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German Pages 183 [184] Year 2013
Wolfram Hogrebe Der implizite Mensch
Wolfram Hogrebe
Der implizite Mensch
Akademie Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Akademie Verlag GmbH, Berlin 2013 Ein Wissenschaftsverlag der Oldenbourg Gruppe www.akademie-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspei cherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Einbandgestaltung: Petra Florath, Berlin Satz: Veit Friemert, Berlin Druck: Concept Medienhaus, Berlin Bindung: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN 978-3-05-006260-0 E-Book: ISBN 978-3-05-006330-0 Printed in the Federal Republic of Germany.
Inhalt
Vorwort: Spaziergang am Meer . . . . . . .
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1. Aussichten . . . . . . . . . . . .
17
2. Logomantik . . . . . . . . . . . .
23
3. Abschied . . . . . . . . . . . . .
28
4. Herr des letzten Wortes . . . . . . . .
31
5. Philosophie als Herrin des letzten Wortes . .
35
6. Senso subito . . . . . . . . . . . .
39
7. Das implizite Individuum: die Seele . . . .
43
8. Impliziter Realismus . . . . . . . . .
58
9. Stenogramm des deutschen Idealismus . . .
64
10. Dressuren . . . . . . . . . . . . .
73
11. Von Boston nach Marburg. . . . . . . .
80
12. Von der radikalen Übersetzung zum radikalen Leben . . . . . . . . . . .
83
13. Seinsverstehen . . . . . . . . . . .
86
14. Medialität . . . . . . . . . . . . .
91
15. Der implizite Staatsbürger . . . . . . .
97
16. Die Idee von Isensee . . . . . . . . . 101 17. Begrenzte Garantien . . . . . . . . . 105 18. Implizites Wissen . . . . . . . . . . 111
6
Inhalt
19. Brüchige Basis . . . . . . . . . . . 118 20. Klingende Bedeutungen . . . . . . . . 121 21. Fakten aus Fiktionen . . . . . . . . . 128 22. The Between . . . . . . . . . . . . 134 23. Begrenzte Ordnung des Erkennens . . . . 139 24. Sich selbst verborgenes Denken
. . . . . 145
25. Interne und externe Globalisierung . . . . 151 26. Finale Kontingenz . . . . . . . . . . 167 Nachwort: ἄνθρωπος ἐν θυμῷ . . . . . . . . 174 Personenregister . . . . . . . . . . . . 179
Vorwort: Spaziergang am Meer
An jedem einsamen Ort ist ein Spaziergang nöthig.1
Einige der gedanklichen Edelsteine, die Philosophen in reicher Zahl thesauriert haben2, stammen von Leibniz. Einer findet sich in einem kleinen Text, der den Titel Principes de la nature et la grace fondés en raison trägt. Leibniz hat diesen Text wohl 1714, zwei Jahre vor seinem Tod, für den Prinzen Eugen in Wien geschrieben.3 Den Edelstein präsentiere ich mit Verzögerung. 1
Michel de Montaigne, Essais (III, 3), trad. Johann Daniel Tietz, Zweeter Theil, Zürich 1992, p. 818. Obwohl Montaigne noch außerhalb bleibt cf. Gudrun M. König, Eine Kulturgeschichte des Spaziergangs. Spuren einer bürgerlichen Praktik 1780–1850, Wien 1996. 2 Dieses Bild findet sich bei Descartes. So holt er den Gedanken an Gott aus der Schatzkammer seines Denkens hervor (ex mentis meae thesauro). Cf. Meditationes de prima philosophia V, 11, eds. Lüder Gäbe/Günter Zekl, Hamburg 1992, p. 122/23. 3 Cf. hierzu die Vorbemerkung des Herausgebers und Übersetzers Hans Heinz Holz: Gottfried Wilhelm Leibniz, Philosophische Schriften Bd. 1, Darmstadt 1965, pp. 410 sq. Von dieser Abhandlung sagt Hegel, daß in ihr von Leibniz seine „philosophischen Gedanken (…) am meisten zusammenhängend vorgetragen“ seien. Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in:
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Vorwort: Spaziergang am Meer
Leibniz geht hier zunächst von einer grundlegenden Ordnung des Universums aus. Diese Ordnung muß zumindest in dem Sinne optimal sein als das Universum sonst gar nicht existieren könnte. Und diese Ordnung sollte sich auch auf alle Teile des Universums erstrecken, da alles mit allem kompatibel sein muß. Die kleinste Ordnungslücke würde die Existenz der Welt ebenso unmöglich machen wie ihre Erkenntnis. Deshalb kann es keine Deserteure der allgemeinen Ordnung (déserteurs de l’ordre général)4 geben. Aber das ist noch nicht der Edelstein, von dem ich gesprochen hatte. Diese Wohlordnung der Welt verdankt sich nach Leibniz der Vollkommenheit ihres höchsten Urhebers. Aber selbst dann, wenn wir die Verhältnisse auf die Folie einer modernen Variante der Evolutionstheorie projizieren, müßte diese Wohlordnung bestehen bleiben. So kämpferisch die Kompatibilitäten auf dieser Folie errungen würden, die Wohlordnung bliebe in ihrer Abstimmungsfunktion für ein Sein im Kontext bestehen, sie bliebe die Lizenz für Existenz.5 Leibniz sieht in dieser grundlegenden Wohlordnung einen Grund für die Harmonie der Welt, die sich nach innen und außen bezeugt: „Denn alles ist ein für allemal bei den Dingen mit der größtmöglichen Ordnung und Übereinstimmung geregelt, da die höchste Weisheit und Güte nur in vollkommener Harmonie handeln kann: die G. W. F. Hegel, Werke, eds. Moldenhauer/Michel, Bd. 20, p. 237. 4 Cf. hierzu Hubertus Busche, Leibniz’ Weg ins perspektivische Universum, Hamburg 1997, p. 536. 5 Cf. zuletzt Wolfgang Welsch, Mensch und Welt. Eine evolutionäre Perspektive der Philosophie, München 2012.
Vorwort: Spaziergang am Meer
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Gegenwart geht schwanger mit der Zukunft, die Zukunft läßt sich in der Vergangenheit lesen, das Entfernte wird im Nahen ausgedrückt. Man könnte die Schönheit des Alls in jeder Seele erkennen, wenn man alle ihre ‚Falten‘, die sich wahrnehmbar nur mit der Zeit öffnen, auseinanderlegen könnte.“6 Da das aber nur begrenzt möglich ist, müssen wir uns trotz impliziter Allwissenheit mit nur partiell explikablem, d.h. ‚einfältigem‘ Wissen und Erkennen begnügen. Obwohl also jede Seele, ja jedes Ding ein Spiegel des Universums ist (un miroir de l’univers), gibt es nur begrenzte Erkenntnis, sofern es sie überhaupt gibt. Aber das ist noch immer nicht der Edelstein, den ich eingangs versprochen hatte. Die Grundidee ist bislang jedenfalls die: Um alle Informationen über auch nur das kleinste Stückchen des Universums in den Blick zu bekommen, muß ich es auch gegen alles, was es nicht ist, abgrenzen. Was ist, repräsentiert durch sich und über seine kompatibilitätsgeschützte Einbettung in das Universum das Gesamtwissen der Welt. Was ist, fällt daher eo ipso aus dem ordre universelle nicht heraus. Von eben diesem wissen wir allerdings nur in dieser durchaus vagen und ‚einfältigen‘ Form, sofern wir überhaupt etwas wissen. Jedes explizite Erkennen bleibt für uns ein Erkennen unter dem unabsehbaren Risiko eines impliziten, das für uns ein epistemisches Hintergrundrauschen bleibt, ja bleiben muß. 6
Leibniz, Prinzipien der Natur und der Gnade, in: op. cit., p. 431. Auf die Metapher der ‚Faltung‘ komme ich unten noch ausführlicher zu sprechen. Cf. vorab Gilles Deleuze, Die Falte. Leibniz und der Barock (1990), dt. Frankfurt/M. 1993.
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Vorwort: Spaziergang am Meer
„Jede Seele“, erläutert Leibniz nun an einem Bild, und das erst ist der angekündigte Edelstein, auf dessen ausbrechendes Funkeln7 ich es eingangs abgesehen hatte, „jede Seele erkennt das Unendliche, erkennt alles, aber auf verworrene Weise (confusement); gerade so wie ich, wenn ich am Ufer des Meeres spazieren gehe und den großen Lärm höre, den es macht, die besonderen Geräusche jeder einzelnen Welle höre, aus denen das Gesamtgeräusch zusammengesetzt ist, aber ohne sie im einzelnen zu unterscheiden.“8 Von solchen Gesamtgeräuschen leben unsere analytischen Bemühungen. Nur im Horizont von Inbegriffen wie Welt, Gerechtigkeit, Liebe etc., selbst wenn sie in einiger Vagheit verbleiben, ‚greifen‘ unsere sezierenden Explikaturen. Sie stiften den Kontext, der dem Einzelnen erst Sinn und Bedeutung verleiht. Dieser Gedanke hat eine begnadete Schönheit, weil er unser schwaches Wissen indiskret gleichwohl in den Kosmos mit einbegreift. Das ist nicht bizarr, sondern ebenso demütig wie stolz.
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Diesen Ausdruck habe ich hier deswegen gewählt, weil das Universum für Leibniz eine Art kristallisierende Lichtmaschine ist: Die Monaden sind als Ausblitzungen der Ur-Monade bleibend Strahlungszentren, in denen alle Weltlinien zusammenlaufen. Deshalb haben sie auch keine Fenster: sie sind solche. Cf. Horst Bredekamp, Die Fenster der Monade. Gottfried Wilhelm Leibniz’ Theater der Natur und der Kunst, Berlin 2004. Zu den kabbalistischen Ursprüngen der Monadenkonzeption, vermittelt über Henry More, cf. Walter Feilchenfeld, Leibniz und Henry More, in: Kant-Studien Bd. XXVIII, Heft 3/4 (1923), pp. 323–334. 8 Leibniz, op. cit., p. 433.
Vorwort: Spaziergang am Meer
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In ähnlicher Manier, d.h. im Modus einer bescheidenen Allwissenheit, argumentierte vor Leibniz auch schon Descartes. In seinem Gespräch mit Frans Burman weist er darauf hin, daß wir normalerweise nur das thematisieren, was uns am nächsten ist, manchmal nicht ahnend, was es voraussetzt. Wir konzentrieren uns häufig auf etwas, was in unseren engsten Erfahrungskreis gehört und lassen unbemerkt, was für uns jetzt nicht unbedingt wichtig ist. So ist der Sache nach der Satz ‚Alles, was denkt, ist‘ dem Schluß ‚Ich denke, also bin ich‘ vorgängig und wird von ihm impliziert (implicite semper praesupponitur). „Doch erkenne ich deshalb nicht immer ausdrücklich und explizit, daß jener vorangeht (non ideo semper expresse et explicite cognosco) (…), da ich ja nur auf das Acht habe, was ich in mir erfahre, also auf die Einsicht ‚ich denke, also bin ich‘.“9 In ähnlicher Weise fokussieren und zentrieren wir unsere Betrachtungen im allgemeinen nur auf das, was im Umkreis unserer begrenzten und endlichen Bemühungen von Bedeutung ist und ignorieren ineins gerade das, was von dieser Endlichkeit zudem impliziert wird: „Explizit können wir durchaus unsere Unvollkommenheit früher erkennen (explicite possumus prius cognoscere nostram imperfectionem) als Gottes Vollkommenheit, weil wir unsere Aufmerksamkeit eher auf uns als auf Gott richten (…). Dennoch muß aber implizit immer die Erkenntnis Gottes (sed tamen implicite praecedere debet cognitio dei) und seiner Vollkommenheit derjenigen vorangehen, die 9
René Descartes, Gespräch mit Burman (Entretien avec Burman), trad. et ed. Hans Werner Arndt, Hamburg 1982, p. 7. Auf diese Stelle hat mich Theo Kobusch aufmerksam gemacht.
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Vorwort: Spaziergang am Meer
wir von uns und unseren Unvollkommenheiten haben.“10 Ebensowenig könnte ich mir ein unvollkommenes Dreieck denken, „wenn nicht in mir die Idee eines vollkommenen wäre, weil ja jenes diesem gegenüber eine Einschränkung ist.“11 Der ordo essendi und der ordo cognoscendi, so die Botschaft von Descartes, sind nicht deckungsgleich. Beide Ordnungen hängen auch von unserer Aufmerksamkeit (attentio) ab. Worauf achten wir zuerst? Auf alles Mögliche, das uns fesselt. Aber wenn wir dies in seiner Fülle dahingestellt sein lassen, bleibt uns nur unsere Selbstgegebenheit im achten auf irgendetwas. Daher ist das cogito attentional immer ein Erstes, und damit attentionaliter auch das sum. Das ist es jedoch nicht den sachhaltigen Kenntnissen nach, d.h. sequentialiter.12 10
René Descartes, op. cit., p. 27. René Descartes, op. cit., p. 59. 12 Cf. René Descartes, Meditationes de prima philosophia V, 14 (op. cit., p. 126/27). Solange ich mich, argumentiert Descartes, auf den Beweis dafür konzentriere (attendo), daß die drei Winkel eines Dreiecks gleich zwei rechten sind, „kann ich nicht umhin, dies für wahr zu halten (possum non credere id verum esse)“. Konzentriere ich mich allerdings nicht mehr darauf, sondern auf anderes, „kann es leicht geschehen, daß ich zweifle, ob der Satz wahr ist (ut dubitem, an sit vera).“ Diese attentionale Komponente ist natürlich auch für das cogito ergo sum entscheidend. Erkenntnissicherheit auf der Basis des clare et distincte ist abhängig von der attentio. Eine Einsicht kann „klar und deutlich sein, je nachdem ich mit größerer oder geringerer Aufmerksamkeit auf ihre Bestandteile achte (prout minus vel magis ad illa, ex quibus constat, attendo)“ (II, 12; op. cit., p. 56/57). Deshalb hatte sich Descartes in der 2. Meditation auch dafür entschieden, von ge11
Vorwort: Spaziergang am Meer
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Implikaturen der Fülle gehen der Sache nach stets dem Expliziten voraus, bleiben aber dunkel, während Explizites der Erkenntnis nach umgekehrt der Erschließung seiner Implikaturen vorhergeht, aber lokal wenigstens den Vorzug hat, klar sein zu können. Man wird nicht fehlgehen, wenn man solche Verhältnisse des Expliziten und Impliziten der Domäne der Philosophie insgesamt zurechnet, ja diese ist in ihren wesentlichen Fragestellungen durch diese Figur strukturell charakterisiert. Insofern nimmt es nicht Wunder, daß diese Figur schon in der Antike präsent ist, spätestens da jedenfalls, wo Platon mit einem ‚inneren Menschen‘ (τοῦ ἀνθρώπου ὁ ἐντὸς ἄνθρωπος)13 rechnet, der im Hinblick auf Korrektulehrtem Wissen erst einmal abzusehen: „Lieber will ich hier mein Augenmerk darauf richten (hic potius attendam), was sich meinem Denken vordem und ganz naturgemäß anbot (quid sponte et natura duce cogitationi meae (…) occurebat).“ (Med. II, 5; op. cit., p. 44/45) Diese attentionale Einsatzbasis der Fragestellung von Descartes ist vielen Interpreten, soweit ich sehe, wohl entgangen. Nicht jedoch Deborah Brown, Augustine and Descartes on the function of attention in perceptual awareness, in: Sara Heinämaa/Vili Lähteenmäki/Pauliina Remes (eds.), Consciousness. From Perception to Reflection (Studies in the the History of Philosophy of Mind, vol. 4, 2007, pp. 153–175). Cf. ferner Rainer Schäfer, Zweifel und Sein. Der Ursprung des modernen Selbstbewußtseins in Descartes’ cogito, Würzburg 2006, p. 111: „Offensichtlich hängt es von der Aufmerksamkeit des Ich ab, welche Evidenz gerade latent bzw. explizit ist.“ 13 Platon, Politeia 589a. Diese Figur hat nicht nur im Neuplatonismus, sondern vor allem auch in der christlichen Philosophie Karriere gemacht. Cf. hierzu Theo Kobusch,
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Vorwort: Spaziergang am Meer
ren seiner Verhaltensweisen überhaupt erst ansprechbar ist. Die Wissensimplikaturen des inneren Menschen bildet Platon an anderer Stelle, bildsensibel wie er sprachlich ist, auch auf das ‚Gefieder der Seele‘ (τῆς ψυχῆς πτέρωμα)14 ab: Das Entfalten dieses Gefieders, das Ausbreiten ihrer Schwingen macht die Seele erst flugfähig, um schweben zu können, d.h. unsere szenische Existenz zu etablieren. Mit Platon sicherte sich die Menschheit ihre mantische Expressivität15, während sie sich mit Aristoteles ihre mantische Logizität, d.h. ihre auf Ahnungen bleibend angewiesene Vernunftnatur eroberte.16 Für ihn ist daher schon „der Besitz des Gedachten in höherem Maße göttlich als das, was die Vernunft als Göttliches zu beinhalten scheint“.17 Beide Formate des Denkens gehören als Psychomantik und Logomantik historisch und systematisch zusammen, nicht als ferne Paläste des Wissens, sondern grundstürzend uns zu Füßen als Pronominalmetaphysik.18 Daher werde ich in diesem Buch einige gefiederte Facetten in perspektivischen Variationen, d.h. auf intellektu-
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16 15
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Christliche Philosophie. Die Entdeckung der Subjektivität, Darmstadt 2006. Hier insbes. Kap. VI: Der innere Mensch, pp. 64 sqq. Die Membrane war hier Paulus mit seiner Differenzierung von innerem und äußerem Menschen, cf. 2. Korinther 4, 16–18. Platon, Phaidros 246e. Platon, Phaidros 242c: „μαντικόν (…) ἡ ψυχή“. Aristoteles, Nikomachische Ethik 1144b 24: Ein rücksichtsvoller Umgang miteinander geht über das Wissen der einzelnen hinaus: jedenfalls „ahnen (μαντεύεσθαι) das alle“. Cf. Aristoteles, Metaphysik 1072b 21/22. Cf. Wolfram Hogrebe, Metaphysik und Mantik, Frankfurt/ M. 1992.
Vorwort: Spaziergang am Meer
15
ellen Spaziergängen, vorstellig machen, so daß am Ende nicht mehr klar ist, welche Aspekte Vorrang vor anderen haben. In diesem Augenblick wird der Text zum Probestück einer experimentellen Alienation des Autors, der sich perspektivisch selbst verliert. Dieser methodische Selbstverlust ist daher zugleich eine Art aufgefächerter Objektivität, subjektarm (was dem Autor keiner glaubt) und fragmentarisch (was dem Autor jeder glaubt), aber so prägnant wie es eben ging. Zu danken habe ich Dagfinn Føllesdal/Stanford, der mir wichtige Manuskripte zu Quine vor der Publikation zur Einsicht zugänglich machte, Ingo Meyer/Bielefeld, der sich in sehr hilfreicher Weise des für ihn gewiß exotischen Textes angenommen hat, in Bonn auch Ellen Kauert, Jaroslaw Bledowski M.A. und Dr. Anna Schriefl, schließlich Dr. Mischka Dammaschke vom Akademie-Verlag/ Berlin, auf den wie immer Verlaß war. Bonn, im August 2012
1. Aussichten
Unser Reich ist nicht von dieser Welt, aber es ist die Welt. Dieser merkwürdige Befund19 verdankt sich der irreduziblen Transzendenz in der Architektur der geistigen Verfassung des Menschen. Dafür stehen unter anderen vor allem vier Argumente zur Verfügung: ein Argument aus der Intentionalität (1), ein Argument aus der natürlichen Wissensstruktur (2), ein Argument aus der mengenbildenden Kompetenz des Menschen (3) und schließlich ein Argument aus Fiktionen (4). Ad 1: Wenn Intentionalität eine irreduzible Konstante der mentalen Verfassung des Menschen sein sollte, dann kann sein Intendieren nicht stillgestellt werden. Kein In19
Cf. zu einem haltbaren Gebrauch des Terminus ‚Welt‘ Markus Gabriel, Die Erkenntnis der Welt. Eine Einführung in die Erkenntnistheorie, Freiburg/München 2012. Gabriel legt hier – übrigens keine Einführung, sondern eine Summe der rezenten Erkenntnistheorie – eine berechtigte Kritik an Geschlossenheitskonzeptionen vor (Welt als Container). Cf. op. cit., p. 16: „Die Erkenntnis der Welt vollzieht sich in der Welt, die es aber nicht gibt, da sie ihrerseits kein Gegenstand ist, der in der Welt vorkommt.“ Da es in diesem Sinne für Gabriel also keine Welt geben kann, spricht er lieber von offenen ‚Sinnfeldern‘ (cf. hierzu Kap. III und IV) und entwickelt in einer neuen Publikation geradezu eine ‚Sinnfeldontologie‘ (Markus Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt, ersch. Berlin 2013).
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Aussichten
tendiertes, kein Noema ‚sättigt‘ die intentionale Struktur als Ganze. Was immer er meint, er muß zusätzlich immer auch etwas anderes meinen können, das uninterpretiert bleiben darf. Hierin besteht die intentionale Transzendenz. Sie sorgt für unsere prinzipielle Offenheit für Alternativen. Hieran scheitern geschlossene, d.h. dogmatische Systeme der Philosophie. Ad 2: Natürliches Wissen sei ein solches genannt, das nicht erlernt werden kann, sondern für sonstige Wissenserwerbsprozesse schon vorhanden sein muß. Ein solches Wissen liegt mindestens in dreifacher Gestalt vor: Wir wissen zweifelsfrei, hier vor Ort zu sein; und wir wissen, daß wir auf die Wahrnehmung von Ähnlichkeiten geeicht sind; schließlich wissen wir auch, daß wir hier vor Ort in einem unabsehbaren Ganzen existieren. Alle drei Formen des Wissens gehören nicht zum Wissen der Wissenschaften, sondern gehen ihnen vorher und reichen weiter. Sie gehören zu den Formen unserer weltständigen Gewißheiten, die nicht biographisch interpretierbar sind. Vor dem Wissen darum, in einem unabsehbaren Ganzen zu existieren, gehen alle auch in Zukunft bekannten Galaxien in die Knie. Hier zeigt sich unsere kosmische Transzendenz, die unseren Transfinitismus ausmacht, der nach innen wie nach außen geht, mithin die pascalsche Transparenz der Welt20 bezeugt. Sie ist genuiner Gegen20
Mit diesem Ausdruck nehme ich Bezug auf Fragment 72 der Pensées. Pascal ist von dem Transfinitismus und damit von der Unausschöpfbarkeit der Voraussetzungen unseres mittelständischen Wissens geradezu erschüttert: „Denn was ist nun der Mensch, in der Welt? Ein Nichts vor dem Unendlichen, ein All gegenüber dem Nichts, eine Mitte zwischen Nichts und All.“ (Blaise Pascal, Pensées, trad. et ed. Ewald Wasmuth, Berlin 1937, p. 42). Das ihn erschütternde Trans-
Aussichten
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stand der Philosophie in der kritischen Sichtung von ultimativen Vormeinungen und Nachmeinungen unserer mittelständischen Wissensbestände. Ad 3: Die begrifflichen und kognitiven Fähigkeiten des Menschen beruhen vor allem auch auf seiner mengenbildenden Kompetenz. Er kann aber keine konsistente Menge bilden, deren Außenbereich, d.h. deren Antiextension leer ist.21 Also ist immer etwas gesetzt, das außerhalb seiner konsistenten begrifflichen Räume existiert, selbst wenn es wiederum uninterpretiert bleiben darf. Diesen Befund kann man als unsere ontologische Transzendenz charakterisieren.22 Zu unseren Welten gehört immer etwas, was außerhalb ihrer existiert. An diesem uninterpretierten Externalismus scheitern alle geschlossenen Immanenzoptionen, nicht jedoch ein offener Monismus. Ad 4: Wir mögen uns noch so phantasiereich imaginäre Welten vorstellen, aber wir können es nie verhindern, daß diese nur Variationen tatsächlicher Verhältnisse sind, jedenfalls was ihre elementaren Eigenschaften angeht. Selbst Künstler sind nicht in der Lage, den fiktiven Ausgeburten ihrer Phantasie „in jeder Hinsicht neue Eiparenzerlebnis ist allerdings nur die neuzeitliche Version des antiken Transparenzprinzips, das schon auf Anaxagoras zurückgeht (Fragm. 212): Ohne Unsichtbares gibt es nichts Sichtbares. Cf. dazu Wolfram Hogrebe, Metaphysik und Mantik. Système orphique de Iéna, Frankfurt/M. 1992, p. 178. 21 Zur Analyse dieses Befundes zwischen Cantor und Wittgenstein cf. Joachim Bromand, Philosophie der semantischen Paradoxien, Paderborn 2001, pp. 170 sqq. 22 Cf. hierzu Milton Munitz, Cosmic understanding, Princeton 1986, chap. 6: The Boundless.
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Aussichten
genschaften zuzuteilen“23, sie sind auf elementare Eigenschaften wie Gestalt, Größe, Zahl, Ort, Zeit und Bezüge zu anderen Objekten angewiesen. Hier liegt eine Phantasieschranke vor und sie besagt: Was immer wir als Fiktion zulassen, sie weist stets auf faktische Verhältnisse zurück, selbst wenn wir diese kaum oder gar nicht mehr erkennen bzw. identifizieren können. Knowledge by description ist ohne knowledge by acquaintance nicht möglich. 23
Cf. René Descartes, Meditationes de prima philosophia, Meditation I, 11 (op. cit., p. 34/35). Diese cartesische Theorie einer Phantasieschranke liegt, wie ich vermute, in Abwandlung auch Kants Widerlegung des Idealismus zugrunde, die den Interpreten so viel Kopfzerbrechen gemacht hat. Ohne Faktenkenntnis gibt es auch nach Kant keine Fiktionen. Auch für ihn ist es klar, „daß ohne Wahrnehmung selbst die Erdichtung und der Traum nicht möglich“ sind (KrV A 377), denn „das Reale, oder der Stoff aller Gegenstände äußerer Anschauung [ist] wirklich und unabhängig von aller Erdichtung gegeben“ (KrV A 376). Diese Unabhängigkeit in der Art des Gegebenseins dokumentiert zugleich „die Möglichkeit der Einheit von empirisch bestimmtem Selbstbewußtsein und objektiver Realität der Außenwelt“ (Peter Baumanns, Kants Theorie der Erkenntnis, Würzburg 1997, pp. 667–700, hier p. 696) und bezeugt zugleich die „Materialisierungsbedürftigkeit“ der gesamten transzendentalanalytisch ermittelten Architektur (p. 697). Baumann spricht hier mit Recht von ‚manifestationssemantischen Begriffen‘ (p. 699). Kants Intuition läuft allerdings auch über eine fundamentale Asymmetrie der temporalen Verhältnisse: Den objektiven Sukzess können wir im Perspektivewechsel nicht annullieren, gerade deshalb ist er ja objektiv (sein Beispiel: ein Schiff, das den Fluß herabfährt). In solchen Variationsmöglichkeiten der Perspektive bekundet sich allerdings umgekehrt die Objektivität der Wahrnehmung bewegungsloser Dinge (sein Beispiel: ein Haus).
Aussichten
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Hier liegt der Grund für unseren geradezu habituellen kontemplativen Realismus, der uns implizit ist. Wir brauchen von der Welt nichts zu wissen und bleiben doch auf sie bezogen. Dieser Realismus ist Dokument unserer epistemischen Transzendenz, die sich innerweltlich vor allem da bewährt, wo wir uns mit unbekannten Dingen konfrontiert sehen oder Alternativen abwägen. An dieser Transzendenz scheitert der prometheische Wissensbegriff und damit alle Konstruktivismen und Systemtheorien. Auch Fiktionen zehren von Fakten. Auf dem Hintergrund solcher und ähnlicher Argumente sichert und mehrt sich unser Wissen immer aus einem mitlaufenden Nichtwissen.24 Und diese Konkurrenz muß erhalten bleiben, wenn die Dimension des Wissens nicht kollabieren soll. Wenn nichts mehr fraglich ist, auch wir uns selbst nicht mehr, wird Geist sich selbst entbehrlich. Aber seine Offenheit, die sich in den Vektoren seiner Transzendenz manifestiert, geht zuletzt darauf zurück, daß das Grundmuster des Geistes die Figur einer offenen, nicht geschlossenen Reflexivität aufweist. Diese bleibt eine offene Kreisfigur (Schleife), die nach außen (extern) und nach innen (intern) durchlässig ist. Das ist der offene Ring der bewußten Verfassung des Menschen. Philosophen wie Gilles Deleuze oder Jacques Derrida würden hier von einer Falte (le pli) sprechen. Wir sind nach außen und zugleich nach innen uns selbst transzendent. Deshalb gibt es den impliziten Menschen. Weil das so ist, gibt es Formen der Transzendenz in ihrem Spiel einer zu sich selbst in Beziehung getretenen Nicht-
24
Cf. Blaise Pascal, Pensées, op. cit., p. 45: „Auf einer unermeßlichen Mitte treiben wir dahin, immer im Ungewissen“.
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Aussichten
geschlossenheit.25 Individuen sind daher immer mehr als sie sich selbst zu sein scheinen. Hieran scheitern alle Reflexionstheorien.
25
Cf. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: G. W. F. Hegel, Werke Bd. 7, eds. Moldenhauer/Michel, Frankfurt/M. 1970, p. 55. Hegel nennt hier genau diese Figur das ‚Innerste der Spekulation‘: ‚Unendlichkeit als sich auf sich beziehende Negativität‘.
2. Logomantik
In den Cahiers von Paul Valéry findet sich Anfang der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts die nüchterne Bemerkung: „Wer dichtet, muß seine Geschicklichkeit beweisen, von Versarbeit sprechen und nicht sich geheimnisvolle Stimmen zuschreiben.“ Diese Feststellung war seinerzeit nicht ungewöhnlich. Ähnliche Auffassungen mit Absagen an Inspirationstheorie und Genie-Ästhetik fanden sich wenig später auch bei Majakowski, Brecht, Strawinsky u.a. Dann aber fährt Valéry an dieser Stelle in durchaus singulärer Weise und zur Verblüffung des Lesers fort: „Könnten allerdings die Menschen eine Dichtung ertragen, die sich nicht als Logomantik ausgäbe?“26 Nun kennt man seit alters viele Formen der Mantik, der Seherkunst. Dem rätselhaften Flammenspiel des Feuers, dem Flüstern der Quelle, dem Stand der Sterne, dem Rauschen der Wipfel waren dem Kundigen Winke und Hinweise geheimer Art zu entnehmen, wie ebenso der Miene des Menschen und den Linien seiner Handflächen.27 Von einer Logomantik aber war nie die Rede. Am ehesten gehörten die Interpretationen der schwer verständlichen Äußerungen der Pythia in Delphi durch die 26
Paul Valéry, Cahiers/Hefte, eds. Hartmut Köhler/Jürgen Schmidt-Radefeldt, Bd. 6, Frankfurt/M. 1993, p. 237. 27 Cf. Wolfram Hogrebe, Metaphysik und Mantik, Frankfurt/ M. 1992. Ders. (ed.), Mantik, Würzburg 2005.
24
Logomantik
Priester zu einer Art Logomantik. In diesem Sinne wird Valéry wohl den logomantischen Anspruch der Dichtung gemeint haben, den sie wohl oder übel, ob zu Recht oder nicht, erheben muß, da die Menschen sie sonst gar nicht ertragen könnten. Valéry rührt hier an einen Nerv, der unserer Zuwendung zur Dichtung in der Tat jene Spannung verleiht, die sich immer dann aufbaut, wenn wir uns rätselhaften Botschaften zuwenden. Was mag das bedeuten? fragen wir uns und unterstellen, daß es einen tieferen Sinn sehr wohl gibt, selbst wenn er sich uns nicht sofort erschließt. In genau diesem Sinn sind wir auch bei dunklen Texten, rätselhaften Figurationen und Klängen von einem untilgbaren Drang beseelt, an den Sinn heranzukommen: Was will uns das sagen? Und dieser Drang wird umso größer, je mehr die gekonnte Art der rätselhaften Mitteilung uns allein schon fasziniert. Ästhetik beginnt an der Oberfläche des Unverständlichen. Deshalb hält Paul Valéry an der Logomantik auch in dem Sinne fest, daß ein Vers eine nicht weiter erklärliche Wirkkraft haben sollte: „Der Vers muß magischen Charakter haben oder soll überhaupt nicht sein.“28 Diesen Charakter hat ein Vers für Valéry genau dann, wenn er eine Wolke von Gedanken entbindet, ja die Ahnung einer ganzen Philosophie, ohne die wir uns dem Vers niemals untertan fühlen könnten: „Die wertvollste Dichtung ist für mich eine, die die Ahnung einer Philosophie festhält.“29 Das sprachliche Kunstwerk ist über alles investierte handwerkliche Können hinaus immer auch ein Do28
Paul Valéry, Cahiers, op. cit., Bd. 6, Frankfurt/M. 1993, p. 198. 29 Paul Valéry, Cahiers, op. cit., Bd. 6, op. cit., p. 199.
Logomantik
25
kument für Unnachahmlichkeit, Unwiederholbarkeit und damit Individualität. Sonst wäre ein Gedicht kein Kunstwerk, sondern bestenfalls ein Zeugnis für Wissenschaft. Wissenschaft nämlich ist für Valéry ein abstraktes Tun, das in der Tat auf Wiederholbarkeit abzielt: „Macht das und das, und ihr werdet das und das sehen.“30 Ihr Wert ist die „Möglichkeit des Noch-einmal-Machens, während der Wert eines Kunstwerks gerade das Gegenteil davon ist.“31 Das schließt nicht aus, daß der große Wissenschaftler auch zum Künstler werden kann. Er wird dann „der unnachahmliche Schöpfer von Nachahmbarem“.32 Das Ziel der Wissenschaft bleibt aber dennoch nach Art einer operativen Gebrauchsanweisung ein repetitives Muster wie es etwa Rezepte sind. Worauf Wissenschaften also aus sind, was mithin ihr innerstes Wesen ausmacht, ist tatsächlich „das Ziel des Geistes zur Abschaffung seines Gebrauchs“ nach der Devise: „Ich denke, um nicht mehr zu denken – um zu erzeugen, was mich des Denkens entheben soll“.33 Paul Valéry kommt in dieser Einschätzung mit Martin Heidegger überein. Genau das Gegenteil dieses Geistabschaffungsziels ist das Ziel des Kunstwerks. Es intendiert ein Unnachahmliches, das den interpretierenden Geist geradezu stimuliert wie ein Antlitz, in dessen Mienenspiel wir Intentionen erahnen oder erraten können, sofern wir über eine gewisse Menschenkenntnis verfügen. Der Ausdruck des Indi30
Paul Valéry, Cahiers, op. cit., Bd. 5, Frankfurt/M. 1992, p. 462. 31 Bd. 5, p. 459. 32 Ibid. 33 Bd. 5, p. 458.
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Logomantik
viduellen verbleibt im Einzugsbereich einer Logomantik. Das verbindet die Kunst tatsächlich mit der Philosophie. Auch diese wird, wenn überzeugend, über hohe Anteile handwerklicher Könnerschaft verfügen, aber niemals eine Rezeptur liefern wollen, die den Geist, d.h. hier bloß: das Nachdenken, überflüssig machen würde. Auch sie wird einen logomantischen Anteil nicht los werden, gerade da nicht, wo sie etwas zur Sprache bringt, was zwar schon da war, uns aber gleichwohl in seiner Neuigkeit wie eine Entdeckung überrascht. Nur hier nähern wir uns Quellen letzter Worte, die keiner dekretieren kann, Botschaften von irgendwoher. Ihre Anonymität bezeugt unsere Marivaudage mit dem Absoluten, wie Paul Valéry 1924 Stéphane Mallarmés Dichtung charakterisierte.34 Auf eine solche Marivaudage ist auch jede Philosophie, die es wert ist, wieder und wieder gelesen zu werden, angelegt. Daher umspielt sie in ihrer historischen Tiefe auch systematisch immer wieder die Pole einer mantischen Expressivität und mantischen Logizität, und das bis heute. Denn sie enthält gerade in dieser Fassung als ‚Umspielung‘ immer auch ein stummes Geständnis der Finalität, einer unvermeidlichen Abschiedlichkeit des Existierens, bevor sie noch in ihrem Bemühen um das 34
Bd. 6, p. 237. Zu Valérys Orientierung an Mallarmé cf. die elastisch geschriebene Biographie von Denis Bertholet, Paul Valéry. Die Biographie, Berlin 2011 (franz. Paris 1995). Das erste Antwortschreiben, das Mallarmé dem blutjungen Dichter 1890 zukommen läßt, wird für ihn zur Inschrift seiner poetischen Zukunft: „Mein werter Dichter, die Gabe subtiler Analogie, samt der adäquaten Musik, Sie besitzen dies gewiß und damit alles.“ Valéry „wird diesen kurzen Brief wie einen Schatz bewahren“ (Bertholet, op. cit., p. 98).
Logomantik
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letzte Wort verstummt. Ohne den impliziten Menschen hätten wir keinerlei Todesfurcht, weil unsere Endlichkeit als ens prognosticon noch nicht in uns hineingewandert wäre.
