an das „Gesetz“ i.S.d. strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips (nullum crimen sine lege) gegenüber dem soeben beschriebenen Mindestgehalt des allgemeinen Gesetzesvorbehalts noch erhöhen. In Bezug auf letzteren Standard ist zunächst zu erörtern, wie solch ein erhöhter Schutz dogmatisch erreicht werden kann. Für das Übersteigen der konventionsrechtlichen Anforderungen ist dazu Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC in den Blick zu nehmen. (1) Chartainterne Lösung Wird die EMRK gem. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC allein als bedeutende Rechtserkenntnisquelle für das entsprechende Chartagrundrecht anerkannt,816 so wird unter Verweis auf Art. 52 Abs. 1 GRC ein klassischer, „echter“ Gesetzesvorbehalt auch für Art. 49 GRC gefordert.817 Wer bereits in Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRC entgegen der hier vertretenen Auffassung einen klassischen, d. h. allein auf den Gesetzgeber verweisenden, Gesetzesvorbehalt sieht, dem genügt ein Verweis auf das systematische
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Noch zum alten Mitentscheidungsverfahren gem. Art. 251 EG Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der GRC, S. 250 f.; Hilf/Classen, in: Osterloh/Schmidt/Weber, FS Selmer, S. 71, 85; Kokott, in: Merten/Papier, Hdb. der Grundrechte, Bd. I, § 22 Rn. 29; Rieckhoff, Vorbehalt des Gesetzes, S. 163; Triantafyllou, CMLR 39 (2002), 53, 61; siehe auch Streinz/Michl, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 52 GRC Rn. 25. 815 BVerfGE 123, 267, 359 – Lissabon; Sturies, HRRS 2012, 273, 275 f. Zur Legitimationsleistung des parlamentarischen Verfahrens vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der BRD, Rn. 525; Rieckoff, Vorbehalt des Gesetzes, S. 31 f., 102. 816 Siehe die Nachw. in Teil 2 Fn. 557. 817 So Jarass, GRC1, Art. 49 Rn. 10 (verhaltener nunmehr Jarass, GRC, Art. 49 Rn. 10); sich allein auf Art. 49 GRC stützend auch Dannecker, ÖZK 2010, 171, 177.
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Verhältnis zu Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC.818 Unter Beachtung der anderen Rechtserkenntnisquellen der GRC kann dies zudem unter Hinweis vor allem auf allgemeine rechtsstaatliche Erwägungen (Abs. 2 S. 2 der Präambel der GRC, Abs. 4 der Präambel des EUV, Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 S. 1 EUV) sowie den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten (Art. 52 Abs. 4 GRC; Abs. 5 S. 1 Präambel) begründet werden. Dort wird grundsätzlich819 ein Gesetz im Sinne eines Parlamentsgesetzes (nullum crimen, nulla poena sine lege parlamentaria) verlangt.820 Zudem sind im Vereinigten Königreich zunehmend Entwicklungen hin zu einem kodifizierten Strafrecht (statute law) zu erkennen.821 Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip gewinnt damit auch im europäischen Rechtskreis des common law zunehmend den Gehalt, der ihm in den Staaten Kontinentaleuropas zukommt.822 Ferner kann der bereits soeben823 vorgestellte Gedanke abgestufter Anforderungen an den Gesetzesvorbehalt entsprechend der deutschen Wesentlichkeitslehre herangezogen werden. Da die hoheitliche Strafe einen besonders intensiven Grundrechtseingriff bedeutet, sind die Anforderungen im Vergleich zum allgemeinen Gesetzesvorbehalt deutlich zu erhöhen. Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC selbst gewährte so einen weiter gehenden Schutz i.S.d. Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC. Zu diesem Ergebnis kann aus denselben Erwägungen deshalb auch gelangen, wer mit der vermittelnden Position824 die Konventionsgrundrechte grundsätzlich nach Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC als inkorporiert sieht, darüber hinausgehend aber gem. Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC einen weitergehenden Gehalt des Chartarechts erlaubt.
818 So Jarass, EU-Grundrechte, § 42 Rn. 8; ders., GRC1, Art. 49 Rn. 10; zust. Rieckhoff, Vorbehalt des Gesetzes, S. 226 f. 819 Zu den Delegationsmöglichkeiten siehe noch S. 161 ff. 820 Siehe oben S. 145. 821 Ashworth/Horder, Principles of Criminal Law, S. 58 ff.; Courakis, GA 1981, 533, 548 ff.; Dannecker, ÖZK 2010, 171, 177; Ibing, Die Einschränkung der europäischen Grundrechte durch Gemeinschaftsrecht, S. 130; Pascu, Strafrechtliche Fundamentalprinzipien im Gemeinschaftsrecht, S. 123; Renzikowski, in: Pabel/Schmahl, IntKomm, EMRK, Bd. 1, Art. 7 Rn. 44 [12. Lfg.: Mai 2009]; Tsolka, Der allgemeine Teil eines europäischen supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 75; Vogel, in: Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht in der EU, S. 91, 93; allgemein zum zunehmenden Wandel der Gerichtstätigkeit von der Rechtsschöpfung zur Auslegung des statutory law Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis von Großbrittanien, Bd. I, S. 51. 822 Courakis, GA 1981, 533, 556 f.; Dannecker, ÖZK 2010, 171, 177; Pascu, Strafrechtliche Fundamentalprinzipien im Gemeinschaftsrecht, S. 123; Tiedemann, ZStW 110 (1998), 497, 501; ders., in: Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht in der EU, S. 3, 7; Tsolka, Der allgemeine Teil eines europäischen supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 75. 823 S. 155. 824 Siehe die Nachw. in Teil 2 Fn. 574.
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(2) Lösung über Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC i.V.m. dem prätorischen Grundrechtsschutz nach Art. 6 Abs. 3 EUV Diese chartainterne Lösung ist allerdings nicht gangbar, wenn man mit der überwiegenden Auffassung825 das Charta-Grundrecht für mit dem entsprechenden konventionsrechtlichen Grundrecht identisch hält. Danach ist auch für Art. 49 GRC ausweislich des Wortlauts eine Grundlage im „Recht“ erforderlich und genügend.826 Gesteigerte Anforderungen sind nach dieser Auffassung außerhalb der GRC zu suchen.827 Zu einem „echten“ Gesetzesvorbehalt gelangt man hiernach nur durch Heranziehen des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips als allgemeiner Rechtsgrundsatz gem. Art. 6 Abs. 3 EUV. Der EuGH gewährleistet im prätorischen Grundrechtsschutz nämlich einen klassischen Gesetzesvorbehalt als Teilgarantie des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips.828 Der Grundsatz nulla poena sine lege verlange ein „Gesetz“ (in der verbindlichen niederländischen Sprachfassung des Urteils „wet“, engl. „legislation“, frz. „loi“) als Rechtsgrundlage.829 Gestützt werden kann dieses Ergebnis wiederum durch einen wertenden Rechtsvergleich, der ergibt, dass dem Recht der Mitgliedstaaten ein strafrechtlicher Gesetzesvorbehalt i.S. eines freilich in den Anforderungen variierenden830 lex parlamentaria zugrunde liegt.831 Dieses Verständnis passt sich auch mit Einschränkungen832 funktionell in das Unionsrecht ein. Auch wenn dem Unionsrecht der Gesetzesbegriff der Mitgliedstaaten fremd ist,833 tritt als funktionelles Äquivalent der gesetzgeberische Handlungskanon der Art. 288, 289 AEUV an dessen Stelle, aus dem vor allem die Verordnung als gesetzliche Grundlage eines Grundrechtseingriffs in Betracht kommt.834 Damit geht der EuGH über den Wortlaut des Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC („Recht“, niederl. „recht“, engl. „law“, frz. „droit“) sowie Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK hinaus. Da Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC insoweit keine bewusste Schutzlücke aufweist, ist die EU im
825
Sog. Identitätskonzept, siehe die Nachw. in Teil 2 Fn. 550. Von einem bloßen Rechtsvorbehalt gehen aus Alber, in: Tettinger/Stern, KöKo, GRC, Art. 49 Rn. 4; Eser, in: Meyer, GRC, Art. 49 Rn. 13 („nullum crimen sine iure“); Voet van Vormizeele, in: Schwarze u. a., EU-Kommentar, Art. 49 GRC Rn. 6; zum bloßen Rechtsvorbehalt des danach identischen Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK siehe soeben S. 141 ff.; zum gleichlautenden Begriff des „Rechts“ i.S.d. Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV bereits oben S. 62. 827 Vgl. bereits oben S. 132. 828 EuGH, Urt. v. 3. 5. 2007, Rs. C-303/05 P – Advocaten voor de Wereld, Slg. 2007, I-3633, I-3695 Rn. 50. 829 EuGH, Urt. v. 3. 5. 2007, Rs. C-303/05 P – Advocaten voor de Wereld, Slg. 2007, I-3633, I-3695 Rn. 50. 830 Dazu näher sogleich S. 161. 831 Siehe bereits oben S. 145. 832 Zur demokratischen Komponente des nullum crimen sine lege sogleich S. 161 ff. 833 Eingehend Rieckhoff, Vorbehalt des Gesetzes, S. 67 ff. 834 Siehe bereits oben S. 152 f. 826
D. Strafrechtliches Gesetzlichkeitsprinzip als primärrechtliche Interorgangrenze
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hier ausschließlich betroffenen Bürger-Hoheitsträger-Verhältnis wie gesehen835 gem. Art. 6 Abs. 3 EUV an das weiter gehende richterrechtliche Recht gebunden. (3) Gemeinsamkeiten der beiden Ansätze Im Ergebnis gemeinsam sind diesen beiden Ansätzen die Rechtserkenntnisquellen, auf die zurückgegriffen wird. Zum einen liefern die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten wie auch das sonstige Unionsrecht, wenngleich im Falle allgemeiner Rechtsgrundsätze auch nur als Korrektiv des Einfügens in das Unionsrecht, Erkenntnisse. Gerade an letzterem orientiert sich auch bereits die EMRK, indem sie zur Beurteilung einer hinreichenden Strafbarkeitsgrundlage auf die jeweilige nationale Rechtsquellenordnung verweist.836 Zur ohnehin inhaltlichen Angleichung der beiden dogmatischen Ansätze tritt hinzu, dass die Grundrechtsrechtsprechung des EuGH gem. Absatz 5 S. 1 der Präambel der GRC Eingang in die GRC findet. Im Folgenden soll daher in einheitlicher Betrachtung die Erkenntnisquelle des mitgliedstaatlichen Rechts näher untersucht und mit den Gegebenheiten der EU abgeglichen werden.837 (4) Der rechtsstaatlich-gewaltenteilende Gehalt des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips im Recht der Mitgliedstaaten Dem strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzip kommt im Recht der Mitgliedstaaten ein gewaltenteilender Gehalt zu. Wie bereits ausgeführt, verlangen die mitgliedstaatlichen Gesetzlichkeitsprinzipien ein Parlamentsgesetz als Strafbarkeitsgrundlage.838 Die Zuweisung an den Gesetzgeber verhindert, dass die gegenüber dem Bürger handelnden Exekutive und Judikative, auch wenn eine Delegation an erstere möglich bleibt,839 nicht ungebunden ihre eigene Rechtsgrundlage schaffen und damit frei ihre eigenen Befugnisgrenzen ziehen können.840 Die Gewaltenteilung dient mithin dem Ausschluss (richterlicher) Willkür sowie der Absicherung der Vorhersehbarkeit. Inhaltlich ist die Zuweisung an den Gesetzgeber durch den Bestimmtheitsgrundsatz abgesichert. Die wesentliche Strafbarkeitsentscheidung hat er selbst zu treffen.841 835
Zum Konkurrenzverhältnis der GRC zum prätorischen Grundrechtsschutz bereits oben S. 129 ff. 836 Siehe bereits bei S. 141. 837 Vgl. auch Schaut, Europ. Strafrechtsprinzipien, S. 78 ff., der dieses Einfügen des konventionsrechtlichen Gehalts der Chartarechte nach Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC wie der rechtsvergleichend gewonnenen gemeineuropäischen Grundsätze in die Unionsrechtsordnung als „Unionsrechtsadäquanz europäischer Rechtsprinzipien“ umschreibt. Seine Untersuchung bleibt allerdings auf das europäische Kriminalstrafrecht beschränkt (Schaut, a.a.O., S. 37 ff.). 838 Siehe oben S. 156 ff. 839 Dazu sogleich S. 161. 840 Vgl. bereits oben S. 142 ff. 841 Dazu eingehend noch S. 168 ff.
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
Dieser rechtsvergleichend ermittelte Gehalt fügt sich auch in das Unionsrecht ein. Auch hier ist die Strafrechtsetzung auf den Gesetzgeber beschränkt. Im institutionellen Gleichgewicht des Unionsrechts842 sind gem. Art. 14 Abs. 1 S. 1; 16 Abs. 1 S. 1 EUV Rat und EP gemeinsam zur Gesetzgebung berufen. Fraglich ist aber, ob die „gemeinsame“ Gesetzgebungstätigkeit stets eine zwingende Beteiligung auch des Europäischen Parlaments verlangt. Die Antwort kann wiederum nur das weitere Primärrecht geben. Es führt erneut zu Art. 289 Abs. 3 AEUV und der Begriffsbestimmung der Gesetzgebungsakte als „Rechtsakte, die gemäß einem Gesetzgebungsverfahren“ nach Art. 289 Abs. 1 oder 2 „angenommen werden“. Maßgeblich zur Zuordnung zum Gesetzgeber i.S.d. institutionellen Gleichgewichts ist mithin die Beteiligung des Europäischen Parlaments in jedweder Form. Die weiteren vom Primärrecht vorgesehenen Rechtsetzungsakte des Rates, die keine Beteiligung des Europäischen Parlaments vorsehen, stammen im Umkehrschluss nicht vom unionsrechtlichen Gesetzgeber. Während das ordentliche Gesetzgebungsverfahren gem. Art. 289 Abs. 1 AEUV als Regelfall der Gesetzgebung keine Schwierigkeiten bereitet, ist die Zuordnung von Rechtsetzungsverfahren zum besonderen Gesetzgebungsverfahren nach Art. 289 Abs. 2 AEUV umstritten. In einigen Normen sieht der AEUV ausdrücklich diese Bezeichnung vor,843 in anderen führt er nur die in Art. 289 Abs. 2 AEUV genannten Voraussetzungen auf.844 Gelegentlich845 wird diese ausdrückliche Inbezugnahme als konstitutives Element des besonderen Gesetzgebungsverfahrens verstanden. Dies hätte zur Folge, dass namentlich die Ermächtigungsnorm des Art. 23 Abs. 2 VO 1/2003, Art. 103 AEUV, hier als Ermächtigungsnorm für Strafnormen ausscheiden muss. Nach Abs. 1 werden „die zweckdienlichen Verordnungen oder Richtlinien zur Verwirklichung der in den Artikeln 101 und 102 niedergelegten Grundsätze […] vom Rat auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments beschlossen.“ Jedoch umschreibt Art. 103 Abs. 1 AEUV die in Art. 289 Abs. 2 Alt. 2 AEUV genannten Voraussetzungen, die Beschlussfassung durch den Rat mit Beteiligung des Europäischen Parlaments, genauer in Form der Anhörung. Dass auch die Anhörung als Beteiligung des EP genügt, ergibt sich aus dem Umkehrschluss z. B. aus Art. 21 Abs. 3 AEUV, der ebenso die bloße Anhörung des EP genügen lässt und ausdrücklich dem besonderen Gesetzgebungsverfahren zugeordnet wird. Hielte man die Bezeichnung für maßgeblich, so gäbe es Rechtssetzungsverfahren des Gesetzgebers,
842
Dazu bereits S. 64 f. Etwa Art. 19 Abs. 1, 89, 311 Abs. 3 AEUV. Vollständige Aufzählung bei Vedder, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 289 AEUV Rn. 3 (Fn. 11). 844 Etwa Art. 128 Abs. 2, 329 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV und nicht zuletzt die hier maßgebliche Befugnisnorm des Art. 103 Abs. 1 AEUV. Komplette Aufzählung wiederum bei Vedder, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 289 AEUV Rn. 3 (Fn. 12). 845 So Hetmeier, in: Lenz/Borchard, EU-Verträge, Art. 289 AEUV Rn. 3; Krajewski/ Rösslein, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. III, Art. 289 AEUV Rn. 60 [45. Lfg.: August 2011]; Schoo, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 289 AEUV Rn. 4. 843
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die keine „Gesetzgebungsakte“ i.S.d. Art. 289 Abs. 3 AEUV sind.846 Dies überzeugt nicht. Die Bezeichnung als besonderes Rechtssetzungsverfahren ist daher irrelevant.847 Art. 103 AEUV sieht ein besonderes Gesetzgebungsverfahren vor. Die VO 1/ 2003 ist damit ein Gesetzgebungsakt i.S.d. Art. 289 Abs. 3 AEUV. (5) Der demokratisch-gewaltenteilende Gehalt des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips im Recht der Mitgliedstaaten Vermittelt durch diesen gewaltenteilenden Gehalt enthält das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip in den Mitgliedstaaten zugleich einen demokratischen Inhalt.848 Die Strafnormen schaffender Gesetzgeber ist stets das direkt demokratisch legitimierte nationale Parlament. Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip enthält im wertenden Rechtsvergleich mithin einen Parlamentsvorbehalt (nullum crimen sine lege parlamentaria). Allerdings bestehen in den Mitgliedstaaten weitgehende Delegationsmöglichkeiten an die Exekutive, gerade im Strafrecht i.w.S.849 Ein strenger Parlamentsvorbehalt im deutschen Sinne gem. Art. 103 Abs. 2; 104 Abs. 1; 80 Abs. 1 GG ist nicht gemeineuropäischer Standard.850 Ein wertender Rechtsvergleich ergibt vielmehr, dass das Parlament lediglich einen hinreichenden inhaltlichen Einfluss behalten muss.851 Auch dieser Befund müsste sich in das Unionsrecht einfügen. Funktionell entspricht ihm eine Beteiligung des Europäischen Parlaments allein im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nach Art. 289 Abs. 1 AEUV.852 Nur in diesem Gesetzgebungsverfahren hat das EP einen inhaltlichen Einfluss auf den Gesetzgebungsakt. Es kann seinen Standpunkt effektiv einbringen und den Gesetzgebungsakt verhindern.
846
Rn. 3.
Vedder, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 289 AEUV
847 So auch Vedder, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 289 AEUV Rn. 3. 848 Vgl. etwa BVerfGE 126, 170, 194: „Der Gesetzgeber übernimmt mit der Entscheidung über strafwürdiges Verhalten die demokratisch legitimierte Verantwortung für eine Form hoheitlichen Handelns, die zu den intensivsten Eingriffen in die individuelle Freiheit zählt“. 849 Vgl. Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, S. 129. 850 Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, S. 129; Vogel, JZ 1995, 331, 338 f. 851 Gröblinghoff, Die Verpflichtung des dt. Strafgesetzgebers, S. 125; Moll, Europäisches Strafrecht, S. 257 f.; Rieckhoff, Vorbehalt des Gesetzes, S. 228; Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, S. 129 f.; gegen einen bloßen Rechtssatzvorbehalt auch Dannecker, ZStW 117 (2005), 697, 746; Tiedemann, ZStW 110 (1998), 497, 514. 852 Nur Gesetzgebungsakte des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens als taugliche Strafbarkeitsgrundlage i.S.d. Art. 49 Abs. 1 GRC ansehend Jarass, GRC1, Art. 49 Rn. 10, Art. 52 Rn. 27; noch zum Mitentscheidungsverfahren Gröblinghoff, Die Verpflichtung des dt. Strafgesetzgebers, S. 136 (zur Anweisung). Vgl. auch Sieber, in: van Gerven/Zuleeg, Sanktionen als Mittel zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts, S. 71, 78, der zudem auf die Legitimation durch primärrechtliche Kompetenzzuweisungen hinweist (dazu noch sogleich bei Teil 2 Fn. 856).
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
Die Beteiligung des Europäischen Parlaments in Form der Zustimmung oder Anhörung, die nach Art. 289 Abs. 2 AEUV genügen, vermag dies nicht. Wie gesehen853 verwirklicht sich die demokratische Legitimation in der EU jedoch nicht ausschließlich über das EP. In seiner demokratischen Legitimationsleistung ist es nicht mit den nationalen Parlamenten vergleichbar.854 Tragende Säule bleibt auch beim derzeitigen Integrationsstand ihre Eigenschaft als Staaten-, weniger als Bürgerunion. Denn die Union leitet ihre Hoheitsrechte von den Mitgliedstaaten im Wege begrenzter Einzelermächtigung ab. In einer Bürgerunion wie den Nationalstaaten geht die Hoheitsgewalt hingegen allein vom Volk aus. Dieses ist Souverän, vgl. etwa Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG. In der EU bleiben indes die Mitgliedstaaten die „Herren der Verträge“. Über den Rat erhalten die Gesetzgebungsakte vermittelt über die nationalen Parlamente ebenso demokratische Legitimation. Gleichfalls ist das gesamte Primärrecht auf die nationalen Völker zurückzuführen. Durch die Zustimmungsgesetze haben die nationalen Parlamente in primärrechtlichen Sanktionskompetenznormen den Verzicht auf vollständige unmittelbare demokratische Legitimation letztlich direkt selbst gestaltet.855 Der Parlamentsvorbehalt der Mitgliedstaaten erhält bei funktionalem Übertrag in das Recht der EU mithin lediglich das Erfordernis, dass den Parlamenten überhaupt inhaltliche Einflussmöglichkeiten zukommen müssen.856 Ein Parlamentsvorbehalt im nationalen Sinne ist hingegen aus den strukturellen Gründen auszuschließen,857 auch eine Beschränkung auf das ordentliche Gesetzgebungsverfahren fügt sich nicht in das derzeitige Unionsrecht ein.858
853
Siehe oben S. 150 ff. sowie bereits S. 66. Siehe bereits S. 150 ff. 855 Vgl. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, S. 168; Schröder, Europäische Richtlinien und deutsches Strafrecht, S. 125; Sieber, in: van Gerven/Zuleeg, Sanktionen als Mittel zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts, S. 71, 78. 856 So auch Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, S. 133; gegen alleinige Rechtsetzung durch den Rat aus Gründen demokratischer Legitimation auch Sieber, in: van Gerven/ Zuleeg, Sanktionen als Mittel zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts, S. 71, 78. 857 Zu Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC Rengeling/Szczekalla, Die Grundrechte in der EU, Rn. 1206; Rieckhoff, Vorbehalt des Gesetzes, S. 228; im Ergebnis auch Jarass, GRC1, Art. 49 Rn. 10, Art. 52 Rn. 27, der allerdings einen Gesetzgebungsakt des ordentlichen Gesetzgebungsverfahren verlangt, sowie Eser, in: Meyer, GRC, Art. 49 Rn. 13, der grundsätzlich von einem bloßen Rechtssatzvorbehalt ausgeht. Zum prätorischen Grundrechtsschutz Gröblinghoff, Die Verpflichtung des dt. Strafgesetzgebers, S. 125; Moll, Europäisches Strafrecht, S. 270 f.; Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, S. 129 ff.; Schröder, Europäische Richtlinien und deutsches Strafrecht, S. 128 ff.; Tsolka, Der allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 78; i.E. ebenso Friedmann, Die Geltung rechtsstaatlicher Grundsätze, S. 226, der den Unionsgesetzgeber grundsätzlich im Rat sieht. Für eine lege parlamentaria lediglich Lüderssen, FAZ v. 29. 12. 2003, S. 29. 858 Ebenso Rieckhoff, Vorbehalt des Gesetzes, S. 232 f.; vgl. auch noch zu Art. 189b EG a.F. Vogel, JZ 1995, 331, 339; i.E. auch Tiedemann, in: Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht in der EU, S. 3, 11 f. 854
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Da sich das Beteiligungserfordernis auch des Europäischen Parlaments bereits aus dem rechtsstaatlich-gewaltenteilenden Gehalt des nullum crimen-Grundsatzes ergibt, geht der spezifisch demokratische Gehalt nicht darüber hinaus. Er sichert diesen Befund aber theoretisch ab. Dafür spricht bereits die im Rahmen des allgemeinen Gesetzesvorbehalts angesprochene, verbreitet vorgenommene graduelle, der deutschen Wesentlichkeitstheorie entsprechende Abstufung der Anforderungen an die gesetzliche Grundlage. Wie gesehen stellt die hoheitliche Strafe einen massiven Grundrechtseingriff der Hoheitsgewalt dar. Mit dieser Eingriffsschwere korrespondiert danach eine hinreichend qualifizierte demokratische Legitimation.859 cc) Zwischenergebnis Im Ergebnis ist eine taugliche unionsrechtliche Strafbarkeitsgrundlage folglich eine Verordnung,860 die unter Beteiligung des Europäischen Parlaments jedweder Art, mithin nach hier vertretener Ansicht861 in einem Gesetzgebungsverfahren nach Art. 289 Abs. 1, 2 AEUV, zustande gekommen ist. Zu erinnern bleibt aber an die Forderung, zukünftig nur Gesetzgebungsakte des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens als gesetzliche Grundlage für Grundrechtseingriffe im Unionsrecht ausreichen zu lassen.862 Dies gilt aufgrund ihrer Intensität erst recht für strafende Eingriffe863 und führt den oben angesprochenen Gedanken einer Wesentlichkeitstheorie im Unionsrecht fort. Die kartellrechtliche Bußgeldnorm des Art. 23 Abs. 2 VO 1/2003 genügt diesen Anforderungen. Sie geht auf die Ermächtigungsnorm des Art. 103 Abs. 1, 2 lit. a AEUV zurück. Nach Abs. 1 werden „die zweckdienlichen Verordnungen oder Richtlinien zur Verwirklichung der in den Artikeln 101 und 102 niedergelegten 859 Ob erhöhte demokratische Anforderungen an ein supranationales Kriminalstrafgesetz zu stellen sind, soll hier nicht erörtert werden. Dazu etwa Schröder, Europäische Richtlinien und deutsches Strafrecht, S. 125 ff. 860 Dazu, dass eine Richtlinie hingegen keine taugliche Rechtsgrundlage darstellt, EuGH, Urt. v. 11. 6. 1987, Rs. 14/86 – Pretore di Salò/X, Slg. 1987, 2545, 2570 Rn. 19; Urt. v. 8. 10. 1987, Rs. 80/86 – Kolpinghuis Nijmegen, Slg. 1987, 3969, 3986 Rn. 13; Urt. v. 7. 1. 2004, Rs. C-60/02 – X, Slg. 2004, I-651, I-686 Rn. 61; Urt. v. 3. 5. 2005, verb. Rs. C-387/02, C-391/02 und C-403/02 – Berlusconi u. a., Slg. 2005, I-3565, I-3654 Rn. 71, 74; Alber, in: Tettinger/ Stern, KöKo, GRC, Art. 49 Rn. 5; Jarass, GRC, Art. 49 Rn. 10; Kadelbach, in Dörr/Grote/ Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 15 Rn. 22; Rieckhoff, Vorbehalt des Gesetzes, S. 226. Nach hier vertretener Ansicht scheidet die Richtlinie bereits als gesetzliche Grundlage i.S.d. allgemeinen grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt aus; siehe oben S. 152 f. 861 Dazu dass die Bezeichnung als besonderes Gesetzgebungsverfahren in der jeweiligen Ermächtigungsnorm nicht konstitutiv ist, siehe oben S. 160 f. 862 Siehe oben S. 156 f. 863 Für das Strafrecht ausdrücklich auch, noch zum Mitentscheidungsverfahren, Rieckhoff, Vorbehalt des Gesetzes, S. 232 f.; allgemein für eine stärkere Beteiligung des Europäischen Parlaments Tiedemann, NJW 1993, 23, 28, 31. Vgl. auch Heitzer, Punitive Sanktionen, S. 162, die aber die Mitwirkung des EP 1997 noch nicht als zwingend erachtet.
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
Grundsätze […] vom Rat auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments beschlossen.“ Die Norm enthält somit nicht nur eine Kompetenzzuweisung für Durchführungsvorschriften, sondern auch eine Beschränkung auf die Rechtsformen der Verordnung und der Richtlinie und damit auf die Handlungsformen des materiellen Gesetzes. Dass Sanktionsnormen nach Art. 103 Abs. 1 AEUV nicht im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren ergehen, ist wie gesehen beim derzeitigen Integrationsstand noch unschädlich. Art. 103 AEUV sieht ein besonderes Gesetzgebungsverfahren und damit die Beteiligung des Europäischen Parlaments vor.864 Die VO 1/2003 ist damit ein Gesetzgebungsakt i.S.d. Art. 289 Abs. 3 AEUV. Damit sind Eingriffe durch kartellrechtliche Bußgelder primärrechtlich allein durch „Gesetze“ im soeben beschriebenen Sinne erlaubt. dd) Der Gesetzesbegriff des Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC für mitgliedstaatliche Strafnormen Der weite Wortlaut des Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC, der an einen bloßen Rechtsvorbehalt erinnert, erklärt sich vielmehr daraus, dass die Mitgliedstaaten so die Besonderheiten ihrer nationalen Rechtsordnungen bei der Ausgestaltung der Strafbarkeitsgrundlagen beachten können, wenn sie gem. Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC bei der Durchführung des Unionsrechts an die Grundrechte der GRC gebunden sind.865 Auf diesem Weg kann im common law als nationale Strafbarkeitsgrundlage auch Gewohnheits- oder Richterrecht genügen.866 Paralleles gilt für das Völkerstrafrecht nach Art. 49 Abs. 2 GRC. So spricht die Überschrift des Art. 49 GRC, anders als die des Art. 7 EMRK, die entsprechend dem weiten Gesetzesbegriff der EMRK „Keine Strafe ohne Gesetz“ (engl. „No punishment withoit law“, frz. „Pas de peine sans loi“) lautet, verhalten und ungewöhnlich867 vom Grundsatz868 der „Gesetzmäßigkeit“ (engl. „legality of criminal offences and penalties“, frz. „principes de légalité des délits et des peines“).869 Unter dieser Überschrift illustriert Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC mithin die Relativität des (strafrechtlichen) Gesetzesvorbehalts.870 864
Zu Art. 352 AEUV als Generalermächtigung noch näher unten S. 386 ff. Vgl. Alber, in: Tettinger/Stern, KöKo, GRC, Art. 49 Rn. 4; Dannecker, ZStW 117 (2005), 697, 745 f.; Eser, in: Meyer, GRC, Art. 49 Rn. 13a; Voet van Vormizeele, in: Schwarze u. a., EU-Kommentar, Art. 49 GRC Rn. 6. 866 Eser, in: Meyer, GRC, Art. 49 Rn. 13a; Jarass, GRC, Art. 49 Rn. 10. Zu Art. 7 Abs. 1 EMRK siehe bereits oben S. 141 f. 867 Dazu näher Schuhr, in: Kudlich/Montiel/Schuhr, Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 255, 263. 868 Trotz Begriffsidentität der Überschrift handelt es sich bei Art. 49 GRC nicht um einen Grundsatz i.S.d. Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1, 3 EUV, Art. 52 Abs. 5 GRC; Alber/Widmaier, EuGRZ 2006, 113, 114; Jarass, EU-Grundrechte, § 42 Rn. 2; Schaut, Europ. Strafrechtsprinzipien, S. 51 f.; grundsätzlich auch Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der EU, Rn. 491. 869 Vgl. auch Dannecker, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 41. 870 Vgl. dazu bereits die Nachw. in Teil 2 Fn. 773. 865
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ee) Die Position der Rechtsprechung des EuGH Nur scheinbar anders liegt die Position der Rechtsprechung des EuGH. Zur Begründung der Konkretisierungsbefugnis gesetzlicher Merkmale der Rechtsprechung, insbesondere unbestimmter Rechtsbegriffe,871 formuliert sie zwar, dass „nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die Klarheit des Strafgesetzes nicht nur anhand des Wortlauts der einschlägigen Bestimmung zu beurteilen [ist], sondern auch anhand der Präzisierungen durch eine ständige und veröffentlichte Rechtsprechung. Insoweit hat der Gerichtshof anerkannt, dass nach dieser Rechtsprechung der Begriff ,Recht‘ im Sinne von Art. 7 Abs. 1 EMRK dem in anderen Bestimmungen der EMRK verwendeten Begriff ,Gesetz‘ entspricht und sowohl das Gesetzes- als auch das Richterrecht umfasst.“872 Der Verweis auf die Rechtsprechung des EGMR ist methodisch zutreffend.873 Missverständlich bleibt aber das unreflektierte Heranziehen der EMRK-Rechtslage. Danach genügen wie bei der Verpflichtung der Mitgliedstaaten nach Art. 51 Abs. 1 GRC auch Richter- und Gewohnheitsrecht zur (alleinigen) Strafbegründung.874 Allerdings bezieht sich die Rechtsprechung des EuGH jeweils auf ein bestehendes Gesetz im obigen Sinne.875 Der Hinweis auf das Ausreichen bloßen „Rechts“ ist daher vor dem Hintergrund der Ausfüllung des bestehenden gesetzlichen Rahmens zu verstehen. Dort hat er auch in der Sache seine Berechtigung. Innerhalb des tatbestandlichen Rahmens ist die Rechtsprechung zur Auslegung berufen.876 Auf diesem Weg kommt der Rechtsprechung die Konkretisierung der gesetzlichen Voraussetzungen, insbesondere der unbestimmten Rechtsbegriffe, zu, was in stetiger Praxis die Vorhersehbarkeit der Bußgeldentscheidungen maßgeblich gewährleistet.877 Dem Richter- und Gewohnheitsrecht kommt so keine strafbegründende Wirkung zu. Die genannte Rechtsprechungspraxis ist daher im Hinblick auf den Maßstab des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips unbedenklich.878
871
Dazu noch eingehend unter der Garantie des Bestimmtheitsgrundsatzes S. 187 ff. EuGH, Urt. v. 22. 5. 2008, Rs. C-266/06 P – Degussa/Kommission, Slg. 2008, I-81*, Rn. 40 (Binnenzitat ausgespart); ähnlich EuG, Urt. v. 27. 6. 2012, Rs. T-372/10 – Bolloré/ Kommission, noch nicht in amtl. Slg., Rn. 35 f.; vgl. auch bereits EuGH, Urt. v. 28. 6. 2005, verb. Rs. C-189/02 P, C-202/02 P, C-205/02 P bis C-208/02 P und C-213/02 P – Dansk Rørindustri u. a./Kommission, Slg. 2005, I-5425, I-5567 Rn. 216. 873 Dazu bereits S. 73 ff. und S. 112 ff. 874 Siehe oben S. 141 f. 875 Die in Teil 2 Fn. 872 genannten Urteile beziehen sich jeweils auf Art. 23 Abs. 2 VO 1/ 2003 bzw. die Vorgängervorschrift des Art. 15 VO 17/62 (Verordnung Nr. 17, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages, ABl. 1962 P 13, S. 204). 876 Dazu bereits oben S. 64 ff. 877 So auch die weitere Argumentation der Rspr.; EuGH, Urt. v. 22. 5. 2008, Rs. C-266/06 P – Degussa/Kommission, Slg. 2008, I-81*, Rn. 45 f.; EuG, Urt. v. 27. 6. 2012, Rs. T-372/10 – Bolloré/Kommission, noch nicht in amtl. Slg., Rn. 38 ff. 878 Vertiefend noch unten S. 200 ff. 872
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
ff) Das „innerstaatliche“ und „internationale“ Recht Auf Ebene der Europäischen Union genügt nach alledem anders als für den allgemeinen grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt nicht ein bloß formelles Gesetz im Sinne obiger879 Definition als Rechtsgrundlage der Strafbarkeit. Zusätzlich muss es unter Beteiligung des EP, mithin in einem Gesetzgebungsverfahren nach Art. 289 Abs. 1, 2 AEUV entstanden sein. Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC nimmt dazu auf das „innerstaatliche“ und „internationale“ Recht Bezug. Diese auf Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK zurückgehende Formulierung bezieht mit dem „internationalen Recht“ die Tatbestände des Völkerstrafrechts ein.880 Soweit die Mitgliedstaaten gem. Art. 51 Abs. 1 GRC an die GRC gebunden sind, ist die Terminologie des „innerstaatlichen“ Rechts passend. Die Kategorie des supranationalen Strafrechts sieht Art. 49 GRC hingegen nicht ausdrücklich vor. Trotz terminologischer Disharmonie lässt sich das Unionsrecht jedoch unter die Variante des „innerstaatlichen“ Rechts subsumieren.881 Das Begriffspärchen lässt sich so klar abgrenzen. Das „innerstaatliche Recht“ umfasst das Recht der jeweils an die GRC gebundenen Hoheitsgewalt, das „internationale Recht“ das Völkerrecht, das auch diese Hoheitsgewalt als „externes“ Recht bindet. Diese Zuordnung liegt schließlich auf der Linie der geplanten terminologischen Anpassungen der EMRK im Zuge des Beitritts der EU. Der neue Art. 59 Abs. 2 lit. e EMRK882 soll u. a. bestimmen, dass das „innerstaatliche Recht“ auch auf die EU zu beziehen sei.883 Diese Zuordnung würde gem. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC wiederum für Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC bedeutsam.884 c) Zwischenergebnis Die hier einschlägige Rechtsgrundlage der Strafbarkeit findet sich in Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a VO 1/2003. Der Verordnung kommt dabei gem. Art. 288 Abs. 2 S. 2 AEUVunmittelbare Wirkung zu und kann so Rechte und Pflichten des Einzelnen begründen. Sie wurde gemäß der präzisen, das Bußgeld als Sanktion benennenden, 879
S. 150. Eser, in: Meyer, GRC, Art. 49 Rn. 14 ff.; zu Art. 7 EMRK EGMR, Urt. v. 19. 9. 2008 (GK), Nr. 9174/02 Korbely/Ungarn, Rn. 73 ff. = NJOZ 2010, 515, 518 ff.; Kadelbach, in: Dörr/ Grote/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 15 Rn. 38; Kreicker, in Sieber u. a., Europäisches Strafrecht, § 51 Rn. 81. 881 Anders wohl – im Ergebnis freilich letztlich unbedeutend – Eser, in: Meyer, GRC, Art. 49 Rn. 15. 882 Draft Agreement on the Accession of the European Union to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, CDDH-UE (2011) 16 v. 19. 7. 2011; inoffizielle deutsche Übersetzung in BR-Drs. 563/11. 883 Zu dieser und weiteren Anpassungen der EMRK an einen Beitritt der EU näher Obwexer, EuR 2012, 115, 141 f.; auf gleicher Linie lag bereits die Praxis von EKMR und EGMR, die gemeinschaftsrechtliche Rechtsbehelfe unter Art. 35 EMRK sowie gemeinschaftsrechtliche Schadensersatzansprüche unter Art. 41 EMRK berücksichtigen und diese dadurch als „innerstaatlich“ ansehen, vgl. Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290, 335 f. m.w.N. 884 Zur dynamischen Inbezugnahme der EMRK siehe oben S. 117. 880
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primärrechtlichen Ermächtigung des Art. 103 Abs. 1, 2 lit. a AEUV,885 wenn auch nur in Form der Anhörung, unter Beteiligung des Europäischen Parlaments vom Rat auf Vorschlag der Kommission beschlossen. Alle drei Legitimationsstränge laufen somit zusammen, sodass die Norm hinreichende demokratische Legitimation erhält. Art. 23 VO 1/2003 ist mithin taugliche gesetzliche Grundlage einer Strafbarkeit. Auch im Unionsrecht kann daher terminologisch von einem Gesetzlichkeitsprinzip gesprochen werden, soweit eine Strafbarkeit aus Unionsrecht in Frage steht. Es geht über den allgemeinen grundrechtlichen Vorbehalt des formellen Gesetzes886 hinaus. In der Terminologie der Verträge kann nach hier vertretener Auffassung887 plastisch für eine supranationale Strafbarkeit formuliert werden: „Keine Strafe ohne Gesetzgebungsakt“. 2. Nullum crimen sine lege scripta Aus den Vorgaben dieses Gesetzesvorbehaltes ergibt sich – wie schon aus dem allgemeinen unionsrechtlichen Gesetzesvorbehalt888 –, dass als unionsrechtliche Strafvorschrift nur eine geschriebene Norm genügt.889 Die EMRK wiederum verzichtet auf dieses Schriftlichkeitserfordernis,890 was den Gewährleistungsgehalt des Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC jedoch nach Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC, wie gesehen, nicht einschränkt. Für legislative Rechtsetzungsverfahren wird gem. Art. 297 Abs. 1 UAbs. 3 S. 1 AEUV die Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union verlangt. Gleiches gilt gem. Art. 297 Abs. 2 UAbs. 2 S. 1 AEUV, wenn Art. 103 AEUV entgegen der hier vertretenen Auffassung891 als nicht-legislatives Rechtsetzungsverfahren eingeordnet wird. Dies gewährleistet auch die – und hier werden die qualitativen Anforderungen der EMRK an den Rechtssatz wiederaufgegriffen – 885 Dies räumt dem Legitimationsstrang des Primärrechts über die nationalen Zustimmungsgesetze erhöhtes Gewicht ein. Vgl. dazu Rieckhoff, Vorbehalt des Gesetzes, S. 230 f.; Schröder, Europäische Richtlinien und deutsches Strafrecht, S. 124 f. 886 Zur hier verwandten Terminologie des formellen Gesetzes siehe S. 150. 887 S. 160 ff. 888 Siehe dazu S. 153. 889 Speziell zum strafrechtlichen Gesetzesvorbehalt Schaut, Europ. Strafrechtsprinzipien, S. 1262 ff.; wohl auch Dannecker, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 42; Schuhr, in: Kudlich/Montiel/Schuhr, Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 255, 264 f. Nach Schuhr, a.a.O., S. 255, 265 scheint auch der EuGH dies vorauszusetzen. Dies ergibt sich allerdings bereits aus seiner Rspr. zum allgemeinen Gesetzesvorbehalt. 890 Vgl. EGMR, Urt. v. 22. 11. 1995, Nr. 20166/92 – S.W./Vereinigtes Königreich, Série A n8 335-B, 30, 41 ff. Rn. 35 ff. = ÖJZ 1996, 356, 356 f.; Urt. v. 22. 11. 1995, Nr. 20190/92 – C.R./ Vereinigtes Königreich, Série A n8 335-C, 58, 68 ff. Rn. 33 ff.; Urt. v. 22. 3. 2001 (GK), Nr. 34044/96, 35532/97 und 44801/98 – Streletz, Keßler und Krenz/Deutschland, Reports of judgment and decisions 2001-II, 357, 381 f. Rn. 50 = NJW 2001, 3035, 3037; Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 7 Rn. 4; Kreicker, in: Sieber u. a., Europäisches Strafrecht, § 51 Rn. 82. 891 Siehe oben S. 160 f.
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
Zugänglichkeit für den Bürger.892 Für unionsrechtliche Strafvorschriften folgt aus diesem Schriftlichkeitsgebot (nullum crimen sine lege scripta) ein Verbot von Gewohnheitsrecht.893 Dieses umfasst Rechtsregeln, die nicht förmlich verfasst wurden, sondern sich vielmehr auf eine gemeinsame Rechtsüberzeugung der Mitglieder der Rechtsgemeinschaft von seiner Geltung und stete Übung gründen.894 Auch richterliche Rechtsfortbildung kann bei Vorliegen der genannten Voraussetzungen zu Gewohnheitsrecht werden.895 Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip steht damit einer ständigen Bußgeldpraxis der Kommission und der Rechtsprechung des Gerichtshofs entgegen, die im Geltungsrang von Gewohnheitsrecht strafbegründende oder strafschärfende Vorschriften entwickelt.896 Das Bemühen der Kommission etwa durch symbolische Bußgelder behutsam eine stetige Bußgeldpraxis zu etablieren, die zulasten der Betroffenen über die gesetzlichen Voraussetzungen hinausreicht,897 erweist sich, auch wenn sie die Vorhersehbarkeit für die Adressaten sichert, damit als vergeblich. Der Kommission kommt wie der Rechtsprechung nicht die Kompetenz zu, Strafbarkeitsgrundlagen zu schaffen. Damit zeigt sich der formale Gehalt des nullum crimen-Grundsatzes. Auch die Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze zur Schließung von Strafbarkeitslücken im Unionsrecht widerspricht, selbst wenn sie mit der überwiegenden Auffassung dem Primärrecht zuzuordnen sind,898 mangels Kodifikation dem Schriftlichkeitsgebot. Als geschriebene und im Amtsblatt veröffentlichte Norm899 genügt hingegen Art. 23 Abs. 2 VO 1/2003 dieser Teilgarantie. 3. Nullum crimen sine lege certa Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK, Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC enthalten den Begriff der Bestimmtheit selbst nicht. Er wird allein aus dem ausdrücklich normierten Rück892 Zu den qualitativen Anforderungen der EMRK an das Gesetz (engl. „quality of the law“, frz. „qualité de la ,loi‘“) siehe oben S. 144 f. 893 So im Ergebnis auch zu Art. 49 GRC Dannecker, ÖZK 2010, 171, 176 f.; ders., in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 42; Jarass, GRC, Art. 49 Rn. 10; Rieckhoff, Vorbehalt des Gesetzes, S. 163, 226 f.; zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen Pascu, Strafrechtliche Fundamentalprinzipien im Gemeinschaftsrecht, S. 137; Tsolka, Der allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 82; a.A. Eser, in: Meyer, GRC, Art. 49 Rn. 13 f., der aber restriktive Voraussetzungen aus dem Schutzzweck des Gesetzmäßigkeitserfordernisses, dem übergeordneten Berechenbarkeits- und Vertrauensgrundsatz, herleitet. 894 Bleckmann/Pieper, in: Dauses, Hdb. des EU-Wirtschaftsrechts, Bd. 1, B. I. Rn. 164 [5. Lfg.: April 1997]; Pascu, Strafrechtliche Fundamentalgarantien im Gemeinschaftsrecht, S. 114; zum dt. Recht BVerfGE 22, 114, 121. 895 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 258 f. Vgl. auch die Schlussfolgerung bei Bleckmann/Pieper, in: Dauses, Hdb. des EU-Wirtschaftsrechts, B. I. Rn. 164 [5. Lfg.: April 1997]. 896 So auch Tsolka, Der allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 82 zum strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzip aus allgemeinem Rechtsgrundsatz. 897 Siehe noch näher unten S. 173 f. 898 Siehe die Nachw. aus Teil 2 Fn. 144. 899 ABl. 2003 L 1, S. 1, 16 f.
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wirkungsverbot gefolgert. Damit das Gesetz die maßgebliche Grundlage der Strafbarkeit (und Strafe) sein kann, muss es hinreichend bestimmt gefasst sein.900 Nur so kann eine anhand der abstrakten Merkmale der Rechtsnorm gleiche Rechtsanwendung und eine ausreichende Vorhersehbarkeit hergestellt werden901 sowie ihre formelle Absicherung durch Gewaltenteilung gewahrt bleiben. Zurückzukommen ist mithin auf die zweite der qualitativen Anforderungen der EMRK an das Gesetz.902 Das Bestimmtheitsgebot richtet sich damit an den Gesetzgeber.903 Es verlangt, dass die Rechtsnorm die Voraussetzungen der Strafbarkeit derart umschreibt, dass sich Tragweite und Anwendungsbereich aus dem Wortlaut ergeben oder durch Auslegung (durch die Gerichte) ermitteln lassen.904 Im mehrsprachigen Unionsrecht sind diese Anforderungen an sämtliche verbindliche Sprachfassungen zu stellen.905 Da eine gestufte Gesetzgebung zwischen Gesetzgeber und Verwaltung im unionsrechtlichen Kartellrecht nicht in Frage steht, ist sich auf das Kriterium der Vorhersehbarkeit für den Bürger zu konzentrieren. Zunächst ist die Reichweite des strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes zu klären, bevor auf seine Intensität einzugehen ist. So kann dann bestimmt werden, wann dem Bürger die Strafbarkeit noch vorhersehbar ist. a) Die Anwendbarkeit auch auf die Merkmale der Ausfüllungsnorm des Art. 101 AEUV Nach Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 kann die „Kommission gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen durch Entscheidung Geldbußen verhängen, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig gegen Artikel 81 des Vertrags ver900
Eser, in: Meyer, GRC, Art. 49 Rn. 20. Eser, in: Meyer, GRC, Art. 49 Rn. 20. 902 Dazu siehe oben S. 144 f. 903 König, Das Europäische Verwaltungssanktionsrecht und die Anwendung strafrechtlicher Rechtsgrundsätze, S. 186. Vgl. zum dt. Recht BVerfGE 73, 206, 234 f.; 80, 244, 256 f.; Dannecker, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK, StGB, Bd. 1, § 1 Rn 180; Hassemer/Kargl, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, NK, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 14; Schmitz, in: Joecks/Miebach, MüKo, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 5 f. 904 EGMR, Urt. v. 25. 5. 1993 , Nr. 14307/88 – Kokkinakis/Griechenland, Série A n8 260-A, 6, 22 Rn. 52 = ÖJZ 1994, 59, 61; Urt. v. 22. 6. 2000, Nr. 32492/96, 32547/96, 32548/96, 33209/ 96 und 33210/96 – Coëme u. a./Belgien, Reports of judgments and decisions 2000-VII, 9, 60 f. Rn. 145; EuGH, Urt. v. 3. 5. 2007, Rs. C-303/05 – Advocaten voor de Wereld, Slg. 2007, I-3633, I-3695 Rn. 50; Urt. v. 22. 5. 2008, Rs. C-266/06 P – Degussa/Kommission, Slg. 2008, I-81*, Rn. 39; EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1563 f. Rn. 140; Urt. v. 27. 6. 2012, Rs. T-372/10 – Bolloré/Kommission, noch nicht in amtl. Slg., Rn. 35; Alber, in: Tettinger/Stern, KöKo, GRC, Art. 49 Rn. 6; Eser, in: Meyer, GRC, Art. 49 Rn. 21; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 7 Rn. 7; Renzikowski, in: Pabel/Schmahl, IntKomm, EMRK, Bd. 1, Art. 7 Rn. 52 f. [12. Lfg.: Mai 2009]; ebenso zu Art. 103 Abs. 2 GG die st. Rspr. des BVerfG; siehe nur BVerfGE 92, 1, 12. Zur einheitlichen Betrachtung von gesetzlicher Norm und ihrer Auslegung durch die Gerichte noch unten S. 200 f. 905 So auch Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 458. Zum spiegelbildlichen Analogieverbot noch näher unten S. 210 f. 901
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
stoßen.“906 Schwierigkeiten bereitet hier, dass die Sanktionsnorm lediglich das Merkmal des Adressaten („Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen“) und die subjektive Tatseite („vorsätzlich oder fahrlässig“) selbst enthält. Auf diese Merkmale ist das Gesetzlichkeitsprinzip nach dem bisher Behandelten anwendbar. aa) Der Verweis auf das Kartellverbot des Art. 81 EG bzw. Art. 101 AEUV Das zentrale Tatbestandsmerkmal des Verstoßes gegen das Kartellverbot gewinnt seinen Gehalt erst durch eben jene Verweisung auf Art. 81 des EG-Vertrags. Diese Norm wurde jedoch nach Art. 5 Abs. 1 Vertrag von Lissabon907 i.V.m. der Übereinstimmungstabelle908 als Art. 101 AEUV unveränderter Bestandteil des neuen AEUV. Die den Anforderungen des nullum crimen-Grundsatzes entsprechende geschriebene gesetzliche Brücke zwischen den Vorschriften schlägt Art. 5 Abs. 3 Hs. 1 Vertrag von Lissabon.909 Danach sind „die in anderen Rechtsinstrumenten oder Rechtsakten enthaltenen Verweise auf Erwägungsgründe, Artikel, Abschnitte, Kapitel, Titel und Teile des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft in der Fassung dieses Vertrags […] als Verweise auf die nach [Art. 5 Abs. 1 Vertrag von Lissabon] umnummerierten Erwägungsgründe, Artikel, Abschnitte, Kapitel, Titel und Teile der genannten Verträge zu verstehen.“ Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a VO 1/2003 nimmt somit nunmehr Art. 101, 102 AEUV in Bezug. Des Verweises auf eine den Wirkungen gleiche – naturgemäß nicht im obigen Sinne gesetzliche – Rechtsprechungspraxis des EuGH910 wie der nach völkerrechtlichen Grundsätzen bestehenden Fortgeltung des EG bedarf es demnach nicht.911
906 Mit dem Vertrag von Lissabon wurde diese Handlungsform abgelöst und in die des Beschlusses überführt, Art. 288 Abs. 4 AEUV. Vgl. dazu Art. 5 Abs. 3 Vertrag von Lissabon und sogleich nächster Abschnitt. 907 Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, ABl. 2007 C 306, S. 1, ber. ABl. 2008 C 111, S. 56, ABl. 2009 Nr. C 290, S. 1. 908 Übereinstimmungstabellen nach Art. 5 des Vertrags von Lissabon, ABl. 2007 C 306, S. 1, 202. 909 So auch Böse, in: Graf/Jäger/Wittig, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, Art. 23 KartellVO Rn. 12; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 3 [77. Lfg.: Oktober 2012]. 910 EuGH, Urt. v. 29. 3. 2011, verb. Rs. C-201/09 P und C-216/09 P – ArcelorMittal Luxembourg/Kommission und Kommission/ArcelorMittal u. a., Slg. 2011, I-2239, I-2331 ff. Rn. 55 ff.; Urt. v. 29. 3. 2011, Rs. C-352/09 P – Thyssen Krupp Nirosta, Slg. 2011, I-2359, I-2433 ff. Rn. 65 ff., I-2436 f. Rn. 80 ff. 911 So aber die Begründung von Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 56.
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bb) Die Blanketttechnik Durch diese Verweisung bedient sich der Gesetzgeber der sog. Blanketttechnik.912 Auch diese Gesetzgebungstechnik, bei der das Blankettgesetz lediglich die Strafbarkeitsvoraussetzungen sowie Art und Maß der Strafe regelt, die Gebots- oder Verbotsnorm aber einem anderen Gesetz oder untergesetzlichen Norm (sog. Ausfüllungsnorm) zu entnehmen ist,913 ist durch den strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz nicht versperrt.914 cc) Das dogmatische Problem der Normambivalenz An den Tatbestand des Art. 101 Abs. 1 AEUV ist jedoch nicht nur die strafrechtliche Sanktion der Geldbuße nach Art. 23 VO 1/2003 geknüpft. Ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV löst auch in Form der Nichtigkeit der Vereinbarungen und Beschlüsse nach Art. 101 Abs. 2 AEUV sowie im Falle von Vorsatz oder Fahrlässigkeit in Form nationaler Schadensersatzansprüche, in Deutschland gem. § 33 Abs. 3 S. 1 GWB, zivilrechtliche Rechtsfolgen aus. Zudem sieht die VO 1/2003 unterschiedliche verwaltungsrechtliche Entscheidungen der Kommission für einen Kartellrechtsverstoß inklusive der verwaltungsrechtlichen Sanktion des Zwangsgeldes gem. Art. 24 VO 1/2003 vor. Bei der kartellrechtlichen Verhaltensnorm des Art. 101 Abs. 1 AEUV handelt es sich mithin um eine ambivalente Norm.915 Die strengen strafrechtlichen Grundsätze weichen aber nicht unerheblich von den Auslegungsmaximen des Zivil- und Verwaltungsrechts ab. So ist das Verwaltungsverfahren der VO 1/2003 insbesondere von der Maxime effektiven Verwaltungshandelns geprägt.916 Zu klären ist daher, ob diese Grundsätze allein die Rechtsfolgenseite der jeweiligen Normen beherrschen oder ob sie bereits auf den identischen, jeweils in Bezug genommenen, Tatbestand des Art. 101 Abs. 1 AEUV anzuwenden sind.917 Diese Frage ist von Bedeutung, da Art. 101 AEUV zahlreiche unbestimmte Rechtsbegriffe enthält und die tatbestandlichen Konturen daher recht weit sind. Im Rahmen der vorliegenden Fragestellung bedeutet dies, zu klären, ob das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip auch für die – zentrale – Auslegung des Art. 101 Abs. 1 AEUV heranzuziehen ist. 912 Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 57; Dannecker/ Müller, in: Wabnitz/Janovsky, Hdb. des Wirtschafts- u. Steuerstrafrechts, Kap. 18 Rn. 194; Vogel, in: Sieber u. a., Europäisches Strafrecht, § 6 Rn. 9. 913 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. VI, Art. 103 Abs. 2 Rn. 199 [30. Lfg.: Dezember 1992]; vertiefend Enderle, Blankettstrafgesetze, S. 80 ff. 914 Zum dt. Recht Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 111; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig, GG, Bd. VI, Art. 103 Abs. 2 Rn. 201 [30. Lfg.: Dezember 1992]; eingehend Tiedemann, Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht, S. 94, 239 ff. m. w. N. 915 Papakiriakou, Das Europ. Unternehmensstrafrecht in Kartellsachen, S. 21. 916 Vgl. EuGH, Urt. v. 14. 7. 1972, Rs. 48/69 – ICI/Kommission, Slg. 1972, 619, 654 Rn. 17/ 18: „Grundsatz der Ökonomie des Verwaltungshandelns“. 917 Vgl. Papakiriakou, Das Europ. Unternehmensstrafrecht in Kartellsachen, S. 21.
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Im Folgenden sollen für das angesprochene Problem der sog. Normambivalenz die in der Literatur diskutierten Lösungsansätze skizziert und anschließend auf die Lösung durch die europäischen Organe eingegangen werden. (1) Normspaltung Zunächst kommt in Betracht, die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 101 Abs. 1 AEUV je nach dem in Frage stehenden Rechtsgebiet nach dessen Grundsätzen auszulegen.918 Die ambivalente Norm des Art. 101 Abs. 1 AEUV würde inhaltlich gespalten. Nach dieser Lösung ist Art. 101 Abs. 1 AEUV nach dem Maßstab des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips auszulegen. So sehr die strafrechtlichen Grundsätze für strafrechtliche Normen unumgänglich sind, so wenig sei ihre Strenge hingegen für das anderen Funktionen dienende Verwaltungs- wie Zivilrecht gerechtfertigt.919 (2) Einheitliche Auslegung nach strafrechtlichen Grundsätzen Den Gegenentwurf zu einer Normspaltung bildet eine einheitliche Auslegung des Tatbestandes des Kartellverbots. Dazu werden im Interesse der Rechtssicherheit allein die Auslegungsgrundsätze eines Rechtsgebietes herangezogen. Aus strafrechtlicher Sicht kommt zunächst in Betracht, Art. 101 Abs. 1 AEUV einheitlich nach dem strafrechtlichen Maßstab auszulegen.920 Diese Lösung hat für sich, dass in jeder Hinsicht dem strengsten Maßstab genüge getan wird.921 Einher mit der Rechtseinheit gehen schließlich auch Argumente der Rechtssicherheit.922 Auch nach 918
So Kindhäuser, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK; Kartellrecht, Bd. II, Art. 81 EG Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 22 [69. Lfg.: August 2009]; für das nationale dt. Recht Otto, in: Heinze, FS Gitter, S. 715, 718; Richter, Die Diskriminierung als Kartellordnungswidrigkeit, S. 16 ff.; Schulze-Osterloh, in: Kohlmann, Strafverfolgung und Strafverteidigung, S. 43, 52 f.; Tiedemann, in: Grünwald u. a., FS Schaffstein, S. 195, 198; Wilke, Grenzen einheitlicher Rechtsanwendung von Ver- und Geboten des Wertpapierhandelsgesetz (WpHG), S. 299 ff. 919 Otto, in: Heinze, FS Gitter, S. 715, 718. 920 So Jüchser, Die Beteiligung am Kartell, S. 108 f.; wohl auch Paschke, in: Hirsch/ Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 81 EG Rn. 3; auch Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 59; Hamann, Das Unternehmen als Täter im europ. WettbR, S. 25 f. halten zwar eine unterschiedliche Auslegung für möglich, plädieren aber für eine einheitliche Auslegung. Für eine einheitliche Auslegung nach strafrechtlichen Grundsätzen im dt. Recht etwa BVerfGE 21, 292, 305; 81, 70, 94; BGH, NJW 1978, 1856; Achenbach, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. VI, Vor. § 81 GWB Rn. 44 [61. Lfg.: Oktober 2006]; Dannecker/Biermann, in: I/M; WettbR, Bd. II, Vor. § 81 GWB Rn. 54; Enderle, Blankettstrafgesetze, S. 208 ff.; Fischer, ZGR 1978, 235, 239; Möhring, GRUR 1968, 541, 544 f.; Raisch, ZHR 128 (1966), 161, 165; Rittner/Dreher, Europäisches und deutsches Wirtschaftsrecht, § 14 Rn. 82. 921 Vgl. Raisch, ZHR 128 (1966), 161, 165. 922 BGH, NJW 1978, 1856; Dannecker/Biermann, WettbR, Bd. I/2, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 59; Bd. II, Vor. § 81 GWB Rn. 54; Hamann, Das Unternehmen als Täter im europ. WettbR, S. 25 f.
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dieser Lösung findet das Gesetzlichkeitsprinzip bei der Auslegung des Art. 101 Abs. 1 AEUV Anwendung. (3) Einheitliche Auslegung nach nicht-strafrechtlichen Grundsätzen, aber korrigierende restriktive Mechanismen Eine einheitliche Auslegung nach nicht strafrechtlichen Grundsätzen923 kann nur vornehmen, wer die Existenz spezifisch strafrechtlicher Grundsätze verneint.924 Für diejenigen, die dies nicht tun, ist eine weite, nicht strafrechtlichen Grundsätzen genügende Auslegung des Art. 101 Abs. 1 AEUV daher nur gangbar, wenn die so zwischenzeitlich ausgedehnte Strafbarkeit durch nachträgliche Korrektive wieder eingeschränkt wird.925 Vorgeschlagen werden Einschränkungen durch einen mittelbaren Rückgriff auf das in dubio pro reo-Prinzip, im Bereich der Schuldvoraussetzungen oder durch das Opportunitätsprinzip.926 (4) Die europäische Praxis Vor diesem theoretischen Hintergrund soll nunmehr die Position der Kommission sowie die Rechtsprechung des Gerichtshofs beurteilt werden. Eine Normspaltung wird nicht vorgenommen.927 Die Organe der Europäischen Union legen Art. 101 Abs. 1 AEUV vielmehr einheitlich aus. Sie nehmen seit jeher eine extensive Auslegung mit Instrumenten zur Kompensation rechtsstaatlicher Bedenken vor.928 Damit haben sie sich für die flexibelste Lösung entschieden.929 923 So Raisch/Maasch, in: Andreae, FS Benisch, S. 201, 216 f., die freilich die Existenz strafrechtsspezifischer Auslegungsregeln verneinen, indem sie die Analogie zulasten des Täters der systematischen Auslegung zuordnen; mit Modifikationen in Richtung strafrechtlicher Gewährleistungen zudem Sandrock, Die Einheit der Wirtschaftsordnung, S. 43 ff.; ders., DB 1973, 265, 266. Zur Einordnung dieser Modifikationen siehe Papakiriakou, Das Europ. Unternehmensstrafrecht in Kartellsachen, S. 35. 924 Vgl. Papakiriakou, Das Europ. Unternehmensstrafrecht in Kartellsachen, S. 34 f. 925 Für das EU-Kartellordnungswidrigkeitenrecht wegen der Einheitlichkeit des Verfahrens Papakiriakou, Das Europ. Unternehmensstrafrecht im Europäischen Kartellrecht, S. 36 ff. 926 Papakiriakou, Das Europ. Unternehmensstrafrecht in Kartellsachen, S. 35 f. 927 Vgl. Dannecker, ZStW 177 (2005), 697, 739; ders./Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 33, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 58; Dannecker/Fischer-Fritsch, Das EG-Kartellrecht in der Bußgeldpraxis, S. 12 ff.; Papakiriakou, Das Europ. Unternehmensstrafrecht in Kartellsachen, S. 46 ff.; Tsolka, Der allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 106. Vgl. auch EuGH, Urt. v. 21. 3. 1972, Rs. 82/71 – Italienische Staatsanwaltschaft/Sail, Slg. 1972, 119, 136 Rn. 5; Urt. v. 27. 2. 1986, Rs. 238/84 – Röser, Slg. 1986, 795, 806 Rn. 15, wonach das Unionsrecht „nicht danach unterscheidet, ob das innerstaatliche Verfahren, in dem der Vorabentscheidungsantrag gestellt worden ist, ein Strafverfahren oder ein anderes Verfahren ist. 928 Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 33; Papakiriakou, Das Europ. Unternehmensstrafrecht in Kartellsachen, S. 46 ff., insb. S. 64 ff. zu den Kompensationsmechanismen; Tsolka, Der allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 106 f.
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
Formal vorgegeben wird nunmehr, auch die Auslegung des Kartellverbots würde an den strengen strafrechtlichen Grundsätzen gemessen.930 Allerdings scheint diese Erkenntnis im Widerspruch zu den nach wie vor extensiven Ergebnissen zu stehen.931 Damit einhergehend bleiben Bestrebungen erkennbar, die Bußgeldverantwortung wieder einzuschränken. So verzichtet bereits die Kommission bei sehr extensiver Auslegung in Bagatellfällen oder in noch nicht entschiedenen Fallgestaltungen auf die Verhängung einer Geldbuße.932 Dem gleichen Streben nach größerer (rechtsstaatlicher) Vorhersehbarkeit933 dient die Verhängung von bloß symbolischen Geldbußen. Diese sind in Art. 23 VO 1/2003 zwar nicht vorgesehen, allerdings hat die Kommission dieses Instrument in Rn. 36 der Bußgeldleitlinien aufgenommen. In dem ersten Fall der Bußgeldverhängung gegen einen Kartellgehilfen hat die Kommission dementsprechend (lediglich) ein symbolisches Bußgeld von 1.000 Euro gegen die AC-Treuhand AG verhängt und damit die Bußgeldverantwortung auf der verfahrensrechtlichen Ebene des Opportunitätsprinzips wieder eingeschränkt.934 Gefolgt wurde dieses aber sogleich von der Ankündigung, zukünftig eine konsequente Bebußung vorzunehmen.935 Auf diesen Wegen bemüht sich die Kommission, der Sache nach strafrechtliche Garantien, namentlich die gebotene Vorhersehbarkeit des Gesetzlichkeitsprinzips, zu wahren. Das EuG billigte dieses Vorgehen.936 (5) Stellungnahme Wird die Geltung des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips im Kartellbußgeldrecht anerkannt, so muss sie sich auch auf die Ausfüllungsnorm des Blankettgesetzes erstrecken. Die Ausgestaltung eines Bußgeldtatbestandes als Blankettnorm darf nicht dazu führen, dass die spezifisch strafrechtlichen Gewährleistungen, die aufgrund der angedrohten Sanktion geboten sind, umgangen werden.937 Durch die 929 So sieht auch Papakiriakou, Das Europ. Unternehmensstrafrecht in Kartellsachen, S. 43 ff. in dieser Flexibilität („Praktikabilität“) ein entscheidendes Argument für eine einheitlich-extensive Auslegung mit rechtsstaatlichen Kompensationsmechanismen. 930 So bezieht sich die Auseinandersetzung des EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – ACTreuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1562 f. Rn. 137 mit dem Gesetzlichkeitsprinzip der Wortwahl der Überschrift nach auf die Auslegung des Art. 81 EG. 931 Dannecker, ÖZK 2010, 171, 178 versteht dieses Urteil daher im Sinne der überkommenen Praxis, dass das EuG das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip auch weiterhin nicht auf die Ausfüllungsnorm erstreckt. 932 Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 33; Tsolka, Der allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 108. 933 Zu den qualitativen Anforderungen bereits der EMRK an die Strafbarkeitsgrundlage siehe oben S. 144 f. 934 Kommission, Entsch. v. 10. 12. 2003, COMP/E-2/37.857 – Organische Peroxide, Rn. 454. 935 Kommission, Pressemitteilung IP/03/1700 vom 10. 12. 2003, abrufbar unter http://euro pa.eu/rapid/press-release_IP-03-1700_de.htm?locale=en, zuletzt besucht am 18. 11. 2014. 936 EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501. 937 Dannecker, ÖZK 2010, 171, 178; allgemein zu Art. 103 Abs. 2 GG Radtke/Hagemeier, in: Epping/Hillgruber, BeckOK, GG, Art. 103 Rn. 29.1.
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Geltung des Gesetzlichkeitsprinzips für die wenigen Voraussetzungen der Verweisungsnorm allein wäre nichts gewonnen. Die Sanktionsnorm ergibt sich erst durch das Zusammenlesen von Blankett- und Ausfüllungsnorm.938 Auch die Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 1 AEUV sind so Bestandteil der Sanktionsnorm des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003.939 Diese Gesamtheit muss dem Bestimmtheitsgrundsatz genügen.940 Die einheitlich-extensive Anwendung des Art. 101 Abs. 1 AEUV ist damit abzulehnen. Auch die das einheitlich-extensive Auslegungsergebnis korrigierenden rechtsstaatlichen Kompensationsmechanismen genügen den Anforderungen nicht. Dieser Ansatz nähert sich dem spezifisch strafrechtlichen Schutz „von der falschen Seite“. Das Schutzniveau muss stets gewahrt sein und darf nicht ergebnisabhängig im Belieben des Rechtsanwenders stehen. Allein dieser entschiede nämlich über die Vornahme rechtsstaatlicher Kompensationen. Damit verhindert dieser Ansatz etwa keine strafbegründende analoge Anwendung der gesetzlichen Straftatbestände. Zunächst wird mit einer extensiven Auslegung bereits die gesetzgeberische Strafbarkeitsentscheidung überschritten und dies im Weiteren durch eine sich – wenn auch behutsam – fortentwickelnde Praxis zu legitimieren versucht. Die Strafbarkeitsentscheidung ist damit letztlich eine des Rechtsanwenders. Wenn auch die Vorhersehbarkeit für den Normadressaten im Einzelfall gewahrt bleibt, so berücksichtigt dieser Ansatz somit nicht den gewaltenteilenden und demokratischen Gehalt des nullum crimen-Grundsatzes. Von den vorgestellten Auffassungen entsprechen somit nur die Normspaltung sowie eine einheitliche Auslegung nach strafrechtlichen Grundsätzen den Anforderungen des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips. Allerdings können beide Lösungsvorschläge nicht gänzlich überzeugen. Eine einheitliche Auslegung nach den strengen strafrechtlichen Grundsätzen kann den Anwendungsbereich zivil- und verwaltungsrechtlicher Rechtsfolgen unsachgemäß verengen. Diese beiden Rechtsgebiete werden von anderen Rechtsgrundsätzen und Prinzipien beherrscht, die sich so nur unvollkommen verwirklichen lassen. Die Besonderheiten der jeweiligen 938 Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 57; Friedmann, Die Geltung rechtsstaatlicher Grundsätze, S. 228; Tsolka, Der allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 97. 939 Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 58; König, Das Europäische Verwaltungssanktionsrecht und die Anwendung strafrechtlicher Rechtsgrundsätze, S. 192; vgl. allgemein BVerfGE 48, 48, 60 f.; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 111. 940 Dannecker, ÖZK 2010, 171, 178 f.; ders./Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 58; Friedmann, Die Geltung rechtsstaatlicher Grundsätze, S. 80; Kindhäuser/ Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 37 [77. Lfg.: Oktober 2012]; König, Das Europäische Verwaltungssanktionsrecht und die Anwendung strafrechtlicher Rechtsgrundsätze, S. 191 f.; siehe auch die Auffassung der Kommission im Fall Röser, wiedergegeben von GA Mancini, Schlussantrag v. 11. 12. 1985, Rs. 238/84 – Röser, Slg. 1986, 795, 797; zu Art. 103 GG BVerfGE 48, 48, 60 ff.; Dannecker, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK, StGB, § 1 Rn. 151 f.; Jescheck/ Weigend, Strafrecht AT, S. 111; Radtke/Hagemeier, in: Epping/Hillgruber, BeckOK, GG, Art. 103 Rn. 29.1; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. VI, Art. 103 Abs. 2 Rn. 201 [30. Lfg.: Dezember 1992]; Schmitz, in: Joecks/Miebach, MüKo, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 53.
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
Rechtsgebiete wahrt hingegen die Normspaltung. Sie sieht sich aber einem anderen schwerwiegenden Einwand ausgesetzt. Es ist nicht einzusehen, warum die Rechtsordnung ein Verhaltensgebot je nach Rechtsgebiet variiert. Ein Verhalten kann eine Rechtsordnung nur einheitlich entweder verbieten oder erlauben. Die ambivalente Verbotsnorm ist daher einheitlich auszulegen. Anwendbar sind die Grundsätze, die an die Auslegung eines grundrechtsbeschränkenden Gesetzes zu stellen sind.941 Die jeweiligen Sanktionen und ihre Verweise auf die ambivalente Norm sind verfassungs- bzw. primärrechtskonform einschränkend so auszulegen, dass sie die ambivalente Norm nur insoweit in Bezug nehmen, wie sie den jeweiligen strengeren verfassungs- bzw. primärrechtlichen Anforderungen des jeweiligen Rechtsgebiets entspricht. Für die strafrechtliche Sanktionsnorm des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 heißt dies, dass sie Art. 101 AEUV nur insoweit in Bezug nimmt, wie das Kartellverbot dem Schuldprinzip, dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und in formeller Hinsicht dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz genügt.942 Damit nimmt die Sanktionsnorm ggf. nur einen Ausschnitt der Verhaltensverbote des Art. 101 AEUV in Bezug. Der verbleibende Teil der von Art. 101 AEUV erfassten Verhaltensweisen bleibt hingegen (einheitlich) verboten, wird aber nicht strafrechtlich sanktioniert. Damit stellt sich ein sachgerechtes Ergebnis ein. Der Gesetzgeber muss nicht jede Verletzung eines Verbots bestrafen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beschränkt das Strafrecht vielmehr auf besonders schwerwiegende Verstöße. Der Gesetzgeber kann verschieden gewichtige Verstöße gegen ein Verbot mit unterschiedlichen Rechtsfolgen sanktionieren. Auf diese verwaltungs- und zivilrechtlichen Rechtsfolgen wird noch in Teil 5 zurückzukommen sein.943 b) Die Grenzen der bewussten Delegation des Gesetzgebers an die Rechtsprechung Die Anforderungen an die Bestimmtheit der Strafnormen im unionsrechtlichen Kartellrecht könnten zunächst durch die bewusste Offenheit der Tatbestände zu verringern sein. Die Tatbestände des Kartellrechts sind bewusst weit und offen gefasst, damit der Gerichtshof das Recht im Binnenmarkt dynamisch entwickeln kann.944 Entsprechend prominent hat der EuGH seine Rolle als „Motor der Integration“ ausgefüllt.945 Vergleichbar ist diese Konstellation mit der bewussten Zu941
Siehe noch unten S. 373 für das Kartellverbot des Art. 101 AEUV. Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Gesetzgeber bei der Ausgestaltung von Strafnormen siehe noch näher unten S. 223 ff. 943 S. 372 f. zum verwaltungsrechtlichen Zwangsgeld, S. 374 ff. zur zivilrechtlichen Haftung. 944 Dannecker, in: Schünemann/Suárez González, Bausteine des europ. WirtschaftsstrafR, S. 331, 345; ders., in: Eser/Huber, Strafrechtsentwicklung in Europa, Bd. 4.3, S. 101; Friedmann, Die Geltung rechtsstaatlicher Grundsätze, S. 229; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 43 [77. Lfg.: Oktober 2012]. 945 Siehe bereits oben S. 53 ff. 942
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rücknahme des deutschen Gesetzgebers bei der Ausgestaltung des Allgemeinen Teils des StGB. Hier soll das Bestimmtheitsgebot nur eingeschränkt zur Anwendung kommen.946 Hier wie dort gibt der Gesetzgeber seine Verantwortung der Gesetzgebung ein Stück weit in die Hände der Rechtsprechung. Diese soll die Regelungen näher ausgestalten. Diese Zurückhaltung ist allerdings weiterhin am Maßstab des Bestimmtheitsgebots zu messen. Auch wenn der Gesetzgeber bewusst auf die nähere Ausgestaltung der strafbegründenden Vorschriften verzichtet, so muss er, da der gewaltenteilende wie demokratische Aspekt des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzip ausschließlich im Interesse der Bürger besteht und es sich nicht um einen eigenen Rechtsverzicht handelt, seiner genuinen Aufgabe der Gesetzgebung durch hinreichend bestimmte Vorgaben an den Rechtsanwender nachkommen. Er muss die wesentlichen Voraussetzungen der Strafbarkeit selbst festschreiben.947 Das Bestimmtheitsgebot setzt dem Gesetzgeber damit Grenzen, inwieweit er die Klärung und Fortentwicklung des Rechts den Gerichten überlassen darf. Die Gerichte wiederum dürfen sich nur in diesem vom Gesetzgeber gesetzten normativen Rahmen bewegen.948 Freilich kann dieser Gestaltungsspielraum nicht zuletzt in den Vorschriften des Allgemeinen Teils des StGB durchaus beachtlich sein. Eine Überschreitung dieser Grenze durch die Rechtsprechung wird wiederum durch das Analogieverbot erfasst. Die bewusst offene Ausgestaltung der Kartellrechtsnormen kann damit nicht zu Einschränkungen des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips führen. c) Die Intensität des Bestimmtheitsgrundsatzes im unionsrechtlichen Kartellbußgeldrecht Somit ist auf die vom EuG im Urteil AC-Treuhand angedeuteten Einschränkungen des Gewährleistungsgehalts des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips im unionsrechtlichen Kartellbußgeldrecht in der Sache zurückzukommen. Das EuG hat in seinem Urteil, das freilich noch zur Rechtslage vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon und der GRC erging und sich damit ausschließlich auf die Grundrechte aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen bezieht, angemerkt, dass „die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts, insbesondere der Grundsatz der Gesetzlichkeit der Straftatbestände und Strafen (nullum crimen, nulla poena sine lege), wie er im Gemeinschaftswettbewerbsrecht Anwendung findet, nicht unbedingt dieselbe Tragweite haben müssen wie im Fall ihrer Anwendung auf eine Situation, die dem
946 So Dannecker, ÖZK 2010, 171, 176; ders., in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 173 f., 218 ff., 259 ff. m.w.N. 947 Zum dt. Recht Dannecker, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 173. 948 Zum dt. Recht BVerfGE 95, 96, 131; 105, 135, 155; Dannecker, in: Laufhütte/Rissingvan Saan/Tiedemann, LK, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 174; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. VI, Art. 103 Abs. 2 Rn. 197, 223 [30. Lfg.: Dezember 1992].
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Strafrecht im strikten Sinne unterliegt.“949 Diese Äußerung des EuG erscheint vor dem Hintergrund der Herleitung des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips durch die Rechtsprechung950 als ein Anknüpfen an den allgemeinen, abwägungsunterworfenen Grundsatz der Rechtssicherheit. In der Aussage kann das Ergebnis einer Abwägung zwischen den Geboten des Rechtsstaats und des Schutzes freien Wettbewerbs im Binnenmarkt gesehen werden, die das EuG zugunsten des letzteren bestimmt. Ein abgestufter Gewährleistungsgehalt müsste sich also durch Auslegung des Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC ermitteln lassen. Im Folgenden ist diese Rechtsprechung mithin am Maßstab des Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC zu überprüfen. Dazu ist zunächst zu ermitteln, ob der strafrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz überhaupt einer Abwägung zugänglich ist und bejahendenfalls ob sich dabei die behauptete Abstufung zwischen Kriminalstrafrecht und Strafrecht i.w.S. ergibt. Wird auch diese Frage bejaht, müssen freilich die eine Einschränkung rechtfertigenden Umstände identifiziert werden, um den Umfang der Einschränkung bestimmen zu können. aa) Der Gewährleistungsgehalt des Art. 7 EMRK als Mindestschutzniveau Bei der Betrachtung des Gewährleistungsumfangs des Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC gelangt erneut Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC in den Blick.951 Sofern mit dem EuG über eine Abstufung des Gewährleistungsgehalts außerhalb des Kriminalstrafrechts nachgedacht wird, ist erneut in Erinnerung zu rufen, dass Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC danach den Mindestschutzgehalt des Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK jedenfalls nicht unterschreiten darf. Dies gilt auch für den prätorischen Grundrechtsschutz.952 bb) Die verwaltungsrechtlichen Grundsätze als Mindestschutzniveau Des Weiteren können die allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätze, die auch im unionsrechtlichen Verwaltungsrecht Anwendung finden, keinesfalls unterschritten werden.953 Das Kartellverfahren der VO 1/2003 ist ein Verwaltungsverfahren und damit von verwaltungsrechtlichen Grundsätzen geprägt.954 Zugleich stellt die Verhängung von Bußgeldern einen Eingriff in die Grundrechte der Adressaten dar, der nach diesen Grundsätzen einer gesetzlichen Grundlage bedarf.955 Bereits nach ver949
EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1553 Rn. 113 (Binnenzitate ausgelassen). Ebenfalls pro Abstufungen argumentieren Pascu, Strafrechtliche Fundamentalprinzipien im Gemeinschaftsrecht, S. 140 f.; Tsolka, Der allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 77; das EuG-Urteil übernehmend Jarass, GRC, Art. 49 Rn. 7; Nowak, in: L/M/R, KartellR, Art. 23 VerfVO Rn. 5. 950 Dazu bereits oben S. 70 ff. 951 Dazu bereits eingehend S. 112 ff. 952 Siehe oben S. 73 ff. 953 Vgl. zum Bestimmtheitsgrundsatz BVerfGE 14, 174, 185; Tiedemann, Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht, S. 197 f. 954 Siehe bereits oben S. 103 f. 955 Dazu ausführlich bereits oben S. 146 ff.
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waltungsrechtlichen Grundsätzen wird eine „klar[e] und deutlich[e]“ Rechtsgrundlage verlangt.956 Zudem lässt sich aus diesem verwaltungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz ebenso ein verwaltungsrechtliches Analogieverbot für die Eingriffsverwaltung herleiten.957 cc) Die Sprache als Ausschluss absoluter Bestimmtheit Der Gesetzgeber muss seine Wertentscheidung allein durch Gesetz im obigen Sinne „bestimmen“, d. h. zum Ausdruck bringen. In materieller Hinsicht besteht dieses Gesetz aus einer abstrakt-generellen Regelung mit Außenwirkung.958 Mit der Beschränkung auf die Gesetzesform ist die Strafbarkeitsgrundlage auch auf die Sprache als Medium der gesetzgeberischen Wertentscheidung angewiesen. Da Worte allenfalls in ihrem Kernbereich eindeutig sind, bleiben sie in ihrem Randbereich stets unbestimmt. Ihre Bedeutung lässt sich allein durch Berücksichtigung ihres Kontextes entnehmen. Dieser ist aber erst durch Auslegung zu ermitteln. Mithin ist jede Rechtsnorm auslegungsbedürftig.959 Da jedoch keine Rangfolge der zur Auslegung heranzuziehenden Kriterien gewonnen werden kann,960 ist letztlich auch das Auslegungsergebnis nur durch Abwägung der hinter den Auslegungskriterien stehenden Prinzipien zu gewinnen.961 Das Auslegungsergebnis einer Norm ist letztlich eine Wertentscheidung des Rechtsanwenders. Über die Unbestimmtheit der Sprache kann der Gesetzgeber freilich nicht hinweghelfen. Es ist aber allgemein anerkannt, dass er sie auch nicht dergestalt verringern muss, dass er alle erdenklichen Fälle so regelt, dass sie jeweils vom Kernbereich einer Norm erfasst sind. Der Bestimmtheitsgrundsatz scheint also noch 956
EuGH, Urt. v. 9. 7. 1981, Rs. 169/80 – Zollverwaltung/Gondrand Frères, Slg. 1981, 1931, 1942 Rn. 17. 957 Siehe die Nachw. in Teil 2 Fn. 321. 958 Siehe oben S. 141 ff. 959 Vgl. EGMR, Urt. v. 26. 4. 1979 (Plenum), Nr. 6538/74 – Sunday Times/Vereinigtes Königreich, Série A n8 30, 5, 31 Rn. 49 = EGMR-E 1 (Nr. 34), 366, 371; Urt. v. 25. 3. 1983, Nr. 5947/72, 6205/73, 7052/75, 7061/75, 7107/75, 7113/75 und 7136/75 – Silver u. a./Vereinigtes Königreich, Série A n8 61, 7, 33 f. Rn. 88 = EGMR-E 2 (Nr. 21), 227, 233 f.; Urt.v. 25. 3. 1985, Nr. 8734/79 – Barthold/Deutschland, Série A n8 90, 6, 22 Rn. 47 = EGMR-E 3 (Nr. 3), 14, 27; Urt. v. 24. 5. 1988, Nr. 10737/84 – Müller u. a./Schweiz, Série A n8. 133, 6, 20 Rn. 29 = EGMR-E 4 (Nr. 6), 98, 102 f.; Urt. v. 25. 5. 1993 , Nr. 14307/88 – Kokkinakis/Griechenland, Série A n8 260-A, 6, 19 Rn. 40 = ÖJZ 1994, 59, 60; Urt. v. 12. 7. 2007, Nr. 74613/01 – Jorgic/ Deutschland, Reports of judgments and decisions 2007-III, 269, 296 Rn. 101 = NJOZ 2008, 3605, 3612; Urt. v. 12. 2. 2008 (GK), Nr. 21906/04 – Kafkaris/Zypern, Reports of judgments and decisions 2008-I, 229, 281 Rn. 141 = NJOZ 2010, 1599, 1604 f.; diese Rechtsprechung übernehmend EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1564 Rn. 141; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 7 Rn. 8; Renzikowski, in: Pabel/ Schmahl, IntKomm, Bd. 1, EMRK, Art. 7 Rn. 53 [12. Lfg.: Mai 2009]; zum dt. Recht Roxin, Strafrecht AT/I, § 5 Rn. 27. 960 Dazu bereits oben S. 58 ff. 961 Vgl. Schlehofer, JuS 1992, 572, 573 ff.
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weiteren Einschränkungen zu unterliegen. Dies wird auch unausgesprochen962 allgemein akzeptiert: Die Strafbarkeit muss sich vom Normadressaten nämlich nicht allein aus dem Wortlaut vorhersehen lassen, sondern kann sich auch auf die Auslegung durch die Gerichte stützen.963 dd) Art. 52 GRC als gesetzliche Grundlage einer Einschränkung des unionsrechtlichen strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes Den dogmatischen Ansatzpunkt einer einschränkenden Anwendung des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips bildet die Kategorie der (Grundrechts-)Schranken. Mit ihrer Hilfe kann ein Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts möglicherweise gerechtfertigt werden964 oder aber – letztlich gleichbedeutend – erst der Gewährleistungsumfang bestimmt werden. Die sachliche Berechtigung findet eine solche Rechtfertigung in einem kollidierenden Schutzgut, das im Gesetzesvorbehalt ausdrücklich genannt ist oder bei den ungeschriebenen immanenten Schranken in einem Verfassungsgut besteht. Dessen Verwirklichung bildet zugleich den legitimen Zweck als Anknüpfungspunkt der Verhältnismäßigkeitsprüfung nach Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRC. Die Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs bzw. die Einschränkung des Gewährleistungsumfangs führt damit hin zu einer Güterabwägung. Auch das unionsrechtliche strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip, wie es bislang hergeleitet wurde, könnte einer solchen Einschränkung im Wege der Abwägung unterliegen. In Betracht kommt hier der umfassende Schutz des Wettbewerbs im Binnenmarkt in Betracht.965 Auch könnte der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz zur Erfassung der Kartellgehilfen neben den Kartellanten zwingen. Die einschlägigen Schranken treffen dabei eine Aussage über die zulässigen Abwägungsposten, die eine Einschränkung des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips rechtfertigen können. Diese sollen im Folgenden identifiziert werden. (1) Das Schrankenregime der GRC Dazu ist zunächst die Schrankensystematik der GRC in den Blick zu nehmen. Nur vereinzelt finden sich grundrechtsspezifische Schranken.966 Die Grundrechtecharta 962 Gelegentlich findet sich aber der Hinweis, dass absolute Bestimmtheit schon aufgrund der Unzulänglichkeit der Sprache wie der Abstraktheit der Gesetze nicht zu erreichen und auch nicht gefordert sei; zum dt. Recht BVerfGE 126, 170, 195 f.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig, GG, Bd. VI, Art. 103 Abs. 2 Rn. 185 [30. Lfg.: Dezember1992]; Schmidhäuser, in: Selmer/von Münch, GS Martens, S. 231, 232 f., 239 ff.; Radtge/Hagemeier, in: Hillgruber/ Epping, BeckOK, GG, Art. 103 Rn. 24; siehe auch Ashworth/Horder, Principles of Criminal Law, S. 65. 963 Siehe die Nachw. in Teil 2 Fn. 904. 964 Zum Schrankenbegriff der dt. Grundrechtslehre etwa Pieroth/Schlink/Kingreen/ Poscher, Grundrechte, Rn. 222 ff. 965 Zu dieser Konfliktlage siehe bereits einleitend S. 35 f. 966 Art. 8 Abs. 2 S. 1 GRC (Schutz personenbezogener Daten) und Art. 17 Abs. 1 S. 2 GRC (Eigentumsrecht).
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sieht vielmehr in Art. 52 Abs. 1 GRC eine allgemeine Schrankenregelung vor: „Jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten muss gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.“ Wie bereits gesehen967 bezieht schließlich Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC für konventionsentsprechende Grundrechte auch die Schranken der korrespondierenden EMRK-Rechte ein. (2) Das Verhältnis von Art. 52 Abs. 1 S. 1 und Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC Während die einschränkenden grundrechtsspezifischen Schranken zur allgemeinen Schrankenklausel hinzutreten,968 gerät Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC für Grundrechte, die solchen der EMRK entsprechen, in ein Spannungsverhältnis zu Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRC, da Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC auch die Schrankenregelung der EMRK umfasst. Sieht man das EMRK-Grundrecht samt seiner Schranken durch Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC inkorporiert,969 so werden diese Regelungen vielfach970 als lex specialis gegenüber der allgemeinen Schrankenregelung des Art. 52 Abs. 1 GRC angesehen. Zugunsten des Grundrechtsberechtigten971 und zur Vermeidung systematischer Unstimmigkeiten972 werden auch die Schranken der EMRK und Art. 52 Abs. 1 GRC kumulativ angewandt.973 Zieht man die Schranken der EMRK-
967
Oben S. 115 f. Borowsky, in: Meyer, Art. 52 GRC Rn. 15a; Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der GRC, S. 262 f.; Jarass, EU-Grundrechte, § 6 Rn. 26; ders., GRC, Art. 52 Rn. 22; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 52 GRC Rn. 59; a.A. Hilf, in: Merten/Papier, Hdb. der Grundrechte, Bd. VI/1, § 164 Rn. 43: Art. 52 Ab. 1 GRC nur subsidiär. 969 Siehe die Nachw. in Teil 2 Fn. 549. 970 Alber/Widmaier, EuGRZ 2006, 113, 119; Barriga, Die Entstehung der GRC, S. 157; Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 52 Rn. 13; Bühler, Einschränkungen von Grundrechten nach der GRC, S. 262; Folz, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 52 GRC Rn. 3; Grabenwarter, in: Cremer u. a., FS Steinberger, S. 1129, 1138 f.; Schmitz, JZ 2001, 833, 838 f.; Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152, 156; W. Weiß, ZEuS 2005, 323, 330 f.; Zimmermann, in: Böllmann u. a., Menschenrechte, S. 63, 70. 971 von Danwitz, in: Tettinger/Stern, KöKo, GRC, Art. 52 Rn. 30; Molthagen, Das Verhältnis der EU-Grundrechte zur EMRK, S. 170 f.; Streinz/Michl, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 52 GRC Rn. 11. 972 Molthagen, Das Verhältnis der EU-Grundrechte zur EMRK, S. 170 f.; ähnlich, aber unter Betonung der Entstehungsgeschschichte der GRC auch Eisner, Die Schrankenregelung der GRC, S. 150 ff. 973 von Danwitz, in: Tettinger/Stern, KöKo, GRC, Art. 52 Rn. 30; Eisner, Die Schrankenregelung der GRC, S. 150 ff.; Lenaerts/de Smijter, CMLR 38 (2001), 273, 293 f.; Streinz/ Michl, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 52 GRC Rn. 11; siehe auch Ibing, Die Einschränkung der europäischen Grundrechte durch Gemeinschaftsrecht, S. 340, der das Spezialitätsverhältnis 968
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Grundrechte hingegen bloß als Hinweise für die Auslegung der Schranken der GRC heran,974 ergibt sich kein zwingender Vorrang des Abs. 3. Die Schrankenregelungen werden ebenfalls kumulativ herangezogen975 oder in das Verhältnis der Spezialität gesetzt.976 (3) Vorbehaltlose Gewährleistung des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip des Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK wird vorbehaltlos gewährleistet. Nach Art. 15 Abs. 2 EMRK ist es sogar notstandsfest.977 Einschränkungen auf Ebene der Rechtfertigung sind daher nach dem Textbefund nicht vorgesehen. Gleiches hat für Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC zu gelten.978 Denn der Mindeststandard des Art. 7 EMRK darf nicht vom entsprechenden GRC-Recht unterschritten werden.979 Dem kommen die vorgetragenen Auffassungen allesamt nach. Bei kumulativer Anwendung der Schranken setzt sich zugunsten des Bürgers immer die strengste Schrankenregelung durch, hier die Vorbehaltlosigkeit.980 Nach der Gegenauffassung verdrängt die vorbehaltlose Gewährleistung der EMRK ohnehin die allgemeine Schrankenregelung des Art. 52 Abs. 1 GRC. (4) Immanente Schranken (engl. „inherent limitations“, frz. „limitations implicites“) Gleichwohl muss diese Vorbehaltlosigkeit keine Schrankenlosigkeit bedeuten. Ähnlich der deutschen Figur der verfassungsimmanenten Schranken, könnte auch das vorbehaltlos gewährleistete strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip durch kollidierende Schutzgüter gleichen Rangs einschränkbar sein. Dieser Ansatz wirft zahlreiche Fragen auf. Im deutschen Verfassungsrecht wird unter Berufung auf eine unzureichende Schrankenregelung der Grundrechte und dem Gedanken der Einheit der Verfassung auch eine Einschränkung von vorbehaltlosen Grundrechten durch sog. verfasdarauf beschränkt, dass die EMRK-Schranken einen größeren Schutz als Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRC bieten; ähnlich Molthagen, Das Verhältnis der EU-Grundrechte zur EMRK, S. 170 f. 974 Siehe die Nachw. in Teil 2 Fn. 557. 975 Jarass, GRC, Art. 52 Rn. 25; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 52 GRC Rn. 59; Lenaerts/de Smijter, CMLR 38 (2001), 273, 293 f. 976 So Frenz, Hdb. Europarecht, Bd. 4: Europ. Grundrechte, Rn. 544 ff. 977 Gleiches gilt gem. Art. 4 Abs. 2 IPBPR für die parallele Gewährleistung des Art. 15 IPBPR. 978 Speziell zu Art. 49 GRC Alber, in: Tettinger/Stern, KöKo, GRC, Art. 49 Rn. 16; Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 52 Rn. 14a; allgemein zu den vorbehaltlosen Rechten der EMRK von Danwitz, in: Tettinger/Stern, KöKo, GRC, Art. 52 Rn. 64; Folz, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 52 GRC Rn. 7; Lorenzmeier, in: Becker u. a., Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 209, 223; Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152, 155 f.; Zimmermann, in: Böllmann u. a., Menschenrechte, S. 63, 71. 979 Ausführlich oben S. 121 ff. 980 Vgl. Jarass, GRC, Art. 52 Rn. 25.
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sungsimmanente Schranken als möglich erachtet.981 Kollidierende Verfassungsgüter sind danach in der Lage, vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte einzuschränken. Die kollidierenden Verfassungsgüter sind dabei im Wege praktischer Konkordanz in Ausgleich zu bringen.982 Auch wenn die GRC als Unionsrecht grundsätzlich autonom auszulegen ist,983 wird dieser Gedanke teilweise984 auf die Grundrechte der GRC übertragen. Nach gegenteiliger Auffassung985 werden immanente Schranken für die GRC abgelehnt. Die GRC verfüge anders als das Grundgesetz dank der allgemeinen Vorschrift des Art. 52 Abs. 1 GRC über ein lückenloses Schrankensystem, das zudem fein austarierte Schrankenregelungen vorsehe.986 Ohnehin gebe die horizontale Schrankenregelung des Art. 52 Abs. 1 GRC in S. 2 als legitime Zwecke einer Einschränkung die „von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen“ wie die „Erfordernisse[…] des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer“ vor. Damit erfasse es sämtliche denkbare kollidierende Schutzgüter des Primärrechts.987 Die Figur der verfassungsimmanenten Schranken sei daher wegen der Abgeschlossenheit der Charta-Schranken unnütz und unvereinbar mit der Anerkennung vorbehaltlos gewährleisteter Rechte.988 Eine Stellungnahme durch den EuGH ist bislang nicht erfolgt. (a) Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC und die immanenten Schranken der EMRK Da Art. 49 Abs. 1 S. 1, 2, Abs. 2 GRC dem Konventionsgrundrecht aus Art. 7 EMRK entspricht,989 gebietet Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC auch für diese Frage wiederum die Orientierung an dem Recht der EMRK. Das Schrifttum990 steht dem 981
Allgemeine Auffassung; BVerfGE 28, 243, 261. Verfassungsimmanente Schranken sind dabei allerdings freilich kein rein deutsches Institut. Eine internationale Betrachtung findet sich bei Kokott, in: Merten/Papier, Hdb. der Grundrechte, Bd. I, § 22 Rn. 47 ff. Zu den sog. inherent limitations aus der Rspr. des EGMR sogleich S. 184. 982 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der BRD, Rn. 72, speziell zu den Grundrechten Rn. 317 ff.; Kokott, in: Merten/Papier, Hdb. der Grundrechte, Bd. I, § 22 Rn. 47. 983 Vgl. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 52 GRC Rn. 47; zum Unionsrecht allgemein siehe bereits S. 46 f. 984 Eisner, Die Schrankenregelung der GRC, S. 144 f.; Frenz, Hdb. Europarecht, Bd. 4: Europ. Grundrechte, Rn. 646; siehe auch Jarass, EU-Grundrechte, § 3 Rn 8. Lediglich für die Übernahme der verfassungsimmanenten Schranken der EMRK Zimmermann, in: Böllmann u. a., Menschenrechte, S. 63, 71. 985 Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 52 Rn. 22; Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der GRC, S. 319; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der EU, Rn. 444. 986 Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 52 Rn. 22. 987 Vgl. Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der EU, Rn. 444. 988 Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 52 Rn. 22. 989 Dazu siehe bereits S. 112 ff. 990 van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, S. 346 f.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 18 Rn. 19; Jacobs/White/Ovey, The European Convention on Human Rights, S. 346 ff.; Uerpmann-Wittzack, in: Ehlers, Europ.
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Anerkennen immanenter Schranken im Recht der EMRK991 überwiegend ablehnend gegenüber. Insbesondere sei Art. 18 EMRK, der die zulässigen Einschränkungen der EMRK-Rechte ausdrücklich allein auf die vorgesehenen Zwecke beschränkt, ein Ausschluss ungeschriebener Schranken zu entnehmen.992 Zudem verlange Art. 1 EMRK die gleiche Geltung der Menschenrechte für alle Menschen, sodass Ausnahmen explizit vorgesehen sein müssten.993 Schließlich seien immanente Schranken auch in der Sache überflüssig, weil die EMRK ohnehin weitgehende Schrankenvorbehalte vorsehe.994 Der EGMR hingegen hat in mehreren Entscheidungen vorbehaltlose Menschenrechte unter Berücksichtigung kollidierender Interessen Einschränkungen unterworfen.995 In der Sache erkennt der Gerichtshof so immanente Schranken an.996 Hingegen verortet er sie als „inherent limitations“ (frz. „limitations implicites“) rechtsdogmatisch nicht auf Ebene der Rechtfertigung,997 sondern misst ihnen bereits schutzbereichsausschließende Wirkung bei;998 dies deshalb, weil sie sich als das Grundrecht konkretisierende Ausgestaltungen durch die Konventions-
Grundrechte und Grundfreiheiten, § 3 Rn. 45; a.A. auf kollidierende Menschenrechte der EMRK beschränkt Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 93; Zimmermann, in: Böllmann u. a., Menschenrechte, S. 63, 70; für immanente Schranken hingegen Peters/Altwicker, EMRK, § 3 Rn. 20. 991 Auch die EMRK ist freilich autonom auszulegen, d. h. ohne Rückgriff auf die konventionsstaatlichen Rechtsinstitute; siehe bereits oben S. 87. 992 van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, S. 347; Jacobs/White/Ovey, The European Convention on Human Rights, S. 310; Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 93; Zimmermann, in: Böllmann u. a., Menschenrechte, S. 63, 69. 993 van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, S. 346 f.; Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 93. 994 Uerpmann-Wittzack, in: Ehlers, Europ. Grundrechte und Grundfreiheiten, § 3 Rn. 45. 995 EGMR, Urt. v. 7. 12. 1976, Nr. 5095/71, 5920/72 und 5926/72 – Kjeldsen, Busk Madsen und Pedersen/Dänemark, Série A n8 23, 4, 26 f. Rn. 53 = EGMR-E 1 (Nr. 25), 203, 213 (zu Art. 2 1. ZP EMRK); Urt. v. 27. 2. 1980, Nr. 6903/75 – Deweer/Belgien, Série A n8 35, 4, 25 f. Rn. 49 = EGMR-E 1 (Nr. 42), 463, 473 (zu Art. 6 EMRK); Urt. v. 12. 7. 2001 (GK), Nr. 42527/ 98 – Fürst Hans-Adam II von Liechtenstein/Deutschland, Reports of judgments and decisions 2001-VIII, 7, 23 Rn. 44 = NJW 2003, 649, 650 (zu Art. 6 EMRK); Urt. v. 9. 4. 2002, Nr. 46726/ 99 – Podkolzina/Lettland, Reports of judgments and decisions 2002-II, 425, 435 Rn. 34 (zu Art. 3 1. ZP EMRK); Urt. v. 23. 11. 2006 (GK), Nr. 73053/01 – Jussila/Finnland, Reports of judgments and decisions 2006-XIV, 7, 16 Rn. 41 (zu Art. 6 EMRK; dazu sogleich S. 190 ff.); zust. Jarass, EU-Grundrechte, § 2 Rn. 32; Peters/Altwicker, EMRK, § 3 Rn. 20. 996 Zimmermann, in: Böllmann u. a., Menschenrechte, S. 63, 69. 997 So die dt. Dogmatik der verfassungsimmanenten Schranken. 998 Vgl. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der GRC, S. 318; van Dijk/van Hoof, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, S. 763; Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 91; Zimmermann, in: Böllmann u. a., Menschenrechte, S. 63, 69.
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staaten darstellen.999 Gleichwohl fußt ihre inhaltliche Begründung auf einer Abwägung. Dagegen spricht auch nicht, dass die EMRK keine weiteren Güter enthält,1000 da die Beschränkungen dem auszugestaltenden Lebensbereich immanent sind. Die kollidierenden Güter finden damit jedenfalls in dem Grundrecht selbst Anklang.1001 Da nach Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC auch die Rechtsprechung des EGMR zu dem entsprechenden Konventionsgrundrecht in Bezug genommen wird,1002 sind konsequenterweise auch etwaige vom EGMR anerkannte inherent limitations erfasst.1003 Das entsprechende Charta-Grundrecht hat auch diesbezüglich die „gleiche Bedeutung und Tragweite“. Aus dem Grundgedanken verfassungsimmanenter Schranken auch ungeschriebene Schranken aufgrund der Einheitlichkeit des Rechtsakts anzuerkennen, folgt bereits, dass kollidierende Schutzgüter sich allein aus den in der EMRK enthaltenen Schutzgütern ergeben können. Dies sind in erster Linie die dort enthaltenen Menschenrechte in der jeweiligen Auslegung des EGMR.1004 Staatsorganisatorische Vorschriften, wie sie etwa im deutschen Grundgesetz zu finden sind, enthält die EMRK nicht. Dass Art. 7 EMRK zudem gem. Art. 15 Abs. 2 EMRK wie sonst nur Art. 3, 4 Abs. 1 und mit Einschränkungen Art. 2 EMRK sogar notstandsfest gewährleistet wird, erhöht die Anforderungen an die kollidierenden Schutzgüter,1005 schließt aber das Anerkennen von inherent limitations durch den EGMR nicht aus.1006
999
Ibing, Die Einschränkung der europäischen Grundrechte durch Gemeinschaftsrecht, S. 106 f. 1000 So Gundel, in: Merten/Papier, Hdb. der Grundrechte, Bd. VI/1, § 147 Rn. 55. 1001 Die inherent limitation des elterlichen Rechts, die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen, hat EGMR, Urt. v. 7. 12. 1976, Nr. 5095/71, 5920/72 und 5926/72 – Kjeldsen, Busk Madsen und Pedersen/Dänemark, Série A n8 23, 4, 26 f. Rn. 53 = EGMR-E 1 (Nr. 25), 203, 213 mit dem Funktionieren des Bildungssystems begründet und damit das Recht auf Bildung und die entsprechende hoheitliche Bildungsaufgabe entgegengestellt. Dem passiven Wahlrecht nach Art. 3 1. ZP EMRK hält EGMR, Urt. v. 9. 4. 2002, Nr. 46726/99 – Podkolzina/Lettland, Reports of judgments and decisions 2002-II, 425, 435 Rn. 34 letztlich das Funktionieren des parlamentarischen Systems entgegen. Damit nimmt er Bezug auf den im Wahlrecht selbst angesprochenen Parlamentarismus sowie die an anderen Stellen anklingenden demokratischen Grundsätze. Zu den inherent limitations des Art. 6 EMRK sogleich S. 190 f. 1002 Siehe oben S. 116 ff. 1003 I.E. ebenso Zimmermann, in: Böllmann u. a., Menschenrechte, S. 63, 71, der allerdings der Anerkennung immanenter Schranken im Recht der EMRK ablehnend gegenüber steht und daher auf den Ausweg des Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC für die Umgehung dieser immanenten Schranken hinweist. 1004 Ausschließlich auf die Menschenrechte der EMRK bezogen Zimmermann, in: Böllmann u. a., Menschenrechte, S. 63, 70; unklar Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 93. 1005 Vgl. auch EGMR, Urt. v. 17. 12. 2009, Nr. 19359/04 – M./Deutschland, nicht in amtl. Slg., Rn. 117 = NJW 2010, 2495, 2497: Art. 7 EMRK „nimmt einen herausragenden Platz im Schutzsystem der Konvention“ ein.
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
Nach den oben1007 gewonnenen Erkenntnissen zur Auslegung und Anwendung der GRC im Anwendungsbereich des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC können zudem keine kollidierenden Schutzgüter des unionsrechtlichen Primärrechts1008 herangezogen werden.1009 Sofern sich diese nicht mit einem kollidierenden Menschenrecht der EMRK oder einem grundlegenden konventionsrechtlichen Prinzip decken, würde die Berücksichtigung einer solchen unionsrechtsimmanenten Schranke das Schutzniveau der EMRK unterschreiten. Dies ist nicht zulässig. Damit scheidet insbesondere eine Abwägung – wie sie das EuG in der Sache AC-Treuhand unausgesprochen zugrunde legt – mit den Anforderungen effektiven Schutzes freien Wettbewerbs nach Protokoll (Nr. 27) zu den Verträgen aus, die bei bloßer Anwendung der horizontalen Schrankenregelung des Art. 52 Abs. 1 GRC durchaus als in den Worten des S. 2 von der Union anerkannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung möglich wäre.1010 Dieses Ergebnis liegt zudem auf der zukünftigen Linie des Art. 6 Abs. 2 EUV. Ist die EU der EMRK beigetreten, so muss sie die Chartarechte achten, wie sie sich allein aus der EMRK ergeben. Einen Ausgestaltungsvorbehalt, nach dem die Besonderheiten des Unionsrechts in Gestalt immanenter Schranken berücksichtigt werden könnten, hat der EGMR für Art. 7 EMRK gerade nicht anerkannt. Als kollidierendes Recht kommen damit allenfalls zur vom nullum crimenGrundsatz verlangten Rechtssicherheit divergierende Teilgarantien des Rechtsstaatsprinzips selbst in Betracht. Auch wenn das Rechtsstaatsprinzip nur in gewissen Teilgarantien in die Bestimmungen der EMRK Eingang gefunden hat, so wird es doch in seiner Gesamtheit in Abs. 5 der Präambel in Bezug genommen und zugrunde gelegt. Nach der Rechtsprechung des EGMR zu den immanenten Schranken des Art. 6 EMRK1011 scheint diese Inbezugnahme zu genügen.1012 Das Rechtsstaats1006
So erkannte EGMR, Urt. v. 20. 6. 2002, Nr. 27715/95 und 30209/96 – Berlin´ski/Polen, nicht in amtl. Slg., Rn. 64 eine immanente Schranke des Art. 3 EMRK an; Zimmermann, in: Böllmann u. a., Menschenrechte, S. 63, 69. 1007 S. 112 ff., speziell zur EMRK als nicht zu unterschreitender Mindestschutz S. 121 ff. 1008 Auch wenn mit der Aufgabe des Verfassungsvertrages kein einheitliches Textdokument existiert, kann mit den Verträgen und der GRC von einer rechtlich gleichrangigen Einheit des Primärrechts, der materiellen Verfassung, ausgegangen werden. 1009 Vgl. zur parallelen Situation der geschriebenen Schranken der EMRK auch von Danwitz, in: Tettinger/Stern, KöKo, GRC, Art. 52 Rn. 31. 1010 Dazu, dass auch der Schutz des Wettbewerbs ein legitimer Zweck i.S.d. Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRC ist, Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 52 Rn. 21a. 1011 EGMR, Urt. v. 21. 2. 1975, Nr. 4451/70 – Golder/Vereinigtes Königreich, Série A n8 18, 5, 18 f. Rn. 38 = EuGRZ 1975, 91, 98; Urt. v. 27. 2. 1980, Nr. 6903/75 – Deweer/Belgien, Série A n8 35, 4, 25 f. Rn. 49 = EGMR-E 1 (Nr. 42), 463, 473; Urt. v. 29. 10. 1991 (Plenum), Nr. 12631/87 – Fejde/Schweden, Série A n8 212-C, 61, 68 ff. Rn. 31 ff.; Urt. v. 24. 2. 1994, Nr. 12547/86 – Bendenoun/Frankreich, Série A n8 284, 6, 19 f. Rn. 46 = ÖJZ 1994, 634; Urt. v. 12. 7. 2001 (GK), Nr. 42527/98 – Fürst Hans-Adam II von Liechtenstein/Deutschland, Reports of judgments and decisions 2001-VIII, 7, 23 Rn. 44 = NJW 2003, 649, 650; Urt. v. 23. 7. 2002, Nr. 34619/97 – Janosevic/Schweden, Reports of judgments and decisions 2002-VII, 7, 31 Rn. 81; Urt. v. 23. 11. 2006 (GK), Nr. 73053/01 – Jussila/Finnland, Reports of judgments and decisions 2006-XIV, 7, 17 Rn. 43; Urt. v. 29. 9. 2009, Nr. 37376/05 – Talabér/Ungarn, nicht in
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prinzip fordert nicht nur die Begrenzung hoheitlicher Macht durch das Recht, sondern setzt auch die Konstituierung derselben im Recht voraus.1013 Beim allgemeinen Rechtsstaatsprinzip ist die Abwägung der Teilgarantien möglich und notwendig.1014 Aufgrund dieser Ambivalenz sind die allgemeinen Gewährleistungen des Rechtsstaates auf Konkretisierung durch gegenseitige Abwägung angewiesen. (b) Der Gesetzesbegriff als Einfallstor des allgemeinen Gleichheitssatzes Auch wenn ausdrücklich nicht als solches bezeichnet, enthält auch Art. 7 Abs. 1 EMRK ein der Bestimmtheit entgegenstehendes Rechtsprinzip. Wie gesehen1015 muss der Gesetzgeber seine Strafbarkeitsentscheidungen in abstrakt-generelle Rechtsnormen fassen. Durch den Gesetzesvorbehalt wird dem Gesetzgeber eine Abstrahierung zugestanden. Er darf Kategorien und Typen bilden und unbestimmte Rechtsbegriffe verwenden.1016 Darin wird eine unbestimmte Anzahl Einzelfälle zusammengefasst. Dem Rechtsanwender wird bewusst ein Entscheidungsspielraum eröffnet. Dieser sichert die Gleichheit der Rechtsanwendung und ermöglicht damit Einzelfallgerechtigkeit. Für die Auslegung dieser Tatbestandsmerkmale ist damit ein Analogieschluss vorgegeben. Der Rechtsanwender muss ermitteln, ob der zu prüfende Einzelfall den vom Tatbestandsmerkmal sicher erfassten Fällen so ähnlich ist, dass er auch unter den gesetzlichen Typus, das Tatbestandsmerkmal, fällt. Auch die Auslegung ist mithin analogisch.1017 Das Hauptproblem der vom Bestimmtheitsamtl. Slg., Rn. 27; Urt. v. 12. 5. 2010, Nr. 32435/06 – Kammerer/Österreich, nicht in amtl. Slg., Rn. 26 f. = ÖJZ 2010, 877, 878. 1012 Dagegen kritisch Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 18 Rn. 19, anders für Art. 7 EMRK aber in § 24 Rn. 132 sowie Zimmermann, in: Böllmann u. a., Menschenrechte, S. 63, 70, der die immanenten Schranken auf kollidierende EMRK-Menschenrechte beschränkt; unklar Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 93. 1013 Zum dt. Recht Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. VI, Art. 103 Abs. 2 Rn. 176 [30. Lfg.: Dezember 1992]. 1014 Vgl. Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. VI, Art. 103 Abs. 2 Rn. 176 [30. Lfg.: Dezember 1992]. 1015 Oben S. 141 ff. 1016 Zur Zulässigkeit unbestimmter Rechtsbegriffe siehe nur EGMR, Urt. v. 26. 4. 1979 (Plenum), Nr. 6538/74 – Sunday Times/Vereinigtes Königreich, Série A n8 30, 5, 31 Rn. 49 = EGMR-E 1 (Nr. 34), 366, 371; Urt. v. 25. 3. 1983, Nr. 5947/72, 6205/73, 7052/75, 7061/75, 7107/75, 7113/75 und 7136/75 – Silver u. a./Vereinigtes Königreich, Série A n8 61, 7, 33 f. Rn. 88 = EGMR-E 2 (Nr. 21), 227, 233 f.; Urt.v. 25. 3. 1985, Nr. 8734/79 – Barthold/ Deutschland, Série A n8 90, 6, 22 Rn. 47 = EGMR-E 3 (Nr. 3), 14, 27; Urt. v. 24. 5. 1988, Nr. 10737/84 – Müller u. a./Schweiz, Série A n8. 133, 6, 20 Rn. 29 = EGMR-E 4 (Nr. 6), 98, 102 f.; Urt. v. 25. 5. 1993 , Nr. 14307/88 – Kokkinakis/Griechenland, Série A n8 260-A, 6, 19 Rn. 40 = ÖJZ 1994, 59, 60; Eser, in: Meyer, GRC, Art. 49 Rn. 21; Rengeling/Szczekalla, Die Grundrechte in der EU, Rn. 1206. 1017 Dannecker, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 247; Hassemer/Kargl, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, NK, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 95 ff.; Krey, Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht, S. 189; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. VI, Art. 103 Abs. 2 Rn. 226 [30. Lfg.: Dezember 1992]; siehe bereits oben S. 64.
