Der ganze Mensch - die ganze Menschheit: Völkerkundliche Anthropologie, Literatur und Ästhetik um 1800 9783110367133, 9783110307665

Around 1800 European authors became manifestly interested in distant and different cultures, an interest that extended t

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German Pages 324 Year 2014

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Völkerkundliche Anthropologie, Literatur und Ästhetik um 1800. Zur Einführung
Amüsement und Repression. Der Stachel des Fremden im Lustspieldiskurs der Aufklärung
Johann Gottlob Krügers ethnologische Träume
Mexikanische Geschichten und ägyptische Palmblätter-Konfessionen. Wielands Beyträge als Umrissskizze einer frühen. ethnopsychologischen Allegorie
J.W.L. Gleims Halladat oder Das rothe Buch: die Suren eines „neuen Korans“ oder „Lehrgedichte [...] in orientalischem Stil“?
„[D]er Deutsche wird […] immer Deutscher bleiben, und der Franzose Franzos“. Das anthropologische ,Wissen‘ von den europäischen ,Nationalcharakteren‘ bei Jakob Michael Reinhold Lenz
„Geographie der dichtenden Seele“. Die Entwicklung einer naturalistischen Ästhetik in Herders Volkslied-Projekt
Tugendlehre und Anthropologie. Gottlieb Konrad Pfeffels China-Gedichte
Thaumaturgie und Kinetik. Anthropologische Aspekte der Diskussion über den orientalischen Despotismus im thematischen Umkreis von Friedrich Schillers Romanfragment Der Geisterseher
„Was ist der Mensch, ehe die Schönheit die freie Lust ihm entlockt?“ Völkerkundliche Anthropologie und ästhetische Theorie in Kants Kritik der Urteilskraft und Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen
Astronomische Gesetze der Anthropologie? Hölderlins Poetik geographisch-klimatischer Extreme
Kultureller Synkretismus. Völkerkundliche Anthropologie und Ästhetik in den Sizilien-Dramen Voltaires, Goethes und Schillers
Völkerkundliche Anthropologie in August Klingemanns. Geschichtsdrama Columbus
Von Locarno bis St. Jago oder: alles relativ? Heinrich von Kleists Neuigkeiten aus der Provinz
Der Ursprung aller Kraft. Zur Zigeunerin in E.T.A. Hoffmanns Das öde Haus – mit einem magnetischen Seitenblick auf den Sandmann
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Der ganze Mensch - die ganze Menschheit: Völkerkundliche Anthropologie, Literatur und Ästhetik um 1800
 9783110367133, 9783110307665

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Stefan Hermes und Sebastian Kaufmann (Hrsg.) Der ganze Mensch – die ganze Menschheit

linguae & litterae

Publications of the School of Language & Literature Freiburg Institute for Advanced Studies Edited by Peter Auer, Gesa von Essen, Werner Frick Editorial Board Michel Espagne (Paris), Marino Freschi (Rom), Ekkehard König (Berlin), Michael Lackner (Erlangen-Nürnberg), Per Linell (Linköping), Angelika Linke (Zürich), Christine Maillard (Strasbourg), Lorenza Mondada (Basel), Pieter Muysken (Nijmegen), Wolfgang Raible (Freiburg), Monika Schmitz-Emans (Bochum) Editorial Assistant Sara Kathrin Landa

Volume 41

Der ganze Mensch – die ganze Menschheit

Völkerkundliche Anthropologie, Literatur und Ästhetik um 1800

Herausgegeben von Stefan Hermes und Sebastian Kaufmann

ISBN 978-3-11-030766-5 e-ISBN [PDF] 978-3-11-036713-3 e-ISBN [EPUB] 978-3-11-039253-1 ISSN 1869-7054 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Stefan Hermes und Sebastian Kaufmann Völkerkundliche Anthropologie, Literatur und Ästhetik um 1800 Zur Einführung 1 Sebastian Treyz Amüsement und Repression Der Stachel des Fremden im Lustspieldiskurs der Aufklärung Carsten Zelle Johann Gottlob Krügers ethnologische Träume

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Michaela Holdenried Mexikanische Geschichten und ägyptische Palmblätter-Konfessionen Wielands Beyträge als Umrissskizze einer frühen ethnopsychologischen Allegorie 57 Olav Krämer J.W.L. Gleims Halladat oder Das rothe Buch: die Suren eines „neuen Korans“ oder „Lehrgedichte [...] in orientalischem Stil“? 75 Stefan Hermes „[D]er Deutsche wird […] immer Deutscher bleiben, und der Franzose Franzos“ Das anthropologische ,Wissen‘ von den europäischen ,Nationalcharakteren‘ bei Jakob Michael Reinhold Lenz 101 Jutta Heinz „Geographie der dichtenden Seele“ Die Entwicklung einer naturalistischen Ästhetik in Herders Volkslied-Projekt 125 Christopher Meid Tugendlehre und Anthropologie Gottlieb Konrad Pfeffels China-Gedichte

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Inhaltsverzeichnis

Ralph Häfner Thaumaturgie und Kinetik Anthropologische Aspekte der Diskussion über den orientalischen Despotismus im thematischen Umkreis von Friedrich Schillers Romanfragment Der Geisterseher 161 Sebastian Kaufmann „Was ist der Mensch, ehe die Schönheit die freie Lust ihm entlockt?“ Völkerkundliche Anthropologie und ästhetische Theorie in Kants Kritik der Urteilskraft und Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen 183 Alexander Honold Astronomische Gesetze der Anthropologie? Hölderlins Poetik geographisch-klimatischer Extreme

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Robert Krause Kultureller Synkretismus Völkerkundliche Anthropologie und Ästhetik in den Sizilien-Dramen Voltaires, Goethes und Schillers 233 Alexander Košenina Völkerkundliche Anthropologie in August Klingemanns Geschichtsdrama Columbus 249 Dieter Heimböckel Von Locarno bis St. Jago oder: alles relativ? Heinrich von Kleists Neuigkeiten aus der Provinz

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Maximilian Bergengruen Der Ursprung aller Kraft Zur Zigeunerin in E.T.A. Hoffmanns Das öde Haus – mit einem magnetischen Seitenblick auf den Sandmann 287 Zu den Autorinnen und Autoren Personenregister

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Stefan Hermes und Sebastian Kaufmann, Freiburg

Völkerkundliche Anthropologie, Literatur und Ästhetik um 1800 Zur Einführung „Jede Kunst verlangt den ganzen Menschen, der höchstmögliche Grad derselben die ganze Menschheit.“1

I Das Interesse an fremden Kulturen um 1800 Die deutschsprachige Literatur und Ästhetik ‚um 1800‘2 konsolidierte sich zum einen während der Geburtsphase des ‚modernen‘ Nationalismus und der damit verbundenen innereuropäischen Nationenkonkurrenz, zum anderen im Zuge des sogenannten zweiten Entdeckungszeitalters, das ein enormes Interesse an außereuropäischen Völkern und am Vergleich ihrer jeweiligen Lebensweise mit der eigenen hervorrief. „Die Karte der Menschheit ist an Völkerkunde ungemein erweitert“,3 vermerkt Herder im Jahr 1777; er spielt damit auf die zahlreichen neuen Reiseberichte an, die den Europäern Anlass gaben, am Gegenbild des Anderen die eigenen Kultur- und Gesellschaftsformen zu reflektieren – und die Annahme, es handle sich um die einzig möglichen bzw. besten Formen menschlichen Zusammenlebens, wenigstens partiell in Frage zu stellen. Zu den deutschsprachigen Werken, die in diesem Kontext starke Beachtung erfuhren, zählen beispielsweise Carsten Niebuhrs zwischen 1772 und 1778 publizierte Schilderung der gefahrvollen Arabienreise, die er 1761 angetreten hatte, und Georg Forsters zunächst auf Englisch geschriebener Bericht über seine Teilnahme an der zweiten

1 Johann Wolfgang Goethe, „Einleitung [in die ‚Propyläen‘]“, in: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 18, Friedmar Apel (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1998, S. 457–475, hier S. 474. 2 Die Formulierung wird hier und im Folgenden in einem weiten Sinn gebraucht und bezieht sich auf den Zeitraum von ca. 1750 bis 1830. 3 Johann Gottfried Herder, „Von Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst, nebst verschiednem, das daraus folget“, in: Werke in zehn Bänden, Bd. 2, Gunter E. Grimm (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1993, S. 550–562, hier S. 560.

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Weltumseglung James Cooks (1772–75), dessen zwei Teile 1778 und 1780 unter dem Titel Reise um die Welt auch in deutscher Sprache erschienen.4 Diese und etliche weitere Texte der Zeit schlossen – oft äußerst kritisch – an die Tradition jener (proto-)ethnographischen Auseinandersetzungen mit dem ‚Exotischen‘ an, die bereits in der Antike, etwa von Herodot oder Tacitus, vor allem aber seit dem 16. Jahrhundert verfasst worden waren und speziell auf die Autoren der französischen Aufklärung nachhaltig gewirkt hatten: Man denke nur an Montesquieus Lettres persanes (1721), Rousseaus zweiten Discours (1755) oder Voltaires Essai sur les mœurs et l’esprit des nations (1756–69). Zu den Aufklärern des deutschen Sprachraums, die sich auf der Grundlage von Reiseschilderungen intensiv mit außereuropäischen Kulturen befassten, gehörten etwa Kant, der seit dem Wintersemester 1772/73 in Königsberg völkerkundlich-anthropologische Vorlesungen hielt, und sein sich gerade auf diesem Feld als abtrünnig erweisender Schüler Herder.5 Exemplarisch erwähnt sei überdies Lavater, der im vierten Band seiner Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe (1775–78) nicht nur verschiedene europäische Nationen charakterisiert, sondern auch die physischen, psychischen und moralischen Eigenheiten diverser ‚wilder‘ Völker erörtert. Alsbald jedoch setzte ein allgemeines Interesse der deutschen Aufklärung an fremden Kulturen ein, das sich im rasanten Aufschwung von akademischen Disziplinen wie ‚Menschheitsgeschichte‘ oder ‚physische Geographie‘ manifestierte, aber auch das Terrain der Literatur und Ästhetik eroberte. So beschäftigen sich literarische Werke der Zeit in großer Häufigkeit mit Aspekten kultureller Differenz: Die Zahl der ‚fremden Figuren‘,6 die bei Autoren wie Lessing, Wieland, Goethe, Lenz, Schiller oder Kleist, aber auch bei Kotzebue, Heinse, Wezel oder

4 Vgl. zu diesem Komplex Urs Bitterli, Die ‚Wilden‘ und die ‚Zivilisierten‘. Grundzüge einer Geistesund Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München 1976; Ralph-Rainer Wuthenow, Die erfahrene Welt. Europäische Reiseliteratur im Zeitalter der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1980; Eberhard Berg, Zwischen den Welten. Über die Anthropologie der Aufklärung und ihr Verhältnis zu Entdeckungs-Reise und Welt-Erfahrung mit besonderem Blick auf das Werk Georg Forsters, Berlin 1982; Tanja van Hoorn, Dem Leibe abgelesen. Georg Forster im Kontext der physischen Anthropologie des 18. Jahrhunderts, Tübingen 2004; Hans-Jürgen Lüsebrink (Hrsg.), Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt, Göttingen 2006; Thomas Nutz, „Varietäten des Menschengeschlechts“. Die Wissenschaften vom Menschen in der Zeit der Aufklärung, Köln/ Weimar/Wien 2009, und Maximilian Bergengruen/François Rosset/Markus Winkler (Hrsg.), Jenseits der empirischen Wissenschaften. Literatur und Reisebericht im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Fribourg 2012. 5 Vgl. dazu John H. Zammito, Kant, Herder, and the Birth of Anthropology, Chicago/London 2002. 6 Vgl. Alexandra Böhm/Monika Sproll (Hrsg.), Fremde Figuren. Alterisierungen in Kunst, Wissenschaft und Anthropologie um 1800, Würzburg 2008.

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den Romantikern auftreten, ist außerordentlich hoch. In den parallel dazu geführten ästhetischen Debatten wiederum wurden völkerkundlich-anthropologische Überlegungen herangezogen, um Theorien über die Kunst sowie über das Schöne und Erhabene zu begründen und zu exemplifizieren – oder aber, um diese Theorien auf einer Kontrastfolie gegen vermeintlich falsche oder fehlende ästhetische Vorstellungen abzugrenzen. Erinnert sei hier nur an den Völkerkatalog in Kants Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764), die ‚Hottentotten‘-Passage in Lessings Laokoon (1766) und Winckelmanns Ausführungen über die klimatischen Vorteile und kulturellen Errungenschaften der alten Griechen, die in Fragen der Kunst alle übrigen Völker übertroffen hätten. Zudem wären die gallophoben Invektiven und anglophilen Konfessionen ins Gedächtnis zu rufen, die sich in den frühen kunst- bzw. literaturtheoretischen Schriften Herders, Goethes oder Lenz’ finden. Dass die Forschungsrichtung der literarischen Anthropologie erheblich davon profitieren kann, sich diesen und vielen weiteren Werken unter der Perspektive auf das kulturell Fremde zuzuwenden, soll im Folgenden gezeigt werden.

II Die bisherige Forschung zur literarischen Anthropologie: Erträge und Desiderate Inwiefern die Literatur um 1800 einen Beitrag sui generis zum Wissensgebiet der neuzeitlichen Anthropologie geleistet hat, ist besonders seit den 1990er Jahren herausgearbeitet worden: Zu nennen wären etwa die Aufsatzsammlung von Jürgen Barkhoff und Eda Sagarra,7 der weit umfänglichere, von Hans-Jürgen Schings herausgegebene Band zum ‚ganzen Menschen‘8 sowie der ausführliche Forschungsbericht von Wolfgang Riedel.9 Mit Blick auf derartige Publikationen haben Wilhelm Schmidt-Biggemann und Ralph Häfner die „anthropologische Wende“10 sogar als den bedeutendsten Paradigmenwechsel der jüngeren deut-

7 Jürgen Barkhoff/Eda Sagarra (Hrsg.), Anthropologie und Literatur um 1800, München 1992. 8 Hans-Jürgen Schings (Hrsg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Stuttgart/Weimar 1994. 9 Wolfgang Riedel, „Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur, Sonderheft 6/1994, S. 93–157. Vgl. ergänzend Alexander Košenina, „Auswahlbibliographie zur Erforschung der (literarischen) Anthropologie im 18. Jahrhundert (1975–1993)“, in: Schings (Hrsg.), Der ganze Mensch, S. 755–768. 10 Wilhelm Schmidt-Biggemann/Ralph Häfner, „Richtungen und Tendenzen in der deutschen Aufklärungsforschung“, in: Das achtzehnte Jahrhundert, 19/1995, S. 163–171, hier S. 168.

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schen Aufklärungsforschung bewertet. Dass sich die literarische Anthropologie seither als fruchtbare Analyseperspektive bewährt und diese nach der Jahrtausendwende auch eine zunehmende curriculare Verbreitung erfahren hat, bezeugen neben Artikeln in fachwissenschaftlichen Lexika und Handbüchern ein inzwischen in fünfter Auflage erschienener Einführungsband von Markus Fauser11 sowie das einschlägige Studienbuch von Alexander Košenina.12 Angesichts der intensiven Beschäftigung der aufklärerischen Anthropologie mit fremden Kulturen fällt jedoch auf, dass dieser Thematik bislang nur vereinzelt Beachtung geschenkt wurde: In ihrer Mehrheit widmen sich die existierenden Studien der Auseinandersetzung zeitgenössischer Autoren mit der physiologischen, psychologischen und/oder philosophischen Anthropologie. So stehen zuallererst die weit ausgreifenden Debatten um die komplexen Wechselwirkungen zwischen Geist und Körper (commercium mentis et corporis), das hiermit verbundene Konzept des ‚ganzen Menschen‘ und die universalen Wesenseigenschaften der menschlichen Gattung im Fokus der Aufmerksamkeit. Die Diskurse um die europäischen ‚Nationalcharaktere‘ und die außereuropäischen ‚Völkerstämme‘ hingegen werden meist ausgeklammert oder allenfalls gestreift: Riedel beispielsweise nennt in seinem Forschungsbericht zwar einige expositorische Schriften, die er als ethnologische rubriziert,13 doch findet kein fiktionales oder kunsttheoretisches Werk deutscher Sprache Erwähnung, das in inhaltlichem Bezug zu ihnen stünde. Grosso modo lässt sich im Bereich der literarischen Anthropologie also eine weitgehende Beschränkung des wissenschaftlichen Interesses auf solche Texte erkennen, die an den aufklärerischen Bemühungen um die Bestimmung des ‚Allgemein-Menschlichen‘ teilhaben; die Ausnahmen – darunter einige Beiträge in einem unlängst erschienenen Band zur Poetik des Wilden14 – zeigen, dass

11 Markus Fauser, Einführung in die Kulturwissenschaft, 5., durchgesehene Auflage, Darmstadt 2011. Die erste Auflage erschien 2003; die literarische Anthropologie wird in Kapitel III behandelt. 12 Alexander Košenina, Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen, Berlin 2008. Vgl. außerdem die grundlegenden Veröffentlichungen von Wolfgang Riedel, Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der ‚Philosophischen Briefe‘, Würzburg 1985; Helmut Pfotenhauer, Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte am Leitfaden des Leibes, Stuttgart 1987; Jutta Heinz, Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung, Berlin/New York 1996; Maximilian Bergengruen/Roland Borgards/Johannes Friedrich Lehmann (Hrsg.), Die Grenzen des Menschen. Anthropologie und Ästhetik um 1800, Würzburg 2001, und Walter Schmitz/Carsten Zelle (Hrsg.), Innovation und Transfer. Naturwissenschaften, Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Dresden 2004. 13 Vgl. Riedel, „Anthropologie und Literatur“, S. 114–117. 14 Vgl. Jörg Robert/Friederike Felicitas Günther (Hrsg.), Poetik des Wilden, FS Wolfgang Riedel, Würzburg 2012. Riedel selbst hatte im erwähnten Forschungsbericht noch für einen Anthropolo-

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eine Erweiterung der Perspektive erst allmählich vollzogen wird.15 Ergänzungsbedürftig ist die bisherige Ausrichtung der Forschung, da jener „Zweig der Aufklärungsanthropologie“, dem es um „systematische[ ] Vergleiche[ ] zwischen den Völkern“16 zu tun war, als nicht minder bedeutsam einzustufen ist – und zwar gerade hinsichtlich seiner Interdependenzen mit Literatur und Ästhetik.17 Hinzu kommt, dass hominide und humanide Anthropologie18 oftmals inhaltlich, methodisch und personell derart eng verflochten waren, dass es beinahe zwingend erscheint, sie gemeinsam zu diskutieren. Schließlich behandeln nicht nur Autoren wie Buffon, Haller, Kant oder Herder in ihren Werken oft beide Aspekte sowie das Spannungsverhältnis, in dem sie zueinander stehen.19 Zu erwähnen

gie-Begriff plädiert, der „für ‚den Menschen‘ reserviert bleibt und nicht immer auch zugleich die Lehre von Rassen, Völkern und Kulturen meint“. Riedel, „Anthropologie und Literatur“, S. 95. 15 Freilich liegen durchaus zahlreiche Arbeiten vor, die von ihren Urhebern nicht dem Feld der literarischen Anthropologie zugeordnet werden, mit Blick auf die eingangs umrissenen Themen aber von Relevanz sind. Dies betrifft etwa Studien zum Konzept des ‚edlen Wilden‘; vgl. exemplarisch Monika Fludernik/Stefan Kaufmann/Peter Haslinger (Hrsg.), Der Alteritätsdiskurs des Edlen Wilden. Exotismus, Anthropologie und Zivilisationskritik am Beispiel eines europäischen Topos, Würzburg 2002. Vgl. auch Karl S. Guthke, Der Blick in die Fremde. Das Ich und das andere in der Literatur, Tübingen/Basel 2000; Manfred Beller, Eingebildete Nationalcharaktere. Vorträge und Aufsätze zur literarischen Imagologie, Göttingen 2006; Hansjörg Bay/Kai Merten (Hrsg.), Die Ordnung der Kulturen. Zur Konstruktion ethnischer, nationaler und zivilisatorischer Differenz 1750–1850, Würzburg 2006; Manfred Beller/Joep Leerssen (Hrsg.), Imagology. The Cultural Construction and Literary Representation of National Characters. A Critical Survey, Amsterdam/New York 2007; Ruth Florack, Bekannte Fremde. Zu Herkunft und Funktion nationaler Stereotype in der Literatur, Tübingen 2007, und Karl S. Guthke, Die Reise ans Ende der Welt. Erkundungen zur Kulturgeschichte der Literatur, Tübingen/Basel 2011. 16 Košenina, Literarische Anthropologie, S. 11. 17 Daher ist es verdienstvoll, dass Košenina ihm immerhin eines der vierzehn Kapitel seines Studienbuchs gewidmet hat. An der verbreiteten Vernachlässigung der völkerkundlichen Anthropologie ändert dies aber kaum etwas. 18 Diese Unterscheidung trifft Wilhelm Emil Mühlmann, Geschichte der Anthropologie, Wiesbaden 41986, S. 21 f.: Unter hominider Anthropologie versteht er die wissenschaftliche Beschäftigung mit der biologisch zu erschließenden Natur des Menschen, unter humanider diejenige mit dem Menschen als Kulturwesen. 19 Gerade deshalb ist es angebracht, in diesem Kontext nicht allein den Ethnologie-Begriff zu verwenden, sondern auch und vor allem den Terminus ‚völkerkundliche Anthropologie‘: Markiert wird dadurch, dass die entsprechenden Forschungen als integraler Bestandteil des ausgesprochen heterogenen Gesamtparadigmas der Anthropologie zu betrachten sind. Auf diese Weise verfährt schon Košenina, Literarische Anthropologie, S. 11; vgl. zur Begriffsgeschichte Han F. Vermeulen, „Frühe Geschichte der Völkerkunde und Ethnographie in Deutschland (1771–1791)“, in: Matthias S. Laubscher/Bertram Turner (Hrsg.), Völkerkundetagung 1991, Bd. 1, München 1994, S. 329–344. Vgl. auch Odo Marquard, „Anthropologie“, in: Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Darmstadt 1971, Sp. 362–374; Mareta Linden, Untersuchungen

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ist außerdem die in der Aufklärung gängige Parallelisierung von ‚Wilden‘ und Kindern, welche Phylo- und Ontogenese analogisierte und die vermeintlich primitiven Menschen ferner Länder (wie auch historisch früher Zeiten) mit dem ‚unreifen‘ und daher erziehungsbedürftigen Individuum in Verbindung brachte. In eine ähnliche Richtung weist die um 1800 ebenfalls notorische, unter Gender-Gesichtspunkten signifikante Assoziation der ‚sinnlichen Exoten‘ mit dem weiblichen Geschlecht, das nicht im selben Maße wie das männliche zur Ausbildung und zum Gebrauch der den Menschen auszeichnenden Vernunft befähigt sei.20

III Zur Zielsetzung und zu den Leitfragen des Bandes Während der Zusammenhang von völkerkundlicher Anthropologie, Literatur und Ästhetik um 1800 bisher nur selten in Augenschein genommen wurde, soll er im vorliegenden Band erstmals genauer diskutiert werden. Dabei wird unter anderem auszuloten sein, inwiefern der Diskurs um das kulturell Andere durch ein Neben- und Gegeneinander universalistischer und relativistischer Tendenzen gekennzeichnet war: So konkurrierte im Untersuchungszeitraum ein essentialistischer Eurozentrismus, der die eigene Kultur zum normativen Beurteilungsmaßstab aller übrigen – vermeintlich minderwertigen – Kulturen erhob, mit einer differentialistischen Sichtweise, die das Fremde mit dem Eigenen zu vermitteln suchte.21 Über dieses Problem hinaus soll insbesondere Aufschluss darüber gewonnen werden, welche ästhetische Produktivität (und zwar sowohl im Sinne literarischer Praxis als auch kunsttheoretischer Reflexion) sich aus der Beschäftigung mit der völkerkundlichen Anthropologie ergab – und inwieweit Literatur und Ästhetik umgekehrt einen veritablen Beitrag zur Völker- und Menschenkunde zu leisten vermochten. Damit berührt die umrissene Thematik nicht zuletzt das

zum Anthropologiebegriff des 18. Jahrhunderts, Bern/Frankfurt a.M. 1976, und Werner Petermann, Die Geschichte der Ethnologie, Wuppertal 2004, S. 278–300. 20 Vgl. Sigrid Weigel, „Zum Verhältnis von ‚Wilden‘ und ‚Frauen‘ im Diskurs der Aufklärung“, in: Thomas Koebner/Gerhart Pickerodt (Hrsg.), Die andere Welt. Studien zum Exotismus, Frankfurt a.M. 1987, S. 171–199, und Claudia Honegger, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750–1850, Frankfurt a.M./New York 1991. 21 Demnach muss der geläufigen Auffassung, das Menschenbild der Aufklärung fuße durchweg auf einer unzulässigen Verabsolutierung des humanistisch gebildeten, materiell abgesicherten und männlichen Europäers, mit einer gewissen Skepsis begegnet werden. Zugleich ist aber nicht zu leugnen, dass sich die aufklärerische Auseinandersetzung mit dem kulturell Fremden oftmals höchst problematisch ausnahm – jedenfalls in der historischen Rückschau.

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intrikate, in der Forschung so beharrlich wie kontrovers erörterte Verhältnis zwischen Literatur und Wissen(schaft).22 In Anbetracht der skizzierten Zielsetzung und der an dieser Stelle nur anzudeutenden Fülle des relevanten Materials erscheint indes eine (heuristische) Begrenzung des Untersuchungsgebiets sinnvoll. So steht im Folgenden nicht die detaillierte Analyse von Reiseberichten oder völkerkundlich-anthropologischen Abhandlungen im Vordergrund; stattdessen sind derartige Texte primär hinsichtlich ihrer Bedeutung für die fiktionale bzw. ‚schöne‘ Literatur und die theoretische Ästhetik um 1800 zu würdigen. Zudem wenden sich die einzelnen Beiträge überwiegend deutschsprachigen Werken zu, wobei es freilich von großer Wichtigkeit ist, diese im Zusammenhang der europäischen Literatur-, Ästhetik- und Wissensgeschichte zu verorten. Mithin positioniert sich der Band im Feld der germanistischen Literaturwissenschaft, ohne jedoch die Ergiebigkeit komparatistischer und kulturwissenschaftlich-interdisziplinärer Erweiterungen zu verkennen. Daher gilt es denn auch, die philologische Erschließung textueller Mikrophänomene und das Interesse an der diskurshistorischen Makroebene nach Möglichkeit zu verbinden: Es wird also angestrebt, Werke unterschiedlicher Gattungszugehörigkeit, die auf je spezifische Weise ein Wissen vom kulturell Anderen integrieren bzw. generieren, sowohl in ihrer sprachlichen Besonderheit ernst zu nehmen als auch innerhalb der anthropologischen Debatten ihrer Zeit zu situieren. Auf diese Weise soll zugleich ein Beitrag zur allmählichen Beilegung jenes Methodenkonflikts geleistet werden, der das Forschungsfeld der literarischen Anthropologie seit längerem prägt: Während nämlich der einflussreiche, von Doris Bachmann-Medick herausgegebene Sammelband Kultur als Text23 die Literaturwissenschaft vornehmlich auf eine kulturanthropologische Funktion verpflichten will und mit Nachdruck für die ‚Entprivilegierung‘ literarischer Werke votiert, legt Riedel gerade auf den ‚ästhetischen Mehrwert‘ dieser Texte Gewicht: Entscheidend sei, dass sie anthropologisches Wissen als Kunstwerke konstituieren, transportieren und/oder modifizieren.24 Eine leitende Absicht des vorliegenden Bandes besteht also darin, beide Herangehensweisen, die kulturwissen-

22 Einen instruktiven Überblick zu dieser hier nicht zu rekapitulierenden Diskussion gewährt neuerdings das Kompendium von Roland Borgards u.a. (Hrsg.), Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2013; vgl. außerdem den Band von Tilmann Köppe (Hrsg.), Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge, Berlin 2011. 23 Doris Bachmann-Medick (Hrsg.), Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, 2., aktualisierte Auflage, Tübingen/Basel 2004. 24 Vgl. speziell Wolfgang Riedel, „Literarische Anthropologie. Eine Unterscheidung“, in: Wolfgang Braungart/Klaus Ridder/Friedmar Apel (Hrsg.), Wahrnehmen und Handeln. Perspektiven einer Literaturanthropologie, Bielefeld 2004, S. 337–366.