3. Abschied
Es gibt zwei Gesichter eines ultimativen Abschieds, die endgültige Trennung und das physische Ende in Agonie. Beides ist nicht dasselbe. Der zehrende Schmerz überkommt uns aus einem faktischen oder bevorstehenden Trennungsgeschehen. Die Agonie hingegen ist bloß noch die Fratze des physischen Endes. Freund Hein wirkt im zehrenden Schmerz, aber für das agonale Ende steht kein Personal mehr zur Verfügung. Es ist namenlos und brachial. Mit dem Trennungsgeschehen verbindet sich noch eine Kulturform, mit der Zerstörung nicht mehr. Und wenn doch, sprechen wir von einem ‚glücklichen‘ Ende. Ein Gefühl des Abschiedlichen legt sich bei empfindlichen Temperamenten schon über die gesamte Wirklichkeitswahrnehmung. Im expressiven Haushalt der Musik ist die Schwermut des Abschieds die ergreifende Tönung durch alle Lust hindurch. Aber nicht nur hier, sondern in jedem Seufzer wird die Existenz von Anfang an in ihrer Endschaft aufgenommen. Auch gibt die Natur in ihren altväterlichen Zyklen Winke für ein Vergehen, in das wir alle einbegriffen sind. Der Dichter macht sich das zunutze. Er wird zum Resonanzorgan einer herbstlichen Vergänglichkeit, die schon in Kleinigkeiten den Charakter des Vorboten hat.
Durchs Fenster kommt ein dürres Blatt, Vom Wind hereingetrieben.
Abschied
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Dies leichte, offne Brieflein hat Der Tod an mich geschrieben.
Eine vergangene Liebe möchte ein verwehtes Geschehen bleiben und im Ungesagten verhauchen. Allein, der Dichter gönnt den alten Worten kein Vergessen. Worte vergangener Liebe flehen um Erlösung, der Dichter hält an der Erinnerung fest, er mag ihnen den Wurf in dieses tilgende Feuer des Vergessens nicht gönnen:
Die Worte sehn mich traurig an, Daß sie nicht sterben können.
Der Absender dieses herbstlichen Briefes in einem Gedicht von Nikolaus Lenau35 ist der Tod. Er ist der verbliebene Herr des letzten Wortes, noch vor der Zerstörung als einem schon jetzt Zerreißenden nur unserer Imagination zugänglich. Nicht Gott noch Kaiser noch sonstige Herrscher würdigen uns einer Botschaft von weither. Der zukünftige Tod ist von vornherein die Instanz des letzten Absenders. Ins Vergangene gesetzt, bleibt er der Fluch, unter dem wir herrschaftslos antreten. Aus dieser Qual entringt sich meist nur der gräßliche Schwanenschrei ansonsten stummer Kreaturen. Das Sternenecho solcher Schreie ist die letzte Botschaft von außen, die uns zur Kehre zwingt:
Da drang aus dir ein solcher schrei zu sternen Dass erde nicht noch himmel sie ertrug Und antwort kam mit solchem ton von sternen Wie vormals keines sterblings ohr vernahm (…)
Kehr um im bild kehr um im klang!
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Nikolaus Lenau, Das dürre Blatt, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 1, Leipzig/Frankfurt/M. 1970, p. 337–338.
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Abschied
Die hier von Stefan George36 atemlos empfohlene Kehre geht dem Echo als einer von uns veranlaßten Antwort nach. Die Wüste vollendeter Sinnlosigkeit belebt sich nur in diesem Echo, als externe Antwort fängt sie sich in Bild, Klang, Vers und Satz.
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Stefan George, Der Stern des Bundes, in: ders., Werke, Bd. 1, München/Düsseldorf 1958, p. 357. Zu George cf. die Biographie von Thomas Karlauf, Stefan George. Die Entdeckung des Charismas. Biographie, München 2007. Hierzu gibt es eine sehr kritische Besprechung von Ingo Meyer in: Simmel Studies 17 (2007), pp. 129–160. Selbst wenn Meyer in jedem Punkt seiner Ausstellungen Recht hat, und das hat er, bleibt Karlaufs Biographie doch die erste, die zu Verklärung und Verdammung von George gleichen Abstand hält. Damit gelingt es ihm, George in einem halbwegs objektiven Licht zu präsentieren. Das ist gerade bei diesem Dichter nicht so leicht.
4. Herr des letzten Wortes
In Kapitel VII. seines glänzend geschriebenen Buches Kreis ohne Meister37 stellt Ulrich Raulff die Frage, wem wir eigentlich das letzte Wort zutrauen, dem Dichter oder dem Philosophen? Der Streit zwischen beiden ist so alt wie die europäische Kultur38 und reicht in spektakulärer Weise bis zu Heideggers Ausdeutung von Hölderlin im vorigen Jahrhundert. Dieser Streit, darauf weist Raulff mit Recht hin, ist gerade „in Deutschland mit besonderer Inbrunst ausgetragen worden, von der Morgenröte des Tübinger Stifts bis in die Dämmerung unserer Zeit.“39 Dem Leser heute erscheint diese Frage allerdings bestenfalls altertümlich. Was soll er mit ihr anfangen? Was soll das heißen, Herr des letzten Wortes? Philosophen oder Dichter könnten es jedenfalls nicht in derselben Weise sein. Ihre letzten Worte gehören jeweils in ganz andere Bezirke. Letzte Worte der Philosophen gehören ihnen nicht mehr, sondern sind von ihnen der Menschheit bloß zugute gesprochen im Bezirk einer überindividuellen Geltung, aber noch als Wissensform. Letzte Worte der Dichter oder Künstler gehören ihnen ebensowenig, hausen jedoch in Bezirken einer Expressivität, die zwar 37
Ulrich Raulff, Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009. 38 Cf. Platon, Politeia 607b. 39 Ulrich Raulff, op. cit., p. 497.
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Herr des letzten Wortes
ebenso überindividuell ist, aber nicht als Wissens-, sondern als Bedeutungsform. Philosophen wie Dichtern gehen die Worte aus, aber sie können noch andeuten, ohne selbst zu wissen: was. Raulff stellt diese Frage im historischen Kontext der von ihm mit ungemein elastischer Intelligenz nachgezeichneten Bannkraft des Dichters Stefan George über seinen Tod hinaus. Dessen in der Tat über die Zeiten wirksame Faszination verdankte sich zu Teilen offenbar tatsächlich der Überzeugung der Anhänger des Dichters, daß er, der Meister, auch in der Nachwirkung seines Werkes die Funktion behält, in Fragen des Lebens die letzte Instanz zu sein. George und sein Werk erscheint so ausgerechnet in der Moderne als orakulöse Instanz, unnahbar den Schritten der Gewöhnlichen, den Eingeweihten aber Hilfe und Orientierung. Selbst wenn seine Zeilen gerade da, wo sie orientierende Kraft entbanden, in einiger Dunkelheit auf den Leser zukommen: ihre Schwerverständlichkeit diskreditiert sie nicht, sondern legitimiert geradezu ihren Sinn, der sich einer irdischen Interpretation ebenso rätselhaft darstellen muß wie ehedem die Sprüche der Orakel. Auch die Sybille von Cumae verkündete Rätselvolles und Schreckliches, indem sie, wie Vergil zu verstehen gibt, Wahres in Dunkles verhüllt (obscuris vera involvens).40 In nämlicher Weise weiß ein Dichter wie Hugo von Hofmannsthal um das ‚Weltgeheimnis‘41 und teilt es mit, ohne seine überindividuelle Herkunft zu beschädigen, und genau das heißt hier: in dunkler Manier. Diese wurde über 40
Aen. vi, 98–101. Cf. hierzu Wolfram Hogrebe, Metaphysik und Mantik, op. cit., p. 23 und 27. 41 Hugo von Hofmannsthal, Weltgeheimnis, in: ders., Gedichte, Frankfurt/M. 1964, p. 17.
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Jahrtausende nicht als Defizit erfahren, sondern als Zeichen einer überindividuellen Ursprünglichkeit jenseits des Profanen in seiner alltäglichen Verständlichkeit. Die Erfahrung des Nichtverständlichen besaß eine eigene Dignität, in der bindende Kräfte keimten. In der Tat kam früher an den Auskünften der Orakel niemand vorbei, in antiker Zeit nicht einmal die politischen Entscheidungsträger. Delphi war der Herr des letzten Wortes. Es war, Index seiner überirdischen Herkunft, rätselhaft, aber gebietend, wie immer die Interpretationen, zuerst von den Priestern, dann von den Orakelempfängern politisch gesteuert wurden. Von hier aus gesehen buhlten Dichter und Philosoph von Anfang an um die Erbschaft der Seher. Nur als Erbnehmer dieser Quelle konnten sie jeweils den Anspruch erheben, Herr des letzten Wortes zu sein. Dieser Wettbewerb wurde aber erst dann möglich, als die altehrwürdige Legitimation aus unvordenklicher Herkunft im Grunde schon verloren war. Nicht erst heute wirkt eine derartige Überhöhung natürlich als fragwürdig, zumindest als unzeitgemäß. Dennoch ist es, wie Paul Valéry sagen würde: unvermeidlich, bei einer logomantischen Faszination von Dichtern und Denkern geblieben, gerade da, wo man ihnen zutraut, mehr sagen zu können als andere. Davon profitierten in der deutschen Literatur zweifellos Stefan George, sicher auch Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke. In anderer Art gewiß auch Gottfried Benn und wieder anders auch Paul Celan. Manche würden heute auch Peter Handke und Botho Strauß dazuzählen. In der französischen Literatur waren es die Symbolisten bis Paul Valéry, der seine bedeutendste Gedichtsammlung geradezu als Zaubersprüche, als Charmes (1922) betitelte. Die alte
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Herr des letzten Wortes
Erfahrung mit dem Unverständlichen mutierte zu einem poetischen Spiel mit großer Faszination bis heute. Niemand wird sich einem Gedicht in emotionaler Anteilnahme verbunden fühlen, wenn er nicht ein bislang Ungesagtes und Unausdeutbares verspürt oder sich dazu gestimmt sieht. Er muß seine logomantischen Talente gefordert fühlen, um einem Text die Ehre zu geben, Gegenstand seines Nachdenkens zu sein. So bleibt auch nach der Ablehnung der überkommenen Inspirationstheorien seit Paul Valéry der implizite Sprecher, ja der implizite Mensch überhaupt, eine Instanz, ohne die wir den Widerhall der Unverständlichkeit nicht legitimieren könnten. Aber ohne dieses Echo gingen wir einer Rätselhaftigkeit verlustig, aus der sich unsere Expressivität im Kosmos motiviert fühlt, um ungeahnten Klängen nachzulauschen, die mehr als nur ein Reizinput sind, sondern bedeutungsvolle Botschaften zu enthalten scheinen. Aber zuviel Unverständlichkeit ist auch nicht gut, sie verliert ihre Suggestivität. Genau das macht uns gegenüber Nonsense-Praktiken und gegenüber bloßer Virtuosität artifizieller Unverständlichkeit einfach nur argwöhnisch und mißtrauisch. Wir wollen es umgekehrt. Gerade im Verständlichen ein unvermeidlich Unverständliches aufscheinen zu lassen, erst das nennen wir Kunst, sofern sie als expressives Organ des Lebens ernst zu nehmen ist. Wir leben im Verständlichen, es ist immer das Erste. Erst dann wird eine Erfahrung des Unverständlichen möglich. Geist ist nicht der Widersacher der Seele, wie Ludwig Klages suggerierte, sondern verhilft ihr, wie immer indirekt, über einen ausdeutungsbedürftigen Ausdruck zur Mitteilung.
5. Philosophie als Herrin des letzten Wortes
Für die Philosophen war das eine riskante Herausforderung. Sie sind analytische Anwälte des Verständlichen – und nur das. Aber sie stießen natürlich immer wieder an Ränder der Verständlichkeit, die sie dann entweder ignorierten oder sich allenfalls noch zu registrieren getrauten und in seltenen Fällen auch thematisierten. Nur da wuchs ihnen der Konkurrenzstatus zur Poesie zu. Nur da kam ihnen das Publikum in seiner Zurechnung als putativen Herren des letzten Wortes entgegen. Unter den Philosophen waren es nicht viele, die sich dieser Herausforderung stellten. Sie wichen in der Regel aus, indem sie die Philosophie zu einer Art Begriffsjurisprudenz ohne positives Recht degenerieren ließen.42 So konnten auf dieses seltsame Zutrauen gewiß Platon, dann Plotin und noch später Cusanus rechnen, in der Moderne sicher Nietzsche, Martin Heidegger, in anderer Art auch Ludwig Wittgenstein und noch Theodor W. Adorno. Aber niemand käme auf die Idee, in Christian Wolff, Rudolf Carnap oder Willard Van Orman Quine Herren des letzten Wortes zu sehen. Bei den Denkern sieht es also über weite Strecken eher dürftig aus. Das liegt nicht notwendig an der Dürftigkeit ihres Denkens. Im Gegenteil. 42
Die Formel ‚Philosophie ist Jurisprudenz ohne positives Recht‘ habe ich gelegentlich durchaus auch positiv verwendet.
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Philosophie als Herrin des letzten Wortes
Das liegt vielmehr daran, daß sie diese Rolle auch gar nicht mehr übernehmen wollen. Vermutlich sogar die hier genannten Kandidaten nicht. Heute dürfen Denker das auch gar nicht. Sie müssen ganz einfach Philosophie als Wissenschaft wollen und nur das, jedenfalls nicht eine Philosophie als Herrin des letzten Wortes. Aber zumeist wissen sie nicht, wie oben schon ausgeführt, daß das geheime, d.h. implizite Ziel aller Wissenschaft die Selbstabschaffung des Geistes ist. Die alten Denker, die in diese Erbschaft eintraten, ob sie es denn wollten oder nicht, werden heute durchweg eines raunenden Denkstils bezichtigt. Ein solches Raunen gehört, so die herrschende Meinung heute, jedenfalls nicht in die Philosophie. Nun bedeutet raunen unschuldigerweise eigentlich nur ‚heimlich und leise reden, flüstern‘. Diese Stille im Zwiegespräch mit sich selbst, das man Denken nennt, ist heute aber nicht gefragt. Es muß laut zugehen. Wenn zu leise gedacht wird, versteht man auf dem Jahrmarkt des Denkens nichts mehr. Auf dem Markt braucht man laute Mitteilungen, die in Form von Argumenten – Schlagzeilen ähnlich – in der Tat schlagend bis zu sog. knock-out Argumenten sein müssen.43 Oder zumindest laut im Sinne ‚steiler‘ Thesen. Der leise Fingerzeig, von dem Platon sprach, ist keine zulässige Kommunikationsform der Philosophie mehr. Das letzte Wort
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Schon Robert Musil machte die „Entdeckung, daß die Griffe und Listen, die ein erfinderischer Kopf in einem logischen Kalkül anwendet, wirklich nicht sehr verschieden von den Kampfgriffen eines hart geschulten Körpers sind.“ (Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, ed. Adolf Frisé, Hamburg 1965, p. 45).
Philosophie als Herrin des letzten Wortes
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verlor sich sogar als nur klandestiner Anspruch der Philosophie.44 Die Frage ist hier bloß, ob man die last word-Rolle wirklich wollen oder vorsätzlich vermeiden kann? Kann ein Denker sich vornehmen: als Philosoph will ich Herr des letzten Wortes sein? Oder auch umgekehrt: gerade das will ich als Philosoph nicht? Das ist zumindest sehr fraglich. Auch dem Dichter wächst diese Rolle bloß zu. Das Publikum oder zumindest Teile des Publikums sehen in ihm eine Stimme, die mehr zu sagen weiß als andere. Er selbst mag glauben, was er will. Nicht die Intention des denkenden oder dichtenden Sprechers entscheidet über diese Reputation, sondern offenbar seine Rezeption. Das macht es auch verständlich, warum die Rolle der sehenden Dichter und Denker von außen, also aus gesellschaftlichen Profilen erwächst. Es muß offenbar so etwas wie ein Bedürfnis nach ‚letzten Worten‘ geben. Und dieses Bedürfnis sieht sich bei manchen Denkern oder Dichtern auch bedient, bisweilen ganz ohne deren Absicht. Sie erlangen dann den Status von ‚Weisen‘, ohne daß dieses Etikett heute noch verwendet würde. Zur Genese solcher Bedürfnisse gibt es historische Trivialitäten. Seit dem 19. Jahrhundert war man, übrigens nicht nur europa-, sondern weltweit, auf der Suche nach einer neuen Quelle letzter Bezüge. Und die fand man seinerzeit da, wo man sich wirklich nichts vormachen konnte: im Leben.45 Das Leben wurde in allen Facetten der Ex44
Cf. hierzu den lesenswerten Aufsatz von Karl Heinz Bohrer, Welche Macht hat die Philosophie heute noch?, in: Merkur 64. Jahrg., Heft 7 (2010), pp. 559–570. 45 Ingo Meyer: „Zuerst kam ‚Geschichte‘, dann ‚Wissenschaft‘
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Philosophie als Herrin des letzten Wortes
pressivität des Menschen in der Tat zum Herrn des letzten Wortes. Aber die Facetten eines authentischen Lebens waren zu zahlreich, es gab zu viele letzte Worte. Formen einer neuen, meist exotischen und auch halbseidenen Spiritualität konkurrierten authentizitätssüchtig mit Formen enthemmten Handelns: in Sexualität, Gewalt, Exzess und Anarchie. Von der sehr deutschen Lebensreform bis zum romanischen46, d.h. italienischen, spanischen, französischen (und belgischen) Surrealismus sucht eine sich revolutionär verstehende Authentizität mit allen Mitteln die blutende Form, auch mit einer phantasierten Lizenz zum Töten: „Die einfachste surrealistische Handlung“, befindet André Breton im ‚Zweiten surrealistischen Manifest‘ (1930), „besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings soviel wie möglich in die Menge zu schießen.“47
als Letztreferenz. Beide haben nicht hinreichend gewärmt. ‚Leben‘ ist insofern das letzte Gefecht“ (Schriftliche Mitteilung zum Text). 46 Hat sich schon jemand Gedanken darüber gemacht, daß der Katholizismus eine Voraussetzung des Surrealismus zu sein scheint, vielleicht sogar mit ihm identisch ist? 47 André Breton, Die Manifeste des Surrealismus, Hamburg 1968, p. 56. Breton wußte um die Zumutung dieses Satzes. Ihm ging es um den Wert all dessen, „was aus einer Weigerung heraus geschieht“. Er habe, schreibt er, „nur der menschlichen Verzweiflung Raum schaffen wollen“ (op. cit., p. 57). Man kann ihm das im Namen einer exzessiven Expressivität als Programmatiker des Surrealismus schenken.
6. Senso subito
In diese Melange von militanter Anarchie und einer taumelnden Suche nach Authentizität hatten nicht nur die Rufe der Dichter und Denker eine historische Chance, sie wurde vor allem auch auf breiter Front von allen Künsten genutzt. Das Publikum prämierte in hektischer Eile expressive Formen intrinsischer Unverständlichkeit. Das war, wie schon ausgeführt, einstmals ein Signum unerreichbarer Überindividualität. Jetzt wurde diese aber nicht mehr aus altehrwürdiger Herkunft als letztes Wort registriert, sondern, es mußte schnell gehen, in der preiswerten Variation einer Unverständlichkeit des immer Neuen. Hier kann man von einer Sinnsuche unter Zeitdruck sprechen: senso subito! Das führte an der imaginären Börse der Sinnsucher zwangsläufig zur expressiven Inflation einer sich überstürzenden Kaskade in der Produktion von Unverständlichkeit als Sinnressource. Diese erhielt den Namen der Moderne. Sie verspielte allerdings sofort jeden Anspruch, Herrin des letzten Wortes zu sein. Sie verwechselte das letzte mit dem immer ersten Wort. Ein erstes Wort könnte ja durchaus weltschöpfend sein, wäre dann aber erstens verständlich und zweitens magisch. Hier konnte ein erstes Wort sogar Welt oder Fleisch werden. Das heute modische Thema der Verkörperung (embodiment) war schon das Thema der Genesis. Dieses Verständnis eines ersten Wortes war aber längst verblaßt. Was blieb, war das erste Wort des Lebens und
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Senso subito
das ist wie beim Säugling, man kann es drehen und wenden wie man will, immer nur ein bedeutungsloses Lallen. So war die altehrwürdige Unverständlichkeit des Orakels aber nicht gemeint. Die Unverständlichkeit des letzten Wortes hat mit der Unverständlichkeit von ersten Worten dieser Art nichts zu tun. Damit verloren die Ansprüche auf das letzte Wort in der Moderne jeden Kredit. Die Menschen saßen auf wertlosen Papieren und wußten nicht mehr ein noch aus. Sie beschlossen daher: Wissenschaft reicht. Aber irgendwie auch wieder nicht. Letzte Worte sind üblicherweise Worte von Sterbenden. Sie umgab seit alters die Aura, schon vom Jenseits inspiriert zu sein. Manchmal waren sie in der Tat bemerkenswert, meistens jedoch durchaus nur trivial wie das von Hans Blumenberg über Walter Bröcker ironisch mitgeteilte letzte Wort Martin Heideggers.48 Letzte Worte werden auch bei langfristigen Abschieden gewechselt. An ihnen zehren Zurückgebliebene ebenso wie Abreisende. In Gerichtsverhandlungen gebührt das letzte Wort dem Angeklagten vor der Verkündung des Urteils. In zwischenmenschlicher Kommunikation gibt es Zeitgenossen, die immer das letzte Wort haben wollen und damit anderen einfach nur auf die Nerven gehen. Letzte Worte gibt es auch nach Art performativer Schlußformeln wie ‚beschlossen und verkündet‘, ‚quod erat demonstrandum‘ oder auch ‚Amen‘. In hierarchischen Gruppierungen 48
Cf. Hans Blumenberg, Die Verführbarkeit des Philosophen, Frankfurt/M. 2000, p. 107: „Eines Morgens, der Alte war nicht krank aber geschwächt, habe er nur gesagt: Ich bleibe noch liegen. Sei wieder eingeschlafen und im Schlaf gestorben.“
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ökonomischer, religiöser oder staatlicher Formate hat der ‚Chef‘ das letzte Wort. Aber darum soll es hier nicht gehen. Was man wissen möchte, ist doch dies: Wo ist die Dignität des letzten Wortes geblieben? Ist sie uns völlig abhanden gekommen und zu Grabe getragen? Dann wäre die Welt von aller Rätselhaftigkeit befreit und was bliebe, wären bloß die offenen Fragen der Wissenschaften. Über diese kann man aber nicht in dem Sinne nachdenken, wie über den rätselhaften Sinn einer Gedichtzeile, den überraschenden Klang der Musik, die uns emotional erst weckt, oder die Sentenz eines Denkers, der unser Nachdenken stimuliert. Wissenschaft hat keine Tiefe, die zum Nachdenken einlädt. Die offenen Fragen der Wissenschaften verlangen kein interpretierendes Verstehen und Nachdenken, sondern ein überprüfendes Kalkulieren, verlangen Experimente, Datenerhebungen, alternative Problemlösungsstrategien und vor allem Geld, um die Sklaven für die Datenerhebungen zu bezahlen. Das Publikum spielt hier also keine anteilnehmende Rolle, es kann die Ergebnisse der Wissenschaften nur hinnehmen und sich ihrer gelungenen Umsetzungen in der Praxis erfreuen oder von den nicht gelungenen verschrecken lassen. Aber gerade als das Hinzunehmende erlangten sie dennoch einen Reputationsgewinn, der außerhalb jedes Kontaktes zum Unverständlichen das geprüft Verständliche zum letzten Wort machte. Menschen mit wenig Phantasie war das in der Tat genug. Und dieses Genügen begünstigte Attitüden des Zynismus gegenüber allen Zonen, in denen das Unverständliche dann leider immer noch sein Unwesen trieb. Im Einzugsbereich der Wissenschaften
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verdorrte so, trotz aller Triumphe des Könnens, allmählich der Nährboden für letzte Worte. Selbst das mutmaßliche Grab der Dignität des letzten Wortes braucht man hier gar nicht erst zu suchen. Man kommt also an der Einsicht nicht vorbei, daß man sich in diesen Dingen ausschließlich in der Zone expressiver Bemühungen des Menschen suchend zu bewegen hat. Nur dort besteht eine Chance, wenigstens noch die Grabstätte des letzten Wortes ausfindig zu machen. Aber die scheint es nicht zu geben. Oder doch? Es gibt Mausoleen letzter Worte: Konzertsäle, Museen, Kathedralen, Bibliotheken und Archive. Hier sind Schätze expressiver Bemühungen beigesetzt, die wir auch heute noch massenhaft aufsuchen, manchmal sogar mit einer gewissen Scheu, einer uns ansonsten fremd gewordenen Attitüde. Natürlich kann das, was beigesetzt ist, unsere Erinnerung beschäftigen, kann uns sogar faszinieren, wird aber zu einer Repristinierung der Dignität letzter Worte nichts beitragen können. Die Quelle für diese Dignität liegt ja ausschließlich in den Menschen selbst, so wie sie früher, jetzt oder morgen leben. Jedermann scheint ja ein Verlangen nach Unverständlichkeit zu haben, aber nur dann, wenn sie begrifflich eingehegt ist. Eingehegt heißt hier: in expressive Formen gegossene Unverständlichkeit inmitten von Verständlichkeit in Bild, Klang und Gedanke. Was wir hier suchen, ist ganz einfach die Seele.
7. Das implizite Individuum: die Seele
Aber die Seele ist schon lange kein Thema der Philosophie mehr.49 Sie wurde von ihr, solange sie noch ihr Thema war, auch ziemlich heruntergewirtschaftet. Schon seit geraumer Zeit können gerade junge Menschen dieses Wort, wie Robert Musil notierte, nicht mehr aussprechen „ohne zu lachen“.50 Max Horkheimer hat in einiger Resignation daher schon 1967 darauf hingewiesen, daß „im Ernst von Seele nur noch die Rede ist“, wenn man sich der Kälte eines durchrationalisierten Lebens erwehren oder die Architektur des Menschen offen, d.h. transzendent halten will.51 Die Seele ist also zu einem Residualbegriff geworden, wird allenfalls defensiv und faute de mieux erwähnt, um 49
Die ansprechendsten Konzeptionen bietet immer noch die antike Philosophie von Platon bis Plotin und dann noch in der Mystik von Meister Eckhart. Cf. hierzu die lichtvolle Studie von Jens Halfwassen, Was leistet der Seelenbegriff der klassischen griechischen Metaphysik? (Manuskript 2012). 50 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, op. cit., p. 183. 51 Max Horkheimer, De Anima (1967), in: ders., Gesammelte Schriften, eds. Alfred Schmidt/Gunzelin Schmid-Noerr, Bd. 7, Frankfurt/M. 1985, pp. 177–206. Hinweis von Helmut Holzhey, Stichwort ‚Seele‘, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, eds. Joachim Ritter/Karlfried Gründer, Bd. 9, Basel 1995, p. 51 A.
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einen sensiblen Unterbau unserer Empfindungen wachzuhalten, dessen Realität man nicht gut leugnen kann, den man aber nicht thematisieren möchte. Diese Thematisierungsscheu ist Teil einer Scham, das Eigenste zu benennen. Man zögert nicht, Widerlichkeiten des Privaten in aller Öffentlichkeit, d.h. im Internet, auszubreiten, aber das, was das Zentrum des impliziten Individuums ausmacht, dazu sich zu bekennen und es namhaft zu machen, genau das wurde in eine Schamzone eingerückt. Das ist neu. Auch Philosophen sind bedauerlicherweise Kombattanten dieser neuen Verschämung geworden. Sie reduzieren die sensible Zwischenmenschlichkeit gerne auf Anerkennungsverhältnisse, denn diese lassen sich in soziologischen Formaten noch quasi objektivierbar, d.h. öffentlichkeitsfähig, darstellen. So ist für Axel Honneth das Individuelle auch nur ein Anerkennungsphänomen, d.h. „expressive Bekundung einer individuellen Dezentrierung, die wir angesichts des Wertes einer Person vollziehen: Wir geben durch die entsprechenden Gesten und Gebärden öffentlich zu erkennen, daß wir jener anderen Person aufgrund ihres Wertes eine moralische Autorität über uns einräumen“.52 Wer hätte das gedacht? Aber Anerkennung, so beliebt sie für Philosophen in unserer Gegenwart im Anschluß an Hegel auch ist, reicht nicht, um die implizite Tiefendimension unseres Eigensten in ihren oszillierenden und empa52
Axel Honneth, Unsichtbarkeit. Über die moralische Epistemologie von ‚Anerkennung‘, in: ders., Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, Frankfurt/M. 2003, p. 27. Kritisch hierzu Norbert Meuter, Anthropologie des Ausdrucks. Die Expressivität des Menschen zwischen Natur und Kultur, München 2006, pp. 408 sqq.
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thischen Zuwendungen und Erwartungsbedürfnissen thematisch einzufangen oder zumindest zu umkreisen. Schon Schelling hatte dieses Defizit erkannt. Das Eigene kann nicht Produkt einer Anerkennung sein. Wer das Unantastbare des Eigenen mit einbeziehen will, dem empfiehlt Schelling, den Begriff der Zulassung zu verwenden, um das Wirkenlassen eines unabhängigen Grundes wie mit Fingerspitzen verständlich zu machen.53 Er berührt damit über alles Formdenken hinaus ein formunabhängiges Ereignis, ohne das unsere Intentionen und Anerkennungsstrategien leerliefen.54 An diesem wunden Punkt wird deutlich, daß wir mit Goethe bleibend zu den Entsagenden gehören. Das Eigene bleibt ein solitärer Grund, der uns und anderen, für Schelling sogar Gott, entzogen bleibt: als zu verlassende Voraussetzung einer Strukturfähigkeit, wie sie sich im Kosmos bezeugt, aber sich auch in unseren konzilianten Attitüden, z.B. in kommunikativen Verständigungsmodi manifestiert. Nur wenn in diesem Sinne das Eigene als entzogener Ungrund zugelassen wird, kann es solche elementaren Brückenschläge wie z.B. die Liebe überhaupt geben. Ihr Geheimnis ist, „daß sie solche verbindet, deren jedes für sich sein könnte und doch nicht 53
Cf. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, ed. Thomas Buchheim, Hamburg 1997, p. 47: „Denn der Grund muß wirken, damit die Liebe sein könne, und er muß unabhängig von ihr wirken, damit sie reell existiere. (…) Dieses Wirkenlassen des Grundes ist der einzig denkbare Begriff der Zulassung, welcher in der gewöhnlichen Beziehung auf den Menschen völlig unstatthaft ist.“ 54 Zur Differenzierung von Form- und Ereignisdenken cf. Oswald Schwemmer, Kulturphilosophie, München 2005, pp. 118 sqq.
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ist, und nicht sein kann ohne das andere“.55 Auch ein Autist kann es in radikaler façon d’être faktisch nicht sein, sonst wäre jeder Therapieversuch unsinnig.56 Man darf den Eindruck nicht verschweigen, daß die Philosophen mit diesem Thema heute schon sprachlich überfordert sind.57 Dichter und andere kreative Experten unserer Expressivität sind ihnen in ihrer Artikulationstiefe dieser Verhältnisse überlegen. Selbst Juristen sind empfindlicher für solche Verhältnisse als reduktionsbesessene Philosophen.58 Auch das ist natürlich nicht neu. Der alte Kampf zwischen Philosophie, Wissenschaft und Kunst braucht zwar kein Kampf mehr zu sein, aber die Differenz bleibt bis heute erhalten. Diese ist aber ihrerseits nur möglich aus dem unterwölbenden Grund einer Metaphysik, die sich mit Georg Simmel als „individuelle Reaktion auf das Ganze aus einem Punkt heraus“ versteht.59 55
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophische Untersuchungen, op. cit., p. 79. 56 Cf. hierzu die populäre Studie des Neurologen und Philosophen Kai Vogeley, Anders sein, Basel 2012. 57 Das zeigen besonders deutlich die ebenso scharfsinnigen wie manchmal entsetzlich leeren Debatten der philosophy of mind in den letzten dreißig Jahren. Nicht, daß man auch von dieser Leere nichts lernen könnte, aber für die Fülle geistiger Manifestationen bieten sie leider in der Tat nicht viel. 58 Cf. hierzu die brillanten Ausführungen von Josef Isensee zur Würde des Menschen, in: Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. IV, Heidelberg 2011. Man muß sich für die Philosophie schämen, wenn sie den Würdeschutz des Menschen so degradiert hat, daß Juristen ihm normativ wieder auf die Beine helfen müssen. 59 Mitteilung von Ingo Meyer in seinem schriftlichen Kommentar zum Text.
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So nimmt es nicht Wunder, daß erhellende Explikationen zur Seele im 20. Jahrhundert nicht von Philosophen, sondern von Dichtern stammen, die nun einmal nicht von ihr lassen können. Warum nicht? Weil ihre Existenzberechtigung da wegfällt, wo die Seele nicht mehr spricht. Dagegen ist es bei Wissenschaftlern belanglos, ja durchaus störend, wenn ihre Seele, sofern sie eine haben, spricht oder nicht. Ihre Seele als Sprecher ist nicht gefragt und interessiert auch niemanden. Es sei denn, was häufig vorkommt, sie machen sich Gedanken über ihre Ergebnisse hinaus. Ein ebenso schwieriger wie gehaltvoller Text zur Seele im vergangenen 20. Jahrhundert stammt von Paul Valéry. Sein Text Die Seele und der Tanz (1923), modelliert im Stile eines platonischen Dialoges, bietet einen Schlüssel für einen Zugang zum impliziten Individuum, d.h. zur Seele. Aber er überspielt auch die Schwierigkeit nicht, dieser, wiewohl in Gewißheit spürbar, sprachlich ‚habhaft‘ zu werden. Auch für Valéry steht die Seele zunächst in gewisser Weise für einen Kontrast zu unserer begrifflichen Verfassung, auf die allein angewiesen wir im kalten Blick auf die Welt unausweichlich in anteilnahmefreie Depressionen (ennui)60 verfallen. Sie erweist sich daher als ein Resonanzorgan, das auch da schon und dann noch Meldungen liefert, wo und wann unsere begriffliche Ausstattung unterschritten wird: sie verläßt uns nie, selbst dann nicht, wenn wir nicht ein und aus wissen. Das liegt gerade dar60
Paul Valéry, Die Seele und der Tanz, übertragen durch Rainer Maria Rilke, in: Paul Valéry, Gedichte, Frankfurt/M. 1962, p. 94. Diese desaströse Verfassung (ennui) ist seit Baudelaire das Gegenzentrum der Poesie.
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an, daß die Seele nur einen pronominalen Bezug hat, der sprachlich zwar ins Leere läuft (auf irgendetwas), aber ihre Stärke gerade in dieser vormodalen, faktizitätsenthobenen Ausrichtung entfaltet, und auf das geeicht ist, „was es nicht gibt: das, was war, und nicht mehr ist; – das, was sein wird, und noch nicht ist; – das Mögliche, das Unmögliche, – das alles ist Sache der Seele, aber niemals, niemals, das, was ist!“61 Die Seele, so die Botschaft Valérys, ist referentiell nicht festgelegt, aber reagiert auf alles. In diesem Sinne findet sich bei Valéry die alte Lehre von Aristoteles und Thomas von Aquin wieder, derzufolge gilt: anima est quodammodo omnia.62 Obwohl die Seele auch nach Art einer Augenblickssensibilität gefaßt werden muß, – Valéry: „sie macht den Augenblick sichtbar“63 – geht es ihr nie um konstante Verhältnisse, wie sie Philosophen in ihrer Privilegierung extensionaler Verhältnisse, d.h. in ihrem phantasielosen Bauklötzchendenken lieben. Sie bleibt Organ der Registratur von Changierendem, d.h. nuanciertem und selbstzwecklichem Wandel, und wird daher sinnfällig am ehesten z.B. in expressiven Tableaus von Transformationsverhältnissen über valeurs hinweg wie sie in Bild, Klang und Vers oder in den graziösen Bewegungen des Tanzes greifbar sind. Daher ist es vielleicht auch heute noch eine treffende Bündelung, wenn Ernst Robert Curtius das dichtende Denken von Paul Valéry mit der knap61
Paul Valéry, Gedichte, op. cit., p. 97. Cf. Aristoteles, De anima III, 8 (431b 21); Thomas v. Aquin, De veritate, q. 1, a 1. Cf. dazu Jan A. Aertsen, Medieval Philosophy and the Transcendentals: The Case of Thomas Aquinas, Leiden/New York/Köln 1996, p. 257. 63 Paul Valéry, Gedichte, op. cit., p. 98. 62
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pen Feststellung markiert: „Sein Denken ist eine universale Transformationstheorie.“64 Es gibt nach Valéry gar keine fixen Objekte, Dinge, Fakten. Wo sie zu sein scheinen (und von diesem Schein sind wir benommen), gilt: „Das Ding, das es ist, bricht aus in Ereignisse! – Es gerät außer sich!“65 Und wie gelingt ihm dieser Ausbruch? Nur im Fokus der Wahrnehmung des szenischen Seins der Dinge. Anschluß an dieses Szenische erhalten wir aber nur, wenn wir aus den Standardfestlegungen unserer Weltwahrnehmung heraustreten, d.h. in Intervallen einer mentalen Absenz, wie wir sie aus Tagträumen kennen. Valéry nennt diesen Zustand absence.66 In ihm registriert die Seele rein, d.h. ohne Beihilfe der Triebe oder des Verstandes. Wo andere nur das abzählbare Mobiliar wahrnehmen, beginnt auch die Kerze, der Vorhang, der Sessel zu tanzen. In seinem frühen Essay Introduction à la Méthode de Léonard de Vinci von 1894, der 1895 erstmals erschien, entwirft Valéry die Grundlagen seiner Poetik auf der Basis dieser absence, einem Zustand, in dem sich in uns ein Tau64
Ernst Robert Curtius, Zum Verständnis der Werke, in: Paul Valéry, Gedichte, op. cit., p. 167. 65 Paul Valéry, Die Seele und der Tanz, op. cit., p. 97. Hier steht Valéry dem Ereignis- und Prozeßdenken des 20. Jahrhunderts sehr nahe. 66 Nur aus der selbstformenden Dynamik dieses Zustands findet man einen Zugang zu Valérys Gedicht La jeune Parque von 1917. Hier spricht die junge Parze zu sich selbst: Formetoi cette absence;/Retourne dans le germe et la sombre innocence. In der Übersetzung von Paul Celan: Form dir dieses Fort-und-Ferne-Sein; kehr in die dunkle Unschuld zurück und in den Keim. (Paul Valéry, Die junge Parze, trad. Paul Celan, Frankfurt/M. 1964, p. 51).