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grundsatz verlangten Vorhersehbarkeit der Strafbarkeit für den verobjektivierten Normadressaten liegt jedoch darin festzustellen, wann ein Fall im Randbereich einer Norm den sicher erfassten so ähnlich ist, dass auch er das Tatbestandsmerkmal erfüllt. Diese Frage kann nur mit einer Abwägung beantwortet werden. Jegliche schematischen Lösungen versagen. Wie gesehen1018 besteht schon die weitere Konkretisierung der Tatbestandsmerkmale durch Auslegung mangels Rangfolge der Auslegungskriterien letztlich in einer bloßen Wertentscheidung des Rechtsanwenders. Auf der einen Seite steht der Gleichbehandlungsgrundsatz, der für eine Erfassung gleichartiger Sachverhalte streitet und damit die Einzelfallgerechtigkeit bedient. Diese Gerechtigkeitsidee ist auch in der EMRK verwurzelt. Dem konventionsrechtlichen Gesetzesbegriff ist die Abstraktion immanent.1019 Sie enthält in Art. 14 EMRK zudem ein zu den konventionsrechtlichen Freiheitsgrundrechten akzessorisches1020 und in Art. 1 12. ZP EMRK allgemeines Diskriminierungsverbot. Schließlich lässt sich der Gedanke der Einzelfallgerechtigkeit auch auf das Rechtsstaatsgebot (Abs. 5 der Präambel) zurückführen. Dem gegenüber steht die Rechtssicherheit. Diese Gegenpole sind zu einem schonenden Ausgleich im Wege der praktischen Konkordanz zu bringen. Beide Prinzipien sind größtmöglich zu verwirklichen. Von besonderer Bedeutung ist dabei auch, dass der Gesetzgeber eine etwa bestehende Unsicherheit durch ergänzende Gesetzgebung wenigstens verringern bzw. sich Gleichheit und Gerechtigkeit nähern kann, wohingegen jedes Zurückbleiben hinter der noch möglichen Bestimmtheit eine rechtfertigungsbedürftige Freiheitsbeschränkung des Bürgers liegt.1021 Aus Angst vor der Strafbedrohung könnte er auf die Vornahme von Handlungen verzichten, die letztlich doch erlaubt sind. Diese Optimierungsmöglichkeit für den Gesetzgeber findet freilich dort ihre Grenzen, wo entweder keine sprachlich exaktere Ausdrucksweise existiert1022 oder der zu regelnde Sachverhalt keine präzisere Fassung ermöglicht, ohne wiederum Abstriche an der Durchsetzung seiner Wertentscheidung hinnehmen zu müssen.1023 Die Gleichbehandlung in Bezug auf die Strafbarkeit hat keine derartige subjektivrechtliche Komponente.1024 Gleichwohl kann es keine schematische und sachlich
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S. 58 ff. Zum materiellen Gesetz als Gesetz i.S.d. EMRK siehe bereits oben S. 141 ff. 1020 Dazu Uerpmann-Wittzack, in: Ehlers, Europ. Grundrechte und Grundfreiheiten, § 3 Rn. 67 f. 1021 Vgl. zum allgemeinen Bestimmtheitsgrundsatz Papier/Möller, AöR 122 (1997), 177, 200; dazu noch unten S. 197 f. 1022 Dazu bereits oben S. 179 f. 1023 Vgl. zum allgemeinen Bestimmtheitsgrundsatz BVerfGE 49, 168, 181; 59, 104, 114: Der Gesetzgeber ist gehalten, „seine Regelungen so bestimmt zu fassen, wie dies nach der Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte und mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist“ [Hervorhebungen durch Verf.]. 1024 Zum hier ausschließlich betroffenen Hoheitsgewalt-Bürger-Verhältnis siehe bereits oben S. 134 f. 1019
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leicht nachprüfbare Lösung geben,1025 kommt es vor allem auf die Transparenz dieser Abwägung an. Zunächst ist sich dieser Abwägung zu vergewissern. Dies bereitet v. a. dem deutschen Rechtsanwender Schwierigkeiten, verortet er die verfassungsimmanenten Schranken doch auf der Ebene der Rechtfertigung, die er für Art. 103 Abs. 2 GG allgemein1026 verschlossen hält, und nicht zur Gewährleistungsbestimmung. Ferner sind die Abwägungsposten und -gesichtspunkte darzulegen und ihr Maßstab zu benennen. Der vom EuG in Anspruch genommene effektive Schutz des Wettbewerbs im Binnenmarkt kann dabei wie gesehen nur in Ansatz gebracht werden, wie es die Gleichbehandlung und Einzelfallgerechtigkeit gebieten. So ist im Einzelfall das für den Bürger noch Vorhersehbare zu bestimmen. (c) Zwischenergebnis Auch im Strafrecht läuft die Frage der Bestimmtheit einer Norm letztlich auf eine Abwägung zwischen Rechtssicherheit und Gleichheit bzw. Einzelfallgerechtigkeit hinaus.1027 Diese Schutzbereichsbeschränkung des Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK liegt in der abstrakt-generellen Normsetzung durch den Gesetzgeber begründet. Diese Einschränkung des konventionsrechtlichen strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips ist gem. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC auch für Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC zu übernehmen. Da die abstrakt-generelle Normgebung auch im Unionsrecht wie den Mitgliedstaaten verwurzelt ist, lässt sich kein nach Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC weiter gehender chartarechtlicher Gehalt des strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes gewinnen. Damit ist bereits der Auslegungsmaßstab selbst auslegungsbedürftig. Dies ist sich bei der im Teil 3 folgenden Auslegung im Einzelfall zunächst zu vergegenwärtigen und dann an der Sachfrage umzusetzen. Das Bewusstsein für diese Abwägungsof1025 Die überwiegende Auff. geht für das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot jedoch dem hier dargelegten Ausgangspunkt entsprechend von einem Überwiegen der Rechtssicherheit gegenüber der Einzelfallgerechtigkeit aus; vgl. zum dt. Recht BGHSt 18, 136, 140 („Die Rechtssicherheit steht hier, vor allem um des Grundrechts der persönlichen Freiheit willen, höher als die materielle Gerechtigkeit.“); Appel, Jura 2000, 571, 577; Nolte, in: von Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Bd. 3, Art. 103 Abs. 2 Rn. 169; Rüping, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, GG, Bd. 12, Art. 103 Abs. 2 Rn. 17 [60. Lfg.: Mai 1990]; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. III, Art. 103 II Rn. 58. Für Vorrang vor dem Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit auch Danckert, Die Grenze zwischen der extensiven Auslegung und der Analogie im Strafrecht, S. 109; ähnlich Renzikowski, in: Pabel/Schmahl, IntKomm, Bd. 1, EMRK, Art. 7 Rn. 2 [12. Lfg.: Mai 2009]; vgl. auch Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. VI, Art. 103 Abs. 2 Rn. 255, 255c [48. Lfg.: November 2006]. 1026 Siehe nur Appel, Jura 2000, 571, 577; Höfling/Burkiczak, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar, GG, Bd. 4, Art. 103 Rn. 132 [26. Lfg.: April 2009]; Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 2, Art. 103 Rn. 17; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 103 Rn. 54; Pieroth/Schlink/ Kingreen/Poscher, Grundrechte, Rn. 1201; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. III, Art. 103 II Rn. 58; wohl auch Schuhr, in: Kudlich/Montiel/Schuhr, Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 255, 279; zu Art. 7 EMRK Kadelbach, in: Grothe/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 15 Rn. 46. 1027 Für das Verständnis des strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz als v. a. gegenüber der Einzelfallgerechtigkeit abwägungsoffenes Optimierungsgebot auch Hirsbrunner/Werner, jusletter 20. September 2010, Rn. 42.
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fenheit lässt auch die Begründungslast bereits für den Auslegungsmaßstab und nicht erst für die danach zu beantwortende Sachfrage erkennen. (5) Zur Abstufung zwischen Kriminalstrafrecht und Strafrecht i.w.S. Ist auch der strafrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz letztlich abwägungsunterworfen, ist zurückzukommen auf die vom EuG angesprochene Abstufung innerhalb seines Garantiegehalts zwischen Kriminalstrafrecht und Strafrecht i.w.S. Es lassen sich zwei verwandte Ansätze finden, die sich für die Auslegung des Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC fruchtbar machen ließen. (a) Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC und die immanenten Schranken der GRC: Die Jussila/Finnland-Rechtsprechung des EGMR Im Rahmen des Rechts auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK hat der EGMR, gefolgt vom EuG,1028 den vorgezeichneten Weg einer immanenten Schranke bestritten. In dem Urteil Jussila/Finnland1029 befasste sich der EGMR mit dem Erfordernis einer mündlichen Verhandlung in Steuerstreitigkeiten. Zum Strafbegriff, an den Art. 6 EMRK grundlegende verfahrensrechtliche Garantien knüpft und der dem des Art. 7 EMRK entspricht,1030 führt der Gerichtshof aus: „[…] it is self-evident that there are criminal cases which do not carry any significant degree of stigma. There are clearly ,criminal charges‘ of differing weight.“ (frz. „il va de soi que certaines d’entre elles [les mesures à caractère répressif et dissuasif] ne comportent aucun caractère infamant pour ceux qu’elles visent et que les «accusations en matière pénale» n’ont pas toutes le même poids.“).1031 Auf Sanktionen, die nicht dem Kernbereich des Strafrechts (engl. „hard core of criminal law“, frz. „noyau dur du droit pénal“) zugehören, „the criminal-head guarantees will not necessarily apply with their full stringency“ (frz. „les garanties offertes par le volet pénal de l’article 6 ne doivent pas nécessairement s’appliquer dans toute leur rigueur“).1032 Der EGMR hat es damit ebenso wie erstinstanzliche Verurteilungen vor einer Verwaltungsbe-
1028 EuG, Urt. v. 13. 7. 2011, Rs. T-138/07 – Schindler Holding u. a./Kommission, Slg. 2011, II-4819, II-4868 Rn. 52; dem EGMR ebenfalls zustimmend GA Kokott, Schlussanträge v. 28. 2. 2013, Rs. C-681/11 – Schenker, noch nicht in amtl. Slg., Rn. 40 (in und bei Fn. 18); A. Koch, Verwaltungssanktionen im europäischen und niederländischen Verwaltungs- und Kartellrecht, S. 294 ff. 1029 EGMR, Urt. v. 23. 11. 2006 (GK), Nr. 73053/01 – Jussila/Finnland, Reports of judgments and decisions 2006-XIV, 7 ff. 1030 Siehe die Nachw. in Teil 2 Fn. 338. 1031 EGMR, Urt. v. 23. 11. 2006 (GK), Nr. 73053/01 – Jussila/Finnland, Reports of judgments and decisions 2006-XIV, 7, 17 Rn. 43. 1032 EGMR, Urt. v. 23. 11. 2006 (GK), Nr. 73053/01 – Jussila/Finnland, Reports of judgments and decisions 2006-XIV, 7, 17 Rn. 43; nachfolgend EGMR, Urt. v. 29. 9. 2009, Nr. 37376/05 – Talabér/Ungarn, nicht in amtl. Slg., Rn. 27; Urt. v. 12. 5. 2010, Nr. 32435/06 – Kammerer/Österreich, nicht in amtl. Slg., Rn. 27 = ÖJZ 2010, 877, 878.
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hörde bei nachträglicher Überprüfbarkeit durch ein Gericht1033 nicht als Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK angesehen, dass auf eine mündliche Verhandlung verzichtet wurde, da sich der Betroffene im schriftlichen Verfahren umfassend habe äußern können und dieses ebenso die Fairness wahre, wenn nicht sogar im Einzelfall effektiver sei.1034 Dahinter steht die Abwägung, dass im Bereich des Strafrechts i.w.S. die „demands of efficiency and economy“ des Strafverfahrens die durch den weniger schweren Grundrechtseingriff als geringer zu bewertende Interessen des mutmaßlichen Täters überwögen.1035 Dieser Ansatz könnte auf Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK und damit vermittelt über Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC auch auf Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC wie auf die hier zu behandelnden Kartellbußgelder zu übertragen sein. Jedenfalls entspricht dem der Ansatz des EuG in AC-Treuhand/Kommission.1036 (b) Art. 52 Abs. 4 GRC und die Abstufungen im Recht der Mitgliedstaaten: Die je desto-Formel des BVerfG Eine solche Abstufung findet sich auch, wie bereits angedeutet,1037 im Recht der Mitgliedstaaten. Plakativ ist die Aussage des BVerfG, der Gesetzgeber müsse „die Strafbarkeitsvoraussetzungen um so präziser bestimmen, je schwerer die angedrohte Strafe ist.“1038 In ihrer Umkehrung entspricht diese je desto-Formel dem Ansatz des EuG im Urteil AC-Treuhand/Kommission.1039 Da die Intensität der Eingriffe in die Grundrechte des Betroffenen im Strafrecht i.w.S. geringer wögen, müsse der Bestimmtheitsgrundsatz nicht die gleiche Intensität erreichen wie im Kriminalstraf1033
EGMR, Urt. v. 24. 2. 1994, Nr. 12547/86 – Bendenoun/Frankreich, Série A n8 284, 6, 19 f. Rn. 46 = ÖJZ 1994, 634; Urt. v. 23. 7. 2002, Nr. 34619/97 – Janosevic/Schweden, Reports of judgments and decisions 2002-VII, 7, 31 Rn. 81; in der Sache zust. EuG, Urt. v. 13. 7. 2011, Rs. T-138/07 – Schindler Holding u. a./Kommision, Slg. 2011, II-4819, II-4869 Rn. 54. 1034 EGMR, Urt. v. 23. 11. 2006 (GK), Nr. 73053/01 – Jussila/Finnland, Reports of judgments and decisions 2006-XIV, 7, 18 f. Rn. 46 ff. 1035 Während EGMR, Urt. v. 23. 11. 2006 (GK), Nr. 73053/01 – Jussila/Finnland, Reports of judgments and decisions 2006-XIV, 7, 18 Rn. 46 f. vor allem mit der gleichen Fairness des schriftlichen Verfahrens argumentiert, können als Abwägungsposten zum Recht auf eine mündliche Verhandlung ebenfalls die Abkürzung der Verfahrensdauer wie die Entlastung der Gerichte identifiziert werden. Diese Aspekte hat EGMR, Urt. v. 12. 5. 2010, Nr. 32435/06 – Kammerer/Österreich, nicht in amtl. Slg., Rn. 26 f. passend als die „demands of efficiency and economy“ zusammengefasst. 1036 EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1553 Rn. 113. 1037 S. 110. 1038 BVerfGE 14, 245, 251; 26, 41, 43; 41, 314, 320; 75, 239, 342; 86, 288, 311; 105, 135, 155 f.; BVerfG, NJW 1993, 1909, 1910; zust. Nolte, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, Art. 103 Abs. 2 Rn. 145; Schmahl, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 103 Rn. 68; für das europäische Kartellbußgeldrecht wieder aufgreifend Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 42. Der allgemeine grundrechtliche Gesetzesvorbehalt ist hingegen solchen Abstufungen unterworfen; siehe die Nachweise in Teil 2 Fn. 812. 1039 EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1553 Rn. 113.
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recht. Auf den dann überwiegenden Abwägungsposten geht das BVerfG nicht ein. Aus dem oben Gesagten lässt sich dieser nur in den Teilgarantien des Rechtsstaatsprinzips selbst suchen. In den Blick gerät wiederum vor allem die Einzelfallgerechtigkeit1040 hergestellt durch den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz. Dieser Rechtsprechung könnte damit gem. Art. 52 Abs. 4 GRC Bedeutung für die Auslegung des Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC zukommen. Allerdings wird Art. 52 Abs. 4 GRC verbreitet als durch Art. 52 Abs. 3 GRC verdrängt angesehen.1041 Selbst wenn Art. 52 Abs. 4 GRC herangezogen wird, dann wird er geringer gewichtet als die Vorschrift des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC.1042 Gleichwohl ist die inhaltliche Verwandtschaft mit dem Ansatz des EuG auffällig. (c) Stellungnahme Kritisch zu hinterfragen ist, ob die dargestellte Abwägung zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit von der Intensität des Grundrechtseingriffs abhängt, oder ob nicht vielmehr andere Kriterien maßgeblichen Einfluss auf die Abwägung haben und eine erhöhte Unbestimmtheit im Strafrecht i.w.S. rechtfertigen können. Zunächst ist einzuwenden, dass das Differenzierungskriterium der Schwere der Strafe wenig konturiert und nicht überprüfbar bleibt, sondern vielmehr einer subjektiven, willkürlichen Ausfüllung offen steht.1043 So kann plausibel vertreten werden, die Kartellbußgelder des Unionsrechts als derart schwerwiegend zu betrachten, dass für sie keine Einschränkungen zu erwägen sind, zumal sie die Welch- bzw. Engels-Kriterien anders als der im Jussila/Finnland-Urteil gegenständliche Strafzuschlag sogar kumulativ erfüllen.1044 Allerdings wird davon auszugehen sein, dass der EGMR das angesprochene „stigma“ der sozialethischen Verwerflichkeit gleichsetzt,1045 sodass das Kartellbußgeld in den Kategorien der überwiegenden 1040 Vgl. Hirsbrunner/Werner, jusletter 20. September 2010, Rn. 42; zu Art. 103 Abs. 2 GG Lenckner, JuS 1968, 304, 305 ff.; Rudolphi, in: Rudolphi/Horn/Samson, SK, StGB, Bd. I, § 1 Rn. 13 [26. Lfg.: Juni 1997]; Schmidhäuser, in: Selmer/von Münch, GS Martens, S. 231, 242 f. 1041 Siehe bereits oben S. 126 f. 1042 Siehe oben S. 126 f. 1043 So zur Abstufung im Rahmen des Art. 6 EMRK Bechtold/Bosch, ZWeR 2011, 160, 163; Hirsbrunner/Werner, jusletter 20. September 2010, Rn. 7; Slater/Thomas/Waelbroeck, GCLC Working Paper 04/08, S. 22; kritisch im Hinblick auf die Wahrung autonomer Auslegung auch Riley, E.C.L.R. 2010, 191, 199. 1044 So etwa zum Jussila/Finnland-Urteil des EGMR Bechtold/Bosch, ZWeR 2011, 160, 164; Hirsbrunner/Werner, jusletter 20. September 2010, Rn. 9; Riley, E.C.L.R. 2010, 191, 200. 1045 Vgl. den Sprachgebrauch des EGMR zum Stigma einer (kriminal)strafrechtlichen Verurteilung: So formuliert EGMR, Urt. v. 25. 8. 1987 (Plenum), Nr. 9912/82 – Lutz/ Deutschland, Série A n8 123, 7, 24 Rn. 57 = EGMR-E 3 (Nr. 56), 637, 647 zu den nunmehr vom dt. Recht aus dem Kriminalstrafrecht herausgenommenen Ordnungswidrigkeiten im Straßenverkehr diese seien „minor offences […] which are not so discreditable that the offenders deserve the stigma of a criminal penalty“ (frz. „infractions légères […] qui ne dénotent pas une indignité propre à valoir à leur auteur le jugement défavorable caractérisant la peine“. Ebenso bezeichnete Richter Liesch bereits zuvor in seinem Sondervotum in EGMR, Urt. v. 21. 2. 1984 (Plenum), Nr. 8544/79 – Öztürk/Deutschland, Série A n8 73, 6, 26 Rn. 8 diese Ordnungswid-
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Auffassung1046 dann dem Kriminalstrafrecht zuzuordnen wäre, was überwiegend jedoch verneint wird.1047 Das Differenzierungskriterium ist jedoch nicht nur unpräzise und damit letztlich ungeeignet, es erscheint vielmehr widersprüchlich. Bei der Bestimmung, ob eine „Strafe“ vorliegt, kommt nämlich der Schwere der Strafe kein allein entscheidendes Gewicht zu.1048 Liegt aber eine Strafe vor, dann erscheint es zunächst plausibel, besonders schwere Strafen an erhöhten Maßstäben zu messen. So hat das BVerfG auch die je-desto-Formel allein in ihrer positiven Fassung bemüht.1049 Diese Überzeugung schwindet aber, wenn man die negative Konsequenz daraus zieht, dass bei Strafen, die trotz geringeren Gewichts immer noch als Strafe i.S.d. Art. 7 EMRK zu qualifizieren sind, entsprechend geringere Anforderungen zu stellen sind. Die Überzeugungskraft schlägt schließlich ins Gegenteil, da eine solche Abstufung zwischen Kriminalstrafrecht und Strafrecht i.w.S. der gesetzlichen Konstruktion des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips deutlich wiederspricht.1050 Einheitlich knüpft es an das Vorliegen einer „Strafe“ an.1051 Für diese besondere Gefährdungssituation stellt es formale, an die Hoheitsgewalt gerichtete Garantien bereit. Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip eröffnet ebenso wie der allgemeine Bestimmtheitsgrundsatz dabei keinen eigenständigen Freiheitsbereich, der in unterschiedlicher Weise betroffen sein könnte. Die Bestimmtheitsanforderung an den Gesetzgeber sichert vielmehr auch den gewaltenteilenden Gehalt des strafrechtli-
rigkeiten des deutschen Rechts als „no longer stigmatic, and it gives rise to no social rejection“ (frz. „son effet n’est plus stigmatisant et le rejet social résultant notamment de la sanction est inexistant“). In anderen Entscheidungen bejaht der EGMR das Vorliegen des „significant degree of stigma“ vor allem, wenn eine Freiheitsstrafe angedroht ist, etwa EGMR, Urt. v. 29. 9. 2009, Nr. 37376/05 – Talabér/Ungarn, nicht in amtl. Slg., Rn. 27; Urt. v. 10. 4. 2012, Nr. 19946/ 04 – Popa und Ta˘na˘sescu/Rumänien, nicht in amtl. Slg., Rn. 46. Zur sozialethischen Verwerflichkeit als weit verbreitetes Abgrenzungskriterium des Kriminalstrafrechts siehe bereits oben S. 101 f. 1046 Siehe oben S. 91. 1047 Nachw. siehe oben Teil 2 Fn. 364; a.A. die sog. kriminalstrafrechtliche Theorie; vgl. die Nachw. aus Teil 2 Fn. 363. Soweit Hirsbrunner/Werner, jusletter 20. September 2010, Rn. 9 und verhaltener Bechtold/Bosch, ZWeR 2011, 160, 164 den Kartellgeldbußen ein signifikantes öffentliches Stigma zuschreiben, sind sie somit der kriminalstrafrechtlichen Theorie zuzuordnen. 1048 Siehe oben S. 105 ff. 1049 Siehe die Nachw. in Teil 2 Fn. 1038. 1050 Zum dt. Recht nach Art. 103 Abs. 2 GG Appel, Verfassung und Strafe, S. 120; Dannecker, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 186; Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 2, Art. 103 Rn. 29 a.E.; Roxin, Strafrecht AT/I, § 5 Rn. 70; Schünemann, Nulla poena sine lege?, S. 32 f.; Wassermann, in: Denninger u. a., AK, GG, Bd. 3, Art. 103 Rn. 52 [GW: 2001]. 1051 Siehe oben S. 87 ff.
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
chen Gesetzlichkeitsprinzips und damit dessen Formalität. Für die Gewaltenteilung ist die Eingriffsintensität indes unerheblich.1052 Abstufungen beziehen sich somit immer nur auf die mit der Strafe verbundenen Grundrechtseingriffe. Anwendungsvoraussetzung des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips ist aber einzig die „Strafe“, genauer ihr präventiv-repressiver Charakter.1053 Übersteigt der hoheitliche Grundrechtseingriff diese Schwelle, dann liegt die besondere Gefährdungslage der hoheitlichen Strafe vor und es greifen die rechtsstaatlichen Sicherungen des nullum crimen-Grundsatzes. Deutlichen Ausdruck findet dies im einheitlichen Wortlaut der verschiedenen Rechtsgrundlagen des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips.1054 Gerade aus freiheitsschützender Perspektive ist es in der Sache schließlich nicht einzusehen, warum dem Bürger bei geringeren Sanktionsdrohungen ein erhöhtes Strafbarkeitsrisiko aufgebürdet werden soll. Der Verzicht auf möglicherweise strafbedrohte Handlungen, die ein Gericht später aber als erlaubt ansieht, bleibt ein Eingriff in die grundrechtlichen Freiheiten des Bürgers. Dies gilt umso mehr, wenn der Gesetzgeber, mithin die strafende Hoheitsgewalt selbst, durch präzisere Normgebung Abhilfe schaffen kann. Die zunehmende Intensität eines Grundrechtseingriffs streitet im Ergebnis nicht auf Seiten der Rechtssicherheit. Es ist umgekehrt auch nicht zu erkennen, warum die Gleichbehandlung von der abnehmenden Eingriffsintensität abhängen soll. Rechtssicherheit, Gleichheit und Gerechtigkeit streiten für jegliche Eingriffsstärken mit demselben Gewicht. Eine geringere Strafdrohung vermag mithin ein Absinken der gesetzlichen Bestimmtheit nicht zu rechtfertigen. Davon scheint auch der EGMR auszugehen. Anzeichen einer Abstufung lassen sich in seiner Rechtsprechung nicht erkennen.1055 Aus den Öffnungskriterien des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips, der Sprache wie der Vorgabe einer abstrakt-generellen Regelung, lassen sich aber solche Rechtfertigungsgründe für ein Zurückbleiben hinter der sprachlich möglichen Bestimmtheit konkretisieren. Oben wurden bereits die Grenzen der sprachlichen Prä1052
Vgl. Schünemann, Nulla poena sine lege?, S. 32 f. Letztlich ähnlich auch Nolte, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, Art. 103 Abs. 2 Rn. 145, der für die Berechtigung der positiven Je desto-Formel allein auf den subjektiv-rechtlichen Charakter des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzip und die dahinter stehenden Grundrechtspositionen verweist. 1053 So auch in Bezug auf die strafrechtlichen Verfahrensgarantien Schubert, Legal privilege und Nemo tenetur, S. 93; dazu bereits oben S. 93 ff. 1054 Zu Art. 103 Abs. 2 GG Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 2, Art. 103 Rn. 29 a.E.; zur strafrechtlichen Anklage i.S.d. Art. 6 EMRK Hirsbrunner/Werner, jusletter 20. September 2010, Rn. 7; Slater/Thomas/Waelbroek, GCLC Working Paper 04/08, S. 22. 1055 So hat der EGMR eine Abstufung des Bestimmtheitsgrundsatz nach der Schwere der Strafe wie sie das BVerfG vornimmt (dazu oben S. 191 f.) nicht in seine Rechtsprechung aufgenommen; vgl. Kadelbach, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 15 Rn. 24; Papakiriakou, Das Europ. Unternehmensstrafrecht in Kartellsachen, S. 4; Renzikowski, in: Pabel/Schmahl, IntKomm, EMRK, Bd. 1, Art. 7 Rn. 58 [12. Lfg.: Mai 2009].
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zision1056 sowie die zu regelnde Materie genannt. Letzteres Kriterium lässt sich hier fruchtbar machen. So lassen sich die Adressaten der Strafnorm1057 wie die Komplexität des zu regelnden Rechtsgebiets als Parameter ausmachen, von denen die Bestimmtheit abhängt.1058 Die Anwendung dieser Grundsätze fällt dabei im Ergebnis in Teilen zusammen mit der Grenzziehung zwischen Kriminalstrafrecht und Strafrecht i.w.S. Die Strafdrohungen des Kernstrafrechts richten sich typischerweise an jedermann.1059 Die Strafnormen müssen daher jedem ohne weiteres1060 verständlich sein, um dem Bestimmtheitsgebot zu genügen. Das Strafrecht i.w.S. hingegen zeichnet sich meist dadurch aus, dass es auf spezielle, mitunter sehr komplexe Rechtsmaterien Bezug nimmt, sei es das Umwelt-, das Standes-, Disziplinar- oder wie hier das Wirtschaftsrecht. Die Natur dieser Rechtsgebiete macht es mitunter unumgänglich, die Gesetze in geringerer Präzision zu verfassen.1061 Gleichwohl gibt es auch im Kriminalstrafrecht Regelungsmaterien, die es dem Gesetzgeber nicht erlauben, die Strafnorm präziser zu formulieren, ohne dass seine gesetzgeberische Wertentscheidung deutlich litte. Für das deutsche Strafrecht ist etwa auf den Urkundsbegriff der §§ 267 StGB zu verweisen. Der Gesetzgeber darf sich dann in oben umschrie1056
S. 179 f. EGMR, Urt. v. 28. 3. 1990 (Plenum), Nr. 10890/84 – Groppera Radio AG u. a./Schweiz, Série A n8 173, 7, 26 Rn. 68 = NJW 1991, 615, 618; Urt. v. 15. 11. 1996 (GK), Nr. 17862/91 – Cantoni/Frankreich, Recueil des arrêts et décisions 1996-V n8 20, 1616, 1629 Rn. 35 = EuGRZ 1999, 193, 198; Demko, HRRS 2004, 19, 21 f.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24 Rn. 143; Hirsbrunner/Werner, jusletter 20. September 2010, Rn. 36; dies übernehmend EuGH, Urt. v. 28. 6. 2005, verb. Rs. C-189/02 P, C-202/02 P, C-205/02 P bis C-208/02 P und C-213/02 P – Dansk Rørindustri u. a./Kommission, Slg. 2005, I-5425, I-5568 Rn. 219; zum dt. Recht BVerfGE 48, 48, 57; 75, 329, 343, 345; BVerfG, NJW 1992, 2624; Dannecker, in: Laufhütte/ Rissing-van Saan/Tiedemann, LK, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 187, 211; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig, GG, Bd. VI, Art. 103 Abs. 2 Rn. 189 [30. Lfg.: Dezember 1992]. 1058 EGMR, Urt. v. 28. 3. 1990 (Plenum), Nr. 10890/84 – Groppera Radio AG u. a./Schweiz, Série A n8 173, 7, 26 Rn. 68 = NJW 1991, 615, 618; Urt. v. 15. 11. 1996 (GK), Nr. 17862/91 – Cantoni/Frankreich, Recueil des arrêts et décisions 1996-V n8 20, 1616, 1629 Rn. 35 = EuGRZ 1999, 193, 198; EuGH, Urt. v. 28. 6. 2005, verb. Rs. C-189/02 P, C-202/02 P, C-205/02 P bis C-208/02 P und C-213/02 P – Dansk Rørindustri u. a./Kommission, Slg. 2005, I-5425, I-5568 Rn. 219; van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, S. 338; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24 Rn. 143; Schaut, Europ. Strafrechtsprinzipien, S. 145 ff. 1059 Zum entsprechenden punitiven Indiz in der Rspr. des EGMR siehe bereits S. 96. 1060 Allenfalls können in diesem Bereich die Anforderungen an die Bestimmtheit der Rechtnorm gesenkt werden, wenn bedeutende Menschenrechtsverletzungen in Frage stehen. Die Strafbarkeit ist in diesen Fällen jedem leicht erkennbar. Dazu Renzikowski, in: Pabel/ Schmahl, IntKomm, EMRK, Bd. 1, Art. 7 Rn. 56, 62 [12. Lfg.: Mai 2009] m.w.N. aus der Rspr. des EGMR. 1061 Ebenso zum europäischen Wettbewerbsrecht Friedmann, Die Geltung rechtsstaatlicher Grundsätze, S. 229: „wegen der notwendigen Verwendung ausfüllungsbedürftiger normativer Rechtsbegriffe weniger streng“; allg. Schaut, Europ. Strafrechtsprinzipien, S. 145 ff.; zur Offenheit der Tatbestände des europäischen Kartellrechts siehe bereits S. 39. 1057
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benen Grenzen unbestimmter Rechtsbegriffe bedienen.1062 Der Komplexität wie Spezialität des Rechtsgebietes darf zudem mit einer abgestuften Gesetzgebung, beispielsweise durch konkretisierende rangniedere Rechtsakte begegnet werden.1063 Auch darf auf die ständige Konkretisierungsleistung der Gerichte verwiesen werden.1064 Die Vorhersehbarkeit des Bürgers wird meist gleichwohl gewahrt. Der Spezialisierung der hoheitlichen Stellen entspricht vielfach eine solche auch auf Seiten der Normadressaten. Die Straftatbestände des Nebenstrafrechts richten sich entsprechend an meist fachkundige Adressaten. Adressiert die Norm etwa ausschließlich Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen, so kann ein höherer Grad an professionellen Fachkenntnissen und Umsicht verlangt werden.1065 Der Vorhersehbarkeit steht dabei nicht entgegen, dass der Adressat darauf angewiesen ist, rechtlichen Rat einzuholen.1066 Entsprechend sind die Anforderungen an die Bestimmtheit der Sanktionsnorm zu senken. Allerdings zieht sich diese Abstufung zudem nicht entlang der Unterscheidung von natürlichen und juristischen Personen, sondern gilt beispielsweise für bestimmte Berufsgruppen ebenso.1067 Juristische Personen sind dabei in gleicher Weise rechtlich schutzbedürftig wie natürliche Personen.1068 Diesen muss es wie dem durchschnittlichen Bürger im Kernstrafrecht möglich sein, das strafbare Verhalten aus dem Wortlaut oder durch Auslegung zu erkennen. (d) Zwischenergebnis Eine klare Grenzlinie verschiedener Bestimmtheitsanforderungen zwischen Kriminalstrafrecht und Strafrecht i.w.S. lässt sich nicht ziehen. Die Höhe der 1062
Siehe oben S. 187 und sogleich zusammenfassend S. 214 ff. Zu denken ist im Zusammenhang mit dem europäischen Wettbewerbsrecht vor allem an die Leitlinien der Kommission, die die Vorhersehbarkeit des Sanktionshandelns gewährleisten sollen; näher Schuhr, in: Kudlich/Montiel/Schuhr, Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 255, 269; allgemein zum dt. Recht Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. VI, Art. 103 Abs. 2 Rn. 188 [30. Lfg.: Dezember 1992]. 1064 Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit müssen sich so erst aus einer Gesamtschau von Gesetz und Rechtsprechungspraxis ergeben. Dazu eingehend noch im Rahmen des Analogieverbots S. 200 f. 1065 Vgl. EGMR, Urt. v. 15. 11. 1996 (GK), Nr. 17862/91 – Cantoni/Frankreich, Recueil des arrêts et décisions 1996-V n8 20, 1616, 1629 Rn. 35 = EuGRZ 1999, 193, 198; Pascu, Strafrechtliche Fundamentalprinzipien im Gemeinschaftsrecht, S. 128. 1066 EGMR, Urt. v. 15. 11. 1996 (GK), Nr. 17862/91 – Cantoni/Frankreich, Recueil des arrêts et décisions 1996-V n8 20, 1616, 1629 Rn. 35 = EuGRZ 1999, 193, 198; Urt. v. 29. 3. 2006 (GK), Nr. 67335/01 – Achour/Frankreich, Reports of judgments and decisions 2006-IV, 225, 239 Rn. 54; Urt. v. 17. 9. 2009 (GK), Nr. 10249/03 – Scoppola/Italien (Nr. 2), nicht in amtl. Slg., Rn. 102 = NJOZ 2010, 2726, 2729; Hirsbrunner/Werner, jusletter 20. September 2010, Rn. 36. 1067 Vgl. m.w.N. zu den angesprochenen Verkehrskreisen aus dem dt. Recht Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. VI, Art. 103 Abs. 2 Rn. 189 a.E. [30. Lfg.: Dezember 1992]. 1068 Anders ggf. für die Gerichtsgarantie des Art. 6 EMRK; vgl. A. Koch, Verwaltungssanktionen im europäischen und niederländischen Verwaltungs- und Kartellrecht, S. 299. 1063
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Strafdrohung, mithin die grundrechtliche Eingriffsidentität, ist ohne Auswirkung auf die Abwägung zwischen Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit. Gleichwohl greifen mit der Komplexität der Regelungsmaterie und der Spezialisierung der Normadressaten vor allem, aber nicht nur, im Nebenstrafrecht Kriterien ein, die eine Abschwächung der gesetzlichen Bestimmtheit zu rechtfertigen vermögen. Im jeweiligen Einzelfall ist aber zu prüfen, ob die Strafbarkeit für den Normadressaten vorhersehbar ist. (6) Keine Abstufung in der Intensität des strafrechtlichen und des allgemeinen Bestimmtheitsgrundsatzes in Bezug auf die Vorhersehbarkeit Dass die Abwägung von Rechtssicherheit und Gerechtigkeit bzw. Gleichheit wie gesehen nicht von der grundrechtliche Eingriffsintensität abhängt, lässt sich auch für das Verhältnis zwischen spezifisch strafrechtlichem und allgemeinen rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgrundsatz fruchtbar machen. Nach allgemeiner Ansicht1069 soll sich der strafrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz durch eine erhöhte Strenge auszeichnen. Dies kann aber nicht für die gesetzliche Bestimmtheit zur Sicherung der Vorhersehbarkeit für den Normadressaten gelten.1070 Die hoheitliche Strafe unterscheidet sich von anderen Grundrechtseingriffen vor allem durch ihre Intensität.1071 Jedoch bedeutet auch bei Eingriffsgesetzen, die lediglich geringfügige Grundrechtseingriffe erlauben, jedes Zurückbleiben hinter der möglichen Bestimmtheit einen Eingriff in die grundrechtlichen Freiheiten des Bürgers.1072 Der Bürger unterlässt aus Vorsicht möglicherweise Handlungen, die tatsächlich nicht vom Gesetz erfasst sind. Dieser Eingriff ist rechtfertigungsbedürftig.1073 Als Rechtfertigungsgründe kommen auch die zum strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz ausgeführten tatsächlichen Umstände in Betracht.1074 Auch nach dem allgemeinen Bestimmtheitsgrundsatz als Schranken-Schranke für Grundrechtseingriffe rechtfertigende Gesetze ist der Gesetzgeber auf ein „Höchstmaß an Bestimmtheit“1075, verstanden als das normintern Mögliche, gebunden. 1069
Zum dt. Recht BVerfGE 109, 133, 171 f.; Appel, Verfassung und Strafe, S. 528 f.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 57; Nolte, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, Art. 103 Abs. 2 Rn. 168; Radtke/Hagemeier, in: Epping/Hillgruber, BeckOK, GG, Art. 103 Rn. 18; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. VI, Art. 103 Abs. 2 Rn. 167 [30. Lfg.: Dezember 1992]. 1070 Anderes gilt möglicherweise für die interne Kompetenzabgrenzung bei der abgestuften Gesetzgebung zwischen Gesetzgeber und Verwaltung. Zum Gesetzesbegriff des jeweiligen Gesetzesvorbehalts siehe bereits S. 145 ff. 1071 Zu den verschiedenen Grundrechtseingriffen hoheitlicher Strafe siehe oben S. 138 f. 1072 Papier/Möller, AöR 122 (1997), 177, 200. 1073 Papier/Möller, AöR 122 (1997), 177, 200. 1074 Siehe soeben S. 194 ff. 1075 So zum strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz Appel, Verfassung und Strafe, S. 120; Ashworth/Horder, Principles of Criminal Law, S. 63 ff., insb. S. 65 („the principal of maximum certainty, not absolute certainty“); Dannecker, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK,
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
(7) Zwischenergebnis Auch im Strafrecht ist der Bestimmtheitsgrundsatz abwägungsunterworfen. Entgegenstehendes Abwägungsgewicht ist der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz, der für die Einzelfallgerechtigkeit streitet. Letztere ist mit der hinter dem Bestimmtheitsgrundsatz stehenden Rechtssicherheit in praktische Konkordanz zu bringen. Diese Abwägung ist in der gesetzlichen Grundlage des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips angelegt, indem es vom Gesetzgeber eine bestimmte, aber abstrakt-generelle (Straf)Normsetzung verlangt. Eine Einschränkung auf Tatbestandsebene, wie sie auch der EGMR vornimmt, ist somit dogmatisch zutreffend. Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip ist darüber hinaus jedoch nicht mit anderen normexternen Rechtsgütern abwägungsunterworfen. Vor allem der pauschale Hinweis auf effektiven Wettbewerbsschutz, der über die soeben beschriebene gebotene Gleichbehandlung hinausgeht, kann den Bestimmtheitsgrundsatz nicht einschränken. Es unterliegt damit keinen Schranken i.S.d. deutscher Grundrechtsdogmatik. Jeder Eingriff in den Schutzbereich des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips ist zugleich eine Verletzung, die nicht gerechtfertigt werden kann.1076 d) Keine Kompensation durch volle gerichtliche Nachprüfung Anders als bei den Verfahrensgarantien des Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 47 Abs. 2, 3 GRC, die auch durch eine nachträgliche umfassende gerichtliche1077 Überprüfungsmöglichkeit gewahrt bleiben können,1078 kann die Möglichkeit umfassender StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 186, 195 f.; Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 2, Art. 103 Rn. 29 a.E.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. VI, Art. 103 Abs. 2 Rn. 189 [30. Lfg.: Dezember 1992]; Schmitz, in: Joecks/Miebach, MüKo, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 41; vgl. auch Schuhr, in: Kudlich/Montiel/Schuhr, Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 255, 280; Wassermann, in: Denninger u. a., AK, GG, Bd. 3, Art. 103 Rn. 52 [GW: 2001]. 1076 Zu Art. 7 EMRK Kadelbach, in: Grothe/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 15 Rn. 46; zu Art. 49 GRC Borowsky, in: Meyer, GRC, Art. 52 Rn. 14a; Folz, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 49 GRC Rn 5; Schonard, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge, Art. 49 GRC Rn. 5; zu Art. 103 Abs. 2 GG ist es allg. M., dass keine Rechtfertigungsmöglichkeit besteht, mithin jede Beeinträchtigung gleich eine Verletzung darstellt; siehe nur Appel, Jura 2000, 571, 577; Höfling/Burkiczak, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar, GG, Bd. 4, Art. 103 Rn. 132 [26. Lfg.: April 2009]; Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 2, Art. 103 Rn. 17; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 103 Rn. 54; Pieroth/Schlink/ Kingreen/Poscher, Grundrechte, Rn. 1201; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. III, Art. 103 II Rn. 58; wohl auch Schuhr, in: Kudlich/Montiel/Schuhr, Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 255, 279. 1077 Die Kommission selbst ist kein Gericht i.S.d. Art. 6 EMRK; EuGH, Urt. v. 29. 10. 1980, verb. Rs. 209 bis 215 und 218/78 – van Landewyck/Kommission, Slg. 1980, 3125, 3248 Rn. 81; Urt. v. 7. 6. 1983, verb. Rs. 100 bis 103/80 – Musique diffusion française/Kommission, Slg. 1983, 1825, 1880 Rn. 7. 1078 In diesem Sinne etwa EGMR, Urt. v. 25. 8. 1987 (Plenum), Nr. 9912/82 – Lutz/ Deutschland, Série A n8 123, 7, 24 Rn. 57 = EGMR-E 3 (Nr. 56), 637, 647; Urt. v. 24. 2. 1994, Nr. 12547/86 – Bendenoun/Frankreich, Série A n8 284, 6, 19 f. Rn. 46 = ÖJZ 1994, 634; Urt. v.
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gerichtlicher Nachprüfung nach Art. 31 VO 1/2003 im Rahmen des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips Bedenken gegen die Bestimmtheit einer Strafnorm jedenfalls nicht kompensieren.1079 Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC richtet in Form des Analogieund Rückwirkungsverbots Garantien bereits an die Exekutive,1080 jedoch schafft er keine erhöhten Sicherungen durch die Einschaltung eines Gerichts. Dieses unterliegt lediglich denselben Anforderungen des Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC wie die Kommission. Der maßgebliche gewaltenteilende Gehalt des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips bleibt unberührt.1081 Es ist der Gesetzgeber und weder die Exekutive noch die Judikative, die den gesetzlichen Rahmen der Strafbarkeit setzt. Allein dieser gibt der Kommission den maßgeblichen Rahmen ihrer Entscheidung vor bzw. bietet dem Gerichtshof die entscheidenden Anhaltspunkte seiner Nachprüfung gem. Art. 31 VO 1/2003. Ohne eine solche hinreichende gesetzliche Grundlage läuft die gerichtliche Nachprüfung leer.1082 Letztere kann daher – ungeachtet der ebenfalls grundsätzlich extensiven Spruchpraxis des Gerichtshofs – auch nicht als restriktives Korrektiv einer einheitlich-extensiven Auslegung der Wettbewerbsvorschriften durch die Kommission dienen.1083 Art. 31 VO 1/2003 vermag daher keine rechtsstaatlichen Mängel des unionsrechtlichen Wettbewerbsrechts zu kompensieren, er stellt aber die Möglichkeit gem. Art. 263 Abs. 4 AEUV bereit, eine Verletzung des Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC vor dem Gerichtshof zu rügen.1084 e) Zwischenfazit Die Bestimmtheitsanforderungen an Strafnormen mögen im Einzelfall variieren. Verantwortlich dafür sind aber tatsächliche Umstände, nicht die Intensität des mit der Strafe verbundenen Grundrechtseingriffs, im Wesentlichen die Unzulänglichkeit der Sprache wie der Adressatenkreis der Norm oder auch die Natur oder Technizität des 23. 10. 1995, Nr. 15527/89 – Umlauft/Österreich, Série A n8 328-B, 30, 39 Rn. 37; Urt. v. 23. 7. 2002, Nr. 34619/97 – Janosevic/Schweden, Reports of judgments and decisisions 2002-VII, 31 Rn. 81 m.w.N. aus der Rspr.; Dittrich, Geldbußen im Wettbewerbsrecht der Europäischen Union, S. 17; unter Inbezugnahme des EGMR-Urteils Jussila/Finnland GA Sharpstone, Schlussanträge v. 10. 2. 2011, Rs. C-272/09 P – KME Germany, KME France und KME Italy/ Kommission, noch nicht in amtl. Slg., Rn. 67; a.A. Möschel, DB 2010, 2377, 2380. 1079 Vor allem auf die Rechtsfolgenseite bezogen Hirsbrunner/Werner, jusletter 20. September 2010, Rn. 42; Pascu, Strafrechtliche Fundamentalprinzipien im Gemeinschaftsrecht, S. 302; Soltész/Steinle/Bielesz, EuZW 2003, 202, 208 f.; auf die Praxis bezogen argumentieren Schwarze, EuR 2009, 171, 185 f.; ders./Bechtold/Bosch, Rechtsstaatliche Defizite, S. 26 f. 1080 Auch das Rückwirkungsverbot adressiert den Rechtsanwender; Eser, in: Meyer, GRC, Art. 49 Rn. 28; Frenz, Hdb. Europarecht, Bd. 4: Europ. Grundrechte, Rn. 5134; Schuhr, in: Kudlich/Montiel/Schuhr, Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 255, 261. 1081 Ebenso Hirschbrunner/Werner, jusletter 20. September 2010, Rn. 42 a.E.; Pascu, Strafrechtliche Fundamentalprinzipien im Gemeinschaftsrecht, S. 302. 1082 Soltész/Steinle/Bielesz, EuZW 2003, 202, 208. 1083 Zur Praxis der EU-Organe der Auslegung des Kartellverbots bereits oben S. 173 ff. 1084 Schon dieser Umweg einer Klage wird als Argument gegen eine Kompensation rechtsstaatlicher Mängel angeführt; Soltész/Steinle/Bielesz, EuZW 2003, 202, 208.
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Rechtsgegenstandes, die zu unbestimmten Rechtsbegriffen zwingen. Nur insoweit ist der Bestimmtheitsgrundsatz selbst unbestimmt.1085 Die Bestimmtheit, die sich ohnehin nicht im gesetzlichen Wortlaut der Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC, Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK findet, ist ihrerseits ein ausfüllungsbedürftiger Rechtsbegriff. Er ist mittels Abwägung zwischen Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit zur Bestimmung des für den verobjektivierten Normadressaten Vorhersehbaren zu füllen. 4. Nullum crimen sine lege stricta Auf Seiten des Rechtsanwenders wird dieses Bestimmtheitsgebot durch ein Analogieverbot zulasten des Täters abgesichert.1086 Die bestimmten Vorgaben des Gesetzgebers könnten andernfalls durch den Rechtsanwender leicht umgangen werden.1087 Dieser muss sich jedoch bei der Auslegung der Strafnormen im vom Gesetzgeber gesetzten Rahmen halten, soll das „Gesetz“ weiterhin Grundlage der Strafbarkeit sein. Das Analogieverbot stellt sich somit als spezielles Rechtsfortbildungsverbot für das gesamte Strafrecht dar.1088 a) Das Analogieverbot des Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK Um den Gewährleistungsgehalt des Analogieverbots nach Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC zu bestimmen, ist gem. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC wiederum auf Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK zurückzukommen. Aufbauend auf der Notwendigkeit gerichtlicher Interpretation der gesetzlichen Strafvorschriften,1089 sieht der EGMR die Fortentwicklung des Strafrechts durch die Rechtsprechung auch über das common law hinaus als einen bewährten und notwendigen Teil der Rechtstradition an (engl. „the progressive development of the criminal law through judicial law-making is a well 1085 Zu Art. 103 Abs. 2 GG Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 911: „Anforderungen an die Bestimmtheit selbst unbestimmt“; Schmidhäuser, in: Selmer/von Münch, GS Martens, S. 231, 243 spricht von dem „Gebot der relativen Bestimmtheit des Strafgesetzes“. 1086 Zu Art. 7 EMRK: EKMR, Entsch. v. 22. 4. 1965, Nr. 1852/63 – X./Österreich, Yb 8, 190, 198; EGMR, Urt. v. 25. 5. 1993, Nr. 14307/88 – Kokkinakis/Griechenland, Série A n8 260A, 6, 22 Rn. 52 = ÖJZ 1994, 59, 61; Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 7 Rn. 2; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24 Rn. 132, 136; zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen EuGH, Urt. v. 12. 12. 1996, verb. Rs. C-74/95 und C-129/95 – X, Slg. 1996, I-6609, I-6637 Rn. 25; Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 56; König, Das Europäische Verwaltungssanktionsrecht und die Anwendung strafrechtlicher Rechtsgrundsätze, S. 187, 202; Tiedemann, in: Vogler u. a., FS Jescheck, Bd. II, S. 1411, 1427; Tsolka, Der allgemeine Teile eines europäischen supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 94; zu Art. 49 GRC Eser, in: Meyer, GRC, Art. 49 Rn. 23; zum dt. Recht Dannecker, in: Laufhütte/ Rissing-van Saan/Tiedemann, LK, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 111; Hassemer/Kargl, in: Kindhäuser/ Paeffgen/Neumann, NK, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 70; Schaut, Europ. Strafrechtsprinzipien, S. 151 ff.; Schmitz, in: Joecks/Miebach, MüKo, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 60. 1087 Eser, in: Meyer, GRC, Art. 49 Rn. 23. 1088 Zu den allgemeinen Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung siehe bereits oben S. 64 ff. 1089 Siehe oben S. 179 f., 187 ff.
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entrenched and necessary part of legal tradition“, frz. „il est solidement établi dans la tradition juridique […] que la jurisprudence, en tant que source du droit, contribue nécessairement à l’évolution progressive du droit pénal“).1090 Diese tritt zum „Gesetz“ hinzu. Gemeinsam daraus, d. h. dem Gesetz und seiner richterlichen Konkretisierung, muss sich gem. Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK die Vorhersehbarkeit der Strafbarkeit für den Adressaten ergeben.1091 Dabei erscheint der Wortlaut der Strafnorm als erster Bezugspunkt. Erst erforderlichenfalls wird die Auslegung durch die Gerichte herangezogen. Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK wird entsprochen „where the individual can know from the wording of the relevant provision and, if need be, with the assistance of the courts’ interpretation of it, what acts and omissions will make him liable.“ (frz. „lorsque l’individu peut savoir, à partir du libellé de la clause pertinente et, au besoin, à l’aide de son interprétation par les tribunaux, quels actes et omissions engagent sa responsabilité.“)1092 Die das Strafgesetz entwickelnde Rechtsprechungspraxis müsse „ausreichend vorhersehbar“ (engl. „reasonably be foreseen“, frz. „raisonnablement prévisible“) sein.1093 Die Bedeutung des Wortlauts nimmt in der Rechtsprechung des EGMR mithin zu, soweit einschlägige Präjudizien fehlen.1094 Die Grenze der Auslegung sieht der EGMR schließlich erreicht, wenn die Rechtsprechung die „essence 1090 EGMR, Urt. v. 22. 11. 1995, Nr. 20166/92 – S.W./Vereinigtes Königreich, Série A n8 335-B, 30, 42 Rn. 36 = ÖJZ 1996, 356, 357. 1091 EGMR, Urt. v. 22. 11. 1995, Nr. 20166/92 – S.W./Vereinigtes Königreich, Série A n8 335-B, 30, 42 Rn. 36 = ÖJZ 1996, 356, 357; Urt. v. 22. 11. 1995, Nr. 20190/92 – C.R./ Vereinigtes Königreich, Série A n8 335-C, 58, 69 Rn. 34; Urt. v. 15. 11. 1996 (GK), Nr. 17862/ 91 – Cantoni/Frankreich, Recueil des arrêts et décisions 1996-V n8 20, 1616, 1628 Rn. 32 = EuGRZ 1999, 193, 197; Urt. v. 22. 3. 2001 (GK), Nr. 34044/96, 35532/97 und 44801/98 – Streletz, Keßler und Krenz/Deutschland, Reports of judgments and decisions 2001-II, 357, 381 f. Rn. 50 = NJW 2001, 3035, 3037; Urt. v. 12. 7. 2007, Nr. 74613/01 – Jorgic/Deutschland, Reports of judgments and decisions 2007-III, 269, 296 Rn. 101 = NJOZ 2008, 3605, 3612; Urt. v. 12. 2. 2008 (GK), Nr. 21906/04 – Kafkaris/Zypern, Reports of judgments and decisions 2008I, 229, 280 Rn. 139 = NJOZ 2010, 1599, 1603: „Kurzum, ,Gesetz‘ in diesem Sinne [gemeint ist Art. 7 EMRK] ist die geltende Vorschrift, wie sie die zuständigen Gerichte ausgelegt haben“; Renzikowski, in: Pabel/Schmahl, IntKomm, EMRK, Bd. 1, Art. 7 Rn. 61 [12. Lfg.: Mai 2009]; zum dt. Recht Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103 Rn. 69; Roxin, Strafrecht AT/I, § 5 Rn. 28. Kuhlen, in: Kudlich/Montiel/Schuhr, Gesetzlichkeit und Strafrecht, S. 429, 436 zu normativen Folgeproblemen. 1092 EGMR, Urt. v. 25. 5. 1993, Nr. 14307/88 – Kokkinakis/Griechenland, Série A n8 260-A, 6, 22 Rn. 52 = ÖJZ 1994, 59, 61. 1093 EGMR, Urt. v. 22. 11. 1995, Nr. 20166/92 – S.W./Vereinigtes Königreich, Série A n8 335-B, 30, 42 Rn. 36 = ÖJZ 1996, 356, 357; Urt. v. 22. 11. 1995, Nr. 20190/92 – C.R./ Vereinigtes Königreich, Série A n8 335-C, 58, 69 Rn. 34; Urt. v. 22. 3. 2001 (GK), Nr. 34044/96, 35532/97 und 44801/98 – Streletz, Keßler und Krenz/Deutschland, Reports of judgments and decisions 2001-II, 357, 381 f. Rn. 50 = NJW 2001, 3035, 3037; Urt. v. 12. 7. 2007, Nr. 74613/01 – Jorgic/Deutschland, Reports of judgments and decisions 2007-III, 269, 296 Rn. 101 = NJOZ 2008, 3605, 3612; zum dt. Recht BVerfGE 92, 1, 23; Dannecker, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 302; Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103 Rn. 70. 1094 Renzikowski, in: Pabel/Schmahl, IntKomm, EMRK, Bd. 1, Art. 7 Rn. 61 [12. Lfg.: Mai 2009].
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of the offence“ (frz. „la substance de l’infraction“), das „Wesen der Straftat“, verlässt.1095 Über dieses Merkmal ist die für den Inhalt des Analogieverbots maßgebliche Abgrenzung von noch zulässiger Auslegung bzw. richterlicher Konkretisierung und unzulässiger Rechtsfortbildung vorzunehmen.1096 Konkretisierende Vorgaben macht der EGMR nicht, er behält sich vielmehr die effektive Wahrung der Menschenrechte an diesem flexiblen Maßstab der Vorhersehbarkeit im jeweiligen Einzelfall vor.1097 b) Das Analogieverbot des Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC Die beschriebene „Bedeutung und Tragweite“ des Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK kommt auch dem entsprechenden Analogieverbot des Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC wenigstens zu, Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC. Da die Grundlage der Strafbarkeit im Recht der EU eine geschriebene Rechtsnorm bilden muss, die unter Beteiligung des Europäischen Parlaments zustande gekommen ist, gehen auch die Anforderungen der Teilgarantie des nullum crimen sine lege stricta spiegelbildlich zum Bestimmtheitsgrundsatz über die Garantie des Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK hinaus. Vor dem Hintergrund des gewaltenteilenden Gehalts des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips im Unionsrecht1098 sowie der allgemeinen Kompetenzabgrenzung von Gesetzgebung und Rechtsprechung im dortigen institutionellen Gleichgewicht1099 kann sich das vom EGMR herausgearbeitete Kriterium des Wesens der Straftat (engl. „essence of the offence“, frz. „la substance de l’infraction“), das die Grenze richterlicher Auslegung der Straftatbestände zieht, nur als die Summe der wesentlichen Voraussetzungen der Strafbarkeit darstellen, die der Gesetzgeber selbst in der Strafnorm festschreiben muss. Das Wesen der Straftat ist somit dem gesetzlichen Rahmen gleichzusetzen. Aufgrund des von rechtsstaatlicher wie demokratischer Gewaltenteilung geprägten Gesetzesbegriffs darf die Rechtsprechung den vom Gesetzgeber bestimmten Rahmen der Strafbarkeit, das Wesen der Straftat, nicht strafbegründend oder -ausweitend überschreiten. Die Strafbarkeit würde nicht aus dem „Gesetz“ erfolgen, sondern auf ungeschriebener, richter- und ggf. gewohnheitsrechtlicher Grundlage. Aus diesem Grund vermag selbst eine vorhersehbare und gefestigte Rechtspre1095
Siehe die Nachw. aus Teil 2 Fn. 1093. Vgl. Demko, HRRS 2004, 19, 21; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24 Rn. 136, die jedoch jeweils auch das Kriterium der vernünftigen Vorhersehbarkeit bei der Abgrenzung berücksichtigen. Zu diesen Anforderungen der Vorhersehbarkeit an die Rspr. noch unten S. 212 f.; allgemein zur Abgrenzung von Auslegung und richterlicher Rechtsfortbildung bereits oben S. 64 ff. 1097 Vgl. Paeffgen, in: Wolter, SK, StPO, Bd. X, Art. 7 EMRK Rn. 23, der stattdessen für eine Grenzziehung entlang des Wortlauts auch im Recht der EMRK plädiert. Ebenso für den Wortlaut als Abgrenzungskriterium des Art. 7 EMRK Sinner, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art. 7 Rn. 13. 1098 Zur rechtstheoretischen Verankerung bereits oben S. 138 ff. 1099 Siehe dazu bereits oben S. 64 ff. 1096
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chungspraxis einen unbestimmt weiten gesetzlichen Rahmen nicht zu konkretisieren. Dann würde die Rechtsprechungspraxis das Gesetz ergänzen. Diese Kompetenz kommt der Rechtsprechung nicht zu. Sie kann das einmal unbestimmte Gesetz nicht wieder aufleben lassen.1100 aa) Der Begriff der Analogie i.S.d. strafrechtlichen Analogieverbots Vor dem beschriebenen freiheits- und vertrauensschützenden Hintergrund des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips wird deutlich, dass dem methodischen Begriff der Analogie1101 keine maßgebliche Bedeutung zukommen kann. Zwar wird die Teilgewährleistung des nullum crimen sine lege stricta allgemein als „Analogieverbot“ benannt. Bezeichnet wird damit allerdings das Verbot jedweder Rechtsfortbildung, die – im Gegensatz zur Auslegung – die Grenzen des gesetzlichen Tatbestandes überschreitet.1102 Die methodische Figur der Analogie erscheint damit lediglich als ein Unterfall extensiver Normanwendung zulasten des Täters, verstanden als den gesetzlichen Rahmen verlassender Rechtsfortbildung.1103 bb) Der gesetzliche Rahmen als Grenze der Auslegung Von zentraler Bedeutung für das Analogieverbot ist mithin die Ermittlung dieses gesetzlichen Rahmens, in den Worten des EGMR die „essence of the offence“ (frz. „la substance de l’infraction“). (1) Spiegelbild des Bestimmtheitsgrundsatzes Im Rahmen des an den Gesetzgeber gerichteten Bestimmtheitsgrundsatzes konnte diese Grenze bereits gezogen werden. Der Gesetzgeber muss seine Strafbarkeitsentscheidung so in der Strafnorm zum Ausdruck bringen, dass sie dem Normadressaten vorhersehbar ist. Gelingt ihm dies nicht, liegt keine taugliche Strafbarkeitsgrundlage vor. Der Rechtsanwender darf nicht zulasten des Täters korrigierend
1100 Kritisch ebenfalls Renzikowski, in: Pabel/Schmahl, IntKomm, EMRK, Bd. 1, Art. 7 Rn. 58 [12. Lfg.: Mai 2009]; zum dt. Recht etwa BVerfGE 105, 135, 153; Hassemer/Kargl, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, NK, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 70; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 103 Rn. 52; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. VI, Art. 103 Abs. 2 Rn. 225 [30. Lfg.: Dezember 1992]; Schünemann, Nulla poena sine lege?, S. 32 f. 1101 Dazu Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder, StGB, § 1 Rn. 25; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 202 f. 1102 Zu Art. 103 Abs. 2 GG BVerfGE 71, 108, 115; 73, 206, 235; 82, 236, 269. 1103 Vgl. etwa EGMR, Urt. v. 22. 6. 2000, Nr. 32492/96, 32547/96, 32548/96, 33209/96 und 33210/96 – Coëme u. a./Belgien, Reports of judgments and decisions 2000-VII, 9, 60 f. Rn. 145: „it also lays down the principle that the criminal law must not be extensively construed to an accused’s detriment, for instance by analogy.“ (frz. „il commande en outre de ne pas appliquer la loi pénale de manière extensive au détriment de l’accusé, par exemple par analogie.“).
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oder ergänzend tätig werden. Dies verbietet ihm das Analogieverbot als die an den Rechtsanwender gerichtetete Absicherung des Bestimmtheitsgrundsatzes. Es konnte oben1104 gezeigt werden, dass sich dieser gesetzliche Rahmen, das für den verobjektivierten Normadressaten Vorhersehbare, letztlich nur durch eine Abwägung von Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit ermitteln lässt. So wie das Analogieverbot den Bestimmtheitsgrundsatz absichert, so wirkt diese Abgrenzung auch als Kompetenzbegrenzung des Rechtsanwenders fort. In der Literatur werden indes unter Rückgriff auf die Auslegungskriterien vermeintlich eindeutige Abgrenzungskriterien vorgeschlagen, die eine klare Grenzziehung ermöglichten. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber, dass diese klaren Lösungen nicht durchführbar sind bzw. sich wieder auf die beschriebene Abwägung zurückführen lassen. (2) Zum Wortlaut als Grenze der Auslegung Weit überwiegend1105 wird auf den Wortlaut als das Abgrenzungskriterium zwischen Auslegung und verbotener Rechtsfortbildung verwiesen. Zunächst wird ein Heranziehen des historischen Gesetzgeberwillens ausgeschieden.1106 Die Ausdrucksform des Gesetzgebers sei das Gesetz, nicht seine flankierenden Materialien. Er habe seinen Willen daher in diese Form zu bringen. Nur soweit der Wille des Gesetzgebers im Gesetz zum Ausdruck kommt, könne er überhaupt beachtet werden. Aus der Beschränkung der gesetzgeberischen rechtlichen Mitteilungsform auf das Gesetz ergebe sich auch, dass nur der Wortlaut der Strafnorm die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung ziehen könne. Nur der Gesetzestext sei das Produkt der gesetzgeberischen Wertentscheidung, nur der verwandten Sprache komme die Autorität des gesetzgeberischen Befehls zu.1107 Hinzu trete ein kommunikationstheoretisches Argument. Das ausgesprochene Wort, 1104
S. 177 ff. Zum europäischen Kartellbußgeldrecht siehe etwa Alber, in: Tettinger/Stern, KöKo, GRC, Art. 49 Rn. 6; Böse, Strafen und Sanktionen im europ. GemR, S. 394; Dannecker/ Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 56; Eser, in: Meyer, GRC, Art. 49 Rn. 25; Friedmann, Die Geltung rechtsstaatlicher Grundsätze, S. 232; Jarass, GRC, Art. 49 Rn. 11; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 37 [77. Lfg.: Oktober 2012]; König, Das Europäische Verwaltungssanktionsrecht und die Anwendung strafrechtlicher Rechtsgrundsätze, S. 202; Papakiriakou, Das Europ. Unternehmensstrafrecht in Kartellsachen, S. 22 f.; Pascu, Strafrechtliche Fundamentalprinzipien im Gemeinschaftsrecht, S. 136; Tiedemann, in: Vogler u. a., FS Jescheck, Bd. II, S. 1411, 1427 f.; Tsolka, Der allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 104. 1106 Danckert, Die Grenze zwischen der extensiven Auslegung und der Analogie im Strafrecht, S. 80. 1107 Danckert, Die Grenze zwischen der extensiven Auslegung und der Analogie im Strafrecht, S. 106; Hassemer/Kargl, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, NK, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 78; Krey, Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht, S. 147; Roxin, Strafrecht AT/I, § 5 Rn. 30. 1105
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hier das Gesetz, könne nicht mehr Informationen enthalten als die Sprache erlaubt.1108 Die Sprache begrenze damit die Auslegungsalternativen des Gesetzes.1109 Schließlich beziehe sich auch der Bestimmtheitsgrundsatz auf den Wortlaut.1110 Da sich der Gesetzgeber ausschließlich in Textform ausdrückt, könnten sich die Anforderungen an ihn, namentlich der Grundsatz der Bestimmtheit, nur an die sprachliche Fassung, den Gesetzeswortlaut, richten. Er sei gezwungen, seine Vorstellungen und Wertungen in einem hinreichend bestimmten Normtext zum Ausdruck zu bringen. Bezugspunkt der Vorhersehbarkeit für den Bürger und damit seines Vertrauens wie der generalpräventiven Funktion werde damit zwingend der Gesetzeswortlaut.1111 Während die allgemeine Grenzziehung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung nach der objektiven Auslegungsmethode1112 somit mit der des strafrechtlichen Analogieverbotes übereinstimmt, bereitet die Diskrepanz der Grenzziehung von Analogieverbot und subjektiver Auslegungsmethode Schwierigkeiten.1113 Letztere orientiert sich vorrangig am historischen Normzweck und kann daher den Wortlaut der Norm unterschreiten und – in Konflikt zum so verstandenen Analogieverbot – überschreiten.1114 Nach den Vertretern der subjektiven Theorie bedinge der nachgezeichnete Schutzzweck des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips aber, dass die Wortlautgrenze selbst dann Anwendung finden müsse, wenn die subjektive Auslegungsmethode eine Auslegung und nach ihrem Verständnis eben keine Rechtsfortbildung über den Wortlaut der Norm vornimmt.1115 In der umgekehrten Fallkonstellation, in der die subjektive Auslegungsmethode den historischen Normzweck übersteigt und in ihrem Verständnis mithin eine Rechtsfortbildung vornimmt, die sich aber im Rahmen des Wortlauts der Norm bewegt, griffe das Analogieverbot trotz einer Rechtsfortbildung i.S.d. subjektiven Theorie nicht.1116 Die Wortlautgrenze scheint somit unabhängig von der methodischen Grundausrichtung Bestand zu haben. Die Wortlautgrenze scheint zudem durch einen wertenden Rechtsvergleich bestätigt zu werden. Dieser mag in die Auslegung des Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC eingehen oder über Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC i.V.m. Art. 6 Abs. 3 EUV als ergänzende, eigenständige Garantie Bedeutung erlangen.1117 Der nullum crimen, nulla poena sine lege-Grundsatz in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zieht die Abgrenzung 1108
Krey, Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht, S. 147. Krey, Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht, S. 147. 1110 Danckert, Die Grenze zwischen der extensiven Auslegung und der Analogie im Strafrecht, S. 110. 1111 Vgl. Roxin, Strafrecht AT/I, § 5 Rn. 30. 1112 Zum Meinungsstreit um das Ziel der Auslegung siehe bereits S. 42 f. 1113 Dazu ausführlich Rüthers/Höpfner, JZ 2005, 21 ff. 1114 Rüthers/Höpfner, JZ 2005, 21, 22. 1115 Rüthers/Höpfner, JZ 2005, 21, 24. 1116 Rüthers/Höpfner, JZ 2005, 21, 24. 1117 Zu den widerstreitenden Positionen zur Bedeutung des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC siehe oben S. 112 ff.; zu ihrer inhaltlichen Konvergenz bereits S. 159 ff. 1109
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von Auslegung zu vom Analogieverbot verbotener Rechtsfortbildung weit überwiegend anhand des Wortlauts der Strafnorm.1118 Das nach Art. 6 Abs. 3 EUV für die Erkennung allgemeiner Rechtsgrundsätze erforderliche Kriterium des Einpassens in das Recht der EU wurde bereits dargelegt. Allerdings lässt sich diese auf den ersten Blick klare Wortlautgrenze wieder auf den Ausgangspunkt der Maßgeblichkeit des gesetzlichen Rahmens zurückführen. Jeder sprachliche Ausdruck kann bereits mehrere Bedeutungen erlangen.1119 Diese Unklarheit wird verstärkt, indem der Gesetzgeber zudem gehalten ist, die Strafnormen abstrakt-generell zu fassen und sich auch unbestimmter Rechtsbegriffe bedienen darf, die erst der richterlichen Konkretisierung bedürfen. Jede Norm ist mithin auslegungsbedürftig.1120 Erst aus diesem Kontext kann sich der Wortsinn ergeben.1121 Das für den Normadressaten aus dem Wortlaut Vorhersehbare kann somit nicht ohne Auslegung und Berücksichtigung der anderen Auslegungskriterien bestimmt werden. Die so verstandene Wortlautgrenze ist letztlich gleichzusetzen mit dem gesetzlichen Rahmen der Norm. (3) Zum Telos als Grenze der Auslegung Verstärkend zu dieser jeder Rechtsnorm immanenten Vagheit tritt im Recht der EU zudem die Mehrsprachenauthentizität ihrer Rechtsakte. Gem. Art. 55 Abs. 1 EUV, 358 AEUV; Art. 342 AEUV, Art. 1 der VO zur Regelung der Sprachenfrage sind alle derzeit 24 Sprachfassungen gleichberechtigt. Für die grammatikalische Auslegung wird damit ein Textvergleich notwendig.1122 Die einhergehende Ausweitung des Wortsinns verwäscht dabei die Grenzziehung durch das Analogieverbot, wenn man sie in der Wortlautgrenze sähe. Vereinzelt1123 wird daher ebenfalls der Wortlaut als Grenze im Strafrecht abgelehnt und stattdessen auf den Sinn und Zweck der Norm abgestellt. Angeführt werden neben der Unklarheit des Wortlautkriteriums das Heranziehen von Sinn und Zweck als Grenze der Auslegung in Staaten mit 1118 Tsolka, Der allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 102. Siehe auch die Nachw. aus der mitgliedstaatlichen Literatur bei Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 37 [77. Lfg.: Oktober 2012]. 1119 Siehe bereits oben S. 179 f. 1120 Siehe bereits oben S. 179 f. 1121 So etwa auch EuGH, Urt. v. 25. 9. 1984, Rs. 117/83 – Könecke/BALM, Slg. 1984, 3291, 3302 Rn. 11: zu prüfen ist, ob das Eingriffsgesetz, selbst wenn kein Strafgesetz, „eine solche [„klare und unzweideutige“] Grundlage darstellt; zu diesem Zweck ist die Vorschrift im Lichte ihres Wortlauts, ihres Textzusammenhangs und des mit ihr verfolgten Zwecks auszulegen.“ 1122 Siehe bereits oben S. 44 f. 1123 Engels, Unternehmensvorsatz, S. 69 f.; zum dt. Recht Wank, Die Auslegung von Gesetzen, S.42 f. Als Vertreter der subjektiven Theorie lehnen auch Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 10 f., die Wortlautgrenze ab und sprechen sich für den historischen Normzweck als Grenze der Auslegung aus, sehen aber auf der dritten Stufe ihres Stufenmodells das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzips als besonderen Vertrauenstatbestand an; Höpfner/Rüthers, a.a.O., 1, 5; Rüthers/Höpfner, JZ 2005, 21, 24; dazu soeben S. 205.
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ebenfalls mehrsprachig verbindlicher Gesetzesfassung, namentlich die Schweiz.1124 Ferner wird darauf verwiesen, dass auch dieses Kriterium die Vertrauensfunktion des Analogieverbots wahre, da sich die Praxis der EU-Organe durch ein behutsames Vorgehen auszeichne1125 und die Adressaten der kartellrechtlichen Bußgeldnormen mit dem Wirtschaftsverkehr derart vertraut seien, dass der Sinn und Zweck ihnen ebenso zugänglich sei wie dem durchschnittlichen Bürger der Wortlaut der Norm.1126 Letzteres Argument beinhaltet bereits – wenn auch zuzugeben ist, dass sich die derzeitigen Sanktionskompetenzen der EU auf spezialisierte Rechtsmaterien beziehen – eine Differenzierung in sich. Der Sinn und Zweck erschließt sich nur gewissen Adressatenkreisen wie der Wortlaut der Norm, sodass er schon aus diesem Grund nur bedingt als Abgrenzungskriterium geeignet ist. Zu den oben genannten Argumenten treten weitere Unzulänglichkeiten des Sinns und Zwecks einer Norm, der ratio legis, als Abgrenzungskriterium hinzu. Es ist bereits mit begrifflichen Unklarheiten belastet.1127 Nach den oben1128 beschriebenen unterschiedlichen Verständnissen der subjektiven und objektiven Theorie kommt dem Sinn und Zweck des Gesetzes ein unterschiedlicher Gehalt zu. Zudem ist die Ermittlung von Sinn und Zweck das Ziel der Normauslegung.1129 Damit ist es das Ergebnis der Auslegung durch den Normanwender und somit durch dessen Interpretation kein hinreichend objektives Kriterium mehr.1130 Diese Interpretation wird gerade im Unionsrecht unter dem Anschub des effet utile stark teleologisch geprägt. Die dadurch erreichte Weite1131 disqualifiziert den Sinn und Zweck ebenfalls als taugliches Abgrenzungskriterium. Zudem ist speziell in Bezug auf das Kartellrecht zu bedenken, dass über den Sinn und Zweck der Wettbewerbsvorschriften keine Einigkeit besteht.1132 Ferner kann der Telos gar keine Abgrenzungsfunktion der Auslegung einnehmen, wenn er selbst erst durch letztere gewonnen wird.1133 Ohnehin führt dieser Auslegungsvorgang auf das Wortlautkriterium im Ausgangspunkt zurück.1134 Schließlich sind gerade der Sinn und Zweck einer Norm die Triebfeder eines strafbegründenden 1124
Engels, Unternehmensvorsatz, S. 70. Dazu bereits S. 173 ff. 1126 Engels, Unternehmensvorsatz, S. 70. 1127 Danckert, Die Grenze zwischen der extensiven Auslegung und der Analogie im Strafrecht, S. 89 f. 1128 S. 42 f. 1129 Siehe bereits oben S. 42. 1130 Vgl. Danckert, Die Grenze zwischen der extensiven Auslegung und der Analogie im Strafrecht, S. 94; Hassemer/Kargl, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, NK, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 77, 114. 1131 Siehe oben S. 53 ff., 61 f. 1132 Vgl. dazu etwa Säcker, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Einl. Rn. 4 ff.; Schuhmacher, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 8 ff. [47. Lfg.: April 2012]. 1133 Schmitz, in: Joecks/Miebach, MüKo, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 63. 1134 Zum Wortlaut als Ausgangspunkt jeder Auslegung siehe bereits S. 44. 1125
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
Analogieschlusses.1135 Der Normanwender empfindet das Strafbedürfnis, auch ein nicht tatbestandlich erfasstes Verhalten zu bestrafen.1136 Der Sinn und Zweck der Strafnorm bildet dabei den Grund der rechtlichen Vergleichbarkeit des ungeregelten mit dem geregelten Fall.1137 Der Telos der Norm stellt sich somit allein als materielle Grenze der Rechtsfortbildung dar.1138 Vor diesem doppelt funktionalen Hintergrund kann der Sinn und Zweck der Norm nicht auch noch die Grenze der Auslegung ziehen. Strafbarkeitslücken sind ausschließlich durch Gesetz, mithin durch den Gesetzgeber, zu schließen. Auch der Telos ist letztlich aus den gleichen Gründen wie der Wortlaut als Abgrenzungskriterium abzulehnen. Der Sinn und Zweck einer Norm kann erst unter Heranziehen der anderen Auslegungskriterien ermittelt werden, wenn es sich um den Telos der Norm selbst handeln soll und nicht um einen externen, der Norm vom Rechtsanwender beigemessenen Zweck. Er ergibt sich als Ergebnis einer Auslegung mithin letztlich aus der Wertentscheidung des Rechtsanwenders.1139 Auch der Telos lässt sich als Abgrenzungskriterium wieder auf die Formel des EGMR zurückführen, der Normadressat müsse durch Auslegung vorhersehen können, was strafbar ist. Wo diese Vorhersehbarkeit endet, kann der Telos nicht vorgeben. (4) Zum allgemeinen Sprachgebrauch als Grenze der Auslegung Aus dem Schutzzweck des Bestimmtheitsgebots, dem Adressaten bereits aus der Strafnorm sein Strafbarkeitsrisiko vorzuzeichnen, wird verbreitet1140 geschlossen, dass bei der Bestimmung der Wortlautgrenze die Perspektive des Adressaten einzunehmen sei. Die Grenze zur verbotenen Rechtsfortbildung ziehe damit der alltagssprachliche Wortsinn der Norm.1141 Wie die Anforderungen an die Vorherseh1135
Vgl. Danckert, Die Grenze zwischen der extensiven Auslegung und der Analogie im Strafrecht, S. 91 f. 1136 Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 58; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 40 [77. Lfg.: Oktober 2012] weisen zutreffend darauf hin, dass sich das behandelte Problem ebenso bei sog. Gegenanalogien, d. h. teleologischen Reduktionen täterbegünstigender Merkmale wie Tatbestandsausnahmen oder Rechtfertigungsgründe, stellt. Dazu noch unten Teil 3 in und bei Fn. 132. 1137 Danckert, Die Grenze zwischen der extensiven Auslegung und der Analogie im Strafrecht, S. 91 f. 1138 Krey, Studien zum Gestetzesvorbehalt im Strafrecht, S. 173 ff. Zur Akzeptanz als Grenze der Rechtsfortbildung siehe bereits in Teil 2 Fn. 211. 1139 Siehe bereits oben S. 179. 1140 BVerfGE 71, 108, 115; 82, 236, 269; 92, 1, 12; Dannecker, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 302; König, Das Verwaltungssanktionsrecht und die Geltung strafrechtlicher Grundsätze, S. 202; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. VI, Art. 103 Abs. 2 Rn. 227 [30. Lfg.: Dezember 1992]. 1141 Dannecker, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 302; Degenhardt, in: Sachs, GG, Art. 103 Rn. 69; Nolte, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, Art. 103 Abs. 2 Rn. 158; Roxin, Strafrecht AT/I, § 5 Rn. 28; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/
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barkeit vom Adressaten der Norm und des Regelungsgegenstandes abhängen,1142 so sei der alltagssprachliche Wortsinn auch nach dem Sprachgebrauch des adressierten Verkehrskreises zu bestimmen.1143 Diese Wortbedeutung stelle sich damit als externes Kriterium dar, das nicht vom Normanwender beeinflusst und an dem das Auslegungsergebnis, sprich der Wortsinn der Norm, überhaupt erst gemessen werden könne.1144 Auf den ersten Blick scheint diese Argumentation zu überzeugen. Bei näherem Hinsehen fällt aber auf, dass auch die allgemeinsprachliche Wortbedeutung letztlich eine Wertentscheidung des Rechtsanwenders bleiben muss. Der Sprachgebrauch im betroffenen Verkehrskreis lässt sich nicht empirisch bestimmen. Damit stellt sich auch der alltagssprachliche Wortsinn nicht als das behauptete externe Kriterium dar, das für eine klare Abgrenzung erforderlich ist. Ein solches externes Kriterium kann es auch gar nicht geben, da der Gesetzgeber abstrakt-generelle Regelungen erlassen und sich der Sprache bedienen muss. Dadurch bedingt ist jede Rechtnorm auslegungsbedürftig. Dies führt letztlich auf eine Wertentscheidung des Rechtsanwenders zurück. Diese kann der Gesetzgeber nicht beschränken, ohne dass auch diese Regelung der Auslegung und somit wiederum der Wertentscheidung des Rechtsanwenders bedürfte. Die Grenze können somit nur die übergeordneten verfassungsrechtlichen Prinzipien ziehen. Diese Optimierungsgebote lassen sich allerdings nur durch gegenseitige Abwägung konkretisieren. Bei der Abgrenzung der Kompetenz des Rechtsanwenders kann somit nur das gelten, was oben zum Bestimmtheitsgebot als die spiegelbildliche Anforderung an den Gesetzgeber festgestellt wurde. Die Norm kann nur soweit Strafbarkeitsgrundlage sein, wie sie bestimmt ist. Nur in diesem gesetzlichen Rahmen darf sich der Rechtsanwender bewegen. Wie gesehen lässt sich die Grenze der Bestimmtheit und damit auch die Grenze der Analogie nur durch Abwägung der Rechtssicherheit mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz im Einzelfall ziehen. Richtig an obiger Argumentation ist, dass der alltagssprachliche Wortsinn in der Regel diese Grenze bildet.1145 Der Normadressat ist mit dieser, seiner, Alltagssprache vertraut, sodass Dürig, GG, Bd. VI, Art. 103 Abs. 2 Rn. 227 [30. Lfg.: Dezember 1992]; Schmitz, in: Joecks/ Miebach, MüKo, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 73. 1142 Siehe oben S. 195 f. 1143 Vgl. Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 37 [77. Lfg.: Oktober 2012]; König, Das Verwaltungssanktionsrecht und die Geltung strafrechtlicher Grundsätze, S. 202; zum dt. Recht Bohnert, OWiG, § 3 Rn. 9. 1144 Vgl. Schünemann, Nulla poena sine lege?, S. 19 f., der die „Umgangssprache“ und juristische Fachsprache in Objekt- und Metasprache unterscheidet. Für die Erforderlichkeit eines externen Kriteriums auch Hassemer/Kargl, in: Kindhäuser/Paeffgen/Neumann, NK, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 79 f. 1145 Vgl. auch Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. VI, Art. 103 Abs. 2 Rn. 226 [30. Lfg.: Dezember 1992]: Der mögliche Wortsinn des Gesetzes „kann nicht mehr als eine Vereinfachungsformel sein, die nicht die Aufgabe hat, alle Erkenntnisse der Methodenlehre exakt auf den Punkt zu bringen, sondern dem Strafrichter in der täglichen Praxis bewußt halten
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
ihm die Strafbarkeit zumeist vorhersehbar ist. Eine Auslegung innerhalb des noch möglichen alltagssprachlichen Wortsinns des verobjektivierten Normadressaten wird der Rechtssicherheit in aller Regel am weitesten gerecht. Jedoch kann bei Vorliegen freilich starker entgegenstehender Gründe der Gleichbehandlung und Einzelfallgerechtigkeit davon abzuweichen sein. Dieses Überwiegen müsste durch Auslegung der Strafnorm für den Normadressaten vorhersehbar sein. Aus diesem Kontext des gesetzlichen Wortlauts müsste er erkennen können, dass der Sinn des Gesetzes den alltagssprachlichen Wortsinn übersteigt. Beispielhaft für die Unverbindlichkeit der allgemeinsprachlichen Wortsinngrenze kann sogar Art. 101 Abs. 1 AEUV herangezogen werden. Das Kartellverbot erfasst „Vereinbarungen“, „Beschlüsse“ und „aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen“ nur in ihrer Mehrzahl. Eine Auslegung ergibt aber deutlich und für den Normadressaten vorhersehbar, dass schon eine einzige wettbewerbswidrige Vereinbarung „mit dem Binnenmarkt unvereinbar und verboten“ ist.1146 Auch der entgegengesetzte Fall ist denkbar. Die Auslegung einer Norm kann ergeben, dass der alltagssprachliche Wortsinn nicht vom Rechtsanwender auszuschöpfen ist.1147 Die übrigen Auslegungskriterien können auf eine Beschränkung der Norm hindeuten und damit im Rahmen der Abwägung für die Rechtssicherheit streiten. Trotz weiten Wortlauts ist dem Bürger dann nur ein Teilbereich als strafbar vorhersehbar. Der gesetzliche Rahmen ist dann enger als der Wortlaut. Auch der Rechtsanwender bleibt dann an den gesetzlichen Rahmen gebunden. cc) Die Grenzziehung durch den gesetzlichen Rahmen bei Mehrsprachenauthentizität Gleichwohl verbleibt die Frage, wie der gesetzliche Rahmen speziell im mehrsprachigen Unionsrecht zu ziehen ist. Eine Lösung muss sowohl dem Schutzgedanken des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips, der Einheitlichkeit der Auslegung und der damit korrespondierenden Gleichbehandlung der Bürger wie auch der Verbindlichkeit jeder einzelnen Sprachfassung und ihrer Gleichbehandlung genü-
soll, daß ihm nicht der gesamte Methodenkanon der Rechtskonkretisierung zur Begründung oder Verschärfung der Strafbarkeit zur Verfügung steht.“ 1146 Vgl. zu den Pluralformulierungen im deutschen Strafrecht Schlehofer, JuS 1992, 572, 574. 1147 Vgl. auch BVerfGE 57, 250, 262 („mit dem Wortlaut der Regelung, ihrem Zweck und ihrer Entstehungsgeschichte in Einklang stehende Auslegung erfahren, die dem Normadressaten hinreichend verdeutlicht, was die Bestimmung strafrechtlich verbietet.“); BVerfG, NJW 2011, 836, 838 (Rn. 53); abweichende Meinung der Richter Seidel und Söllner und der Richterin Haas, BVerfGE 92, 1, 20 („Auch innerhalb des möglichen Wortsinns darf die Auslegung nicht weiter gehen, als es Zweck und Sinnzusammenhang der Norm zulassen“); Dannecker, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 251; Krey, Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht, S. 188 ff.
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gen. Letztere ermöglichen dabei erst die Zugänglichkeit der Norm, wie sie bereits Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK in der Teilgarantie des nullum crimen sine lege verlangt.1148 Die Maßgeblichkeit der Sprachfassung, dessen der konkret Betroffene mächtig ist, wird der Gleichberechtigung der Adressaten wie der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts nicht gerecht.1149 Unabhängig von der Beweisfrage, an welcher Sprachfassung sich der Betroffenen nun vor Tatbegehung tatsächlich orientiert hat, würde das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip uneinheitlich angewandt. Wäre eine weite Sprachfassung streitgegenständlich, würde es sich noch um eine zulässige Auslegung durch die Rechtsprechung handeln. Währenddessen wäre der Betroffene, der einer engen Sprachfassung vertraut hat, vor einer – in der Sachfrage identischen – strafbegründenden richterlichen Analogie geschützt. Ebenso wenig kann eine Schnittmenge aus den verschiedenen Sprachfassungen gebildet werden. Diese sichert zwar eine einheitliche Auslegung, wird aber nicht dem Schutzgedanken des Gesetzlichkeitsprinzips gerecht.1150 Der Adressat der Maßnahme könnte gerade auf die ihm besonders vorteilhafte Fassung vertraut haben. Da alle Fassungen gleichberechtigt verbindlich sind, ist er darin auch zu schützen. Der Gesetzgeber muss für jede einzelne Sprachfassung den Anforderungen des strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes nachkommen.1151 Dem Vertrauensschutz des Bürgers wie der Gleichberechtigung der Sprachfassungen und der Einheitlichkeit der Normanwendung wird es gerecht, die Grenze der Auslegung zur Rechtsfortbildung durch die dem Bürger vorteilhaftesten Sprachfassung zu ziehen. Handelt es sich um eine Verbotsoder Eingriffsnorm, ist der gesetzliche Rahmen der engsten Sprachfassung maßgeblich. Das so gefundene Ergebnis wird von jeder Sprachfassung erfasst. Keine wird übergangen. Jeder Bürger wird gleich behandelt und zwar so wie derjenige, der auf die engste Sprachfassung vertraut hat. Selbst wenn die Strafnorm ausschließlich juristische Personen adressiert, so müssen diese im Strafrecht grundsätzlich keinen Sprachenvergleich vornehmen.1152 Die Strafbarkeit muss sich aus jeder einzelnen 1148
Zu den qualitativen Anforderungen der EMRK an das Gesetz siehe oben S. 144 f. So aber Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 458; wohl auch Schilling, ZEuP 2007, 754, 758, 769. 1150 Daher ist der Bestätigung des Bußgelds durch EuGH, Urt. v. 17. 7. 1997, Rs. C-219/95 P – Ferriere Nord/Kommission, Slg. 1997, 4411, 4435 Rn. 14 f. zu widersprechen. Die damalige italienische Sprachfassung verknüpfte die beiden Alternativen des Bezweckens oder Bewirkens kumulativ mit „e“ („und“). Der EuGH verwies darauf, dass das Gemeinschaftsrecht „im Licht der Fassungen in den anderen Gemeinschaftssprachen einheitlich ausgelegt und angewandt werden“ müsse und kam zum Ergebnis, dass die Voraussetzungen des Art. 85 EG alternativ zu verstehen seien. Dass „die italienische Fassung des Artikels 85 für sich genommen klar und eindeutig ist“, stehe nicht entgegen. Auf die Garantiefunktion des Strafrechts geht er nicht (weiter) ein. Mittlerweile lautet auch die italienische Sprachfassung des Kartellverbots „per oggetto o per effetto“ („oder“). Wie zutreffend geschehen und einzig zulässig musste der Gesetzgeber diesen Fehler beheben. 1151 Siehe bereits oben S. 169. 1152 Anders Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 460 unter gewissen Voraussetzungen, da sie an die jeweilige Heimatsprachfassung anknüpft. Gegen das Verweisen des Normunterworfenen an einen Übersetzer allgemein auch Schilling, ZEuP 2007, 754, 758 f. 1149
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
Sprachfassung vorhersehen lassen. Auch wenn ein Sprachvergleich für die Wortlautauslegung einer Norm erforderlich ist,1153 so kann das Rechtssicherheit schaffende Verständnis der einen Sprachfassung nur durch Anzeichen erschüttert werden, die durch die anderen Auslegungskriterien gewonnen werden. Die anderen Sprachfassungen zeigen gerade, dass eine klarere sprachliche Fassung grundsätzlich möglich ist. Deshalb liegt es allein am Gesetzgeber, die fragliche Sprachfassung nachzubessern. Der Bürger hingegen darf grundsätzlich auf nur eine Sprachfassung vertrauen. Steht eine Erlaubnis- oder Rechtfertigungsnorm in Frage, so ist entsprechend die weiteste Sprachfassung maßgeblich. Die dieser Sprache mächtigen Bürger durften hierauf vertrauen. Alle anderen Bürger sind dem gleichzustellen. Diese Erweiterung stellt sich in den engeren Sprachfassungen als im Hinblick auf das Analogieverbot unbedenkliche täterfreundliche Rechtsfortbildung dar. Die Mehrsprachenauthentizität des Unionsrechts erhöht mithin das Fehlerrisiko des Gesetzgebers, seinen Willen nicht hinreichend zum gesetzlichen Ausdruck zu bringen.1154 Gleichwohl bleibt allein er zur Korrektur und zur Schließung von Strafbarkeitslücken berufen. Die Notwendigkeit der Mehrsprachigkeit führt also nicht dazu, dass der Rechtsanwender, namentlich die Rechtsprechung, erweiterte, ihr nach dem Primärrecht nicht zustehende Kompetenzen erhält. Sein Raum der Auslegung wird vielmehr auf den gesetzlichen Rahmen der engsten Sprachfassung verringert.1155 dd) Das Gebot restriktiver Auslegung Unbeantwortet blieb bislang, ob die Rechtsanwendung auch innerhalb des gesetzlichen Rahmens einer Strafnorm Einschränkungen unterworfen ist. Weitläufig1156 wird die Wortlautgrenze als unumstößlich angesehen und zusätzlich ein Gebot restriktiver Auslegung, insbesondere von unbestimmten Rechtsbegriffen, angenommen. Die Strafbarkeit könne nur bejaht werden, wenn die Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens eindeutig vorliegt.1157 Anders als etwa Art. 22 Abs. 2 S. 1 IStGH1153
Siehe oben S. 45. Vgl. Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 10. 1155 Vgl. auch Schilling, ZEuP 2007, 754, 780, der davon ausgeht, dass jede Sprachfassung ihre eigene Wortlautgrenze hat. Dann verengen die verschiedenen Wortlautgrenzen entsprechend den ausfüllungsbedürftigen Raum der Auslegung. 1156 Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 42 [77. Lfg.: Oktober 2012]; König, Das Verwaltungssanktionsrecht und die Geltung strafrechtlicher Grundsätze, S. 202; Papakiriakou, Das Europ. Unternehmensstrafrecht in Kartellsachen, S. 23 ff.; Pascu, Strafrechtliche Fundamentalprinzipien im Gemeinschaftsrecht, S. 136, 254; Tiedemann, in: Vogler u. a., FS Jescheck, Bd. II, S. 1411, 1424 f.; Tsolka, Der allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 104, 106; a.A. zu Art. 49 GRC Eser, in: Meyer, GRC, Art. 52 Rn. 25; zu Art. 7 EMRK Renzikowski, in: Pabel/Schmahl, IntKomm, EMRK, Bd. 1, Art. 7 Rn. 59 [12. Lfg.: Mai 2009]. 1157 Papakiriakou, Das Europ. Unternehmensstrafrecht in Kartellsachen, S. 24; Pascu, Strafrechtliche Fundamentalprinzipien im Gemeinschaftsrecht, S. 136; Tsolka, Der allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 102 f. 1154
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Statut enthalten Art. 7 EMRK, Art. 49 GRC ausdrücklich kein solches Verbot. Allerdings gibt die Rechtsprechung des EGMR Aufschluss. Der EGMR formuliert, dass Art. 7 EMRK auch „the principle that the criminal law must not be extensively construed to an accused’s detriment, for instance by analogy“, (frz. „celui qui commande de ne pas appliquer la loi pénale de manière extensive au détriment de l’accusé, notamment par analogie“) enthalte.1158 Was der EGMR dabei unter einer extensiven Auslegung versteht, konkretisiert er wie gesehen1159 anhand der Kriterien der Vorhersehbarkeit und des Wesens der Straftat. Das Wesen der Straftat ist in einer kodifizierten Rechtsordnung bei Geltung der Gewaltenteilung mit den gesetzlich gesetzten tatbestandlichen Grenzen gleichzusetzen und deckt den gewaltenteilenden Gehalt des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips ab.1160 Mehr als diese Einhaltung der gesetzgeberischen Wertentscheidung verlangt auch das unionsrechtliche institutionelle Gleichgewicht nicht. Der Rechtsanwender darf sich allein innerhalb des gesetzlichen Rahmens bewegen. Hinzu tritt aber das strafrechtlich-generalpräventive wie rechtsstaatlich-vertrauensschützende Kriterium der Vorhersehbarkeit für den Normadressaten. Dieses erstreckt sich wie gesehen auch auf die die Strafnorm auslegende Rechtsprechung.1161 In den Worten des EGMR muss eine konkretisierende Rechtsprechungsentwicklung ausreichend vorhersehbar (engl. „reasonably be forseen“, frz. „raisonnablement prévisible“) sein.1162 Der Ausfüllungsraum der Rechtsprechung muss also Schritt für Schritt behutsam ausgefüllt werden. Nur insoweit muss die Auslegung „restriktiv“ sein. Ansonsten darf der gesetzliche Rahmen von der Rechtsprechung – freilich in den Grenzen der allgemeinen Methodik – auch bis zur Grenze des gesetzlichen Rahmens ausgeschöpft werden.1163 Etwas anderes könnte vielmehr nur gelten, wenn sich eine Rangfolge der Auslegungskriterien ergäbe. Mangels einer solchen kommt dem Rechtsanwender innerhalb des gesetzlichen Rahmens der letztlich gewollte Wertungsfreiraum zu. Die vorhersehbare Konkretisierungsleistung der Rechtsprechung, auch im außerstrafrechtlichen Bereich,1164 sorgt damit dafür, dass die „Tatbestandsmäßigkeit eindeutig“ ist. Auf an1158 EGMR, Urt. v. 25. 5. 1993, Nr. 14307/88 – Kokkinakis/Griechenland, Série A n8 260-A, 6, 22 Rn. 52 = ÖJZ 1994, 59, 61; Urt. v. 22. 6. 2000, Nr. 32492/96, 32547/96, 32548/96, 33209/ 96 und 33210/96 – Coëme u. a./Belgien, Reports of judgments and decisions 2000-VII, 9, 60 f. Rn. 145; ähnlich EuGH, Urt. v.12. 12. 1996, verb. Rs. C-74/95 und C-129/95 – X, Slg. 1996, I-6609, I-6637 Rn. 25; EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1536 f. Rn. 140; zust. Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24 Rn. 136. 1159 S. 200 ff. 1160 Siehe oben S. 202. 1161 Siehe oben S. 200 f. 1162 Siehe die Nachw. in Teil 2 Fn. 1093. 1163 Vgl. auch Renzikowski, in: Pabel/Schmahl, IntKomm, EMRK, Bd. 1, Art. 7 Rn. 59 [12. Lfg.: Mai 2009]; zum dt. Recht Bohnert, OWiG, § 3 Rn. 9; Roxin, Strafrecht AT/I, § 5 Rn. 28. 1164 So auch Papakiriakou, Das europ. Unternehmensstrafrecht in Kartellsachen, S. 41 f.; zum dt. Recht Schulze-Osterloh, in: Kohlmann, Strafverfolgung und Strafverteidigung, S. 60 f. Zur Auflösung des Problems der Normambivalenz siehe oben S. 174 ff.
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dere Gesichtspunkte zur Bestimmung der Eindeutigkeit kann es nicht ankommen. Auch eine verfassungskonforme Auslegung der durch unbestimmte Rechtsbegriffe weiten Strafnorm führt nicht weiter, da das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip keine weiteren Aspekte als diese Erkennbarkeit aus der Norm wie ihrer Auslegung durch die Rechtsprechung enthält.1165 Insbesondere der allgemeine Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Übermaßverbot), wie er auch in Art. 49 Abs. 3 GRC zum Ausdruck kommt, gebietet im Einzelfall eine enge Auslegung des gesetzlichen Tatbestands, wenn das danach erfasste Verhalten außer Verhältnis zur angedrohten Strafe steht. Dies ist allerdings eine inhaltliche Prüfung der gesetzgeberischen Wertentscheidung an der Verfassung im Einzelfall und keine formale Garantie. Auch aus einem wertenden Rechtsvergleich des mitgliedstaatlichen Rechts ergibt sich kein weiter gehender Gehalt eines Gebots restriktiver Auslegung.1166 Das Gebot restriktiver Auslegung ist folglich allein mit dem beschriebenen Inhalt anzuerkennen. Um die Autonomie des Unionsrechts zu wahren und Übertragungen aus der mitgliedstaatlichen Methodik1167 zu vermeiden, sollte daher nicht vom Gebot restriktiver Auslegung gesprochen werden. Stattdessen müssen Bestimmtheitsgrundsatz und Analogieverbot der Prüfungsmaßstab sein. c) Ergebnis: Schrittweise Klärung der Strafvorschriften durch richterliche Auslegung und Verbot jeglicher täterbelastender Rechtsfortbildung Aus der grundsätzlichen Zulässigkeit unbestimmter Rechtsbegriffe, zugleich aber der Einschränkung ihrer Auslegung kann eine Aussage über die vom Gerichtshof1168 in Anspruch genommene schrittweise Klärung der Strafvorschriften durch die Rechtsprechung getroffen werden. Es ist anhand der hier verwandten Begriffe der Auslegung sowie der Rechtsfortbildung zu unterscheiden. Aufgabe der Gerichte ist es, die Strafnormen auszulegen. Innerhalb des gesetzlichen Rahmens, den in der 1165
Ähnlich Eser, in: Meyer, GRC, Art. 49 Rn. 25, der einen gesetzlichen Anhaltspunkt für das Gebot restriktiver Auslegung wie etwa Art. 22 Abs. 2 S. 1 IStGH-Statut verlangt. Mit der verfassungskonformen Auslegung argumentierend hingegen Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/ Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 42 [77. Lfg.: Oktober 2012]; Papakiriakou, Das Europ. Unternehmensstrafrecht in Kartellsachen, S. 25. 1166 Vgl. Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 15 [77. Lfg.: Oktober 2012. Zum Streit im dt. Strafrecht etwa Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 158. Die unterschiedlichen, im Einzelnen auch umstrittenen Konzepte andeutend auch Tiedemann, in: Vogler u. a., FS Jescheck, Bd. II, S. 1411, 1424 f. 1167 Vgl. etwa Art. 111 – 4 frz. Code pénal. 1168 EuGH, Urt. v. 28. 6. 2005, verb. Rs. C-189/02 P, C-202/02 P, C-205/02 P bis C-208/02 P und C-213/02 P – Dansk Rørindustri u. a./Kommission, Slg. 2005, I-5425, I-5568 Rn. 217; EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1564 Rn. 141; ebenso der EGMR, siehe die Nachw. in Teil 2 Fn. 1093.
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Regel der noch mögliche alltagssprachliche Wortsinn des bürgerfreundlichsten Wortlauts der verschiedenen Sprachfassungen bildet, haben sie die Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes zu konkretisieren.1169 Unbestimmte Rechtsbegriffe eröffnen dabei einen besonders großen Spielraum und erweitern die Grenzziehung zur Rechtsfortbildung.1170 Allerdings ist dem Gesetzgeber seinerseits auch eine Grenze durch den Bestimmtheitsgrundsatz gesetzt.1171 Bereits aus der gesetzlichen Strafnorm müssen sich die wesentlichen Strafbarkeitsvoraussetzungen ergeben. Diese bilden i.S.d. gewaltenteilenden Elemente des institutionellen Gleichgewichts die gesetzgeberische Wertentscheidung, die nicht durch die Exekutive oder die Rechtsprechung ersetzt oder verändert werden darf, sondern zu respektieren, d. h. anzuwenden ist. Jedoch kommt auch der Rechtsprechung für die Anforderungen des Bestimmtheitsgrundsatzes Bedeutung zu. Neben dem gesetzlichen Wortlaut ist die Auslegung durch die Gerichte maßgeblich für die Vorhersehbarkeit.1172 Diesen Anforderungen an die Vorhersehbarkeit der Strafbarkeit für den Bürger kommt die Praxis der EU-Organe durch das oben1173 beschriebene behutsame Vorgehen nach. Die Normanwendung darf aber nicht den gesetzlichen Rahmen überschreiten. Dies verbietet das Analogieverbot.1174 Normanwendung jenseits dieser Grenze ist verbotene Rechtsfortbildung. Die Strafbarkeitsentscheidung ist allein dem Gesetzgeber vorbehalten.1175 Die Normkonkretisierung durch die verhaltene Praxis der EU-Organe1176 kann daher nur das Vertrauen kompensieren, das der Bürger in eine bisherige abweichende Verwaltungs- und Spruchpraxis innerhalb des gesetzlichen Rahmens gebildet hat, nicht dasjenige, das durch diesen entsteht.1177
1169
Die Wortwahl des EGMR in EGMR, Urt. v. 22. 11. 1995, Nr. 20166/92 – S.W./Vereinigtes Königreich, Série A n8 335-B, 30, 42 Rn. 36 = ÖJZ 1996, 356, 357; Urt. v. 22. 11. 1995, Nr. 20190/92 – C.R./Vereinigtes Königreich, Série A n8 335-C, 58, 69 Rn. 34; Urt. v. 15. 11. 1996 (GK), Nr. 17862/91 – Cantoni/Frankreich, Recueil des arrêts et décisions 1996-V n8 20, 1616, 1628 Rn. 32 = EuGRZ 1999, 193, 197; Urt. v. 22. 3. 2001 (GK), Nr. 34044/96, 35532/97 und 44801/98 – Streletz, Keßler und Krenz/Deutschland, Reports of judgments and decisions 2001-II, 357, 381 f. Rn. 50 = NJW 2001, 3035, 3037; Urt. v. 12. 7. 2007, Nr. 74613/01 – Jorgic/ Deutschland, Reports of judgments and decisions 2007-III, 269, 296 Rn. 101 = NJOZ 2008, 3605, 3612 „gradual clarification of the rules of criminal liability through judicial interpretation from case to case“, frz. „ la clarification graduelle des règles de la responsabilité pénale par l’interprétation judiciaire d’une affaire à l’autre“, spricht ebenfalls für eine Achtung dieses gesetzlichen Rahmens. 1170 Vgl. zum europäischen Kartellrecht Dannecker/Müller, in: Wabnitz/Janovsky, Hdb. des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, Kap. 18 Rn. 217. 1171 Siehe oben S. 168 ff., 176 f. 1172 Siehe oben S. 200 f. 1173 S. 173 ff. 1174 Siehe oben S. 202 ff. 1175 Allegemein zu den Grenzen richterlicher Lückenfüllung im Unionsrecht bereits S. 64 ff. 1176 Dazu oben S. 173 ff. 1177 J. Koch, ZWeR 2009, 370, 379.
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Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
„Dieses gilt“ in den übertragbaren Worten des BVerfG1178 „auch dann, wenn als Folge der wegen des Bestimmtheitsgebots möglichst konkret abzugrenzenden Strafnorm besonders gelagerte Einzelfälle aus dem Anwendungsbereich eines Strafgesetzes herausfallen, mag auch das Verhalten in ähnlicher Weise strafwürdig erscheinen. Insoweit muss sich der Gesetzgeber beim Wort nehmen lassen. Es ist seine Sache zu entscheiden, ob er die sich aus einer möglichen Strafbarkeitslücke ergebende Lage bestehen lassen oder eine neue Regelung schaffen will.“ Namentlich die ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätze sind damit allein in ihrer normkonkretisierenden Funktion heranzuziehen.1179 Sie können so der Auslegung innerhalb des gesetzlichen tatbestandlichen Rahmens dienen. Eine Berufung auf allgemeine Rechtsgrundsätze zur Strafbegründung oder -erweiterung, die den gesetzlichen tatbestandlichen Rahmen, der in aller Regel durch die äußerste Grenze des bürgerfreundlichsten Wortlauts der Norm gezogen wird, überschreitet, ist dagegen verboten.1180 5. Nullum crimen sine lege praevia Das Rückwirkungsverbot (nullum crimen sine lege praevia) verlangt schließlich, dass die strafbarkeitsbegründende Rechtsgrundlage im Zeitpunkt der Tatbegehung bereits bestand, und ist Ausdruck des Vertrauensschutzes. Diese Garantie kommt bereits im Textbefund des Art. 49 Abs. 1 S. 1 GRC sowie des Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK einzig klar zum Ausdruck.1181 Art. 49 Abs. 1 S. 2 GRC bzw. Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK ergänzen es um das Verbot, eine schwerere Strafe als die im Tatzeitpunkt angedrohte zu verhängen. Weiter und damit über den Textbefund des Art. 7 EMRK, nicht aber den vom EGMR erkannten Gehalt,1182 hinausgehend gewährleistet Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRC, dass auch eine erst nach Tatbegehung eingeführte mildere Strafe dem Täter zugutekommt (lex mitior). Eine Ausnahme zum Rückwirkungsverbot findet sich schließlich in Art. 49 Abs. 2 GRC.1183 Diese ermöglicht – wiederum zwar nicht wort-, aber inhaltsgleich mit Art. 7 Abs. 2 EMRK1184 – die nachträgliche Bestrafung nach den Tatbeständen des allgemeinen Völkerrechts. Ansonsten gilt das 1178
BVerfGE 71, 108, 116; 73, 206, 236. Zu den Funktionen allgemeiner Rechtsgrundsätze siehe bereits S. 57 f. 1180 Vgl. Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 57; Tsolka, Der allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 93. 1181 Entsprechend wird das Rückwirkungsverbot im internationalen Kontext häufig als Kern des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips angesehen; Eser, in: Meyer, GRC, Art. 49 Rn. 9. So etwa Kreicker, in: Sieber u. a., Europäisches Strafrecht, § 51 Rn. 82. 1182 Nach EGMR, Urt. v. 17. 9. 2009 (GK), Nr. 10249/03 – Scoppola/Italien (Nr. 2), nicht in amtl. Slg., Rn. 109 = NJOZ 2010, 2726, 2730 enthält auch Art. 7 Abs. 1 EMRK nunmehr eine lex mitior-Regel. 1183 Alber, in: Tettinger/Stern, KöKo, GRC, Art. 49 Rn. 9; Voet van Vormizeele, in: Schwarze u. a., EU-Kommentar, Art. 49 GRC Rn. 10. 1184 Alber, in: Tettinger/Stern, KöKo, GRC, Art. 49 Rn. 9; Eser, in: Meyer, GRC, Art. 49 Rn. 4. 1179
D. Strafrechtliches Gesetzlichkeitsprinzip als primärrechtliche Interorgangrenze
217
strafrechtliche Rückwirkungsverbot anders als das allgemeine verwaltungsrechtliche absolut.1185 Die Sanktionsnorm des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a VO 1/2003 für materielle Kartellrechtsverstöße existiert in ihren Grundzügen bereits seit Beginn des europäischen Integrationsprozesses.1186 Die Frage einer Rückwirkung des Strafgesetzes stellt sich daher nicht. Allerdings ist zu klären, inwieweit rückwirkende, täterbelastende Rechtsprechungsänderungen verboten sind. Unter Rückgriff auf Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK gem. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC wurde bereits dargelegt, dass Rechtsprechungsänderungen an sich keinesfalls verboten sind, soweit sie vorhersehbar sind.1187 Da die Gerichte das Recht erkennen, wie es schon immer bestand,1188 wird das Verbot der „rückwirkenden Anwendung einer neuen Auslegung“ somit durch das Kriterium der Vorhersehbarkeit ersetzt.1189 Eine rückwirkende Bestrafung scheidet aus, wenn die Strafbarkeit, genauer für den hier behandelten Aspekt, die Ausschöpfung des gesetzlichen Rahmens durch die Rechtsprechung, vor Tatbegehung vorhersehbar war. In Beziehung auf die Rechtsprechung geht das Rückwirkungsverbot somit nicht über die obigen, beim Analogieverbot als die Anforderungen an den Rechtsanwender verorteten1190 Anforderungen hinaus. Auch die Geltung des Rückwirkungsverbots für die Leitlinien der Kommission1191 zeigt keine Besonderheiten für die Fallgruppe der Kartellgehilfen auf, weil die Bußgeldleitlinien keine darauf bezogenen speziellen Regelungen vorsehen.