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schaftliche und die stärker hermeneutisch orientierte, miteinander zu vermitteln, indem nach den reziproken Beziehungen literarischer und nicht-literarischer Diskurse gefragt, die Unterscheidung zwischen ihnen aber weiterhin für hilfreich erachtet wird – auch wenn sie nicht immer vorbehaltlos getroffen werden kann. Vor diesem Hintergrund beleuchten die Aufsätze vor allem die folgenden Problemkomplexe: 1. Auf welche Weise sind völkerkundlich-anthropologische Kenntnisse für die Literatur der Aufklärung und des Sturm und Drang, der Weimarer Klassik und der Romantik von Bedeutung? Näher zu bestimmen ist zuvörderst die Rolle, die dem Wissen von den europäischen ‚Nationalcharakteren‘ und den Eigenarten der überseeischen ‚Wilden‘ bei der Konzeption literarischer Figuren zukam; dabei gilt es nicht zuletzt zu eruieren, inwiefern essentialistische ‚Gewissheiten‘ (aus ästhetischen wie ethischen Gründen) variiert oder subvertiert wurden. Beachtung verlangt überdies die Frage, in welchem Ausmaß auch der literarische Diskurs um Bevölkerungsminderheiten innerhalb des deutschen Sprachraums als ein völkerkundlich-anthropologischer geführt wurde.25 In beiden Fällen sind die Spezifika der verschiedenen Gattungen und Genres hinsichtlich der Reflexion auf das kulturell Fremde herauszupräparieren; des Weiteren ist den jeweiligen Funktionen der intertextuellen Verbindungen zwischen fiktionalen literarischen Werken und faktualen anthropologischen Schriften nachzugehen. 2. Zu fragen ist außerdem nach dem Stellenwert, der völkerkundlich-anthropologischen Aspekten im Zuge der Entwicklung einer ‚nationalen‘ Ästhetik zuwuchs: Inwieweit wurde zum Zweck einer das Eigene erst konstituierenden Kontrastbildung auf fremde Kunstformen Bezug genommen, inwieweit aber auch für deren Adaption geworben? Hier ist etwa zu ergründen, in welcher Weise speziell Rekurse auf den ‚Wilden‘ innerhalb der ästhetischen bzw. poetologischen Theorie dazu dienten, bestimmte Kunst- und Schönheitsvorstellungen qua Abgrenzung vom vorgeblich unästhetischen Anderen zu verabsolutieren oder aber, gegenläufig hierzu, grundsätzliche künstlerische Dispositionen des Menschen als homo aestheticus anhand des ‚Naturzustands‘ bzw. ‚primitiver‘ Kulturstufen vorzuführen. 3. An diese und verwandte Fragen bleibt eine Beschäftigung mit weiterführenden, in theoretisch-methodischer Hinsicht bedeutsamen Gesichtspunkten anzuschließen. So ist anhand konkreter Fallbeispiele zu ermitteln, in welcher Form die Forschungsperspektive der literarischen Anthropologie von konzeptuellen Anleihen bei der neueren interkulturellen Literaturwissenschaft und den post-

25 Vgl. beispielsweise Gunnar Och, Imago judaica. Juden und Judentum im Spiegel der deutschen Literatur 1750–1812, Würzburg 1995, und Claudia Breger, Ortlosigkeit der Fremden. ‚Zigeunerinnen‘ und ‚Zigeuner‘ in der deutschsprachigen Literatur um 1800, Köln/Weimar/Wien 1998.

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kolonialen Studien zu profitieren vermag: Welche Vorteile ergeben sich etwa aus dem Versuch eines Transfers von Analysebegriffen wie Interkulturalität, Hybridität oder Mimikry?26

IV Zu den einzelnen Beiträgen Dass die Auseinandersetzung mit innereuropäischen Differenzen ein zentrales Element des aufklärerischen Diskurses um das kulturell Andere darstellt, verdeutlicht Sebastian Treyz im ersten Aufsatz des Bandes anhand der stereotypen Inszenierung der französischen ‚Wesensart‘ im deutschen Lustspiel. Am Beispiel von Luise Gottscheds 1744 erschienener Komödie Die Hausfranzösinn erläutert Treyz, wie durch das Bühnengeschehen gallophobe Klischees aufgerufen werden, die das Publikum zum kollektiven Verlachen der französischen und ‚französierten‘ deutschen Figuren animieren. Dahinter steht, wie der Beitrag zu erhellen vermag, die moraldidaktische Intention einer Nationalerziehung der Zuschauer, die eine sich gegenüber dem vermeintlich lasterhaften Fremden abschließende, spezifisch deutsche Tugendhaftigkeit propagiert und zu diesem Zweck zugleich die Furcht vor dem eigenen Verlachtwerden schürt. So wird in Bezug auf Johann Christoph Gottscheds normative Komödienpoetik dargelegt, inwiefern die potentielle Verführbarkeit durch ‚fremde Figuren‘ die bedrohliche Kehrseite des nationalen Souveränitätsbewusstseins bildet, das im Verlachen von deren untugendhaftem Verhalten zum Ausdruck kommt. Der Aufsatz von Carsten Zelle erweitert die Perspektive auf den überseeischen Bereich und untersucht die einschlägigen religionsvergleichenden und (proto-) ethnologischen Partien aus dem satirisch-allegorischen Werk Träume des ‚philosophischen Arztes‘ Johann Gottlob Krüger, das zuerst 1754 erschien und gattungsgeschichtlich in der Tradition des gelehrten Traums steht. Dabei wird an vier ausgewählten Traumsatiren gezeigt, wie sich Krüger intertextuell bzw. intermedial mit der ethnographischen Materialsammlung der Halleschen Berichte (1710–72) über Ost-Indien, mit religionsanthropologischen Thesen aus Lafitaus

26 Dass ein derartiger Theorieimport der Analyse kanonischer deutschsprachiger Texte zuträglich sein kann, dokumentieren der Sammelband von Axel Dunker (Hrsg.), (Post-)Kolonialismus und Deutsche Literatur. Impulse der angloamerikanischen Literatur- und Kulturtheorie, Bielefeld 2005, und die Monographie von Herbert Uerlings, „Ich bin von niedriger Rasse“. (Post-)Kolonialismus und Geschlechterdifferenz in der deutschen Literatur, Köln/Weimar/Wien 2006. Vgl. ferner Dirk Göttsche, „Postkolonialismus als Herausforderung und Chance germanistischer Literaturwissenschaft“, in: Walter Erhart (Hrsg.), Grenzen der Germanistik: Rephilologisierung oder Erweiterung?, Stuttgart/Weimar 2004, S. 558–576.

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Abhandlung Mœurs des sauvages amériquains (1724) und mit Picarts Kupferstichwerk Cérémonies et Coutumes religieuses de tous les Peuples du Monde (1723–37) beschäftigte. Ausgehend von der allgemeinen Charakterisierung der Träume als literarisches Medium einer ironischen Infragestellung zeitgenössischer Forschungspositionen arbeitet Zelle heraus, wie Krüger völkerkundliche Kenntnisse der Frühaufklärung aufgreift, popularisiert und in gegenwartskritischer Stoßrichtung mit Phänomenen der eigenen Kultur parallelisiert. Ersichtlich wird insbesondere, dass seine ‚ethnologischen Träume‘ die kulturrelativistische Intention der Prätexte zuspitzen, indem das in diesen entfaltete Wissen vom Fremden genutzt wird, um die im Vergleich mit den ‚barbarischen‘ Verhaltensweisen ‚exotischer‘ Völker nicht minder töricht oder inhuman erscheinenden europäischen Sitten zu verspotten. Die Ausführungen von Michaela Holdenried sind den völkerkundlich-anthropologischen Reflexionen Christoph Martin Wielands in dessen erstmals 1770 publizierten Beyträgen gewidmet: Herausragende Bedeutung kommt dabei zum einen der wohlwollend-kritischen Auseinandersetzung mit Rousseau zu, zum anderen der gegenüber der Erstfassung erheblich veränderten Anordnung der Textsammlung in den Sämmtlichen Werken von 1795. So relativiere Wieland die Rousseau’sche These von der Degeneration des Menschengeschlechts seit dem Austritt aus dem Naturzustand, indem er ihr ein Geschichtsmodell entgegenhalte, das keine Unilinearität substruiert, sondern im Rekurs auf neuere Reiseberichte – etwa auf denjenigen Georg Forsters – Ungleichzeitigkeiten und nachholende Entwicklungen in den Fokus rückt. Wielands Re-Arrangement der Beyträge dagegen hat nach Holdenried zur Folge, dass diese in origineller Weise am Diskurs um die (Un-)Zugänglichkeit der tieferen Schichten des menschlichen Bewusstseins teilhaben. An rhetorischer und argumentativer Durchschlagskraft gewinne die gleichsam erfahrungsseelenkundliche Analyse des psychisch Fremden dadurch, dass sie eng mit dem Problem des kulturell Fremden verflochten wird: In Anlehnung an den Kulturanthropologen James Clifford verwendet Holdenried in diesem Zusammenhang den Begriff der ethnopsychologischen Allegorie. Insgesamt erweise sich Wieland als ein für die aufklärerische Menschenkunde zentraler Autor, dessen Positionen entgegen einer gängigen Praxis nicht einfach als eklektisch und dilettantisch abgetan werden dürfen. Olav Krämer wendet sich der Frage zu, wie in Johann Wilhelm Ludwig Gleims lehrhaftem Gedichtzyklus Halladat oder Das rothe Buch (1774/75) völkerkundlichanthropologische Kenntnisse über die islamische Religion und Kultur adaptiert und transformiert werden. Unter Berücksichtigung der 1773 und 1775 in zwei Auflagen erschienenen und mit ausführlichen Vorreden versehenen Koranübersetzung Friedrich Eberhard Boysens, deren Entstehung Gleim zum Verfassen von Halladat angeregt hatte, demonstriert Krämer, dass mit der literarischen Ver-

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arbeitung des zeitgenössischen Wissens über den Islam eine Entspezifizierung eben dieses Wissens einhergeht: Die Szenerie von Gleims Gedichten sei zwar ‚morgenländisch‘ geprägt, ohne dass sich jedoch konkrete Referenzen auf einzelne Elemente der fremden Religion und Kultur darin finden ließen. Dies führt Krämer keineswegs auf ein mangelndes Interesse Gleims am Islam zurück, sondern auf den Einfluss theologisch-philosophischer sowie dichtungstheoretischer Debatten der Zeit: Wie er mit Blick auf Gleims Konzeption der lyrischen Sprecherfigur als ‚Seher‘ und seiner Anknüpfung an zeitgenössische Diskussionen um die Vernunftreligion und die Inspirationslehre deutlich macht, sind es vor allem Problemzusammenhänge der Aufklärung selbst, die bei ihm im orientalischen Gewand verhandelt werden. Stefan Hermes untersucht in seinem Beitrag, auf welche Weise Jakob Michael Reinhold Lenz am aufklärerischen Diskurs um die völkerkundlich-anthropologischen Unterschiede zwischen den europäischen Nationen partizipierte. Zu diesem Zweck wird zunächst das (nicht nur) um 1800 weit verbreitete Konzept des ‚Nationalcharakters‘ rekonstruiert, wobei das Hauptaugenmerk auf den Frühschriften Herders liegt: Diese übten laut Hermes einen maßgeblichen Einfluss auf jene expositorischen Texte aus, in denen Lenz eine naturwüchsige Differenz zwischen französischer und deutscher Mentalität proklamiert. Allerdings habe Lenz seine essentialistische Haltung – ähnlich wie Herder – keineswegs konsequent beibehalten, sondern die Unvermeidbarkeit kultureller Hybridisierungen bisweilen durchaus eingeräumt: Dies dokumentiere nicht zuletzt das 1775 entstandene Pandämonium Germanikum, eine poetologische Farce, in der zahlreiche prominente Schriftsteller als (komische) Figuren auftreten. Denn zwar überschütte Lenz’ Drama vermeintlich ‚französierte‘ Autoren wie Gellert oder Weiße mit Hohn und Spott, doch unterlaufe just das ihnen zugeschriebene Verhalten – auf das sich der Mimikry-Begriff des postkolonialen Theoretikers Homi Bhabha anwenden lasse – jede auf Eindeutigkeit abzielende Grenzziehung zwischen den Völkern. Insofern entgeht das Pandämonium Germanikum nach Hermes der Gefahr, in plattem Nationalismus zu verharren, wozu auch der schon dem Titel ablesbare Umstand beitrage, dass es sich um ein dezidiert multilingual (und intertextuell) gestaltetes Stück handelt. Inwiefern Herder seine naturalistisch fundierte Poetik des Volkslieds nicht auf der Basis der philosophisch-individualistischen, sondern der ethnologischkulturvergleichenden Anthropologie seiner Zeit begründete, zeigt Jutta Heinz. In einer synthetischen Darstellung der theoretischen Paratexte zu den einzelnen Volkslied-Sammlungen arbeitet sie heraus, dass Herder von Rousseaus Zivilisationskritik ausging und das Volkslied als natürlich-ursprüngliche Ausdrucksform verstand, die es erlaubt, fremde Völker durch eine Art von Innensicht kennenzulernen. Zugleich habe Herder anstelle des Auges das Ohr als Leitorgan der

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Wahrnehmung zu etablieren gesucht und eine Kunstproduktion wie auch -rezeption zur Geltung bringen wollen, die statt des Autorparadigmas einen kollektiven Ursprung und eine kollektive Überlieferung voraussetzt. Abschließend zeichnet Heinz nach, wie sich das Volkslied nach Herder bei unterschiedlichen Ethnien zu einer Vielfalt poetischer Formen ausdifferenzierte. Am Beispiel mehrerer Hochzeitslieder aus der Sammlung von 1778 verdeutlicht sie, dass diese Herders Idealtypus des naiven Volkslieds allerdings nur bedingt entsprechen, indem sie vielmehr eine kontinuierliche ästhetische Entwicklung bis hin zu elaborierten Kunstgebilden abbilden. Darin habe Herder jedoch ausdrücklich keine Höherentwicklung, sondern ein Zeugnis der Gemeinsamkeit zwischen einfacher Volks- und avancierter Kunstliteratur erkannt. Die ausgeprägte China-Mode, der um 1800 zahlreiche europäische Autoren anhingen, bildet den Ausgangspunkt der Darlegungen von Christopher Meid. So habe man das ‚Reich der Mitte‘ im Anschluss an ältere Auffassungen – etwa von Christian Wolff und Voltaire – einerseits zum Ursprung größter Weisheit und wahrer Tugend verklärt, andererseits aber auch zunehmend als bizarren Kulturraum und als Hort des Despotismus diffamiert: In beiden Fällen sei jedoch vorwiegend auf ein festes Repertoire stereotyper Zuschreibungen rekurriert worden, anstatt die tatsächliche Auseinandersetzung mit der chinesischen Kultur zu suchen. Angesichts dessen schreibt Meid der populären Lyrik des Aufklärers Gottlieb Konrad Pfeffel insofern einen besonderen Stellenwert zu, als sie sehr wohl auf Versatzstücke chinesischer Überlieferung Bezug nimmt, wie sie ihrem Autor vor allem aus französischsprachigen Quellen bekannt waren. Indes pflegte Pfeffel einen sehr freien Umgang mit seinen Vorlagen, was Meid an drei Gedichten über die Elternliebe der Chinesen exemplarisch belegt. Dabei kann er im Einzelnen nachweisen, dass Pfeffels Lehrdichtungen zwar ein spezifisches völkerkundliches Wissen integrieren, dieses aber in höchst variabler Weise instrumentalisieren, um eine allgemeine, die menschlichen Affekte aufwertende Tugendlehre zu vermitteln. Mithin seien die Texte durch einen Widerstreit von kulturellem Relativismus und ethischem Universalismus geprägt, sodass sich kein homogenes, einseitig sinophiles oder sinophobes China-Bild aus ihnen extrahieren lasse. Ralph Häfner geht in seinem Beitrag zur Diskussion um den orientalischen Despotismus im Umkreis von Schillers Geisterseher-Fragment (1789) von der nicht zu vernachlässigenden Bedeutung aus, die Armenien als einem Erinnerungsort an den biblischen Garten Eden innerhalb des aufklärerischen Diskurses um das kulturell Fremde zufällt. Das eschatologische Modell einer Abfolge von paradiesischem Urzustand, Vernichtung und Wiederherstellung des Paradieses gewinne in Schillers Figur des mysteriösen Armeniers eine Präsenz, die zugleich uralte Weisheitstraditionen wie die chaldäische Magie, die jüdische Kabbala und ägyptische Geheimlehren evoziere. Vor diesem Hintergrund verortet Häfner Schillers Roman-

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fragment detailliert im Kontext von Jean Terrassons Ägyptenroman Sethos (1731), Louis Claude de Saint-Martins politischer Abhandlung Des erreurs et de la vérité (1774) und Nicolas Antoine Boulangers Recherches sur l’origine du despotisme oriental (1761). Der Geisterseher, so das Ergebnis von Häfners Studie, schreibt sich in eine komplexe Debatte ein, in der verschiedene Problemlagen der zeitgenössischen ‚politischen Theologie‘ erörtert werden, die um das Verhältnis zwischen intelligiblem Prinzip und zivilgesellschaftlichen Gesetzen kreist. Dies geschehe vor allem dadurch, dass Schillers Text den für das Zeitalter der Aufklärung insgesamt charakteristischen Konflikt von Skeptizismus und Mystizismus literarisch gestaltet. Der Aufsatz von Sebastian Kaufmann widmet sich Kants Kritik der Urteilskraft (1790) und Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795), um an diesen Werken die Verbindungen zwischen völkerkundlicher Anthropologie und ästhetischer Theorie um 1800 herauszuarbeiten. Zunächst thematisiert Kaufmann den Rekurs auf den ‚exotischen Wilden‘ in der „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“ und beleuchtet auf der Folie von Kants hierarchischer Rassentheorie die dort aufgestellten anthropologisch-ästhetischen Thesen über die Unfähigkeit des ‚Wilden‘ zur Erfahrung des Schönen und Erhabenen. Darüber hinaus werden die argumentationslogischen Inkonsistenzen aufgezeigt, die sich angesichts des kantischen Theorems von der Interesselosigkeit des ‚reinen Schönheitsurteils‘ aus dem Versuch ergeben, in § 41 der Kritik der Urteilskraft ein triadisches Modell der ästhetischen Zivilisierung des Menschen zu entwickeln, das vom ‚barbarischen Geschmack‘ der ‚Wilden‘ bis zum ‚verfeinerten Geschmack‘ der kultivierten Europäer reicht. Diese Problematik weist Kaufmann daraufhin als wichtigen Bezugspunkt für Schillers Konzept des ‚Wilden‘ in den fünf letzten Ästhetischen Briefen aus, die dadurch als kritische Reaktion auf § 41 der Kritik der Urteilskraft lesbar werden: Indem Schiller die Mängel von Kants Argumentation zu beheben sucht, so Kaufmanns zentrale These, gelangt er zu einer entschiedenen Aufwertung des ethnisch ‚Primitiven‘. Denn Schiller entwickle ein ebenfalls dreistufiges Modell der ästhetischen Bildung, das aber im Gegensatz zu demjenigen Kants bereits dem ‚Wilden‘ ein interesseloses Wohlgefallen am Schönen zuspricht und damit gewissermaßen die ‚ganze Menschheit‘ in das anthropologisch-ästhetische Konzept des ‚ganzen Menschen‘ einbezieht. Den Nexus von (völkerkundlicher) Anthropologie und (sphärischer) Astronomie im Werk Friedrich Hölderlins nimmt Alexander Honold in den Blick. Dabei verdeutlicht er anhand der Elegie Der Wanderer (1796/97), dass Hölderlin den Verlauf der menschlichen Natur- und Kulturgeschichte im Rückgriff auf astronomische Gesetzmäßigkeiten und daraus resultierende Klimadifferenzen darstellt: Das Sprecher-Ich schildert eingangs seine Durchquerung lebensfeindlicher Heißund Eiswüsten, ehe es zur Feier der gemäßigten, distinkte Jahreszeiten aufwei-

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senden Erdregionen anhebt. Deren geographisch-klimatische Eigenschaften habe Hölderlin, wie im 18. Jahrhundert weithin üblich, im Sinne einer säkularisierten Theodizee in Anspruch genommen und als Ausdruck kosmisch prästabilisierter Rationalität gewertet. Entsprechend werde die spezifisch verschiedene Entwicklung der Völker im Hyperion-Roman (1797/99) aus dem nichtintentionalen Wirken physischer Kräfte hergeleitet. Wie Honold einsichtig macht, orientiert sich Hölderlin an Theoremen Montesquieus, Rousseaus und Herders, wenn er seinen Protagonisten die jeweiligen klimatischen Bedingungen als Hauptursache für den beispiellosen Aufstieg der attischen Kultur wie auch für den Hang der Ägypter und Goten zur Despotie identifizieren lässt. Der komparatistisch ausgerichtete Beitrag von Robert Krause führt vor, inwiefern die Heranziehung des (ursprünglich militärisch konnotierten) Begriffs des Synkretismus erlaubt, wesentliche Aspekte der Sizilien-Dramen Voltaires, Goethes und Schillers zu erschließen. So gestalte Voltaire in seinem Tancrède (1760) jene Mischung aus christlichen und muslimischen Traditionsbeständen, die für die gesellschaftlichen Verhältnisse im mittelalterlichen Sizilien charakteristisch war: Diese Manifestation religiöser und kultureller Hybridität hatte er schon vier Jahre zuvor im Essai sur les mœurs et l’esprit des nations zur bedauerlichen Verfallserscheinung erklärt. Goethe wiederum sei es mit seiner 1801 abgeschlossenen Übersetzung bzw. Nachdichtung von Voltaires Tragödie nicht zuletzt darum gegangen, deren interreligiöse und interkulturelle Dimension noch stärker zu akzentuieren und partiell zu aktualisieren: Zu diesem Zweck rufe sein Tancred bestimmte Orient-Klischees auf, die dann jedoch als zutiefst fragwürdige Zuschreibungen markiert werden. Schillers Braut von Messina (1803) schließlich überbiete den Synkretismus der beiden anderen Sizilien-Dramen dadurch, dass der Text nicht nur Referenzen auf das Christentum und den Islam, sondern auch auf die Mythologie der griechischen Antike enthält. Dem korrespondiert nach Krause Schillers vieldiskutierte formalästhetische Entscheidung, anstelle der Ritterrunde Voltaires und Goethes einen zweigeteilten (antiken) Chor auftreten zu lassen. Wie sich das um 1800 modische Interesse an völkerkundlichen Stoffen auf das deutsche Unterhaltungstheater zwischen Klassik und Romantik auswirkte, untersucht Alexander Košenina an August Klingemanns Geschichtsdrama Columbus aus dem Jahr 1808. Das Stück inszeniere die interkulturelle Erstbegegnung in der Karibik in kolonialismuskritischer Perspektive als Aufeinandertreffen von ‚zivilisierten‘ Europäern und ‚unverbildeten‘ Insulanern, welche die vermeintliche kulturelle Überlegenheit der ‚Entdecker‘ zunächst anerkennen. Doch als die Spanier im Goldrausch zu rauben und zu morden beginnen, wandelt sich das Bild, das die indigene Bevölkerung von ihnen hat: Sie erscheinen nicht länger als übermächtige Götter, sondern als verbrecherische Menschen, gegen die man sich wehren kann und muss. Lediglich Kolumbus selbst werde bei Klingemann zum

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integren ‚großen Mann‘ erhoben, der die Insulaner vor den habgierigen Europäern zu schützen sucht. Abweichend von der Geschichtsschreibung erhält er am Ende eine neue Chance zur ‚humanen‘ Kolonialisierung Amerikas, was Košenina auf die konzeptionelle Ausrichtung des Dramas an populären Legenden statt an historischen Quellen zurückführt und an die Wirkungsintention einer moralischen Selbstverständigung im vorkolonialen Deutschland gebunden sieht. Der Aufsatz von Dieter Heimböckel zu Heinrich von Kleist weist nach, dass dessen Œuvre zwar an der in der Aufklärung begonnenen literarischen Neuvermessung der Welt teilhat, deren Grundannahmen aber dementiert: Als Vergleichspunkt fungiert auch hier die Anthropologie Herders, die wesentlich von einem Spannungsverhältnis zwischen Universalismus und Relativismus geprägt sei. Festhalten lasse sich jedoch, dass Herder das Verstehen fremder Kulturen für prinzipiell möglich erachtet – was auf Kleist keineswegs zutreffe: Vielmehr werde das kulturell Andere von diesem vornehmlich thematisiert, um Nichtverstehen und Nichtverstehbarkeit zu verhandeln. Ein einheitsstiftendes Prinzip, das die Menschen miteinander verbindet, tritt laut Heimböckel also nicht mehr zutage; stattdessen bestimme Kleists fundamentale Erkenntnis- und Sprachskepsis, wie sie in der sogenannten Kant-Krise beispielhaft zum Ausdruck kommt, auch seinen literarischen Umgang mit Kulturdifferenzen. Die sich daraus ergebende Poetik des Befremdenden (und des Unerhörten) erhellt Heimböckel anhand der Novellen Das Erdbeben in Chili (1807) und Die Verlobung in St. Domingo (1811) sowie mit Blick auf das Penthesilea-Drama (1808). Im Zuge dessen veranschaulicht er, dass kulturelle Grenzen – wie auch Grenzen zwischen den Geschlechtern oder Generationen – bei Kleist zwar allgegenwärtig, aber stets äußerst instabil sind, sodass sich letztlich keine klar voneinander geschiedenen Ordnungen ergeben. Demnach stelle Kleists kultureller Relativismus die eigenen Prämissen radikal zur Disposition; erst dadurch aber gewinne sein Schreiben jene ästhetische Energie, die Grenzen zieht, um sie zu überschreiten. Beschlossen wird der Band durch den Beitrag von Maximilian Bergengruen zur Figur der ‚Zigeunerin‘ in E.T.A. Hoffmanns Erzählung Das öde Haus (1817). Bergengruen rekonstruiert einleitend die Kernbestandteile des neuzeitlichen Diskurses um die ‚Zigeuner‘ und unterstreicht dabei, dass es noch im frühen 19. Jahrhundert üblich war, die Angehörigen dieser Minderheit zum negativen Gegenbild der ‚edlen Wilden‘ in Übersee zu stilisieren. So habe man den ‚Zigeunern‘ weiterhin einen natürlichen Hang zu teuflischer Zauberei und ruchloser Kriminalität attestiert – ungeachtet der seit der Aufklärung unternommenen Versuche, derartige Zuschreibungen ins Reich der Fabel zu verweisen. Auch in zahlreichen Werken der Romantik seien die genannten Stereotype präsent; dort aber werden sie laut Bergengruen gerade nicht bestätigt, sondern im Gegenteil immer wieder unterlaufen: Ebendies lasse sich am Öden Haus insofern demonstrieren, als die

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darin auftretende Zigeunerin zwar etliche pejorative Klischees erfülle, aber zugleich mit dem Literaturkonzept der Romantik assoziiert werde. Dies geschehe dadurch, dass Hoffmann mit der Figur spezifische Vorstellungen von Psychologie und animalischem Magnetismus verknüpft, die er andernorts – beispielsweise im Sandmann (1816) – auch mit dem romantischen Poeten in Verbindung bringt. Damit bezeuge seine Behandlung der ‚Zigeuner‘-Thematik die Verschränkung des zeitgenössischen Wissens vom ‚ganzen Menschen‘ mit dem von der ‚ganzen Menschheit‘ auf prägnante Weise. *** Die im vorliegenden Band versammelten Aufsätze basieren mehrheitlich auf den Vorträgen einer gleichnamigen Konferenz, die vom 22. bis zum 24. November 2012 am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) stattgefunden hat. Für die Gelegenheit, die Tagung an diesem Ort zu veranstalten, danken wir dem damaligen Sprecher des FRIAS-Direktoriums, Prof. Dr. Werner Frick, und der wissenschaftlichen Koordinatorin der School of Language and Literature, Dr. Gesa von Essen. Überdies gilt unser Dank den FRIAS-Mitarbeiterinnen Simone Erdenberger und Heike Meier sowie dem Forschungsassistenten Aron Sayed für ihre Unterstützung bei der Vorbereitung und Durchführung der Konferenz. Dafür, dass deren Ergebnisse nun auch nachlesbar sind, danken wir dem (anonymen) Gutachterduo und dem Herausgebertrio der Reihe linguae & litterae. Vor allem aber möchten wir uns herzlich bei den Beiträgerinnen und Beiträgern bedanken, und zwar sowohl für ihre Aufsätze als auch für die produktive Zusammenarbeit während des Redaktionsprozesses.