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mel unerwarteter Analogien einstellt: „[D]er Sessel verzehrt sich an Ort und Stelle, der Tisch beschreibt eine so rasche Drehung, daß er durch sie bewegungslos wird; die Vorhänge fließen endlos, fortwährend herab.“67 Denn auch das Ding sucht sich aus dem Gefängnis seiner Konstanz zu befreien und das gelingt ihm, indem es als Bewegung, als Tanz wahrgenommen wird: „Es sucht Abhilfe gegen sein Sich-selbst-gleich-sein durch die Zahl seiner Akte!“68 Für solche Wahrnehmungen und Registraturen, die gerade nichts Festlegendes oder Fixierendes haben, brauchen wir unsere Seele. Sie registriert wie mit Flimmerhärchen jede Regung, jede Nuance, jede Kleinigkeit unterhalb des Niveaus bloß mit sich identischer Seinsverhältnisse. Sie ist unser Zartestes und deshalb unser Empfindlichstes und Verletzlichstes, das wir als nicht zur Disposition stehendes Eigenstes bei uns und bei anderen, wie Schelling gesehen hat, zulassen müssen. Hier gründet auch grundlos die Würde des Menschen als schonungsbedürftiges Flimmerhärchenwesen, das allen Diskursen vorhergeht und in ihnen erhalten bleibt.69 Valéry nennt die Tänzerin, in deren Bewegungen die Seele manifest wird, Athikte. Dieser Name ist von Valéry selbst erfunden und aus dem Griechischen entlehnt: ἄθικτος heißt unberührt, das Unantastbare und insofern 67
Paul Valéry, Leonardo. Drei Essays, trad. Karl August Horst, Frankfurt/M. 1960, p. 37/38. 68 Ibid. 69 Cf. Josef Isensee, Würde des Menschen, in: Handbuch der Grundrechte, op. cit., p. 122 (Nr. 203): „Das Individuum wird nicht als Mensch anerkannt, weil es am gesellschaftlichen Diskurs teilnimmt; vielmehr wird es als Teilnehmer akzeptiert, weil es Mensch ist“. An diesem Tatbestand ist das interaktionistische Projekt von Jürgen Habermas gescheitert.
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Heilige.70 Athikte ist wie die Seele die Unberührbare, die Unantastbare. Sie tanzt und ist in dieser in sich geschlossenen Bewegung zugleich die Seele selbst, ihre Manifestation, ihr Bild, ihr Ausdruck. Keine Substanz, nur Monstranz des Individuums. Noch vor jedem expliziten Reglement verfügen wir über ein Organ, das äußerst sensibel ist für valeurs und nur für diese. Unsere normative Quelle ist hier. Nicht Faktum der Vernunft, sondern Faktum einer schon normativ empfindlichen Sensibilität.71 Gerade diese brauchen wir im Umgang miteinander, in Phasen unserer Kreativität, in unserem untrüglichen Gefühl, in einem durchaus rätselhaften Ganzen zu existieren.72 Was immer für unsere Seele ‚ist‘, ist instantan mehr und anderes als es ist. Die Tänzerin „dreht sich, sie dreht sich (…) Das heißt wirk70
Im Tanz (wie in allen expressiven Profilen) sind ursprünglich Eros, Thanatos und Theos versammelt. Das hält sich in Fragmenten bis in die Neuzeit durch. Cf. Heinrich Heine, Atta Troll, cap. VII: Tanzen war ein Gottesdienst,/War ein Beten mit den Beinen! (Heinrich Heine, Sämtliche Schriften, ed. Klaus Briegleb, Bd. 4, München 1968, p. 513). 71 Dieser Umstand konnte Kant nicht in den Blick kommen, da er in seiner Kritik der reinen Vernunft ausschließlich Bezug nimmt auf die überlieferte rationale Psychologie, die sich in ihren Aussagen über die Seele unvermeidlich in Widersprüche verwickelt (Paralogismen). 72 Paul Valéry, Gedichte, op. cit., p. 94: „Es ist seltsam zu denken, daß das, was das Ganze ist, sich nicht zu genügen vermag!“ Und zuvor: „das Weltall hält es nicht einen Augenblick aus, nichts zu sein, als was es ist.“ Diese Dimension einer sich selbst ergänzenden Welt ist die Dimension, die sich uns durch die Seele „in einem Rausch des Denkens“ (op. cit., p. 95) eröffnet. Insofern ist Erkennen „nicht sein, was man ist“ (Op. cit., p. 94).
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lich vordringen in eine andere Welt“.73 Sie bezeugt einen Zustand, schreibt Valéry in einem anderen Text über den Tanz, „der ein Äußerstes ist, ein Außer-sich- oder Fernvon-sich-Sein“: „[E]in solcher Zustand vermittelt uns die Anschauung einer Existenz anderer Art, welche (…) aus lauter Grenzwerten unserer Fähigkeiten zusammengesetzt ist. Ich denke an das, was man gemeinhin – ‚Inspiration‘ nennt.“74 Eigentlich mag Valéry diesen Ausdruck ja nicht, wie oben schon erwähnt, aber hier benötigt er ihn doch für die Bezeichnung der logomantischen Quelle. Natürlich ist Paul Valéry nicht der erste, der die Seele am Tanz exemplifizierte. Dieses Bild ist uralt. Es stammt von Platon, Plotin und Proklos. Werner Beierwaltes hat diesen ebenso betörenden wie schwer verständlichen Aus73
Paul Valéry, Gedichte, op. cit., p. 99. Schon 1890 schrieb Paul Valéry an Pierre Louis: „In dieser blauen Dämmerstunde kommt mir der Gedanke, es sei gut, daß nichts dauerhaft ist, nichts wirklich; Phantome sinds, die mir gefallen, und alles, was nicht Vision ist, nicht Spieglung in einem alten Spiegel, nicht Widerschein des Mondes im Gewässer, kann mich nicht locken, nicht halten“. (Paul Valéry, Briefe, trad. Wolfgang A. Peters, Wiesbaden 1954, p. 5) Und 1895 berichtet er Joris-Karl Huysmans von seiner Entdeckung einer neuen Forschungsmethode, „die darin besteht, sich Vorstellungen hinzugeben, die Geistesarbeit geschehen zu lassen [sic!] in ihrer ganzen Ausdehnung und sogar ihrer augenscheinlichen phantastischen Sinnlosigkeit, bei der die Wirklichkeit ausgeschaltet ist“ (Briefe, op. cit., p. 43). 74 Paul Valéry, Über den Tanz, in: ders., Tanz, Zeichnung und Degas, trad. Werner Zemp, (Suhrkamp) Berlin/Frankfurt o.J., p. 28/29. In diesem Text beschreibt Valéry in unvergleichlicher Weise den Geschlechtstanz von Medusen, wie er ihn in einem Film gesehen hatte (cf. pp. 29–31).
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führungen lichtvolle Erläuterungen gewidmet.75 Hiernach ist die Seele implizites Organ für die Registratur uninterpretierter und insofern sanfter Einheit: Einheit unserer selbst als Erinnerte, als Erhoffte und als Gegenwärtige. Aber sie hat auf jeden Fall nichts Einheitserzwingendes, sie ist vielmehr, so Proklos, tänzerische Versammlung, die uns allererst Ähnlichkeiten wortlos zugänglich macht (ὁμοίωσις). Schelling sieht später gerade darin ein Dokument unserer gewährenden Selbstlosigkeit, die er „sanfte Freiheit“ nennt.76 Dieser Gedanke taucht bei Paul Valéry wieder auf. Er entwickelt seine Poetik auf der Basis einer hypnagogischen Gegenwartsentrückung77, die er, wie schon angeführt, absence nennt. In diesem Zustand gewahren wir Bezüge, die wir nicht herstellen, die sich vielmehr einstellen, nicht berechenbar, nicht prognostizierbar, aber sinnaufschließend, überraschend und darin schön. Insofern kann seine Poetik als universelle Heuristik angesprochen werden. Der Tanz, in dem er die Seele erfaßt, ist grundsätzlich ein Tanz auf allen Oberflächen. Insofern kann er notieren, daß im Tanz „der Boden (…) in gewisser Weise ein Absolutes ist, sorgfältig gereinigt von allen Ursachen einer rhythmischen Störung und Unsicherheit“.78 75
Cf. Werner Beierwaltes, Proklos. Grundzüge seiner Metaphysik, Frankfurt/M. 1985, pp. 212 sqq.: Das Phänomen des intelligiblen Tanzes. 76 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Die Weltalter, in: ders., Schriften von 1813–1830, Darmstadt 1968, p. 143. 77 Cf. hierzu Jean-Paul Sartre, Das Imaginäre, Hamburg 1971, p. 98: „Die hypnagogischen Phänomene werden nicht ‚durch das Bewußtsein betrachtet‘: sie sind das Bewußtsein.“ 78 Paul Valéry, Gedichte, op. cit., p. 87.
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Der störungsfreie und insofern subkausale Boden (läßt sehen, aber wirkt nicht), von dem Valéry hier spricht, ist in der Tat der veranlassungslose, diaphane Hintergrund einer Beweglichkeit von Formen, die phänomenal auf Untergründe nicht angewiesen zu sein scheinen. Vielleicht ist dies nur eine artistische Illusion, aber wieso sind wir dieser überhaupt fähig? Auch Bilder sind in diesem Sinne Tänze, die wir nicht registrieren könnten, verfügten wir nicht über einen sensus, der uns unmittelbar Sinnereignisse registrieren läßt wie eben in Tanz, Klang, Vers und Bild. Wer nicht, erläutert Valéry, „auf dem blanken Weiß einer Seite ein Bild geschaut hat, an dem die Möglichkeit und der bedauernde Verzicht auf alle Zeichen, die von der getroffenen Wahl ausgeschlossen blieben, zehrte, und wer nicht im lichten Luftraum ein nicht vorhandenes Bauwerk erblickt hat“79, der ahnt nichts von der konstruktiven, schöpferischen Potenz des sensus animae. Kreativität gründet in beseelten Sinnen, die die Basis unserer szenischen Existenz sind. Nur in diesen beseelten Arealen unserer szenischen Existenz gibt es überhaupt erste und letzte Worte. So hat vielleicht die Seele einen natürlichen Anspruch, Herrin des letzten Wortes zu sein. Aber in welcher Sprache? In einer imaginären Ursprache reiner Expressivität? Diese teilt sich aber immer nur indirekt mit, im Wie des Gesprochenen und Gestalteten. Die Sprache der Seele, gesetzt es gibt sie, bleibt immer symbolisch verstellt. Deshalb müssen ihre Botschaften erschlossen werden, sie gleichen Worten hinter Worten, Klängen hinter Klängen, Bildern 79
Paul Valéry, Leonardo, op. cit., p. 58/59.
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hinter Bildern und schließlich gleichen sie nichts mehr. Diese gleichnislose Zone ist die große Suggestion hinter jeder Form. Als Dokumente einer ungreifbaren Einheit zehren sie wieder vom Hintergrund des impliziten Menschen. Dieser Sog des Indirekten ist anspruchsvoll. Er zieht uns an, wir wissen nicht woher und wohin. Ohne diesen Sog gäbe es jedenfalls keinen aufrechten Gang der Menschen, der sich aufrichten muß, um sich nach Geräuschen umhören zu können, die wie Stimmen zu ihm zu sprechen scheinen.80 Der seltsamen Ungreifbarkeit der Seele und ihrer Unentbehrlichkeit zugleich ist auf beeindruckende Weise auch schon Aristoteles nachgegangen. Selbst wenn er natürlich vor allem in Lokalisierungsfragen heute völlig veraltete physiologische Einrahmungen präsentiert, versucht er dennoch der unentbehrlichen Funktion der Seele auf immer noch attraktive Weise gerecht zu werden. Allerdings verfügt er nicht über einen personalen Seelenbegriff, sondern nur einen systemischen. Die Seele ist es, die die Interaktion individueller Kompetenzen des Lebendigen zusammenhält und steuert. Eben deshalb ist sie Prinzip alles Lebendigen.81 Sie ist das, was vivid macht. 80
Cf. Werner Beierwaltes, Proklos, op. cit., p. 214, Anm. 122: „Auch bei Plotin ist die Inwendigkeit der Seele (ἐπιστρέφειν) als ein Hören auf eine Stimme gefaßt, die sich dem Denkenden zuspricht, wenn er sich befreit hat von den vielfältigen Stimmen des Sinnfälligen“. Cf. auch p. 215: „Die Schau des Einen, die Einung mit ihm, ereignet sich als ein gotterfüllter Tanz“. Es bedarf einer kreisenden Bewegung um eine Mitte, die virtuell bleibt, aber im Kreisen ihre Präsenz und Energie bezeugt (cf. hierzu pp. 217 sqq.). 81 Aristoteles, De anima II 4, 415b 8.
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Nicht, wie der Interpret Hubertus Busche schreibt, als ob sie deshalb wie eine zentrale Kommandostelle der Lebewesen verstanden werden dürfte, etwa als „ein steuernder Kobold“ in uns. Sie wird von Aristoteles vielmehr, was Busche richtig herausgearbeitet hat, als „holistischer Strukturbegriff“ eingeführt, der sich in der Systemfunktion alles Lebendigen als wirksam erweist.82 Aristoteles braucht die Seele, um die Selbststeuerung des Lebendigen erklärlich zu machen, er braucht sie nicht, um das emotionale Zentrum von Individuen zu markieren. Allerdings: Gerade in dieser Bedeutung als expressives Zentrum ist die Seele ebenfalls unentbehrlich. Wir wüßten sonst nicht, wem wir uns zuwenden, wen wir fragen, wen wir um etwas bitten oder wen wir trösten. Wer jemand ist, ist weder Körperteil noch Strukturaspekt des Körpers, sondern das, was wir als seine Seele bezeichnen. Personen braucht man, um die Schutzwürdigkeit, die Zurechenbarkeit und die Rechtsfähigkeit von Körpern sicherzustellen. Die Seele braucht man, um ihre Ausdrucksfähigkeit, ihre Empfindlichkeit und Expressivität sicherzustellen. Sie ist das besänftigungs- und trostbedürftige Kind in uns (ἐν ἡμῖν παῖς), Platons Ausdruck für das implizite Individuum.83 Beide Begriffe bezeichnen also etwas, was man nicht sieht, nicht sehen kann. Im Sinne Kants handelt es sich um Ideen. Dennoch, und das liegt außerhalb seiner Fragestellung oder er hat es nicht gesehen, sind diese Termini in einem impliziten Sinne realitätskreativ. Ihre intendierten An82
Hubertus Busche, Die Seele als System. Aristoteles’ Wissenschaft von der Psyche, Hamburg 2001, p. 32. 83 Platon, Phaidon 77e.
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wendungen treffen nicht auf Bereitliegendes zu, sondern bezeichnen ähnlich wie Regenbogenrealitäten84 so etwas wie Schwingungsrealitäten, in die wir eingelassen sind. Sie machen uns für Kontexte sensitiv, verleihen Körpern valeurs und machen ihnen, d.h. uns, einen neuen Umgang miteinander möglich. Aber die bedeutungsverleihende Potenz dieser Ausdrücke ist wiederum nicht allein ihrer belebenden Kraft geschuldet, sondern antwortet auch einer vordem noch nicht entdeckten Realität. Mit den Termini Seele und Person griffen wir ins Leere, wenn es nichts Seelisches, nichts Persönliches gäbe, dem diese Termini nur Rechnung tragen. Für die Realität des Seelischen haben wir aber keine besseren Belege als implizite Ereignisse wie sie sich in Erfahrungen unserer wechselseitigen Expressivität bekunden, die ungeheuer reicher ist als die Worte, die uns zur Verfügung stehen. Deshalb brauchen wir die Künstler. Merkwürdigerweise auch deshalb, um uns Realisten sein zu lassen: Die Seele ist die Unabhängigkeitserklärung der Welt. Deshalb gibt es Humor, Anarchie und Mystik.
84
Cf. Hans Lenk, Interpretationskonstrukte. Zur Kritik der interpretatorischen Vernunft, Frankfurt/M. 1993, p. 273. Regenbogenrealitäten sind objektive Phänomene, die beim Näherkommen verschwinden. „Auch das Soziale hat also eine ‚Regenbogenrealität‘“ (Lenk, p. 280).
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Nichts ist für manche Philosophen unangenehmer als das, was faktisch da ist. Meistens ist Existieren Sache einer chemischen Reaktion. Aber nicht immer. Daß es Zahlen gibt, ist keine Angelegenheit eines Stoffwechsels. Man hat sie daher als Ausgeburten unseres operativen Könnens interpretiert, aber das reicht auch nicht. Das, was dasselbe ist, wenn zwei Mengen umfangsgleich sind, ist die Zahl. Das ist zwar raffiniert formuliert, aber zehrt von der Intuition der Selbigkeit, die auch hier den Zahlen vorhergeht. Wie steht es mit dieser Selbigkeit? Jedenfalls ist sie kein Produkt unserer Operationen, sondern diese bedienen sich ihrer. Vielleicht ist es eine Einheit, die in das anfänglich ungebundene Milieu unserer operativen Begabungen in dem Augenblick hineinblitzte, wo die Instinktbindung zurücktrat. Das wäre die Geburt einer natürlichen Variablen, unser Eintritt in ein pronominales Müssen, das zum Können werden sollte. So unangenehm solche tastenden Befunde für unsere Selbstexplikation in neurophysiologischen Arealen auch sein mögen, erst hier finden wir eine Instanz, die unsere robusten Ansprüche auf Objektivität sichert. Wir brauchen ein Konzept externer Wirklichkeit, ohne sie interpretieren zu müssen. Wir sind in dieses Konzept mit massiver Sicherheit auch hineingestellt. Nicht allerdings im Sinne der Wissenschaften oder der Erfahrung, sondern im Sinne einer Gewißheit, in der die Sicherheit unserer
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epistemischen Weltstellung verbürgt ist. Wir leben in der Welt und zwar vor Ort in Geflechten von Ähnlichkeiten und Erwartungen und das wissen wir so sicher wie wir wissen, daß das beste Wissen, das wir in dieser Welt erwerben und produzieren, eben Wissen von der Welt mit ihren Ähnlichkeitsbezügen ist. Das ist die letzte Basis unseres Realismus, kein Produkt von uns, sondern eine Botschaft, die schon unsere szenische Existenz85 für uns bereithält, bevor wir uns noch um Wissen bemühen konnten. In diesem Sinne muß das Eigene der Realität im Sinne Schellings ebenso zugelassen werden, wie das Eigene unserer selbst.86 Auf diesen Gesichtspunkt hat Thomas Nagel in seinem Buch The Last Word87 energisch hingewiesen. Bei ihm lautet die Antwort: Die Herrin des letzten Wortes ist die Vernunft. Aber sein Konzept der Vernunft ist weiter als ansonsten üblich und erinnert an Hegels Rückbindung der Vernunft an ein Vernehmen. Die Vernunft deckt daher bei ihm auch Fragen ab, die damit zusammenhängen, ob wir überhaupt Ansprüche auf Objektivität aufrecht erhalten dürfen oder nicht. Kurz: Fragen, die sich um die moderne These drehen, ob wir bloß um einen prometheischen Wissensbegriff verfügen, d.h. einen solchen, der sich in dem erschöpft, was wir tun und können? 85
Cf. Wolfram Hogrebe, Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen, Berlin 2009. 86 Cf. hierzu oben Abschnitt 7. Im Lichte solcher Überlegungen müßte man den ersten, sogenannten ideentheoretischen Gottesbeweis von Descartes in seinen Meditationen einer Neubetrachtung unterziehen. 87 New York/London 1997. Dt. von Joachim Schulte, Das letzte Wort, Stuttgart 1999.
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Konstruktivistische Theoretiker finden diese Ansicht faszinierend. Aber sie liegen falsch. Selbst wenn wir über keinen repräsentationsfreien Begriff der Wirklichkeit verfügen, wir wissen dennoch: Keine Repräsentation löst für sich unsere Intuition von Wahrheit ein. Hier ist ein Surplus erforderlich, das de facto auch niemand bezweifelt, nur diejenigen, die vom Wissensstolz benebelt sind. Der Konstruktivismus ist die verdrängte Angst des Prometheus vor dem Adler, der ihm die Leber frißt. Sie mag nachwachsen, aber er frißt sie doch. In unsere Vernunftausstattung ist jedenfalls eine realistische Option eingebaut, die kein Könnensstolz verunsichern kann. Das liegt nicht zuletzt an dem überindividuellen Status der Bedeutungen, vor allem auch der Zahlen, mit deren Hilfe wir unser ultimativ belastbares Weltwissen in Form von Gleichungen formulieren. Der Ultraschall der Fledermaus wird zwar von ihr emittiert, aber was da emittiert wird, ist nichts Privates, nichts, was nur auf dem Konto der einzelnen Fledermaus verbucht werden darf, sondern auf einem überindividuellen Konto, das jedes Exemplar mit der Natur gemeinsam hat. So bedarf es zwar eines individuellen Akteurs, aber seine Quelle, aus der er schöpft, ist gemeinsames Eigentum von vielen. Auch das Ultraschallecho transportiert ja gerade deshalb objektive Informationen, die für die Fledermaus kollisionsfreie Flüge ermöglichen. Quelle und Echo sichern hier Objektivität. So ist ein Bild dafür gegeben, daß die Individualität unserer Erkenntnisbemühungen einer realistischen Option in keiner Weise widerstreitet. Gewiß emittieren Menschen keine Ultraschallwellen, aber sie verfügen über bedeutungswitternde Sensorien, über Zuwendungsformen zärtlichster Art, die um den Grad ihrer Zärtlichkeit willen gemeinsames Eigentum von vielen sein
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müssen. Zärtlichkeit ist Index einer empfundenen Objektivität, die in ihrer Unabhängigkeit und Eigenheit von uns zugelassen wird. Nur deshalb rührt sie uns an. Kosend kostet sich die Menschheit. Das dokumentiert zu unserer Fassungslosigkeit nur die Musik, wenn z.B. in Robert Schumanns Klavierkonzert a-moll im 2. Satz (Auftakt zum 29. Takt), man weiß nicht woher, die Celli einsetzen: Blick einer Mutter auf das trostbedürftige Kind. Solche entgegenkommenden Empfänglichkeiten reichen jedenfalls aus, um Registraturen zu ermöglichen, die einen empfindlichen und schonenden Sachkontakt herstellen, ohne den jede anschließende operative Bearbeitung leerlaufen würde. Der prometheische Subjektivismus des Könnensstolzes ist damit erledigt. Interessanterweise hat diese Einsicht Goethe gegenüber Schillers idealistischen Attitüden immun sein lassen. In seinem Brief vom 9. Juli 1796 aus Weimar an Schiller spricht Goethe in wunderbar leichter, ja in der ihm so oft eigenen koketten Weise einer dissimulatio honesta sui, von „einem gewissen realistischen Tic“, der ihm peinlicherweise zueigen sei, ja aus seiner „innersten Natur“ stamme. Er bittet Schiller geradezu um Kommentierung, falls es ihm, Goethe, nicht gelänge, diese realistische Option auszuformulieren: Denn ihr Gehalt sei ihm, Goethe, das, was er „durch die sonderbarste Natur-Notwendigkeit gebunden, nicht auszusprechen vermag“. Schiller schreibt ihm am 9./11.1796 nach Weimar zurück und konzediert sofort: „Das, was Sie Ihren realistischen Tic nennen, sollen Sie (…) gar nicht verleugnen.“88 88
Beide Briefe finden sich in der Münchner-Ausgabe (eds. Karl Richter et al.), Bd. 8.1, pp. 208 sq. und 211 sq. Der Brief Goethes findet sich auch in der Hamburger-Ausgabe Briefe II,
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Schiller unterschätzt diesen Tic Goethes, denn er unterliegt keiner Konzession. Da ist niemand, auch Schiller nicht, der in generöser Weise die Pflege dieses Tics gestatten könnte. Was Goethe mit diesem Tic reklamiert, ist ein Müssen. Sein Tic ist Tic der Vernunft selbst. Dafür sind Idealisten aber nur selten sensibel. Es ist die uninterpretierte realistische Option schlechthin, die unsere Geltungsbezüge überhaupt erst etabliert. Man kann sie als impliziten Realismus bezeichnen, wie er wohl auch Kants p. 229 sq. – Cf. dazu die gelungene Darstellung der schwierigen, aber exorbitant produktiven Freundschaft von Goethe und Schiller durch Rüdiger Safranski. Cf. ders., Goethe & Schiller. Geschichte einer Freundschaft, München 2009, p. 136 sq. und p. 208. Safranski hat das systematische Gelenk zwischen Goethe und Schiller außerordentlich sensibel dingfest gemacht. Auch seine Ausdeutung des wirklich diffizilen Kernpunktes zwischen ihren differenten Weltzugängen ist ihm vorzüglich gelungen. Cf. p. 199/200: „Die beiden einigen sich schließlich darauf, daß die Gegenstände nicht von sich aus, sondern nur durch ein entwickeltes Subjekt ihren Reichtum offenbaren, daß es sich hier also um ein Resonanzphänomen handelt. Das Objekt muß geöffnet werden, das vermag aber nur ein Subjekt, das sich geöffnet hat. Wie gelingt ihm das? Nicht allein durch Selbstbezug, sondern durch Weltbezug.“ Exakt das ist der Punkt. Zu Goethes Brief cf. auch die bündige Darstellung von Ingo Meyer, Im ‚Banne der Wirklichkeit‘? Studien zum Problem des deutschen Realismus und seinen narrativ-symbolistischen Strategien, Würzburg 2009, p. 193. Meyer macht in Sachen Belastbarkeit des Briefes von Goethe mit eleganter Hand kurzen Prozeß, verweist hier auch auf weitere Literatur, vor allem auf die Arbeiten von Gerhard Plumpe und seinen vorzüglichen Artikel Realismus im Historischen Wörterbuch der Philosophie, ed. Joachim Ritter et al., Bd. 8, Basel 1992, Sp. 169 sqq.
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Widerlegung des materialen Idealismus vorschwebte, wenngleich nicht besonders deutlich wurde.89 Daß sie zunächst nur in der Form eines realistischen Gefühls gegeben ist, als jacobinisches Seinsgefühl,90 widerstreitet ihrer Faktizität in keiner Weise, denn jede Faktizität wird uns erst über diesen Tic oder dieses Gefühl erfahrbar. Über diese Basis kann man sich in der Tat nur betrügen, wenn man sich am Könnensstolz berauscht. Hiervon waren die Schwaben, die nach Jena kamen, überzeugt: Schelling, Hegel, Hölderlin. Aus dieser Überzeugung traten sie gegen Fichte an. Der Grund, dem sich alles Selbstverständnis verdankt, ist nicht unsere Tat, sondern unserem Tun immer schon zuvorgekommen. Wir sind unserer nur mächtig aus Gründen einer Ohnmacht, die als anonyme Dimension als Implikatur in uns hineinragt. Um diese Anonymität dreht sich auch das Syndrom des Deutschen Idealismus. Herausragend in seinem Mut zu Ausgriffen ins Unvordenkliche, daher hineinragend in unsere rekonstruktiven Bemühungen noch immer.
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Cf. Kant, KrV B 274 sqq. Cf. hierzu Birgit Sandkaulen, Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis, München 2000.
90
9. Stenogramm des deutschen Idealismus
Schelling91 zumal ist noch immer ein Gesprächspartner für diejenigen, die an einer modernen Metaphysik interessiert sind, einer Metaphysik, die sich von unten, also aus einer vor-epistemischen Dimension des impliziten Menschen heraus konturiert, um sich dann in prädikativen Strukturen zu fangen. Diese Matrix rührt für Schelling daher, daß für ihn, was viele übersehen, Logik und Metaphysik denselben Quellgrund haben.92 In dieser Fokussierung sedimentieren sich nicht alle Intentionen Schellings. Wohl aber wird eine Grundstruktur sichtbar, ohne die sein gesamtes spätes Denken kaum verständlich gemacht werden könnte. Dennoch bleibt auch in dieser façon Schellings Denken nahe an der Wunschgestalt der Philosophie, wie Charles Baudelaire sie postulierte: „als hätte der Schrei eines Verzweifelten sie herbeigezwungen“.93 91
Zu den folgenden Passagen cf. mein Vorwort zur italienischen Übersetzung (erscheint demnächst) meines Buches Prädikation und Genesis. Metaphysik als Fundamentalheuristik im Ausgang von Schellings ‚Die Weltalter‘, Frankfurt/M. 1989. 92 Cf. Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie, Darmstadt 1959, p. 57. 93 Charles Baudelaire, Die heidnische Schule, in: Sämtliche Werke, Bd. 2, eds. Friedhelm Kemp/Claude Pichois/Wolfgang Drost, München/Wien 1983, p. 193.
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Gerade darin besteht auch heute noch die Faszination seines Denkens. Im freigeschälten Kern könnte man Schellings Grundgedanken im Ausgang von Kant, freilich trivialisierend, so stenograpieren.
I. Kants Idee einer transzendentalen Deduktion
(1) Spricht man von Entitäten, benötigt man die Identitätsrelation (ens et unum convertuntur; Quine: no entity without identity) Wenn Entität, dann Identität (logische Prämisse) (2) Ohne einheitliches Ich kein einheitliches Es Die Identitätsrelation ist ohne Selbstidentität nicht zu haben (no identity without self-identity) Wenn Identität, dann Selbstidentität (erkenntnistheoretische Prämisse) (3) Wenn man von Entitäten spricht, kommt man ohne Selbstidentität nicht aus Wenn Entität, dann Selbstidentität (aus 1 und 2) (4) Wenn man die Selbstidentität nicht thematisiert, kann man auch keine Entitäten thematisieren Wenn kein Selbstbewußtsein, dann auch keine Entitäten (Kontraposition aus 3) These (4) ist Kants Grundgedanke, der auch von den Denkern des Deutschen Idealismus übernommen wurde.
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Selbstidentität kann in Akten des Erkennens (Synthetisierens) nicht selbst als solche ausgedrückt, sondern stets nur dokumentiert werden. Sie ‚zeigt sich‘ in synthetisierenden Akten. Deshalb nennt Kant die Einsicht in diesen Umstand ‚transzendental‘. Genauer: Was sich in unseren erkennenden Leistungen als Bedingung derselben bloß ‚zeigt‘, heiße ‚transzendental‘. Und das systematische Studium solcher Bedingungen ist dann so etwas wie ‚Transzendentalphilosophie‘. Dennoch übten die Idealisten nach Kant auch Kritik an seinem Argument. So hält Fichte (3) und (4) für zu schwach. Selbstidentität ist in dieser Fassung ja nur notwendige Bedingung für unsere Rede von Entitäten. Nach Fichte müßte exklusiv94 gelten:
II. Fichtes Grundidee
(5) Wenn Selbstidentität, dann auch schon Entität (selbstreferentielles Argument der Wissenschaftslehre Fichtes)
94
Am schärfsten formuliert in seinem System der Sittenlehre von 1812: „ Eine objektive Welt und Natur giebt es für uns ganz und durchaus nicht, und sie wird rein abgeläugnet. Bei ihnen dagegen ist gerade diese das absolut Wahre. So hat Schelling mich bedauert; ich habe keine Natur. Ich gebe ihm sein Bedauern zurück, es ihm als ein Unglück zurechnend, daß er Natur hat, ein blindes Ungefähr. Eins von beiden muß man fahren lassen, Geist oder Natur; beide sind durchaus nicht zu vereinigen. Ihre vorgebliche Vereinigung ist theils Heuchelei und Lüge, theils durch das innere Gefühl aufgedrungene Inconsequenz“ (Fichtes Werke, ed. Immanuel Hermann Fichte, Bd. XI, Berlin 1971, p. 32).
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Akzeptiert man diese Verschärfung, dann, so wiederum Schellings Kritik an Fichte, sollte auch gelten:
III. Schellings Grundidee
(6) Wer nicht Entitäten thematisiert, kann auch keine Selbstidentität thematisieren. Ohne Natur kein Ich Wenn keine Entität, dann auch keine Selbstidentität (Kontraposition aus 5: Argument der Naturphilosophie Schellings) Die Weiterentwicklung von Schelling besteht dann in tiefgreifenden Schürfungen im Nicht-Ich Fichtes, um aus diesem die Genese eines transparenten Selbstbewußtseins plausibel machen zu können. Die Natur muß jedenfalls kreativ aus sich heraustreten und sie tut es für Schelling als natura naturans evolutionär. Bei Fichte ist es umgekehrt das Ich, das kreativ aus sich heraustreten muß. In der Wissenschaftslehre geschieht dies zunächst durch das Sehnen (WL 1794/95, § 10). Bei Schelling tritt die Natur ebenfalls zuerst in der Form eines Sehnens aus sich heraus.95 Beide denken dieses Heraustre95
Cf. hierzu Wolfram Hogrebe, Sehnsucht und Erkenntnis (1994), in: ders., Echo des Nichtwissens, Berlin 2006, Kap. II 7, pp. 125 sqq. Im Kommentar von Rainer Schäfer (Johann Gottlieb Fichtes ‚Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre‘ von 1794, Darmstadt 2006, wird auch kurz auf das Sehnen eingegangen (p. 220 sqq.). Allerdings vermißt man einen Bezug zu den Analysen von Werner Stelzner zu den egologischen Selbstsetzungsverhältnissen von Fichte. Cf. Werner Stelzner,
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ten als gestaltende Intentionalität, bei Fichte des Ich, bei Schelling der Natur, was natürlich schwer verständlich ist und nur evolutionär durch die Entstehung neuer Arten halbwegs plausibel gemacht werden kann: quaerit se natura, sed non invenit. Wer hat recht? Hegels Antwort: beide zugleich. Schelling hat recht, weil wir uns ohne ein backing der Natur gar nicht realistisch verständlich machen könnten. Fichte hat recht, weil wir als intentionale Wesen eine ungesättigte, daher ergänzungsbedürftige, projektive und daher notwendigerweise konstruktive Weltstellung haben. Aber beide verkennen zugleich, so Hegel, daß sie diesen Gedanken einer Zusammengehörigkeit ihrer Grundpositionen nicht fassen können. Insofern terminieren sie erst in dieser ‚aufhebenden‘ Finalstruktur Hegels, d.h. als ‚absolute Befreiung‘.96 Der späte Schelling würde hier allerdings erwidern: diese Finalstruktur bleibt insuffizient. Sie verkennt ihrerseits, daß sie nur aus Voraussetzungen möglich ist, die nie ganz in ihr aufgehen, ja nicht in ihr aufgehen dürfen, weil sie sonst sofort kollabieren würde. ‚Absolute Befreiung‘ im Sinne Hegels impliziert ja das Versprechen einer restlosen Tilgung eines impliziten Nicht-Wissens. Die Schleife der Reflexivität darf aber, so Schelling, nicht geschlossen werden, weil ihr Licht sonst sofort erlischt. Selbstzuschreibung und Identität, in: Wolfram Hogrebe (ed.), Fichtes Wissenschaftslehre 1794. Philosophische Resonanzen, Frankfurt/M. 1995, pp. 117 sqq. Die Analysen von Werner Stelzner müssen nicht das letzte Wort zu Fichtes Ich-Setzungs-Maschine sein, aber ignorieren darf man sie dennoch nicht. 96 Cf. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik, in: Werke, eds. Moldenhauer/Michel, Bd. 6, p. 573.
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Dieser Befund Schellings taucht übrigens wieder auf in den Cahiers von Paul Valéry als Zentralgedanke seiner negativen Theologie: „Gott will nicht erkannt sein – also muß man so tun, als gäbe es ihn nicht. Das heißt gehorchen.“ So bleibt er für uns „nichts anderes als das fundamentale, funktionale, notwendige Nichtwissen, ohne das es keine Erkenntnis gibt – der in den schwarzen Raum strahlende schwarze Körper“.97 Wer hat nun wieder recht, Hegel oder der späte Schelling und Valéry? Ich vermute: Schelling und Valéry. Es spricht wirklich einiges dafür, daß unsere Fraglichkeitsverfassung nur existiert, weil wir uns selbst und weil uns die Welt im Ganzen letztlich opak bleiben. Und gäbe es diese Fraglichkeitsverfassung nicht, gäbe es uns als denkende Wesen nicht. Person ist das, was sich in uns, so Schelling, als Person bloß sucht. Menschen sind für sich selbst ‚Suchmaschinen‘. Wir sind für uns selbst nur als ein im Suchen unserer selbst Gegebenes (Heidegger). Schellings Philosophie ist eben deshalb in ihrem Kern Universalheuristik. Der formal versierte Leser wird natürlich sofort feststellen, daß die Antipoden hier in einen Streit um letztlich äquivalente Verhältnisse befangen sind. Der deutsche Idealismus vollführt in der Tat eine Marivaudage mit der Äquivalenz als Marivaudage mit dem Absoluten. Das ist schwerlich in Abrede zu stellen. Allerdings: Was logisch äquivalent ist, erhält zuvor im kontrapositiven Gegenspiel eine rhetorische Akzentverschiebung, die von erheblicher Bedeutung ist, weil sie einen Fingerzeig gibt, die Verhältnisse auch umgekehrt zu 97
Diese schöne Stelle verdanke ich der Biographie von Denis Bertholet, op. cit., p. 345 (cf. oben p. 14, Anm. 33).
