223 105 4MB
German Pages 48 [52] Year 1997
Alois M. Haas Der Kampf um den Heiligen Geist
Wolfgang Stammler Gastprofessur für Germanische Philologie -
Vorträge
-
herausgegeben v o m Mediävistischen Institut der Universität F r e i b u r g S c h w e i z Heft 7
1997
Universitätsverlag Freiburg Schweiz
Alois M. Haas
Der Kampf um den Heiligen Geist Luther und die Schwärmer
1997
Universitätsverlag Freiburg Schweiz
Veröffentlicht mit Unterstützung des Hochschulrates Freiburg Schweiz
C I P - T i t e l a u f n a h m e der Deutschen Bibliothek Haas, Alois M.: Der Kampf um den Heiligen Geist - Luther und die Schwärmer / Alois M. Haas. - Freiburg, Schweiz: Univ.-Verl., 1997 ( V o r t r a g t ' / W o l f g a n g - S i a m m l e r - G a s t p r o f e s s u r f u r G e r m a n i s c h e P h i l o l o g i e ; H . 7)
ISBN 3-7278-1114-5
Copyright 1997 by Universitätsverlag Freiburg Schweiz Satz: Mediävistisches Institut der Universität Freiburg Schweiz Druck: Paulusdruckerei Freiburg Schweiz ISBN 3 - 7 2 7 8 - 1 1 1 4 - 5
Inhalt Ruedi Imbach - Begrüßung
7
Alois M. Haas - Der Kampf um den Heiligen Geist Luther und die Schwärmer
11
Curriculum vitae Alois M. Haas
37
Verzeichnis der Veröffentlichungen von Alois M. Haas 1956-1996
37
Begrüßung Sehr geehrter Herr Dekan, sehr geehrte Frau Professor Roth, sehr geehrte Damen und Herren. «Nur im vollen Zusammenwirken aller einzelnen Disziplinen der geschichtlichen Erforschung des mittelalterlichen Geisteslebens kann eine Annäherung an das Ziel der mittelalterlichen Philologie stattfinden.» Diesen Satz Konrad Burdachs hat Wolfgang Stammler dem ersten Band des 1930 erstmals erschienenen als Motto vorausgeschickt. Lange bevor die Interdisziplinarität zum abgegriffenen Modewort entwertet wurde, hat Stammler mit dieser Geste vor allem aber mit seinem vielseitigen Werk den Nachweis erbracht, daß das Interesse des ausgewiesenen Experten für Grenzfragen und benachbarte Disziplinen eine Bereicherung für das eigene Fach sowie die angrenzenden Gebiete bedeuten kann. Interdisziplinarität bedeutet nämlich nicht, daß jeder alles machen kann und darf, sondern sie ist nur ertragreich und sinnvoll auf der Grundlage einer tadellosen Fachkompetenz der beteiligten Personen. In diesem Sinne war es angebracht und sinnvoll, daß der Initiator der Wolfgang-Stammler-Gastprofessur, Herr Kollege Eckart Lutz, dieses Unternehmen von Anfang an im besten Sinne des Wortes i n t e r d i s z i p l i n ä r konzipiert hat. Drei der bisherigen Inhaber dieser Professur darf ich heute abend besonders begrüßen, nämlich Prof. Walter Blank, Prof. Paul Gerhard Schmidt und Prof. Alois Wolf. Es ist gewiß keine Übertreibung, wenn ich sage, sie hätten ihre Aufgabe ganz im Sinne des eingangs zitierten Programms wahrgenommen. Alois Maria Haas, dessen inceptio als Gastprofessor es heute zu feiern gilt, hat mit seinem reichhaltigen Werk ebenfalls die Richtigkeit und Relevanz dieses programmatischen Satzes bestätigt. Vielleicht darf ich einleitend ein paar Stationen seines Curriculums in Erinnerung rufen. Alois M. Haas hat in Zürich, Berlin, Paris und München Germanistik, Philosophie und Geschichte studiert. Nach seiner Promotion im Jahre 1963 zur tumpheit Parzivals, legte er 1969 an der Universität Zürich seine Habilitationsschrift vor. Nach einer dreijährigen Tätigkeit als assoziierter Professor in Montreal wurde er 1971 Professor an der Universität Zürich, der er bis zum heutigen Tage treu geblieben ist. 1978 hat ihm die Theologische Fakultät unserer Hochschule den Ehrendoktor verliehen, und von 1988 bis 1989 war er Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin.
-
8
-
Das umfangreiche Werk von Alois M. Haas ist vielfältig und geschlossen zugleich. Ich bin versucht zu sagen, er sei ein homo multorum librorum sed unius quaestionis. Es ist keine ungebührliche Vereinfachung, wenn ich behaupte, er sei letztendlich nur an einer einzigen Frage interessiert, die er aber in ihren sehr verschiedenen und sehr zahlreichen Varianten und Abschattungen erforscht: Es ist die Frage, w a s i s t M y s t i k ? Alle seine wichtigsten Schriften, von seiner Habilitationsschrift «Nim din selbes war»1 bis zum soeben erschienenen Buch «Die Kunst rechter Gelassenheit»/ kreisen um die Erörterung und Erschließung dieser einen Frage. Diese Kontinuität und diese Insistenz werden nur verständlich, wenn wir bedenken, wie nach Haas Mystik verstanden werden muß. In einem ganz allgemeinen Sinn, so formuliert Haas, «darf Mystik als jene religiöse Erfahrungsebene gekennzeichnet werden, in der sich eine stringente Einheit zwischen Subjekt und Objekt dieser Erfahrung in irgendeinem noch näher zu bezeichnenden Sinn abzeichnet.» 1 An der in dieser Umschreibung festgehaltenen E i n h e i t v o n G o t t u n d M e n s c h ist zum einen wichtig, daß es sich um eine Erfahrung handelt oder, wie Haas gerne sagt, um etwas existenziell Erfahrenes oder Erfahrbares. Zum anderen ist Haas weniger an dem religionsphilosophischen Phänomen der Mystik im allgemeinen als vielmehr an der c h r i s t l i c h e n Mystik im besonderen interessiert, die er in fast allen ihren Manifestationen von Dionysius Areopagita bis Angelus Silesius untersucht und erforscht hat. Das spezifisch Christliche der Mystik besteht einesteils im ständigen Bezug zu dem für den Glauben grundlegenden Leben und Sterben Jesu Christi und anderenteils in der Passivität des an der Unio beteiligten Subjektes. Die mit Mystik gemeinte Erfahrung ist deshalb zu verstehen als eine «gnadenhaft, ohne Anstrengung empfangene Einigung»,4 von der Haas auch sagt, «daß nicht der Objektbezug des Subjektes dominiert [. . .], sondern der aktive Bezug des geglaubten Objekts zum glaubenden Subjekt.» 1
1
N i m din selbes war. Studien zur Lehre von der Selbsterkenntnis bei Meister Eckhart,
Johannes
Tauler
und Heinrich
Seuse
(Dokimion
3),
Freiburg/
Schweiz: Universitätsverlag 1971. 2
Die Kunst rechter Gelassenheit: Themen und Schwerpunkte von Heinrich Seuses Mystik, Bern: Lang 1995.