Sebastian Treyz, Basel

Amüsement und Repression Der Stachel des Fremden im Lustspieldiskurs der Aufklärung Die vorliegende Untersuchung soll anhand der Interpretation ausgewählter Szenen aus Luise Gottscheds Die Hausfranzösinn, oder die Mammsell (1744) aufzeigen, inwiefern die Modellierung kultureller Differenz im Lustspieldiskurs der Aufklärung bisweilen zur imaginären Ausbildung und ästhetischen Erprobung einer prekären Utopie der ganzen Menschheit avancierte. Anschließend an Forschungen zur „anthropologischen Theaterkultur“1 liegt der Fokus dabei auf medial vermittelten Fremdheitserfahrungen und ihrer strategischen Alterisierung.2 Auf der Handlungsebene des Dramas wird der soziokulturelle Konflikt zwischen Deutschen und Franzosen durch den gezielten Einsatz von Klischees und Stereotypen gestaltet, die mittels Spott, Schimpf und Hohn normative Inklusions- und Exklusionspraktiken vollziehen. Die xenophobe Haltung der deutschen dramatis personae lässt sich als Abwehrreaktion einer Lachgemeinschaft beschreiben,3 die im kollektiven Amüsement ihre vermeintliche Tugendhoheit als Unterscheidungsmerkmal propagiert, um eine Konsolidierung ihres Wertehorizonts vorzunehmen. Diese Strategie findet ihre medienpolitische Entsprechung im Verlachkorrektiv der Gottsched’schen Lustspielpoetik: Mittels der persuasiv geführten Antipathielenkung soll der im Stück gegenüber dem Fremdartigen eingenommene repressi-

1 Alexander Košenina, Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen, Berlin 2008, S. 148. 2 Vgl. Alexandra Böhm/Monika Sproll, „Einleitung“, in: Dies. (Hrsg.), Fremde Figuren. Alterisierungen in Kunst, Wissenschaft und Anthropologie um 1800, Würzburg 2008, S. 7–26. 3 Vgl. Horst Turk, „Kulturgeschichte und anthropologische Bedingungen des Lachens“, in: Thorsten Unger/Brigitte Schultze/Horst Turk (Hrsg.), Differente Lachkulturen? Fremde Komik und ihre Übersetzung, Tübingen 1995, S. 299–317, hier S. 313: „Die Gattungen der Komik sowie die institutionalisierten Plätze ihrer Ausübung wie Fernsehen, Film, Theater, Kabarett und eben die Literatur selbst sind bewährte Felder einer […] Nationalisierung oder Internalisierung der Lachkonventionen, Lachinterpretationen und Lachdispositionen. Daß zur vis comica die Normverletzung und die Grenzüberschreitung gehören, dürfte für alle Lachszenarien in allen Kulturen gelten, ebenso aber auch die idiosynkratische Besetzung, mit der die jeweilige Art der Grenzüberschreitung überwacht wird.“ Zum Terminus der ‚Lachgemeinschaft‘ vgl. Werner Röcke/Hans Rudolf Velten (Hrsg.), Lachgemeinschaften: Kulturelle Inszenierungen und soziale Wirkungen von Gelächter im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, Berlin/New York 2005, und Manfred Pfister, „Inszenierungen des Lachens im Theater der Frühen und Späten Neuzeit“, in: Werner Röcke/ Helga Neumann (Hrsg.), Komische Gegenwelten. Lachen und Literatur in Mittelalter und Früher Neuzeit, Paderborn 1999, S. 215–236.

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ve Gestus der Belustigung von den Zuschauern im Theater nachvollzogen und eingeübt werden. Hierdurch formiert sich das Publikum zu einem inkorporierten Sozialsystem,4 dessen Mitglieder ihre Gruppenzugehörigkeit in vorgeblicher Überlegenheit affektiv kommunizieren. Während diese Verlachgemeinschaft den fingierten Kulturkontakt zum Ausweis der eigenen Sittsamkeit nutzt, erklärt sie sich selbst zum imaginären Kollektiv der Nation und sogar der ganzen Menschheit.5 Die angestellten Überlegungen schließen dabei an die opinio communis der Forschung an, der gemäß die genretypologischen Verschiebungen im Lustspieldiskurs zwischen Aufklärung und Empfindsamkeit einen signifikanten Wandel im Umgang mit nationalen Images bezeugen.6 Wie Ruth Florack bemerkt hat, gilt es bei der Analyse von Nationaltopoi die figurenspezifischen Aussagen nicht nur akribisch auf die textimmanent aufgerufenen Oppositionsraster hin zu beleuchten, sondern darüber hinaus nach den Funktionsbedingungen der unterschiedlichen Formate zu fragen, in denen Nationalstereotype zum Einsatz kommen.7 Entspre-

4 Vgl. hierzu Rudolf Stichweh, Der Fremde. Studien zu Soziologie und Sozialgeschichte, Frankfurt a.M. 2010, S. 153 u. S. 156: „Indem [Sozialsysteme] den jeweiligen Typus von Kommunikation monopolisieren, schließen sie sich auf dieser Basis operational gegenüber ihrer gesellschaftlichen Umwelt. […] Die Semantik und die Soziologie des Fremden beschreiben offensichtlich eine Welt, die aus sozialen Systemen besteht, die man ‚inkorporierte soziale Systeme‘ nennen könnte, also Systeme mit klaren Mitgliedschaftskriterien und daraus resultierender sozialer Schließung. Indem sie Fremde inkludieren und exkludieren, definieren diese Sozialsysteme gleichzeitig das, was man legitimerweise als ihre ‚kollektive Identität‘ bezeichnen kann.“ 5 Vgl. Helmut J. Schneider, Genealogie und Menschheitsfamilie. Dramaturgie der Humanität von Lessing bis Büchner, Berlin 2011, S. 18. 6 Vgl. Gonthier-Louis Fink, „Baron de Thunder-ten-tronckh und Riccaut de la Marlinière. Nationale Vorurteile in der deutschen und französischen Aufklärung“, in: Lothar Jordan/Bernd Kortländer/Fritz Nies (Hrsg.), Interferenzen. Deutschland und Frankreich: Literatur, Wissenschaft, Sprache, Düsseldorf 1993, S. 24–51; Horst Steinmetz, „Idee und Wirklichkeit des Nationaltheaters. Enttäuschte Hoffnungen und falsche Erwartungen“, in: Ulrich Herrmann (Hrsg.), Volk – Nation – Vaterland, Hamburg 1996, S. 141–150; Gonthier-Louis Fink, „Prolégomènes à une histoire des stéréotypes nationaux franco-allemands“, in: Francia, 30/2003, 2, S. 141–157, und Ruth Florack, „Nationalcharakter als ästhetisches Argument“, in: Jens Häseler/Albert Meier (Hrsg.), Gallophobie im 18. Jahrhundert. Akten der Fachtagung vom 2./3. Mai 2002 am Forschungszentrum Europäische Aufklärung, Berlin 2005, S. 33–48. 7 Vgl. Ruth Florack, Bekannte Fremde. Zu Herkunft und Funktion nationaler Stereotype in der Literatur, Tübingen 2007, S. 7–32, und Nina Birkner, „Der ‚närrische‘ Franzose. Zur Funktion des kulturnationalen Stereotyps im Lustspiel des 18. Jahrhunderts“, in: Raymond Heitz u.a. (Hrsg.), Gallophilie und Gallophobie in der Literatur und den Medien in Deutschland und Italien im 18. Jahrhundert, Heidelberg 2011, S. 181–194. Wie Birgit Neumann angemerkt hat, sind nationale Stereotype deshalb auch als transmediale Phänomene zu begreifen, die durch „ein Spektrum kultureller Medien zirkulieren und durch intermediale Prozeduren zueinander in Beziehung der konsistenz-

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chend soll in diesem Beitrag der sich auf der Bühne abspielenden Sympathie- und Antipathielenkung nachgegangen und demonstriert werden, inwiefern die Wirkungspoetik der Verlachkomödie über ihre Belustigungs- und Erbauungseffekte ebenjene Aufklärungsmaßnahmen sanktioniert, die im Lustspiel als Verfahren der Aneignung und Ausschließung des Fremden rigide durchgesetzt werden. Die abwertenden Stereotype werden im Verlachtheater zum Zweck einer Tugenddidaxe aufgerufen, die den Rezipienten mit dem unschädlich gemachten Stachel des Fremden konfrontiert.8 Der Fokus liegt demnach auf dem disziplinierenden Moment der Typenkomödie, die in der Allianz der Lachenden „eine kleine Zahl von Leuten in einer dunklen Höhle“9 zum Surrogat der ganzen Menschheit erhebt.

I Gefühlsspielräume im Parterre Die Theaterpraxis der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist von einem optimistischen Erziehungsanspruch durchwoben, der das Zuschauerkollektiv als moralischen Exerzierplatz begreift: Der affektive Selbstbezug des Einzelnen soll dabei als Mediator einer auf wechselseitige Anteilnahme und Anerkennung ausgerichteten Erprobung von Gemeinschaftserfahrung dienen, um das Individuum zum gesellschaftsfähigen Subjekt auszubilden. Auf dieser Basis wird das Theater etwa in Johann Georg Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste (1771–74) zum konstitutiven Medium einer zivilisierten Gemeinschaft erhoben: Aufgrund der ihm eigenen Tendenz zu „gesellschaftlicher Vereinigung“10 könne das Schauspiel seine unterhaltende bzw. nützliche Wirkungskraft in einer „Menge der Zuschauer“11 entfalten und dieser „auf öffentliche Tugend abzielende Gesinnungen und Empfindungen ein[]pflanzen“.12

bildenden Auslegung, Kommentierung, Reflexion oder Revision gesetzt werden.“ (Birgit Neumann, Die Rhetorik der Nation in britischer Literatur und anderen Medien des 18. Jahrhunderts, Trier 2009, S. 46). 8 Im Sinne von Bernhard Waldenfels wird die Inanspruchnahme durch das Fremde in der Metapher des Stachels als eine Herausforderung für das Selbstverständnis begriffen, die sich zwischen Aneignung und Enteignung entfaltet. Vgl. Bernhard Waldenfels, Der Stachel des Fremden, Frankfurt a.M. 21991, S. 57–71. 9 Jean-Jacques Rousseau, „Brief an Herrn d’Alembert über seinen Artikel ‚Genf‘ im VII. Band der Enzyklopädie und insbesondere über den Plan, ein Schauspielhaus in dieser Stadt einzurichten“, in: Schriften, Bd. 1, Henning Ritter (Hrsg.), München 1978, S. 333–474, hier S. 461 f. 10 Johann Georg Sulzer, „Schauspiel“, in: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Vierter Theil, Leipzig 21794, S. 253–262, hier S. 254. 11 Ebd., S. 255. 12 Ebd., S. 261.

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Sobald die Menschen durch das gesellschaftliche Leben ihren Gesichtskreis erweitert, und ihre innere Würksamkeit vermehrt haben, wird ihnen der gedankenlose Zustand […] unerträglich. Nur der noch halb wilde Mensch, der sich wenig über das Thier empor gehoben hat, kann einen solchen Zustand der Gedankenlosigkeit ertragen. […] Es ist gewiß, daß der Mensch in keinerley Umständen lebhafterer Eindrücke und Empfindungen fähig ist, als bey dem öffentlichen Schauspiel. […] Nichts in der Welt ist anstekender und kräftiger würkend, als Empfindungen, die man an einer Menge Menschen auf einmal wahrnimmt.13

Sulzers Schauspiel-Artikel dokumentiert die enge Verflechtung der anthropologischen und ästhetischen Diskurse um 1800, indem er die physiologische Wirksamkeit des Theaterbesuchs mit der graduellen Kultivierung von intelligiblen Anlagen des Menschen verknüpft. Das Theater wird – wider die „frommen Eiferer und finstern Moralisten“14 – zum institutionellen Bürgen einer Gemeinschaftlichkeit verklärt,15 der Identitätsstiftung durch die harmonische Korrespondenz der Emotionen im Zuschauerraum befördert: „Man sollte denken, daß jeder einzelne Zuschauer das, was alle andre zu gleicher Zeit fühlen, in sich vereinige.“16 Das gemeinsame Fühlen verstärkt die Dynamik des „gemeinschaftlichen Kanals“, den Schiller am Ende seiner Schaubühnenrede unter der Ägide einer Verbrüderung der Zuschauer zu einem Geschlecht entwirft, da „jeder einzelne [im Theater] die Entzückungen aller [genießt], und seine Brust […] nur ‚einer‘ Empfindung Raum [gibt] – es ist diese: ein ‚Mensch‘ zu sein.“17 Die von Sulzer und Schiller entfaltete Argumentation speist sich aus einer Verschiebung der ethischen Legitimation der Künste in einen genuin ästhetisch-anthropologischen Erfahrungshorizont, in dem die während der Aufführung freigesetzte Ekstase als ein Indiz der Menschlichkeit gefeiert wird.18 13 Ebd., S. 254. 14 Ebd. 15 Anhand dieser Wirkungsabsicht differenziert Sulzer auch die „verschiedenen Gattungen des Schauspieles“ nach „blos belustigenden und unterhaltenden“ Stücken, die lediglich auf „Zeitvertreib“ zielen, und nach solchen, die „zwar den äußern Schein der blosen Ergötzlichkeit hätten, in der That aber auf Unterricht und Bildung der Gemüther abzielten.“ Als dritte Gattung bestimmt er darüber hinaus Stücke, welche „ein besonderes Nationalinteresse zum Grunde hätten, und nur bey besondern Feyerlichkeiten auf einen wichtigen ihnen gemäßen Zweck abzielten.“ Letztere seinen besonders geeignet, über das Sujet eines „Nationalstoffs“ die durch die „Festlichkeit“ bereits „erwärmten Gemüther“ kollektiv zu bewegen und „patriotische[ ] Träume“ zu realisieren. Ebd., S. 259 f. 16 Ebd., S. 255. 17 Friedrich Schiller, „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?“, in: Sämtliche Werke in fünf Bänden, Bd. 5, Wolfgang Riedel (Hrsg.), München/Wien 2005, S. 818–831, hier S. 831. 18 Vgl. Frank Möller, „Das Theater als Vermittlungsinstanz bürgerlicher Werte um 1800“, in: Hans-Werner Hahn/Dieter Hein (Hrsg.), Bürgerliche Werte um 1800. Entwurf – Vermittlung –

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Um das Fortbestehen der inszenierten Normen über die Abendvorstellung hinaus zu garantieren, zielten die Dramenpoetiken der Frühaufklärung hingegen noch darauf ab, die emotionalen Energien des Publikums zugunsten eines Moraltransfers zu nutzen: Der affizierbare Körper erscheint darin nur als idealer Umschlagplatz und nicht als das Ideal selbst. Gegen die unkontrollierte Zirkulation der Leidenschaften wurde ein feingesponnenes movere-Programm entwickelt,19 das auf eine rigide Lenkung der Affekte und Wahrnehmungsmuster getrimmt war, damit der spielerisch auf der Bühne vorgeführte Tugenden- und Lasterkatalog vom Zuschauer moralisch ernstgenommen wird. Das Probehandeln geht dabei mit körperlichen Resonanzen einher, die als leibhaftige Zeugnisse des homme de bien verstanden werden. Folglich wird die Inszenierung von Mustern des richtigen oder angemessenen Fühlens nicht nur auf der Bühne moralisch nobilitiert – man denke an die zeitgenössischen Debatten um eine Reform der Schauspielkunst oder an die Kontroverse um den Gefühls- und Reflexionsschauspieler20 –, sondern es wird ferner über die Rampe hinweg eine sublimierende Begrenzung von Gefühlsspielräumen im Parterre vollzogen.21 Letzteres erfolgt durch den Einsatz von (biopolitischen) Disziplinierungsstrategien, welche die psycho-physische Erregbarkeit der Zuschauerschaft kanalisieren und eine bereinigte Emotionalität als Erkennungszeichen der gruppenspezifischen Zugehörigkeit veranschlagen. Was während der konkreten Aufführung allzu oft durch eine

Rezeption, Köln 2005, S. 193–210, und Carsten Zelle, „‚Querelle du théâtre‘: Literarische Legitimationsdiskurse (Gottsched – Schiller – Sulzer)“, in: German Life and Letters, 62/2009, 1, S. 21–38. 19 Vgl. Ulrike Zeuch, „Der Affekt – Tyrann des Ichs oder Befreier zum wahren Selbst? Zur Affektenlehre im Drama und in der Dramentheorie nach 1750“, in: Erika Fischer-Lichte/Jörg Schönert (Hrsg.), Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache, Göttingen 1999, S. 69–90; Caroline Torra-Mattenklott, „Die Seele als Zuschauerin. Zur Psychologie des ‚movere‘“, in: Fischer-Lichte/Schönert (Hrsg.), Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts, S. 91–108, und Christian Neuhuber, Das Lustspiel macht Ernst. Das Ernste in der deutschen Komödie auf dem Weg in die Moderne: von Gottsched bis Lenz, Berlin 2003. 20 Vgl. Alexander Košenina, Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur ‚eloquentia corporis‘ im 18. Jahrhundert, Tübingen 1995, und Michael Bernsen, „Körpersprache als Bedingung authentischer Subjektivität? Ein Problem der englischen und französischen Empfindsamkeit“, in: Rudolf Behrens/Roland Galle (Hrsg.), Leib-Zeichen. Körperbilder, Rhetorik und Anthropologie im 18. Jahrhundert, Würzburg 1993, S. 83–102. 21 Vgl. Matthias Luserke, Die Bändigung der wilden Seele. Literatur und Leidenschaft in der Aufklärung, Stuttgart/Weimar 1995; Rainer Ruppert, Labor der Seele und Emotionen. Funktionen des Theaters im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Berlin 1995, und Georg-Michael Schulz, „Der Krieg gegen das Publikum. Die Rolle des Publikums in den Konzepten der Theatermacher des 18. Jahrhunderts“, in: Fischer-Lichte/Schönert (Hrsg.), Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts, S. 483–502.

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Theaterpolizei durchgesetzt werden musste und zu weitreichenden Anordnungen führte, die das Verhalten der Zuschauer reglementieren sollten,22 wird also von den Poetiken paradigmatisch entfaltet. Folglich schieben sie dem Gefühlstumult einen Riegel vor, indem sie die Leidenschaften der Zuschauer in affektive Register einpassen, deren lebensweltliche Aktualisierung während des Theaterbesuchs eingeübt werden soll: Die Schaubühne übernimmt auf diese Weise die Funktion einer Normvermittlungsinstanz, die dem Rezipienten nicht nur prototypische Konfliktszenarien regulativ vor Augen führt, sondern ihm auch Sinn- und Wertorientierungen unterhalb der Reflexionsschwelle eintrichtert. Diese Doppelfunktion soll im Folgenden herausgestellt werden.

II Amüsement und Repression in Luise Gottscheds Die Hausfranzösinn Folgt man der von Lessing im 26. Stück seiner Hamburgischen Dramaturgie (1767–69) angesichts einer Aufführung der Hausfranzösinn geäußerten Einschätzung, so erweist sich diese Komödie nicht nur als Petitesse der Bühnenkunst, sondern überdies als ein abgeschmacktes Gebilde äußerst fragwürdiger Provenienz: Unter „Gottschedischer Geburtshilfe“ entstanden, sei das – von Lessing nur ironisch als „Original“ apostrophierte – Machwerk „noch weniger, als nichts“, zumal sich die Verfasserin stark an Ludvig Holbergs Drama Jean de France (1722) orientierte, das bereits im zweiten Band der Deutschen Schaubühne (1741) in einer Übersetzung erschienen war: „[Das Stück] ist nicht allein niedrig, und platt, und kalt, sondern noch oben darein schmutzig, ekel, und im höchsten Grade beleidigend. Es ist mir unbegreiflich, wie eine Dame solches Zeug [hat] schreiben können.“23 Solcherart despektierliche Reaktionen sind nicht allein durch einige vulgäre Szenen der Komödie motiviert, die – wie Bernd Blaschke in Anlehnung an Julia Kristeva mutmaßt – durch ihre „Fäkal- und Brechsatire“ ein armseliges „Zeugnis der abjektiven Repulsion einer Autorin [gibt], deren Tagwerk

22 Vgl. Peter Heßelmann, Gereinigtes Theater? Dramaturgie und Schaubühne im Spiegel deutschsprachiger Theaterperiodika des 18. Jahrhunderts (1750–1800), Frankfurt a.M. 2002, S. 238–245; Hans-Christian von Herrmann, Das Archiv der Bühne. Eine Archäologie des Theaters und seiner Wissenschaft, München 2005, S. 131–144, und Matthias Rothe, Lesen und Zuschauen im 18. Jahrhundert. Die Erzeugung und Aufhebung von Abwesenheit, Würzburg 2005, S. 156–180. 23 Gotthold Ephraim Lessing, „Hamburgische Dramaturgie“, in: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 6, Klaus Bohnen (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1985, S. 181–694, hier S. 308.

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weitgehend aus der Übersetzung und Vermittlung von französischen Texten zur Instruktion einer deutschen Öffentlichkeit bestand.“24 Die gegen Autorin und Werk gerichtete Polemik ist zudem als genuin ästhetischer Reflex von Lessings Kritik an der Gottsched’schen Lustspielprogrammatik anzusehen, deren Korrektivfunktion des Verlachens er in seiner Konzeption des Lächerlichen bekanntlich zurückwies: Der Lustgewinn im Theater solle von der beleidigenden Abwehrhaltung gegenüber den lasterhaften Typen in die selbstreflexive Erprobung von Fertigkeiten überführt werden, die den Zuschauer in die Lage versetzen, sein Urteilsvermögen zu sensibilisieren.25 Insofern richtet sich Lessings Argwohn nicht bloß gegen die derbe Szenerie des Lustspiels, sondern vielmehr gegen dessen ‚platte‘ Antipathielenkung und beleidigende Verhöhnungsemphase, durch die kulturelle Stereotype und chauvinistische Vorurteile vermittelt und allenfalls am Rande in ihrer lächerlichen Ungereimtheit entlarvt werden. Ebendiese Nobilitierung xenophober Haltungen aber ist der Hausfranzösinn sowohl auf der Handlungsebene als auch hinsichtlich ihres moraldidaktischen Anspruchs eingeschrieben: Indem das Drama gallophobe Tendenzen als nachahmungswürdige Haltung zu mobilisieren versucht, wird im Theater ein horror alieni entfacht, den die Gemeinschaft des sich belustigenden Publikums im Verlachen des Fremdartigen zelebriert. Die erstmals im fünften Teil der Deutschen Schaubühne von 1744 abgedruckte Komödie weist ihre nationalpädagogische Tendenz bereits im Untertitel programmatisch aus: Ein „deutsches Lustspiel in fünf Aufzügen“ sei zu erwarten, dessen patriotische Botschaft Gottsched in seiner Vorrede auf einen moralischen Lehr-

24 Bernd Blaschke, „Anleihen und Verachtung. Luise Gottscheds französischer Komödienimport als Arbeit an einem deutschen Theater“, in: Marcel Krings/Roman Luckscheiter (Hrsg.), Deutschfranzösische Literaturbeziehungen. Stationen und Aspekte dichterischer Nachbarschaft vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Würzburg 2007, S. 71–86, hier S. 85. Zur Auseinandersetzung der Gottschedin mit Frankreich vgl. Helga Brandes, „Im Westen viel Neues. Die französische Kultur im Blickpunkt der beiden Gottscheds“, in: Gabriele Ball/Helga Brandes/Katherine R. Goodmann (Hrsg.), Diskurse der Aufklärung. Luise Adelgunde Victorie und Johann Christoph Gottsched, Wiesbaden 2006, S. 191–212, und Roland Krebs, „L.A.V. Gottsched und die Vermittlung der französischen Komödie“, in: Michel Espagne/Matthias Middell (Hrsg.), Von der Elbe bis an die Seine. Kulturtransfer zwischen Sachsen und Frankreich im 18. und 19. Jahrhundert, Leipzig 1993, S. 90–104. 25 Vgl. Walter Hinck, Das deutsche Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts und die Italienische Komödie. Commedia dell’arte und Théâtre italien, Stuttgart 1965, S. 258, und Agnes KornbacherMeyer, Komödientheorie und Komödienschaffen Gotthold Ephraim Lessings, Berlin 2003, S. 81: „Während das Verlachen, der Spott den fehlerhaften Protagonisten vor den Normen einer Gruppe oder Gesellschaft gleichsam abstraft und sich moralisch über ihn erhebt, sucht Lessing gerade dieses dem Verlachen innewohnende Moment der überlegenen Verachtung zu tilgen“.