1185
Ausdrücklich zu Art. 103 Abs. 2 GG BVerfGE 30, 367, 385; 95, 96, 131. Vgl. Art. 65 § 5 EGKSV, Art. 15 VO 17/62. 1187 Siehe eingehend S. 200 ff. 1188 Vgl. Hummer/Obwexer, EuZW 1997, 295, 302. 1189 Vgl. zum prätorischen Grundrechtsschutz unter Bezugnahme auf die Rspr. des EGMR EuGH, Urt. v. 28. 6. 2005, verb. Rs. C-189/02 P, C-202/02 P, C-205/02 P bis C-208/02 P und C-213/02 P – Dansk Rørindustri u. a./Kommission, Slg. 2005, I-5425, I-5568 Rn. 217 f.; EuG, Urt. v. 27. 9. 2006, Rs. T-329/01 – Archer Daniels Midland/Kommission, Slg. 2006, II-3255, II-3282 Rn. 41; Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1565 Rn. 142. 1190 Freilich kann wie im internationalen Kontext verbreitet und inhaltlich gleichbedeutend das Rückwirkungsverbot entsprechend dem Textbefund der Art. 7 EMRK, 49 GRC zentrale Bedeutung in der Darstellung einnehmen, sodass die Einzelaspekte auch hier verortet werden können. 1191 EuGH, Urt. v. 28. 6. 2005, verb. Rs. C-189/02 P, C-202/02 P, C-205/02 P bis C-208/02 P und C-213/02 P – Dansk Rørindustri u. a./Kommission, Slg. 2005, I-5425, I-5567 Rn. 214 ff.; EuG, Urt. v. 27. 9. 2006, Rs. T-329/01 – Archer Daniels Midland/Kommission, Slg. 2006, II-3255, II-3281 f. Rn. 40 f.; Jarass, GRC, Art. 49 Rn. 13. Kritisch zur Kommissionspraxis Schwarze, EuZW 2003, 261, 263 f. 1186
218
Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
E. Bewertung der aktuellen Rechtsprechungspraxis des EuGH zum nullum crimen-Grundsatz Die Behandlung des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips durch die Rechtsprechung des Gerichts zeichnet sich durch die Nicht-Achtung seines spezifisch strafrechtlichen Gehalts zugunsten einer flexiblen Handhabung aus. Seine strafrechtliche Strenge und Förmlichkeit bereitet der Rechtsprechung Schwierigkeiten.1192 Als deren Wurzel kann die ursprüngliche Herleitung des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips aus dem allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsatz der Rechtssicherheit identifiziert werden. Auch wenn die Rechtsprechung nunmehr auf dessen Verankerung in Art. 7 EMRK und Art. 49 GRC verweist, hat sie damit keine inhaltliche Besonderheit verbunden1193 und die Rechtsnatur des Kartellbußgeldes nicht klar eingeordnet.1194 Vielmehr erkennt das EuG einen zwischen Kriminalstrafrecht und Strafrecht i.w.S. abgestuften Gewährleistungsgehalt. Da es sich einer Begründung enthält, werden weder die maßgeblichen Kriterien der Einschränkung, noch ihr Umfang genannt. Wie gesehen dürfen die Anforderungen an die Bestimmtheit allein aufgrund der natürlichen Grenzen der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeit, des Normadressaten wie der geregelten Materie gesenkt werden. Die Schwere der Sanktion oder ihre Rechtsnatur ist hingegen unerheblich. In diesen Fällen muss die vom Bestimmtheitsgrundsatz angestrebte Rechtssicherheit der Gleichbehandlung und materiellen Gerechtigkeit zurückweichen und mehr Raum lassen. Eine starre Grenzziehung zwischen Kriminalstrafrecht und Strafrecht i.w.S. rechtfertigt sich daraus nicht. Damit setzt das EuG sich in einen Widerspruch zur Rechtsprechung des EGMR. Obwohl dieser Einschränkungen der Grundrechte außerhalb der geschriebenen Schranken in Form der implied limitations kennt und diese auch für die strafrechtliche Garantie des Art. 6 EMRK in der Grenzziehung zwischen Kriminalstrafrecht und Strafrecht i.w.S. ausgebildet hat,1195 fehlt eine solche zu Art. 7 EMRK.1196 Damit droht das EuG den Schutzstandard der EMRK in ihrer Auslegung durch den EGMR zu unterschreiten. Dies verbietet seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon Art. 52 Abs. 3 GRC. Nach der Rechtslage vor dem 01. 12. 2009 setzte sich das EuG gegen die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs. Dieser erkannte die 1192 Vgl. auch in Bezug auf weitere strafrechtliche Grundsätze Pascu, Strafrechtliche Fundamentalprinzipien im Gemeinschaftsrecht, S. 252 ff. Vgl. als Bsp. weiterer Schwierigkeiten mit den spezifisch strafrechtlichen Kategorien zuletzt EuGH, Urt. v. 18. 6. 2013, Rs. C-681/11 – Schenker, noch nicht in amtl. Slg., Rn. 33 ff. zum Verbotsirrtum. 1193 Exemplarisch kann darauf verwiesen werden, dass EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1563 Rn. 139 zwar auf den Grundsatz nullum crimen, nulla poena sine lege rekurriert, aber bei der Bestimmung des Garantiegehalts auf die allgemeinen Grundsätze verweist, die „insbesondere“ im Strafrecht gelten. 1194 Dazu bereits oben S. 91 ff. 1195 Siehe oben S. 182 ff. 1196 Siehe die Nachw. in Teil 2 Fn. 1055.
F. Folgerungen für die nachfolgende Untersuchung
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EMRK wie die Rechtsprechung des EGMR auch für den prätorischen Grundrechtsschutz als Mindeststandard an.1197 Von der Nichtbeachtung des spezifisch strafrechtlichen Gehalts zeugt auch die Behandlung des Problems der Normambivalenz durch die Rechtsprechung. Eine einheitlich-extensive Auslegung der ambivalenten Norm missachtet die Anforderungen des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips, die es an das Strafrecht stellt. Verstärkte rechtsstaatliche Kompensationsmechanismen verkennen die Struktur des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips und verleiten förmlich zu Verwässerungen. Das Urteil des EuG in der Sache AC-Treuhand ist daher bereits in seinem Ausgangspunkt, dem Auslegungsmaßstab, zu kritisieren. Aufgrund dieser entscheidenden Weichenstellung ist es unverständlich, dass sich das Urteil nicht näher mit den Anforderungen des nullum crimen-Grundsatzes auseinandersetzt und etwa eine abgestufte Schutzintensität ohne Begründung lediglich feststellt. Insoweit ist das methodische Vorgehen im zentralen Ausgangspunkt zu kritisieren, was auch auf die inhaltliche Lösung durchschlägt.
F. Folgerungen für die nachfolgende Untersuchung Somit ist das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip als unmittelbarer Auslegungsmaßstab für die Sanktionsnormen der VO 1/2003 identifiziert. Diese wahrt ausweislich des Erwägungsgrundes 37 „die Grundrechte und steht im Einklang mit den Prinzipien, die insbesondere in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert sind. Demzufolge ist diese Verordnung in Übereinstimmung mit diesen Rechten und Prinzipien auszulegen und anzuwenden.“ Dies hat daher auch für die hier maßgebliche Sanktionsnorm des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/ 2003 zu gelten. Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV erfüllt als geschriebene, unter Beteiligung des Europäischen Parlaments erlassene Norm die Anforderungen der Teilgarantien des nullum crimen sine lege und nullum crimen sine lege scripta. Auch die Bestimmtheit wird trotz zahlreicher unbestimmter Rechtsbegriffe verbreitet1198 bejaht. Der Bestimmtheitsgrundsatz erlaubt wie gesehen die Verwendung solcher unbestimmter Begriffe, die schrittweise durch die
1197
Siehe oben S. 73 ff. EuGH, Urt. v. 13. 2. 1979, Rs. 85/76 – Hoffmann-La Roche/Kommission, Slg. 1979, 461, 553 ff. Rn. 128 ff.; Engelsing/Schneider, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 3; Friedmann, Die Geltung rechtsstaatlicher Grundsätze, S. 227 ff.; Rittner/Dreher, Europäisches und deutsches Wirtschaftsrecht, § 14 Rn. 92. Siehe auch König, Das Europäische Verwaltungssanktionsrecht und die Anwendung strafrechtlicher Rechtsgrundsätze, S. 191 ff. Speziell zur Bestimmtheit der Rechtsfolgenseite der Norm siehe in und bei Teil 2 Fn. 709. 1198
220
Teil 2: Die Identifizierung des Auslegungsmaßstabs
Rechtsprechungspraxis zu konkretisieren sind.1199 Dies sei durch die jahrelange Rechtsprechungspraxis des Gerichtshofs geschehen. Selbst wenn dem zu folgen ist,1200 so stellte sich die Frage nach der Bestimmtheit in Bezug auf etwaige Kartellgehilfentätigkeiten noch nicht. Die zitierte Rechtsprechung kann daher hier nicht übernommen werden. Vielmehr verlangt der Bestimmtheitsgrundsatz, dass der Gesetzgeber die wesentlichen Voraussetzungen der Strafnorm selbst bestimmt. Dazu gehört zweifelsohne die hier maßgebliche Frage der Täterschaft. Um dem Bestimmtheitsgrundsatz zu genügen, muss sich die Strafbarkeit der Kartellhilfe somit aus der engsten Sprachfassung der Bußgeldnorm1201 vom Normadressaten vorhersehen lassen. Dies ist anhand oben beschriebener Abwägung zwischen Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit zu prüfen. Die weitere Rechtsanwendung muss sich innerhalb dieses gesetzlichen Rahmens bewegen. Nur bis zu dieser Grenze darf sich das Ziel unverfälschten Wettbewerbs im Binnenmarkt verwirklichen.
1199
Dazu bereits S. 214 ff. Beachte aber die rechtsstaatlichen Bedenken, die gegen die Rechtsfolgenseite der Norm sowie Art. 23 Abs. 3 VO 1/2003 erhoben werden. Dazu bereits S. 140 f. 1201 Dazu noch näher unten S. 241. 1200
Teil 3
Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen wegen Verstößen gegen das Kartellverbot nach Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV Dem soeben identifizierten strafrechtlichen Auslegungsmaßstab muss im Folgenden die Auslegung des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV genügen. Dem Kartellgehilfen kann danach ein Bußgeld auferlegt werden, wenn der Tatbestand des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 in seiner Person erfüllt ist. Der Kartellgehilfe muss somit ein Unternehmen oder eine Unternehmensvereinigung sein und vorsätzlich oder fahrlässig gegen das Kartellverbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV verstoßen haben.1 Dieses erklärt „Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarktes bezwecken oder bewirken“ für „mit dem Binnenmarkt unvereinbar und verboten“. Auch wenn der Tatbestand stets eine Einheit bildet und sich die einzelnen Merkmale im Satzzusammenhang aufeinander beziehen, so hat eine präzise Auslegung der Norm zunächst bei den einzelnen gesetzlichen Merkmalen zu beginnen. Eine Gesamtschau des Tatbestandes wird dabei durch diejenigen Auslegungskriterien erreicht, die auf das Gefüge als Ganzes eingehen. Namentlich die grammatikalische Auslegung kann den Wortsinn nur im Zusammenhang des Satzes ermitteln, die systematische Auslegung berücksichtigt schon von Natur aus den Normkontext und auch die teleologische Auslegung kann den Sinn und Zweck eines einzelnen Merkmals nicht isoliert betrachten.
1 Der Wortlaut des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 verweist noch auf Art. 81 EG. Zur „Brücke“ des Art. 5 Abs. 3 Hs. 1 Vertrag von Lissabon siehe bereits oben S. 170.
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
A. Die Bestimmung der Täterschaft als zentrale Fragestellung Zentrale Bedeutung kommt der Frage zu, ob der Kartellgehilfe Täter des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV ist. Einerseits2 wird die Kartellbeihilfe im Schrifttum nicht nur terminologisch der mitgliedstaatlichen Kategorie der „Teilnahme“ zugeordnet, die von der vorrangigen „Täterschaft“ abgegrenzt wird. Andererseits3 wird verbreitet unter Heranziehen des AC TreuhandUrteils des EuG ein Einheitstäterbegriff befürwortet. Im Folgenden sollen daher die in Bezug genommenen strafrechtlichen Konzepte dargestellt werden, die dann bei der Auslegung der jeweiligen Merkmale wiederaufzugreifen und inhaltlich auszufüllen sind.
I. Der Begriff der Täterschaft Der Begriff der Täterschaft dient im Strafrecht der Zuordnung von Verantwortlichkeit für eine Tatbestandsverwirklichung.4 Der „Täter [ist] nichts anderes als das Subjekt der Deliktsbeschreibungen“.5 Wer alle Tatbestandsmerkmale selbst verwirklicht, ist Täter und damit für die Rechtsgutsgefährdung oder -verletzung selbst verantwortlich.6
2 Die Kartellbeihilfe als der Täterschaft nachgeordnete – straflose – Teilnahme fassen auf Böse, Strafen und Sanktionen im europ. GemR, S. 193 ff.; Dannecker, ÖZK 2010, 171 ff.; Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 136 f.; Engelsing/ Schneider, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 26; Hamann, Das Unternehmen als Täter im europ. WettbR, S. 20, 185 ff.; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 183 ff. [77. Lfg.: Oktober 2012]; N. Koch, in: Grabitz, EWG-Vertrag, Art. 15 VO Nr. 17 Rn. 46 [1. Lfg.: September 1989]; ders., ZWeR 2009, 370, 380 ff.; Muders, wistra 2011, 405, 408; Tiedemann, in: Vogler u. a., FS Jescheck, Bd. II, S. 1411, 1420 f.; Papakiriakou, Das Europ. Unternehmensstrafrecht in Kartellsachen, S. 27. 3 Bechtold/Bosch/Brinker, EU-KartellR, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 26; Eufinger, WRP 2012, 1488, 191; van Heezik, NTER 2009, 59, 63; Keiler, in: Klip, Substantive Criminal Law of the European Union, S. 173, 191 f.; Sauer, in: Schulte/Just, KartellR, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 24; Schütz, in: Busche/Röhling, KöKo, KartellR, Bd. 4, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 23; Sura, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 23 VO1/2003 Rn. 4. Ohne Bezugnahme auf das AC Treuhand-Urteil noch Schütz, in: Müller-Henneberg/Schwartz/Hootz, GK, KartellR, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 18. 4 Hamann, Das Unternehmen als Täter im europ. WettbR, S. 10 f.; Weißer, Täterschaft in Europa, S. 560. 5 Roxin, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky, LK11, StGB, Bd. 1, § 25 Rn. 34. 6 Bohnert, OWiG, § 14 Rn. 7. Speziell auf Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 VO 1/2003 bezogen Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 132; J. Koch, ZWeR 2009, 370, 380.
A. Die Bestimmung der Täterschaft als zentrale Fragestellung
223
Abgrenzungsfragen stellen sich immer dann, wenn mehrere kausal für den tatbestandlichen Erfolg werden.7 Dann sind die unterschiedlichsten Kausalbeiträge wie Verantwortlichkeiten und damit „Rollen“ zur Tatbestandsverwirklichung, etwa die soeben genannten „Täterschaft und Teilnahme“, denkbar, die im Ergebnis auch differenzierter rechtlicher Behandlung bedürfen.8
II. Der rechtsstaatliche, primärrechtliche Rahmen der Ausgestaltung der Täterschaft Eine abgestufte Bestrafung gebietet der rechtsstaatliche Rahmen, innerhalb dessen der Gesetzgeber die Verantwortlichkeit zuweist.9 1. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit So schränkt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Übermaßverbot) bereits den Spielraum des Gesetzgebers ein, indem die Sanktion als schwerwiegendes10 hoheitliches Handeln in einem angemessenen Verhältnis zur vorgeworfenen Handlung stehen muss.11 In diese Abwägung gehen die widerstreitenden freiheits- wie gleichheitsrechtlichen Grundrechtspositionen des Täters, Dritter und der Allgemeinheit ein. Eine Bestrafung sozialadäquater Handlungen scheidet danach etwa aus.12 Darauf wird noch zurückzukommen sein.13 2. Der Schuldgrundsatz Ebenfalls eine Abstufung gebietet der Schuldgrundsatz (nullum crimen sine culpa). Wenngleich noch nicht ausdrücklich ausgesprochen, wird dieser wohl von der Rechtsprechung des Gerichtshofs vorausgesetzt.14 Jedenfalls stellt er einen in den mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen fest verankerten Grundsatz dar, der sich 7 Vgl. Hoyer, in: Rudolphi/Horn/Samson, SK, StGB, Bd. I, Vor. § 25 Rn. 2 [36. Lfg.: April 2001]; Jung, in: Eser/Huber/Cornils, Einzelverantwortung und Mitverantwortung im Strafrecht, S. 175 ff. 8 Vgl. etwa §§ 25, 26, 27, 28 StGB. 9 Unklar ist, ob nicht auch soziale Vorprägungen die gesetzgeberische Entscheidung zu Täterschaft und Teilnahme einschränken, so etwa Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 644 f.; dagegen etwa Heine/Weißer, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor. §§ 25 ff. Rn. 3 jeweils m.w.N. 10 Zur Grundrechtsrelevanz des Kartellbußgelds siehe bereits oben S. 138 f., 147 ff. 11 Vgl. EuG, Urt. v. 21. 10. 1997, Rs. T-229/94 – Deutsche Bahn/Kommission, Slg. 1997, II-1689, II-1736 Rn. 127. 12 Vogel, ZStW 114 (2002), 403, 408. 13 Zum Problem der sog. „neutralen“ Beihilfe siehe noch unten S. 392 ff. 14 GA Kokott, Schlussanträge v. 28. 2. 2013, Rs. C-681/11 – Schenker, noch nicht in amtl. Slg., Rn. 41.
224
Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
auch in das Unionsrecht einfügt.15 So wird der Schuldgrundsatz auch gerade in Art. 23 Abs. 2 VO 1/2003 anerkannt, indem die Geldbuße vorsätzliches oder fahrlässiges Handeln voraussetzt.16 Auch über den chartarechtlichen Grundrechtsschutz findet der Schuldgrundsatz Anwendung im Unionsrecht.17 Sowohl Art. 48 Abs. 1 GRC als auch die entsprechende18 Gewährleistung der Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 EMRK bauen auf dem Grundsatz des nullum crimen sine culpa auf.19 Der Schuldgrundsatz umfasst als Teilausprägung den Grundsatz schuldangemessenen Strafens (nullum crimen extra culpam).20 Danach muss die Strafe in einem gerechten Verhältnis zum Verschulden des Täters stehen. Der Schuldgrundsatz geht somit insoweit mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz einher.21 Auch die subjektive (Tat)Seite verlangt mithin eine Differenzierung. Konkrete Vorgaben speziell für die Täterschaft, d. h. die Abschichtung objektiv und/oder subjektiv verschiedener Tatbeiträge oder Adressatenstellungen sind dem Schuldgrundsatz indes nicht zu entnehmen. 3. Der nullum crimen-Grundsatz In formeller Hinsicht ist erneut das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip heranzuziehen. Die Strafbarkeit muss sich aus dem Wortlaut oder durch Auslegung des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 ergeben. Jede Strafbarkeitserweiterung bedarf einer eigenen gesetzlichen Grundlage. Normexterne, strafbarkeitsbegründende Tätervoraussetzungen dürfen somit nicht herangezogen, innerhalb des
15 Vgl. GA Kokott, Schlussanträge v. 28. 2. 2013, Rs. C-681/11 – Schenker, noch nicht in amtl. Slg., Rn. 41; Vogel, in: Sieber u. a., Europäisches Strafrecht, § 5 Rn. 45 („allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts“). Zum Schuldprinzip als nach Art. 79 Abs. 3 GG unveräußerlicher Verfassungsidentität vgl. BVerfGE 123, 267, 413 – Lissabon. 16 GA Kokott, Schlussanträge v. 28. 2. 2013, Rs. C-681/11 – Schenker, noch nicht in amtl. Slg., Rn. 42; Bahnmüller, Strafrechtliche Unternehmensverantwortlichkeit im europäischen Gemeinschafts- und Unionsrecht, S. 106 f.; Dannecker, in: Eser/Huber, Strafrechtsentwicklung in Europa, Bd. 4.3, S. 98 f.; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 139 [77. Lfg.: Oktober 2012]. Vgl. auch die Begründung zu Art. 12 des ersten Verordnungsentwurfs zur VO 17/62, GRUR Int. 1961, 284, 290. 17 Zu seinen Grundlagen siehe bereits oben S. 69 ff. 18 Vgl. nur Präsidium des Europäischen Konvents, Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. C 2007 303, S. 17, 34; Eser, in: Meyer, GRC, Art. 48 Rn. 2; Jarass, GRC, Art. 48 Rn. 1. Zur Entsprechensvoraussetzung des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC siehe bereits oben S. 112 ff. 19 GA Kokott, Schlussanträge v. 28. 2. 2013, Rs. C-681/11 – Schenker, noch nicht in amtl. Slg., Rn. 41. 20 Zum dt. Recht BVerfGE 20, 323, 331; 45, 187, 259 f.; 50, 125, 133; 50, 205, 214 f. 21 Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 136 [77. Lfg.: Oktober 2012]; Vogel, JZ 1995, 331, 339: EuGH „lässt“ Schuldprinzip im allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz „aufgehen“. Zum dt. Recht BVerfGE 73, 206, 253; 50, 125, 133; 50, 205, 215; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 196.
A. Die Bestimmung der Täterschaft als zentrale Fragestellung
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gesetzlichen Rahmens kann aber auf (allgemeine) Täterbegriffe zurückgegriffen werden.
III. Die verschiedenen Beteiligungsmodelle in den Mitgliedstaaten Auch wenn sich die Täterbegriffe aus dem Kriminalstrafrecht entwickelt haben, sind sie auf das (Kartell)Bußgeldrecht zu übertragen. Auch die Bußgeldtatbestände werfen dem Betroffenen ein Verhalten vor und sprechen eine Strafdrohung aus. Es wird also ebenso Verantwortlichkeit für die Verwirklichung des Bußgeldtatbestandes zugeordnet. Im deutschen Rechtskreis werden verbreitet zwei Beteiligungsmodelle diskutiert, das Einheits- und das Differenzierungsmodell.22 Im internationalen Kontext werden indes bis zu 12 Regelungsmodelle identifiziert.23 Die unterschiedliche Zählung überrascht auf den ersten Blick. Es müssen aber zwei Dimensionen unterschieden werden. Einmal sind sie nach inhaltlichen Differenzierungskriterien ausgerichtet,24 zum anderen sind sie nach der rechtstechnischen Umsetzung kategorisiert. Da zunächst untersucht werden soll, wie eine Norm ggf. nach Täterschaftskriterien differenziert, ist allein letztere Gruppenbildung maßgeblich. Bei der rechtstechnischen Ausgestaltung der Täterschaft bieten sich dem Gesetzgeber lediglich zwei Anknüpfungspunkte. 22
Siehe nur Heine/Weißer, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor. §§ 25 ff. Rn. 4 ff.; Jescheck/ Weigend, Strafrecht AT, S. 645 ff.; Joecks, in: Joecks/Miebach, MüKo, StGB, Bd. 1, Vor. § 25 StGB Rn. 5 ff.; Schünemann, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK, StGB, Bd. 1, Vor. § 25 Rn. 5 ff. 23 So Vogel, ZStW 114 (2002), 403, 406 ff. Jung, in: Eser/Huber/Cornils, Einzelverantwortung und Mitverantwortung im Strafrecht, S. 175, 180 ff. zählt 6 und Heine, in: Eser/ Yamanaka, Einflüsse deutschen Strafrechts auf Polen und Japan, S. 101 „vier Strukturmodelle“. Klesczewski, in: Paeffgen u. a., FS Puppe, S. 613 ff. unterscheidet lediglich 3 Modelle. Kudlich, in: von Heintschel-Heinegg, BeckOK, StGB, § 25 Rn. 1 geht grundsätzlich von zwei unterschiedlichen Regelungsmöglichkeiten aus. 24 Heine, in: Eser/Yamanaka, Einflüsse deutschen Strafrechts auf Polen und Japan, S. 101 ff. nennt den gleichrangigen, Mittäter erfassenden, in Abgrenzung zur mittelbaren Täterschaft erfassenden hierarchischen Zurechnungsverbund, supervisionistische Modelle, bei denen es auf Aufsichts- und Überwachungspflichten ankommt, die partizipatorische Beteiligung, die von der Deliktsverwirklichung eines anderen abhängt, und die Verwantwortlichkeit eines Kollektivs als solches; Jung, in: Eser/Huber/Cornils, Einzelverantwortung und Mitverantwortung im Strafrecht, S. 175, 180 ff. unterteilt hierarchischen und gleichrangigen Zurechnungsverbund, supervisionistische Modelle, institutionalisierte Formen des Zurechnungsverbundes, partizipatorische Zurechnung, zufälliges und konspiratives Zusammenwirken und Akzessorietätsmodelle; Klesczewski, in: Paeffgen u. a., FS Puppe, S. 613 ff. unterscheidet inhaltlich lediglich das akzessorische vom nicht-akzessorischen Teilnahmesystem; Vogel, ZStW 114 (2002), 403, 406 ff. führt insoweit das naturalistische im Vergleich zum normativierenden Beteiligungsmodell, das individualistische gegenüber dem systemischen Modell, das Zurechnungsmodell in Abgrenzung zur originären Verantwortlichkeit, das Supervisionsmodell, das Konspirationsmodell und das Kollektivhaftungsmodell an.
226
Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
1. Modell des Allgemeinen Teils und Modell des Besonderen Teils Der Gesetzgeber kann zum einen die Täterschaftsvoraussetzungen in einem Allgemeinen Teil allgemeingültig (Modell des Allgemeinen Teils) oder auf den Anwendungsbereich der jeweiligen Strafnorm beschränkt festlegen (Modell des Besonderen Teils). Das unionsrechtliche Strafrecht bedient sich des letzteren. Es kennt keinen Allgemeinen Teil vergleichbar der international im Kriminalstrafrecht vorherrschenden,25 im Verwaltungssanktionenrecht aber vernachlässigten26 Rechtsetzungstechnik.27 Den versprengten Sanktionskompetenzen der EU entspricht ein nur punktuelles Auftreten von Strafnormen. Eine gesetzgeberische Systematisierung und Herausbildung allgemeiner Regeln beginnt erst.28 Auch das Schrifttum bemüht sich erst in letzter Zeit, aus den Einzelregelungen eine einheitliche Dogmatik eines Allgemeinen Teils herauszuarbeiten.29 Ansatzpunkte eines Täterverständnisses können aber unionsrechtliche Einzelnormen jenseits des Kartellsanktionenrechts sowie ein Rechtsvergleich der mitgliedstaatlichen Normen30 liefern. Allerdings wäre ein solches Vorgehen aufgrund der Vorgaben des nullum crimen-Grundsatzes allein in der Lage, der Auslegung der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale zu dienen oder erhöhte, d. h. weitere als die im Wortlaut der Norm enthaltenen, Anforderungen an die Täterschaft zu stellen. Geringere Anforderungen an die Strafbarkeit, d. h. solche, die hinter dem gesetzlichen Rahmen der Norm zurückbleiben, bedürfen einer ergänzenden gesetzlichen Norm. 2. Einheitstätermodell und Differenzierungsmodell Auf Ebene der einzelnen Norm ergeben sich zwei Anknüpfungspunkte für eine differenzierte Behandlung verschiedener Tatbeiträge: die Tatbestands- und die Rechtsfolgenseite.
25
Grünewald, JZ 2011, 972, 975; Vogel, ZStW 114 (2002), 403, 411. Vogel, JZ 1995, 331, 334. 27 Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 65 [77. Lfg.: Oktober 2012]; Tiedemann, in: Vogler u. a., FS Jescheck, Bd. II, S. 1411; Tsolka, Der allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 63. 28 Zur Rahmenregelung der VO 2988/95 siehe noch unten S. 365 f. Vgl. etwa auch den von der Kommission in Auftrag gegebene Corpus Juris 2000 (Fassung von Florenz), abrufbar unter http://ec.europa.eu/anti_fraud/documents/fwk-green-paper-corpus/corpus_juris_en.pdf, zuletzt besucht am 18. 11. 2014. 29 Tiedemann, in: Vogler u. a., FS Jescheck, Bd. II, S. 1411 ff.; Tsolka, Der allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 66 ff.; Vogel, JZ 1995, 331, 338 ff. 30 Zur Rechtsvergleichung als zusätzliches Auslegungskriterium im Unionsrecht siehe bereits S. 56 ff. 26
A. Die Bestimmung der Täterschaft als zentrale Fragestellung
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a) Das dualistische Beteiligungsmodell Das dualistische Beteiligungsmodell kategorisiert die verschiedenen kausalen Tatbeiträge bereits auf Tatbestandsebene. Es unterscheidet mithin bereits tatbestandlich zwischen Täterschaft und nach der jeweiligen Norm straflos bleibende sonstige Beteiligung. b) Das Einheitstätermodell Der sog. Einheitstäterbegriff31 nimmt hingegen eine solche Differenzierung der Tatbeiträge auf Tatbestandsebene nicht vor. Täter ist, wer einen ursächlichen Beitrag zum tatbestandlichen Erfolg erbringt. Eine Unterscheidung verschieden schwerer Tatbeiträge ist danach nur für die Strafzumessung relevant.32 Die Strafzumessungskriterien der „Schwere“ und „Dauer“ des Art. 23 Abs. 3 VO 1/200333 erlaubten dies.34
31
Für das europäische Kartellrecht Lübbert, Das Verbot abgestimmten Verhaltens im deutschen und europäischen Kartellrecht, S. 104 ff.; zust. Starke, Die Bußgeldtatbestände des deutschen Kartellstrafrechts und ihre Anwendung im Rahmen des Kartellrechts der EG, S. 146. Der Terminologie nach auch die Nachw. aus der Kommentarliteratur in Teil 3 Fn. 3. Zum dt. Recht Kienapfel, JuS 1974, 1 ff. 32 Zwar unterscheidet das „funktionale Einheitstätersystem“ anders als das „formale Einheitstätersystem“ verschiedene Täterschaftsformen, stellt sie aber der Wertung und dem Strafrahmen nach gleich; dazu etwa Kienapfel, JuS 1974, 1, 5 ff. 33 Nach der Rspr. sind ohnehin sämtliche Umstände zu berücksichtigen, EuGH, Urt. v. 7. 6. 1983, verb. Rs. 100 bis 103/80 – Musique diffusion française/Kommission, Slg. 1983, 1825, 1908 ff. Rn. 120 ff., 1911 Rn. 129; Beschl. v. 25. 3. 1996, Rs. C-137/95 P – SPO u. a./Kommission, Slg. 1996, I-1611, I-1627 Rn. 54; Urt. v. 28. 6. 2005, verb. Rs. C-189/02 P, C-202/02 P, C-205/02 P bis C-208/02 P und C-213/02 P – Dansk Rørindustri u. a./Kommission, Slg. 2005, I-5425, I-5574 Rn. 240; Urt. v. 24. 9. 2009, verb. Rs. C-125/07 P, C-133/07 P, C-135/07 P und C-137/07 P – Erste Group Bank u. a./Kommission, Slg. 2009, I-8681, I-8857 Rn. 90; EuG, Urt. v. 15. 3. 2000, verb. Rs. T-25/95, T-26/95, T-30/95 bis T-32/95, T-34/95 bis T-39/95, T-42/95 bis T-46/95, T-48/95, T-50/95 bis T-65/95, T-68/95 bis T-71/95, T-87/95, T-88/95, T-103/95 und T-104/95 – Cimenteries CBR u. a./Kommission, Slg. 2000, II-491, II-1545 f. Rn. 4726. Die Kriterien der „Dauer“ und „Schwere“ seien nur exemplarisch genannt; vgl. Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 129. 34 Nach st. Rspr. wird für die Beurteilung der „Schwere“ der Verstöße neben anderen Kriterien auch „das Verhalten jedes einzelnen Unternehmens“ sowie „die Rolle, die jedes Unternehmen bei der Abstimmung der Verhaltensweisen gespielt hat“, mit anderen Worten der individuelle Tatbeitrag, berücksichtigt; EuGH, Urt. v. 7. 6. 1983, verb. Rs. 100 bis 103/80 – Musique diffusion française/Kommission, Slg. 1983, 1825, 1911 Rn. 129; Urt. v. 28. 6. 2005, verb. Rs. C-189/02 P, C-202/02 P, C-205/02 P bis C-208/02 P und C-213/02 P – Dansk Rørindustri u. a./Kommission, Slg. 2005, I-5425, I-5574 Rn. 242. Zur strafschärfenden Berücksichtigung der typischen Gehilfentätigkeiten durch einen Kartellanten auf Bußgeldzumessungsebene Caruso/Sakkers, GCP November 2008 (2), 1, 3.
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
c) Der strafrechtliche Täterbegriff im wertenden Rechtsvergleich In den mitgliedstaatlichen Strafrechtsordnungen finden sich im Wesentlichen die beiden soeben vorgestellten Modelle: das Einheitstätermodell sowie das dualistische Beteiligungssystem.35 An dem AC-Treuhand/Kommission-Urteil wurde selbst von Befürwortern kritisiert, das EuG habe sein Ergebnis nicht durch einen Rechtsvergleich der nationalen Regelungen untermauert.36 Jedoch zieht das Gesetzlichkeitsprinzip auch der Rechtsvergleichung zusätzliche Grenzen.37 Jegliche Rechtsfindung muss sich innerhalb des gesetzlichen Rahmens bewegen. Der Rechtsvergleich kann ebenso wie die Anwendung von ungeschriebenen Tätervoraussetzungen des Unionsrechts mithin allein zusätzliche Voraussetzungen der Täterschaft aufstellen, indem er potentielle Lösungen aufzeigt.38 Eine gemeineuropäische Lösung ergibt sich in der Sache allerdings nicht.39 Einige Mitgliedstaaten legen das Einheitstätermodell zugrunde,40 überwiegend differenzieren sie jedoch zwischen Täterschaft und Teilnahme.41 Zu beachten bleibt ferner, dass auch bei einer tatbestandlichen Abschichtung weitere Abstufungen auf Rechtsfolgenseite möglich und geboten sind. Erschwert wird die Bestandsaufnahme mitgliedstaatlichen Strafrechts zudem durch zahlreiche Durchbrechungen der ver35
Ein Rechtsvergleich der Täterschafts- und Teilnahmeregelungen in den mitgliedstaatlichen Kriminalstrafrechtsordnungen findet sich bei Ambos, MJ 12 (2005), 173, 182 ff.; Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 78 ff.; Hamdorf, Beteiligungsmodelle im Strafrecht, S. 63 ff.; Syrrothanassi, Die Regelung der Anstiftung in einem europäischen Modellstrafgesetzbuch, S. 207 ff.; Tiedemann, ZStW 110 (1998), 497, 509 f.; ders., in: Eser, FS Nishihara, S. 496, 499 ff.; ders., in: Eser/Schittenhelm/Schumann, FS Lenckner, S. 411, 430 ff.; Weißer, Täterschaft in Europa, S. 15 ff. 36 Weitbrecht/Baudenbacher, EuR 2010, 230, 237 f.; Weitbrecht/Mühle, EuZW 2010, 327, 333; Kallaugher/Weitbrecht, E.C.L.R. 2010, 307, 317. Siehe auch Dannecker, in: Schünemann/ Suárez Gonzáles, Bausteine des europ. WirtschaftsstrafR, S. 331, 332, der auf die Möglichkeit der Lückenfüllung durch wertende Rechtsvergleichung u. a. auch für Fragen der Strafbarkeit der Teilnahme verweist. 37 Siehe bereits oben S. 167 f. zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen. 38 Vgl. bereits oben S. 56 ff. Speziell zum Strafrecht Hamann, Das Unternehmen als Täter im europ. WettbR, S. 185. 39 Ambos, MJ 12 (2005), 173, 183; Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 81 f. 40 Dänemark (§ 23 Abs. 1 dänisches StGB), Italien (Art. 110 italienisches StGB), Österreich (§ 12 österreichisches StGB) und die Rechtsordnungen des common law (siehe etwa Accessories and Abetters Act 1861). 41 Z.B. Belgien (Art. 67 belgisches StGB), Deutschland (§§ 25 ff. StGB), Finnland (Kap. 5 finnisches StGB), Frankreich (Art. 121-4, 121-7 französisches StGB), Griechenland (§§ 45 ff. griechisches StGB), Luxemburg (Art. 66 f. luxemburgisches StGB), Niederlande (Art. 47 f. niederländisches StGB), Portugal (Art. 26 f. portugiesisches StGB, Schweden (Kap. 23 Abschnitt 4 schwedisches StGB) und Spanien (Art. 28 f. spanisches StGB). Siehe die des Klägervortrags in EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1538 Rn. 81 sowie die Nachw. in Teil 3 Fn. 35.
A. Die Bestimmung der Täterschaft als zentrale Fragestellung
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schiedenen Modelle zugunsten – dann weitgehend einheitlich gefundener – Sachergebnisse.42 Gelegentlich findet sich bereits eine differenzierte Lösung innerhalb der Strafrechtsordnung i.w.S. So sieht etwa das deutsche Kartellsanktionenrecht in § 298 StGB eine Kriminalstraftat vor, für die die dualistischen Regelungen der §§ 25 ff. StGB Anwendung finden. Demgegenüber folgt der hier maßgebliche Paralleltatbestand des § 81 Abs. 1 Nr. 1 GWB dem Einheitstätermodell nach § 14 OWiG.43 Ein „wertender Rechtsvergleich“ darf sich zudem nicht auf (kriminal) strafrechtliche Vorschriften beschränken, sondern hat sich auf eben jene speziellen nationalen Regelungen über die Sanktionen des Kartellbußgeldrechts zu beziehen.44 Im Verwaltungssanktionenrecht scheint dabei in den Mitgliedstaaten mehrheitlich ein Einheitstätersystem Anwendung zu finden, ein einheitliches Bild ergibt sich aber dennoch nicht.45 Auch speziell im Kartellordnungswidrigkeitenrecht lässt sich ein solches nicht erkennen.46 d) Die Rezeption der Tätermodelle im kodifizierten Unionsrecht Ebenso differenziert zeigt sich das kodifizierte Unionsrecht. Ein kurzer Streifzug zeigt bereits, dass das Unionsrecht mit beiden Tätermodellen vertraut ist.47 Nach Art. 7 VO 2988/95 können Sanktionen etwa zunächst gem. S. 1 an die Wirtschaftsteilnehmer nach Art. 1 VO 2988/95, die die fragliche Zuwiderhandlung auch „begangen“ haben, gerichtet werden. S. 3 erweitert die Sanktionsadressaten auf die Personen, „die an der Begehung einer Unregelmäßigkeit mitgewirkt haben, die für eine Unregelmäßigkeit zu haften haben oder die dafür zu sorgen haben, daß sie nicht begangen wird.“ Die Strafbarkeit wird mithin vor allem auf die Erbringung jeglicher Kausalbeiträge erweitert (Var. 1). Demgegenüber unterscheidet etwa Art. 4 RL 2008/99/EG48 zwischen einer Haupttat nach Art. 3 RL 2008/99/EG und „Anstiftung und Beihilfe“.49 42 Vgl. dazu Weißer, Täterschaft in Europa, S. 554 ff. Siehe auch Ambos, MJ 12 (2005), 173, 183 ff.; Keiler, in: Klip, Substantive Criminal Law of the European Union, S. 173, 185 ff. 43 Dazu bereits oben S. 35 f. 44 Vgl. Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 278 f.; Lübbert, Das Verbot abgestimmten Verhaltens im deutschen und europäischen Kartellrecht, S. 96 ff.; Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, S. 83; siehe auch Vogel, JZ 1995, 331, 334; anders, auf das Kriminalstrafrecht beschränkt Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 78 ff. 45 Dies ergab eine Studie der Kommission aus dem Jahre 1994; siehe Bacigalupo, in: Kommission, The system of administrative and penal sanctions in the Member States of the European Communities, Bd. II, S. 42, 54 ff. Vgl. auch Tiedemann, in: Eser, FS Nishihara, S. 496, 500. 46 Dies gibt auch Lübbert, Das Verbot abgestimmten Verhaltens im deutschen und europäischen Kartellrecht, S. 103 f. zu. Er geht in der Folge aber von der Mehrheit aus, die ein Einheitstätersystem praktiziert. 47 Einen breiteren Überblick gibt Stuckenberg, in: Böse, Europäisches Strafrecht, § 10 Rn. 36 ff. 48 Richtlinie 2008/99/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt, ABl. 2008 L 328, S. 28.
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
e) Zwischenergebnis Der Rechtsvergleich der Strafrechtsordnungen der Mitgliedstaaten liefert kein einheitliches Ergebnis. Es lässt sich nicht auf ein Täterschaftsmodell rückschließen, das dem Recht der EU entspricht. Vielmehr ist die Entscheidung für ein Modell eine rechtspolitische Frage. Diese hat der Gesetzgeber mit der konkreten Ausgestaltung der Norm, ggf. in Verbindung mit ergänzenden Normen, für ihren Anwendungsbereich bereits jeweils vorgenommen. Die Täterbegriffe selbst sind hingegen nicht subsumtionsfähig, da sie für sich genommen kein Tatbestandsmerkmal sind. Sie sind vielmehr das Ergebnis einer Kategorisierung der jeweiligen Normauslegung und dürfen nicht von außen in die Norm hineingetragen werden. Ob sich die verschiedenen Einzelregelungen und -entscheidungen im Unionsrecht zu einem Tätermodell systematisieren lassen, soll hier nicht vertieft werden. Hingewiesen sei aber darauf, dass etwa auch im dogmatisch weithin durchdrungenen deutschen Strafrecht der Täterbegriff etwa von der Deliktsform abhängt. Dies wird vor allem bei den Fahrlässigkeitsdelikten offenbar, für die nach herrschender Meinung ein Einheitstäterbegriff gelten soll.50 Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip verhindert ohnehin den strafbegründenden Rückgriff auf einen nicht eigens normierten Täterbegriff. Selbst wenn der Befund im Unionsrecht, worauf die Differenzierung der Täterverständnisse zwischen der genannten Richtlinie einerseits und der – als Rechtsakt einzig ein supranationales Strafrecht i.w.S. darstellenden – Verordnung andererseits hindeuten mag, oder der des Rechtsvergleichs für das Einheitstätermodell gesprochen hätte,51 so hätte dieses einer ergänzenden gesetzlichen Grundlage bedurft, wenn es sich nicht aus der Norm selbst – wie bei den deutschen Fahrlässigkeitsdelikten durch den weiten Wortlaut „verursacht“ – ergibt.52 Im Ergebnis kann lediglich festgehalten werden, dass der Täterbegriff im Wege der Auslegung der jeweiligen Norm entnommen werden muss.53 Die mitgliedstaatliche Vorprägung der Begriffe von „Täterschaft und Teilnahme“ ist dabei eher 49
So etwa auch Art. 11 Corpus Juris 2000 (Fassung von Florenz), abrufbar unter http://ec.eu ropa.eu/anti_fraud/documents/fwk-green-paper-corpus/corpus_juris_en.pdf, zuletzt besucht am 18. 11. 2014. 50 Die h.M. stützt sich dabei auf den weiten Wortlaut der Fahrlässigkeitsdelikte, der letztlich zu einem begehungsneutralen Verursachungsdelikt führt; vgl. etwa Seier, JA 1990, 342, 344 m.w.N. 51 So für den Rechtsvergleich Lübbert, Das Verbot abgestimmten Verhaltens im deutschen und europäischen Kartellrecht, S. 104. Vgl. auch den Vorschlag von Keiler, in: Klip, Substantive Criminal Law of the European Union, S. 173, 192 ff. 52 Vgl. die jeweilige gesetzliche Normierung in den Mitgliedstaaten, etwa § 14 OWiG, bzw. Art. 7 S. 2 VO 2988/95 für die supranationalen Verwaltungssanktionen zum Schutz der finanziellen Interessen der EU. Siehe auch Dannecker, ÖZK 2010, 171, 179 f.; Vogel, ZStW 114 (2002), 403, 410 f. 53 Vgl. Cramer, in: Kaufmann u. a., FS Bockelmann, S. 389, 396 f.; Hamann, Das Unternehmen als Täter im europ. WettbR, S. 128.
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hinderlich als hilfreich.54 Hier bleiben somit zunächst einzig die in Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 enthaltenen Strafbarkeitsvoraussetzungen maßgeblich.55
IV. Die verschiedenen Differenzierungsmöglichkeiten auf Tatbestandsebene Differenziert die Strafnorm auf Tatbestandsebene zwischen verschiedenen Tatbeiträgen, bieten sich dafür wiederum drei Anknüpfungspunkte: die Festlegung des Normadressaten, die Umschreibung der Tathandlung und ihre subjektive Tatseite. In den Blick gerät damit die strafrechtliche Deliktsstruktur. 1. Der Adressatenkreis Zunächst kann eine Norm besondere Anforderungen an ihren Adressaten stellen. a) Sonderdelikte Für das hier zu betrachtende Kartellordnungswidrigkeitenrecht haben sog. Sonderdelikte Bedeutung. Damit werden Straftatbestände bezeichnet, die besondere Eigenschaften des Adressaten der Sanktionsnorm voraussetzen.56 Diese „täterqualifizierenden“ Merkmale können bereits ausdrücklich in der Norm enthalten sein
54 Mit dem pauschalen Hinweis, „Anstiftung und Beihilfe“ blieben straflos, (so etwa Böse, Strafen und Sanktionen im europ. GemR, S. 194; de Bronett, in: Schröter/Jakob/Mederer, Europ. WettbR, Art. 15 VO Nr. 17 Rn. 1) ist noch nichts gewonnen. Die Normen des europäischen Kartellordnungswidrigkeitenrechts füllen den Begriff der Täterschaft und damit spiegelbildlich auch den der Teilnahme vielmehr selbst aus (Zur Autonomie des Unionsrechts siehe bereits oben S. 46). Ersterer kann – durch einen weiten Wortlaut – somit durchaus weit in den in den Mitgliedstaaten der Teilnahme zugerechneten Bereich hineinreichen; vgl. GA StixHackl, Schlussanträge v. 26. 9. 2002, Rs. C-195/99 – Krupp Hoesch/Kommission, Slg. 2003, I10941, I-10956 Rn. 64 (Fn. 15); de Bronett, VO 1/2003, Art. 23 Rn. 2; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 183 [77. Lfg.: Oktober 2012]. Entsprechend der nationalen Vorprägung findet sich verbreitet die Feststellung, dass der Einheitstäterbegriff „im Gemeinschaftsrecht weit in die Teilnahme hinein“ reiche; so Schütz, in: Müller-Henneberg/Schwartz/Hootz, GK, KartellR, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 18, beibehalten in: Busche/Röhling, KöKo, KartellR, Bd. 4, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 23; aufgegriffen von Sura, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 4. 55 Selbst wenn ein einheitlicher Täterbegriff einer Strafrechtsordnung zugrunde liegt, ist dieser Modifikationen für die einzelnen Tatbestände unterworfen, vgl. zum dt. Recht Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 441 ff. 56 Vgl. für das dt. Recht Freund, in: Joecks/Miebach, MüKo, StGB, Bd. 1, Vor. §§ 13 ff. Rn. 178; von Heintschel-Heinegg, in: von Heintschel-Heinegg, BeckOK, StGB, Lexikon: Deliktstypen, Rn. 36 f.; Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, Vor. §§ 13 ff. Rn. 33.
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
oder sich im Wege der Auslegung aus der Norm ergeben.57 Nur wer auch diese speziellen Merkmale in eigener Person erfüllt, kann nach dieser Norm Täter sein.58 Selbst wenn die übrigen Tatbestandsmerkmale mit Ausnahme der bestimmten Eigenschaft erfüllt werden, kommt nur eine Täterschaft nach ergänzenden Normen in Betracht. Der Tatbestand des Art. 23 Abs. 2 VO 1/2003 richtet sich nur an „Unternehmen und Unternehmensvereinigungen“. Nur diese Subjekte können den Tatbestand erfüllen. Es handelt sich somit jedenfalls um ein Sonderdelikt.59 Auf dieses Abgrenzungskriterium soll erst unten bei der Erörterung der Sanktionsadressaten des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 zurückzukommen sein.60 b) Pflichtdelikte Steht die Verletzung einer meist außerstrafrechtlichen Pflichtenstellung ganz im Vordergrund des Delikts und begründet sie die Sonderstellung i.S.d. Sonderdelikte, so handelt es sich um ein sog. Pflichtdelikt.61 Täter kann dabei nur sein, wer diese besondere Pflichtenstellung innehat und in eigener Person verletzt.62 Die im Tatbestand umschriebene Pflichtverletzung zieht mithin die Grenze zwischen Täterschaft und Straflosigkeit. Auch dieses Strukturmerkmal wird wieder aufzugreifen sein, wenn die Beziehung des Unternehmens oder der Unternehmensvereinigung zum Schutzgut Wettbewerb näher betrachtet wird.63 Kurz anzudenken sein wird dabei, ob die betroffenen Unternehmen zudem Wettbewerber sein müssen.64 Einige Autoren65 verlangen 57
Vgl. für das dt. Recht Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor. §§ 13 ff. Rn. 131; Rengier, in: Senge, KK, OWiG, Vor. § 8 Rn. 18 f. 58 Bohnert, OWiG, § 1 Rn. 31; Joecks, in: Joecks/Miebach, MüKo, StGB, Bd. 1, § 25 Rn. 48; Kudlich, in: von Heintschel-Heinegg, BeckOK, StGB, § 25 Rn. 7. 59 Brunner, Der Täterkreis bei Kartellordnungswidrigkeiten, S. 170; Dannecker/FischerFritsch, Das EG-Kartellrecht in der Bußgeldpraxis, S. 253; Dannecker/Müller, in: Wabnitz/ Janovsky, Hdb. des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, Kap. 18 Rn. 193; Hamann, Das Unternehmen als Täter im europ. WettbR, S. 20; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/ Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 154 [77. Lfg.: Oktober 2012]; Rütsch, Strafrechtlicher Durchgriff bei verbundenen Unternehmen?, S. 23; Tiedemann, in: Vogler u. a., FS Jescheck, Bd. II, S. 1411, 1419. 60 Unten S. 327 ff. 61 von Heintschel-Heinegg, in: von Heintschel-Heinegg, BeckOK, StGB, Lexikon: Deliktstypen Rn. 36; vgl. auch Heine/Weißer, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor. §§ 25 ff. Rn. 83. 62 Zum Streit im dt. Strafrecht, ob die besondere Pflichtenstellung das Kriterium der Tatherrschaft ersetzt, bejahend Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 352 ff.; verneinend und für ein Hinzutreten dieses Kriteriums Hoyer, in: Rudolphi/Horn/Samson, SK, StGB, Bd. I, § 25 Rn. 21 ff. [32. Lfg.: März 2000]; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 652 (Fn. 30). 63 Unten S. 263 ff., 352 ff. 64 Siehe noch unten S. 300 f.
A. Die Bestimmung der Täterschaft als zentrale Fragestellung
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schließlich, dass die betroffenen Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen auf dem Markt tätig sein müssen, auf den sich die bezweckte oder bewirkte Wettbewerbsbeschränkung bezieht.66 2. Die Umschreibung der Tathandlung: Extensiver und restriktiver Täterbegriff67 Eine weitere Stellschraube ist die Umschreibung der Tathandlung. Der sog. extensive Täterbegriff geht wie der Einheitstäterbegriff von der Äquivalenztheorie aus und erfasst jeden kausalen Tatbeitrag als Täterschaft.68 Mögliche Teilnahmenormen fasst er als Strafbarkeitseinschränkung für gewisse Kausalbeiträge auf.69 Demgegenüber lässt der sog. restriktive Täterbegriff70 nur täterschaftlich erbrachte Tatbeiträge genügen.71 Damit berücksichtigt er, dass der Gesetzgeber auch in der jeweiligen Strafnorm die Strafbarkeit auf bestimmte Handlungsweisen einschränken kann. Plastisches Beispiel sind die sog. eigenhändigen Delikte, die die Vornahme der Tathandlung durch den Täter selbst erfordern.72 Ein bloß kausaler Tatbeitrag genügt hier nicht. Das täterschaftliche Gewicht eines Tatbeitrags kann sich zudem aus dem systematischen Verhältnis möglicher Täter- und Teilnahmenormen ergeben. Anders als die Täterschaft erfasst die Beihilfe, soweit sie entsprechend dem Differenzierungsmodell tatbestandlich abgeschichtet wird, im Recht der Mitgliedstaaten nur untergeordnete Tatbeiträge. So wird im deutschen Strafrecht verbreitet das Tat-
65 Böse, Strafen und Sanktionen im europ. GemR, S. 195; Dannecker, in: Schünemann/ Suárez González, Bausteine des europ. WirtschaftsstrafR, S. 331, 336; ders./Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 135, 137; Tiedemann, in: Vogler u. a., FS Jescheck, Bd. II, S. 1411, 1420; ders., NJW 1993, 23, 30; Tsolka, Der allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 292. 66 Dazu noch eingehend S. 341 ff. 67 Die Terminologie geht zurück auf Zimmerl, ZStW 49 (1929), 39 ff. 68 Vgl. Schünemann, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK, StGB, Bd. 1, Vor. § 25 Rn. 11; Zimmerl, ZStW 49 (1929), 39, 40 ff. 69 Vgl. Joecks, in: Joecks/Miebach, MüKo, StGB, Bd. 1, Vor. § 25 Rn. 6; Schünemann, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK, StGB, Bd. 1, Vor. § 25 Rn. 11. 70 Für das dt. Recht etwa Schünemann, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK, StGB, Bd. 1, Vor. § 25 Rn. 5 ff., insb. Rn. 14; Joecks, in: Joecks/Miebach, MüKo, StGB, Bd. 1, Vor. § 25 Rn. 15. Im Unionsrecht halten den restriktiven Täterbegriff für rechtsstaatlich geboten Böse, Strafen und Sanktionen im europ. GemR, S. 194; Hamann, Das Unternehmen als Täter im europ. WettbR, S. 185; Krajewski, Geldbußen und Zwangsgelder, S. 128; Tiedemann, NJW 1993, 23, 30; Tsolka, Der allgemeine Teil eines supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 283. 71 Vgl. Joecks, in: Joecks/Miebach, MüKo, StGB, Bd. 1, Vor. § 25 Rn. 9; Zimmerl, ZStW 49 (1929), 39, 45 ff. 72 Zu den sog. eigenhändigen Delikten im dt. Recht etwa Joecks, in: Joecks/Miebach, MüKo, StGB, Bd. 1, § 25 Rn. 50 ff.; Heine/Weißer, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor. §§ 25 ff. StGB Rn. 85; von Heintschel-Heinegg, in: von Heintschel-Heinegg, BeckOK, StGB, Lexikon: Deliktstypen Rn. 14; Schünemann, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK, StGB, Bd. 1, § 25 Rn. 54 ff. je m.w.N.
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
herrschaftskriterium als Abgrenzungskriterium gewonnen.73 Diese Argumentation ist für das unionsrechtliche Kartellordnungswidrigkeitenrecht mangels solcher Teilnahmenormen nicht möglich. Allerdings könnten im Wege wertenden Rechtsvergleichs nationaler Täterschaftsanforderungen erhöhte Täterschaftsvoraussetzungen wie die schon genannte Tatherrschaft hineingelesen werden. Darauf wird bei der systematischen Auslegung der Tathandlungen des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV zurückzukommen sein.74 3. Die subjektive Tatseite Schließlich kann der Gesetzgeber für die Täterschaft eine besondere innere Einstellung verlangen.75 Objektiv gleichgewichtige Tatbeiträge werden dann über die subjektive Tatseite unterschieden. In Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 VO 1/2003 hat der Gesetzgeber dem Wortlaut nach keine solche Abschichtung getroffen. Der Tatbestand verlangt schlicht vorsätzliches oder fahrlässiges Handeln. Gleichwohl könnten wiederum subjektive Täterschaftskriterien der mitgliedstaatlichen Strafrechtsordnungen, etwa der von der deutschen Rechtsprechung76 entwickelte Täterwille (animus auctoris), einschränkend auf das Unionsrecht übertragen werden. Auch hierauf ist zurückzukommen.77
V. Zwischenergebnis Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip verhindert den strafbegründenden Rekurs auf nationale und ungeschriebene Täterbegriffe, einschließlich des vielfach bemühten Einheitstäterbegriffs. Nur wer alle gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen in eigener Person sowie ggf. durch gesetzlich vorgesehene Zurechnung erfüllt, ist strafbarer Täter. Diese Auslegung und Subsumtion ist im Folgenden für den Kartellgehilfen durchzuführen. Wer nicht in diesem Sinne Täter ist, bleibt nach dieser Norm straflos. Dann sind jedoch ergänzende Strafnormen in den Blick zu nehmen (Teil 4). 73
H.L., auch wenn einzelne Spielarten unterschieden werden können; statt vieler Heine/ Weißer, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor. §§ 25 ff. Rn. 72 ff.; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 651 ff.; Joecks, in: Joecks/Miebach, MüKo, StGB, § 25 Rn. 33 f.; Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, Vor. § 25 Rn. 6; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 107 ff.; Schild, in: Kindhäuser/ Neumann/Paeffgen, NK, StGB, Bd. 1, § 25 Rn. 26 ff.; Schünemann, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK, StGB, Bd. 1, § 25 Rn. 32 ff. 74 Unten S. 252 ff. 75 Vgl. dazu im dt. Recht etwa Kudlich, in: von Heintschel-Heinegg, BeckOK, StGB, § 25 Rn. 10. 76 RGSt 2, 160, 163; 3, 181, 182 f.; BGHSt 2, 169, 170; 4; 20, 21; 6, 226, 228 f.; 18, 87, 89 f.; 28, 346, 348 f. 77 Unten S. 254 f.
B. Die Tathandlungen
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B. Die Tathandlungen Die Tathandlung des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 besteht im Verstoß gegen Art. 101 AEUV. Durch das gebotene Zusammenlesen von Verweisungs- und Ausfüllungsnorm78 lassen sich drei Verbotsalternativen präzisieren. Der Tatbestand erfasst erstens „Vereinbarungen zwischen Unternehmen“, zweitens „Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen“ und drittens „aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarktes bezwecken oder bewirken“. Als Tathandlungen sind damit „Vereinbarungen“, „Beschlüsse“ und „aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen“ zunächst zu isolieren.
I. Handlungsfähigkeit des Unternehmens wie der Unternehmensvereinigung Erste Voraussetzung der Bußgeldverantwortlichkeit ist die Handlungsfähigkeit des Normadressaten. Diese setzt das Unionsrecht voraus. „Unternehmen“ und „Unternehmensvereinigungen“ können die Tathandlungen der „Vereinbarungen“, „Beschlüsse“ und „aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen“ nicht eigenhändig verwirklichen.79 Sie können die nach dem Wortlaut des Art. 101 AEUV erforderlichen Willensäußerungen nicht selbst tätigen.80 Das Unionsrecht arbeitet daher mit einer Zurechnung. Den Unternehmen, sofern sie nicht bereits wie etwa Einzelkaufleute selbst als natürliche Person handlungsfähig sind, wie den Unternehmensvereinigungen wird das Handeln der für sie befugtermaßen tätig werdenden natürlichen Personen zugerechnet.81 Diese (weite) Ausformung durch die Rechtsprechung ist vor dem Hintergrund des nullum crimen-Grundsatzes zulässig. Vergleichbar der Kausalitäts- und Zurechnungslehren im Allgemeinen Teil des deut-
78
Siehe dazu bereits oben S. 175. Dannecker/Müller, in: Wabnitz/Janovsky, Hdb. des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, Kap. 18 Rn. 214. 80 Zu dieser Konkretisierung der Handlungsfähigkeit Weck/Camasesca, WuW 2013, 17, 19. 81 EuGH, Urt. v. 7. 6. 1983, verb. Rs. 100 bis 103/80 – Musique diffusion française/Kommission, Slg. 1983, 1825, 1903 Rn 97; Dannecker/Müller, in: Wabnitz/Janovsky, Hdb. des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, Kap. 12 Rn. 214 f.; ders./Fischer-Fritsch, Das EG-Kartellrecht in der Bußgeldpraxis, S. 258 ff.; Engelsing/Schneider, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 23 VO 1/2003, Rn. 35a ff.; Hamann, Das Unternehmen als Täter im europ. WettbR, S. 18 f., 163 ff.; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 157 [77. Lfg.: Oktober 2012]; Tiedemann, in: Vogler u. a., FS Jescheck, Bd. II, S. 1411, 1419 f.; für eine Einengung des zurechenbaren Personenkreises Muders, wistra 2011, 405, 406 ff. 79
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
schen Strafrechts82 handelt es sich um keine wesentliche Frage der Strafbarkeit. Vielmehr konkretisiert die Rechtsprechung das Gesetz, welches die Handlungsfähigkeit von Unternehmen und Unternehmensvereinigungen schlicht voraussetzt. Für die Handlungsfähigkeit von Kartellgehilfen ergeben sich dabei keine Besonderheiten.
II. Identifizierung der potentiellen Tathandlungen des Kartellgehilfen Bevor die Begriffe der „Vereinbarungen“, „Beschlüsse“ und „aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen“ auszulegen sind, soll zunächst die dem Kartellgehilfen so zugeschriebene Tathandlung identifiziert werden. 1. Die drei möglichen Ansatzpunkte Denkbar sind drei Anknüpfungspunkte: Erstens kann an die Kartellabrede unter den Kartellmitgliedern83 angeknüpft werden, die – so ist zu unterstellen – gegen das Kartellverbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV verstößt.84 Problematisch ist diesbezüglich jedoch, dass der Kartellgehilfe selbst nicht Partei dieser Abrede ist. Mit den Kartellanten verbindet ihn aber zweitens der zwischen ihm und einem oder mehreren, meist allen Kartellmitgliedern, geschlossene Vertrag zur Erbringung der Gehilfentätigkeiten gegen Entgelt (im Folgenden als Dienstvertrag85 bezeichnet).86 Vertiefter Prüfung bedarf bei diesem Ansatz vor allem, ob dieser Vertrag eine „Vereinbarung zwischen Unternehmen“ ist, die „eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts bezweck[t] oder bewirk[t]“. Schließlich könnte drittens auch eine Gesamtschau vorzunehmen sein, die sowohl die Kartellabrede, den Dienstvertrag als auch in deren Umsetzung die tatsächlichen Hilfstätigkeiten umfasst.87 Bedenken sieht sich dieser Ansatz wiederum hinsichtlich der Tathandlungen ausgesetzt, die nach dem Textbefund auf die drei genannten 82 Dazu etwa Dannecker, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 174. 83 Im Folgenden wird diese tautologische Formulierung beibehalten, um den Unterschied zur Vertragsbeziehung des Kartellgehilfen mit Mitgliedern des Kartells herauszustellen. Letztere wird nämlich auf seine Qualität als Vereinbarung oder aufeinander abgestimmte Verhaltensweise i.S.d. Art. 101 Abs. 1 AEUV zu prüfen sein und kommt daher terminologisch auch als Kartellabrede in Betracht. 84 So der eine Lösungsvorschlag von Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 55 ff.; ebenso Eufinger, WRP 2012, 1488, 1490 f. 85 Dieselbe Bezeichnung bei Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 55 ff.; Eufinger, WRP 2012, 1488, 1489; J. Koch, ZWeR 2009, 370, 372; Sarrazin, Revue des droits de la concurrence 2008 n8 4, 77 („contrats de services“). 86 So der andere Lösungsvorschlag von Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 69 ff. 87 So der Lösungsvorschlag von C. Mayer, European Law Reporter 2009, 34, 39.
B. Die Tathandlungen
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Varianten beschränkt sind, die nach dem strafrechtlichen Analogieverbot nicht über den gesetzlichen Rahmen ausgeweitet werden dürfen. 2. Die bisherige Praxis der Unionsorgane Der bisherigen Entscheidungspraxis der Kommission ist keine eindeutige Festlegung zu entnehmen.88 In der ersten einen Kartellgehilfen betreffenden Entscheidung, die noch auf eine Bußgeldbewährung für den Kartellgehilfen verzichtete, knüpfte die Kommission zunächst an den Dienstvertrag zwischen dem Kartellgehilfen und den Kartellanten an.89 Dieser stelle eine Vereinbarung i.S.d. heutigen Art. 101 Abs. 1 AEUV dar.90 Zugleich verweist die Kommission auf die Rechtsfigur der einheitlichen, komplexen und fortdauernden Zuwiderhandlung.91 „Zwar wurden die Vereinbarungen [d. h. die Kartellabreden unter den Kartellanten und der Dienstvertrag] separat geschlossen, jedoch sind sie nicht unabhängig voneinander, denn sie verfolgen denselben Zweck, wurden unter Beteiligung derselben Gesellschaften geschlossen und sehen für ihre Durchführung die gleichen Mittel vor; in Wirklichkeit stellen sie daher eine einzige Vereinbarung dar.“92 Fraglich ist jedoch bereits, ob der Kartellgehilfe tatsächlich an den Kartellabreden unter den Kartellanten als Partei beteiligt ist und somit von einer Personenidentität ausgegangen werden kann. Die Vermischung zwischen dem isolierten Betrachten des Dienstvertrages und einer Gesamtbetrachtung aller Vereinbarungen begegnet wieder bei der Begründung der bezweckten oder bewirkten Wettbewerbsbeschränkung. Dabei müsse „in Betracht gezogen werden, daß FIDES [der Kartellgehilfe] bei der Durchführung der Wettbewerbsbeschränkungen, die ausdrücklich Zweck der Vereinbarung waren, bewusst mitgewirkt hat und sie dementsprechend für die Wettbewerbsbeschränkungen mitverantwortlich ist.“93 Nachdem das Merkmal für die Kartellabreden unter den Kartellanten bejaht wurde, stellt die Kommission fest: „Auch die Kontrolle über die Einhaltung der Quoten […] kommt auf eine Wettbewerbsbeschränkung hinaus. Aus dem Vorstehenden ergibt sich, daß auch [der Dienstvertrag] eine Einschränkung des Wettbewerbs auf dem Gußglasmarkt in Italien bezweckt und bewirkt.“94 88
Vgl. selbst auch Kommission, Entsch. v. 10. 12. 2003, COMP/E-2/37.857 – Organische Peroxide, Rn. 454 zur vorangehenden Entscheidungspraxis. 89 So auch Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 53 f. 90 Kommission, Entsch. v. 17. 12. 1980, IV/29.869 – Gußglas in Italien, ABl. 1980 L 383, S. 19, 23. 91 Zu dieser Figur noch eingehend unten S. 280 ff. 92 Kommission, Entsch. v. 17. 12. 1980, IV/29.869 – Gußglas in Italien, ABl. 1980 L 383, S. 19, 23. 93 Kommission, Entsch. v. 17. 12. 1980, IV/29.869 – Gußglas in Italien, ABl. 1980 L 383, S. 19, 25. 94 Kommission, Entsch. v. 17. 12. 1980, IV/29.869 – Gußglas in Italien, ABl. 1980 L 383, S. 19, 25.
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
In der Folge unterzog die Kommission mögliche Kartellgehilfen keiner näheren Prüfung und sah sie so im Ergebnis nicht als kartellrechtlich verantwortlich an.95 In ihrer Entscheidung zur Sache Dach- und Dichtungsbahnen belegte die Kommission hingegen eine genossenschaftliche Berufsvereinigung belgischen Rechts für ihre „Beteiligung an der Anwendung des [kartellrechtswidrigen] Vertrages“ mit einer Geldbuße.96 Bereits der soeben wiedergegebene Wortlaut des Art. 1 der Entscheidung lässt nicht erkennen, worin die Kommission den Verstoß gegen das Kartellverbot sieht. Die Kommission sieht im Kartellvertrag der Marktakteure „zusammen mit den Maßnahmen, die in seinem Rahmen von den Mitgliedern und von Belasco [der Berufsvereinigung] im Hinblick auf ihre Anwendung und ihre Vervollständigung getroffen wurden, eine Reihe von Vereinbarungen und/oder Beschlüsse einer Unternehmensvereinigung („die Absprache“), welche die Einschränkung des Wettbewerbs bezwecken und/oder bewirken und geeignet sind, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen.“97 Innerhalb dieser Einheit „beteiligte sich [der Kartellgehilfe Belasco] an der Durchführung des Vertrages und der ergänzenden Maßnahmen in mehrerer Hinsicht.“98 Auch wenn sich dieser Beitrag nicht auf alle Kartellabreden des Vertrages erstreckte, müsse „selbst die begrenzte Beteiligung einer Berufsvereinigung an einem Kartell als noch gravierender betrachtet werden, wenn ihr das Ausmaß der sich aus diesem Kartell ergebenden Wettbewerbsbeschränkungen voll bekannt waren“.99 Auch in dieser Entscheidung nimmt die Kommission letztlich eine Gesamtbetrachtung vor, mit der sie eine Zurechnung fremder Tatbeiträge ermöglicht. Allerdings werden erneut ihre Voraussetzungen nicht deutlich. Die Kommission führt nicht aus, was unter einer „Beteiligung“ zu verstehen sei. In der dem Urteil des EuG vorangehenden Entscheidung zur Sache Organische Peroxide knüpft die Kommission wieder zunächst an den Dienstvertrag an.100 Sie 95 Kommission, Entsch. v. 17. 10. 1983, IV/30.064 – Gußeisen- und Gußstahlwalzen, ABl. 1983 L 317, S. 1; Entsch. v. 6. 8. 1984, IV/30.350 – Zinc Producer Group, ABl. 1984 L 220, S. 27; Entsch. v. 19. 12. 1984, IV/29.725 – Zellstoff, ABl. 1985 L 85, S. 1, 9 ff. Rn. 43 ff., 22 ff. Rn. 125 ff.; Entsch. v. 23. 4. 1986, IV/31.149 – Polypropylen, ABl. 1986 L 230, S. 1; Entsch. v. 21. 12. 1988, IV/31.866 – LDPE, ABl. 1989 L 74, S. 21; Entsch. v. 17. 2. 1992, IV/ 31.370 und 31.446 – UK Agricultural Tractor Registration Exchange, ABl. 1992 L 68, S. 19, 25 Rn. 34; Entsch. v. 13. 7. 1994, IV/C/33.833 – Karton, ABl. 1994 L 243 S. 1; Entsch. 21. 10. 1998, IV/35.691/E-4 – Fernwärmetechnik-Kartell, ABl. 1999 L 24, S. 1, 14 Rn. 33, 43 Rn. 116; Entsch. v. 28. 1. 2009, COMP/39.406 – Marineschläuche, ABl. 2009 C 168, S. 6. 96 Kommission, Entsch. v. 10. 7. 1986, IV/31.371 – Dach- und Dichtungsbahnen, ABl. 1986 L 232, S. 15 ff. 97 Kommission, Entsch. v. 10. 7. 1986, IV/31.371 – Dach- und Dichtungsbahnen, ABl. 1986 L 232, S. 15, 23 Rn. 72. 98 Kommission, Entsch. v. 10. 7. 1986, IV/31.371 – Dach- und Dichtungsbahnen, ABl. 1986 L 232, S. 15, 26 Rn. 75. 99 Kommission, Entsch. v. 10. 7. 1986, IV/31.371 – Dach- und Dichtungsbahnen, ABl. 1986 L 232, S. 15, 31 Rn. 114. 100 Kommission, Entsch. v. 10. 12. 2003, COMP/E-2/37.857 – Organische Peroxide, Rn. 340.
B. Die Tathandlungen
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erkennt, dass der Kartellgehilfe, die AC Treuhand AG, nicht selbst Partei der Kartellabrede unter den Kartellanten ist.101 Gleichwohl legt sie nicht dar, dass der Dienstvertrag isoliert den Bußgeldtatbestand erfüllt, sondern verweist wiederum darauf, dass dieser Teil eines wettbewerbswidrigen Systems sei, das sich als „fortgesetzte Zuwiderhandlung“ darstelle.102 Darin spiele die AC Treuhand eine „aktive Rolle“ und trage „wissentlich durch Unterstützung des Gesamtkonzepts zur Wettbewerbsbeschränkung“ bei.103 Die Kommission folgert, dass die AC Treuhand AG „Partei der Vereinbarung [gemeint ist eine wettbewerbswidrige Gesamtvereinbarung] war und/oder als Unternehmen und/oder als Unternehmensvereinigung Beschlüsse fasste.“104 Auch das Urteil des EuG vom 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand AG/Kommission bringt keine Klärung.105 Einerseits stellt das Gericht fest, dass die AC Treuhand AG nicht „formell und unmittelbar Vertragspartei“ der Kartellvereinbarung unter den Kartellanten sei.106 Darauf komme es auch nicht an. Der Kartellgehilfe habe „aktiv zur Durchführung des Kartells beigetragen“ und es habe ein „hinreichend konkreter und entscheidender Kausalzusammenhang zwischen dieser [seiner] Tätigkeit und der Beschränkung des Wettbewerbs auf dem Markt“ bestanden.107 Andererseits führt das EuG nicht aus, worin dieser Beitrag bestehen soll und nimmt keine Rückbindung an die gesetzlichen Merkmale vor. Die einschränkende Formulierung bei der Verneinung einer formellen und unmittelbaren Parteistellung schließt nicht aus, dass auf eine materielle und mittelbare Beteiligung an der Kartellabrede selbst abzustellen sei. Die von der Kommission angenommene Mitverantwortlichkeit und Zurechnung über die Figur der einheitlichen, komplexen und fortdauernden Zuwiderhandlung wird zudem wieder aufgegriffen und gebilligt.108 Der Dienstvertrag wird hingegen, auch wenn das EuG die Entscheidung der Kommission billigt, ausdrücklich nur zur Begründung der Kenntnis des wettbewerbs101 Kommission, Entsch. v. 10. 12. 2003, COMP/E-2/37.857 – Organische Peroxide, Rn. 339. 102 Kommission, Entsch. v. 10. 12. 2003, COMP/E-2/37.857 – Organische Peroxide, Rn. 313 ff., 339 f. 103 Kommission, Entsch. v. 10. 12. 2003, COMP/E-2/37.857 – Organische Peroxide, Rn. 349. Zur aktiven Rolle der AC Treuhand AG – auch in unausgesprochener Abgrenzung zu den in Rn. 95 genannten vorangegangenen Entscheidungen – näher Kommission, a.a.O., Rn. 95 ff. 104 Kommission, Entsch. v. 10. 12. 2003, COMP/E-2/37.857 – Organische Peroxide, Rn. 349. 105 So auch Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 54 f.; J. Koch, ZWeR 2009, 370, 372. 106 EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1570 Rn. 155. 107 EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1569 Rn. 154. 108 EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1560 ff. Rn. 130 ff., II-1568 ff. Rn. 151 ff.
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
widrigen Ziels des Gesamtkartells herangezogen, da der Kartellgehilfe dadurch, vermittelt durch den Dienstvertrag, eigene Gewinne erziele.109 Nachfolgend knüpft die Kommission in der Entscheidung zur Sache Wärmestabilisatoren, die erneut der AC Treuhand AG zwei Bußgelder jeweils i.H.v. 174.000 E auferlegt, an die in der vorgenannten Entscheidung angelegten gesetzesfernen Kriterien an. Der Kartellgehilfe sei als „Täter im Sinne von Artikel 81 EGVertrag zu betrachten“, da er „durch sein eigenes Verhalten zur Erreichung der von allen Beteiligten verfolgten gemeinsamen Ziele beitragen wollte, […] das von anderen Unternehmen in Verfolgung dieser Ziele beabsichtigte oder an den Tag gelegte tatsächliche Verhalten kannte oder vernünftigerweise vorhersehen konnte und […] bereit war, die daraus erwachsende Gefahr auf sich zu nehmen.“110 Das die Kommissionsentscheidung billigende Urteil des EuG wiederum beruft sich schlicht auf das vorangegangen Urteil in der Sache AC Treuhand/Kommission.111 Die Praxis scheint somit in erster Linie an den Dienstvertrag des Kartellgehilfen mit den Kartellanten anzuknüpfen, kommt aber nicht ohne eine Gesamtbetrachtung und die Berücksichtigung der tatsächlichen Unterstützungsleistungen aus. Eine überzeugende Rückbindung an die gesetzlichen Merkmale gelingt damit nicht. Insbesondere der Rückgriff auf eine mittäterschaftliche Zurechnung innerhalb eines Gesamtkartells entfernt sich von den gesetzlichen Vorgaben. Nach Ansicht des EuG handelt es sich dabei jedoch um eine schrittweise Konkretisierung derselben durch die Rechtsprechung, die daher mit dem nullum crimen-Grundsatz vereinbar sei.112 Dabei hat die Rechtsprechung noch nicht herausgearbeitet, unter welchen Voraussetzungen eine Kartellbeihilfe strafbar wird und keine unbedenkliche Alltagshandlung mehr darstellt.113 Diese Frage wird im Folgenden unter Auslegung der gesetzlichen Voraussetzungen zu beantworten sein. Erst nach Ermittlung des Gehalts der gesetzlichen Merkmale und der Grenzziehung durch den Bestimmtheitsgrundsatz kann die Zulässigkeit der angeblichen Konkretisierungsleistung der Rechtsprechung beurteilt werden.
109 EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1570 Rn. 156. 110 Kommission, Entsch. v. 11. 11. 2009, COMP/38.589 – Wärmestabilisatoren, Rn. 382. 111 EuG, Urt. v. 6. 2. 2014, Rs. T-27/10 – AC Treuhand/Kommission, noch nicht in amtl. Slg., Rn. 43 f. 112 EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1564 Rn. 141, II-1568 ff. Rn. 151 ff., II-1571 ff. Rn. 160 ff. 113 Ebenso Eufinger, WRP 2012, 1488, 1491. Vorschläge zu Abgrenzungskriterien finden sich bei Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 64 ff. und Hamann, Das Unternehmen als Täter im europ. WettbR, S. 186 ff. Zur Problemstellung der Abgrenzung auch Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 183 [77. Lfg.: Oktober 2012]. Dazu noch eingehend unten S. 270 ff. und S. 310 ff.
B. Die Tathandlungen
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III. Grammatikalische Auslegung der Tathandlungen Die Auslegung der Bußgeldnorm hat mit dem Wortlaut zu beginnen.114 Dem gewöhnlichen Sprachgebrauch der engsten Sprachfassung aus der Perspektive von Unternehmen kommt bei der Grenzziehung zulässiger Auslegung zugleich wie gesehen115 besondere Bedeutung zu. Diese Arbeit nimmt die deutsche Sprachfassung zum Ausgangspunkt. Genügte schon diese nicht den Anforderungen des nullum crimen-Grundsatzes, insbesondere des Bestimmtheitsgrundsatzes, bzw. überschritte die Rechtsprechungspraxis den gesetzlichen Rahmen der deutschen Sprachfassung, so bedarf es keines Rückgriffs mehr auf andere Sprachfassungen. Diese könnten ebenso wenig Strafbarkeitsgrundlage sein. Eine unterschiedliche Behandlung der verschiedenen Sprachfassungen liefe der Integrationsfunktion des Binnenmarkts zuwider.116 1. „Vereinbarungen“ Da sie nur den Verstoß gegen Art. 101 AEUV voraussetzt, kann der Sanktionsnorm des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 keine Anforderungen an die Tathandlungen entnommen werden. Diese sind allein der Ausfüllungsnorm des Art. 101 Abs. 1 AEUV zu entnehmen. a) Das Kriterium der Partei der Vereinbarung Nach Art. 101 Abs. 1 Hs. 1 AEUV sind zunächst „Vereinbarungen“, „welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts bezwecken oder bewirken“ „mit dem Binnenmarkt unvereinbar und verboten“. Das Kartellverbot nennt mithin ausdrücklich keine Verhaltenspflichten. Da Rechtsnormen aber auf die Steuerung menschlichen Verhaltens gerichtet sind, kann es allein auf sie ankommen. Die Verhaltenspflichten sind mithin durch Auslegung zu gewinnen. Es erstaunt, dass diese Besonderheit des Art. 101 AEUV nur selten117 behandelt wird, könnte sie doch maßgeblich zu einer extensiven Auslegung des Kartellverbots führen. Der Begriff der Vereinbarung selbst wird in den Verträgen nicht definiert.118 Er lässt – auch in anderen Sprachfassungen – allerdings eine Verwandtschaft mit dem 114
Siehe bereits oben S. 44. Oben S. 202 ff. 116 Vgl. bereits oben S. 210 ff. 117 Seifert, Die einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung, S. 285 f.; zum dt. Recht Achenbach, WuW 2011, 810 ff., v. a. zur entsprechenden Differenzierung des § 81 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 GWB. 118 Zum Vorrang des juristischen Sprachgebrauchs siehe bereits S. 44. Die Autonomie des Kartellrechts verbietet zudem eine unbesehene Übernahme der Begriffsbedeutung aus anderen Bestimmungen des Primärrechts, wie etwa Art. 155 AEUV, dazu bereits oben S. 46 f. 115
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Vertragsbegriff erkennen.119 Wie auch bei diesem, ist unter dem Begriff der Vereinbarung ein „Übereinkommen“ zu verstehen. Mehrere Beteiligte kommen mit ihrem Willen überein.120 Auch wenn der Wortlaut weitere Beiträge zu einer Vereinbarung nicht ausschließt, ergibt die Wortlautauslegung, dass das Unternehmen Partei der Vereinbarung sein muss.121 Ebenso formuliert der deutsche Gesetzgeber in der Parallelnorm des § 81 Abs. 1 lit. a GWB, indem er verlangt, dass der ordnungswidrig handelnde „entgegen Art. 101 Absatz 1 eine Vereinbarung trifft“ [Hervorhebungen durch Verf.]. Sein Wille muss sich mit dem der anderen Partei oder Parteien in allen wesentlichen Aspekten decken. Bei Heranziehen des Vertragsbegriffs ist freilich zu beachten, dass allein das Wesen des Vertrages der Auslegung dient. Die Wirkungen des Vertrages werden gerade nicht betrachtet.122 Dieser Auslegungsansatz gerät daher auch nicht in Konflikt mit der Frage nach der Ver119
Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 55; ders., in: Dauses, Hdb. des EU-WirtschaftsR, Bd. 2, H. I. § 2 Rn. 3 [28. Lfg.: Juni 2011]; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. III, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 37 [77. Lfg.: Oktober 2012]; Weck/Camasesca, WuW 2013, 17; weitergehend Bunte, in: Langen/Bunte, KartellR11, Bd. 2, Art. 81 EG Generelle Prinzipien Rn. 19; Schröter, in: von der Groeben/ Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 2, Art. 81 EG Rn. 55; vgl. auch Jüchser, Die Beteiligung am Kartell, S. 10 ff. Zum dt. Recht: In der ursprünglichen Fassung des GWB aus dem Jahre 1957 (BGBl. 1957 I S. 1081) verbot § 1 noch wettbewerbswidrige „Verträge, die Unternehmen oder Vereinigungen von Unternehmen zu einem gemeinsamen Zweck schließen“ [Hervorhebung durch Verf.]. BGHSt 24, 54, 61 f. (sog. Teerfarben-Fall) zog dabei die allgemeinen §§ 145 ff. BGB zur Beurteilung des Vertragsschlusses heran. 120 Vgl. Gruber, ÖZK 2010, 43, 43 ff., siehe insb. 44 f. zur Abgrenzung zur Übereinstimmung rechtsgeschäftlicher Willenserklärungen; Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 77. 121 Diese Formulierung findet sich – wenngleich gelegentlich in anderem Zusammenhang und mit anderer Zielrichtung – auch in der Rechtsprechung wie im Schrifttum; vgl. etwa die Wiedergabe des vorlegenden Gerichts in EuGH, Urt. v. 20. 9. 2001, Rs. C-453/99 – Courage und Crehan, Slg. 2001, I-6297, I-6319 Rn. 12 f. („Parteien der rechtswidrigen Vereinbarungen“, „Partei einer wettbewerbswidrigen Vereinbarung“); Gruber, ÖZK 2010, 43, 44 („Parteien einer wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung“); Hamann, Das Unternehmen als Täter im europ. WettbR, S. 188 („Partner der wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung“); Jüchser, Die Beteiligung am Kartell, S. 106 f. („Partei der Vereinbarung“); Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/ Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 185 [77. Lfg.: Oktober 2012] („Partner der wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung“); Rütsch, Strafrechtlicher Durchgriff bei verbundenen Unternehmen?, S. 23 („Art. 85 EWGV sich an Parteien einer Vereinbarung und eines Beschlusses wendet“); Tiedemann, in: Vogler u. a., FS Jescheck, Bd. II, S. 1411, 1420 („Partner einer Vereinbarung“); Tsolka, Der allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 292 („Partner der einschlägigen Vereinbarung“). Ebenso Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 49 („Partei einer Vereinbarung mit anderen Unternehmen“, „Partner der wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung“), der diesen Begriff in der Folge allerdings weit verstanden wissen will. Tiedemann, a.a.O., fasst dies als Eigenschaft auf, die ein Sonderdelikt begründet. Im Ergebnis unterscheidet sich diese Einordnung allerdings nicht von der hier vorgenommenen Abgrenzung anhand des Tatbeitrages. 122 Auf einen Rechtsbindungswillen i.S.d. zivilrechtlichen Rechtsgeschäftslehre kommt es mithin auch gar nicht an; Gruber, ÖZK 2010, 43, 44; Weck/Camasesca, WuW 2013, 17, 19.
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bindlichkeit von Vereinbarungen.123 Zum Inhalt der Willensübereinkunft macht der Wortlaut des Art. 101 Abs. 1 AEUV indes keine ausdrücklichen Vorgaben. Bereits die Wortlautauslegung im Zusammenhang des gesamten Satzes ergibt jedoch durch Rückschlüsse aus den im nachfolgenden Relativsatz formulierten Eigenschaften der Tathandlung, die Eignung zur Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels sowie das Bezwecken oder Bewirken einer Wettbewerbsbeschränkung, und die Beschränkung des Adressatenkreises auf „Unternehmen“ die Begrenzung auf ein wirtschaftliches Handeln. b) Die Anwendung des Kriteriums der Partei der Vereinbarung auf die Fallgruppe der Kartellgehilfen Hier ist zunächst festzuhalten, dass sowohl in der Kartellabrede der Kartellmitglieder als auch im Dienstvertrag eine „Vereinbarung“ gesehen werden kann. In der Kartellabrede koordinieren die Kartellmitglieder ihr Wettbewerbsverhalten. Zwar nimmt das Verhalten des Kartellgehilfen auf diese Verhaltensabstimmung Bezug, jedoch zielt der Wille des Kartellgehilfen nicht auf das eigene Wettbewerbsverhalten ab, das auf jenes der Kartellmitglieder abgestimmt werden soll. Auch die Kartellmitglieder verlangen bloß eine Dienstleistung und kein bestimmtes zukünftiges Marktauftreten des Kartellgehilfen. Der Wille des Kartellgehilfen deckt sich somit nicht mit der Absprache unter den Kartellmitgliedern. Der Kartellgehilfe ist daher nicht Partei dieser Kartellabrede. Die Wortlautauslegung steht somit einer Auslegung entgegen, die an die direkte Beteiligung des Kartellgehilfen an der Kartellabrede unter den Kartellanten anknüpft. Die Willensübereinkunft zwischen Kartellmitgliedern und Kartellgehilfen schlägt sich vielmehr im Dienstvertrag nieder. Dem stimmt auch die bisherige Praxis zu, die vornehmlich an den Dienstvertrag anknüpft.124 2. „Beschlüsse“ von Unternehmensvereinigungen Als weitere Tathandlung nennt Art. 101 Abs. 1 Hs. 1 AEUV „Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen“. Das zur „Vereinbarung“ herausgearbeitete Wortlautkriterium gilt für die anderen Varianten der Tathandlung entsprechend. Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 setzt einen Verstoß gegen das Kartellverbot voraus. Diese verbietet „Beschlüsse […], welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts bezwecken oder bewirken“. Dagegen verstößt eine Unternehmensvereinigung nach dem Textbefund nur 123 Zum Meinungsstand um die Rechtsverbindlichkeit der Vereinbarung siehe nur Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 60 ff. Dazu noch sogleich S. 251. 124 Dazu siehe bereits oben S. 237 ff. Kommission, Entsch. v. 5. 12. 2001, COMP/E-1/ 36.604 – Zitronensäure, ABl. 2002 L 239, S. 18, 29 f. Rn. 85 lag hingegen ein abweichender Sachverhalt zugrunde. Das Handeln des vermeintlichen Kartellgehilfen, die Sekretärin eines Kartellanten, wird ebenjenem Kartellanten zugerechnet und stellt daher einen Tatbeitrag eines Kartellanten selbst dar, der in der Bußgeldzumessung erschwerend zu berücksichtigen ist.
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dann, wenn sie den Beschluss selbst gefasst hat. Wortgleich formuliert dies auch § 81 Abs. 1 lit. a GWB. Der Begriff des Beschlusses ist aus den nationalen Rechtsordnungen bekannt.125 Die nationalen Begriffe sind allerdings aufgrund der Autonomie des Unionsrechts nicht heranzuziehen.126 Ebenso wenig kann der Begriff des Beschlusses aus einem anderen unionsrechtlichen Kontext, etwa Art. 52 SE-VO,127 für das Kartellrecht übernommen werden.128 So ist auch der Begriff des Beschlusses i.S.d. Art. 101 Abs. 1 Hs. 1 AEUV unabhängig von der Organisations- und Rechtsform der Unternehmensvereinigung und ihres internen Willensbildungsverfahrens zu bestimmen.129 Im wirtschaftlichen Alltagssprachgebrauch wird unter einem Beschluss einer Unternehmensvereinigung vielmehr allgemein die Willensübereinkunft ihrer Mitgliedsunternehmen verstanden. Da die im Dienstvertrag zwischen Kartellgehilfen und Kartellanten liegende Willensübereinkunft nicht unter dem Dach einer Unternehmensvereinigung zustande kommt, kann der Dienstvertrag somit nach dem Wortlaut nicht als Beschluss angesehen werden. Ob der Kartellgehilfe dessen ungeachtet als Unternehmensvereinigung erfasst werden kann, über den sich die Kartellanten als Mitgliedsunternehmen organisieren und koordinieren, wird noch unten bei der Auslegung des Normadressaten zu untersuchen sein.130 3. „Aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen“ Als dritte Tathandlung erfasst Art. 101 Abs. 1 Hs. 1 AEUV schließlich „aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen“. Anders als „Vereinbarungen“ und „Beschlüsse“ setzt sich diese Tathandlung ihrem Wortlaut nach aus zwei Merkmalen zusammen: aus einer Abstimmung und Verhaltensweisen. Auf das Erfordernis der Verhaltensweisen als Umsetzungshandlungen der Abstimmung kann auch nicht verzichtet werden.131 Dies verstieße als teleologische Reduktion eines täterbegüns125
Vgl. etwa § 119 Abs. 1 AktG. Zur autonomen Begrifflichkeit des Unionsrechts siehe bereits S. 46. 127 Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8. Oktober 2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE), ABl. 2001 L 294, S. 1. 128 Zur speziell kartellrechtsautonomen Auslegung siehe bereits oben S. 46. 129 Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 76. 130 S. 332 ff. 131 EuGH, Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-49/92 P – Kommission/Anic Partecipazioni, Slg. 1999, I-4125, I-4203 Rn. 118; Urt. v.8.7.1999, Rs. C-199/92 P – Hüls, Slg. 1999, I-4287, I-4386 Rn. 161; Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-235/92 P – Montecatini/Kommission, Slg. 1999, I-4539, I-4616 Rn. 125; Urt. v. 4. 6. 2009, Rs. C-8/08 – T-Mobile Netherlands u. a., Slg. 2009, I-4529, I-4579 Rn. 51; Bailey, World Competition 2008, 177, 191; Bechtold/Bosch/Brinker, EU-KartellR, Art. 101 AEUV Rn. 56; de Bronett, in: Schulte/Just, KartellR, Art. 101 AEUV Rn. 40; Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 116 f.; Paschke, in: Hirsch/ Montag/Säcker, MüKo, Kartellrecht, Bd. 1, Art. 81 EG Rn. 73; Roth/Ackermann, in: Jaeger/ Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 198 [67. Lfg.: Januar 2009]; a.A. Stockenhuber, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 114 126
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tigenden, da nach dem Wortlaut zusätzlichen, Merkmals gegen das strafrechtliche Analogieverbot.132 Es ist für den Normadressaten keinesfalls vorhersehbar, dass es leer laufen solle. Setzt man den Begriff der Verhaltensweise in den Gesamtzusammenhang des Satzes,133 so lässt sich bereits seinem Gehalt nähern. Die Tathandlung der aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen weist anders als die Vereinbarungen oder Beschlüsse keine ausdrückliche Bestimmung des Normadressaten auf. Im Wege der Auslegung nach der äußeren Systematik ergibt die Überschrift des Abschnitts 1 von Titel VII, Kapitel 1 („Vorschriften für Unternehmen“), der die Art. 101 bis 106 AEUV zusammenfasst, dass „Unternehmen“ erfasst sind. Der Wortlaut lässt nicht erkennen, dass auch Unternehmensvereinigungen eine aufeinander abgestimmte Verhaltensweise begehen können. Vor dem Hintergrund des strafrechtlichen Analogieverbots können Unternehmensvereinigungen allein durch Beschlüsse gegen das Kartellverbot verstoßen.134 Die Tathandlungsalternative der aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen kann daher lediglich von Unternehmen begangen werden.135 Der nicht spezifisch juristische Begriff der Verhaltensweise bezeichnet allgemeinsprachlich ein Tun, Dulden oder Unterlassen, das in die Außenwelt tritt. Nicht erfasst sind damit interne Vorgänge der Unternehmen. Durch die Beschränkung der Adressaten der dritten Tathandlung auf Marktteilnehmer136 kann dieses Außenhandeln der Unternehmen nur in einem Marktverhalten bestehen.137 [47. Lfg.: April 2012]. Die diesbezügliche Praxis war lange unklar; Überblick bei Roth/ Ackermann, a.a.O., Rn. 193 ff. [67. Lfg.: Januar 2009]. 132 So auch W. Weiß, in: Calliess/Ruffert, Art. 101 AEUV Rn. 64 (insb. Fn. 186). Zum Verstoß gegen das Analogieverbot durch solche sog. Gegenanalogien siehe Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 40 [77. Lfg.: Oktober 2012]; speziell zu den Rechtfertigungsgründen des dt. Strafrechts etwa Dannecker, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 261 m.w.N. 133 Zur grammatikalischen Auslegung im Zusammenhang des Satzes siehe oben S. 44. 134 Freilich kann sich eine Vereinbarung mehrerer Unternehmensvereinigungen als Vereinbarung aller Mitgliedsunternehmen darstellen und so als „Vereinbarung zwischen Unternehmen“ vom Kartellverbot erfasst sein. Dieser zwischengeschaltete Prüfungsschritt ist dabei aber zwingend erforderlich. Die h.M. formuliert hier großzügiger; vgl. etwa Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 54. In Kommission, Entsch. v. 25. 11. 1981, IV/428 VBBB/VBVB, ABl. 1982 L 54, S. 36, 44 Rn. 35, 37 wird aber deutlich, dass eine Vereinbarung zwischen den Mitgliedsunternehmen „formell als eine Vereinbarung zwischen Unternehmensvereinigungen anzusehen“ ist (Rn. 35), die aber „so beachtet werden muß, als ginge es um eine zwischen diesen Mitgliedern oder Angeschlossenen getroffene Vereinbarung“ (Rn. 37). Die Unternehmensvereinigung dient in diesen Fällen lediglich der Bündelung der auf eine „Vereinbarung zwischen Unternehmen“ gerichteten Willensäußerungen der jeweiligen Mitgliedsunternehmen. 135 So auch Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 6. 136 Zum Unternehmensbegriff noch näher unten S. 328 ff. 137 I.E. allg. M.; EuGH, Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-49/92 P – Kommission/Anic Partecipazioni, Slg. 1999, I-4125, I-4203 Rn. 118; Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-199/92 P – Hüls, Slg. 1999, I-4287, I-4385, I-4386 Rn. 161; Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-235/92 P – Montecatini/Kommission,
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Diese Verhaltensweisen müssen „aufeinander abgestimmte“ sein. Das koordinative Element der Abstimmung ist dabei bereits sprachlich weniger als eine „Vereinbarung“ i.S.d. der ersten Tathandlungsalternative. Eine „Abstimmung“ verlangt keinen gemeinsamen Plan, wie dies die Willensübereinkunft einer „Vereinbarung“ und eines „Beschlusses“ tut.138 Typisches Mittel zur Verhaltensabstimmung ist der gegenseitige Informationsaustausch der Unternehmen über ihr zukünftiges Marktverhalten.139 Der Wortlaut macht zudem deutlich, dass wiederum mindestens zwei Unternehmen handeln müssen. Der adjektivischen Beschreibung der Verhaltensweisen als aufeinander abgestimmt lässt sich zudem das Erfordernis der kausalen Verbindung zwischen Abstimmung und Verhaltensweise entnehmen.140 Weitere positive Voraussetzungen, insbesondere zur Abgrenzung rein einseitiger Maßnahmen, sind dem Wortlaut aber nicht zu entnehmen. Auch jegliche zulässige Mittel des Wettbewerbs sind nach dem Textbefund „aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen“, da Unternehmen im Wettbewerb auf das Verhalten ihrer Wettbewerber und die Marktentwicklungen reagieren bzw. versuchen, diese zu prognostizieren und ihr Marktverhalten anzupassen. Zudem bezwecken sämtliche Slg. 1999, I-4539, I-4616 Rn. 125; Bailey, World Competition 2008, 177, 191; de Bronett, in: Schulte/Just, KartellR, Art. 101 AEUV Rn. 40; Paschke, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 81 EG Rn. 73; Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 EG Grundfragen Rn. 198 [67. Lfg.: Januar 2009]; Schröter/Voet van Vormizeele, in: Schröter/Jakob/Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Art. 101 AEUV Rn. 58; W. Weiß, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 101 AEUV Rn. 64. Dazu noch vertiefend S. 274 f. 138 Vgl. EuGH, Urt.v. 16. 12. 1975, Rs. 40 bis 48, 50, 54 bis 56, 111, 113 und 114/73 – Suiker Unie und andere/Kommission, Slg. 1975, 1663, 1965 f. Rn. 173/174; Urt. v. 14. 7. 1981, Rs. 172/80 – Züchner/Bayerische Vereinsbank, Slg. 1981, 2021, 2031 Rn. 13; Urt. v. 28. 5. 1998, Rs. C-7/95 P – Deere/Kommission, Slg. 1998, I-3111, I-3162 f. Rn. 86; Bechtold/Bosch/ Brinker, EU-KartellR, Art. 101 AEUV Rn. 53; Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 90; Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 186 f. [67. Lfg.: Januar 2009]; Schröter/Voet van Vormizeele, in: Schröter/Jakob/Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Art. 101 AEUV Rn. 56. 139 Dannecker/Müller, in: Wabnitz/Janovsky, Hdb. des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, Kap. 18 Rn. 182; Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 89; Paschke, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 81 EG Rn. 67. 140 I.E. allg. M.; EuGH, Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-49/92 P – Kommission/Anic Partecipazioni, Slg. 1999, I-4125, I-4203 Rn. 118; Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-199/92 P – Hüls, Slg. 1999, I-4287, I-4385, I-4386 Rn. 161; Urt. v. 4. 6. 2009, Rs. C-8/08 – T-Mobile Netherlands u. a., Slg. 2009, I-4529, I-4579 Rn. 51; Bechtold/Bosch/Brinker, EU-KartellR, Art. 101 AEUV Rn. 56; de Bronett, in: Schulte/Just, KartellR, Art. 101 AEUV Rn. 40; Paschke, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 81 EG Rn. 74; Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 200 [67. Lfg.: Januar 2009]; Schröter/ Voet van Vormizeele, in: Schröter/Jakob/Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Art. 101 AEUV Rn. 55. Zur Kausalitätsvermutung zwischen Abstimmung und Marktverhalten siehe nur EuGH, Urt. v. 4. 6. 2009, Rs. C-8/08 – T-Mobile Netherlands u. a., Slg. 2009, I-4529, I-4579 Rn. 51; Bechtold/Bosch/Brinker, EU-KartellR, Art. 101 AEUV Rn. 56, 82; de Bronett, in: Schulte/Just, KartellR, Art. 101 AEUV Rn. 41; Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 118.
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Austauschverträge, die Marktverhältnisse zugunsten der beteiligten Unternehmen zu beeinträchtigen. Ihr Wettbewerbsverhalten ist somit bei bloßer Betrachtung des Wortlauts darauf gerichtet, den Wettbewerb zu beschränken.141 Auch die Eignung zur Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels ist zulässigen Mitteln des Wettbewerbs nicht abzusprechen. Der Wortlaut kann mithin keine Abgrenzung zwischen zulässigen Mitteln des Wettbewerbs und solchen zu seiner Einschränkung vornehmen. Dazu bedarf es der weiteren Auslegungkriterien. Der Wortlaut ist aber heranzuziehen, um die oben142 herausgearbeitete Voraussetzung der Beteiligung an der Tathandlung auf die Alternative der „aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen“ zu übertragen. Dies scheint nur auf den ersten Blick Schwierigkeiten zu bereiten. Mit der Abstimmung und den Verhaltensweisen böten sich zwei Ansatzpunkte. Die Unternehmen könnten die Abstimmung und/oder eine Verhaltensweise selbst vornehmen. Allerdings kann es nur auf die Vornahme einer „Verhaltensweise“ ankommen. Dies ergibt sich bereits aus der Satzstruktur. Die „Verhaltensweisen“ sind das Substantiv, das koordinierende Element findet sich dagegen als Adjektiv wieder und beschreibt damit die „Verhaltensweisen“. Verboten sind in der Kurzform des Tatbestands „Verhaltensweisen“, die aufeinander abgestimmt sind. Einen Verstoß gegen dieses Verbot begeht daher nur das Unternehmen, das eine solche Verhaltensweise selbst vornimmt.143 Zudem lautet der Wortlaut „aufeinander abgestimmt“ und nicht „gegenseitig abgestimmt“. Die Norm bestimmt also das Subjekt der Abstimmung nicht näher. Die Abstimmung muss daher nicht notwendig zwischen den handelnden Unternehmen erfolgen.144 Auch inhaltlich verlangt das Abstimmen wie gesehen keine Willensübereinkunft. Eine Bestimmung der Partei der Abrede müsste damit andernfalls von dem Kriterium, das zu den „Vereinbarungen“ entwickelt wurde, abweichen. Da sich das Unternehmen mit Vornahme der Verhaltensweise zugleich die nicht notwendig eigene Abstimmung zu Eigen macht, kann die deutsche Parallelnorm des § 81 Abs. 1 Nr. 1 GWB („wer […] Verhaltensweisen aufeinander abstimmt“) gleichbedeutend verstanden werden. 141 Vgl. Fuchs, ZWeR 2007, 639, 372 f.; Gleiss/Hirsch, EG-KartellR, Bd. 1, Art. 85 (1) EG Rn. 139 ff.; Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 177; Mestmäcker/ Schweitzer, Europ. WettbR, § 10 Rn. 17; Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 307 [68. Lfg.: Mai 2009]; Schröter/Voet van Vormizeele, in: Schröter/Jakob/Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Art. 101 AEUV Rn. 85; W. Weiß, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 101 AEUV Rn. 99. 142 S. 261 ff. 143 I.E. ebenso Jüchser, Die Beteiligung am Kartell, S. 66 ff., 107. 144 Bechtold/Bosch/Brinker, EU-KartellR, Art. 101 AEUV Rn. 55; Schröter, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 2, Art. 81 EG Rn. 72; ders./Voet van Vormizeele, in: Schröter/Jakob/Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Art. 101 AEUV Rn. 57; W. Weiß, in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, Art. 101 AEUV Rn. 60. Lübbert, Das Verbot abgestimmten Verhaltens im deutschen und europäischen Kartellrecht, S. 81 weist darauf hin, dass die niederländische Sprachfassung („onderling“) auf eine gegenseitige Abstimmung hinweist. Allerdings geriete dies nicht in Widerspruch zum strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz und Analogieverbot, da dem Regelbeispiel der mittelbaren Preisfestsetzung des Art. 101 Abs. 1 Hs. 2 lit. a AEUV deutlich ein weiter gehender Gehalt entnommen werden könne.
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Schließlich ergibt auch der Gegenschluss, dass eine eigene Abstimmung ohne umsetzende Verhaltensweise wettbewerblich ungefährlich bleibt. 4. Zwischenfazit: Zur Grenzziehung durch das Analogieverbot Zusammenfassend ergibt die Wortlautauslegung, dass sich die drei Tathandlungsalternativen durch ein koordinierendes Element auszeichnen.145 Bereits sprachlich ist dessen Intensität bei einer Abstimmung geringer als bei einer Vereinbarung oder einem Beschluss. Durch die objektive Formulierung des Verbots ist es sprachlich nicht ausgeschlossen, dass auch das Unternehmen gegen das Verbot verstößt, das eine Vereinbarung, einen Beschluss oder aufeinander abgestimmte Verhaltensweise lediglich unterstützt, fördert, anregt, geheim hält oder gutheißt, um nur einige denkbare Handlungen zu nennen. Da wie gesehen zum Analogieverbot und zur Grenzziehung durch das Bestimmtheitsgebot nach der vollständigen Auslegung des Tatbestandsmerkmals Stellung genommen werden kann, können hier nur vorläufige Zwischenergebnisse festgehalten werden. Die Wortlautauslegung spricht deutlich für die bloße Erfassung von Unternehmen, die die Vereinbarung getroffen oder die abgestimmte Verhaltensweise vorgenommen haben wie die Unternehmensvereinigungen, die den Beschluss gefasst haben. Erst und allein durch dieses Verhalten entstehen verbotene „Vereinbarungen“, „Beschlüsse“ und „aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen“. Die Wortlautauslegung lässt damit die Anknüpfung an die Kartellabrede unter den Kartellanten als potentielle Tathandlung ausscheiden. Durch das gebotene Zusammenlesen der Sanktionsnorm des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 und der Ausfüllungsnorm des Art. 101 Abs. 1 AEUV konnte bereits eine Täterschaftsvoraussetzung betreffend die Beteiligung an der Tathandlung identifiziert werden. Der Gesamttatbestand verlangt, dass das Unternehmen die Vereinbarung selbst schließt, die aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen selbst vornimmt und dass die Unternehmensvereinigung den Beschluss selbst fasst. Dadurch ist ein Kartellgehilfe nicht täterschaftlich an der Kartellabrede der Kartellanten beteiligt. Ebenso wenig kann allein auf tatsächliche Unterstützungshandlungen für das Kartell abgestellt werden, da der Tatbestand zwingend eine vorangehende Kollusion verlangt. Selbst wenn die Kartellgehilfentätigkeit als Umsetzung der Kartellabrede unter den Kartellanten, einer tatbestandlichen „Vereinbarung“ i.S.d. Kartellverbots, angesehen werden könnte, dann ist zu vergegenwärtigen, dass diese durch einen 145 Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 87; Gippini-Fournier/ Mojzesowicz, in: L/M/R, KartellR, Art. 81 Abs. 1 EG Rn. 75; Gruber, ÖZK 2010, 43 ff.; Paschke, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 81 EG Rn. 5 f.; Schröter, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 2, Art. 81 EG Rn. 49; Stockenhuber, in: G/H/ N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 88 [47. Lfg.: April 2012]. Vgl. auch EuGH, Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-49/92 P – Kommission/Anic Partecipazioni, Slg. 1999, I-4125, I-4201 Rn. 112.
B. Die Tathandlungen
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Dritten erbracht wird. Diesen Dritten über seine Ausführungshandlungen als Partei der Vereinbarung anzusehen, ist mit dem Wortlaut des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV schwerlich vereinbar.146 Die tatsächlichen Handlungen begründen nicht die Stellung als Partei der Willensübereinkunft. Soweit diese Unterstützungshandlungen die Abrede mit den Kartellanten umsetzt, ist mithin allein auf den Dienstvertrag als der zugrundeliegenden Willensabstimmung abzustellen. Diese tatsächlichen Umsetzungshandlungen von Vereinbarungen und Beschlüssen sind schließlich einzig bei dem Merkmal der bezweckten oder bewirkten Wettbewerbsbeschränkung zu berücksichtigen.147 Dieses Ergebnis kann durch die Ergebnisse der weiteren Auslegungskriterien freilich noch umgestoßen werden.148 Allerdings liegt die hier vorgenommene Wortlautauslegung nah am Normkern bzw. bildet ihn gar, sodass sie der Rechtssicherheit in hohem Maße nachkommt. Eine Ausweitung müsste durch die weiteren Auslegungkriterien für den objektivierten Normadressaten vorhersehbar sein. Die damit verbundene Rücknahme an Bestimmtheit müsste mit Argumenten der Gleichbehandlung und Einzelfallgerechtigkeit gerechtfertigt werden können.
IV. Historische Auslegung Die genetische Auslegung des Art. 101 AEUV erbringt mangels Materialen zum Primärrecht keine Erkenntnisse.149 Auch die historische Auslegung i. e.S. gibt keinen weiter gehenden Aufschluss. Art. 101 AEUV stimmt mit seinen Vorgängernormen Art. 85 EWGV,150 Art. 85 EG a.F. und Art. 81 EG überein. Lediglich der Begriff „Binnenmarkt“ in Art. 101 Abs. 1 AEUV löste den gleichbedeutenden151 Begriff des „Gemeinsamen Markts“ ab. Sprachlich weicht lediglich die älteste Vorläufernorm des Art. 65 § 1 EGKSV152 von Art. 101 AEUV ab.153 Der fehlende Bezug der Vorschrift zum Binnenmarkt ist 146 Gegen die Erfassung von Ausführungshandlungen unter Rückgriff auf den Wortlaut auch Seifert, Die einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung, S. 289; ähnlich Jüchser, Die Beteiligung am Kartell, S. 107. 147 Kommission, Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag, ABl. 2004 C 101, S. 97, 100 Rn. 22. 148 Zur Bestimmung der Vorhersehbarkeit i.S.d. strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips durch Abwägung siehe bereits oben S. 177 ff. 149 Dazu bereits oben S. 47. 150 Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, BGBl. 1957 II S. 753, 766. 151 Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 2. 152 Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, BGBl. 1952 II S. 445, 447. 153 Art. 65 § 1 EGKSV lautete: „Verboten sind alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen, alle Beschlüsse von Verbänden von Unternehmen und alle verabredeten Praktiken, die
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
auf den damaligen Stand der europäischen Integration zurückzuführen. Die Tathandlungen betreffend fällt auf, dass die dritte Tathandlung als „verabredete Praktiken“ erfasst wurde. Ein sachlicher Unterschied scheint nicht zu bestehen. Insbesondere waren die „aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen“ bereits zweigliedrig ausgestaltet. Auch die nunmehr einmalige Voranstellung des klarstellenden Wortes „alle“ vor die Tathandlungen dient allein der sprachlichen Vereinfachung. Ebenfalls ohne Erkenntnisgewinn bleibt die historische Auslegung i. e.S. des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a VO 1/2003. Abgesehen von der unterschiedlichen Einteilung in Unterabsätze und dem Wegfall einer absoluten Bußgeldgrenze, in Abgrenzung zur relativen Kappungsgrenze von 10 % des vorjährigen Gesamtumsatzes, besteht Wortgleichheit mit der Vorgängernorm des Art. 15 Abs. 2 lit. a VO 17/ 62154 sowie den gleichlautenden sektorspezifischen Verordnungen.155 Auch die Vorläufernorm Art. 65 § 5 EGKSV ist als Blanketttatbestand ausgestaltet. Allerdings unterscheidet sie in ihrer Formulierung ohne Unterschied im Ergebnis zwischen den Tathandlungen mit Nichtigkeitsfolge, gem. Art. 65 § 4 Abs. 1 EGKSV Vereinbarungen und Beschlüsse, und den verabredeten Praktiken. Auch die subjektiven Tatvoraussetzungen Vorsatz oder Fahrlässigkeit enthielt die Norm nicht. Allerdings weist ihre Formulierung auf das oben156 herausgearbeitete Täterschaftskriterium hin. Die Unternehmen müssen nach Art. 65 § 5 EGKSV eine „Vereinbarung getroffen“, „einen Beschluss […] angewendet oder angewendet versucht haben“ oder „zu den Bestimmungen des § 1 im Widerspruch stehende Praktiken anwenden“.