3
Gottleiden - Gottlieben. Zur volkssprachlichen Mystik im Mittelalter, Frankfun: Insel 1979, S. 24.
4
Ebd., S. 43.
5
Mystik als Aussage. Erfahrungs-, Denk- und Redeformen christlicher Mystik, Frankfurt: Suhrkamp 1996, S. 34.
-
9
-
Wenn der Mystik im Schrifttum von Haas eine derartig grundlegende Rolle zukommt, dann hängt dies auch damit zusammen, daß nach ihm letztlich nicht nur T h e o l o g i e und M y s t i k koinzidieren, sondern alles echte Christsein letztlich in die Mystik einmündet: Immer wieder zitiert er zustimmend den Satz des späten Rahner, «daß der Christ der Zukunft ein Mystiker sei oder nicht mehr sei.»'1 Und er legt mit Karl Rahner diesen Satz so aus, daß die Einführung ins Christentum als Initiation in die Mystik zu interpretieren ist. Dieses Verständnis von Theologie und Christentum gründet indessen in einer Anthropologie, die Haas in einem ebenso kennzeichnenden wie grundlegenden Aufsatz zur Eigenart christlicher Mystik skizziert hat.' Hier verweist er darauf, daß die Mystik als Antwort auf eine im Menschen als solchem grundgelegte Anlage zu deuten sei: «Eine grundsätzliche, von niemandem bestreitbare Gegebenheit des menschlichen Lebens besteht im Paradox, daß dieses sich nicht autonom sich selber verdankt.»* Mit der zustimmenden Anerkennung dieses Tatbestandes und der Zuwendung zum Anderen, das als gebender Ursprung erkannt wird, beginnt die religiöse Existenz, die in der Mystik ihre Erfüllung findet. Die grundlegende U n v e r f ü g b a r k e i t menschlichen Daseins verwandelt sich dann in die das Christentum auszeichnende Theopathie, die mit Tauler als gotliden bezeichnet werden kann. Diese gewiß unzureichende Skizze der e i n e n Frage, durch die Alois M. Haas als Forscher und Mensch beunruhigt ist, vermag besser als eine trokkene Aufzählung seiner zahlreichen Schriften zu verdeutlichen, weshalb er den Ansprüchen einer Stammler Professur in ganz besonderer Weise entspricht. Er verbindet in seinem Oeuvre nicht nur Mystik und Mystagogie, Germanistik und Theologie, Geschichte und Philologie miteinander, sondern er begibt sich auch immer wieder auf philosophisch-theologische Gratwanderungen. Wie kaum ein zweiter germanistischer Mystikforscher setzt er sich mit der P h i l o s o p h i e des Mittelalters auseinander. Wenn er die philosophische Aufhebung der Mystik kritisiert, wird der T o n oft besonders heftig und er verliert für einen Augenblick die anzustrebende Ge-
6
Beispielsweise: Mystik als Aussage, S. 64. Das Zitat ist dem Aufsatz «Zur Theologie und Spiritualität der Pfarreiseelsorge», in: Karl Rahner, Die Sorge um die Kirche, bearb. von Paul Imhof (Schriften zur Theologie 14), Zürich: Benziger 198C, S. 161, entnommen.
7
«Von der Eigenart christlicher Mystik», in: Gottleiden - Gottlieben (Anm. 3), S. 4 5 - 5 8 .
8
Ebd.. S. 45.
- 10 lassenheit.'' Glücklicherweise gibt es allerdings in der G e l e h r t e n r e p u b l i k kein Gebot der Einheitsdoktrin, und erfreulicherweise sind in dieser W e l t Meinungsverschiedenheiten nicht nur erlaubt, sondern bilden sogar das Salz wissenschaftlicher Nahrung. Deshalb fällt es mir leicht, meiner Freude darüber Ausdruck zu verleihen, daß Alois M. Haas in diesem Semester diese Gastprofessur innehat. Es ist f ü r uns eine Ehre, daß er der Einladung dazu Folge geleistet hat. Ich wünsche ihm v o n Herzen, daß er sich an der Hochschule, w o die Dominikaner und Mystikforscher Pius K ü n z l e ( 1 9 1 5 1979), 1C Benoît Lavaud ( 1 8 9 0 - 1 9 7 9 ) , " Meinrad M o r a r d ( 1 8 8 0 - 1 9 6 7 ) , : und Paul W y s e r ( 1 9 0 4 - 1 9 6 4 ) " gewirkt haben, w o h l fühle.