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sehen, um damit zumindest einen Wink für umgekehrte Bedingungsverhältnisse zu geben. Obwohl es zweifelhaft bleiben mag, daß sich die von ihnen selbst dramatisierten Kontraste zwischen Fichte und Schelling auf solche Winke oder Fingerzeige gänzlich eindampfen lassen, sollte von hier aus die Diskussion beginnen. Fichte steuert von Sinnverhältnissen Seinsverhältnisse an, Schelling macht darauf aufmerksam, daß auch Sinnverhältnisse als Seinsverhältnisse gelesen sein wollen, von denen her die Genese von Sinnverhältnissen zu rekonstruieren ist. Nur wenn das gelingt, bringen wir unsere monovalente Option eines robusten Realismus in ihr angestammtes, d.h. prädiskursives Recht. Wir finden uns zwar immer schon in Sinnverhältnissen vor, aber auch diese sind, d.h. sie müssen als szenisches Seinsverhältnis plausibel gemacht werden. Daß die Erscheinungswelt ist, wird man nicht gut bestreiten wollen. Markus Gabriel hat Schellings Ansatz entsprechend bündig so charakterisiert: „Schelling goes on to ask the crucial question of how the thing itself comes to appear, that is, how unprethinkabel being makes it’s way into the dimension of sense. This question asks how the thing itself departs from itself and enters into thought: hereby, Schelling seeks to explain the phaenomenalization of the thing in thinking.“98 Bei Hegel wird es methodisch schwieriger. Er bricht die gesamte Transzendentalphilosophie herunter auf Vollzugsformen mentalen Handelns. Die Schwierigkeiten liegen darin, daß er eben deshalb über kreative Relations98
Markus Gabriel, Transcendental Ontology, New York/London 2011, p. 156 (note 96).
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begriffe verfügen muß. Damit werden für ihn alle Relationen, also sowohl die Identitätsrelation wie z.B. auch der für ihn so wichtige Begriff der ‚Anerkennung‘ kreativ. Solche Terme lassen sich daher formal gar nicht mehr darstellen. Schon die Relation ‚a liebt b‘ läßt sich nicht relationslogisch formalisieren, weil ‚lieben‘ ein kreativer Relationsbegriff ist, eben anders als ‚größer als‘ oder ‚kleiner als‘. Wo es flüchtig und prozessual und daher schicksalsträchtig wird, versagt jede Formalisierung, die auf starre Verhältnisse geeicht ist. Hier muß auch der Philosoph Geschichten erzählen, um die Verhältnisse klar zu machen. Hegel benötigt solche kreativen Relationsbegriffe, um Sinnverhältnisse zu verdeutlichen, die sich anders als in diesen entwicklungsfähigen Beziehungsrelationen gar nicht einfangen ließen. Insofern stellen solche Terme für seine Philosophie gar kein Manko dar, sondern eine Stärke, weil nur so Phänomenbestände wörtlich gesichert werden können, die uns sonst abhanden kämen. Schelling vollzieht also gegenüber Fichte, der den ‚Weltpassungsgedanken‘99 des Kant der letzten Kritik nicht eigentlich vollzogen hat, eine Drehung im Ansatz: Sinn will vom Sein her gedacht werden. Diese Inversion findet sich, wie ich schon früher gezeigt habe100, auch bei Hölderlin. Konstruktivistische Attitüden wie bei Fichte verfallen Hölderlin zufolge dem Verdacht einer ‚Tyrannei gegenüber der Natur‘. Dagegen gilt, wie es die metrische Fassung des Hyperion bekundet: 99
Cf. Wolfgang Wieland, Urteil und Gefühl. Kants Theorie der Urteilskraft, Göttingen 2001. 100 Cf. Wolfram Hogrebe, Ahnung und Erkenntnis, Frankfurt/ M. 1996, pp. 110 sqq.
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„was ist, Das nicht durch uns so wäre, wie es ist.“ Die Kursivierung des ‚ist‘ in der letzten Zeile ist natürlich Interpretation. Aber nur in dieser Lesart wird die realistische Option Hölderlins überhaupt erst sinnfällig. Nur so erorbert er sich Fichte gegenüber eine Natur zurück, die zu ihm sprechen kann. Unsere Registratur von Weltverhältnissen ist nicht gegenständlich, sondern szenisch. Diese Drehung ist keine fixe Idee von Denkern oder Dichtern, sondern der Rückgang auf ein anthropologisches Faktum, das von Systemtheorie und Konstruktivisten aller Schattierungen notorisch ignoriert bzw. verdrängt wird. Aus dieser Drehung ist in unserer Zeit auch die Theorie des Bildaktes von Horst Bredekamp konzipiert.101 Kein Wunder, daß konstruktivistisch kontaminierte Leser damit ihre Schwierigkeiten hatten. Der Grund, dem sich alles Selbstverständnis verdankt, ist nicht unsere Tat, sondern unserem Tun immer schon zuvorgekommen. Wir sind unserer nur mächtig aus Voraussetzungen einer merkwürdig kreativen Ohnmacht, die als anonyme Dimension in uns hineinragt und so unsere szenische Weltstellung etabliert.
101
Cf. Horst Bredekamp, Theorie des Bildakts, Berlin 2011. Zur näheren Explikation cf. unten p. 131ff.
10. Dressuren
Philosophen machen dagegen gerne Gebrauch von reduzierten Segmenten der Realität. So bevorzugen sie seit alters gerne anthropologische Karikaturen, um ihre Anliegen auf dieser pauperisierten Basis durchzubringen. Sie lassen die wissentliche Normalausstattung des Menschen manchmal zusammenbrechen, um Elementares in ihrem intendierten Sinne sichtbar machen zu können. Willard Van Orman Quine (1908–2000) schickt einen Sprachforscher munter gottweißwohin, um die Sprache eines bis dato unbekannten Volkes zu erkunden. Die Regie Quines schließt die denkbare Nutzung eines Dolmetschers vor Ort aus. Der karikierte Sprachforscher ist auf seine Wahrnehmungen der Umgebung und der ihm völlig unverständlichen Äußerungen der Eingeborenen allein angewiesen. Es bleibt ihm daher nichts anderes übrig: Er versucht zunächst Korrelationen festzuhalten, die zwischen einem Ereignis und einer Äußerung der Eingeborenen aufreizend sinnfällig werden. Dieses Panorama hat natürlich etwas Künstliches und Quine weiß das auch. So könnte sich der Sprachforscher vernünftigerweise in der fraglichen Gegend „niederlassen und die Sprache der Eingeborenen unmittelbar lernen, so wie ein Kind sie lernen würde“.102 Aber darauf kommt es hier gar nicht an. 102
Willard Van Orman Quine, Wort und Gegenstand, trads. Joachim Schulte/Dieter Birnbacher, Stuttgart 1980, p. 93.
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Es geht in diesem Gedankenexperiment lediglich darum zu zeigen, daß unsere sinnlichen Reize und Registraturen nicht ausreichen, um die Bedeutung von sprachlichen Äußerungen sicherzustellen. Kurz: Die fingierte Situation einer radikalen Übersetzung soll bloß den Befund stützen, „daß vollständige Kenntnis der Reizbedeutung eines Beobachters nicht genügt, um einen Terminus zu übersetzen oder auch nur als solchen zu erkennen“.103 Ohne Bedeutungshypothesen und probeweise Setzungen kommen wir schon hier nicht weiter. Unsere Lernprozesse sind eben schon an ihrer Basis nicht einfach linear oder kontinuierlich. Wir müssen unseren kreativen Talenten von Anfang an Raum geben und wir tun das auch. Dennoch brauchen wir in elementaren Lernprozessen nicht alles neu zu erfinden, um weiter zu kommen. Die ‚Dressur der Gesellschaft‘104 hat uns von Kindesbeinen an das Geschäft erleichtert, in den Spracherwerb hineinzufinden. Quine unternimmt diesen exotischen Ausflug ins Nirgendwo also bloß, um die Fragilität von Bedeutungen zu demonstrieren, die selbst dann gebrechlich bleiben, wenn wir so etwas Solides wie Sinnesreize zu ihren Trägern machen. 103
W. V. O. Quine, op. cit., p. 407. Zu den skeptischen Doktrinen bei Quine, Davidson, Putnam und Kripke cf. Axel Bühler, Bedeutung, Gegenstandsbezug, Skepsis, Tübingen 1987. Bühler zeigt, daß diese Doktrinen ihr Ziel nicht erreichen, da sie mit der überzogenen Forderung unabhängiger Prüfinstanzen für die Stützung von Behauptungen operieren. Aber solche unabhängigen Prüfinstanzen werden nicht einmal in den Naturwissenschaften verlangt. 104 W. V. O. Quine, op. cit., p. 25.
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Wo daher eine stromlinienförmige Reduktion von Bedeutungen auf Reize scheitert, helfen uns Setzungen weiter. Solche Setzungen (posits) haben natürlich immer eine konventionelle Quelle, können sich in der Praxis aber stabilisieren, weil sie sich als nützlich, ja schließlich sogar als unentbehrlich erweisen: „Eine Setzung eine Setzung nennen, heißt nicht, sie von oben herab zu behandeln.“105 Denn schließlich sind auch Zahlen, Klassen, Funktionen, aber auch Moleküle etc. Setzungen, ganz ebenso wie früher die Götter Homers.106 Alle Setzungen haben ihren Zweck, aber ihr Nutzen wird unterschiedlich bilanziert. In heuristischen Phasen ist sogar „alles, dem wir Existenz zubilligen, eine Setzung“, allerdings „vom Standpunkt der gebildeten Theorie gleichzeitig real“.107 Das ist eine Sichtweise auf schmaler Basis, mit der man in der Praxis leben kann. Das relativistische Aroma der Setzungsterminologie Quines oder seine façon de parler von ‚praktisch nützlichen Mythen‘108 wird ja letztlich abgefangen von seinem Holismus.109 Es geht eben nicht alles, wie seinerzeit Paul Feyerabend kokett vorschlug, sondern es geht mit jedem nur dann, wenn es mit allem, mit dem es geht, kompatibel ist. Und das ist beileibe nicht alles.110 105
Op. cit., p. 53. Cf. W. V. O. Quine, Zwei Dogmen des Empirismus, in: ders., Von einem logischen Standpunkt, trad. Peter Bosch, Frankfurt/Berlin/Wien 1979, pp. 27 sqq., hier bes. 48 sq. 107 Quine, Wort und Gegenstand, op. cit., p. 54. 108 Quine, Wort und Gegenstand, op. cit., § 51, pp. 427 sqq. 109 Op. cit., p. 57. 110 Ingo Meyer wies mich auf eine prägnantere Version des 106
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In der Tat unterschreibt auch Quine mit einiger Ironie ein Eintrittsbillet für einen epistemischen Liberalismus jenseits des Relativismus: „Innerhalb unserer unaufhörlich in Entwicklung begriffenen Gesamttheorie urteilen wir über Wahrheit so ernsthaft und absolut, wie es nur immer möglich ist. Daß dabei immer noch ein Spielraum für Korrekturen bleibt, versteht sich von selbst.“111 Das ist in der Tat Quines Beitrag zu einer Marivaudage mit dem Absoluten, aber diese Konzession ist so trivial, daß sie das Thema eines Absoluten, welcher Art auch immer, offenkundig verfehlt. Dieses Thema gehört, mit Quine gesprochen, in eine ‚symbolische‘ Sprache, die jenseits von Quine mit einem undefinierten Ganzen rechnen muß, in dem wir uns über alle Wissenschaft hinaus, geradezu schicksalhaft situiert fühlen. So kann man immerhin auch von Quine lernen, daß es in den Wissenschaften, auch in der Physik, nützliche Idealisierungen gibt, die sich nicht restlos im überdehnten Einzugsbereich unserer Beobachtungsnähe explizieren und damit eliminieren lassen. Termini wie Massenpunkte, reibungslose Oberflächen, isolierte Systeme oder auch das Unendliche112 gehören zu diesen Idealisierungen. Hier bleibt auch die Physik ‚symbolisch‘, wie es für Quine die Geisteswissenschaften generell sind. Mit dieser Charakterisierung könnte man sich in Erinnerung an nämlichen Sachverhaltes von Ernst von Glaserfeld hin: „Anything goes if it works.“ (Ernst von Glaserfeld, Siegener Gespräche über Radikalen Konstruktivismus, in: Siegfried J. Schmidt (ed.), Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt/M. 1987, p. 429). 111 W. V. O. Quine, op. cit., p. 58. 112 W. V. O. Quine, Wort und Gegenstand, op. cit., p. 429.
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Ernst Cassirer durchaus anfreunden. Allerdings würde Cassirer darauf hinweisen und darauf bestehen, daß diese symbolische Qualität schon an der Basis anzutreffen ist. Deshalb wäre für Cassirer die von Quine so energisch herausgearbeitete Unbestimmtheit der radikalen Übersetzung nichts Dramatisches, weil sie Cassirer zufolge schon elementar in die Natur unseres sprachlichen Weltumgangs eingebaut ist. Nur weil das so ist, so Cassirer, ist der Korridor der symbolischen Formen schon da eröffnet, wo wir nur sind, weil wir es szenisch sind. Dem kommt auch der wohlwollende Interpret Quines, nämlich Dagfinn Føllesdal entgegen, wenn er ihn so summiert: „Communication and translation are a matter of correlating not just two world perspectives, but two perspectives on the same world.“113 Das ist zweifellos korrekt. Aber, dennoch entgegen Quine: Kein immer nur okkasioneller Reiz läßt den Blick auf eine Welt emergieren. Da hilft auch kein semantic ascent, der sich ohne Orientierung am szenischen Blick taumelnd verlöre. Das Symbolische müssen wir als Entgegenkommendes begreifen. An manchen Stellen kommt Quine den notwendigen Einsichten in den Gewinn des Symbolischen sogar nahe. Allerdings müssen die symbolischen Qualitäten für ihn epistemisch harmlos bleiben: „Wo Eleganz nichts ausmacht, dürfen und sollen wir sogar, quasi als Dichter, Eleganz um ihrer selbst willen anstreben.“114 Schönheit ist wich113
Dagfinn Föllesdal, Vorwort zur neuen Ausgabe von Word and Object (Manuskript 2012, p. 10). Ich danke Dagfinn Føllesdal dafür, daß er mir Einsicht in sein Manuskript schon vor der Publikation gewährt hat. 114 W. V. O. Quine, Identität, Ostension und Hypostase, in: ders., Von einem logischen Standpunkt, op. cit., pp. 67 sqq.,
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tig, aber Nützlichkeit im Dienste der Wahrheit geht natürlich vor. Das Symbolische, von dem auch Bestandteile der Mathematik und Physik infiziert sind, bereitet Quine ein schlechtes Gewissen. Aber er leugnet diese Qualität nicht, und tröstet sich mit ästhetischen Prämien, die er ansonsten vielleicht eher verschmäht hätte. Aber wer weiß? Sein ironischer Tenor erträgt auch andere Einschätzungen. So hat insbesondere Dagfinn Føllesdal Quine stets sehr dicht an Husserl herangeführt, obwohl Quine Husserl nicht studiert hat. Daß es hier eine werdende Verwandtschaft gab, in die Quine im Laufe seiner späteren Entwicklung hineinwuchs, war ihm allerdings auch selbst sehr wohl aufgefallen.115 Allerdings hat Quine seinen Naturalismus einschließlich seiner Reizorientierung bis zum Ende durchgehalten. In einer seiner letzten Schriften, Pursuit of Truth von 1992, gibt er eine Diskussion in Stanford wieder, in der er von Donald Davidson aufgefordert wurde, den neuronalen Reizkontakt mit der Welt fallenzulassen zugunsten hier p. 80. Die symbolische Qualität ist für Quine allemal „nützlich wegen der Anschaulichkeit, Schönheit und wesentlichen Richtigkeit, mit der sie bestimmte Aspekte der Natur abbildet, während sie, wenn man es genau nimmt, die Natur in anderer Hinsicht verfälscht“ (Wort und Gegenstand, op. cit., p. 430). 115 Dagfinn Føllesdal dokumentiert hier eine Bemerkung von Quine in seinem Interview mit Giovanna Borradori aus dem Jahr 1994: „I recognize that Husserl and I, in very different ways, addressed some of the same things.“ (Dagfinn Føllesdal, Developments in Quine’s Behaviorism, Paper presented to the conference Quine et 100 at Harvard University, 26. October 2008, Manuskript p. 11). Zum Feld Husserl – Frege – Quine cf. auch Michael Sukale, Denken, Sprechen und Wissen, Tübingen 1988.
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einer kausal relevanten Ontologie von Situationen. Kurz: Davidson plädiert dafür, den Reizen ihren privaten Status bei Quine zu nehmen, um sie einer gemeinsamen Situation erwachsen zu lassen, die a limine öffentlich ist. Der alte Quine bleibt hier allerdings eigensinnig und kontert: „mich überzeugt das nicht und ich halte unnachgiebig daran fest, unsere Reizungen am neuronalen Input festzumachen“.116 Die Chance, einen angemessenen szenischen Realitätsbegriff zu entwickeln, war für ihn damit endgültig vertan. Er wollte so sehr nur Wissenschaft, daß ihm die Welt abhanden kam. Was ihm am Ende blieb, war sein Scharfsinn und Humor.117
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W. V. O. Quine, Unterwegs zur Wahrheit, trad. Michael Gebauer, Paderborn/München/Wien/Zürich 1995, p. 58. Ferner: W. V. O. Quine, Confessions of a Confirmed Extensionalist and Other Essays, eds. Dagfinn Føllesdal/Douglas B. Quine, Cambridge (Mass.) 2008. 117 Dagfinn Føllesdal bringt im oben bereits zitierten Vorwort zur Neuausgabe von Word and Object folgende Bemerkung von Quine (zu Morton White) kurz vor seinem Tode: „I do not remember what my illness is called. Althusser or Alzheimer, but since I cannot remember it, it must be Alzheimer.“ (Dagfinn Føllesdal, Vorwort, op. cit., p. 1)
11. Von Boston nach Marburg
Ein anderer Philosoph ging lange vor Quine und seiner Strategie einer kontrollierten Entkörperung der Welt in gewisser Weise noch radikaler zur Sache. Und das war Paul Natorp, geboren im Todesjahr Schellings, also 1854 in Düsseldorf, gestorben 1924 in Marburg. Ihm wäre in seiner reifen Zeit in Marburg der manchmal sogar liberale Szientismus Quines, selbst wenn dieser durch Abgründe von Kant entfernt ist, nicht unsympathisch gewesen.118 Dem alten Natorp kamen dann allerdings doch Zweifel, die beim alten Quine ausblieben. Natorp argwöhnte zunehmend, daß man mit der Rede von ‚Setzungen‘, die auch die Marburger liebten, die Eigenart der menschlichen Weltstellung verfehlt. Er würde Quine gewiß konzedieren, ein diskutables Bild unserer szientifisch dominierten Praxis geliefert zu haben, aber er würde ihm vorhalten: Das kann nicht das letzte Wort eines Philosophen sein. 118
Cf. Paul Natorp, Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften, Leipzig/Berlin 1910. Dieses Buch Natorps ist Wissenschaftstheorie auf der Höhe der damaligen Zeit. Insbesondere hat Natorp das Verdienst, schon in diesem Buch auf die Bedeutung Gottlob Freges hingewiesen zu haben. Zu den neukantianischen Ursprüngen von Wissenschaftstheorie und der späteren Analytischen Philosophie cf. Gottfried Gabriel, Frege, Lotze, and the Continental Roots of Early Analytic Philosophy, in: Building on Frege, eds. Albert Newen/Ulrich Nortmann/Rainer Stuhlmann-Laeisz, Stanford 2001, pp. 19–33.
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Das anthropologische Fundament von Quine, seine kompromißlose Anlehnung an den Behaviorismus, wäre dem alten Natorp als viel zu eng erschienen. Dennoch beginnt der späte Natorp wie Quine mit Lernprozessen und Spracherwerb, bohrt sich hier jedoch in eine Tiefe vor, die Quine, der, wie oben gezeigt, schon die harmlose szenische Öffentlichkeit, d.h. die subjekttranszendierende Öffentlichkeit der Reize scheute, völlig fremd geblieben wäre. Nachdem der Neukantianismus insbesondere der Marburger Prägung zunächst auch für die neue Generation von Wissenschaftstheoretikern wie Rudolf Carnap zumindest zu Beginn ihrer Karriere119 als seriöser Gesprächspartner ernst genommen wurde120, entfernte sich die dann folgende Generation immer weiter von diesem einstigen Marburger Paradigma. Nur dadurch konnte die Wissenschaftstheorie schließlich ein exorbitantes technisches Niveau entwickeln, insbesondere im Ausgang und der Weiterentwicklung der Logik wiederum des Neukantianers Gottlob Frege121. Dabei kam allerdings der ‚sym119
Cf. die Dissertation von Rudolf Carnap in Jena bei Bruno Bauch (Der Raum. Ein Beitrag zur Wissenschaftslehre, Göttingen 1921). 120 Das kann man sehr schön an der Literatur erkennen, die Rudolf Carnap in seinem Buch Der logische Aufbau der Welt (Hamburg 1928) heranzieht. 121 Cf. Gottfried Gabriel, Frege, Lotze, op. cit. (Anm. 118) stimmt der Darstellung des philosophischen Hintergrundes von Hans Sluga zu: „I think his thesis that Frege’s efforts are part of the Neo-Kantian tradition is correct.“ (p. 19) Zu Carnaps neokantianischen Anfängen in Jena cf. auch Gottfried Gabriel, Introduction: Carnap Brought Home, in: Carnap Brought Home, eds. Steve Awodey/Carsten Klein, Chicago/La Salle 2004, pp. 3–23.
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bolische‘ Gehalt der Philosophie, wie ihn Quine immerhin noch berührt hatte, vollkommen unter die Räder. Das Problem dieser Entwicklung war bloß: Für die hochspezialisierte technische Version der Wissenschaftstheorie interessierten sich zunehmend weder die sonstigen Philosophen noch die Wissenschaftler selber, obwohl sie doch die eigentlichen Adressaten dieser Bemühungen waren. Was zunehmend interessierte, war allerdings die Wissenschaftsgeschichte, weil sie über symbolische Strukturen in ihrer historischen Einbettung Auskunft geben konnte.122
122
Cf. u.a. Sybille Krämer, Symbolische Maschinen. Die Idee der Formalisierung im geschichtlichen Abriß, Darmstadt 1988; Lorraine Daston/Peter Galison, Objektivität, Frankfurt/M. 2007.
12. Von der radikalen Übersetzung zum radikalen Leben
Paul Natorp machte sich also in seiner letzten Vorlesung von 1922/23 Gedanken über den Anfang des Spracherwerbs als Beginn unserer Weltstellung. Im Gegensatz zu Quine, der einen immerhin sprachkompetenten Sprachforscher ins Niemandsland schickt, empfiehlt Natorp einen Blick zurück auf die jedermann zugemutete Phase des Spracherwerbs in der Kindheit. Quine zieht diese Entwicklungsphase häufig auch in Betracht, immer dann, wenn er der Ontogenese des Bezeichnens nachgeht und hier sogar den Rosengarten vorsprachlicher Qualitätsräume betritt.123 Aber auch hier geht es für Quine immer nur um Dressur, selbst wenn sie bei Infanten etwas schwieriger wird. Wir müssen bei ihnen jedenfalls mit Neigungsstrukturen rechnen, die sie disponieren, „qualitativen Unterschieden ungleiches Gewicht beizumessen“124. Natürlich gibt es in dieser frühen Phase für Infanten keine gehaltvollen Impressionen, denn „die Bewohner des Qualitätsraums des Kindes [sind] (…) die Reize selbst“.125 Reiz ist das erste und letzte Wort von Quine, Inhalte, contents, bietet er nicht. 123
Zuerst in Wort und Gegenstand, op. cit., § 17 sqq.; cf. ferner W. V. O. Quine, The Roots of Reference, La Salle 1974; dt. Die Wurzeln der Referenz, trad. Hermann Vetter, Frankfurt/M. 1976. 124 Wort und Gegenstand, op. cit., p. 152. 125 Op. cit., p. 155.
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Wir alle haben diese vorsprachliche Phase durchgemacht, konnten also zunächst kein Wort sprechen und keins verstehen. Hier fragt sich nun Natorp: „Wie geht es zu, daß das Neugeborene, das von unserer Menschensprache noch schlechterdings nichts weiß noch wissen kann, jemals dazu gelangen kann und tatsächlich sehr bald dahin gelangt zu verstehen; nicht nur verstehen, was man mit Worten, Mienen, Gebärden, Fingerzeig, oder schweigenden Anblicken, Berühren, oder einem Tun oder Nichttun irgendwelcher Art ihm zu verstehen geben will, sondern überhaupt, daß man etwas zu verstehen, und ihm zu verstehen geben will?“126 Natorp fragt hier weitaus radikaler als Quine nach dem Ursprung unserer verstehenden Weltstellung. Wie kommt es, daß das Kleinkind, noch bevor es in Quines Dressurpark der Gesellschaft gerät, überhaupt beginnen kann, Worte in Korrelation zu Dingen oder Ereignissen konditioniert nachzuplappern? Es muß zumindest in eine verstehende Weltstellung schon eingerückt sein. Es weiß noch nichts, weder von sich noch von den Dingen. Es verhält sich in einem Indifferenzpunkt127, aus dem heraus sich Ich und Es zugleich erzeugen: „Nicht die Ichheit wird in das ichlose Objekt hineingetragen, so wenig wie die Esheit in das esfreie Ich, sondern zunächst ist beides gleich unbekannt, objektloses Ich und ichloses Objekt.“128 Das klingt nun ziemlich entkernt, ist aber bloß ein mühsamer deskriptiver Versuch, die erste Weltstellung des Kleinkindes sprachlich halbwegs kontrolliert einzu126
Paul Natorp, Philosophische Systematik, Hamburg 2000, p. 26. 127 Philosophische Systematik, op. cit., p. 31. 128 Op. cit., p. 30.
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fangen. Wie soll man den Primärkontakt von Infanten auch anders formulieren, wenn sie de facto noch in „der ursprünglichen reinen Schau des erst erwachenden Bewußtseins“129 befangen sind? Von hier aus verfolgt Natorp jedenfalls ein Ziel, das Quines Entwurf wieder verwandt ist. Denn es geht auch Natorp darum, „die Grundlinienzüge des Aufbaus aller geistiger Gestalt“130 aus Grundstrukturen sprachlicher Art, d.h. aus elementaren Aussageformen (Kategorien) zu entwickeln. Dieses Projekt ist im Ansatz strikt aristotelisch und Natorp betont das auch immer wieder.131 Aristoteles bleiben Natorp und etwas gequält auch Quine, trotz seines immensen Sachabstandes, gleichermaßen treu, selbst wenn Natorp am Ende noch einen Ausblick in die Dimension des Transkategorialen riskiert, um einen nicht definierten Begriff der ‚Totalität‘ als ‚Alleinheitssinn‘ zu retten, ohne den uns ein nicht-einschließbares Ganzes, die offene Schleife oder Falte, in der wir nun einmal leben, abhandenkäme.132
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Ibid. Op. cit., p. 13. 131 Op. cit., p. 12 et passim. 132 Cf. op. cit., p. 403 sq. 130
13. Seinsverstehen
Die eindrucksvollsten Resultate seiner Analysen bietet Natorp zweifellos schon an der Basis, also im Areal eines Noch-nicht-Wissens ante portas cognitionis. Hier waren wir nicht nur als Infanten zu Hause, sondern sind es auch passager als Erwachsene, immer dann, wenn wir mit Unbekanntem konfrontiert werden und uns fragen: was hat das zu bedeuten? Auch diese Frage können wir nur stellen, weil wir in eine Verstehensbeziehung zur Welt hineingeboren wurden, in eine Verfassung, die nicht erlernt werden kann, die nicht ‚andressiert‘ werden kann.133 Hier ist die Geburtsstätte, der Ursprung „für alles, wovon irgend die Rede sein kann.“134 In dieser Dimension, die Natorp mit Clemens Brentano auch die ‚heimliche
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Natorp faßt diesen Befund so zusammen: „[W]as das eigentlich Rätselhafte bei der Sache ist: daß wir überhaupt verstehen, überhaupt einen Sinn erfassen, daß es einen erfaßlichen Sinn, ein τί, ein ‚das was es ist‘, eben dies Sein (τί ἦν εἶναι) überhaupt gibt, und daß wir, indem wir diesen Sinn ursprünglich vor aller Belehrung durch andere oder ohne anderes ohne alle jene Hilfen (…) erfassen, damit in eine Gemeinschaft mit ihm eintreten, oder vielmehr gar nicht erst einzutreten brauchen, sondern uns von Haus aus darinstehend finden“ (Op. cit., p. 27). 134 Op. cit., p. 28.
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Welt‘ nennt135, in dieser Verstehensdimension also ist das erste immer nur das, was sich zeigt. In dieses Sich-Zeigende ist das Neugeborene noch ganz versunken, um aus dieser Versenkung erst allmählich zu sich zu kommen. Allerdings: aus dem Grundverhältnis, daß zunächst alles nur für uns ist, treten wir nie mehr heraus. Deshalb kann es ja irgendetwas für uns nur geben. Mit Quines Vokabular von Reizen kommt man an diese Verhältnisse nicht heran. Der Behaviorismus von Skinner und Quine operiert nicht in Sinnverhältnissen. Das ist zumindest für Quine schon deshalb merkwürdig, weil er gerne die Öffentlichkeit bemüht, aber nicht als szenische Verstehens-, sondern als Dressurgemeinschaft. Er hält zwar gleich zu Anfang fest, daß die „Konden sationskerne in unserem ursprünglichen Begriffsschema (…) nicht Blicke, sondern Erblicktes“136 sind. Aber dieses Erblickte bleibt bei ihm stumm bis auf seine Reizqualität. Es sagt uns nichts, sondern reizt uns nur wie ein Juckreiz. Hier ist Natorp deutlich im Vorteil. In der Arena des Für-uns-seins tritt alles vor uns hin und blickt uns als Erblicktes fragend an: Was bin ich für dich? Diesen Befund feiert Natorp geradezu hymnisch als seine späte Einsicht in das, was es heißt, daß überhaupt etwas ist. „Darin stecken alle Wunder, das Wunder aller Wunder, daß überhaupt etwas ‚ist‘. Was ist denn dieses ‚Es ist‘, was ist zuletzt sein Sinn?“ Quine würde antworten: Alles ‚es ist‘ ist eine Setzung. Bei Natorp hingegen lautet die Antwort: „Ist es nicht (…) ein Sich-aussprechen, ein gleichsam Vor-uns-hintreten und sagen ‚Da bin ich‘? Aber dann 135
Op. cit., p. 24. Wort und Gegenstand, op. cit., p. 17.
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muß man doch fragen: Was spricht da? Und was spricht es?“137 Natorp möchte so das Eigenrecht der Dinge artikulieren, Partner unseres Verstehens zu sein. Dieses Eigenrecht gründet in ihrem ‚Sich-präsentieren‘138. Sie zeigen sich als das, was sie sind. Sie sind „nicht bloß da, sondern für einen da“.139 Unser vernehmendes Existieren ist eben etwas grundsätzlich anderes als ein bloß physikalisches Existieren. Sein und Sinn fallen in unserer vernehmenden Existenz zusammen.140 Objekte, Sachen, Dinge, Ereignisse, alles, dem wir uns vernehmend zuwenden, dann auch sprachlich thematisieren ohne schon Genaueres zu wissen, wird auf diese Weise umgekehrt für uns zum Sprecher: „Spricht nicht alles?“ fragt sich Natorp.141
137
Paul Natorp, Philosophische Systematik, op. cit., p. 22. Op. cit., p. 23. 139 Ibid. 140 „Was auch immer sich mir darstellt, sei es außen oder innen, sei es Sache oder Vorgang, sei es Wahrnehmung, Phantasie, Gedanke, oder Gefühl, Willensantrieb oder was auch immer, sei es das Bedeutendste oder Bedeutungsloseste, das Gehaltreichste oder das ganz Nichtige, sei es das Auge Gottes oder der Blume, sei es das sichtbare Universum oder das verschwindende Stäubchen oder was man nur Höchstes oder Niederstes nennen mag, das stellt sich mir da, tritt für mich heraus (existit); woraus denn? Aus dem an sich (…) ganz unlöslichen Zusammenhang mit allem in dem schließlich einen, unzerstückten und unzerstörbaren All; um zu mir gleichsam zu sprechen, mir sich kundzugeben: Ich bin, ich bin da, und ich bin dir, ich bin für dich da.“ (Op. cit., p. 23) 141 Op. cit., p. 24. 138
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Er möchte mit diesen schon fast poetischen Wendungen aber keineswegs „in Romantik (…) landen, sondern in nüchterner, methodischer Erkenntnis“.142 Dennoch bleibt es unverkennbar, daß er hier eine neue Einsicht geradezu überschwänglich feiert. Als Kantianer hätte er bis dato kaum damit rechnen können, daß ihm die Welt einmal zum Gesprächspartner wird. Als ehemaliger Partner von Hermann Cohen schon gar nicht. Denn dieser hatte die Sinnlichkeit als Ganze verabschiedet und die mosaische Devise ausgegeben: „Wir fangen mit dem Denken an.“143 Der späte Natorp kritisiert diese rigide Position, die ihren methodischen Vorteilen gewaltige Phänomenbestände opfert. Deshalb ist Natorps neuer Held Aristoteles. Allenfalls der Kant der dritten Kritik kommt mit seinem Weltpassungsgedanken dem späten Natorp im Horizont seines neu konzipierten basalen Für-uns-seins entgegen. Der späte Kant gewinnt daher für den späten Natorp eine ungemein wichtige Bedeutung. Denn erst hier erreicht auch Kant ein tieferes Verständnis des Individuellen, zu dem uns noch die Worte fehlen, nach denen wir folglich ringen, indem wir nachdenkend verschiedene Möglichkeiten abwägen. Diese deliberative Attitüde ist ja das Geschäft einer reflektierenden Urteilskraft, sie ist es, die uns fragen läßt: Was ist das? „Diese Kantische ‚Reflexion‘ ist eigentlich das Besinnen, das Sich-zurückbesinnen darauf, daß letzten Endes das Wirkliche das Gegebe142
Ibid. Hermann Cohen, Logik der reinen Erkenntnis, Berlin 1922³, p. 12. Der Stenogramm-Stil von Hermann Cohen in seinem späten System hat etwas Alttestamentarisches. Er ist allerdings bis zur Penetranz prägend geworden für viele ‚Marburger‘ wie z.B. Albrecht Görland.
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ne, die Begriffsfassung (…) erst immer neu zu gewinnen ist.“144 Damit vollzieht der späte Kant nach Auffassung des späten Natorp jedenfalls so etwas wie eine Kehre, eine ‚Umkehrung der Wegrichtung‘: „[E]s muß statt der Außenwendung (…) eine Innenwendung eintreten.“145 Unsere aktive Weltstellung weicht damit aber nicht bloß einer passiven, sondern, da wir in jeder Zuwendung immer Mitgenommene sind, einer medialen im Sinne der griechischen Grammatik.
144
Natorp, op. cit., p. 124. Ibid.
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14. Medialität
Natorp ist der erste Denker im vorigen 20. Jahrhundert, der diese mediale Weltstellung des Menschen ausdrücklich gemacht hat. Sie ist nachvollziehbar in unseren ‚einvernehmlichen‘146 Begegnungen mit dem, was sich uns zeigt, konkret: „‚Es gibt sich‘ (si dà) in nicht bloß passivem, nicht bloß aktivem, sondern medialen Sinne. Weder die eine noch die andere Seite ist dabei untätig“.147 Natorp modelliert unseren Primärkontakt mit der Welt in dieser medialen façon und mit Rückgriff auf Platon geradezu als ein erotisches Verhältnis, vergleicht ihn selbst sogar dem Geschlechtsakt148. In dieser Beziehung ist der erste Weltkontakt ein monovalentes Ja, eine Bejahung ohne Alternative, Bejahung dessen, was sich zeigt als das, was ist: „Diese Un-verborgenheit (A-letheia), diese unmittelbare zweifelsfreie Wahrheit also des Seins besteht ohne Weiteres für den, der nur ihr aufgetan und unverschlossen ist.“149 Daß sich mit solchen Erwägungen deutliche Bezüge zu Heidegger geradezu aufdrängen, ist in der Forschung bereits ausgeführt worden.150 Natorp beweist hier jeden146
Op. cit., p. 371. Op. cit., p. 370. 148 Op. cit., p. 371. 149 Op. cit., p. 376. 150 Cf. Christoph von Wolzogen, Schöpferische Vernunft. Der 147
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falls eine erstaunliche Sensibilität für einen geradezu zärtlichen ersten Weltkontakt. Dieser verliert sich auch bei adulten Mitgliedern des homo sapiens nicht, wenn sie sich Reste einer kindlichen Weltoffenheit bewahren können und nicht völlig verpanzert eine egoide Weltstellung behaupten und verteidigen, die am Ende doch zusammenbricht. Genau genommen ist Natorps Sensibilität eine musikalische. Er fundiert unsere erste und einvernehmliche Weltstellung in harmonischen Strukturen, in Sinnstrukturen, die er ‚Figurationen‘ nennt.151 Modell für solche Figurationen sind bei ihm Rhythmus, Harmonie, Melos. Diese Formate sind in ihrer expressiven Bedeutung gar nicht auf die Musik beschränkt, sondern durchdringen das ganze Leben und machen es zu einer einzigen großen Symphonie.152 Hieraus erklärt sich im Reich der Infanten auch die Bedeutung von Liedern, die Mütter ihnen abends vorsingen, um sie in das Traumland des Schlafes zu begleiten. Man darf sich daher daran erinnern, daß die Welt überhaupt zuerst besungen wurde, bevor sie besprochen wurde. Reim geht Prosa vorher. Solche Spekulationen sind Quine nun völlig fremd, obwohl sie realitätshaltig sind. Abzüglich ihrer Unterschiede und Auslöseeffekte bleiben Reize für Quine völlig stumm. Sprechen bleibt für ihn bloß Sache der Dressur. Eine Phänomenologie des Geistes deklassiert sich so als Phänomenologie eines behavioristischen Zirkus. Philosoph Paul Natorp und das Ende des Neukantianismus, in: FAZ vom 17.3.1984. Ders., Die autonome Relation, Würzburg/Amsterdam 1984. 151 Cf. op. cit., p. 150. 152 Cf. op. cit., p. 379.