V. Systematische Auslegung Weitere Ansätze liefert hingegen die systematische Auslegung. Dazu sind verwandte Normen sowie der Bezug des europäischen Kartellordungswidrigkeitenrechts zu den dogmatischen Kategorien der mitgliedstaatlichen Strafrechtsordnungen zu betrachten.
darauf abzielen würden, auf dem gemeinsamen Markt unmittelbar oder mittelbar den normalen Wettbewerb zu verhindern, einzuschränken oder zu verfälschen, insbesondere a) die Preise festzusetzen oder zu bestimmen; b) die Erzeugung, die technische Entwicklung oder die Investitionen einzuschränken oder zu kontrollieren; c) die Märkte, Erzeugnisse, Abnehmer oder Versorgungsquellen aufzuteilen.“ 154 Verordnung Nr. 17, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages des Rates der EWG vom 6. 2. 1962, ABl. 1962 P 13, S. 204. 155 Aufzählung bei Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 8 f. [77. Lfg.: Oktober 2012]. 156 S. 241 ff., 247 f.
B. Die Tathandlungen
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1. Art. 101 Abs. 2 AEUV Ihre Gemeinsamkeiten lassen die wettbewerbswidrige Willenskoordination als Kerngehalt der Tathandlungen hervortreten.157 Die Betrachtung der inneren Systematik bringt jedoch weitere Erkenntnisse zur Abschichtung der Tathandlungen untereinander. Während sich die Regelbeispiele des Art. 101 Abs. 1 Hs. 2 AEUVauf das Merkmal der Wettbewerbsbeschränkung beziehen158 und keine Rückschlüsse auf die Tathandlungen zulassen, bestimmt Art. 101 Abs. 2 AEUV: „Die nach diesem Artikel verbotenen Vereinbarungen oder Beschlüsse sind nichtig.“ Auffallend ist die Beschränkung dieser zivilrechtlichen Rechtsfolge eines Verstoßes gegen das Kartellverbot auf die Tathandlungen der Vereinbarungen und Beschlüsse.159 Zum Ausdruck kommt darin der bereits im Wortlaut anklingende Unterschied zwischen Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen. Für letztere sieht das Unionsrecht die Nichtigkeitsfolge nicht vor, da es ihrer nicht bedarf. Aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen erzeugen keine faktischen, wirtschaftlichen oder gar rechtlichen Bindungen, die aufgesprengt werden müssten. Das Merkmal der Abstimmung i.S.d. der dritten Tathandlungsalternative setzt daher keine Bindungen der Beteiligten voraus.160 Dies geht einher mit dem weiten Wortlaut, der gerade keine „wechselseitige“ Abstimmung und damit keine Identität der an der Abstimmung Beteiligten mit den Unternehmen, die die Verhaltensweisen vornehmen, verlangt.161 Vielmehr wird diese fehlende Verbindlichkeit durch das Erfordernis der Vornahme einer Verhaltensweise „aufgewogen“. Wie das koordinierende Element positiv zu bestimmen ist, insbesondere wie es von zulässigen Mitteln des Wettbewerbs abgrenzen ist, lässt sich auch der Systematik indes nicht entnehmen. Aus dem systematischen Verhältnis zu Art. 101 Abs. 2 AEUV folgt für das Merkmal der Tathandlung somit, dass eine Verhaltensbindung der an der Koordination beteiligten Unternehmen keine konstitutive Voraussetzung ist. Gleiches muss für das Merkmal der Wettbewerbsbeschränkung gelten, die sich im Wege des Zwecks
157
Siehe bereits oben S. 248 f. Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 263; Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 414 [68 Lfg.: Mai 2009]; Schröter, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 2, Art. 81 EG Rn. 139; Stockenhuber, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 176 [47. Lfg.: April 2012]; Wägenbaur, in: L/M/R, KartellR, Art. 81 Abs. 1 EG Rn. 197; Zimmer, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 232. 159 So bereits schon Art. 65 § 4 Abs. 1 EGKSV. 160 Bechtold/Bosch/Brinker, EU-KartellR, Art. 101 AEUV Rn. 55; Emmerich, in: Dauses, Hdb. des EU-WirtschaftsR, Bd. 2, H. I. § 2 Rn. 16 [28. Lfg.: Juni 2011]; Gleiss/Hirsch, EGKartellR, Bd. 1, Art. 85 (1) EG Rn. 90; Paschke, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 81 EG Rn. 63; Stockenhuber, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 109 [47. Lfg.: April 2012]. 161 Dazu bereits S. 247. 158
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
oder der Wirkung von der Tathandlung ableitet. Darauf wird unten162 eingehend zurückzukommen sein. 2. Die Berücksichtigung strafrechtlicher Täterkriterien Einen Beitrag zur systematischen Auslegung könnte das Heranziehen der bereits eingangs angesprochenen Dogmatik von Täterschaft und Teilnahme leisten. Wie gesehen verbietet das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip den strafbegründenden oder -schärfenden Rückgriff auf ungeschriebene Täterbegriffe.163 Zudem lassen sich mangels Teilnahmenormen im europäischen Kartellordnungswidrigkeitenrecht keine Rückschlüsse aus deren systematischen Verhältnis zur Täterschaft ziehen. Allerdings könnten die aus einem Rechtsvergleich der mitgliedstaatlichen Strafrechtsordnungen derart, d. h. aus dem systematischen Verhältnis von Täter- und Teilnahmenormen,164 gewonnenen Täterkriterien innerhalb des Wortlauts des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV heranzuziehen sein. Diese Kriterien träten neben das bereits identifizierte Täterkriterium der Parteistellung an der Vereinbarung und stellten eine unbedenkliche teleologische Reduktion dar. Beleuchtet wird damit die Beziehung des Kartellgehilfen zur Kartellabrede unter den Kartellanten im Wege der Gesamtbetrachtung. Im wertenden Rechtsvergleich ergibt sich, dass in den mitgliedstaatlichen dualistischen Beteiligungsmodellen nur untergeordnete Tatbeiträge keine Täterschaft begründen. Zur Bewertung eines Tatbeitrags können sowohl subjektive als auch objektive Kriterien herangezogen werden.165 Während eine subjektive Abgrenzung auf den Willen des Handelnden abstellt, kommt es für eine objektive Abgrenzung auf das objektive Gewicht des Tatbeitrags und damit auf eine Herrschaft über das tatbestandliche Geschehen an. a) Objektive Kriterien Im Rahmen des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 könnte daran zu denken sein, anhand des objektiven Gewichts des Tatbeitrags und der damit verbundenen Tatherrschaft zu differenzieren. Nur objektiv hinreichend gewichtige Beiträge könnten Täterschaft begründen.
162
S. 299 ff. Siehe oben S. 230. 164 Zum dt. Strafrecht unter Betonung dieser systematischen Auslegung vgl. Schlehofer, in: Putzke u. a., FS Herzberg, S. 355 ff. 165 Vgl. die Abgrenzung im dt. Strafrecht: Die sog. Tatherrschaftslehre stellt ausschließlich auf das objektive Kriterium der Tatherrschaft ab, während die Rechtsprechung anhand subjektiver und objektiver Kriterien abgrenzt (sog. modifizierte subjektive Theorie); dazu überblicksartig, auch zu weiteren Auffassungen, Heine/Weißer, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor. §§ 25 ff. Rn. 48 ff. m.w.N. 163
B. Die Tathandlungen
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Dieses Arguments bedient sich auch die Kommission in ihrer Entscheidung Organische Peroxide.166 Sie bewertet die Gehilfentätigkeit als wesentlichen Beitrag zum Bestehen des Kartells. Zum einen sei der Dienstvertrag „ein wesentlicher Teil des komplexen wettbewerbswidrigen Systems“.167 Zum anderen stellt die Kommission aber auch auf das Gewicht der tatsächlichen Handlungen der AC Treuhand AG ab. So betont sie die „aktive Rolle“ des Kartellgehilfen168 und stellt heraus, dass die AC Treuhand AG mehr als ein bloßes Sekretariat darstellt und über die statistische Aufbereitung hinaus tätig wird.169 Unausgesprochen grenzt die Kommission diesen Sachverhalt damit von denen der zuvor nicht näher untersuchten möglichen Kartellgehilfen170 ab. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die AC Treuhand AG „das Kartell aufrecht“ erhielt.171 „Ein plötzlicher Wegfall der AC Treuhand hätte die Vereinbarung ebenso zumindest befristet unterbrochen wie der plötzliche Ausstieg eines OP-Produzenten [d. h. eines Kartellanten].“172 Diese Argumentation der Kommission kann durchaus mit dem strafrechtlichen Topos der Tatherrschaft über ein Gesamtkartell gleichgesetzt werden.173 Auch das EuG stellt in seinem Urteil im Rahmen einer Gesamtbetrachtung durch die Rechtsfigur der einheitlichen, komplexen und fortgesetzten Zuwiderhandlung auf die tatsächlichen Handlungen des Kartellgehilfen ab. Es könne offen bleiben, ob die AC Treuhand AG Partei der Kartellvereinbarung und der Dienstvertrag „inte-
166 In der frühreren Entscheidung Gußglas in Italien beschäftigte sich die Kommission nicht mit diesem Begründungsansatz und begnügte sich mit der Feststellung, die FIDES, der Kartellgehilfe, habe „effektiv an einer wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung im Sinne von Artikel 81 Absatz 1 teilgenommen“, ABl. 1980 L 383, S. 19, 24. Der Grund ist darin zu sehen, dass die Kommission allein den Dienstvertrag betrachtete. Eine Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Hilfshandlungen, die erst eine Abstufung ermöglichen, fand nicht statt. 167 Kommission, Entsch. v. 10. 12. 2003, COMP/E-2/37.857 – Organische Peroxide, Rn. 340. 168 Kommission, Entsch. v. 10. 12. 2003, COMP/E-2/37.857 – Organische Peroxide, Rn. 349, vgl. auch Rn. 95. 169 Kommission, Entsch. v. 10. 12. 2003, COMP/E-2/37.857 – Organische Peroxide, Rn. 95 ff. 170 Siehe die Nachw. in Teil 3 Fn. 95. 171 Kommission, Entsch. v. 10. 12. 2003, COMP/E-2/37.857 – Organische Peroxide, Rn. 104. Ähnlich auch Kommission, a.a.O., Rn. 102: „Die AC Treuhand nahm für das Funktionieren der Vereinbarung grundlegende Aufgaben wahr.“ und Rn. 335: Die AC Trehand AG „spielte eine entscheidende Rolle für die erfolgreiche Aufrechterhaltung des Kartells über viele Jahre hinweg.“ 172 Kommission, Entsch. v. 10. 12. 2003, COMP/E-2/37.857 – Organische Peroxide, Rn. 345. 173 Auch begrifflich kommt Kommission, Entsch. v. 10. 12. 2003, COMP/E-2/37.857 – Organische Peroxide, Rn. 322 der Tatherrschaftslehre nahe, indem sie formuliert: „Die AC Treuhand übte eine gewisse Autorität über die Kartellmitglieder mit Blick auf die Einschränkung ihres Wettbewerbsverhalten aus, die über das hinausging, was diese Mitglieder untereinander vereinbart hatten.“ [Hervorhebungen durch Verf.].
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
graler Bestandteil“ des Gesamtkartells sei,174 da der Kartellgehilfe „aktiv zur Durchführung des Kartells beigetragen hat und […] ein hinreichend konkreter und entscheidender Kausalitätszusammenhang zwischen dieser Tätigkeit und der Beschränkung des Wettbewerbs auf dem Markt […] bestand.“175 Es genüge schließlich ein Beitrag zur Wettbewerbsbeschränkung „auch in untergeordneter Funktion.“176 Diese Ausführungen erscheinen mithin als Ausweitung des Tatherrschaftskriteriums hin zu einem Einheitstäterbegriff. b) Subjektive Kriterien Versagt eine Abgrenzung der Täterschaft nach objektiven Kriterien, so könnte nach subjektiven abzugrenzen sein.177 Das maßgebliche Kriterium sei dabei der Täterwille (animus auctoris).178 Das eigene Interesse am Taterfolg, habe Indizwirkung, ob das Unternehmen die Tat als eigene wolle.179 Diesem Ansatz wird entgegengehalten, ein solcher Täterwille lasse sich nur schwer bestimmen, insbesondere wenn er von „Unternehmen“ und „Unternehmensvereinigungen“ gebildet wird.180 Gleichwohl findet er sich in Begründungselementen der Unionsorgane wieder. So verweist die Kommission in der Entscheidung Organische Peroxide darauf, dass die AC Treuhand AG zwar keinen unmittelbaren Nutzen aus der erfolgreichen Umsetzung der Kartellabrede zog, sie „jedoch unmittelbar Nutzen aus dem Erfolg der Vereinbarung, indem sie weiter für ihre statistischen und sonstigen Aufgaben bezahlt wurde“, zog.181 Auch das EuG hält fest, dass die AC Treuhand AG sich „in voller Kenntnis der Umstände vorsätzlich am Kartell“ beteiligt, „um damit zumindest indirekt im Rahmen der Durchführung ihrer
174 EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1569 Rn. 152. 175 EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1569 Rn. 154. 176 EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1568 Rn. 151. 177 So N. Koch, in: Grabitz, EWG-Vertrag, Art. 15 VO Nr. 17 Rn. 46 [1. Lfg.: September 1989]. 178 N. Koch, in: Grabitz, EWG-Vertrag, Art. 15 VO Nr. 17 Rn. 46 [1. Lfg.: September 1989], der allerdings eine Herleitung oder Begründung vermissen lässt. 179 N. Koch, in: Grabitz, EWG-Vertrag, Art. 15 VO Nr. 17 Rn. 46 [1. Lfg.: September 1989]. 180 So Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 85 [77. Lfg.: Oktober 2012]. 181 Kommission, Entsch. v. 10. 12. 2003, COMP/E-2/37.857 – Organische Peroxide, Rn. 342; vgl. auch Rn. 334. Dieses Kriterium zieht auch Hamann, Das Unternehmen als Täter im europ. WettbR, S. 187 heran; dazu noch unten S. 340 ff.
B. Die Tathandlungen
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individuellen Dienstleistungsverträge [mit den Kartellanten] Gewinn zu erzielen.“182 N. Koch hingegen verneint den Täterwillen des Kartellgehilfen.183 c) Stellungnahme Der Ansatz, die genannten Kriterien über einen wertenden Rechtsvergleich in der Auslegung des Art. 23 Abs. 1 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV zu berücksichtigen, steht dogmatisch auf unsicherem Grund. Es ist bereits äußerst fraglich, aus den mitgliedstaatlichen Strafrechtsordnungen im Wege wertenden Rechtsvergleichs einen allgemeinen Rechtsgrundsatz der genannten Gehalte gewinnen zu können. Dieser ignorierte nämlich die Strafrechtsordnungen, die Einheitstätermodelle vorsehen, gänzlich.184 Die Berücksichtigung des mitgliedstaatlichen Kriminalstrafrechts kann ferner nicht ohne Weiteres auf das hier einschlägige Strafrecht i.w.S. übertragen werden. So differenziert etwa Deutschland gem. §§ 25 ff. StGB und § 14 OWiG zwischen den beiden Regelungsmodellen. Im mitgliedstaatlichen Verwaltungssanktionenrecht scheint sogar ein Einheitstäterverständnis zu überwiegen.185 Zudem ergibt sich in den mitgliedstaatlichen Strafrechtsordnungen ohnehin kein einheitliches Abgrenzungskriterium. Zusammenfassend festgehalten werden kann lediglich, dass die Entwicklung verbreitet hin zu einer normativen Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme geht, die sowohl objektive als auch subjektive Aspekte berücksichtigt.186 Entscheidend gegen diesen Ansatz spricht aber, dass sich die Regelungsfrage in den Mitgliedstaaten nicht in das unionsrechtliche Kartellordnungswidrigkeitenrecht einfügt. Im unionsrechtlichen Kartellrecht existieren gerade keine Teilnahmenormen, von denen die Täterschaft abgegrenzt werden müsste. Ein Rechtsvergleich kann damit gar keine Lösungsmöglichkeiten aufzeigen. Allein der jeweilige Tatbestand entscheidet über die Täterschaft.187 Gleichwohl könnten diese Ansätze als strafbarkeitseinschränkende Kriterien heranzuziehen sein, um etwa sozialübliche Verhaltensweisen bei der Förderung eines Kartells aus dem Tatbestand auszuscheiden.188 Wie gesehen ist der Tatbestand des 182
EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1570 Rn. 156. 183 N. Koch, in: Grabitz, EWG-Vertrag, Art. 15 VO Nr. 17 Rn. 46 [1. Lfg.: September 1989]. 184 So für das Kriminalstrafrecht etwa Dänemark, Italien und Österreich. Siehe bereits oben S. 228 f. 185 Siehe bereits Teil 3 in und bei Fn. 45. 186 Vgl. H. Stein, Die Regelungen von Täterschaft und Teilnahme im europäischen Strafrecht, S. 343 f. Tsolka, Der allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 284 sieht im Rechtsvergleich hingegen objektive Kriterien überwiegen. 187 Ebenfalls kritisch hinsichtlich des Rückgriffs auf die Abgrenzungskriterien der nationalen Rechtsordnungen Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 85 f. [77. Lfg.: Oktober 2012]. 188 Zum Problem dieser Abgrenzung siehe auch Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/ Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 183 [77. Lfg.:
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Kartellverbots weit gefasst, dessen Wortlaut eine Abgrenzung zulässigen zu danach verbotenen Wettbewerbsverhaltens nicht ermöglicht. Einer teleologischen Reduktion stünde der nullum crimen-Grundsatz nicht entgegen. Allerdings ist auch diese Berücksichtigung mit der tatbestandlichen Struktur des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV nicht vereinbar. aa) Objektive Kriterien Als Besonderheit strafrechtlicher Tatbestände adressiert hier bereits die Sanktionsnorm des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 durch den Verweis auf das Kartellverbot gem. Art. 101 Abs. 1 AEUV zwingend mehrere Unternehmen.189 Eine Willensübereinkunft in Form einer Vereinbarung oder eines Beschlusses sowie eine Verhaltensabstimmung setzen mindestens einen Partner voraus. Damit regelt die Strafnorm bereits einen Fall der Beteiligung mehrerer. Keine Aussage trifft sie allerdings wiederum über die Anforderung an die Rolle der jeweils beteiligten Unternehmen. Sind alle Beteiligten Partei der Willensübereinkunft im obigen Sinne, so sieht der Wortlaut des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 keine weiteren Anforderungen an die Tathandlung vor. Die gesetzliche Voraussetzung an die Tathandlung, die Stellung als Partei der Vereinbarung, lässt auch keine Abstufungen innerhalb ihrer Bejahung zu.190 Der Wille deckt sich entweder mit dem der anderen bzw. die Verhaltensweise geht auf die Abstimmung zurück oder nicht. Ebenso wenig ergeben sich Abstufungen hinsichtlich der Herrschaft über das tatbestandliche Geschehen. Letzteres ist allein durch die Willensübereinkunft bestimmt. Jeder einzelne Wille ist notwendiger Bestandteil der Übereinkunft, sodass jeder Partei die gleiche „Herrschaft“ über die Übereinkunft zukommt. Unterschiedliche Gewichtungen der Beiträge und Herrschaftsverhältnisse kann es nur bei den vorangegangenen Verhandlungen und der Durchführung der Kartellabrede und damit bei tatsächlichen Handlungen geben. Diese sind aber allein bei der Bußgeldzumessung auf Rechtsfolgenebene zu berücksichtigen und haben keine Relevanz für das Merkmal der Oktober 2012]. Zum diesbezüglichen Gebot des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit siehe oben S. 223 f. Eine andere Ausschlussmöglichkeit ist freilich das ungeschriebene Kriterium der Spürbarkeit sowie die im Unternehmensbegriff zum Ausdruck kommende Pflichtenstellung; dazu noch unten S. 308 ff., 325 f. und S. 337 ff. Zur Lösung de lege ferenda siehe noch S. 392 ff. 189 Siehe auch EuGH, Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-49/92 P – Kommission/Anic Partecipazioni, Slg. 1999, I-4125, I-4192 Rn. 79; EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1560 Rn. 131. Der Tatbestand des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV lässt sich damit als sog. notwendige Teilnahme, da die beteiligten Unternehmen gleichartige Beiträge leisten, noch genauer als sog. Konvergenzdelikt, einorden. Zu den Begrifflichkeiten siehe etwa Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 697 f.; Kudlich, in: von Heintschel-Heinegg, BeckOK, StGB, § 26 Rn. 8 f. 190 Vgl. auch, wenngleich mit Nachweisen zur Figur der einheitlichen, komplexen und fortgesetzten Zuwiderhandlung, Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 169 [67. Lfg.: Januar 2009]; siehe auch Emmerich, in: Dauses, Hdb. des EU-WirtschaftsR, Bd. 2, H. I. § 2 Rn. 4 [28. Lfg.: Juni 2011].
B. Die Tathandlungen
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Tathandlung.191 Dort finden sie sich etwa in den Leitlinien der Kommission wieder, die nach der Ermittlung eines Grundbetrages erschwerende und mildernde Umstände, wie etwa die Anführerschaft oder eine Kooperation mit den Kartellbehörden, berücksichtigen.192 Insbesondere entfällt ein tatbestandlicher Verstoß nicht etwa, weil sich das Unternehmen der Umsetzung der Vereinbarung entzogen hat. Dies stellt vielmehr einen Milderungsgrund dar.193 Bei den Verhaltensweisen, obschon tatsächliche Handlungen, kommt es für die Tatbestandsbegründung ebenso wenig auf das objektive Gewicht an. Maßgeblich ist nur, dass sie aufeinander abgestimmt sind. Allen Beteiligten kommt dann ebenso die gleiche „Herrschaft“ zu. Auch im Rahmen historischer Auslegung können keine Rückschlüsse aus Art. 66 § 1 Spiegelstrich 4 EGKSV gezogen werden. Die Vorschrift bezieht sich auf die damalige Zusammenschlusskontrolle nach Art. 66 § 1 EGKSV. Gem. Art. 66 § 6 Spiegelstrich 4 EGKSV kann die Kommission Geldbußen festsetzen bis zum Betrage von „15 v.H. des Wertes der Vermögenswerte, die erworben oder zusammengefaßt worden sind, gegen die ihrer Zuständigkeit unterstehenden Unternehmen, die an der Herstellung der zu den Vorschriften dieses Artikels im Widerspruch stehenden Zusammenschlüsse beteiligt waren oder mitgewirkt haben.“ Vereinzelt wird die Norm so verstanden, dass der Begriff „beteiligen“ auch bloß untergeordnete Teilnahmehandlungen nach nationalem Verständnis umfasse.194 Diese Ansicht erscheint aber dem nationalen deutschen Begriffsverständnis, das nach § 28 Abs. 2 StGB die Teilnehmer, Anstifter und Gehilfen, erfasst, erlegen. Mit der gebotenen autonomen unionsrechtlichen Auslegung ist sie nicht vereinbar.195 Art. 66 § 6 Spiegelstrich 4 191 Siehe auch Tsolka, Der allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 292. So auch die st. Rspr. zur einheitlichen, komplexen und fortgesetzten Zuwiderhandlung; EuGH, Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-49/92 P – Kommission/Anic Partecipazioni, Slg. 1999, I-4125, I-4195 Rn. 90; Urt. v. 7. 1. 2004, verb. Rs. C-204/00 P, C-205/00 P, C-211/00 P, C-213/00 P, C-217/00 P und C-219/00 P – Aalborg Portland u. a./Kommission, Slg. 2004, I-123, I-448 Rn. 86; Urt. v. 28. 6. 2005, verb. Rs. C-189/02 P, C-202/02 P, C-205/02 P bis C-208/ 02 P und C-213/02 P – Dansk Rørindustri u. a./Kommission, Slg. 2005, I-5425, I-5548 f. Rn. 145; EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1561 Rn. 132. Vgl. auch die erschwerenden und mildernden Umstände nach den Bußgeldleitlinien, die sich nach dem Umsetzungsverhalten bemessen, Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, ABl. 2006 C 210, S. 2, 4 Rn. 28 3. Spiegelstrich, Rn. 29 3. Spiegelstrich. 192 Kommission, Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, ABl. C 210, S. 2, 4 Rn. 28 f. Beipielhaft für ihre Anwendung etwa Kommission, Entsch. v. 10. 12. 2003, COMP/E-2/37.857 – Organische Peroxide, Rn. 470 ff.; speziell zu typischen Kartellgehilfenleistungen durch die Kartellanten selbst Caruso/Sakkers, GCP November 2008 (2), 1, 3. 193 Vgl. Kommission, Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, ABl. 2006 C 210, S. 2, 4 Rn. 29 3. Spiegelstrich. 194 So noch Gleiss/Hirsch, EWG-KartellR, Art. 15 VO 17 Rn. 5; Schröter/Jakob-Siebert, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EWG-Vertrag, Bd. 2, Art. 87 EG Zweiter Teil Rn. 7 (Fn. 47). 195 Zur autonomen Auslegung des Unionsrechts siehe oben S. 46.
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
EGKSV umschreibt eine Beteiligung als Partei des Unternehmenszusammenschlusses und damit eine Mittäterschaft im Sinne mitgliedstaatlichen Strafrechts.196 Dafür spricht auch ein wertender systematischer Vergleich mit den übrigen Tatbeständen der Spiegelstriche 1 bis 3.197 Nicht zuletzt ist zu beachten, dass der Anwendungsbereich des Art. 66 § 6 EGKSV auf die Zusammenschlusskontrolle beschränkt ist. Seine Wertungen wären damit ohnehin nicht ohne Weiteres auf die Strafbarkeit wegen Verstößen gegen das Kartellverbot zu übertragen. Auch die Betrachtung der weiteren Tatbestandsalternativen des Art. 23 VO 1/ 2003 führt nicht weiter. Schließlich darf die Formulierung des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 2 VO 1/2003 aufgrund der Autonomie des Unionsrechts198 ebenfalls nicht dem Begriffsverständnis des § 28 Abs. 2 StGB gleichgesetzt werden. Das „beteiligte Unternehmen“ bzw. die „beteiligte Unternehmensvereinigung“ ist hier nur das Unternehmen, das den oben beschriebenen von Art. 23 Abs. 2 UAbs. 2 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV vorausgesetzten Tatbeitrag erbracht hat. Gleiches gilt für die „Beteiligten“ i.S.d. Art. 30 Abs. 2 S. 1 VO 1/2003.199 Der Tatbestand des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV steht folglich der Abstufung nach dem objektiven Gewicht des Tatbeitrags entgegen. Eine abschließende Beurteilung der Begründungen der Unionsorgane kann hingegen erst nach der Berücksichtigung der von ihnen herangezogenen Rechtsfigur der einheitlichen, komplexen und fortgesetzten Zuwiderhandlung getroffen werden.200 bb) Subjektive Kriterien Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV ist auch nicht kompatibel mit der subjektiven Theorie. Da der Bußgeldtatbestand wie gesehen verschiedene Kausalbeiträge objektiv unterscheidet, stellt er bereits eine andere Grundlage bereit. Die subjektive Theorie geht von ihrem Ursprung her stattdessen von der Äquivalenz aller Kausalbeiträge aus.201 Auch ist das zumeist 196 Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 74 f.; Hamann, Das Unternehmen als Täter im europ. WettbR, S. 20; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/ Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 182 [77. Lfg.: Oktober 2012]; N. Koch, in: Grabitz, EWG-Vertrag, Art. 15 VO Nr. 17 Rn. 47 [1. Lfg.: September 1989]. 197 Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 74; Hamann, Das Unternehmen als Täter im europ. WettbR, S. 20; zust. Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/ Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 182 [77. Lfg.: Oktober 2012]; N. Koch, in: Grabitz, EWG-Vertrag, Art. 15 VO Nr. 17 Rn. 47 [1. Lfg.: September 1989]. 198 Dazu bereits oben S. 46. 199 Vgl. dazu de Bronett, VO 1/2003, Art. 30 Rn. 1. 200 Siehe unten S. 285 ff. 201 Vgl. Roxin, Strafrecht AT/II, § 25 Rn. 21; Schünemann, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/ Tiedemann, LK, StGB, Bd. 1, § 25 Rn. 32.
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angeführte Indiz für den Täterwillen, das Interesse am Taterfolg, als Abgrenzungskriterium ungeeignet.202 Eine Tatbeteiligung ohne eigenes Tatinteresse erscheint äußerst unplausibel, zumal im wirtschaftlichen Handeln von Unternehmen. Lässt man dann auch das Interesse an der im Dienstvertrag versprochenen Vergütung genügen,203 verliert sich jede Abgrenzung. Dem Abschluss eines (Dienst)Vertrages ist es immanent, Interesse an der Gegenleistung zu haben. Ebenso steht die Tatbestandsstruktur der Maßgeblichkeit des Täterwillens entgegen. Die Tatbestandsvariante der Beschlussfassung einer einzelnen Unternehmensvereinigung stellt im Gegensatz zum Handeln der Unternehmen eine bloße Alleintäterschaft dar. Für sie ist ein Täterwille, der über die Kenntnis der eigenen Tatbestandsverwirklichung hinausgeht und damit als subjektives Abgrenzungskriterium im Falle der Beteiligung Mehrerer Gehalt gewinnt, nicht konstruierbar.204 Wenn sich das vermeintliche Abgrenzungskriterium nicht in der Alleintäterschaft nachweisen lässt, dann kann es auch nicht die Grenzziehung der Täterschaft ausmachen. Gerade die Unternehmensvereinigung nimmt per definitionem vielmehr die Interessen ihrer Mitgliedsunternehmen wahr,205 sodass ihr Handeln stets auf deren und damit ein fremdes Tatinteresse zielt. Zudem ist auf die tatbestandliche Gleichstellung von Vorsatz und Fahrlässigkeit zu verweisen. Der Täterwille geht über den „normalen“ Vorsatz hinaus. Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 VO 1/2003 stellt aber die fahrlässige Begehung der vorsätzlichen gleich. Hätte ein Unternehmen seine Zuwiderhandlung jedoch nur erkennen können, hat es sich sich also nicht für die Tat entschieden, kann es nicht mit Täterwillen gehandelt haben. Der Täterwille kann kein Abgrenzungskriterium für den gesamten Tatbestand sein. Schließlich müssen die Tathandlungen nach Art. 101 Abs. 1 Hs. 1 AEUVeine Wettbewerbsbeschränkung bezwecken oder bewirken, nicht die Unternehmen. Auch das Bezwecken wird mithin objektiv bestimmt.206 Auf den auf die Wettbewerbsbeschränkung bezogenen Willen der Parteien der Vereinbarung kommt es gar nicht entscheidend an. Dies schließt ein Abstellen auf den Täterwillen aus.
202 Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 651; Roxin, Strafrecht AT/II, § 25 Rn. 26; Schünemann, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK, StGB, Bd. 1, § 25 Rn. 33. 203 So die Praxis von Kommission und EuG, siehe bereits oben S. 254 f. 204 Vgl. zur unmittelbaren Täterschaft dt. Rechts Schünemann, GA 1989, 293, 328. 205 Allg. M.; siehe noch unten S. 332. 206 Allg. M.; EuGH, Urt. v. 20. 11. 2008, Rs. C-209/07 – Beef Industry Development Society und Barry Brothers, Slg. 2008, I-8637, I-8683 Rn. 21; Kommission, Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag, ABl. 2004 C 101, S. 97, 100 Rn. 21; dies., Entsch. v. 13. 12. 1989, IV/32.026 – Bayo-n-ox, ABl. 1990 L 21, S. 71, 76 Rn. 45; Dannecker/Müller, in: Wabnitz/Janovsky, Hdb. des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, Kap. 18 Rn. 184; Eilmansberger, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 101 AEUV Rn. 41; Emmerich, in: Dauses, Hdb. des EUWirtschaftsR, Bd. 2, H. I. § 2 Rn. 82 [28. Lfg.: Juni 2011]; Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 222; Lübbig, in: Wiedemann, Hdb. des KartellR, § 7 Rn. 26. Siehe noch näher unten S. 310 ff.
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d) Zwischenergebnis In Bezug auf die Tathandlungsalternativen kann bereits eine Aussage über den Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV zugrundeliegenden Täterbegriff getroffen werden. Der Tatbestand der Strafnorm selbst enthält eine zweifach abstufende Gewichtung von Tatbeiträgen zu einer bezweckten oder bewirkten Wettbewerbsbeschränkung. Es handelt sich zum einen um ein Sonderdelikt.207 Täter können nur „Unternehmen“ oder „Unternehmensvereinigungen“ sein. Kausale Beiträge nicht wirtschaftlich tätiger Personen begründen keine Strafbarkeit nach dieser Norm. Durch diese immanente unterschiedliche Gewichtung kausaler Tatbeiträge scheidet die Geltung des Einheitstäterbegriffs bereits aus.208 Zum anderen führt der Wortlaut im Weiteren nicht – wie in der gesetzlichen Konstruktion vieler deutscher Fahrlässigkeitsdelikte – zu einem begehungsneutralen Verursachungsdelikt.209 Der Wettbewerb wird nach dieser Norm gerade nicht allumfassend geschützt. Neben der Ausnahme für nicht wirtschaftlich tätige Personen setzt Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV zudem eine besondere Handlungsmodalität voraus. Die Norm verlangt mehr als ein bloßes zwischenstaatliches Bezwecken oder Bewirken einer „Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts“. Die bezweckte oder bewirkte Wettbewerbsbeschränkung muss auf eine „Vereinbarung“, einen „Beschluss“ oder „eine aufeinander abgestimmte Verhaltensweise“ zurückgehen.210 Bereits die grammatikalische Auslegung hat ergeben, dass nur das Unternehmen gegen das Kartellverbot verstößt, das auch Partei der Kollusion ist oder die aufeinander abgestimmte Verhaltensweise vornimmt, bzw. nur die Unternehmensvereinigung, die den Beschluss auch fasst.211 Eine unterschiedliche objektive Gewichtung von Tatbeiträgen scheidet damit aus. Dieses Täterkriterium scheidet bereits sonstige kausale Tatbeiträge – nicht zuletzt die tatsächlichen Kartellhilfeleistungen – auf Tatbestandsebene aus. In der Folge schließt auch diese Beschränkung der Angriffsarten das Zugrundeliegen des Einheitstätermodells aus, das diese tatbestandliche Differenzierung, wenn nicht selbst in einer Drittnorm gesetzlich
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Siehe die Nachw. in Teil 3 Fn. 59. Vgl. zur ähnlich gelagerten Situation bei dt. Fahrlässigkeitsdelikten Heine/Weißer, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor. §§ 25 ff. Rn. 6. 209 Aus diesen Gründen geht die h.M. von der Geltung des Einheitstäterbegriffs für die Fahrlässigkeitsdelikte aus, vgl. Seier, JA 1990, 342, 344 m.w.N. 210 Vgl. Mestmäcker/Schweitzer, Europ. WettbR, § 10 Rn. 11; Paschke, in: Hirsch/Montag/ Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 81 Abs. 1 EG Rn. 3; Stockenhuber, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 122 [47. Lfg.: April 2012]. Zu weitergehenden Schutzzweckerwägungen aus der Beschränkung auf kollusives Verhalten siehe noch in der teleologischen Auslegung unten S. 270 ff. 211 Siehe oben S. 241 ff. 208
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normiert, entgegen dem strafrechtlichen Gesetzlichkeitsgrundsatz nivelliert.212 Gleichfalls würden diese tatbestandsspezifischen Ausformungen und damit der gesetzgeberische Rahmen übergangen,213 wenn mit dem extensiven Täterbegriff allein auf die (Mit)Ursächlichkeit des Tatbeitrages abgestellt wird.214 Durch diese Qualifizierung der Tatbestandshandlung über das Erfordernis eines bloß kausalen Beitrags zur Rechtgutsgefährdung oder -verletzung hinaus, gerät die Vornahme der tatbestandlichen Handlung als Täterschaftskriterium in den Vordergrund, was vielmehr dem restriktiven Täterbegriff entspricht.215 Der Wesenszug des Kartellverbots, auch gerade in Abgrenzung zum Missbrauchsverbot nach Art. 102 AEUV, liegt aber, wie in der Wortlautauslegung bereits deutlich wurde, in den wettbewerbsfeindlichen Willensübereinkünften. Dies lässt sich etwa auch anhand des Regelbeispiels des Art. 101 Abs. 1 Hs. 2 lit. d AEUV illustrieren. Danach liegt in der Anwendung unterschiedlicher Bedingungen bei gleichwertigen Leistungen gegenüber Handelspartnern, wodurch diese im Wettbewerb benachteiligt werden, eine Wettbewerbsbeschränkung i.S.d. Art. 101 Abs. 1 Hs. 1 AEUV. Diese fällt aber nur unter das Kartellverbot, wenn sie auf eine Kollusion zurückzuführen ist.216 Einseitige Diskriminierungen sind nach Art. 101 Abs. 1 AEUV hingegen unbedenklich. Auf dieses Handlungsunrecht kommt es nach dem extensiven Täterbegriff nicht an. Zu entkräften bleibt jedoch der Einwand von Lübbert,217 auf das Handlungsunrecht könne es auch gar nicht ankommen, da die Geldbuße keinen sozialethischen Unwert ausspreche und nur dieser eine Differenzierung des Verhaltensunrechts gebiete. Dem könnten zum einen Zweifel entgegengehalten werden, dass die Geldbuße tatsächlich sozialethisch neutral sei.218 Zum anderen ist entscheidend an die obigen Ausführungen zur Funktion und Wirkung der Geldbuße anzuknüpfen. 212 Vgl. Schünemann, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK, StGB, Bd. 1, Vor. § 25 Rn. 6. 213 Für das dt. Recht unter Berufung auf die Wortlautgrenze Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 645; Schünemann, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK, StGB, Bd. 1, Vor. § 25 Rn. 13 und 8. 214 So aber scheinbar EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1569 Rn. 154; Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 44 f. und passim. 215 Vgl. Schünemann, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK, StGB, Bd. 1, Vor. § 25 Rn. 11. 216 EuG, Urt. v. 12. 1. 1995, Rs. T-102/92 – Viho/Kommission, Slg. 1995, II-17, II-38 f. Rn. 61; bestätigt durch EuGH, Urt. v. 24. 10. 1996, Rs. C-73/95 P – Viho/Kommission, Slg. 1996, I-5457, I-5496 f. Rn. 20 ff.; Bechtold/Bosch/Brinker, EU-KartellR, Art. 101 AEUV Rn. 101; Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 281; Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 418 [68. Lfg.: Mai 2009]; Wägenbaur, in: L/M/R, KartellR, Art. 81 Abs. 1 EG Rn. 313; Zimmer, in: I/M, EU-WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 246. 217 Lübbert, Das Verbot abgestimmten Verhaltens im deutschen und europäischen Kartellrecht, S. 105 f. 218 Für die dt. Ordnungswidrigkeit Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. II/1, Vor. § 81 GWB Rn. 44 m.w.N.
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Dort wurde festgestellt, dass es sich um eine „Strafe“ i.S.d. Gesetzlichkeitsprinzips handelt und damit die Garantien des Gesetzlichkeitsprinzips greifen. Allein die geschriebenen Normen sind Strafbarkeitsgrundlage. Die geschriebenen spezifischen Ausformungen des Tatbestandes müssen dabei beachtet werden. Dem genügt im Ergebnis nur ein restriktives Täterverständnis.219 Allerdings kann sich der Gesetzgeber freilich durch die Ausgestaltung der Strafnorm im Weiteren, insbesondere mittels eines weiten Wortlauts, den Ergebnissen des Einheitstäterbegriffs annähern.220 Daher kann auch nicht von der Nichtexistenz einer ausdrücklichen Teilnahmestrafnorm auf die Straflosigkeit der in den Mitgliedstaaten lediglich als Beihilfe erfassten Tatbeiträge geschlossen werden.221 Vielmehr könnte Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV im Weiteren in den Grenzen des strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes eine weite Auslegung i.S.d. effet utile ermöglichen. 3. Ergebnis Im Ergebnis ist schließlich von einem restriktiven Täterverständnis auszugehen.222 Täter sind nur das Unternehmen, das Partei der Vereinbarung ist bzw. eine aufeinander abgestimmte Verhaltensweise vornimmt sowie die Unternehmensvereinigung, die den Beschluss selbst fasst. Dieses Ergebnis wurde der Sanktionsnorm selbst entnommen, nicht den strafrechtlichen Täterbegriffen. Damit wird deutlich, dass die Tätervoraussetzungen nicht den Täterbegriffen zu entnehmen sind, sondern nur von den gesetzlichen Voraussetzungen auf ein gewisses Täterverständnis geschlossen werden kann. Eine abstufende Gewichtung der tatsächlichen Tatbeiträge ist auf Tatbestandsseite unbeachtlich. Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 verlangt als stets tatbestandlich gleichgewichtigen Tatbeitrag die Beteiligung als Partei der Vereinbarung, das Fassen des Beschlusses und die Vornahme der aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen. 219
Ebenfalls Begründung eines restriktiven Täterbegriffs durch rechtsstaatliche Garantien bei Böse, Strafen und Sanktionen im europ. GemR, S. 194; Hamann, Das Unternehmen als Täter im europ. WettbR, S. 185; Krajewski, Geldbußen und Zwangsgelder, S. 128; Rütsch, Strafrechtlicher Durchgriff bei verbundenen Unternehmen?, S. 24; Tiedemann, NJW 1993, 23, 30; Tsolka, Der allgemeine Teil eines supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 283. 220 Vgl. Schünemann, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK, StGB, Bd. 1, Vor. § 25 Rn. 15. 221 Siehe dazu den Hinweis in Teil 3 Fn. 54. 222 Im Ergebnis ebenso Böse, Strafen und Sanktionen im europ. GemR, S. 194; Engelsing/ Schneider, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 26; Hamann, Das Unternehmen als Täter im europ. WettbR, S. 185; Krajewski, Geldbußen und Zwangsgelder, S. 128; Rütsch, Strafrechtlicher Durchgriff bei verbundenen Unternehmen?, S. 24; Tiedemann, NJW 1993, 23, 30; Tsolka, Der allgemeine Teil eines supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 283.
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Die Begründung der Strafbarkeit des Kartellgehilfen durch das isolierte Abstellen auf die Beteiligung an der Kartellabrede unter den Kartellanten ist somit ausgeschlossen. Es ist daher im Folgenden der Dienstvertrag in den Mittelpunkt zu rücken. Dieser könnte bei isolierter Betrachtung einen Verstoß gegen das Kartellverbot begründen oder den Ansatzpunkt für eine Gesamtbetrachtung bilden.
VI. Teleologische Auslegung Der Ausgleich zwischen den Zielbestimmungen des Rechtsstaats, konkretisiert durch den nullum crimen-Grundsatz, und der Schaffung eines Systems, das den Wettbewerb im Binnenmarkt vor Verfälschungen schützt, hat ergeben, dass der effet utile im Rahmen der teleologischen Auslegung nur innerhalb des gesetzlichen Rahmens der Strafnorm zu berücksichtigen ist.223 Darin kann dem Auslegungsgrundsatz aber das notwendige Gewicht unter den Auslegungskriterien zugemessen werden.224 Verbleibende rechtsstaatliche Grenze ist wie gesehen,225 dass die Rechtsprechungsentwicklung auch innerhalb der Wortlautgrenze für den Normadressaten vorhersehbar bleibt. Zunächst ist der Auslegungsgrundsatz des effet utile aber mit dem Sinn und Zweck des Kartellverbots und seiner Sanktionsnorm zu bündeln. Dazu ist die Norm des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV in Verbindung zu den Zielbestimmungen der EU zu setzen226 sowie sein Schutzgut „Wettbewerb“ näher zu beleuchten.227 So sollen die noch offenen Fragen der Tathandlungsalternativen beantwortet werden. Inhaltlich streitet der Gedanke des effet utile für einen möglichst umfassenden Wettbewerbsschutz im Binnenmarkt. Das Kartellverbot wird danach weit ausgelegt, um möglichst viele wettbewerbsschädliche Verhaltensweisen zu erfassen.228 Anklang im Wortlaut findet dieses Bestreben durch die Formulierung des Kartellverbots im Plural wie das verstärkende einleitende Wort „alle“.229 Diese extensive Auslegung innerhalb des Wortlauts könnte auch den Dienstvertrag zwischen dem Kartellgehilfen und den Kartellanten sowie eine Gesamtschau erfassen. Die Kartellrechts223
Siehe oben zusammenfassend S. 214 ff. Zur hervorgehobenen Stellung der teleologischen Auslegung im Unionsrecht siehe oben S. 48 ff. 225 Siehe oben S. 200 ff., 212 ff. 226 Zur Bedeutung der Zielbestimmungen für die teleologische Auslegung siehe bereits S. 48 ff. 227 Zur Bedeutung des geschützten Rechtsguts für die teleologische Auslegung von Strafnormen siehe oben S. 50 f. 228 Vgl. Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 5; Schuhmacher, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 18 [47. Lfg.: April 2012]. 229 Emmerich, in: Dauses, Hdb. des EU-WirtschaftsR, Bd. 2, H. I. § 2 Rn. 3 [28. Lfg.: Juni 2011]. 224
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
durchsetzung wird ebenso gestärkt, indem die Anforderungen an die Nachweise der Kommission herabgesetzt werden. In der Rechtsprechungspraxis haben sich einige Argumentationsmuster verfestigt, die diesen Weg einschlagen. Diese sind im Folgenden aufzugreifen und auf ihre Tragfähigkeit für die Erfassung von Kartellgehilfen zu prüfen. Bejahendenfalls bliebe zu erörtern, ob eine Übertragung der allgemein anerkannten Figuren auf die Fallgruppe der Kartellgehilfen auch für den Normadressaten vorhersehbar war. 1. Der Schutzzweck des Art. 101 Abs. 1 AEUV Die Auslegung nach den bisherigen Auslegungskriterien konnte keine Abgrenzung zwischen den zulässigen Mitteln des Wettbewerbs zu den verbotenen Mitteln seiner Beschränkung leisten. Der Wortlaut des Art. 101 Abs. 1 AEUV ist so weit, dass er mitunter auch unbedenkliche Maßnahmen erfasst. Auch die systematische Auslegung ergab unter Rückgriff auf die strafrechtlichen Täterbegriffe keine Einschränkungen. So sind auch alltägliche Austauschverträge, die Ausdruck des gewöhnlichen Auftretens am Markt sind, erfasst, da auch sie „Vereinbarungen zwischen Unternehmen“ darstellen, „welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts bezwecken oder bewirken“.230 Durch die vertraglichen Bindungen sind Ressourcen am Markt nicht mehr frei zugänglich und der diesbezügliche Wettbewerb ist eingeschränkt. Dieser Vorteil ist dabei auch gerade das Bestreben dieser Verträge. Ebenso unterfällt ein aus den Marktbedingungen autonom rückgeschlossenes Parallelverhalten von Unternehmen, etwa die Preisanpassung, dem Wortlaut der „aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts bezwecken oder bewirken“. Durch die Beobachtung des Marktes hat das Unternehmen seine Verhaltensweisen auf die seiner Wettbewerber abgestimmt. Auch dieses Verhalten soll zulässig sein.231 Speziell für die Fallgruppe der Kartellgehilfen lässt sich schließlich anführen, dass die Analyse 230
Vgl. die Nachw. in Teil 3 Fn. 141. Allg. M.; EuGH, Urt. v. 14. 7. 1972, Rs. 48/69 – ICI/Kommission, Slg. 1972, 619, 658 Rn. 64/67; Urt. v. 16. 2. 1975, verb. Rs. 40 bis 48, 50, 54 bis 56, 111, 113 und 114/73 – Suiker Unie und andere/Kommission, Slg. 1975, 1663, 1965 f. Rn. 173/174; Urt. v. 14. 7. 1981, Rs. 172/80 – Züchner/Bayerische Vereinsbank, Slg. 1981, 2021, 2031 Rn. 14; Urt. v. 28. 5. 1998, Rs. C-7/95 P – Deere/Kommission, Slg. 1998, I-3111, I-3163 Rn. 87; EuG, Urt. v. 24. 10. 1991, Rs. T-2/89 – Petrofina/Kommission, Slg. 1991, II-1087, II-1156 Rn. 213; Kommission, Entsch. v. 6. 8. 1984, IV/30.350 – Zinc Producer Group, ABl. 1984 L 220, S. 27, 39 Rn. 75; Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 113; Mestmäcker/Schweitzer, Europ. WettbR, § 9 Rn. 28; Schröter, in von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 2, Art. 81 EG Rn. 80; Paschke, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 81 EG Rn. 61; Stockenhuber, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 108 [47. Lfg.: April 2012]; W. Weiß, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 101 AEUV Rn. 60. 231
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und Verbesserung des künftigen Marktverhaltens ihres Klienten die typische Aufgabe externer Beratungsunternehmen ist. Der zugrundeliegende Dienstvertrag, ebenfalls ein Austauschvertrag, „bezweckt“ dabei zudem gerade, Wettbewerber der Mandanten am Markt zu beschränken und das Wettbewerbsgeschehen für sie möglichst günstig zu gestalten. Dass auch solche Beraterverträge nicht erfasst sind, liegt auf der Hand. Auf den ersten Blick lässt sich eine Abgrenzung dieser zulässigen Maßnahmen von kartellverbotswidrigen über das Merkmal der Wettbewerbsbeschränkung herstellen. Dazu müsste es negativ von den Gegebenheiten „normalen“ Wettbewerbs232 abweichen.233 Allerdings verlangt dieser Vergleich die Kenntnis, was der „normale“ Wettbewerb auf dem betroffenen Markt ist. Die zulässigen Mittel des Wettbewerbs weichen als Bestandteil „normalen“ Wettbewerbs nicht von demselben ab, verbotene Maßnahmen dagegen schon. Das Merkmal der Wettbewerbsbeschränkung verschiebt die hier maßgebliche Abgrenzungsfrage somit allein auf die Bestimmung dieses Vergleichsmaßstabs. Die Frage des Abgrenzungskriteriums ist damit auch dem Merkmal der Wettbewerbsbeschränkung vorgelagert. Gesucht ist das Kriterium des Art. 101 Abs. 1 AEUV, das „normalen“, d. h. unverfälschten Wettbewerb, beschreibt. Dazu bieten sich zwei Ansatzpunkte. Zum einen könnten die Auswirkungen der Maßnahme auf den Markt herangezogen, zum anderen könnte an die Art und Weise des Wettbewerbsverhaltens angeknüpft werden. Die Fallgruppe der „aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen“ gibt bereits Auskunft. In seinen negativen Auswirkungen auf den Wettbewerb am Markt ist das autonome Parallelverhalten identisch mit dem durch eine Fühlungnahme, etwa einem Informationsaustausch, entstandenen Parallelverhalten. Über das bloße negative Abweichen von den Gegebenheiten „normalen“ Wettbewerbs, d. h. über ihre Auswirkungen auf dem Markt, lassen sich die zulässigen Mittel des Wettbewerbs somit nicht von den Mitteln seiner Einschränkung unterscheiden. Zudem schützt Art. 101 AEUV gerade nicht die gewünschten Marktauswirkungen des Wettbewerbs oder den Wettbewerb, soweit er diese Ergebnisse erreicht, sondern den Wettbewerbsprozess an sich.234 Es bedarf eines anderen Kriteriums. 232
So der Wortlaut des Art. 65 § 1 Hs. 1 EGKSV. Vgl. zum Parallelverhalten EuGH, Urt. v. 14. 7. 1972, Rs. 48/69 – ICI/Kommission, Slg. 1972, 619, 658 Rn. 64/67; Urt. v. 14. 7. 1981, Rs. 172/80 – Züchner/Bayerische Vereinsbank, Slg. 1981, 2021, 2031 Rn. 14; Urt. v. 28. 5. 1998, Rs. C-7/95 P – Deere/Kommission, Slg. 1998, I-3111, I-3163 Rn. 87; Mestmäcker/Schweitzer, Europ. WettbR, § 9 Rn. 28. Auch zu den marktvermittelten Austauschverträgen Fuchs, ZWeR 2007, 369, 372. Dazu noch unten S. 301 f. 234 Kommission, Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag, ABl. 2004 C 101, S. 97, 101 Rn. 105; Eilmannsberger, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 101 AEUV Rn. 47; Fuchs, ZWeR 2007, 369, 371; Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 2 [67. Lfg.: Januar 2009]; Thomas, JZ 2011, 485,487 ff.; vgl. auch de Bronett, in: Schulte/Just, KartellR, Art. 101 AEUV Rn. 47. Zum Schutzgut „Wettbewerb“ noch eingehend sogleich S. 268 ff. 233
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
Dieses soll im Folgenden durch teleologische Auslegung ermittelt werden. Schlüge dieser Versuch fehl, so wäre der Norm kein Kriterium zur Abgrenzung der verbotenen zu den erlaubten Maßnahmen zu entnehmen. Gerade diese Abgrenzung muss der Gesetzgeber jedoch als wesentliche Frage der Strafbarkeit nach dem strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzip selbst in der Norm vornehmen.235 Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV wäre unbestimmt. a) Art. 101 AEUV im Regelungsrahmen des Binnenmarkts Um sich dem Schutzzweck des Kartellverbots zu nähern, ist Art. 101 AEUV zunächst in den Zusammenhang der ebenfalls den Binnenmarkt errichtenden und absichernden Normen zu setzen. Ausgangspunkt sind die Zielbestimmungen des Primärrechts.236 Nach Art. 3 Abs. 3 S. 1 EUVerrichtet die Union einen Binnenmarkt. Dieser ist in die wirtschaftspolitische Ausrichtung des Art. 3 Abs. 3 S. 2 EUV eingebettet. In Protokoll (Nr. 27) über den Binnenmarkt und den Wettbewerb wird anerkannt, „dass der Binnenmarkt, wie er in Artikel 3 des Vertrags über die Europäische Union beschrieben wird, ein System umfasst, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt“.237 Somit wird auch der Wettbewerb in den Dienst der wirtschaftlichen Ziele des Art. 3 Abs. 3 EUV gestellt. Die Beziehung auf den Binnenmarkt findet sich auch im Text des Art. 101 Abs. 1 Hs. 1 AEUV wieder („Mit dem Binnenmarkt unvereinbar“). Der Binnenmarkt strebt die Beseitigung aller mitgliedstaatlichen Handelsbeschränkungen an. Es soll ein Markt ohne Binnengrenzen entstehen, Art. 26 Abs. 2 AEUV. Zu seiner Umsetzung stattet das Unionsrecht die Marktbürger mit den gegen die Mitgliedstaaten gerichteten238 Grundfreiheiten aus, Art. 26 Abs. 2, 34 ff., 45 ff., 49 ff., 56 ff., 63 ff. AEUV.239 Mangels eines übergeordneten Wirtschaftsplans vertraut das Primärrecht darauf, dass der Wettbewerb die weitere Integration der mitgliedstaatlichen Volkswirtschaften vorantreibt (sog. Integrationsfunktion).240 Voraussetzung dafür ist aber ein freier, unverfälschter Wettbewerb. In Absicherung der Grundfreiheiten soll das europäische Wettbewerbsrecht somit verhindern, dass die 235
Siehe oben zusammenfassend S. 214 ff. Zur Bedeutung der Zielbestimmungen für die teleologische Auslegung siehe bereits S. 48 ff. 237 Zur Auslagerung des Wettbewerbsschutzes von Art. 3 Abs. 1 lit. g EG in das Protokoll (Nr. 27) zu den Verträgen siehe bereits oben S. 49. 238 Freilich wird den Grundfreiheiten im Sinne wirksamen Schutzes auch Drittwirkung gegenüber Privaten zuerkannt, dazu überblicksartig etwa Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 22 Rn. 8; Herdegen, Europarecht, § 14 Rn. 12 ff. m.w.N., insb. auf die Rspr. des EuGH. Zur Bindungswirkung der Grundfreiheiten für die EU selbst siehe etwa EuGH, Urt. v. 25. 6. 1997, Rs. C-114/96 – Kieffer und Thill, Slg. 1997, I-3629, I-3655 Rn. 27. 239 Zu den Grundfreiheiten als tragender Pfeiler des Binnenmarktes etwa Terhechte, in: G/ H/N, Das Recht der Union, Bd. I, Art. 3 EUV Rn. 40 [41. Lfg.: Juli 2010]. 240 Vgl. Schröter, in: Schröter/Jakob/Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Vor. Art. 101 bis 109 AEUV Rn. 15. 236
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durch ihre Ausübung aufgehobenen staatlichen Handelsbeschränkungen wieder über die Verfälschung des Wettbewerbs aufgebaut werden.241 Dies kann aus zwei Richtungen geschehen: von staatlicher und privater Seite. Art. 106 Abs. 1 AEUV sowie die Vorschriften über Beihilfen der Art. 107 bis 109 AEUV wenden sich gegen staatliche verfälschende Einflussnahme auf den Wettbewerb. Art. 101 und 102 AEUV richten sich dagegen ausschließlich an die privaten Marktteilnehmer. Letztere Vorschriften sichern zudem durch ihre unmittelbare Anwendbarkeit242 die Gleichheit der Marktbürger.243 Ihre Einhaltung wird von der Kommission und den mitgliedstaatlichen Kartellbehörden überwacht, Art. 105 AEUV, Art. 4, 5 VO 1/2003. Ebenfalls der Sicherstellung einheitlicher Marktbedingungen dienen die steuerlichen Vorschriften der Art. 110 bis 113 AEUV sowie die Angleichung der Rechtsvorschriften nach den Art. 114 bis 118 AEUV, die Ungleichbehandlungen durch das nationale Recht beseitigen sollen.244 Die beschriebene Integrationsfunktion des Wettbewerbs findet ihren Ausdruck auch in der sog. Zwischenstaatlichkeitsklausel des Art. 101 Abs. 1 Hs. 1 AEUV.245 Bei der Abgrenzung des EU-Kartellrechts vom nationalen Recht prüft der EuGH hier, ob die Verwirklichung des Binnenmarktziels durch die Absprache gefährdet wird.246 241 Emmerich, in: Dauses, Hdb. des EU-WirtschaftsR, Bd. 2, H. I. § 2 Rn. 39 [28. Lfg.: Juni 2011]; Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 2 [67. Lfg.: Januar 2009]; Terhechte, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. I, Art. 3 EUV Rn. 41 [53. Aufl.: Mai 2014]. 242 EuGH, Urt. v. 30. 1. 1974, Rs. 127/73 – BRT/SABAM, Slg. 1974, 51, 62 Rn. 15/17; Urt. v. 10. 7. 1980, Rs. 37/79 – Marty/Lauder, Slg. 1980, 2481, 2500 Rn. 13; Urt. v. 28. 2. 1991, Rs. C-234/89 – Delimitis, Slg. 1991, I-935, I-992 Rn. 45; Urt. v. 14. 12. 2000, Rs. C-344/98 – Masterfoods und HB, Slg. 2000, I-11369, I-11428 Rn. 47; Jung, in: Calliess/Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 103 AEUV Rn. 4; Ritter, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 103 AEUV Rn. 1; Schuhmacher, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 4 [47. Lfg.: April 2012]. 243 Schröter, in: Schröter/Jakob/Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Vor. Art. 101 bis 109 AEUV Rn. 17. 244 Schröter, in: Schröter/Jakob/Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Vor. Art. 101 bis 109 AEUV Rn. 21, 25. 245 Vgl. Schröter/Voet van Vormizeele, in: Schröter/Jakob/Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Art. 101 AEUV Rn. 74 f. 246 St. Rspr.; EuGH, Urt. v. 30. 6. 1966, Rs. 56/65 – LTM/Maschinenbau Ulm, Slg. 1966, 281, 303; Urt. v. 13. 7. 1966, verb. Rs. 56 und 58/64 – Consten und Grundig/Kommission, Slg. 1966, 321, 389 f.; Urt. v. 29. 10. 1980, verb. Rs. 209 bis 215 und 218/78 – van Landewyck/ Kommission, Slg. 1980, 3125, 3274 Rn. 170; Urt. v. 7. 6. 1983, verb. Rs. 100 bis 103/80 – Musique diffusion française/Kommission, Slg. 1983, 1825, 1900 Rn. 84; Urt. v. 13. 7. 2006, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04 – Manfredi u. a., Slg 2006, I-6619, I-6655 Rn. 41; EuG, Urt. v. 14. 7. 1994, Rs. T-77/92 – Parker Pen/Kommission, Slg. 1994, II-549, II-564 Rn. 39; Urt. v. 8. 6. 1995, Rs. T-7/93, – Langnese-Iglo/Kommission, Slg. 1995, II-1533, II-1578 Rn. 119; Kommission, Leitlinien über den Begriff der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags, ABl. 2004 C 101, S. 81, 83 Rn. 23; Stockenhuber, in: G/H/ N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 209 [47. Lfg.: April 2012]; Zimmer, in: I/M,
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
b) Das Schutzgut: Wettbewerb innerhalb des Binnenmarkts Vor dem Hintergrund seiner Funktionen ist nun der Begriff des Wettbewerbs als das Schutzgut des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV näher zu betrachten.247 Eine Definition des Wettbewerbs enthält das Unionsrecht nicht. Auch die Wissenschaft liefert eine solche subsumtionsfähige Definition nicht.248 Ausgangspunkt bleibt nach dem strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzip der Wortsinn im Verkehrskreis von Unternehmen und Unternehmensvereinigungen.249 Dieser macht zunächst deutlich, dass der „Wettbewerb“ als Institution und nicht allein die einzelnen Marktteilnehmer oder Verbraucher geschützt sind,250 wenngleich sich der Schutz des Wettbewerbs aus seiner Fähigkeit, die Versorgung der Verbraucher effizient herzustellen, rechtfertigt.251 Vor diesem Empfängerhorizont kann in erster Näherung festgehalten werden, dass Wettbewerb grundsätzlich dann entstehen kann, wenn auf mindestens einer Marktseite mehr als ein Anbieter bzw. Nachfrager auftritt. Diese treten in Konkurrenz zueinander. Durch den Druck der Marktgegenseite sind sie gezwungen, der attraktivere Geschäftspartner zu sein. Als Anbieter muss sein Produkt etwa qualitativ besser, preisgünstiger oder anderweitig, etwa im Service, vorteilhafter sein. Schutzgut des Art. 101 AEUV und damit auch des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 ist mithin der Leistungswettbewerb.252 Dieses Schutzgut ist bereits durch
WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 199. Zur sog. Zwischenstaatlichkeitsklausel siehe noch unten S. 325 f. 247 Zur Bedeutung des Schutzguts für die teleologische Auslegung im Strafrecht siehe bereits oben S. 50 f. 248 Vgl. Emmerich, in: Dauses, Hdb. des EU-WirtschaftsR, Bd. 2, H. I. § 2 Rn. 30 [28. Lfg.: Juni 2011]; ders., KartellR, § 1 Rn. 2. 249 Siehe bereits oben S. 208 ff. 250 EuGH, Urt. v. 4. 6. 2009, Rs. C-8/08 – T-Mobile Netherlands u. a., Slg. 2009, I-4529, I-4576 Rn. 38; Urt. v. 6. 10. 2009, verb. Rs. C-501/06 P, C-513/06 P, C-515/06 P und C-519/06 P – GlaxoSmithKline Services u. a./Kommission, Slg. 2009, I-9291, I-9401 Rn. 63; Eilmannsberger, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 101 AEUV Rn. 41, 47; Fuchs, ZWeR 2007, 369, 372; Schröter, in: Schröter/Jakob/Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Vor. Art. 101 bis 109 AEUV Rn. 16. 251 Eilmannsberger, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 101 AEUV Rn. 47. Zum Zweck des Wettbewerbsschutzes auch Kommission, Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag, ABl. 2004 C 101, S. 97, 98 Rn. 13. 252 Vgl. Eilmannsberger, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 101 AEUV Rn. 38; Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 150; Schröter/Voet van Vormizeele, in: Schröter/Jakob/Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Art. 101 AEUV Rn. 92; Stockenhuber, in: G/H/ N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 116 [47. Lfg.: April 2012]; Wollmann/Schedl, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 81 EG Rn. 82. Auch die Rechtsprechung scheint vom Leistungswettbewerb als dem Schutzgut der Wettbewerbsregeln auszugehen; vgl. etwa die zu Art. 102 AEUV ergangenen Urteile EuGH, Urt. v. 13. 2. 1979, Rs. 85/76 – Hoffmann-La Roche/Kommission, Slg. 1979, 461, 540 Rn. 90; Urt. v. 11. 12. 1980, Rs. 31/80 – L’Oréal/De Nieuwe AMCK, Slg. 1980, 3775, 3794 Rn. 27; Urt. v. 3. 7. 1991, Rs. C-62/86 –
B. Die Tathandlungen
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die Entscheidung für eine marktwirtschaftliche Wirtschaftsverfassung vorgegeben.253 Der beschriebene Wettstreit um Vertragsabschlüsse ist von wirtschaftlichen Chancen für die Unternehmen angetrieben, aber auch mit Risiken und Unsicherheiten verbunden. Das unternehmerische Handeln im Markt erfordert stets eine Prognose zukünftiger Entwicklungen. Diese hat jedes Unternehmen für sich selbst zu ermitteln sowie die darauf beruhende unternehmerische Entscheidung autonom zu treffen. Dieses sog. Selbständigkeitspostulat betont auch der EuGH.254 Es bleibt ebenso Ausgangspunkt der Kommission nach ihrem more economic approach.255 Der geschützte Wettbewerb ist also das Produkt der autonomen Ausübung der Handlungsfreiheit seiner Teilnehmer.256 Die Einbeziehung der aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen in den Tatbestand des Art. 101 Abs. 1 AEUV, die schon nach der tatbestandlichen Struktur (Art. 101 Abs. 2 AEUV) mit keiner Bindung einhergehen,257 zeigt, dass es nicht auf die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit der Kartellanten selbst ankommt.258 Allerdings reduziert eine tatbestandliche, weil im Marktverhalten umgesetzte, Verhaltensabstimmung stets die mit der allseits autonom ausgeübten Handlungsfreiheit verbundenen Risiken259 ebenso wie die mit gegenAkzo/Kommission, Slg. 1991, I-3359, I-3455 Rn. 69; EuG, Urt. v. 7. 10. 1999, Rs. T-228/1997 – Irish Sugar/Kommission, Slg. 1999, II-2969, II-3021 Rn. 111. 253 Vgl. Eilmannsberger, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 101 AEUV Rn. 38; Schröter, in: Schröter/Jakob/Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Vor. Art. 101 bis 109 AEUV Rn. 11; ders./Voet van Vormizeele, in: Schröter/Jakob/Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Art. 101 AEUV Rn. 73. Zur Verpflichtung auf die soziale Marktwirtschaft lies Art. 3 Abs. 3 S. 2 EUV, zum Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft Art. 120 AEUV. 254 St. Rspr.; EuGH, Urt. v. 16. 2. 1975, verb. Rs. 40 bis 48, 50, 54 bis 56, 111, 113 und 114/ 73 – Suiker Unie und andere/Kommission, Slg. 1975, 1663, 1965 f. Rn. 173/174: „Die Kriterien der Koordinierung und der Zusammenarbeit […] sind vielmehr im Sinne des Grundgedankens der Wettbewerbsvorschriften des Vertrages zu verstehen, wonach jeder Unternehmer selbständig zu bestimmen hat, welche Politik er auf dem Gemeinsamen Markt zu betreiben gedenkt, eingeschlossen die Wahl der Personen, denen er Angebote unterbreitet und verkauft.“ [Hervorhebungen durch Verf.]; nachfolgend etwa EuGH, Urt. v. 14. 7. 1981, Rs. 172/80 – Züchner/ Bayerische Vereinsbank, Slg. 1981, 2021, 2031 Rn. 13; Urt. v. 28. 5. 1998, Rs. C-7/95 P – Deere/Kommission, Slg. 1998, I-3111, I-3162 f. Rn. 86; EuG, Urt. v. 24. 10. 1991, Rs. T-2/89 – Petrofina/Kommission, Slg. 1991, II-1087, II-1156 Rn. 213. 255 Kommission, Leitlinien zur Anwendung des Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag, ABl. 2001 C 101, S. 97, 98 Rn. 14; Fuchs, ZWeR 2007, 369, 372. Zum more economic approach siehe bereits oben S. 51 ff. 256 Vgl. auch Hengst, in: Langen/Bunte, Bd. 2, KartellR, Art. 101 Rn. 147; Lübbig, in: Wiedemann, Hdb. des KartellR, § 7 Rn. 15; Schröter/Voet van Vormizeele, in: Schröter/Jakob/ Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Art. 101 AEUV Rn. 73 ff. 257 Dazu bereits oben S. 251 ff. 258 Vgl. auch Fuchs, ZWeR 2007, 369, 372; Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/ Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 306 [68. Lfg.: Mai 2009]. 259 EuGH, Urt. v. 14. 7. 1972, Rs. 48/69 – ICI/Kommission, Slg. 1972, 619, 658 Rn. 64/67; Urt. v. 14. 7. 1972, Rs 49/69 – BASF/Kommission, Slg. 1972, 713, 734 f. Rn. 22; Urt. v. 14. 7. 1972, Rs. 51/69 – Bayer/Kommisison, Slg. 1972, 745, 775 f. Rn. 25; Urt. v. 14. 7. 1972, Rs. 52/
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
seitigen Verhaltenserwartungen verbundenen Vereinbarungen und Beschlüsse. Die Marktentwicklung ist bei allseitiger Einhaltung des Selbständigkeitspostulats von keinem Marktteilnehmer (sicher) vorhersehbar. Diese Unsicherheit ist damit funktionierendem Wettbewerb immanent.260 Da Abs. 4 der Präambel des AEUV die Gewährleistung eines „redlichen“ Wettbewerbs vorsieht, ist unlauterer oder anders rechtswidriger Wettbewerb vom Schutz des Art. 101 AEUV nicht erfasst.261 Wie die Marktfreiheiten auch die rein potentielle Betätigung umfassen, schützen die Wettbewerbsvorschriften als ihre Absicherung auch bloß potentiellen Wettbewerb.262 c) Die Beschränkung auf kollusive Tathandlungen In diesem Wettbewerbsprozess genießt jedes Unternehmen somit zunächst im Ausgangspunkt (unbeschränkte) Wirtschaftsfreiheit. Art. 101 und 102 AEUV schränken die freie Ausübung der Handlungsmöglichkeiten im Wettbewerb jedoch zum Schutz desselben ein. Art. 102 AEUV verbietet den Missbrauch einer markt69 – Geigy/Kommission, Slg. 1972, 787, 830 Rn. 26; Urt. v. 16. 2. 1975, verb. Rs. 40 bis 48, 50, 54 bis 56, 111, 113 und 114/73 – Suiker Unie und andere/Kommission, Slg. 1975, 1663, 1942 Rn. 26/28; Urt. v. 4. 6. 2009, Rs C-8/08 – T-Mobile Netherlands u. a., Slg 2009 I-4529, I-4572 Rn. 26: Aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen erfassen Koordinierungen, die „bewusst eine praktische Zusammenarbeit an die Stelle des mit Risiken verbundenen Wettbewerbs treten läßt.“; de Bronett, in: Schulte/Just, KartellR, Art. 101 AEUV Rn. 40; Fuchs, ZWeR 2007, 369, 372 (insb. Fn. 12); Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 113; Schröter/Voet van Vormizeele, in: Schröter/Jakob/Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Art. 101 AEUV Rn. 56. 260 Mestmäcker/Schweitzer, Europ. WettbR, § 10 Rn. 7. Vgl. auch Fuchs, ZWeR 2007, 369, 389. 261 Allg. M.; EuGH, Urt. v. 13. 7. 1966, Rs. 32/65 – Italien/Rat und Kommission, Slg. 1966, 458, 483; Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 128; Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 150; Stockenhuber, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 116 [47. Lfg.: April 2012]; Wollmann/Schedl, in: Hirsch/ Montag/Säcker, MüKo, Bd. 1, Art. 81 EG Rn. 82. 262 I.E. allg. M.; EuGH, Urt.v. 21. 2. 1973, Rs. 6/72 – Europemballage und Continental Can/ Kommission, Slg. 1973, 215, 249 f. Rn. 35 f.; Urt. v. 28. 2. 1991, Rs. C-234/89 – Delimitis, Slg. 1991, I-935, I-985 f. Rn. 21; EuG, Urt. v. 12. 6. 1997, Rs. T-504/93 – Tiercé Ladbroke/ Kommission, Slg. 1997, II-923, II-977 Rn. 158; Urt. v. 15. 9. 1998, verb. Rs. T-374/94, T-375/ 94, T-384/94 und T-388/94 – European Night Services u. a./Kommission, Slg. 1998, II-3141, II-3197 Rn. 137; Kommission, Entsch. v. 14. 7. 1986, IV/30.320 – Lichtwellenleiter, ABl. 1986 L 236, S. 30, 36 Rn. 46; Entsch. v. 13. 7. 1990, IV/32.009 – Elopak/Metal Box – Odin, ABl. 1990 L 209, S. 15, 19 Rn. 23 f., 28; dies., Leitlinien zur Anwendbarkeit von Artikel 101 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit, ABl. 2011 C 11, S. 1, 5 Rn. 10; Bechtold/Bosch/Brinker, EU-KartellR, Art. 101 AEUV Rn. 74; Emmerich, in: Dauses, Hdb. des EU-WirtschaftsR, Bd. 2, H. I. § 2 Rn. 43 ff. [28. Lfg.: Juni 2011]; Gonzales Días, in: L/M/R, KartellR, Art. 81 Abs. 1 EG Rn. 105; Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 163 ff.; Lübbig, in: Wiedemann, Hdb. des KartellR, § 7 Rn. 16; Schröter/Voet van Vormizeele, in: Schröter/Jakob/ Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Art. 101 AEUV Rn. 80 ff.
B. Die Tathandlungen
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beherrschenden Stellung. Jene Verbotsnorm erfasst damit auch einseitiges Handeln.263 Demgegenüber erfasst Art. 101 AEUV ausschließlich das Zusammenwirken mehrerer Unternehmen, entweder in Form von Vereinbarungen, unter dem Dach einer Unternehmensvereinigung als Beschluss oder in Gestalt aufeinander abgestimmter Verhaltensweisen. „Mit dem Binnenmarkt unvereinbar und verboten sind“ gerade nicht jegliche Handlungen, Duldungen oder Unterlassungen von Unternehmen, „welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts bezwecken oder bewirken“. Handeln Unternehmen also einseitig dürfen sie bis zur Grenze des Art. 102 AEUV, d. h. dem Missbrauch, nicht dem Erlangen einer marktbeherrschenden Stellung,264 nach Sicherheit über den Wettbewerbsprozess und ihrer Rolle im Markt streben. Koordinationen zum Ausschluss wettbewerblicher Unsicherheiten sind unter den weiteren Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 1 AEUV verboten. Unternehmen sind also auf die eigenständige Erforschung und Prognostizierung zukünftiger Marktentwicklungen für den unternehmerischen Erfolg angewiesen. Diesen Schutzzweck vor Augen erhellt sich die Beschränkung der Tathandlungen des Art. 101 Abs. 1 AEUV auf kollusives Verhalten. Als Akteure auf dem Markt im Gegensatz zu staatlichen Eingriffen von außen droht von Unternehmen eine Verfälschung des Wettbewerbsprozesses durch Kollusion im Marktverhalten. aa) Rückschlüsse für die Tathandlung der „aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen“ Bislang konnte der Gehalt der aufeinander „abgestimmten“ Verhaltensweise nicht geklärt werden. Auch wettbewerblich unbedenkliche Vorgänge unterfallen dem Wortlaut.265 Unter Berufung auf den Schutzzweck und das Selbständigkeitspostulat
263 EuGH, Urt. v. 16. 3. 2000, verb. Rs. C-395/96 P und C-396/95 P – Compagnie maritime belge transports u. a./Kommission, Slg. 2000, I-1365, I-1457 Rn. 34; Kommission, Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag, ABl. 2004 C 101, 97, 98 Rn. 14; Eilmannsberger, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 82 EG Rn. 26; Lübbig, in: L/M/R, KartellR, Art. 82 EG Rn. 1; Paschke, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 81 EG Rn. 4; Schröter/Bartl, in: Schröter/Jakob/Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Art. 102 AEUV Rn. 35; W. Weiß, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 102 AEUV Rn. 2. 264 EuGH, Urt. v. 14. 2. 1978, Rs. 27/76 – United Brands/Kommission, Slg. 1978, 207, 298 Rn. 184/194; Urt. v. 9. 11. 1983, Rs. 322/81 – Michelin/Kommission, Slg. 1983, 3461, 3511 Rn. 57; EuG, Urt. v. 7. 10. 1999, Rs. T-228/97 – Irish Sugar/Kommission, Slg. 1999, II-2969, II-3021 Rn. 112; Urt. v. 17. 9. 2007, Rs. T-201/04 – Microsoft/Kommission, Slg. 2007, II-3601, II-3694 f. Rn. 229; Bulst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 102 AEUV Rn. 81; Emmerich, KartellR, § 9 Rn. 2; Lübbig, in: L/M/R, KartellR, Art. 82 EG Rn. 1; Weber, in: Schulte/ Just, KartellR, Art. 102 AEUV Rn. 5, 46; W. Weiß, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 102 AEUV Rn. 1. 265 Siehe oben S. 246 f.
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
lässt er sich aber zuverlässig teleologisch bestimmen.266 Die „Kriterien der Koordinierung und der Zusammenarbeit“ sind „im Sinne des Grundgedankens der Wettbewerbsvorschriften des Vertrages zu verstehen, wonach jeder Unternehmer selbständig zu bestimmen hat, welche Politik er auf dem Gemeinsamen Markt zu betreiben gedenkt, eingeschlossen die Wahl der Personen, denen er Angebote unterbreitet und verkauft.“267 Das Selbständigkeitspostulat steht dabei nicht nur einer Selbstbindung der Unternehmen in ihrem Marktverhalten, sondern auch „streng jeder unmittelbaren oder mittelbaren Fühlungnahme zwischen Unternehmen entgegen, die bezweckt oder bewirkt, entweder das Marktverhalten eines gegenwärtigen oder potentiellen Mitbewerbers zu beeinflussen oder einen solchen Mitbewerber über das Marktverhalten ins Bild zu setzen, das man selbst an den Tag zu legen entschlossen ist oder in Erwägung zieht.“268 Die Unsicherheiten des Wettbewerbs können dabei nur verringert werden, wenn die Abstimmung das zukünftige269 Marktverhalten, verstanden als
266 St. Rspr.; EuGH, Urt. v. 16. 2. 1975, verb. Rs. 40 bis 48, 50, 54 bis 56, 111, 113 und 114/ 73 – Suiker Unie und andere/Kommission, Slg. 1975, 1663, 1965 f. Rn. 173/174; Urt. v. 14. 7. 1981, Rs. 172/80 – Züchner/Bayerische Vereinsbank, Slg. 1981, 2021, 2031 Rn. 13; Urt. v. 31. 3. 1993, verb. Rs. C-89/85, C-104/85, C-114/85, C-116/85, C-117/85 und C-125/85 bis C-129/85 – Ahlström Osakeyhtiö u. a./Kommission, Slg. 1993, I-1307, I-1599 Rn. 63; Urt. v. 28. 5. 1998, Rs. C-7/95 P – Deere/Kommission, Slg. 1998, I-3111, I-3162 f. Rn. 86; Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-49/92 P – Kommission/Anic Partecipazioni, Slg. 1999, I-4125, I-4202 Rn. 116; Kommission, Entsch. v. 23. 11. 1984, IV/30.907 – Peroxyd-Produkte, ABl. 1985 L 35, S. 1, 13 Rn. 45; Emmerich, in: I/M; WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 89 f.; Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 109; Mestmäcker/Schweitzer, Europ. WettbR, § 9 Rn. 20; Paschke, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 81 EG Rn. 63 f.; Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 186 ff. [67. Lfg.: Januar 2009]; Schröter/Voet van Vormizeele, in: Schröter/Jakob/Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Art. 101 AEUV Rn. 56; W. Weiß, in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, Art. 101 AEUV Rn. 59. 267 EuGH, Urt. v. 16. 2. 1975, verb. Rs. 40 bis 48, 50, 54 bis 56, 111, 113 und 114/73 – Suiker Unie und andere/Kommission, Slg. 1975, 1663, 1965 f. Rn. 173/174; fast wortgleich auch EuGH, Urt. v. 14. 7. 1981, Rs. 172/80 – Züchner/Bayerische Vereinsbank, Slg. 1981, 2021, 2031 f. Rn. 13; Urt. v. 28. 5. 1998, Rs. C-7/95 P – Deere/Kommission, Slg. 1998, I-3111, I-3162 f. Rn. 86. 268 EuGH, Urt. v. 16. 2. 1975, verb. Rs. 40 bis 48, 50, 54 bis 56, 111, 113 und 114/73 – Suiker Unie und andere/Kommission, Slg. 1975, 1663, 1965 f. Rn. 173/174; Urt. v. 14. 7. 1981, Rs. 172/80 – Züchner/Bayerische Vereinsbank, Slg. 1981, 2021, 2031 Rn. 13; Urt. v. 28. 5. 1998, Rs. C-7/95 P – Deere/Kommission, Slg. 1998, I-3111, I-3163 Rn. 87; Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-49/92 P – Kommission/Anic Partecipazioni, Slg. 1999, I-4125, I-4202 Rn. 117. 269 EuGH, Urt. v. 31. 3. 1993, verb. Rs. C-89/85, C-104/85, C-114/85, C-116/85, C-117/85 und C-125/85 bis C-129/85 – Ahlström Osakeyhtiö u. a./Kommission, Slg. 1993, I-1307, I-1599 Rn. 64; Eufinger, WRP 2012, 1488, 1490; Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 110; Lübbig, in: Wiedemann, Hdb. des KartellR, § 7 Rn. 13; Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 190 [67. Lfg.: Januar 2009], 307 [68. Lfg.: Mai 2009]; Schröter/Voet van Vormizeele, in: Schröter/ Jakob/Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Art. 101 AEUV Rn. 56, 58.
B. Die Tathandlungen
273
Verhalten mit Marktbezug, der Unternehmen erfasst.270 Die „Verhaltensweisen“ sind damit ein Marktverhalten der Beteiligten.271 Das Ergebnis der Wortlautauslegung272 wird mithin teleologisch bestätigt. Verhaltensabstimmungen erfassen damit jede Koordinierung der Zusammenarbeit, die wettbewerbliche Risiken für die beteiligten Unternehmen verringert, aber noch nicht zu einer „Vereinbarung“ gediehen sind.273 „Vereinbarungen“, „Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen“ und „aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen“ unterscheiden sich somit allein „in ihrer Intensität und ihren Erscheinungsformen“.274 Durch diesen fließenden Übergang lassen sich die Tathandlungen der „Vereinbarungen“ und der „aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen“ in der Praxis meist nicht trennen.275 Auch die Reihenfolge der Tathandlungen mit den „aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen“, die zudem ihren 270 Vgl. zum Gegenstand der Koordination EuGH, Urt.v. 16. 12. 1975, Rs. 40 bis 48, 50, 54 bis 56, 111, 113 und 114/73 – Suiker Unie und andere/Kommission, Slg. 1975, 1663, 1965 f. Rn. 173/174 („Marktverhalten“ und „Politik […] auf dem Gemeinsamen Markt“); Kommission, Entsch. v. 10. 12. 2003, COMP/E-2/37.857 – Organische Peroxide, Rn. 297 („Geschäftsverhalten“); Eufinger, WRP 2012, 1488, 1489 f. („Marktverhalten“); Gleiss/Hirsch, EGKartellR, Bd. 1, Art. 85 (1) EG Rn. 96 („jede marktbezogene Handlung“); Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 190 [67. Lfg.: Januar 2009] („Marktverhalten“), Rn. 249 ff. [68. Lfg.: Mai 2009]: „Wettbewerbsrelevantes Verhalten, das Gegenstand einer wettbewerbsbeschränkenden Koordinierung von Unternehmen sein kann, ist jedes Verhalten mit Marktbezug.“); Schröter, in: von der Groeben/ Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 2, Art. 81 EG Rn. 73; ders./Voet van Vormizeele, in: Schröter/ Jakob/Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Art. 101 AEUV Rn. 58 („Den Gegenstand der Abstimmung bildet das künftige Verhalten der beteiligten Unternehmen, und zwar entweder das Marktverhalten oder ein sonstiges Verhalten, das geeignet, ist die Wettbewerbsverhältnisse zu beeinflussen.“ In der Fn. verweisen Schröter, a.a.O. und ders./Voet van Vormizeele, a.a.O., darauf, dass ein „marktrelevantes Verhalten“ genüge.). 271 Vgl. EuGH, Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-49/92 P – Kommission/Anic Partecipazioni, Slg. 1999, I-4125, I-4204 Rn. 124. 272 Siehe oben S. 246 ff. 273 EuGH, Urt. v. 14. 7. 1972, Rs. 48/69 – ICI/Kommission, Slg. 1972, 619, 658 Rn. 64/67; Urt. v. 14. 7. 1981, Rs. 172/80 – Züchner/Bayerische Vereinsbank, Slg. 1981, 2021, 2031 Rn. 12; Urt. v. 31. 3. 1993, verb. Rs. C-89/85, C-104/85, C-114/85, C-116/85, C-117/85 und C-125/85 bis C-129/85 – Ahlström Osakeyhtiö u. a./Kommission, Slg. 1993, I-1307, I-1599 Rn. 63; zust. die h.L.; statt vieler Bechtold/Bosch/Brinker, EU-KartellR, Art. 101 AEUV Rn. 53; Gippini-Fournier/Mojzesowicz, in: L/M/R, KartellR, Art. 81 Abs. 1 EG Rn. 95; Paschke, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 81 EG Rn. 63. 274 EuGH, Urt. v. 4. 6. 2009, Rs. C-8/08 – T-Mobile Netherlands u. a., Slg. 2009, I-4529, I-4572 Rn. 23. Vgl. auch EuGH, Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-49/92 P – Kommission/Anic Partecipazioni, Slg. 1999, I-4125, I-4205 Rn. 131; de Bronett, in: Schulte/Just, KartellR, Art. 101 AEUV Rn. 31; Emmerich, in: Dauses, Hdb. des EU-WirtschaftsR, Bd. 2, H. I. § 2 Rn. 14 [28. Lfg.: Juni 2011]. 275 Emmerich, in: Dauses, Hdb. des EU-WirtschaftsR, Bd. 2, H. I. § 2 Rn. 14 [28. Lfg.: Juni 2011]; ders., in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 87; Gippini-Fournier/Mojzesowicz, in: L/M/R, KartellR, Art. 81 Abs. 1 EG Rn. 75 ff., 96; Paschke, in: Hirsch/Montag/ Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 81 EG Rn. 8. Zum fließenden Übergang als Begründungselement der Rechtsfigur der einheitlichen, komplexen und fortgesetzten Zuwiderhandlung noch unten S. 280 f.
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
Adressaten nicht ausdrücklich nennen, als Abschluss zeigt, dass diese Tathandlung als Auffangtatbestand zu verstehen ist.276 Art. 101 Abs. 1 AEUV erfasst folglich im Ergebnis jegliche willentliche Konzertierung des künftigen Marktverhaltens zwischen mindestens zwei Unternehmen.277 Die Abgrenzung zwischen Mittel des Wettbewerbs und Mittel seiner Beschränkung lässt sich somit anhand der Verletzung des Selbständigkeitspostulats vornehmen. bb) Rückschlüsse für die beiden anderen Tathandlungen Dieser Bezug zum Selbständigkeitspostulat bleibt nicht auf die Tathandlung der „aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen“ beschränkt. Er liegt dem Tatbestand insgesamt zugrunde und ist daher auch auf die beiden anderen Tathandlungsvarianten übertragbar. Zudem ist das Selbständigkeitspostulat auch für das Merkmal der bezweckten oder bewirkten Wettbewerbsbeschränkung sowie der Sonderpflichtigkeit von Unternehmen wiederaufzugreifen.278 Wie schon gezeigt279 stellt die Abstimmung dabei das kollusive Element der drei Tathandlungen mit den geringsten Anforderungen an die Zusammenarbeit dar. Wenn schon diese Mindestvoraussetzungen gegen das Selbständigkeitspostulat verstoßen müssen, so gilt dies erst recht für die nach der gesetzlichen Konstruktion des Art. 101 Abs. 2 AEUV bindenden Tathandlungen der Vereinbarungen und Beschlüsse. Damit diese Verhaltensbindungen die autonome Ausübung der Handlungsfreiheit am Markt betreffen und damit die wettbewerblichen Unsicherheiten reduzieren, muss der Gegenstand der Willensübereinkunft ebenfalls das zukünftige Marktverhalten sein.280 Durch diese Selbstbindung im Vertrauen auf die Einhaltung der Absprache durch die anderen beteiligten Unternehmen ist das zukünftige Marktverhalten der betreffenden Unternehmen nicht mehr autonom.281 Die Abrede verringert stattdessen 276 Emmerich, in: Dauses, Hdb. des EU-WirtschaftsR, Bd. 2, H. I. § 2 Rn. 14 [28. Lfg.: Juni 2011]; ders., in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 85; Gleiss/Hirsch, EGKartellR, Bd. 1, Art. 85 (1) EG Rn. 90; Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 109; Mestmäcker/Schweitzer, Europ. WettbR, § 9 Rn. 2; Paschke, in: Hirsch/ Montag/Säcker, MüKo, KartelllR, Bd. 1, Art. 81 EG Rn. 59; Roth/Ackermann, in: Jaeger/ Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 183 [67. Lfg.: Januar 2009]; Schröter, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 2, Art. 81 EG Rn. 68. 277 Dannecker/Müller, in: Wabnitz/Janovsky, Hdb. des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, Kap. 18 Rn. 182; Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 87; Paschke, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 81 EG Rn. 5 f.; Weck/Camasesca, WuW 2013, 17, 18, 21. 278 Siehe noch unten S. 323 ff., 355 ff. 279 Siehe oben S. 246 ff. 280 Siehe zu den „aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen“ soeben S. 272 f. 281 Das Selbständigkeitspostulat kann somit auch herangezogen werden, um den Begriff der Bindung nach Art. 101 Abs. 2 AEUV näher aufzulösen (zum Streitstand siehe nur Roth/ Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 152 ff. [67. Lfg.: Januar 2009] zu den „Vereinbarungen“ und Rn. 142 ff. [67. Lfg.:
B. Die Tathandlungen
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die mit der Unsicherheit des Wettbewerbs verbundenen Risiken. Auch wenn sich diese Voraussetzung nicht ausdrücklich im Wortlaut der Norm findet, so deutet dieser doch darauf hin.282 Jedenfalls ist sie wie gesehen teleologisch von der Norm vorgegeben. Sie wird auch allgemein anerkannt. Bei den gängigen Begriffsdefinitionen der drei Tathandlungen wird immer der Marktbezug der Koordination hergestellt. Eine Vereinbarung liegt damit schließlich vor, wenn mehrere Unternehmen ihren gemeinsamen Willen bekunden, sich auf dem Markt in einer gewissen Weise zu verhalten.283 Ein Beschluss ist somit jeder Rechtsakt, durch den eine Unternehmensvereinigung ihren Willen zum Ausdruck bringt, das Verhalten ihrer Mitglieder im Markt zu koordinieren.284 Eine aufeinander abgestimmte Verhaltensweise kann damit als willentliche Koordinierung des Verhaltens mindestens zweier Unternehmen am Markt begrifflich eingefasst werden.285
Januar 2009] zu den „Beschlüssen“). Eine Vereinbarung und ein Beschluss reduzieren nur dann die wettbewerblichen Unsicherheiten, wenn die Unternehmen von ihrer Verbindlichkeit ausgehen. Das gegenseitige Vertrauen tritt dann – in Abwandlung der EuGH-Fomel zum Selbständigkeitspostulat, wörtlich wiedergegeben in Teil 3 Fn. 259, – an die Stelle des mit Risiken behafteten Wettbewerbs; i.E. ähnlich Paschke, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 81 EG Rn. 15 („bei durchschnittlich rationalem Verhalten bestehende verbindliche Verhaltenserwartung der Beteiligten“); Roth/Ackermann, in: FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 158 f. [67. Lfg.: Januar 2009] (Absprachen, „deren Befolgung die Beteiligten ernsthaft in Aussicht stellen“ und damit stets „Verhaltenserwartungen hervorrufen“); Weck/Camasesca, WuW 2013, 17, 19. 282 Zu den „Vereinbarungen“ siehe oben S. 243. 283 EuGH, Urt. v. 15. 7. 1970, Rs. 41/69 – ACF Chemiefarma/Kommission, Slg. 1970, 661, 696 Rn. 110/114; Urt. v. 15. 7. 1970, Rs. 45/69 – Boehringer/Kommission, Slg. 1970, 769, 803 Rn. 28; Urt. v. 29. 10. 1980, verb. Rs. 209 bis 215 und 218/78 – van Landewyck/Kommission, Slg. 1980, 3125, 3250 Rn. 86; EuG, Urt. v. 26. 10. 2000, Rs. T-41/96 – Bayer/Kommission, Slg. 2000, II-3383, II-3408 Rn. 67, II-3444 Rn. 173; Urt. v. 3. 12. 2003, Rs. T-208/01 – Volkswagen/Kommission, Slg. 2003, II-5141, II-5155 Rn. 32; Urt. v. 27. 9. 2007, verb. Rs. T-44/ 02 OP, T-54/02 OP, T-56/02 OP, T-60/02 OP und T-61/02 OP – Dresdner Bank u. a./Kommission, Slg. 2006, II-3567, II-3587 Rn. 53, 55; Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1554 f. Rn. 118; de Bronett, in: Schulte/Just, KartellR, Art. 101 AEUV Rn. 33; Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 55; GippiniFournier/Mojzesowicz, in: L/M/R, KartellR, Art. 81 Abs. 1 EG Rn. 78; Hengst, in: Langen/ Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 77; Paschke, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 81 EG Rn. 11; Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlamnn/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 150 f. [67. Lfg.: Januar 2009]. 284 EuGH, Urt. v. 27. 1. 1987, Rs. 45/85 – Verband der Sachversicherer/Kommission, Slg. 1987, 405, 455 Rn. 32; Bechtold/Bosch/Brinker, EU-KartellR, Art. 101 AEUV Rn. 52; de Bronett, in: Schulte/Just, KartellR, Art. 101 AEUV Rn. 44; Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 76; Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 141 [67. Lfg.: Januar 2009]. Zur Verletzung des Selbständigkeitspostulats durch einen Beschluss einer Unternehmensvereinigung siehe noch näher unten S. 332 ff. 285 Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 87; Paschke, in: Hirsch/ Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 81 EG Rn. 58.
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
d) Zwischenergebnis: Die Bedeutung des sog. Selbständigkeitspostulats für die Auslegung der Tathandlungen aa) Das Selbständigkeitspostulat als Abgrenzungskriterium von verbotenem zu erlaubtem Wettbewerbsverhalten In Art. 101 Abs. 1 AEUV kommt mithin das Verbot zum Ausdruck, durch Koordination des Wettbewerbsverhaltens Unsicherheiten, als das Fundament des Wettbewerbsprozesses, auszuschließen. Die in Art. 101 Abs. 1 Hs. 1 AEUV genannten Tathandlungen sind somit deshalb verboten, weil sie Unsicherheit über den Wettbewerbsprozess beseitigen (aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen) und dies gar über Bindungen der Unternehmen in ihrem zukünftigen Marktverhalten (Vereinbarungen, Beschlüsse). Zusammengefasst muss in den drei Tathandlungen folglich ein Verstoß gegen das Selbständigkeitspostulat liegen. Dies setzt voraus, dass die Koordination das zukünftige Marktverhalten betrifft. Die Abgrenzung zwischen Mitteln des Wettbewerbs zu Mitteln seiner Beschränkung ist daher anhand einer Verletzung des Selbständigkeitspostulats vorzunehmen. bb) Die dem Selbständigkeitspostulat vorgelagerten Voraussetzungen Mit dieser Erkenntnis sind zugleich immanente Beschränkungen des Kartellverbots verbunden. Die Pflicht zu einem zukünftigen autonomen Marktverhalten kann ein Unternehmen nur unter zwei Voraussetzungen überhaupt erfüllen. Es muss zunächst autonom entscheiden können.286 Zudem muss es mehrere Handlungsmöglichkeiten für das zukünftige Marktverhalten haben. Andernfalls beruht die Festlegung des künftigen Marktverhaltens nicht auf der Kollusion. Letztere Voraussetzung ist zu verneinen, wenn etwa zwingende gesetzliche Vorgaben das rechtmäßige Marktverhalten der Unternehmen determinieren.287 Eine autonome 286 EuGH, Urt. v. 25. 11. 1971, Rs. 22/71 – Béguelin Import/G. L. Import Export, Slg. 1971, 949, 959 Rn. 7/9; Urt. v. 11. 11. 1997, verb. Rs. C-359/95 P und C-379/95 P – Kommission und Frankreich/Ladbroke Racing, Slg. 1997, I-6265, I-6312 Rn. 33; EuG, Urt. v. 11. 12. 2003, Rs. T-66/99 – Minoan Lines/Kommission, Slg. 2003, II-5515, II-5588 f. Rn. 176; GippiniFournier/Mojzesowicz, in: L/M/R, KartellR, Art. 81 Abs. 1 EG Rn. 82; Hengst, in: Langen/ Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 94 f., 147; Khan, in: Geiger/Khan/Kotzur, EUV/ AEUV, Art. 101 AEUV Rn. 14; Paschke, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 81 EG Rn. 21; Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 160 [67. Lfg.: Januar 2009]. 287 Dazu siehe etwa EuGH, Urt.v. 16. 12. 1975, Rs. 40 bis 48, 50, 54 bis 56, 111, 113 und 114/73 – Suiker Unie und andere/Kommission, Slg. 1975, 1663, 1949 Rn. 65 ff.; EuG, Urt. v. 11. 12. 2003, Rs. T-65/99 – Strintzis Lines Shipping/Kommission, Slg. 2003, II-5433, II-5481 f. Rn. 119 ff.; Urt. v. 11. 12. 2003, Rs. T-66/99 – Minoan Lines/Kommission, Slg. 2003, II-5515, II-5588 ff. Rn. 176 ff. m.w.N. aus der Rspr.; Kommission, Entsch. v. 29. 11. 1974, IV/27.095 – Französisch-japanische Absprache über Kugellager, ABl. 1974 L 343, S. 19, 23; Lange, EuR 2008, 3, 5 f.; Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 161 f. [67. Lfg.: Januar 2009]; Stockenhuber, in: G/H/N, Das Recht
B. Die Tathandlungen
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Entscheidung hingegen kann etwa in Konzernverbünden ausgeschlossen sein. Ein beherrschtes288 Tochterunternehmen kann sein Marktverhalten nicht autonom bestimmen. Es ist abhängig von der Konzernobergesellschaft. Die beherrschte Konzerntochter kann daher nicht gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV verstoßen. Allein deswegen schon fallen auch Absprachen unter Konzernunternehmen nicht unter das Kartellverbot, soweit die Voraussetzungen einer wirtschaftlichen Einheit erfüllt sind (sog. Konzernprivileg).289 Nur die gesamte, übergeordnete und zum autonomen Handeln fähige wirtschaftliche Einheit kann mithin gegen das Selbständigkeitspostulat verstoßen.290 der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 118 f. [47. Lfg.: April 2012]; Streinz, in: Streinz, EUV/ AEUV, Art. 101 AEUV Rn. 87 f. 288 Eine Beherrschung ist hier nicht so zu verstehen wie im dt. Konzernrecht. Zum europäischen Kartellrecht wurden eigene Kriterien herausgebildet. Auf diese einzelnen Voraussetzungen, die eine wirtschaftliche Einheit begründen, und ihren Nachweis kann hier nicht weiter eingegangen werden. Es muss der Hinweis auf den Maßstab der Beurteilung, das Selbständigkeitspostulat, genügen (So in der Sache auch EuGH, Urt. v. 14. 7. 1972, Rs. 48/69 – ICI/Kommission, Slg. 1972, 619, 665 Rn. 132/135; Urt. v. 31. 10. 1974, Rs. 15/74 – Centrafarm/ Sterling Drug, Slg. 1974, 1147, 1168 Rn. 41; Urt. v. 24. 10. 1996, Rs. C-73/95 P – Viho/ Kommission, Slg. 1996, I-5457, I-5495 Rn. 16; Urt. v. 28. 6. 2005, verb. Rs. C-189/02 P, C-202/ 02 P, C-205/02 P bis C-208/02 P und C-213/02 P – Dansk Rørindustri u. a./Kommission, Slg. 2005, I-5425, I-5541 Rn. 117; Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 46 a.E.). Zu den Einzelheiten etwa Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 43 ff.; Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 119 ff. [67. Lfg.: Januar 2009]. Zum Zwecke dieser Untersuchung ist eine Beherrschung anzunehmen, wenn das Tochterunternehmen nicht mehr autonom im Sinne des Selbständigkeitspostulats handeln kann. 289 I.E. Allg. M.; zum EuGH siehe die Nachw. in Teil 3 Fn. 288; mit Begründung unter Heranziehung des Unternehmensbegriffs und der Abwesenheit von zu schützendem Wettbewerb zwischen Konzernunternehmen Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 49; Gippini-Fournier/Mojzesowicz, in: L/M/R, KartellR, Art. 81 Abs. 1 EG Rn. 54; Mestmäcker/Schweitzer, Europ. WettbR, § 8 Rn. 46 ff.; Schroeder, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 453 ff. [47. Lfg.: April 2012]; ders., in: Wiedemann, Hdb. des KartellR, § 8 Rn. 3. 290 Unpräzise ist es daher von einem Kartellrechtsverstoß des Tochterunternehmens zu sprechen, das der Konzernmutter zugerechnet würde (Statt vieler de Bronett, VO 1/2003, Art. 23 Rn. 25). Eine Zurechnung zu rechtsfähigen Personen geschieht erst im zweiten Schritt, der Auswahl des Bußgeldadressaten. Damit angesprochen ist eine andere – heftig umstrittene – Frage, die nach der Bußgeldadressateneigenschaft innerhalb eines Konzerns. Dies ist hier nicht zu vertiefen. Hingewiesen sei jedoch noch auf die oben entwickelten Strafzwecke des Kartellbußgeldes. Die Auswahl des Bußgeldadressaten muss sicherstellen, dass diese verwirklicht werden. Während die repressive Funktion in die Vergangenheit schaut und für das Vollstreckungsverfahren ohne Relevanz ist und sich die Abschöpfung allein auf die hinzugewonnene Stärke des Unternehmens im Markt bezieht, steht hier allein die präventive Funktion im Zentrum der Betrachtung. Auch die Generalprävention ist hier auszuscheiden. Die Spezialprävention gibt hingegen Auskunft über die nähere Bestimmung des Bußgeldadressaten bei Vorliegen einer wirtschaftlichen Einheit. Das Täter-Unternehmen, hier die wirtschaftliche Einheit, kann nur vor zukünftigen Zuwiderhandlungen abgeschreckt werden, wenn das Bußgeld die für das zukünftige Handeln zuständige Stelle auch adressiert. Dieser Gedanke sowie die Verletzung des Selbständigkeitspostulats sprechen mithin für eine Verantwortlichkeit der
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
cc) Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a VO 1/2003 als Pflichtdelikt Erst mit der Hilfe des in der teleologischen Auslegung entwickelten Rekurses auf das Selbständigkeitspostulat lässt sich schließlich die hinter Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV stehende Pflichtverletzung erkennen. Auch nach Art. 101 Abs. 1 AEUV zulässige Verträge können (im Ergebnis) Auswirkungen wie eine spürbare Wettbewerbsbeschränkung tätigen. Ihre Herbeiführung erhält erst durch die Verletzung des Selbständigkeitspostulats den Charakter einer Straftat. Diese außerstrafrechtliche Pflicht gibt dem Bußgeldtatbestand mithin seinen prägenden Gehalt. Er kann mithin als Pflichtdelikt i.S.d. deutschen Strafrechts angesehen werden.291 Das Wesensmerkmal der Verletzung einer außerstrafrechtlichen Pflicht ist dabei auf andere Delikte übertragbar und keine spezifische Eigenheit deutschen nationalen Rechts.292 Täter ist mithin nur, wer die Pflicht selbst verletzt. Zusätzlichen Elementen der Herrschaft über die Tathandlung gibt Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV keinen Raum.293 Das Selbständigkeitspostulat verletzt wie gesehen das Unternehmen, das als Partei eine Vereinbarung schließt oder eine aufeinander abgestimmte Verhaltensweise vornimmt. Auch die weiteren Bußgeldtatbestände des europäischen Kartellrechts zeichnen sich durch diese Struktur aus. Sie verweisen, aufgespalten in die einzelnen lit., stets auf eine Ausfüllungsnorm, in der eine außerstrafrechtliche Pflicht niedergelegt ist.294 Wie die Unternehmensvereinigung in diese Deliktsstruktur einzufassen ist, wird noch zu behandeln sein.295 e) Die Anwendung dieser Auslegungsmaxime auf den Dienstvertrag An dieser Einschränkung des Selbständigkeitspostulats fehlt es dem Dienstvertrag.296 Der spezifische Schutzzweck des Art. 101 Abs. 1 AEUV wird durch ihn nicht Muttergesellschaft. Diese Perspektive erklärt auch, dass der Gesamtumsatz der wirtschaftlichen Einheit die Bußgeldobergrenze zieht. Bei der Auswahl der Bußgeldadressaten bleibt gleichwohl zu bedenken, dass gerade die Unternehmensträger Träger der Grundrechte sind, nicht die wirtschaftliche Einheit (Thomas, JZ 2011, 485, 493 f.). 291 Dieser Gedanke taucht allerdings ohne Herleitung und Begründung auch bei Stuckenberg, in: Böse, Europäisches Strafrecht, § 10 Rn. 42 auf, der andenkt, dass nicht schon diese Eigenschaft eine Teilnahme an einer Zuwiderhandlung gegen das Kartellverbot ausschließt. Dies übernimmt aber die – umstrittene – deutsche Strafrechtsdogamtik (siehe dazu in Teil 3 Fn. 62) für das Unionsrecht. Wie gesehen können aber nur die gesetzlichen Voraussetzungen des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV herangezogen werden. 292 Ebenso Hamann, Das Unternehmen als Täter im europ. WettbR, S. 186. 293 Im dt. Strafrecht wird dagegen um eine zusätzliche Betrachtung der Tatherrschaft gestritten; siehe die Nachw. in Teil 3 Fn. 62. 294 Dazu noch näher unten Teil 5, S. 369 ff. 295 Siehe unten S. 332 ff. 296 So im Ergebnis auch, wenngleich unter Zuordnung zum Merkmal der Wettbewerbsbeschränkung, J. Koch, ZWeR 2009, 370, 385; vgl. auch Eufinger, WRP 2012, 1488, 1490.
B. Die Tathandlungen
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berührt. Im Dienstvertrag verspricht der Kartellgehilfe seine Dienste zur Organisation des Kartells und zu seiner Überwachung. Im Gegenzug sagen der Kartellant bzw. die Kartellanten eine Vergütung zu. Durch den Vertrag werden zwar Ressourcen am Markt gebunden. Das betrifft aber zum einen den Heimatmarkt297 des Kartellgehilfen (Er kann nur noch weniger Beratungsdienstleistungen erbringen.) zum anderen den Heimatmarkt des bzw. der Kartellanten (Der Geldbetrag der Vergütung kann nicht anderweitig ausgegeben werden.). Der Dienstvertrag beseitigt auf diesen Märkten aber keine wettbewerblichen Unsicherheiten gerade durch die Koordination. Durch den Dienstvertrag kann keines der beteiligten Unternehmen das Marktverhalten des anderen besser voraussehen und seines vorteilhafter anpassen als es im normalen Wettbewerb ohne die Absprache der Fall ist. Insbesondere ist der Dienstvertrag von der Abrede unter den Kartellanten zu trennen, einen dritten Kartellgehilfen einzuschalten. Es ist diese Koordination, die zusammen mit der Kartellabrede die wettbewerblichen Unsicherheiten reduziert. Diese Abrede treffen aber ausschließlich die Kartellanten untereinander. Ihnen sind auch dessen Ausführungshandlungen, der Dienstvertrag wie einen Schritt weiter die Kartellhilfeleistungen des Kartellgehilfen, zuzurechnen und bei den Auswirkungen auf den Wettbewerb zu berücksichtigen.298 Um die Standardformulierung des EuGH zu den aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen zu bemühen,299 tritt die Zusammenarbeit im Dienstvertrag somit gerade nicht an die Stelle wettbewerblicher Risiken. 2. Die Ansätze einer Gesamtbetrachtung von Dienstvertrag und Kartellabrede unter den Kartellanten Bei isolierter Betrachtung der Kartellabrede unter den Kartellanten wie des Dienstvertrags kann eine Täterschaft des Kartellgehilfen nach Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV nicht begründet werden. Allerdings könnte die Norm eine Gesamtbetrachtung der beiden Abreden zulassen. Dazu ist im Folgenden die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu untersuchen, die im Sinne des effet utile das Kartellverbot weit auslegt und Gesamtbetrachtungen und Nachweiserleichterungen ermöglicht. Dies ist indes nur soweit zulässig wie das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip nicht entgegensteht. Auf den ersten Blick scheint die Formulierung der Tathandlungen in Art. 101 Abs. 1 Hs. 1
297 Der Begriff Heimatmarkt soll im Folgenden als Gegensatz zum Begriff des Drittmarktes verwendet werden und anders als jener die Teilnahme an diesem kennzeichnen. 298 Vgl. etwa Kommission, Entsch. v. 6. 8. 1984, IV/30.350 – Zinc Producer Group, ABl. 1984 L 220, S. 27, 38 Rn. 72, in der die Kommission auch die Abrede, Kursstützungskäufe über ein drittes Unternehmen, den Kartellgehilfen, zur Zuwiderhandlung fasst. 299 Wiedergegeben oben in Teil 3 Fn. 259.