Ruedi Imbach
9
Vgl. beispielsweise «Aktualität und Normativität Meister Eckharts», in: Eckardus Theutonicus, homo doctus et sanctus. Nachweise und Berichte zum Prozess gegen Meister Eckhart, hg. von Heinrich Stirnimann und Ruedi Imbach (Dokimion 11), Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag 1992, S. 205-268. 10 Er hat sich vor allem mit seiner vorzüglichen, kritischen Edition von Seuses (Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag 1977) einen Namen gemacht. Dazu vgl. Alois M. Haas, Heinrich Seuse - Horologium Sapientiae, in: Sermo mysticus. Studien zu Theologie und Sprache der deutschen Mystik (Dokimion 4), Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag 1979, S. 296-300. 11 Er war von 1930 bis 1943 als Professor der Philosophie an der Freiburger Hochschule tätig. Ihm ist eine französische Ubersetzung von Seuses Gesamtw e r k zu verdanken. 12 Auch Morard war als Philosophieprofessor tätig, und zwar von 1931 bis 1949. Sein Aufsatz «Ist, istic, istigkeit bei Meister Eckhart» (Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 3 [1956], S. 169-186) ist noch heute ein lesenswerter Beitrag zur Eckhartforschung und -philologie. 13 Wyser lehrte von 1942 bis 1964, als Nachfolger des berühmten Gallus M. Manser, mittelalterliche Philosophie und Ontologie. Sein in der Festsgabe für Wolfgang Stammler (Lebendiges Mittelalter, hg. von der philosophischen Fakultät der Universität Freibug Schweiz, Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag 1958), S. 204-311, erschienener Aufsatz «Der in Taulers Predigten» stellt einen Meilenstein in der Taulerforschung dar. Vielleicht darf hier darauf hingewiesen werden, daß in jüngerer Zeit ein weiterer Mystikforscher an der Freiburger Hochschule tätig war, ich meine Dietmar Mieth, der sich vor allem mit Eckhart beschäftigt hat; vgl. vor allem seine Würzburger Dissertation: Die Einheit von vita activa und vita contemplativa in den deutschen Predigten und Traktaten Meister Eckharts und bei Johannes Tauler, Regensburg 1969.
Der Kampf um den Heiligen Geist Luther und die Schwärmer Luther hat gegen viele Fronten gekämpft und sich auch meistens durchgesetzt. Sein aggressives Potential, das in einem ansehnlichen Inventar an Schimpfwörtern, mit denen er seine Gegner bedachte, zum Zuge kam, dürfte auf weite
Strecken
diesen
Erfolg
mitgetragen
haben.
Neben
der
römisch-katholischen Kirche, die für ihn zeitlebens die Hauptwidersacherin blieb, die er mit aller religiösen Inbrunst, deren er fähig war, bekämpfte, waren es grosso m o d o vor allem der sog. «linke Flügel» der Reformation 1
oder die sog. «radikalen Reformatoren», 2
die ihm sein kirchliches
Reformwerk zu gefährden schienen. Nicht weniger als dreizehn G r u p p e n apostrophierie Luther mit polemisch getönten Kampfnamen als «Radikale»: «1. Falsche Propheten
(anticharismatische Prägungen); 2. Bilderstürmer
tumultuarische Ausdrücke); 3. Schwärmer die Hauptgruppe); 4. Geist(l)er
(anti-
(primär anti-ekstatische T e r m i n i ,
(antispiritualistische Denominationen);
5.
1
Der Ausdruck für den «von den reformatorischen Kirchen sich absondernden Protestantismus» stammt von John T. Mc Neill (1940) und Roland Bainton (1941). Vgl. G. H. Williams, Spiritual and Anabaptist Writers. Documents Illustrative of the Radical Reformation, London 1957, S. 20, Anm. 20; zitiert bei G. Α. Benrath, Die Lehre ausserhalb der Konfessionskirchen, in: Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte, Bd. 2: Die Lehrentwicklung im Rahmen der Konfessionalität, hg. von C. Andresen, Göttingen 1980, S. 560-664, hier: 561. Vgl. auch Der linke Flügel der Reformation. Glaubenszeugnisse der Täufer, Spiritualisten, Schwärmer und Antitrinitarier, hg. von H. Fast, Bremen 1962 (Klassiker des Protestantismus 4), S. I X - X X X V .
2
Vgl. dazu Williams (Anm. 1), S. 22f.; ders., The Radical Reformation. Kirksville, Miss. "1992 (Sixteenth Century Essays and Studies 15), S. X X V I Ü - X X X V I , 1-21. Die Reformationsforschung lutherischer oder reformierter Prägung hat sich trotz regem reformationstheoretischem Diskurs bisher wenig mit den dissidenten Protestanten befaßt. So spielen sie in einer von B. Hamm, B. Moeller und D. Wendebourg herausgegebenen Schrift: Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation (Göttingen 1995), kaum eine Rolle, obwohl der Untertitel der Publikation solches nahelegen würde. Vgl. jetzt G. H. Williams, Radical Reformation, The Oxford Encyclopedia of Reformation 3 (1996), S. 375-385. Zur Literatur vgl. Anm. 1 und unten Anm. 10, 36, 43, 48, 49, 52, 62 und 67.