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Musikalisch gesehen sind solche Dressuren z.B. in der Einübung der Beherrschung eines Musikinstrumentes oder eines neuen Stückes gewiß unumgänglich, bleiben aber immer auch erlitten. Wer übt schon gerne immer wieder dieselbe schwierige Stelle? Dennoch ersetzt diese musikalische Dressur nicht das Hören auf Klänge, und darauf kommt es beim Zusammenspiel und seinen Abstimmungen als Orchestermusiker oder Dirigent natürlich an. Musikalische Temperamente sind in der Philosophie selten. Aber es gibt sie, nicht nur als Dilettanten der Instrumentalmusik, sondern sogar als solche der Komposition.153 Nietzsche hatte eine beachtliche musikalische Begabung, aber eben auch Paul Natorp und später Theodor W. Adorno. Alle drei Denker haben sich auch als Komponisten versucht: Nietzsche im Schatten von Richard Wagner, Paul Natorp im Schatten von Johannes Brahms und Adorno im Schatten von Alban Berg und Arnold Schönberg. Nietzsche wurde für seine Kompositionen von Hans von Bülow, dem Dirigenten Wagners, rüde abgestraft (Notzüchtigung Euterpes), Natorp etwas konzilianter, aber dennoch deutlich von Brahms. Adorno kam einigermaßen ungeschoren davon, abgesehen von dem fernen Donnergrollen Schönbergs. Warum ist das hier wichtig? Weil gerade die musikalische Sensibilität von Natorp für seine Fassung eines ersten, non-verbalen Weltkontaktes von konzeptueller Bedeutung war. Natorp stellt den homo sapiens in seinem spezifischen Sein in eine anonyme harmonia mundi ein. Das scheint auch heute noch wesentlich erfolg153
Cf. hierzu Jürgen Stolzenberg, Paul Natorp als Musiker, Musiktheoretiker und Komponist (Manuskript, Halle 2006).
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versprechender als das derzeitige Gekröse in Bildern eines Hirns als eines Computers sui generis. Denn auch die neuronalen Verschaltungen unseres Gehirns folgen in ihrem Design nicht der Architektur eines Rechners, sondern ähneln viel eher einer Architektur, wie wir sie aus der Harmonielehre der Musik kennen.154 Darüber belehrt uns die Asymmetrie der Leistungen: Der Rechner ist da sehr schnell, wo unser Gehirn sehr langsam ist und umgekehrt. Unser Gehirn ist da sehr schnell, wo es z.B. um das Erfassen informeller Informationsmilieus wie Stimmungen, Nuancen, Valeurs aller Art geht. Hier ist ein Rechner wegen der ungeheuren Komplexität der Algorithmen zur Erfassung solcher Qualitäten sehr langsam. Aber zur Erfassung diskreter Informationslagen im quantifizierbaren Sinne von 0 und 1 ist er uns an Schnelligkeit natürlich haushoch überlegen. Diese Asymmetrie setzt dem Vergleich von Computer und Hirn Grenzen: Ihre Architekturen differieren schon im Areal ihrer Stärken und Schwächen. Auch insofern können wir von Paul Natorps Intuitionen auch heute noch lernen. Sie leihen jedem Einspruch gegenüber einem prometheischen Wissensbegriff die zärtliche Kraft einer Hingabe an den Gegenstand der Erkenntnis, um uns durch ihn informieren zu lassen, indem wir uns, nicht wissend, worum es sich handelt, dafür öffnen, wie er sich uns zeigt. 154
Deshalb nennt schon Alexander G. Baumgarten die Seinslehre, d.h. die Ontologie ‚Musica philosophica‘. Cf. Gunter Scholtz, Artik. ‚Musik‘, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, ed. Joachim Ritter/Karlfried Gründer, Bd. 6, Basel 1984, p. 243 A.
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Auf solche Überlegungen war aber schon vor Paul Natorp ein Philosoph gestoßen, der heute leider weitgehend vergessen ist: Emil Lask (1875–1915). Er versteht zuletzt (1913/14)155 den Primärkontakt unserer Registraturen als kontemplativ, weil er sich in einer Zone ereignet, die unseren konstruktiven und begrifflichen Zugriffen vorhergeht. Da sich hier die Individualität in ihrer biographischen Besonderung nach Bildung, gesellschaftlicher Prägung und Biographie noch nicht einmischen kann, wurzeln wir hier in nichtsubjektiven Zonen. Man darf auch sagen: Geist ist schon an der Basis überindividuell. Lask bringt das in die skizzenhafte Formel: „Erkennen = schlichte Kontemplation“156. Wir sind, so der Tenor von Lask, an der Basis unseres Weltkontaktes von wem auch immer auf einen kontemplativen Realismus festgelegt. Hier wird jedes Ding in seiner noch ausgebliebenen ontologischen Fülle wie ein Messias erwartet. Es ist Lask leider nicht vergönnt gewesen, seine letzten Überlegungen über Notizen hinaus systematisch zu entfalten. Sie berühren sich aber, wie wir noch sehen werden, 155
Cf. die Konvolute aus dem Nachlass ‚Zum System der Philosophie‘ und ‚Zum System der Wissenschaften‘, die der Herausgeber der Gesammelten Schriften Eugen Herrigel im 3. Bd., Tübingen 1924, zugänglich gemacht hat (hier pp. 171 sqq. und pp. 237 sqq). Herrigel interpretiert diese Texte als späte Wende Lasks. Uwe B. Glatz konnte in seiner vorzüglichen Studie indes zeigen, daß davon keine Rede sein kann, daß mithin der ‚objektivistische‘ Zug Lasks in seinem gesamten Denken ungebrochen, wenngleich mit unterschiedlichen Akzenten, wirksam blieb. Cf. Uwe B. Glatz, Emil Lask, Würzburg 2001, pp. 196 sqq. 156 Emil Lask, Zum System der Wissenschaften, op. cit., p. 240.
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mit Überlegungen von Michael Polanyi, die er ein halbes Jahrhundert später vorgelegt hat. Zuvor möchte ich unsere Meditationen zur impliziten Architektur des Denkens aber konkreter fassen, und zwar auf dem Felde normativer Realitäten.
15. Der implizite Staatsbürger
Ausformulierte Normen leben immer in einiger Spannung zu den Fähigkeiten der Adressaten, ihnen zu folgen. Sie können sich überfordert oder unterfordert sehen. Deshalb muß ein Gesetzgeber darauf achten, daß seine Normierungen den Menschen, denen sie gelten, gerecht werden. Jede vernünftige Gesetzgebung muß anthropologisch justiert sein. Diese Justierung nimmt daher Maß an einem Menschenbild, das der Gesetzgebung substanziell vorhergeht. Was ist die Quelle solcher Menschenbilder? Woher das Wissen des Gesetzgebers, seine Normen anthropologisch justieren zu können? Normalerweise entnimmt der Gesetzgeber solche Kenntnisse der Tradition und zwar im Lichte seiner eigenen, neuen Einsichten. Er muß der Überzeugung sein, daß er dem impliziten Sprecher der Menschheit in sich mehr und durchaus Neues entlocken kann als die Tradition ihm als Menschenbild schon vorgegeben hat. Denn sonst wäre er überflüssig und es bedürfte keiner neuen Gesetzgebung. Aus dieser Quelle muß er schöpfen und tut es schon im Lichte neuer Erfahrungen. Das ist allerdings zugleich der Grund für die Geschichtlichkeit auch jedes neuen Gesetzgebers, der sich selber in seiner Zeit natürlich nicht überholen kann. Dennoch wird er bestrebt sein, die Geltung seiner Gesetzgebung
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Der implizite Staatsbürger
vom Staub der Geschichtlichkeit freizuhalten. Das kann er aber nur, wenn er in der Justierung seiner Normierungen auf ein nach seinem bestem Wissen und Gewissen unüberholbares Menschenbild setzt. Gesetzgebung ohne diese Unüberholbarkeitsoption macht eigentlich keinen rechten Sinn. Dennoch wird sie darauf keine Garantien ausstellen können. Zukünftige Erfahrungen können nicht antizipiert werden. Die Endlichkeit des Menschen begünstigt bei aller Weitsicht auch die Demut des Gesetzgebers vor seiner eigenen Faktizität. Dennoch muß die Grundbegrifflichkeit des Rechts eigens vor dieser Endlichkeit und Faktizität des Gesetzgebers gesichert werden. Dazu dienen vorläufige Verabredungen wie folgende. Recht ist die Form, in der menschliche Handlungen sanktionsbewehrt vernünftig reguliert werden. Vernünftig heißt hier bloß: allgemeinheitsfähig. Durch das Recht dokumentiert sich die Vernunft des Menschen in der Sphäre des Handelns. Die Vernunft des Menschen ist keine erwerbbare Fertigkeit, sondern seine mitgegebene, natürliche Verfassung, die allerdings bildungsfähig ist. Sie wird sich daher in dem, was er denkt und tut manifestieren müssen. Das geschieht, wenn Menschen als Stellvertreter ihrer selbst handeln können.157 Um das zu können, müssen sie von sich abstrahieren können. 157
Diese Rollenfähigkeit der Individuen wird meistens übersehen. Wir sind geborene Schauspieler. Darin besteht unsere szenische Existenz. Deshalb gibt es keine „Urrechte des Menschen. Wirklich hat er nur in der Gemeinschaft mit Anderen Rechte, wie er denn (…) nur in Gemeinschaft mit Anderen gedacht werden kann“ (Johann Gottlieb Fichte, Grundlage des Naturrechts, (Jena und Leipzig 1796), in: Werke, ed. Immanuel Hermann Fichte, Bd. 3, Berlin 1971, p. 112).
Der implizite Staatsbürger
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Das können sie aber schon, wenn sie überhaupt etwas willentlich können. Schon dann, wenn „ich Ich sage, so lasse ich darin jede Besonderheit fallen, den Charakter, das Naturell, die Kenntnisse, das Alter“.158 Die Vernunft des Menschen gründet daher in seiner Abstraktionsfähigkeit, sie macht schon die universelle Vernunftnatur des Menschen aus. Sie ist die Quelle seiner Allgemeinheitsfähigkeit in allem, was er denkt und tut. Und gerade aus dieser Quelle speist sich die Würde des Menschen. Diese zu realisieren kostet allerdings einige Mühe, da die Verhältnisse meistens hinderlich sind und sehr spezielle Anstrengungen erfordern, den Schauspieler in uns zu erhalten. Das gilt leider auch für so basale Rechte wie die Menschenrechte. Sie repräsentieren zwar die normative Allgemeinheitsfähigkeit des Menschen, aber die Unbedingtheit ihrer Geltung reibt sich an der kulturellen Situiertheit des Menschen in Verhältnissen, die ihm allemal zuvorgekommen sind: „Sie können ihren Geltungsanspruch nur einlösen, wenn sie in Form und Inhalt der Lebenswelt, auf die sie rechtlich einwirken wollen, kompatibel sind“.159 Diese Kompatibilitätsforderung ist gewiß prekär. Das Recht darf den Realitäten nicht hinterherlaufen, aber die Realitäten müssen sich dem Recht auch da beugen, wo es schmerzt,160 aber nicht mehr da, wo der Sinn der 158
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke, eds. Moldenhauer/Michel, Bd. 7, Frankfurt/M. 1970, p. 47. 159 Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: Josef Isensee/ Paul Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IX, Heidelberg 2011³, § 190, p. 267. 160 Cf. hierzu Günther Jacobs, Norm, Person, Gesellschaft. Vor-
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Der implizite Staatsbürger
Realität im Recht karikiert erscheint. Das alles ist dem Gesetzgeber natürlich auch bewußt. Deshalb baut er in den Rechtstext in Erinnerung an seine Voraussetzung den projektiven Adressaten mit ein. Das gilt auch für die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland. Auch sie ‚lebt‘ aus historischen Voraussetzungen ebenso wie aus ihren Erwartungen an den projektierten impliziten Staatsbürger als Adressaten dieser Verfassung.
überlegungen zu einer Rechtsphilosophie, 3. Aufl., Berlin 2008, pp. 113 sqq.
16. Die Idee von Isensee
Aus dieser Außen- und Innenperspektive führt der Staatsrechtler Josef Isensee in zentrale Teile der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland ein. Dieser geniale Griff auf das Ganze bleibt sich der Voraussetzungen des Grundgesetzes ebenso bewußt wie dem projektierten Profil des Adressaten. Seine grundlegende Idee ist diese: Selbst wenn aus den Verfassungsvoraussetzungen und den Verfassungserwartungen her161 der historische Index von Rechtsverhältnissen nicht getilgt werden kann, besagt das noch nicht, daß diese vor einem Rechtsrelativismus in die Knie gehen müßten. Index eines überpositiven, natürlichen Charakters von Gesetzen wäre sicher ihre anthropologische Invarianz. Hier darf man allerdings nicht mit einer Konstanz rechnen, die uns von natürlichen Ereignissen, von Seinsverhältnissen her vertraut ist. Menschliche Verhältnisse sind als Sinnverhältnisse ja wesentlich plastisch. Mit Blick auf diese kann man sich daher nicht an konstanten Naturverhältnissen orientieren und sich, wie schon Aristoteles 161
Das Begriffspaar Verfassungsvoraussetzung und Verfassungserwartung geht auf Herbert Krüger zurück, auf den Isensee auch verweist (op. cit., p. 386 et passim). Cf. Herbert Krüger, Verfassungsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: Festschrift für Ulrich Scheuner, eds. Horst Ehmke et al., Berlin 1973, pp. 285 sqq.
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Die Idee von Isensee
ironisch bemerkt, darauf berufen, daß „bei uns das Feuer genauso wie bei den Persern [brennt]“.162 In Absetzung davon und wenn man auf die historische Existenz des Menschen schaut, wandeln sich also die Konzepte. Hier muß eine invariante Figur veränderungsoffen, aber dennoch als persistent begriffen werden. Genau das ist für Freunde des Naturrechts und Freunde der Rechtssoziologie der springende Punkt. Aristoteles sieht das genauso, aber er möchte beide Seiten pazifizieren: „[B]ei uns aber gibt es wohl auch manches, was von Natur gilt, aber das alles ist der Veränderung unterworfen – und dennoch besteht die Scheidung: ‚von Natur‘ – ‚nicht von Natur‘.“163 Im Kommentar zu dieser Stelle der Nikomachischen Ethik bietet Franz Dirlmeier eine aufschlußreiche und das Verständnis erleichternde Parallelstelle aus der großen Ethik des Aristoteles (Magna Moralia): „Es ist nicht so, daß es deshalb, weil die Rechtsformen durch unseren Gebrauch eine Änderung erfahren, kein Naturrecht gibt, sondern es gibt ein solches. Denn das, was aufs Ganze gesehen bleibt, das ist offenbar Naturrecht.“164 Aufs Ganze gesehen gibt es mithin sich durchhaltende, elementare Invarianzen, selbst wenn diese in ihrer Persistenz nicht sakrosankt sind. Sie lassen sich aber dennoch begrifflich im Kontrast zu konventionell gesatztem Recht mit Gewinn profilieren. 162
Aristoteles, Nikomachische Ethik, V, 10 (1134b), Werke Bd. 6, übers. und kommentiert von Franz Dirlmeier, Berlin 1983, p. 111. Auf diese Stelle verweist auch Isensee (op. cit., p. 267). 163 Aristoteles, Nikomachische Ethik, ibid. (ed. Dirlmeier, op. cit., ibid.). 164 Franz Dirlmeier, op. cit., p. 421.
Die Idee von Isensee
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Deshalb bedeutete es natürlich einen scharfen Schnitt, als mit der amerikanischen und französischen Revolution die seit alters gültige Formel ‚Legitimation aus Tradition‘ außer Kurs gesetzt wurde, so daß seither nur noch gilt, was aus sich gerechtfertigt werden kann. Das war zunächst das ebenso ‚natürliche‘ Vernunftrecht, dessen Quellgrund die Autonomie der Rechtssubjekte war. Diese Autonomie gründet ja darin, daß unsere egologische Struktur in der überpositiven Matrix einer anonymen Selbstverpflichtung besteht. Es gibt keine Fremdverpflichtung, die nicht schon in mir begänne. Der erste Fremde bin ich mir selbst. Erst wenn ich die Bestie in mir domestiziert habe, kann ich in einen autonomen Status eintreten, nicht als Soldat meiner selbst, sondern im Dreiklang von Denken, Fühlen, Wollen. Aber mit diesem Schritt in die Selbstverpflichtung träte ich zugleich zu anderen Fremden (der erste von ihnen bin ich), die dieser Selbstverpflichtung auch fähig sind, in ein konsonantes Verhältnis ein: eben als zu autonomen Subjekten wie mich. Deshalb gilt mit Günther Jakobs: „Gesellschaft ist praktizierte personale Kommunikation.“165 Und zu dem Fremden, das dieser Selbstverpflichtung nicht fähig ist, trete ich in ein Verhältnis zu Objekten ein. Damit ist im Prinzip das Problem des Ursprungs der rechtlichen Bindungskräfte gelöst: sie speisen sich aus autonomen Selbstverhältnissen vom Typ Selbstverpflichtung. Hier ist auch ein Herkunftsort der Würde des Menschen. Der Mensch hat als Vernunftwesen gar keine Wahl, er muß sich als dieses Wesen realisieren. Selbst wenn er sich dagegen entschiede, hätte er sich per tu quoque den165
Günther Jakobs, op. cit., p. 52.
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noch dafür entschieden, weil er sich überhaupt entschieden hat, denn das können nur vernünftige Wesen. Die Würde des Menschen gehört mithin schon zu den Grundrechtsvoraussetzungen und prägt ebenso die Grundrechtserwartungen: Für Kakadu und Pinguin ist eine Verfassung nicht beschlossen, selbst wenn ihre Schutzwürdigkeit ein Teil von ihr sein könnte.
17. Begrenzte Garantien
Die Wirksamkeit überpositiver Grundrechtsvoraussetzungen wird nur selten bestritten. Dennoch muß man im Auge behalten, daß Verfassungsvoraussetzungen natürlich einen anderen Status haben als eine positiv gesetzte Verfassung: „Die Qualität einer Verfassungsvoraussetzung ist eine Erkenntnis, keine Norm, vollends keine Verfassungsnorm, obwohl sie sich auf eine Verfassungsnorm bezieht.“166 Die gleichwohl bestehende Wirksamkeit von Verfassungsvoraussetzungen erkennt man vor allem da, wo das positive Recht solche überpositiven Verbindlichkeiten in sich aufnimmt. Deshalb, so Isensee, verliert eine Verfassung als positiver Gesetzeskorpus nicht schon in allen Teilen ihre überpositive Geltung: „Soweit das positive Recht nur überpositive Vorgaben nachzeichnet und keine eigenständigen Regelungen treffen will, hat die Auslegung sich an die Vorgaben zu halten.“167 Daran liegt es auch, daß man mit Ernst-Wolfgang Böckenförde sagen kann: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“168
166
Josef Isensee, op. cit., p. 302. Josef Isensee, op. cit., p. 275. 168 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt/M. 1976, p. 60. 167
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Begrenzte Garantien
Diese fundamentale Voraussetzungshaftigkeit von Staat und Verfassung wirkt sich natürlich auch auf die Adressaten aus, die sich zu dieser Verfassung bekennen. Insofern kann man auch sagen: Der Staat bzw. seine Verfassung lebt von Erwartungen an seine Adressaten, die Staat bzw. Verfassung nicht erzwingen bzw. garantieren können. Diese Perspektive der Verfassungserwartung, von Josef Isensee mit Blick auf das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland meisterhaft zur Geltung gebracht, ist außerordentlich fruchtbar. Sie macht uns dafür sensibel, daß die Bereitschaft zur Grundrechtsausübung, wie sie insgesamt die Verfassungswirklichkeit profiliert, zu wünschen übrig lassen kann, genau dann nämlich, wenn die Grundrechtsausübung nicht gemeindienlich ausgerichtet ist. Die Bürger eines Staates müssen im Sinne des bonum commune einfach mitspielen, sonst verliert auch die beste Verfassung ihre realitätsstiftende Kraft für den Rechtsstaat. Die Verfassungserwartungen sind im Verfassungstext selten explizit ausformuliert. Eine Ausnahme macht die in Art. 14, Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) festgehaltene ‚Sozialpflichtigkeit des Eigentums‘.169 Die meisten sonstigen Verfassungserwartungen gehören zur ungeschriebenen Lehre des Grundgesetzes. Eine solche Lehre ist unvermeidlich, weil es unmöglich ist, elementare Normen im Hinblick auf das in ihnen verwendete Vokabular projektiv, d.h. in die Lebenswelt hinein abbildend auszubuchstabieren. Die Komplexität der Lebenswirklichkeit läßt sich semantisch nicht einfangen. Auch für Josef Isensee 169
Cf. dazu Josef Isensee, op. cit., pp. 360 sqq.
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ist es daher „unmöglich, einen Kodex der Verfassungserwartungen zu formulieren“.170 Die Verfassungswirklichkeit bedarf ganz einfach einer nicht projektierbaren „stetigen Energiezufuhr durch politische Aktivitäten der Bürger“.171 Dennoch gibt er schöne Beispiele, die den impliziten Staatbürger aus dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland hervortreten lassen. Die grundgesetzlich verbürgten Freiheitsspielräume sind z.B. von der Erwartung getragen, daß sie auch realisiert werden: „Die Berufsfreiheit liefe leer, wenn das Gros der Arbeitsfähigen die Oblomowerei als Daseinsform wählte oder sich zum Aussteigen aus der Leistungsgesellschaft entschiede.“172 Auch erwartet das Grundgesetz zwar die politische Aktivität seiner Bürger, erwartet aber auch, „daß sich nicht jedermann jederzeit ‚politisch‘ betätigt“, sondern in zeitlicher Dosierung ohne Vernachlässigung seiner Berufspflichten, d.h. ‚gemeinwohlverträglich‘.173 Es bedarf keiner Frage, daß sich die ungeschriebene Lehre einer Verfassung an der Lebenswirklichkeit überprüfen lassen muß. Wenn es z.B. Institutionen wie die Ehe in der Realität nicht mehr gäbe, würden auch die grundgesetzlichen Schutzartikel derselben wesenlos. Der Gesetzgeber geht jedenfalls davon aus, daß diese Institu170
Josef Isensee, op. cit., p. 392. Josef Isensee, op. cit., p. 393. 172 Josef Isensee, op. cit., p. 392. Cf. schon p. 372/3: „Die grundrechtliche Garantie eines menschenwürdigen Existenzminimums setzt eine echte Notlage voraus; sie lädt nicht ein zum Nichtstun und sie will nicht den sozialstaatlichen Oblomow züchten.“ 173 Josef Isensee, op. cit., p. 393/94. 171
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tion stabil ist, und daß er daher über sie die Adressaten Eltern und Kinder erreicht, um sie im Interesse des Staates als unentbehrliche Reproduktionszellen eingriffsfern unter staatlichen Schutz stellen zu können: „Verfassungserwartungen richten sich sowohl an die Eltern, denen das Recht und die Pflicht zur Pflege und Erziehung zusteht, als auch an die Kinder, die, ihrerseits grundrechtsfähig, wenn auch noch nichts grundrechtsmündig, zur Grundrechtsmündigkeit zu erziehen sind.“174 Ähnliche Verfassungserwartungen unterlegen die Grundrechte zur Freiheit der Person, der Pressefreiheit und der Meinungsfreiheit: Auch sie terminieren, wie alle Grundrechte, in der „nicht rechtlich erzwingbare[n] Annahme, daß die Grundrechtsträger ihre Befugnisse gemeindienlich ausüben“.175 Solche Verfassungserwartungen formuliert auch Jürgen Habermas in seinen Überlegungen zu einem künftigen europäischen Staat mit dem Ziel eines fernen Weltstaates. Einer funktionierenden Verfassung der europäischen Union korrespondiert zwangsläufig „die Erwartung, daß sich aus dem wachsenden gegenwärtigen Vertrauen der europäischen Völker zwischen den Unionsbürgern eine transnational ausgedehnte, wenn auch abgeschwächte Form der Bürgersolidarität entwickelt“.176 Für die Verfassung eines von Habermas im Anschluß an Kants Ideen gleichwohl für notwendig erachteten
174
Josef Isensee, op. cit., p. 365. Josef Isensee, op. cit., p. 358. 176 Jürgen Habermas, Die Krise der Europäischen Union im Lichte einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts, in: ders., Zur Verfassung Europas, Berlin 2011, p. 62. 175
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Weltstaates solche impliziten Erwartungen auszuformulieren, getraut er sich nicht so ohne weiteres. Denn die Erwartungen an eine global ‚verflüssigte Bürgersolidarität‘ im kosmopolitischen Sinne einer ‚emergierenden Weltöffentlichkeit‘ dürfen sicher nicht zu hochgeschraubt werden: „eine Verbindung der Weltbürger über Kommunikationskreisläufe der Weltöffentlichkeit [sind] nicht mehr in den Kontext einer gemeinsamen politischen Kultur eingebettet“.177 Solche historischen Großraumvisionen sind im Prinzip nichts Neues, es gab sie bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.178 Bei Habermas erhalten sie allerdings den aktuellen Akzent einer Abwehrmobilisierung des Politischen gegen die längst globalisierten Finanzmärkte mit ihren politisch nicht mehr eingehegten Praktiken und Kollateralschäden zuungunsten der Bürger. In impliziten Verfassungserwartungen werden mithin Menschen projektiv explizit, nicht wie sie sind, sondern wie sie dem ‚common sense‘ eines freiheitlichen Gemeinwesens nach sein sollen.179 In ihnen dokumentiert sich ein ‚metarechtliches Leitbild‘ einer ‚guten Aktualisierung‘ der Grundrechte.180 Der implizite Staatsbürger wird in dieser façon d’être öffentlich, aber immer nur so weit, wie Menschen sich bis dato als mündige Bürger verstehen können. Deshalb tragen diese als öffentliche Menschen bleibend das Fehlbarkeitszeichen des Historischen auf der Stirne. Und zwar a parte dei als Schutz- und Erkennungszeichen zugleich. Er 177
Jürgen Habermas, op. cit., p. 62. Cf. dazu unten caput 25. 179 Cf. Josef Isensee, op. cit., p. 360. 180 Cf. Josef Isensee, op. cit., p. 374. 178
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kann es in seiner immer nur bis dato erreichten Selbstauslegung nicht besser wissen, aber an diesem Wissen muß er sich gleichwohl messen lassen. Menschen bleiben eine nur vorläufige, daher fallible Interpretation ihrer selbst. Deshalb brauchen sie schon aus Gründen der Selbstkomplettierung Formate des Göttlichen.
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Wenn es zutrifft, was der Autor von The Tacit Dimension (1966), also Michael Polanyi, im ersten Kapitel berichtet, daß er nämlich 1935 in Moskau gesprächsweise mit Nikolai Michailowitsch Bucharin auf seine Frage nach dem Schicksal einer freien Wissenschaft in der Sowjetunion die Antwort erhielt: „reine Wissenschaft sei ein morbides Symptom einer Klassengesellschaft; im Sozialismus werde die Idee einer um ihrer selbst willen betriebenen Wissenschaft verschwinden“181, dann konnte er weder ahnen, daß Bucharin drei Jahre später, also 1938, auf Befehl Stalins erschossen wurde,182 noch daß Bucharins Prognose heute, also über fünfzig Jahre nach Erscheinen des Buches von Polanyi in New York, auch für die gesamte westliche Welt gilt. Wie selbstverständlich gilt derzeit, daß ‚reine Wissenschaft‘ ein ‚morbides System‘ ist, das den ökonomischen Erfordernissen einer modernen Gesellschaft nicht mehr genügt und daher zugunsten einer ‚kollektiven Verbundforschung‘ aufzugeben sei, die sich zwar nicht wie seinerzeit an ‚Fünfjahresplänen‘, aber an 181
Michael Polanyi, Implizites Wissen, Frankfurt/M. 1985, p. 13. 182 Die Tragödie bestand genauer darin, daß Bucharin gezwungen wurde, gegen sich selbst falsch auszusagen. „Denn die Wahrheit zu sagen hätte bedeutet, die Revolution zu verurteilen, und das wäre undenkbar gewesen.“ (Polanyi, op. cit., p. 57)
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den limitierten Laufzeiten einer ‚staatlich alimentierten Projektforschung‘ zu orientieren hat. Weder das Buch von Polanyi noch das vorliegende Buch dürften hiernach geschrieben bzw. gelesen werden. Was Polanyi seinerzeit in seinem Text erstmalig und alleine, also nicht im Kollektiv, herausgestellt hat, ist das, was man die epistemische Verfassung des impliziten Menschen nennen kann. Seine Grundlage ist zunächst eine realistische Bedeutungstheorie, die er an physiognomischen Deutungen erläutert. Die einzelnen Züge eines Gesichtes erhalten erst in unserem Vorgriff auf den Gesamteindruck ihre Bedeutung als Detail. Die einzelnen Züge sprechen für die Freude oder Trauer des Antlitzes und dies für die Freude oder Trauer der Person als ganze vor uns. „Wir richten unsere Aufmerksamkeit von den einzelnen Merkmalen auf das Gesicht und sind darum außerstande, diese Merkmale im einzelnen anzugeben.“183 Bedeutung erhalten die einzelnen Gesichtszüge also erst aus dem Gesamteindruck des Antlitzes bzw. der Person. Erst dieses Zielwissen verleiht den Spuren und Zügen ihre valeurs, so daß sie für uns als Wege zum Ziel zurücktreten und implizit bleiben. Unsere Aufmerksamkeit verschiebt sich stets von den einzelnen Merkmalen auf den Gesamteindruck. So kann Polanyi den impliziten Status unserer Wissensbemühungen dahingehend definieren, „daß wir bei einem Akt impliziten Wissens unsere Aufmerksamkeit von etwas auf etwas anderes verschieben“.184 Das gilt auch für den Gebrauch von Werkzeugen: „Wir richten unsere Aufmerksamkeit von (…) elementaren Be183
Michael Polanyi, op. cit., p. 19. Ibid.
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wegungen auf die Durchführung ihres vereinten Zwecks und sind daher gewöhnlich unfähig, diese elementaren Akte im einzelnen anzugeben.“185 Dies nennt Polanyi die funktionale Struktur des impliziten Wissens, die er, ohne daß sich das Grundmuster ändert, um eine phänomenale und eine semantische Struktur ergänzt. Sie werden von ihm abschließend in einer ontologischen Struktur vereinigt, die das Grundmuster hervortreten läßt: Einzelheiten erhalten Bedeutung im oszillierenden Blick auf das Ganze, von dem her sie als ihre ‚Gesamtbedeutung‘ überhaupt erst Bedeutungsträger werden. Allerdings fallen im Lichte der Gesamtbedeutung die bemerkten Einzelbedeutungen in einen impliziten Status zurück. Das Ganze verleiht dem Einzelnen zwar für sich erst Bedeutung, aber das Einzelne entzieht sich zunehmend unserer artikulierbaren Registratur, weil unser Erkenntnisinteresse stets an das Ganze gebunden bleibt. In dieser Bewegung schläft tiefe Weisheit. Man möchte es die Weisheit der Abkürzung nennen, die auf der Basis dieser Beobachtung Polanyis einem Empirismus des Details direkt entgegensteht. Denn aus diesen elementaren Befunden läßt sich lernen, daß „ungetrübte Klarheit unser Verstehen komplexer Sachverhalte zunichtemachen kann“.186 Dafür bringt Polanyi u.a. das bekannte Beispiel: „Konzentriert sich ein Pianist ganz auf seine Finger, so kann es geschehen, daß deren Beweglichkeit dadurch vorübergehend gelähmt wird.“187 Wenn man das verallgemeinert, ergibt sich zwingend: „Detailfetischismus kann einen 185
Ibid. Michael Polanyi, op. cit., p. 25. 187 Ibid. 186
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historischen, literarischen oder philosophischen Gegenstand unwiderruflich verfinstern.“188 Aber selbst wenn das in der Tat so ist, werden die Details als Bestandteile eines impliziten Wissens natürlich nicht wertlos. Ganz im Gegenteil. Ohne Training keine Glanzleistung, ohne implizite Wissensbestände gäbe es auch keine explizite Theorie. Insofern geht es hier auch um die Unentbehrlichkeit des impliziten Wissens. Wenn wir es liquidieren wollten, da es regelmäßig bloß zum heuristischen Vorlauf eines Zielwissens gehört, würden wir unseren Kontakt zu letzterem verlieren: „[S]o würde das Ideal der Beseitigung aller persönlichen Elemente des Wissens de facto auf die Zerstörung allen Wissens hinauslaufen. Das Ideal exakter Wissenschaft erwiese sich dann als grundsätzlich in die Irre führend und möglicherweise als Ursprung verheerender Trugschlüsse.“189 Polanyi tritt auf diese Weise der These vom Tod des Subjekts in den Wissenschaften entgegen, der These, daß es gerade das Ziel der Wissenschaft und ihrer Objektivitätsansprüche sei, den Forscher als Person zurücktreten zu lassen bzw. eliminieren zu können. Gewiß ist es für den Geltungsanspruch von Wissen im objektiven Sinn unvermeidlich, daß für ihre Absicherung keine personalen Gründe, Gründe also, die in der Persönlichkeit der Forscher verankert sind, ausschlaggebend sein dürfen. Dennoch verschwindet der Forscher nicht. Das Risiko, eine Hypothese trotz aller Widerstände weiter zu verfolgen und zum Erfolg zu führen, macht den Forscher als Person und als Individuum bleibend unentbehrlich. Aus diesem 188
Michael Polanyi, op. cit., p. 26. Michael Polanyi, op. cit., p. 27.
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korrekten Befund ergibt sich für Polanyi zwingend der Niedergang des Positivismus,190 der die an Forschungsprozessen beteiligten Individuen ‚kleinschreiben‘ wollte. Das scheitert Polanyi zufolge schon daran, daß nicht jeder „die Ahnung eines Zusammenhanges bislang unbegriffener Einzelheiten“191 haben kann. Aber gerade solche irreduzibel individuellen ‚Vorahnungen‘192 sind die unentbehrlichen Voraussetzungen für erfolgreiche Forschungen. Daß seine Einsicht in die Rolle impliziten Wissens an Ergebnisse der Gestaltpsychologie, ja vordem noch an Befunde von Wilhelm Dilthey und Hans Lipps anknüpfen, bestreitet Polanyi nicht und verweist auf diese Quellen.193 Dennoch hat er das bedeutende Verdienst, über diese Vorläufer hinaus einen Punkt namhaft gemacht zu haben, der in der Tat merkwürdig ist und zu weiterer Überlegung einlädt. Dies ist die Beobachtung, daß sich die Bedeutung, die unsere Hand in der Führung eines Stabes, mit dessen Hilfe wir den Weg ertasten, als sensorischer Widerstand erfährt, durch Aufmerksamkeitsverschiebung auf die Spitze des Stabes verlagert, mit dessen Hilfe sich unsere tastende Wegfindung realisiert: „Alle Bedeutung tendiert dazu, sich von uns zu entfernen“.194 Damit vergrößert sich der Bereich des impliziten Wissens, bis ein Äußerstes erreicht ist, das noch über irgendeinen noch so vermittelten Hautkontakt an uns angeschlossen ist. Reißt dieser Kontakt ab, kollabiert ebenso das implizite wie vermutlich 190
Cf. Michael Polanyi, op. cit., p. 31. Michael Polanyi, op. cit., p. 28. 192 Cf. Michael Polanyi, op. cit., p. 31, p. 33 et passim. 193 Cf. Michael Polanyi, op. cit., p. 24. 194 Michael Polanyi, op. cit., p. 21. 191
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auch das explizite Wissen. Solche Spekulationen bietet Polanyi allerdings nicht mehr. Auch da, wo er das explizite Wissen, das den Einzelmerkmalen, die zu ihm führen, erst Bedeutung verleiht, in seiner Vorläufigkeit in den Blick nimmt, lädt er zu weiteren Überlegungen ein. Denn auch das explizit Gewußte, beispielhalber das wahrgenommene Ding, enthüllt sich dadurch, daß wir nicht alles über es wissen, daß es mithin und in der Regel epistemisch nicht erschöpft ist, als implizites Ding. Dieser Einschätzung nähert sich auch Polanyi, wenn er bekennt: die „Fähigkeit eines Dings, sich künftig in neuer, ungeahnter Bedeutung zu zeigen, schreibe ich der Tatsache zu, daß das beobachtbare Ding Aspekt einer Realität ist, deren Bedeutung sich noch nicht erschöpft hat, wenn wir eine einzelne Seite von ihr erfaßt haben“.195 Tatsächlich läßt sich Polanyi von hier aus zur Kennzeichnung der vollen ontologischen Bedeutung des impliziten Wissens verlocken, die er dahingehend bündelt, daß in allen Fällen impliziten Wissens „eine Entsprechung besteht zwischen der Struktur des Verstehens und der Struktur des Verstandenen“.196 Mit diesem ‚Kurzschluß‘ erreichen wir über das implizite Wissen eine implizite Realität, die in Prozesse des Werdens hineinragt und daher unabsehbar ist. Das implizite Wissen ist so zugleich eine implizite Welt, die uns ihre Geheimnisse noch vorenthält. Denkwürdig ist, daß Michael Polanyi mit dieser Einsicht an Ideen des späten Emil Lask erinnert, die dieser sich, wie wir ausgeführt hatten, aber gerade aus einer wissensfreien Begegnung mit der Welt in seinem kontempla195
Michael Polanyi, op. cit., p. 36. Michael Polanyi, op. cit., p. 37.
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tiven Empirismus abgerungen hatte. Man weiß bislang nicht, warum es zu solchen unterschwelligen Korrespondenzen von Denkbemühungen kommen kann. Vielleicht hilft uns das Konzept des impliziten Wissens weiter, wenn wir es zugleich mit einer impliziten Realität in der Figur eines impliziten Menschen bündeln. Aber das wäre nur ein letztes Wort, nicht aus stolzer Überfülle, sondern aus Erschöpfung angesichts dieser.