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
AEUV im Plural für eine weite Auslegung zu sprechen.300 Allerdings dient dieser Wortlaut wie die Einfügung des Wortes „alle“ der Betonung, dass sämtliche der genannten Koordinationen erfasst sind.301 a) Keine Übertragbarkeit der Rechtsprechung zur einheitlichen, komplexen und fortgesetzten Zuwiderhandlung Zunächst gerät die Rechtsprechung zur einheitlichen, komplexen und fortgesetzten Zuwiderhandlung in den Blick.302 Sie ist mittlerweile zum Regelfall der Kartellrechtsanwendung geworden.303 aa) Inhalt Nach diesem Konzept kann sich ein Verstoß gegen das Kartellverbot nicht nur „aus einer isolierten Handlung, sondern auch aus einer Reihe von Handlungen oder auch aus einem fortlaufenden Verhalten ergeben“.304 Grundlage ist, dass die Tathandlungen der „Vereinbarungen“ und „aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen“ ineinander übergehen.305 Von der Kommission könne nicht verlangt werden, „dass sie die verschiedenen Bestandteile der Zuwiderhandlung entweder als Vereinbarung oder als abgestimmte Verhaltensweise qualifiziert.“306 Zudem sei es „gekünstelt, dieses durch ein einziges Ziel gekennzeichnete, kontinuierliche Verhalten zu zerlegen und darin mehrere selbständige Zuwiderhandlungen zu sehen.“307 300 So in Bezug auf die Rechtsfigur der einheitlichen, komplexen und fortgesetzten Zuwiderhandlung Theurer, Geldbußen im EU-WettbR, S. 172. 301 Siehe bereits oben S. 263. 302 Hier soll von einer „einheitlichen, komplexen und fortgesetzten Zuwiderhandlung“ gesprochen werden, da sie bereits begrifflich sämtliche Aspekte dieser Rechtsfigur andeutet. Die Terminologie ist indes nicht einheitlich; wie hier Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 138. Der Gerichtshof spricht etwa in EuGH, Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-49/92 P – Kommission/Anic Partecipazioni, Slg. 1999, I-4125, I-4201 Rn. 111 von einer „komplexen Zuwiderhandlung“, in I-4202 Rn. 114, I-4225 Rn. 203 von einer „komplexen einheitlichen Zuwiderhandlung“. Gippini-Fournier/Mojzesowicz, in: L/M/R, KartellR, Art. 81 Abs. 1 EG Rn. 76 etwa sprechen von einer „einzigen und andauernden Verletzung“; Dreher, ZWeR 2007, 276 ff. hingegen von einer „komplexen und fortdauernden Zuwiderhandlung“. 303 Bechtold/Bosch/Brinker, EU-KartellR, Art. 25 VO 1/2003 Rn. 3; Dreher, ZWeR 2007, 276, 280; Theurer, Geldbußen im EU-WettbR, S. 162. 304 EuGH, Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-49/92 P – Kommission/Anic Partecipazioni, Slg. 1999, I-4125, I-4192 Rn. 81. 305 Dazu bereits oben S. 273. 306 EuG, Urt. v. 6. 7. 2000, Rs. T-62/98 – Volkswagen/Kommission, Slg. 2000, II-2707, II-2805 Rn. 237. Siehe etwa auch EuG, Urt. v. 20. 3. 2002, Rs. T-9/99 – HFB u. a./Kommission, Slg. 2002, II-1487, II-1537 Rn. 186; zurückgehend auf EuGH, Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-49/92 P – Kommission/Anic Partecipazioni, Slg. 1999, I-4125, I-4205 f. Rn. 132. 307 EuGH, Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-49/92 P – Kommission/Anic Partecipazioni, Slg. 1999, I-4125, I-4193 Rn. 82. Siehe auch EuGH, Urt. v. 7. 1. 2004, verb. Rs. C-204/00 P, C-205/00 P, C211/00 P, C-213/00 P, C-217/00 P und C-219/00 P – Aalborg Portland u. a./Kommission,
B. Die Tathandlungen
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Die Rechtsfigur der einheitlichen, komplexen und fortgesetzten Zuwiderhandlung erleichtert somit zunächst den Nachweis für die Kommission.308 Die Gesamtbetrachtung hat aber auch belastende verfahrensrechtliche Auswirkungen, wie die Verlängerung der Verfolgungsverjährung nach Art. 25 Abs. 2 S. 2 VO 1/2003 oder materielle wie die grundsätzliche Erhöhung der Bußgelder, die gem. Art. 23 Abs. 3 VO 1/2003 auch nach der i. d. R. dann längeren Dauer wie der erhöhten Schwere zu bemessen sind.309 Freilich kann den Unternehmen die Behandlung als eine Tat in Gestalt der einheitlichen Kappungsgrenze, die bei mehreren Taten überschritten werden darf,310 auch zugutekommen.311 Innerhalb dieser Einheit ermöglicht die Rechtsprechung schließlich eine Handlungszurechnung. Die Unternehmen werden für die Zeit ihrer Beteiligung auch für das Verhalten der anderen Unternehmen im Rahmen der einheitlichen, komplexen und fortgesetzten Zuwiderhandlung verantwortlich gemacht.312 Erst auf Rechtsfolgenseite wird der individuelle Beitrag zur komplexen einheitlichen ZuwiderhandSlg. 2004, I-123, I-498 Rn. 259; EuG, Urt. v. 24. 10. 1991, Rs. T-1/89 – Rhône-Poulenc/ Kommission, Slg. 1991, II-867, II-1074 f. Rn. 126; Urt. v. 17. 12. 1991, Rs. T-7/89 – Hercules Chemicals/Kommission, Slg. 1991, II-1711, II-1806 Rn. 263; Urt. v. 20. 3. 2002, Rs. T-9/99 – HFB u. a./Kommission, Slg. 2002, II-1487, II-1537 Rn. 186; Urt. v. 26. 4. 2007, verb. Rs. T-109/ 02, T-118/02, T-122/09, T-125/02, T-126/02, T-128/02, T-129/02, T-132/02 und T-136/02 – Bolloré u. a./Kommission, Slg. 2007, II-947, II-1030 Rn. 196. 308 Dazu Bailey, CMLR 2010, 473,475 f.; Dreher, ZWeR 2007, 276, 285 f., 287. Zur Erweiterung um die Figur der passiven Beteiligung siehe noch unten S. 288 ff. 309 Zur Dauer Dreher, ZWeR 2007, 276, 287; zur Schwere Theurer, Geldbußen im EUWettbR, S. 162 f. Vgl. auch EuGH, Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-49/92 P – Kommission/Anic Partecipazioni, Slg. 1999, I-4125, I-4210 Rn. 152. Eingehend zu den Rechtsfolgen Seifert, Die einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung, S. 213 ff. 310 EuG, Urt. v. 15. 6. 2005, verb. Rs. T-71/03, T-74/03, T-87/03 und T-91/03 – Tokai Carbon u. a./Kommission, Slg. 2005, II-10*, Rn. 377; Urt. v. 12. 12. 2007, verb. Rs. T-101/05 und T-111/ 05 – BASF und UCB/Kommission, Slg. 2007, II-4949, II-5013 f. Rn. 158; Urt. v. 8. 10. 2008, Rs. T-68/04 – SGL Carbon/Kommission, Slg. 2008, II-2511, II-2554 f. Rn. 122 ff., insb. Rn. 126; Urt. v. 28. 4. 2010, Rs. T-446/05 – Amann & Söhne und Cousin Filterie/Kommission, Slg. 2010, II-1255, II-1314 f. Rn. 150 f.; Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 126; Engelsing/Schneider, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 74; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. III, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 136 [77. Lfg: Oktober 2012]. 311 Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 82. 312 EuGH, Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-49/92 P – Kommission/Anic Partecipazioni, Slg. 1999, I-4125, I-4192 f. Rn. 78 ff, insb. Rn. 83; Urt. v. 7. 1. 2004, verb. Rs. C-204/00 P, C-211/00 P, C-213/00 P, C-217/00 P und C-219/00 P – Aalborg Portland u. a./Kommission, Slg. 2004, I-123, I-498 Rn. 258; EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1560 f. Rn. 131 f.; Urt. v. 28. 4. 2010, Rs. T-446/05 – Amann & Söhne und Cousin Filterie/Kommission, Slg. 2010, II-1255, II-1296 Rn. 90; Urt. v. 24. 3. 2011, Rs. T-384/06 – IBP International Building Products France/Kommission, Slg. 2011, II-1177, II-1198 Rn. 55; Urt. v. 24. 3. 2011, Rs. T-385/06 – Aalberts Industries u. a./Kommission, Slg. 2011, II-1223, II-1254 Rn. 87; Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 139; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 181 [77. Lfg.: Oktober 2012].
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
lung gewürdigt. Er ist bei der Beurteilung des Umfangs und der Schwere der Zuwiderhandlung zu berücksichtigen und wirkt sich ggf. auf die Bußgeldbemessung aus.313 Mit der Praxis kann schließlich begrifflich von einer „Mittäterschaft“ gesprochen werden.314 Vor allem die Ausführungen der Kommission,315 aber auch die Ausführungen des EuG316 lassen erkennen, dass diese Rechtsprechung auch zur Behandlung der Kartellgehilfen herangezogen wurde.317 bb) Herleitung In der Begründung dieser Rechtsfigur beruft sich der EuGH auf die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten.318 Es handelt sich mithin um die Herausbildung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes.319 Diese ungeschriebene richterliche Rechtsfort313 EuGH, Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-49/92 P – Kommission/Anic Partecipazioni, Slg. 1999, I-4125, I-4195 Rn. 90; Urt. v. 15. 10. 2002, verb. Rs. C-238/99 P, C-244/99 P, C-245/99 P, C-247/99 P, C-250/99 P bis C-252/99 P und C-254/99 P – Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./ Kommission, Slg. 2002, I-8375, I-8767 Rn. 510; Urt. v. 7. 1. 2004, verb. Rs. C-204/00 P, C-211/ 00 P, C-213/00 P, C-217/00 P und C-219/00 P – Aalborg Portland u. a./Kommission, Slg. 2004, I-123, I-448 Rn. 86; Urt. v. 28. 6. 2005, verb. Rs. C-189/02 P, C-202/02 P, C-205/02 P bis C-208/ 02 P und C-213/02 P – Dansk Rørindustri u. a./Kommission, Slg. 2005, I-5425, I-5548 f. Rn. 145; EuG, Urt. v. 26. 4. 2007, verb. Rs. T-109/02, T-118/02, T-122/09, T-125/02, T-126/02, T-128/02, T-129/02, T-132/02 und T-136/02 – Bolloré u. a./Kommission, Slg. 2007, II-947, II-1101 Rn. 429; Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1561 Rn. 132; Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 141; Dreher, ZWeR 2007, 276, 283; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 181 [77. Lfg.: Oktober 2012]; Theurer, Geldbußen im EU-WettbR, S. 169. 314 Vgl. EuGH, Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-49/92 P – Kommission/Anic Partecipazioni, Slg. 1999, I-4125, I-4192 Rn. 79; EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1559 Rn. 129; Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 139; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 181 [77. Lfg.: Oktober 2012]. 315 Kommission, Entsch. v. 10. 12. 2003, COMP/E-2/37.857 – Organische Peroxide, Rn. 340. 316 EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1559 Rn. 130 ff. 317 Vgl. van Heezik, NTER 2009, 59, 60; Howe/Lawrence/Whiteford, G.C.L.R. 2009, 83, 85; Idot, Europe 2008, 32, 33; Sauer, in: Schulte/Just, KartellR, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 23 f.; Weitbrecht/Baudenbacher, EuR 2010, 230, 233. Siehe bereits S. 237 ff. zur bisherigen Praxis der Unionsorgane. 318 EuGH, Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-49/92 P – Kommission/Anic Partecipazioni, Slg. 1999, I-4125, I-4193 f. Rn. 84 zur mittäterschaftliche Zurechnung; Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-235/92 P – Montecatini/Kommission, Slg. 1999, I-4539, I-4636 Rn. 195 zur Rechtsfigur der fortgesetzten Handlung. Kritisch hinsichtlich der Rückwirkungen der Aufgabe der Rspr. des BGH zur fortgesetzten Handlung Dreher, ZWeR 2007, 276, 282 (Fn. 22); zust. Seifert, Die einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung, S. 278. 319 Dreher, ZWeR 2007, 276, 282.
B. Die Tathandlungen
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bildung gerät in Konflikt mit dem strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzip, wenn sie über den gesetzlichen Rahmen hinausgeht. Einzig in der Verjährungsregelung des Art. 25 Abs. 2 S. 2 VO 1/2003 hat die Rechtsfigur indes eine gesetzliche Regelung erfahren. Danach beginnt die Verjährung „bei dauernden oder fortgesetzten Zuwiderhandlungen“ „erst mit dem Tag, an dem die Zuwiderhandlung beendet ist.“ In der Deliktsstruktur des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV findet diese Rechtsfigur allenfalls einen Ausgangspunkt. Der Strafnorm ist zwingend eine „Mittäterschaft“ immanent.320 Es kann keinen Einzeltäter geben, da die drei Tathandlungen nur durch zwei oder mehrere Unternehmen zu erfüllen sind.321 Auch der Gedanke der Zurechnung ist damit eingeschlossen. Auch wenn jedes Unternehmen etwa im Falle einer Vereinbarung streng genommen nur seinen wettbewerbswidrigen marktbezogenen Willen zum Ausdruck bringt und so zur Tat beiträgt, ist es für das Ganze, die wettbewerbswidrige Vereinbarung, verantwortlich. Insoweit bedarf die mittäterschaftliche Zurechnung keiner Begründung. Dies ändert sich aber, wenn mehrere einzelne Taten in Frage stehen. In zeitlicher Hinsicht ist zu begründen, warum mehrere Taten zusammengefasst werden. Für die Fallgruppe der Kartellgehilfen stellt sich insbesondere das Begründungserfordernis, Unternehmen Tathandlungen zuzurechnen, an denen sie selbst gar nicht als Partei beteiligt waren. Hierzu bemühen Kommission und EuG die bereits oben322 vorgestellten Täterschaftskriterien wie Tatherrschaft und das eigene Interesse am Taterfolg. cc) Voraussetzungen Bei der Analyse ihrer Voraussetzungen ist zu beachten, dass die Rechtsfigur der einheitlichen, komplexen und fortgesetzten Zuwiderhandlung entweder isoliert oder kumulativ für die konkurrenzrechtliche Behandlung wie die Begründung der Zurechnung gleichermaßen herangezogen wird. Auch terminologisch wird dabei nicht unterschieden. Zudem blieb der EuGH in der Übernahme der Voraussetzungen der einzelnen nationalen Konzepte zurückhaltend.323 Das Fundament der Verklammerung bildet jeweils „das gemeinsame subjektive Element“,324 das als „gemeinsames wettbewerbswidriges Ziel“325 oder „Gesamt320
Vgl. EuGH, Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-49/92 P – Kommission/Anic Partecipazioni, Slg. 1999, I-4125, I-4192 Rn. 79; Theurer, Geldbußen im EU-WettbR, S. 174. 321 Vgl. bereits oben S. 255 ff. Zur Unternehmensvereinigung als „Einzeltäter“ noch unten S. 332 ff. 322 S. 233 ff., 252 ff. 323 Dreher, ZWeR 2007, 276, 282. 324 EuGH, Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-235/92 P – Montecatini/Kommission, Slg. 1999, I-4539, I-4636 Rn. 195. Vertiefend zu den Anforderungen an diese Voraussetzung Bailey, CMLR 2010, 473, 490 ff. 325 So etwa EuGH, Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-49/92 P – Kommission/Anic Partecipazioni, Slg. 1999, I-4125, I-4194 f. Rn. 88.
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
plan“326 umschrieben wird. Im Rahmen der Konkurrenzen verbindet dieser Gesamtvorsatz mehrere eigenständige Tatbestandsverwirklichungen, die so im Wege des Fortsetzungszusammenhangs zu einer rechtlichen Handlungseinheit und damit einer Tat zusammengefasst werden können, wenn sie sich in diesen Rahmen einfügen.327 Diese fortgesetzte Handlung findet ihre gesetzliche Verankerung in Art. 25 Abs. 2 S. 2 VO 1/2003.328 Die mittäterschaftliche Zurechnung über die Figur der einheitlichen, komplexen und fortgesetzten Zuwiderhandlung ermöglicht darüber hinaus eine Verhaltenszurechung. Daher trägt insoweit auch Art. 25 Abs. 2 S. 2 VO 1/2003 nicht als Rechtsgrundlage.329 Auch Tatbestandsverwirklichungen verschiedener Unternehmen werden einbezogen, wenn sie sich ihrerseits in den Gesamtplan einfügen.330 Ein Unternehmen muss damit nicht an allen isolierten Zuwiderhandlungen beteiligt sein. Eine Verhaltenszurechnung wird vielmehr vorgenommen, „wenn das betreffende Unternehmen nachweislich von dem rechtswidrigen Verhalten der anderen Beteiligten wußte oder es vernünftigerweise vorhersehen konnte sowie bereit war, die daraus erwachsende Gefahr auf sich zu nehmen.“331 Jedes Unternehmen muss sich somit auch subjektiv als Teil des Ganzen ansehen.332 326 So etwa EuGH, Urt. v. 7. 1. 2004, verb. Rs. C-204/00 P, C-211/00 P, C-213/00 P, C-217/ 00 P und C-219/00 P – Aalborg Portland u. a./Kommission, Slg. 2004, I-123, I-498 Rn. 258. 327 EuGH, Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-235/92 P – Montecatini/Kommission, Slg. 1999, I-4539, I-4636 Rn. 195; Urt. v. 15. 3. 2000, verb. Rs. T-25/95, T-26/95, T-30/95 bis T-32/95, T-34/95 bis T-39/95, T-42/95 bis T-46/95, T-48/95, T-50/95 bis T-65/95, T-68/95 bis T-71/95, T-87/95, T-88/ 95, T-103/95 und T-104/95 – Cimenteries CBR u. a./Kommission, Slg. 2000, II-491, II-1534 Rn. 4674; Arhold, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 25 VO 1/2003 Rn. 10; Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Art. 25 VO 1/2003 Rn. 9; Feddersen, in: Dalheimer/Feddersen/Miersch, VO 1/2003, Art. 23 Rn. 45 [26. Lfg.: März 2005]. 328 Ebenfalls Art. 25 Abs. 2 S. 2 VO 1/2003 für eine ausreichende Rechtsgrundlage der fortgesetzten Handlung haltend Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Art. 25 VO 1/ 2003 Rn. 12; Klusmann, in: Wiedemann, Hdb. des KartellR, § 55 Rn. 52; sofern sie sich auf einen bestimmten Markt bezieht auch Böse, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. III, Art. 25 VO 1/2003 Rn. 9 [72. Lfg: September 2010]. 329 Kritisch in Bezug auf die weiteren Auswirkungen der einheitlichen, komplexen und fortgesetzten Zuwiderhandlung auch Dreher, ZWeR 2007, 267, 287 ff.; Seifert, Die einheitliche und fortgesetzte Zuwiderhandlung, S. 283 ff.; a.A. Theurer, Geldbußen im EU-WettbR, S. 169 ff. 330 Siehe etwa nur EuGH, Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-49/92 P – Kommission/Anic Partecipazioni, Slg. 1999, I-4125, I-4192 Rn. 80; Urt. v. 7. 1. 2004, verb. Rs. C-204/00 P, C-211/00 P, C-213/00 P, C-217/00 P und C-219/00 P – Aalborg Portland u. a./Kommission, Slg. 2004, I-123, I-448 Rn. 86; EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1560 Rn. 131. 331 EuGH, Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-49/92 P – Kommission/Anic Partecipazioni, Slg. 1999, I-4125, I-4193 Rn. 83. 332 Urt. v. 7. 1. 2004, verb. Rs. C-204/00 P, C-211/00 P, C-213/00 P, C-217/00 P und C-219/ 00 P – Aalborg Portland u. a./Kommission, Slg. 2004, I-123, I-447 Rn. 83; EuG, Urt. v. 20. 3. 2002, Rs. T-28/99 – Sigma Tecnologie/Kommission, Slg. 2002, II-1845, II-1862 Rn. 45; Urt. v. 26. 4. 2007, verb. Rs. T-109/02, T-118/02, T-122/09, T-125/02, T-126/02, T-128/02, T-129/02,
B. Die Tathandlungen
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dd) Keine Übertragbarkeit auf die Fallgruppe der Kartellgehilfen Von der Rechtsfolge her wäre diese Rechtsprechung in der Lage, den Kartellgehilfen als „Mittäter“ anzusehen und ihm neben seiner im Dienstvertrag koordinierten Unterstützungsleistungen auch das Verhalten der Kartellanten, das in der Kartellabrede zum Ausdruck kommt, zuzurechnen. Damit verstieße auch der Kartellgehilfe gegen das Kartellverbot. Allerdings liegen die Voraussetzungen dieser Rechtsfigur nicht vor. Zwar wird der Kartellgehilfe Kenntnis des Gesamtkartells seiner Mandanten haben. Auch kann der Dienstvertrag durchaus als „ein wesentlicher Teil des komplexen wettbewerbswidrigen Systems“ bezeichnet werden,333 jedoch soll es auf das Gewicht des Tatbeitrags innerhalb der einheitlichen, komplexen und fortgesetzten Zuwiderhandlung auf Tatbestandsseite nicht ankommen.334 Der Kartellgehilfe ist zwar Partei des Dienstvertrags, nicht aber der Kartellabrede unter den Mandanten.335 Zudem vermag die Zurechnung gerade nicht, die Stellung als Partei einer Vereinbarung zu begründen, sondern nur weitere Tathandlungen und Auswirkungen zuzurechnen. So verlangt auch die Rechtsprechung stets, dass sich das Unternehmen an dem wettbewerbswidrigen Komplex „durch eigene Handlungen, die den Begriff von auf ein wettbewerbswidriges Ziel gerichteten Vereinbarungen oder abgestimmten Verhaltensweisen im Sinne von Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages erfüllten […],“ beteiligt hat.336 Jeder Einzelakt müsse, „für sich betrachtet, eine vollständige und abgeschlossene Tat“ darstellen.337 Diese Voraussetzung lässt sich auf die Wurzel der fortgesetzten Handlung i.S.d. Art. 25 Abs. 2 S. 2 VO 1/2003 zurückführen.338 Das Unternehmen muss damit in eigener Person durch mindestens eine Handlung den gesamten gesetzlichen Straftatbestand erfüllen. Dies ist für den Kartellgehilfen hinsichtlich der Kartellabrede unter den Kartellanten wie des Dienstvertrags wie gesehen zu verneinen. So wird das Täterschaftskriterium, dass das Unternehmen selbst Partei der Vereinbarung ist, gewahrt. Darauf kann auch nunmehr nicht verzichtet werden. Nicht T-132/02 und T-136/02 – Bolloré u. a./Kommission, Slg. 2007, II-947, II-1034 f. Rn. 209; Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1561 f. Rn. 134; Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 140; Weck/Camasesca, WuW 2013, 17, 21 f. 333 So Kommission, Entsch. v. 10. 12. 2003, COMP/E-2/37.857 – Organische Peroxide, Rn. 340. 334 Siehe bereits oben S. 281 f. 335 Siehe bereits oben S. 243. 336 EuGH, Urt. v.8.7.1999, Rs. C-49/92 P – Kommission/Anic Partecipazioni, Slg. 1999, I-4125, I-4192 Rn. 203. 337 GA Cosmas, Schlussanträge v. 15. 7. 1997, Rs. C-49/92 P – Kommission/Anic Partecipazioni, Slg. 1999, I-4130, I-4153 Rn. 81. Ebenso Bailey, CMLR 2010, 473, 474, 486. 338 Vgl. zu diesem Erfordernis im Rahmen des Art. 25 Abs. 2 S. 2 VO 1/2003 etwa Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Art. 25 VO 1/2003 Rn. 8 f.; Feddersen, in: Dalheimer/Feddersen/Miersch, VO 1/2003, Art. 25 Rn. 11 [26. Lfg.: März 2005]; Theurer, Geldbußen im EU-WettbR, S. 161. Zur Rechtsfigur der fortgesetzten Handlung im dt. Strafrecht etwa Sternberg-Lieben/Bosch, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor. §§ 52 ff. Rn. 31 ff.
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
zuletzt stünde dem das Selbständigkeitspostulat als der Grundgedanke des Kartellverbots entgegen. Nur durch eine eigene tatbestandliche Zuwiderhandlung wird es von dem betreffenden Unternehmen verletzt. Die richterliche Figur der einheitlichen, komplexen und fortgesetzten Zuwiderhandlung vermag mithin nicht strafbegründend zu wirken. Allerdings kann das Konzept strafverschärfend wirken, indem es auch Verhaltensweisen im Rahmen eines isoliert betrachtet fremden Kartellrechtsverstoßes zurechnet.339 Nach dem strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzip bedürfte es auch deshalb einer gesetzlichen Grundlage. Mit Ausnahme der Verjährungsregelung fehlt jedoch eine solche gesetzliche Grundlage im Unionsrecht. Ein Rückgriff auf die strafrechtlichen Zurechnungsnormen der Mittäterschaft in den Mitgliedstaaten340 scheidet ebenfalls aus. Innerhalb einer Tatbestandsverwirklichung erfolgt wie gesehen341 bereits nach Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV eine mittäterschaftliche Zurechnung. Dieses gilt für alle drei Tathandlungsalternativen gleichermaßen. Um die rechtspolitisch gewünschte und in der Praxis etablierte Rechtsfigur vor dem strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzip aufrechterhalten zu können,342 könnte für die Erfassung der die Einzeltaten überwölbenden einheitlichen, komplexen und fortgesetzten Zuwiderhandlung343 wiederum Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV zu bemühen sein. Dabei zeigen sich deutliche Parallelen zu den bislang von der Rechtsprechung postulierten Voraussetzungen. Das von der Rechtsprechung als Voraussetzung herangezogene „gemeinsame subjektive Element“ könnte mit dem koordinierenden Element der drei Tathandlungen gleichzusetzen sein. Wie gesehen erfassen „Vereinbarungen“ und „aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen“ „in subjektiver Hinsicht Formen der Kollusion […], die in ihrer Art übereinstimmen, und […] sich nur in ihrer Intensität und ihren Ausdrucksformen unterscheiden.“344 Der von der Rechtsprechung als verklammerndes Element vorausgesetzte „Gesamtplan“ kann sich somit sowohl als eine Vereinbarung als auch eine Abstimmung von Verhaltensweisen darstellen. Kann eine Vereinbarung nachgewiesen werden, besteht der eigene Tatbeitrag eines Unter339 Zu den Auswirkungen dieser Rechtsfigur siehe bereits oben S. 280 f. Zudem besteht bei der Bußgeldzumessung noch das Korrektiv über die Schwere des individuellen Tatbeitrags. 340 Vgl. etwa § 25 Abs. 2 StGB; dazu Heine/Weißer, in: Schönke/Schröder, StGB, § 25 Rn. 61. 341 S. 255 ff. 342 Ebenfalls ablehnend hinsichtlich der Vereinbarkeit mit den rechtsstaatlichen Grundsätzen Dreher, ZWeR 2007, 276, 288 ff. 343 Vgl. auch Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Art. 25 VO 1/2003 Rn. 9, die darauf verweisen, dass der Gesamtvorsatz nur zu einer Einheit verklammert, „wenn eine ,überwölbende‘ Vereinbarung oder abgestimmte Verhaltensweise, in die sich die einzelnen Wettbewerbsbeschränkungen einfügen, gegeben ist bzw. fortgesetzt wird.“ 344 EuGH, Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-49/92 P – Kommission/Anic Partecipazioni, Slg. 1999, I-4125, I-4205 Rn. 131.
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nehmens in der Eingliederung seines Willens, sein Marktverhalten in gewisser Weise zu gestalten. Kann eine solche Willensübereinkunft nicht nachgewiesen werden, so müsste im „gemeinsamen subjektiven Element“ eine Abstimmung i.S.d. dritten Tathandlungsalternative liegen.345 Zusätzlich müssen die Unternehmen dann aber noch „Verhaltensweisen“ vornehmen, die kausal mit der Abstimmung verbunden sind. Diese Voraussetzung ist stets erfüllt, wenn die Unternehmen selbst tatbestandsmäßige Maßnahmen als Tatbeiträge erbringen, wie es die Rechtsprechung verlangt. Die Kenntnis des rechtswidrigen Verhaltens der anderen Beteiligten oder dessen vernünftige Vorhersehbarkeit sowie die Bereitschaft, die aus der einheitlichen Zuwiderhandlung erwachsenden Gefahren auf sich zu nehmen, als letzte Zurechnungsvoraussetzung der Rechtsprechung entspricht schließlich dem nach Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 erforderlichen Merkmal Vorsatz oder Fahrlässigkeit. Der Übergang der Einordnung des Gesamtplans als „Vereinbarung“ mit den einzelnen Taten als ihre Umsetzungshandlungen oder als „aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen“ bleibt fließend. Wenn aber jedenfalls die weiteren Voraussetzungen des Auffangtatbestandes erfüllt und nachgewiesen sind, dann kann eine nähere Einordnung dahinstehen.346 Nähere Betrachtung und eines Nachweises bedürfen hingegen die strafzumessungsrelevanten Umstände. Bezogen auf eine Gesamtbetrachtung der Kartellabrede, des Dienstvertrages und der Gehilfentätigkeiten sind auch diese gesetzlichen Voraussetzungen nicht erfüllt. Die Kartellanten und der Kartellgehilfe bekunden auch in der Gesamtschau nicht ihren gemeinsamen Willen, sich auf dem Markt in einer gewissen Weise zu verhalten. Der Kartellgehilfe sagt kein eigenes zukünftiges Wettbewerbsverhalten am Markt zu. Die Umsetzungshandlungen der Kartellabrede und die im Dienstvertrag festgeschriebenen Gehilfentätigkeiten können damit allenfalls den Auffangtatbestand der „aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen“ erfüllen, „welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts bezwecken oder bewirken“. Alle tatsächlichen Handlungen lassen sich als Marktverhalten qualifizieren und sind damit „Verhaltensweisen“. Sie müssten ferner „aufeinander abgestimmt“ i.S.d. Art. 101 Abs. 1 AEUV sein. Die Abstimmung der Handlungen der Kartellanten mit den Kartellgehilfentätigkeiten ist hier sogar bis zu einem Vertragsschluss zwischen den die Verhaltensweisen vornehmenden Unternehmen gediehen und erfolgt im Dienstvertrag. Wie gezeigt müsste darin eine Verletzung des Selbständigkeitspostulats liegen. Der Kartellgehilfe verletzt seine Pflicht, sich autonom am Markt zu verhalten, jedoch nicht, die Kartellanten dagegen schon. Sie stimmen in der Kartellabrede ihr zukünftiges Marktverhalten ab. Im Dienstvertrag nehmen sie nur die Verpflichtung des Kartellgehilfen zur Erbringung 345 Vgl. dazu EuGH, Urt.v. 16. 12. 1975, Rs. 40 bis 48, 50, 54 bis 56, 111, 113 und 114/73 – Suiker Unie und andere/Kommission, Slg. 1975, 1663, 1965 f. Rn. 173/174: „Die Kriterien der Koordinierung und der Zusammenarbeit, auf die in der Rechtsprechung des Gerichtshofes abgestellt wird, verlangen nicht die Ausarbeitung eines eigentlichen ,Plans‘“. 346 So auch die Praxis; vgl. die Nachw. in Teil 3 Fn. 275.
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seiner Dienstleistung entgegen und versprechen Entlohnung. Durch die Leistung letzterer und der Entgegennahme der Gehilfentätigkeiten verstoßen sie somit nicht gegen das Selbständigkeitspostulat. Die Verletzung liegt ausschließlich in der Kartellabrede. Kann die gesetzliche Grundlage der Zurechnung innerhalb der Rechtsfigur der einheitlichen, komplexen und fortgesetzten Zuwiderhandlung unter Geltung des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips allein in Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV bestehen, so lässt sich auch abschließend347 zur Inanspruchnahme obiger Täterschaftskriterien in Bezug auf die Tatbeiträge durch die Rechtsprechung348 Stellung nehmen. Auch für die überwölbende Gesamtabrede gilt das zu Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV Gesagte. Diese Bußgeldnorm ist wie gesehen349 auf Tatbestandsseite keiner Abstufung der Tatbeiträge zugänglich. Die Begründung durch die Praxis der EUOrgane anhand objektiver und subjektiver Täterschaftskriterien ist daher, soweit sie die Tatbestandserfüllung betrifft, verfehlt. Im Ergebnis versagt damit eine Gesamtbetrachtung in der Fallgruppe der Kartellgehilfen. So vermag eine Zusammenfassung einzelner isoliert betrachtet tatbestandsmäßiger Maßnahmen nach der Rechtsfigur der einheitlichen, komplexen und fortgesetzten Zuwiderhandlung die Strafbarkeit des Kartellgehilfen nicht zu begründen. Ebenso wenig verstößt die die einzelnen Taten überwölbende Koordinierung gegen das Kartellverbot gem. Art. 101 Abs. 1 AEUV. b) Keine Übertragbarkeit der Rechtsprechung zur passiven Beteiligung an einem Kartell Die Rechtsprechung lässt es für einen Verstoß gegen das Kartellverbot ferner genügen, dass ein Unternehmen bloß an den Kartellsitzungen teilnimmt – es muss nicht einmal in der Lage sein, die Absprachen des besuchten Kartelltreffens auch umzusetzen350 – und den getroffenen Absprachen nicht widerspricht.351 Diese Vor347
Noch offen gelassen in obiger Stellungnahme S. 255 ff. Dazu bereits oben S. 252 ff. 349 Oben S. 255 ff. 350 EuGH, Urt. v. 28. 6. 2005, verb. Rs. C-189/02 P, C-202/02 P, C-205/02 P bis C-208/02 P und C-213/02 P – Dansk Rørindustri u. a./Kommission, Slg. 2005, I-5425, I-5549 Rn. 146; Bailey, World Competition 2008, 177, 185. 351 EuGH, Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-49/92 P – Kommission/Anic Partecipazioni, Slg. 1999, I4125, I-4196 Rn. 96; Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-199/92 P – Hüls, Slg. 1999, I-4287, I-4385 Rn. 155; Urt. v. 7. 1. 2004, verb. Rs. C-204/00 P, C-205/00 P, C-211/00 P, C-213/00 P, C-217/00 P und C-219/00 P – Aalborg Portland u. a./Kommission, Slg. 2004, I-403, I-447 f. Rn. 81 ff.; Urt. v. 28. 6. 2005, verb. Rs. C-189/02 P, C-202/02 P, C-205/02 P bis C-208/02 P und C-213/02 P – Dansk Rørindustri u. a./Kommission, Slg. 2005, I-5425, I-5547 f. Rn. 142 f.; EuG, Urt. v. 17. 12. 1991, Rs. T-7/89 – Hercules Chemicals/Kommission, Slg. 1991, II-1711, II-1797 Rn. 232; Urt. v. 6. 4. 1995, Rs. T-141/89 – Trefileurope/Kommission, Slg. 1995, II-791, II-827 Rn. 85. 348
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aussetzung übertrifft der Kartellgehilfe sogar. Er stellt zum einen ggf. nicht nur die Räumlichkeiten der Kartelltreffen zur Verfügung, sondern ist sogar meistens aktiv in die Beratungen eingebunden. Bereits die bloß passive Beteiligung begünstige die Fortsetzung der komplexen einheitlichen Zuwiderhandlung und verhindere eine Entdeckung.352 So müsse das Unternehmen, um sich selbst zu entlasten, seinerseits darlegen, dass ihm die wettbewerbsfeindliche Zielsetzung fehle und sich offen von den Absprachen distanziert zu haben (publicly distancing oneself from a cartel).353 Im Ergebnis führt diese Rechtsprechung damit zu einer weiteren Beweiserleichterung.354 Die auf eine wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung gerichtete Willensäußerung wird vermutet, auf sie kann aber nicht verzichtet werden. Da das eigene Marktverhalten der Kartellgehilfen nicht Gegenstand der Kartelltreffen ist, fehlt, selbst wenn eine zustimmende Willensäußerung vermutet würde, das zwingend erforderliche Übereinstimmen mit dem der Kartellanten. Die Kartellgehilfen verstoßen auch durch ihre Teilnahme an den Kartelltreffen nicht gegen das Selbständigkeitspostulat.355 Auch diese Rechtsprechung vermag daher nicht, den Kartellgehilfen als Mittäter der Kartellabrede unter den Kartellanten zu erfassen. Zudem ließe sich darüber nachdenken, ob nicht erst die Beteiligung an einer tatbestandlichen Zuwiderhandlung im Rahmen einer einheitlichen, komplexen und fortdauernden Zuwiderhandlung die weitere Förderung durch ein Unterlassen begründen kann.356
352
EuGH, Urt. v. 7. 1. 2004, verb. Rs. C-204/00 P, C-205/00 P, C-211/00 P, C-213/00 P, C-217/00 P und C-219/00 P – Aalborg Portland u. a./Kommission, Slg. 2004, I-123, I-448 Rn. 84; Urt. v. 28. 6. 2005, verb. Rs. C-189/02 P, C-202/02 P, C-205/02 P bis C-208/02 P und C-213/02 P – Dansk Rørindustri u. a./Kommission, Slg. 2005, I-5425, I-5548 Rn. 143. 353 EuGH, Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-49/92 P – Kommission/Anic Partecipazioni, Slg. 1999, I-4125, I-4196 f. Rn. 95 f.; Urt. v. 7. 1. 2004, verb. Rs. C-204/00 P, C-205/00 P, C-211/00 P, C-213/00 P, C-217/00 P und C-219/00 P – Aalborg Portland u. a./Kommission, Slg. 2004, I-123, I-447 Rn. 81; Urt. v. 28. 6. 2005, verb. Rs. C-189/02 P, C-202/02 P, C-205/02 P bis C-208/02 P und C-213/02 P – Dansk Rørindustri u. a./Kommission, Slg. 2005, I-5425, I-5547 f. Rn. 142; Urt.v. 21. 9. 2006, Rs. C-113/04 P – Technische Unie/Kommission, Slg. 2006, I-8831, I-8907 Rn. 114. Eingehend zu den Anforderungen des publicly distancing Bailey, World Competition 2008, 177 ff. Vgl. Art. 23 Abs. 4 UAbs. 4 Var. 3 VO 1/2003 für eine vergleichbare Voraussetzung als Exkulpationsmöglichkeit von der gesamtschuldnerischen Ausfallhaftung ihrer Mitgliedsunternehmen für die Bußgeldzahlung der betreffenden Unternehmensvereinigung ohne eigenen Marktauftritt. 354 Zur Beweiserleichterung durch die Rechtsfigur der einheitlichen, komplexen und fortgesetzten Zuwiderhandlung siehe bereits oben S. 281. 355 Im Übrigen ist auch die Figur des publicly distancing oneself mit dem Selbständigkeitspostulat verknüpft: Es wird vermutet, dass an Kartelltreffen teilnehmende Unternehmen die erlangten Informationen auch in ihrem Marktverhalten einfließen lassen. Daher muss beim öffentlichen Distanzieren nachgewiesen werden, dass das Unternehmen sein Marktverhalten unabhängig und selbständig bestimmt, mithin das Selbständigkeitspostulat gerade nicht verletzt hat. 356 Zur Figur der Ingerenzgarantenstellung im dt. Strafrecht siehe etwa überblicksartig Freund, in: Joecks/Miebach, MüKo, StGB, Bd. 1, § 13 Rn. 118 ff.
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c) Keine Übertragbarkeit der völkerrechtlichen Rechtsfigur des joint criminal enterprise Ausgehend von der Analyse der unter a) und b) genannten Rechtsprechung des Gerichtshofs und nicht zuletzt dem AC-Treuhand/Kommission-Urteil des EuG357 schlägt Harding358 schließlich vor, die im Völkerrecht entwickelte Figur des joint criminal enterprise (JCE) auf ein Kartell zu übertragen. aa) Der Ansatz Hardings Die Rechtsprechungspraxis des Gerichtshofs, namentlich die Erfassung passiver,359 untergeordneter oder akzessorischer Beiträge wie solche von Kartellgehilfen sowie die Gesamtbetrachtung und Zurechnungseinheit einer komplexen und einheitlichen Zuwiderhandlung,360 verstehe das Kartell als eine „prohibited organisation“.361 Diese „idea of the ,cartel as a whole‘“ mache deutlich, dass es für die Strafbarkeit von Kartellen auch auf die tragende Infrastruktur und Organisation ankomme.362 Dieses zur Wettbewerbsfeindlichkeit der Kartellierung hinzutretende kollusive rechtsfeindliche Netzwerk könne als Rechtfertigung für die Bestrafung der beteiligten Unternehmen angesehen werden.363 Dies ermögliche auch die Erfassung bloßer Kartellgehilfen.364 Im Konzept des JCE bricht sich mithin ein im Rechtskreis des common law verbreitetes systemisches Beteiligungsmodell365 Bann. Eine ähnliche Struktur weist allerdings im deutschen Recht etwa § 129 StGB auf. Nach dessen Abs. 1 wird (mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe) nicht nur bestraft, wer eine kriminelle Vereinigung „gründet“ oder sich „als Mitglied beteiligt“, sondern auch, wer „für sie um Mitglieder oder Unterstützer wirbt oder sie unterstützt“.
357
EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501 ff. Harding, European Law Review 2009, 298 ff.; in einem größeren Kontext Harding/ Joshua, Regulating cartels in Europe, S. 59 f., 264 ff. 359 Siehe soeben S. 288 f. 360 Siehe soeben S. 280 ff. 361 Harding, European Law Review 2009, 298, 300 zur passiven Beteiligung wie zum ACTreuhand/Kommission-Urteil, 302, 304 zur komplexen und einheitlichen Zuwiderhandlung. 362 Harding, European Law Review 2009, 298, 303 f. 363 Harding, European Law Review 2009, 298, 303 f. 364 Harding, European Law Review 2009, 298, 302, 307. 365 Dazu allgemein Vogel, ZStW 114 (2002), 403, 409 f. 358
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bb) Die Rechtsfigur des joint criminal enterprise im Völkerstrafrecht Gerade dieser Ansatzpunkt sei im Völkerrecht durch die Herausbildung der Rechtsfigur des joint criminal enterprise entwickelt worden.366 Ursprünglich sollte sie im Völkerstrafrecht sicherstellen, dass sich die Strafbarkeit wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen auch auf Unterstützer und Hintermänner erstreckt.367 Entwickelt wurde das Modell von der Rechtsmittelkammer des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) ausgehend von Art. 7 Abs. 1 ICTY-Statut, Art. 6 Abs. 1 ICTR-Statut.368 Das joint criminal enterprise wird als (ungeschriebene) Ausprägung der täterschaftlichen commission i.S.d. der genannten Statuten der ad hoc-Gerichthöfe verstanden.369 Für die Zurechnung werden in objektiver Hinsicht eine Mehrzahl Beteiligter, ein gemeinsamer Zweck sowie eine eigene Beteiligung an diesem verlangt.370 In subjektiver Hinsicht lassen sich drei Formen unterscheiden. Die subjektiven Voraussetzungen reichen von einem gemeinschaftlichen Vorsatz auf der Grundlage eines gemeinsamen Planes (sog. JCE I), der bloßen Kenntnis der die Taten begehenden Organisation bei Förderungsvorsatz (sog. JCE II), bis zur Absicht, das kriminelle Unternehmen zu fördern, bei Vorhersehbarkeit der durch dieses System möglichen Begehung der Taten (sog. JCE III).371 Bereits im Völkerstrafrecht wird die Übertragung dieser Rechtsfigur auf die geschriebene Grundlage der Täterschaft nach Art. 25 Abs. 3 lit. a Var. 2 IStGH-Statut unter den Wortlaut „gemeinschaftlich mit einem anderen begeht“ allerdings abgelehnt.372 Die dem joint criminal enterprise inhaltlich nahe kommende Unterstützung einer Personengruppe ordnet Art. 25 Abs. 3 lit. d IStGH366
Harding, European Law Review 2009, 298, 302. Ambos, Internationales Strafrecht, § 7 Rn. 31; Harding, European Law Review 2009, 298, 302. 368 ICTY, Appeal Judgment of 15/7/1999, IT-94-1-A – Prosecutor v. Tadic´, Rn. 185 ff. Dazu Ambos, Internationales Strafrecht, § 7 Rn. 30 ff.; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 15 Rn. 55 ff. Die wortgleichen Art. 7 Abs. 1 ICTY-Statut, Art. 6 Abs. 1 ICTR-Statut lauten: „A person who planned, instigated, ordered, committed or otherwise aided and abetted in the planning, preparation or execution of a crime referred to in articles 2 to 5 of the present Statute, shall be individually responsible for the crime.“ 369 Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 15 Rn. 55. 370 Ambos, Internationales Strafrecht, § 7 Rn. 30; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 15 Rn. 56 jew. m.w.N. auf die Rspr. der völkerrechtlichen Strafgerichtshöfe. 371 Ambos, Internationales Strafrecht, § 7 Rn. 30; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 15 Rn. 57 jew. m.w.N. auf die Rspr. der völkerrechtlichen Strafgerichtshöfe. 372 Vgl. IStGH, Beschl. v 29. 1. 2007 (Pre-Trial Chamber I), ICC-01/04-01/06-803 – Prosecutor v. Lubanga Dyilo, Rn. 332 ff.; Beschl. v. 30. 9. 2008 (Pre-Trial Chamber I), ICC-01/0401/01-717 – Prosecutor v. Katanga and Ngudjolo Chui, Rn. 521 ff.; Beschl. v. 15. 6. 2009 (PreTrial Chamber II), ICC-01/05-01/08-424 – Prosecutor v. Bemba, Rn. 350; Beschl. v. 8. 2. 2010 (Pre-Trial Chamber I), ICC-02/05-02/09-243 – Prosecutor v. Abu Garda, Rn. 159 f.; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 15 Rn. 58; a.A Vogel, ZStW 114 (2002), 403, 421. 367
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Statut373 gerade nicht der Täterschaft, sondern der schwächsten Form der Teilnahme zu.374 Die hybriden Gerichtshöfe halten aber unter ihren Statuten, die eine vergleichbare Regelung der Mittäterschaft nicht kennen, grundsätzlich an der Rechtsfigur des JCE unter Berufung auf das Völkergewohnheitsrecht fest.375 cc) Rechtsstaatliche und methodische Unzulässigkeit der Übertragung Der Übertragung dieser Rechtsfigur auf das unionsrechtliche Kartellbußgeldrecht stehen unüberwindbare rechtsstaatliche Hindernisse entgegen. Harding selbst gibt zu bedenken, dass sich der seine Argumentation stützende Begriff des „cartel“, als Ausdruck des kriminellen Zweckverbundes,376 kein gesetzliches Tatbestandsmerkmal des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV ist.377 Seine Argumentation baut vielmehr auf der, soweit sie über den Anwendungungsbereich des Art. 25 Abs. 2 S. 2 VO 1/2003 hinausgeht, ebenfalls allein richterrechtlich entwickelten Rechtsfigur der einheitlichen, komplexen und fortgesetzten Zuwiderhandlung des Gerichtshofs auf.378 Da das Erfordernis der Partei der Vereinbarung ferner durch Auslegung der Norm vorgegeben ist, darf nach dem strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzip weder die Rechtsprechung dies unterschreiten, noch der strafbegründende Rückgriff auf eine ungeschriebene, richterliche völkerrechtliche Rechtsfigur. Für ein derartiges Zurechnungsmodell nach dem Vorbild der conspiracy des common law379 mangelt es somit im Ergebnis an einer gesetzlichen Grundlage i.S.d. strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips. Für das Völkerstrafrecht mag wegen des weniger strengen Gesetzlichkeitsprinzips (vgl. Art. 7 Abs. 2 EMRK, Art. 49 Abs. 2 GRC) etwas anderes gelten.
373
Art. 25 Abs. 3 lit. d IStGH-Statut lautet: „In Übereinstimmung mit diesem Statut ist für ein der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegendes Verbrechen strafrechtlich verantwortlich und strafbar, wer auf sonstige Weise zur Begehung oder versuchten Begehung eines solchen Verbrechens durch eine mit einem gemeinsamen Ziel handelnde Gruppe von Personen beiträgt. Ein derartiger Beitrag muss vorsätzlich sein und entweder i) mit dem Ziel geleistet werden, die kriminelle Tätigkeit oder die strafbare Absicht der Gruppe zu fördern, soweit sich diese auf die Begehung eines der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegenden Verbrechens beziehen, oder ii) in Kenntnis des Vorsatzes der Gruppe, das Verbrechen zu begehen, geleistet werden;“. 374 Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 15 Rn. 58 m.w.N. 375 Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 15 Rn. 58 a.E. m.w.N. 376 Begriff nach Vogel, ZStW 114 (2002), 403, 421. 377 Harding, European Law Review 2009, 298, 304. 378 Vgl. Harding, European Law Review 2009, 298, 304. 379 Vogel, ZStW 114 (2002), 403, 421.
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dd) Übertragbarkeit der Figur des joint criminal enterprise de lege ferenda Somit können die von Harding gezogenen Ableitungen aus der Rechtsfigur des joint criminal enterprise380 für die Beteiligung an einem Verstoß gegen das Kartellverbot nur de lege ferenda berücksichtigt werden. Allerdings herrscht zu den Voraussetzungen der Beteiligung am joint criminal enterprise auch im Völkerrecht kein hinreichender Konsens.381 Operable Kriterien der Abgrenzung strafwürdiger Tatbeiträge lassen sich nicht identifizieren. Harding382 spricht so auch nur von der „significance for the cartel“ bzw. dem „,definite and decisive causal link‘“. Eine Konkretisierung der vom EuG aufgestellten Strafbarkeitsvoraussetzungen des Kartellgehilfen kann mit ihrer Hilfe mithin nicht gelingen.383 Auch eine Orientierung an Art. 25 Abs. 3 lit. d IStGH-Statut erscheint nicht weiterführend. Der „Umweg“ über die Figur einer Organisationseinheit ist nicht erforderlich, da Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV bereits zwingend eine Mehrzahl Unternehmen erfasst. Eine akzessorische Strafbarkeit der Förderung dieser Koordinationen knüpft somit bereits an diese Gesamtheit an. Einzig gangbar ist dabei wie gesehen384 für letztere an die gesetzlichen Voraussetzungen anzuknüpfen. Der Gedanke und das Bestreben der Unionsorgane hinsichtlich der Erfassung von Kartellgehilfen weisen schließlich deutliche Parallelen zur Rechtsfigur der JCE auf. Harding lässt die Fallgruppe der Kartellgehilfen somit im Gesamtzusammenhang rechtspolitischer Strafbedürfnisse erscheinen. Dieser kann etwa auch um den Gedanken des § 129 StGB erweitert werden. Zudem weist Harding auf die Gemeinsamkeiten der Voraussetzungen hin. Allerdings kann mangels allgemein anerkannter Kriterien im Völkerstrafrecht nicht von der JCE auf die Fallgruppe der Kartellgehilfen geschlossen werden. d) Keine Übertragbarkeit der Rechtsprechung zur sog. Bündeltheorie Ebenfalls eine Gesamtbetrachtung nimmt schließlich die sog. Bündeltheorie der Rechtsprechung vor, die zu vertikalen Absprachen entwickelt wurde. Sie beruht auf der zutreffenden Prämisse, dass die wettbewerblichen Wirkungen einer Maßnahme nur in ihrem wirtschaftlichen und rechtlichen Kontext ermittelt werden können.385 380 381
tionen. 382
Harding, European Law Review 2009, 298, 306 ff. Vgl. Ambos, Internationales Strafrecht, § 7 Rn. 30 m.w.N. auf die verschiedenen Posi-
Harding, European Law Review 2009, 298, 307. Anders Harding, European Law Review 2009, 298, 306 f. 384 Oben S. 286 ff. 385 EuGH, Urt. v. 13. 7. 1966, verb. Rs. 56 und 58/64 – Consten und Grundig/Kommission, Slg. 1966, 322, 391; Urt. v. 12. 12. 1967, Rs. 23/67 – Brasserie de Haecht, Slg. 1967, 525, 555 f.; Urt.v. 16. 12. 1975, Rs. 40 bis 48, 50, 54 bis 56, 111, 113 und 114/73 – Suiker Unie und andere/Kommission, Slg. 1975, 1663, 2025 Rn. 548/549; Urt. v. 28. 2. 1991, Rs. C-234/89 – 383
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
Dazu werden für sich genommen möglicherweise wettbewerblich unbedenkliche Maßnahmen zusammen mit gleichartigen Verträgen zwischen den Beteiligten und Dritten betrachtet. Erst die kumulierte Wirkung kann dabei einen Kartellverbotsverstoß begründen.386 Damit nimmt sie eine Gesamtbetrachtung mehrerer Maßnahmen in ihren Auswirkungen auf den Markt vor, welche bei der Beurteilung einer bezweckten oder bewirkten Wettbewerbsbeschränkung zu verorten ist. Dies ist von den Anforderungen an „Vereinbarungen“, „Beschlüsse“ und „aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen“ zu trennen. Auch die sog. Bündeltheorie ermöglicht somit keine Verhaltenszurechnung zwischen Kartellgehilfen und Kartellanten. Sie könnte aber herangezogen werden, um die wettbewerbsschädlichen Auswirkungen der Kartellabrede unter den Kartellanten als Auswirkung des Dienstvertrages anzusehen, sodass auch letzterer eine Wettbwerbsbeschränkung bewirkt. Darauf wird im Rahmen des Tatbestandsmerkmals der bezweckten oder bewirkten Wettbewerbsbeschränkung zurückzukommen sein.387 3. Der Umgehungsgedanke Je restriktiver die Art und Weise der Tatbestandsverwirklichung, etwa die Erfolgsherbeiführung oder der Täterkreis, gesetzlich normiert ist, desto vielfältiger sind die Möglichkeiten der Umgehung zur Herbeiführung des gleichen Erfolgs.388 So erscheint die Verlagerung der Organisations- und Überwachungstätigkeiten der Kartellanten auf einen dritten Kartellgehilfen auf den ersten Blick als eine Umgehungshandlung.389 Allerdings liegt darin keine Umgehung in Bezug auf die Kartellanten, da ihnen auch dieser Beitrag zugerechnet wird, wodurch sich die BußgeldDelimitis, Slg. 1991, I-935, I-984 Rn. 14; Urt. v. 7. 12. 2000, Rs. C-214/99 – Neste, Slg. 2000, I-11121, I-11148 Rn. 25. Dazu noch näher unten S. 311. 386 EuGH, Urt. v. 12. 12. 1967, Rs. 23/67 – Brasserie de Haecht, Slg. 1967, 525, 555 f.; Urt.v. 16. 12. 1975, Rs. 40 bis 48, 50, 54 bis 56, 111, 113 und 114/73 – Suiker Unie und andere/ Kommission, Slg. 1975, 1663, 2025 Rn. 548/549; Urt. v. 10. 7. 1980, Rs. 99/79 – Lancôme/Etos, Slg. 1980, 2511, 2536 f. Rn. 24; Urt. v. 11. 12. 1980, Rs. 31/80 – L’Oréal/De Nieuwe AMCK, Slg. 1980, 3775, 3792 Rn. 19; Urt. v. 28. 2. 1991, Rs. C-234/89 – Delimitis, Slg. 1991, I-935, I-984 Rn. 14; Urt. v. 30. 4. 1998, Rs. C-230/96 – Cabour, Slg. 1998, I-2083, I-2101 Rn. 50; Urt. v. 7. 12. 2000, Rs. C-214/99 – Neste, Slg. 2000, I-11121, I-11148 Rn. 25; Urt. v. 15. 10. 2002, verb. Rs. C-238/99 P, C-244/99 P, C-245/99 P, C-247/99 P, C-250/99 P bis C-252/99 P und C254/99 P – Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, Slg. 2002, I-8375, I-8760 Rn. 486; Urt. v. 11. 9. 2008, Rs. C-279/06 – CEPSA, Slg. 2008, I-6681, I-6734 Rn. 43; EuG, Urt. v. 8. 6. 1995, Rs. T-7/93 – Langnese-Iglo/Kommission, Slg. 1995, II-1533, II-1572 f. Rn. 99; Kommission, Leitlinien für vertikale Beschränkungen, ABl. 2010 C 130, S. 1, 27 Rn. 121, 29 Rn. 134 f.; dies., Bekanntmachung über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, die den Wettbewerb gemäß Artikel 81 Absatz 1 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft nicht spürbar beschränken (de minimis), ABl. 2001 C 368, S. 13, 14 Rn. 8. 387 S. 315 ff. 388 Speziell zum Sonderdelikt Tiedemann, NJW 1979, 1849, 1850. 389 So Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 87 als Argument für einen weiten Täterbegriff.
B. Die Tathandlungen
295
zumessungskriterien der Dauer und Schwere des Kartells erhöhen.390 In Bezug auf den Kartellgehilfen selbst legt dieser Umgehungsgedanke in der gedanklichen Gegenprobe erneut391 das verbleibende Strafbedürfnis offen, da der Kartellgehilfe i. d. R. die Dauer und Schwere des Kartells verstärkt.392 Dieses Strafbedürfnis findet seinen Niederschlag auch in Rn. 28 3. Spiegelstrich der Bußgeldleitlinien, wonach eine führende Rolle im Kartell wie etwa die sog. „Kartellbuchhaltung“ einen Erschwernisgrund darstellt.393 Jedoch bleibt das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip zu beachten. Wie gesehen394 setzt sich dieses gegenüber dem effet utile der Wettbewerbsvorschriften durch. Ein spezielles, geschriebenes, strafbewehrtes Umgehungsverbot existiert im europäischen Wettbewerbsrecht nicht.395 Es ist mithin einzig Sache des Gesetzgebers zu verhindern, dass Einzelne durch das als nicht eng genug geknüpft empfundene Netz der Bußgeldverantwortlichkeit schlüpfen.396 4. Zwischenergebnis: Teleologische Auslegung Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass auch die teleologisch argumentierenden Gesamtbetrachtungen in der Rechtsprechung nicht zur Strafbarkeit des Kartellgehilfen zu führen vermögen. Diese verlangen stets eine eigene tatbestandliche Handlung als Beitrag zum Gesamtkartell. Damit wird das Kriterium, dass das betreffende Unternehmen als Partei an der Vereinbarung beteiligt ist, nicht aufgegeben. Die teleologische Auslegung bringt vielmehr die Verletzung des Selbständigkeitspostulats als maßgebliches Kriterium hervor. Dieses ermöglicht eine Abgrenzung zwischen jeweils vom Wortlaut erfasster unbedenklicher Maßnahmen des Wettbewerbs und Mitteln zu seiner Einschränkung. Damit lässt sich der Inhalt der Norm durch Auslegung ermitteln, sodass die Anforderungen des strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes erfüllt sind. Auf das Kriterium der Vorhersehbarkeit der Rechtsprechung zur Bebußung von Kartellgehilfen kommt es daher nicht mehr an.397 Zugleich ergibt sich mit der Verletzung des Selbständigkeitspostulats ein weiteres zentrales Täterschaftskriterium, dessen Anforderungen die Rechtsprechung bislang 390 Siehe oben in und bei Teil 3 Fn. 298. Die Abrede unter den Kartellanten, einen Kartellgehilfen einzuschalten, kann dabei als zur Kartellabrede akzessorische Wettbewerbsbeschränkung angesehen werden, da sie die dort festegelegten Absprachen sichern helfen soll. Zur akzessorischen Wettbewserbsbeschränkung siehe noch unten S. 317 ff. 391 Zur völkerstrafrechtlichen Rechtsfigur des JCE siehe bereits S. 290 ff. 392 Zum Strafbedürfnis in Bezug auf die Strafzwecke Eufinger, WRP 2012, 1488, 1489; vgl. auch Albrecht/von dem Bussche, EWiR 2008, 489, 490. 393 Dazu Engelsing/Schneider, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 133. 394 Ausführlich oben S. 138 ff. 395 Im Verwaltungssanktionenrecht zum Schutz der finanziellen Interessen der EU existiert etwa in Art. 4 Abs. 3 VO 2988/95 ein solches Umgehungsverbot. 396 Dazu bereits eingehend S. 138 ff., zusammenfassend S. 214 f. 397 Zum Kriterium der Vorhersehbarkeit der Rechtsprechung siehe bereits S. 212 ff.
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
auch mit der Rechtsfigur der einheitlichen, komplexen und fortgesetzten Zuwiderhandlung gerecht wurde und auf das noch bei der weiteren Auslegung zurückzukommen sein wird.
VII. Die abschließende Grenzziehung durch den Bestimmtheitsgrundsatz und das Analogieverbot Wurden die Tatbestandsmerkmale der drei Tathandlungen ausgelegt, kann nun abschließend die Grenze des Bestimmtheitsgebots respektive des Analogieverbots gezogen werden. Dazu ist zu klären, ob die Erfassung von Kartellgehilfen für den objektivierten Normadressaten aus dem Wortlaut oder durch Auslegung vorhersehbar ist. Die Auslegung hat den Kernbereich der Norm bestätigt und keine weniger strengen Kriterien ergeben. Die gewonnenen Voraussetzungen erfüllen die Kartellgehilfen nicht. Deutlich wurde zugleich aber das Strafbedürfnis zur Erfassung auch der Kartellgehilfen. Der allgemeine Sprachgebrauch ist einer weiten, sämtliche als strafwürdig erachtete Fälle einschließenden Grenzziehung nicht verschlossen. Welche Bestimmtheitsanforderungen an die Strafnorm zu stellen sind, kann jedoch wie gesehen398 letztlich nur durch Abwägung von Rechtssicherheit und Gleichbehandlungsgrundsatz und Einzelfallgerechtigkeit ermittelt werden. Für eine Gleichbehandlung der Kartellgehilfen mit den vom Kernbereich erfassten Kartellanten spricht ihre vergleichbare Gefährlichkeit für wirksamen Wettbewerb im Binnenmarkt. Zur Begründung wird der Grundsatz des effet utile bemüht.399 Die Nichterfassung stünde im Widerspruch zur Wirksamkeit des Kartellverbots und seinem Ziel zur Aufrechterhaltung unverfälschten Wettbewerbs. Allerdings ermöglicht diese Rechtsanwendung keine Grenzziehung zwischen strafbarem und straflosem Verhalten. Der Strafnorm selbst wären keine Kriterien zu entnehmen. Auch die Rechtsfolgenseite der Norm ließe keine Rückschlüsse zu. Der Normadressat kann sein Verhalten mithin nicht mehr an der Norm ausrichten. In methodischer Hinsicht ist zudem anzumerken, dass der effet utile nur verstärkend zu einem bereits ermittelten Telos der Norm hinzutritt und einen solchen keinesfalls zu ersetzen vermag. Die teleologische Auslegung hat hier aber gerade eine zusätzliche Einschränkung auf den Normkern ergeben. Art. 101 Abs. 1 AEUV verbietet gerade nicht jegliches wettbewerbsgefährdende oder -verletzende Verhalten, sondern ist auf bestimmte Angriffsarten beschränkt. Daher erscheint der pauschale Hinweis auf die Wirksamkeit der Wettbewerbsregeln nicht überzeugend. Vielmehr kann der Gesetzgeber 398
Oben S. 179 ff. Eufinger, WRP 2012, 1488, 1491. Vgl. auch EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – ACTreuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1558 f. Rn. 127, wobei aber nicht ganz deutlich wird, ob sich dieses Argument nur darauf bezieht, dass das Unternehmen nicht auf dem betroffenen Markt tätig sein muss (zur Drittmarktproblematik noch unten S. 337 ff.) oder mit dieser Begründung ganz auf einen Verstoß gegen das Selbständigkeitspostulat verzichtet werden kann. 399
B. Die Tathandlungen
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leicht dafür sorgen, dass der wirksame Wettbewerbsschutz gewährleistet, zugleich aber die nötige Rechtssicherheit hergestellt ist, indem er das bestehende Gesetz entsprechend ergänzt. Er müsste lediglich einen Hinweis in die Norm aufnehmen, der darauf hindeutet, dass die Norm auch Hilfshandlungen zu einer Vereinbarung, einem Beschluss oder aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen unter Strafe stellt und sich ihr Inhalt und damit die Grenzziehung zur Straflosigkeit durch Auslegung ermitteln lässt. Rechtfertigungsgründe für das Zurückbleiben hinter dieser leicht möglichen Bestimmtheit sind nicht ersichtlich. Sprachliche Gründe oder eine besondere Komplexität der zu erfassenden Sachverhalte bestehen nicht. Zudem hat sich der Gesetzgeber in anderen Bereichen ausdrücklich der Rechtsfrage zur Behandlung von „Täterschaft und Teilnahme“ angenommen,400 für die auch ein Rechtsvergleich lediglich ein Regelungsbedürfnis offenlegen kann. Im Ergebnis zwingt der Gleichbehandlungsgrundsatz somit nicht zu einer Rücknahme der Bestimmtheit. Die Strafbarkeit von Kartellgehilfen ist aus Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 für den Normadressaten nicht vorhersehbar. Das Kartellverbot ist im Folgenden als Ausfüllungsnorm nur insoweit heranzuziehen, wie es die oben durch Auslegung gewonnenen Kriterien verlangen: Es richtet sich allein an die Unternehmen, die eine Vereinbarung treffen oder eine aufeinander abgestimmte Verhaltensweise vornehmen sowie an Unternehmensvereinigungen, die einen Beschluss selbst fassen und so gegen das Selbständigkeitspostulat verstoßen. Eine darüber hinausgehende Normanwendung verlässt den gesetzlichen Rahmen und ist daher vom Analogieverbot verboten.
VIII. Auslegungsergebnis: Tathandlung Bereits die Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Tathandlungen anhand des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips lässt die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen ausscheiden. Etwaige ergänzende Strafbarkeitsnormen müssten mithin den Kreis der Tathandlungen erweitern. Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a VO 1/2003 lässt es nicht zu, den Kartellgehilfen wegen Beteiligung an der Kartellabrede unter seinen Mandanten mit einem Bußgeld zu belegen. Die Bußgeldnorm verlangt, dass das Unternehmen Partei der Vereinbarung ist und so das Selbständigkeitspostulat in eigener Person verletzt. Der Kartellgehilfe ist lediglich dienstvertraglich mit einem oder mehreren der Mitglieder des Kartells verbunden. Die wettbewerbsbeschränkende Willensübereinkunft findet in der Kartellabrede nur zwischen den Kartellanten statt. Auch eine Bußgeldhaftung, die auf eine Gesamtschau der Kartellabrede und des Dienstvertrages zwischen einem oder mehreren Kartellmitgliedern und dem Kartellgehilfen abstellt, wird nicht von Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 getragen. Es muss der gleiche Einwand wie soeben erhoben werden. Der Kartellgehilfe ist nicht als Partei an der Kartellabrede beteiligt. Zudem lässt der Tatbestand 400
Siehe die Nachw. oben S. 229 f.
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
eine solche Gesamtschau der Tathandlungen nicht zu. Die Rechtsprechungslinien des EuGH, die eine Gesamtschau in anderen Fallkonstellationen erlauben, erfassen den Kartellgehilfen nicht. Das Heranziehen der tatsächlichen Beiträge zum Funktionieren des Kartells allein scheidet aus. Tatbeiträge des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV sind allein „Vereinbarungen“, „Beschlüsse“ und „aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen“. Einzig der Dienstvertrag des Kartellgehilfen mit den Kartellmitgliedern stellt nach dem Wortlaut eine Vereinbarung dar, an der der Kartellgehilfe als Partei beteiligt ist. Als andere Partei dieses Vertragsverhältnisses können nur ein oder mehrere, meist alle, Kartellmitglieder angesehen werden. Andere Konstruktionen scheiden aus. So kann das Kartell als Ganzes im Sinne einer rechtlichen Einheit vergleichbar einer GbR deutschen Rechts nicht als Partei angesehen werden. Diese Einheit fiele nicht unter den Unternehmensbegriff. Insbesondere können die verschiedenen autonom handelnden Kartellanten nicht als wirtschaftliche Einheit angesehen werden. Sähe man das Kartell selbst hingegen als Unternehmensvereinigung an, so wäre der Beschluss nach dem Wortlaut die einzige mögliche Tathandlungsalternative. Als solcher kann der Dienstvertrag aber keinesfalls verstanden werden. Am Dienstvertrag ist der Kartellgehilfe als Partei beteiligt, in ihm liegt allerdings keine Verletzung des Selbständigkeitspostulats. Dieses Kriterium hat sich aus der teleologischen Auslegung ergeben und beschreibt die in der Bußgeldnorm zum Ausdruck kommende Pflichtverletzung der Unternehmen. Weder die Kartellanten noch der Kartellgehilfe verletzen durch diesen Leistungsaustausch ihre Pflicht, sich autonom am Markt zu verhalten. Der Dienstvertrag beseitigt weder auf dem kartellierten Markt noch auf dem Heimatmarkt des Kartellgehilfen die wettbewerblichen Unsicherheiten gerade durch die Koordination. Keine Partei kann das Marktverhalten des anderen besser vorhersehen und seines besser als ohne die Vereinbarung umsetzen. Im Dienstvertrag verpflichten sich die Kartellanten ledilich zu einer Geldleistung und der Kartellgehilfe zur Erbringer einer Leistung auf ihrem Heimatmarkt für entsprechende Dienstleistungen.
C. Wettbewerbsbeschränkung bezwecken oder bewirken Auch wenn nun feststeht, dass Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 eine Bußgeldverantwortlichkeit nicht begründen kann, ist sein Tatbestand gleichwohl weiter auf die Erfassung von Kartellgehilfen zu untersuchen. So können weitere „Lücken“ identifiziert werden, in die etwaige ergänzende Normen stoßen bzw. durch die lex ferenda geschlossen werden müssten. Der folgenden Betrachtung liegt wiederum einzig der Dienstvertrag zugrunde. Es ist zu unterstellen, dass dieser eine taugliche Tathandlung darstellt. Die „Vereinbarungen“, „Beschlüsse“ und „aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen“ müssen nach Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m.
C. Wettbewerbsbeschränkung bezwecken oder bewirken
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Art. 101 Abs. 1 AEUV zwei geschriebene Voraussetzungen erfüllen. Sie müssen „den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet [sein] und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts bezwecken oder bewirken“. Im Folgenden sind mithin die inhaltlichen Anforderungen an die Willensübereinkunft weiter401 zu untersuchen. Begonnen werden soll mit der bezweckten oder bewirkten Wettbewerbsbeschränkung. Diese Tatbestandsmerkmale beziehen sich zum einen auf das Rechtsgut (Wettbewerb), seine Beeinträchtigung (Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung) und umschreiben die Beziehung der Tathandlungen zu ihm (bezwecken oder bewirken).
I. Wettbewerbsbeschränkung Zentrale Bedeutung kommt dabei dem Merkmal der Wettbewerbsbeschränkung zu.402 Mangels arbeitsfähiger Definition des Wettbewerbs403 ist es zugleich schwerlich operabel.404 Zudem öffnet es sich gerade für wirtschaftliche Ansätze.405 Die tatbestandliche Weite wird von den Organen der EU wie der Literatur unterschiedlich ausgefüllt.406 Insbesondere der more economic approach findet hier ein „Einfallstor“.407 Ferner erlangt diese Weite im Zusammenhang mit dem ebenso weiten Merkmal des „bezwecken oder bewirken“ Bedeutung für den strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz.408 1. Das Schutzgut: „Wettbewerb“ Den Ausgangspunkt der Auslegung bildet das Schutzgut „Wettbewerb“. Bereits oben409 wurde dieses herangezogen, um die Tathandlungen teleologisch auslegen zu 401
Die Verletzung des Selbständigkeitspostulats konnte bereits als der Wettbewerbsbeschränkung vorgelagerte Abgrenzungsfrage identifiziert werden, S. 264 ff. 402 Eilmannsberger, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 101 AEUV Rn. 38; Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 107; ders., in: Dauses, Hdb. des EU-WirtschaftsR, Bd. 2, H. I. § 2 Rn. 30 [28. Lfg.: Juni 2011]; Wägenbaur, in: L/M/R, KartellR, Art. 81 Abs. 1 EG Rn. 197. 403 Siehe bereits oben S. 268 f. 404 Emmerich, in: Dauses, Hdb. des EU-WirtschaftsR, Bd. 2, H. I. § 2 Rn. 30 [28. Lfg.: Juni 2011]. 405 Zum Beitrag der Wirtschaftswissenschaften zur juristischen Auslegung siehe bereits S. 51 ff. 406 Siehe die Übersicht etwa bei Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 107 f. 407 Vgl. Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 237 [68. Lfg.: Mai 2009]; dazu bereits oben S. 51 ff. 408 Dazu noch eingehend unten S. 313 ff. 409 S. 268 ff.
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
können. Trotz Fehlens einer operablen Definition des Begriffs „Wettbewerb“ konnte er in der Annäherung als ungewisser, ergebnisoffener Prozess identifiziert werden, der verspricht, die wirtschaftlichen Ziele der EU nach Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 EUV zu erfüllen. 2. Sonderdelikt: Wettbewerbsverhältnis als Tätervoraussetzung? Bevor auf die Begriffe der „Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung“ einzugehen ist, könnte das Kartellverbot zunächst aber ein Wettbewerbsverhältnis zwischen den an der Koordination beteiligten Unternehmen voraussetzen.410 Dem Wortlaut ist eine solche Einschränkung nicht zu entnehmen. Es handelt sich mithin um eine im Hinblick auf den nullum crimen-Grundsatz unbedenkliche teleologische Reduktion. Die Sanktionsnorm würde zu einem „doppelten“ Sonderdelikt.411 Dafür ist allerding nichts ersichtlich. Art. 101 Abs. 1 AEUV erfasst neben Horizontalabsprachen unstreitig auch vertikale Koordinationen.412 Anders als § 1 GWB a.F.413 verfolgt das europäische Kartellverbot ein einspuriges Konzept. So erfassen auch die typischen Wettbewerbsbeschränkungen der Regelbeispiele des Art. 101 Abs. 1 Hs. 2 AEUV vertikale Absprachen.414 Schließlich spiegelt sich die Anwendbarkeit des Art. 101 Abs. 1 AEUVauf vertikale Absprachen in der Existenz der Gruppenfreistellungsverordnungen für vertikale Absprachen über die Anwendung 410
Eine verwandte, gelegentlich erhobene, aber nicht so weit gehende Anforderung besteht darin, dass die an der Koordination beteiligten Unternehmen auf dem von der Wettbewerbsbeschränkung betroffenen Markt tätig sein müssten. Darauf soll erst im Zuge der Erörterung des Unternehmensbegriffs eingegangen werden (unten S. 338 ff.), der Aufschluss über die Berechtigung dieser Einschränkung geben kann. 411 Zum Begriff des Sonderdelikts siehe oben S. 231 f. 412 St. Rspr.; Urt. v. 30. 6. 1966, Rs. 56/65– LTM/Maschinenbau Ulm, Slg. 1966, 281, 302 ff.; Urt. v. 30. 7. 1966, verb. Rs. 56 und 58/64 – Consten und Grundig/Kommission, Slg. 1966, 322, 387 f.; Urt. v. 13. 7. 1966, Rs. 32/65 – Italien/Rat, Slg. 1966, 457, 485; Urt. v. 12. 12. 1967, Rs. 23/67 – Brasserie de Haecht, Slg. 1967, 543, 555 f.; Emmerich, in: Dauses, Hdb. des EU-WirtschaftsR, Bd. 2, H. I. § 2 Rn. 13 [28. Lfg.: Juni 2011]; ders., in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 231; Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 90, 158 ff.; Stockenhuber, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 122 [47. Lfg.: April 2012]. 413 § 1 GWB i. d. F. bis 30. 6. 2005 lautete: „Vereinbarungen zwischen miteinander im Wettbewerb stehenden Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, die eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezwecken oder bewirken, sind verboten.“ [Hervorhebungen durch Verf.]. Für vertikale Koordinationen enthielt das damalige GWB in den §§ 14 bis 18 GWB a.F. eigene Regelungen. 414 Emmerich, KartellR, § 4 Rn. 8; zu lit. a Schröter/Voet van Vormizeele, in: Schröter/ Jakob/Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Art. 101 AEUV Rn. 138; zu lit. b Wägenbaur, in: L/M/ R, KartellR, Art. 81 Abs. 1 EG Rn. 275 ff.; zu lit. c Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 277; zu lit. d Hengst, a.a.O., Art. 101 AEUV Rn. 283; zu lit. e vgl. Kommission, Leitlinien für vertikale Beschränkungen, ABl. 2000 C 291, S. 1, 42 Rn. 215.
C. Wettbewerbsbeschränkung bezwecken oder bewirken
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der Freistellung vom Kartellverbot nach Art. 101 Abs. 3 AEUV wider.415 Die Bußgeldverantwortung des Kartellgehilfen ist somit im Übrigen bei der Unterstützung horizontaler wie vertikaler Kartelle gleich zu behandeln. 3. „Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung“ Die Unbestimmtheit des Wettbewerbsbegriffs schlägt freilich durch, wenn versucht werden soll zu ermitteln, wann eine „Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung“ des Wettbewerbs im Binnenmarkt vorliegt.416 Bereits die Wortlautauslegung ergibt, dass die Variante der „Verhinderung“ lediglich eine besonders starke Form der „Einschränkung“ darstellt und den vollständigen Ausschluss von Wettbewerb erfasst.417 Auch die Variante der „Verfälschung“ wird nach weit überwiegender Auffassung418 als weiterer Typus verstanden. Die drei Varianten werden daher heute unter dem Oberbegriff der Wettbewerbsbeschränkung zusammengefasst.419 Sie umschreiben sämtlich ein negatives Abweichen vom „normalen“ Wettbewerb420 auf dem Markt. Eine Wettbewerbsbeschränkung kann also nur durch 415
Verordnung (EU) Nr. 330/2010 der Kommission vom 20. April 2010 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen, ABl. 2010 L 102, S. 1; Verordnung (EU) Nr. 461/2010 der Kommission vom 27. Mai 2010 über die Anwendung von Art. 101 Abs. 3 der Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen im Kraftfahrzeugsektor, ABl. 2010 L 129, S. 52. 416 Vgl. Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 107; W. Weiß, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 101 AEUV Rn. 83. 417 Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 106; Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 172; Mestmäcker/Schweitzer, Europ. WettbR, § 10 Rn. 1; Schröter/Voet van Vormizeele, in: Schröter/Jakob/Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Art. 101 AEUV Rn. 84. 418 Bunte, in: Langen/Bunte, KartellR11, Bd. 2, Art. 81 EG Generelle Prinzipien Rn. 79; Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 118; W. Weiß, in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, Art. 101 AEUV Rn. 99; a.A., d. h. für eine – wenn auch begrenzte – eigenständige Bedeutung der Wettbewerbsverfälschung, Mestmäcker/Schweitzer, Europ. WettbR, § 10 Rn. 2 ff.; Schröter, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 2, Art. 81 EG Rn. 99; ders./Voet van Vormizeele, in: Schröter/Jakob/Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Art. 101 AEUV Rn. 84. 419 Emmerich, in: Dauses, Hdb. des EU-WirtschaftsR, Bd. 2, H. I. § 2 Rn. 28, 41 [28. Lfg.: Juni 2011]; Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 172; Kling/Thomas, KartellR, § 4 Rn. 66; Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 235 [68. Lfg.: Mai 2009]; Wollmann/Schedl, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 81 EG Rn. 83 (Fn. 7). 420 So der Wortlaut des Art. 65 § 1 EGKSV. Vgl. auch EuGH, Urt. v. 14. 7. 1981, Rs. 172/80 – Züchner/Bayerische Vereinsbank, Slg. 1981, 2021, 2031 Rn. 13; Urt. v. 28. 5. 1998, Rs. C-7/ 95 P – Deere/Kommission, Slg. 1998, I-3111, I-3162 f. Rn. 86: „Wettbewerbsbedingungen entstehen, die im Hinblick auf die Art der Waren oder erbrachten Dienstleistungen, die Bedeutung und Anzahl der beteiligten Unternehmen sowie den Umfang des in Betracht kommenden Marktes nicht den normalen Bedingungen dieses Marktes entsprechen.“
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
einen Vergleich mit dem Wettbewerb festgestellt werden, der ohne die gegenständliche Vereinbarung, den Beschluss oder die abgestimmte Verhaltensweise – im Falle des Bezwecken bei ihrer Umsetzung – bestehen würde.421 Wählen die Unternehmen die Mittel des „normalen“ Wettbewerbs, kann dies dabei freilich nicht zu einer Wettbewerbsbeschränkung führen.422 a) Annäherung mittels des Selbständigkeitspostulats Unter Rückgriff auf die schutzzweckbezogene Auslegung der Tathandlungen anhand des Selbständigkeitspostulats kann sich dem Inhalt einer Wettbewerbsbeschränkung als negatives Abweichen von einem funktionierenden Wettbewerbsprozess genähert werden. Ausgangspunkt ist, dass der Tatbestand des Art. 101 Abs. 1 AEUV mehr verlangt als die Vornahme der Tathandlungen: eben jene bezweckte oder bewirkte Wettbewerbsbeschränkung. Die Koordination des Marktverhaltens, die Pflichtverletzung das Selbständigkeitspostulat betreffend, genügt nicht. Der „Wettbewerb“ als Schutzgut muss vielmehr tatsächlich – und zwar spürbar423 – berührt sein.424 Die Maßnahme muss Auswirkungen auf Dritte, den Markt, bezwecken oder bewirken.425 Davon geht auch der EuGH426 aus, indem er auf den Vergleichsmaßstab der Marktbedingungen abstellt.427 421 EuGH, Urt. v. 30. 6. 1966, Rs. 56/65 – LTM/Maschinenbau Ulm, Slg. 1966, 282, 303 f.; Urt. v. 10. 7. 1980, Rs. 99/79 – Lancôme/Etos, Slg. 1980, 2511, 2536 f. Rn. 24; Urt. v. 11. 12. 1980, Rs. 31/80 – L’Oréal/De Nieuwe AMCK, Slg. 1980, 3775, 3792 Rn. 19; EuG, Urt. v. 27. 10. 1994, Rs. T-34/92 – Fiatagri New Holland Ford/Kommission, Slg. 1994, II-905, II-933 Rn. 49; Urt. v. 27. 10. 1994, Rs. T-35/92 – Deere/Kommission, Slg. 1994, II-957, II-986 ff. Rn. 51 f.; Urt. v. 2. 5. 2006, Rs. T-328/03 – O2 (Germany)/Kommission, Slg. 2006, II-1231, II-1254 Rn. 67 ff.; Eilmannsberger, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 101 AEUV Rn. 58; Stockenhuber, in: G/H/N, Das Recht der Union, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 124 [47. Lfg: April 2012]. Bei einer bezweckten Wettbewerbsbeschränkung müssen diese Auswirkungen freilich nicht nachgewiesen werden; siehe dazu sogleich S. 310 f. 422 Fuchs, ZWeR 2007, 369, 372 f. 423 Dazu noch sogleich S. 308 ff. 424 Damit fügt sich Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. 1 Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV in die Struktur deutscher Pflichtdelikte ein. Diese verlangen neben der Pflichtverletzung auch stets als „Erfolg“ zumindest eine abstrakte Gefährdung des geschützten Rechtsguts; vgl. Hoyer, in: Rudolphi/Horn/Samson, SK, StGB, Bd. I, § 25 Rn. 22 ff. [32. Lfg.: März 2000]. 425 Das Meinungsbild ist gespalten. Solche Drittwirkungen lassen genügen EuGH, Urt. v. 11. 9. 2008, Rs. C-279/06 – CEPSA, Slg. 2008, I-6681, I-6734 Rn. 43; EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1558 f. Rn. 126 f.; Kommission, Entsch. v. 10. 7. 1985, IV/31.029 – Frachtenregelung in der französischen Binnenschiffahrt: EATE-Beitrag, ABl. 1985 L 219, S. 35, 41 Rn. 47; dies., Leitlinien zu Art. 81 Abs. 3 EGVertrag, ABl. 2004 C 101, S. 97, 99 Rn. 16; Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 38; de Bronett, in: Schulte/Just, KartellR, Art. 101 AEUV Rn. 48; Eilmannsberger, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 101 AEUV Rn. 53 ff.; Frenz, Hdb. Europarecht, Bd. 2: Europ. KartellR, Rn. 891; Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 181. Andere sehen sie als kumulative Voraussetzung, die zur Beschränkung der Handlungsfreiheit der Beteiligten hinzutritt; Gleiss/Hirsch, EG-WettbR, Bd. 1, Art. 85 (1) EG Rn. 136; Lübbig, in: Wiedemann, Hdb. des KartellR, § 7 Rn. 21; Paschke, in: Hirsch/Montag/
C. Wettbewerbsbeschränkung bezwecken oder bewirken
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Die Wettbewerbsbeschränkung kann hingegen nicht in der Einschränkung der Handlungsfreiheit der an der Koordination beteiligten Unternehmen liegen, da bei Verhaltensabstimmungen mangels faktischer oder gar rechtlicher Verbindlichkeit428 eine solche gerade nicht erforderlich ist.429 Zudem wäre die Alternative des Bezweckens für die Tathandlungen der Vereinbarungen und Beschlüsse und damit für einen wesentlichen Anwendungsbereich der Norm überflüssig. Diese verstoßen nur gegen das Selbständigkeitspostulat, wenn sie in seinem Sinne verbindlich sind.430 Wäre nun die Selbstbindung maßgeblich für die Beurteilung einer Wettbewerbsbeschränkung, wäre mit dem Abschluss der Vereinbarung bereits die Wettbewerbsbeschränkung bewirkt. Des Weiteren kann auch nur durch die Berücksichtigung von Auswirkungen auf Dritte die der Integrationsfunktion der Wettbewerbsvorschriften nachkommende Verhinderung von Abschottungswirkungen sowie der internationale Anwendungsbereich nach dem sog. Auswirkungsprinzip431 beurteilt werden. Das gefundene Ergebnis belegt schließlich auch das Regelbeispiel einer Wettbewerbsbeschränkung nach Art. 101 Abs. 1 Hs. 2 lit. d AEUV. In Bezug auf die Absprache,432 unterschiedliche Bedingungen bei gleichwertigen Leistungen gegenüber Dritten anzuwenden, stellt das Gesetz darauf ab, dass diese dritten Handelspartner „im Wettbewerb benachteiligt werden“. Das Kriterium der Beschränkung der beteiligten Unternehmen in ihrer Handlungsfreiheit ergibt sich auch nicht aus dem Selbständigkeitspostulat. Es erfasst nur eine der beiden tatbestandlich gleichwertigen Alternativen seiner Verletzungen. Der Tatbestand verlangt vielmehr ausweislich des Normtextes nur für „Vereinbarungen“ Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 81 EG Rn. 88 ff.; vgl. auch Fuchs, ZWeR 2007 369, 373; Stockenhuber, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 122 [47. Lfg.: April 2012]. Ausschließlich auf Drittwirkungen abstellend Böse, in: Graf/Jäger/Wittig, Wirtschaftsund Steuerstrafrecht, Art. 23 KartellVO 1/2003 Rn. 18; Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/ Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 296 ff. [68. Lfg.: Mai 2009]. Einigkeit besteht allerdings insoweit, dass das Merkmal der Spürbarkeit die Auswirkungen auf den Markt berücksichtigt; dazu sogleich S. 305 und S. 308 ff. 426 EuGH, Urt. v. 16. 2. 1975, verb. Rs. 40 bis 48, 50, 54 bis 56, 111, 113 und 114/73 – Suiker Unie und andere/Kommission, Slg. 1975, 1663, 1942 Rn. 26/28; Urt. v. 14. 7. 1981, Rs. 172/80 – Züchner/Bayerische Vereinsbank, Slg. 1981, 2021, 2031 f. Rn. 14; Urt. v. 28. 5. 1998, Rs. C-7/ 95 P – Deere/Kommission, Slg. 1998, I-3111, I-3163 Rn. 87; Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-49/92 P – Kommission/Anic Partecipazioni, Slg. 1999, I-4125, I-4202 Rn. 117. 427 So auch Fuchs, ZWeR 2007, 369, 372 f. 428 Allg. M.; siehe die Nachw. in Teil 3 Fn. 160. 429 So auch Böse, in: Graf/Jäger/Wittig, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, Art. 23 KartellVO 1/2003 Rn. 18; Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 306 [68. Lfg.: Mai 2009]; vgl. auch Fuchs, ZWeR 2007, 369, 372. Siehe bereits oben S. 269. 430 Dazu bereits oben S. 251 f., insb. Teil 3 Fn. 281. 431 Näher zum sog. Auswirkungsprinzip etwa Bunte, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Einl. Rn. 54 ff.; Schnyder, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Einl. Rn. 846 ff. 432 Dazu, dass Art. 101 Abs. 1 Hs. 2 lit. d AEUV ausschließlich die auf einer Kollusion und nicht bloß einseitige Diskriminierung erfasst, siehe bereits oben S. 261.
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
und „Beschlüsse“ gem. Art. 101 Abs. 2 AEUV ihre Verbindlichkeit,433 für Abstimmungen hingegen eine Umsetzung am Markt („Verhaltensweisen“). Die Tathandlungen sind erst dann geeignet, den Wettbewerb zu beschränken, mithin eine Gefahr für den Wettbewerbsprozess i.S.d. Art. 101 Abs. 1 AEUV. Erst die Verbindlichkeit der Abrede bzw. die Vornahme der Verhaltensabstimmung reduziert die wettbewerblichen Risiken, die mit der allseitig ausgeübten Autonomie am Markt verbunden sind. Diese Eignung ist die gemeinsame Mindestvoraussetzung des Bezweckens oder Bewirkens.434 Für das Merkmal der Wettbewerbsbeschränkung lässt sich damit rückschließen, dass dieses – im Falle des Bewirkens tatsächlich eingetrene, im Falle des Bewirkens dem Wesen nach in der Abrede angelegte – Auswirkungen auf den Markt erfasst, vermittelt durch Bindungen der Marktteilnehmer („Vereinbarungen“, „Beschlüsse“) oder ihres koordinierten Verhaltens („aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen“). Die Verletzung des Selbständigkeitspostulats durch die Tathandlungen muss mithin geeignet sein, negative Auswirkungen auf den Markt zu vermitteln. b) Einschränkung Dritter in ihrer Handlungsfreiheit Nun stellt sich aber die Frage, wie solche Drittwirkungen auf dem Markt zu ermitteln sind. Nach dem more economic approach sollen Marktparameter Auskunft geben.435 Maßgeblich sei allein, ob die Effizienz des Wettbewerbs verringert wird, ob also die Kollusion die Verbraucherwohlfahrt negativ beeinflusst.436 Allerdings sind wirtschaftliche Kriterien wie gesehen437 nur insoweit heranzuziehen wie es die gesetzlichen Merkmale erlauben. Die Norm gibt die relevanten Beurteilungskriterien selbst vor. So stellt auch Art. 101 Abs. 1 AEUV formale, rechtliche Kriterien zur Beurteilung einer Wettbewerbsbeschränkung im Sinne von Drittwirkungen auf den Markt bereit. Dabei ist erneut die Integrationsfunktion der Wettbewerbsvorschriften heranzuziehen. Ausgehend vom Funktionszusammenhang im Binnenmarkt wurde gezeigt, 433
Dazu siehe bereits oben S. 251 f., insb. Teil 3 Fn. 281. Zur Eignung als Voraussetzung des Bezweckens etwa EuG, Urt. v. 10. 3. 1992, Rs. T-13/ 89 – ICI/Kommission, Slg. 1992, II-1021, II-1126 Rn. 293; Dannecker/Fischer-Fritsch, Das EG-Kartellrecht in der Bußgeldpraxis, S. 15; Starke, Die Bußgeldtatbestände des deutschen Kartellstrafrechts und ihre Anwendung im Rahmen des Kartellrechts der EG, S. 137; W. Weiß, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 101 AEUV Rn. 106. Dem Bewirken indes, das den tatsächlichen Eintritt einer Wettbewerbsbeschränkung verlangt, ist die Eignung denklogisch immanent. Vgl. auch Schröter/Voet van Vormizeele, in: Schröter/Jakob/Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Art. 101 AEUV Rn. 76. 435 Dazu bereits einleitend S. 51 ff. 436 Kommission, Leitlinien zur Anwendbarkeit von Artikel 101 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit, ABl. 2011 C 11, S. 1, 8 ff. Rn. 23 ff.; dies., Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag, ABl. 2004 C 101, S. 97, 100 Rn. 24 ff. 437 S. 51 ff. 434
C. Wettbewerbsbeschränkung bezwecken oder bewirken
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dass die Wettbewerbsvorschriften die Handlungsfreiheiten der Unternehmen im Binnenmarkt auch vor Beeinträchtigungen von Marktteilnehmern absichern sollen.438 Damit soll die Funktionierensvoraussetzung wirksamen Wettbewerbsprozesses gewährleistet werden. Der Schutz der Handlungsfreiheit der Marktteilnehmer ist damit Mittel zum Schutz des Wettbewerbs. Das einzelne Unternehmen soll auch nach Abbau der staatlichen Handelsbeschränkungen im Wettbewerb seine Marktfreiheiten frei ausüben können.439 Für diesen Ansatz spricht auch der Wortlaut. Dieser verlangt eine Einschränkung des „Wettbewerbs“. Wie gesehen440 bildet dieser das Produkt der Handlungsfreiheiten aller Marktteilnehmer ab und beschränkt sich nicht auf die Parteien der Vereinbarung. Ferner kann sich das allgemein anerkannte, ungeschriebene Merkmal der Spürbarkeit allein auf die Auswirkungen auf Dritte beziehen.441 Schließlich wird verbreitet442 eine Wettbewerbsbeschränkung angenommen, wenn je nach Fallgruppe entweder eine Verhaltensbindung der an der Kollusion beteiligten Unternehmen oder eine Einschränkung Dritter in ihren Handlungsmöglichkeiten am Markt vorliegt. Diese wahlweise Begründung lässt sich darauf zurückführen, dass die das Selbständigkeitspostulat verletzende Selbstbindungen der beteiligten Unternehmen – wenn es sich also um eine Vereinbarung oder einen Beschluss handelt – nur das Spiegelbild der Einschränkungen der Handlungsfreiheiten Dritter darstellen.443 Setzen zwei Wettbewerber in einer horizontalen Absprache den Preis fest, entfällt ein Preiswettbewerb zwischen ihnen und die Marktgegenseite verliert in den beteiligten Unternehmen Ausweichmöglichkeiten, um den erhöhten Preis zu umgehen. Im vertikalen Verhältnis verlieren die Wettbewerber eines Unternehmens, das mit Unternehmen des nachgelagerten Marktes 438
Siehe oben S. 266 ff. Vgl. EuGH, Urt. v. 30. 7. 1966, verb. Rs. 56 und 58/64 – Consten und Grundig/Kommission, Slg. 1966, 322, 388; Emmerich, in: Dauses, Hdb. des EU-WirtschaftsR, Bd. 2, H. I. § 2 Rn. 39 [28. Lfg.: Juni 2011]; Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 2 [67. Lfg.: Januar 2009]; Schröter/Voet van Vormizeele, in: Schröter/Jakob/Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Art. 101 AEUV Rn. 74 f. 440 S. 269. 441 Vgl. Kommission, Entsch. v. 8. 7. 1965, IV/A-03036 – D.R.U.-Blondel, ABl. 1965, S. 2194, 2195; Entsch. v. 21. 12. 1976, IV/28.812 – Theal-Watts, ABl. 1977 L 39, S. 19, 24; Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 142; Fuchs, ZWeR 2007, 369, 373; Mestmäcker/Schweitzer, Europ. WettbR, § 10 Rn. 80. Zum Merkmal der Spürbarkeit siehe noch unten S. 308 ff. 442 Siehe die Nachw. in Teil 3 Fn. 425, die Drittwirkungen genügen lassen, zumeist aber auf die Beeinträchtigung der Handlungsfreiheit der beteiligten Unternehmen abstellen (so insbesondere Bechtold/Bosch/Brinker, EU-KartellR, Art. 101 AEUV Rn. 81; Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 116; ders., in: Dauses, Hdb. des EU-WirtschaftsR, Bd. 2, H. I. § 2 Rn. 39 [28. Lfg.: Juni 2011]; W. Weiß, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 101 AEUV Rn. 101). 443 Vgl. zum Zusammenfallen von Selbstbindung und Einschränkung Dritter in ihrer Handlungsfreiheit auch Stockenhuber, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 122 a.E.; W. Weiß, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 101 AEUV Rn. 100 f. 439
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Ausschließlichkeitsvereinbarungen trifft, sie sich mithin in ihrem zukünftigen Marktverhalten, der Auswahl ihres Vertragspartners, binden, Vertriebsmöglichkeiten. Bei aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen ist diese Verbindung zwischen der Einschränkung Dritter in ihrer Handlungsfreiheit und der Selbstbindung der beteiligten Unternehmen hingegen nicht gegeben. So setzt auch das Gesetz sie nicht voraus. Maßgeblich sind somit allein die Drittwirkungen. Art. 101 Abs. 1 AEUV stellt die Auswirkungen der Verletzung des Selbständigkeitspostulats durch eine Umsetzung der Kollusion im Marktverhalten gleichwertig daneben. So verlangt der Tatbestand als Bindeglied zwischen den Tathandlungen (der Verletzung des Selbständigkeitspostulats) und den Marktauswirkungen in Form der Beschränkung der Handlungsfreiheit Dritter (Wettbewerbsbeschränkung) auch für die aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen einzig ein Bezwecken oder Bewirken. c) Die neuere Entwicklung durch den more economic approach Abschließend ist noch einmal auf die Bewertung des nach überwiegend an der Verbraucherwohlfahrt orientierten Effizienzkriterien gerichteten more economic approach der Kommission zurückzukommen. Die danach zu berücksichtigenden Kriterien wie die Marktmacht der Unternehmen444 oder eine Abwägung der wettbewerblichen Vor- und Nachteile der Maßnahme bereits in Art. 101 Abs. 1 AEUV445 stoßen im Schrifttum auf Kritik.446 Soweit dieser Ansatz trotz des weiten und für ökonomische Gesichtspunkte offenen Wortlauts der Gesetzessystematik zuwiderläuft, in den genannten Beispielen etwa der Maßgeblichkeit der Marktmacht allein für Art. 102 AEUV sowie der Existenz des Art. 101 Abs. 3 AEUV, ist diese Kritik berechtigt.447 Zudem dürfen diese normexternen Effizienzkriterien nur herangezogen werden, solange sie zur Beurteilung der Einschränkung Dritter in ihrer Handlungsfreiheit dienen. Letzteres Kriterium lässt sich im Wege teleologischer Auslegung allein der Norm entnehmen. Innerhalb dieses gesetzlichen Rahmens ist die Norm offen für wirtschaftliche Kriterien wie die des more economic approachs. Die Bewertung ist zum Zwecke dieser Arbeit nicht weiter zu vertiefen. Der more economic approach betrifft hier nur die Ermittlung der Marktauswirkungen zur Begründung einer Wettbewerbsbeschränkung. Die Bedeutung des Selbständigkeits-
444 Kommission, Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag, ABl. 2004 C 101, S. 97, 101 Rn. 26. Vgl. auch de Bronett, in: Schulte/Just, KartellR, Art. 101 AEUV Rn. 48 f. 445 Absage durch EuG, Urt. v. 2. 5. 2006, Rs. T-328/03 – O2 (Germany)/Kommission, Slg. 2006, II-1231, II-1254 Rn. 69; siehe bereits zuvor EuGH, Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-235/92 P – Montecatini/Kommission, Slg. 1999, I-4539, I-4618 Rn. 133; EuG, Urt. v. 23. 10. 2003, Rs. T-65/98 – Van den Bergh Foods/Kommission, Slg. 2003, II-4653, II-4701 Rn. 106 f. 446 Etwa Emmerich, in: Dauses, Hdb. des EU-WirtschaftsR, Bd. 2, H. I. § 2 Rn. 40 [28. Lfg.: Juni 2011]; Fuchs, ZWeR 2007, 369, 385 f. 447 Zur methodischen Bewertung des more economic approach siehe bereits oben S. 52 f.
C. Wettbewerbsbeschränkung bezwecken oder bewirken
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postulats lässt er indes unberührt.448 Zudem war zu unterstellen, dass die Kartellabrede unter den Kartellanten gegen das Kartellverbot verstößt. Damit liegt jedenfalls eine Wettbewerbsbeschränkung vor. d) Zwischenergebnis, insb. der Bezug zur Fallgruppe der Kartellgehilfen Neben der Verletzung des Selbständigkeitspostulats spricht der Tatbestand folglich mit dem Merkmal der Wettbewerbsbeschränkung auch die Auswirkungen jener Pflichtverletzung auf dritte Marktteilnehmer an. Ein Verstoß gegen die Pflicht der Unternehmen, ihr eigenes Marktverhalten autonom zu bestimmen, gefährdet das Schutzgut Wettbewerb nur, wenn der Kollusion seitens der Unternehmen Bindung zugesprochen wird oder bereits Ausdruck im Wettbewerbsverhalten gefunden hat. Für ersteren Fall kann die Wettbewerbsbeschränkung auch spiegelbildlich in der Selbstbindung der Unternehmen gesehen werden, für die Tathandlung der aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen fällt dieser Anknüpfungspunkt hingegen weg. Im Schrifttum wird das Selbständigkeitspostulat verbreitet449 nur punktuell bei der Abgrenzung der „aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen“ vom zulässigen Parallelverhalten als auch bei der Bestimmung der Wettbewerbsbeschränkung herangezogen. Diese Aufspaltung zwischen den Tathandlungen leuchtet nicht ein. Hier sollte skizziert werden, dass das Selbständigkeitspostulat als tragender Auslegungsgrundsatz für alle Tathandlungen einheitlich fruchtbar zu machen ist. Es beschreibt die in den Tathandlungen liegende Pflichtverletzung der Unternehmen. Die Tathandlungen sind dabei tatbestandlich so gefasst, dass – durch die beigemessene Bindung (arg. ex Art. 101 Abs. 2 AEUV) bzw. die Umsetzung am Markt („Verhaltensweisen“) – die Eignung, den Wettbewerb zu beschränken, angelegt ist. Jede Wettbewerbsbeschränkung i.S.d. Art. 101 Abs. 1 AEUV ist damit durch einen Verstoß gegen das Selbständigkeitspostulat vermittelt. Dessen Gehalt ist aber nicht darauf beschränkt, sondern erfasst die Beschränkung Dritter in ihrer Handlungsfreiheit. In der Fallgruppe der Kartellgehilfen ist indes das Vorliegen einer Wettbewerbsbeschränkung zu unterstellen. In der Regel wird es sich bei der Kartellabrede unter den Kartellanten um eine sog. Kernbeschränkung (sog. hardcore-Kartell) handeln. Im Dienstvertrag liegt hingegen wie gesehen450 keine Verletzung des Selbständigkeitspostulats, die die wettbewerblichen Risiken reduziert und sich so in einer Wettbewerbsbeschränkung niederschlagen kann. Unterstellt man entgegen hier vertretener Auffassung den Dienstvertrag als taugliche Tathandlung – immerhin 448 Kommission, Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag, ABl. 2004 C 101, S. 97, 98 Rn. 14 f.; Fuchs, ZWeR 2007, 369, 372 f. 449 Statt vieler Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 81 EG Generelle Prinzipien Rn. 109, 113, 175 ff.; Kling/Thomas, KartellR, § 4 Rn. 55, 69; Schröter/Voet van Vormizeele, in: Schröter/Jakob/Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Art. 101 AEUV Rn. 56, 74 f. 450 S. 278 f.
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stellt er nach dem Wortlaut eine „Vereinbarung“ dar, an die der Kartellgehilfe als Partei beteiligt ist –, so könnte diese allerdings mit der durch die Kartellabrede unter den Kartellanten vermittelten Wettbewerbsbeschränkung zusammen gezogen werden. Nachdem das erforderliche Ausmaß einer solchen Wettbewerbsbeschränkung betrachtet wurde, ist daher das Verhältnis des Dienstvertrages zu dieser Wettbewerbsbeschränkung zu vertiefen, das der gesetzliche Tatbestand mit den Worten „bezwecken oder bewirken“ umschreibt.
II. Spürbarkeit Ebenfalls zu unterstellen ist, dass die Kartellabrede unter den Kartellanten spürbare Auswirkungen auf den Markt zeitigt. 1. Die Bedeutung dieses ungeschriebenen Kriteriums Das ungeschriebene Kriterium der Spürbarkeit ist dabei allgemein anerkannt451 und nimmt bei der Auslegung des Art. 101 Abs. 1 Hs. 1 AEUV eine Doppelfunktion ein. Sie erlangt Bedeutung sowohl für die Beurteilung einer Wettbewerbsbeschränkung als auch der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels.452 Da bereits die Prüfung der „Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts“ wie gesehen453 die Betrachtung der Auswirkungen auf Dritte und den Markt verlangt, ist mit dem Kriterium der Spür-
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EuGH, Urt. v. 30. 6. 1966, Rs. 56/65 – LTM/Maschinenbau Ulm, Slg. 1966, 281, 303 f.; Urt. v. 9. 7. 1969, Rs. 5/69 – Völk/Vervaecke, Slg. 1969, 295, 302 Rn. 7; Urt. v . 6. 5. 1971, Rs. 1/ 71 – Cadillon/Höss, Slg. 1971, 351, 356 Rn. 7/10; Urt. v. 25. 11. 1971, Rs. 22/71 – Béguelin Import/G. L. Import Export, Slg. 1971, 949, 960 Rn. 16/18; Urt. v. 28. 5. 1998, Rs. C-7/95 P – Deere/Kommission, Slg. 1998, I-3111, I-3160 Rn. 77; Urt. v. 21. 1. 1999, verb. Rs. C-215/96 und C-216/96 – Bagnasco u. a., Slg. 1999, I-161, I-175 Rn. 34, I-178 f. Rn. 48 ff.; Urt. v. 12. 9. 2000, verb. Rs. C-180/98 bis C-184/98 – Pavlov u. a., Slg. 2000, I-6451, I-6525 Rn. 93 ff.; Kommission, Bekanntmachung über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, die den Wettbewerb gemäß Artikel 81 Absatz 1 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft nicht spürbar beschränken (de minimis), ABl. 2001 C 368, S. 13; Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 142 ff.; Fuchs, ZWeR 2007, 369, 386 ff.; Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 236 ff.; Lübbig, in: Wiedemann, Hdb. des KartellR, § 7 Rn. 42 ff.; Stockenhuber, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 219 ff. [47. Lfg.: April 2012]. 452 Bechtold/Bosch/Brinker, EU-KartellR, Art. 101 AEUV Rn. 103; Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 143; Lübbig, in: Wiedemann, Hdb. des KartellR, § 7 Rn. 41; Schröter/Voet van Vormizeele, in: Schröter/Jakob/Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Art. 101 AEUV Rn. 168; Stockenhuber, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 217 [47. Lfg.: April 2012]. 453 Soeben S. 301 ff.
C. Wettbewerbsbeschränkung bezwecken oder bewirken
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barkeit keine Erweiterung des Prüfungsprogramms verbunden.454 Die Spürbarkeit zieht vielmehr eine Erheblichkeitsschwelle zur Ausklammerung von Bagatellkartellen.455 Wie diese zu bestimmen ist, sind sich Gerichtshof und Kommission uneins. Während der EuGH eine Gesamtbewertung verschiedener Kriterien vornimmt,456 zieht die Kommission heute ausschließlich Marktanteile der betreffenden Unternehmen heran.457 Ebenso weicht die Kommission von der überkommenen Praxis ab, indem sie neuerdings zwischen dem Spürbarkeitserfordernis im Rahmen der Wettbewerbsbeschränkung und das der Zwischenstaatlichkeitsklausel trennt.458 In jedem Fall bestehen keine Bedenken hinsichtlich des nullum crimen-Grundsatzes, da das Spürbarkeitskriterium den Wortlaut zugunsten des Täters einschränkt. 2. Der relevante Markt Um allerdings die Auswirkungen auf den Markt und seine Marktteilnehmer bestimmen zu können, ist stets derselbe zunächst exakt zu identifizieren. Der relevante Markt wird in zeitlicher, sachlicher und räumlicher Hinsicht nach dem sog. Be-
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Fuchs, ZWeR 2007, 369, 388 f. („integraler Bestandteil der Wettbewerbsbeschränkung“); Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 236 („Insoweit ist die Spürbarkeit Bestandteil einer materiellen Definition der Wettbewerbsbeschränkung.“). Vgl. auch Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 144. 455 Emmerich, in: Dauses, Hdb. des EU-WirtschaftsR, Bd. 2, H. I. § 2 Rn. 61 [28. Lfg.: Juni 2011]; Fuchs, ZWeR 2007, 369, 368; Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 236 f.; Stockenhuber, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 217 [47. Lfg.: April 2012]. 456 EuGH, Urt. v. 1. 2. 1978, Rs. 19/77 – Miller/Kommission, Slg. 1978, 131, 150 f. Rn. 15 nennt Marktstellung des Unternehmens, Produktionsumfang, festgestellte Exporte und Preispolitik; Urt. v. 7. 6. 1983, verb. 100 bis 103/80 – Musique diffusion française/Kommission, Slg. 1983, 1825, 1900 f. Rn. 86 verweist neben den Marktanteilen auf eingeführte Marken, eine starke Untergliederung des Marktes sowie absolute Umsatzzahlen; Urt. v. 25. 10. 1983, Rs. 107/ 82 – AEG/Kommission, Slg. 1983, 3151, 3200 ff. Rn. 54 ff. berücksichtigt neben den Marktanteilen tatsächliche Paralleleinfuhren und die Bereitschaft dazu sowie technische Umrüstmöglichkeiten; EuG, Urt. v. 15. 9. 1998, verb. Rs. T-374/94, T-375/94, T-384/94 und T-388/94 – European Night Services u. a./Kommission, Slg. 1998, II-3141, II-3183 f. Rn. 102 f. verlangt eine über den Verweis auf die in den Leitlinien genannten Marktanteile hinausgehende Beggründung. Dazu Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 239 („Gesamtwürdigung“); Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 408 [68. Lfg.: Mai 2009] („nach Art eines ,bewegliches Systems‘“). 457 Kommission, Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag, ABl. 2004 C 101, S. 97, 101 Rn. 26. 458 Kommission, Bekanntmachung über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, die den Wettbewerb gemäß Artikel 81 Absatz 1 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft nicht spürbar beschränken (de minimis), ABl. 2001 C 368, S. 13 Rn. 3. Dazu Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 143; Mestmäcker/Schweitzer, Europ. WettbR, § 10 Rn. 85 f.; Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 397 [68. Lfg.: Mai 2009].
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
darfsmarktkonzept bestimmt.459 Den hier betroffenen Markt bildet dabei der Markt, auf dem die Kartellanten tätig sind.460 Dort entfaltet die Kartellabrede ihre negativen Auswirkungen. Weitere Fragen der Spürbarkeit wie der Wettbewerbsbeschränkung müssen als solche des Einzelfalles unbehandelt bleiben. Sie weisen keine Besonderheiten in der hier behandelten Fallkonstellation auf. Interessanter ist vielmehr die Frage, wie die Verbindung der Tathandlung des Kartellgehilfen, der Dienstvertrag, zur Wettbewerbsbeschränkung auf dem Heimatmarkt der Kartellanten beschaffen sein muss, das Bezwecken oder Bewirken.
III. „Bezwecken oder bewirken“ Nach dem Wortlaut des Art. 101 Abs. 1 Hs. 1 AEUV muss die Tathandlung eine Wettbewerbsbeschränkung „bezwecken oder bewirken“. Die Verbindung durch die Konjunktion „oder“ zeigt, dass die Merkmale alternativ anzuwenden sind.461 Kann die Wettbewerbsbeschränkung als Zweck der Maßnahme nachgewiesen werden, so bedarf es keiner Betrachtung ihrer tatsächlichen Auswirkungen mehr.462 Die Maßnahme ist bereits „ihrem Wesen nach“ geeignet, den Wettbewerb zu beschränken, sog. Kernbeschränkung.463 Das Kartellverbot stellt sich in dieser Variante als Ge459 Kommission, Bekanntmachung über die Definition des relevanten Marktes im Sinne des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaften, ABl. 1997 C 372, S. 5, 7 Rn. 15 ff.; Emmerich, KartellR, § 4 Rn. 60 ff.; Gonzales Díaz, in: L/M/R, KartellR, Art. 81 Abs. 1 EG Rn. 166 ff.; Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 251 ff.; Roth/Ackermann, in: Jaeger/ Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 369 ff. [68. Lfg.: Mai 2009]. 460 Diese Marktabgrenzung leistet die Vorarbeit für die sog. Drittmarktproblematik. Dazu noch eingehend S. 337 ff. 461 EuGH, Urt. v. 30. 6. 1966, Rs. 56/65 – LTM/Maschinenbau Ulm, Slg. 1966, 281, 303; Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 172, 224; Gonzales Díaz, in: L/ M/R, KartellR, Art. 81 Abs. 1 EG Rn. 161; Lübbig, in: Wiedemann, Hdb. des KartellR, § 7 Rn. 26. 462 EuGH, Urt. v. 30. 7. 1966, verb. Rs. 56 und 58/64 – Consten und Grundig/Kommission, Slg. 1966, 322, 390; Urt. v. 30. 1. 1985, Rs. 123/85 – BNIC/Clair, Slg. 1985, 391, 423 f. Rn. 22; Urt. v. 8. 7. 1999, Rs. C-49/92 P – Kommission/Anic Partecipazioni, Slg. 1999, I-4125, I-4197 Rn. 99; Urt. v. 21. 9. 2006, Rs. C-105/04 P – Nederlandse Federatieve Vereniging voor de Groothandel op Elektrotechnisch Gebied/Kommission, Slg. 2006, I-8725, I-8804 Rn. 125; Urt. v. 20. 11. 2008, Rs. C-209/07 – Beef Industry Development Society und Barry Brothers, Slg. 2008, I-8637, I-8682 Rn. 16; Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 175; Gonzales Díaz, in: L/M/R, KartellR, Art. 81 Abs. 1 EG Rn. 161; Hengst, in: Langen/ Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 233. 463 EuGH, Urt. v. 20. 11. 2008, Rs. C-209/07 – Beef Industry Development Society und Barry Brothers, Slg. 2008, I-8637, I-8683 Rn. 17; Urt. v. 4. 6. 2009, Rs. C-8/08 – T-Mobile Netherlands u. a., Slg. 2009, I-4529, I-4573 Rn. 29 („schon ihrer Natur nach“); Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag, ABl. 2004 C 101, S. 97, 100 Rn. 21; de Bronett, in: Schulte/Just, KartellR, Art. 101 AEUV Rn. 69; Hengst, in: Langen/Bunte, Kar-
C. Wettbewerbsbeschränkung bezwecken oder bewirken
311
fährdungstatbestand dar.464 Da nach dem Textbefund die Verhaltenskoordination, und nicht die Unternehmen, die Wettbewerbsbeschränkung bezwecken muss, ist der Zweck zudem objektiv zu bestimmen.465 Dies wird in anderen Sprachfassungen noch deutlicher.466 Die von den beteiligten Unternehmen beigemessene subjektive Zielrichtung, hier das angestrebte Unterstützen des Kartells durch die Parteien des Dienstvertrags, dient in der Praxis allenfalls als zusätzliches Indiz.467 Kann ein solcher wettbewerbswidriger Zweck nicht nachgewiesen werden, müssen die tatsächlichen Auswirkungen der Maßnahme betrachtet werden.468 „Bewirken“ bedeutet dabei lediglich verursachen.469 Der Wortlaut erfasst somit wie auch der des Bezweckens bloß mittelbare Kausalverläufe.470 Eine bewirkte Wettbewerbsbeschränkung ist mithin durch einen Vergleich mit der Wettbewerbssituation tellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 224; Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 312 [68. Lfg.: Mai 2009]. 464 GA Vesterdorf, Schlussanträge v. 10. 7. 1991, Rs. T-1/89 – Rhône-Poulenc/Kommission, Slg. 1991, II-869, II-922 f.; Kommissionsvortrag, in EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – ACTreuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1550 f. Rn. 107; Bechtold/Bosch/Brinker, EUKartellR, Art. 101 Rn. 79; Dannecker/Fischer-Fritsch, Das EG-Kartellrecht in der Bußgeldpraxis, S. 15; Emmerich, in: Dauses, Hdb. des EU-WirtschaftsR, Bd. 2, H. I. § 2 Rn. 81 [28. Lfg.: Juni 2011]; Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 224; Schröter/Voet van Vormizeele, in: Schröter/Jakob/Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Art. 101 AEUV Rn. 120; Stockenhuber, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 143 [47. Lfg.: April 2012]. Zur Eignung, den Wettbewerb zu beschränken, siehe bereits oben S. 304. 465 Allg. M.; siehe die Nachw. in Teil 3 Fn. 206. 466 J. Koch, ZWeR 2009, 370, 373. Vgl. die Wortwahl „object“ im Englischen, „objet“ im Französischen, „oggetto“ im Italienischen oder „objeto“ im Spanischen. Zur grammatikalischen Auslegung bei Mehrsprachenauthentizität siehe oben S. 44 f. 467 Vgl. EuGH, Urt. v. 8. 11. 1983, verb. Rs. 96 bis 102, 104, 105, 108 und 110/82 – IAZ/ Kommission, Slg. 1983, 3369, 3411 Rn. 23 ff.; Urt. v. 6. 4. 2006, Rs. C-551/03 P – General Motors/Kommission, Slg. 2006, I-3173, I-3223 Rn. 77 f.; Urt. v. 4. 6. 2009, Rs. C-8/08 – TMobile Netherlands u. a., Slg. 2009, I-4529, I-4573 Rn. 27; Urt. v. 6. 10. 2009, verb. Rs. C-501/ 06 P, C-513/06 P, C-515/06 P und C-519/06 P – GlaxoSmitheKline u. a./Kommission, Slg. 2009, I-9291, I-9399 f. Rn. 58; Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 174; Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 317 [68. Lfg.: Mai 2009]. 468 EuGH, Urt. v. 30. 6. 1966, Rs. 56/65 – LTM/Maschinenbau Ulm, Slg. 1966, 282, 303; Urt. v. 28. 2. 1991, Rs. C-234/89 – Delimitis, Slg. 1991, I-935, I-984 Rn. 13; Urt. v. 28. 5. 1998, Rs. C-7/95 P – Deere/Kommission, Slg. 1998, I-3111, I-3160 Rn. 75; Bechtold/Bosch/Brinker, EU-KartellR, Art. 101 AEUV Rn. 81; Lübbig, in: Wiedemann, Hdb. des KartellR, § 7 Rn. 27; Mestmäcker/Schweitzer, Europ. WettbR, § 10 Rn. 64; Stockenhuber, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 145 [47. Lfg.: April 2012]. 469 Kunkel-Razum/Scholze-Stubenrecht/Wermke, Duden – Deutsches Universalwörterbuch, Stichwort „bewirken“. Zum Erfordernis der Kausalität zwischen der Maßnahme und der bewirkten Wettbewerbsbeschränkung siehe nur Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 234; Schröter/Voet van Vormizeele, in: Schröter/Jakob/Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Art. 101 AEUV Rn. 126; Stockenhuber, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 145 [47. Lfg.: April 2012]. 470 So auch Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 60 f.