-
12
-
Rotten (aufruhrfeindliche Wortbildungen); 6. Wiedertäufer (pädobaptistische Benennungen); 7. Gesetzler (freiheidich-antilegalistische Bezeichnungen); 8. Freie Geister/Klüghnge (antirationalistische Schelten); 9. Verteufelungen (Perhorreszierung); 10. schmähende Verstärkungswörter (Intensivpejorativa); 11. Tierschelten (grobianische Persiflage); 12. Verunstaltungen (diffamierende Verballhornung) und 13. historische Sektennamen (aus der Häresiologie). Dieser stattliche Katalog mit seinen rund 150 Namenvarianten erklärt sich objektiv aus der Uneinheitlichkeit und Zersplitterung der radikalen Reformation, subjektiv aus dem wortschöpfenden Ingenium des Reformators. Fünf Hauptstoßrichtungen Luthers treten hervor: die antispiritualistische (Namentyp 1, 3 und 4), die aufruhrfeindliche (Typ 2 und 5), die antisektiererische (Typ 6 und allgemein), die freiheitliche (Typ 7) und die antirationalistische (Typ 8). Die entsprechenden Zielscheiben waren religiöse Verstiegenheit, Gewaltsamkeit, ekklesiologischer Separatismus, Werkheiligkeit (Moralreligion) und Vernunftreligion. Fünf Erscheinungsformen des Christentums hat Luther damit von der Warte seiner Worttheologie und ihres Solafideismus bekämpft: Geistchristentum, Schwertchristentum, Sektenchristentum, Gesetzchristentum (Moralchristentum) und Vernunftchristentum. Geist(l)em, Rottierern, Ketzern, Gesetzlern und Klüglern stellte er sein gnadengläubiges Freiheitschristentum entgegen, seine «Freiheit eines Christenmenschen». In dieser Position der Mitte wahrte er, wie auch seine Namentypen zeigen, ein Gleichgewicht zwischen antirationalistischer und antiirrationalistischer Polemik.» 1 Unter den von Günter Mühlpfort aufgeführten und rubrizierten Kampfnamentypen sind insgesamt also drei antispiritualistisch orientierte Gruppen zu nennen: die falschen Propheten (Typ 1), die Schwärmer (Typ 3) und die Geist(l)er (Typ 4). Alle diese Gruppen bezeichnen polemisch ein Christentum, das sich aus unmittelbaren (mystischen) Geisterfahrungen selbst legitimiert und nährt, während in den andern Bezeichnungstypen Christentumsformen diffamiert werden, welche anderswie das intrikate Gleichgewicht von Luthers christlicher Freiheitskonzeption gefährdeten. Nun betraf die antiirrationalistische Stellungnahme Luthers gegen «himmlische» und «falsche» Propheten, gegen die Schwärm- und «Flattergeister» und die «Enthusiasten» vor allem Einzelne, die als Geistchristen (Spiritualisten) den «Geist» über das Bibel- und Predigtwort zu stellen ver3
G. Mühlpfordt, Luther und die «Linken» - eine Untersuchung seiner Schwärmerterminologie, in: Martin Luther. Leben, Werk, Wirkung, hg. von G. Vogler, Berlin 1983, S. 3 2 5 - 3 4 5 , hier: 343f.
-
13 -
suchten, i n d e m sie die u n m i t t e l b a r e religiöse G o t t e s e r f a h r u n g im R ü c k blick auf die P r o p h e t e n s c h i c k s a l e des A l t e n Bundes v o r aller k i r c h l i c h e n V e r m i t t l u n g p r i v i l e g i e r t e n u n d dabei auf alte M o d e l l e m y s t i s c h e r G o t t e s e r f a h r u n g ( v o r allem V i s i o n u n d A u d i t i o n ) z u r ü c k g r i f f e n . ' In der Bildung «Schwärmer»,
«Schwärmerei»
-
nach C o n r a d Schlüsseiburgs
«Catalogus
haereticorum> eine « v o n den Bienen h e r g e n o m m e n ( e ) » B e n e n n u n g 1 - schuf L u t h e r eine p o l e m i s c h e Bezeichnung, die bis weit in die N e u z e i t h i n e i n , i n s b e s o n d e r e in d e r A u s g l i e d e r u n g des Pietismus aus dem G e l t u n g s b e r e i c h l u t h e r i s c h e r O r t h o d o x i e im 17. J a h r h u n d e r t , aber v o r allem auch in der A u s m e r z u n g o d e r D i s k r i m i n i e r u n g religiös e m p f i n d s a m e r L e b e n s h a l t u n g e n in d e r A u f k l ä r u n g des 18. J a h r h u n d e r t s 0 eine entscheidende R o l l e spielte. D i e deutsche A u f k l ä r u n g u n d Klassik sind o h n e das sie u m t r e i b e n d e Ferm e n t v o n « S c h w ä r m e r e i » ü b e r h a u p t nicht d e n k b a r .
Im R ü c k b l i c k
darf
m a n festhalten: L u t h e r hat mit seinem K a m p f - u n d D i f f a m i e r u n g s b e g r i f f des S c h w ä r m e r s o h n e Z w e i f e l die W e i c h e n f ü r eine ideologische Diastase zwischen V e r n u n f t und Erfahrung, Denken und Gefühl/Empfindung, zwischen R a t i o n a l i t ä t u n d E m o t i o n a l i t ä t / M y s t i k gestellt, die n o c h h e u t e u n s e r Weltbild
im
Westen
aufs
tiefste u n d
nicht
ohne
Verhängnis
prägen
konnte." 4
5
6
7 8
Ebd. S. 3 3 4 - 3 3 6 . Zum Begriff der Spiritualisten vgl. J. F. G. Goeters, Spiritualisten, R G G 3 (1986), S. 255-257; R. Emmet McLaughlin, Spiritualism, The Oxford Encyclopedia of the Reformation 4 (1996), S. 105-107; Williams, Radical Reformation (Anm. 2); A. Séguenny, Spiritualistische Philosophie als A n t w o r t auf die religiöse Frage des XVI. Jahrhunderts, Wiesbaden 1978 (Institut für Europäische Geschichte Mainz. Vorträge 71). Bd. 2, Frankfurt a.M. 1597, Praefatio, 5; zitiert bei Mühlpfordt (Anm. 1), S. 330, A n m . 27. Vgl. auch die Bildpolemik des Johann Cochläus im Holzschnitt «Martinus Luther Siebenkopff>, auf dem ein Schwärm Bienen um Luthers Kopf kreist (Titel: ). Abgebildet in: Die Reformation in Augenzeugenberichten, hg. von H. Junghans, Düsseldorf 1967, S. 161; zitiert bei U. Bubenheimer (Anm. 16), S. 34, Anm. 53. H.-J. Schings, Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1977, S. 1 4 3 - 1 5 0 ; V. Lange, Zur Gestalt des Schwärmers im deutschen Roman des 18. Jahrhunderts, in: Festschrift für Richard A l e w y n , hg. von H. Singer und B. von Wiese, Köln und Graz 1967, S. 1 5 1 - 1 6 4 ; W . Promies, Der Bürger und der Narr oder das Risiko der Phantasie. Sechs Kapitel über das Irrationale in der Literatur des Rationalismus, München 1966. Schings (Anm. 6), S. 148: «Der Schwärmer ist eine säkulare Erscheinung.» Noch am Ende des 18. Jahrhunderts - im Januar 1776 - stellt Wielands d e u t scher Merkur> «seine berühmte Schwärmerfrage, die sofort heftige und paradig-
-
14 -
Es l o h n t sich allein schon wegen dieser einzigartigen N a c h w i r k u n g eines polemischen Konzepts, Luthers Haltung gegenüber der Menschengruppe, die er als S c h w ä r m e r v e r w i r f t , in den Blick zu nehmen. Ich w e r d e in drei Schritten vorgehen: Erstens geht es mir darum, Luthers Polemik gegen die S c h w ä r m e r darzulegen, sodann um eine - hier nur in K o n t u r e n zu leistende - A n a l y s e der Geistlehre der Schwärmer, v o r allem Andreas' v o n Karlstadt, und drittens schließlich um eine Skizze von Luthers Geisttheologie, aus der seine Polemik erwächst.