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Wenn man die erkenntnistheoretische Situation der Philosophie am Anfang des 21. Jahrhunderts aus der Erfahrung des vergangenen Jahrhunderts bündig kennzeichnen will, wird man an der Konfession nicht vorbeikommen, daß die Architektur des Wissens keinem hierarchischen Design mehr folgen kann.197 Wir stehen, wenn man sich nichts vormacht, vor einem Wechsel der Bildlichkeit, an der wir uns orientieren: die Pyramide weicht dem Kontrolleur der Arbeiten vor Ort. Noch bis tief ins 20. Jahrhundert war die Orientierung an der Pyramide wie selbstverständlich Leitbild eines axiomatischen Gesamtaufbaus z.B. der Mathematik. Dieses Pathos scheint heute vollständig verschwunden zu sein. Selbst die Frage, ob es ein verläßliches Fundament der Mathematik gibt, seien es geometrische Verhältnisse, Zahlen, Mengen, Strukturen oder normierte schematische Operationen: diese Frage erscheint selber als suspendiert. Ein überaus vorsichtiger Philosoph der Mathematik wie Christian Thiel empfiehlt, die Orientierung an der Pyramide fallen zu lassen, d.h. die Suche nach mathematischen Gegenständen, die als Fundamente für einen gesicherten 197
Eine solche Drehung der Sichtweise vom Baum zur Koralle hat Horst Bredekamp schon für Charles Darwin bezeugt (Horst Bredekamp, Darwins Korallen. Frühe Evolutionsmodelle und die Tradition der Naturgeschichte, Berlin 2005).
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Aufbau dienen könnten. Die Idee einer solchen Basis im Sinne ‚einer regionalen Ontologie‘ à la Husserl solle man besser aufgeben „und stattdessen eine ‚Fundamentaldisziplin‘ ins Auge [fassen], die als fundamentaler Kanon für den Umgang ‚mit allem und jedem‘ in der Mathematik gerade die Aufgabe erfüllt, die einer Fundamentaldisziplin (…) zugedacht war“.198 Ein solcher Kanon besteht natürlich immer schon implizit in der ausdifferenzierten Arbeitsgemeinschaft aller Mathematiker. Sie wissen, wie man in ihrem Gebiet mit den mathematischen Gebilden umzugehen hat. Was Thiel wohl vorschwebt, ist natürlich mehr. Diese Umgangsweisen bedürften einer Auflistung und Normierung, so daß man nicht nur einen Kanon, sondern ein universelles Organon mathematischer Problemlösungsmethoden gewänne. Die Frage ist allerdings, ob man mit dieser Vorgehensweise die Probleme nicht nur in die Zone des impliziten Wissens der Mathematik zurückverschiebt. Polanyi jedenfalls steht einem solchen Vorhaben skeptisch gegenüber. Er ist davon überzeugt, „daß der Prozeß der Formalisierung allen Wissens im Sinne einer Ausschließung jeglicher Elemente impliziten Wissens sich selbst zerstört“.199 Wenn das zutrifft, gilt das auch für die Mathematik. Die grandiosen Versuche, alles implizite Wissen der Mathematik axiomatisch explizit zu machen, müssten dann an einer erkenntnistheoretischen Schranke scheitern. Für die Idee einer mathematisierten Theorie der Philosophie als Sachwalterin unserer Erfahrungsmöglichkei198
Christian Thiel, Philosophie und Mathematik, Darmstadt 1995, p. 314. 199 Michael Polanyi, op. cit., p. 27.
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ten hat Polanyi diesen Vorbehalt auch unmißverständlich zum Ausdruck gebracht. Seiner Ansicht nach „erweist sich das Ideal einer umfassenden mathematischen Theorie der Erfahrung, in der alles implizite Wissen verschwände, als selbstwidersprüchlich und logisch anfechtbar“.200 Was das für die alte Systemidee der Philosophie besagt, kann man sich ausmalen. Aber auch die rezenten Versuche, die Philosophie ‚analytisch‘ aufzuhübschen, sollten sich der manchmal zerstörerischen Dialektik von implizit und explizit bewußt bleiben. Formale Gewinne gehen allzu häufig auf Kosten der Inhalte. Aber angesichts dieser Tatsache wäre Larmoyanz das letzte, was die Philosophie braucht. Was sie braucht, sind Denker, die etwas sehen und nicht bloß sagen, was andere sagen. Die heute vielgerühmte und praktizierte ‚Feinkörnigkeit‘ philosophischen Argumentierens ist häufig bloß ein deutlicher Index dafür, daß dem Autor nichts einfällt. Wer nichts sieht, dem bleibt nichts anderes übrig, als bekannte Differenzierungen zu multiplizieren. Der spezialisierte Experte wird zum phänomenalen Dilettanten. Leider führt genau das, wie Harry G. Frankfurt es an anderen Beispielen so amüsant beschrieben hat, auch nur zu Bullshit.201
200
Michael Polanyi, op. cit., p. 28. Cf. Harry G. Frankfurt, On Bullshit, Princeton 2005; dt., Bullshit, trad. Michael Bischoff, Frankfurt/M. 2006.
201
20. Klingende Bedeutungen
Es gehört zu den Merkwürdigkeiten unserer Zeit, daß eine Philosophie der Musik zunehmend Konjunktur zu haben scheint.202 Vor einigen Jahrzehnten war auf diesem Felde selten etwas zu lesen, aber seit einiger Zeit wendet sich das Interesse diesem schwierigen Terrain wieder zu. Die grundsätzlichen Probleme haben sich dabei seit 202
Cf. Simone Mahrenholz, Musik und Erkenntnis, Stuttgart/Weimar 2000²; Georg Mohr, Das Gehör als Tor zur Welt. Mahlers Dritte Symphonie als Musik über Musik, in: Nachrichten zur Mahler-Forschung 48 (2003) 3–30; Ulrike Kienzle, Tönende Metaphysik. Die Nachwirkungen von Schopenhauers Philosophie im Musiktheater des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Günther Baum/Dieter Birnbacher (eds.), Schopenhauer und die Künste, Göttingen 2005; Albrecht Wellmer, Versuch über Musik und Sprache, München 2009 u.a.; zuletzt Jürgen Stolzenberg, ‚Seine Ichheit auch in der Musik heraustreiben‘, München 2011. Stolzenberg geht hier in exemplarischen Interpretationen im Ausgang von der ‚expressiven Wende‘ (p. 13) durch Carl Philipp Emanuel Bach dem Projekt eines musikalischen ‚Strukturwandels der Innerlichkeit‘ (S. 92) nach, der für eine Philosophie der Expressivität ungemein stimulierend und erhellend ist. Es ist übrigens begrüßenswert, daß inzwischen auch die früher als U-Musik denunzierten musikalischen Bereiche in den Hof theoretischer Analysen einbezogen worden. Cf. dazu Ingo Meyer, Frank Zappa, Stuttgart 2010. Demnächst erscheint auch eine Arbeit von Jürgen Goldstein über Bob Dylan.
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Klingende Bedeutungen
Eduard Hanslick203 im 19. Jahrhundert als ziemlich resistent gegenüber neueren analytischen Zugriffen erwiesen. Zu ihnen gehört nach wie vor das Problem der musikalischen Bedeutung. Dieses Problem läßt sich so umschreiben: Selbst wenn wir das Gefühl haben, daß uns diese oder jene musikalische Phrase auf ganz eigentümliche Weise ‚anspricht‘, kann von einem ‚Sprechen‘ der Musik gleichwohl keine Rede sein. Sie ist hörbar und ‚spricht an‘, aber ‚spricht‘ nicht. Hinter diesem jedermann vertrauten paradoxen Befund steht die alte Frage nach der Eigenart musikalischer Bedeutung. Hanslick hatte seinerzeit, also 1854, in damals unerhört moderner Form darauf hingewiesen, daß ein Verständnis musikalischer Bedeutung nicht anders als auf dem Verstehen der musikalischen Struktur aufruhend gefaßt werden kann. Daß musikalische Bedeutung von den musikalischen Strukturen jedenfalls nicht zu trennen ist, so daß im Zweifelsfall die Rede von Bedeutungen sogar zugunsten einer fundierten Rede über Strukturen zu ersetzen sei. Dennoch wird man natürlich nicht in Abrede stellen können, daß die Musik emotionale Gehalte transportiert, die von uns als ‚bedeutungshaltig‘ erfahren werden. Das bestritt natürlich auch Hanslick nicht. Er wies nur darauf hin, daß solche Gehalte immer nur solche sind, wie sie einzelnen Zügen einer Miene ähneln, wie wir sie mit Adjektiven wie ‚sanft‘, ‚stürmisch‘, ‚froh‘, ‚schmerzlich‘ usw. benennen, Bezeichnungen, die wir auch oft als Anweisungen über musikalischen Sätzen finden. Was sie hingegen nicht bietet ist eine Expression, die einer abstrakten 203
Cf. sein bis heute ‚klassisch‘ zu nennendes Werk Vom Musikalisch-Schönen (1854), repr. Darmstadt 1965.
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Entität entspricht wie z.B. so etwas wie die Bedeutung der substantivisch gefaßten ‚Liebe‘.204 „Tönend bewegte Formen sind einzig und allein Inhalt und Gegenstand der Musik.“205 Wenn man diesen Befund akzeptiert und sie mit Polanyis Theorie ‚impliziten Wissens‘ in Zusammenhang bringt, möchte man meinen, daß die spezifisch musikalische Präsentation von Bedeutungen darin besteht, unser implizites Wissen um unsere emotionale Zuständlichkeit klanglich zu erzeugen, also nicht etwa bloß abzubilden oder zu repräsentieren. Wenn wir Musik hören, empfinden wir Bedeutungen, von denen wir gar nicht ahnten, daß es sie überhaupt gibt, ebensowenig wie diese Empfindungen selbst. In der Begegnung mit Kunstwerken tritt uns generell eine Bedeutungserfahrung als verlorene Erinnerung entgegen, die wir als bestürzend neu empfinden.206 204
Eduard Hanslick, op. cit., p. 14: „Diese Betrachtung allein reicht hin, zu zeigen, daß Musik nur jene verschiedenen begleitenden Adjectiva audrücken könne, nie das Substantivum“. 205 Eduard Hanslick, op. cit., p. 32. 206 Fritz Saxl hat aus diesen verschränkten Verhältnissen heraus mit Recht eine neue Psychologie für die Kulturwissenschaften gefordert. Es kann nicht mehr einfach eine „Psychologie des Ausdrucks sein, die Ausdruck und Bild als fixierte, gestaltgewordene Formulierungen des Seelischen interpretiert, sondern nur eine Psychologie des Ausdrucks, die den Ausdruck selbst zum Problem macht; eine Psychologie also, die die Prägung und das Fortleben der sozial-gedächtnismäßig aufbewahrten Ausdruckswerte als sinnvolle, quasi geistestechnische Funktion versteht und die das Symbol nicht als Endprodukt der seelischen Energie wertet, sondern es innerhalb des psychophysischen Prozesses sieht und die Bedeutung auch gerade der Rückwirkung des Symbols auf das
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Klingende Bedeutungen
Gerade die Musik kann offenbar Bedeutungen unserer emotionalen Verfassung ‚erklingen‘ lassen, die uns in einer ansonsten unbekannten Sprachlosigkeit überraschen, in Ahnungen nie erlebter Freude und nie gefühlter Schmerzen. Sie ist das gültigste Dokument der Reichweite unserer nicht interpretierten, stummen Expressivität, die dennoch unser Schicksal im Kosmos klanglich, ja, wie soll man es sagen: bekundet? Vielleicht besser und ganz einfach nur: expressiv ist. In der Musik, so befindet sogar Hanslick abschließend, „steigert sich die Bedeutung der Töne hoch über sie selbst hinaus und läßt uns in dem Werke des menschlichen Talents immer zugleich das Unendliche fühlen“.207 Wir fühlen uns ja tatsächlich merkwürdigerweise gerade durch Musik und hier in einiger Unmittelbarkeit, die es ansonsten nicht gibt, um Dimensionen von Bedeutungen bereichert, ohne sagen zu können, welche das sind. Dieses Phänomen eines in der Musik erfahrbaren Hineingehaltenseins in ein erfahrbares, aber gerade deshalb umso schmerzlicheres Nichtwissen hatte übrigens schon Herder im Blick.208 Das implizite Wissen um Emotionen gewinnt in der Musik Bedeutung aus einer ausbleibenden Botschaft. Diese ist zwar da, bleibt aber dennoch imaginär, jedenfalls unhörbar, obwohl sie den Klängen Bedeutung zuwachsen psychische Leben klarstellt.“ (Fritz Saxl, Die Ausdrucksgebärden der bildenden Kunst, in: ders., Gebärde, Form, Ausdruck. Zwei Untersuchungen, ed. Pablo Schneider, Zürich 2012, pp. 95 sqq., hier p. 107) Saxl empfiehlt hier subkutan über Cassirer hinaus zu gehen. 207 Eduard Hanslick, op. cit., p. 104. 208 Cf. J. G. Herder, Kritische Wälder IV, in: Sämtl. Werke, ed. Bernhard Suphan, Bd. 4., 161 sq.
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läßt. Die musikalische Gesamtbedeutung verhält sich in dieser Hinsicht leider doch nicht wie der Gesamteindruck einer wahrnehmbaren Person, deren Stimmung wir aus ihren Gesichtszügen entziffern. Gleichwohl ist diese bloß imaginäre Art des Gegebenseins des musikalischen Gesamteindrucks so wirksam, daß der Komponist, was sein intendiertes Werk angeht, von ‚außen nach innen‘ oder von ‚innen nach außen‘ überhaupt anfangen kann, die Töne zu setzen. Diese diffuse Art aus einem imaginären Gesamteindruck zu komponieren, dokumentiert sich in den Skizzenbüchern z.B. von Ludwig van Beethoven.209 Auch daß Deryck Cooke die hinterlassenen Skizzen Mahlers zu seiner 10. Symphonie zu einer aufführungsfähigen Version komplettieren konnte,210 die Berthold Goldschmitt am 13.8.1964 in der Londoner Royal Albert Hall als ‚Uraufführung‘ dirigierte, ist ohne eine wie immer fragile Empathie in einen solchen Gesamteindruck nicht gut denkbar. Musik realisiert, wie wahrscheinlich alle Künste, eine größere Nähe zur impliziten Verfassung des Menschen als es die Wissenschaften könnten. 209
Cf. hierzu die glänzend geschriebene Biographie von Jan Caeyers, Beethoven. Der einsame Revolutionär, München 2012, p. 198; p. 281: „Am Anfang beschäftigte sich Beethoven also noch nicht mit melodischen oder rhythmischen Details. Vielmehr hatte er ‚immer das ganze vor Augen‘, wie er es selbst einmal ausdrückte.“ 210 Aus ähnlichen Gründen konnte Paul Klee 1919 auch das 1916 durch einen Brand in einer Berliner Spedition zu ca. einem Drittel zerstörte Bild von Franz Marc Tierschicksale (1913) wieder ergänzen. Heute ist es in dieser façon im Kunstmuseum Basel zu besichtigen.
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Ein moderner Musiktheoretiker hat die Verhältnisse hier so gebündelt: „Musik ist von (…) Interpretation abhängig, um Bedeutung zu haben, und gleichzeitig unaussprechlich.“211 So kommt es dieser Konzeption nach auch für den Musikinterpreten nicht so sehr darauf an, „Bedeutung in Worte zu übertragen, sondern auf die Bedingungen des Emergierens von Bedeutungen zu achten“.212 Man könnte das noch schärfer fassen: Die beste Interpretation von Musik zeigt sich in ihrer Aufführung, ist also nicht Sache von Theoretikern, sondern von Praktikern. Denn nur hier wird das Emergieren von Bedeutungen ja wirklich realisiert. Hier geht es also nicht um explikative Interpretationen, sondern um performative. Diese Form einer durch Realisierung erlebten Bedeutung kann durch keine sprachliche Gestalt ersetzt werden.213 Musik bleibt akustisches ‚Medium freien Werdens‘214, an dem man gül211
Nicholas Cook, Musikalische Bedeutung und Theorie, in: Musikalischer Sinn, eds. Alexander Becker/Matthias Vogel, Frankfurt/M. 2007, p. 113. 212 Nicholas Cook, op. cit., p. 118. 213 Sie kann auch nicht auf Zahlenverhältnisse logarithmischen Typs zurückgeführt werden, wie ausgerechnet der Dirigent Ernest Ansermet in seiner schwer verständlichen Theorie, um die Tonalität zu retten, suggeriert. Cf. Ernest Ansermet, Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein (1961), München/Mainz 1991. Eine detaillierte Kritik hierzu findet sich in: Max Gottschlich, Auf der Suche nach dem Logos der Musik. Eine Kritik der Tonalitätsbegründung bei Ansermet, Würzburg 2010. Man muß Ansermet, wie Max Gottschlich es kenntnisreich unternimmt, allerdings nicht unbedingt mit Hegel konfrontieren, da schneidet jeder schlecht ab, es genügt eigentlich, auf Eduard Hanslick zu verweisen. 214 Diesen Ausdruck habe ich hier etwas frivol mißbraucht. Er stammt von dem Mathematiker Luitzen Egbertus Jan Brou-
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tig nur praktisch partizipieren kann,215 rezeptiv nur in einiger Empathie mit den musikalisch aufgerufenen impliziten Wissenssedimenten unserer emotionalen Verfassung.
wer, der ihn zur Kennzeichnung des Kontinuums in seiner ‚intuitionistisch‘ genannten Revision der Mathematik eingeführt hat (cf. dazu Christian Thiel, op. cit., p. 347). Das Kontinuum bleibt hiernach ein nicht abzählbares offenes Ganzes, nur intuitiv gegeben, wie der musikalische Gesamteindruck auch. Auch dieser taucht aus einem unhörbaren Kontinuum, vielleicht aus der Zeit selbst, nur auf und bleibt als imaginärer Dirigent doch ein für den Komponisten wie Rezipienten Wirksames. Wie das geschieht, ist mir völlig unklar. 215 Diese Verhältnisse gelten natürlich in erster Linie von dem eigentlich Kreativen und das ist natürlich der Komponist. Aber sein Tun ist medial nicht verwertbar, deshalb ist es seit dem späten 19. Jahrhundert und vor allem heute zu einem Kult reproduktiver Kunst gekommen.
21. Fakten aus Fiktionen
Daß Texte, auch fiktionale und gerade sie, ihre Adressaten, also die Leser manchmal in kunstvoller Weise als Gesprächspartner bereits im Text auftreten lassen, ihn ansprechen, sich mit ihm auseinandersetzten, ihn rügen oder stimulieren, ist als poetische Praxis nicht neu. Der Parzival des Wolfram von Eschenbach unterhält den ganzen Roman hindurch ein kokettes Zwiegespräch mit dem Hörer oder Leser. So konnte es nicht ausbleiben, daß die Literaturwissenschaft in den sechziger bzw. siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Konstanz den impliziten Leser entdeckte, wie er in unterschiedlichen Formaten in literarischen Texten präsent war: bis zum 18. Jahrhundert in einer durch den Autor zugewiesenen Rolle, die sich zugleich aus historischen Rezeptionserwartungen speiste; im 19. Jahrhundert eher in Zumutungsformen, sich seine Rolle als Leser selber zu suchen; im 20. Jahrhundert schließlich erhält der Leser sogar manchmal wie bei Paul Valéry die Funktion, den Sinn des Textes selber erst herzustellen.216 Daß überhaupt literarische Fiktionen einen so hohen Stellenwert für die Menschen aller Zeiten hatten, liegt, wie Wolfgang Iser einmal beiläufig bemerkt, vielleicht an einem tiefsitzenden Fiktionsbedürfnis, d.h. an einem Bedürfnis nach Angeboten von Dichtern, die geeignet sind, 216
Cf. Wolfgang Iser, Der implizite Leser, München 1972, p. 10.
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„die Lücken des Nicht-Wißbaren zu schließen“.217 Das zeigt sich im 20. Jahrhundert vor allem auch da, wo solche Lücken eigens inszeniert werden, wie in den Texten von Kafka oder Beckett.218 Fiktionen gehören in einer immer noch nicht enträtselten Form zur Anthropologie des Menschen, sein gesamtes Kulturprofil in Wissenschaft, Kunst, Recht und Religion verdankt sich seiner fiktiven Begabung. Der erste, der diese These mit Wucht vorgestellt hat, war Hans Vaihinger. In einem voluminösen Buch mit barockem Titel219 bereitet er massenhaft Material auf, um seine These zu untermauern, daß Denken und Sein nicht zusammenfallen. Denn unser Denken besteht in allen Bereichen im Gebrauch nützlicher und zweckmäßiger Fiktionen, aber diese bleiben ontologisch impotent. Als ‚Finten des Denkens‘220 bedienen wir uns auf allen Gebieten gewisser Symbolismen, die dem Eigensinn des Mediums unserer erkennenden Energie eher zuzurechnen sind als den Objekten. Ohne diese indirekten Hilfsmittel könnten wir gar 217
Wolfgang Iser, op. cit., p. 11. Cf. ferner auch p. 413, wo es heißt: „Fiktionen, die wir immer wieder fabrizieren, um durch sie mit dem Ende fertig zu werden oder um durch sie die Lücken unseres Erfahrungshaushaltes zu bilanzieren.“ 218 Cf. hierzu die Interpretation der Werke Becketts von Wolfgang Iser, in: op. cit., p. 391 sqq. 219 Hans Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus, Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche, Leipzig 1918³. Dieses Buch hatte übrigens seinerzeit auch das Verdienst, Nietzsche für die damalige akademische Philosophie hoffähig zu machen. 220 Hans Vaihinger, op. cit., p. 171.
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keine sachhaltigen Erkenntnisse gewinnen: „Das Denken macht Umwege: dieser Satz enthält das eigentliche Geheimnis aller Fiktionen (…) Fiktionen sind nur Durchgangspunkte des Denkens, keineswegs des Seins“.221 Im Grunde entwirft Vaihinger unter dem Titel ‚Fiktionen‘ eine ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ (Cassirer) avant la lettre. Er spricht im Anschluß an Kant geradezu von einem „Recht der symbolischen Darstellung“222 und verteidigt sie gegen das spekulative Seinsdenken Hegels. Eine sehr viel radikalere Eroberung fiktiver Realitätsverhältnisse ist aber in der Kunstgeschichte der letzten Jahre zu beobachten. Hans Belting223, Gerhard Wolf224, William John Thomas Mitchell225, Gottfried Boehm226 und Horst Bredekamp227 u.a. sind auf ihre Weise dem Potential der Bilder nachgegangen, eine Wirksamkeit zu entbinden, die auf ihrem Konto, nicht auf dem der Betrachter gutgeschrieben werden muß. Fiktive Dinge, d.h. Bilder oder sonstige visuell erfahrbare Artefakte, entwickeln bisweilen eine derart impressive Wucht, daß wir uns geradezu genötigt sehen, den Bildern selbst diese Energien zuzuschreiben. 221
Hans Vaihinger, op. cit., p. 175. Hans Vaihinger, op. cit., p. 708. 223 Hans Belting, Bild-Anthropologie, München 2001. 224 Gerhard Wolf, Schleier und Spiegel. Traditionen des Christusbildes und die Bildkonzepte der Renaissance, München 2002. 225 William John Tomas Mitchell, What do Pictures want? The Lives and Loves of Images, Chicago 2005. 226 Gottfried Boehm, Movens Bild, München 2008. 227 Horst Bredekamp, Theorie des Bildakts, Berlin 2010. 222
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Eine der bewegenden Grunderfahrungen war seit alters z.B. die, daß gemalte Porträts uns mit ihren Augen überall hin folgen können. Wir verändern den point of view, aber erfahren uns dennoch konstant als Erblickte. Cusanus, so berichtet Gerhard Wolf, empfiehlt diesen Effekt den Benediktinermönchen vom Tegernsee als Meditationsanleitung. Er schickt ihnen ein kleines Christusbild (icona dei), das diese Erfahrung ermöglicht: Der Blick Gottes gilt allen und allem.228 Andere Wirkungserfahrungen von Bildern sind schon aus der Antike bekannt, so das Antlitz der Medusa: ihr unter die Augen tretend versteinert der Betrachter ‚augenblicklich‘.229 Das Gorgonenhaupt wurde daher gerne von Soldaten, aber auch von exorbitanten Künstlern wie von Caravaggio auf Schilder gemalt. Die Gegner sollten durch den Anblick abgeschreckt und zur Erstarrung gebracht werden. Diesen Effekt, so Gerhard Wolf, wollte sich Caravaggio gerade als Künstler zunutze machen: Sein „Bild vermag qua Kunstwerk den Betrachter zum Erstarren zu bringen“.230 Solche Erfahrungen von Bildwirkungen drängen danach, in eine eigene Theorie gefaßt zu werden. Genau die hat Horst Bredekamp vorgelegt. Es macht wenig Sinn, das von ihm facettenreich belegte und behauptete Eigenleben der Bilder auf eben diesen mit dem Mikroskop zu suchen. Es kommt vielmehr darauf an, Bilder in die Selbstfindung des Menschen einzustellen. Wir sollten das Bild also zunächst mit Hegel verstehen als ein Medium, in dem der werdende, sich noch 228
Gerhard Wolf, op. cit., p. 255. Cf. dazu Gerhard Wolf, op. cit., pp. 345 sqq. 230 Gerhard Wolf, op. cit., p. 347. 229
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suchende Geist „in ihm für sich wird, sich erinnert, sich selber manifestiert“.231 Das klingt zwar schwer verständlich, soll aber nur so viel besagen, daß wir uns nur aus Verborgenem, Verschleiertem, aus Äußerem wie aus Krypten oder aus Bildern zu uns kommen lassen können. In Rätselhaftem finden wir uns zuerst. Insofern sind Bilder, wiewohl von uns hergestellt, immer auch Botschaften unabhängig von uns, wenn gilt, daß wir uns nur aus einiger Anonymität in einer offenen Schleife als uns selbst fassen können. Insofern können wir Bilder auch in ihrer Eigenaktivität erfahren, obwohl wir sie selbst hergestellt haben. Vor Bildern begegnen wir uns wieder in der uralten Zone einer ursprünglichen experimentellen Alienation durch Artefakte. Der alte Fremde, der ich herstellend war, tritt mir bildlich wieder entgegen. Insofern kann man das Bild als implizites Ich verständlich machen, das zwar von mir zehrt, aber mir gegenüber als eine alte Weise erklinget, die aus dem Schachte meiner selbst herauftönt. Aus diesem mirakulösen Fremdgeräusch, aus dem Rachen meiner egologischen Vergangenheit, nährt sich meine Stellung zur Welt anfangs schon bildlich. Im Bild geschieht in ursprünglicher Weise eine Selbstaneignung als Weltaneignung. Es ist daher nicht nur Artefakt und Objekt, sondern ineins auch eine genuine Quelle des Menschen. Als erstes Manifest einer experimentellen Alienation waren Bilder schon ein magisches Selbst, bevor es ein Menschen-Ich gab, das vor Bildern tanzen mußte und 231
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, in: G. W. F. Hegel, Werke Bd. 10, eds. Moldenhauer/Michel, Frankfurt/M. 1970, § 456 Zusatz, p. 267.
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durfte wie einstmals König David vor der Bundeslade. Dieser Tanz allein machte damals die Bilderlosigkeit erträglich: Was Bild war, wurde Tanz. „Bilder“, so summiert Horst Bredekamp, „sind nicht Dulder, sondern Erzeuger von wahrnehmungsbezogenen Erfahrungen und Handlungen; dies ist die Quintessenz der Lehre des Bildakts.“232
232
Horst Bredekamp, op. cit., p. 326. Cf. hierzu auch Horst Bredekamp, Der Muschelmensch. Vom endlosen Anfang der Bilder, Vortrag 2012 an der Universität Bonn (Manuskript).
22. The Between
Der Rückgang auf Implikaturen des Bewußtseins ist seit je eine Domäne der Philosophie gewesen, bis sich die Psychologie gerade in Gestalt einer ‚Tiefenpsychologie‘ im Stile von Sigmund Freud solcher Tiefenbohrungen annahm. Die Dynamik verdrängter Triebenergien beherrschte seither das Feld einer Analyse von ‚manifesten‘ Oberflächenphänomenen, die für die betroffenen Klienten zu unliebsamen Störungen im Sozialverhalten führten und therapiebedürftig erschienen. Eine bei weitem grundsätzlichere Tiefenbohrung hatte aber schon früher das Profil des Zen-Buddhismus charakterisiert, das mit sanfter Wucht sogar die Subjekttheorien des westlichen Denkens unterlaufen hatte bzw. ihre Dimension mit ausschritt. Prominent auch im Westen wurde hier ein Text aus dem 12. Jahrhundert, der in der deutschen Übersetzung als die Geschichte ‚Der Ochs und sein Hirt‘ spätestens in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts geradezu populär wurde. Dieser Text besteht in zehn Stationen, die die Geschichte vom Ochsen und seinem Hirten, illustriert durch kreisförmige Bilder, wiedergeben.233 Die ersten 233
Der Ochs und sein Hirte. Eine altchinesische Zen-Geschichte. Erläutert von Meister Daizokutsu R. Ohtsu mit japanischen Bildern aus dem 15. Jahrhundert, übers. von Koichi Tsujimura/Helmut Buchner, 2. Aufl. Pfullingen 1958. Ich stütze mich zur Interpretation hauptsächlich auf die Gespräche mit
The Between
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sieben Stationen erzählen das Schicksal des wandernden Ichs, das wir in konkreter Bildlichkeit verfolgen können, bis im Text der achten Station das begleitende Bild einfach leer erscheint, ohne Ochs und Hirt oder sonst etwas. Im neunten Bild taucht die Szenerie der Welt als blühender Baum am Fluß wieder auf, bis im zehnten Bild auch der Mensch als Greis und Junge wieder restituiert wird. Die zentrale Botschaft dieses Bilderreigens ist die, daß alles, was es selbst ist, in eine selbstlose Dimension hineingestellt ist, die als Leere (sunyata) bezeichnet wird. Der Philosoph Kitaro Nishida (1870–1945), Gründer der berühmten Schule von Kyoto, versucht die Registratur dieser Leere als reine, sogar reflexionslose Erfahrung zu verstehen zu geben. Wir können diese auch einem kontemplativen Realismus zurechnen, von dem wir schon gesprochen hatten. Die Gewahrung einer ursprünglichen Selbstlosigkeit impliziert jedenfalls die Nichtigkeit aller Dinge, allerdings ebenso auch ihre Fülle. Das klingt für westliche Ohren paradox und ist es auch. Das ändert sich auch nicht, wenn man behelfsweise eine Erläuterung Nishidas heranzieht: „In dem Augenblick des Sehens, des Hörens, noch ohne Reflexion wie z.B. ‚ich sehe Blumen‘, auch noch ohne Urteil wie z.B. ‚diese Blumen sind rot‘, in dem Augenblick dieses gegenwärtigen Sehens, des Hörens, da ist weder Subjekt noch Objekt. Diese ‚unmittelbar erfahrende‘ Erfahrung, diese vom reflektierenden und urteilenden Denken noch nicht bearbeitete ‚reine‘ Erfah-
Volker Beeh und Shizuteru Ueda Wer und was bin ich? Zur Phänomenologie des Selbst im Zen-Buddhismus, Freiburg/ München 2011.
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rung ist der Seinsgrund der allerwirklichsten Wirklichkeit wie auch des wahren Selbst“.234 Shizuteru Ueda sieht in dieser Charakterisierung des kontemplativen Realismus von Kitaro Nishida die für das Zen-Denken so typische Verbindung des Empirischen, Metaphysischen und Existenziellen: „Auf diese Weise ist für Nishida das Metaphysische nicht jenseits der Erfahrung (…), sondern (…) diesseits (…), inmitten der erfahrenden Erfahrung schlechthin.“235 Was uns die Lehren des Zen in dieser Interpretation zu verstehen geben, ist die so schwer und zugleich auch so leicht zu bewerkstelligende Registratur des Szenischen. Damit ist hier nicht nur das Szenische auf der Bühne und in Lebenssituationen gemeint, sondern das Szenische schlechthin, also als ontologische Kategorie. Ihr zufolge ist alles, was ist, szenisch gegeben, aber nichts ist identisch mit dem Szenischen. Es sorgt indes dafür, daß alles, was ist, miteinander in Beziehungen verschiedenster Art steht und stehen kann, in Bewandtniszusammenhängen, in Bezügen kausaler wie persönlicher Art, in Relationen und Kontexten. Auf diesen Faktor berechnet ist das Szenische das Kontinuativ des Seienden, das selbstlose Zwischen par excellence. Shizuteru Ueda nennt dieses Between auch ‚den eigentlichen Spielraum des Selbst‘236, ‚die Präsenz schlechthin‘237, die außerhalb der Sprache erfahrbar ist, aber auch in ihr, als unsere Begabung, symbolische Kontexte herzustellen. 234
Zitiert nach Shizuteru Ueda, op. cit., p. 27. Ibid. 236 Cf. op. cit., p. 29. 237 Cf. op. cit., p. 31. 235
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Die Pointe ist auch hier, daß uns die Gewahrung des Szenischen in den Stand versetzt, alles als bloße Beschmutzung desselben zu gewahren, als Indikatoren einer entzogenen Selbstlosigkeit wie zugleich als deren Dokument, eben als Dokument der Leere und Fülle zugleich. Diese Verschränkung macht es dem Zen-Denken möglich, auch die kleinste Nuance unserer Lebenswirklichkeit als Zeugen des Szenischen aufzurufen oder uns von ihr als Zeugen aufrufen zu lassen. Die ursprüngliche Selbstlosigkeit des Szenischen fundiert auch den Respekt der Menschen untereinander. Ueda demonstriert das an den japanischen Verbeugungszeremonien. Jede Begegnung erhält dadurch die Aura eines geradezu kosmischen Ereignisses, denn in der Verbeugung dokumentiert sich der symbolische Verzicht auf ein ohnehin nur erborgtes Selbst, das sich von Geburt an instand gesetzt erfährt, anderen und Anderem den Vorzug zu geben. Hierin, so Ueda, „zeigt sich die Größe des selbst-losen Selbst“.238 Aber dieser Größe entspricht auch ein Manko der erkennenden Menschheit, das sie symbolisch nicht mehr ausgleichen kann. Da unsere erkennende Begabung ersichtlich unter der Diktatur des Selbst steht, hat dies auch Folgen für die Reichweite des Erkennens. Wir können in beliebigen Systemen, was wir gerne hätten, nicht beides haben: Vollständigkeit und Konsistenz. Volker Beeh hat das in seiner mit Recht berühmten Interpretation zu Nagarjuna als nicht reparables Manko von Logik und Wissenschaft dargestellt. „Die Wissenschaft optiert für Konsistenz und bezahlt sie mit Unvollständigkeit.“239 Die 238
Cf. op. cit., p. 37. Volker Beeh, Nagarjunas Zehntes Tor, in: Horin 2 (1995), pp. 113–123, hier p. 122.
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Bilanz für das Leistungsprofil speziell der Logik zieht er so: „Logische Sprachen sind widersprüchlich oder unvollständig und verfehlen jedenfalls die Realität. Was wir mit ihnen berühren, ist verschieden von dem All und deshalb leer.“240 An anderer Stelle nennt Beeh schließlich auch explizit den Grund für diese epistemischen Schranken: „Unsere Erkenntnis der Welt scheint von der Wahrnehmung unserer selbst behindert zu sein.“241 Es scheint, daß wir aus der Perspektive der hier avisierten Sphäre einer geradezu atemlosen Selbstlosigkeit dringend wieder ins konkretere Milieu geordneter Selbständigkeit zurückkehren sollten.
240
Volker Beeh, op. cit., p. 123. Volker Beeh, Die halbe Wahrheit. Tarskis Defintion & Tarskis Theorem, Paderborn 2003, p. 102.
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23. Begrenzte Ordnung des Erkennens
Der Ökonom Friedrich A. von Hayek (1899–1992) schwankte in seiner Jugend zwischen den Disziplinen Psychologie und Ökonomie, entschied sich für letztere und erhielt für seine Arbeiten auf diesem Feld 1974 den Nobelpreis. 1952 legte er mit dem Buch The Sensory Order gleichwohl eine ausgearbeitete Version seiner psychologischen Jugendliebe vor, die sich als theoretisches Design einer Ordnung der erkennenden Ökonomie des Menschen verstehen lassen und ein hellsichtiges Stück Psychologie vor der Geburt der Kognitionswissenschaften repräsentieren. Dieses Buch knüpft an eine sehr frühe Arbeit des Autors an, die er schon 1920 unter dem Titel Beiträge zur Theorie der Entwicklung des Bewußtseins geschrieben hatte. Dieser kleine Text ist im Anhang der deutschen Übersetzung Die sensorische Ordnung (Bd. 5 der Gesammelten Schriften)242 von Manfred E. Streit erstmals mit zum Abdruck gekommen.243 Schon in dieser frühen Arbeit vollstreckt von Hayek den Sturz der Empfindung, d.h. die Zerstörung des Mythos der Empfindungen als Basis der sensorischen Ordnung. Das erste sind für von Hayek vielmehr ganz bedeutungslose physiologische Vorgänge, die vom Organismus 242
Friedrich A. von Hayek, Die sensorische Ordnung, Tübingen 2006. 243 Op. cit., pp. 199–226.