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
ohne die fragliche Maßnahme zu ermitteln.471 Dies kann nur sinnvoll gelingen, wenn die Betrachtung den wirtschaftlichen und rechtlichen Kontext der Maßnahme sowie die Marktsituation einbezieht.472 Schon aus diesem Grund sind mittelbare Kausalverläufe umfasst. Verstärkend kann bei historischer Auslegung das Kartellverbot des Art. 65 § 1 EGKSV herangezogen werden. Sein Wortlaut erfasste ausdrücklich eine mittelbare Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des normalen Wettbewerbs.473 Schließlich setzt auch das Regelbeispiel des Art. 101 Abs. 1 Hs. 2 lit. a AEUV die mittelbare Festsetzung der An- oder Verkaufspreise oder sonstiger Geschäftsbedingungen der unmittelbaren gleich. Der Dienstvertrag zwischen Kartellgehilfe und Kartellanten regelt einen bloßen Leistungsaustausch. Isoliert betrachtet ist er kartellrechtlich unbedenklich. Ausschließlich für sich genommen bezweckt oder bewirkt er keine Wettbewerbsbeschränkung. Anders liegt es indes bei der gebotenen Inbezugnahme des Gesamtzusammenhangs. Insbesondere bei Berücksichtigung der Kartellabrede unter den Kartellanten wird eine Wettbewerbsbeschränkung zu bejahen sein. Das Merkmal des Bezweckens oder Bewirkens bietet somit einen zweiten Ansatzpunkt für eine Gesamtbetrachtung. Bei der Verhaltenszurechnung über die Figur der einheitlichen, komplexen und fortgesetzten Zuwiderhandlung konnte der Kartellgehilfe nicht in die Kartellabrede unter den Mandanten eingebunden werden.474 Hier geht es indes um die Berücksichtigung des wettbewerbswidrigen Zwecks oder der Wirkungen der Kartellabrede unter den Kartellanten bei der Prüfung des Dienstvertrags als Tathandlung. Zu fragen ist mithin, welche Umstände oder auch ihrerseits tatbestandliche Maßnahmen im Rahmen des Bezweckens oder Bewirkens zu berücksichtigen sind. Da der Dienstvertrag mangels eines darin liegenden Verstoßes gegen das Selbständigkeitspostulat keine tatbestandliche Tathandlung darstellt, handelt es sich im Folgenden nach hier vertretener Auffassung um eine rein hypothetische Prüfung.
471
Siehe bereits oben in und bei Teil 3 Fn. 421. Allg. M.; EuGH, Urt. v. 12. 12. 1967, Rs. 23/67 – Brasserie de Haecht, Slg. 1967, 525, 555; Urt.v. 16. 12. 1975, Rs. 40 bis 48, 50, 54 bis 56, 111, 113 und 114/73 – Suiker Unie und andere/Kommission, Slg. 1975, 1663, 2025 Rn. 548/549; Urt. v. 25. 11. 1971, Rs. 22/71 – Béguelin Import/G. L. Import Export, Slg. 1971, 949, 960 Rn. 13; Urt. v. 8. 11. 1983, verb. Rs. 96 bis 102, 104, 105, 108 und 110/82 – IAZ/Kommission, Slg. 1983, 3369, 3411 Rn. 23 ff.; EuG, Urt. v. 15. 9. 1998, verb. Rs. T-374/94, T-375/94, T-384/94 und T-388/94 – European Night Services u. a./Kommission, Slg. 1998, II-3141, II-3196 f. Rn. 136; Urt. v. 2. 5. 2006, Rs. T-328/ 03 – O2 (Germany)/Kommission, Slg. 2006, II-1231, II-1254 Rn. 66; Kommission, Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag, ABl. 2004 C 101, S. 97, 100 Rn. 22; Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 179; Fuchs, ZWeR 2007, 369, 377 f.; Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 234; Lübbig, in: Wiedemann, Hdb. des KartellR, § 7 Rn. 21; Mestmäcker/Schweitzer, Europ. WettbR, § 10 Rn. 64, 66. 473 Die gesamte Norm ist wörtlich wiedergegeben auf S. 249 f. (Teil 3 Fn. 153). 474 Siehe oben S. 280 ff. 472
C. Wettbewerbsbeschränkung bezwecken oder bewirken
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1. Das Problem: Die Weite des Wortlauts Während die Verbindung zwischen Koordinierung und Wettbewerbsbeschränkung bei der Kartellabrede unter den Kartellanten keine besonderen Schwierigkeiten aufwirft, steht, wer den Dienstvertrag entgegen der hier vertretenen Auffassung als taugliche Tathandlung ansieht,475 vor dem Problem eines ausschweifenden Tatbestandes. Dem Wortlaut des Bezweckens oder Bewirkens einer Wettbewerbsbeschränkung wie der Zwischenstaatlichkeitsklausel lassen sich keine einschränkenden Kriterien entnehmen. Das Bewirken erfasst nach seinem Wortlaut auch sämtliche vorgelagerte Kausalbeiträge, so etwa auch den Taxifahrer, der einen Kartellanten zum Kartelltreffen fährt476 oder den Caterer, der für das leibliche Wohl bei diesem Treffen sorgt.477 Dies ließe sich für weitere sozialadäquate Unterstützungsleistungen wie das gastgebende Hotel, etc. fortsetzen, ohne noch weiter vorgelagerte Beispiele zu nennen. Auch der Filter der Adäquanz,478 der nur ganz außergewöhnliche, objektiv nicht vorhersehbare Kausalverläufe ausscheidet, hilft hier nicht weiter. Selbst wenn stattdessen in den genannten Fällen eine einschränkende Korrektur über das Fehlen von Vorsatz und Fahrlässigkeit möglich ist, bliebe ein objektiver Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV bestehen.479 Die Nichtigkeit des zugrundeliegenden Vertrages nach Art. 101 Abs. 2 AEUV stelle aber jedenfalls eine unbillige Rechtsfolge dar.480 Damit gerät der Tatbestand insoweit in Konflikt zum strafrechtlichen Bestimmtheitsgebot (nullum crimen sine lege certa). Die Norm wäre danach noch bestimmt, wenn der verobjektivierte Normadressat aus der Norm selbst vorhersehen kann, welche anderen Maßnahmen einbezogen werden und die Wettbewerbsbe475 So Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 49 ff. Ebenso J. Koch, ZWeR 2009, 370, 372 ff., der erst beim Merkmal des Bezweckens oder Bewirkens Einschränkungen vornimmt, dazu sogleich S. 317 ff. 476 Beispiel nach J. Koch, ZWeR 2009, 370, 374. 477 Beispiel nach Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 65. 478 Allg. M.; Emmerich, in: I/M, WettbR4, Bd. I/1, Art. 81 Abs. 1 EG Rn. 238; Gleiss/ Hirsch, EG-KartellR, Bd. 1, Art. 85 (1) EG Rn. 166 f.; Müller-Graff, in: Hailbronner u. a., HK, EUV/EGV, Art. 85 EG Rn. 107 [2. Lfg.: Februar 1994]; Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 344 [68. Lfg.: Mai 2009]; Schröter, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 2, Art. 81 EG Rn. 129; ders., in: Jakob/Schröder/Mederer, Europ. WettbR, Art. 81 Abs. 1 Rn. 145; Stockenhuber, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 145 [47. Lfg.: April 2012]. Kommission, Entsch. v. 15. 7. 1975, IV/27.000 – IFTRA-Regeln für Hersteller von Hüttenaluminium, ABl. 1975 L 228, S. 3, 8 umschreibt dieses Adäquanzkriterium als „natürliche und wahrscheinliche Folge“; ähnlich auch die Abgrenzung zu „unvorhersehbare[n] Nebenfolgen“ durch Kommission, Entsch. v. 26. 7. 1976, IV/28.980 – Pabst & Richarz/BNIA, ABl. 1976, L 231, S. 24, 27. 479 Dazu bedarf es keiner Lösung des Problems der Normambivalenz. Liegt nach den strengen strafrechtlichen Grundsätzen ein (objektiver) Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV vor, dann sind dessen Voraussetzungen nach den anderen, grundsätzlich weniger strengen Grundsätzen ebenso erfüllt. 480 Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 65; J. Koch, ZWeR 2009, 370, 374.
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
schränkung vermitteln. Die Regelbeispiele des Art. 101 Abs. 1 Hs. 2 AEUV können nicht herangezogen werden, um das Merkmal des Bezweckens oder Bewirkens auszufüllen. Den Regelbeispielen kommt die Funktion zu, Anwendungsfälle eines Merkmals zu illustrieren.481 Dadurch können Rückschlüsse auf die unbestimmte Generalklausel gezogen werden. Allerdings füllen die Regelbeispiele der lit. a – e allein das Merkmal der „Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts“ und nicht das Verhältnis der Kollusion zur Wettbewerbsbeschränkung aus.482 Ebenso wenig führt es weiter, darauf zu verweisen, dass die hier letztlich die Wettbewerbsbeschränkung vermittelnde Absprache, die Kartellabrede unter den Kartellanten, eine eigene tatbestandsmäßige Maßnahme i.S.d. Kartellverbots darstellt. Das seinerseits tatbestandsmäßige Verhalten der Kartellanten kann den Zurechnungszusammenhang nicht unterbrechen.483 Eine Parallele zum sog. Regressverbot im deutschen Strafrecht, nach dem eine freie vorsätzliche Tat den Zurechnungszusammenhang unterbricht,484 kann nicht gezogen werden. Dessen Begründung ist in der Bestimmung der Sorgfaltspflicht zu sehen.485 Mangels einer Dogmatik von Täterschaft und Teilnahme im europäischen Kartellordnungswidrigkeitenrecht, muss eine systematische Abstimmung mit anderen Vorschriften – im deutschen Recht §§ 25, 26, 27 StGB – nicht beachtet werden.486 Allein Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV ist maßgeblich. Diese Bußgeldnorm stellt nicht nur Vorsatz und Fahrlässigkeit tatbestandlich gleich, sondern ist so weit formuliert, dass ihr ein Zurechnungsausschluss durch ihrerseits tatbestandsmäßige Handlungen Dritter nicht zu entnehmen ist. Ohnehin steht – anders als in den diskutierten Anwendungsfällen des sog. Regressverbots – eine deliktische Zusammenarbeit mit den Dritten in Frage. Um dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgebot zu genügen, ist eine weitere ungeschriebene Einschränkung zwingend erforderlich. Für eine Einschränkung des Tatbestandes sprechen auch die sachwidrigen Ergebnisse. Eine solche teleologische Reduktion findet sich auch bereits im ungeschriebenen Merkmal der Spürbarkeit,487
481 Vgl. Stockenhuber, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 176 [47. Lfg.: April 2012]. 482 Siehe bereits oben S. 251. 483 Zum Verhältnis zwischen obigem Adäquanzkriterium und der hier angesprochenen objektiven Zurechnung im dt. Strafrecht siehe etwa Puppe, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, NK, StGB, Bd. 1, Vor. §§ 13 ff. Rn. 255. 484 Dazu etwa Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor. §§ 13 Rn. 77, 100 ff.; Puppe, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, NK, StGB, Bd. 1, Vor. §§ 13 ff. Rn. 167 ff. jeweils m.w.N. 485 Freund, in: Joecks/Miebach, MüKo, StGB, Bd. 1, Vor. §§ 13 ff. Rn. 411 ff.; Puppe, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, NK, StGB, Bd. 1, Vor. §§ 13 Rn. 167. 486 Siehe bereits oben S. 257 f. 487 Ebenso Tsolka, Der allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 106 f.
C. Wettbewerbsbeschränkung bezwecken oder bewirken
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genügt aber nicht.488 Davon geht auch die Praxis aus. Wenn jegliche mittelbaren Kausalfaktoren genügten, d. h. sämtliche Umstände, ggf. sogar tatbestandsmäßige Handlungen, zu berücksichtigen wären, wäre das Bemühen der Praxis um eine Gesamtbetrachtung, etwa über die Verhaltenszurechnung im Rahmen einer einheitlichen, komplexen und fortgesetzten Zuwiderhandlung oder der Bündeltheorie, überflüssig. Sie ließe sich gerade ohne die dort aufgestellten Voraussetzungen vornehmen. Mit jenen Voraussetzungen der Rechtsprechung soll im Folgenden fortgefahren und ihr Vorliegen für die Fallgruppe der Kartellgehilfen überprüft werden. Sodann sind die im Schrifttum vorgeschlagenen einschränkenden Voraussetzungen zu untersuchen, bevor eine eigene Lösung zu entwickeln ist. Es ist dabei zu prüfen, ob die vorgeschlagenen Kriterien der Norm durch Auslegung zu entnehmen sind und so zur Bestimmtheit i.S.d. nullum crimen-Grundsatzes beitragen. Vermögen die Kriterien nicht den Tatbestand einzuschränken oder werden sie lediglich vom Rechtsanwender in die Norm hineingetragen, so müsste Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV mangels strafrechtlicher Bestimmtheit als Strafbarkeitsgrundlage für Kartellgehilfen verworfen werden. Gleichzeitig wäre neben den bereits aufgezeigten489 eine weitere „Lücke“ identifiziert, in die ergänzende Strafnormen oder die lex ferenda stoßen müsste. a) Die sog. Bündeltheorie der Rechtsprechung In Ausprägung der Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs der Maßnahme hat die Rechtsprechung zu vertikalen Absprachen die bereits oben490 angesprochene sog. Bündeltheorie entwickelt. Danach ist neben der fraglichen Maßnahme ergänzend die Existenz gleichartiger Verträge zwischen den Beteiligten sowie zwischen diesen und Dritten zu berücksichtigen. Auch wenn die fragliche Maßnahme für sich betrachtet unbedenklich sein mag, können erst die kumulativen Wirkungen eine spürbare Wettbewerbsbeschränkung begründen.491 Diese ist allerdings in einem zweiten Schritt nur denjenigen Beteiligten zuzurechnen, die mit ihren Einzelmaßnahmen dazu in „erheblichem Maße“ beitragen.492 Die Auswirkungen der Kartell488
Zur Spürbarkeit bereits oben S. 308 f. Zum Ausscheiden der drei möglichen Tathandlungen des Kartellgehilfen als tatbestandliche Tathandlungen siehe bereits oben S. 241 ff. 490 S. 293 f. 491 Siehe die Nachw. in Teil 3 Fn. 386. 492 EuGH, Urt. v. 28. 2. 1991, Rs. C-234/89 – Delimitis, Slg. 1991, I-935, I-986 f. Rn. 24; Urt. v. 7. 12. 2000, Rs. C-214/99 – Neste, Slg. 2000 I-11121, I-11148 f. Rn. 27; EuG, Urt. v. 8. 6. 1995, Rs. T-7/93 – Langnese-Iglo/Kommission, Slg. 1995, II-1533, II-1572 f. Rn. 99; Kommission, Entsch. v. 16. 6. 1999, IV/36.081/F3 – Bass, ABl. 1999 L 186, S. 1, 19 ff. Rn. 145 ff.; Bechtold/Bosch/Brinker, EU-KartellR, Art. 101 AEUV Rn. 84; Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 242; Hoffmann, in: Wiedemann, Hdb. des KartellR, § 9 Rn. 24; Mestmäcker/Schweitzer, Europ. WettbR, § 10 Rn. 74; Roth/Ackermann, in: Jaeger/ 489
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
abrede unter den Kartellanten könnten danach zusammen mit dem Dienstvertrag betrachtet werden. Dazu müssten allerdings die soeben genannten, allgemein anerkannten Voraussetzungen vorliegen. Unabhängig von der Frage, ob diese Rechtsprechung auf vertikale Absprachen beschränkt Anwendung findet,493 müsste es sich um „gleichartige Verträge“ handeln.494 Dies ist hier nicht der Fall. Die sog. Bündeltheorie hat typischerweise vertikale Vertragssysteme im Blick, die die Hersteller einsetzen, um eine einheitliche Vertriebs- und Absatzorganisation aufzubauen.495 Beispielhaft sind etwa flächendeckende Alleinvertriebsvereinbarungen.496 Die Kommission unterscheidet in ihren Leitlinien aber noch weitere Kategorien vertikaler Beschränkungen.497 Ungeklärt ist, ob sich das Merkmal der Gleichwertigkeit anhand dieser Einteilung bemisst.498 Bereits dieser Ansatz zeigt aber, dass Dienstvertrag und Kartellabrede unter den Kartellanten eindeutig nicht gleichartig sind. Der eine regelt einen Leistungsaustausch, der andere enthält die Willensübereinkunft zu koordiniertem Wettbewerbsverhalten. Zudem ist auch die zweite Voraussetzung fraglich. Die Kartellgehilfentätigkeiten müssten erheblich zur gesamten Wettbewerbsbeschränkung beitragen. Anders als die typischerweise erfassten Einzelteile der Vertriebsvertragssysteme sind die Hilfeleistungen isoliert gänzlich unbedenklich. Daher bleiben die Gehilfenleistungen unter der von der Rechtsprechung aufgestellten Erheblichkeitsschwelle.499 Die sog. Bündeltheorie vermag es mithin nicht, Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 349 [68. Lfg.: Mai 2009]. 493 Dazu Kommission, Bekanntmachung über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, die den Wettbewerb gemäß Artikel 81 Absatz 1 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft nicht spürbar beschränken (de minimis), ABl. 2001 C 368, S. 13, 14 Rn. 8; Gleiss/Hirsch, EG-KartellR, Bd. 1, Art. 81 (1) EG Rn. 163; Mestmäcker/Schweitzer, Europ. WettbR, § 10 Rn. 70. 494 EuGH, Urt. v. 12. 12. 1967, Rs. 23/67 – Brasserie de Haecht, Slg. 1967, 525, 556; Urt. v. 28. 2. 1991, Rs. C-234/89 – Delimitis, Slg. 1991, I-935, I-985 Rn. 19; Urt. v. 30. 4. 1998, Rs. C-230/96 – Cabour, Slg. 1998, I-2055, I-2101 Rn. 50; Urt. v. 7. 12. 2000, Rs. C-214/99 – Neste, Slg. 2000, I-11121, I-11148 Rn. 25 f.; Emmerich, in: Dauses, Hdb. des EU-WirtschaftsR, Bd. 2, H. I. § 2 Rn. 89 f. [28. Lfg.: Juni 2011]; Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 242; Kling/Thomas, KartellR, § 4 Rn. 105 ff. 495 Vgl. Mestmäcker/Schweitzer, Europ. WettbR, § 10 Rn. 69. 496 Siehe etwa EuGH, Urt. v. 28. 2. 1991, Rs. C-234/89 – Delimitis, Slg. 1991, I-935 (Bierlieferung); Urt. v. 7. 12. 2000, Rs. C-214/99 – Neste, Slg. 2000 I-11121 (Tankstellenbelieferung); EuG, Urt. v. 8. 6. 1995, Rs. T-7/93 – Langnese-Iglo/Kommission, Slg. 1995, II-1533 (Speiseeisbezug). 497 Kommission, Leitlinien für vertikale Beschränkungen, ABl. 2010 C 130, S. 1, 28 ff. Rn. 129 ff.: Neben dem Alleinvertrieb sind das der Markenzwang, die Kundenbeschränkung, der selektive Vertrieb, das Franchising, die Alleinbelieferung, die Vorauszahlung für den Zugang, die Produktgruppenmanagement-Vereinbarung, die Kopplungsbindung und die Beschränkung für den Weiterverkauf. 498 Emmerich, in: Dauses, Hdb. des EU-WirtschaftsR, Bd. 2, H. I. § 2 Rn. 90 [28. Lfg.: Juni 2011]; ders., in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 183. Dafür Kirchhoff, in: Wiedemann, Hdb. des KartellR, § 9, Rn. 23. 499 J. Koch, ZWeR 2009, 370, 375.
C. Wettbewerbsbeschränkung bezwecken oder bewirken
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die Auswirkungen der Kartellabrede unter den Kartellanten dem Dienstvertrag zuzurechnen. Sähe man den Dienstvertrag entgegen hier vertretener Auffassung als taugliche Tathandlung an,500 so wären sein Zweck oder Wirkung danach isoliert zu betrachten. b) Lösungsvorschläge in der Literatur Die Weite des Wortlautes wird auch in der Literatur als bedenklich angesehen.501 Ihr wird ohne ausdrücklichen Hinweis auf die rechtsstaatlichen Garantien mit einschränkenden Kriterien begegnet, um wettbewerblich unbedenkliche und damit nach Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 nicht strafwürdige Fallkonstellationen auszuscheiden. Die Behandlung des Kartellgehilfen divergiert dabei. aa) Der Dienstvertrag als akzessorische Wettbewerbsbeschränkung Zum einen wird der sachliche Bezug des Dienstvertrags zur Kartellabrede unter den Kartellanten betont und so deren Einbeziehung begründet. Der Dienstvertrag sei zwar isoliert betrachtet kartellrechtsneutral, in ihm sei aber eine die Durchsetzung der kartellrechtswidrigen Hauptverpflichtung, hier der Kartellabrede unter den Kartellanten, ermöglichende, erleichternde oder sichernde Abrede zu sehen.502 Diese akzessorischen Absprachen503 seien kartellrechtlich wie die Hauptverpflichtung zu behandeln.504 Dass es sich in der hier behandelten Fallkonstellation nicht um einzelne 500
Siehe die Nachw. in Teil 3 Fn. 475. Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 64 f.; Gleiss/Hirsch, EGKartellR, Bd. 1, Art. 85 (1) EG Rn. 154; J. Koch, ZWeR 2009, 370, 374. 502 So i.E. Gleiss/Hirsch, EG-KartellR, Bd. 1, Art. 85 (1) EG Rn. 172; Schröter, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 2, Art. 81 EG Rn. 137 f.; ders./Voet van Vormizeele, in: Schröter/Jakob/KlotzMederer, Europ. WettbR, Art. 101 AEUV Rn. 128 f.; ablehnend hingegen J. Koch, ZWeR 2009, 370, 375 (Fn. 17). 503 Nicht zu verwechseln sind die hier behandelten akzessorischen Wettbewerbsbeschränkungen mit der Fallgruppe der „Nebenabreden“ (sog. Immanenztheorie oder sog. ancillary restraints). Hier handelt es sich um isoliert betrachtet kartellrechtlich unbedenkliche Klauseln, die erst durch die in Bezug genommene Hauptpflicht gegen das Kartellverbot verstoßen. Ungeschriebene Ausnahmen vom Kartellverbot werden dort hingegen angenommen für an sich kartellrechtswidrige Absprachen, für die sich aber in der Gesamtbetrachtung mit verbundenen Klauseln, etwa eines Wettbewerbsverbots im Unternehmenskaufvertrag, ihre kartellrechtliche Unbedenklichkeit ergibt (dazu siehe nur EuGH, Urt. v. 11. 6. 1985, Rs. 42/84 – Remia/Kommission, Slg. 1985, 2545, 2571 Rn. 20; EuG, Urt. v. 18. 9. 2001, Rs. T-112/99 – M6 u. a./Kommission, Slg. 2001, II-2459, II-2498 Rn. 106; Kommission, Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag, ABl. 2004 C 101, S. 97, 101 f. Rn. 28 ff.; Emmerich, in: KartellR, § 4 Rn. 67 ff.). Dies scheint J. Koch, ZWeR 2009, 370, 375 (Fn. 17) zu übersehen. 504 EuGH, Urt. v. 25. 10. 1977, Rs. 26/76 – Metro/Kommission Slg. 1977, 1875, 1908 f. Rn. 27; Kommission, Entsch. v. 21. 12. 1976, IV/5715 – Junghans, ABl. 1977 L 30, S. 10, 14 Rn. 23; Entsch. v. 21. 12. 1983, IV/29.598 – SABA-EG-Vertriebssystem, ABl. 1983 L 376, S. 41, 46; Entsch. v. 10. 12. 1984, IV/30.299 – Grohe-Vertriebssystem, ABl. 1985 L 19, S. 17, 21 Rn. 17; Bechtold/Bosch/Brinker, EU-KartellR, Art. 101 AEUV Rn. 85; de Bronett, in: Schulte/Just, KartellR, Art. 101 AEUV Rn. 32; Gleiss/Hirsch, EG-KartellR, Bd. 1, Art. 85 (1) 501
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
Klauseln einer Gesamtabsprache zwischen denselben Unternehmen, sondern um eine Vereinbarung mit einem Dritten, dem Kartellgehilfen, handelt, sei unerheblich.505 Im Ergebnis führt diese Lösung somit zu einer Zurechnung und Gesamtbetrachtung. Dieser Ansatz kann nicht überzeugen. Eine ausdrückliche Regelung akzessorischer Wettbewerbsbeschränkungen findet sich nicht. Die hier angesprochenen die Kartellabrede absichernden Absprachen verstoßen mithin nur dann gegen das Kartellverbot, wenn sie den Tatbestand des Art. 101 Abs. 1 AEUV erfüllen. Sie stellen dem Wortlaut nach eine „Vereinbarung zwischen Unternehmen“ dar. Eine Verbindung mit der Hauptabrede lässt sich im Rahmen der bezweckten oder bewirkten Wettbewerbsbeschränkung mit den allgemeinen Grundsätzen begründen. Die sichernde Abrede ist – wie stets – in ihrem wirtschaftlichen und rechtlichen Zusammenhang zu beurteilen, in den sie sich einfügt.506 Aufgrund ihres inhaltlichen Bezugs steht dabei die Hauptabrede ganz im Mittelpunkt. Nicht übersehen werden darf aber, dass auch in der sichernden Abrede selbst ein Verstoß gegen das Selbständigkeitspostulat liegen muss.507 Sind die Parteien identisch, so liegt in der Absicherung immer auch zugleich eine Bestätigung der Hauptabrede und ein solcher Verstoß. Sichernde Absprachen zwischen den Parteien der Hauptabrede sind damit im Ergebnis tatsächlich kartellrechtlich wie die Hauptabrede zu behandeln. Insoweit kann von einer Akzessorietät ausgegangen werden.508 Unterschiede im Ergebnis stellen sich aber ein, wenn die sichernde Abrede mit einem dritten Unternehmen, wie hier im Dienstvertrag, getroffen wird. Zwar ist der Kartellgehilfe Partei des Dienstvertrages im oben509 beschriebenen Sinn, jedoch ist dieser keine tatbestandliche „Vereinbarung“ oder „aufeinander abgestimmte Verhaltensweise“. Es fehlt ihm gerade an der Verletzung des Selbständigkeitspostulats.510
EG Rn. 170 ff.; Schröter, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 2, Art. 81 EG Rn. 137; ders./Voet van Vormizeele, in: Schröter/Jakob/Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Art. 101 AEUV Rn. 128; Stockenhuber, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 147 [47. Lfg.: April 2012]. Eigenständige Prüfung der Kartellrechtswidrigkeit absichernder Abreden in Kommission, Entsch. v. 28. 9. 1981, IV/29.988 – Flachglas in Italien, ABl. 1981 L326, S. 32, 40; Entsch. v. 13. 7. 1983, IV/30.174 – VIMPOLTU, ABl. 1983 L 200, S. 44, 48 Rn 37. 505 Gleiss/Hirsch, EG-KartellR, Bd. 1, Art. 85 (1) EG Rn. 172; Schröter, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 2, Art. 81 EG Rn. 138; ders./Voet van Vormizeele, in: Schröter/Jakob/Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Art. 101 AEUV Rn. 129. 506 Siehe oben S. 293 f., 311 ff. 507 Zu dessen Herleitung ausführlich S. 264 ff. 508 In der Praxis wurde bislang, soweit ersichtlich, ausschließlich diese Konstellation unter dem Topos der akzessorischen Wettbewerbsbeschränkung behandelt; siehe die Nachw. in Teil 3 Fn. 504. Als Beispiel kann hier auch auf die Abrede unter den Kartellanten verwiesen werden, einen Kartellgehilfen einzuschalten; siehe dazu bereits oben in Teil 3 Fn. 390. 509 S. 241 ff. 510 Dazu bereits oben S. 278.
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An der kartellrechtswidrigen Hauptabrede, der Kartellabrede unter den Kartellanten, ist der Kartellgehilfe indes nicht als Partei beteiligt.511 Auch die Zurechnung der Beteiligung an der Kartellabrede unter den Kartellanten verlangt wie gesehen512 eine tatbestandsmäßige Zuwiderhandlung in eigener Person. Es darf nicht dem Zirkelschluss verfallen werden, die „fremde“ Abrede zur Begründung der eigenen Tatbestandsverwirklichung heranzuziehen. Das Ergebnis der Zurechnung darf nicht zur Erfüllung ihrer Voraussetzungen führen. Die vorgestellte Position vermag daher eine Strafbarkeit des Kartellgehilfen nicht zu begründen, sie bringt damit aber einmal mehr das Strafbedürfnis zum Ausdruck, auch den Kartellgehilfen zu sanktionieren. Sie weist darauf hin, dass die Einschaltung des Kartellgehilfen in seiner Person zu einer Umgehung des Kartellverbots führt. Allerdings bleibt die Tätigkeit des von ihnen eingeschalteten Kartellgehilfen den Kartellanten als Umsetzung ihrer Vereinbarung zuzurechnen.513 Auswirkungen der Unterstützung schlagen sich somit im Bußgeld der Kartellanten nieder. Es bleiben aber die erschwerte Aufdeckung und Verfolgung der Unternehmen als strafwürdige Umstände bestehen. bb) Heranziehen sachlicher Kriterien zur teleologischen Reduktion der mittelbaren Eignung bzw. mittelbaren Kausalität Zum anderen wird versucht, die Weite des Tatbestandes normativ einzugrenzen. Als einschränkendes Korrektiv stellt Bremer „auf eine Art ,inneren Sachzusammenhang‘ zwischen der zu bewertenden Maßnahme und dem Kartell ,an sich‘“ ab.514 Dieses der objektiven Zurechnung im Strafrecht vergleichbare Kriterium erfasse Tätigkeiten, „die typischerweise von Kartellanten durchgeführt, jedoch im Einzelfall an eine dritte Partei ,ausgelagert‘ werden.“515 Es müsse auf typisierenden Merkmalen aufbauen, um eine Fallgruppenbildung zu ermöglichen.516 In Anlehnung an das Vorbild der AC-Treuhand AG517 schlägt Bremer einen Kriterienkatalog vor, der u. a. die regelmäßige Organisation von Kartelltreffen, die Erstellung und zur Verfügungstellung von Statistiken zu den maßgeblichen Marktparametern, die Berechnung von Quotenüber- und -unterschreitungen, das Betreiben eines Ausgleichssystems zwischen den Kartellanten, die Aufbewahrung maßgeblicher Kartelldokumente, die Vermittlung bei Kartellstreitigkeiten, die Unterstützung bei der Geheimhaltung des Kartells sowie die zentrale Prüfung der kartellrelevanten Daten der
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Siehe oben S. 243 f. Oben S. 285 ff. 513 Dazu siehe bereits oben S. 279, 294 f. 514 Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 66. 515 Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 66. 516 Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 66. 517 Vgl. v. a. die Beschreibung ihrer Tätigkeit in Kommission, Entsch. v. 10. 12. 2003, COMP/E-2/37.857 – Organische Peroxide, Rn. 92. Dazu auch oben S. 32 f. 512
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
Kartellanten umfasst.518 Die Entscheidung über das Vorliegen eines „inneren Sachzusammenhangs“ bedürfe dabei einer Beachtung sämtlicher Einzelkriterien („Indizienbündel“).519 Es entstünde „eine Art ,bewegliches System‘ mit Einzelkriterien“,520 das eine hohe Flexibilität ermöglicht,521 was wiederum dem effet utile gerecht würde.522 Zudem könne sozialadäquates Verhalten, wie etwa die oben beschriebenen Taxifahrten oder Catering-Dienstleistungen, aus dem Tatbestand ausgeschieden werden.523 Die Ausrichtung auf Einzelbetrachtungen sowie die dadurch erreichte Flexibilität wird allerdings auf Kosten der Bestimmtheit gewonnen. In Gestalt des Herausbildens von Fallgruppen ist dieser Ansatz auf die Entwicklung durch die Rechtsprechung angewiesen. Die Kriterien entspringen allein der „Willkür“ des Rechtsanwenders, namentlich zunächst der Kommission und des EuG, dann aufbereitet von Bremer. Sie finden indes keinen Anker im gesetzlichen Tatbestand. Das vertauscht aber die durch das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip vorgesehenen Rollen. Die Etablierung der vorgeschlagenen Kriterien zur Einschränkung eines mittelbaren Bezweckens oder Bewirkens kann den Gesetzgeber nicht ersetzen.524 Dieser selbst hat abstrakt-generell über die Strafbarkeit zu entscheiden. Dem kommt er (nur) nach, wenn er die wesentlichen Strafbarkeitsvoraussetzungen gesetzlich festschreibt.525 An einer gesetzlich bestimmten Strafbarkeit fehlt es in Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/ 2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV in dieser Auslegung in Bezug auf die Merkmale der bezweckten oder bewirkten Wettbewerbsbeschränkung. So bedeutend die Rolle der Rechtsprechung zur Bestimmbarkeit von Strafnormen auch ist,526 sie vermag es nicht, eine einmal unbestimmte Norm durch stetige Anwendung und Konkretisierung wieder aufleben zu lassen.527 Jedenfalls das erste, die Konkretisierung beginnende Urteil erginge auf einer unbestimmten Rechtsgrundlage. Wer im Dienstvertrag eine taugliche Tathandlung sieht, müsste mithin Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV, insoweit er das mittelbare Bezwecken oder Bewirken betrifft, für unbestimmt halten. Der Rechtsanwender, einschließlich der Gerichte, darf nicht korrigierend eingreifen. Die Vorhersehbarkeit ihrer Entschei518 Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 66 f. Aufgrund der Anknüpfung des Kriterienkatalogs an die Tätigkeiten der AC Treuhand AG verwundert es nicht, dass Bremer die hier behandelten Kartellgehilfen als bußgeldrechtlich verantwortlich ansieht. 519 Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 67. 520 Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 67. 521 Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 66, 67, 68 f. 522 Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 69. Zur Flexibilität als Leitmotiv auch der Rechtsprechung siehe bereits oben S. 218 f. 523 Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 68. 524 Vgl. zum dt. Strafrecht Schmitz, in: Joecks/Miebach, MüKo, StGB, Bd. 1, § 1 Rn. 51 a.E.: „Strafrechtsdogmatik kann aber den Gesetzgeber nicht ersetzen“. 525 Siehe bereits oben S. 138 ff., zusammenfassend S. 214 ff. 526 Dazu oben S. 214 ff. 527 Siehe bereits oben S. 202 f.
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dungspraxis ist somit unerheblich. Insoweit fehlte es demnach an einer Strafbarkeitsgrundlage. Auch hiernach begründete der Dienstvertrag keine Grundlage einer Bußgeldverhängung. cc) Herauslesen eines Unmittelbarkeitskriteriums Diesem durchgreifenden Einwand der Unbestimmtheit entgeht J. Koch, indem er dem gesetzlichen Merkmal des Bezweckens oder Bewirkens selbst ein Unmittelbarkeitserfordernis entnimmt.528 Ein Bezwecken sei nur zu bejahen, wenn die Wettbewerbsbeschränkung den unmittelbaren Gegenstand der Maßnahme bildet.529 Allein diese Auslegung sei mit dem Funktionsverständnis des Art. 101 Abs. 1 AEUV vereinbar und finde auch etwa in der englischen („object“), französischen („objet“) oder italienischen („oggetto“) Sprachfassung deutlicheren Ausdruck als in der deutschen.530 Zudem werde die Grenze zwischen Zwecksetzung und Wirkung als fließend angesehen, da die Zweckabrede bei ihrer Umsetzung unmittelbar geeignet sei, die wettbewerbsbeschränkende Wirkung herbeizuführen.531 Dies spiegele sich auch in der Praxis, die häufig die beiden Tatbestandsvarianten nebeneinander prüfe.532 Gerade an dieser Eignung, im Falle seiner Umsetzung den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen und den Wettbewerb zu beschränken, fehle es dem Dienstvertrag.533 Er weise keinen unmittelbaren Marktbezug auf. Zur Wettbewerbsbeschränkung bedarf er stattdessen der Zwischenschaltung der Kartellabrede unter den Kartellanten.534 Das Unmittelbarkeitserfordernis sei weiter auf die Tatbestandsvariante des Bewirkens zu übertragen. Es könne nur bei unmittelbaren Kausalbeiträgen bejaht werden.535 Andernfalls würde der Tatbestand uferlos. J. Koch zieht allerdings nicht den (strafrechtlichen) Bestimmtheitsgrundsatz heran, sondern verweist als Begründung auf die dann erzielten sachwidrigen Ergebnisse.536 Dieser Ansatz erfüllt gleichwohl die Anforderungen des strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes. Das Unmittelbarkeitskriterium wird Art. 101 Abs. 1 AEUV selbst durch Auslegung entnommen. Zudem kann eine Parallele zur Straflosigkeit
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J. Koch, ZWeR 2009, 370, 373 f. J. Koch, ZWeR 2009, 370, 373.; ablehnend Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 58 ff.; W. Weiß, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 101 AEUV Rn. 47 (Fn. 126). 530 J. Koch, ZWeR 2009, 370, 373. 531 J. Koch, ZWeR 2009, 370, 373. 532 J. Koch, ZWeR 2009, 370, 373 f. 533 J. Koch, ZWeR 2009, 370, 374. 534 J. Koch, ZWeR 2009, 370, 374. 535 J. Koch, ZWeR 2009, 370, 374. 536 J. Koch, ZWeR 2009, 370, 374. 529
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
des Versuchs gezogen werden.537 Abreden mit nur mittelbarem Marktbezug wie der Dienstvertrag könnten als straflose Vorbereitung aufgefasst werden. Allerdings grenzt J. Koch die Unmittelbarkeit nur von „künftigen“ oder „mittelbaren Fernwirkungen“538 ab und füllt sie nicht positiv aus. Gerade der wirtschaftliche und rechtliche Kontext sowie die Marktgegebenheiten der Maßnahmen sind aber wie gesehen539 zu beachten. Dem stehen auch die anderen Sprachfassungen nicht entgegen. Die zitierten Umschreibungen des Bezweckens sind nicht zwingend allein als „Gegenstand“ der Abrede zu verstehen. Dass etwa die französische („l’objet de ces contrats“), spanische („con el objeto de dichos contratos“) und italienische („con l’oggetto dei contratti stessi“) Sprachfassung den Vertragsgenstand nach Art. 101 Abs. 1 Hs. 2 lit. e AEUV mit derselben Umschreibung des Bezwecken bezeichnen, schlägt ebenso wenig durch. Die englische („subject of such contracts“) oder niederländische („het onderwerp van deze overeenkomsten“) Fassung etwa verwenden wie die deutsche eine abweichende Formulierung. Auffällig ist zudem, dass die englische, spanische, italienische und französische anders als die deutsche oder niederländische Sprachfassung die Aufzählung der Regelbeispiele grammatikalisch in den Satz des Art. 101 Abs. 1 AEUV integrieren. Die Regelbeispiele sind aktivisch gefasst. Nach der Nennung der Voraussetzungen des Kartellverbots findet sich etwa im Französischen der Zusatz: „et notamment ceux qui consistent à:“. Das Bindeglied „ceux“ nimmt die Tathandlungen „tous accords entre entreprises, toutes décisions d’associations d’entreprises et toutes pratiques concertées“ in Bezug. Es folgt die gleiche Nebensatzkonstruktion, die bereits die Zwischenstaatlichkeitsklausel und die bezweckte oder bewirkte Wettbewerbsbeschränkung enthält. In der Kurzform liest sich ein Regelbeispiel etwa nach Art. 101 Abs. 1 Hs. 2 lit. c AEUV damit als „tous accords entre entreprises qui consistent à répartir les marchés“. Verboten sind also insbesondere solche Willensübereinkünfte, die darin bestehen, Märkte aufzuteilen. Damit verbunden ist aber kein naheliegender Ausschluss mittelbarer Kausalverläufe. Dies gilt umso mehr, da in allen Sprachfassungen ausdrücklich auch das mittelbare
537
Anders als die Strafbarkeit der Teilnahme wird die Strafbarkeit des Versuchs allgemein mangels gesetzlicher Grundlage verneint (EuG, Urt. v. 20. 3. 2002, Rs. T-9/99 – HFB u. a./ Kommission, Slg. 2002, II-1487, II-1543 Rn. 206; Bechtold/Bosch/Brinker, EU-KartellR, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 22; de Bronett, in: Schröter/Jakob/Mederer, Europ. WettbR, Art. 15 VO Nr. 17 Rn. 1; Engelsing/Schneider, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 25; Schütz, in: Busche/Röhling, KöKo, KartellR, Bd. 4, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 24; Sura, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 4), obwohl die Tathandlungen des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV, insb. da Vereinbarungen und Beschlüsse keine Ausführungs- und Umsetzungshandlung voraussetzen, der Vorverlagerung in das materielle Versuchsstadium gleichkommen; vgl. dazu de Bronett, VO 1/2003, Art. 23 Rn. 2; Kienapfel, in: Schröter/Jakob/Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 37; Schütz, in: Busche/Röhling, KöKo, KartellR, Bd. 4, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 24. Begrifflich findet sich der Versuch hingegen noch in Art. 65 § 5 EGKSV. 538 J.Koch, ZWeR 2009, 370, 373 f. 539 S. 311 f.
C. Wettbewerbsbeschränkung bezwecken oder bewirken
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Festsetzen der An- oder Verkaufspreise oder sonstiger Geschäftsbedingungen erfasst ist, Art. 101 Abs. 1 Hs. 2 lit. e AEUV.540 2. Eigene Lösung: Selbständigkeitspostulat und Pflichtwidrigkeitszusammenhang Nach der hier entwickelten Lösung sorgt vielmehr das Selbständigkeitspostulat als der tragende „Grundgedanke“ des Kartellverbots541 für ein der gesetzlichen Norm immanentes und in der Praxis wie im Schrifttum anerkanntes Kriterium zur Einschränkung der tatbestandlichen Weite des Tatbestandes des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV. Wie dargelegt542 sind „Vereinbarungen zwischen Unternehmen“, „Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen“ und „aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen“ nur tatbestandsmäßig, wenn sie das Selbständigkeitspostulat verletzen. Die Marktverhaltenskoordinationen müssen die ohne die Maßnahme bestehenden wettbewerblichen Risiken wenigstens zu beseitigen geeignet sein. Andernfalls liegen sie jenseits des Schutzzwecks der Norm. Art. 101 AEUV schützt den Wettbewerb im Binnenmarkt allein vor diesen Gefahren. Nur wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, kommt es auf ein Bezwecken oder Bewirken einer Wettbewerbsbeschränkung an. Dann unterfallen aber auch dem weiten Wortlaut entsprechend jegliche mittelbare Wettbewerbsbeschränkungen dem Tatbestand. In der Sache legitimiert sich dies durch die gebotene Berücksichtigung des wirtschaftlichen und rechtlichen Kontexts der Maßnahme. Das Kartellverbot ist kein bloßes Verursachungsdelikt. Dadurch dass die Tathandlung, mithin die darin liegende Verletzung des Selbständigkeitspostulats, eine Wettbewerbsbeschränkung „bezwecken oder bewirken“ muss, ergibt sich, dass sich die Pflichtwidrigkeit der Unternehmen in der Wettbewerbsbeschränkung fortwirken muss. Es muss mithin ein Pflichtwidrigkeitszusammenhang bestehen. Dieser schränkt die – auch mittelbare – (adäquate)543 Kausalität für die Wettbewerbsbeschränkung ein, die das Bewirken voraussetzt. Gleiches gilt für die vom Bezwecken vorausgesetzte Eignung.
540
Dazu etwa Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 415 [68. Lfg.: Mai 2009]; Schröter, in: von der Groeben/ Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 2, Art. 81 EG Rn. 146; Stockenhuber, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 180 [47. Lfg: April 2012]; Zimmer, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 236. 541 EuGH, Urt.v. 16. 12. 1975, Rs. 40 bis 48, 50, 54 bis 56, 111, 113 und 114/73 – Suiker Unie und andere/Kommission, Slg. 1975, 1663, 1965 f. Rn. 173/174; Urt. v. 14. 7. 1981, Rs. 172/80 – Züchner/Bayerische Vereinsbank, Slg. 1981, 2021, 2031 f. Rn. 13; Urt. v. 28. 5. 1998, Rs. C-7/95 P – Deere/Kommission, Slg. 1998, I-3111, I-3162 f. Rn. 86. 542 Siehe oben S. 264 ff. 543 Zum Kriterium der Adäquanz siehe bereits oben S. 313.
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
Die Alternativen des Zwecks oder der Wirkung unterscheiden sich letztlich allein in dem Nachweis durch die Kommission.544 Der Begriff des mittelbaren Bezweckens oder Bewirkens weist damit lediglich auf die Notwendigkeit einer Kontextanalyse hin.545 Die tatbestandsbegründende Vermittlung einer Wettbewerbsbeschränkung durch eine ihrerseits tatbestandsmäßige Maßnahme scheidet schließlich aus. Jede Maßnahme selbst muss gegen das Selbständigkeitspostulat verstoßen. Ist dies so wie im Falle des Dienstvertrags nicht erfüllt, so liegt das Fördern einer fremden tatbestandsmäßigen Maßnahme durch eigene Koordination mit Dritten nicht im Schutzzweck des Art. 101 Abs. 1 AEUV. Allein inhaltlich bezieht sich die Gehilfenleistung auf den Heimatmarkt des Kartellmitglieds. Dies stellt aber eine hier unerhebliche subjektive Zwecksetzung dar. Würde dies maßgeblich zu berücksichtigen sein, so würde das Kartellverbot zu einer Inhaltskontrolle sämtlicher Vertragsbeziehungen.
IV. Ergebnis Die Maßgeblichkeit des Selbständigkeitspostulats für die Auslegung des Kartellverbots setzt sich für das Merkmal der bezweckten oder bewirkten Wettbewerbsbeschränkung fort. Jede der drei Tathandlungen verlangt die Verletzung des Selbständigkeitspostulats. Da die „aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen“ nach der gesetzlichen Konstruktion nicht verbindlich sind, kann eine Wettbewerbsbeschränkung nicht allein über die Selbstbindung der beteiligten Unternehmen im zukünftigen Marktverhalten liegen. Für die dritte Tathandlungsvariante wird die Selbstbindung der Beteiligten im Sinne einer für verpflichtend gehaltenen Abrede546 durch das Kriterium der Vornahme einer „Verhaltensweise“ ersetzt. Diese Umsetzung der Koordination stellt wie die Verbindlichkeit der Absprache die Eignung der Tathandlung zur Beeinträchtigung des Wettbewerbs sicher. Die Wettbewerbsbeschränkung besteht mithin – für die Tathandlungen der „Vereinbarungen“ und „Beschlüsse“ als Kehrseite der Selbstbindung – in der Einschränkung der Handlungsfreiheit Dritter. Diese Marktauswirkungen müssen ferner spürbar sein. Das in teleologischer Auslegung gewonnene Selbständigkeitspostulat ermöglicht es somit, den weiten Wortlaut des Art. 101 Abs. 1 AEUV teleologisch einzuschränken und damit den Anforderungen des strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes zu genügen. Es grenzt die nach dem Wortlaut genügende auch mittelbare Eignung und Kausalität durch das Kriterium des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs ein. Die in der Tathandlung liegende Pflichtverletzung, der Verstoß gegen das 544
Vgl. auch Paschke, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 81 EG Rn. 91. 545 Dazu bereits oben S. 311 f. 546 Zum Begriff der Verbindlichkeit der Vereinbarungen und Beschlüsse siehe bereits oben S. 251 f. und in Teil 3 Fn. 281.
D. Eignung zur Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels
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Selbständigkeitspostulat, muss sich in der bezweckten oder bewirkten Wettbewerbsbeschränkung niederschlagen. Dies füllt die von J. Koch umschriebene „Unmittelbarkeit“ (teleologisch) aus. An diesem Zusammenhang fehlt es schließlich dem Dienstvertrag, da in ihm selbst keine Verletzung des Selbständigkeitspostulats liegt. Die Auswirkungen des Kartells lassen sich allein auf die Kartellabrede der Kartellanten und die darin liegende Verletzung des Selbständigkeitspostulats zurückführen.
D. Eignung zur Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels Schließlich muss die Tathandlung „den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet“ sein. Dies ist erfüllt, „wenn sich anhand einer Gesamtheit objektiver rechtlicher oder tatsächlicher Umstände mit hinreichender Wahrscheinlichkeit voraussehen läßt, daß die Vereinbarung unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder der Möglichkeit nach den Warenverkehr zwischen Mitgliedstaaten beeinflussen kann.“547 Abermals findet mithin eine Gesamtbetrachtung i.S.d. sog. Bündeltheorie statt.548 In dieses Tatbestandsmerkmal wird ferner erneut das Erfordernis der Spürbarkeit hineingelesen.549 In ihrer de minimis-Bekanntmachung550 differenziert die Kommission jedoch neuerdings, um zu verhindern, dass die großzügige Bemessung der Spürbarkeitsgrenze von Wettbewerbsbeschränkungen auch 547 St. Rspr.; EuGH, Urt. v. 30. 6. 1966, Rs. 56/65 – LTM/Maschinenbau Ulm, Slg. 1966, 282, 303; Urt. v. 11. 7. 1985, Rs. 42/84 – Remia/Kommission, Slg. 1985, 2545, 2572 Rn. 22; Urt. v. 25. 10. 2001, Rs. C-475/99 – Ambulanz Glöckner, Slg. 2001, I-8089, I-8153 f. Rn. 48; Urt. v. 13. 7. 2006, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04 – Manfredi u. a., Slg. 2006, I-6619, I-6656 Rn. 42; Urt. v. 23. 11. 2006, Rs. C-238/05 – Asnef-Equifax und Administración del Estado, Slg. 2006, I-11125, I-11156 f. Rn. 34. 548 Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 314; Paschke, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 81 EG Rn. 611; Stockenhuber, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 212 [47. Lfg.: April 2012]; Zimmer, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 202. Zur sog. Bündeltheorie im Rahmen der Beurteilung einer Wettbewerbsbeschränkung siehe bereits oben S. 315 ff. 549 EuGH, Urt. v. 25. 11. 1971, Rs. 22/71 – Béguelin Import/G. L. Import Export, Slg. 1971, 949, 960 Rn. 16/18; Urt. v. 28. 4. 1998, Rs. C-306/96 – Javico, Slg. 1998, I-1983, I-2003 Rn. 16; Urt. v. 21. 1. 1999, verb. Rs. C-215/96 und C-216/96 – Bagnasco u. a., Slg. 1999, I-161, I-175 Rn. 34, I-178 Rn. 48; Urt. v. 13. 7. 2006, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04 – Manfredi u. a., Slg. 2006, I-6619, I-6656 Rn. 42; Kommission, Leitlinien über den Begriff der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags, ABl. 2004 C 101, S. 81, 82 Rn. 13; Stockenhuber, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 227 f. [47. Lfg.: April 2012]. Zur Spürbarkeit im Rahmen der Wettbewerbsbeschränkung siehe bereits oben S. 308 ff. 550 Kommission, Bekanntmachung über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, die den Wettbewerb gemäß Artikel 81 Absatz 1 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft nicht spürbar beschränken (de minimis), ABl. 2001 C 368, S. 13 Rn. 4.
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
auf die sog. Zwischenstaatlichkeitsklausel durchschlägt und so den Anwendungsbereich des europäischen Kartellrechts verschließt.551 Das Merkmal der Eignung der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels dient nämlich der Bestimmung des Anwendungsbereichs des europäischen Kartellrechts in Abgrenzung zu den nationalen Kartellrechtsordnungen.552 Das europäische Recht erfasst nur zwischenstaatliche Sachverhalte mit Bedeutung für den Binnenmarkt. Durch das Kriterium der Spürbarkeit wird dieses zudem auf Sachverhalte einer gewissen Relevanz für das Binnenmarktprojekt beschränkt. Die Erfüllung der Zwischenstaatlichkeitsklausel ist mithin eine Frage des jeweiligen Einzelfalls und weist keine Besonderheiten für die Fallgruppe der Kartellgehilfen auf. Insbesondere kann es nicht auf das soeben entwickelte Kriterium eines Pflichtwidrigkeitszusammenhangs ankommen. Dieses wurde erst aus den weiteren Merkmalen der Norm erschlossen, deren Anwendungsbereich andernfalls gar nicht eröffnet wäre.
E. Zwischenfazit Nachdem die Voraussetzungen der Tathandlungen und ihrer Eigenschaften betrachtet wurden, kann bereits auf die Anforderungen an ergänzende Strafnormen geschlussfolgert werden. Eine Abrede des Kartellgehilfen zur Erbringung von organisatorischen Dienstleistungen kann nur gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV verstoßen, wenn sie das Selbständigkeitspostulat verletzt. Darauf müsste zudem die Wettbewerbsbeschränkung beruhen. Da solche Dienstverträge aber keinen Bezug zum zukünftigen Marktverhalten der Parteien haben, ist eine Verletzung des Selbständigkeitspostulats ausgeschlossen. Auch eine Einbeziehung des Kartellgehilfen in die Kartellabrede unter den Kartellanten scheitert ebenso wie eine Gesamtbetrachtung beider Absprachen an den gesetzlichen Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 1 AEUV. Der Kartellgehilfe verstößt damit nicht in eigener Person gegen das Kartellverbot. Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV ergänzende Strafnormen müssten also die Mitwirkung an einem „fremden“ Verstoß, d. h. der tatbestandlichen Verletzung des Selbständigkeitspostulat ausschließlich durch dritte Unternehmen, gegen das Kartellverbot erfassen, mithin eine Zurechnung eines solchen ermöglichen. Um den Grundgedanken des Kartellverbots, das Selb551 Bunte, in: Langen/Bunte, KartellR11, Bd. 2, Art. 81 EG Generelle Prinzipien Rn. 152; Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 143; Mestmäcker/Schweitzer, Europ. WettbR, § 10 Rn. 85; Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 397 [68. Lfg.: Mai 2009]. 552 EuGH, Urt. v. 13. 7. 2006, verb. Rs. C-295/04 bis C-298/04 – Manfredi u. a., Slg. 2006, I-6619, I-6655 Rn. 41; Urt. v. 23. 11. 2006, Rs. C-238/05 – Asnef-Equifax und Administración del Estado, Slg. 2006, I-11125, I-11156 Rn. 33; Kommission, Leitlinien über den Begriff der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags, ABl. 2004 C 101, S. 81, 82 Rn. 12; Bechtold/Bosch/Brinker, EU-KartellR, Art. 101 AEUV Rn. 110; Frenz, Hdb. Europarecht, Bd. 2: Europ. KartellR, Rn. 1069.
F. Der Normadressat: „Unternehmen“ und „Unternehmensvereinigungen“
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ständigkeitspostulat, nicht aufzugeben, müsste eine solche Norm den Kreis der an der Tathandlung beteiligten Unternehmen erweitern. Dies könnte durch Normierung des Einheitstäterbegriffs oder einer sonstigen Vorschrift, die die Täterschaftsvoraussetzung über die Teilnahme als Partei der Absprache im Sinne einer Teilnahmenorm des nationalen Rechts (etwa §§ 26, 27 StGB) erweitert, geschehen. Da diese im europäischen Wettbewerbsrecht nicht existieren, wird nach einer übertragbaren Normierung in anderen Bereichen des Verwaltungssanktionenrechts zu suchen sein. Gleichwohl bleibt das Merkmal des Normadressaten des Art. 101 Abs. 1 Hs. 1 AEUV wie des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 VO 1/2003 zu erörtern. Auch dieses Merkmal könnte eine weitere „Hürde“ für die Erfassung von Kartellgehilfen aufstellen, über die eine ergänzende Strafnorm ebenfalls hinweghelfen müsste bzw. die bei der Formulierung einer Bußgeldnorm für Kartellgehilfen de lege ferenda zu berücksichtigen wäre.
F. Der Normadressat: „Unternehmen“ und „Unternehmensvereinigungen“ Adressat der Bußgeldnorm des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 sind „Unternehmen“ und „Unternehmensvereinigungen“. Auch der Adressatenkreis der Ausfüllungsnorm des Art. 101 Abs. 1 Hs. 1 AEUV ist dergestalt beschränkt. Das Begriffsverständnis der beiden Normen ist identisch.553 Durch diese Beschränkung des Adressatenkreises ist die Bußgeldnorm als echtes Sonderdelikt ausgestaltet.554 Im Folgenden ist nicht nur dieser Täterkreis näher zu bestimmen und auf die Fallgruppe der Kartellgehilfen anzuwenden. Im Zentrum der Erörterung steht vielmehr die Frage, ob ein Kartellgehilfe auch deshalb nicht kartellrechtlich verantwortlich ist, weil er nicht auf dem Markt tätig ist, auf dem die Wettbewerbsbeschränkung eintritt. Wäre dies der Fall, so müsste eine ergänzende Strafnorm auch über die fehlende Marktidentität hinweghelfen. Die Zurechnung der Tathandlung samt ihrer Eigenschaften des Relativsatzes genügte nicht.
553 Bechtold/Bosch/Brinker, EU-KartellR, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 26; de Bronett, VO 1/ 2003, Art. 23 Rn. 21; Engelsing/Schneider, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 40; Nowak, in: L/M/R, KartellR, Art. 23 VerfVO Rn. 17; Sura, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 10. Vgl. auch Dannecker/FischerFritsch, Das EG-Kartellrecht in der Bußgeldpraxis, S. 253; Rütsch, Strafrechtlicher Durchgriff bei verbundenen Unternehmen?, S. 23. 554 Siehe bereits oben S. 231 f.
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
I. „Unternehmen“ Zentrale Adressaten des Kartellverbots sind „Unternehmen“. Nach dem Wortlaut sind das Verbot wettbewerbsschädlicher „Vereinbarungen“, nach systematischer Auslegung das der „aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen“ an sie gerichtet. 1. Begriffsbestimmung durch die ständige Rechtsprechung des EuGH Eine Begriffsdefinition des Unternehmens i.S.d. Wettbewerbsrechts hält weder das geltende Unionsrecht noch seine Vorgängervorschriften vor. Lediglich nach Art. 1 des Protokolls 22 zum EWR-Abkommen555 i.V.m. Art. 56 Abs. 4 EWR-Abkommen556 gilt für die Kompetenzabgrenzung zur Kartellrechtsüberwachung zwischen Kommission und EFTA-Überwachungsbehörde „als ,Unternehmen‘ jedes Rechtssubjekt, [der EuGH557 weist daraufhin, dass diese in den anderen Sprachfassungen mit „Einheit“ umschrieben werde] das eine kommerzielle oder wirtschaftliche Tätigkeit ausübt.“ Diese Definition kann auch für die Auslegung des Art. 101 AEUV herangezogen werden.558 Die systematische Auslegung der Wettbewerbsverfassung im Binnenmarkt ergibt zudem, dass der AEUV die unternehmerische Tätigkeit von der hoheitlichen des Staates abgrenzt.559 Der EuGH sieht mithin in ständiger Rechtsprechung560 als Unternehmen „jede eine wirtschaftliche 555
Protokoll 22 über die Definition der Begriffe „Unternehmen“ und „Umsatz“ (Artikel 56), ABl. 1994, L 1 S. 3, 185 ff. 556 Abkommen über den europäischen Wirtschaftsraum, ABl. 1994 L 1, S. 3. 557 EuGH, Urt. v. 28. 6. 2005, verb. Rs. C-189/02 P, C-202/02 P, C-205/02 P bis C-208/02 P und C-213/02 P – Dansk Rørindustri u. a./Kommission, Slg. 2005, I-5425, I-5540 f. Rn. 115. Vgl. den Wortlaut „entidad“ im Spanischen, „soggetto“ im Italienischen, „entité“ im Französischen sowie „entity“ im Englischen. 558 Dannecker/Müller, in: Wabnitz/Janovsky, Hdb. des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, Kap. 18 Rn. 206; Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 7; vgl. auch EuGH, Urt. v. 28. 6. 2005, verb. Rs. C-189/02 P, C-202/02 P, C-205/02 P bis C-208/02 P und C213/02 P – Dansk Rørindustri u. a./Kommission, Slg. 2005, I-5425, I-5540 f. Rn. 114 f. 559 Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 7; i.E. allg. M.; EuGH, Urt. v. 19. 1. 1994, Rs. C-364/92 – SAT Fluggesellschaft, Slg. 1994, I-43, I-61 Rn. 19 ff.; Urt. v. 18. 3. 1997, Rs. C-343/95 – Diego Caglì & Figli, Slg. 1997, I-1547, I-1588 f. Rn. 23; Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 19 ff.; Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 82 [67. Lfg.: Januar 2009]; Säcker/Herrmann, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Einl. Rn. 1619 ff. 560 EuGH, Urt. v. 12. 7. 1984, Rs. C-170/83 – Hydrotherm, Slg. 1984, 2999, 3016; Urt. v. 23. 4. 1991, Rs. C-41/90 – Höfner und Elser, Slg. 1991 I-1979, I-2016 Rn. 21; Urt. v. 17. 2. 1993, verb. Rs. C-159/91 und C-160/91 – Poucet und Pistre, Slg. 1993, I-637, I-669 Rn. 17; Urt. v. 11. 12. 1997, Rs. C-55/96 – Job-Centre, Slg. 1997 I-7119, I-7147 Rn. 21; Urt. v. 12. 9. 2000, verb. Rs. C-180/98 bis C-184/98 – Pavlov u. a., Slg. 2000, I-6451, I-6520 Rn. 74; Urt. v. 25. 10. 2001, Rs. C-475/99 – Ambulanz Glöckner, Slg. 2001, I-8089, I-8145 Rn. 19; EuG, Urt. v. 10. 3. 1992, Rs. T-11/89 – Shell/Kommission, Slg. 1992, II-757 II-884 Rn. 311; Urt. v. 12. 1. 1995, Rs. T-102/92 – VIHO/Kommission, Slg. 1995, II-17, II-35 Rn. 50; Urt. v. 12. 12. 2000, Rs. T128/98 – Aéroports de Paris/Kommission, Slg. 2000, II-3929, II-3964 f. Rn. 107.
F. Der Normadressat: „Unternehmen“ und „Unternehmensvereinigungen“
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Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung“ an. „Eine wirtschaftliche Tätigkeit ist jede Tätigkeit, die darin besteht, Güter oder Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt anzubieten.“561 Unerheblich sind Gewinnerzielung oder die darauf gerichtete Absicht.562 Dieser funktionale Unternehmensbegriff563 kann mithin auf die Teilnahme einer privatrechtlich handelnden Einheit persönlicher, materieller und immaterieller Mittel564 am Markt konzentriert werden. Das europäische Kartellrecht schützt den Binnenmarkt somit vor Gefahren „von innen“, vor seinen Marktakteuren.565 Nur an sie richtet sich das Selbständigkeitspostulat, d. h. die Pflicht, ihr Verhalten im Markt autonom zu gestalten. Nur Marktakteure können es entsprechend auch verletzen. Nicht erfasst sind damit im Wesentlichen hoheitliche Tätigkeiten sowie der private Verbrauch.566 Im Schrifttum567 wird darauf hingewiesen, dass auch eine Privatperson, die Kartellgehilfentätigkeiten vor-, ansonsten aber nicht am Markt teilnimmt, nicht von der Bußgeldnorm des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/ 2003 adressiert werde, was nach der Rechtsprechung des EuG zu einem Wertungswiderspruch zum gewerblich tätigen Kartellgehilfen führe. Dieser Einwand ist jedoch verfehlt. Der Wortlaut des Bußgeldtatbestandes lässt es auch für den wirt561
EuGH, Urt. v. 18. 6. 1998, Rs. C-35/96 – Kommission/Italien, Slg. 1998, I-3851, I-3895 f. Rn. 36; Urt. v. 12. 9. 2000, verb. Rs. C-180/98 bis C-184/98 – Pavlov u. a., Slg. 2000, I-6451, I-6520 f. Rn. 75; Urt. v. 25. 10. 2001, Rs. C-475/99 – Ambulanz Glöckner, Slg. 2001, I-8089, I-8145 Rn. 19; EuG, Urt. v. 12. 12. 2000, Rs. T-128/98 – Aéroports de Paris/Kommission, Slg. 2000, II-3929, II-3964 f. Rn. 107; Urt. v. 12. 12. 2006, Rs. T-155/04 – SELEX Sistemi Integrati/Kommission, Slg. 2006, II-4797, II-4824 Rn. 50. 562 Allg. M.; EuGH, Urt. v. 16. 11. 1995, Rs. C-244/94 – Fédération Française des Sociétés d’Assurances u. a., Slg. 1995, I-4013, I-4030 Rn. 21; Urt. v. 1. 7. 2008, Rs. C-49/07 – MOTOE, Slg. 2008, I-4863, I-4902 Rn. 27; EuG, Urt. v. 12. 12. 2006, Rs. T-155/04 – SELEX Sistemi Intigrati/Kommission, Slg. 2006, II-4797, II-4834 Rn. 77, II-4839 Rn. 90; Kommission, Entsch. v. 29. 10. 1981, IV/29.839 – GVL, ABl. 1981 L 370, S. 49, 55 Rn. 44; Bechtold/Bosch/ Brinker, EU-KartellR, Art. 101 AEUV Rn. 15; Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 16; Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 40 [67. Lfg.: Januar 2009]; Säcker/Herrmann, in: Hirsch/ Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Einl. Rn. 1604. 563 Zur Terminologie etwa Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 8. 564 Vgl. etwa auch EuG, Urt. v. 10. 3. 1992, Rs. T-11/89 – Shell/Kommission, Slg. 1992, II-757 II-884 Rn. 311; Urt. v. 12. 1. 1995, Rs. T-102/92 – VIHO/Kommission, Slg. 1995, II-17, II-35 Rn. 50: Das Kartellverbot sei an „wirtschaftliche Einheiten gerichtet […], die jeweils in einer einheitlichen Organisation persönlicher, materieller und immaterieller Mittel bestehen, die dauerhaft einen bestimmten wirtschaftlichen Zweck verfolgt und an einer Zuwiderhandlung im Sinne dieser Vorschrift beteiligt sein kann.“ 565 Zur Funktion des Art. 101 AEUV im Schutzkonzept des Binnenmarktes bereits oben S. 266 ff. 566 Vertiefend etwa Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 16; Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 14 f., 19 ff.; Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 49 ff. [67. Lfg.: Januar 2009]. 567 J. Koch, ZWeR 2009, 370, 384.
330
Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
schaftlich tätigen Kartellgehilfen nicht zu, an die tatsächlichen Unterstützungsleistungen anzuknüpfen.568 Die Tathandlungen sind auf „Vereinbarungen“, „Beschlüsse“ und „aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen“ beschränkt. Auch der private Kartellgehilfe muss sich mit den Kartellanten koordinieren. Sobald er aber dienstvertraglich mit diesen verbunden ist, kommt ihm ein Marktauftritt im oben beschriebenen Sinne zu, was ihn zum „Unternehmen“ qualifiziert.569 Der Unternehmensbegriff erfasst dabei auch sog. relative Unternehmen, die nur partiell in diesem Sinne wirtschaftlich tätig werden.570 Dass dieser Kartellgehilfe eine natürliche Person ist, schließt die Subsumtion unter den Unternehmensbegriff schließlich, nicht zuletzt wegen der Unbeachtlichkeit der Rechtsform, nicht aus. Die „Einheit“ der persönlichen, materiellen und immateriellen Mittel kann sich – für nur eine bestimmte Tätigkeit – in einer einzigen wirtschaftlich tätigen natürlichen Person bündeln.571
568
Siehe bereits oben S. 248 f. Hier kann eine Parallele zur Situation der Handelsvertreter gezogen werden. Diese agieren zum einen für den Geschäftsherren auf dem Gütermarkt, werden aber auch auf einem Dienstleistungsmarkt tätig, auf dem sie ihre Hilfsleistungen anbieten. Für letzteren wird die Unternehmenseigenschaft vorausgesetzt, auf ersterem ist je nach den Umständen des Einzelfalls zu bestimmen, ob dem Handelsvertreter Unternehmenseigenschaft zukommt oder ob er mit dem Geschäftsherren eine wirtschaftliche Einheit bildet; dazu EuGH, Urt. v. 14. 12. 2006, Rs. C-217/05 – Confederación Española de Empresarios de Estaciones de Servicio, Slg. 2006, I-11987, I-12033 ff. Rn. 42 ff., I-12038 Rn. 62; Urt. v. 11. 9. 2008, Rs. C-279/06 – CEPSA, Slg. 2008, I-6681, I-6732 f. Rn. 35 ff., I-6733 f. Rn. 41; GA Kokott, Schlussanträge v. 13. 7. 2006, Rs. C-217/05 – Confederación Española de Empresarios de Estaciones de Servicio, Slg. 2006, I-11992, I-12007 f. Rn. 44 ff.; Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 16; Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 72 ff. [67. Lfg.: Januar 2009]. Vgl. zur AC Treuhand AG Depuydt, DAOR 2008, 406, 412; allgemein zu den Kartellgehilfen auch Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 31 f. 570 EuGH, Urt. v. 24. 10. 2002, Rs. C-82/01 P – Aéroports de Paris/Kommission, Slg. 2002, I-9297, I-9362 Rn. 74; Urt. v. 16. 3. 2004, verb. Rs. C-264/01, C-306/01, 354/01 und 355/01 – AOK-Bundesverband u. a., Slg. 2004, I-2493, I-2545 Rn. 58; Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/ 1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 12; Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 35 [67. Lfg.: Januar 2009]; Säcker/ Herrmann, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Einl. Rn. 1598; Stockenhuber, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd II, Art. 101 AEUV Rn. 61 [47. Lfg.: April 2012]. 571 Vgl. EuGH, Urt. v. 11. 10. 1983, Rs. 210/81 – Demo-Studio Schmidt/Kommission, Slg. 1983, 3045, 3061 Rn. 3; Urt. v. 11. 7. 1985, Rs. 42/84 – Remia/Kommission, Slg. 1985, 2545, 2571 Rn. 17 f.; Urt. v. 28. 6. 2005, verb. Rs. C-189/02 P, C-202/02 P, C-205/02 P bis C-208/02 P und C-213/02 P – Dansk Rørindustri u. a./Kommission, Slg. 2005, I-5425, I-5541 f. Rn. 115 ff.; Kommission, Entsch. v. 26. 7. 1976, IV/28.996 – Reuter/BASF, ABl. 1976 L 254, S. 40, 45; Entsch. v. 26. 5. 1978, IV/29.559 – RAI/UNITEL, ABl. 1978 L 157, S. 39, 40; Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 12; Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 6, 16 ff.; Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 35, 115 [67. Lfg.: Januar 2009]; Säcker/Herrmann, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Einl. Rn. 1598. 569
F. Der Normadressat: „Unternehmen“ und „Unternehmensvereinigungen“
331
2. Zur Grenzziehung durch das Analogieverbot Der Begriff des Unternehmens sowie seine Bedeutung im Zusammenhang des Satzes der Bußgeldnorm deuten auf ein wirtschaftliches Verständnis hin. Der funktionale Unternehmensbegriff ist mithin vom Wortlaut des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV gedeckt.572 Bedenken gegen die Vereinbarkeit mit dem strafrechtlichen Analogieverbot bestehen des Weiteren nicht. Die nicht in allen Mitgliedstaaten bekannte Strafbarkeit von Verbänden573 ergibt sich ausdrücklich aus dem Wortlaut. Insbesondere die Autonomie des Unionsrechts574 löst ferner die Rückbindungen an die Rechtsformen des nationalen Rechts, die dem überholten institutionellen Unternehmensbegriff zugrunde lagen.575 In der weiten funktionellen Auslegung kann sich vielmehr der effet utile verwirklichen.576 Der funktionale Unternehmensbegriff trifft hingegen keine Aussage über den Bußgeldadressaten. Der Bußgeldbescheid ist vielmehr an ein rechtsfähiges Rechtssubjekt zu richten, damit Zustellung und Vollstreckung gesichert sind.577 Mangels gesetzlicher Vorgaben bleibt die Auswahl des Bußgeldadressaten v. a. in Konzernen umstritten. Dies soll hier nicht vertieft werden.578 Jedenfalls den an der Zuwiderhandlung beteiligten Mitarbeitern jeglicher Position – im Verhältnis zu den
572
Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 80; Hamann, Das Unternehmen als Täter im europ. WettbR, S. 13; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/ Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 43 [77. Lfg.: Oktober 2012]. Vgl. auch Dannecker/Fischer-Fritsch, Das EG-Kartellrecht in der Bußgeldpraxis, S. 258. 573 Dazu siehe oben Teil 2 Fn. 335. 574 Dazu bereits oben S. 46 f. 575 Zum institutionellen Unternehmensbegriff etwa Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/ Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 32 [67. Lfg.: Januar 2009]. 576 Vgl. Hamann, Das Unternehmen als Täter im europ. WettbR, S. 13; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 29, 43 [77. Lfg.: Oktober 2012]. 577 EuGH, Urt. v. 10. 9. 2009, Rs. C-97/08 P – Akzo Nobel u. a./Kommission, Slg. 2009, I-8237, I-8287 Rn. 57; EuG, Urt. v. 20. 4. 1999, verb. Rs. T-305/94, T-306/94, T-307/94, T-313/ 94, T-314/94, T-315/94, T-316/94, T-318/94, T-325/94, T-328/94, T-329/94 und T-335/94 – Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, Slg. 1999, II-931, II-1196 Rn. 978; Bueren, ZWeR 2011, 285, 286 f.; Klees, Kartellverfahrensrecht, § 10 Rn. 123; Kling, WRP 2010, 506; Riesenkampff, in: Hilty/Drexl/Nordemann, FS Loewenheim, S. 529, 537; Sura, in: Langen/ Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 10. 578 Zu diesem Problemkreis siehe bereits oben Teil 3 Fn. 290. Vertiefend etwa Dannecker/ Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 80; Hofstetter/Ludescher, in: Kunz u. a., FS von Büren, S. 485 ff.; Kersting, Der Konzern 2011, 445 ff.; Kling, WRP 2010, 506, 510 ff.; Lipowsky, Die Zurechnung von Wettbewerbsverstößen zwischen verbundenen Unternehmen im EWG-Wettbewerbsrecht, passim; Riesenkampff, in: Hilty/Drexl/Nordemann, FS Loewenheim, S. 529 ff.; Thomas, KSzW 2011, 10 ff. jew. m.w.N.
332
Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
Unternehmen im Entfernten auch als „Gehilfen“ denkbar – droht hingegen schon mangels Adressateneigenschaft nach europäischem Kartellrecht keine Bestrafung.579
II. „Unternehmensvereinigung“ Entgegen der Überschrift des Abschnitts 1 von Titel VII, Kapitel 1 des AEUV („Vorschriften für Unternehmen“) erweitert die zweitgenannte Tathandlung („Beschlüsse“) den Adressatenkreis des Kartellverbots auf „Unternehmensvereinigungen“. Zunächst überrascht,580 dass die Kommission in der Sache AC-Treuhand/ Kommission das die Kartellanten unterstützende Beratungsunternehmen als eine solche zu erfassen erwägt.581 Dies verbietet sich auch vor den Anforderungen des nullum crimen-Grundsatzes. Der Wortlaut „Unternehmensvereinigung“ schließt es aus, ein einzelnes, eigenständiges Unternehmen als solche zu erfassen. Der Wortlaut verlangt vielmehr den Zusammenschluss mehrerer Unternehmen. Dem entspricht auch die historische Auslegung. Art. 65 § 1 EGKSV adressiert „Verbände von Unternehmen“. Gemeinhin582 wird die Unternehmensvereinigung somit als Zusammenschluss mehrerer Unternehmen beliebiger Rechtsform, der u. a. darauf zielt, die Interessen seiner Mitglieder wahrzunehmen, definiert. Der Kommission ist aber zuzugestehen, dass eine Unternehmensvereinigung und ein Kartellgehilfe im obigen Sinne, d. h. ein drittes Unternehmen, das Sekretariatsaufgaben übernimmt und die Einhaltung der Kartellabrede überwacht, funktionell vergleichbar sind.583 Sofern die Unternehmensvereinigung keinen eigenen Marktauftritt hat, der sie zugleich zu einem „Unternehmen“ i.S.d. Art. 101 Abs. 1 AEUV
579
Vgl. Schütz, in: Busche/Röhling, KöKo, KartellR, Bd. 4, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 7. Ebenso Depuydt, DAOR 2008, 406, 410. Dies., a.a.O., 406, 412 f. weist zudem zutreffend darauf hin, dass die Kommission in ihrer Entsch. v. 17. 12. 1980, IV/29.869 – Gußglas in Italien, ABl. 1980 L 383, S. 19 die Beratungsgesellschaft ausschließlich als „Unternehmen“ heranzieht. 581 Kommission, Entsch. v. 10. 12. 2003, COMP/E-2/37.857 – Organische Peroxide, Rn. 344 f.; als „rein alternative oder sogar hilfsweise Beurteilung“ dahinstehen lassend EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1571 Rn. 158. 582 EuGH, Urt. v. 12. 9. 2000, verb. Rs. C-180/98 bis C-184/98 – Pavlov u. a., Slg. 2000, I-6451, I-6523 Rn. 88 f.; de Bronett, in: Schulte/Just, KartellR, Art. 101 AEUV Rn. 22; Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 38; Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 68; Säcker, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Einl. Rn. 1651; Schröter, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Vor. Art. 81 bis 85 EG Rn. 38; W. Weiß, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 101 AEUV Rn. 42 f. 583 So stellt auch Kommission, Entsch. v. 10. 12. 2003, COMP/E-2/37.857 – Organische Peroxide, Rn. 345 a.E. allein darauf ab, dass die AC Treuhand AG „zumindest in Teilen jene Aufgaben wahrnahm, die typischerweise einem Verband zukommen“ sowie „auch die Funktionen einer Unternehmensvereinigung aus[füllte]“ [Hervorhebungen durch Verf.]. 580
F. Der Normadressat: „Unternehmen“ und „Unternehmensvereinigungen“
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qualifiziert,584 dient sie dritten Unternehmen wie der ebenfalls (markt)externe Kartellgehilfe bei der Koordination deren Marktverhaltens. Ausgeschlossen ist freilich nicht, dass der Kartellgehilfe selbst eine Unternehmensvereinigung ist.585 Wichtig ist dann aber zu erkennen, dass sie in diesem Fall nicht durch „Beschluss“ handelt, wie der Wortlaut des Art. 101 Abs. 1 AEUV verlangt. Anknüpfungspunkt könnte wiederum nur der Dienstvertrag sein. Dadurch würde die Unternehmensvereinigung – in Parallele zur ansonsten nicht wirtschaftlich tätigen natürlichen Person586 – jedoch selbst dem Unternehmensbegriff unterfallen, sodass sich keine weiteren Besonderheiten ergeben. 1. These: Die „Unternehmensvereinigung“ als ein gesetzlich normierter Fall eines Kartellgehilfen Diese funktionelle Vergleichbarkeit kann in der These gebündelt werden, dass die „Unternehmensvereinigung“ einen gesetzlich normierten Fall der Kartellbeihilfe darstellt. Art. 101 Abs. 1 AEUV erfasst nicht nur die in dem „Beschluss“ einer „Unternehmensvereinigung“ liegende „Vereinbarung zwischen“ den in der Beschlussfassung tätigen und damit den Beschluss erst schaffenden „Unternehmen“,587 sondern 584 GA Lenz, Schlussanträge v. 20. 9. 1995, Rs. C-415/93 – Bosman, Slg. 1995, I-4930, I-5027 Rn. 256; Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 38; Hoffmann, in: Dauses, Hdb. des EU-WirtschaftsR, Bd. 2, H. I. § 1 Rn. 71 [28. Lfg.: Juni 2011]; Stockenhuber, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 82 [47. Lfg.: April 2012]; W. Weiß, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 101 AEUV Rn. 28, 43. 585 Vgl. etwa die Fallgestaltungen in EuG, Urt. v. 15. 3. 2000, verb. Rs. T-25/95, T-26/95, T-30/95 bis T-32/95, T-34/95 bis T-39/95, T-42/95 bis T-46/95, T-48/95, T-50/95 bis T-65/95, T-68/95 bis T-71/95, T-87/95, T-88/95, T-103/95 und T-104/95 – Cimenteries CBR u. a./ Kommission, Slg. 2000, II-491, II-849 Rn. 1326 oder Kommission, Entsch. v. 19. 9. 2007, COMP/39.168 – Hartkurzwaren: Verschlüsse, ABl. 2009 C 47, S. 8 Rn. 5. 586 Siehe oben S. 330. 587 Umstritten ist, ob auch die gegen den Beschluss stimmenden oder bei der Beschlussfassung abwesenden Unternehmen anstelle der Unternehmensvereinigung mit einem Bußgeld belegt werden können. Dabei sind zwei Fragenkreise zu unterscheiden (so auch Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 148 f. [67. Lfg.: Januar 2009]): Die Unternehmen könnten zum einen als Normadressaten einer in der Beschlussfassung liegenden „Vereinbarung zwischen Unternehmen“ und damit wegen eines „eigenen“ Verstoßes bebußt werden. Zum anderen könnten sie auch erst auf der Ebene der Bußgeldzuweisung für einen von der nichtwirtschaftlichen Unternehmensvereinigung als Normadressaten begangenen Verstoß gegen die Wettbewerbsvorschriften belegt werden. Ist die Unternehmensvereinigung rechtsfähig, so ist sie selbst Bußgeldadressat (dazu Bechtold/Bosch/Brinker, EU-KartellR, Art. 101 AEUV Rn. 32; Säcker/Herrmann, in: Hirsch/ Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Einl. Rn. 1653). Ist sie zahlungsunfähig greift die Ausfallhaftung des Art. 23 Abs. 4 VO 1/2003 (dazu noch S. 346 ff.). Ist die Unternehmensvereinigung hingegen nicht rechtsfähig, so sind die ihre Mitgliedsunternehmen tragenden rechtsfähigen Personen die Bußgeldadressaten. Die erste Variante ist keine Frage der Tathandlung „Beschluss einer Unternehmensvereinigung“, sondern des Begriffs „Vereinbarung zwischen Unternehmen“. Daher ist auf die dazu entwickelten Grundsätze, wie etwa des publicly
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
die Norm adressiert auch die selbständige588 „Unternehmensvereinigung“ selbst. Nach Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 kann sie auch selbständig neben den Mitgliedsunternehmen bebußt werden. Der Grund der Aufnahme der Tathandlung der „Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen“ in den Tatbestand des Art. 101 Abs. 1 AEUV liegt in dem Ausschluss von Umgehungen.589 Nicht nur die direkte, auch die institutionalisierte Koordination zwischen Unternehmen über eine „Unternehmensvereinigung“ soll verboten sein. Die Gesetzeshistorie und die gesetzliche Systematik lassen dabei erkennen, dass weiterhin die hinter der Vereinigung stehenden Unternehmen im Fokus des Kartellverbots stehen. Das Kartellverbot des Art. 65 § 1 EGKSV kannte zwar „Verbände von Unternehmen“ als Normadressaten. Das Bußgeld richtete Art. 65 § 5 EGKSV dagegen allein an Unternehmen, die „einen [wegen Verstoßes gegen Art. 65 § 1 EGKSV gem. Art. 65 § 4 EGKSV] nichtigen Beschluss angewendet oder angewendet versucht haben“. Darauf deuten nicht nur die Überschrift des Abschnitts 1, sondern auch die Bußgeldregelung des Art. 23 Abs. 4 UAbs. 1 VO 1/2003, wonach die nicht wirtschaftlich tätige Unternehmensvereinigung im Falle ihrer eigenen Zahlungsunfähigkeit verpflichtet ist, von ihren Mitgliedern Beiträge zur Deckung des Betrags ihrer Geldbuße zu fordern, hin. Damit trifft die finanzielle Sanktion gegen die Unternehmensvereinigung letztlich die organisierten Mitgliedsunternehmen. Auch wird die obige590 teleologische Begründung belegt. Nur die am Markt tätigen Einheiten, die „Unternehmen“, können die hinter dem Kartellverbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV stehende Pflicht, das Selbständigkeitspostulat, verletzen. Der im Gewand einer einseitigen Maßnahme erscheinende Beschluss einer Unternehmensvereinigung erweist sich damit schließlich als „Vehikel“ der Koordination der Mitgliedsunternehmen.
distancing oneself from the cartel (siehe oben S. 288 ff.), zurückzugreifen. Zu dieser Konstellation bejahend EuGH, Urt. v. 29. 10. 1980, verb. Rs. 209 bis 215 und 218/78 – van Landewyck/Kommission, Slg. 1980, 3248, 3251 Rn. 90 f.; Kommission, Entsch. v. 30. 11. 1994, IV/ 33.126 und 33.222 – Zement, ABl. 1994 L 343, S. 1, 98 f.; Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 148 [67. Lfg.: Januar 2009]; verneinend Paschke, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 81 EG Rn. 57. Zur Konstellation der Bußgeldhaftung für einen „fremden“ Verstoß durch die Unternehmensvereinigung bejahend Roth/Ackermann, a.a.O., Rn. 148 [67. Lfg.: Januar 2009]. 588 Die Unternehmensvereinigung muss ein von ihren Mitgliedern verschiedenes Verhalten zeigen; EuG, Urt. v. 15. 3. 2000, verb. Rs. T-25/95, T-26/95, T-30/95 bis T-32/95, T-34/95 bis T-39/95, T-42/95 bis T-46/95, T-48/95, T-50/95 bis T-65/95, T-68/95 bis T-71/95, T-87/95, T-88/ 95, T-103/95 und T-104/95 – Cimenteries CBR u. a./Kommission, Slg. 2000, II-491, II-849 Rn. 1325; Kommission, Entsch. v. 10. 12. 2003, COMP/E-2/37.857 – Organische Peroxide, Rn. 312. 589 BGH, WRP 2008, 1456, 1459 Rn. 26; Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 38, 74; Gippini-Fournier/Mojzesowicz, in: L/M/R, KartellR, Art. 81 Abs. 1 EG Rn. 62; Gruber, ÖZK 2010, 43, 45; Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 103; Paschke, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 81 EG Rn. 47; Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 140, 145 [67. Lfg.: Januar 2009]. 590 S. 263 ff.
F. Der Normadressat: „Unternehmen“ und „Unternehmensvereinigungen“
335
Die gleichwohl eigenständige Bebußbarkeit der Unternehmensvereinigung lässt sich jedoch nicht auf andere vergleichbare Fälle der Kartellbeihilfe wie die hier im Zentrum der Betrachtung stehenden übertragen. Die Erfassung der „Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen“ gründet darauf, dass sich der Wille der rechtlich selbständigen Einheit auf die am Markt tätigen Unternehmen zurückführen lässt. Es sind die Unternehmen selbst, die durch Abstimmung den Willen der Unternehmensvereinigung bestimmen und die Beschlüsse fassen. Da ein Beschluss i.S.d. Art. 101 Abs. 1 Hs. 1 AEUV wie gesehen591 das Marktverhalten der organisierten Unternehmen zum Gegenstand hat,592 liegt darin schließlich auch die Verletzung des Selbständigkeitspostulats.593 Art. 101 Abs. 2 AEUV zeigt, dass die Unternehmen diesen Beschlüssen eine Bindungswirkung zumessen müssen, wie schon zu den Vereinbarungen gezeigt.594 Erst dann reduzieren die Beschlüsse die wettbewerblichen Risiken für die Mitgliedsunternehmen und begründen eine Gefahr für den Wettbewerb. Durch den Beschluss der Unternehmensvereinigung verletzen somit die Unternehmen das Selbständigkeitspostulat. In Parallele zum Kartellgehilfen595 verstößt die Unternehmensvereinigung selbst nicht gegen das Selbständigkeitspostulat. Anders als dieser kann sie ohne Marktauftritt selbst auch gar nicht gegen die Pflicht, sich autonom am Markt zu verhalten, verstoßen. Nur die Unternehmensvereinigung ist Extraneus. Der Unterschied zum hier behandelten Kartellgehilfen liegt ferner darin, dass in der, der Unternehmensvereinigung als eigener Normadressat zurechenbaren Handlung, dem Beschluss, aufgrund des Bindungswillens ihrer organisierten Mitgliedsunternehmen die Verletzung des Selbständigkeitspostulats liegt. Die Unternehmensvereinigung begründet mithin das verbotene Kartell, der hier behandelte Kartellgehilfe unterstützt es nur. Ersteres ist nur möglich, weil sich die Unternehmen als Adressaten des Selbständigkeitspostulats über das „Vehikel“ der Unternehmensvereinigung organisieren und deren „Beschlüsse“ „Vereinbarungen“ zwischen ihnen gleichstehen. Diese tatbestandliche Gleichstellung verleitet die Praxis dazu, nicht zwischen den einzelnen Alternativen zu unterscheiden. Mal adressiert die Kommission einen Bußgeldbescheid ausschließlich an
591
Oben S. 274 f. EuGH, Urt. v. 27. 1. 1987, Rs. C-45/85 – Verband der Sachversicherer/Kommission, Slg. 1987, 405, 455 Rn. 32; Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 103; Mestmäcker/Schweitzer, Europ. WettbR, § 9 Rn. 1; Roth/Ackermann, in: Jaeger/ Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 141 [67. Lfg.: Januar 2009]. 593 Die bloße Aufbereitung von Marktdaten genügt hingegen beispielsweise nicht. Dadurch verstoßen die Mitgliedsunternehmen nicht gegen das Selbständigkeitspostulat. Beispiel bei Kommission, Entsch. v. 6. 8. 1984, IV/30.350 – Zinc Producer Group, ABl. 1984 L 220, S. 27, 29 Rn. 14. 594 Siehe oben S. 274 f. Zum Streit um die Verbindlichkeit von Beschlüssen in der Literatur siehe nur Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 78 ff. m.w.N. 595 Dazu oben S. 278 f. 592
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
die Unternehmensvereinigung,596 mal an ihre Mitgliedsunternehmen,597 in anderen Fällen auch an beide gemeinsam.598 Da auch die Tathandlungen ineinander übergehen und in der Praxis nicht trennscharf unterschieden werden sowie zumeist in der Rechtsfigur der einheitlichen, komplexen und fortgesetzten Zuwiderhandlung aufgehen,599 wird auch die Unterscheidung zwischen „Unternehmen“ und „Unternehmensvereinigungen“ letztlich offen gelassen.600 So verfährt auch die Praxis in der Sache AC-Treuhand.601 2. Ergebnis Die Unternehmensvereinigung als eigenständiger Normadressat ist somit kein Anwendungsfall eines Kartellgehilfen im hier beschriebenen Sinne. Die Tathandlung der „Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen“ zeichnet sich vielmehr durch die Besonderheit aus, dass sie die institutionalisierte Koordination von Unternehmen über eine eigene Rechtspersönlichkeit erfassen und damit Umgehungen verhindert. Für den Kartellgehilfen bzw. die nicht durch Beschluss Hilfe leistende Unternehmensvereinigung verbleibt als Anknüpfungspunkt für die Verbindung mit den Kartellanten allein der Dienstvertrag. Auch wenn dieser den Kartellgehilfen im Interesse der Kartellanten handeln lässt,602 begründet er nicht die Annahme einer „Unternehmensvereinigung“. Ein Kartellgehilfe im hier beschriebenen Sinn ist kein Zusammenschluss mehrerer Unternehmen. Bereits der Wortlaut steht mithin entgegen.603 596 Etwa Kommission, Entsch. v. 13. 7. 1983, IV/30.174 – VIMPOLTU, ABl. 1983 L 200, S. 44, 51. 597 Etwa Kommission, Entsch. v. 24. 5. 1983, IV/181 – Cematex, ABl. 1983 L 140, S. 27, 31. 598 Etwa Kommission, Entsch. v. 18. 9. 1980, IV/25.077 – IMA Statuut, ABl. 1980 L 318, S. 1, 15. 599 Siehe bereits oben S. 273., 280. 600 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 30. 1. 1985, Rs. 123/83 – BNIC/Clair, Slg. 1985, 391, 423 Rn. 20; in diese Richtung auch Gruber, ÖZK 2010, 43, 46 m.w.N. aus der Kommissionspraxis, der den Beschluss einer Unternehmensvereinigung auf einen Anwendungsfall der bereits tatbestandlich erfassten Koordinierung der Mitgliedsunternehmen reduziert. Vgl. auch Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 103 („Faktisch sind Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen eine Sonderform der Vereinbarung von Unternehmen.“). Dies übersieht jedoch, dass die Unternehmensvereinigung nach Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV selbst Normadressat und im Falle ihrer Rechtsfähigkeit auch Bußgeldadressat ist. Diesen Aspekt können die beiden anderen Tatbestandsalternativen nicht erfassen. 601 Kommission, Entsch. v. 10. 12. 2003, COMP/E-2/37.857 – Organische Peroxide, Rn. 344, 346; als „rein alternative oder sogar hilfsweise Beurteilung“ dahinstehen lassend EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1571 Rn. 158. 602 Dazu auch Kommission, Entsch. v. 10. 12. 2003, COMP/E-2/37.857 – Organische Peroxide, Rn. 345 a.E. 603 So auch der Klägervortrag in EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/ Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1546 f. Rn. 98; ebenso Depuydt, DAOR 2008, 406, 412.
F. Der Normadressat: „Unternehmen“ und „Unternehmensvereinigungen“
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Anknüpfend an die Überschreitung des Wortlauts bleibt darauf hinzuweisen, dass die Tathandlung der „Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen“ eine gesetzlich normierte Ausweitung des Tatbestandes darstellt. Der oben604 angesprochene Umgehungsgedanke findet sich hier ganz i.S.d. effet utile kodifiziert. Wurde Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV in Bezug auf Unternehmen unter Heranziehen des Selbständigkeitspostulat als Pflichtdelikt im Sinne deutscher Strafrechtsdogmatik eingeordnet,605 so stellt die Unternehmensvereinigung als Normadressat eine Besonderheit dar. Die nicht wirtschaftlich tätige Unternehmensvereinigung ist vielmehr Täter,606 den diese Pflicht mangels Marktauftritts schon gar nicht trifft. Die Aufnahme der Unternehmensvereinigungen in den Tatbestand stellt sich vielmehr als die eigens normierte Strafbarkeit eines Extraneus dar. Dessen Voraussetzungen erfüllt der Kartellgehilfe aber nicht. Einer Überschreitung des gesetzlichen Rahmens steht erneut der nullum crimen-Grundsatz entgegen. In Bezug auf die Unternehmensvereinigungen als Normadressaten stellt der Tatbestand ein schlichtes Sonderdelikt dar.607 Beiden Adressatengruppen gemein ist aber, dass in der Tathandlung jeweils eine Verletzung des Selbständigkeitspostulats liegt.
III. Ansätze der Literatur: Rückschlüsse aus der Beschränkung des Täterkreises auf Unternehmen Mit den Begriffen „Unternehmen“ und „Unternehmensvereinigung“ beschreibt Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV den Täter. Dieses Merkmal könnte daher weitere Kriterien der Täterschaft enthalten. Bislang konnte die Verletzung des im Tatbestand des Art. 101 Abs. 1 AEUV zum Ausdruck kommenden Selbständigkeitspostulats als zentrale Täterschaftsvoraussetzung identifiziert werden. Eine Verletzung dieser Pflicht liegt dabei wie gesehen608 in eigener Person nur vor, wenn das Unternehmen Partei der Vereinbarung ist oder die aufeinander abgestimmte Verhaltensweise selbst vornimmt. Das Selbständigkeitspostulat, als die Pflicht, sich am Markt autonom zu verhalten, kann weiter nur verletzen, wer am Markt teilnimmt. Es richtet sich wie gesehen ausschließlich an 604
S. 294 f. Oben S. 278. 606 Vgl. Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 68; Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 133 [67. Lfg.: Januar 2009]; Säcker/Herrmann, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, WettbR, Bd. 1, Einl. Rn. 1653; Stockenhuber, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 85 [47. Lfg.: April 2012]. Ist die Unternehmensvereinigung zugleich rechtsfähig, ist sie auch Bußgeldadressat; Bechtold/Bosch/Brinker, EU-KartellR, Art. 101 AEUV Rn. 32; Säcker/ Herrmann, in: a.a.O., Bd. 1, Einl. Rn. 1653; Roth/Ackermann, a.a.O. 607 Dazu bereits oben S. 231 f. 608 S. 241 ff. 605
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
Unternehmen. Aus dieser Beschränkung des Täterkreises könnte jedoch eine darüber hinaus gehende Pflichtenstellung abgeleitet werden, die ein weiteres Täterschaftskriterium darstellt. Täter wäre nur, wer auch diese Pflicht verletzt.609 Im Schrifttum werden dazu einige Ansätze vorgebracht, die die Pflichten untersuchen, die die Sonderpflichtigkeit von „Unternehmen“ begründen. Dazu wird der Normadressat meist in Beziehung zu dem Markt gesetzt, auf den sich die Wettbewerbsbeschränkung bezieht. Diese Auffassungen sollen zunächst vorgestellt werden, bevor sie eingehend bewertet werden und eine Antwort auf die Sachfrage gegeben wird. 1. Teilnahme des Unternehmens am von der Wettbewerbsbeschränkung betroffenen Markt Die weitgehendste Anforderung, die gelegentlich610 formuliert wird, ist die Teilnahme des Unternehmens auf dem von der Wettbewerbsbeschränkung betroffenen, sachlich, örtlich und zeitlich relevanten Markt. Eine Begründung für diese enge Sonderpflicht des Unternehmens für das Schutzgut Wettbewerb findet sich nicht. Sie wird ersetzt durch einen Hinweis auf die Ausführungen Tiedemanns,611 aber auch dort nicht weiter ausgeführt.612 Letztlich differenziert diese Auffassung zwischen dem Wettbewerb auf verschiedenen Märkten. Den Unternehmen kommt danach eine „Garantenstellung“ nur für ihre Heimatmärkte zu. Diese Sonderstellung der Teilnahme auf dem betroffenen Markt nimmt ein Kartellgehilfe nicht ein.613 Dieser ist vielmehr ausschließlich auf seinem Heimatmarkt, im Falle der AC Treuhand AG dem Markt für Wirtschaftsberatungstätigkeiten und vergleichbare Leistungen, tätig. Dieser ist nicht mit dem Markt seiner Mandanten, auf den sich die Wettbewerbsbeschränkung bezieht, etwa dem für organische Peroxide, identisch. 609
Zum Begriff des Pflichtdelikts siehe oben S. 232 f. Böse, Strafen und Sanktionen im europ. GemR, S. 195; Dannecker, in: Schünemann/ Suárez González, Bausteine des europ. WirtschaftsstrafR, S. 331, 336; ders./Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 137; Muders, wistra 2011, 405, 408; Tiedemann, in: Vogler u. a., FS Jescheck, Bd. II, S. 1411, 1420; ders., NJW 1993, 23, 30; Tsolka, Der allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 292. Diese Argumentation trägt auch die AC Treuhand AG vor; EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/ Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1542 Rn. 89. 611 Böse, Strafe und Sanktionen im europ. GemR, S. 195 (Fn. 3); Dannecker, in: Schünemann/Suárez González, Bausteine des europ. WirtschaftsstrafR, S. 331, 336; Tsolka, Der allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 292. 612 Tiedemann, in: Vogler u. a., FS Jescheck, Bd. II, S. 1411, 1420; ders., NJW 1993, 23, 30. 613 Dannecker, in: Schünemann/Suárez González, Bausteine des europ. WirtschaftsstrafR, S. 331, 336; ders./Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 137; Tiedemann, in: Vogler u. a., FS Jescheck, Bd. II, S. 1411, 1420; ders., NJW 1993, 23, 30; Tsolka, Der allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 291 f. 610
F. Der Normadressat: „Unternehmen“ und „Unternehmensvereinigungen“
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2. Modifizierung des Begriffs der Marktteilnahme unter Schutzzweckgesichtspunkten Weiter gehend fasst Schuhmacher den Begriff der Teilnahme an dem betroffenen Markt im Wege einer schutzzweckbezogenen Auslegung des Unternehmensbegriffs extensiver und begründet damit auch die Erfassung von Kartellgehilfen.614 Der Grundgedanke des Kartellverbots als Sonderdelikt, dass nur die Teilnahme am Wettbewerb die Möglichkeit eröffnet, diesen zu beschränken, bildet den Ausgangspunkt der Argumentation. Der Norm sei aber nicht zu entnehmen, wie diese Teilnahme am Wettbewerb erfolgen müsse.615 Auch durch die Koordinationstätigkeit des Wettbewerbsverhaltens seiner Mandanten bringe sich der Kartellgehilfe in den Wettbewerb auf dem von der Wettbewerbsbeschränkung betroffenen Markt ein.616 Dadurch komme es mit dem Schutzgut, dem Wettbewerb auf dem betroffenen Markt, gleichermaßen in Berührung.617 Letztlich sei dies als Teilnahme auf dem betroffenen Markt zu verstehen und bringe den Kartellgehilfen in den Kreis der Adressaten des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV. Dieser Ansatz klingt auch in der Entscheidung der Kommission in der Sache Organische Peroxide an. Auf den Einwand des Kartellgehilfen, er sei kein beteiligtes Unternehmen, weil er nicht auf dem relevanten Markt tätig sei, entgegnet die Kommission, dass die AC Treuhand AG sehr wohl ein Unternehmen sei. Sie „konnte mit ihren Vorschlägen, ihrer Vermittlungstätigkeit, ihren Statistiken usw. den OPMarkt [den Markt für Organische Peroxide] beeinflussen und hat ihn auch beeinflusst. Ein plötzlicher Wegfall der AC Treuhand hätte die Vereinbarung ebenso zumindest befristet unterbrochen wie der plötzliche Ausstieg eines OP-Produzenten.“618 Ebenfalls wurde ein vergleichbarer Gedanke herangezogen, um bei der Bußgeldbemessung auf den Gesamtumsatz sämtlicher Mitglieder einer Unternehmensvereinigung ohne eigenen Umsatz abzustellen, soweit diese ihre Mitgliedsunternehmen binden konnte.619 Die der Regelung des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 3 VO 1/ 2003 vorausgegangene Rechtsprechung wurde damit begründet, nur so könne der Einfluss der Unternehmensvereinigung auf den Markt angemessen bemessen werden.620 614
Schuhmacher, ZfRV 2009, 9, 12 f. Schuhmacher, ZfRV 2009, 9, 12. 616 Schuhmacher, ZfRV 2009, 9, 12. 617 Schuhmacher, ZfRV 2009, 9, 12. 618 Kommission, Entsch. v. 10. 12. 2003, COMP/E-2/37.857 – Organische Peroxide, Rn. 345. 619 Siehe noch unten bei Teil 3 Fn. 660. 620 EuGH, Urt. v. 18. 12. 2008, verb. Rs. C-101/07 P und C-110/07 P – Coop de France bétail et viande u. a./Kommission, Slg. 2008, I-10193, I-10264 ff. Rn. 90 ff., insb. I-10266 Rn. 98; EuG, Urt. v. 21. 2. 1995, Rs. T-29/92 – SPO u. a./Kommission, Slg. 1995, II-289, II-409 Rn. 385; Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 124; Sura, in: Langen/ Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 13. Zu Art. 23 Abs. 2 UAbs. 3 VO 1/2003 siehe noch näher sogleich S. 346 ff. 615
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
Zu einem ähnlichen Ergebnis schutzzweckbezogener Auslegung kommt auch Jüchser. Zwar modifiziert er den Begriff der Marktteilnahme nicht, sondern nähert sich über die Auslegung der Tathandlungen. In der Praxis der Unionsorgane sei die „Einwirkung auf den Markt in eine bestimmte Richtung“ das maßgebliche Kriterium zur Abgrenzung des strafbaren vom straflosen Verhalten.621 Im Wege der teleologischen Reduktion der Tathandlungen der Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen verlangt Jüchser, dass die vom Kartellverbot adressierten Unternehmen „tatsächlich in der Lage sind, das Marktgeschehen, wenn auch nur über die anderen Unternehmen zu beeinflussen“622 und beschreibt so eine Anforderung an das Unternehmen und nicht die Tathandlung. Erst dann sei sichergestellt, dass sich der Beitrag des Kartellgehilfen nicht auf „bloße Organisationshandlungen beschränkt“, die straflos bleiben.623 Allerdings wird dieses Kriterium nicht weiter konkretisiert. Insbesondere ist nicht erkennbar, wie es sich von den oben624 erörterten gesetzlichen Merkmalen des Bezweckens oder Bewirkens einer spürbaren Wettbewerbsbeschränkung unterscheidet. Es sei daher erneut auf die dort gefundenen Ergebnisse verwiesen. 3. Produktbezogene wirtschaftliche Nähe Deutlich restriktiver definiert J. Koch die Beziehung des Unternehmens zum betroffenen Markt.625 Die Teilnahme am Markt der Wettbewerbsbeschränkung sei nicht erforderlich. Wer das aus dem Wortlaut gefolgerte Täterkriterium der Partei der Vereinbarung626 ignoriere, müsse aber erkennen, dass sich die zwischen den Unternehmen verabredete Kollusion inhaltlich gerade auf diesen Markt beziehen muss. Dies sei „in der Regel nur dann der Fall […], wenn die beteiligten Unternehmen zumindest in einer solchen produktbezogenen wirtschaftlichen Nähe zu dem relevanten Markt stehen, dass ihre vertragliche oder faktische Bindung zu einer Beschränkung des Wettbewerbs führen kann.“627 4. Besondere Pflichtenstellung des Unternehmens Wurde die Begründung der Sonderpflicht des Unternehmens bislang in der Nähe zum von der Wettbewerbsbeschränkung betroffenen Markt gesehen, so knüpft ein anderer Ansatz628 an die Beziehung des Unternehmens zum deliktischen Geschehen 621 622 623 624 625 626 627 628
Jüchser, Die Beteiligung am Kartell, S. 119. Jüchser, Die Beteiligung am Kartell, S. 119. Jüchser, Die Beteiligung am Kartell, S. 119. S. 298 ff. J. Koch, ZWeR 2009, 370, 384. Dazu oben S. 241 f., 243 f., 247 f. J. Koch, ZWeR 2009, 370, 384. Hamann, Das Unternehmen als Täter im europ. WettbR, S. 186 ff.