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satz hin dechiffriert, wenn er den didaktischen Wert des Stücks seiner „fleißigen Gehülfinn“26 mit folgenden Worten hervorhebt: Man wird vielleicht daraus das große Uebel einigermaßen einsehen lernen, das die seit funfzig bis sechzig Jahren in Deutschland eingerissene französische Kinderzucht gestiftet hat: durch welche gebohrne Deutsche von der Wiegen an, lüsterne Affen unsrer Nachbarn und Feinde; hergegen Verächter ihrer eigenen Aeltern, Freunde, Sitten und Landsleute, und überhaupt ihres ganzen Vaterlandes geworden.27

Die paratextuelle Notiz funktionalisiert die Komödie als ein Befreiungsdrama, das der französischen Kulturhegemonie eine rigorose Absage zu erteilen sucht. Zwar spricht Gottsched der französischen Nation ihre „Verdienste“ nicht generell ab, doch tadelt er ihren Impetus, sich „für eine gebohrne Hofmeisterinn des menschlichen Geschlechts [aufzuwerfen], und hernach diejenigen Völker, welche das Joch ihrer Sitten und Eitelkeiten am gelehrigsten auf sich genommen […] als dumme und einfältige Gümpel [zu] verachten“.28 Über eine stigmatisierende Rhetorik wird die „heilsame[ ] Absicht“29 untermalt, eine fiktive Austreibung jener schädlichen Elemente zu vollziehen, die in Form des ausländischen Gesinde(l)s den familialen Wertekanon des Bürgertums und seine Erziehungsansprüche unterlaufen hätten.30 Die von Gottsched verwendete Metaphorik des Krankhaften wiederholt dabei die überreizten Abwehrreaktionen der deutschen Figuren, etwa wenn sich Herr Wahrmund in cholerischer Manier über die im Hause seines Bruders angestellten Franzosen echauffiert: „Die Galle läuft mir über […] und ich möchte die Bestien alle zu Tode nasestübern […], wenn ich an

26 Johann Christoph Gottsched, Die Deutsche Schaubühne. Dritter Theil, Leipzig 1741, S. VI. 27 Johann Christoph Gottsched, Die Deutsche Schaubühne. Fünfter Theil, Leipzig 1744, S. 11. 28 Ebd. Zum ambivalenten Verhältnis der Gottscheds zu Frankreich vgl. Albert Meier: „Plus ultra! Johann Christoph Gottscheds gallophobe Gallophilie“, in: Heitz u.a. (Hrsg.), Gallophilie und Gallophobie, S. 195–205, und Helga Brandes, „Johann Christoph & Luise Adelgunde Victorie Gottsched und der deutsch-französische Aufklärungsdiskurs“, in: Jens Stüben (Hrsg.), Ostpreußen – Westpreußen – Danzig. Eine historische Literaturlandschaft, Oldenburg 2007, S. 237–258. 29 Johann Christoph Gottsched, Die Deutsche Schaubühne. Fünfter Theil, Leipzig 1744, S. 12. 30 Zum sozialen Status der Hausangestellten im 18. Jahrhundert vgl. Gotthardt Frühsorge/Rainer Gruenter/Beatrix Wolff Metternich (Hrsg.), Gesinde im 18. Jahrhundert, Hamburg 1995. Die Erziehungspraxis im Kontext der bürgerlichen Familie rekonstruiert Ulrich Herrmann, „Erziehung und Bildung“, in: Notker Hammerstein/Ulrich Herrmann (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 2, München 2005, S. 97–133. Zur familialen Wertevermittlung vgl. Andreas Gestrich, „Familiale Werteerziehung im deutschen Bürgertum um 1800“, in: Hahn/Hein (Hrsg.), Bürgerliche Werte um 1800, S. 121–140.

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den Schaden und Schimpf gedenke, den unsere französische Kinderzucht dem deutschen Vaterlande thut; so möchte ich bersten.“31 Die Immunisierungsansprüche richten sich im Stück allerdings nicht nur gegen die Fremdkörper, sondern setzen inmitten der Familie an: Das Laster einer hypertrophen Frankophilie soll als problematischer Auswuchs jener unvernünftigen Erziehungsmaßnahmen therapiert werden, die das abnorme Verhalten der Kinder begünstigt hätten. Für die tugendhaften Protagonisten speist sich das Unvernünftige aus der verblendeten Glorifizierung der französischen Kultur – „Je, du blinder Verehrer aller fremden Thorheiten“ (72) –, und es konkretisiert sich in der Anbiederung an den galant-höfischen Repräsentationskult.32 Um diesen vermeintlichen Untugenden entgegenzuwirken, werden sie mittels einer Kombination aus komischer Erniedrigung und patriotischem Ressentiment gebrandmarkt, wobei die Sanktion über ein adressatenbezogenes Verlachen erfolgt, das sich auf die Familienmitglieder und die Angestellten jeweils unterschiedlich auswirkt: Ein belehrendes Hohngelächter der Älteren soll den eigenen Kindern ihre Frankreichbegeisterung austreiben und im gleichen Atemzug eine hämische Erniedrigung der eigentlichen Übeltäter vollstrecken. Die Belustigung erweist sich folglich sowohl als Erziehungsmaßnahme wie auch als Repressionsakt. Der didaktische Spott entzündet sich vornehmlich an dem jungen Herrn Franz, dessen sprechender Name ja bereits auf seine Affinität zum Französischen hindeutet. Dieser wird vom – auf Geheiß der verstorbenen Mutter ins Haus genommenen – französischen Gesinde angespornt, eine Parisreise zu unternehmen. Die Abwesenheit der Mutter deutet die prekäre Übertragung der Erziehungshoheit auf die ausfranzösin bereits an, welche den pädagogischen Handlungsspielraum des Hausvaters limitiert.33 Was den von seiner eigenen Familie als „sklavische[r] Fran-

31 Luise Adelgunde Victorie Gottsched, Die Hausfranzösinn, oder die Mammsell. Ein deutsches Lustspiel in fünf Aufzügen, Nina Birkner (Hrsg.), Hannover 2009, S. 27. Zitate aus dem Lustspiel werden im Folgenden nach dieser Ausgabe im Fließtext nachgewiesen. 32 In ihrem Nachwort weist Nina Birkner auf den Umstand hin, dass die Kritik am Repräsentationskult die metonymische Verschiebung der Völkerkonkurrenz motiviert: „Der Unterschied zwischen zwei Wertsystemen, dem der höfischen Gens de qualité und dem der Kaufmannsfamilie“, begründet allererst die auf das Nationale übertragenen Differenzen. Ebd., S. 139. Vgl. dazu auch Florack, Bekannte Fremde, S. 154. 33 Zur Ausschließung der Mütter aus der Erziehungspraxis und zur Dominanz männlicher Figuren in den Komödien der Aufklärung vgl. Reiner Wild, Die Vernunft der Väter. Zur Psychographie von Bürgerlichkeit und Aufklärung in Deutschland am Beispiel ihrer Literatur für Kinder, Stuttgart 1987, S. 205–210; Jürgen Jacobs, „Die Nöte des Hausvaters. Zum Bild der Familie im bürgerlichen Drama des 18. Jahrhunderts“, in: Wirkendes Wort, 34/1984, S. 343–357, und Susanne Kord, Little Detours. The Letters and Plays of Luise Gottsched, Rochester 2000, S. 71.

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zosenaffe“ (71) titulierten Sohn anbelangt,34 so wird bereits in den ersten Aufzügen deutlich, dass Franz als Vertreter jener von der „französische[n] Zucht“ (22) fehlerzogenen Jugend fungiert, deren ehrlose Abtrünnigkeit Gottsched bereits in der Vorrede skizziert hatte. Zahlreiche Detailinformationen – darunter die, dass er mit seinen fünfzehn Jahren noch immer bei der Hausfranzösin als libidinösem MutterSurrogat nächtigt oder von seinen Verwandten als „dummer Junge“ (26) beschimpft wird – rücken die Laster der Figur in die Nähe einer kindlichen Naivität, welche auf einem durchaus noch korrigierbaren Irrtum beruhen: Dieser besteht in der vom Vater erst im letzten Akt vollends durchschauten „unzeitigen Sehnsucht nach Paris“ (94), die dem abtrünnigen Zögling vom französischen Hauspersonal eingeimpft worden sei. Während sich das innerfamiliäre Zerwürfnis in der Rivalität der Generationen konkretisiert, erfährt Franz die Wertekonkurrenz zudem als inneren Konflikt, den er aufzulösen versucht, indem er das verklärte Sozialisationsmodell gegen seine Herkunftswelt ausspielt: „Deutschland hat nur meinen Leib gebohren; mein Geist aber hat immer der Krone Frankreichs zugehört.“ (74) Da er „nicht das Glück [hatte, als] Franzose gebohren zu seyn“, will er seine als defizitär empfundene Abstammung durch „eine französische Artigkeit in Sitten“ (79) kompensieren. Dennoch wird Franz im Laufe des Stücks von seinem Vorhaben einer mondänen Kavalierstour abgebracht; er gibt das französische Vokabular und das Tanzen auf, betrachtet seine Reisekleider, „als wenn er auf die Nase geschlagen wäre“ (98), und wird zum „rechtschaffenen Menschen“ (106) umerzogen. Im stolzen Schlussplädoyer des Onkels – „[A]n die deutschen Höfe sollen sie reisen. […] Da können sie alles so gut und besser sehen, als in Frankreich“ (106) – wird die Reintegration des verlorenen Sohnes in die eigene Kulturnation als Mahnmal einer poetischen Gerechtigkeit zementiert. Auf der anderen Seite richtet sich der demütigende Spott gegen das französische Personal, das durch einen sich als Offizier ausgebenden Aufschneider namens Sotenville – der Narr vom Dorfe –, die Hausfranzösin Mademoiselle La Fleche – deren pfeilspitze Zunge Programm ist – und den galanten Diener La Fleur repräsentiert wird.35 Das durch allerhand rüde Streiche schikanierte Triumvirat erweist sich später als steckbrieflich gesuchte Sippschaft, die sich in der deutschen Kleinfamilie parasitär eingenistet hat, um sie zu erpressen, und im

34 Gaby Pailer zeigt auf, inwiefern die Figur als Karikatur von Louis XV. angelegt ist. Vgl. Gaby Pailer, „Multi-layered Conflicts with the Norm: Gender and Cultural Diversity in Two Comedies of the German Enlightenment“, in: Dies. u.a. (Hrsg.), Gender and Laughter: Comic Affirmation and Subversion in Traditional and Modern Media, Amsterdam 2009, S. 141–154, hier S. 145 f. 35 Wie Hinck, Das deutsche Lustspiel, S. 427, bemerkt, rekurriert die Gottschedin in der Namensgebung auf Stücke von Holberg, Molière und Destouches.

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letzten Akt zu einer Bande von „Menschendiebe[n]“ (97) mutiert, welche die jüngste Tochter misshandeln und an ein Pariser Bordell verkaufen wollten.36 Die hämische Repression der Franzosen erscheint vor dem Hintergrund der abgewendeten Katastrophe post festum als prohibitive Maßnahme gegen kriminelle Energien. Die Figurenkonstellation des Lustspiels orientiert sich demgemäß an einem Konfliktmodell interner und externer Gegner, wie es Wolfgang Lukas beschrieben hat: Die Bedrängnis liegt weniger im ostentativen Fehlverhalten der Außenseiter als in ihrer Verführungskunst verborgen, die den Verbund des familialen Mikrokosmos bedroht und eine „Spaltung der fokustragenden [Gemeinschaft] in zwei oppositionelle Lager der Aufklärung und der Nicht-Aufklärung“37 herbeiführt. Dabei ist die spätestens mit dem Fallen des Vorhangs erreichte Wiederherstellung der (kleinfamilialen) Ordnung als genretypologisches Differenzmerkmal zu klassifizieren, insofern sie – im Falle der Komödie – von der gelungenen Domestizierung bzw. Extermination der Störenfriede abhängig ist. So markiert die Entführung zwar einen nahezu tragischen Wendepunkt, der das Schema der Komödie durchkreuzt38 und spätere Genretransformationen vorwegnimmt, doch werden die Irritationen und Gefährdungen im letzten Akt handlungslogisch getilgt: Die entführte Tochter wird wieder der Obhut ihrer Familie anheimgegeben, der finanzielle Verlust durch einen verloren geglaubten „Wechsel[ ]“ (99) abgewendet und das französische „Schelmpack“ (103) im nächsten Hafen abgefangen. „Froh“ bringt der Hausvater – mit dem ebenfalls sprechenden Namen – Germann seine Erleichterung zum Ausdruck: „Nun so ist denn nichts verlohren, als meines Sohnes Kleider und Sachen, die sie mir in diebischer Weise entwendet haben!“ (105) Im Folgenden sollen einige der komischen Szenen analysiert werden, die innerhalb des Spielgeschehens stets von ansteckenden Lachtiraden begleitet

36 Wie Nina Birkner betont, erweisen sich die französischen Figuren zudem selbst als „Zwitter“ (36), die nahezu heimatlos zwischen den Kulturen hausen, zumal sie sich die Elogen auf ihre Heimat zum Teil nur über „Gesangsbücher“ (68) angeeignet haben. Vgl. Nina Birkner, „‚Tolerante Unterjochung‘. Völkerliebe und Vorurteil in der Komödie der Aufklärung“, in: Wirkendes Wort, 62/2012, 1, S. 9–26, hier S. 15. 37 Wolfgang Lukas, Anthropologie und Theodizee. Studien zum Moraldiskurs im deutschsprachigen Drama der Aufklärung (ca. 1730–1770), Göttingen 2005, S. 37. 38 Vgl. Thomas Kerth/John R. Russell, „Introduction“, in: Dies. (Hrsg.), Pietism in Petticoats and Other Comedies, Columbia 1994, S. XI–XXXII, hier S. XXII: „Frau Gottsched portrays these Frenchmen as meriting nothing less than intense hatred, rather than comic ridicule, thus compromising, in a sense, the didactic purpose of the genre. In fact, the play strains the conventions of the comedy to such a degree that it takes a nearly tragic turn when little Hannchen is kidnapped“. Vgl. auch Veronica C. Richel, Luise Gottsched: A Reconsideration, Bern 1973, S. 30: „Indeed the final misdemeanour of the French on which the outcome hinges is more frightening than amusing.“

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werden, welche in den Regieanweisungen detailliert als mustergültige Reaktionen der Rezipienten ausgewiesen sind.39

III Disziplinierender Schimpf und Schabernack Im dritten Auftritt des ersten Akts reißt der für seine bevorstehende tour de france mit „Stiefeln und Sporen“ (13) gewappnete Franz der französischen Gouvernante ein klaffendes Loch in die Schürze. Dieser Fauxpas ist nicht zuletzt seinem dilettantischen Pirouettenwirbel geschuldet, mit dem er die Eleganz des belle dance stolpernd in der Putzstube konterkariert.40 Als die Geschädigte schließlich empfiehlt, er könne ihr ja „ein[en] Fleck von 4 Ellen extra feinem pariser Battist“ als Entschädigung spendieren, brechen die tugendhaften Figuren Wahrmund und Luischen in ein ausgiebiges Gelächter aus, das sich über die überzogenen Ansprüche der exilierten Französin belustigt: „Jungfer Luischen und Wahrmund schütteln die Köpfe und lachen […]. Wir lachen über die schöne Erfindung, eine alte katune Schürze mit vier Ellen feinem Battist zu flicken.“ (14) Die komischdidaktische Struktur dieser Szene verdankt sich dem modischen Spleen der französischen Angestellten, die gegen die soziokulturelle Normierung der Kleiderordnung im deutschen Kaufmannshaus verstößt,41 dessen Wertehorizont mithin die Konsensbasis der belustigenden Deklassierung darstellt. Schließlich wird der Mademoiselle La Fleche jedoch unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sie bei allem Scherz doch „bey einem deutschen Kaufmanne ums Geld für Hausjungfer dient.“ (14) Aus diesem Grund solle sie sich ihre luxuriösen Ambitionen abschreiben, die von der Untugend der Eitelkeit durchsetzt seien und der

39 Anke Detken untersucht den Einsatz von Regiebemerkungen über das Lachen in der ebenfalls von der Gottschedin verfassten Komödie Der Witzling und bezieht sie auf die „typisierte Verteilung von tugendhaften und lasterhaften Figuren“. Anke Detken, Im Nebenraum des Textes. Regiebemerkungen in Dramen des 18. Jahrhunderts, Tübingen 2009, S. 58. 40 Vgl. zum Motiv des Tanzes im deutsch-französischen Kulturtransfer Marie-Thérèse Mourey, „Tanzen als Schule galanten Gebarens“, in: Ruth Florack/Rüdiger Singer (Hrsg.), Die Kunst der Galanterie. Facetten eines Verhaltensmodells in der Literatur der Frühen Neuzeit, Berlin/New York 2012, S. 275–300. 41 Vgl. zur Alamodekritik York-Gothart Mix, „Nationale Selbst- und Fremdbilder in der Modeund Alamodekritik des ‚Hinkenden Boten‘ und anderer populärer Kalender des 18. Jahrhunderts“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 26/2001, 2, S. 56–71, hier S. 62. Nina Birkner zeigt im Rekurs auf Pierre Bourdieus Assoziation von haute couture und haute culture, inwiefern der „Diskurs über Luxusgüter“ hier als Distinktionstableau von Klassenunterschieden fungiert. Vgl. Birkner, „Der ‚närrische‘ Franzose“, S. 189 f.

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sparsamen Ökonomie des Hauses42 widersprechen würden. Die Figur Wahrmund antizipiert kurz darauf sogar die kriminellen Absichten der Franzosen: „Der alte französische Geck, den ihr in eurem Hause hegt und füttert, der hat Lust, eines ehrlichen deutschen Kaufmanns sauer erworbenes Gut in Paris zu verthun, und eure französische Hausjungfer hat auch ihren Schnitt dabey.“ (25) Die den Normverstoß motivierende Extravaganz wird in dieser Szene also zweifach geahndet: Während Franz’ Missgeschick als Ausgeburt von „Flüchtigkeit“ und „Ungeduld“ (11) diffamierend verlacht wird, erfährt die Mamsell durch das explizite Diktat einen Verweis in die Schranken der Kleider-, Geschlechter- und Knechtschaftsordnung, wodurch der „französischen Dame“ (14) das gültige Weiblichkeitsmodell verdeutlicht wird.43 Vor diesem Hintergrund erweisen sich sowohl die herabsetzende Belustigung als auch das rigide Verbot als Abwehrmechanismen, die das nonkonforme Verhalten der Hausfranzösin sanktionieren und dem eigenen Sohn seine Frankomanie austreiben sollen. Das – buchstäblich als Konfliktstoff fungierende – Requisit der mit Pariser Batist zu veredelnden Schürze symbolisiert dabei mehrere vermeintliche Untugenden: Der Wunsch der Bediensteten, ihre deutsche Arbeitskluft mit einem durchscheinenden Stoff zu verzieren, suggeriert neben dem offensichtlichen Kultursynkretismus eine sublime Verflechtung von voluptas und luxuria.44 Analog dazu wird die Hausfranzösin späterhin als „unverschämtes, ehrloses Luder“ (32) gescholten, da sie der jüngsten Tochter anzügliche Lieder beigebracht und Franz zu einem Abschiedsgeschenk von „Galanterie Waren“ (33) überredet hat, die als „unnütze Ausgaben“ (34) erscheinen: Hinter der Galanterie erkennen die Deutschen eine selbstgefällige Verstellungskunst.45 Das irritierende Fremdheitspotential des Kleidungsstücks wird durch die Herkunft des Stoffs noch intensiviert, da Paris als Stadt der Monarchen, des luxuriösen Warenverkehrs und der illustren Ausschweifung abnorme Begierden wecke.46 Neben den vermeintlichen Verirrungen des Luxus,

42 Vgl. dazu Blaschke, „Anleihen und Verachtung“, S. 80: „Merkantilistische Autarkie, Schatzbewahrung im eigenen Lande statt teurer Luxusimporte, so lautet das Credo der Vernünftigen.“ 43 Vgl. Barbara Becker-Cantarino, „‚Wenn ich mündig und hoffentlich verständig genug seyn werde…‘: Geschlechterdiskurse in den Lustspielen der Gottschedin“, in: Ball/Brandes/Goodman (Hrsg.), Diskurse der Aufklärung, S. 89–106. 44 Vgl. Alexander Honold, „Luxuria. Eine Tugend unter den Lastern“, in: Christine Weder/ Maximilian Bergengruen (Hrsg.), Luxus. Die Ambivalenz des Überflüssigen in der Moderne, Göttingen 2011, S. 35–57, hier S. 36 f. 45 Vgl. zur Galanteriekritik Ruth Florack, „Im Namen der Vernunft – Galanterie-Kritik in deutschen Moralischen Wochenschriften“, in: Heitz u.a. (Hrsg.), Gallophilie und Gallophobie, S. 207–223, bes. S. 210, und Daniel Fulda, „Galanterie als Schlüssel zur Frühaufklärung?“, in: Ders. (Hrsg.): Galanterie und Frühaufklärung, Halle 2009, S. 7–11. 46 Vgl. Gaby Pailer, „Multi-Layered Conflicts with the Norm“, S. 145.

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der Mode und der Sexualität repräsentiert die Schürze zudem das Laster der Sprachverwirrung, dem die jugendlichen Protagonisten erlegen sind, da sie sich einige Fetzen der „Hofsprache, die man in Paris zu führen hat, angewöhnet“ haben (12) und ihre Varietät gleichsam zu verzieren trachten, indem sie à la mode parlieren.47 Interessanterweise gibt es im 23. Stück der Vernünftigen Tadlerinnen bereits eine Parallelstelle, die im metaphorischen Transfer Kleidungs- und Sprachmontage verknüpft: Wir haben nur die unnützen Sprachmischer ausgelachet, die ohne Noth dergleichen ausländische Lumpen auf ihren deutschen Rock hängen, und sich einbilden, recht galant zu reden und zu schreiben; wenn sie dasjenige mit einem verstümmelten französischen Worte übel ausdrücken, was sie mit einer guten deutschen Redensart weit besser hätten vortragen können.48

Mit dem dritten Aufzug steuert das Stück auf seine wohl derbste Partie zu, in welcher der deutsche Diener Erhard dem „unordentlichen“ Heißhunger des Monsieur de Sotenville auf einen „französischen Leckerbissen, der mit dem ersten Buchstaben, Schneppendreck heißt“ (47), auf hinterlistige Weise Abhilfe verschafft.49 Den ihm für den Einkauf der Zutaten übergebenen Gulden investiert er kurzerhand in einen Kneipenausflug, lässt die ihm suspekt erscheinende Mahlzeit mit gut gewürztem „Taubenextract“ (49) zubereiten und dem „alten Drachen“ (48) schließlich servieren. Als Sotenville am darauffolgenden Tag mit einer schweren, ihn zum „Ausspeyen“ zwingenden Magenkolik unter den Familienmitgliedern erscheint, wie eine „schweinische alte Mumie seinen Leichnam in allen Zimmern“ (52 f.) herumschleppt und die eigene Tabakdose kontaminiert, wird ihm – zur Erheiterung aller Anwesenden – auch noch der beim jungen Fräulein des Hauses provokant bestellte „siedende Thee“ durch ein vorsätzliches Stolpern über die Beine geschüttet.50

47 Vgl. Rainer Schlösser, „Luise Gottscheds Lustspiel ‚Die Hausfranzösin‘ und das Französische in Deutschland“, in: Romanistik in Geschichte und Gegenwart, 3/1997, S. 49–62. 48 Johann Christoph Gottsched, Die vernünftigen Tadlerinnen. Der andere Theil, Hamburg 31748, S. 208–215, hier S. 208. 49 Barbara Becker-Cantarino identifiziert die Mahlzeit als verballhornte Übersetzung des französischen Nationalgerichts bécasses au fois; vgl. Becker-Cantarino, „Geschlechterdiskurse in den Lustspielen der Gottschedin“, S. 101. 50 Sotenvilles Unpässlichkeit entlarvt dabei die infektiöse Ansteckungsdynamik französisierter Gebräuche, wenn die jüngste Tochter Hannchen im Anschluss an das Spektakel begeistert ausruft: „Ma foi! Si fait, Mademoiselle! Meine Stube soll künftig immer vollgespieen seyn.“ (53) Denn auch Hannchen ist nach einem Wort ihrer älteren Schwester – die den Typus der redegewandten Frauenfigur repräsentiert und deren ironische Bemerkungen das Abnorme fixieren – dem Bann der französischen Kultur erlegen: „Ja freylich, meine Schwester gehöret auch mit zu

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Wie bereits in der oben analysierten Szene wird in den Regiebemerkungen intensiv auf das schadenfrohe Gelächter der Deutschen angesichts des kalkulierten Unbehagens des Franzosen eingegangen. Slapstick, Intrige und Streich sind komische Stimuli, über die sich eine unverkennbare Antipathielenkung der Zuschauer vollziehen soll. Der Humor hat hierbei keineswegs die Funktion, das kulturelle Normengefüge zu untergraben; vielmehr muss jede Form des Karnevalesken abgeblendet und die destruktive Kraft der vulgären Szenerie durch einen Kommentar gebannt werden. Deshalb wird das durch die burleske Handlungsdynamik und erniedrigende Bewegungsregie gescholtene Delikt der (scheinbaren) Maßlosigkeit auch abermals diskursiv gebrandmarkt: Die sich anschließende Unterhaltung über Tisch- und Esskultur desavouiert über die Parameter der Reinheit und Originalität die französische cuisine, welche ihre Zutaten nicht in der „natürlichen Beschaffenheit“ (49) belasse und die Speisen so drapiere, dass sie „zum andernmale gegessen“ (50) zu sein scheinen. Nicht umsonst ist der Schauplatz explizit als Putzstube des Herrn Germann ausgewiesen, die in ihrer Verwandlung in ein „Ferkelcabinet“ (53) den familialen Bereich befleckt, wodurch die purifizierenden Absichten der Deutschen szenisch eingeblendet werden. Indem die satirischen Episoden eine Tendenz der Franzosen zu Schmeichelei, Verkleidung und Koketterie enthüllen, fungieren sie zudem gleichsam als proleptische Szenarien, die den Umschlag des unterhaltenden Amüsements in den ernsthaften Konflikt der Entführungs- und Erpressungsintrige vorwegnehmen. Das germanische Gelächter mündet in bösartigen Ressentiments,51 die sich erst im Laufe des Stücks als legitime Verdachtsmomente erweisen. Entsprechend wird das später durchschaute Verstellungsspiel der Franzosen durch ihren ausgewiesenen Hang zur Galanterie und ihre Eigenliebe motiviert und die Transformation der zunächst bloß verlachten Toren in einzusperrende „Bestien“ (104) begründet: Während das intrigante Moment – im Falle der Franzosen – als infame Manipulation der familialen Bindekräfte angesehen wird, erscheinen den deutschen Figuren ihre disziplinierenden Streiche als probate Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen, da sie zugleich der Erhaltung des gesellschaftlichen Normensystems dienen. Die mehr oder minder komischen Szenen der Komödie haben, wie die Interpretation ergeben hat, stets einen zweifachen evaluativen Anspruch: Ob sie sich nun an der Mode, der Bildung und Erziehung, der Esskultur oder Ausschlafpraxis

den Deutschen, die sich durch fremde Sitten, von der Tugend ihrer Vorältern abwendig machen lassen.“ (22) 51 Vgl. Diethelm Brüggemann, Die sächsische Komödie. Studien zum Sprachstil, Köln 1970, S. 146: „So kann sich die Sprache des Lasters unversehens auf der Seite der sogenannten Tugend wiederfinden, wenn Vernunft sich mit Ressentiment bewaffnet und der Teufel der Französelei mit Hilfe des Beelzebubs der deutschen unhöflich-groben Direktheit ausgetrieben wird.“

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entzünden, immer folgt auf die herabsetzende Belustigung eine normative Unterweisung, die das eigene Lebensmodell legitimieren soll.52 Mit dieser Doppelung von Komik und Repression entspricht die von den deutschen Protagonisten des Stücks praktizierte Strategie exakt dem von Gottsched in seiner Komödienpoetik anvisierten Effekt des Verlachens. Das Verlachkorrektiv soll deshalb abschließend als ein wirkungsdidaktisches Pendant der im Lustspiel erprobten Erziehungs- und Repressionspraxis gedeutet werden, die während der Theateraufführung vom Zuschauerkollektiv als „bestochenem Dritten“53 interaktiv eingeübt wird, so dass sich das lachende Publikum als Teil des im Medium der Fiktion bereinigten Nationalkörpers wahrnimmt.