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Begrenzte Ordnung des Erkennens
erst in einen Kontext der Registraturen eingebaut werden müssen, also in erinnerungsfähige Netze, um dadurch ihre Stelle und ihren Wert zugewiesen zu bekommen. Erst durch diese memoriale ‚Einordnung‘ werden sie zu Bedeutungsträgern bzw. zu Empfindungen: „[E]rst durch das Gedächtnis wird die physiologische Erregung zur Empfindung“.244 Diesen Gedanken nimmt von Hayek auch in sein Buch Die sensorische Ordnung auf. Hier entwickelt er die These, daß die sensorische Ordnung im wesentlichen auf einer vor-sensorischen Ordnung aufruht, die in elementaren Verknüpfungen besteht, die als Wirkungen einer Gruppe von Stimuli auf das Zentralnervensystem plausibel gemacht werden können. Dadurch erhalten die Stimuli allerdings noch nicht den Status von Bedeutungsträgern bzw. Empfindungen. Es handelt sich vielmehr um „eine Art vor-sensorischer Erfahrung (…), die nur den Apparat schafft, der später qualitative Unterscheidungen ermöglicht“.245 Solche vor-sensorischen Verknüpfungen bestehen bei von Hayek offenbar in topologischen Elementarbeziehungen, die Muster bereitstellen, um ein späteres Lernen aus Ähnlichkeitsbeziehungen zu ermöglichen: „wie z.B. [darin], daß zwei unterschiedliche Farben nicht ein und denselben Raum einnehmen können“.246 Der Herausgeber Manfred E. Streit spricht hier vom ‚Primat des Abstrakten‘ bei von Hayek.247 Was eine Auf244
Beiträge zur Theorie der Entwicklung des Bewußtseins, in: op. cit., p. 205 (im Original gesperrt). 245 Friedrich A. von Hayek, Die sensorische Ordnung, op. cit., p. 100. 246 Op. cit., p. 161. 247 Op. cit., p. 263.
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zählung dieser vor-sensorischen Verknüpfungen angeht, finden wir bei von Hayek leider ansonsten nicht viel. Er nennt sie als Semi-Kantianer auch ‚Kategorien‘ oder ‚Grundprinzipien‘, aber charakterisiert sie nur indirekt und etwas gewunden durch die Stellung, die sie im Gesamthaushalt der sensorischen Ordnung haben: „Unser Wissen über die Außenwelt ist daher immer [!] zumindest teilweise [!] nicht das Produkt der Sinneserfahrung. Vielmehr ist es in den Mitteln, durch die wir solche Erfahrungen überhaupt machen können, stillschweigend enthalten.“248 Die vor-sensorischen Verknüpfungen bilden mithin ein implizites Wissen, das Voraussetzung unserer expliziten, z.B. ‚modellierenden‘, ‚kartierenden‘ und ‚klassifikatorischen‘ Erkenntnisbemühungen bleibt. Dennoch darf nicht übersehen werden, daß diese basale Stellung der vor-sensorischen Verknüpfungen keineswegs den weitergehenden Schluß erlaubt, daß sie auch physikalisch interpretiert werden dürfen. Dazu sind die Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Stimuli-Gruppen viel zu schwach. Sie „beeinflussen zwar alle Sinneswahrnehmungen, aber deshalb beherrschen sie noch lange nicht die Ereignisordnung der physikalischen Welt“.249 Das heißt im Klartext: Unsere Erkenntnisansprüche reichen weiter als unsere Erkenntnisbedingungen. Der ordo cognoscendi legt den ordo essendi nicht vollständig fest. Schon deshalb ist von Hayek skeptisch, ob es je gelingen wird, so tiefgreifende Probleme wie das Verhältnis von Körper und Geist zu lösen. Obwohl er dezidiert eine monistische Option aufrechterhält, gesteht er dennoch zu, daß er diese nicht in kleiner Münze auszahlen kann. 248
Op. cit., p. 161 (Ausrufungszeichen von mir). Op. cit., p. 162.
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Mentale Sprachen lassen sich nicht ohne Bedeutungsverlust in eine physikalische übersetzen und umgekehrt sind die Aussichten erst recht trübe. So plädiert von Hayek dafür, „daß wir für praktische Zwecke immer eine dualistische Sicht vorzunehmen haben.“250 Er vertritt offensichtlich das Konzept eines ‚methodischen Dualismus‘251, das dem Programm einer Rettung der Phänomene mehr Reverenz erweist als unseren spekulativen Bedürfnissen. Ob er damit das Programm einer Rettung der Phänomene allerdings wirklich realisiert hat, ist mehr als fraglich. Denn von Hayek vergaß, sich die Frage vorzulegen, in welche Ordnung die sensory order ihrerseits eingestellt ist. Hier führen Spekulationen von David Bohm (1917–1992) weiter, der in seinem Buch Wholeness and the Implicate Order252 zeigen will, wie das Reglement physikalischer Gesetze insbesondere der Quantenphysik auf tiefliegenden Implikaturen aufruht, die zu einer Art ultimativer Hintergrundordnung zu rechnen sind, die natürlich nur noch spekulativ greifbar ist. Der Fehler des bisherigen Nachdenkens über die Wirklichkeit, auch des wissenschaftlichen, ist, so Bohm, eine Art hybrider Lokalpatriotismus: Was wir in einem Segment des Kosmos voller Stolz zeigen können, verhängt zugleich den Blick aufs Ganze. Daher bedarf es aus Gründen der intellektuellen Redlichkeit ergänzender Überlegungen. Was wir über alle Weltsegmente daher letztlich anstreben müssen, ist so etwas wie eine Ordnung 250
Op. cit., p. 172. Cf. hierzu das Buch von Jürgen Mittelstraß und Martin Carrier, Geist, Gehirn, Verhalten, Berlin/New York 1989. 252 London 1980; dt. Die implizite Ordnung, München 1985 (zitierter Text). 251
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der Ordnungen, ein Gesetz für das Ganze. Bohm spricht hier von Holonomie.253 Damit steuert man nicht auf eine tiefliegende Gesetzmäßigkeit zu, die wie ein ungeschriebenes, aber statisches Gesetz im Hintergrund der physikalischen Welt gleichsam ‚lauert‘, sondern auf ein Hologramm der Bewegung (Holomovement), das zwar nicht definierbar, weil unermeßlich ist, aber aus der Eigenart des physikalischen Reglements intellektuell erzwungen wird: „[D]ie Holonomie [ist] nicht als ein festes und letztes Ziel wissenschaftlichen Forschens zu betrachten, sondern vielmehr als eine Bewegung, in der laufend ‚neue Ganze‘ auftauchen.“254 Im Prinzip bleibt dieses Holomovement bloß ein Postulat, das sich aus der Architektur der bislang erkannten physikalischen Ordnungen von selbst ergibt: „Eine solche Gesetzmäßigkeit muß vielmehr notwendigerweise als implizit angesehen werden.“255 David Bohm verbindet mit seinen kosmologischen Spekulationen keine weitergehenden Ansprüche als wir sie mit Vorschlägen256 verknüpfen würden, nur daß sich sein Vorschlag hier aus einer intimen Kenntnis des empirischen Forschungsstandes der Physik ergibt. Seine experimentellen Kollegen im Labor schätzen solche Vorschläge selten. Aber sie sind möglich und dem unkundigen Publikum der Physik willkommen, weil sie Verankerungen im Unfaßlichen faßlich machen. Keine Frage, daß die Vorliebe des ausgehenden 20. Jahrhunderts für Implizites Indiz eines tiefsitzenden metaphysischen Bedürfnisses ist, das sich übrigens zu al253
David Bohm, op. cit., p. 207. Ibid. 255 David Bohm, op. cit., p. 208. 256 Cf. David Bohm, op. cit., p. 274. 254
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Begrenzte Ordnung des Erkennens
len Zeiten bemerkbar machte, indem es sich immer ein neues Vokabular sucht, um sich artikulieren zu können. Das Vergebliche solcher Entschlüsselungsversuche der Implikaturen unseres Wissens sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Mensch ja ohnehin als ein Don Quichotte seiner selbst angesehen werden muß. Ständisch gesonnene Angehörige der Gattung mögen das nicht. An ihrem Ende werden aber auch sie an dieser Einsicht nicht vorbeikommen. Es erwartet uns nichts Festes, aber hoffentlich ein finales Fest. Was soll, mit Augustinus gesprochen, eine fruitio dei denn anderes bedeuten? Wenn wir den Ausgangspunkt unserer Überlegungen zu von Hayeks sensorischem Ordnungsentwurf mit diesem ultimativen Ausgriff von David Bohm zusammenfügen, bleibt am Ende doch nur die Einsicht, daß die impliziten Strukturen in beiden Bereichen unauslotbar bleiben. Damit befinden sich reduktionistische Bestrebungen jedenfalls in mehr als schwerem Wasser. Sie sind gewollt aussichtslos und d.h. schon abgesoffen, bevor sie die Segel setzen konnten. Dieser Einsicht kann sich auch von Hayek am Ende nicht verschließen, wenn er summiert, „daß der Geist für uns immer ein Reich für sich bleiben muß, das wir nur durch direkte Erfahrung kennenlernen können, ohne es jemals ganz zu erklären oder auf etwas anderes ‚reduzieren‘ zu können“.257 Übrig bleiben daher nur Optionen, die auf ein Ganzes setzen, das nicht geschlossen ist.
257
Friedrich A. von Hayek, op. cit., p. 186.
24. Sich selbst verborgenes Denken
Das Faktum, daß wir als intelligible Wesen in einem Orien tierungsraum leben, den man sinnvoll nur unserer szenischen Existenz zurechnen kann, ermutigt dazu, sich Versuche in Erinnerung zu rufen, die diesen Orientierungsraum vielleicht anders fassen. Kant sprach umstandslos von einem mundus intelligibilis, Wilfried Sellars von einem space of reasons, Karl Popper von einer Welt 3. Obwohl niemand mit guten Gründen daran zweifeln kann, daß wir ‚irgendwie‘ eine solche Verortung benötigen, tun sich insbesondere Philosophen schwer, diese Dimension unseres Existierens angemessen vorstellig zu machen. Martin Heidegger schätzte solche Bemühungen um aparte Sektorierungen übrigens überhaupt nicht und rechnete sie einem schlecht verhohlenen Platonismus zu. Er empfahl vielmehr, das Gemeinte in die Formen unseres Existierens selbst zu integrieren. Daraus ergibt sich zwangslos die schon genannte szenische Form unseres Existierens und dieser Integrationsmodus hat gewiß sein Recht. Dennoch hält die Tradition auch Überschüsse bereit, die wir in Bemühungen auf diesem Felde noch nicht abgetragen haben. Dazu gehören ganz zweifellos die großartigen Versuche von Platon, einschließlich seiner ungeschriebenen Lehre, von Aristoteles, auch des Neuplatonismus, der beide zusammenfaßt, den space of mind
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Sich selbst verborgenes Denken
in einer Weise zu fassen, von der wir auch heute noch lernen können, aber mancherorts intellektuell überfordert sind oder bloß nicht wollen.258 Die Abschattungen des ursprünglich Einen in den Figurationen unserer vordergründigen Reflexionen und Wissensbemühungen ‚beredt‘ werden zu lassen, war seit Parmenides und Platon auf der Agenda, erreichte aber erst mit Plotin und Proklos einen Zustand der Reife, dessen bloße Erinnerung uns heute, wie gesagt, bisweilen Schwierigkeiten bereitet. Die implizite Dimension des Denkens führt in Areale, die sich heute – außer Historikern – kaum ein Philosoph noch zu explizieren getraut. Das in dieser rückwärtigen Tiefe zugemutete Denken eines ultimativen Einen, vor dem jedes artikulierte Denken in landesüblichen Unterscheidungen in die Knie geht, d.h. sich selbst aufgibt, ist in der Tat eine Anstrengung, die sich nicht jeder zumuten sollte, obwohl er akzeptieren muß, daß er die Erbschaft dieses Hintergrundes nie abschütteln kann, weil es der überkommene Möglichkeitsspielraum des Denkens ist, in dem auch er wurzelt. Dieser so schwer greifbare Hintergrund wird, so der kundige Interpret Werner Beierwaltes, von Proklos durch den Bezug von ‚κρυφίως‘ (verborgen) und ‚οἰκείως‘ (eigentümlich) zu fassen versucht.259 Will sagen: Unser Denken gründet in einer Dimension, die dem Denken vorhergeht, ihm verborgen, aber ebenso eigentümlich. Hier hat die Erforschung des impli258
Cf. hierzu die robuste, aber berechtigte Besprechung des von Christoph Horn et al. edierten Platon-Handbuchs durch Hans Krämer, Der halbierte Platon, in: Philosophische Rundschau 58 (2011), pp. 158–171. 259 Cf. Werner Beierwaltes, Proklos, op. cit., Vorwort zur zweiten Auflage (1979), p. XII.
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ziten Wissens in der Tat ein Ende. Mehr kann die Philosophie nicht leisten, wenn sie dieses Rückgangsprogramm überhaupt bewältigen kann. Von dieser Erfahrung einer Überforderung des Denkens ging auch gut tausend Jahre nach Proklos schon Nikolaus von Kues (1401–1464) aus. Aber er packte den Stier gleich bei den Hörnern mit dem Geständnis, daß wir um diesen ultimativen Hintergrund zwar wissen, aber doch zugeben müssen, daß wir hier unsere epistemisch ambitionierten Hände nur schmutzig machen können. Da „unser Verlangen nach Wissen nicht sinnlos ist, so wünschen wir uns unter den angegebenen Umständen ein Wissen um unser Nichtwissen“.260 Cusanus ist der erste Denker überhaupt, der das Widerspiel von Wissen und Nichtwissen zu transzendieren versucht. So widersprüchlich unsere ultimativen Charakterisierungen zumindest für unsere begriffliche Normalausstattung verbleiben, so daß wir genau hier gewöhnlich Halt machen, um unsere sinnliche Bewährungsbasis nicht zu verlieren, so aufschlußreich sind sie doch für unsere Kenntnis des Impliziten, dem wir nicht entrinnen können. Wollen wir aufs Ganze gehen, benötigen wir natürlich irgendwie eine Anleitung, um das Sinnliche zu übersteigen (transcendenter (…) liquendo sensibilia).261 Nur so bekommen wir das Ursprüngliche in den Blick, die implizite Dimension, in der alle Widersprüche 260
Nicolai de Cusa/Nikolaus von Kues, De docta ignorantia/ Die belehrte Unwissenheit, trad. et ed. Paul Wilpert, Hamburg 1964, p. 9. 261 De docta ignorantia, cap. ii, p. 12/13.
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und Kontraste verdampfen. Sie bleiben hier einfach stehen, um unsere epistemische Ohnmacht in eine Tugend des Ertragens zu verwandeln. Wir gewahren dann eine Dimension, in der alle Möglichkeiten des Realen thesauriert oder ‚eingefaltet‘ sind. Hiergegen und zu ihnen im Kontrast bilden die realen Verhältnisse nur einen schmalen Ausschnitt. Die ursprüngliche Fülle verbleibt epistemisch eine glühende Wolke, die auch rücklings vor uns her zieht, uns nie begangene Wege anzeigt. Vor ihr erscheint das uns bekannte ontologische Reich als ein Reich der Armut an Möglichkeit: „Mit der Setzung der Einfaltung ist ja noch nicht das eingefaltete Ding gesetzt (posita complicatione non ponitur res complicata). Aber mit der Setzung der Ausfaltung ist die Einfaltung gesetzt (sed posita explicatione ponitur complicatio).“262 Gehen wir davon aus, daß im unvordenklichen Reich einer geradezu providentiellen Fülle alle Möglichkeiten auch in ihrer Widersprüchlichkeit versammelt sind, wird man dennoch zugeben müssen, daß, was immer existiert, nur in einiger Sortierung und das heißt Verarmung manifest werden kann. Deshalb ist es uns zwar möglich auf diese ursprüngliche Dimension hinzuweisen, aber mehr auch nicht. Sie bleibt uns als Nichtgewußtes implizit präsent, läßt sich aber nicht restlos explizieren. Formen des Nichtgewußten rahmen bleibend unser Reich des Gewußten. Kein Wunder, daß selbst ein so versierter Physiker wie David Bohm, auf den wir oben schon zu sprechen kamen, die Metaphorik der complicatio oder Einfaltung aufgegriffen hat, um einen neuen Ordnungsbegriff einzufüh262
Docta ignorantia cap. xii, op. cit., p. 90/91.
Sich selbst verborgenes Denken
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ren, der sich von Konnotationen eines mechanistischen Weltbildes völlig frei hält. Daß wir die implizite Dimension nur selten als solche erfassen, besteht ihm zufolge nur darin, daß wir „dazu neigen, die Erfahrung dessen, was explizit und manifest ist, als primär zu empfinden“.263 Von dieser irreführenden Orientierung könnte uns, wie auch David Bohm betont, die Musik abbringen: „Wenn man Musik hört, nimmt man (…) direkt eine implizite Ordnung wahr.“264 Das scheint der Zweck aller Künste zu sein.265 Wir müssen unsere Erfahrungstiefe offenbar erst wieder erreichen. Dieses Bemühen sollte auch die Philosophie nicht behindern, sondern befördern. Das tut sie gewiß auch da, wo sie mit Robert B. Brandom ausdrücklich dem Projekt folgt, in einer Art Verpflichtungsforschung (commitmentresearch) die impliziten Festlegungen unserer diskursiven Praxis explizit zu machen.266 Dieses Ziel verfehlt sie aber zugleich im selben Projekt, wenn sie die Explikationsmaschine auf „das angestrebte Ideal expressiver Vollständigkeit“267 ansetzt. 263
David Bohm, Die implizite Ordnung, op. cit., p. 266. David Bohm, Die implizite Ordnung, op. cit., p. 258. 265 So auch David Bohm, cf. op. cit., p. 44 sq. 266 Robert B. Brandom, Making it Explicit. Reasoning, Representing, and Discursive Commitment, Harvard University Press 1994; dt. Expressive Vernunft, Frankfurt/M. 2000 (zitierter Text). Das Programm ist übrigens an und für sich nicht neu. Das Projekt der einstmaligen Erlanger Schule ist mit ihm koextensiv (aber besser lesbar). Cf. Carl Friedrich Gethmann, Protologik. Untersuchungen zur formalen Pragmatik von Begründungsdiskursen, Frankfurt/M. 1979. 267 Robert B. Brandom, Expressive Vernunft, op. cit., p. 900. 264
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Sich selbst verborgenes Denken
Zwar erreicht das Projekt hier eine anthropologisch interessante Pointe, indem es selbstreflexiv wird: „[W]ir machen uns selbst explizit als Explizitmachende.“268 Aber das Programm subtrahiert in diesem Ziel gerade die notwendig implizit verbleibende Dimension und agiert ausschließlich im Einzugsbereich diskursiver Rechtshändel im Stile inferentieller „Kontoführungen“269. Selbst dann, wenn der Status einer Explikation nicht als Erklärung verstanden wird, sondern als Bekundung, d.h. als Expression270, erscheint unser expressives Portfolio hier nur extrem verkürzt und behindert eine Zuwendung zu Erfahrungstiefen, an die wir zweifellos angeschlossen bleiben, aber nicht als Kontrolleure, sondern als emotional und intelligibel Gestimmte wie Musikinstrumente. Dann kann in glücklichen Konstellationen von uns gesagt werden, was die Geigerin Isabelle Faust von ihrer Stradivari ‚Dornröschen‘ sagt: „An ihren besten Tagen hat diese Geige eine unglaubliche Leuchtkraft“.271
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Robert B. Brandom, Expressive Vernunft, op. cit., p. 901. Diesen Ausdruck hat Brandom eingeführt. In Wahrheit geht es nur um die Berücksichtigung der Wahrheitsbedingungen. Die armen Wahrheitstafeln Wittgensteins haben in verschiedenen Kontexten eine erstaunliche Karriere gemacht. So erscheinen anderen Orts die Spalten der Wahrheitstafeln als ‚mögliche Welten‘ (bei Saul A. Kripke). Von ‚Welt‘ kann hier gar keine Rede sein. 270 Cf. Robert B. Brandom, Expressive Vernunft, op. cit., p. 181. 271 Gespräch mit Christiane Tewinkel, in: FAZ vom 2.6.2012, Z 6. 269
25. Interne und externe Globalisierung
Das, was man heute Globalisierung272 nennt, ist schon da, wo auch nur ein Mensch da ist. Der universalistische Zuschnitt der Rationalität des homo sapiens erlaubt keine andere Einstellung als die Totale, kein anderes Format seiner Reichweite als eine ideales, kosmisches oder globales. Es geht von Anfang an um das Schicksal in einem Ganzen, wie es die ersten Mythen, mythoiden Erzählungen und Offenbarungszeugnisse der Religionen dokumentieren. Insofern ist die heutige Globalisierung bloß eine technische, d.h. ökonomische, militärische und informationstechnologische Verkörperung der grundlosen Universalität des Menschen. Intern ist der Mensch, insofern er Mensch ist, immer schon globalisiert. Als Platon in seiner Politeia einen optimalen Staatsentwurf ausführlich dargestellt hat, fragt er sich gegen Ende, also am Ende des neunten Buches, ob ein solches Gebilde irgendwo existiere. Der Philosoph macht sich hier keine Illusionen. Der Staat, „den wir jetzt durchgegangen sind und angeordnet haben und der in unseren Reden liegt“, von dem kann man schwerlich annehmen, „daß er irgendwo zu finden sei“. Trotzdem war die konzeptuelle Anstrengung nicht umsonst: „[I]m Himmel ist doch vielleicht ein Muster aufgestellt für den, der sehen und nach 272
Cf. zum Thema historisch ausgreifend Jürgen Osterhammel/ Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, München 2003.
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Interne und externe Globalisierung
dem, was er sieht, sich selbst einrichten will.“273 Es ist letztlich irrelevant, ob sich dieser Staatsentwurf irgendwo lokalisieren läßt: Er gilt seinem Anspruch nach universal. Wo immer konkrete Prozesse von nation building auf der Tagesordnung stehen, ist die Blaupause, so das Argument Platons, zum metaphysischen Trost schon da. Der Entwurf eines idealen Staates als Antwort auf die Frage nach der Gerechtigkeit, mit der Platons Politeia einsetzt, ist über die Jahrtausende eine Spezialität der Philosophen geblieben. Noch in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern von 1844 setzt Karl Marx auf eine praktisch werdende Kritik im scharfen Kontrast zu einer dogmatischen Praxis unausgewiesener Menschheitsbeglücker. „Es wird sich dann zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen.“ 274 Man muß also, so der frühe Marx, an den kritischen Potentialen der Vergangenheit anknüpfen, sie aus ihrer träumerischen, impliziten façon d’être befreien, sie mithin begrifflich explizit machen, um sie in einen realen, handlungsleitenden Bewußtseinszustand zu überführen. Tut man das, wird es sich erweisen, „daß es sich nicht um einen großen Gedankenstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft handelt, sondern um die Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit“.275 Was nicht impliziter 273
Pol. 592a–b. Platon, Werke in acht Bänden, Bd. 4, bearbeitet von Dietrich Kurz, dt. Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, Darmstadt 1971, p. 789/791. 274 Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1972, p. 346. 275 Ibid.
Interne und externe Globalisierung
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Menschentraum war, so der frühe Marx, taugt auch nicht zur revolutionären Praxis. Diese implizite Quelle normativer Überzeugungen hatte vor Marx schon Schelling namhaft gemacht: „In den Herzen und Geistern vieler Menschen liegt ein Geheimniß, das da ausgesprochen sein will; und es wird ausgesprochen werden.“276 Das klingt sehr versöhnlich, weil vernünftig. Die Frage bleibt allerdings, wer über dieses Geheimnis, von dem schon Schelling sprach, wer über diese Träume, die Marx reklamiert, befindet. Wenn Traumdeuter zur politischen Macht kommen, kann das fatale Folgen haben. Die Verwechslung von Menschenträumen mit Wunschträumen eigener Art ist jedenfalls eine große Gefahr, wie es sich historisch bei politisch ambitionierten Traumdeutern wie Lenin, Stalin, Mao, Castro, Honecker u.a. auch schmerzvoll gezeigt hat. Tatsache bleibt indes, daß der junge Marx als veritabler Hegelianer noch von innen nach außen dachte: Die Legitimitätsquelle ist innen, sie ist die untrügliche Mnemosyne der Menschheit, indes: ihr Bewährungsfeld ist außen. Was implizit schon vorhanden ist, muß politisch explizit werden. Die Theorie rettet einen alten Traum der Menschheit, den die Philosophen zur expliziten Deutung verhelfen und die Politik im Namen aller in eine gestaltende Praxis zu überführen hat. Gegen eine solche Traumdeuterei setzten schon die Historiker seit Herodot (ca. 490/80–424) auf Fakten 276
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichteschen Lehre (1806), in: ders., Schriften von 1806–1813, Darmstadt 1968, p. 121.
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und Geschichten, die speziell bei ihm zunächst bloß eine ruhmrettende Funktion hatten: Was Griechen und Nichtgriechen Großes vollbracht haben, wird durch Geschichte vor dem Vergessen bewahrt und dem versöhnenden Nachruhm überantwortet.277 Bei Thukydides (ca. 454–399/96) ist von dieser rühmenden Aufgabe der Geschichte, die noch in der Erbschaft der Rhapsoden steht, keine Rede mehr. Sie tritt vielmehr als Lebenslehrerin auf, als historia magistra vitae, wie Cicero später formuliert.278 Es geht ihm also um möglichst genaue und klare Erkenntnis des Vergangenen, damit der Leser Hinweise für die Zukunft gewinnen kann. Das funktioniert nach Thukydides einfach deshalb, weil die menschliche Natur eine Invariante der Geschichte ist und bleibt. Bei Thukydides gibt es nur diese Versöhnung im Fokus einer Konstanz der menschlichen Natur. Wie sich Menschen ehedem in bestimmten Konstellationen verhielten, so werden sie sich in ähnlichen Konstellationen auch in Zukunft verhalten.279 Daher ist eine möglichst genaue Kenntnis des Vergangenen auf der Basis geprüfter Quellen erforderlich. Oral history ist jedenfalls für Thukydides, also schon in der Antike, diskreditiert, methodisch jedenfalls kein glückliches Unternehmen, weil die Augenzeugen höchst unzuverlässig sind. Diesen didaktischen Zug hat der Historiker Polybios (ca. 200–120) in seiner ‚pragmatischen‘ Geschichtsschreibung nur noch in einer eigentümlichen Schwundstufe be277
Herodot, Historien, trad. Christine Ley-Hutton, ed. Kai Brodersen, Stuttgart 2007², 1. Buch, Proömion. 278 Cicero, De orat. 2, 36. 279 Cf. Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, trad. et ed. Helmuth Vretske/Werner Rinner, Stuttgart 2005.
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wahrt.280 Er schrieb die Geschichte Roms vom Beginn des ersten Punischen Krieges bis zur Zerstörung Karthagos und Korinths, also von 264 bis 146 v. Chr. Die Zerstörung Karthagos hat er im Gefolge von Scipio Africanus als Augenzeuge übrigens selber miterlebt. Von den historischen Traumdeutereien der Philosophen will er ausdrücklich nichts mehr wissen. Nur in der politischen Praxis erprobte Verfassungen sind für den Historiker relevant und zu berücksichtigen. Platons Staatsentwurf wird daher von Polybios zur Entscheidung über die beste Verfassung gar nicht erst zugelassen, ebenso wie man untrainierte Athleten nicht zum Wettkampf zuläßt.281 Da nun die Geschichtsverläufe aufs Ganze gesehen immer dieselbe Kreisstruktur aufweisen, in denen machtvolle Anfänge mit desaströsen Niedergängen verknüpft sind, können wir aus der Geschichte nur eins lernen: So glanzvoll etwas beginnt, es wird unausweichlich wieder zugrunde gehen. Dafür gibt es Gründe, deren Kenntnis sich uns jedoch häufig entzieht. Die menschliche Geschichte ist, und darin sind die Verlierer mit den Gewin280
Cf. Reinhart Kosellek, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M. 1979. Insbesondere Kosellecks Gedanke vom Zufall als ‚Motivationsrest‘ der Geschichtsschreibung hat die folgende Skizze nochmals motiviert. 281 Cf. Polybios, Geschichte, Gesamtausgabe, eingeleitet und übertragen von Hans Drexler, Bd. 1, Zürich/Stuttgart 1961, p. 573: „Denn so wenig wie wir Schauspieler und Athleten, die nicht ausgewiesen sind und nicht trainiert haben, zu Wettkämpfen zulassen, so darf auch der platonische Staat zum Wettkampf um den Preis der besten Verfassung keinen Zutritt haben“ (VI, 47).
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nern quasi a priori versöhnt, einfach zu Auf- und Niedergängen verdammt. Warum das so ist, können wir meistens nicht restlos erklären, in diesem Geschehen beweist sich, so Polybios, das Wirken eines Geschicks (τύχη). Wo lokal gesehen alles aus erforschlichen Gründen bestimmt ist, bleibt das Gesamtgeschehen in seinem Auf und Ab häufig rätselhaft. Hier gibt es unvermeidlich Wissenslücken, die dann durch Berufung auf ein Geschick oder durch Zufallsannahmen geschlossen werden. Geschick oder Zufall dementieren daher nach Polybios die Rationalität unseres Geschichtsverstehens gerade nicht, sondern halten sie geschlossen.282 Was Polybios zudem als erster im Ansatz gesehen hat, ist das, was man die Globalisierung in Zeiten der Antike nennen könnte. Sein Gegenstand ist die römische Geschichte, d.h. die Zeit, in der Rom zur Weltherrschaft gelangt ist. Natürlich ist auch hier schon abzusehen: „[S]o 282
Polybios ist bei der Bemühung des Geschicks, der τύχη, übrigens äußerst vorsichtig. Für alle, auch historischen Ereignisse gilt generell, daß es meist nicht angemessen ist, von τύχη zu reden, „denn das wäre töricht, sondern wir müssen vielmehr nach der Ursache suchen (αἰτίαν … ζητεῖν). Denn ohne eine solche kann nichts geschehen, weder etwas Begreifliches (κατά λόγον) noch etwas scheinbar Unbegreifliches (παρά λόγον).“ (Polybios, Geschichte II, 38; cf. die griechische Ausgabe Polybii Historiae, ed. Theodorus Buettner-Wobst, (Teubner) Stuttgart 1985). Diese Stelle zeigt besonders deutlich, daß auch das Unbegreifliche nicht etwas ist, was keine Ursachen hat, es hat welche, bloß sind sie uns nicht bekannt oder zugänglich. Und wenn das so ist, dann ist es erlaubt, die Erklärungslücke mit dem Walten der Götter, dem Geschick oder Zufallsannahmen zu schließen. D.h. auch das Geschick dementiert gerade nicht das rationale Weltbild ursächlichen Geschehens, sondern stützt es.
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sehr wie irgendein anderer Staat wird nach dem Gesagten auch dieser, da er einen naturgemäßen Ursprung und Aufstieg gehabt hat, naturgemäß auch ein Ende nach der entgegengesetzten Richtung nehmen.“283 Solche historischen Erosionen geschehen, wie alles, quasi naturnotwendig (φύσεως οἰκονομία). Es gibt dafür Gründe der Zerstörung „wie für das Eisen der Rost, für das Holz der Holzwurm die natürliche Schädigung ist“.284 Zu dieser physischen Ökonomie der Geschichtsverläufe gehört für seine Zeit vor allem auch der Umstand, daß der Geschichtskörper vereinheitlicht erscheint. Aufs Ganze gesehen dokumentiert sich über alles Absehbare hinaus hierin wieder ein Geschick, der Eingriff der Tyche, die „dem gesamten politischen Geschehen die Richtung auf einen Punkt hin gegeben und alles gezwungen (…), sich auf ein und dasselbe Ziel hinzuwenden“.285 Eben dadurch wurde eine europäische Globalisierung sui generis gezeitigt. Die vordem disparaten Geschichtsräume wurden zu einer einzigen Weltgeschichte eingeschmolzen: „In den vorangehenden Zeiten lagen die Ereignisse der Welt gleichsam verstreut auseinander, da das Geschehen hier und dort sowohl nach Planung und Ergebnis wie räumlich geschieden und ohne Zusammenhang blieb. Von diesem Zeitpunkt an aber wird die Geschichte ein Ganzes, gleichsam ein einziger Körper (σωματοειδῆ)“.286 283
Polybios, Geschichte VI, 9; ed. Drexler, p. 534. Polybios, Geschichte VI, 10; op. cit., p. 535. 285 Polybios, Geschichte I, 4; op. cit., p. 4. 286 Polybios, Geschichte I, 3; op. cit., p. 3. 284
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Dieser Satz von Polybios ist die Urkunde der Globalisierung. Das Thema der Globalisierung beginnt genau hier, nicht der Sache nach, denn andere Weltreiche wie das Alexanders waren schon vergangen, aber dem Begriffe nach. Da für Polybios, wie schon angedeutet, die Grundlage des Geschichtsprozesses eine Abgleichung an den Formaten der jeweiligen Verfassungen ist, kann man zudem sagen, daß die Weltgeschichte schon für Polybios im Kern Rechtsgeschichte ist. Gegen Ende des ersten Weltkriegs, also 1917, machte sich ein jüdischer Philosoph, nämlich Franz Rosenzweig (1886–1929),287 noch im Felde, Gedanken über das zukünftige Schicksal der Weltgeschichte auf der Basis ihrer bisherigen Eckdaten. Dieser fragmentarische Text unter dem späteren Titel Globus wurde von Franz Rosenzweig selbst zur Publikation aus dem Nachlass bestimmt.288 287
Immer noch lesenswert ist die frühe, außerordentlich elegant geschriebene Studie von Jürgen Habermas, Der deutsche Idealismus der jüdischen Philosophen (1961), in: ders., Philosophisch-politische Profile, Frankfurt/M. 1971, pp. 37 sqq. Habermas hat ein ungemein feines Gespür für die Modernität von Rosenzweig in seinem Kontext von Kabbala und Schelling: „Die Grundfrage, an der das idealistische Selbstvertrauen auf die Kraft des Begriffes zerbricht, ist die: ‚wie die Welt zufällig sein kann, obwohl sie doch als notwendig gedacht werden muß.‘“ (p. 40) Dieses Problem bewegt uns bis heute. 288 Franz Rosenzweig, Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften, Bd. III: Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken, eds. Reinhold und Annemarie Mayer, Dordrecht/Boston/Lancaster 1984, Bemerkungen der Herausgeber, p. 850/51. Der Text selbst ist in diesem Band pp. 313–368 zu finden.
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Man sollte indes von dieser Studie, die in einer impressionistisch gehaltenen, sehr selektiven Revue der Weltgeschichte besteht, nicht zuviel erwarten. Ihre Funktion war seinerzeit ersichtlich nur eine Art Selbstverständigung eines diagnostisch sensiblen Zeitgenossen in den Turbulenzen des ersten Weltkrieges. Indes gibt es hier bemerkenswerte Punkte, die Interesse verdienen. Dazu gehört schon die Eingangsfeststellung mit ihrem Paukenschlag zur kritischen Erinnerung an Rousseau: „Der erste Mensch, der auf dem Boden der Erde ein Stück sich und den Seinen zum Eigentum eingrenzte, eröffnete die Weltgeschichte.“289 Die Erde ist hiernach, wie später bei Carl Schmitt, das Element der Begrenzungen ebenso wie das Meer das Element der Grenzenlosigkeit ist.290 Entsprechend gliedert Rosenzweig seinen Text in zwei Stücke, der erste entwirft einen Bilderbogen der Weltgeschichte auf dem Boden der Erde unter dem Titel Ökumene. Weltstaat und Staatenwelt, der zweite unter dem Titel Thalatta. Seeherrschaft und Meeresfreiheit summiert die geschichtlich bedeutsam gewordenen Strukturen der zivilen und militärischen Seefahrt, die Expeditionen zur See mit dem Zweck einer Kolonisierung eingeschlossen.291 289
Globus, op. cit., p. 313. Cf. Globus, op. cit., ibid.: „Die Erde ist so von der Schöpfung her bestimmt, in aller Zeit von Grenzen überzogen zu werden. Begrenzbarkeit ist ihre Natur, Unbegrenztheit nur ein letztes Ziel (…) Die Grenzenlosigkeit, die der Erde letztes Ziel bleibt, ist dem Meer von Anbeginn eigen.“ Kurz: „[V]om Meer her strahlt stets ein Glanz, der ihm das unbekannte Draußen vor die schlafbereite Seele zaubert.“ 291 Daß gerade die Kolonisierungskosten bis in unsere Zeit eine grauenhafte Erbschaft hinterlassen haben, konnte Rosenzweig damals noch nicht absehen. Das Herz Afrikas, der 290
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Indem auf diese Weise der Geschichtsverlauf Erde und Meer immer mehr in sich einbegreift, ‚rundet‘ sich auch die Geschichte. Dieser Rundungsprozeß ist aber seinerzeit noch nicht abgeschlossen: „[N]och ist die Erde in Wahrheit – nicht Kugel. Weil sie es nicht ist, deshalb kann Japan, kann Amerika noch diesen Krieg und seine Welt von außen ansehen. Sie sind noch nicht in ihn hineingezogen. Das heißt aber: sie gehören noch nicht zur Welt.“292 Dieser Befund ist spätestens mit dem zweiten Weltkrieg natürlich gegenstandslos geworden. Er zeigt uns aber zweifelsfrei, daß Rosenzweig einer der ersten war, der die spätere Konjunktur der sog. ‚Großraumtheorien‘293 schon vorweggenommen hat. Für ihn war der Prozeß der Globalisierung noch nicht abgeschlossen. Das belegt auch der Schlußsatz des Textes: „Noch ist die Menschheit nicht im einen Haus. Noch ist Europa nicht die Seele der Welt.“294 Rosenzweig blickt auf die Weltgeschichte erstens als Prozeß einer unaufhaltsamen Globalisierung, die kurz vor der Vollendung steht. Und dieser Prozeß ist zugleich und zweitens der einer Europäisierung der Welt. Hierin besteht die historische Einhausung der Menschheit als ganzer, also die geheime Ökumene. „Man hat von ewig
Kongo, leidet immer noch daran. Cf. dazu die monumentale Studie von David Van Reybrouck, Kongo. Eine Geschichte, trad. Waltraud Hüsmert, Berlin 2012. 292 Globus, op. cit., p. 367. 293 Cf. hierzu Mathias Schmoeckel, Die Großraumtheorie. Ein Beitrag zur Geschichte der Völkerrechtswissenschaft im Dritten Reich, insbesondere der Kriegszeit, Berlin 1994. 294 Globus, op. cit., p. 368.