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an. Dabei seien nicht alle beteiligten Unternehmen für eine Zuwiderhandlung in gleichem Maße verantwortlich.629 Nur Unternehmen mit einer hervorgehobenen Stellung treffe die Sonderpflicht, die sie zum Täter qualifiziert.630 Wesentliche Kriterien zur Bestimmung dieser herausgehobenen Stellung könnten sein, „ob aus der Wettbewerbsbeschränkung ein direkter wirtschaftlicher Vorteil gezogen wird, ob die Wettbewerbsbeschränkung der Stellung des Unternehmens am Markt zugutekommt und ob die Wettbewerbsbeschränkung im Geschäftsbereich des Unternehmens erfolgte.“631 Anhand dieser Kriterien zweifelt Hamann632 an dem Bestehen der Sonderpflicht bei Kartellgehilfen. 5. Stellungnahme Auch die Frage nach dem Verhältnis des Unternehmens zum von der Wettbewerbsbeschränkung betroffenen Markt bzw. nach einem weitergehenden Gehalt der im Unternehmensbegriff zum Ausdruck kommenden Sonderpflicht kann wiederum nur durch Auslegung beantwortet werden. a) Grammatikalische Auslegung Der Unternehmensbegriff selbst gibt keine Auskunft über eine besondere (Pflichten)Stellung des Unternehmens am Markt der Wettbewerbsbeschränkung. Auch die Berücksichtigung des Begriffs der Unternehmensvereinigung führt nicht weiter, setzt dieser doch nicht einmal einen Marktauftritt voraus. Im Rahmen der grammatikalischen Auslegung ist aber auch der Zusammenhang des Satzes heranzuziehen. Das Zusammenspiel mit den bereits behandelten Merkmalen liefert dabei weitere Erkenntnisse. aa) Folgerungen aus den Merkmalen der Tathandlungen So kann die Vornahme der Tathandlungen ohne Berücksichtigung einer Marktabgrenzung beurteilt werden.633 Der von der Wettbewerbsbeschränkung betroffene Markt ist somit für die Beurteilung der Handlung des Unternehmens irrelevant. Ein Auseinanderfallen des Marktes, auf dem die Unternehmen oder ein beteiligtes Unternehmen tätig werden, und dem Markt der Wettbewerbsbeschränkung ist damit möglich.634 Diese mögliche Marktdivergenz wird gemeinhin als Drittmarktproble629
Hamann, Das Unternehmen als Täter im europ. WettbR, S. 187. Hamann, Das Unternehmen als Täter im europ. WettbR, S. 188. 631 Hamann, Das Unternehmen als Täter im europ. WettbR, S. 187 f. 632 Hamann, Das Unternehmen als Täter im europ. WettbR, S. 188 verweist aber zu Recht darauf, dass der Kartellgehilfe nicht Partei der Vereinbarung ist; dazu bereits S. 241 ff. 633 Stoll, Drittmarktbehinderungen, S. 232. 634 Stoll, Drittmarktbehinderungen, S. 232 f. 630
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
matik bezeichnet.635 Aus dem Blickwinkel der Tathandlung kann auch von einer marktübergreifenden (Kartell-)Abrede gesprochen werden. Dies wird durch die Beschlüsse nicht wirtschaftlich tätiger Unternehmensvereinigungen bestätigt.636 Auch diese Normadressaten sind nicht auf dem betroffenen Markt tätig.637 bb) Folgerungen aus dem Merkmal der bezweckten oder bewirkten Wettbewerbsbeschränkung Auch das Merkmal der bezweckten oder bewirkten Wettbewerbsbeschränkung lässt Rückschlüsse auf die Beziehung des Unternehmens zum betroffenen Markt zu. Art. 101 Abs. 1 AEUV schützt den „Wettbewerb innerhalb des Binnenmarkts“. Auch wenn das Kartellverbot universell formuliert ist, muss zur Feststellung einer spürbaren, bezweckten oder bewirkten Wettbewerbsbeschränkung eine Marktabgrenzung vorgenommen werden. Die Maßgeblichkeit der Einzelmärkte klingt auch im Wortlaut der Bußgeldnorm an. Art. 101 Abs. 1 Hs. 2 lit. c AEUV benennt „die Aufteilung der Märkte“ als Regelbeispiel einer Wettbewerbsbeschränkung. Art. 23 Abs. 2 UAbs. 3, Abs. 4 UAbs. 3 VO 1/2003 stellen ebenfalls den Bezug der Wettbewerbsbeschränkung zu einem konkreten Einzelmarkt her.638 Nach allgemeiner Meinung wird diese Marktabgrenzung nach dem Bedarfsmarktkonzept vorgenommen.639 Die Austauschbarkeit des Produkts in zeitlicher, räumlicher und sachlicher Hinsicht für die Marktgegenseite ist danach maßgeblich. Auf dem jeweiligen Markt sind mithin nur die Unternehmen tätig, die als Nachfrager oder Anbieter dieser Produkte auftreten. In diesem Sinne ist auch das Marktverhalten als Gegenstand der Abrede zu bestimmen.640 Dieses Konzept steht somit dem Ansatz Schuhmachers entgegen, die Marktteilnahme nach schutzzweckbezogenen Aspekten auszuweiten. Auch Unternehmen, die zwar wie ein Marktteilnehmer eine Gefahr für den Wettbewerb auf dem jeweiligen Markt darstellen, bleiben ausschließlich auf ihrem Heimatmarkt tätig.641 Die vorgeschlagene schutzzweckbezogene Korrektur ist auch nicht notwendig. Auch bei diesem Merkmal setzt sich fort, dass der Wortlaut keine besondere Beziehung des Unternehmens zum betroffenen Markt verlangt.642 Heimatmarkt und Markt der Wettbewerbsbeschränkung müssen sich danach nicht decken. Letzterer muss indes „innerhalb des Binnenmarktes“ liegen. Die Koordination
635
Zu den Begrifflichkeiten eingehend Stoll, Drittmarktbehinderungen, S. 5 ff. m.w.N. Vgl. auch Depuydt, DAOR 2008, 406, 408. 637 Dazu bereits oben S. 332 f. 638 Dazu noch eingehend unten S. 346 ff. 639 Siehe oben S. 309 f. 640 Siehe oben S. 274 f. zu den Vereinbarungen und Beschlüssen, S. 244 ff., 273 zu den aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen. 641 Vgl. auch Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 34. 642 Vgl. i.E. auch Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 34 f. 636
F. Der Normadressat: „Unternehmen“ und „Unternehmensvereinigungen“
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der Unternehmen muss sich letztlich im Binnenmarkt auswirken.643 Ob auch die Unternehmen innerhalb des Binnenmarktes beheimatet sind, ist wiederum irrelevant. Das Kartellverbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV ist auch auf ausschließlich außerhalb tätige Unternehmen anwendbar.644 Es bezieht mithin jedenfalls in räumlicher Hinsicht Drittmärkte mit ein.645 Aus diesem u. a. auf die fehlende Umschreibung des „Tatorts“ gestützten Auswirkungsprinzip646 lässt sich ferner auf die Erfassung sachlicher Drittmärkte schließen.647 Die Beziehung zwischen Wettbewerbsbeschränkung und Tathandlung der Unternehmen drückt sich allein im Bezwecken oder Bewirken aus. Die Koordination der Unternehmen muss lediglich geeignet sein, eine Wettbewerbsbeschränkung herbeizuführen (Bezwecken), oder dies auch tun (Bewirken).648 cc) Folgerungen aus dem Merkmal der sog. Zwischenstaatlichkeitsklausel Eine Parallele zum sog. Auswirkungsprinzip findet sich auch bei der Berücksichtigung der sog. Zwischenstaatlichkeitsklausel. Ihre weite Auslegung649 erfasst auch Maßnahmen, dessen Eignung zur Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels nicht auf dem Markt ergibt, auf dem sie getroffen wurde.650 Einbezogen sind etwa auch wettbewerbswidrige Absprachen über ein bloß national oder auch nur regional gehandeltes Produkt, das aber Vorprodukt eines zwischenstaatlich gehandelten Endprodukts ist.651
643
Zum sog. Auswirkungsprinzip siehe die Nachw. in Teil 3 Fn. 431. EuGH, Urt. v. 15. 6. 1976, Rs. 96/75 – EMI Records/CBS Schallplatten, Slg. 1976, 913, 951 Rn. 14; Urt. v. 25. 11. 1971, Rs. 22/71 – Béguelin Import/G. L. Import Export, Slg. 1971, 949, 959 f. Rn. 10/12; Bechtold/Bosch/Brinker, EU-KartellR, Einl. Rn. 17, 19; Bunte, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Einl. Rn. 62; Meessen, in: L/M/R, KartellR, IntKartR Rn. 73; Schuhmacher, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 32 ff. [47. Lfg.: April 2012]; Schnyder, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Einl. Rn. 848; Zurkinden/ Lauterburg, in: Schröter/Jakob/Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Vor. Art. 101 bis 105 AEUV Rn. 107 ff. 645 Stoll, Drittmarktbehinderungen, S. 232. 646 Diese Begründung etwa bei W. Weiß, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 101 AEUV Rn. 11 m.w.N.; Zurkinden/Lauterburg, in: Schröter/Jakob/Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Vor. Art. 101 bis 105 AEUV Rn. 107. 647 Stoll, Drittmarktbehinderungen, S. 232. 648 Siehe oben S. 310 ff. 649 Dazu bereits oben S. 325 f. 650 Stoll, Drittmarktbehinderungen, S. 233 f. Siehe auch EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1556 Rn. 122. 651 EuGH, Urt. v. 30. 1. 1985, Rs. 123/83 – BNIC/Clair, Slg. 1985, 391, 425 Rn. 29; Urt. v. 3. 12. 1987, Rs. 136/86 – BNIC/Aubert, Slg. 1987, 4789, 4814 Rn. 17 f.; Urt. v. 31. 3. 1993, verb. Rs. C-89/85, C-104/85, C-114/85, C-116/85, C-117/85 und C-125/85 bis C-129/85 – Ahlström Osakeyhtiö u. a./Kommission, Slg. 1993, I-1307, I-1617 Rn. 142; Schröter/Voet van Vormizeele, in: Schröter/Jakob/Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Art. 101 AEUV Rn. 197; Stockenhuber, in: 644
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
dd) Folgerungen aus den Regelbeispielen des Art. 101 Abs. 1 Hs. 2 AEUV Schließlich kann auch das Regelbeispiel des Art. 101 Abs. 1 Hs. 2 lit. e AEUV für eine Einbeziehung – auch von sachlichen – Drittmärkten angeführt werden.652 Durch die Koppelung „weder sachlich noch nach Handelsbrauch in Beziehung zum Vertragsgegenstand“ stehenden Leistungen werden zum einen der Vertragspartner, zum anderen die Wettbewerber auf dem gekoppelten Markt in ihrer wirtschaftlichen Handlungsfreiheit beeinträchtigt. Der Vertragspartner wird dabei nicht nur auf dem Ausgangsmarkt beschränkt, indem er die Koppelung annehmen muss, er wird auch auf dem Markt der gekoppelten Produkte an der freien Auswahl seines Vertragspartners gehindert, was spiegelbildlich die Wettbewerber des koppelnden Unternehmens auf diesem Markt beschränkt. Unabhängig von der Frage, ob das Regelbeispiel so zu verstehen ist, dass es nur die koordinierte und damit dritte Unternehmen betreffende Koppelungen erfasst,653 liegt damit eine Wettbewerbsbeschränkungen auf einem (sachlichen) Drittmarkt vor. Ebenso erfasst auch Art. 101 Abs. 1 Hs. 2 lit. d AEUV sachliche Drittmärkte. Die koordinierte654 Ungleichbehandlung dritter Handelspartner schwächt diese auch auf ihrem vor oder nachgelagerten Markt gegenüber ihren dortigen Wettbewerbern. Die in den im Vergleich zu seinen Wettbewerbern überschießenden Bedingungen gebundenen Ressourcen kann das Unternehmen nicht anderweitig am vor- oder nachgelagerten Markt einsetzen. Art. 101 Abs. 1 Hs. 2 lit. d AEUV schützt somit den Wettbewerb auf diesem voroder nachgelagerten Markt.655
G/H/N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 212 [47. Lfg.: April 2012]; Stoll, Drittmarktbehinderungen, S. 234 f. 652 Stoll, Drittmarktbehinderungen, S. 232. 653 So Bechtold/Bosch/Brinker, EU-KartellR, Art. 101 AEUV Rn. 102; Gleiss/Hirsch, EGKartellR, Bd. 1, Art. 85 (1) Rn. 400; Grill, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge, Art. 101 AEUV Rn. 34; Sympathien auch bei Zimmer, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 251; anders die h.M.; Kommission, Leitlinien für vertikale Beschränkungen, ABl. 2010 C 130, S. 1, 43 ff. Rn. 214 ff.; Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 286; Mestmäcker/Schweitzer, Europ. WettbR., § 11 Rn. 24; Müller-Graff, in: Hailbronner u. a., HK, EUV/AEUV, Art. 85 EG Rn. 103 [2. Lfg.: Februar 1994]; Roth/Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 419 [68. Lfg.: Mai 2009]; Schröter, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 2, Art. 81 Rn. 175; Stockenhuber, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 201 [47. Lfg.: April 2012]; Wägenbaur, in: L/M/R, KartellR, Art. 81 Abs. 1 EG Rn. 321 f.; W. Weiß, in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, Art. 101 AEUV Rn. 144; Wollmann/Schedl, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 81 EG Rn. 137. 654 Anders als das Regelbeispiel des lit. e muss die Diskriminierung eines Handelspartners nach Art. 101 Abs. 1 Hs. 2 lit. d AEUVauf eine Kollusion zurückgehen; siehe dazu bereits oben S. 261. 655 Mestmäcker/Schweitzer, Europ. WettbR, § 11, Rn. 22; Zimmer, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 247; vgl. auch Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 281.
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ee) Zwischenergebnis Die grammatikalische Auslegung ergibt somit keine besonderen Anforderungen an die Pflichtenstellung des Unternehmens zum von der Wettbewerbsbeschränkung betroffenen Markt. Der Wortlaut erfasst vielmehr auch marktübergreifende Koordinationen oder aus anderer Perspektive gesprochen Wettbewerbsbeschränkungen auf Drittmärkten. Er gebietet mithin keine der im Schrifttum vorgeschlagenen Voraussetzungen der Sonderpflichten des Unternehmens im Wettbewerb. Diese aufgestellten „Garantenstellungen“ erhöhen vielmehr die aus dem Wortlaut erkennbaren Pflichten der Unternehmen. Damit erscheinen die strengeren Voraussetzungen der Literatur als teleologische Reduktionen. Den dahinter stehenden, im Schrifttum vorgebrachten Telos gilt es jedoch im Folgenden zu überprüfen. b) Systematische Auslegung Während die historische Auslegung keine Erkenntnisse erbringt, sind im Rahmen der systematischen Auslegung zunächst die übrigen Bußgeldtatbestände des Art. 23 Abs. 2 VO 1/2003 in den Blick zu nehmen. aa) Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 2 VO 1/2003 i.V.m. Art. 102 AEUV Besonderes Augenmerk ist dabei auf Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 2 VO 1/ 2003 zu legen, der Verstöße gegen das Missbrauchsverbot des Art. 102 AEUV erfasst. Anders als Art. 101 Abs. 1 AEUV enthält Art. 102 AEUV besondere Anforderungen an den Normadressaten. Das Missbrauchsverbot richtet sich nicht an sämtliche „Unternehmen“. Art. 102 AEUV bezeichnet vielmehr die Marktstellung des Unternehmens näher, indem er eine „beherrschende[…] Stellung auf dem Binnenmarkt oder auf einem wesentlichen Teil desselben“ verlangt. Gleichwohl regelt auch Art. 102 AEUV das Auseinanderfallen von beherrschtem Heimatmarkt und dem Markt, auf den die Wettbewerbsbeschränkung gerichtet ist bzw. eintritt, nicht ausdrücklich. Jedoch hat die Rechtsprechung einen Verstoß gegen Art. 102 AEUV bejaht, selbst wenn das Unternehmen auf dem betroffenen Markt nicht die vom Tatbestand erforderte beherrschende Stellung innehat.656 Eine beherrschende Stellung kann somit marktübergreifend missbraucht werden.657 Dies erstaunt, setzt der Tatbestand in der beherrschenden Stellung doch gerade anders als Art. 101 AEUV eine besondere Pflichtenstellung im Markt voraus. Diese Rechtsprechung 656 EuGH, Urt. v. 14. 11. 1996, Rs. C-333/94 P – Tetra Pak/Kommission, Slg. 1996, I-5951, I-6007 Rn. 24; EuG, Urt. v. 12. 12. 2000, Rs. T-128/98 – Aéroports de Paris/Kommission, Slg. 2000, II-3929, II-3980 f. Rn. 164 f.; Bulst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 102 AEUV Rn. 132 f.; Deselaers, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 102 AEUV Rn. 455 ff. [43. Lfg.: März 2011]; Emmerich, KartellR, § 10 Rn. 6 f.; Fuchs/Möschel, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 102 AEUV Rn. 138 ff. 657 Eingehend dazu Stoll, Drittmarktbehinderungen, S. 236 ff.
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
spricht damit für eine Erfassung von Drittmärkten auch durch den Tatbestand des Art. 101 Abs. 1 AEUV. bb) Art. 23 Abs. 2 UAbs. 3 VO 1/2003 Das Kriterium der Teilnahme an dem von der Wettbewerbsbeschränkung betroffenen Markt findet sich einzig in Art. 23 Abs. 2 UAbs. 3 VO 1/2003 und ihrer letztrangigen Durchsetzungsvorschrift Art. 23 Abs. 4 UAbs. 3 VO 1/2003 wieder. Danach wird die Kappungsgrenze für nicht wirtschaftlich tätige Unternehmensvereinigungen in Abweichung von Art. 23 Abs. 2 UAbs. 2 VO 1/2003 auf „10 % der Summe der Gesamtumsätze derjenigen Mitglieder, die auf dem Markt tätig waren, auf dem sich die Zuwiderhandlung der Vereinbarung auswirkte,“ festgesetzt. Wie bei der Kappungsgrenze für Unternehmen und wirtschaftlich tätige Unternehmensvereinigungen gem. Art. 23 Abs. 2 UAbs. 2 VO 1/2003658 bleibt die Kappungsgrenze allerdings nicht auf die Umsätze auf dem betroffenen Markt beschränkt.659 Maßgeblich ist jeweils der Gesamtumsatz der Unternehmen. Das Gesetz stellt mithin nicht maßgeblich auf den betroffenen Markt ab. Die Sonderregel des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 3 VO 1/2003 schließt mithin die Lücke, die dadurch entsteht, dass eine nicht wirtschaftlich tätige Unternehmensvereinigung keine eigenen (relevanten) Umsätze als Bemessungsgrundlage bietet. Bislang berücksichtigte die Praxis zur VO 17/62 stattdessen die Umsätze aller Mitgliedsunternehmen, die durch den Beschluss gebunden wurden.660 Nur so könne der Einfluss der Unternehmensvereinigung auf dem betroffenen Markt angemessen bestimmt werden.661 Die Rechtsprechung zur VO 17/62 stellte damit bei der Bußgeldobergrenze auf die in der von den Unternehmen zugemessenen Bindung an den Beschluss
658
Dazu etwa Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 122. Zur einschränkenden Auslegung durch die Bußgeldleitlinien der Kommission noch sogleich S. 348 ff. 660 Beschl. des Präsidenten des Gerichtshofs v. 14. 10. 1996, Rs. C-268/96 P(R) – SCK und FNK/Kommission, Slg. 1996, I-4971, I-4982 Rn. 35; EuG, Urt. v. 23. 2. 1994, verb Rs. T-39/92 und T-40/92 – CB und Europay/Kommission, Slg. 1994, II-49, II-97 f. Rn. 136 f.; Urt. v. 21. 2. 1995, Rs. T-29/92 – SPO u. a./Kommission, Slg. 1995, II-289, II-409 f. Rn. 385; Urt. v. 22. 10. 1997, verb. Rs. T-213/95 und T-18/96 – SCK und FNK/Kommission, Slg. 1997, II-1739, II-1831 f. Rn. 252; Urt. v. 14. 5. 1998, Rs. T-338/94 – Finnboard/Kommission, Slg. 1998, II-1617, II-1694 Rn. 270; Beschl. v. 14. 12. 2000, Rs. T-5/00 R – Nederlandse Federatieve Vereniging voor de Groothandel op Elektrotechnisch Gebied/Kommission, Slg. 2000, II-4121, II-4137 Rn. 54; bestätigt durch EuGH, Beschl. v. 23. 3. 2001, Rs. C-7/01 P(R) – FEG/Kommission, Slg. 2001, I-2559, I-2571 f. Rn. 33 ff. Zu den „Bindungswirkungen“ des Beschlusses siehe bereits oben S. 335. 661 EuG, Urt. v. 23. 2. 1994, verb Rs. T-39/92 und T-40/92 – CB und Europay/Kommission, Slg. 1994, II-49, II-97 f. Rn. 137; Urt. v. 21. 2. 1995, Rs. T-29/92 – SPO u. a./Kommission, Slg. 1995, II-289, II-409 f. Rn. 385; Urt. v. 22. 10. 1997, verb. Rs. T-213/95 und T-18/96 – SCK und FNK/Kommission, Slg. 1997, II-1739, II-1831 f. Rn. 252. 659
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liegende Verletzung des Selbständigkeitspostulats662 ab. Dadurch erreichte sie eine angemessene Bemessungsgrundlage für die Kappungsgrenze der nicht wirtschaftlich tätigen Unternehmensvereinigung. Zumindest sprachlich scheint Art. 23 Abs. 2 UAbs. 3 VO 1/2003 eine Abkehr zu bedeuten. Aus der Maßgeblichkeit des Gesamtumsatzes allein der auf dem betroffenen Markt tätigen Mitgliedsunternehmen zum Zwecke des Gleichlaufs der Bußgeldbemessung der Unternehmensvereinigung mit der der Unternehmen zu schließen, die VO 1/2003 ginge davon aus, dass jedes Unternehmen auf dem betroffenen Markt tätig sein muss, schlägt fehl. Die Bemessung der Kappungsgrenze ist eine Frage der Strafzumessung, die Voraussetzung der Teilnahme des Unternehmens auf dem betroffenen Markt hingegen eine Tatbestandsfrage. Auch auf Rechtsfolgenseite kennt Art. 23 Abs. 2 UAbs. 2 VO 1/2003 das Kriterium der Teilnahme auf dem betroffenen Markt für die Bebußung von Unternehmen nicht. Ferner kommt es selbst bei der Zumessung der Verantwortlichkeit der Mitgliedsunternehmen im Rahmen des Durchsetzungsmechanismus gem. Art. 23 Abs. 4 VO 1/2003 nicht entscheidend auf die Teilnahme am betroffenen Markt an. So sieht Art. 23 Abs. 4 UAbs. 2 VO 1/2003 im Falle der Zahlungsunfähigkeit der Unternehmensvereinigung – vorbehaltlich der Ausnahmen des Art. 23 Abs. 4 UAbs. 4 VO 1/2003 – diejenigen Mitgliedsunternehmen als primäre Ausfallschuldner an, „dessen Vertreter Mitglieder in den betreffenden Entscheidungsgremien der Vereinigung waren.“ Nur als nachrangiger Schuldner kann die Kommission gem. Art. 23 Abs. 4 UAbs. 3 VO 1/2003 auf jedes Mitgliedsunternehmen zurückgreifen, „das auf dem Markt tätig war, auf dem die Zuwiderhandlung erfolgte.“ Das Gesetz stellt mithin vorrangig auf die Verantwortlichkeit für die Verletzung des Selbständigkeitspostulats ab.663 Die Teilnahme der Mitgliedsunternehmen auf dem von dem Beschluss betroffenen Markt wird schließlich i. d. R. mit (abzuschöpfenden) Vorteilen für die Unternehmen verbunden sein und daher wohl die Letzt-Haftung rechtfertigen. Ohnehin scheint mit dem Einfügen des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 3 VO 1/2003 keine inhaltliche Änderung im Vergleich zur Praxis unter der VO 17/62 verbunden zu sein, da beide Kriterien gleichlaufen. Da eine Unternehmensvereinigung zumindest auch die Interessen ihrer Mitgliedsunternehmen wahrzunehmen hat,664 werden die Einzelinteressen der organisierten Unternehmen eine gewisse Schnittmenge bilden. I.d.R. werden die Mitgliedsunternehmen einer Unternehmensvereinigung Wettbe-
662 Zur Herleitung dieses Kriteriums im Rahmen der Tatbestandsbegründung siehe bereits S. 264 ff., 302 f., 323 f. 663 Auch in der Praxis zur VO 17/62 sollten die Umsätze der Mitgliedsunternehmen auch dann maßgeblich sein, wenn die Möglichkeit der Unternehmensvereinigung, ihre Mitglieder zu verpflichten, nicht bestand, diese aber aktiv an der Umsetzung des wettbewerbswidrigen Verhaltens mitgewirkt haben; EuGH, Urt. v. 18. 12. 2008, verb. Rs. C-101/07 P und C-110/07 P – Coop de France bétail et viande u. a./Kommission, Slg. 2008, I-10193, I-10265 f. Rn. 96 ff.; Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 124. 664 Siehe das allgemeine Begriffsverständnis; oben S. 332.
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
werber sein.665 Die durch den wettbewerbswidrigen Beschluss gebundenen Unternehmen sind somit jedenfalls auf demselben Markt tätig. Auch das Schrifttum hält Art. 23 Abs. 2 UAbs. 3 VO 1/2003 für eine Fortschreibung der bisherigen Rechtsprechung.666 Aus den Regelungen des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 3, Abs. 4 UAbs. 3 VO 1/2003 kann folglich nicht auf eine besondere Bedeutung der Teilnahme am betroffenen Markt für die Tatbestandsverwirklichung gem. Art. 101 Abs. 1 AEUV durch Unternehmen geschlossen werden. cc) Soft law der EU-Kommission Das Kriterium der Teilnahme am Markt der Wettbewerbsbeschränkung zieht zudem die Kommission für die Rechtsfolgenseite der Bußgeldzumessung heran. Mit der Bebußung von Kartellgehilfen, die per definitionem nicht auf dem betroffenen Markt tätig sind, zeigen sich somit im Rahmen der inneren Systematik Brüche mit den Regelungen der Leitlinien und Bekanntmachungen der Kommission. Diese verlangen jeweils eine Abgrenzung des relevanten Marktes.667 „Mit der Abgrenzung eines Marktes in sowohl seiner sachlichen als auch seiner räumlichen Dimension soll ermittelt werden, welche konkurrierenden Unternehmen tatsächlich in der Lage sind, dem Verhalten der beteiligten Unternehmen Schranken zu setzen und sie daran zu hindern, sich einem wirksamen Wettbewerbsdruck zu entziehen.“668 Gleichwohl soll der Kartellgehilfe für den Wettbewerbsverstoß auf dem Markt seiner Mandanten verantwortlich gemacht werden können.669 Zudem konkretisieren die Bußgeldleitlinien Art. 23 Abs. 2 UAbs. 2 VO 1/2003 dahingehend, dass nach Rn. 13 der Gesamtumsatz mittels des „Wert[es] der von dem betreffenden Unternehmen im relevanten räumlichen Markt innerhalb des EWR verkauften Waren oder Dienstleistungen, die mit dem Verstoß in einem unmittelbaren oder mittelbaren Zusammen-
665
Vgl. auch Depuydt, DAOR 2008, 406, 410. Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 124; Klees, Kartellverfahrensrecht, § 10 Rn. 53; Sura, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 23 VO 1/ 2003 Rn. 13. 667 Kommission, Bekanntmachung über die Definition des relevanten Marktes im Sinne des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft, ABl. 1997 C 372, S. 5 Rn. 2, 6 Rn. 11; Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag, ABl. 2004 C 101, S. 97, 101 Rn. 27; dies., Leitlinien zur Anwendbarkeit von Artikel 81 EG-Vertrag auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit, ABl. 2001, C 3, S. 2 Rn. 27; dies., Bekanntmachung über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, die den Wettbewerb gemäß Artikel 81 Absatz 1 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft nicht spürbar beschränken (de minimis), ABl. 2001 C 368, S. 13, 14 Rn. 10. 668 Kommission, Bekanntmachung über die Definition des relevanten Marktes im Sinne des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft, ABl. 1997 C 372, S. 5 Rn. 2. 669 Vgl. die parallele Argumentation gegen die marktübergreifenden einheitlichen, komplexen und fortgesetzten Zuwiderhandlungen bei Dreher, ZWeR 2007, 276, 290 ff. 666
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hang stehen“ bestimmt wird.670 Da der Kartellgehilfe aber nicht auf dem betroffenen Markt tätig ist, beläuft sich sein danach relevanter Gesamtumsatz auf null Euro.671 Als Höchstgrenze nennt Art. 23 Abs. 2 UAbs. 2 VO 1/2003 10 % dieses Betrages. Die Kappungsgrenze beträgt mithin ebenfalls null Euro. Selbst wenn man Kartellgehilfen als Bußgeldadressaten ansieht, so müsste das Bußgeld nach der „allgemeinen Methode“672 der Bußgeldleitlinien null Euro betragen. Es verbleiben lediglich die „außerordentlichen“ Berechnungsmethoden der Rn. 36, 37. Diese knüpfen nicht an die allgemeine Berechnungsmethode der Rn. 9 bis 35 an. Ein symbolisches Bußgeld nach Rn. 36 wird aber aus rechtsstaatlichen und systematischen Gründen nicht auf ein abschreckendes Niveau zu erhöhen sein.673 Ihrer Ankündigung erhöhter Bußgelder für Kartellgehilfen674 konnte die Kommission mithin nur nachkommen, indem sie sich auf Rn. 37 der Bußgeldleitlinien berief.675 Dieses Vorgehen wurde vom EuG jüngst gebilligt.676 Nach Rn. 37 der Bußgeldleitlinien können die „besonderen Umstände eines Falles oder die Notwendigkeit einer ausreichend hohen Abschreckungswirkung ein Abweichen von dieser [der allgemeinen] Methode oder der in Ziffer 21 festgelegten Obergrenze rechtfertigen.“ Sie kodifiziert damit, dass die aus dem allgemeinen Gleichheitssatz und dem rechtsstaatlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes abgeleitete677 Ermessensbindung der Kommissi670 Kommission, Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, ABl. 2006 C 210, S. 2, 3 Rn. 13. 671 Ebenso EuG, Urt. v. 6. 2. 2014, Rs. T-27/10 – AC Treuhand/Kommission, noch nicht in amtl. Slg., Rn. 302; Caruso/Sakkers, GCP November 2008 (2), 1, 17 und Howe/Lawrence/ Whiteford, G.C.L.R. 2009, 83, 89, die zudem erwägen, ob nicht auch der Umsatz auf dem „Markt für Kartellhilfeleistungen“ als zum Verstoß im „mittelbaren Zusammenhang“ i.S.d. Rn. 13 der Leitlinien stehend herangezogen werden könne. Diesen Ansatz verwerfen sie aber, da er dem Kartellgehilfen aufgrund der Kappungsgrenze von 10 % des Gesamtumsatzes ermögliche, 90 % dieses rechtswidrigen Gewinns einzubehalten. Stattdessen denken sie eine Analogie zu Rn. 14 der Leitlinien an. 672 Der Begriff findet sich in Rn. 37 der Bußgeldleitlinien. 673 So auch von dem Bussche/Albrecht, EWS 2008, 416, 421; i.E. auch Albrecht/von dem Bussche, EWiR 2008, 489, 490. Da sie lediglich ein symbolisches Bußgeld nach Rn. 36 für möglich halten, verlangen von dem Bussche/Albrecht, EWS 2008, 416, 422; J. Koch, ZWeR 2009, 370, 385 f. eine Änderung der Bußgeldleitlinien ohne die Reichweite der Selbstbindung der Kommission auszuführen. 674 Kommission, Pressemitteilung IP/03/1700 vom 10. 12. 2003, abrufbar unter http://euro pa.eu/rapid/press-release_IP-03-1700_de.htm?locale=en, zuletzt besucht am 18. 11. 2014. 675 Kommission, Entsch. v. 11. 11. 2009, COMP 38.589 – Wärmestabilisatoren, ABl. 2010 C 307, S. 9, 11 f. Rn. 19 f.; ebenso Caruso/Sakkers, GCP November 2008 (2), 1, 17. 676 EuG, Urt. v. 6. 2. 2014, Rs. T-27/10 – AC Treuhand/Kommission, noch nicht in amtl. Slg., Rn. 46, 284 ff. 677 Vgl. EuGH, Urt. v. 9. 10. 1984, verb. Rs. 80 bis 83/81 und 182 bis 185/82 – Adam/ Kommission, Slg. 1984, 3411, 3425 Rn. 22; Urt. v. 10. 12. 1987, verb. Rs. 181/86 bis 184/86 – Del Plato/Kommission, Slg. 1987, 4991, 5017 Rn. 10; Urt. v. 15. 1. 2002, Rs. C-171/00 P – Libéros/Kommission, Slg. 2002, I-451, I-493 f. Rn. 35; Urt. v. 28. 6. 2005, verb. Rs. C-189/02 P, C-202/02 P, C-205/02 P bis C-208/02 P und C-213/02 P – Dansk Rørindustri u. a./Kommission, Slg. 2005, I-5425, I-5565 Rn. 209; EuG, Urt. v. 30. 4. 1998, Rs. T-214/95 – Vlaams Gewest/
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
on678 nicht absolut ist. Leitlinien sind nur auf typische Anwendungsfälle der konkretisierten Norm gerichtet und treffen keine umfassende Regelung.679 Zudem lassen bereits die zugrundeliegenden rechtsstaatlichen Grundsätze Ausnahmen zu.680 Entscheidender Gesichtspunkt ist danach, ob die Neuartigkeit der Fallgruppe der Kartellgehilfen und die bisher kaum geführte wissenschaftliche Diskussion eine Ungleichbehandlung, die in der Bebußung entgegen der allgemeinen Methodik der Leitlinien besteht, rechtfertigen und zugleich den Vertrauensschutz des Bürgers ausschließen können. Erst dann wäre eine Änderung der Leitlinien entbehrlich. Allerdings sind sehr hohe Hürden für die Rechtfertigung einer Abweichung aufzustellen.681 Rn. 37 der Bußgeldleitlinien stellt mithin auch auf die „besonderen Umstände eines Falles oder die Notwendigkeit einer ausreichend hohen Abschreckungswirkung“ ab. Allerdings droht die ausweitende Anwendung dieser Öffnungsklausel innerhalb der Leitlinien den selbstgesetzten Zweck, gem. Rn. 3 die Erhöhung der Transparenz und Objektivität der Entscheidungen der Kommission, zu untergraben. Dieses Ziel wollen die Leitlinien durch zuvor von den Unternehmen einsehbare, geschriebene, abstrakt-generelle Regeln erreichen, die die Grundlage der Kommissionsentscheidung bilden. Rn. 37 der Leitlinien ist daher entsprechend seinem Wortlaut auf Einzelfälle beschränkt. In konkret-individuellen Entscheidungssituationen können Abweichungen von der allgemeinen Methode geboten sein. Die Anwendung der Rn. 37 auf ganze Fallgruppen, wie die der Kartellgehilfen, ist vor diesem Hintergrund daher abzulehnen. Dies gilt umso mehr, als dass die Kommission hier bei der Schaffung der Bußgeldleitlinien 1998682 Gelegenheit hatte, auf die seit der Entscheidung Gußglas in Italien683 aus dem Jahre 1980 bekannte Fallgestaltung der Kartellgehilfen zu reagieren. Selbst nach der ersten Bebußung der AC Treuhand AG684 und Ankündigung einer verstärkten Bebußung 2003685 wurden Kommission, Slg. 1998, II-717, II-750 Rn. 89; Urt. v. 27. 9. 2006, Rs. T-329/01 – Archer Daniels Midland/Kommission, Slg. 2006, II-3255, II-3281 Rn. 40; Pampel, EuZW 2005, 11, 12; Thomas, EuR 2009, 423, 426. 678 Siehe bereits oben S. 52 f. 679 Thomas, EuR 2009, 423, 427; siehe auch Bechtold, in: Müller/Osterloh/Stein, FS G. Hirsch, S. 223, 229; Schweda, WuW 2004, 1133, 1138. 680 Sog. Sonderfallvorbehalt; dazu etwa Schweda, WuW 2004, 1133, 1138 f. Vgl. auch EuGH, Urt. v. 9. 10. 1984, verb. Rs. 80 bis 83/81 und 182 bis 185/82 – Adam/Kommission, Slg. 1984, 3411, 3425 Rn. 22; Urt. v. 15. 1. 2002, Rs. C-171/00 P – Libéros/Kommission, Slg. 2002, I-451, I-493 f. Rn. 35; Thomas, EuR 2009, 423, 427. 681 Thomas, EuR 2009, 423, 428: „theoretische Ausnahme“; Schweda, WuW 2004, 1133, 1139 (insb. Fn. 45); vgl. auch die Selbsteinschätzung der Kommission, die Rechtfertigung einer Abweichung müsse in „Stahlbeton“ gegossen sein; wiedergegeben nach GA Alber, Schlussanträge v. 18. 5. 2000, Rs. C-204/97 – Portugal/Kommission, Slg. 2001, I-3177, I-3186 Rn. 36. 682 Kommission, Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Artikel 65 Absatz 5 EGKS-Vertrag festgesetzt werden, ABl. 1998 C 9, S. 3. 683 Kommission, Entsch. v. 17. 12. 1980, IV/29.869 – Gußglas in Italien, ABl. 1980 L 383, S. 19. 684 Kommission, Entsch. v. 10. 12. 2003, COMP/E-2/37.857 – Organische Peroxide.
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die Leitlinien 2006686 neugefasst. Die Praxis der EU-Organe ist mithin als widersprüchlich zur selbst gesetzten Systematik zu kritisieren, gleichwohl in Bezug auf den hier allein maßgeblichen Vertrauensschutz noch zu billigen. Auch das Instrument der Leitlinien ist letztlich ein von der Kommission angewandtes Mittel, die rechtsstaatlich gebotene Vorhersehbarkeit der Bußgeldhöhe und -berechnung sicherzustellen; das behutsame Vorgehen in der Entscheidungspraxis687 ein anderes, wenngleich schwächeres. Im Ergebnis sichert somit die schrittweise Bußgeldverhängung die von den rechtsstaatlichen Grundsätzen verlangte Vorhersehbarkeit, auch wenn sie nicht in den Bahnen der Bußgeldleitlinien erfolgt. Selbst wenn die Leitlinien und Bekanntmachungen angepasst würden, so bleibt ihr rechtlicher Rang zu beachten. Die Kommission konkretisiert in ihnen lediglich die Ausübung ihres Ermessens, das ihr von den gesetzlichen Vorschriften eingeräumt wird. Die Leitlinien vermögen es so nicht, das Gesetzesrecht zu ändern.688 Für die Auslegung erscheinen die Leitlinien der Kommission vielmehr wie eine Norminterpretation durch die Kommission. In der systematischen Auslegung sind die Leitlinien daher nicht zu berücksichtigen wie die gesetzlichen Regelungen.689 Als Ergebnis kann damit schließlich nur festgehalten werden, dass die Verwaltungspraxis auf die Konstellation der Kartellgehilfen nicht hinreichend eingestellt ist. dd) Zwischenergebnis: Systematische Auslegung Die systematische Auslegung spricht damit ebenfalls gegen das Erfordernis der Teilnahme auf dem betroffenen Markt. Auch auf eine anderweitige Beschränkung des Pflichtenkreises der Unternehmen deutet sie nicht hin. Betrachtet man schließlich die Kommissionspraxis werden Widersprüche unübersehbar. Will die Kommission ihre Ankündigung an künftige Kartellgehilfen umsetzen – eine Gesetzesänderung freilich unterstellt –, so muss auch sie ihre Leitlinien nachbessern. c) Teleologische Auslegung Maßgebliche Bedeutung kommt schließlich der teleologischen Auslegung zu.690
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Siehe den Nachw. in Teil 3 Fn. 674. Kommission, Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Br. 1/2003, ABl. 2006 C 210, S. 2. 687 Beumer, Actualiteiten Mededingingsrecht 2008, 185, 188 und van Heezik, NTER 2009, 59, 62 f. kritisieren hingegen das EuG-Urteil in AC-Treuhand/Kommission als inkonsequent, da bereits zu diesem Zeitpunkt auch eine höhere, abschreckende Geldbuße i.S.d. strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips vorhersehbar war. 688 Thomas, EuR 2009, 423, 428. 689 So auch J. Koch, ZWeR 2009, 370, 386. 690 Zum Verhältnis der Auslegungskriterien untereinander siehe bereits oben S. 58 ff. 686
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aa) Der Schutzzweck des Unternehmensbegriffs Bereits oben691 wurde das Kartellverbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV in das Schutzkonzept des Binnenmarktes eingeordnet. Für den Unternehmensbegriff relevante Quintessenz ist der Schutz des Wettbewerbsprozesses im Binnenmarkt vor Gefahren von innen, von Marktteilnehmern ausgehend. Das Kartellverbot adressiert mithin „Unternehmen“, sowie ihre gemeinsamen, institutionalisierten Organisationsformen, die „Unternehmensvereinigungen“. Dies muss einen spezifischen Grund haben. Was qualifiziert Marktteilnehmer also zur Gefahr für den Wettbewerb? Zunächst einmal die Teilnahme am Markt und dem Wettbewerb.692 Der Wortlaut des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV beschränkt sich hinsichtlich des Unternehmensbegriffs darauf. Der Verzicht auf die in der Literatur aufgestellten Kriterien ist somit vom Wortlaut gedeckt. Auch war die mittlerweile längst verfestigte Entwicklung vom sog. institutionellen zum wirtschaftlichen Unternehmensbegriff in der Rechtsprechung für die ggf. rechtsberatenen Normadressaten vorhersehbar.693 Die Garantien des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips sind damit hinsichtlich des Unternehmensbegriffs gewahrt. Innerhalb dieses gesetzlichen Rahmens sind die Anforderungen an die Pflichtenposition des Unternehmens maßgeblich auch teleologisch zu bestimmen. Auch im unionsrechtlichen Strafrecht kommt dabei dem effet utile eine herausragende Rolle zu. Das Kartellverbot und seine Absicherung durch Bußgelder dienen nach Protokoll (Nr. 27) zu den Verträgen dem Schutz des Wettbewerbs im Binnenmarkt vor Verfälschungen. Es schützt den Wettbewerb zwischen Wettbewerbern, mit Dritten und unter Dritten.694 Wettbewerbsbeschränkungen soll effektiv begegnet werden – mit den Mitteln des Strafrechts freilich unter Wahrung der Garantiefunktion des Tatbestandes. Dies wird gewährleistet, wenn der Adressatenkreis des Kartellverbots weit, die Anforderungen an die Sonderpflichtigkeit der Unternehmen und damit die Adressateneigenschaft entsprechend gering, verstanden werden. Gleichwohl wird der Wettbewerb im Binnenmarkt nur größtmöglich geschützt, wenn die Schutzpflichten der Unternehmen für den Wettbewerb – freilich in den für die anderen Tatbestandsmerkmale aufgezeigten Grenzen – weit gefasst werden. Die zusätzliche Voraussetzung der Teilnahme auf dem betroffenen Markt führt hingegen zu einer Beschränkung der „Garantenpflicht“ der Unternehmen auf den Wettbewerb auf ihren Heimatmärkten. Ihre Pflichtenstellung differenziert danach zwischen dem Markt, auf dem sie tätig sind und das Kartellverbot auf sie Anwendung findet und Wett691
S. 266 ff. Vgl. auch Schuhmacher, ZfRV 2009, 9, 12. 693 Näher zu dieser Entwicklung etwa Schröter, in: Schröter/Jakob/Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Vor. Art. 101 bis 105 AEUV Rn. 42 ff. 694 Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 38; Frenz, Hdb. Europarecht, Bd. 2: Europäisches Kartellrecht, Rn. 910; Kling/Thomas, KartellR, § 4 Rn. 69; Roth/ Ackermann, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 81 Abs. 1 EG Grundfragen Rn. 305 [68. Lfg.: Mai 2009]; Schröter/Voet van Vormizeele, in: Schröter/Jakob/Klotz/ Mederer, Europ. WettbR, Art. 101 AEUV Rn. 77. 692
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bewerbsbeschränkungen verbietet, und Drittmärkten. Für Wettbewerbsbeschränkungen auf letzteren seien sie in der Folge nicht verantwortlich. Diese Differenzierung ist vor dem beschriebenen Schutzzweck nicht einsichtig. Entsprechend ist es allgemein anerkannt, dass das Kartellverbot auch Unternehmen in Fällen mit Drittmarktbeschränkungen erfasst. So können Fälle der Wettbewerbsbeschränkung auf einem benachbarten oder sich neu entwickelnden Markt angeführt werden, auf dem das betreffende Unternehmen (noch) nicht tätig ist,695 sowie die oben696 genannten Märkte der i.S.d. Art. 101 Abs. 1 Hs. 2 lit. e AEUV gekoppelten Produkte und räumlichen Drittmärkte. Gerade auch im internationalen Anwendungsbereich des Art. 101 AEUV zeigt sich eine effektive Durchsetzung des Kartellverbots nach dem Auswirkungsprinzip. Der schlichte Hinweis des EuG697 sowie von Bremer698 und J. Koch699 auf die Erfassung vertikaler Einschränkungen durch das Kartellverbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV genügt zur Begründung hingegen nicht. Bei vertikalen Vereinbarungen sind zwar Unternehmen verschiedener Wirtschaftsstufen betroffen.700 Die daran beteiligten Unternehmen sind mithin keine Wettbewerber. Allerdings lässt sich jede Wirtschaftsstufe einer Wertschöpfungskette zwei einzelnen Märkten zuordnen.701 Die dort tätigen Unternehmen bieten zum einen gegenüber der nachgelagerten an und fragen gegenüber der vorgelagerten Wirtschaftsstufe nach. Wettbewerber teilen sich dabei beide Märkte; auf beiden sind sie (horizontale) Konkurrenten. Aber auch die Unternehmen benachbarter Wirtschaftsstufen teilen sich einen Einzelmarkt. Das übergeordnete Unternehmen bietet an, das nachgeordnete fragt nach. Damit treffen sich auch die Parteien einer vertikalen Vereinbarung auf demselben Markt. Genau auf diesem Markt treten auch die Wettbewerbsbeschränkungen ein. Vertikale Abreden betreffen damit nicht die Drittmarktproblematik. Daher genügt der Hinweis alleine nicht, die genannte Position zu widerlegen. Der Hinweis auf die Erfassung vertikaler Vereinbarungen kann damit wie gesehen702 nur die Annahme widerlegen, dass ein Wettbewerbsverhältnis erforderlich sei. 695 So auch EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, 1556 Rn. 121; Depuydt, DAOR 2008, 406, 408. Zum Schutz auch potentiellen Wettbewerbs siehe oben S. 270. 696 S. 342 f., 344. 697 So das erste Argument in EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1555 f. Rn. 120. 698 Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 30. 699 J. Koch, ZWeR 2009, 370, 384. 700 Vgl. die Begriffsbestimmung in Art. 1 Abs. 1 lit. a Verordnung (EU) Nr. 330/2010 der Kommission vom 20. April 2010 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen. 701 Vgl. Kerber/Schwalbe, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Einl. Rn. 1338. 702 Oben S. 300 f.
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Im Ergebnis spricht der Schutzzweck des Unternehmensbegriffs im Gesamtzusammenhang des Wettbewerbsschutzes im Binnenmarkt für eine weite Ausfüllung des Wortlauts. Der Norm kann mithin kein Telos entnommen werden, der für eine teleologische Reduktion i.S.d. Literaturauffassungen spricht. bb) Keine Abgrenzung der Täterschaft über die Pflichtenposition der beteiligten Unternehmen Auch die Begründung einer besonderen Pflichtenstellung der Unternehmen mit der Notwendigkeit einer Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme verfängt nicht. Wie gesehen703 enthält das europäische Kartellsanktionenrecht keine allgemeine Dogmatik von Täterschaft und Teilnahme. Eine Abgrenzung der Täterschaft anhand von Rückschlüssen aus etwaigen Teilnahmenormen ist daher nicht möglich.704 Täter ist vielmehr, wer den jeweiligen Tatbestand verwirklicht. Die angeführten Kriterien lassen sich Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 jedoch nicht entnehmen. Insbesondere gebietet der Schutzzweck eine solche Einschränkung der Pflichtenposition des Täter-Unternehmens nicht. Vielmehr werden Zweifel an der Tauglichkeit der vorgeschlagenen Kriterien geäußert. Bei einem abstrakten Gefährdungsdelikt, das den Eintritt eines tatbestandlichen Erfolgs gerade nicht voraussetzt, könne die Täterschaft nicht nach den Auswirkungen der Handlung abgegrenzt werden.705 Dieser Einwand ließe sich aber noch entkräften, wenn man für die Alternative des Bezweckens wie bei der Auslegung der beiden Tatbestandsmerkmale („bezwecken oder bewirken“) statt auf die tatsächlichen Wirkungen auf die Eignung, diese Wirkungen herbeizuführen,706 abstellte. Durchgreifend ist vielmehr, dass dieser Ansatz letztlich eine Abgrenzung nach dem Gewicht der jeweiligen Tatbeiträge vornimmt.707 Dem steht aber zum einen der gesetzliche Tatbestand entgegen. Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV unterscheidet nicht nach dem objektiven Gewicht der Tatbeiträge oder dem Täterwillen.708 Zum anderen kann es auch gar nicht gelingen, von einer hervorgehobenen Stellung eines unter mehreren beteiligten Unternehmen gerade bei der Ausführung der Tathandlung, d. h. beim Pflichtverstoß selbst, auf eine besondere Pflichtenstellung zu schließen, die Täterschaft begründen soll. Die Formulierung der strafbewehrten Sonderpflicht ist dem Pflichtverstoß, der Vornahme der tatbestandlichen Handlung, vorgelagert. Vielmehr knüpfen die von Hamann vorgebrachten Kriterien an die 703
Oben S. 255 ff. Siehe bereits oben S. 255 ff. 705 So Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 135. 706 Dazu siehe bereits oben S. 310 ff. 707 Auch Tsolka, Der allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 292 kann nicht erkennen, dass die von Hamann vorgeschlagenen Kriterien der Bestimmung der außerstrafrechtlichen Sonderpflicht der Unternehmen dienen. Sie erkennt darin vielmehr allein Indizien für das Tatinteresse eines Unternehmens. 708 Dazu siehe bereits oben S. 255 ff. 704
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bestimmende Rolle des Unternehmens bei der Ausführung der Tathandlung und damit an die Bestimmung der Tatherrschaft an.709 Deswegen wurde dieser Problemkreis bereits bei der Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme im Rahmen der systematischen Auslegung der Tathandlungen behandelt. Wie dort710 gezeigt ist der Ausgangspunkt Hamanns, dass den an einer Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmen verschiedene Verantwortlichkeit trifft, hingegen freilich zutreffend. Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV unterscheidet zwischen mehreren Unternehmen wie gesehen danach, ob das Unternehmen selbst Partei der Vereinbarung ist bzw. die abgestimmte Verhaltensweise selbst vorgenommen hat. Innerhalb eines Kartells misst der Bußgeldtatbestand dem Umfang der Tatbeteiligung keine Bedeutung für die Tatbestandsverwirklichung zu. Er wird einzig bei der Bußgeldzumessung berücksichtigt. Die Verantwortlichkeit des Unternehmens für die Zuwiderhandlung liegt vielmehr einzig in dem Verstoß gegen die im Kartellverbot zum Ausdruck kommende Sonderpflicht. Damit ist auf die Voraussetzungen der Bußgeldnorm selbst zurückzukommen. cc) Die Rückbindung an das Selbständigkeitspostulat Zu diesem Zweck ist die oben aufgeworfene Frage wieder aufzugreifen und zu präzisieren. Bedeutet nun jede Marktteilnahme eine Gefahr für einen konkreten (Einzel)Markt oder ist, wenn schon nicht die Teilnahme, dann doch eine sachliche Nähe des Unternehmens zum betroffenen Markt erforderlich? Im Sinne einer solchen tatsächlichen Eignung versteht J. Koch711 das Kriterium einer regelmäßigen produktbezogenen wirtschaftlichen Nähe zum Markt der Wettbewerbsbeschränkung. Dieses scheint durch die Fallgruppen der Drittmarktbeeinträchtigungen bestätigt zu werden. Wie auch schon begrifflich impliziert, weisen benachbarte, sich neu entwickelnde Märkte eine sachliche Nähe des nicht auf dem betroffenen Markt tätigen Unternehmens zum selbigen auf. Ebenfalls wird in Drittmarktfällen nach Art. 102 AEUV eine Nähebeziehung des beherrschten Heimatmarkts zum Drittmarkt712 wie auch bei gekoppelten Produkten nach Art. 101 Abs. 1 Hs. 2 lit. e AEUV bestehen.
709 Vgl. die von Hamann, Das Unternehmen als Täter im europ. WettbR, S. 187 angeführten Differenzierungskriterien für die Verantwortlichkeit für eine Zuwiderhandlung: „Das Interesse der beteiligten Unternehmen an der Tat“ als subjektives Kriterium sowie in objektiver Hinsicht „der Umfang, in dem sie zur Tatbestandsverwirklichung beitragen und ihr Einfluss auf das Tatgeschehen“. 710 S. 241 ff., 255 ff. 711 J. Koch, ZWeR 2009, 370, 384. 712 Der EuGH scheint eine solche sachliche Nähe sogar als Voraussetzung zu verstehen; EuGH, Urt. v. 14. 11. 1996, Rs. C-333/94 P – Tetra Pak/Kommission, Slg. 1996, I-5951, I-6008 f. Rn. 27 ff.; zust. Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 26 f.; a.A. etwa Emmerich, KartellR, § 10 Rn. 7, der auf eine kausale Verbindung zwischen Marktbeherrschung und Missbrauch verzichtet, da ein Transfer immer auf den Ressourcen des marktbehrrschenden Unternehmens gründe.
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Schließlich soll auch die von der Kommission713 entwickelte marktübergreifende einheitliche, komplexe und fortgesetzte Zuwiderhandlung neben anderen Faktoren mit einem „direct link“ der verschiedenen Produkte begründet werden können.714 Da in den übrigen Fällen horizontaler wie vertikaler Absprachen stets eine Teilnahme am betroffenen Markt vorliegt, ist das Urteil des EuG zur Sache AC-Treuhand/ Kommission das erste ausbrechende, das keine sachliche Nähe des Unternehmens zum betroffenen Markt betrifft.715 Auch wenn bislang der empirische Befund eine Maßgeblichkeit sachlicher Nähe nahezulegen scheint, lässt sich daraus freilich nicht ohne Weiteres rückschließen, der Tatbestand des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV erfordere sie. Als Tatbestandsvoraussetzung erwiese sich dieses Merkmal, nicht zuletzt im Hinblick auf die Garantiefunktion des Strafrechts, ohnehin als zu vage und unkonturiert. Es könnte sich aber eine Voraussetzung des Tatbestandes anführen lassen, dessen Erfüllung in letzter Konsequenz zu einer solchen sachlichen Nähe des Unternehmens wie der Maßnahme zum von der Wettbewerbsbeschränkung betroffenen Markt führt. So führt auch J. Koch das Kriterium der produktbezogenen sachlichen Nähe als Konsequenz der Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 1 AEUV aus. „Entscheidend [sei], dass die zwischen den Parteien vereinbarte Verhaltenskoordination sich inhaltlich gerade auf den betroffenen Markt bezieht“.716 Allerdings 713 Kommission, Entsch. v. 30. 10. 2002, COMP/35.706 – Nintendo, ABl. 2003 L 255, S. 33, 37 Rn. 38, 76 Rn. 260; Entsch. v. 26. 10. 2004, COMP F-1/38.338 – PO/Nadeln, ABl. 2009 C 147, S. 23, 24. 714 So Kommission, Entsch. v. 31. 5. 2006, COMP/F/38.465 – Methacrylates, Rn. 223 („there is a direct link between the three PMMA-products with MMA being the common chemical basis connecting the different products. […] Hence the cartelisation on one product automatically influenced the cost structure and/or prices of the other products.“); dort findet sich ferner eine Aufzählung der weiteren relevanten Faktoren. Die Kommission, a.a.O., Rn. 224 schlussfolgert: „In the light of the above, it is the Commission’s conclusion that although the three PMMA-products represent different characteristics and may be considered to belong to different product markets, there are sufficient links to conclude that the producers of PMMAmoulding compounds, PMMA-solid sheet and PMMA-sanitary ware adhered to a common scheme which laid down the lines of their action in the market and restricted their individual commercial conduct.“ Die Kommissionspraxis dezidiert ablehnend Dreher, ZWeR 2007, 276, 290 ff., insb. 294 ff.; zust. hingegen Bailey, CMLR 2010, 473, 495 ff. Zur Rechsfigur der einheitlichen, komplexen und fortgesetzten Zuwiderhandlung siehe oben S. 280 ff. Begründet die eine einheitliche, komplexe und fortgesetzte Zuwiderhandlung überspannende Abrede eine tatbestandliche Zuwiderhandlung gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV (dazu siehe oben S. 286 ff.), dann kann der Verantwortlichkeit eines Unternehmens nach der hiesigen Argumentation nicht entgegengehalten werden, dass es nicht auf dem Markt der Wettbewerbsbeschränkung tätig ist. Durch die Voraussetzung der Beteiligung an einer eigenen tatbestandlichen Zuwiderhandlung ist sichergestellt, dass die Unternehmen sich über ihr Marktverhalten abstimmen und letztlich das Selbständigkeitspostulat verletzen. Die Nichtteilnahme am betroffenen Markt ist aber bei der Bußgeldhöhe zu berücksichtigen (Kommission, Entsch. v. 1. 10. 2008, COMP/39.181 – Kerzenwachse, Rn. 286; Bailey, CMLR 2010, 473, 500; vgl. auch die Nachw. in Teil 3 Fn. 191). 715 Vgl. Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 34 (Fn. 111); Eufinger, WRP, 1488, 189; Weitbrecht/Baudenbacher, EuR 2010, 230, 233 f. 716 J. Koch, ZWeR 2009, 370, 384.
F. Der Normadressat: „Unternehmen“ und „Unternehmensvereinigungen“
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ist auch dies nur eine Schlussfolgerung aus den Voraussetzungen des Tatbestandes. Entscheidende Voraussetzung des Kartellverbots ist vielmehr die Verletzung des Selbständigkeitspostulats. Auf die Position des Unternehmens im Wettbewerb kommt es anders als für Art. 102 AEUV nicht an. Der Unternehmensbegriff verlangt lediglich die bloße Teilnahme am Markt und damit im Wettbewerb. Den weiteren Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 1 AEUV konnte aber die Pflicht der Unternehmen entnommen werden, ihr zukünftiges Marktverhalten autonom zu bestimmen. Durch den Bezug zum eigenen Verhalten am Markt stellt das Selbständigkeitspostulat schließlich eine Nähebeziehung zum betroffenen Markt her. Die Koordination gerade des eigenen Marktverhaltens muss eine Wettbewerbsbeschränkung bezwecken oder bewirken. Die Maßnahme und damit der Heimatmarkt ist durch die wettbewerbswidrige Eignung (Bezwecken) oder eine Kausalkette (Bewirken) mit dem betroffenen Markt verbunden. In der Unternehmenswirklichkeit drückt sich dies i. d. R. durch eine gewisse sachliche Nähe des Unternehmens zum betroffenen Markt aus. In Fällen der Produktkoppelung nach Art. 101 Abs. 1 Hs. 2 lit. e AEUV wird diese Beziehung sowie bei einem marktübergreifenden Missbrauch gem. Art. 102 AEUV über die Produktpalette des betreffenden Unternehmens hergestellt. Bei der Beurteilung der Verantwortlichkeit für Kartellrechtsverstöße kommt es somit nicht als maßgebliches Kriterium darauf an, dass eine solche sachliche Nähe besteht. Ihm kann jedoch eine Indizwirkung zugesprochen werden. Entscheidend ist allein, dass das Unternehmen in eigener Person, d. h. als Partei der Vereinbarung, gegen das Selbständigkeitspostulat verstößt.717 Dies gilt auch für die Fälle der Kartellrechtsverantwortlichkeit im Konzern. Auch dort muss die bußgeldverantwortliche, am Markt handelnde wirtschaftliche Einheit gegen das Selbständigkeitspostulat verstoßen haben. Die Bußgeldverantwortlichkeit des Mutterunternehmens lässt sich somit allein damit begründen, dass auch sie neben dem Tochterunternehmen eine hinter der wirtschaftlichen Einheit stehende Rechtspersönlichkeit ist.718 Für eine Zurechnung der Zuwiderhandlung des Tochterunternehmens zwischen zwei Unternehmen fehlt es an einer nach dem strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzip erforderlichen gesetzlichen Grundlage. Die Fälle der Konzernverantwortlichkeit betreffen damit auch keine Drittmarktproblematik. Die wirtschaftliche Einheit ist auf dem betroffenen Markt tätig. Auch bei der Beurteilung der 717 Im Falle des Beschlusses einer Unternehmensvereinigung kommt es vielmehr wie gesehen darauf an, dass der Beschluss eine solche Pflichtverletzung der Mitgliedsunternehmen beinhaltet. 718 Siehe bereits oben S. 276 f. So im Ergebnis auch EuG, Urt. v. 27. 6. 2012, Rs. T-372/10 – Bolloré/Kommission, noch nicht in amtl. Slg., Rn. 51 f.; GA Kokott, Schlussantrag v. 23. 4. 2009, Rs. C-97/08 P – Akzo Nobel u. a./Kommission, Slg. 2009, I-8241, I-8263 Rn. 97 f.; Kersting, Der Konzern 2011, 445, 448 ff. Für eine eigene Verantwortlichkeit des Rechtsträgers der Konzernmutter hingegen Hofstetter/Ludescher, in: Kunz u. a., FS von Büren, S. 485, 494 ff, 504 ff.; Kling, WRP 2010, 506, 510, 518; Thomas, KSzW 2011, 10, 14; für eine spiegelbildliche Folgerung aus dem Konzernprivileg schließlich Lipowsky, Die Zurechnung von Wettbewerbsverstößen zwischen verbundenen Unternehmen im EWG-Wettbewerbsrecht, S. 191 ff., 206 ff.
358
Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
Fallgruppe der Kartellgehilfen kommt es somit nicht darauf an, dass eine solche sachliche Nähe nicht besteht. Entscheidend zu erkennen ist, dass der Kartellgehilfe anders als die soeben beschriebene wirtschaftliche Einheit eines Konzerns nicht selbst gegen das Selbständigkeitspostulat und damit nicht gegen die an die Unternehmen als Normadressaten gerichtete tatbestandliche Pflicht verstößt. Somit liegt auch das dadurch vermittelte Indiz der sachlichen Nähe nicht vor. Die Rückkoppelung an das Selbständigkeitspostulat erhellt also die Beschränkung des Tatbestandes auf Unternehmen und deren Pflichtenpositionen am Markt. Die „Garantenpflicht“ der Unternehmen für den Wettbewerb im Binnenmarkt lässt sich mithin allein der Norm des Art. 101 Abs. 1 AEUV entnehmen. Eine Beschränkung der Sonderpflichtigkeit nach im Schrifttum vorgeschlagenen normexternen Kriterien ist damit abzulehnen. dd) Zwischenergebnis: Teleologische Auslegung Die oben aufgeworfene Frage, was Marktteilnehmer nach Art. 101 Abs. 1 AEUV zur Gefahr für den Wettbewerb qualifiziert, kann damit abschließend beantwortet werden. Es sind die Marktteilnahme (Unternehmensbegriff) und die Verletzung des Selbständigkeitspostulats (die Koordination des Marktverhaltens, die geeignet ist, den zwischenstaatlichen Handel zu beeinträchtigen und eine Wettbewerbsbeschränkung herbeizuführen geeignet ist oder herbeiführt). Denn die Gefahr für den Wettbewerb durch Marktteilnehmer liegt in deren Kollusion. Dass die Wettbewerbsbeschränkung auf einem von der Vornahme der Tathandlung verschiedenen Markt eintritt oder bezweckt wird, ist unerheblich. Die Verletzung des Selbständigkeitspostulats kann sich vielmehr auch marktübergreifend auswirken.719 Der gesetzliche Rahmen des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV ist in Bezug auf die Normadressaten mithin weit gefasst. Innerhalb dessen kann er vom Rechtsanwender ganz im Sinne der praktischen Wirksamkeit des Wettbewerbsschutzes (effet utile) im Rahmen der Vorhersehbarkeit ausgeschöpft werden. d) Ergebnis Die in der Literatur vorgebrachten Ansätze zur einschränkenden Bestimmung der Pflichtenstellung des Unternehmens gehen fehl. Das Unternehmen muss nicht auf dem betroffenen Markt tätig sein. Das Kartellverbot erfasst vielmehr auch bezweckte oder bewirkte Wettbewerbsbeschränkungen auf Drittmärkten. Die in der Tathandlung zum Ausdruck kommende Verbindung zwischen dem Unternehmen und der Wettbewerbsbeschränkung bildet die Verletzung des Selbständigkeitspostulats. 719
So auch EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1556 Rn. 122; Urt. v. 8. 9. 2010, Rs. T-29/05 – Deltafina/Kommission, Slg. 2010, II-4077, II-4103 ff. Rn. 45 ff.; zust. Howe/Lawrence/Whiteford, G.C.L.R. 2009, 83, 84; vgl. auch Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 34 f.; Jüchser, Die Beteiligung am Kartell, S. 117.
G. Schuld
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Vermittelt durch den darin enthaltenen Bezug zum eigenen Marktverhalten, d. h. als Reflex, nicht als Voraussetzung wird i. d. R. eine sachliche Nähe des Unternehmens zum Markt der Wettbewerbsbeschränkung bestehen. Die aus dem AC-Treuhand/ Kommission-Urteil des EuG gezogene Lehre,720 dass auch Kartelltäter sein kann, wer nicht auf dem betroffenen Markt tätig ist, erweist sich somit als zutreffend. Dies bedeutet aber nicht, dass der Kartellgehilfe auch bebußt werden darf, wie es das letztgenannte Urteil billigt. Dem stehen wie gesehen721 die zuvor behandelten gesetzlichen Merkmale in der Auslegung anhand des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips entgegen.
G. Schuld Ähnlich dem Verhalten722 können die von der Sanktionsnorm ausschließlich adressierten Unternehmen und Unternehmensvereinbarungen auch das Verschuldenserfordernis nicht selbst erfüllen.723 Auch das Anknüpfen auf die dahinter stehenden Bußgeldadressaten als i. d. R. juristische Personen schlägt fehl. Vorsätzlich oder fahrlässig können nur natürliche Personen handeln. Werden diese wiederum befugtermaßen für das Unternehmen oder die Unternehmensvereinigung tätig, so kann dem Normadressaten deren Verschulden zugerechnet werden.724 Wie im Rahmen der Handlungszurechnung auch725 handelt es sich hier um eine zulässige Ausgestaltung durch die Rechtsprechung. Im Recht der EU wird wegen der weiten
720
EuG, Urt. v. 8. 9. 2010, Rs. T-29/05 – Deltafina/Kommission, Slg. 2010, II-4077, II-4104 Rn. 48, II-4128 f Rn. 121 a.E.; de Bronett, VO 1/2003, Art. 23 Rn. 2; Jüchser, Die Beteiligung am Kartell, S. 36 ff.; Schütz, in: Busche/Röhling, KöKo, KartellR, Bd. 4, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 23. 721 Zu den Tathandlungen siehe S. 235 ff., zur bezweckten oder bewirkten Wettbewerbsbeschränkung siehe S. 298 ff. 722 Siehe oben S. 235 f. 723 Dannecker/Müller, in: Wabnitz/Janovsky, Hdb. des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, Kap. 18 Rn. 214; Engelsing/Schneider, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 36; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 95 [77. Lfg.: Oktober 2012]; Sura, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 37. 724 EuGH, Urt. v. 7. 6. 1983, verb. Rs. 100 bis 103/80 – Musique diffusion française/ Kommission, Slg. 1983, 1825, 1903 f. Rn. 97 f.; EuG, Urt. v. 20. 3. 2002, Rs. T-9/99 – HFB u. a./ Kommission, Slg. 2002, II-1487, Rn. 275 (Rn. in Slg. nicht abgedruckt); Dannecker, in: Wabnitz/Janovsky, Hdb. des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, Kap. 16 Rn. 168 f.; Engelsing/ Schneider, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 27, 36 ff.; Hofstetter/Ludescher, in: Kunz u. a., FS von Büren, S. 485, 492 f.; Sauer, in: Schulte/Just, KartellR, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 28; Schütz, in: Busche/Röhling, KöKo, KartellR, Bd. 4, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 22; Sura, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 37. 725 Dazu oben S. 235 f.
360
Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
Zurechnung letztlich verbreitet von der Schuldfähigkeit von Unternehmen ausgegangen.726 Die Schuldfrage727 ist eine des Einzelfalles, die für die Fallgruppe der Kartellgehilfen in der Praxis der EU-Organe keine Besonderheiten aufweist. I.d.R. hat der Kartellgehilfe durch den Dienstvertrag weitgehende Kenntnis des Kartells seiner Mandanten, sodass vorsätzliches Handeln anzunehmen ist. So geht auch die Kommission nicht speziell auf die Schuld der AC Treuhand AG ein, sondern stellt allgemein und knapp vorsätzliches Handeln der beteiligten Unternehmen fest.728 Auch das EuG geht in diesem Präzedenzfall von einer vorsätzlichen Beteiligung aus.729 Jedenfalls die als Auffangtatbestand bei nicht nachweisbarem Vorsatz verstandene Fahrlässigkeit730 wird stets nachzuweisen sein.731 Nach dem Urteil des EuG werden sich Unternehmen auch nicht mehr auf einen Irrtum über das Verbotensein der Gehilfentätigkeit berufen können.732 726 So Bahnmüller, Strafrechtliche Unternehmensverantwortlichkeit im europäischen Gemeinschafts- und Unionsrecht, S. 107; Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 183; Dannecker/Fischer-Fritsch, Das EG-Kartellrecht in der Bußgeldpraxis, S. 288 f.; Schütz, in: Busche/Röhling, KöKo, KartellR, Bd. 4, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 22 unter Berufung auf die st. Praxis der Unionsorgane, die verbreitet das schuldhafte Verhalten des Unternehmens feststellen ohne eine Zurechnung vertieft zu prüfen, da es um der Effektivität der Wettbewerbsregeln willen für die Kommission nicht erforderlich sei, die schuldhaft handelnden Personen zu benennen; vgl. etwa EuGH, Urt. v. 18. 9. 2003, Rs. C-338/ 00 P – Volkswagen/Kommission, Slg. 2003, I-9189, I-9266 f. Rn. 95 ff.; Kommission, Entsch. v. 18. 12. 1987, IV/31.503 – Konica, ABl. 1988 L 78, S. 34, 42 Rn. 52 f. 727 Die dogmatische Einordnung von Vorsatz und Fahrlässigkeit ist unklar. Klassisch werden sie als Schuldfrage aufgefasst (so etwa Dannecker, in: Eser/Huber, Strafrechtsentwicklung in Europa, Bd. 4.3, S. 98 f.; ders./Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 182 ff.; Dannecker/Fischer-Fritsch, Das EG-Kartellrecht in der Bußgeldpraxis, S. 278 ff.; Engelsing/Schneider, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 27; Schütz, in: Busche/Röhling, KöKo, KartellR, Bd. 4, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 20; Sura, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 37 ff.; Tiedemann, in: Vogler u. a., FS Jescheck, Bd. II, S. 1411, 1433 ff.). Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 87 [77. Lfg.: Oktober 2012] argumentieren für eine Einfassung als subjektiven Tatbestand wie im dt. Strafrecht. 728 Kommission, Entsch. v. 10. 12. 2003, COMP/E-2/37.857 – Organische Peroxide, Rn. 429. 729 EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1570 Rn. 156. 730 Vgl. Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 197; Dannecker/Fischer-Fritsch, Das EG-Kartellrecht in der Bußgeldpraxis, S. 286 f.; Kindhäuser/ Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 99 [77. Lfg.: Oktober 2012]. 731 Auch im Übrigen werden Vorsatz und Fahrlässigkeit in der Praxis weitgehend vermischt. Dies weckt rechtsstaatliche Bedenken; dazu etwa Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 186. 732 Näher zum Irrtum über das Verbotensein EuGH, Urt. v. 18. 6. 2013, Rs. C-681/11 – Schenker, noch nicht in amtl. Slg., Rn. 33 ff. mit Anm. Kersting, WuW 2013, 845 ff., der die Entscheidung auf einen Irrtum des EuGH zurückführt; Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR,
H. Ergebnis der Auslegung
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Nach hier vertretener Auffassung kommt es auf die Prüfung der Schuld freilich nicht mehr an. Der Kartellgehilfe handelt nach Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV schon nicht tatbestandsmäßig. Damit fehlt ihr Bezugspunkt. Auf Rechtswidrigkeit und Schuld kommt es erst an, wenn in Teil 4 eine ergänzende Strafnorm identifiziert werden konnte.
H. Ergebnis der Auslegung Als Ergebnis ist damit festzuhalten, dass die Bußgeldhaftung von Kartellgehilfen nicht auf Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV gestützt werden kann. Die Auslegung am Maßstab des in Teil 2 herausgearbeiteten unionsrechtlichen strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips hat ergeben, dass die Tatbestandsvoraussetzungen des Kartellverbots eine Verletzung des Selbständigkeitspostulats umschreiben. Als deren Adressaten kommen nur „Unternehmen“ in Betracht. Die Qualifikation des Kartellgehilfen als Unternehmen bereitet keine Schwierigkeiten. Ein Verstoß gegen das Kartellverbot setzt ferner die Beteiligung des Unternehmens an der Vereinbarung gerade als Partei bzw. die Vornahme der aufeinander abgestimmten Verhaltensweise in eigener Person voraus. Dies ist für die mögliche Tathandlung der Beteiligung des Kartellgehilfen an der Kartellabrede unter den Kartellanten zu verneinen. Darin stimmen die Kartellanenten ihr zukünftiges Marktverhalten ab. Der Kartellgehilfe kommt mit diesem Willen nicht überein. Auch die tatsächlichen Unterstützungshandlungen für das Kartell begründen ebenfalls keine Parteistellung. An dieser Voraussetzung der Täterschaft scheitert schließlich auch eine Subsumtion des Gesamtkartells aus dem Kartellgehilfen und seinen Mandanten. Auch die Verbindung mit den Kartellanten über den Dienstvertrag begründet keine Willensübereinstimmung bezüglich des jeweiligen künftigen Marktverhaltens. Die verschiedenen Ansätze einer Gesamtbetrachtung der EU-Organe können daher nicht zu einer Verantwortlichkeit des Kartellgehilfen für die gesamte Zuwiderhandlung führen. Lediglich hinsichtlich des Dienstvertrages ist der Kartellgehilfe Partei der Vereinbarung. Allein hierin kommt er mit dem Willen der Kartellanten überein. Der Norm ist allerdings in teleologischer Auslegung ferner zu entnehmen, dass in der Tathandlung des Unternehmens jeweils eine Verletzung ihrer Pflicht, sich autonom am Markt zu verhalten, liegen muss (Selbständigkeitspostulat). In eigener Person verstoßen gegen das Selbständigkeitspostulat nur das Unternehmen, das Partei einer Vereinbarung ist oder eine aufeinander abgestimmte Verhaltensweise vornimmt, sowie die Unternehmensvereinigung, die den Beschluss selbst fasst. In Bd. I/2, Vor. Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 200 ff.; ders./Müller, in: Wabnitz/Janovsky, Hdb. des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, Kap. 18 Rn. 216; Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/ Schroeder, FK, KartellR, Bd. II, Art. 101 AEUV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 141 ff. [77. Lfg.: Oktober 2012].
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Teil 3: Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen
dieser Weise hängen die beiden herausgearbeiteten, Täterschaft begründenden Kriterien zusammen. Nur anhand des Kriteriums der Verletzung des Selbständigkeitspostulats können wettbewerblich unbedenkliche Maßnahmen aus dem Kartellverbot ausgegrenzt werden. Ausgeschieden wird durch dieses Merkmal aber auch die Anknüpfung der Verantwortlichkeit des Kartellgehilfen an den mit den Kartellanten geschlossenen Dienstvertrag. In ihren darin eingegangen Verpflichtungen verstoßen weder der Kartellgehilfe noch seine Mandanten gegen das Selbständigkeitspostulat. Das Merkmal der bezweckten oder bewirkten Wettbewerbsbeschränkung ist textlich so weit gefasst, dass es teleologisch zu reduzieren ist, um eine Unbestimmtheit i.S.d. strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes zu vermeiden. Hier kann erneut das zu den Tathandlungen herausgearbeitete Selbständigkeitspostulat fruchtbar gemacht werden. Der Tatbestand verlangt, dass sich die in der Tathandlung liegende Pflichtwidrigkeit auch in der bezweckten oder bewirkten Wettbewerbsbeschränkung zum Ausdruck kommt. Es muss mithin ein Pflichtwidrigkeitszusammenhang bestehen. Dieser kann auch bei Wettbewerbsbeschränkungen auf Drittmärkten bestehen. Eine Identität des Heimatmarkts des Unternehmens mit dem Markt der Wettbewerbsbeschränkung setzt der Tatbestand nicht voraus. Dieser Pflichtwidrigkeitszusammenhang schließt es hingegen aus, die wettbewerbsschädlichen Auswirkungen der Kartellabrede bei der Beurteilung des Dienstvertrages – sofern man diesen entgegen hier vertretener Auffassung als taugliche Tathandlung ansieht – zu berücksichtigen. Schließlich scheidet auch eine Erfassung des Kartellgehilfen über die Normadressatenstellung der Unternehmensvereinigungen aus. Eine Unternehmensvereinigung setzt stets einen Zusammenschluss mehrerer Unternehmen voraus. Ein Einzelunternehmen kann daher nicht als Unternehmensvereinigung aufgefasst werden, auch wenn es funktionell an deren Stelle tritt. Gleichwohl kann auch eine Unternehmensvereinigung Kartellgehilfenleistungen erbringen. Dann handelt sie aber keinesfalls durch „Beschluss“, sondern durch die oben genannten möglichen Tathandlungen, die aber wie gesehen nicht vom Tatbestand erfasst werden. Da der Bußgeldtatbestand des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV vor dem Hintergrund des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips nicht erfüllt ist, kommt es ferner nicht (mehr) auf die Vorhersehbarkeit der Kommissionspraxis für die Normadressaten an.733
733 Dazu aber EuG, Urt. v. 8. 7. 2008, Rs. T-99/04 – AC-Treuhand/Kommission, Slg. 2008, II-1501, II-1562 ff. Rn. 137 ff., zusammenfassend in Rn. 150; kritisch Howe/Lawrence/ Whiteford, G.C.L.R. 2009, 83, 86 f.
Teil 4
Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen wegen Verstößen gegen das Kartellverbot nach ergänzenden Strafnormen Da Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV somit allein keine taugliche Strafbarkeitsgrundlage zur Bebußung von Kartellgehilfen darstellt, kann diese nur in einer ergänzenden Strafnorm zu suchen sein. Diese kann sämtliche Strafbarkeitsvoraussetzungen eigenständig enthalten oder partiell an die Voraussetzungen des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV anknüpfen.
A. Die Anforderungen des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip gilt für mögliche ergänzende Strafnormen gleichermaßen wie für Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV. Dies gilt freilich auch für ergänzende Normen, die an die Voraussetzungen des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV anknüpfen, da sich die Strafbarkeitsgrundlage erst aus einem Zusammenlesen ergibt.1 Eine etwaige ergänzende Norm muss mithin hinreichend gesetzlich2 bestimmt sein3 und darf nicht über ihren gesetzlichen Rahmen hinaus angewendet werden.4 Ferner muss sie geschrieben sein.5
B. Keine ergänzenden Strafnormen im europäischen Kartellsanktionenrecht Solche ergänzenden Strafnormen finden sich im europäischen Kartellsanktionenrecht nicht. Den weiteren Tatbeständen des Art. 23 VO 1/2003 ist nichts zu 1 2 3 4 5
Vgl. die Begründung zu den Blanketttatbeständen oben S. 174 f. Zum Grundsatz nullum crimen sine lege siehe eingehend oben S. 141 ff. Zum Grundsatz nullum crimen sine lege certa ausführlich oben S. 168 ff. Zum Grundsatz nullum crimen sine lege stricta siehe ausführlich S. 200 ff. Zum Grundsatz nullum crimen sine lege scripta eingehend S. 167 f.
364
Teil 4: Verstöße gegen das Kartellverbot nach ergänzenden Strafnormen
entnehmen. Auch der Parallelbußgeldtatbestand des Art. 14 FKVO hilft nicht weiter. Schließlich finden sich keine anwendbaren Teilnahmenormen. Als einzig verbliebene Möglichkeit könnte schließlich das Heranziehen eines normierten Einheitstäterbegriffs oder kodifizierter Teilnahmenormen aus dem sonstigen europäischen Verwaltungssanktionenrecht bzw. Strafrecht i.w.S. die Bußgeldverantwortlichkeit von Kartellgehilfen begründen.
C. Der Einheitstäterbegriff aus dem sonstigen Verwaltungssanktionenrecht Das Verwaltungssanktionenrecht der EU weist indes keinen Allgemeinen Teil auf.6 Allerdings finden sich in einzelnen Politikbereichen spezielle Regelungen. Diese müssten allerdings dem supranationalen Strafrecht i.w.S. zuzuordnen sein. Namentlich an die Mitgliedstaaten gerichtete Richtlinien und deren Täterverständnisse7 müssen hier von vorneherein außer Betracht bleiben. Die versprengten Inselregelungen weisen zudem bereits auf das Hauptproblem hin: Die Anwendbarkeit dieser normierten Einheitstäterbegriffe im Kartellbußgeldrecht.
I. Art. 66 § 6 Spiegelstrich 4 EGKSV Ein Rückgriff auf den nach dem Wortlaut weiten Täterbegriff des Art. 66 § 6 Spiegelstrich 4 EGKSV („beteiligt waren oder mitgewirkt haben“) scheidet aus. Die Norm betrifft wie oben8 ausgeführt zum einen die Mittäterschaft, zum anderen die Zusammenschlusskontrolle. Entscheidend tritt hinzu, dass der EGKSV am 23. Juli 2002 wie vorgesehen nach 50 Jahren außer Kraft getreten ist, Art. 97 EGKSV.
6 Tiedemann, in: Vogler u. a., FS Jescheck, Bd. II, S. 1411; Tsolka, Der allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts i.w.S., S. 63; Vogel, JZ 1995, 331, 338 ff., die jeweils versuchen, solche allgemeinen Regeln zu entwickeln. 7 Vgl. beispielhaft Art. 1 Abs. 2 lit. d, 39 Anti-Terrorismusfinanzierungs-Richtlinie, Richtlinie 2005/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2005 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung, ABl. 2005 L 309, S. 15. 8 S. 257 f.
C. Der Einheitstäterbegriff aus dem sonstigen Verwaltungssanktionenrecht
365
II. Die Rahmenregelung des Art. 7 S. 2 VO 2988/95 Eine Rahmenregelung zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften stellt indes die Verordnung 2988/959 dar, vgl. Art. 1 Abs. 1 VO 2988/95. Nach ihrem Art. 7 S. 2 werden als Adressaten verwaltungsrechtlicher Maßnahmen oder Sanktionen, darunter nach Art. 5 Abs. 1 lit. a VO 2988/95 auch Geldbußen, ebenso wie die Personen, die eine Unregelmäßigkeit in Bezug auf das Gemeinschaftsrecht „begangen haben“ (Art. 7 S. 1 VO 2988/95), Personen erfasst, die lediglich „an der Begehung einer solchen Unregelmäßigkeit mitgewirkt haben, die für eine Unregelmäßigkeit zu haften haben oder die dafür zu sorgen haben, dass sie nicht begangen wird.“ Darin wird vereinzelt10 eine – auch im Kartellordnungswidrigkeitenrecht anwendbare – gesetzliche Grundlage für einen Einheitstäterbegriff im europäischen Verwaltungssanktionenrecht gesehen.11 Mit seiner Einführung habe die „früher bedenkliche […]“ Kommissionsentscheidung in der Sache Gußglas in Italien „eine nachträgliche Rechtfertigung“ erfahren.12 Allerdings kann dieser Einschätzung nicht gefolgt werden. Die VO 2988/95 trifft zwar eine Rahmenregelung. Nach Art. 1 Abs. 1 VO 2988/95 und den Erwägungsgründen ist diese aber beschränkt auf „einheitliche Kontrollen sowie für verwaltungsrechtliche Maßnahmen und Sanktionen bei Unregelmäßigkeiten in Bezug auf das Gemeinschaftsrecht“ zum „Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften“. Der zentrale Begriff der Unregelmäßigkeit wird dabei in Art. 1 Abs. 2 VO 2988/95 umschrieben und nimmt auf ausfüllende sektorspezifische Verordnungen Bezug.13 Sein Tatbestand „ist bei jedem Verstoß gegen eine Gemeinschaftsbestimmung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers gegeben, die einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Gemeinschaften oder die Haushalte, die von den Gemeinschaften verwaltet werden, bewirkt hat bzw. haben würde, sei es durch die Verminderung oder den Ausfall von Eigenmitteleinnahmen, die direkt für Rechnung der Gemeinschaften erhoben werden, sei es durch eine ungerechtfertigte Ausgabe.“ Eine Zuwiderhandlung nach Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a VO 1/2003 fällt nicht darunter.14 Verstöße gegen das materielle Kartellrecht schaden nicht dem 9 Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, ABl. 1995 L 312, S. 1. 10 Tiedemann, in: Eser/Schittenhelm/Schumann, FS Lenckner, S. 411, 417; ders., ZStW 110 (1998), 497, 502. Für die Übertragbarkeit speziell des Art. 5 Abs. 1 VO 2988/95 auch Engels, Unternehmensvorsatz, S. 63. 11 Zum Ergebnis eines Rechtsvergleichs des mitgliedstaatlichen Verwaltungssanktionenrechts siehe bereits in und bei Teil 3 Fn. 45. 12 Tiedemann, in: Eser/Schittenhelm/Schumann, FS Lenckner, S. 411, 417; ders., ZStW 110 (1998), 497, 502; ders., in: Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht in der EU, S. 3, 8. 13 Eigene Sanktionsnormen enthält die VO 2988/95 hingegen nicht; Dannecker, JZ 1996, 869, 878; Heitzer, Punitive Sanktionen, S. 123; Nelles/Tinkl/Lauchstädt, in: Schulze/Zuleeg/ Kadelbach, Europarecht, § 42 Rn. 22; Vogel, in: Sieber u. a., Europäisches Strafrecht, § 6 Rn. 35; a.A. Braum, Europäische Strafgesetzlichkeit, S. 234 ff., der Art. 1 Abs. 2 als Auffangtatbestand ansieht, der aber gegen den Bestimmtheitsgrundsatz verstoße. 14 So i.E. auch Pascu, Strafrechtliche Fundamentalprinzipien im Gemeinschaftsrecht, S. 29.
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Teil 4: Verstöße gegen das Kartellverbot nach ergänzenden Strafnormen
Haushalt der EU, sondern den (privaten) Marktteilnehmern und letztlich den Verbrauchern. Vielmehr fließt erst das Kartellbußgeld dem Haushalt der EU zu und vermindert die Beiträge der Mitgliedstaaten.15 Nur mit dieser Einschränkung des Anwendungsbereichs auf den Schutz der finanziellen Interessen der EU kann die VO 2988/95 als „eine Art Allgemeiner Teil“ des unionsrechtlichen, supranationalen Verwaltungssanktionenrechts bezeichnet werden.16
III. Zwischenergebnis Die vorhandenen Einzelregelungen der Einheitstäterschaft oder Teilnahmenormen sind im Unionsrecht mithin auf den Anwendungsbereich ihres jeweiligen Rechtsaktes beschränkt. Eine systematisierte, allgemeingültige Regelung eines Allgemeinen Teils des unionsrechtlichen Verwaltungssanktionenrechts existiert (noch) nicht. Auch die „Rahmenregelung“ der VO 2988/95 ist freilich auf ihren Anwendungsbereich beschränkt.
D. Die Unzulässigkeit der Rechtsfortbildung Die Geltung des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips schließt es ferner aus, die bestehende Strafbarkeitslücke durch (richterliche) Rechtsfortbildung zu schließen.17
I. Analogieschluss und allgemeine Rechtsgrundsätze Die Ergänzung der Regeln des Allgemeinen Teils des unionsrechtlichen Verwaltungssanktionenrechts durch analoge Anwendung der bestehenden normierten Einheitstäterbegriffe scheidet ebenso aus wie die Lückenfüllung durch allgemeine Rechtsgrundsätze. Weder anhand einer Gesamtschau unionsrechtlicher Einzelregelungen noch im Wege wertenden Rechtsvergleichs dürfen die Strafbarkeitslücken
15 EuG, Urt. v. 10. 10. 2001, Rs. T-171/99 – Corus UK/Kommission, Slg. 2001, II-2967, II-2982 Rn. 30; Theurer, Geldbußen im EU-WettbR, S. 76 f. 16 So Nelles/Tinkl/Lauchstädt, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 42 Rn. 22; Schwarze, EuZW 2003, 261; ähnlich Tiedemann, in: Eser/Schittenhelm/Schumann, FS Lenckner, S. 411, 413; Vogel, in: Sieber, u. a., Europäisches Strafrecht, § 6 Rn. 35; ohne Hinweis auf den beschränkten Anwendungsbereich hingegen Dannecker, JZ 1996, 869, 878; ders., in: Wabnitz/Janovsky, Hdb. des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, Kap. 2 Rn. 60; Waldhoff, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 325 AEUV Rn. 3. Kritisch bzgl. dieser Bezeichnung Braum, Europäische Strafgesetzlichkeit, S. 236 f. 17 Vgl. zur Unterscheidung der Lückenfüllung durch Analogie sowie durch Herausbilden allgemeiner Rechtsgrundsätze Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 59, 305 ff.
D. Die Unzulässigkeit der Rechtsfortbildung
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geschlossen werden.18 Die Systematisierungsversuche des Schrifttums19 können lediglich die Vorarbeit für den Unionsgesetzgeber sein. Die Schaffung gesetzlicher, geschriebener und bestimmter Strafbarkeitsgrundlagen ist ausschließlich seine Aufgabe.
II. Die Rechtsprechung zur mittelbaren staatlichen Verantwortung für die Einhaltung der Wettbewerbsvorschriften Bereits selbst in richterlicher Rechtsfortbildung hat der EuGH ein Verbot einer anderen Form der „Kartellbeihilfe“ entwickelt. Angesprochen ist die mittelbare staatliche Verantwortung für die Einhaltung der Wettbewerbsvorschriften, auch als „neue Norm“ bezeichnet.20 In der Zweiteilung der Wettbewerbsregelungen in Vorschriften für Unternehmen (Art. 101 bis 10621 AEUV) und die Mitgliedstaaten (Art. 107 – 118 AEUV) sah der EuGH Schutzlücken, wenn die Mitgliedstaaten unmittelbar das unternehmerische Handeln durch behördliche Anweisungen oder gesetzliche Vorschriften lenken wie mittelbar durch staatlich kontrollierte Unternehmen das Marktgeschehen beeinflussen. Diese schließt der Gerichtshof unter Rückgriff auf Art. 4 Abs. 3 UAbs. 3 EUV i.V.m. Protokoll (Nr. 27) zu den Verträgen22 i.V.m. Art. 101, 102 AEUV.23 Eine seiner herausgearbeiteten Tatbestandsvarianten setzt das „Erleichtern“ einer Zuwiderhandlung gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV vor-
18 Die methodische Kritik am Urteil des EuG in der Rechtssache Organische Peroxide/ Kommission in Gestalt der Forderung nach einer stärker rechtsvergleichenden Begründung von Kallaugher/Weitbrecht, E.C.L.R. 2010, 307, 317; Weitbrecht/Baudenbacher, EuR 2010, 230, 237 f.; Weitbrecht/Mühle, EuZW 2010, 327, 333 muss daher verworfen werden. 19 Siehe oben Teil 3 Fn. 29. 20 So etwa Schwarze, EuZW 2000, 613, 620; Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, S. 226 jew. m.w.N. 21 Zur Sonderstellung des Art. 106 AEUV siehe nur Schwarze, EuZW 2000, 613,622 ff. m.w.N. 22 Zur „Auslagerung“ des Art. 3 Abs. 1 lit. g EG in Protokoll (Nr. 27) über den Binnenmarkt und den Wettbewerb siehe bereits oben S. 49. 23 St. Rspr.; noch auf der Grundlage der jeweiligen Vorgängervorschriften EuGH, Urt. v. 16. 11. 1977, Rs. 13/77 – INNO/ATAB, Slg. 1977, 2115, 2145 f. Rn. 30/35; Urt. v. 21. 9. 1988, Rs. 267/86 – van Eycke/ASPA, Slg. 1988, 4769, 4791 Rn. 16; Urt. v. 17. 11. 1993, Rs. C-185/91 – Reiff, Slg. 1993, I-5801, I-5847 Rn. 14; Urt. v. 9. 6. 1994, Rs. C-153/93 – Delta Schiffahrtsund Speditionsgesellschaft, Slg. 1994, I-2517, I-2530 Rn. 14; Urt. v. 5. 10. 1995, Rs. C-96/94 – Centro Servizi Spediporto, Slg. 1995, I-2883, I-2909 f. Rn. 20 f.; Urt. v. 17. 10. 1997, verb. Rs. C-140/94, C-141/94 und C-142/94 – DIP u. a., Slg. 1995, I-3257, I-3293 f. Rn. 14 f.; Urt. v. 17. 6. 1997, Rs. C-70/95 – Sodemare u. a., Slg. 1997, I-3395, I-3436 f. Rn. 41 f.; Urt. v. 18. 6. 1998, Rs. C-35/96 – Kommission/Italien, Slg. 1998, I-3851, I-3899 f. Rn. 53 f.; Urt. v. 21. 9. 1999, Rs. C-67/96 – Albany, Slg. 1999, I-5751, I-5883 Rn. 65; Urt. v. 21. 9. 1999, Rs. C-219/97 – Drijvende Bokken, Slg. 1999, I-6121, I-6144 Rn. 55; Emmerich, KartellR, § 3 Rn. 10 f.; Hengst, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 101 AEUV Rn. 71. Ablehnend etwa Lange, EuR 2008, 3, 17 ff., der letztlich auf das Fehlen einer zur Rechtsfortbildung berechtigenden Lücke verweist.
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Teil 4: Verstöße gegen das Kartellverbot nach ergänzenden Strafnormen
aus.24 Der Mitgliedstaat fördert oder ermutigt eine kartellverbotswidrige Abrede zwischen Unternehmen.25 Wenngleich diese Voraussetzungen an die hier behandelte Kartellbeihilfe erinnern, ist diese Rechtsprechung sowohl inhaltlich als auch methodisch freilich nicht zu übertragen. Zum einen findet gegenüber den hier als Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen in Betracht kommenden Kartellgehilfen das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip Anwendung. Dies schließt eine Strafbarkeit auf der Grundlage einer richterlichen Rechtsfortbildung aus. Wie schon die Rechtsgrundlage des Loyalitätsgebots zeigt, ist diese richterliche Rechtsfortbildung zum anderen auf die Sonderverantwortlichkeit des Staates zugeschnitten und schon deshalb nicht auf private Gehilfen übertragbar.
E. Ergebnis Im Ergebnis findet sich neben Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV keine ergänzende Strafnorm, die eine Bußgeldverantwortlichkeit von Kartellgehilfen vor dem Hintergrund des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips begründen kann. Kartellgehilfen bleiben damit – anders als nach der Auffassung der Kommission und des EuG – nach europäischem Kartellrecht wegen Verstößen gegen das Kartellverbot straflos.
24
EuGH, Urt. v. 1. 10. 1987, Rs. 311/85 – VVR/Sociale Dienst van de Plaatselijke en Gewestelijke Overheidsdiensten, Slg. 1987, 3801, 3826 Rn. 10; Urt. v. 21. 9. 1988, Rs. 267/86 – van Eycke/ASPA, Slg. 1988, 4769, 4791 Rn. 16; Urt. v. 11. 4. 1989, Rs. 66/86 – Ahmed Saeed Flugreisen u. a./Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs, Slg. 1989, I-803, I-851 Rn. 48; Urt. v. 9. 6. 1994, Rs. C-153/93 – Delta Schifffahrts- und Speditionsgesellschaft, Slg. 1994, I-2517, I-2530 Rn. 14; Urt. v. 18. 6. 1998, Rs. C-35/96 – Kommission/Italien, Slg. 1998, I-3851, I-3900. Rn. 54; Urt. v. 21. 9. 1999, Rs. C-67/96 – Albany, Slg. 1999, I-5751, I-5883 Rn. 65. 25 EuGH, Urt. v. 11. 4. 1989, Rs. 66/86 – Ahmed Saeed Flugreisen u. a./Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs, Slg. 1989, I-803, I-852 Rn. 49, 52; Lange, EuR 2008, 3, 10 f.; Schwarze, EuZW 2000, 613, 621.
Teil 5
Die Verantwortlichkeit des Kartellgehilfen nach weiteren Sanktionsnormen des europäischen Kartellrechts Wenngleich Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV im Zentrum der Frage nach der Bußgeldverantwortlichkeit von Kartellgehilfen steht, sieht das europäische Kartellrecht weitere Bußgeldnormen vor. Namentlich die weiteren Tatbestände des Art. 23 Abs. 1, 2 VO 1/2003 und Art. 14 Abs. 1, 2 FKVO sollen im Folgenden näher untersucht werden. Dies soll durch einen Seitenblick auf die verwaltungs- wie zivilrechtlichen Sanktionen für einen Verstoß gegen das Kartellverbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV ergänzt werden.
A. Die Bußgeldverantwortlichkeit wegen Verstößen gegen das Missbrauchsverbot nach Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 2 VO 1/2003 i.V.m. Art. 102 AEUV Die Beihilfe zum Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung ist ebenso denkbar wie zur Errichtung und Aufrechterhaltung eines Kartells. Ebenso wie Alt. 1 verlangt Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 2 VO 1/2003 einen vorsätzlichen oder fahrlässigen Verstoß gegen Art. 102 AEUV. Bei Zusammenlesen der beiden Normen ergibt sich in Parallele zum Kriterium der Partei der Vereinbarung, dass das bebußte Unternehmen selbst die marktbeherrschende Stellung missbräuchlich ausnutzen muss. Der Wortlaut des Art. 102 AEUV ermöglicht dabei ausdrücklich, dass dies durch mehrere Unternehmen, hier das marktmächtige Unternehmen und den Gehilfen, geschieht. Allerdings setzt der Tatbestand voraus, dass beide Unternehmen zusammen eine marktbeherrschende Stellung innehaben, indem sie wirtschaftlich so eng verbunden sind, dass sie gemeinsam unabhängig von Wettbewerbern und der Marktgegenseite am Markt handeln können.1 Die in Art. 102 AEUV zum Ausdruck 1 EuGH, Urt. v. 4. 5. 1988, Rs. 30/87 – Bodson/Pompes funèbre des régions libérées, Slg. 1988, 2479, 2514 f. Rn. 26 ff.; Urt. v. 27. 4. 1994, Rs. 393/92 – Almelo, Slg. 1994, I-1477, I-1520 Rn. 42; Urt. v. 17. 10. 1995, verb. Rs. C-140/94, C-141/94 und C-142/94 – DIP u. a., Slg. 1995, I-3257, I-3296 Rn. 26; Urt. v. 17. 6. 1997, Rs. C-70/95 – Sodemare u. a., Slg. 1997, I-3395, I-3437 Rn. 46; Urt. v. 16. 3. 2000, verb. Rs. C-395/96 P und C-396/96 P – Compagnie maritime belge transports u. a./Kommission, Slg. 2000, I-1365, I-1458 ff. Rn. 35 f.; Beschl. v. 10. 7. 2001, Rs. C-497/99 P – Irish Sugar/Kommission, Slg. 2001, I-5333, 5347 f. Rn. 46 f.;
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Teil 5: Verantwortlichkeit des Kartellgehilfen nach weiteren Sanktionsnormen
kommende Pflicht adressiert nur marktmächtige Unternehmen. Allein diese können ihre beherrschende Stellung missbräuchlich ausnutzen, d. h. ihre aus der Marktmacht erwachsende Pflichtenstellung verletzen, und sind dadurch eine Gefahr für den Leistungswettbewerb. Diese Pflichtverletzung lässt wiederum eine Parallele zu den obigen Ausführungen zum Selbständigkeitspostulat erkennen. Aufgrund der herausgehobenen Stellung des Normadressaten, die der Tatbestand verlangt, tritt die hinter Art. 102 AEUV stehende Pflicht offensichtlicher als bei Art. 101 Abs. 1 AEUV hervor. Da der Kartellgehilfe keine marktbeherrschende Stellung und damit herausgehobene Pflichtenposition innehat und diese mithin nicht verletzt, kann er auch nicht Täter nach Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 2 VO 1/2003 i.V.m. Art. 102 AEUV sein.
B. Die Bußgeldverantwortlichkeit wegen Verstößen gegen die „materielle“ Zusammenschlusskontrolle nach Art. 14 Abs. 2 FKVO Auch in der Fusionskontrolle kann eine Beihilfe in Frage stehen. Unternehmenszusammenschlüsse werden sogar weitläufig in externer Beratung begleitet. Diese dritten Unternehmen könnten somit bei Verstößen gegen die Zusammenschlusskontrolle Hilfe leisten. Beim fusionskontrollrechtlichen Bußgeldtatbestand des Art. 14 FKVO zeigt sich erneut die bereits bekannte Struktur. Art. 14 Abs. 1 FKVO erfasst Verstöße verfahrensrechtlicher, Abs. 2 materiellrechtlicher Art. Entsprechend richten sich die jeweiligen Bußgeldtatbestände an verschiedene Adressaten. Art. 14 Abs. 2 FKVO adressiert „die in Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe b) bezeichneten Personen oder die beteiligten Unternehmen“. Der Verweis führt zum Kontrollerwerbstatbestand und erfasst „eine oder mehrere Personen, die bereits mindestens ein Unternehmen kontrollieren, […] durch den Erwerb von Anteilsrechten oder Vermögenswerten, durch Vertrag oder in sonstiger Weise die unmittelbare oder mittelbare Kontrolle über die Gesamtheit oder über Teile eines oder mehrerer anderer Unternehmen erwerben.“ Nicht nur durch diesen Verweis auf die Legaldefinition einer Alternative des Zusammenschlusstatbestands knüpft Art. 14 Abs. 2 FKVO unmittelbar an den Unternehmenszusammenschluss an. Aus dem Zusammenhang des Satzes ergibt sich, dass die „beteiligten Unternehmen“ ausschließlich die nach Art. 3 Abs. 1 FKVO am Kommission, Leitlinien zur Marktanalyse und Ermittlung beträchtlicher Marktmacht nach dem gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste, ABl. 2002 C 165, S. 6, 17 ff. Rn. 86 ff.; Bechtold/Bosch/Brinker, EU-KartellR, Art. 102 AEUV Rn. 26; Bergmann, in: L/M/R, KartellR, Art. 82 EG Rn. 122; Emmerich, in: Dauses, Hdb. des EUWirtschaftsR, Bd. 2, H. I. § 3 Rn. 45 ff. [27. Lfg.: Oktober 2010]; Fuchs/Möschel, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 102 AEUV Rn. 115 ff.; W. Weiß, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 102 AEUV Rn. 17 ff.
C. Bußgeldverantwortlichkeit wegen formeller Verstöße
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Zusammenschluss beteiligten erfasst. Nur den am Zusammenschluss Beteiligten obliegen die in Art. 14 Abs. 2 lit. a – d FKVO normierten Pflichten. Art. 14 Abs. 1, 2 FKVO ist wie Art. 23 Abs. 1, 2 VO 1/2003 so aufgebaut, dass in den einzelnen Buchstaben Verstöße gegen bestimmte, an anderer Stelle geregelte Pflichten normiert werden. Auch hier kann die Täterschaft mithin anhand dieser Pflichten und ihrer Verletzung abgegrenzt werden. Bereits aus dem Wortlaut der Norm scheidet somit die Erfassung von Gehilfen nach Art. 14 Abs. 2 FKVO aus, was von der weiteren Auslegung nicht widerlegt wird. Eine spezielle Strafnorm für das Hilfeleisten besteht hingegen nicht.2
C. Die Bußgeldverantwortlichkeit wegen formeller Verstöße gegen das europäische Kartellrecht Der Fallgruppe der Kartellgehilfen kommt bei den übrigen Bußgeldtatbeständen des europäischen Kartellrechts keine besondere Bedeutung zu. Die weiteren Tatbestände des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 VO 1/2003 knüpfen mit Art. 8 VO 1/2003 (lit. b) und Art. 9 VO 1/2003 (lit. c) an Vorschriften an, die eine im Falle des Art. 8 Abs. 1 VO 1/2003 auch nur prima facie festgestellte Zuwiderhandlung gegen Art. 101, 102 AEUV voraussetzen. Durch ihren sachlichen Bezug zu den Entscheidungen nach Art. 7 VO 1/2003, die wiederum die an einer Zuwiderhandlung gegen Art. 101, 102 AEUV „beteiligten Unternehmen und Unternehmensvereinigungen“ adressiert, gilt das auch für die Art. 8, 9 VO 1/2003. Da Kartellgehilfen jedoch nicht wie die obige Auslegung ergeben hat gegen Art. 101, 102 AEUV verstoßen,3 werden sie auch nicht von den in Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 VO 1/ 2003 bußgeldbewehrten Pflichten adressiert. Eine Bußgeldverantwortlichkeit nach Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. b, c VO 1/2003 scheidet damit aus. Die weitgehend parallelen Bußgeldtatbestände der Art. 23 Abs. 1 VO 1/2003, Art. 14 Abs. 1 FKVO dienen der Durchsetzung der Ermittlungsbefugnisse der Kommission. Um Verstöße gegen das materielle Kartellrecht aufzudecken, ist die Kommission nicht auf die Untersuchung der am Zusammenschluss bzw. dem Kartell beteiligten Unternehmen beschränkt. Die Auskunftsverlangen nach Art. 17, 18 VO 1/2003, Art. 11 FKVO können ebenso auch an dritte Unternehmen gerichtet werden, wie diese Nachprüfungen gem. Art. 20 VO 1/2003, Art. 13 FKVO unterworfen 2 Verbreitet (Fleischmann, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 14 FKVO Rn. 8; Hecker, in: L/M/R, KartellR, Art. 14 FKVO Rn. 2; Körber, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Art. 14 FKVO Rn. 6; Schütz, in: Busche/Röhling, KöKo, KartellR, Bd. 4, Art. 14 FKVO Rn. 19) wird deshalb auf einen „Einheitstäterbegriff“ rückgeschlossen. Dies ist aber aufgrund der weiteren Abstufungen der Bußgeldtatbestände verfehlt. Die Norm stellt nicht jeden Kausalbeitrag zu einem Wettbewerbsverstoß tatbestandlich gleich. Von den Autoren vielmehr gemeint ist wohl lediglich, dass Art. 14 FKVO nicht zwischen Täterschaft und Teilnahme unterscheidet. 3 Vertieft zur ergebnisgleichen Anwendung der verwaltungsrechtlichen Grundsätze bei der Auslegung siehe oben S. 197 f. und sogleich S. 372 f.
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Teil 5: Verantwortlichkeit des Kartellgehilfen nach weiteren Sanktionsnormen
werden können.4 Bei Vorliegen der jeweiligen Voraussetzungen kann die Kommission mithin auch gegenüber Kartellgehilfen von ihren Ermittlungsbefugnissen Gebrauch machen. Aufgrund des regelmäßigen Informationsreichtums des Kartellgehilfen ist dies mitunter für die Kommission auch sehr sinnvoll und nicht nur theoretischer Natur. Eine Inanspruchnahme geschieht aber stets zur Untersuchung einer „fremden“ Zuwiderhandlung. Gleichwohl träfe den Kartellgehilfen bei Verstößen gegen diese (Mitwirkungs)Pflichten eine Bußgeldverantwortlichkeit. In Art. 14 Abs. 1 FKVO ergibt sich dieser gegenüber materiellen Verstößen erweiterte (Bußgeld)Adressatenkreis auch aus dem Wortlaut. Er erfasst neben den in Art. 3 Abs. 1 lit. b FKVO genannten Personen sämtliche, und nicht nur wie Abs. 2 die am Zusammenschluss beteiligten, Unternehmen und zusätzlich auch Unternehmensvereinigungen.
D. Das verwaltungsrechtliche Zwangsgeld gem. Art. 24 VO 1/2003 Soweit Kartellgehilfen als Adressaten der Ermittlungsbefugnisse der Kommission in Betracht kommen, bereitet auch die Durchsetzung der erlassenen Verfügungen durch Zwangsgeld gem. Art. 24 Abs. 1 lit. d, e VO 1/2003 keine Schwierigkeiten. So wie den Kartellgehilfen bei Verstößen ein Bußgeld auferlegt werden kann, so können sie auch mit einem Zwangsgeld zur Einhaltung ihrer Verpflichtungen bei der Ermittlungsarbeit der Kommission gezwungen werden. Anders zu beurteilen ist jedoch die Durchsetzung derjenigen Verfügungen, die einen eigenen Verstoß des Kartellgehilfen gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV voraussetzen (Art. 24 Abs. 1 lit. a – c VO 1/2003). Von der Beurteilung des Kartellgehilfen als Bußgeldadressaten für materielle Kartellrechtsverstöße kann nämlich nicht unreflektiert auf die Verantwortlichkeit für die rein verwaltungsrechtliche Sanktion des Zwangsgelds nach Art. 24 Abs. 1 lit. a – c VO 1/2003 geschlossen werden. Der Schluss der von Kommission und EuG eingenommenen Position ist hingegen eindeutig: Wenn schon strafrechtliche Sanktionen gegen Kartellgehilfen zulässig sind, dann gilt das erst recht auch für bloß verwaltungsrechtliche. Die verwaltungsrechtlichen Garantien gehen wie gesehen5 nicht über die spezifisch strafrechtlichen hinaus. Lehnt man 4 Vgl. Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 22 (zu lit. a, b), 38 (zu lit. c); Kindhäuser/Meyer, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. III, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 17 (lit. a), 21 (lit. b), 22 (lit. c), Art. 14 FKVO Rn. 31 [77. Lfg.: Oktober 2012]. Siehe auch statt Vieler zu Art. 18 VO 1/2003 Barthelmeß/Rudolf, in: L/M/R, KartellR, Art. 18 VerfVO Rn. 19; Burrichter/Hennig, I/M, WettbR, Bd. I/2, Art. 18 VO 1/2003 Rn. 14; Klees, Kartellverfahrensrecht, § 9 Rn. 30; zu Art. 20 VO 1/2003 Burrichter/Hennig, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Art. 20 VO 1/2003 Rn. 13; Klees, Kartellverfahrensrecht, § 9 Rn. 64; Nowak, in: L/M/R, KartellR, Art. 20 VerfVO Rn. 54; zu Art. 11 FKVO Hecker, in: L/M/R, KartellR, Art. 11 FKVO Rn. 8; Körber, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Art. 11 FKVO Rn. 9; zu Art. 13 FKVO Hecker, in: L/M/R, KartellR, Art. 13 FKVO Rn. 7; Körber, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Art. 13 FKVO Rn. 8 jew. m.w.N. 5 S. 178 f.
D. Das verwaltungsrechtliche Zwangsgeld gem. Art. 24 VO 1/2003
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hingegen mit der hier vertretenen Auffassung eine Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen mangels Vereinbarkeit mit den strafrechtlichen Garantien ab, so stellt sich die Frage, ob dem auch die grundsätzlich geringeren verwaltungsrechtlichen Grundsätze entgegenstehen. Dieser Frage vorgelagert ist indes das bereits oben6 aufgegriffene Problem der Normambivalenz. Art. 24 Abs. 1 lit. a – c VO 1/2003 setzt über die Voraussetzungen der durchzusetzenden Kommissionsentscheidungen der Art. 7, 8, 9 VO 1/2003 ebenso wie Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 einen (eigenen) Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV voraus. Im hier maßgeblichen Punkt der freiheitssichernden Bestimmtheit zur Vorhersehbarkeit des verbotenen Verhaltens unterscheiden sich die Anforderungen des nullum crimen-Grundsatzes vom allgemeinen verwaltungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz nicht. Wie gesehen7 hängen die Anforderungen an die Bestimmtheit einer Eingriffsnorm nicht von der Intensität des Grundrechtseingriffs ab, sodass die zum strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz gemachten Ausführungen für das schlichte grundrechtliche Eingriffsgesetz des Art. 101 Abs. 1 AEUV übertragbar sind. Lediglich in Bezug auf den Urheber der Eingriffsnorm geht das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip über den allgemeinen Gesetzesvorbehalt hinaus.8 Als Primärrechtsnorm genügt Art. 101 AEUV jedoch letzteren Anforderungen.9 Entsprechend obiger Auslegung ist Art. 101 Abs. 1 AEUV somit nur insoweit taugliche Grundlage eines Eingriffs in Art. 16 GRC, wie sie an der Vereinbarung als Parteien beteiligte Unternehmen adressiert. Die Verweise in den verwaltungsrechtlichen Eingriffsgrundlagen, die ihrerseits gem. Art. 103 Abs. 1 AEUV unter Beteiligung des EP zustande gekommen sind und damit den Anforderungen des allgemeinen grundrechtlichen Gesetzesvorbehalts ebenfalls genügen, beziehen somit Art. 101 AEUVein, wie es auch für die Strafnorm des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 gilt.10 Da aber Kartellgehilfen nicht gegen das Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV verstoßen, sind auch die daran anknüpfenden verwaltungsrechtlichen Maßnahmen, die an einen eigenen Verstoß gegen das Kartellverbot anknüpfen, sowie im Falle eines drohenden Zuwiderhandelns das Zwangsgeld nach Art. 24 VO 1/2003 zulasten von Kartellgehilfen unzulässig.
6
S. 171 ff. S. 197. 8 Siehe oben S. 141 ff. 9 Siehe oben Teil 2 in und bei Fn. 796. 10 Zum Problem der Normambivalenz siehe bereits oben S. 171 ff. 7
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Teil 5: Verantwortlichkeit des Kartellgehilfen nach weiteren Sanktionsnormen
E. Die zivilrechtliche Haftung des Kartellgehilfen Abschließend soll ein kurzer Seitenblick auf die zivilrechtliche Haftung11 des Kartellgehilfen geworfen werden. Dabei soll allein auf die Unterstützung von Verstößen gegen das Kartellverbot eingegangen werden.
I. Die Nichtigkeit des Dienstvertrages Die Nichtigkeit der nach Abs. 1 verbotenen Kartellabrede ergibt sich aus Art. 101 Abs. 2 AEUV. Wer mit EuG und Kommission bereits in strafrechtlicher Auslegung einen eigenen Verstoß des Kartellgehilfen gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV bejaht, der muss auch von der zivilrechtlichen Nichtigkeit des Dienstvertrages ausgehen. Den Beteiligten einer Kartellabrede ist die Durchsetzung ihrer Erfüllungsansprüche – einheitlich im Binnenmarkt – zu versagen.12 Nach hier vertretener Auffassung ist jedoch ein Verstoß des Kartellgehilfen gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV zu verneinen. Da die zivilrechtliche Norm auf Art. 101 AEUVals Ausfüllungsnorm verweist, kann diese keinen geringeren als den soeben ermittelten verwaltungsrechtlichen Inhalt haben. Was nach dem Eingriffsgesetz nicht verboten ist, kann zivilrechtlich nicht sanktioniert werden.13
II. Exkurs: Das Verhältnis des nationalen zum unionsrechtlichen Kartellrecht Die Nichtigkeit des Dienstvertrages zwischen Gehilfen und Kartellanten könnte sich jedoch aus nationalem Recht ergeben. Das deutsche Recht etwa hielte durch die Normierung des Einheitstäterbegriffs in § 14 OWiG, der auch im Kartellordnungswidrigkeitenrecht Anwendung findet,14 in §§ 81 Abs. 1 Nr. 1 GWB, 14 OWiG i.V.m. § 134 BGB eine rechtliche Grundlage bereit. Allerdings könnte dieser Rückgriff auf nationales Recht zu unterschiedlichen Ergebnissen in den Mitgliedstaaten führen, je nachdem ob das nationale Recht eine spezielle Vorschrift für Teilnehmer oder den Einheitstäterbegriff vorsieht.