IV Das Verlachen als Medium theatraler Nationalerziehung Analog zu der verspottenden Didaxe der deutschen Protagonisten begreift Gottsched in seiner Critischen Dichtkunst (1729) die moderat dosierte Belustigung lediglich als Katalysator, durch den sich die Ordnungs- und Verfügungsgewalt der moralischen Erbauung legitimiert, da der „große[ ] Haufen der Menschen viel zu mager und zu trocken“54 sei, um das Angemessene mittels vernünftiger Schlüsse zu erkennen. Situiert zwischen Belustigung und Erbauung soll die Komödie nach Gottscheds Theorie das lasterhafte Verhalten eindämmen, indem sie dieses dem Gelächter einer Gemeinschaft von Vernünftigen preisgibt, die auf das „ungereimte Wesen in menschlichen Handlungen […] satirisch“55 reagieren. Im gemeinsamen Verlachen der Normverstöße wird die kollektive Befremdung kanalisiert und das Gewissen der Lachgemeinschaft beruhigt.56 Die versammelten

52 Die intriganten Scherze der Deutschen sind vor diesem Hintergrund gerade nicht als „wertfreie, vitale und moralisch indifferente“ Praktiken zu verstehen, wie Roland Krebs vermutet. Vgl. Krebs, „L. A. V. Gottsched und die Vermittlung der französischen Komödie“, S. 138. 53 Bernhard Greiner, Die Komödie. Eine theatralische Sendung: Grundlagen und Interpretationen, Tübingen/Basel 22006, S. 112. 54 Johann Christoph Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst, Leipzig 41751, S. 167. Inwiefern Gottsched die Thematik des Stücks exemplarisch erschien, zeigt das Beispiel, das er im Komödienteil anführt: „Die seltsame Aufführung närrischer Leute, macht sie auslachenswürdig. Man sehe […] einen deutschen Franzosen […] in unserer Schaubühne an: so wird man sich des Lachens nicht enthalten können.“ Ebd., S. 652. 55 Ebd., S. 653. 56 Vgl. Volker Klotz, Bürgerliches Lachtheater. Komödie, Posse, Schwank, Operette, Heidelberg 4 2007, S. 15 f.: „Lachen, ausgelöst durch komische Entstellung, ist eine gesellschaftliche Regung. Wer allein lacht – sei es in einem Raum für sich, sei es unter andern, die nicht mitlachen –, fühlt sich alsbald unbehaglich. […] Lachen können die Zuschauer nur, wenn das, was die Bühne im

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Subjekte werden in ihrer kooperativen Souveränität gegenüber dem typisierten Laster bestätigt und dennoch zugleich gewarnt. Folglich verlängert sich die satirische Zurschaustellung der Unvernunft auf der Bühne auch durch eine Didaktik der Furcht in die Mitte des Publikums: Gegenüber dem Laster markiert der Zuschauer seine moralische Integrität und Distanz, doch beglaubigt dessen Virulenz zugleich die eigene Verführbarkeit, als deren Stellvertreter die verlachte Figur erscheint. Letztere absorbiert somit einerseits die gefährlichen Unsitten, andererseits aber initiiert sie eine soziale Ansteckungs- und Abschreckungsdynamik, die über den identifikatorischen Nachvollzug des im Stück praktizierten Hohngelächters auch zur affektiven Stabilisierung von Wertvorstellungen führt. Die als belustigend erfahrene Abweichung erweist sich für den Einzelnen als eine Bewältigung introjizierter Aggression,57 die allererst vom anonymen Automatismus der lachenden Masse auf den Fremdkörper umgeleitet wird.58 Deshalb besteht die von Gottsched intendierte erbauliche Funktion nicht allein in einem moralischen Erkenntnisgewinn, der das Gute vom Schlechten sondert, sondern sie wird in Form einer Gelotophobie, also einer Verlach-Angst,59 in den Gefühlshaushalt der Theaterbesucher eingespielt. Entsprechend wird in der moralischen Wochenschrift Die Vernünftigen Tadlerinnen im Hinblick auf die Austreibung der „üble[n] Gewohnheiten“ besonders das Mittel einer „sichtbare[n] Vorstellung durch lebendige Personen“ empfohlen: [D]er Nutze und Schade […] wird [im Theater] sehr lebhaft vorgestellt, und die Zuschauer, die damit vielleicht befangen sind, werden bewogen, sich derselbigen zu entledigen: indem sie besorgen müssen eben so auslachenswürdig zu erscheinen, als die lasterhaften Personen auf dem Schauplatze gewesen. Wer nur die allergeringste Ehrliebe bey sich hat, der kann dieses unmöglich erdulden und es ist ihm unerträglich, wenn er andern zum Gelächter

Augenblick sichtbar und hörbar entstellt, ihre persönlichen und öffentlichen Alltagserfahrungen aufrührt. Was dann bei diesem Lachen herauskommt, hängt ab von den besonderen historischen, gesellschaftlichen und psychischen Umständen. Es kann die Lachenden beruhigen: meine und unsere Verhältnisse sind längst nicht so schief wie die vorgeführten; sie können bleiben, wie sie sind. Oder es kann die Lachenden beunruhigen: meine und unsere Verhältnisse sind ähnlich schief wie die vorgeführten; sie sollten anders werden.“ 57 Vgl. Sigmund Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, Frankfurt a.M. 1958, S. 119–128. 58 Vgl. Helmuth Plessner, Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen menschlichen Verhaltens, München 1950, S. 155: „Im Lachen quittiert der Mensch eine Situation. Er beantwortet sie mit ihm direkt und unpersönlich. Er gerät in einen anonymen Automatismus. Er selbst eigentlich lacht nicht, es lacht in ihm, und er ist gewissermaßen nur Schauplatz und Gefäß für diesen Vorgang.“ 59 Vgl. Michael Titze/Rolf Kühn, Lachen zwischen Freude und Scham. Eine psychologisch-phänomenologische Analyse zum Verständnis der ‚Gelotophobie‘, Würzburg 2010.

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werden soll. Darum machen diese Vorstellungen einen sehr tiefen Eindruck in seinem Gemüthe, und sind oft kräftigere Bewegungsgründe, vom Bösen abzustehen, als die besten Vernunft-Schlüsse eines Sittenlehrers.60

Indem es den versammelten Zuschauern demonstriert, was für fatale Konsequenzen es hat, sich in der Öffentlichkeit lächerlich zu machen, erweist sich das Verlachen im Lustspieldiskurs der Aufklärung sowohl als Tribunal des Fremden wie auch als Affektdiktatur des Eigenen.61 Wie Adorno in einem seiner letzten Seminare bemerkte, keimt in der überlegenen „Bürgschaft des Dazugehörens“, die der Schabernack auf dem Rücken des ausgegrenzten Anderen ratifiziert, jedoch bereits die Gefahr eines Umschlags in repressive Gewalt: Unbewußt geriert das Gelächter über den komischen Kauz die Unterdrückung, die dessen Absonderlichkeit zeitigte. Von solcher Sündenbock-Mentalität ist alles kollektive Lachen durchwachsen, Kompromiß zwischen der Lust, die eigene Aggression loszuwerden, und den hemmenden Zensurmechanismen, die das nicht dulden. Das kulminiert in dem der Wut verwandten schallenden Gelächter, mit dem die Meute den Abweichenden zum Schweigen bringt, einem Verhalten, das, wenn die Bedingungen es gestatten, in die physische Gewalttat umschlägt und dabei noch diese zivilisatorisch rechtfertigt, indem sie sich gebärdet, als wäre alles nur Spaß.62

In der Hausfranzösinn übernimmt das didaktische Amüsement die sozialkorrektive Funktion einer Homogenisierung und Abschließung der xenophoben Gruppe. Da die Normabweichungen von den deutschen Protagonisten mit nationalen Stereotypen assoziiert werden, verwandelt sich deren sanktionierendes Gelächter im Theatersaal in ein Medium patriotischen Zusammenhalts. Wem das Lachen dabei im Halse steckenbleibt, der steht bereits im Verdacht, selbst durch den Stachel des Fremden vergiftet zu sein: Denn „Fremde, welche man nicht gar gerne bey derley Zusammenkünften einkommen läßt, [wüssten nicht], was sie hiebey zu

60 Johann Christoph Gottsched, Die vernünftigen Tadlerinnen. Der erste Theil, 17. Stück, Hamburg 3 1748, S. 139–147, hier S. 142. 61 Vgl. Jens Roselt, „Chips und Schiller. Lachgemeinschaften im zeitgenössischen Theater und ihre historischen Voraussetzungen“, in: Röcke/Velten (Hrsg.), Lachgemeinschaften, S. 225–241, hier S. 226: „Im Theater lacht also nicht unbedingt ‚ein‘ Publikum über ‚die‘ Bühne, sondern man hat es mit vielfältigen Distanzierungen, Spaltungen, Verschwörungen und Ausgrenzungen zu tun, deren jeweiliges Opfer […] je neu ermittelt wird.“ 62 Theodor W. Adorno, „Notizen zur einführenden Sitzung des Lach-Seminars (Typoskript)“, zitiert nach Eckart Schörle, „Das Lach-Seminar. Anmerkungen zu Theorie und Praxis bei Adorno“, in: WerkstattGeschichte, 35/2003, S. 99–108, hier S. 106.

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thun haben, weil sie weder die besonderen Geheimnüsse, noch die vertraute Sprache dieser kleinen Republik verstehen“.63

63 Louis Antoine de Caraccioli, Munterkeit des Gemüthes, aus dem Französischen übersetzt von Johann Benedict Menrad Löhle, Ulm/Frankfurt/Leipzig 1767, S. 126 f. Vgl. Eckart Schörle, Die Verhöflichung des Lachens. Lachgeschichte im 18. Jahrhundert, Bielefeld 2007, S. 254–265.

Carsten Zelle, Bochum

Johann Gottlob Krügers ethnologische Träume Meinem Werkstattbericht liegt das mehr als 700 Seiten umfassende Werk Träume (Halle 1754; 21758; 31765; 41785, Hrsg. Johann August Eberhard) von Johann Gottlob Krüger (1715–59) zugrunde.1 Dabei handelt es sich um die von einer traumtheoretischen Einleitung und einem parodistisch-selbstkritischen Epilog gerahmte Sammlung von insgesamt 160 (1758/65: 168; 1785: 139) Traumsatiren bzw. kürzeren parabelhaft-allegorischen Erzähltexten. Krüger war Doktor der Philosophie und der Medizin, lehrte in Halle als außerordentlicher Professor an der Medizinischen, später in Helmstedt als ordentlicher Professor zugleich auch an der Philosophischen Fakultät und hinterließ ein einschlägiges anthropologisches Œuvre, das aus naturwissenschaftlichen, empirisch-psychologischen, diätetischen und literarischen Schriften besteht, die Mitte des 18. Jahrhunderts auf große Resonanz stießen. Krügers mehrbändige Naturlehre ist fünfmal, sein Traum-Werk viermal, seine Diät zweimal aufgelegt worden. Seine ExperimentalSeelenlehre dagegen erfuhr zwar keine Wiederauflage, hat jedoch den Anstoß zu Moritz’ Unternehmen einer Erfahrungsseelenkunde gegeben.2 Zu dem Erfolg bei den Lesern, zu denen neben Moritz auch Haller, Winckelmann, Herder oder Jung-Stilling gehörten, trug nicht zuletzt die ‚aufgeweckte Schreibart‘ von Krügers naturwissenschaftlichen Schriften bei.3 So heißt es in den Erlangischen Gelehrten Anmerkungen über seine Pathologie:

1 Im Folgenden zitiere (und zähle) ich nach dem Erstdruck: Joh.[ann] Gottlob Krüger, Träume, Halle 1754, „Vorrede“, unpag. (= a2r–[c4v]), S. 1–656 (1.–157. [recte: 160.] Traum); „Beurtheilung der Träume“, unpag. (= Ttr–[Tt4r]); „Druckfehler“ (= [Tt4v]); [Jean Frédéric Bernard,] „Abhandlung Von dem Gottesdienste“ (separate Pag. [1]–79 und separate Bogensignaturen [A1r]–[E8v]). Zu Krügers Traum-Werk vgl. Carsten Zelle, „Träume eines ‚vernünftigen Arztes‘ – zum literarischen Werk des Naturlehrers Johann Gottlob Krüger“, in: Anett Lütteken/Heidi Eisenhut/Carsten Zelle (Hrsg.), Heilkunst und schöne Künste. Wechselwirkungen von Medizin, Literatur und bildender Kunst im 18. Jahrhundert, Göttingen 2011, S. 89–107 (dort weitere Literatur). 2 Vgl. Carsten Zelle, „Experimentalseelenlehre und Erfahrungsseelenkunde. Zur Unterscheidung von Erfahrung, Beobachtung und Experiment bei Johann Gottlob Krüger und Karl Philipp Moritz“, in: Ders. (Hrsg.), „Vernünftige Ärzte“. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung, Tübingen 2001, S. 173–185. 3 Vgl. Carsten Zelle, „Dichterzitat und ‚aufgeweckte Schreibart‘ in der anthropologischen Fachprosa ‚Vernünftiger Ärzte‘ um 1740/50“, in: Alice Stasková/Simon Zeisberg (Hrsg.), Sentenz in der Literatur. Perspektiven auf das 18. Jahrhundert, Göttingen 2014, S. 113–132.

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Jedermann weiß, daß H.[err] K.[rüger] die Geschicklichkeit besitzet, auch schwere und unangenehme Sachen leicht und reitzend vorzutragen; und daß er mit diesem äußerlichen Vorzuge seiner Schriften auch wegen seiner gründlichen und vollkommenen Gelehrsamkeit einen besonderen innern Werth derselben vereinigt. Der Innhalt dieser Schrift, wie seine übrigen, ist so beschaffen, daß man sie lesen kann, wenn man bloß in der Absicht ließt, sich zu unterrichten, und der Vortrag ist so einnehmend, daß man sie mit Vergnügen lesen würde, wenn man auch nur läse, sich zu vergnügen.4

Die stilistisch ‚lebhafte‘ Wissenschaftsprosa Krügers entspricht nicht nur im Allgemeinen der horazischen Literaturfunktion, sondern folgt im Besonderen einem von Georg Friedrich Meier (1718–77) gegen die „schulfüchsisch[e]“ Gelehrsamkeit mit ihrer nach „Studierstube“ schmeckenden Schreibart gerichteten Konzept einer ästhetischen Fachsprache, mit der ein ‚artiger‘ Gelehrter seinen wissenschaftlichen Diskurs so gestaltet, dass er die – obere und untere Kognitionsvermögen umfassende – Spannweite der „ganze[n] Erkentnis“ adressiert und dadurch den „ganzen Menschen“5 belebt. Nachdem im anthropologischen Voraussetzungssystem der ästhetischen Wissenschaftsprosa des vernünftigen Arztes Krüger der ‚ganze Mensch‘ sichtbar geworden ist, wende ich mich seinem im engeren Sinne literarischen Werk, der Traum-Sammlung von 1754, zu, um den Blick auf die ‚ganze Menschheit‘ ausweiten zu können. Denn in der Sammlung gibt es ein knappes Dutzend religionskritischer, -vergleichender bzw. -relativistischer (proto)ethnologischer Träume, die wissensgeschichtlich im Kontext früher ethnohistorischer, völkerkundlicher bzw. religionsvergleichender Referenzwerke positioniert werden müssen und, literaturwissenschaftlich betrachtet, eine engmaschige Verflechtung zu diesen faktualen Prätexten unterhalten. Die hier aufgegriffenen Träume stehen einerseits im Kontext der Dänisch-Englisch-Halleschen Südindienmission, die seit ihrem Beginn 1706 durch die beiden Theologen Bartholomäus Ziegenbalg (1682–1719) und Heinrich Plütschau (1677–1747) zu einer umfangreichen protoethnographischen Daten- und Dokumentensammlung führte, die halbjährlich in den Halleschen Berichten (neun Teile mit insgesamt 108 Continuationen, Halle 1710–72) der gelehrten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Andererseits nehmen diese Träume Bezug auf zwei einschlägige ethnologische bzw. religionsanthropologische Werke, und zwar auf Joseph-François Lafitaus (1681–1746) Hauptwerk

4 O.V., „Beytrag“, in: Compendium historiae litteraria novissimae Oder Erlangische Gelehrte Anmerkungen, 4/1749, S. 801–816, hier S. 804. Der „Beytrag“ referiert bzw. übernimmt die kritische Anzeige aus einer mit H.F.U. 90. St. siglierten Vorlage (= Hamburger freye Urtheile, 6/1749, 90. Stück). 5 Georg Friedrich Meier, Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Erster Theil [1748], andere Auflage, Halle 1754, S. 24 f. Vgl. dazu Zelle, „Dichterzitat und ‚aufgeweckte Schreibart‘“.

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Mœurs des sauvages amériquains comparées aux mœurs des premiers temps (Paris 1724) und Bernard Picarts (1673–1733) siebenbändiges, kostbares Kupferstichwerk der Cérémonies et Coutumes religieuses de tous les Peuples du Monde (Amsterdam 1723–37).6 Für jedes der drei genannten Referenzwerke greife ich einen von Krügers Traumtexten heraus, um deren Intertextualität bzw. Interpikturalität belegen, zugleich jedoch ihre ästhetische Eigenleistung gegenüber den expositorischen Prätexten herausstellen zu können (II., III. und IV.). Zunächst aber komme ich zur Charakteristik der Traumsammlung selbst (I.).

I Krügers Traumsammlung Gattungsgeschichtlich schreiben sich Krügers Träume in das Genre des gelehrten Traums ein, das weit in die römische Antike (Cicero: Scipios Traum) zurückreicht und im Zuge der frühneuzeitlichen Rezeption der menippeischen Satire seit Lipsius’ Somnium (1581) eine Renaissance erlebte, die über Quevedo, Scarron und Moscherosch in die europäischen Einzelliteraturen architextuell disseminiert wurde.7 Die genuin satirische Textsorte des Traums war in der Frühen Neuzeit zu

6 Zur Halleschen Indienmission vgl. Heike Liebau, „Die Dänisch-Englisch-Hallesche Mission (Tranquebarmission)“, in: Institut für Europäische Geschichte (Hrsg.), Europäische Geschichte Online (EGO), Mainz 2010. URL: www.ieg-ego.eu/liebauh-2010-de (letzter Zugriff am 15.10.2013), und Heike Liebau/Andreas Nehring/Brigitte Klosterberg (Hrsg.), Mission und Forschung. Translokale Wissensproduktion zwischen Indien und Europa im 18. Jahrhundert, Halle/Wiesbaden 2010. Zu Lafitau vgl. Werner Krauss, Zur Anthropologie des 18. Jahrhunderts. Die Frühgeschichte der Menschheit im Blickpunkt der Aufklärung [1978], Hans Kortum/Christa Gohrisch (Hrsg.), Frankfurt a.M./Berlin 1987, bes. S. 48–51; Helmut Reim, „Kommentar“, in: Joseph-François Lafitau, Die Sitten der amerikanischen Wilden im Vergleich zu den Sitten der Frühzeit, Leipzig 1987, S. 33–61 [getr. Pag.], und Friedrich Vollhardt, „Christliche und profane Anthropologie im 18. Jahrhundert. Beschreibung einer Problemkonstellation im Ausgang von Siegmund Jacob Baumgarten“, in: Zelle (Hrsg.), „Vernünftige Ärzte“, S. 68–90. Zu Picart vgl. Paola von Wyss-Giacosa, Religionsbilder der frühen Aufklärung. Bernard Picarts Tafeln für die „Cérémonies et Coutumes religieuses de tous les Peuples du Monde“, Wabern/Bern 2006; Lynn Hunt/Margaret Jacob/Wijnand Mijnhardt (Hrsg.), Bernard Picart and the First Global Vision of Religion, Los Angeles 2010, und Lynn Hunt/ Margaret Jacob/Wijnand Mijnhardt, The Book that Changed Europe. Picart & Bernard’s „Religious Ceremonies of the World“, Cambridge/London 2010. 7 Um die Erforschung der deutschen Traumsatire ist es schlecht bestellt: Es liegt hierzu nur die Dissertation von Heinz Klammroth (Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der Traumsatire im 17. und 18. Jahrhundert, Bonn 1912) vor. Die (geschichtswissenschaftliche) Habilitationsschrift von Claire Gantet, Der Traum in der Frühen Neuzeit. Ansätze zu einer kulturellen Wissenschaftsgeschichte, Berlin/New York 2010 (zu Krüger S. 413–426), ist wissenshistorisch, nicht literatur-

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einer populären literarischen Gattung geworden und in der Frühaufklärung namentlich im Rahmen der Moralischen Wochenschriften beliebt.8 Krüger partizipiert an diesem – in der Terminologie von Michail Bachtin, Northrop Frye oder Julia Kristeva –‚karnevalistischen‘ Urstrom dialogischer Schreibweisen, indem er den Schutzraum der Gattung als Medium nutzt, um neues, kontrovers diskutiertes, spekulatives oder grenzüberschreitendes Wissen probeweise, d.h. versehen mit der Lizenz der Dichtung, zu publizieren bzw. im Schutz der Fiktion den wissenschaftlichen Gegner lächerlich zu machen. Krüger verwendet das literarische Medium ‚Traum‘ zur popularisierenden Wissensvermittlung, experimentellen Wissenserprobung und satirischen Wissenskritik mit großer Souveränität. Neben Gottlieb Wilhelm Rabener (1714–71) galt Krüger daher den zeitgenössischen Rezensenten „unter den Gelehrten unsers Jahrhunderts [als] der einzige, welcher am glücklichsten geträumet hat.“9 In der Germanistik sind Krügers Träume voreilig als „belanglose Nichtigkeiten“10 abgetan worden – eine unzutreffende Beurteilung, die zwischenzeitlich zwar revidiert worden ist,11 aber durchaus verständlich erscheint. Denn Krügers Traumtexte verstehen sich nicht von selbst. Um die „Rolle, die Ironie, Spott und ambivalente Rede“12 darin einnehmen, aufdecken zu können, bedarf es umsichtiger wissensgeschichtlicher Kontextualisierung. Erst die Kenntnis der Prätexte, die in Krügers Traumerzählungen aufgespießt werden, bringt das dem heutigen Leser verborgene Spottpotential zur

und insbesondere nicht gattungsgeschichtlich ausgerichtet. Überdies werden Krügers Träume nach der vierten, 1785 von Eberhard veranstalteten Auswahlausgabe zitiert. Das bahnbrechende Buch von Ingrid A.R. De Smet (Menippean Satire and the Republic of Letters 1581–1655, Genf 1996) gilt einem vorangehenden Zeitabschnitt. Die wissenspoietische Kraft satirischen Träumens, z.B. in Keplers Somnium (1634), hat zuletzt Joseph Vogl, „Robuste und idiosynkratische Theorie“, in: KulturPoetik, 7/2007, 2, S. 249–258, vor Augen zu stellen gewusst. 8 Vgl. z.B. die Stücke 14, 23, 43, 61, 73, 96 u. 153 im Hamburger Patrioten (1724–26) (freundlicher Hinweis von Nicola Kaminski). Vgl. außerdem Carsten Zelle, „Träume, ‚die in die Moral einschlagen‘. Zur Gattung der Traumsatire in der moralischen Wochenschrift ‚Der Träumer‘ (1752–1753)“, in: Misia Sophia Doms/Bernhard Walcher (Hrsg.), Periodische Erziehung des Menschengeschlechts. Moralische Wochenschriften im deutschsprachigen Raum, Bern u.a. 2012, S. 169–187. 9 O.V., [Rez. zu Krüger, Träume,] in: Freymüthige Nachrichten von Neuen Büchern und andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen, 16/1759, S. 119 f., hier S. 119. 10 Peter-André Alt, Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit, München 2002, S. 165. 11 Im Blick auf Alts Diktum, dass es sich bei Krügers Traum-Werk um ein „‚livre sur rien‘“ handle (ebd.), hält Gantet, Der Traum in der Frühen Neuzeit, S. 413, Anm. 289, maliziös fest, dass sich Flauberts „livre sur rien“ als „ein großes Buch“ erwiesen habe. Vgl. auch Hans-Walter SchmidtHannisa, [Rez. zu Alt, Der Schlaf der Vernunft,] in: Das achtzehnte Jahrhundert, 31/2007, 2, S. 267 f. 12 Martin Mulsow, Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680–1720, Hamburg 2002, S. 440.