1 L u t h e r s A n g r i f f auf K a r l s t a d t u n d die S c h w ä r m e r L u t h e r hat sich in seiner zweiteiligen Schrift gegen die Schwärmer geäußert; der erste Teil erschien in den letzten Dezembertagen 1524, der zweite Teil Ende Januar 1525. 9 Er tat dies in direkter Auseinandersetzung mit Schriften des A n d r e a s Karlstadt über die Lehre v o m Abendmahl und andere strittige P u n k t e der sich in den Jahren 1521/22 in Wittenberg artikulierenden v e r w i r r l i c h e n Ereignisse, 10 w ä h r e n d er als J u n k e r Jörg v o m 4. Mai 1521 bis Ende Februar 1522 auf der W a r t b u r g in seinem Exil verweilte.
9
10
matische Reaktionen auslöst: (zitiert bei Schings [ A n m . 6], S. 270). Vgl. dazu die Hinweise in W A 18, 37-50 (D. M a n i n Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe [Weimarer Ausgabe], mit Angabe von Band-, Seiten- und ggf. Zeilenzahl). Vgl. N. Müller, Die Wittenberger Bewegung 1521/22. Die Vorgänge in und u m Wittenberg während Luthers Wartburgaufenthah, Leipzig 2 1911 (ARG 6); K. Müller, Luther und Karlstadt. Stücke aus ihrem gegenseitigen Verhältnis, Tübingen 1907; J. S. Preus, Carlstadt's Ordenaciones and Luther's Liberty: A Study of the Wittenberg Movement 1521-22, Harvard 1974 (Harvards Theological Studies 26); U . Bubenheimer, Luthers Stellung zum Aufruhr in Wittenberg 1520-1522 und die frühreformatonschen Wurzeln des landesherrlichen Kirchenregiments, Zs. d. Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 102, Kanonist. Abt. 1 (1985), S. 147-214. Im folgenden halte ich mich an H. Junghans, Wittenberg als Lutherstadt, Göttingen 1979, S. 114-134; R. Schwarz, Luther, Göttingen 1986 (Die Kirche in ihrer Geschichte. Ein Handbuch, hg. von B. Moeller, Bd. 3/1), 1139-1144. Vgl. auch C. Windhorst, Luthers Kampf gegen die
-
15 -
Von hier aus verfolgte er den Fortgang der Reformation in Wittenberg. Solange einzelne Gruppen - zum Beispiel die Augustinereremiten oder Universitätsangehörige - oder Einzelpersonen ihre liturgischen Praktiken umgestalteten und ihre Lebensführung im Blick auf die Aussage des Evangeliums veränderten, hatte er nichts dagegen einzuwenden. Anfang Dezember 1521 informierte er sich inkognito über die Vorgänge in Wittenberg. Ereignisse hingegen, in denen Zwang oder Gewalt angewendet wurden, verstimmten ihn merklich. Es handelte sich dabei um Gewaltanwendung gegen die Antoniter, den Stadtklerus und die Franziskaner und um die - seiner Meinung nach verfrühte - Einführung der deutschen Messe und die Zerstörung der Bildwerke in der Stadtkirche. Nachdem er am 1. M ä r z 1522 die Wartburg verlassen hatte, hielt er vom 9. M ä r z an bis zum folgenden Sonntag jeden Tag eine Predigt. Tenor seiner Reden war die Abweisung jeglicher physischen oder rechtlichen Gewalt bei der Einführung evangelischer Lebensrichtlinien. Gewaltanwendung ist nach ihm «gesetzliches», d.h. äußerliches Verhalten, das durch das Evangelium nicht gedeckt ist. Jeder einzelne Christ soll in Glaubensdingen völlige Entscheidungsfreiheit haben. Unter solchen Prämissen leitete er die Wittenberger Bewegung wieder in gemäßigte Bahnen; insbesondere versuchte er, die Neuerungen Karlstadts wieder zurückzubuchstabieren, indem er - allerdings unter Streichung des Opfercharakters der Messe - ihre lateinische Form wiederherstellte, die zwei Gestalten der K o m m u n i o n zugunsten des Brotes aufhob, die Ohrenbeichte und das Schulwesen erneuerte. Mit diesen Operationen aber konnten Karlstadts weitgehende Reformationsbemühungen, die dieser 1524 nach Orlamünde a.d.S. verlegt hatte," immer noch nicht eingedämmt werden. Erst nachdem Mitte September 1524 Karlstadt aus ganz Kursachsen verwiesen worden und er gezwungen war, im Südwesten des Reiches herumzureisen, konnte sich Luther in seiner genannten Schrift ausführlicher mit den Lehren und Ansichten des Abweichlers befassen. Zum Streit mit Karlstadt kam die Gegnerschaft zu Thomas Müntzer hinzu, die nicht nur theologische, sondern auch die Kirchendisziplin betreffende soziale und politische Differenzen beinhaltete. Es ist hier nicht der Ort, den hektischen und rasanten Ablauf der Ereignisse in dieser außerordentlich aufgewühlten und brisanten Atmosphäre nachzuzeichnen.
11
«Schwärmer». Ihre theologische Beurteilung in der Vorlesung über den 1. Johannesbrief (1527), Wort und Dienst, Jb. der Kirchl. Hochschule Bethel, NF 14 (1977), S. 67-87, hier: 67, Anm. 1. Schwarz (Anm. 10), S. 1141Í.