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getrennten Kulturkreisen gesprochen. Ich glaube nicht daran.“295 Jeder, der das Konzept einer Globalisierung vertritt, muß zugleich darüber Rechenschaft ablegen, welches kulturelle Profil das Finale der Globalisierung aufweisen wird. Für Rosenzweig ist dies unzweideutig ein europäisches Format. Das braucht nicht zu bedeuten, daß die historisch gewachsenen Kulturen dadurch annulliert würden. Vielleicht im Gegenteil: Sie werden dadurch umso kostbarer. Wo das äußere Gesicht der Welt in europäischer Uniformierung erscheint, wird das Eigene umso wichtiger. Was bisweilen als Defizit der Globalisierung empfunden wird, könnte sich daher als ein Gewinn erweisen. Selbst wenn die Globalisierung über Verkehr, Information und Machtstrukturen wirklich geschlossen und ständige Gegenwart wäre, blieben die disparaten Vergangenheiten bestehen und müßten an die Gegenwart in einem befruchtenden Sinn angeschlossen bleiben. ‚Herkunftssubstanzen‘, wie Joachim Ritter sie später nannte, die aus dem rechtlichen Format einer Gegenwart herausfallen, bleiben zumeist dennoch wirksam, um den Eigensinn tradierter kultureller Prägungen auch weiterhin zum expressiven Austrag zu bringen. Für Einheimische aus Gründen einer Identitätswahrung unentbehrlich, für Außenstehende und ihre Lernprozesse eine Bereicherung. Dennoch kann nicht geleugnet werden, daß hier ein Problem liegt, das in unserer Zeit auch politisch virulent wurde und ist. Einer der wenigen, die dieses Problem, das in Ansätzen von Rosenzweig bereits bemerkt wurde, klar 295
Globus, op. cit., p. 348.
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und unmißverständlich diagnostiziert haben, war Joachim Ritter (1905–1974). In seiner Studie Europäisierung als europäisches Problem (1955), die 1956 zum ersten Mal erschien296, hat er in einiger Unerbittlichkeit dem realen Modernisierungsprozess eine ambivalente Bilanz ausgestellt, die bis heute gültig ist. Ritter war, wie er in der ersten Fußnote mitteilt, von 1953–1955 an der Universität Istanbul tätig. Dort und in dieser Zeit erarbeitete er sich die Perspektive, die er in einer Art Rechenschaftsbericht dem westeuropäischen Publikum mitteilt. Er geht von der Beobachtung aus, daß gerade im 20. Jahrhundert weltweit viele Länder in Umwälzungsprozesse dramatischen Ausmaßes hineingezogen wurden: China, Japan, Indien, Ägypten und die Türkei traten aus der ‚Kontinuität ihrer Herkunftsgeschichte‘ heraus und in europäisch definierte Formate ein, wie immer brüchig, manchmal geradezu brutal. Hier sieht Ritter eine Gefahr der modernen Europäisierung der Welt, die er im Rückgriff auf Hegel als Entzweiung von Herkunft, Gegenwart und Zukunft versteht. Wenn es mit Hegel die Aufgabe der Philosophie ist, die Vernunft im Gegenwärtigen und Wirklichen zu begreifen, dann ist trotz seiner intrinsischen Probleme heute gerade dieser ausgreifende Globalisierungsprozeß das Vernünftige im Sinne Hegels, wie Ritter es sieht: „Dies Gegenwärtige ist die Europäisierung und mit ihr die Aus-
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Und zwar in: Europäisch-asiatischer Dialog, Vorträge der Tagung in Bottrop vom 25. bis 28. Oktober 1955, ed. Vorstand des Landesverbandes nordrhein-westfälischer Geschichtslehrer, Düsseldorf 1956, pp. 9–19. Wiederabgedruckt in: Joachim Ritter, Metaphysik und Politik, Frankfurt/M. 1969, pp. 321–340 (zitierter Text).
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breitung der ursprünglich europäischen Zivilisation über die Erde.“297 Die Globalisierung, die Ritter wie seinerzeit Rosenzweig völlig korrekt als Europäisierung versteht298, 297
Joachim Ritter, Europäisierung, op. cit., p. 337. Das muß schon deshalb betont werden, weil es inzwischen Stimmen gibt, die dagegen halten. Zuletzt Christopher A. Bayly, Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte, Frankfurt/M. 2006. Bayly versucht, wie andere Autoren natürlich auch, das Bild der Globalisierung selber zu globalisieren. Was er belegen kann, sind in der Tat weltweite Erregungszentren einer beginnenden Modernisierung schon im 19. Jahrhundert. Was er unterbelichtet läßt, ist der europäische Infekt, an dem sich diese Erregungen in den USA und auch in China entzündet hatten. Daß die Arbeit einem Aroma kontrovers zum Eurozentrismus zuarbeitet, nennt Herfried Münkler in seiner Besprechung zwar ‚klug‘ (cf. in: Die Zeit vom 7.12.2006), aber unter dem Strich ist dieser Gewinn bloß politisch korrekt. Unbestreitbar sind die vielfältigen Ankerpunkte für begonnene, auch wieder stornierte Prozesse (China) einer Globalisierung durch die Korridore der Weltgeschichte hindurch. Das heutige Format ist aber, ablesbar am Design der Großstädte, der Rechtsformate, der Industrie- und Wissenschaftsbasis, eindeutig europäisch. – Es verdiente übrigens eine eigene Untersuchung, wie sich die World History-Bewegung in den USA (William H. McNeill, Immanuel Wallerstein u.a.) und, etwas weniger zugespitzt, da erwachsen aus der Schule der Annales, das Projekt einer Histoire croisé (Bénédicte Zimmermann, Michael Werner u.a.) die Geschichtswissenschaft in merkwürdiger Weise politisieren. McNeills’ Buch (The Rise of the Western History of the Human Community, Chicago/London 1963) ist in das amerikanische Curriculum der Schulen eingegangen. 2010 erhielt er, gewiß verdient, die National Humanities Medal durch den Präsidenten Barack Obama. Weltgeschichte dreht sich nach dieser Geschichtsschreibung seit der amerikani-
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vollstreckt sich allerdings in einer gnadenlosen Degradierung von Herkünften, die den Widerspruch auch in Form von Gewalt wachruft. Revolutionäre Verneinung der Herkunft und reaktionäre Verneinung der Zukunft prallen aufeinander: „[D]ie innere Zerrissenheit nimmt zu und treibt die Versuchung hervor, den unversöhnten Gegensatz durch die Gewalt zu lösen.“299 Was hier nottut ist, wieder mit Hegel gedacht, eine Versöhnungsformel. Ritter gewinnt genau diese aus der Art, wie dieser revolutionäre Prozeß in Europa selber domestiziert wurde. Die in den europäischen Kriegen bis zur französischen Revolution militant ausgetragenen Antagonismen zwischen Herkunft und Zukunft sind allmählich und in schrittweiser Wirksamkeit in Form der Bildung verträglich gemacht worden: „Europa ist das geschichtliche Abendland geblieben, weil aus dieser Auseinandersetzung eine Bildung hervorgegangen ist, die es möglich macht, aus dem Reichtum der Überlieferung und zugleich in der modernen Welt zu leben.“300 Größer ist vom Wert der Bildung, gerade auch im Sinne der historischen Geisteswissenschaften301, nie gesprochen worden. Hier geht es im weltpolitischen Sinn um Versöhnung durch nichts sonst als durch Bildung. Für das hinterlassene und noch gegenwärtige Problem der Entzweiung im Prozeß der externen Globalisierung beschen Unabhängigkeit um die Achse der USA. Joachim Ritter, Europäisierung, op. cit., p. 335. 300 Joachim Ritter, Europäisierung, op. cit., p. 339. 301 Cf. Joachim Ritter, Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft, in: ders., Subjektivität, Frankfurt/M. 1974, pp. 105 sqq. Cf. dazu Wolfram Hogrebe, Echo des Nichtwissens, Berlin 2006, Vorwort: Die Qual der Geschichte. 299
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deutet das: Ohne Bildung gibt es keine Chance einer Versöhnung zwischen Überkommenem und Zukünftigem. Das gilt heute in brennender Notwendigkeit vor allem für die Länder der islamischen Welt, aber natürlich nicht nur dort. Hierbei sind es, entgegen den heutigen Debatten in den Feuilletons der Weltpresse, nicht immer die Differenzen der Religionen als solche, die im politisch grundlegenden Sinn problemgenerierend sind. Vielmehr sind es häufig und manchmal sogar in erster Linie die Differenzen sonstiger Bindungsprofile der Gesellschaften, deren Unterschiede die Probleme erzeugen: Clan-Strukturen, familiare, tribale und hereditäre Bindungsenergien aller Art, stehen mit ihren sehr eigentümlichen kommerziellen und ökonomischen Ambitionen strikt juridischen Bindungsformen, wie sie der Westen kennt, gegenüber. Beides ist nur begrenzt kompatibel. Eine hartnäckig verbleibende Inkompatibilität kann es sogar verhindern, daß eine territorial und sprachlich sehr wohl definierte Gemeinschaft das institutionelle Niveau eines Staates erreicht. Dafür steht das Schicksal Kurdistans. Die weltgeschichtlichen Dissonanzen haben also häufig keine nur religiösen, sondern insgesamt Bindungsprobleme vor-rechtlicher Art, gerade da, wo Recht und Sitte (noch) nicht ausdifferenziert sind. Für eine Einschätzung historischer Chancen muß daher immer zuerst eine Bindungsbilanz vorgelegt werden, um das implizite Normprofil erschließen zu können. Aus dieser wird in jedem Fall ersichtlich, daß ein subsidiär aufgetürmter Staat etwas ebenso Unwahrscheinliches wie Kostbares ist. Das wußte bereits Hegel und er wurde zu Unrecht dafür gescholten.
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Das zentrale Moment für den Gedanken Ritters ist also dieses: Wo die nach außen gesetzte Realität, gerade auch in der Fremderfahrung eine modernisierende Wirksamkeit entfaltet, die im Verhältnis zu den gewachsenen, bis dato explizierten und tradierten Bewußtseinsformaten in einen eklatanten Widerspruch geraten, gibt es keine andere Möglichkeit, als den Weg nach Innen anzutreten, um aus realitätshaltigen Lernprozessen ein neues Niveau zu entwickeln, das dem Neuen wie dem Alten integrativ gewachsen ist. Der implizite Mensch ist zwar in der Tiefe seiner Verfassung jeder Realität bleibend vorweg, aber eben deshalb ist er zu Lernprozessen fähig, die auf Neues nicht nur reagieren können, sondern es auch gestaltend fortzuentwickeln vermögen. Es ist nicht zu sehen, daß es zu diesem Gedanken eine probate Alternative gäbe, die nicht einem heillosen Fatalismus die Hand reichen müßte.
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Wer immer es unternimmt, von Anfängen her zu denken, die ihm selber unbekannt, aber implizit sind, kommt nicht darum herum, in einem strukturlosen Milieu zu beginnen. Das war den Griechen schon klar und sie faßten dieses Milieu als ἄπειρον. Aber ebenso war das bis Schelling eine Gewißheit, mit der er seine Zeit verstörte und uns bis heute verstört: „Die Basis des Verstandes selbst also ist der Wahnsinn.“302 Daß diese irritierende Figur in unserer Zeit einer Neuauflage fähig war, die in robuster Weise einen Neueinsatz des Denkens provoziert oder provozieren will, konnte allerdings in einer Gegenwart schläfriger Normalerwartungen niemand ahnen. Tatsächlich hat der französische Philosoph Quentin Meillassoux, Schüler von Alain Badiou303, eine Studie vorgelegt, die genau da anknüpft, wo Schellings Verstörung begann. Sein 2006 erschienenes Buch Après la finitude304 ist der ehrgeizige Versuch, der gesamten nach-kantischen Philosophie die Verlustrechnung aufzumachen im Rückgriff auf ein Absolutes, das an Schellings expliziter Verstörung 302
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Stuttgarter Privatvorlesungen (1810), in: ders., Schriften von 1806–1813, Darmstadt 1968, p. 414. 303 Cf. Alain Badiou, Das Sein und das Ereignis, Berlin 2005. 304 Paris 2006; dt. Nach der Endlichkeit, trad. Roland Frommel, Zürich/Berlin 2008.
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einer impliziten Menschheit Maß nimmt. Das Absolute, um das es Meillassoux geht, ist „eine eher bedrohliche Macht“. Es ist „etwas Dumpfes, das dazu imstande ist, sowohl die Dinge als auch die Welt zu zerstören; imstande, alogische Monster hervorzubringen; genauso imstande, niemals zur Aktualisierung überzugehen; gewiß imstande, alle Träume zu verwirklichen, aber genauso gut alle Alpträume; zu wilden und ordnungslosen Veränderungen imstande oder umgekehrt imstande, ein bis in die letzten Winkel unbewegliches Universum zu schaffen.“305 Kein Wunder, daß Schelling, der auch solchen abgründigen Anfängen nachdachte, jedes Verständnis dafür aufbrachte, daß man sich solchen Gedanken eher entziehen möchte: „Der große Theil der Menschen wendet sich von den Verborgenheiten seines eigenen Inneren ebenso ab wie von den Tiefen des großen Lebens und scheut den Blick in die Abgründe jener Vergangenheit, die in ihm nur zu sehr als Gegenwart sich verhält.“306 Schelling wußte darum, daß Menschen das Panorama eines anfänglichen Chaos mit seiner Erbschaft einer nicht eliminierbaren Kontingenz der Weltverhältnisse nicht gut ertragen können. Worum es Meillassoux daher geht, ist, das Chaos als zu verlassende, aber konzeptuell hinzunehmende Voraussetzung dessen, was ist, zu repristinieren. Seine Diagnose ist allerdings intrikat.307 Die falsche Weichenstellung, um 305
Quentin Meillassoux, Nach der Endlichkeit, op. cit., p. 91. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Die Weltalter (1813), in: ders., Schriften von 1813–1830, op. cit., p. 13/14. 307 Ob seine Argumentation überall zwingend ist, soll hier nicht zur Debatte stehen, interessant ist seine abschließende Intui306
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uns auf diesen Punkt zu konzentrieren, beginnt Meillassoux zufolge bei Kant. Dessen Transzendentalphilosophie adelte die Naturgesetze, wie sie ihm in Form der Newton’schen Physik zugänglich waren, indem er ihnen eine Notwendigkeit zuschrieb, deren Legitimation, so Kant, beweisbar in den Bedingungen objektiven Erkennens überhaupt verankert ist. Wenn wir den Naturgesetzen keinen notwendigen Status zuweisen, unterminieren wir daher, so Kant, unsere eigenen Erkenntnisbedingungen, ja machen ein Erkennen unmöglich. Dieser Nezessitismus ist für Hume und Kant gleichermaßen typisch. Leider ist er, so Meillassoux, nicht zu halten. Er beruht nämlich auf einem impliziten Schluß, den er die ‚frequentielle Implikation‘ nennt. Will sagen: Kant unterstellt, daß, wenn die Naturgesetze kontingent wären, sie sich tatsächlich grundlos regelmäßig ändern würden. Nun tun sie genau das nicht. Daher müssen sie notwendig sein.308 Kant argumentiert hier implizit, so Meillassoux, wie „ein Spieler vor einem gezinkten Würfel“. Wenn die Wurffolgen erstaunlicherweise immer dieselbe Zahl erbringen, dann kann etwas mit dem Würfel nicht stimmen. tion. Zu einer berechtigten Kritik seiner Begründungsstrategie auf der Basis ‚korrelationeller Tanzschritte‘ (cf. p. 18 et passim) cf. Slavoj Žižek, Less than Nothing. Hegel and the Shadow of Dialectical Materialism, London/New York 2012, pp. 625 sqq. Den Kontext von Meillassoux und Schelling beleuchtet im Fokus der Grundfrage der Metaphysik (Warum gibt es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?) auch Markus Gabriel in einem demnächst erscheinenden Aufsatz Schellings Antwort auf die Grundfrage der Metaphysik in der Urfassung der Philosophie der Offenbarung (Manuskript 2012). 308 Quentin Meillassoux nennt diese Argumentation den ‚Necessitäts-Schluß‘ (Nach der Endlichkeit, op. cit., p. 128).
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„Es muß daher einen irgendwie versteckten necessitären Grund geben – wie es ein ‚eingenistetes‘ Stück Blei im Würfel geben mußte –, der fähig ist eine solche Stabilität der Ergebnisse zu erklären.“309 Die Behauptung, daß Naturgesetze notwendig sind, ist also überzogen, es gibt zwar eine immer noch erstaunliche Stabilität, aber diese ist mit der impliziten Kontingenz des Universums verträglich. Das liegt auch daran, daß sich das Mögliche insgesamt nicht in eine Menge fassen läßt. Möglichkeiten sind, wie Meillassoux im Anschluß an Cantor formuliert, ‚nicht totalisierbar‘. Im Rücken des Möglichen gibt es keine Notwendigkeit mehr.310 Das 309
Quentin Meillassoux, Nach der Endlichkeit, op. cit., p. 131. Kein Wunder, daß Meillassoux in Erinnerung an diesen Würfelwurf ein neues Buch über Mallarmé vorgelegt hat. Cf. Quentin Meillassoux, Le nombre et la sirène. Un déchiffrage du Coup de dés de Mallarmé, Paris 2011. Daß Meillassoux’ These einer ultimativen Kontingenz übrigens eine gute Stütze in den mathematischen Ergebnissen von Gregory Chaitin hat, scheint ihm entgangen zu sein. Cf. Gregory Chaitin, On the intelligibility of the universe and the notions of simplicity, complexity, and irreducibility, in: Wolfram Hogrebe (ed.), Grenzen und Grenzüberschreitungen, XIX. Deutscher Kongreß für Philosophie, Berlin 2004, pp. 517–534. Hier weitere Literatur. Französische Denker haben offenbar eine Schwäche für die Kontingenz-These. Auf den Punkt gebracht hat das Jacques Monod: „Das Universum trug weder das Leben, noch trug die Biosphäre den Menschen in sich. Unsere ‚Losnummer‘ kam beim Glücksspiel heraus. Ist es da verwunderlich, daß wir unser Dasein als sonderbar empfinden (…)?“ (Jacques Monod, Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie (1970), München 1975, p. 129) Deutsche Denker bevorzugen hingegen häufig eher Varianten des Nezessitismus. 310 Georg Cantor, ist, pace David Hilbert, trotz der intuitioni-
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Ergebnis dieser Argumentation ist die Rückkehr zur cartesischen Einsicht, daß das, was mathematisch erfaßbar ist, an sich erfaßt ist: „Was mathematisch denkbar ist, ist absolut möglich.“311 In dieser Fassung tritt uns merkwürdigerweise ein unerwartetes Absolutes entgegen, das mit einem ‚spekulativen Realismus‘ verträglich sei, so daß es die erneute Aufgabe der Philosophie sein muß, „das Denken mit dem Absoluten wieder zu versöhnen“.312 Allerdings muß diese Konzeption auch damit rechnen, daß die bloß relative Wohlordnung der Welt, an die wir uns so sehr gewöhnt haben, plötzlich wieder kollabiert. Da die Kontingenz der Welt ultimativ ist, läßt sich das nicht ausschließen. Mit einem solchen Einbruch rechnete auch schon Schelling. Zwar „ist nämlich in der Welt, wie wir sie jetzt erblicken, alles Regel, Ordnung und Form; aber immer liegt noch im Grunde das Regellose, als könnte es einmal wieder durchbrechen“.313 stischen und konstruktivistischen Gegenentwürfe von Brouwer, Hao Wang, Heyting, Kleene und Lorenzen, die ihr eigenes domestizierendes Recht haben, immer noch paradiesisch lebendig. Sein impliziter Transfinitismus führt in Dimensionen, in denen der Mensch seines Könnens nicht mehr mächtig ist. Genau das zwingt zur Demut. Dazu sind die Ausführungen von Joachim Bromand, Philosophie der semantischen Paradoxien, op. cit., p. 170 sqq. sehr erhellend. Bromand zeigt (p. 172), daß die Grenzen unserer Expressivität überhaupt nur zugänglich sein können, entweder durch so etwas wie Offenbarung (Cantor) oder durch so etwas, was sich zeigt (Wittgenstein), und genau das scheint identisch zu sein. Philosophen sollten sich genau darüber Gedanken machen. 311 Quentin Meillassoux, Nach der Endlichkeit, op. cit., p. 169. 312 Quentin Meillassoux, Nach der Endlichkeit, op. cit., p. 172. 313 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophische Untersu-
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Was sich mithin in der Konzeption von Meillassoux ankündigt, ist in der Tat ein neues Denken in der Tradition Schellings, ein solches, das einen nicht trivialen Realismus ebenso vertritt wie das Format einer neuen, nicht trivialen Metaphysik.314 Der erkenntnistheoretische Furor des Handelns und Könnens, der in der zweiten Hälfte des vergangenen zwanzigsten Jahrhunderts ausgebrochen ist und im Namen konstruktivistischer Attitüden, seien sie nun mentalistischer, operativer oder linguistischer Provenienz, den prometheischen Narzissmus vollstreckt hat, ist am Ende. Das hat auch Folgen für den Wahrheitsbegriff. Wir brauchen uns jedenfalls heute, nach Nietzsche zum ersten Mal, nicht mehr zu genieren, den subjektiven Index wegzulassen. Zwar verschwindet er nicht einfach, weil wir uns gerade in situativen Einschätzungen natürlich nicht selbst subtrahieren können, aber das diskreditiert nicht den jetzt wieder zugänglichen Vollsinn der Wahrheit. Und der besagt: „Wahrheit ist keine menschliche Fiktion oder Projektion, sie hängt nicht einmal grundsätzlich von unseren Einstellungen ab, sondern sie ist eine Eigenschaft der Weltzustände, der ‚Wirklichkeit‘ oder der ‚Realität‘ selbst.“315 In diesen Vollsinn der Wahrheit ist unsere epistemische Architektur bleibend eingelassen, weil wir sonst die unterschiedlichen kriteriellen Wahrheitsbegriffe in ihrer chungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, ed. Thomas Buchheim, Hamburg 1997, p. 32. 314 Seit meinem früheren Buch Metaphysik und Mantik, op. cit., optiere ich für eine neue Metaphysik ‚von unten‘, d.h. für eine metafisica povera. Realisten sind immer zugleich Metaphysiker. 315 Markus Gabriel, Die Erkenntnis der Welt, op. cit., p. 381.
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Stärke und Schwäche gegeneinander gar nicht mehr gewinnbringend konturieren könnten. In diesen Korridor eines neuen, nicht trivialen Realismus sind inzwischen viele Philosophen eingetreten, aber es kommt nicht nur auf die Philosophen an. In bestimmter Hinsicht allerdings schon. Nämlich in der, daß es eine Profession geben muß, die die kritischen Potentiale der impliziten Verfassung des Menschen präsent hält.
Nachwort: ἄνθρωπος ἐν θυμῷ
‚Enthymeme‘ nennt man unvollkommene Syllogismen, d.h. solche, deren Prämissen in dem Sinne defekt sind, als in ihnen Informationen nicht komplett satzförmig auftauchen, die für die Konklusio zwar benötigt, aber wegen ihrer Selbstverständlichkeit nicht eigens angeführt, sondern implizit (ἐν θυμῷ) bleiben, d.h. einfach als jedermann bekannt unterstellt werden. Die Struktur des Enthymems darf man getrost auf die gesamte Wissensarchitektur316 des Menschen übertragen: Er weiß, aber leider nie so sicher, daß er gewiß sein könnte, sämtliche Prämissen seiner Schlüsse beisammen zu haben. Weil er sie vielleicht nie zusammen haben könnte? Ja, vielleicht nicht einmal haben dürfte? Obwohl diese Figur eines unvollständigen Syllogismus seit Aristoteles in die Rhetorik gehört,317 also in 316
Ich hätte dieses Nachwort daher gerne mit ‚Enthymos Anthropos‘ getitelt. Bedauerlicherweie heißt ἔνθυμος aber soviel wie mutig, herzhaft. Die Etymologie zu ‚Enthymem‘ hat leider keine antiken Quellen und taucht, wie wir von Heinrich Schepers wissen, erst in den Lehrbüchern des 12. Jahrhunderts auf. Cf. dessen vorzüglichen Artikel ‚Enthymem‘, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, ed. Joachim Ritter, Bd. 2, Basel 1972, p. 536. 317 Cf. Aristoteles, Rhet. 1354a 15. Zu diesem Ursprung und der weiteren historischen Entwicklung dieser rhetorischen Figur cf. den eben genannten Artikel von H. Schepers, op. cit., p. 528 B sqq.
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den Bereich persuasiven und alltäglichen318 Argumentierens, scheint die These nicht gut abweisbar zu sein, daß der gesamte Wissenscorpus des Menschen diese defekte Struktur aufweist und vermutlich sogar aufweisen muß, weil er über die Prämissen seiner lokalen Wissens- und Erklärungsbestände nie komplett ‚auswendig‘ verfügt. So gesehen erweisen sich die in den Lehrbüchern der Logik seit der Antike aufgeführten kompletten Syllogismen als idealisierte Wissensfiguren, die es in der Realität nie gibt. Aber das wäre immer nur ein preiswertes Argument aus der Endlichkeit menschlicher Wissensbemühungen. Wir müssen am Ende vermutlich doch noch weiter gehen und sagen: Die Architektur menschlichen Wissens kann nicht nur, sondern darf auch nie komplett sein. Aber warum darf sie das nicht? Wir haben in diesem Buch Stimmen aus verschiedenen Bereichen des Denkens präsentiert, die davon ausgehen, daß die implizite Figur aus der Architektur des menschlichen Denkens leider nicht entfernt werden kann, ohne das Denken selbst zu beschädigen oder gar unmöglich zu machen. Oder wieder anders: Wenn man die Architektur der menschlichen Erkenntnis komplett darstellen könnte, verschwände im selben Augenblick auch das Wissen. Kommt es aber, wo wir doch heute an best of-Formaten fixiert sind, auf unser begrenztes Wissen wirklich an? Natürlich kommt es genau darauf an. Der Philosoph kann und muß nur darauf hinweisen, daß im Vordergrund unseres begrenzten Wissensbetriebes stets präsent bleiben sollte, daß wir von einem Hintergrund zehren, der keine 318
Cf. W. V. O. Quine, Grundzüge der Logik, Frankfurt/M. 1969, p. 241: „Im täglichen Reden wird meist in Enthymemen geschlossen.“
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Form der Erfüllung des Wissens ist, sondern als Voraussetzung seiner Möglichkeit auf Abstand gehalten werden muß, ohne ihn zu vergessen. Denn diese Erinnerung bewahrt eine Herkunft der Intelligibilität des Menschen aus einer anderen Dimension als der biologischen Evolution, die diese Intelligibilität nicht erklären kann. Gründe kommen in der Natur nicht vor. Insofern sind sich Menschen diese Erinnerung einfach schuldig, wenn sie den Status als homo sapiens aufrecht erhalten wollen. Die gedankliche Bewirtschaftung dieser Hintergründe ist Sache der Philosophie, die, seit es sie gibt, versucht, sie denkend einzuholen. Sie arbeitet daher, wenn sie sich dieser Aufgabe stellt, was heutzutage immer seltener der Fall ist, am Programm – nicht einer Rettung der Phänomene, sondern – der Rettung des Menschen. Denn dieser besteht in nichts anderem als in der Realität seiner Selbsterinnerung. Er existiert als Selbsterinnerter, der sich, wenn durchdekliniert, in Selbstlosigkeit verliert und – gewinnt. Es ist leider extrem schwer, ihm das klar zu machen. Der gewaltige Aufwand, den sich die Philosophie und nur sie damit aufgebürdet hatte, erreichte in der Tat im Neuplatonismus und dann im deutschen Idealismus Höhepunkte, die bis heute nicht abgegolten sind. Es ist auch sehr die Frage, ob diese Aufgabe von der Philosophie effektiv bewältigt werden kann. Allerdings ist dann eine bittere letzte Frage unausweichlich: Wer soll das sonst tun? Wenn da keiner sonst ist, droht sich der Mensch selbst zu vergessen. Dann bleibt irgendeine Kreatur, ein selbstvergessener Kretin zurück, der davon nichts mehr weiß, was ihn aus seiner impliziten Herkunft einstmals adelte.
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Die heutige Gesellschaft wächst offenbar in dieses schwarze Loch eines selbstvergessenen Geistes hinein. Genauer: In markanten Etappen hat sie es schon immer getan. Insofern gibt es keine Triumphgeschichte des impliziten Menschen, sondern nur eine unbeantwortete Frage: Qui pleure là, sinon le vent simple, à cette heure Seule, avec diamantes extremes?319 So droht immer noch die ebenso simple Einsicht: Wer sich vergißt, weiß nicht mehr, was er tut. Wir sind Erinnerungsexistenzen, diamantene allerdings, solange wir uns den Strahlen einer Sonne gewachsen zeigen. Und das tun wir, wenn wir uns der impliziten Struktur der Architektur unserer Vernunftbegabung, d.h. unserer Rationalität stellen.
319
Paul Valéry, Die junge Parze, trad. Paul Celan, Frankfurt/M. 1964, p. 6/7: „Wer so der Wind nicht, er nur, weint hier, zur Stunde, die allein ist mit Diamanten, mit fernsten?“
Personenregister
Adorno, Theodor W. 35, 93 Aertsen, Jan A. 48 Ansermet, Ernest 126 Aristoteles 14, 48, 55–56, 85, 89, 95, 102, 145, 174 Augustinus 144 Awodey, Steve 81 Bach, Carl Philipp Emanuel 121 Badiou, Alain 167 Bauch, Bruno 81 Baudelaire, Charles 47, 64 Baum, Günther 121 Baumanns, Peter 20 Baumgarten, Alexander G. 94 Bayly , Christopher A. 163 Becker, Alexander 126 Beckett, Samuel 129 Beeh, Volker 135, 137–138 Beethoven, Ludwig van 125 Beierwaltes, Werner 52–53, 55, 146 Belting, Hans 130 Benn, Gottfried 33 Berg, Alban 93 Bertholet, Denis 26, 69 Blumenberg, Hans 40 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 105
Boehm, Gottfried 130 Bohm, David 142–144, 148–149 Bohrer, Karl Heinz 37 Brahms, Johannes 93 Brandom, Robert B. 149–150 Brecht, Bertolt 23 Bredekamp, Horst 10, 72, 118, 130–131, 133 Brentano, Clemens 86 Breton, André 38 Bröcker, Walter 40 Bromand, Joachim 19, 171 Brouwer, Luitzen Egbertus Jan 171 Brown, Deborah 13 Bucharin, Nikolai Michailowitsch 111 Bühler, Axel 74 Bülow, Hans von 93 Burman, Frans 11 Busche, Hubertus 8, 65 Caeyers, Jan 125 Cantor, Georg 19, 170–171 Caravaggio 131 Carnap, Rudolf 35, 81 Carrier, Martin 142 Cassirer, Ernst 77, 124, 130 Castro, Fidel 153
180 Celan, Paul 33, 49, 177 Chaitin, Gregory 170 Cicero 154 Cohen, Hermann 89 Cook, Nicholas 126 Cooke, Deryck 125 Curtius, Ernst Robert 48, 49 Cusanus, Nicolaus siehe Kues, Nikolaus von Darwin, Charles 118 Daston, Lorraine 82 Davidson, Donald 74, 78–79 Deleuze, Gilles 9, 21 Derrida, Jacques 21 Descartes, René 7, 11–13, 20, 59 Dilthey, Wilhelm 115 Dirlmeier, Franz 102 Eschenbach, Wolfram von 128 Faust, Isabelle 150 Feilchenfeld, Walter 10 Feyerabend, Paul 75 Fichte, Johann Gottlieb 63, 66–68, 70–72, 98 Føllesdal, Dagfinn 77–79 Frankfurt, Harry G. 120 Frege, Gottlob 78, 80–81 Freud, Sigmund 134 Gabriel, Gottfried 80, 81 Gabriel, Markus 17, 70, 169, 172 Galison, Peter 82 George, Stefan 30, 32–33 Gethmann, Carl Friedrich 149 Glatz, Uwe B. 95
Personenregister Goethe, Johann Wolfgang 45, 61–62 Goldschmitt, Berthold 125 Görland, Albrecht 89 Gottschlich, Max 126 Gründer, Karlfried 43, 94 Habermas, Jürgen 50, 108– 109, 158 Halfwassen, Jens 43 Handke, Peter 33 Hanslick, Eduard 122– 124, 126 Hayek, Friedrich A. von 139, 140, 141, 142, 144 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 7, 8, 22, 44, 59, 63, 68– 71, 99, 126, 130, 131–132, 153, 162, 164–165, 169 Heidegger, Martin, 25, 31, 35, 40, 69, 91, 145 Heine, Heinrich 51 Herder, Johann Gottfried 124 Herodot 153, 154 Herrigel, Eugen 95 Heyting, Arend 171 Hilbert, David 170 Hofmannsthal, Hugo von 32, 33 Hogrebe, Wolfram 14, 19, 23, 32, 59, 67–68, 71, 164, 170 Hölderlin, Friedrich 31, 63, 71–72 Holzhey, Helmut 43 Homer 75 Honecker, Erich 153 Honneth, Axel 44 Horkheimer, Max 43
181
Personenregister Horn, Christoph 146–147 Hume, David 169 Husserl, Edmund 78, 119 Huysmans, Joris-Karl 52 Isensee, Josef 46, 50, 99, 101–109 Iser, Wolfgang 128–129 Jacobs, Günther 99 Kafka, Franz 129 Kant, Immanuel 20, 51, 56, 62–63, 65, 66, 71, 80, 89– 90, 108, 130, 145, 169 Karlauf, Thomas 30 Kienzle, Ulrike 121 Kirchhof, Paul 99 Klages, Ludwig 34 Klee, Paul 125 Kleene, Stephen Cole 171 Klein, Carsten 81 Kobusch, Theo 11, 13 Koselleck, Reinhart 155 König, Gudrun M. 7 Krämer, Hans 146 Krämer, Sybille 82 Kripke, Saul A. 74, 150 Krüger, Herbert 101 Kues, Nikolaus von 35, 131, 147 Lask, Emil 95, 116 Leibniz, Gottfried Wilhelm 7–11 Lenau, Nikolaus 29 Lenin, Wladimir Iljitsch 153 Lenk, Hans 57 Lipps, Hans 115 Lorenzen, Paul 171
Louis, Pierre 52 Mahler, Gustav 121, 125 Mahrenholz, Simone 121 Majakowski, Wladimir Wladimirowitsch 23 Mallarmé, Stéphane 26, 170 Mao Zedong 153 Marc, Franz 125 Marx, Karl 152, 153 McNeill, William H. 163 Meillassoux, Quentin 167–172 Meister Eckhart 43 Meuter, Norbert 44 Meyer, Ingo 30, 37, 46, 62, 75, 121 Mitchell, William J. T. 130 Mittelstraß, Jürgen 142 Mohr, Georg 121 Monod, Jacques 170 Montaigne, Michel de 7 More, Henry 10 Munitz, Milton 19 Münkler, Herfried 163 Musil, Robert 36, 43 Nagel, Thomas 59 Natorp, Paul 80–95 Newton, Isaac 169 Nietzsche, Friedrich 35, 93, 129, 172 Nishida, Kitaro 135–136 Obama, Barack 163 Osterhammel, Jürgen 151 Parmenides 146
182 Pascal, Blaise 18, 21 Paulus 14 Petersson, Niels P. 151 Platon 13–14, 31, 35–36, 43, 47, 52, 56, 91, 145–146, 151–152, 155, 176 Plotin 35, 146 Plumpe, Gerhard 62 Polanyi, Michael 96, 111–116, 119–120, 123 Polybios 154–158 Popper, Karl 145 Proklos 52–53, 55, 146–147 Putnam, Hilary 74 Quine, Willard Van Orman 35, 65, 73–85, 87, 92, 175 Raulff, Ulrich 31–32 Rilke, Rainer Maria 33, 47 Ritter, Joachim 43, 62, 94, 161–164, 166, 174 Rosenzweig, Franz 158–161, 163 Rousseau, Jean-Jacques 159 Safranski, Rüdiger 62 Sandkaulen, Birgit 63 Sartre, Jean-Paul 53 Saxl, Fritz 123–124 Schäfer, Rainer 13, 67 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 45–46, 50, 53, 59, 63–71, 80, 153, 158, 167– 169, 171–172 Schepers, Heinrich 174 Schiller, Friedrich 61–62 Schleiermacher, Friedrich 152
Personenregister Schmitt, Carl 159 Schmoeckel, Mathias 160 Scholtz, Gunter 94 Schönberg, Arnold 93 Schumann, Robert 61 Schwemmer, Oswald 45 Scipio Africanus 155 Sellars, Wilfried 145 Simmel, Georg 46 Skinner, Burrhus F. 87 Sluga, Hans 81 Stalin, Josef 111, 153 Stelzner, Werner 67–68 Stolzenberg, Jürgen 92, 121 Strauss, Botho 33 Strawinsky, Igor 23 Streit, Manfred E. 139–140 Sukale, Michael 78 Tewinkel, Christiane 150 Thiel, Christian 118–119, 127 Thomas von Aquin 48 Thukydides 154 Ueda, Shizuteru 135–137 Vaihinger, Hans 129–130 Valéry, Paul 23–26, 33–34, 47–54. 69, 128, 177 Van Reybrouck, David 160 Vergil 32 Vogel, Matthias 126 Vogeley, Kai 46 Wagner, Richard 93 Wallerstein, Immanuel 163 Wang, Hao 171
Personenregister Wellmer, Albrecht 121 Werner, Michael 163 Welsch, Wolfgang 8 Wieland, Wolfgang 71 Wittgenstein, Ludwig 19, 35, 150, 171
183 Wolf, Gerhard 130–131 Wolff, Christian 35 Wolzogen, Christoph von 91 Zimmermann, Bénédicte 163 Žižek, Slavoj 169