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Explosion. Da viele gelehrte Streitfälle um 1750 freilich selbst für den geübten 18.Jahrhundert-Forscher verschüttet sind, ist es schwierig, den kryptischen Konstellationen und Debattenbeiträgen auf die Spur zu kommen,13 denen der geträumte Spott, die camouflierte Kritik und die verdeckte Personalsatire galten. Die Traumtexte Krügers behandeln eine Vielzahl damals umstrittener Themenfelder. Krüger ‚träumt‘ über theologische, medizinische, naturwissenschaftliche, psychologische und weitere zeitgenössische Kontroversen, deckt Vorurteile auf, ridikülisiert Forschungspositionen, relativiert ihre Erkenntnisansprüche und bringt dadurch seinerseits einen überaus skeptischen Standpunkt zur Geltung. Die Träume führen auf das Feld des „Ioco-Seriösen“,14 auf dem brisante Themen zur Diskussion gestellt werden können, ohne dass der Autor für seine Aussagen zu belangen wäre, weil alles in einem „Schwebezustand“15 ironisch-skeptischer Rede belassen wird. Die frühaufklärerische Traumsatire eröffnet den Raum für eine „Polemik gegen den intellektuellen Feind“, sie ermöglicht das „Einschmuggeln von unliebsamen Gedanken“ und erlaubt das „Experimentieren mit ungewohnten Thesen“.16 Krügers Werk bietet darüber hinaus aber immer wieder auch metapoetische Texte, die das Traumgenre und seine Möglichkeiten reflektieren.17 Weil sich in den Träumen literarische und wissenschaftliche Rede überkreuzen, sind sie als ein „bastardisches Buch […] von befremdlicher Zwitterhaftigkeit“18 bezeichnet worden. Hans-Walter Schmidt-Hannisa, von dem dieses überaus zutreffende Urteil stammt, hat nicht nur auf die große Bedeutung außereuropäischer, fremder Kulturen für die Traum-Sammlung aufmerksam gemacht, sondern auch Krügers „kulturanthropologisches Interesse“ und seine „kulturrelativistische Betrachtungsweise“ herausgearbeitet und in diesem Zusammenhang auf

13 Vgl. Martin Mulsow, Freigeister im Gottesched-Kreis. Wolffianismus, studentische Aktivitäten und Religionskritik in Leipzig 1740–1745, Göttingen 2007, S. 106: Mulsow arbeitet hier im Blick auf den Hallenser-Leipziger-Freigeisterkreis um Gottsched und den Zirkel anakreontischer Studenten in Halle heraus, dass unter der Oberfläche z.T. anonym in Zeitschriften gedruckter Beiträge eine tieferliegende Diskussion über die Reichweite der Vernunft in Religionsfragen verborgen liegt, und stellt dabei fest, dass es angesichts solcher klandestiner Gespräche „aus der heutigen Sicht so schwierig ist, den kryptischen Konstellationen, die sich an ihm beteiligten, auf die Spur zu kommen.“ 14 Auf das ‚wilde Denken‘ der ‚ioco-seria-Kultur‘ macht Martin Mulsow in seinem Buch Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage und Kommunikation in der Frühen Neuzeit, Stuttgart/Weimar 2007, aufmerksam; das Zitat findet sich auf S. IX. 15 Ebd., S. 93. 16 Ebd., S. 87. 17 Vgl. z.B. den 125., 129., 148. [a] und 157. Traum. 18 Hans-Walter Schmidt-Hannisa, „Johann Gottlob Krügers geträumte Anthropologie“, in: Zelle (Hrsg.), „Vernünftige Ärzte“, S. 156–171, hier S. 161.

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einen der hier zu verhandelnden prätextuellen Datenlieferanten seiner „ethnologische[n] Träume“19 hingewiesen, nämlich auf die 1752 in Halle gedruckte Übersetzung von Lafitaus religionsvergleichendem Hauptwerk. Die von Schmidt-Hannisa herausgestellte „Heterogenität“ des Traumbuchs sprengt jedoch nicht „alle Konventionen“,20 vielmehr ist die von Krüger vorgenommene Traditions- und Gattungswahl gleichermaßen greifbar wie signifikant. Die noch zu erörternde Schachtelstruktur und der intertextuelle Anspielungsreichtum seiner Sammlung schreiben sich architextuell unter anderem in die digressive Schreibweise etwa von Swifts gleichermaßen karnevaleskem wie antiklerikalistischem Tale of a Tub (1704/10) ein, zumal Krüger dazu auch das seit Boccaccios Ringparabel tradierte und ebenfalls von Swift benutzte ‚Ein Vater hatte drei Söhne‘-Genre aufgreift.21

II Picarts Ceremonien-Werk und der 86. Traum Für Krügers Traumtexte ist nun signifikant, dass die Sammlung auf eigentümliche Art ‚eingeschachtelt‘, d.h. dass den einzelnen Träumen nicht nur eine theoretisierende „Vorrede“ voran- und eine autokritische „Beurtheilung der Träume“ nachgestellt ist, sondern ihnen darüber hinaus, und zwar mit separater Paginierung und Bogensignatur, eine „Abhandlung Von dem Gottesdienste“ beigefügt wird. Diese entstammt – darauf weist der Schluss der „Beurtheilung der Träume“ in werkkohärenzierender Absicht eigens hin – „dem vortreflichen und kostbaren Werke, welches im Jahre 1723 zu Amsterdam herausgekommen und den Titel hat: Ceremonies et Coutumes Religieuses de tous le Peuples du Monde“22 (Abb. 1). Genauer: Es handelt sich bei dieser Abhandlung um die Übertragung der dem Tafelwerk vorangestellten Dissertation sur le Culte Religieux des hugenottischen Amsterdamer Verlegers Jean Frédéric Bernard (1680–1744).

19 Ebd., S. 167 f. 20 Ebd., S. 165. 21 Vg. den 72. Traum. Zum klandestinen Genre „Les trois […]“ (Imposteurs, Justaucorps, Anneaux) vgl. Martin Mulsow, Die drei Ringe. Toleranz und clandestine Gelehrsamkeit bei Mathurin Veyssière La Croze (1661–1739), Tübingen 2001, S. 109–140, hier S. 123. Bei Swift stehen die drei Brüder Peter, Hans und Martin für die drei Konfessionen der Katholiken, Calvinisten und Lutheraner bzw. Anglikaner. 22 Krüger, Träume, hier „Beurtheilung der Träume“, unpag., Tt3v.

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Abb. 1: Titelblatt von Picarts Cérémonies, Ausg. Paris 1741, Bd. 7 (mit freundlicher Genehmigung der Universitätsbibliothek Heidelberg, Sign. Q 7225–2 Folio RES:7, Titelblatt_b)

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Das Werksupplement führt direkt in das Zentrum der damaligen klandestinen Buchproduktion einer radikalen Aufklärung, in der religionskritische, antiabsolutistische und republikanische Ideen mit den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen Newtons zusammengingen. Gemeinsam mit dem zum Calvinismus konvertierten Kupferstecher Bernard Picart (1673–1733) katalogisiert Bernard in dem Ceremonien-Werk die Praktiken und Rituale christlicher und nicht-christlicher Religionen ohne Rücksicht auf irgendeine Superiorität des christlichen Glaubens.23 Durch die Kritik an der „grenzenlosen Macht der Priesterschaft“24 scheint die radikalaufklärerische Programmatik der Priesterbetrugsthese hindurch, die ebenfalls in die klandestinen Publikationsschmieden im hugenottischen RefugeMilieu Hollands zurückführt. Bernards religionskritische und kulturrelativistische Abhandlung deutet die vielfältigen äußerlichen Manifestationen der verschiedenen Religionen, ihre jeweiligen Zeremonien, Riten und Gebräuche kritisch als Verfallsformen „einer ursprünglichen, reinen Vernunftreligion, die durch die Erfindungen der Priester und die törichten Sitten der Völker verdorben worden sei“.25 Die relativistische Sicht auf das Christentum wird gleich zu Beginn der explosiven,26 von Krüger übersetzen Abhandlung greifbar, wenn verschiedene Formen der Andacht vom mittel- bzw. südamerikanischen Opferkult der Azteken und Inka bis zur Meditationspraxis der Quäker und Pietisten nebeneinandergestellt werden: Einige (a) haben geglaubt, man müßte, um GOtt zu dienen, die Menschen auf eine barbarische und grausame Weise hinrichten. (b) Andere sind der Meynung gewesen, man müßte sich betäuben, sich hin und herschütteln, mit der Brust wider die Erde stoßen, (c) sich martern und über einem Feuer schwenken, oder sich (d) stundenweise außer sich zu setzen suchen

23 Vgl. Margaret C. Jacob, The Radical Enlightenment: Pantheists, Freemasons and Republicans, London/Boston/Sydney 1981, S. 196 f. u. S. 247 f. Dazu jetzt ausführlich Hunt/Jacob/Mijnhardt, The Book that Changed Europe. 24 Wyss-Giacosa, Religionsbilder der frühen Aufklärung, S. 49 b. Die von Wyss-Giacosa mit dieser Formel zusammengefasste Passage aus Bernards Dissertation heißt in der Übersetzung der Träume-Beifügung: „Die wahre Religion wurde [durch die Bestellung von Gottesdienern, C.Z.] nach und nach ärmer an Geist, aber reicher an Ceremonien, die falsche ward geheimnisvoller und eigensinniger. Die Priester fanden das Geheimnis, die Freyheit der Menschen ihren Rathschlüssen zu unterwerfen.“ Krüger, Träume, „Abhandlung Von dem Gottesdienste“, S. 16 f. Zur Priesterbetrugsthese vgl. Winfried Schröder, „Einleitung“, in: O.V., Traktat über die drei Betrüger. Französisch-deutsch, Winfried Schröder (Hrsg.), Hamburg 1992, S. VII–LII, und Mulsow, Die drei Ringe, bes. S. 109–140. 25 Wyss-Giacosa, Religionsbilder der frühen Aufklärung, S. 48 b. 26 Hunt/Jacob/Mijnhardt, The Book that Changed Europe, S. 11, sprechen von einem „explosive preface“, das wegen seiner Häresien 1738 auf den Index gesetzt und dessen Ächtung 1757 erneuert wurde. Vgl. ebd., S. 18.

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– wobei mit „(a) Die Scythen, die Mexikaner, die Peruaner etc. etc. (b) Die türkischen Derwischen. (c) Die Braminen. (d) Die Quäker und die sogenannten Pietisten“27 gemeint sind. Das jesuitische Journal de Trévoux hatte an Bernards Kompilation, die in Frankreich zunächst mit einer ‚permission tacite‘ verkauft werden durfte, dann jedoch in katholischen Gebieten verboten wurde,28 nicht zu Unrecht einen indifferenten Pyrrhonismus entdeckt, der von nichts überzeugt sei und unter dem Mantel der Toleranz die gegensätzlichsten Dinge verbinde.29 Der freigeistige Tenor des Ceremonien-Werks ist auch in Halle registriert worden, wenn etwa Siegmund Jacob Baumgarten (1706–57) in einer Rezension 1751 an der Verliebtheit des Verfassers in „die besondere Art der Freiheit im Denken, die schon so oft an Baylen ist getadelt worden“, Anstoß nimmt und sie mit der „Unparteilichkeit eines Geschichtsschreibers“30 unvereinbar findet. In der dreibändigen deutschen, vom Zürcher Verleger David Herrliberger (1697–1777) zwischen 1739 und 1751 mit gekürztem Text31 besorgten Ceremonien-Ausgabe scheint der Abdruck der einleitenden Dissertation unterblieben zu sein – im (digitalisierten) Göttinger Exemplar von 1748/50 konnte ich sie jedenfalls nicht entdecken. In solcher Unterlassung wird die Motivation dafür zu suchen sein, die anstößige „Dissertation“ Bernards aus dem Zusammenhang eines teuren Kupferstichwerks herauszunehmen und im Rahmen einer vergleichsweise preiswerten Traum-Sammlung übersetzt unter das gebildete Publikum der nordwestdeutschen Aufklärung zu schmuggeln.

27 Krüger, Träume, „Abhandlung Von dem Gottesdienste“, S. 3 f.; „die sogenannten Pietisten“ ist eine Ergänzung des Übersetzers. Die Dissertation im Pariser Exemplar (vgl. Bernard Picart, Cérémonies et Coutumes religieuses de tous les Peuples du Monde, Bd. 1, Paris 1741, Aijr) erwähnt nur die Quäker. Leicht greifbar ist diese Ausgabe als Digitalisat. URL: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/banier1741ga (letzter Zugriff am 15.10.2013). 28 Vgl. Wyss-Giacosa, Religionsbilder der frühen Aufklärung, S. 35 b, Anm. 9. 29 Vgl. das Journal de Trévoux, 38/1738, S. 2280 f.; hier zitiert nach Wyss-Giacosa, Religionsbilder der frühen Aufklärung, S. 324 b: „indifference pyrrhonienne, qui n’est persuadée de rien, & qui ne persuade rien; ou cette tolerance qui excuse tout, & et qui concilie les choses les plus opposées, & les plus incompatibles.“ 30 Siegmund Jacob Baumgarten, [Rez. zu Picart, Cérémonies,] in: Nachrichten von einer hallischen Bibliothek, 8/1751, S. 31–50, hier S. 38. Ob der hier ob seiner Behandlung der Reformierten getadelte Verfasser mit dem Autor der Dissertation identisch ist, kann aufgrund der durchgängigen Anonymität der einzelnen Cérémonies-Beiträge nicht entschieden werden. 31 Vgl. Wyss-Giacosa, Religionsbilder der frühen Aufklärung, S. 330 b: „Herrliberger cut dramatically the number of text pages“. Vgl. auch Hunt/Jacob/Mijnhardt, The Book that Changed Europe, S. 298.

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Was hat aber die Übersetzung einer Schrift, die Krügers Träume – was bisher nicht gesehen worden ist32 – in die Rezeptionsgeschichte eines religionskritischen Werks einrückt, das in ein radikalaufklärerisches Milieu zurückweist, überhaupt in dieser Traum-Sammlung zu suchen? Die überaus freundliche, die „so liebenswürdige Lebhaftigkeit, und so viel lachende Bilder“ lobpreisende Kritik in den Zürcher Freymütigen Nachrichten gibt eine Antwort darauf: Der Rezensent, der bedauert, dass Krüger bei einigen Träumen nicht noch länger geträumt habe, und sich daher die Fortsetzung in einem zweiten Band wünscht, schreibt abschließend: „Vielleicht wird man sich wundern, daß eine übersetzte Abhandlung vom Gottesdienste aus dem kostbaren Werke Ceremonies & coutumes religieuses etc. beygefüget worden; allein der 86. Traum wird diese ganze Sache erklären.“33 Eingerahmt durch den Lukrez-Vers „Quantum relligio [sic!] potuit suadere malorum“34 (‚Wie viel Übles hat Glauben anzuraten vermocht‘) und dessen Echo bei Albrecht von Haller „Was böses ist geschehn, das nicht ein Priester that?“35 werden in Ringparabelmanier die ins Barbarische gesteigerten Andachtspraktiken und Opferriten imaginiert, mit denen ein Vater von seinen Söhnen verehrt wird: „Ein Vater hatte viele Söhne, deren Neigungen gar sehr von einander verschieden waren, doch waren sie insgesamt darinnen einig, daß sie schuldig wären, ihren Vater zu verehren und ihm ein Vergnügen zu machen.“36 Ins Bild gesetzt ist damit die Vorstellung einer deistischen Urreligion, von der sich die Einzelreligionen in der Folgezeit durch diverse Gebräuche entfernt haben. Die verschiedenen Riten werden im Traum als „Thorheiten“ bezeichnet, und in amplifikatorischer Zuspitzung des Tieropfers zielt der Traum auf die Vor-AugenStellung einer „außerordentliche[n] Grausamkeit“.37 Der Text folgt dabei der Beschreibung mexikanischer bzw. aztekischer Menschenopfer, die dem Kriegs-

32 Wyss-Giacosa, Religionsbilder der frühen Aufklärung, S. 319–332, führt im Abschnitt „Zur Wirkungsgeschichte von Picarts ‚Cérémonies‘“ zwar Baumgartens Rezension an, Krügers TraumSammlung mit der beigefügten Übersetzung von Bernards Dissertation jedoch nicht. Hunt/Jacob/ Mijnhardt, The Book that Changed Europe, kennen die Rezeption der Cérémonies in Halle durch Baumgarten und Krüger überhaupt nicht. 33 O.V., [Rez. zu Krüger, Träume,] S. 119 f. 34 Krüger, Träume, S. 324. Vgl. Lukrez, De rerum natura, Zürich 1975, S. 9. 35 Krüger, Träume, S. 327. Albrecht von Haller versteht diesen Vers (222) aus den Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben, wie die entsprechende Fußnote aus dem Versuch von Schweizerischen Gedichten bezeugt, ausdrücklich als Übertragung der zitierten Lukrez-Zeile. Vgl. Albrecht von Haller, „Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben. An den Herrn Professor Stählein 1729“, in: Ders., Versuch von Schweizerischen Gedichten [1732], zweyte, vermehrte und veränderte Auflage, Bern 1734, S. 53–68, hier S. 62. 36 Krüger, Träume, S. 324. 37 Ebd., S. 325.

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und Sonnengott „Vitzliputzli“, so die Namensgebung in Picarts Tafelwerk,38 dem die Traumerzählung hier folgt, gebracht wurden. Genauer: Der Traum imaginiert unter Voransetzung des Unsagbarkeitstopos die mexikanische Sitte der Menschenopferung eines Gefangenen nach Maßgabe der Illustrationen, die der Deskription dieser „enorme barbarie de leurs Sacrifices“39 beigegeben ist (Abb. 2): Ach soll ich es sagen! das Blut starrt mir in den Adern, wenn ich an diesen Traum gedenke, er [dieser Mensch, d.h. der mexikanische „prêtre“, C.Z] entschloß sich einen seiner Brüder nackend auszuziehen: er band ihm einen Strick um den Leib, gab ihm einen Säbel und ein Schild in die Hände und sagte, einer von uns beyden muß heute unsern Vater vergnügen, entweder du, wenn du mich umbringest, oder ich, wenn ich dich ermorde. Hierauf gieng er mit entblößten Säbel und einem Schilde in der andern Hand ganz ergrimmt auf ihn los. Der unglückliche Bruder wehrte sich so gut er konnte, allein weil er angebunden war, so brachte ihm der andere bald so viele Wunden bey, daß er ganz entkräftet zur Erden niedersank.40

Der im Kupfer „Captif combattant contre un prêtre MEXICAIN“ (Abb. 2, oben rechts) festgehaltene ‚prägnante Moment‘ wird unter Zuhilfenahme einiger Beschreibungsdetails der französischen Vorlage zu diesem „duel du captif destinée au sacrifice“41 um die kurze Vor- und Nachgeschichte erweitert. Dann geht der Traum zur Vor-Augen-Stellung der nächsten Illustration „Captif ecorché apres avoir été vaincu“ (Abb. 2, oben links) über: „Sogleich legte er ihn über einen Stein, und schnitte ihm mit einem Meßer die noch warme Brust auf: riß ihm das noch schlagende Herz heraus, und that solches in eine Schüßel, um es seinem Vater zu überbringen.“42 Die beiden interpikturalen Traumepisoden werden nun von einer dritten Szene überboten, die freilich nicht mehr vom Ceremonien-Prätext gespurt ist, sondern über dessen ethnographische Kenntnis kritisch hinausschießt. Der mexikanische Priester wird von einem anderen mit dem Ausruf „Bösewicht!“ niedergestoßen, gebunden und in ein „großes Feuer“ geworfen, „worinnen er unter entsetzlichem Brüllen die Seele ausbließ“.43 Vorbereitet wird durch diese prätextlose Überbietungsszene, in der derjenige, der opfert, selbst zum Opfer wird, eine den kurzen Traumtext abschließende, esoterisch und exoterisch zu lesende, doppelte Pointe. Die geträumten Grausamkeiten reißen den Träumer aus seinem Schlaf: „Das Schrecken […] machte, daß mir die Haut schauerte, und ich erwachte. Ich wolte mir die unangenehme

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Picart, Cérémonies, Bd. 7, S. 144. Ebd. Krüger, Träume, S. 325. Picart, Cérémonies, Bd. 7, S. 145. Krüger, Träume, S. 325 f. Ebd., S. 326.

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Abb. 2: Illustration aus Picarts Cérémonies, Ausg. Paris 1741, Bd. 7, 1144a (mit freundlicher Genehmigung der Universitätsbibliothek Heidelberg, Sign. Q 7225–2 Folio RES:7, 144a)

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Vorstellung durch Lesung in einem Buche von den Gebräuchen der Völker vertreiben.“44 Angespielt wird damit auf den Titel des Werks Cérémonies et Coutumes religieuses de tous les Peuples du Monde, das – wie gezeigt – als Prätext einzelner Traumepisoden diente. Das Aufwachen fungiert als Achse, die den fiktionalen in einen faktualen Text verkehrt und, darin sehe ich eine erste, esoterische Pointe, dem eingeweihten Leser einen augenzwinkernden Wink gibt, welches religionsgeschichtliche Wissen der Traumsequenz zugrunde gelegt war: Wie erschrak ich aber nicht, als ich es [das Buch von den Gebräuchen der Völker, C.Z.] aufschlug, und ein Kupfer darinnen erblickte, woraus ich sahe, daß mein Traum etwas würkliches zum Gegenstande gehabt, indem die Mexicanischen Priester gewohnt gewesen, auf eben diese Art mit ihren Gefangenen umzugehen, und die Herzen davon den Götzen zu opfern, ehe es

– fährt der nun wache Erzähler fort, indem er die exoterische Pointe seines Traums zündet –, „die spanischen Geistlichen für gut befanden, sie lebendig verbrennen zu laßen.“45 Indem das heidnische Menschenopfer des VitzlipuzliPriesters durch die Menschenverbrennung der katholischen Konquistadoren abgelöst wird, erscheint die Religionsgeschichte aus der kritischen Traumoptik Krügers als Kette des Immergleichen. „Mein Herz“, schließt der Erzähler mit einer sanguinen Metapher ab, „blutete mir bey dieser Betrachtung, und ich konnte mich nicht entbrechen auszuruffen“46 – woraufhin das bereits erwähnte HallerZitat, das den Lukrez-Vers, der dem Traum als Motto vorangestellt war, aufgreift, als Epimythion fungiert, die Moral der Traumerzählung zusammenfasst und den Text abrundet.

III Lafitaus Mœurs des sauvages amériquains und der 103. Traum Die an den 86. Traum anschließenden Träume 87 bis 91 und 96 entnehmen, wie auch der vorangehende 85. und der später folgende 103. Traum, thematische Vorgaben, darauf hat schon Schmidt-Hannisa verwiesen, aus Lafitaus Werk Mœurs des sauvages amériquains comparées aux mœurs des premiers temps, das auf Veranlassung von Baumgarten übersetzt worden war und 1752 unter dem Titel Algemeine Geschichte der Länder und Völker von America (Abb. 3) in Halle erschien.

44 Ebd. 45 Ebd. 46 Ebd.

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Abb. 3: Titelseite der deutschen Übersetzung von Lafitaus Moeurs des sauvages amériquains (Bibliothek des Verf.)

Lafitau, der im Unterschied zu Picart und Bernard, die ihr Ceremonien-Werk kompiliert hatten, als jesuitischer Missionar tatsächlich seit 1711 in Quebec und auf der Station Sault St. Louis bei den Irokesen eine Art Feldforschung betreiben konnte,

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geht ebenfalls von der „Hypothese einer urmonotheistischen Offenbarungsreligion“47 aus. Diese „ihrem Ursprunge nach reine und einfältige Religion“ sei in der Folgezeit „verderbet und geändert“48 worden, wodurch sich die Vergleichbarkeit zwischen den verschiedenen späteren religiösen bzw. mythologischen Manifestationsformen ergibt. Die Vergleiche bzw. Parallelen,49 die Lafitau zieht, führen nun nicht, dem Vorgang der ‚Parallèle des Anciens et des Modernes‘ vergleichbar, zu einer Superiorität eines der Vergleichsglieder, sondern zum Abgleich und zur Relativierung der Geltungsansprüche, d.h. zur Gleich-Gültigkeit bzw. Gleichwertigkeit eines jeden Vergleichglieds. An diesem Schachzug ist Krügers Skeptizismus interessiert, wenn er in den genannten Träumen indianische Sitten mit den Gewohnheiten vor seiner Haustür zusammenbringt. Im 103. Traum werden unter dem Motto „Amor descendit, non ascendit“50 (etwa: ‚Die Eltern haben die Kinder lieber, als die Kinder die Eltern‘) unter Ausschreibung verschiedener von Lafitau berichteter Gewohnheiten, wie die Amerikaner mit älteren Menschen umgehen, einige Traumbilder bestritten: „Mir träumte ich unterredete mich mit einer Wilden von der Nation, welche man Algonquinen nennet“.51 Die anschließenden Traumsequenzen folgen ziemlich wörtlich dem, was Lafitau über den Umgang dieser Nomaden mit den Alten vorträgt.52 Da den jungen Leuten dieses herumirrenden Völkchens das beständige Huckepacktragen ihrer betagten Eltern beschwerlich ist, schlagen sie sie mit einem Beile „vor den Kopf“53 – die Szene wird dramatisch beschrieben. Die Wilde, mit der die geträumte ethnologische Unteredung stattfindet, bleibt angesichts der geschilderten Grausamkeit gelassen und spricht: „Nun das ist gut, sie waren alt […]. Diese Wilden schlugen nur ihre alten Väter todt. Allein ich sahe eine andere Nation, die den Gebrauch hatte, mit kaltem Blute alle Weibspersonen, wenn sie ihr dreysigstes Jahr erreicht hatten, zu ermorden.“54 Der Schläfer wacht auf und schließt folgende Reflexion an, die den gleichermaßen fremden wie befremdenden Brauch in den eigenen europäisch-halleschen Vorurteilen wiedererkennt:

47 Reim, „Kommentar“, S. 47. 48 Lafitau, Die Sitten der amerikanischen Wilden, S. 8. 49 Vgl. Reim, „Kommentar“, S. 44, bes. Anm. 111. Reim bezieht hier den Begriff der ‚Parallele‘ auf die vergleichende Methode der Völkerkunde des späteren 19. Jahrhunderts. Die historische Semantik dieses Begriffs würde sich freilich durch einen Blick auf die ‚Parallèle des Anciens et des Modernes‘ sinnvoller erschließen lassen. 50 Krüger, Träume, S. 374. 51 Ebd. 52 Vgl. ebd., S. 374 f., und Lafitau, Die Sitten der amerikanischen Wilden, S. 225 f. 53 Krüger, Träume, S. 375. 54 Ebd. Vgl. Lafitau, Die Sitten der amerikanischen Wilden, S. 225: „[E]ine unsrer neuesten Erzälungen bringt mit sich, daß ein gewisses Volk angetroffen werde, bey welchem nicht einmal erlaubt sey, eine Frauensperson das dreißigste Jahr überschreiten zu lassen.“

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Als ich erwachte, hatte ich folgende Betrachtung darüber. Ist diese grausame Gewohnheit nicht wieder ein Beweiß, daß die Europäer von den Americanern abstammen? Denn woher wolte es sonst kommen, daß so viele europäische Frauenzimmer vorgeben, sie wären erst 25. Jahr alt, ob ihnen gleich der heilige Christ schon 40 mahl beschert hat. Sie ergreiffen ohnfehlbar diese Notlüge aus Furcht, daß man sie todt schlagen möchte.55

Diese zugegeben misogyne Überlegung, die über den ethnographischen Prätext, der den Trauminhalt liefert, hinausgeht, stellt das europäische Vorurteil mit dem „heydnischen Aberglauben“56 auf die gleiche Stufe, betreibt so gewissermaßen Ethnologie der eigenen Kultur und gewinnt dadurch eine gegenwartskritische Dimension. Eine solche kritische Indienstnahme der ethnologischen Zeugnisse bezeugt auch ein langes Zitat aus Lafitau, das Krüger in seine traumtheoretische „Vorrede“ integriert. Darin geht es ihm darum, die empirischpsychologischen Grundlagen des Träumens, die parallel hierzu in seiner Experimental-Seelenlehre herausgestellt werden, aufzudecken und ein neues, empirisch fundiertes Traumverständnis gegen den Glauben an ,übernatürliche‘, von Gott bzw. dem Teufel eingegebene, prophetisch bzw. prognostisch ausdeutbare Träume in Stellung zu bringen: Die hermeneutische oder semiotische Allegorie- bzw. Symbolstruktur des Traums verfällt als ‚Vorurteil‘ einer physiologisch argumentierenden Kritik. Träume bedeuten nichts. Vielmehr entwickeln Träume eine von Tagesresten und anderen Eindrücken äußerer und innerer Sinne angestoßene Eigenlogik der Einbildungskraft, die im Rahmen der Influxuslehre des Seele/Körper-Commerciums allenfalls als Anzeichen innerseelischer bzw. innerkörperlicher Vorgänge fungiert.57 In diesem Zusammenhang fertigt Krüger das alte Wissen der „TraumBücher“ als pöbelhaften „Aberglauben“ ab und vergleicht diesen mit den animistischen Traumvorstellungen, die er in Lafitaus Beobachtungen findet: Die thörichte Einbildung von der Bedeutung der Träume, herrscht noch stärker unter den Wilden in America, als unter den Europäern, indem die Träume bei ihnen ein wichtiges Stück der Religion sind, wie man aus folgender Erzählung des Verfaßers ihrer Geschichte abnehmen kann. Die Seele, sagt er [d.i. Lafitau, C.Z.], ist nach der Wilden Meynung von dem Leibe weit unabhängiger, als nach der unsrigen, und hat weit mehrere Freyheit.58

55 Krüger, Träume, S. 375 f. 56 Ebd., S. 376. 57 Vgl. Carsten Zelle, „Johann August Unzers ‚Gedanken vom Träumen‘ (1746) im Kontext der Anthropologie der ‚vernünftigen Ärzte‘ in Halle“, in: Jörn Garber/Heinz Thoma (Hrsg.), Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahrhundert, Tübingen 2004, S. 19–30 (dort weitere Literatur). 58 Krüger, Träume, „Vorrede“, unpag, b5r.