-
16
-
Um den Nerv von Luthers Invektive gegen Karlstadt in seiner Schritt «Wider die himmlischen Propheten> zu fassen,'·' genügt es wahrzunehmen, daß Luther seinen Gegner meistens nicht mit Namen, sondern ganz einfach «den Geist» nennt, häufig mit Epitheta negativa konnotiert: der «gehässige», der «feine», der «tolle» Geist oder «Rottengeist» usw. Der Geistbegrift rückt bei ihm ins Zentrum einer Polemik, die es fraglich macht, ob für Luther die Berufung auf den Geist Gottes überhaupt noch irgendwie eine sinnvolle Bedeutung haben kann, so sehr ist für ihn die Geistbezogenheit Karlstadts Zeichen einer grundsätzlichen Verkehrung der gläubigen Einstellung des Christen. Es geht um eine Rangordnung der Einstellung. Nach Luther verkehrt Karlstadt in seiner Vermessenheit die Ordnung. Dies allerdings in einer anderen Form als der Papst. Die beiden Fronten charakterisiert Luther folgendermaßen: seyn geist [sc. des Papstes] hat mehr gehandelt, das er das geystliche leyhhch machte, wie er die geystliche Christenheyt eyne leyhliche, eusserhche gemeyne macht. Dieser rotten geyst widderumh damit am meysten umhgeht, das er geystlich mache, was Gott leyblich und eusserlich macht. Darumh gehen wyr zwisschen beyden hyn und machen nichts Widder geystlich noch leyhhch, sondern hallten geystlich, was Gott geystlich, und leyhlich, was er leyhhch macht. (WA 18, 181, 30-36) Beide - der Papst und Karlstadt - handeln je verschieden verkehrt, allerdings mit je gleichem Ergebnis. Die Papisten «materialisieren» den für das Verständnis der Hl. Schrift notwendigen Geistzuspruch im kirchlichen Lehramt des Papstes. Die Schwärmer dagegen «spiritualisieren» ihn im Sinne einer in der Innerlichkeit des Einzelnen stattfindenden Geistesoffenbarung, die der Schrift entbehren kann. «Beide verfehlen die Einheit von Wort und Geist in der Schrift. Während nun aber im Papsttum das äußerliche Wort der Schrift doch noch in gewisser Geltung stand, wird bei den Schwärmern durch die abstrakte Scheidung von «äußerlich» und «innerlich» nicht nur das Sakrament, sondern auch die Schrift als «äußerlich»
12
W A 18, S. 6 2 - 2 1 4 . Vgl. auch den nhd. adaptierten Text mit reichem Anmerkungsapparat in: M. Luther, Der Kampf gegen Schwärm- und Rottengeister, München
1957 (M. Luther. Ausgewählte Werke, hg. von H . H . Borcherdt und
G. Merz, Bd. 4), S. 7 1 - 1 2 2 , 2 0 5 - 2 7 4 , 3 6 0 - 3 7 9 , 4 0 9 - 4 1 7 . Eine kurze Analyse vgl. bei W . Joest, Das Heiligungsproblem nach Luthers Schrift , in: Kirche, Mystik, Heiligung und das Natürliche bei Luther, hg. von I. Asheim, Göttingen 1967, S. 1 8 9 - 1 9 3 .
- 17 grundsätzlich entwertet zugunsten unmittelbarer Offenbarungen des Geistes im Herzen»." Pathetisch versichert er gegen diese Abweichungen: Ego de nullo deo, die, scio, nisi qui loquitur per vocale verbum. Ideo dédit prophetas, Apostolos, ministerium. Qui gen himel sehen und rhumen Offenbarung. Nobis mortuis tales plures habebitis. Ich hab ir über 30 gehabt Ego semper: ich folge keinen geistern, si etiam mitteret angelum, in his, quae ad salutem [. . .] fare hin mit deim geist an galgen, oportet te audire verbum. Die geisterey spey an et die: es diabolus [. . .]. (WA 46, 476,1-477,4) Seine Aktion gegen Karlstadt ist für ihn ein Akt der Aufklärung über Rang und Stellung der Schrift im Glauben und deren Verkehrung durch den «falschen Propheten» Karlstadt (WA 18, 136,5). Gott erscheint für Luther nerrisch und schwach (135,18) gemacht durch die Verwirrungen, in die ihn Karlstadt in einer nahezu teuflischen Weise einbezogen hat. Näher und genauer besehen ist es aber eine Strategie Gottes, um die gottlosen damit zu verstocken und zuverblenden (19f.). Der Glaubende dagegen muß Ordnung in diesen verwirrten Zusammenhang bringen: Weyl aber der teuffei so unoerdig und wuest eyns inns ander wirfft, und seyne schrifft gleych stehet, wie D. Carlstads kopff ist, auffs aller unordigst und ungeschickst, das aus der massen verdrieslich ist zu lesen und schwer zu behalten, will ich versuchen, ob ich seyne unlust und gifft ynn eyne ordenung muege bringen, und von stuck zu stuck davon handeln. (24-28) Zuerst zeichnet er grund und meynung (29) dessen, wohin Karlstadts toben ¡endet (29). In diesem Verfahren vermag er den Teufel aufzudecken, der in diesem Propheten (136,6) anwesend ist. Dabei setzt er seine Lehre vom doppelten - äußerlichen und innerlichen - Wirken Gottes durch sein Evangelium voraus. Äußerlich wirkt Gott durchs muendliche wort des Euangelij und durch leypliche zeichen (Taufe und Sakrament) (11 f.). Innerlich handelt er in uns durch den Heiligen Geist und den Glauben: Aber das alles, der massen und der ordenung, das die ausserlichen stucke sollen und muessen vorgehen. Und die ynnerlichen hernach und durch die eusserlichen komen, also das ers beschlossen hat, keynem menschen die ynnerlichen stuck zu geben on durch die eusserlichen stucke. Denn er will niemant den geyst noch glauben geben on das eusserliche wort und zeychen. (13-17)
13
G. Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung. Eine Untersuchung zu Luthers Hermeneutik, Tübingen 5 1991, S. 314.