11
Zum Begriffspaar Verantwortlichkeit und Haftung siehe bereits oben Teil 1 Fn. 36. Zum Telos des Art. 101 Abs. 2 AEUV vgl. etwa EuGH, Urt. v. 25. 11. 1971, Rs. 22/71 – Béguelin Import/G. L. Import Export, Slg. 1971, 949, 962 Rn. 29; Urt. v. 14. 12. 1983, Rs. 319/ 82 – Soc. de vente de ciments et bétons/Kerpen & Kerpen, Slg. 1983, 4173, 4183 f. Rn. 11 f.; Jaeger, in: L/M/R, KartellR, Art. 81 Abs. 2 EG Rn. 1; Schmidt, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 2 AEUV Rn. 5; Schröter/van der Hout, in: Schröter/Jakob/Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Art. 101 AEUV Rn. 212. 13 Zur Auflösung des Problems der Normambivalenz siehe oben S. 174 ff. 14 Siehe bereits oben S. 35 f. 12
E. Die zivilrechtliche Haftung des Kartellgehilfen
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1. Die Regelung des Art. 3 VO 1/2003 Aufgeworfen ist damit die Frage nach dem Verhältnis des unionsrechtlichen zum nationalen Kartellrecht und einer etwaigen Sperrwirkung des ersteren.15 Sekundärrechtlich trifft Art. 3 VO 1/2003 dazu eine Regelung. Diese geht auf den Rechtsetzungsauftrag16 des Art. 103 Abs. 1, 2 lit. e AEUV zurück, wonach „das Verhältnis zwischen den innerstaatlichen Rechtsvorschriften einerseits und den in diesem Abschnitt enthaltenen oder aufgrund dieses Artikels getroffenen Bestimmungen andererseits festzulegen“ ist. Nach dem Grundsatz des Art. 3 Abs. 1 VO 1/2003 sind nationales Wettbewerbsrecht und Unionsrecht parallel anwendbar. Nach S. 1 wenden die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten oder einzelstaatliche Gerichte auch Art. 101 AEUV17 an, wenn sie das einzelstaatliche Wettbewerbsrecht auf Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen im Sinne des Art. 101 Abs. 1 AEUV anwenden, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten im Sinne dieser Bestimmung beeinträchtigen können. Art. 3 Abs. 1 S. 2 VO 1/2003 trifft eine fast wortgleiche Anordnung in Bezug auf Art. 102 AEUV. Art. 3 Abs. 1 VO 1/2003 nimmt mithin hinsichtlich des mitgliedstaatlichen Rechts das gesamte nationale Wettbewerbsrecht in Bezug. Dieses kann im systematischen Verhältnis zu Art. 3 Abs. 3 VO 1/2003 bestimmt werden als sämtliche Rechtsvorschriften, die auf den Schutz des Wettbewerbs am Markt abzielen.18 Dies wird durch Erwägungsgrund 9 zur VO 1/ 2003 bestätigt. Erfasst werden somit neben innerstaatlichen Verbotsnormen auch sämtliche Durchsetzungsvorschriften, die an die nationalen oder unionsrechtlichen Verbotsnormen anknüpfen und an Verstöße negative Rechtsfolgen knüpfen. Diese Sanktionen können zivilrechtlicher, wie insbesondere die Schadensersatzansprüche des nationalen Rechts, verwaltungsrechtlicher oder strafrechtlicher Natur sein. Auf unionsrechtlicher Seite werden hingegen allein die primärrechtlichen Normen der Art. 101, 102 AEUV in Bezug genommen. Die parallele Anwendbarkeit erstreckt sich damit allein auf die Anwendungsbereiche der Art. 101 Abs. 1 und 102 AEUV. Innerhalb dessen setzt sich bei paralleler Anwendbarkeit stets das strengere Verbot 15 In Bezug auf die Kartellgehilfen ebenfalls aufgeworfen von Dannecker, ÖZK 2010, 171, 172, in ähnlichem Zusammenhang der Adalat-Entscheidung des EuGH von Eilmannsberger, ZWeR 2004, 285, 302 f., letztlich aber jeweils unbeantwortet gelassen; Andeutungen zu den Konsequenzen für die mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichte aus dem EuG-Urteil in ACTreuhand/Kommission bei Weitbrecht/Baudenbacher, EuR 2010, 230, 240. 16 Art. 103 Abs. 1 AEUV ist nicht nur eine Ermächtigungsgrundlage, sondern die EU ist sogar verpflichtet, die entsprechenden Durchsetzungsvorschriften zu erlassen, vgl. etwa Jung, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 103 AEUV Rn. 16; Reidlinger, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 103 AEUV Rn. 9; Stadler, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 103 AEUV Rn. 1. 17 Art. 3 VO 1/2003 verweist noch auf die entsprechenden Vorschriften des EGV. Dies ist wegen Art. 5 Abs. 3 Hs. 1 Vertrag von Lissabon unschädlich, siehe dazu bereits oben S. 170. 18 Allg. M.; Böge/Bardong, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 3 VO 1/ 2003 Rn. 10; de Bronett, VO 1/2003, Art. 3 Rn. 7 ff.; Dalheimer, in: Dalheimer/Feddersen/ Miersch, VO 1/2003, Art. 3 Rn. 24 [26. Lfg.: März 2005]; Rehbinder, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Art. 3 VO 1/2003 Rn. 13.
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Teil 5: Verantwortlichkeit des Kartellgehilfen nach weiteren Sanktionsnormen
durch, da eine Rechtsordnung ein Verhalten nur einheitlich entweder für verboten oder erlaubt erklären kann.19 Bei isolierter Betrachtung des Art. 3 Abs. 1 VO 1/2003 würde sich somit das strengere Recht durchsetzen, unabhängig davon, ob es sich um nationales oder europäisches Recht handelt. Dass Art. 3 Abs. 1 VO 1/2003 diese weitreichende Wirkung jedoch nicht zukommt, zeigt das systematische Verhältnis zu Art. 3 Abs. 2 VO 1/2003. Daraus ergibt sich nämlich, dass Art. 3 Abs. 1 VO 1/2003 nur die Fälle regelt, in denen das unionsrechtliche Verbot strenger ist und sich somit letztlich durchsetzt. Zunächst kann Art. 3 Abs. 2 S. 1 VO 1/2003,20 wonach die Anwendung des einzelstaatlichen Wettbewerbsrechts nicht zum Verbot von Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüssen von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen führen darf, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind, aber den Wettbewerb im Sinne des Art. 101 Abs. 1 AEUV nicht einschränken oder die Bedingungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV oder einer Gruppenfreistellungsverordnung erfüllen, entnommen werden, dass strengeres nationales Recht nicht für die Bewertung einer Wettbewerbsbeschränkung im Anwendungsbereich des Art. 101 Abs. 1 AEUV maßgeblich sein soll. Art. 3 Abs. 2 S. 2 VO 1/2003 belegt, dass diese Regelung eines Teilbereichs verallgemeinert werden kann. Würde Art. 3 Abs. 1 S. 2 VO 1/2003 bereits anordnen, dass sich auch das strengere nationale Recht durchsetzt, dann bedürfte es der ausdrücklichen Regelung des Art. 3 Abs. 2 S. 2 VO 1/2003 nicht. Denn erst danach wird es den Mitgliedstaaten „durch diese Verordnung nicht verwehrt, in ihrem Hoheitsgebiet strengere innerstaatliche Vorschriften zur Unterbindung oder Ahndung einseitiger Handlungen von Unternehmen zu erlassen oder anzuwenden.“ Die Fälle strengeren sonstigen einzelstaatlichen Rechts sind mithin in Art. 3 Abs. 3 VO 1/2003 geregelt. Die Fälle strengeren nationalen Wettbewerbsrechts finden eine partielle Regelung in Art. 3 Abs. 2 VO 1/2003. Wie gesehen ist Art. 3 Abs. 2 S. 1 VO 1/2003 seinem Wortlaut nach darauf beschränkt, dass eine tatbestandliche Tathandlung, namentlich eine Vereinbarung zwischen Unternehmen, ein Beschluss einer Unternehmensvereinigung oder aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, vorliegt und der Tatbestand des Art. 101 Abs. 1 AEUVausschließlich am Merkmal der Wettbewerbsbeschränkung scheitert. Dies ist für die Fallgruppe der Kartellgehilfen zu verneinen. Die ausdrückliche Sperre nationalen Rechts durch Art. 3 Abs. 2 S. 1 VO 1/2003 greift somit nicht. Allerdings könnte das den Kartellgehilfen sanktionierende nationale Recht nach Art. 3 Abs. 2 S. 2 AEUV anzu-
19 Vgl. zum ähnlich gelagerten Fall parallel anwendbarer Grundrechtsgarantien, bei denen sich im ausschließlich betroffenen Staat-Bürger-Verhältnis ebenfalls die strengere Verpflichtung durchsetzt, oben S. 134 f. 20 Zu Zweifeln an der Vereinbarkeit des Art. 3 Abs. 2 S. 1 VO 1/2003 mit dem Primärrecht siehe etwa Jaeger, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. III, Art. 3 VO 1/2003 Rn. 13 ff. [61. Lfg.: Oktober 2006]. Siehe aber auch die innerstaatliche, dt. Rezeption des Art. 3 Abs. 2 S. 1 VO 1/2003 in § 22 Abs. 2 S. 1 GWB.
E. Die zivilrechtliche Haftung des Kartellgehilfen
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wenden sein.21 Diese Vorschrift stellt eine Ermächtigung an den nationalen Gesetzgeber nach Art. 2 Abs. 1 Hs. 2 AEUV für „strengere innerstaatliche Vorschriften zur Unterbindung oder Ahndung einseitiger Handlungen von Unternehmen“ dar. Die Teilnahme im hier behandelten Sinne könnte eine solche einseitige Handlung darstellen. Dies ist allerdings zu verneinen. Der Wortlaut des Art. 3 Abs. 2 S. 2 VO 1/ 2003 erlangt, dass es sich um „strengeres“ nationales Wettbewerbsrecht handelt. Dieser Komparativ setzt voraus, dass auch das Unionsrecht eine entsprechende Regelung bereithält. Dies kann allein Art. 102 AEUV sein. Der Begriff der einseitigen Handlungen von Unternehmen wird damit in Bezug zu Art. 102 AEUV gesetzt. Dies ergibt sich auch aus Art. 2 Abs. 1 Hs. 2, Abs. 6 AEUV. Die EU kann danach nur innerhalb der ihr als ausschließlich zugewiesenen Kompetenzen die Mitgliedstaaten zu eigenen Regelungen ermächtigen. Im hier maßgeblichen Fall des Art. 103 Abs. 1 AEUV setzt die EU Recht „zur Verwirklichung der in den Art. 101 und 102 niedergelegten Grundsätze“. Außerhalb des Anwendungsbereichs der Art. 101, 102 AEUV kann die EU mithin keine Regelungsermächtigung an die Mitgliedstaaten aussprechen. Auch dies stellt für Art. 3 Abs. 2 S. 2 VO 1/2003 einen Bezug zu Art. 102 AEUV her. Das gefundene Ergebnis wird schließlich durch Erwägungsgrund 8 zur VO 1/2003 bestätigt, der „Bestimmungen zum Verbot oder zur Ahndung missbräuchlichen Verhaltens gegenüber wirtschaftlich abhängigen Unternehmen“ als Anwendungsfall des Art. 3 Abs. 2 S. 2 VO 1/2003 nennt.22 Hieraus lässt sich ferner die regelmäßige Struktur des Art. 3 Abs. 1 und Abs. 2 VO 1/2003 erkennen. Der jeweilige Satz 1 bezieht sich auf Art. 101 AEUV, der nachfolgende auf Art. 102 AEUV. Die Ausfüllung des Begriffs der einseitigen Handlungen mit Art. 102 AEUV lässt sich schließlich auch mit der Entstehungsgeschichte des Art. 3 Abs. 2 S. 2 VO 1/ 2003 erklären. Diese Vorschrift wurde geschaffen, um dem Wunsch einiger Mitgliedstaaten, v. a. Deutschlands, nachzukommen, auch bei zwischenstaatlichen Sachverhalten einseitige Handlungen nach nationalem Recht verbieten zu können.23 Art. 3 Abs. 2 S. 2 VO 1/2003 ermöglicht damit nur strengere einzelstaatliche Regelungen im Anwendungsbereich des Art. 102 AEUV, d. h. in Bezug auf missbräuchliches Ausnutzen einer marktbeherrschenden Stellung. Die Fallgruppe der Kartellgehilfen lässt sich daher nicht darunter subsumieren.
21 Dies hält Rehbinder, in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Art. 3 VO 1/2003 Rn. 24 etwa bei Vorfragen zum Begriff des abgestimmten Verhaltens oder zum nationalen Unternehmensbegriff für möglich. 22 So wohl auch verhalten Eilmannsberger, ZWeR 2004, 285, 303 (Fn. 63). 23 Vgl. dazu Dalheimer, in: Dalheimer/Feddersen/Miersch, VO 1/2003, Art. 3 Rn. 16 [26. Lfg.: März 2005]; Klees, Kartellverfahrensrecht, § 4 Rn. 19; Sura, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 3 VO 1/2003 Rn. 7.
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Teil 5: Verantwortlichkeit des Kartellgehilfen nach weiteren Sanktionsnormen
2. Das zugrundeliegende Kompetenzgefüge zwischen der EU und den Mitgliedstaaten Mangels einer ausdrücklichen Regelung in Art. 3 Abs. 2 VO 1/2003 ist auf die dahinterstehenden primärrechtlichen Grundsätze zurückzugreifen. Dabei gerät das Kompetenzgefüge der EU in den Blick. Nach Art. 3 Abs. 1 lit. b AEUV hat die Union die „ausschließliche Zuständigkeit“ für die „Festlegung der für das Funktionieren des Binnenmarkts erforderlichen Wettbewerbsregeln“. Der Begriff der ausschließlichen Zuständigkeit wird in Art. 2 Abs. 1 AEUV wie folgt umschrieben: „[N]ur die Union [darf für den bestimmten Bereich] gesetzgeberisch tätig werden und verbindliche Rechtsakte erlassen; die Mitgliedstaaten dürfen in einem solchen Fall nur tätig werden, wenn sie von der Union hierzu ermächtigt werden, oder um Rechtsakte der Union durchzuführen.“ „Der Umfang der Zuständigkeiten der Union und die Einzelheiten ihrer Ausübung ergeben sich“ gem. Art. 2 Abs. 6 AEUV „aus den Bestimmungen der Verträge zu den einzelnen Bereichen.“ Umstritten ist, wie der Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit nach Art. 3 Abs. 1 lit. b AEUV zu verstehen ist. Einigkeit besteht darin, dass jedenfalls die Rechtsetzungskompetenzen der Art. 103, 105 Abs. 3, 106 Abs. 3, 108 Abs. 4 und 109 AEUV erfasst sind.24 Die „Festlegung“ der Wettbewerbsregeln erfasst darüber hinaus aber auch die Verbotsvorschriften der Art. 101, 102 AEUV selbst.25 Es spricht nichts dagegen, dass diese Regelungen bereits im Primärrecht von der EU, in Gestalt der verfassunggebenden Gewalt,26 festgelegt wurden. Dies hat nur die innerunionsrechtliche Besonderheit zur Folge, dass diese grundlegenden Regelungen dem einfachen EU-Gesetzgeber entzogen sind. Eine Ermächtigung nach Art. 2 Abs. 1 Hs. 2 AEUV bleibt im Außenrecht aber möglich. Auch wenn Art. 3 Abs. 1 lit. b; 2 Abs. 1, 6 AEUV ausdrücklich nur die ausschließliche Zuständigkeit der Rechtsetzung regeln, folgt daraus ferner, dass das von der zuständigen Körperschaft erlassene Recht auch vorrangig anwendbar ist.27 Dies gilt freilich auch, wenn die Mitgliedstaaten von einer Ermächtigung gem. Art. 2 Abs. 1 Hs. 2 AEUV Gebrauch machen. Es kann somit festgehalten werden, dass strengeres einzelstaatliches Recht im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit nach Art. 3 Abs. 1 lit. b AEUV auf eine Ermächtigung gem. Art. 2 Abs. 1 Hs. 2 AEUV zurückgeführt werden können muss. 24
Siehe bereits die Nachw. in Teil 2 Fn. 219. Ebenso Dougan, European Law Review 28 (2003), 763, 770; Götz, in: Schwarze, Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, S. 43, 54; Nettesheim, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. I, Art. 3 AEUV Rn. 14 [52. Lfg.: Januar 2014]; a.A. die wohl h.M., vgl. Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 3 AEUV Rn. 9; Lenski, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge, Art. 3 AEUV Rn. 9, 11; Mögele, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 3 AEUV Rn. 6; Pelka, in: Schwarze u. a., EU-Kommentar, Art. 3 AEUV Rn. 10. 26 Zum materiellen Verfassungsbegriff in Bezug auf das Primärrecht siehe bereits Teil 2 in Fn. 49. 27 Vgl. Nettesheim, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. I, Art. 2 AEUV Rn. 22 [52. Lfg.: Januar 2014]. 25
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Dies ist in Gestalt des Art. 3 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 VO 1/2003 erfüllt. In der Form einer Verordnung erfüllen sie jedenfalls auch die bislang noch ungeklärten formellen Voraussetzungen einer solchen Ermächtigung.28 Anders als für den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung, hinsichtlich dessen die Mitgliedstaaten sowohl eine strengeres Verbot („Unterbindung“) als auch Vorschriften zu dessen Durchsetzung mittels Sanktionen („Ahndung“) erlassen dürfen, fehlt eine solche für mehrseitige Wettbewerbsbeeinträchtigungen. Auch aus der nur partiellen Regelung des Art. 3 Abs. 2 S. 1 AEUV kann nicht im Umkehrschluss auf eine stillschweigende Ermächtigung, dass die Mitgliedstaaten strengeres nationales Recht erlassen dürfen, wenn eine Anwendung des Art. 101 Abs. 1 AEUV an einem anderen Merkmal als dem der Wettbewerbsbeschränkung scheitert, geschlossen werden. Dies würde nicht nur die Kompetenzordnung des Art. 3 Abs. 1 lit. b AEUV aushöhlen. Auch in der Sache lässt sich dafür nichts vorbringen.29 Wenn nach Art. 3 Abs. 2 S. 1 VO 1/2003 schon vom Tatbestand des Art. 101 Abs. 1 AEUV erfasste Maßnahmen nicht nach nationalem Wettbewerbsrecht verboten und mit weiteren Rechtsfolgen verknüpft werden dürfen, dann dürfen doch erst recht aus wettbewerblichen Gründen keine nicht tatbestandsmäßigen Handlungen verboten werden. Dies wird auch durch Erwägungsgrund 8, der Art. 3 Abs. 2 VO 1/2003 erläutert und nach dem die VO 1/2003 dann für innerstaatliche Rechtsvorschriften, mit denen natürliche Personen strafrechtliche Sanktionen auferlegt werden, gilt, wenn solche Sanktionen als Mittel dienen, um die für Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln durchzusetzen.30 Art. 3 Abs. 2 S. 1 VO 1/2003 soll also auch den Rückgriff auf nationale Strafvorschriften gegen natürliche Personen sperren, wenn diese dem Wettbewerbsschutz dienen. Anders als die hier behandelten Kartellgehilfen sind natürliche Personen noch nicht einmal Normadressaten des Art. 101 Abs. 1 AEUV und können daher ebenfalls keine tatbestandlichen Maßnahmen vornehmen. Schließlich lässt sich eine solche Auslegung auch auf die Rechtsgrundlage des Art. 103 Abs. 1, 2 lit. e AEUV zurückführen. Die in den Art. 101, 102 AEUV niedergelegten Grundsätze werden auch dann verwirklicht, wenn der Wettbewerb zwar nicht weitestgehend durch möglichst weitreichende – ggf. auch nationale – Verbote geschützt wird, sondern auch, wenn einheitliche Rahmenbedingen für den Wettbewerb im Binnenmarkt geschaffen werden.31 Aus diesem Grund spricht auch nicht der Grundsatz des effet utile für möglichst weitgehende Verbote zum Schutz des Wettbewerbs. Denn dieser Grundsatz bezieht sich stets auf das Binnenmarktprojekt. Der Binnenmarkt ist nicht nur weitestgehend verwirklicht, wenn der Wettbewerb größtmöglich geschützt ist, 28
Dazu etwa Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 2 AEUV Rn. 14. Ebenfalls für das Erfordernis eines Sekundärrechtsaktes Lenski, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge, Art. 2 AEUV Rn. 6; Streinz, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 2 AEUV Rn. 7; Pelka, in: Schwarze u. a., EU-Kommentar, Art. 2 AEUV Rn. 10. 29 I.E. ebenso Lampert/Niejahr/Kübler/Weidenbach, EG-KartellVO, Art. 3 Rn. 103 f.; Rehbinder, in: I/M, WettbR4, Bd. I/2, Art. 3 VO 1/2003 Rn. 24 (in 5. Aufl. nunmehr Anhänger der Gegenansicht; siehe oben bei Teil 5 Fn. 21). 30 Vgl. auch Eilmannsberger, ZWeR 2004, 285, 303. 31 Vgl. J. Koch, ZWeR 2009, 370, 386 m.w.N.
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Teil 5: Verantwortlichkeit des Kartellgehilfen nach weiteren Sanktionsnormen
sondern dies durch einheitliche Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt geschieht. Schließlich kann die beschränkte Formulierung des Art. 3 Abs. 2 S. 1 VO 1/ 2003 auf seine Funktion im Normgefüge des Art. 3 VO 1/2003 zurückgeführt werden. Wie gesehen ist die parallele Anwendbarkeit nationalen und europäischen Wettbewerbsrechts auf den Anwendungsbereich des Art. 101 Abs. 1 AEUV beschränkt und setzt damit ebenso wie Art. 3 Abs. 2 S. 1 VO 1/2003 eine i.S.d. Art. 101 Abs. 1 AEUV tatbestandliche Tathandlung voraus. Die parallele Anwendbarkeit muss somit auch nur soweit eingeschränkt werden wie diese reicht. Art. 3 Abs. 1 lit. b AEUV geht im Grundsatz davon aus, dass allein das EU-Wettbewerbsrecht Anwendung findet. Da durch Art. 3 Abs. 1 S. 1 VO 1/2003 eine Anwendbarkeit nationalen Rechts auf Maßnahmen, die keine tatbestandliche Handlung i.S.d. Art. 101 Abs. 1 AEUV darstellen, nicht ermöglicht wird, muss Art. 3 Abs. 2 S. 1 VO 1/2003 auch keine beschränkende Regelung treffen. Bereits die Formulierung des Art. 3 Abs. 1 S. 1 VO 1/2003 schließt es aus, dass nationale Durchsetzungsvorschriften an ein strengeres Verbot als Art. 101 Abs. 1 AEUV anknüpfen. Da Art. 3 Abs. 1 VO 1/2003 auf Seiten des Unionsrechts lediglich Art. 101 und 102 AEUV nennen, wird – mit Ausnahme der wohl übersehenen Nichtigkeitsfolge nach Art. 101 Abs. 2 AEUV – allein die jeweiligen nationalen Verbotsnormen in Bezug genommen. Die Sperrwirkung bleibt damit auf das unionsrechtliche Verbot, nicht dessen Durchsetzungsvorschriften beschränkt. Es ist den an das unionsrechtliche Verbot anknüpfenden nationalen Rechtsfolgen mithin nicht verwehrt, über die entsprechenden unionsrechtlichen hinauszureichen.32 Allein strengere Verbotsnormen des nationalen Rechts sind gesperrt. Dabei kommt es auf materielle Verbotsnormen an, die nicht formell als Verbot formuliert sein müsssen, sondern sich auch aus Rechtsfolgenanordnungen ableiten lassen können. Ferner müssen sie dem Wettbewerbsschutz dienen, arg. ex Art. 3 Abs. 3 VO 1/2003. Abschließend kann damit Art. 3 Abs. 1 S. 1 VO 1/2003 vor dem Hintergrund des unionsrechtlichen Kompetenzgefüges eingeordnet werden. Die Vorschrift ist mithin in Bezug auf einzelstaatliche Durchsetzungsvorschriften, die an das Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV anknüpfen – entweder unmittelbar oder über Art. 3 Abs. 1 S. 1 VO 1/2003 – eine Ermächtigung i.S.d. Art. 2 Abs. 1 Hs. 2 AEUV. In dieser Hinsicht werden vor allem die einzelstaatlichen Anspruchsgrundlagen für Schadensersatzansprüche relevant, für die das Unionsrecht keine eigene Regelungen vorsieht.33 Im Übrigen stellt sie sich als zulässiges, wenngleich auf die zeitliche Abfolge des Erlasses der VO 1/2003 und des veränderten Kompetenzgefüges durch den Vertrag von Lissabon zurückzuführendes, nicht ganz systematisch stimmiges Minus zur Ermächtigung nach Art. 2 Abs. 1 Hs. 2 AEUV dar. 32
Vgl. auch Lampert/Niejahr/Kübler/Weidenbach, EG-KartellVO, Art. 3 Rn. 104. Siehe aber den Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach einzelstaatlichem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union, COM (2013) 404 endg., den das EP am 17. 04. 2014 beschlossen und der Rat am 10. 11. 2014 verabschiedet hat. 33
E. Die zivilrechtliche Haftung des Kartellgehilfen
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3. Zwischenergebnis Auch für nationale Rechtsfolgen eines den Binnenmarkt betreffenden mehrseitigen Wettbewerbsverstoßes bleibt allein die unionsrechtliche Verbotsnorm des Art. 101 Abs. 1 AEUV maßgeblich. Dessen Bewertung des Wettbewerbsverhaltens sperrt den Rückgriff auf nationales Recht. Da der Kartellgehilfe die Voraussetzungen der Tathandlungen gem. Art. 101 Abs. 1 AEUV nicht erfüllt, können im deutschen Recht nachteilige Rechtsfolgen nicht aus § 14 OWiG, §§ 81 Abs. 1 Nr. 1 GWB, 14 OWiG i.V.m. § 134 BGB oder § 830 BGB Abs. 2 BGB hergeleitet werden. Der Ausweitung der Verantwortlichkeit nach § 14 OWiG sowie der Haftung nach § 830 Abs. 2 BGB liegt eine darin zum Ausdruck kommende Verbotsnorm zum Zwecke des Wettbewerbsschutzes zugrunde, die über das Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV hinausgeht. Die nationalen Rechtsfolgen, insbesondere die Schadensersatzverpflichtung, sind nur anwendbar, wenn sie unmittelbar oder vermittelt über Art. 3 Abs. 1 S. 1 VO 1/2003 an das Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV anknüpfen. Zum gleichen Ergebnis einer Sperrwirkung kommt schließlich in Bezug auf § 14 OWiG, wer Art. 3 Abs. 2 S. 1 VO 1/2003 analog für nicht i.S.d. Art. 101 Abs. 1 AEUV tatbestandsmäßige Tathandlungen heranzieht.34 Sieht man nun den erweiterten Vorrang des Art. 3 Abs. 2 S. 1 VO 1/2003, um gleiche Bedingungen im Binnenmarkt zu ermöglichen, auch auf weitere negative Rechtsfolgen als das vom Wortlaut erfasste Verbot, insbesondere auch die zivilrechtlichen, erstreckt an,35 dann müsste nach diesem Begründungsansatz – letztlich im Wege einer doppelten Analogie – auch die zivilrechtliche Haftung des Kartellgehilfen nach nationalem Recht versperrt sein. Auch nach diesem Ansatz kann sich die Nichtigkeit des Dienstvertrages mithin nicht aus einzelstaatlichem Wettbewerbsrecht, in Deutschland §§ 81 Abs. 1 Nr. 1 GWB, 14 OWiG i.V.m. § 134 BGB ergeben. Nichtigkeitsgründe aus sonstigem nationalen Recht gem. Art. 3 Abs. 3 VO 1/2003 sind nicht ersichtlich.
III. Die Haftung auf Beseitigung, Unterlassung und Schadensersatz, § 33 GWB Die zivilrechtlichen Sanktionen eines Verstoßes gegen das Kartellverbot gehen über die Versagung der Ansprüche aus der Kartellabrede hinaus und erstrecken sich auf private Beseitigungs-, Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche. Diese private Kartellrechtsdurchsetzung tritt neben die bisher ausschließlich erörterte hoheitliche Kartellrechtsdurchsetzung durch Buß- und Zwangsgelder.
34
So J. Koch, ZWeR 2009, 370, 386; zust. Jüchser, Die Beteiligung am Kartell, S. 221. So Böge/Bardong, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 3 VO 1/2003 Rn. 84 ff.; Rehbinder, in: Fuchs/Schwintowski/Zimmer, FS Immenga, S. 303, 310; ders., in: I/M, WettbR, Bd. I/2, Art. 3 VO 1/2003 Rn. 30. 35
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Teil 5: Verantwortlichkeit des Kartellgehilfen nach weiteren Sanktionsnormen
Mangels unionsrechtlicher Regelung sind die Anspruchsnormen dem nationalen Recht zu entnehmen.36 Im deutschen Recht ist dies § 33 GWB. Abs. 1 normiert Beseitigungs- und Unterlassungs-, Abs. 3 Schadensersatzansprüche. Die Ansprüche knüpfen an einen Verstoß u. a. gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV an. § 33 Abs. 3 S. 1 GWB verlangt zusätzlich vorsätzliches oder fahrlässiges Handeln. Zwar umschreibt Art. 33 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 S. 1 GWB den Normadressaten lediglich mit „wer“, aus dem Zusammenlesen mit Art. 101 Abs. 1 AEUV ergibt sich jedoch, dass nur „Unternehmen“ und „Unternehmensvereinigungen“ erfasst sind.37 Da das deutsche Deliktsrecht jedoch die Handlung einer natürlichen Person38 sowie Deliktsfähigkeit39 voraussetzt, können die Unternehmensträger nur über die Zurechnung gem. § 31 BGB, ggf. in Analogie, ersatzpflichtig sein.40 Durch diese Inbezugnahme des Kartellverbots zeichnet sich erneut das zur Nichtigkeit ausgeführte Bild. Wer mit EuG und Kommission Art. 101 Abs. 1 AEUV einheitlich-extensiv auslegt, kann wiederum auch die zivilrechtlichen Ansprüche gegen den Kartellgehilfen bejahen.41 Im Schrifttum42 wird auf eine bemerkenswerte mögliche Konsequenz des AC-Treuhand/Kommission-Urteil des EuG aufmerksam gemacht. Sollten sich die geringen Anforderungen an die Teilnahme an einem Kartell durchsetzen, so könnten auch bei Missachten entsprechender Prüfpflichten die verschiedenen Vertriebsstufen als Kartellanten angesehen werden. Durch diesen eigenen Verstoß sähen sich diese Unternehmen auch der Schadensersatzhaftung ausgesetzt. Das könnte zur Folge haben, dass die Verbraucher den Ersatz ihres 36 Vgl. dazu sowie zu den unionsrechtlichen Vorgaben für das nationale Recht überblicksartig etwa Säcker/Jaecks, in: Hirsch/Montag/Säcker, MüKo, KartellR, Bd. 1, Art. 81 EG Rn. 819 ff. m.w.N. 37 Zum gebotenen Zusammenlesen von Blankett- und Ausfüllungsnorm siehe bereits oben S. 174, zum wirtschaftlichen Unternehmensbegriff S. 328 ff. 38 Bornkamm, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 1, § 33 GWB Rn. 106. 39 Vgl. §§ 827, 828 BGB. 40 Bornkamm, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 1, § 33 GWB Rn. 106; Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. II/1, § 33 GWB Rn. 30; Rehbinder, in: L/M/R, KartellR, § 33 GWB Rn. 34 f.; Roth, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. V, § 33 GWB Rn. 133 ff. [49. Lfg.: November 2001]. Zur Ersatzpflichtigkeit weiterer Personen, Vertreter der Unternehmensträger, Mitarbeiter und Gesellschafter, siehe etwa Emmerich, a.a.O., § 33 GWB Rn. 42 m.w.N. 41 Im Gesamtschuldnerinnenausgleich stellt sich dann die Folgefrage, zu welchem Anteil der Kartellgehilfe im Innenverhältnis haftet. Eine Orientierung an den verhängten Bußgeldern scheidet im Rahmen des § 254 BGB aus, da die Kommission auch maßgeblich andere Umstände als Verursachungs- und Verschuldensbeiträge berücksichtigt. Auch der jüngst vom LG München I, WuW/E DE-R3835 bei der Haftungsverteilung zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft bemühte Ansatz, auf den Zufluss des wirtschaftlichen Erfolgs aus dem Kartell abzustellen, ist für die Fallgruppe der Kartellgehilfen nicht übertragbar. Siehe vertiefend Sauer, in: Schulte/Just, KartellR, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 9 zur neueren Rspr. des EuG, nach der die betroffenen Unternehmen ihren Haftungsanteil im Innenverhältnis bereits aus der Kommissionsentscheidung erkennen können müssen. Zuletzt BGH, WuW/E DE-R 3935 – Calciumcarbid-Kartell. 42 Howe/Lawrence/Whiteford, G.C.L.R. 2009, 83, 90 f.
F. Ergebnis
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Kartellschadens letztlich (auch) von ihren Vertragspartnern verlangen können, sodass sich eine realistische Durchsetzungsperspektive auch von Streuschäden auftut. Nach hier vertretener Ansicht ist ein Verstoß des Kartellgehilfen gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV hingegen zu verneinen. Es bedarf mithin auch hier einer ergänzenden („Teilnahme“-)Norm für die Haftung von Kartellgehilfen, die das Unionsrecht gerade nicht bereithält.43 Das deutsche Deliktsrecht hingegen sieht eine solche Haftungserweiterung auf Anstifter und Gehilfen in § 830 Abs. 2 BGB (beschränkt auf Schadensersatzansprüche) vor.44 Diese haften danach wie Mittäter gem. §§ 830 Abs. 1 S. 1, 840 BGB als Gesamtschuldner i.S.d. §§ 421 ff. BGB. Es muss allerdings erneut gem. Art. 3 Abs. 2 S. 1 VO 1/2003 dem milderen Unionsrecht der Vorrang eingeräumt werden, da § 830 Abs. 2 BGB eine nationale Verbotsnorm, das Verbot der „Teilnahme“ an einem verbotenen Kartell, zugrunde liegt, die über Art. 101 Abs. 1 AEUV hinausgeht. Verneint man einen Verstoß des Kartellgehilfen gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV, so sperrt dies nicht nur den Rückgriff auf § 14 OWiG, sondern auch auf die Erweiterung der Schadensersatzhaftung auf Anstifter und Gehilfen nach § 830 Abs. 2 BGB.
F. Ergebnis Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass für die Bußgeldverantwortlichkeit von Kartellgehilfen strikt zwischen Verstößen gegen das materielle und das formelle europäische Kartellrecht zu differenzieren ist. Mangels eigener Zuwiderhandlung gegen das Kartell- oder Missbrauchsverbot scheidet die Bußgeldverantwortlichkeit für materielle Verstöße aus. Die formellen kartellrechtlichen Pflichten adressieren hingegen auch dritte, nicht am materiellen Verstoß beteiligte Unternehmen. Damit können auch Kartellgehilfen von Verpflichtungen der Kommission adressiert und bei Verstößen mit einem Bußgeld belegt werden. Diese Unterscheidung gilt für das Kartellrecht wie die Fusionskontrolle gleichermaßen. Da ein Verstoß des Kartellgehilfen gegen Art. 101 AEUV zu verneinen ist, sind auch die daran anknüpfenden verwaltungsrechtlichen Eingriffsbefugnisse sowie die zivilrechtliche Haftung – aufgrund der Sperrwirkung auch nach weitergehendem einzelstaatlichem Recht – zu versagen.
43
Siehe Teil 4 (S. 363 ff.). Zur Anwendbarkeit des § 830 BGB im Zusammenhang des § 33 GWB BT-Drs. II/1158, S. 44 (zu § 28 unter 2.); OLG Bremen, WuW/E OLG 4478, 4481; Bornkamm, in: Langen/ Bunte, KartellR, Bd. 1, § 33 GWB Rn. 107; Emmerich, in: I/M, WettbR, Bd. II/1, § 33 GWB Rn. 31; Rehbinder, in: L/M/R, KartellR, § 33 GWB Rn. 34; Roth, in: Jaeger/Pohlmann/ Schroeder, FK, KartellR, Bd. V, § 33 GWB Rn. 139 [49. Lfg.: November 2001]. 44
Teil 6
Ausblick: Die Bußgeldverantwortlichkeit von Kartellgehilfen wegen Verstößen gegen das Kartellverbot de lege ferenda Dem Normbestand des Unionsrechts kann eine Bußgeldverantwortlichkeit von Kartellgehilfen wegen Verstößen gegen das Kartellverbot mit den Mitteln zulässiger Auslegung nicht entnommen werden. Eine Rechtsfortbildung durch den Rechtsanwender scheidet aufgrund des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips aus. Im Sinne effektiven Wettbewerbsschutzes im Binnenmarkt besteht aber ein Strafbedürfnis zur Bebußung von Kartellgehilfen.1 Ihre wettbewerbsschädlichen Auswirkungen belegt nicht zuletzt die lange Lebensdauer des von der AC Treuhand AG betreuten Kartells für organische Peroxide. Die Befriedigung dieses Strafbedürfnisses kommt nach der auch im strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzip zum Ausdruck kommenden Kompetenzordnung der EU ausschließlich dem Gesetzgeber zu.2 Die Forderung nach der Bußgeldverantwortlichkeit von Kartellgehilfen ist somit zugleich eine Aufforderung an den Gesetzgeber.3 Der Weg über eine förmliche Vertragsänderung des AEUV gem. Art. 48 EUV wird nicht gangbar sein. Sie bedürfte der Zustimmung sämtlicher Mitgliedstaaten und wäre politisch derzeit nicht durchzusetzen. Vielmehr würde die Gelegenheit genutzt, weitreichende Veränderungen in den Rechtsgrundlagen der EU zu diskutieren. Auch brächte es eine Änderung des Art. 101 AEUV mit sich, dass die Beibehaltung der bisherigen von Kommission und Gerichtshof entwickelten Auslegungsgrundsätze zu hinterfragen wäre. Um ohne eine solche Vertragsänderung auszukommen, sind die bestehenden Rechtssetzungskompetenzen der EU im Wettbewerbsrecht näher zu betrachten.
1
Dazu bereits S. 32, 294 f., 319. Siehe oben S. 138 ff. 3 Diese Argumentation kann auch generell auf den Verbotstatbestand des Art. 101 Abs. 1 AEUV übertragen werden. Der allgemeine Bestimmtheitsgrundsatz, der im Hinblick auf die Vorhersehbarkeit für den Normadressaten dieselben Anforderungen an den Gesetzgeber stellt wie der strafrechtliche, und das daraus folgende verwaltungsrechtliche Analogieverbot verhindern ebenso eine Ausweitung durch den Rechtsanwender. 2
A. Die Verbandskompetenz der EU
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A. Die Verbandskompetenz der EU Die Kompetenzverteilung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten richtet sich nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung, Art. 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 EUV. Die Verbandskompetenz der EU zur Regelung der Bußgeldverantwortlichkeit auch des Kartellgehilfen müsste sich mithin aus den Verträgen ergeben.
I. Art. 103 AEUV In den Blick gerät zunächst Art. 103 AEUV. Dessen Absatz 1 ermächtigt den Rat auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments „die zweckdienlichen Verordnungen oder Richtlinien zur Verwirklichung der in den Artikeln 101 und 102 niedergelegten Grundsätze“ zu beschließen. Nach Art. 103 Abs. 2 lit. a AEUV bezwecken diese Vorschriften „insbesondere die Beachtung der in Artikel 101 Absatz 1 und Artikel 102 genannten Verbote durch die Einführung von Geldbußen und Zwangsgeldern zu gewährleisten“. So wurde insbesondere die VO 1/2003 auf diese Ermächtigungsgrundlage gestützt.4 In Betracht gerät damit vor allem eine Ergänzung des Art. 23 VO 1/2003, der die Bußgeldnormen im Kartellrecht i. e.S. bündelt. Allerdings konnte Art. 101 Abs. 1 AEUV durch Auslegung kein Verbot der Kartellbeihilfe entnommen werden. Art. 103 Abs. 1 AEUV knüpft aber an dessen Grundsätze an. Nur zu ihrer Verwirklichung und Durchsetzung ermächtigt Art. 103 AEUV. Die Ermächtigung erlaubt gerade nicht, Art. 101, 102 AEUV zu ändern oder zu ergänzen.5 Eine Ergänzung des Art. 101 Abs. 1 AEUV wäre aber notwendig. Art. 103 Abs. 1, 3 lit. a AEUV ermächtigt folglich nicht zum Erlass einer (auch) Kartellgehilfen erfassenden Verbots- und Bußgeldnorm.6
4
ABl. 2003 L 1, S. 1 („gestützt auf den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere auf Artikel 83“). 5 Allg. M.; Jung, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 103 AEUV Rn. 43; Khan, in: Geiger/Khan/Kotzur, EUV/AEUV, Art. 352 AEUV Rn. 2; Klees, Kartellverfahrensrecht, § 2 Rn. 6; Lohse, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. IV, Art. 103 AEUV Rn. 16 [77. Lfg.: Oktober 2012]; Reidlinger, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 103 AEUV Rn. 5; Ritter, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 103 AEUV Rn. 2; Sturhahn, in: L/M/R, KartellR, Art. 83 EG Rn. 4; Schröter, in: Schröter/Jakob/Klotz/Mederer, Europ. WettbR, Art. 103 AEUV Rn. 10; Stadler, in: Langen/Bunte, KartellR, Bd. 2, Art. 103 AEUV Rn. 6. 6 I. E. ebenso Jüchser, Die Beteiligung am Kartell, S. 108 (Fn. 601).
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Teil 6: Ausblick
II. Art. 352 AEUV „Unterhalb“ der förmlichen Vertragsänderung nach Art. 48 EUV sieht das Primärrecht in Art. 352 AEUV noch eine allgemeine „Flexibilitätsklausel“7 vor. Nach Art. 352 Abs. 1 S. 1 AEUV „erlässt der Rat [freilich unter Einhaltung der Vorgaben der weiteren Absätze] einstimmig auf Vorschlag der Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments die geeigneten Vorschriften“, wenn „ein Tätigwerden der Union im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Politikbereiche erforderlich [erscheint], um eines der Ziele der Verträge zu verwirklichen, und […] in den Verträgen die hierfür erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen“ sind. Im Folgenden soll auch diese Kompetenznorm auf ihre Tragfähigkeit geprüft werden. Fragen des innerstaatlichen Verfahrens sollen dabei ausgespart bleiben.8 1. Zur Verwirklichung eines der Ziele der EU Zunächst müsste die Rechtsetzung der Verwirklichung der Ziele der EU dienen, Art. 352 Abs. 1 S. 1 AEUV. In Art. 3 Abs. 3 S. 1 EUV findet sich die allgemeine Zielbestimmung zur Errichtung eines Binnenmarkts. Sie wird in Protokoll (Nr. 27) über den Binnenmarkt und den Wettbewerb um den Wettbewerbsschutz ergänzt.9 Zuvor fand sich die Verpflichtung auf ein „System, das den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarkts vor Verfälschungen schützt“ in Art. 3 Abs. 1 lit. g EG. Es stellt sich mithin erneut die Frage nach der Bedeutung dieser Auslagerung. Sollte der Wettbewerbsschutz aus den Zielen der EU gefallen sein, so verböte sich ein Rückgriff auf Art. 352 AEUV, auf den neben Art. 103 AEUV auch die FKVO gestützt wurde.10 Diese wurde indes bereits oben11 beantwortet. Mit der Auslagerung ist kein Bedeutungsverlust des Wettbewerbsschutzes als Ziel der EU verbunden. Der Schutz unverfälschten Wettbewerbs im Binnenmarkt ist damit als besonderes Ziel außerhalb der allgemeinen Zielbestimmung des Art. 3 EUVein Ziel der Verträge i.S.d. Art. 352 Abs. 1 S. 1 AEUV.12 Dies belegt auch die ausdrückliche Inbezugnahme des Art. 352 AEUV in Protokoll (Nr. 27).13 Die Schaffung einer Bußgeldverantwortlichkeit (auch) von Kartellgehilfen dient schließlich auch der Verwirklichung dieses Ziels. 7 So die Terminologie der Überschrift des Art. 352 AEUV im Wesentlichen entsprechenden Art. I-18 VerfV; ebenso BVerfGE 123, 267 – Lissabon. Siehe auch die Aufzählung weiterer Bezeichnungen bei Rossi, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 352 AEUV Rn. 11 m.w.N. 8 Zu den Voraussetzungen des dt. Rechts nach dem Lissabon-Urteil des BVerfG (BVerfGE 123, 267) etwa Streinz, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 352 AEUV Rn. 53 f. 9 Zur Auslagerung des Wettbewerbsschutzes in Protokoll (Nr. 27) sich bereits oben S. 49. 10 ABl. 2004 L 24, S. 1 („gestützt auf den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere auf die Artikel 83 und 308“). 11 Oben S. 49. 12 Ebenso D. Winkler, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. III, Art. 352 AEUV Rn. 47 a.E. [46. Lfg.: Oktober 2011]. 13 Protokoll (Nr. 27) über den Binnenmarkt und den Wettbewerb, ABl. 2008 C 115, S. 201, 309.
A. Die Verbandskompetenz der EU
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2. Im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Politikbereiche Die Tätigkeit der EU müsste ferner auf den Rahmen der in den Verträgen festgelegten Politikbereiche beschränkt sein. Damit verleiht Art. 352 AEUV keine Kompetenz-Kompetenz, sondern knüpft an bereits bestehende Zuständigkeitsbereiche an.14 Nach Art. 3 Abs. 1 lit. b AEUV wird der EU sogar die „ausschließliche Zuständigkeit“ für die „Festlegung der für das Funktionieren des Binnenmarkts erforderlichen Wettbewerbsregeln“ zugeschrieben.15 Dieser Befund wird durch die systematische Stellung der Art. 101 ff. AEUV im Dritten Teil des Vertrages („Die internen Politiken und Maßnahmen der Union“) sowie erneut der ausdrücklichen Inbezugnahme auf Art. 352 AEUV in Protokoll (Nr. 27) als Instrument zur Verwirklichung des Binnenmarkts bestätigt. Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen zur Abwehr von Gefahren für den Wettbewerb im Binnenmarkt unterfällt diesem Politikbereich. 3. Das Fehlen der hierfür erforderlichen Befugnisse in den Verträgen Des Weiteren dürfen die Verträge die hierfür erforderlichen Befugnisse nicht vorsehen, Art. 352 Abs. 1 S. 1 AEUV. Art. 352 AEUV ist somit subsidiär gegenüber anderen Befugnisnormen, meist als Innensubsidiarität bezeichnet.16 Zwar existiert mit Art. 103 AEUV eine spezielle Ermächtigungsnorm für das Wettbewerbsrecht, jedoch deckt sie wie gesehen17 nicht die Rechtsetzung zur Bußgeldverantwortlichkeit von Kartellgehilfen ab. Der Wortlaut des Art. 352 Abs. 1 S. 1 AEUV ist mithin erfüllt. Gleichwohl könnte Art. 103 AEUV eine Sperrwirkung für die Generalklausel 14 EuGH, Gutachten 2/94 v. 28. 3. 1996, Slg. 1996, I-1759, I-1788 Rn. 30; Denkschrift der Bundesregierung zum EVV, BT-Drs. 15/4900, S. 227, 257; Booß, in: Lenz/Borchardt, EUVerträge, Art. 352 AEUV Rn. 2; Geiss, in: Schwarze u. a., EU-Kommentar, Art. 352 AEUV Rn. 4; Khan, in: Geiger/Khan/Kotzur, EUV/AEUV, Art. 352 AEUV Rn. 7; Klein, in: Hailbronner u. a., HK, EUV/EGV, Art. 235 EG Rn. 3 [4. Lfg.: April 1995]; Rossi, in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, Art. 352 AEUV Rn. 12; Vedder, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 352 AEUV Rn. 1, 18; Wilms, in: Hailbronner/Wilms, Recht der EU, Bd. III, Art. 308 EGV Rn. 5 [14. Lfg.: August 2007]; D. Winkler, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. III, Art. 352 AEUV Rn. 16, 23 [46. Lfg.: Oktober 2011]. Damit erweist sich auch die bislang anzutreffende Bezeichnung als „Kompetenzerweiterungsklausel“ als zumindest missverständlich; ebenfalls kritisch D. Winkler, a.a.O., Art. 352 AEUV Rn. 16 f. [46. Lfg.: Oktober 2011]. 15 Siehe dazu bereits oben S. 378. 16 So etwa Rossi, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 352 AEUV Rn. 58; Schwartz, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 4, Art. 308 EG Rn. 61; Vedder, in: Vedder/ Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 352 AEUV Rn. 14; i.E. allg. M.; statt vieler Geiss, in: Schwarze u. a., EU-Kommentar, Art. 352 AEUV Rn. 19; Khan, in: Geiger/ Khan/Kotzur, EUV/AEUV, Art. 352 AEUV Rn. 12; Klein, in: Hailbronner u. a., HK, EUV/ EGV, Art. 235 EG Rn. 6 [4. Lfg.: April 1995]; Streinz, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 352 AEUV Rn. 8; D. Winkler, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. III, Art. 352 AEUV Rn. 73 f. [46. Lfg.: Oktober 2011]. 17 Oben S. 385.
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Teil 6: Ausblick
des Art. 352 AEUV zukommen. Mit Art. 352 AEUV soll schließlich nicht das komplexe Gefüge der Einzelermächtigungen umgangen werden.18 Ein Rückgriff auf Art. 352 AEUV scheidet jedenfalls dann aus, wenn die spezielle Befugnisnorm abschließend ist.19 Dies wird nach dem Vertrag von Lissabon nunmehr in Art. 352 Abs. 3 AEUV für die Harmonisierungsvorschriften bestätigt.20 Art. 103 Abs. 1 AEUV ist in formeller Hinsicht auf Verordnungen und Richtlinien festgelegt. Hier soll eine Verordnung auf Art. 352 AEUV gestützt werden. Damit entfaltet Art. 103 AEUV hier in Bezug auf die Wahl des Rechtsakts gem. Art. 288 AEUV keine Sperrwirkung. Auch in materieller Hinsicht sind Art. 103 AEUV keine Grenzen zu entnehmen. Der Rückgriff auf Art. 352 AEUV ist hier daher eröffnet.21 Dazu kann bestätigend das Beispiel der FKVO herangezogen werden. Da Art. 101, 102 AEUV nicht sämtliche wettbewerbsschädliche Zusammenschlüsse verbieten, wurde die Fusionskontrollverordnung neben Art. 83 EG (jetzt Art. 103 AEUV) hauptsächlich auf Art. 308 EG (jetzt Art. 352 AEUV) gestützt.22 Somit könnte lediglich hinsichtlich des Verfahrens wie der Organkompetenz von Art. 103 AEUV rückzuschließen sein.23 Allerdings sind nach Art. 352 AEUV dieselben Organe beteiligt wie im Verfahren nach Art. 103 AEUV. Zudem stellt die Flexibilitätsklausel noch die strengeren Anforderungen und vermittelt somit die höhere demokratische Legitimation. So muss der Rat danach sogar einstimmig auf Vorschlag der Kommission entscheiden und auch das EP wird nicht nur angehört, sondern muss zustimmen. Ein Umgehen der Voraussetzungen des Art. 103 AEUV scheidet somit auch diesbezüglich aus. Da Art. 103 AEUV hier nicht einmal partiell einschlägig ist, kann sich die Bußgeldnorm zur Erfassung von Kartellgehilfen ausschließlich auf Art. 352 AEUV
18 Rossi, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 352 AEUV Rn. 66; Schwartz, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 4, Art. 308 EG Rn. 14 ff.; Streinz, in: Streinz, EUV/ AEUV, Art. 352 AEUV Rn. 41; D. Winkler, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. III, Art. 352 AEUV Rn. 74 [46. Lfg.: Oktober 2011]. 19 Streinz, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 352 AEUV Rn. 41; Wilms, in: Hailbronner/Wilms, Recht der EU, Bd. III, Art. 308 EGV Rn. 15 [14. Lfg.: August 2007]. 20 Streinz, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 352 AEUV Rn. 41. 21 So auch die h.M., die einen Rückgriff auf Art. 352 AEUV sowohl bei fehlender Ermächtigung als auch bei einer zwar bestehenden, aber unzulänglichen Befugnisnorm vornimmt; EuGH, Urt. v. 12. 7. 1973, Rs. C-8/73 – Hauptzollamt Bremerhaven/Massey-Ferguson, Slg. 1973, 897, 907 f. Rn. 3 f.; Geiss, in: Schwarze u. a., EU-Kommentar, Art. 352 AEUV Rn. 21 ff.; Khan, in: Geiger/Khan/Kotzur, EUV/AEUV, Art. 352 AEUV Rn. 12; Klein, in: Hailbronner u. a., HK, EUV/EGV, Art. 235 EG Rn. 16 [4. Lfg.: April 1995]; Schwartz, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 4, Art. 308 EG Rn. 72; Vedder, in: Vedder/ Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 352 AEUV Rn. 15; D. Winkler, in: G/ H/N, Das Recht der EU, Bd. III, Art. 352 AEUV Rn. 82 [46. Lfg.: Oktober 2011]. 22 Erwägungsgrund 7 zur FKVO, ABl. 2004 L 24, S. 1. 23 Vgl. auch die kritische Position zur h.M. aus Teil 6 Fn. 21 bei Wilms, in: Hailbronner/ Wilms, Recht der EU, Bd. III, Art. 308 EGV Rn. 17 [14. Lfg.: August 2007].
A. Die Verbandskompetenz der EU
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stützen.24 Soweit Art. 23 VO 1/2003 geändert werden soll, stellt sich indes die Anschlussfrage, ob dieser auf Art. 103 AEUV gestützte Rechtsakt mittels Art. 352 AEUV geändert werden darf. Auch diese Frage ist zu bejahen, da diese ursprüngliche Rechtsgrundlage wie gesehen nicht mehr trägt.25 4. Die Erforderlichkeit des Tätigwerdens der EU Des Weiteren muss ein Tätigwerden der Union zur Verwirklichung der Ziele erforderlich erscheinen. Bereits der Wortlaut („erscheint“) deutet auf einen großen Beurteilungsspielraum des Rates hin.26 Über die Auslegung der Erforderlichkeit herrscht Uneinigkeit. Überwiegend27 wird die Erforderlichkeit in Bezug zur Zielverwirklichung gesetzt. Danach sei das Tätigwerden der Union erforderlich, wenn eine Diskrepanz zwischen einem Unionsziel und seiner Verwirklichung besteht. Da Ziele jedoch stets unerfüllt bleiben, wird diese Definition vereinzelt28 in ein relatives Verständnis abgewandelt, nach dem ein Tätigwerden umso erforderlicher ist, je größer die Diskrepanz ist und je länger sie andauert. Die so verstandene Erforderlichkeit sollte mit einem Hinweis auf die erheblichen Gefahren für den Wettbewerb im Binnenmarkt, die von Kartellgehilfen ausgehen, bejaht werden können. Demgegenüber wird die Erforderlichkeit gelegentlich29 auch auf das Verhältnis zu den Kompetenzen der Mitgliedstaaten bezogen. Gerade ein Tätigwerden der Union müsse erforderlich sein. Damit gerät die Tatbestandsvoraussetzung der Erforderlichkeit noch verstärkt in Konkurrenz zum Verhältnismäßigkeits- wie zum Subsidiaritätsgrundsatz des Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 3, 4 EUV. Nach einer Auffassung30 gehen diese allgemeinen Grundsätze in der Auslegung der Erforderlichkeit auf. Zum 24
Zum Streit, ob andernfalls Art. 352 AEUV und die Einzelbefugnisnorm kumulativ oder alternativ anzuwenden sind, siehe etwa D. Winkler, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. III, Art. 352 AEUV Rn. 85 ff. [46. Lfg.: Oktober 2011]. 25 Vgl. Wilms, in: Hailbronner/Wilms, Recht der EU, Bd. III, Art. 308 EGV Rn. 18 [14. Lfg.: August 2007]. 26 Rossi, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 352 AEUV Rn. 46 ff.; Schwartz, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 4, Art. 308 EG Rn. 172; Streinz, in: Streinz, EUV/ AEUV, Art. 352 AEUV Rn. 34; Wilms, in: Hailbronner/Wilms, Recht der EU, Bd. III, Art. 308 EGV Rn. 11 [14. Lfg.: August 2007]; i.E. auch D. Winkler, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. III, Art. 352 AEUV Rn. 72 [46. Lfg.: Oktober 2011]. 27 Geiss, in: Schwarze u. a., EU-Kommentar, Art. 352 AEUV Rn. 17; Streinz, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 352 AEUV Rn. 37; Wilms, in: Hailbronner/Wilms, Recht der EU, Bd. III, Art. 308 EGV Rn. 11 [14. Lfg.: August 2007]. 28 Rossi, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 352 AEUV Rn. 44; Schwartz, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 4, Art. 308 EG Rn. 176. 29 D. Winkler, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. III, Art. 352 AEUV Rn. 68 [46. Lfg.: Oktober 2011]; vgl. auch Schwartz, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 4, Art. 308 EG Rn. 39, 179. 30 So etwa Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 5 EUV Rn. 19. Siehe auch die weiteren Nachw. bei Streinz, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 352 AEUV Rn. 37 (Fn. 97 f.).
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Teil 6: Ausblick
anderen31 wird die Erforderlichkeit i.S.d. Art. 352 Abs. 1 S. 1 AEUV als kompetenzbegründend verstanden, während die allgemeinen Grundsätze gem. Art. 5 Abs. 1 S. 2 EUVausdrücklich die „Ausübung der Zuständigkeiten“ beschränken. Da die EU gem. Art. 3 Abs. 1 lit. b AEUV für die „Festlegung der für das Funktionieren des Binnenmarkts erforderlichen Wettbewerbsregeln“ und damit jedenfalls für die Rechtsetzung32 auch die Bußgeldverantwortlichkeit von Kartellgehilfen betreffend ausschließlich zuständig ist, findet gem. Art. 5 Abs. 3 UAbs. 1 EUV der Subsidiaritätsgrundsatz hier keine Anwendung und sollte im Ergebnis auch nach diesem Anknüpfungspunkt die Erforderlichkeit zu bejahen sein. 5. Der Umfang der sog. Flexibilitätsklausel Erweist sich Art. 352 AEUV mithin als anwendbar, stellt sich die Frage nach dem Umfang dieser Generalermächtigung. a) Der Erlass geeigneter Vorschriften Art. 352 Abs. 1 S. 1 AEUV ermächtigt zum Erlass der „geeigneten Vorschriften“. Zum Nachweis, dass die Schaffung einer Bußgeldverantwortlichkeit von Kartellgehilfen dem Ziel des Wettbewerbsschutzes im Binnenmarkt dient, sei zum einen auf die einleitenden Ausführungen33 sowie das Bestreben der Kommission zu ihrer Erfassung schon de lege lata verwiesen. Auch wenn Art. 352 AEUV den Kreis der zulässigen Maßnahmen grundsätzlich nicht einschränkt,34 ist hier – in Überschneidung mit Art. 103 Abs. 1 AEUV – eine Verordnung in Betracht zu ziehen. b) Die Abgrenzung zur Vertragsänderung und -ergänzung nach Art. 48 EUV Fragen wirft indes zunächst das systematische Verhältnis zur förmlichen Vertragsänderung nach Art. 48 EUV auf. Die Funktion des Art. 352 AEUV muss somit davon abgegrenzt werden.35 Dabei darf die Flexibilitätsklausel diese förmliche 31 So Schwartz, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 4, Art. 308 EG Rn. 39; Streinz, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 352 AEUV Rn. 37; D. Winkler, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. III, Art. 352 AEUV Rn. 69 [46 Lfg.: Oktober 2011]. 32 Dazu siehe bereits Teil 2 in und bei Fn. 219 und vertiefend S. 378 ff. 33 Oben S. 32 ff. 34 Booß, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge, Art. 352 AEUV Rn. 7; Geiss, in: Schwarze u. a., EU-Kommentar, Art. 352 AEUV Rn. 29; Khan, in: Geiger/Khan/Kotzur, EUV/AEUV, Art. 352 AEUV Rn. 14; Schwartz, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 4, Art. 308 EG Rn. 196 ff.; Streinz, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 352 AEUV Rn. 45; Vedder, in: Vedder/ Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 352 AEUV Rn. 18; D. Winkler, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. III, Art. 352 AEUV Rn. 91 [46. Lfg.: Oktober 2011]. 35 Überwiegend wird dieses systematische Verhältnis als ungeschriebenes negatives Tatbestandsmerkmal in die Prüfung integriert, vgl. Rossi, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 352 AEUV Rn. 72 ff.; Streinz, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 352 AEUV Rn. 13.
A. Die Verbandskompetenz der EU
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Vertragsänderung nicht unterlaufen. Wesentliche36 Änderungen der Verträge fallen ausschließlich in den Anwendungsbereich des Art. 48 EUV und damit in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Art. 352 AEUV erfasst somit nur weniger weitreichende Änderungen der Verträge. Nach dem EuGH ist die Abgrenzung anhand einer Folgenabschätzung vorzunehmen. In seinen Worten des Gutachtens zum EMRKBeitritt37 könne Art. 352 AEUV „jedenfalls nicht als Rechtsgrundlage für den Erlaß von Bestimmungen dienen, die der Sache nach, gemessen an ihren Folgen, auf eine Vertragsänderung ohne Einhaltung des hierfür vom Vertrag vorgesehenen Verfahrens [Art. 48 EUV] hinausliefen.“38 Zu fragen ist mithin, ob die Schaffung einer Bußgeldnorm zur Erfassung auch der Kartellgehilfen solche Folgen nach sich zieht, dass sie in den Funktionsbereich des Art. 48 EUV fällt. Diese Kontrollfrage ist zu verneinen. Diese Rechtsetzung liegt im Zentrum des Ziels eines umfassenden Wettbewerbsschutz im Binnenmarkt und erfordert keine Neuausrichtung der EU oder einzelner Politiken. Erneut lässt sich die FKVO als Beispiel anführen. Auch die Ergänzung einer Zusammenschlusskontrolle außerhalb der Verbote der Art. 101, 102 AEUV dient in gleicher Weise der Zielverwirklichung. c) Der Erlass strafrechtlicher Normen i.w.S. Zu prüfen bleibt indes, ob auch strafrechtliche Normen i.w.S. auf Art. 352 AEUV gestützt werden können. So wie Art. 352 Abs. 1 S. 1 AEUV die Art der Maßnahme nicht einschränkt, so beschränkt sie auch nicht ihren Inhalt.39 Der Wortlaut lässt mithin auch den Erlass von Bußgeldvorschriften zu. Dieser kann im Sinne effektiver Durchsetzung des Unionsrechts ausgeschöpft werden. Zudem verlangt Art. 352 Abs. 1 S. 1 AEUV die Beteiligung des Europäischen Parlaments wie es die Garantie des nullum crimen sine lege voraussetzt.40 Dieser Befund wird erneut durch das Beispiel der FKVO bestätigt. Dort findet sich in Art. 14 FKVO ebenfalls eine
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Vgl. EuGH, Gutachten 2/94 v. 28. 3. 1996, Slg. 1996, I-1759, I-1789 Rn. 34: „wesentliche Änderung des Gemeinschaftssystems“. D. Winkler, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. III, Art. 352 AEUV Rn. 63 [46. Lfg.: Oktober 2011], spricht an dieses materielle Gewicht anknüpfend von Art. 48 EUV als „Wesentlichkeitsvorbehalt“. 37 Zum Beitritt der EU zur EMRK siehe bereits oben S. 81 f. 38 EuGH, Gutachten 2/94 v. 28. 3. 1996, Slg. 1996, I-1759, I-1788 Rn. 30; bestätigt durch Erklärung Nr. 42 zur Lissabonner Schlussakte, ABl. 2007 C 306, S. 231, 263. Vgl. auch EuG, Urt. v. 21. 9. 2005, Rs. T-306/01 – Yusuf und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission, Slg. 2005, II-3533, II-3590 Rn. 147. 39 Geiss, in: Schwarze u. a., EU-Kommentar, Art. 352 AEUV Rn. 27; Rossi, in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, Art. 352 AEUV Rn. 77; Schwartz, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/ EG-Vertrag, Bd. 4, Art. 308 EG Rn. 199; D. Winkler, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. III, Art. 352 AEUV Rn. 92 [46. Lfg.: Oktober 2011]. 40 Zum Gesetzesbegriff des unionsrechtlichen strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips siehe oben S. 156 ff.
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Teil 6: Ausblick
Bußgeldnorm.41 Art. 352 AEUV ermächtigt somit auch zum Erlass von Bußgeldnormen zur Durchsetzung freien Wettbewerbs im Binnenmarkt. 6. Die Grenzen der Kompetenzausübung Schließlich stehen einer Verordnung zur Bußgeldverantwortlichkeit auch der Kartellgehilfen nicht die allgemeinen Kompetenzausübungsschranken des Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nach Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 3, 4 EUV wie das Harmonisierungsverbot gem. Art. 352 Abs. 3 AEUV entgegen. Die gem. Art. 3 Abs. 1 lit. b AEUV ausschließliche Zuständigkeit der EU für die „Festlegung der für das Funktionieren des Binnenmarkts erforderlichen Wettbewerbsregeln“ schließt dabei gem. Art. 5 Abs. 3 UAbs. 1 EUV die Geltung des Subsidiaritätsgrundsatzes aus. Zudem ist wie bei der VO 1/2003 oder FKVO eine Regelung durch Verordnung zulässig.
B. Vorschläge zur Ergänzung der Art. 101 AEUV, VO 1/2003 Besteht nun gem. Art. 352 AEUV eine Kompetenz der EU zur Schaffung einer Rechtsgrundlage zur Bußgeldverantwortlichkeit auch des Kartellgehilfen,42 so soll sich nun einem Formulierungsvorschlag genähert werden. Zunächst sind die Anforderungen an die neue Norm zu vergegenwärtigen. Sie soll Kartellgehilfen erfassen, die zwar nicht selbst ihr zukünftiges Marktverhalten koordinieren und daher nicht unter Art. 101 Abs. 1 AEUV fallen, die aber bei dieser Koordinierung zwischen dritten Unternehmen Hilfe leisten. Dabei muss die Norm Antwort geben auf mehrere rechtspolitische Tatbestandsfragen. Zunächst muss ihr Adressat erwogen werden. Unabhängig von Kompetenzfragen ist die Norm schon aus Sachgründen nicht auf natürliche Personen zu erweitern. Zwar kann jedermann Kartellgehilfenleistungen erbringen,43 so dass grundsätzlich ein Strafbedürfnis besteht. Allerdings spricht vieles dafür, etwa die ebenfalls als „Gehilfen“ in Betracht kommenden zahlreichen Mitarbeiter von Kartellunternehmen aus der bußgeldrechtlichen Verantwortlichkeit auszunehmen. Ohnehin werden bei bedeutenden Kartellgehilfentätigkeiten auch natürliche Personen schnell als relatives Unternehmen einzuordnen sein.44 Zudem muss die Norm gewährleisten, dass sozialadäquate Handlungen wie die bereits oben45 angeführte Taxifahrt der Kartellanten zum Kar-
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Näher zu Art. 14 FKVO bereits oben S. 370 ff. I.E. ebenso Jüchser, Die Beteiligung am Kartell, S. 108 (Fn. 601). Vgl. J. Koch, ZWeR 2009, 370, 384. Siehe dazu bereits oben S. 330. S. 313.
B. Vorschläge zur Ergänzung der Art. 101 AEUV, VO 1/2003
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telltreffen ausgeschieden werden. Bremer46 versucht dies wie gesehen47 anhand objektiver Kriterien, die er dem AC Treuhand-Urteil des EuG entnimmt. Er stellt auf einen „inneren Sachzusammenhang“ ab, der bestehen soll, wenn der Gehilfe Tätigkeiten vornimmt, die typischerweise den Kartellanten selbst zuzuordnen sind.48 Zutreffend an diesem Ansatz ist, dass er die Lösung der objektiven Zurechnung i.S.d. deutschen Strafrechts zuordnet. Das Verhalten des Gehilfen muss ein rechtlich missbilligtes Risiko schaffen, das sich in der Zuwiderhandlung realisiert. Dies ist in einer umfassenden Abwägung der Grundrechtspositionen nach dem Prinzip des überwiegenden Interesses49 anhand des strengen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes50 zu ermitteln. Angemessen ist es dabei, neben den objektiven auch subjektive Umstände maßgeblich einzustellen. Damit kann der Lösungsweg zum Problem der sog. „neutralen“ Beihilfe im nationalen deutschen Strafrecht eingeschlagen werden.51 Ein Taxifahrer, ein Hotelier oder auch ein beratender Anwalt erbringen den Kartellunternehmen gegenüber berufstypische Leistungen. Dabei handelt es sich im Ausgangspunkt um „erlaubte“, d. h. sozialadäquate Handlungen, wie etwa die Taxifahrt, das Vermieten der Konferenzräume oder die rechtliche Begutachtung und Beratung. Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Leistungen pflichtgemäß im Rahmen der Berufsausübung und in erster Linie allein zum eigenen unmittelbaren wirtschaftlichen Vorteil in Gestalt der Gegenleistung erbracht werden. Selbst wenn der deliktische Bezug der eigenen Handlung hätte erkannt werden können, der Gehilfe mithin fahrlässig handelt, überwiegt noch das Interesse zur Vornahme berufstypischer Handlungen. Dem Berufsträger kann nicht bereits bei den kleinsten Anzeichen eine nähere Prüfung auferlegt werden. Den „neutralen“ oder „erlaubten“ Charakter verlieren diese Handlungen aber dann, wenn ihr Erbringer von dem Kartellrechtsverstoß Kenntnis hat und ihn bewusst fördert.52 Hält der Gehilfe die Tatbestandsverwirklichung allerdings nur für möglich, dann muss im Einzelfall geprüft werden, ob er das hohe Risiko zur Begehung der Haupttat erkannt hat.53 Dies 46
Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 64 ff. Oben S. 319 ff. 48 Bremer, Die Beteiligung Dritter an Wettbewerbsverstößen, S. 66. 49 Zur Notwendigkeit einer Abwägung der widerstreitenden Interessen und Grundrechtsausübungen für die Bestimmung des „Ob“ der Strafbarkeit siehe bereits oben S. 134. 50 Dieser strenge Maßstab erklärt sich aus dem der Strafe zugrundeliegenden intensiven Zugriffs auf die Persönlichkeit des Betroffenen; siehe oben S. 138 f. 51 Dazu etwa überblicksartig Joecks, in: Joecks/Miebach, MüKo, StGB, Bd. 1, § 27 Rn. 48 ff.; Roxin, Strafrecht AT/II, § 26 Rn. 218 ff.; Schünemann, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK, StGB, Bd. 1, § 27 Rn. 17 ff. jew. m.w.N. Vgl. auch Keiler, in: Klip, Substantive Criminal Law of the European Union, S. 173, 195. 52 Vgl. zum dt. Strafrecht BGHSt 46, 107, 112; BGHR, StGB § 27 Abs. 1 Hilfeleisten 20; BGH, NStZ 2000, 34; Roxin, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky, LK11, StGB, Bd. 1, § 27 Rn 19; Schünemann, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK, StGB, Bd. 1, § 27 Rn. 18, 25. 53 Vgl. zum dt. Strafrecht BGHSt 46, 107, 112; BGH, NStZ 2000, 34; Roxin, Strafrecht AT/ II, § 26 Rn. 241 f.; Schünemann, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK, StGB, Bd. 1, § 27 Rn. 19. 47
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Teil 6: Ausblick
ermöglicht eine sachgerechte Abgrenzung der strafbaren Beihilfe von den noch sozialadäquaten Unterstützungsleistungen.54 Die Kartellbeihilfe erfordert damit im Ergebnis einen „Doppelvorsatz“. Der Gehilfe muss seinen Tatbeitrag vorsätzlich erbringen und vorsätzlich hinsichtlich des Kartellrechtsverstoßes handeln. Dies entspricht auch dem Ergebnis eines wertenden Rechtsvergleichs der mitgliedstaatlichen Strafrechtsordnungen.55 An diesen Kriterien sind auch einheitlich die oben genannten potentiellen Kartellgehilfen zu messen. Insoweit sind auch der Taxifahrer, der Rechtsanwalt und das Wirtschaftsberatungsunternehmen gleich zu behandeln. Es leuchtet kein Grund ein, den Taxifahrer von vorneherein vom Verbot auszunehmen, nur weil er einen entfernteren Kausalbeitrag erbringt. Dessen Taxifahrt wird aber wie die Leistungen des Caterer und des Hoteliers keinen deliktischen Sinnbezug im obigen Sinne aufweisen. Ebenso wenig werden die Genannten Vorsatz bzgl. des Kartellrechtsverstoßes haben56 und können damit aus dem Beihilfetatbestand ausgeschieden werden. Durch die vornehmlich subjektive Abgrenzung kann der zentrale Begriff des Hilfeleistens, der freilich autonom von nationalen Verständnissen auszulegen ist,57 objektiv mithin weiter verstanden werden als jeder fördernde Kausalbeitrag. Damit umfasst er auch die typischen Anstifterhandlungen im Sinne nationalen Strafrechts, d. h. solche, die den Tatentschluss der Kartellanten zu einem vorsätzlichen Verstoß gegen das Kartellverbot hervorrufen. Nach Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/ 2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV bleiben diese ebenso straflos wie die Beihilfe. Die neue Beihilfenorm schlösse mithin auch diese Strafbarkeitslücke. Indes wurde die so verstandene Kartellanstiftung in der Praxis soweit ersichtlich noch nicht relevant. Die bislang als „Kartellanstifter“ bezeichneten Unternehmen waren stets Parteien der Kartellabsprache, die sie selbst initiiert haben und damit Täter des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV.58 Erst 54 Kritisch zu den flexiblen Kriterien in Bezug auf § 27 StGB Joecks, in: Joecks/Miebach, MüKo, StGB, Bd. 1, § 27 Rn. 83. 55 Keiler, in: Klip, Substantive Criminal Law of the European Union, S. 173, 195; H. Stein, Die Regelungen von Täterschaft und Teilnahme im europ. Strafrecht, S. 354. Speziell zu §§ 26, 27 StGB siehe nur Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, § 26 Rn. 4, § 27 Rn. 7 m.w.N.; zu § 14 OWiG Rengier, in: Senge, KK, OWiG, § 14 Rn. 30 ff. m.w.N.; zu § 81 GWB Achenbach, in: Jaeger/ Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. VI, Vor. § 81 GWB Rn. 63 [61. Lfg.: Oktober 2006] m.w.N. 56 Freilich anders die von GA Kokott angesprochenen Rechstanwälte, die sich „durch die Abgabe von Gefälligkeitsgutachten zum Handlanger wettbewerbswidriger Praktiken von Unternehmen“ machen, vgl. GA Kokott, Schlussanträge v. 28. 2. 2013, Rs. C-681/11 – Schenker, noch nicht in amtl. Slg., Rn. 74. 57 Siehe bereits oben S. 46 f.; vgl. auch die parallele Situation zum Begriff der Nichtigkeit i.S.d. Art. 101 Abs. 2 AEUV, dazu etwa Jaeger, in: L/M/R, KartellR, Art. 81 Abs. 2 EG Rn. 2 m.w.N. 58 Vgl. etwa EuG, Urt. v. 27. 9. 2006, Rs. T-59/02 – Archer Daniels Midland/Kommission, Slg. 2006, II-3627, II-3727 ff. Rn. 292 ff. Nach Papakiriakou, Das Europ. Unternehmensstrafrecht in Kartellsachen, S. 59 f. habe die Kommission in der Entscheidung FENEX (Kommission, Entsch. v. 5. 6. 1996, IV/34.983 – FENEX, ABl. 1996 L 181, S. 28) eine Un-
B. Vorschläge zur Ergänzung der Art. 101 AEUV, VO 1/2003
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auf Seiten der Bußgeldzumessung erfährt die „Anstiftung“ besondere, erschwerende, Bedeutung.59 Auch die systematische Stellung der neuen Verbots- und Strafnorm muss erwogen werden. Zunächst bietet es sich an, diese Vorschrift in die VO 1/2003 zu integrieren. Zwei Lösungen kommen in Betracht; eine umfassende und eine auf die Bußgeldverantwortlichkeit beschränkte. Nach letzterer könnte im Anschluss an Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a VO 1/2003 der folgende Tatbestand eingefügt werden: „Die Kommission kann gegen Unternehmen durch Entscheidung Geldbußen verhängen, wenn sie vorsätzlich den Beteiligten einer Zuwiderhandlung nach lit. a bei der Verhaltenskoordination Hilfe leisten.“ Der Zielverwirklichung eines umfassenden Wettbewerbsschutzes dienlicher ist hingegen zweifelsohne eine Lösung, die auch verwaltungsrechtliche und zivilrechtliche Sanktionen ermöglicht. Zweckmäßig wäre eine eigene Verbotsnorm, die Art. 101 AEUV gleichsteht. So könnte in dem mit „Grundsätze“ überschriebenen Kapitel 1 folgender Art. 1a VO 1/2003 eingefügt werden: „Einer Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV steht das vorsätzliche Hilfeleisten zur ihrerseits tatbestandsmäßigen Verhaltenskoordinierung zwischen dritten Unternehmen gleich.“ Da die Eingriffs- und Sanktionsbefugnisse der VO 1/2003 an eine Zuwiderhandlung anknüpfen, würde der Kartellgehilfe den Kartellanten auch diesbezüglich gleichgestellt. Die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen ergäbe sich ferner ebenfalls aus Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a VO 1/2003. Zu beachten ist aber, dass der danach ausreichende fahrlässige Verstoß für die Kartellbeihilfe wegen des spezielleren Art. 1a VO 1/2003 keine Anwendung findet. Verboten und bußgeldbewehrt ist nur das vorsätzliche Hilfeleisten. Allerdings lässt die neue Bußgeldnorm einen bloß fahrlässigen Verstoß der Kartellanten ausreichen. Es genügt damit bereits, wenn der Kartellgehilfe erkennt, dass die Kartellanten ihrerseits den Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV hätten erkennen können, und diesen billigt. Diese – im nationalen deutschen Strafrecht systemwidrige,60 im Rechtsvergleich der mitgliedstaatlichen ternehmensvereinigung wegen „versuchter Anstiftung“ mit einem Bußgeld belegt. Die (gegenständliche) Unternehmensvereinigung hatte eine Richtschnur für Tariferhöhungen ihrer Verkaufspreise an ihre Mitglieder verschickt, die aber nicht befolgt wurde. In Wirklichkeit stellt die Herausgabe der Richtschnur jedoch einen Beschluss einer Unternehmensvereinigung dar, da die Mitgliedsunternehmen nicht mehr autonom in ihrer Preisfeststetzung handeln, selbst wenn die Richtschnur nicht rechtlich verbindlich war. Der Versuch einer Anstiftung liege nach Papakiriakou wohl deswegen vor, weil die Wettbewerbsbeschränkung „nur“ bezweckt war. Gleichwohl liegt darin gerade eine eigene Tatbestandsverwirklichung. Auch die Unternehmensvereinigung ist selbst Täter des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV. 59 Vgl. Kommission, Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, ABl. 2006 C 210, S. 2, 4 Rn. 28 3. Spiegelstrich. 60 Zum dt. Kriminalstrafrecht lies §§ 26, 27 Abs. 1 StGB; zu § 14 OWiG ist es h.M., dass die Ordnungswidrigkeit des Vordermanns vorsätzlich begangen wurde; siehe etwa BT-Drs. V/ 1269, S. 49; BGHSt 31, 309 ff.; Bohnert, OWiG, § 14 Rn. 31; Rengier, in: Senge, KK, OWiG,
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Teil 6: Ausblick
Strafrechtsordnungen aber durchaus verbreitete61 – Erweiterung ist nicht nur in der tatbestandlichen Gleichstellung von Vorsatz- und Fahrlässigkeitstat in Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 VO 1/2003 angelegt, sondern auch rechtspolitisch gerechtfertigt. Sie erfasst etwa auch das Wirtschaftsberatungsunternehmen, das Marktstatistiken für seine Mandanten in der Annahme aufbereitet, diese werden sie zwar nicht bewusst zu Kartellrechtsverstößen nutzen, hätten aber um die Tatbestandsverwirklichung wissen müssen, und ihren Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV billigt. Schließlich schließt die neue Bußgeldnorm auch die Mitarbeiter der am Kartell beteiligten Unternehmen aus, indem sie die Unterstützung von „dritten Unternehmen“ verlangt. Ebenfalls ist die Norm auf materielle Kartellrechtsverstöße beschränkt. Eine eigene rechtspolitische Entscheidung ist die Bestimmung des Strafrahmens der Kartellbeihilfe. Anhaltspunkte können im Wege wertenden Rechtsvergleichs gewonnen werden. In den mitgliedstaatlichen dualistischen Strafrechtsordnungen wird das Strafmaß der Teilnahme verbreitet dem der Täterschaft gleichgestellt.62 In Mitgliedstaaten mit Einheitstätermodell erfolgt ohnehin eine tatbestandliche Gleichsetzung. An diese rechtspolitischen Entscheidungen soll hier angeknüpft werden. Art. 23 Abs. 2 UAbs. 2, Abs. 3 VO 1/2003 bedarf mithin keiner Ergänzung.63 Abstufungen sind gleichwohl innerhalb dieses Rahmens ohnehin möglich und i. d. R. auch geboten. In jedem Fall sollten die Bußgeldleitlinien der Kommission angepasst werden.64 Etwaige vertragliche Grundlagen einer Kartellbeihilfe, namentlich der Dienstvertrag, sind nicht nach Art. 101 Abs. 2 AEUV nichtig. Sein Wortlaut ist auf die „nach diesem Artikel verbotenen Vereinbarungen und Beschlüsse“ beschränkt. Dass auch andere Vereinbarungen als die nach Art. 101 Abs. 1 AEUV verbotenen erfasst sind, ist somit für den Normadressaten nur vorhersehbar, wenn die weiteren Auslegungskriterien dies deutlich vorgeben. Dies ist nicht der Fall. Auch eine systematisch-teleologische Auslegung bestätigt diesen beschränkten Schutzzweck. Die Nichtigkeitssanktion dient allein der Auflösung der wettbewerbswidrigen, weil das Selbständigkeitspostulat verletzenden, Selbstbindungen der Kartellanten. Die Durchsetzung der Erfüllung der gegenseitig versprochenen Selbstbindungen soll
§ 14 Rn. 8; speziell zu § 81 GWB siehe nur Achenbach, in: Jaeger/Pohlmann/Schroeder, FK, KartellR, Bd. VI, Vor. § 81 GWB Rn. 61 [61. Lfg.: Oktober 2006]; Cramer/Pananis, in: L/M/R, KartellR, § 81 GWB Rn. 13; Dannecker/Biermann, in: I/M, WettbR, Bd. II/1, Vor. § 81 GWB Rn. 86. 61 Vgl. H. Stein, Die Regelungen von Täterschaft und Teilnahme im europ. Strafrecht, S. 360. 62 H. Stein, Die Regelungen von Täterschaft und Teilnahme im europ. Strafrecht, S. 361; Vogel, ZStW 114 (2002), 406, 410. Vgl. auch Hamdorf, Beteiligungsmodelle im Strafrecht, S. 273 ff.; Weißer, Täterschaft in Europa, S. 556 f. 63 Beumer, Actualiteiten Mededingingsrecht 2008, 185, 191 geht bereits de lege lata ganz auf der Linie der Position des EuG von einem einheitlichen Bußgeldrahmen aus. 64 Dazu siehe bereits oben S. 348 ff.
B. Vorschläge zur Ergänzung der Art. 101 AEUV, VO 1/2003
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versagt werden.65 Es geht um die Verhinderung der Perpetuierung der bezweckten oder bewirkten Wettbewerbsbeschränkung. Dafür spricht auch das Strafzumessungskriterium der „Dauer“ des Verstoßes für Kartellbußgelder nach Art. 23 Abs. 3 VO 1/2003. Die beteiligten Unternehmen sollen trotz der für verbindlich gehaltenen Kartellabrede ex tunc autonom am Markt handeln können.66 Da diese ex tuncNichtigkeit nicht nur zwischen den Beteiligten, sondern auch gegenüber Dritten besteht,67 wird auch ihre Handlungsfreiheit abgesichert.68 Darin erschöpft sich der Schutzzweck des Art. 101 Abs. 2 AEUV. Folgeverträge, d. h. Verträge der Kartellanten mit Dritten über kartellbefangene Produkte, werden von Art. 101 Abs. 2 AEUV nicht erfasst und sind nach nationalem Recht zu beurteilen.69 Es geht der Norm nicht um den Vermögensschutz kartellgeschädigter Dritter bzw. spiegelbildlich der Versagung wirtschaftlicher Vorteile der Kartellanten aus dem Kartell. Umfassenden Vermögensschutz kann Art. 101 Abs. 2 AEUV schon deshalb nicht gewähren, weil sie die dritte Tathandlung der aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen nicht erfasst. Der Vermögensschutz kartellgeschädigter Dritter ist Sache des nationalen Rechts. Dabei bleiben freilich Art. 3 VO 1/2003, Art. 3 Abs. 1 lit. b; 2 Abs. 1 AEUV maßgeblich.70 Da einer etwaigen Nichtigkeitsfolge für Folgeverträge keine einzelstaatliche über Art. 101 Abs. 1 AEUV hinausgehende Verbotsnorm zugrundeliegt und sie vielmehr wie die nationalen Schadensersatzansprüche an den Verstoß gegen das Kartellverbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV anknüpfen, kann das nationale Recht sie aus kartellrechtlichen71 oder sonstigen, allgemeinen Gründen (vgl. Art. 3 Abs. 3 VO 1/2003) für nichtig erklären und den Kartellanten so die wirtschaftlichen Vorteile aus dem Kartell versagen. Das deutsche Recht macht davon keinen Gebrauch. In erster Linie stellt es aber besagte Schadensersatzansprüche bereit. Hinzu tritt die Gewinnabschöpfung, die durch die Bußgelder bewirkt wird.72 Mangels Verletzung des Selbständigkeitspostulats greift Art. 101 Abs. 2 AEUV 65 Stockenhuber, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 231 [47. Lfg.: April 2012]. 66 Schröter, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 2, Art. 81 EG Rn. 227. 67 EuGH, Urt. v. 25. 11. 1971, Rs. 22/71 – Béguelin Import/G. L. Import Export, Slg. 1971, 949, 962 Rn. 29; Urt. v. 14. 12. 1983, Rs. 319/82 – Soc. de Vente de Ciments et Bétons/Kerpen & Kerpen, Slg. 1983, 4173, 4183 f. Rn. 11; Urt. v. 20. 9. 2001, Rs. C-453/99 – Courage und Crehan, Slg. 2001, I-6297, I-6322 Rn. 22; Schmidt, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 18. 68 Schröter, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Bd. 2, Art. 81 EG Rn. 227. 69 H.M.; statt vieler EuGH, Urt. v. 14. 12. 1983, Rs. 319/82 – Soc. de Vente de Ciments et Bétons/Kerpen & Kerpen, Slg. 1983, 4173, 4183 f. Rn. 11; Schmidt, in: I/M, WettbR, Bd. I/1, Art. 101 Abs. 2 AEUV Rn. 36; Stockenhuber, in: G/H/N, Das Recht der EU, Bd. II, Art. 101 AEUV Rn. 237 [47. Lfg.: April 2012]; W. Weiß, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 101 AEUV Rn. 147. 70 Dazu bereits oben S. 374 ff. 71 So manche Mitgliedstaaten; dazu Schröter, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EGVertrag, Bd. II, Art. 81 EG Rn. 234. 72 Dazu siehe bereits oben S. 97 f.
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Teil 6: Ausblick
somit nicht für mögliche vertragliche Grundlagen der Kartellbeihilfe.73 Das Unionsrecht versagt dem Kartellgehilfen mithin nicht seine kartellbedingte Vergütung. Da sich der Dienstvertrag nicht als Folgevertrag darstellt und die Kartellgehilfen selbst nicht gegen das Kartellverbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV verstoßen, müsste der Unionsgesetzgeber einen Art. 101 Abs. 2 AEUV entsprechenden Abs. 2 zu Art. 1a VO 1/2003 schaffen. Jedenfalls wären Kartellgehilfen schließlich Beseitigungs, Unterlassungs- und Schadensersatzansprüchen ausgesetzt. Zwar knüpft § 33 Abs. 1, 3 GWB an einen Verstoß gegen Art. 101 AEUV an, jedoch stellt die neu zu schaffende unionsrechtliche Norm die Kartellbeihilfe gerade einer solchen Zuwiderhandlung gleich. Zudem ist auch hier das Verschulden gem. Art. 1a VO 1/2003 auf Vorsatz beschränkt. Sollte das Strafbedürfnis zur Erfassung auch der Kartellgehilfen tatsächlich zu einer Reform der VO 1/2003 führen, so sei abschließend noch einmal auf den ebenfalls bestehenden Reformbedarf zur Beseitigung der rechtsstaatlichen Bedenken gegen die Rechtsfolgenseite der Bußgeldbemessung hingewiesen.74 Eingeschlossen werden sollte auch ein Klarstellung zur Bußgeldadressateneigenschaft bei mehreren Rechtsträgern einer wirtschaftlichen Einheit.75 Ebenso könnte über eine Norm zur Erfassung von Kartellgehilfen bei Verstößen gegen Art. 102 AEUV nachzudenken sein.
73
Anders scheinbar Stimmen aus der Literatur, die die Nichtigkeitssanktion des Art. 101 Abs. 2 AEUV für Dienstverträge untergeordneter Kartellgehilfen wie des Taxifahrers oder Caterers ihrer Betrachtung zugrunde legen, aber als unbillig empfinden; dazu siehe oben S. 313. 74 Dazu siehe oben S. 140. 75 Dazu siehe oben Teil 3 Fn. 290.
Teil 7
Ergebnisse 1.
Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV ist keine Bußgeldhaftung wegen Verstößen gegen das Kartellverbot sog. Kartellgehilfen zu entnehmen. Die Rechtsprechung des EuG in der Rechtssache ACTreuhand und die zugrundeliegende Kommissionsentscheidung verstoßen gegen das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip.
2.
Der Begriff des Kartellgehilfen erfasst Unternehmen, die nicht selbst Partei der Kartellabrede sind, das Kartell aber mit Sekretariatstätigkeiten unterstützen und die Einhaltung der Kartellabrede überwachen. Meist wird es sich dabei um Beratungsunternehmen handeln, die den Kartellmitgliedern Räumlichkeiten für ihre Treffen zur Verfügung stellen, Verwaltungsaufgaben übernehmen und auch inhaltlich zwischen den Kartellmitgliedern vermitteln (Teil 1 A.).
3.
Als ihnen vorwerfbare Tathandlungen lassen sich drei verschiedene Vorgänge identifizieren: Die Kartellabrede der Kartellmitglieder, die vertragliche Beziehung des Kartellgehilfen zum Kartellmitglied (Dienstvertrag) sowie eine Gesamtschau beider Abreden und der tatsächlichen Hilfstätigkeiten erweisen sich als mögliche Anknüpfungspunkte (Teil 3 B. II.).
4.
Bei der Auslegung des Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV findet das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip auch im Kartellordnungswidrigkeitenrecht in vollem Umfang Anwendung. Es verlangt, dass die Strafbarkeitsgrundlage in einer gesetzlichen, d. h. unter Beteiligung des Europäischen Parlaments zustandegekommenen, abstrakt-generellen, geschriebenen, zur Tatzeit bestehenden und bestimmten Rechtsnorm des Unionsrechts besteht. Dieses strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip findet seinen Ausdruck vorrangig in Art. 49 Abs. 1 GRC. Gem. Art. 52 Abs. 3 GRC ist dabei das Mindestschutzniveau des entsprechenden Art. 7 EMRK gewahrt. Dieses wirkt aber nicht begrenzend auf das Chartarecht. Der Schutzstandard des richterrechtlich entwickelten strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips nach Art. 6 Abs. 3 EUV (sog. prätorischer Grundrechtsschutz) kann den des Art. 49 Abs. 1 GRC wiederum noch übersteigen, die Rechtsprechung darf ihn aber keinesfalls unterschreiten (Teil 2 D. I., II).
5.
Maßgebliche Bedeutung zur Kompetenzabgrenzung zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung und damit zur Beantwortung der Frage der Bußgeldver-
400
Teil 7: Ergebnisse
antwortlichkeit von Kartellgehilfen sowie weiterer Fallgruppen extensiver Normanwendung durch die Entscheidungspraxis der Kommission wie des Gerichtshofs erlangt der strafrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz. Er verlangt, dass dem Normadressaten die Strafbarkeit durch Auslegung vorhersehbar sein muss. Es konnte gezeigt werden, dass diese Vorhersehbarkeit auch im Strafrecht letztlich nur durch eine Abwägung zwischen Rechtssicherheit und materieller Einzelfallgerechtigkeit ermittelt werden kann (Teil 2 D. 3. c)). Diese so gezogene Grenze des gesetzlichen Rahmens beschränkt die Kompetenz des Rechtsanwenders. Das Analogieverbot verbietet ihm, diesen gesetzlichen Rahmen zu verlassen. 6.
Des Weiteren konnte dargelegt werden, dass der Gehalt dieses strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes in Bezug auf die Vorhersehbarkeit für den Normadressaten mit den Anforderungen des allgemeinen Bestimmtheitsgrundsatzes als Schranken-Schranke von Grundrechtseingriffen einhergeht. Die hier zum Kartellverbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV gefundenen Auslegungsergebnisse sind damit nicht auf den strafrechtlichen Kontext beschränkt, sondern erlangen allgemeine Bedeutung:
7.
Vor diesem Hintergrund erfordert das Tatbestandsmerkmal der „Vereinbarungen“, „Beschlüsse“ und „aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen“, dass das betreffende Unternehmen Partei der Vereinbarung ist. Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV liegt ein restriktiver Täterbegriff zugrunde. Die Kartellabrede unter den Kartellanten scheidet damit als taugliche Tathandlung eines Kartellgehilfen aus. Eine Gesamtschau beider Absprachen und der tatsächlichen Hilfshandlungen ist ebenfalls nicht mit dem Wortlaut vereinbar. Ein Heranziehen dieser Tathandlung wird damit durch das Analogieverbot des Gesetzlichkeitsprinzips (nullum crimen, nulla poena sine lege stricta) ausgeschlossen. Die in der Rechtsprechung eine Gesamtbetrachtung ermöglichenden Rechtsfiguren dürfen diese Grenze auch nicht überschreiten und tun es auch nicht. (Teil 3 B.).
8.
Als zentrales Täterschaftskriterium konnte vielmehr die Verletzung des sog. Selbständigkeitspostulats identifiziert werden. Die bebußten Unternehmen müssen gegen ihre Pflicht, sich autonom am Markt zu verhalten, verstoßen haben. Das Selbständigkeitspostulat verletzt in eigener Person das Unternehmen, das als Partei eine „Vereinbarung“ schließt oder eine „aufeinander abgestimmte Verhaltensweise“ vornimmt. Dieses Kriterium ermöglicht erst eine Abgrenzung des nach Art. 101 Abs. 1 AEUV verbotenen zum erlaubten Wettbewerbshandeln. So verhindert es die Unbestimmtheit der Bußgeldnorm in Bezug auf das weite Merkmal der bezweckten oder bewirkten Wettbewerbsbeschränkung. Zugleich dient es der Abgrenzung der Täterschaft. Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV lässt sich damit als Pflichtdelikt im Sinne der deutschen Strafrechtsdogmatik einordnen. Da die Beteiligten des Dienstvertrags nicht gegen das Selbständigkeitspostulat ver-
Teil 7: Ergebnisse
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stoßen, scheidet auch diese Tathandlung als Anknüpfungspunkt einer Bußgeldverantwortlichkeit von Kartellgehilfen aus (Teil 3 B. VI.; C.). 9.
Der Bußgeldverantwortlichkeit steht indes nicht entgegen, dass die Kartellgehilfen nicht auf dem Markt tätig sind, auf den sich die bezweckte oder bewirkte Wettbewerbsbeschränkung bezieht. Dies setzt Art. 101 Abs. 1 AEUV ebenso wenig voraus wie ein Wettbewerbsverhältnis zwischen den beteiligten Unternehmen. Eine Eingrenzung des Kartellverbots über die restriktive Auslegung der Sonderpflichtenposition als Unternehmen ist auch nicht im Tatbestand angelegt. Die Weite des Wortlauts wird einzig durch das Kriterium der Verletzung des Selbständigkeitspostulats eingeschränkt, die sich auch in der bezweckten oder bewirkten Wettbewerbsbeschränkung niederschlagen muss (Pflichtwidrigkeitszusammenhang) (Teil 3 F. III.).
10. Ergibt sich die Bußgeldverantwortlichkeit des Kartellgehilfen nicht schon aus Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV, so findet sich im Unionsrecht auch keine ergänzende Strafnorm. Solche Normen, die entweder den Einheitstäterbegriff normieren oder sich als Teilnahmenormen darstellen, finden jeweils nur im Anwendungsbereich des jeweiligen unionsrechtlichen Rechtakts Anwendung. Dies gilt auch für die Rahmenregelungen der VO 2988/95 und den in Art. 7 S. 2 normierten Einheitstäterbegriff. Schließlich schließt das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzips die Lückenfüllung durch Rechtsfortbildung, im Wege der Analogie oder wertender Rechtsvergleichung, aus (Teil 4). 11. Allenfalls kann eine Bußgeldverantwortlichkeit von Kartellgehilfen wegen Verstößen gegen formelle Vorschriften gem. Art. 23 Abs. 1 VO 1/2003, Art. 14 Abs. 1 FKVO bestehen. Die übrigen Bußgeldtatbestände setzen jeweils eigene Verstöße gegen die materiellen Verbotstatbestände der Art. 101, 102 AEUV bzw. eigene Unternehmenszusammenschlüsse i.S.d. Art. 3 FKVO voraus und sind daher wie Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a Alt. 1 VO 1/2003 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV zu verneinen. Die Bußgeldtatbestände des europäischen Kartellrechts folgen dabei alle der oben identifizierten Struktur. Sie setzen im Kern jeweils einen Verstoß gegen eine außerhalb der Bußgeldnorm geregelte Pflicht voraus (Teil 5). 12. Das einzelstaatliche Wettbewerbsrecht darf weitergehende als die unionsrechtlichen Rechtsfolgen nur an Verstöße gegen das unionsrechtliche Kartellverbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV knüpfen. Weitergehende nationale Verbotsnormen werden nicht angewendet. Da die Kartellgehilfen nicht gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV verstoßen, können etwa die weitergehenden deutschen Rechtsfolgen des § 14 OWiG, der §§ 81 Abs. 1 Nr. 1 GWB, 14 OWiG i.V.m. § 134 BGB oder des § 830 BGB Abs. 2 BGB nicht angewandt werden (Teil 5 E. II.). 13. Der Europäischen Union kommt jedoch die Befugnis zu, den unbefriedigenden Rechtszustand de lege ferenda zu beheben. Nach dem strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzip ist dies Aufgabe des Gesetzgebers. Dieser kann gem. der
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Ermächtigung des Art. 352 AEUV eine Norm schaffen, die die Bußgeldverantwortlichkeit wegen Verstößen gegen das Kartellverbot auch der Kartellgehilfen begründet. Dabei bietet sich eine tatbestandliche Gleichstellung mit einer Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV im Rahmen der VO 1/2003 an (Teil 6). 14. Die Fallgruppe der Kartellgehilfen kann abschließend in eine allgemeine Entwicklung der europäischen Kartellrechtspraxis eingeordnet werden. Diese ist geprägt von dem Bestreben eines effektiven Wettbewerbsschutzes im Binnenmarkt. Um diesen zu gewährleisten, ist eine zunehmende Entfernung von den gesetzlichen Grundlagen zu beobachten. Das Primärrecht zielt aber nicht nur auf die Verwirklichung der einzelnen Politikbereiche, sondern verpflichtet die Union auch auf ihre rechtsstaatlichen Grundlagen. Diese werden in der Praxis seltener in den Blick genommen. Durch die Anwendbarkeit des Bestimmtheitsgrundsatzes wird dieser Zielbestimmungskonflikt allerdings letztlich auf eine Abwägung zwischen Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit i.S.d. allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes zur Bestimmung der Vorhersehbarkeit des hoheitlichen Grundrechtseingriffs reduziert. Der Wettbewerbsschutz, verstärkt durch den effet utile, kann nur insoweit berücksichtigt werden, wie er der Gleichbehandlung und Einzelfallgerechtigkeit dient, und in dieser Gestalt mit der Rechtssicherheit in Einklang gebracht werden kann. Dieser kritischen Überprüfung anhand der primärrechtlichen Grundlagen hält die Praxis zur Fallgruppe der Kartellgehilfen nicht stand.
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Stichwortverzeichnis Adäquanz 313 akzessorische Wettbewerbsbeschränkung 317 allgemeiner Gleichbehandlungsgrundsatz 180, 188, 192, 198, 209, 296 f. allgemeiner Rechtsgrundsatz 74, 77 f., 82, 84, 110, 158, 282 Analogie 71, 139, 199, 203, 209, 211, 381 f. Analogieverbot 138, 177, 179, 200, 202 – 206, 212, 214 f., 217, 237, 245, 248, 296 f., 331 Anstiftung 229, 231, 394 f. Anwaltsverantwortlichkeit 34, 393 f. Auffangtatbestand 274, 287, 360 Ausführungshandlungen 249, 279 Ausfüllungsnorm 169, 171, 174, 235, 241, 248, 278, 297, 327, 374 Auslegung 39 – acte clair-Regel 59 – autonome 105 – dynamische 50 – eigenständige unionsrechtliche Auslegungsmethodik 40 – einheitlich-extensive 199, 219 – extensive 173, 175, 213, 241, 263 – Gebot restriktiver Auslegung 212, 214 – genetische 47, 249 – grammatikalische 44 – 46, 59, 206, 221, 260, 341, 345 – historische 47, 60, 249 – historische i. e.S. 47, 154, 249 f. – objektive Theorie 43, 59, 63, 207 – primärrechtskonforme 58, 68, 84 – Rangverhältnis der Auslegungskriterien 44, 58, 179, 188, 213 – subjektive Theorie 43, 59, 63, 205, 258 – systematisch-teleologische 61, 396 – systematische 48, 58 – 60, 221, 234, 250, 252, 264, 328, 345, 351, 355 – teleologische 48, 54, 263, 278, 295, 298, 351, 358
Auslegungsmaßstab 39, 59, 140, 189, 219, 221 Austauschverträge 247, 264 f. Auswirkungsprinzip 303, 343, 353 autonomes Parallelverhalten 264 f., 307 Bedarfsmarktkonzept 310, 342 Beihilfe 229, 231, 233, 262, 369 f., 394 Beitritt der EU zur EMRK 81, 120, 122, 391 Beteiligungsmodelle 225 – Differenzierungsmodell 225 f., 233 – dualistisches Beteiligungssystem 228 – Einheitsmodell 225 – Einheitstätermodell 226 – 230, 396 – Modell des Allgemeinen Teils 226 – Modell des Besonderen Teils 226 – systemisches Beteiligungsmodell 290 Blanketttechnik 171 Bündeltheorie 293 f., 315 f., 325 common law 141, 143, 146, 157, 164, 200, 290, 292 conspiracy 292 de lege ferenda 38, 256, 293, 327, 384 de minimis-Bekanntmachung 325 Delegation durch den Gesetzgeber 143, 159, 161, 176 Demokratiedefizit der EU 142 demokratische Legitimation 66, 130, 142 – 144, 150 f., 154 – 156, 162 f., 167, 388 Doppelvorsatz 394 Drittmarktproblematik 342, 353, 357 effet utile 35, 39, 53, 55, 61, 68, 207, 262 f., 279, 295 f., 320, 331, 337, 352, 358, 379 eigenhändiges Delikt 233 Eingriffsverwaltung 84, 179
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Stichwortverzeichnis
einheitliche, komplexe und fortgesetzte Zuwiderhandlung 31, 253, 258, 280 f., 283 – 286, 288, 292, 296, 312, 315, 336, 356 Einzelfallgerechtigkeit 187, 189, 192, 196, 198, 200, 204, 210, 220, 249, 296 Engel-Kriterien 88 f. Erläuterungen zur GRC 113, 117 f., 122, 124 Ermessen 104, 109, 140, 351 Erwägungsgründe 80, 84, 365, 375, 377, 379 Extraneus 335, 337 Fahrlässigkeit 171, 250, 259, 287, 313 f., 360 Fahrlässigkeitsdelikt 230 fair trial 87 Finalität des Unionsrechts 50, 53 Flexibilitätsklausel 386, 388, 390 Folgevertrag 398 Fusionskontrolle 99, 257 f., 364, 370, 383, 391 Garantenstellung 338 Garantiefunktion des Strafrechts 138 GbR 298 Gefährdungstatbestand 311 Generalklausel 314, 387 Gesetzgebungsakte 153, 160, 162 f. Gewaltenteilung 43, 65, 139, 144, 150, 153, 159, 169, 193, 202, 213 Gewinnabschöpfung 98, 397 Gewohnheitsrecht 165, 168 Grundfreiheiten 31, 51, 54, 125, 266 Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung 64, 162, 385 Haftung 38, 347, 374, 381, 383 Handlungsfähigkeit 235 Handlungsunrecht 261 Harmonisierungsverbot 392 in dubio pro reo 173 Informationsaustausch 246, 265 Inkorporation der EMRK 120 – 122 Inkorporationsklausel 118, 124, 126 Innensubsidiarität 387
institutionelles Gleichgewicht 65, 160, 202, 213 Integrationsfunktion des Binnenmarkts 241, 266 f., 303 f. Interorgangrenze 67 f. joint criminal enterprise
290 f., 293
Kappungsgrenze 107, 140, 250, 281, 346 f., 349 Kartellwächter 31 Kausalität 223, 227, 229, 233, 239, 246, 254, 258, 260 f., 287, 311 – 313, 315, 319, 321 – 324, 357, 394 Kernbereich – der Legislative 69 – der Wortbedeutung 179 – des Strafrechts 190 – einer Norm 179, 296 Kernbeschränkung 307, 310 Kompetenz-Kompetenz 387 Konzern 358 Konzernprivileg 277, 357 Koppelung 344 Kronzeugenregelung 33 f. Leistungswettbewerb 268, 370 lex mitior 216 Loyalitätsgebot 76, 123, 368 Lücke – lückenfüllende Rechtsfortbildung 66 – planwidrige Regelungslücke 63, 66 f., 133, 135 marktbeherrschende Stellung 271, 369 f., 377, 379 Marktmacht 306, 370 mehrpoliges Grundrechtsverhältnis 120, 133 Mehrsprachenauthentizität 44, 206, 210, 212 Mindestschutz 121, 125, 130, 135, 137, 149 Missbrauchsverbot 112, 261, 345, 369, 383 Mittäterschaft 240, 258, 282 f., 285 f., 289, 292, 364, 383 more economic approach 51 f., 269, 299, 304, 306 Motor der Integration 54, 176
Stichwortverzeichnis Nebenabrede 317 Nebenstrafrecht 196 Neue Norm 367, 392 neutrale Beihilfe 393 Nichtigkeit 171, 250 f., 313, 374, 380 – 382, 396 f. Normambivalenz 171 f., 219, 373 Normspaltung 172 f., 175 nullum crimen, nulla poena sine lege parlamentaria 157 nullum crimen extra culpam 224 objektive Zurechnung 319, 393 Opportunitätsprinzip 173 f. Organkompetenz 65, 388 Parlamentsvorbehalt 142, 145, 161 f. Partei der Vereinbarung 239, 241 – 243, 249, 256, 262, 285, 292, 297, 337, 340, 355, 357, 361, 369 passive Beteiligung am Kartell 288 f. Pflichtdelikt 232, 278, 337 Pflichtwidrigkeitszusammenhang 323, 362 praktische Konkordanz 55, 183, 188, 198 prätorischer Grundrechtsschutz 70, 117, 127, 130 – 133, 137, 149, 158, 178, 219 private Kartellrechtsdurchsetzung 381 publicly distancing oneself from a cartel 289 Randbereich – der Wortbedeutung 179 – einer Norm 187 Rechtsfortbildung 37, 53 f., 57, 61 – 64, 66, 68 f., 132, 135, 168, 202 – 205, 208, 211, 214, 283, 366 f., 384 Rechtsnatur der kartellrechtlichen Geldbuße 109, 218 Rechtssicherheit 43, 70, 79, 84, 114, 117, 119, 130, 172, 178, 186, 188 f., 192, 194, 196 – 198, 200, 204, 209 f., 212, 218, 220, 249, 296 Rechtsvergleichung 56 f. – wertender Rechtsvergleich 57, 158, 161, 205, 214, 228 f., 234, 252, 255, 366, 394, 396 Rechtsverweigerungsverbot 61 Regressverbot 314
433
Schadensersatz 98 f., 171, 375, 380 – 383, 397 Schranken – immanente Schranken 180, 182 f., 185 f., 189 f. – Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen 147 – Schranken-Schranken 147, 197 Schuld 100, 359 – 361 Schuldfähigkeit 360 Schuldgrundsatz 223 f. Selbständigkeitspostulat 269 – 272, 274, 276 – 278, 286 – 289, 295, 297 f., 302 – 307, 312, 318, 323 – 326, 329, 334 f., 337, 347, 355, 357 f., 361 f., 370, 396 f. Selbstbindung – der Kommission 53, 350 – der Legislative 80 – der Unternehmen 272, 274, 303, 305 – 307, 324, 396 soft law 348 Sonderdelikt 231 f., 260, 300, 327, 337, 339 Sonderpflicht 338, 340 f., 354 sozial-ethische Missbilligung 91, 101 f. Sozialadäquanz 223, 313, 392 – 394 Spezialität 135, 148, 181 f. Sprachfassung 45, 90, 119, 158, 169, 206, 210 – 212, 215, 220, 241, 311, 321 f., 328 Strafbedürfnis 33, 208, 295 f., 319, 384, 392, 398 Strafzumessung 100, 227, 347 Strafzwecktheorien 97 – negative Generalprävention 98 – negative Spezialprävention 98 – positive Generalprävention 98 – repressiver Strafzweck 99 Subsidiaritätsgrundsatz 389 symbolisches Bußgeld 32, 174, 349 Täterbegriffe 230, 252 – Einheitstäterbegriff 35, 57, 222, 227, 230, 233 f., 254, 260, 262, 327, 364 – 366, 374 – extensiver 233 – restriktiver 233 Täterschaft und Teilnahme 223, 228, 230, 252, 255, 297, 314, 354 Täterwille 234, 254, 259
434
Stichwortverzeichnis
Tatherrschaft 234, 252 f., 283, 355 teleologische Reduktion 244, 252, 256, 300, 314, 319, 354 Transferklausel 118 Übermaßverbot 214, 223 Umgehung 294 f., 334, 336 f. Unionsgesetzgeber 151 Unmittelbarkeitskriterium 321, 325 Unschuldsvermutung 224 Unternehmensbegriff 298, 328, 330, 333, 341, 352, 357 f. – funktionaler 329, 331 – institutioneller 331, 352 – relatives Unternehmen 330 – wirtschaftlicher 352 Unterstützungshandlungen für das Kartell 248 f., 361 Verbandskompetenz 64, 67, 94, 385 Verbindlichkeit der Vereinbarung 243, 251, 275 Verbraucherwohlfahrt 52, 304, 306 Verfassungsvertrag 81 Verhaltenszurechnung – einheitliche, komplexe und fortgesetzte Zuwiderhandlung 281, 284, 312 – Mittäterschaft 240, 283, 286 Verhältnismäßigkeit 64, 100, 138, 140, 181, 214, 223 Verjährung 281, 283, 286 Versuch 322
vertikale Absprachen 293, 300 f., 305, 315, 353, 356 Vertrag von Lissabon 38, 71, 81 f., 90, 128, 170, 380, 388 Vertragsänderung des AEUV 384, 386, 390 f. Vertragsbegriff 242 Vertrauensschutz 64, 211, 216, 349 Verursachungsdelikt 230, 260, 323 Vorhersehbarkeit 40, 70, 79, 87, 139, 156, 159, 165, 168 f., 174 f., 187, 196 f., 201 f., 205, 208 f., 213, 215, 217, 287, 291, 295, 320, 351, 358, 362, 373 Vorsatz 171, 250, 259, 287, 291, 313 f., 360, 394, 396, 398 Welch-Kriterien 89 Wesen der Straftat 201 f., 213 Wesentlichkeitstheorie 155, 163 Wettbewerbsbegriff 268, 299 Willensübereinkunft 243 f., 246 f., 249, 256, 274, 287, 297, 299, 316 Willkür 139, 144, 159, 320 wirtschaftliche Einheit 31, 277, 298, 357, 398 Wortlautgrenze 205 f., 208, 212, 263 Zielbestimmung 49 f., 58, 68, 386 Zurechnungszusammenhang 314 Zwischenstaatlichkeitsklausel 267, 309, 313, 322, 326, 343