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Das Zitat aus Lafitau, das nun über viele Seiten folgt, ist zwar für heutige Verhältnisse denkbar schwach markiert,59 seine Funktion aber ist eindeutig: Das bis dahin geltende, symbolische Traumverständnis wird mit dem animistischen der Indianer auf die gleiche Stufe gestellt und als Vorurteil entlarvt. Auch hier gilt, dass das ethnographische Wissen nicht bloß thematisch aufgegriffen, sondern als Medium aufklärerischer Vorurteilskritik profiliert wird.

IV Hallesche Ost-Indien-Berichte und der 8. und 10. Traum Der Gleichwertung fremder und eigener religiöser Vorurteile und Gewohnheiten dienen auch die Malabaren- bzw. Ostindien-Träume, die sich am Anfang der Traumsammlung häufen.60 Prätexte hierzu bieten allgemein die Nachrichten der Halleschen Tranquebar-Mission, die in den Halleschen Berichten (Abb. 4) der ‚Königlich Dänischen Missionarien aus Ost-Indien‘ regelmäßig publiziert wurden. Der 8. Traum legt die Quellenlage offen, wenn dort der Traumerzähler mit den Worten einsetzt: „Es ist meine Gewohnheit, wenn ich Schlafen gehe, ein Buch mit ins Bette zu nehmen; bey dessen Lesung ich einschlafe.“61 Das heißt, der nachfolgend erzählte Traum wird ausdrücklich, der neuen empirischen Traumpsychologie entsprechend, als Tagesrestverarbeitung plausibilisiert – und zugleich wird das pietistische Publikationsorgan als langweilige Bettlektüre spöttisch bloßgestellt: „Diesen Abend“, heißt es weiter, „hatte ich die Nachrichten von der königlichen Dänischen Mißion in Malbarn dazu erwählt, und darinne die Begebenheit eines Europäischen Capitains gelesen, welcher wegen eines geschoßenen Vogels, von dem ein Malabar geglaubet hatte, daß seines Vaters Seele darinne wäre, zum Tode verurtheilt worden“.62

59 Vgl. ebd., b5r–c2v, und Lafitau, Die Sitten der amerikanischen Wilden, S. 169–172. 60 Vgl. den 8., 10., 29. u. 60. Traum. Daneben stehen zwei ‚Inquisitionsträume‘ (26. u. 27. Traum), die eine vergleichbare Religionsthematik reflektieren. 61 Krüger, Träume, S. 34. 62 Ebd. Dieser ‚Quellennachweis‘ Krügers legt nahe, dass der unmittelbare Prätext seiner diesbezüglichen Träume die Halleschen Berichte selbst sind, was aber ihre Kontextualisierung – wie in der Freiburger Diskussion von Ralph Häfner angeregt wurde – mit La Crozes Histoire du Christianisme des Indes (La Haye 1724), dessen konfessionspolemische Ausführungen sich in erster Linie ebenfalls auf die Augenzeugenberichte der dänischen Tranquebar-Missionare beriefen, nicht auschließt, zumal die von Georg Christian Bohnstedt besorgte Übersetzung 1727 in Halle verlegt worden war. Zur Krüger vergleichbaren Methode La Crozes, „den Christen den Spiegel anderer Religionen vorzuhalten, um ihnen selbst von militanten und superstitiösen Praktiken abzuraten und eine tolerante innere Frömmigkeit zu empfehlen“, vgl. Mulsow, Die drei Ringe, bes. S. 45–65; das Zitat findet sich auf S. 75.

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Abb. 4: Titelseite der Halleschen Berichte, 71. Continuation (mit freundlicher Genehmigung der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen, Halle/Saale, Sign. BFSt: 121 K 6)

Ohne dass ich bisher die Vorlage für diesen Traum in einer der Continuationen der Halleschen Berichte gefunden hätte, d.h. obwohl seine esoterische Dimension im Einzelnen noch im Verborgenen liegt, lässt sich doch im Hinblick auf seine exoterische Seite sagen, dass der Text auf einigermaßen verschlungenen Assozia-

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tionswegen über Seelenwanderung spekuliert und sie einerseits mit der europäischen, pythagoräisch-hermetisch-monadologischen Tradition zusammenbringt, andererseits die ostindische Gewohnheit, sich vegetarisch zu ernähren, daraus ableitet. Die Schlusspointe besteht darin, dass der Traum die Perspektive eines enthaltsamen malabarischen Brahmanen einnimmt, der den europäischen Träumer mit der Fremdbeobachtung konfrontiert, dass die Europäer offenbar nicht abwarten könnten, bis ihre Seele nach dem Tode in ein Tier fährt: „Daher verwandelt ihr euch durch vieles Weintrinken bey lebendigem Leibe.“63 Die kritische Botschaft des 10. Traums liegt dagegen offen zu Tage: „Ich reisete, aber nur im Traume, nach Ost-Indien.“64 Hier wird die kulturvergleichende und -relativierende Dimension von Krügers ethnologischen Träumen in der Gliederung des Traums besonders klar, folgt diese doch der Struktur der dreiteiligen comparatio: 1. Darstellung einer Sitte in der fremden Kultur, 2. Darlegung der entsprechenden Gewohnheiten in der eigenen Kultur, 3. relativierender Schluss in der Synthesis. Die Vergleichung führt mithin zur wechselseitigen Aufhebung von Geltungsansprüchen.65 Der Gliederung entspricht dabei der Rhythmus von Einschlafen, Träumen, nächtlichem, kurzem Aufschrecken, Wiedereinschlafen und morgendlichem Aufstehen mit ausgeschlafener Schlussreflexion. In der ersten Traumphase erleidet der Erzähler Schiffbruch, besteigt einen Felsen und wird Zeuge, wie die Eingeborenen ihre Kriegsgefangenen schlachten, braten und „mit ganz besondern Appetite verzehrten“.66 Aus Entsetzen über „diese unmenschliche Gewohnheit der Canibalen“ schreckt er auf, schläft aber gleich wieder ein: „Kaum hatte ich die Augen geschlossen, so sahe ich einen großen Schwarm Husaren in vollem Jagen gegen eine Menge Bauern hinreiten, und schreyen: Schlagt todt! schlagt die Hunde todt.“67 Was folgt, ist eine Beschreibung der Gräuel und Gemetzel eines Religionskriegs nach „Soldatenmanier“, wobei die dem Tagesablauf folgende Metaphorik des Schindens und Verbrennens als „Morgen-Brodt“ und „Mittags-Mahlzeit“68 der Soldateska die Affinität der europäischen Kriegssitten zu denen der Kannibalen in Übersee herausstreicht. Der Traum gleicht Fremd- und Eigenbeobachtungen ab, so dass

63 Krüger, Träume, S. 41. 64 Ebd., S. 47. 65 Zu den unterschiedlichen strategischen Leistungen des (Kultur-)Vergleichs vgl. Carsten Zelle, „Comparaison/Vergleichung. Zur Geschichte und Ethik eines komparatistischen Genres“, in Ders. (Hrsg.), Allgemeine Literaturwissenschaft – Konturen und Profile im Pluralismus, Opladen 1999, S. 33–59. 66 Krüger, Träume, S. 47 f. 67 Ebd., S. 48. 68 Ebd.

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am Schluss nach morgendlichem Erwachen ein Freund, dem der Traum erzählt wird, das aufklärerische Epimythion spricht: „[I]hr glaubt doch, daß die Menschen eine Vernunft haben; nun rathet einmahl, ob euer Husare oder euer Canibale am vernünftigsten ist?“69 Fazit: Krüger greift in seinen Träumen das Wissen früher ethnographischer Werke einer teils frommen, teils radikalen europäischen Aufklärung auf und integriert es in die Faktur seiner Texte. Er popularisiert dieses Wissen und öffnet seinem Publikum dadurch den Blick auf ‚tous les Peuples du Monde‘, mithin auf alle Kulturen der Völker dieser Welt, d.h. auf den Kollektivsingular der ‚ganzen Menschheit‘. Zugleich verschärft er die kulturrelativistische Perspektive seiner Prätexte, indem er das Wissen über das Fremde kritisch gegen seine eigene Kultur wendet und deren törichte Sitten in den Traumsatiren verspottet.

69 Ebd., S. 50.

Michaela Holdenried, Freiburg

Mexikanische Geschichten und ägyptische Palmblätter-Konfessionen Wielands Beyträge als Umrissskizze einer frühen ethnopsychologischen Allegorie I Wielands Beyträge und die Auseinandersetzung mit Rousseau Die folgenden Überlegungen sind Fragestellungen gewidmet, die an Thesen meiner Habilitationsschrift anknüpfen,1 und suchen diese weiter zu präzisieren. Die Beschäftigung mit Rousseau bildet dabei den Ausgangspunkt für eine neue Sicht auf Wieland, die ihn weder als verspäteten Kritiker Rousseaus auffasst, noch als bloßen Eklektiker in Bezug auf die zeitgenössischen Debatten um die Wissenschaft vom Menschen versteht. Vielmehr weist ihn der Rousseau-Bezug insbesondere der Beyträge (1770/1795)2 als einen jener ‚Beiträger‘ zu einer neuen Umrissskizze der anthropologischen Diskussion aus, deren Entwürfe nicht weiter rezipiert, als Missverständnisse abgetan oder als dilettantische Positionen aus der sich entwickelnden Fachdisziplin ausgesondert wurden. Zwar hat schon Walter Erhart die „launige Schreibweise“ der Beyträge auf die Regularien des anthropologischen und ästhetischen Diskurses des 18. Jahrhunderts bezogen, ja als „Teil einer diskurskritischen Strategie“3 eingestuft, doch soll hier dezidiert vom Versuch der Begründung eines eigenen ethnopsychologischen Modells ausgegangen werden. In Wielands markanter Umordnung der Beyträge für die Ausgabe von 1795 ist die Bewegung hin zu einem basalen kulturanthropologischen Konzept so deutlich, dass es angemessen erscheint,

1 Vgl. Michaela Holdenried, Künstliche Horizonte. Alterität in literarischen Repräsentationen Südamerikas, Berlin 2004, bes. S. 151–194. 2 In der Ausgabe von 1770 lautet der vollständige Titel Beyträge zur Geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens; die veränderte Fassung in den Sämmtlichen Werken von 1795 ist mit Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit überschrieben. 3 Walter Erhart, Entzweiung und Selbstaufklärung. Christoph Martin Wielands „Agathon“-Projekt, Tübingen 1991, S. 202.

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deren Re-Arrangement neben die von Jutta Heinz als ‚anthropologische Romane‘ charakterisierten Erzählwerke4 in den Kontext eines solchen Projekts zu stellen. Seine ethnopsychologischen Reflexionen hat Wieland ‚zweispurig‘ angelegt: Die eine Spur trägt die Zeichen einer rhetorischen und psychologischen Auseinandersetzung mit Rousseau, der „mitten im achtzehnten Jahrhundert, mitten in Paris den Muth hatte […] allen den Vortheilen freywillig zu entsagen, die ihm die seltensten Talente […] hätten verschaffen können“.5 Die zweite Spur neben der psychologischen Beschäftigung mit der Person Jean-Jacques ist der gegenüber der Fassung von 1770 veränderten Anordnung der Beyträge in den Sämmtlichen Werken von 1795 abzulesen. Zwar nicht ausgearbeitet, aber in ihren Umrissen wahrnehmbar, erscheint dort bereits eine in die Bekenntnisse des Abulfauaris und deren Kontextualisierung gekleidete Metaphorik des Unbewussten.6 Es ist selbstverständlich kein Zufall, dass es Rousseau war, an dem sich diese an der Nahtstelle von Rhetorik, Anthropologie und Psychologie zu verortende ‚evolutionäre Rhetorik‘, verstanden als anthropologisch-investigatives Verfahren, entzündete. Wieland faszinierte an Rousseau nicht zuletzt dessen deviantes Psychogramm, das er an seinen zunehmenden Selbstentblößungen ablesen zu können meinte. Zum Zeitpunkt der Erstpublikation der Beyträge konnte er zwar die Confessions nicht kennen7 – jene „geheime[ ] Beichte“,8 von der dann in den Briefen an einen Freund über eine Anekdote aus J.J. Rousseaus geheimer Geschichte seines Lebens (1795) die Rede ist –, bekannt war aber die sogenannten BändchenAffäre, die Rousseau als Verleumder und Dieb in Misskredit gebracht hatte.9 Rousseaus radikales Selbstexperiment lässt sich im Gesamtzusammenhang des 18. Jahrhunderts als Begründung einer positiven Anthropologie des unverstellten

4 Vgl. Jutta Heinz, Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung, Berlin/New York 1996. 5 Christoph Martin Wieland, „Briefe an einen Freund über eine Anekdote aus J.J. Rousseaus geheimer Geschichte seines Lebens“, in: Wielands Sämmtliche Werke, Bd. 15, Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur (Hrsg.), Hamburg 1984, S. 167–253, hier S. 170. 6 In der Ausgabe von 1770 lautet die Schreibweise „Abulfaouaris“, 1795 dann „Abulfauaris“. Der Name Abulpharagius wird von Lessing in einer Rezension zur Bibliothèque orientale von d’Herbelot erwähnt; er war den Zeitgenossen also wohl nicht unvertraut, sondern verweist auf die in gebildeten Kreisen verbreitete Kenntnis der Forschungen zur arabischen Geschichte. Vgl. zu Lessings Rezension Karl S. Guthke, „Berührungsangst und -lust: Lessing und die Exoten“, in: Ders., Der Blick in die Fremde. Das Ich und das andere in der Literatur, Tübingen 2000, S. 41–68, hier S. 57. 7 Diese erschienen bekanntlich erst postum ab 1782. 8 Wieland, „Briefe“, S. 173. 9 Rousseau war des Diebstahls eines Schmuckbandes beschuldigt worden und hatte diesen bei der strengen Befragung einem unschuldigen Dienstmädchen in die Schuhe geschoben.

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Herzens begreifen, die nicht sofort wieder in lückenlose Konsistenz mündet, sondern paradoxal angelegt ist, Brüche aufweist und schließlich in einer Rhetorik des Schweigens enden muss, die also jene ‚Entrhetorisierungstendenz‘ noch überbietet, von der im Kontext der bürgerlichen Durchbrechung von höfischer Verstellung die Rede ist.10 Angesichts dessen kann man Wielands Beitrag zur Anthropologie gerade deshalb als bedeutsam ansehen, weil er – entgegen der zu korrigierenden These von der angeblichen Verspätung – tatsächlich einen dritten Weg der Rousseau-Rezeption einschlägt, der aber weit mehr als das von Erhart behauptete ‚diskurskritische Spiel‘ oder eine „Verfahrenskritik rousseauistischen Denkens“11 umfasst. (So aber werden die Beyträge bis heute gelesen.12) Rousseau ist für Wieland also zum einen der Fall, den er für seine Studien zur Fremdheit als dem Unbewussten braucht, zum anderen entnimmt er dem ‚wilden Denken‘ in Paradoxien das Angebot alternativer Denkmodelle in Absetzung vom herrschenden Konsistenzgebot anthropologischer Modelle. Dass er sein Großprojekt nicht aus einem Missverständnis, sondern aus genauer Kenntnis der Rousseau’schen Diagnosen entwickelt hat, ist seit Erhart Konsens.13 Dennoch bleibt der Beitrag Wielands, für den ich im Anschluss an James Cliffords Begriff der „ethnographische[n] Allegorie“14 den der ethnopsychologischen Allegorie gewählt habe, in seiner Eigenständigkeit zu beschreiben. Rousseaus anthropologisches Projekt bildet für Wieland einen willkommenen Anlass zur Restitution des Geheimnisses des menschlichen Herzens, indem dieses allererst ausgelotet wird – in den sich abzeichnenden Konturen einer aus den Reisebeschreibungen wie aus den psychologischen Diskursen der

10 Vgl. Ursula Geitner, Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1992, S. 500. 11 Erhart, Entzweiung und Selbstaufklärung, S. 78. Erhart konstatiert zwar, dass Wielands Weg letztlich zu Hegel führe, bleibt dann aber selbst hinter seiner richtigen Einschätzung dieses Weges zur – allerdings unsystematischeren, eben rhetorisch fundierten – Dialektik zurück, indem er doch stets das Spielerische der Wieland’schen Diskurskritik unterstreicht, gegen den Ernst einer meines Erachtens von Wieland intendierten rhetorischen Anthropologie. 12 Vgl. Lucia Mor, „Wielands Ägypten zwischen Exotismus und Esoterik“, in: Wieland-Studien, 4/2005, S. 62–74, hier S. 69: Hauptziel der Beyträge sei die Widerlegung der „Thesen Rousseaus über den Ursprung des Menschengeschlechts.“ 13 Wieland setzt sich spätestens seit 1758 mit Rousseau auseinander; vgl. Klaus Schäfer, Christoph Martin Wieland, Stuttgart/Weimar 1996, S. 13. Rousseau bot ihm – in dessen philosophischem Entwurf und Lebensweise – identifikatorische Elemente, die er in seiner weitgehenden geistigen Isolation in Biberach und Erfurt dringend brauchte; vgl. dazu Holdenried, Künstliche Horizonte, S. 164. 14 James Clifford, „Über ethnographische Allegorie“, in: Eberhard Berg/Martin Fuchs (Hrsg.), Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt a.M. 1995, S. 200–240.

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Zeit gezogenen Erfahrungswirklichkeit. Was Wolfgang Preisendanz bereits für den Agathon festgehalten hat, trifft demnach auf die nur scheinbar exotische Exempelerzählung Koxkox und Kikequetzel sowie auf die Bekenntnisse des Abulfa(o)uaris in noch stärkerem Maße zu: dass Wieland ausgesprochen interessiert am Vordringen in die Terra incognita der inneren menschlichen Natur war – und zwar nach Maßgabe einer durch den Wissenszuwachs veränderten Erfahrungswirklichkeit.15

II Reisebeschreibungen und ethnopsychologische Allegorie Seit Alan Menhennets Beitrag über Wieland as Armchair Traveller ist bekannt, dass dieser zwar die Reise von Weimar nach Zürich als ‚ungeheures Abenteuer‘ scheute, aber die Welt doch sehr genau kannte: „The auction-catalogue of his library contains over one hundred and thirty volumes of geographical, and travelliterature, and many scattered references in his writings make it clear that this by no means exhausts the extent of his knowledge.“16 Zudem hat Andrea Heinz in einer einlässlichen Analyse des Teutschen Merkur konstatiert, dass Reisen und landeskundliche Fragen dort an dritter Stelle der behandelten Themengebiete stehen und im Laufe der Jahre neben der Naturwissenschaft die deutlichsten Zuwächse verzeichneten.17 Ein Beispiel von vielen, in denen Wielands Kenntnisse über die Fremde aufscheinen, ist der Aufsatz Über die vorgebliche Abnahme des menschlichen Geschlechts von 1777, der die Beyträge in der Neuausgabe von 1795 beschließt. Als „‚Modell‘ einer Kulturgeschichte der Menschheit“18 hat Susanne Wipperfürth diesen Text betrachtet, der in deutlicher Nähe zu Herders Konzeption in Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) stehe – zunächst

15 Vgl. Wolfgang Preisendanz, „Die Auseinandersetzung mit dem Nachahmungsprinzip in Deutschland und die besondere Rolle der Romane Wielands (Don Sylvio, Agathon)“, in: Hans Robert Jauß (Hrsg.), Nachahmung und Illusion, München 21969, S. 72–95, hier S. 89 f.: „Die innere und relative Möglichkeit […], die Wahrscheinlichkeit der Fiktion bemessen sich nun gänzlich nach den Gesetzen der menschlichen Natur, die psychologische Erfahrungswirklichkeit wird die entscheidende Maßgabe des Möglichen.“ 16 Alan Menhennet, „Wieland as Armchair Traveller“, in: Modern Language Notes, 99/1984, 3, S. 522–538, hier S. 525. 17 Vgl. Andrea Heinz, „Auf dem Weg zur Kulturzeitschrift. Die ersten Jahrgänge von Wielands ‚Teutschem Merkur‘“, in: Goethezeitportal. URL: www.goethezeitportal.de/db/wiss/wieland/ aheinz_merkur.pdf (letzter Zugriff am 15.10.2013). 18 Susanne Wipperfürth, Wielands geschichtsphilosophische Reflexionen, Frankfurt a.M. 1995, S. 44.

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aber sind wiederum die Parallelen zu Wielands Vorbild und (imaginärem) Gesprächspartner Rousseau erstaunlich, in dessen Magnetfeld er nolens volens immer wieder zu geraten scheint. So konzediert er gut rousseauistisch eine „fatale Abnahme“,19 sprich: Degeneration der ‚zivilisierten‘ Gesellschaften, er hält es aber im Unterschied zu Rousseau für falsch, die verlorene Ursprünglichkeit in ‚primitiven‘ Völkern zu suchen. Für diese Volte gegen Rousseau sind Wieland die aus den Reisewerken stammenden Kenntnisse von Nutzen: Die Feuerländer und wollüstigen Tahitianer dienen ihm als Belege für eine durch äußere Einflüsse – Montesquieus Klimatheorie klingt an – verhinderte „natürliche[ ] Vollkommenheit“.20 Nachdem Wieland die Rousseau’sche Degenerationsthese also bis zu einem gewissen Grad adaptiert hat, setzt er zu ihrer Korrektur an; das Beispiel der Riesen-Patagonen steht dabei für die „Reisebeschreibers-Lüge[n]“,21 von denen auch an anderen Stellen die Rede ist. Da aber den Reisewerken ebenfalls zu entnehmen ist, dass „bey den ungebändigten Völkern Asiens und der neuen Welt […] Eigenschaften und Tugenden der heroischen Zeitalter“22 zu finden sind, legt Wieland ein Entwicklungsmodell vor, das sowohl zyklische als auch progressive Anteile enthält23 – die „unmerklich fortrückende Spirallinie“24 bedeutet aber letztlich keinen Verlust und keine generelle „Abnahme“, vollziehe sich diese doch immer nur bei einzelnen Völkern und gelte nicht für die Menschheit im Allgemeinen. Die ‚Wilden‘ können demnach kein Vorbild für die ‚Zivilisierten‘ sein, weil auch sie schließlich gezwungen sein werden, den unaufhaltsamen (und unumkehrbaren) Prozess der Zivilisierung mitzumachen. Allerdings gilt es festzuhalten, dass Wieland über künftige Entwicklungen – im Gegensatz zu Herder, der ja von der unaufhaltsamen Bildung zur Humanität ausgeht – keine Aussagen treffen will. Dazu seien „ganz andere Organe[ ] und ein[ ] ganz ander[er] Gesichtskreis“25 vonnöten.

19 Christoph Martin Wieland, „Über die vorgebliche Abnahme des menschlichen Geschlechts“, in: Wielands Sämmtliche Werke, Bd. 14, Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur (Hrsg.), Hamburg 1984, S. 289–334, hier S. 310. 20 Ebd., S. 318. 21 Ebd., S. 317. Wieland bezieht sich hier auf Samuel Wallis’ Weltreise, auf der dieser die Patagonier vermessen und die Vorstellung von ihrer riesenhaften Größe relativiert hatte. Dies könnte ihm aus John Hawkesworths dreibändigem Werk über die Geschichte der See-Reisen und Entdeckungen im Süd-Meer bekannt gewesen sein, das seit 1774 in deutscher Übersetzung vorlag. 22 Wieland, „Über die vorgebliche Abnahme“, S. 322. 23 Vgl. Wipperfürth, Wielands geschichtsphilosophische Reflexionen, S. 45. 24 Wieland, „Über die vorgebliche Abnahme“, S. 328. 25 Ebd.