-
18
-
L u t h e r kann mit diesen Festlegungen sicher nie als Anhänger einer Lehre v o m anonymen Christen in Anspruch g e n o m m e n werden. Alle Priorität im Glauben hängt bei ihm an der Vermittlungsleistung des k o n k r e t e n , d.h. mündlichen Wortes der Frohbotschaft. Aus dieser festen Position heraus reagiert er auf alle Geistreferenzen der Schwärmer mit großer Ungehaltenheit und deklariert deren Behauptungen als baren Unsinn. Insbesondere stigmatisiert er an Karlstadt den schweren Verstoß gegen die Glaubensordnung, das er diesen ordert umbkere und eynen wtddersynmschen auffrichte aus eygenem frevel (27f.): Erstlich, was Gott eusserlich ordenet zum geyst ynnerlich, wie gesagt ist, Ach wie hcenisch und spoettisch schlegt er das ynn wind und will zuvor hyneyn ynn den geyst. Ja, spricht er, sollt mich eyne hand vol wassers von suenden reyn machen? Der geyst, der geyst, der geyst mus es ynnwendig tun, Sollt myr brod und weyn helffen? Sollt das hauchen über das brot Christum yns Sacrament bringen? Neyn, Neyn, man mus Christus fleysch geystlich essen, Die Wittenberger wissen nichts drumb, Sie Stelen den glauben aus den buchstaben, Und der prechtigen wort viel, das, wer den teuffei nicht kennet, mœcht wol meynen, sie hetten fuenff heylige geyste bey sich. - Wenn man sie aber fragt, wie kompt man denn zu dem selbigen hohen geyst hyneyn? So weysen sie dich nicht auffs eusserliche Euangelion sondern ynns schlauraffen land und sagen: Stehe ynn der lang weyle, wie ich gestanden byn, so wirst es auch erfaren, Da wirt die hymlische stymme komen, und Gott selbst mit dyr reden. Fragstu weyter nach der langweyl, so wissen sie eben so viel als D. Carlstad von Kriechischer und Ebreischer spräche. Sihestu da den teuffei, den feynd gcettlicher ordenung? wie er dyr mit den Worten geyst, geyst, geyst das maul auff sperret und doch die weyl, beyde brücken, steg und weg, leytter und alles umbreysst, dadurch der geyst zu dir kommen soll, nemlich, die eusserlichen Ordnung Gottes ynn der leyplichen tauffe zeychen und muendlichen wort Gottes und will dich leren, nicht wie der geyst zu dyr, sondern wie du zum geyst komen solt, Das du sollt lernen auff den wolcken faren und auff dem winde reytten, und sagen doch nicht, wie oder wenn, wo odder was, sondern sollts erfaren selbst wie sie. - Widderumb was Gott nicht ordenet eusserlich, da loddern sie eraus, alls weren sie unsinnig, und gleych wie sie eynen eygen ynnerlichen geyst ertichten, also richten sie auch eygene eusserliche ordenung an, da Gott widder von gepotten noch verbotten hat, alls das man soll keyne bilder, kirchen, alitar haben, nicht Messe nennen, nicht Sacrament heyssen odder auffheben, nicht kasel haben, sondern graw roecke tragen, lieber nachbar nennen, gottlose Fuersten todschlahen, keryn unrecht leyden und viel der eusserlichen demut und geperden treyben, die sie- selbst
- 19 -
ertichten, und die Gott nicht achtet. Wer hie anders tut denn sie, der ist ein zwifelltiger Papist, der henket und maerdet Christum, und muossen schrifftgelerten seyn. Wer es aber thut, der ist schon ynn den geyst hyneyn gesprungen mit stiffeln und mit allem und ist eyn geyst gelerter. O treffliche heyligen [. . .] Weytter was Gott ynnerlich ordenet, als den glauben, Das gillt nichts, faren zu und nattigen alle eusserliche wort und schrifft, die auff den ynnerlichen glauben dringen, auff eyne eusserliche newe weyse den allten menschen zu tcedten und ertichten alhie, *entgroebung», *studirung», *verwunderunge», xlangweyl» und des gauckel wercks mehr, da nicht eyn buchstabe von ynn der schrifft steht. Daher pluombt meyn Carlstad hereyn wie eyne saw, die nu die perlen fressen, und wie eyn hund, der das heyligthum verschlungen hat, und zureysst alles was Christus redt und setzt vom ynnerlichen glauben, auff solche eusserliche ertichte werck, so gar auch, das er aus dem abentmal Christi und seym gedechtnis und aus der erkentnis Christi nichts anders macht denn eyn menschlich werck, das wyr mit *bruenstiger hitze», und (wie yhr toelpische wort lauten) mit «ausgestrackter lust», sollen auch also uns tcedten. Damit er eynen nebel und wolcken macht, das man diese helle wort nicht sehen solle, Da Christus spricht: 'Meyn blut wird vergossen fur euch zur Vergebung der suende» etc. wilche on zweyffel alleyne mit dem glauben gefasset, erlanget und behallten werden und mit keynem werck (136,29138,25) In zwei Richtungen hin wird Karlstadt von Luther kritisiert: Er verfehlt sich gegen die innere und gegen die äußere Ordnung. Anstatt das Innere dem Äußeren nachzuordnen, wie es die göttliche Ordnung verlangt, ist für Karlstadt die innere Erfahrung des Geistes das totale Apriori. Daher anerkennt er keine sakramentalen Zeichen und Vermittlungen und kritisiert die Wittenberger als Buchstabengläubige. Wenn man aber wie Luther diesem Verfahren kritisch gegenübersteht, dann ist Karlstadts Verweis auf den Geist identisch mit dem fragwürdigen Glauben ans Schlaraffenland, und prüft man einen Erfahrungsbegriff wie z.B. den der Langeweile 14 , der sowohl bei Karlstadt wie Müntzer die Resignation und Gleichgültigkeit kurz vor der mystischen Einigung mit Gott signalisiert, dann ist darin kein Inhalt wahrzunehmen, sondern bloß die Demontage und Zerstörung aller Wege und Stege, über die der Heilige Geist zum Menschen kommen will. 14 Vgl. dazu L. Völker, Langeweile. Untersuchungen zur Vorgeschichte eines literarischen Motivs, München 1975, S. 36-50; J. Kaiser, Ruhe der Seele und Siegel der Hoffnung. Die Deutungen des Sabbats in der Reformation, Göttingen 1996 (Forsch, z. Kirchen- u. Dogmengeschichte 65), S. 46-84, bes.: 76-78, 80-83; Barge (Anm. 17), Π, S. 55f.
-
20
-
Dieses ganze Sichberufen auf die Geisterfahrung ist für Luther Hexenwerk - Windereiten und Wolkenfahren. Aber auch die äußere Ordnung wird von Karlstadt pervertiert, da er sie ohne Rücksicht auf die Ge- oder Verbote Gottes in der Hl. Schrift - aus allzu übermäßiger Introversionsneigung frei konstruiert, indem er in seinen Verboten (der Bilder, der Altäre, der Messe usf.) eine schier alttestamentliche Rigidität aufleben läßt. «Mit Stiefeln in den Geist hineinspringen» nennt Luther dieses Verfahren, ein «Geistgelehrter» zu werden. Die redundante Innerlichkeit schlägt sich nach Luther in einem äußerlich fixierten Askesesystem nieder, dessen Stufen - Entgröbung, Studierung, Verwunderung und Langeweile - er nur mit höchstem Hohn als außerhalb jeder evangelischen Anweisung und als neu «erdichtete» Werkgerechtigkeit apostrophieren kann. Die Verkehrung Karlstadts besteht darin, daß er die «äußerlichen» Worte Christi zu einem ynnerlichen geyst macht. Und setzen die toedtung des fleyschs forn an zu erst fur den glauben, Ja fur das wort, faren also (wie denn des teuffels art ist) eraus, wo Gott hyneyn will, und hyneyn, wo Gott eraus will (139,5-8). Karlstadt ist für Luther buchstäblich vom Teufel besessen; wenn Luther mit ihm kämpft, dann mit dem Teufel, der ihn besessen hält, und nicht mit der Person Karlstadts. Karlstadt ist mit seinen asketischen und auf Innerlichkeit bedachten Absichten für Luther das Beispiel eines Rückfalls in die alte Werkfrömmigkeit, die mit aller Schärfe durch das Hören des Evangeliums ersetzt werden soll.
2 Karlstadts Geistlehre Wenn Luther an Karlstadts Introversion nichts als Faulenzerei («Schlaraffenland») und an seiner Orientierung am Gesetz Mose nichts als neue Werk-frömmigkeit wahrnimmt, dann hat er ihm sicherlich in vielerlei Hinsicht Unrecht getan. Schon aus dem von Lukas Cranach d. A. (14721553) illustrierten Flugblatt , das eine scholastische theologia gloriae einer reformatorisch konzipierten theologia crucis entgegensetzt15, wird ersichtlich, daß der mystische Begriff der Gelassenheit, der Karlstadt ein
15
Vgl. U. Bubenheimer, Andreas Rudolff Bodenstein von Karlstadt. Sein Leben, seine Herkunft und seine innere Entwicklung, in: Andreas Bodenstein von Karlstadt 1480-1541. Festschrift der Stadt Karlstadt zum Jubiläumsjahr 1980, hg. von W. Merklein, Karlstadt 1980, S. 5-58, hier: 19-28.
-
21
-
Leben lang - sowohl psychisch 16 wie spirituell - beschäftigt, keine reine Tugend passiver Art ist, sondern aktives Wollen des Menschen in die Tat umsetzt: «Der ist ein gelassener Mensch, der gelässt oder verläßt.» Und diese Aussage ist «aktive, das ist wirklich und in thuender Weise» zu verstehen. 17 Viele weitere Punkte einer Fehlbeurteilung Karlstadts durch Luther ließen sich anfügen. Gleichwohl ist es sicher richtig, in Karlstadts Theologie eine außerordentlich starke und mit den Jahren immer ausgeprägtere Betonung des inneren Wortes gegenüber dem äußeren festzustellen." Gewiß ist das äußere W o r t der Schrift allein zuständig, die Wahrheit Gottes zu offenbaren, aber es ist und bleibt in dem Sinne unzureichend, daß es als bloßes W o r t weder eine Erkenntnis bewirken noch auch zu Christus hin- oder das neue Leben herbeiführen kann. Die Heilige Schrift und deren Prediger taugen nur unter dem erleuchtenden Zuspruch des inneren Wortes. Provokativ heißt es daher: Quae forts sunt non salvanti Das äußere Wort der Schrift kann nur die äußeren Sinne erreichen; das innerlich erwirkte Wort Gottes dagegen erweckt es erst zum Leben: cor ad solum deum [. . .], qui intrinsecus verax verbum omnia opera precedens inspirât et cor tangit.20 D e r reine Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig. «Das geschriebene und gesprochene W o r t sind somit Wort Gottes, aber ohne die Einwirkung Gottes, Christi, des Geistes Gottes, der Gnade - alles Bezeichnungen, die auf dieselbe spirituelle Kraft hinweisen - bleiben es für den Menschen äußere Worte, die keine positive Wirkung auf ihn ausüben. Dem von außen den Menschen ansprechenden Wort muß eine Wirkung Gottes auf das Innere zur Seite gehen.» 21 So kommt es, daß die «Offenbarung durch den Geist» in
16
17 18 19
20 21
U. Bubenheimer, Gelassenheit und Ablösung, in: Andreas Bodenstein gen. Dr. Karlstadt (1480-1541). Festvorträge anlässlich des 500. Geburtstages Andreas Bodensteins, hg. von U. Bubenheimer und E. Mende, Karlstadt 1981, (Beiträge zur Geschichte der Stadt Karlstadt und des Umlandes 4), S. 1-37. H. Barge, Andreas Bodenstein von Karlstadt, Teil 1-2, Leipzig 1905 (Neudruck: 1968), hier: Teil 2, S. 37. Vgl. Ebd., Teil 2, S. 44ff„ 79ff.; F. Kriechbaum, Grundzüge der Theologie Karlstadts, Hamburg-Bergstedt 1967 (Theologische Forschung 43), S. 20-26. E. Kahler, Karlstadt und Augustin. Der Kommentar des Andreas Bodenstein von Karlstadt zu Augustins Schrift