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In der Forschung ist zunächst der „raisonnierte[ ] Auszug“26 Wielands aus dem ersten Band von Georg Forsters Reise um die Welt (1778) in den Blick gerückt, dem sich bereits Menhennet gewidmet hatte, um festzustellen, dass „[t]he Tahitian episode is undoubtedly the highest of the high points in Forster’s narrative, as far as Wieland is concerned“27 – eine Episode, in der sich Wunschtraum und Realität träfen.28 In jüngster Zeit wird jedoch eher auf die kritischen Aspekte von Wielands Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Tahiti-Reiseberichten abgehoben: Wolfgang Struck etwa betont Wielands Tadel gegenüber Forster, was dessen Einstellung zum Diebstahl der Tahitianer angeht, der „seinen Reisebericht nachhaltig entwertet.“29 Zuvor hatte schon Budde auf die kolonialismuskritischen Aspekte bei Wieland hingewiesen.30 Diese postkolonial informierten Deutungen haben gewiss ihre Berechtigung; ich möchte den Blick allerdings auf die Beyträge zurücklenken: Der Zusammenhang zwischen der Wieland’schen Begeisterung über die Tahitianer (trotz der negativen Bewertung ihrer Wollust) und seiner schon 1769/70 entstandenen ‚mexikanischen Geschichte‘ Koxkox und Kiquequetzel ist von der Forschung zwar bereits bemerkt worden, doch soll hier deren grundsätzlicher Charakter in Bezug auf Wielands Ethnopsychologie herausgearbeitet werden. In seiner ethnologischen Erzählung – nach Clifford eine „bedeutungsstarke Geschichte“31 – geht es um die Allegorisierung von Annahmen über Gesellschaftlichkeit und Geschichte in einem (vorgeblich) der Geschichtlichkeit enthobenen, utopisch-sagenhaften Zeitraum und in geographischer Ferne. Erzählt wird von dem Überlebenden einer Naturkatastrophe: Koxkox fristet zunächst gezwungenermaßen ein einsames Da-

26 Christoph Martin Wieland, „Die Uebersetzung der Forsterischen neuesten Reise um die Welt betreffend“, in: Der Teutsche Merkur, 1778, 6, S. 294 f., hier S. 295. 27 Menhennet, „Wieland as Armchair Traveller“, S. 535. 28 Budde verweist auf den emphatischen Ton Wielands, der „die sich bietende Gelegenheit genutzt [habe], lang gehegte, vielfach literarisierte Freiräume der Phantasie und des utopischen Verlangens durch einen Bericht aus der wirklichen Welt bestätigt zu sehen.“ Bernhard Budde, „Die ‚ganze Büchse der Pandora‘? Zur Reflexion von europäischer Zivilisation und Fremderfahrung in Forsters ‚Reise um die Welt‘ und im ‚raisonnierten Auszug‘ Wielands“, in: Andrea Heinz (Hrsg.), „Der Teutsche Merkur“ – die erste deutsche Kulturzeitschrift?, Heidelberg 2003, S. 170–187, hier S. 185. 29 Wolfgang Struck, „,(Die Fortsetzung künftig)‘. Georg Forster und Christoph Martin Wieland auf der Reise nach Kythera“, in: Bettine Menke/Wolfgang Struck (Hrsg.), Wieland/Übersetzen. Sprachen, Gattungen, Räume, Berlin/New York 2010, S. 332–353, hier S. 348. 30 Vgl. Budde, „Die ‚ganze Büchse der Pandora‘?“, bes. S. 187. 31 Clifford, „Über ethnographische Allegorie“, S. 201. Den Begriff ziehe ich gegenüber dem von Erhart, Entzweiung und Selbstaufklärung, S. 61, in die Debatte eingebrachten Begriff der „ethnographischen Persiflage“ vor, weil er den ernsthafteren Hintergrund der Wieland’schen Darstellung besser trifft.

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sein, trifft nach einiger Zeit jedoch auf eine weitere Überlebende, Kikequetzel, der er seine Sprache beibringt. Eine Familie wird gegründet, Land bebaut und umhegt, doch bricht in das Idyll nach einiger Zeit ein Dritter ein, Tlaquatzin. Eifersucht entsteht durch die Zurücksetzung von Koxkox, der selbst wiederum Trost bei zwei anderen überlebenden Frauen findet. Sind die zärtlichen Familienbande erst einmal zerrissen, beginnt mit der nun betriebenen Polygamie der Niedergang des kleinen Gemeinwesens; Gewalt, unversöhnlicher Hass und Verrohung sind die Folgen. Kommentiert wird dieses Geschehen von dem ‚angesehenen‘ mexikanischen Philosophen Tlantlaquakapatli, einer Figuration Rousseaus, die der Erzähler ganz beiläufig in die Geschichte einführt und deren Reflexionen über den „Anfang des gesellschaftlichen Lebens“32 sie durchziehen. Die Bewegung der Sage von den mexikanischen Stammeltern kehrt Rousseaus Verfallsgeschichte vollständig um und bestätigt sie somit nicht.33 Durch diese Inversion kontaminiert Wieland ‚seinen‘ Naturzustand, bei dem es sich um einen Rückfall in die Gewaltsamkeit handelt, mit dem bei Rousseau geschilderten Zustand der depravierten Kultur. Allerdings hält es Wieland eben eher mit einem Entwicklungsmodell, das keine Unilinearität oder gar Progression unterstellt: Mit dem Rekurs auf die im 18. Jahrhundert gängige Entwicklungsmetapher des Orangenbaums (mit seinen koexistierenden Knospen, Blüten und Früchten) werden Ungleichzeitigkeiten und nachholende Entwicklungen in den Blick gerückt, doch scheint ebenso die Möglichkeit einer partikularen Degeneration auf. Diese ist deshalb auch ohne Widersprüche in eine Gesamtentwicklung zu integrieren, auf die Tlantlaquakapatli Bezug nimmt, wenn er die Unmöglichkeit eines Verharrens der Menschheit im Zustand kindlicher Unschuld unterstreicht: Die Menschen sind nicht dazu gemacht Kinder zu bleiben; und wenn es nun einmahl in ihrer Natur ist, daß sie nicht anders als durch einen langen Mittelstand von Irrthum, Selbsttäuschung, Leidenschaften und daher entspringenden Elend zur Entwicklung und Anwendung ihrer höhern Fähigkeiten gelangen können, – wer will mit der Natur darüber hadern?34

32 Christoph Martin Wieland, „Koxkox und Kiquequetzel. Eine mexikanische Geschichte. Ein Beytrag zur Naturgeschichte des Menschen“, in: Wielands Sämmtliche Werke, Bd. 14, S. 3–118, hier S. 16. 33 Was in der Geschichte passiert, ist ein Rückfall in die allererste Natur, wofür auch der Name Tlaquatzin steht, der ‚Opossum‘ bedeutet. Die ungeregelten, tierischen Triebe tragen den Sieg über das familiäre, gesellschaftliche Leben davon; eine „Verwilderung“ beginnt, die Nachkommen sinken „zur bloßen Thierheit herab.“ Ebd., S. 111 bzw. S. 115. 34 Ebd., S. 117 f.

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Wielands Tlantlaquakapatli/Rousseau thematisiert hier jenen ‚Durchvollzug‘,35 den die zeitgenössische Rousseauverehrung wie -kritik nicht sehen wollte, und akzentuiert ihn im Sinne der erwähnten Spirallinie (die ebenso Raum für Inkonsistenzen und Widersprüche lässt wie die Orangenbaummetapher). So bleibt in Wielands integrativem anthropologischen Konzept durchaus auch Platz für eine rousseauistische Idylle: Die in Westafrika lebenden Foleys, ein Lieblingsobjekt der Reisebeschreibungen (und mehr noch ihrer Kommentatoren),36 seien das Beispiel, welches Rousseau für sein glückliches Zeitalter hätte heranziehen sollen – und nicht die Karaiben Venezuelas, die doch nur „verwilderte Kinder“37 seien, deren Zustand uns kaum beneidenswert erscheine. Doch hier wie auch im „räsonnierte[n] Auszug“ gebietet Wieland dem sich verselbständigenden utopischen Diskurs rasch Einhalt: Zum einen seien unsere Nachrichten längst nicht ausreichend für ein begründetes Urteil über die vermeintlich ‚edlen‘ Wilden; zum anderen seien diese lediglich eine Blüte am Orangenbaum, und lange vor Hegel prognostiziert Wieland ihr Verschwinden im menschheitsgeschichtlichen Ganzen. Das bloß ephemere Dasein eines Beduinenstamms könne gegenüber dem Sicherheit bietenden Leben in einer „großen Nazion“38 keinen Bestand haben – auch nicht im Sinne einer ethnologischen Allegorie. Eine Möglichkeit zum Beharren auf oder Überspringen von Entwicklungsstadien gibt es für Wieland nicht; die anthropologischen Diskurse werden der Notwendigkeit einer geschichtsphilosophischen Perspektive unterstellt, in der als höchstes Ziel „die Privatglückseligkeit mit der öffentlichen dauerhaft zu vereinigen“39 sei.40 Genau an dieser Vereinigungsperspektive aber scheitern die anthropologischen Diskurse – und auch Wieland kann diese Aporie nicht auf35 Blumenberg spricht vom „Durchvollzug der die menschliche Vergesellschaftung bestimmenden Naturabwendung“ und der „Vervollkommnung der Technizität“. Hans Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, Frankfurt a.M. 21983, S. 230. 36 Vgl. Menhennet, „Wieland as Armchair Traveller“, S. 527, wo ein Auszug aus Francis Moores Travels into the Inland Parts of Africa (1738), der in der zwischen 1747 und 1774 von Johann Joachim Schwabe herausgegebenen Allgemeinen Historie der Reisen abgedruckt worden war, als Wielands Hauptquelle identifiziert wird. Vgl. auch Ralf Hermann, „Den ‚Anderen‘ besitzen. Die Dialektik der Zivilisation in Wielands ‚Reise des Priesters Abulfauaris ins innere Afrika‘“, in: Martin Blawid/Katrin Henzel (Hrsg.), Poetische Welt(en). FS Ludwig Stockinger, Leipzig 2011, S. 71–84, hier S. 74 f. 37 Christoph Martin Wieland, „Über die Behauptung, daß ungehemmte Ausbildung der menschlichen Gattung nachtheilig sey“, in: Wielands Sämmtliche Werke, Bd. 14, S. 237–288, hier S. 263. 38 Ebd., S. 277. 39 Ebd., S. 279. 40 Einen „Anfang zu Erfüllung“ dieser „Ahnung“ sieht Wieland 1795 in der Französischen Revolution: „Gebe der Himmel, daß wir auch das glückliche Ende derselben erleben!“ Ebd., S. 279.

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lösen, sondern lediglich einen Fingerzeig liefern: in Richtung einer ‚Menschenforschung‘,41 die nicht mehr auf die „höchstunvollkommenen Nachrichten“ angewiesen ist, wie sie die „Europäische[n] Abentheurer“42 beständig liefern. Entgegen Strucks Behauptung, Wieland habe sein Räsonnement aufgrund der Einsicht in die kolonialistische Kontamination der Entdeckungsreisen abgebrochen,43 soll hier diesem Fingerzeig gefolgt werden, der in der ‚mexikanischen Geschichte‘ aufscheint und in der veränderten Anordnung der Beyträge vollends deutlich wird.

III Die Veränderungen in der Anordnung der Beyträge und ihr Zusammenhang mit Wielands rhetorischer Anthropologie Die zweite Spur der Wieland’schen Anthropologie, so wurde oben formuliert, ist dem Re-Arrangement der Beyträge in der Ausgabe von 1795 abzulesen. Nach Erhart44 hat man sich weiterhin mit dieser veränderten Anordnung beschäftigt, sie aber nicht erklären können, weil Wielands Erzählungen stets nur im Umfeld des Exotismus oder der Kolonialismuskritik verortet worden sind.45 Generell stellt die Nichtberücksichtigung des Kontextes der ‚exotistischen‘ Exempelerzählungen ein schwerwiegendes Problem der Forschung dar; das gilt insbesondere für die Indienstnahme der Abulfauaris-Geschichte durch die postkolonialen Studien. So stellt Marie Biloa Onana ein „deutliches postkoloniales

41 Als Menschenforscher charakterisiert er denn auch Forster; vgl. Christoph Martin Wieland, „Auszüge aus Forsters Reise um die Welt“, in: Der Teutsche Merkur, 1778, 11, S. 137–155, hier S.138. Zuvor ist bereits von der „Reise eines Philosophen“ die Rede. Christoph Martin Wieland, „Auszüge aus Hrn. D. Johann Reinhold Forsters […] Reise um die Welt […]“, in: Der Teutsche Merkur, 1778, 7, S. 59–75, hier S. 62. 42 Wieland, „Auszüge aus Forsters Reise um die Welt“, S. 138. 43 Struck zufolge wird die Zauberinsel durch den Kanonendonner entzaubert, die koloniale Durchkreuzung des Traums ist unaufhaltsam: „Bevor sich auch der Leser auf der Seite der Seeleute wiederfindet, bevor er auch seinen Traum auf eine Weise verstetigt sieht, die die Welt nach Maßgabe imperialer Machtsprüche [sic!] neu ordnet, oder nach Maßgabe des Naturaliensammlers, der nun auch Menschen in die klassifikatorische Logik seiner Sammlungen einfügt, bleibt offenbar nur der Abbruch.“ Struck, „,(Die Fortsetzung künftig)‘“, S. 352. 44 Vgl. Walter Erhart, „‚Was nützen schielende Wahrheiten?‘ Rousseau, Wieland und die Hermeneutik des Fremden“, in: Herbert Jaumann (Hrsg.), Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption, Berlin/New York 1995, S. 47–78, hier S. 48. 45 Lucia Mor etwa sieht die ägyptischen „Themenkreise“ in den „Kontext erzieherischer Absichten“ eingebettet und meint, dass ihre Herausnahme aus den Beyträgen darin begründet sei, dass der ägyptische Exotismus „nur in geringem Maße dazu bei[trage], eine polemische Gegenthese zu Rousseaus Anthropologie zu formulieren.“ Mor, „Wielands Ägypten“, S. 69.

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Potential“46 fest, kann aber nicht begreiflich machen, wie sich die beiden Teile der Geschichte zueinander verhalten und „warum die Kritik am Kolonialismus, die im ersten Teil sehr scharf war, im zweiten Teil nur auf den sexuellen Antrieb des Priesters reduziert wird“.47 Ralf Hermann befindet sogar, dass die beiden Erzählungen einander „neutralisieren“;48 Abulfauaris wird von ihm lediglich als ein technologisch überlegener Kolonisator gesehen. Meine These gegen solche Neutralisierungs- und Reduktionsdiagnosen lautet, dass es Wieland bereits 1770 um einen konstruktiven Beitrag zu der von ihm konstatierten „Pathogenese der Moderne“49 ging, und dass, gestützt durch die erfahrungsseelenkundlichen Fallsammlungen und die sich entwickelnde psychologische Wissenschaft, in der veränderten Anordnung eine angemessene Antwort auf die von Rousseau aufgeworfenen Fragen vorgeschlagen wird. Die Herstellung größerer Stringenz in der Neuausgabe ist lediglich die formale Seite dieses Versuchs; ihr entspricht eine durch die veränderte Anordnung dokumentierte Fokussierung auf das problematische Individuum.

a) Veränderungen in der Anordnung 1770/1795 In der Fassung von 1770 bestehen die Beyträge aus sechs Büchern ohne Titelüberschriften in zwei Teilen.50 In der ersten Exempelerzählung wird die Geschichte

46 Marie Biloa Onana, „Kolonialismuskritik in der Aufklärung. Wielands zweiteilige Erzählung ‚Die Reise des Priesters Abulfauaris ins innere Afrika‘ und ‚Bekenntnisse des Abulfauaris‘“, in: Wirkendes Wort, 58/2008, 3, S. 325–334, hier S. 334. 47 Ebd., S. 333. 48 Hermann, „Den ‚Anderen‘ besitzen“, S. 75. 49 Erhart, Entzweiung und Selbstaufklärung, S. 190. Diese Pathogenese bildet nicht nur nach Ansicht Erharts einen Punkt der Übereinstimmung zwischen Wieland und Rousseau; lediglich über die Schlussfolgerungen, die Wieland daraus zieht, besteht in der Forschung kein Konsens. 50 Mit den späteren Titeln der Ausgabe von 1795 wären dies: I. Teil, 1. Buch: Koxkox und Kikequetzel, eine mexikanische Geschichte I, 2. Buch: Reise des Priesters Abulfauaris ins innere Afrika, Die Bekenntnisse des Abulfauaris, gewesenen Priesters der Isis in ihrem Tempel zu Memfis in Niederägypten, auf fünf Palmblätter von ihm selbst geschrieben, 3. Buch: Über die von J.J. Rousseau vorgeschlagenen Versuche den wahren Stand der Natur des Menschen zu entdecken nebst einem Traumgespräch mit Prometheus; II. Teil, 4. Buch: Betrachtungen über J.J. Rousseaus ursprünglichen Zustand des Menschen, 5. Buch: Koxkox und Kikequetzel II, 6. Buch: Über die Behauptung, daß ungehemmte Ausbildung der menschlichen Gattung nachtheilig [im Inhaltsverzeichnis steht schädlich, M.H.] sey. In der Ausgabe letzter Hand von 1795 ist als nunmehr 5. Buch Über die vorgebliche Abnahme des menschlichen Geschlechts (ursprünglich von 1777) enthalten. Im dortigen Band 14 finden sich – als Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit – außerdem: 1. Koxkox und Kikequetzel (beide Teile), 2. Betrachtungen über J.J. Rousseaus ursprünglichen Zustand des Men-

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von Koxkox und Kiquequetzel erzählt; die zweite Exempelerzählung über den ägyptischen Priester Abulfaouaris handelt von der kolonialen Erziehung eines afrikanischen Volkes zur Schamhaftigkeit; die folgenden Bekenntnisse enthüllen die wenig ehrenhaften Motive des Priesters in dieser Angelegenheit. Das dritte Buch stellt ein Gedankenexperiment zur Rekonstruktion des vorgeblich wahren Urzustandes der menschlichen Natur dar; das vierte setzt sich mit den Reiseberichten als „verworrenen, und zu Festsetzung eines sichern Begriffs ganz unzulänglichen Zeugnissen“51 über angebliche wilde Waldmenschen, die Pongos, auseinander, ebenso mit Swifts satirischer Yahoo-Geschichte aus Gulliver’s Travels (1726). Danach folgt der zweite Teil der Koxkox-und-Kiquequetzel-Geschichte, eine Rahmung, welche durch das sechste Buch wieder aufgehoben wird, in dem, wie erwähnt, die Foleys als ein Beispiel für die glückliche Jugend der Welt genannt werden. In der Ausgabe von 1795 hat Wieland eine entscheidende Passage seiner Ausführungen zu Rousseaus Idee vom ursprünglichen Zustand des Menschen verändert, mit der er auf die zentrale Stellung der Beyträge innerhalb seines Werks aufmerksam macht. Hatte die Fassung von 1770 sein Entwicklungskonzept in das Bild eines schwerbepackten und schlecht bespannten Wagens gebannt, der einen steilen Berg hinauffährt,52 so greift Wieland 1795 – und dies ist eine der wenigen Ausnahmen, ansonsten sind nur geringfügige stilistische Eingriffe zu vermerken – in markanter Weise in den Text ein: Er verändert diesen so, dass das Vorstellungsbild einer mühsamen, aber kontinuierlichen Bewegung des Fort-

schen, 3. Über die von J.J. Rousseau vorgeschlagenen Versuche den wahren Stand der Natur des Menschen zu entdecken nebst einem Traumgespräch mit Prometheus, 4. Über die Behauptung, daß ungehemmte Ausbildung der menschlichen Gattung nachtheilig sey. In Band 15 (Vermischte prosaische Aufsätze) sind enthalten: Reise des Priesters Abulfauaris ins innere Afrika, Die Bekenntnisse des Abulfauaris, gewesenen Priesters der Isis in ihrem Tempel zu Memfis in Niederägypten, auf fünf Palmblätter von ihm selbst geschrieben sowie unter anderem noch die Briefe an einen Freund über eine Anekdote aus J.J. Rousseaus geheimer Geschichte seines Lebens. 51 Christoph Martin Wieland, „Beyträge zur Geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens“, in: Wielands Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 9.1, Klaus Manger/Jan Philipp Reemtsma (Hrsg.), Berlin/New York 2008, S. 107–305 , hier S. 239. 52 Dabei handelt es sich um eine Entwicklung ohne Sprünge, die es gemäß der zeitgenössisch vorherrschenden Ansicht in der Natur nicht gibt: Natura non facit saltus, so hatte Linné die wesentlich ältere Traditionslinie zusammengefasst. Nisbet rückt noch Herder in die Nähe dieser alten scala naturae-Vorstellung und ihres ‚monistischen Charakters‘ – monistisch, insofern sie die Kontinuität und nicht den Sprung bevorzuge: Herder habe diese Vorstellung geteilt, obwohl sie ihn in Bezug auf die Unsterblichkeit vor ein Dilemma gestellt habe. Vgl. Hugh Barr Nisbet, „Herders anthropologische Anschauungen in den ‚Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit‘“, in: Jürgen Barkhoff/Eda Sagarra (Hrsg.), Anthropologie um 1800, München 1992, S. 1–24, hier S. 8.

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schritts nun „entweder der Kern oder der Zweck, oder der Schlüssel von – oder zu allen meinen Werken, Rhapsodien, Geschichten und Mährchen in Prose und Versen“53 ist. Nimmt man die damit festgeschriebene Zentralstellung ernst, so ist die Veränderung der Anordnung von 1795 als eine deutliche Neuakzentuierung zu begreifen: War die Hauptargumentation zunächst in Geschichten und theoretische Beiträge, narratio und argumentatio, aufgespalten, ohne dass die Abstimmung zwischen beiden Bereichen wirklich gelungen wäre, so ist in der Neudisposition das Bestreben erkennbar, von der „launige[n] Schreibweise“ zu einem grundlegenden kulturanthropologischen Konzept zu gelangen. Dazu trägt nicht unwesentlich bei, dass die mehrgliedrige in eine fünfgliedrige Anordnung überführt wird, womit der Rhetoriker Wieland in konkreter Wirkungsabsicht eine formelle Nähe zum Dispositionsschema des Dramas geschaffen hat. Den fünften Akt seines Menschheitsdramas nämlich bildet der neu hinzugekommene Beitrag Über die vorgebliche Abnahme des menschlichen Geschlechts von 1777, der als rhetorische Summa die Folgen von Ursprungsrekonstruktionen aufzeigt sowie die Streitfrage über den kulturellen Fortschritt wiederum in kritischer Nähe zu Rousseau verhandelt. Die Beispielerzählungen vom Fremden, der erste Teil der Koxkox-und-Kikequetzel-Geschichte und die beiden Abulfaouaris-Texte, sind in der Erstausgabe am Anfang platziert, bleiben aber im Gesamtzusammenhang – entgegen der in einer später getilgten Vorbemerkung behaupteten Existenz eines „Plan[s]“54 – unspezifisch. In den Sämmtlichen Werken werden sie im Sinne der oben thetisch unterstellten Zweispurigkeit eingesetzt, indem sie getrennt werden: Koxkox und Kikequetzel verbleibt als Erzählung von einem sagenhaften Gesellschaftsursprung im Kontext der Geschichtsphilosophie; der Priester der Isis, Abulfauaris, gerät hingegen in den Zusammenhang mehrerer psychologischer Fallgeschichten, die den Briefen an einen Freund über eine Anekdote aus J.J. Rousseaus geheimer Geschichte seines Lebens vorangehen. Damit erfahren die Geschichten eine Funktionsveränderung vom allegorischen Märchen zur stringent unterfütterten Exempelerzählung in einem ganz spezifischen Sinne.

53 Christoph Martin Wieland, „Betrachtungen über J.J. Rousseaus ursprünglichen Zustand des Menschen“, in: Wielands Sämmtliche Werke, Bd. 14, S. 119–175, hier S. 174. 54 Wieland, „Beyträge“, S. 110.

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b) ‚Geheime Triebfedern‘: Der Fall Abulfauaris/Rousseau Es greift zu kurz, wie Hermann in der ersten Abulfauaris-Erzählung den Abstand zwischen ‚Zivilisiertem‘ und ‚Wilden‘ lediglich auf die „fundamentale Verstrickung von missionarisch-religiösen Absichten und wirtschaftlichen sowie politischen Interessen bei der europäischen Überseeexpansion“55 zu beziehen und nicht die Gesamtlinie – den behaupteten Plan – zu berücksichtigen. Denn mit seinen Beyträgen nimmt Wieland kontinuierlich am Diskurs über die (Un-)Zugänglichkeit der tieferen Schichten des menschlichen Bewusstseins teil, wie er im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts geführt wurde. Dabei wird in der ‚mexikanischen Geschichte‘ erstmals der Status Rousseaus als der eines Fremden suggeriert, der trotz oder gerade wegen seiner „zuweilen sonderbare[n] und etwas seltsame[n] Meinungen“ als ebenbürtiger Moderator in die Natur-Kultur-Debatte eingeschaltet wird – als jemand, der mit dem „eigenen Kopfe denk[t]“.56 Auch in der Folge verliert Wieland ‚seinen‘ Rousseau nicht aus den Augen; vielmehr tritt dieser in zahlreichen Verkleidungen auf und bleibt Anlass für ein Weitertreiben der Menschenforschung in die wahre Terra incognita des Unbewussten. Zwar mag es auf den ersten Blick gewagt erscheinen, in den PalmblätterBekenntnissen des Abulfauaris Jean Pauls Psychologem eines „wahre[n] innere[n] Afrika“57 präfiguriert zu sehen, doch geht es in den Beyträgen wesentlich um das Fremde in uns selbst.58 So werden die Berichte über das geographisch Fremde schon in Koxkox und Kikequetzel mit der inneren Fremde des ‚mexikanischen Philosophen‘ Rousseau in eine Beziehung gebracht, die zur Auslotung des Unbewussten führen soll. Während Rousseaus Weg zu einer ‚projektiven Ethnologie‘59 meist entweder enthusiastisch angenommen wurde – im von Wieland kritisierten ‚Modeton‘ seiner Zeit – oder strikte Ablehnung erfuhr, versucht Wieland also Vermittlungsmöglichkeiten aufzuzeigen, indem er Rousseau selbst zum Fremden macht. Der Diskurs des Fremden wird durch diesen Umweg auf die eigene Gesellschaft zurückgelenkt:60 So erweisen sich des Priesters Abulfauaris Handlungen,

55 Hermann, „Den ‚Anderen‘ besitzen“, S. 79. 56 Wieland, „Beyträge“, S. 255. 57 Jean Paul, „Selina oder die Unsterblichkeit der Seele“, in: Werke, Bd. 6, Norbert Miller (Hrsg.), München 1963, S. 1105–1236, hier S. 1182. 58 Vgl. dazu die Ausführungen von Julia Kristeva in Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt a.M. 1990, die geschichtlich weit in die Antike zurückreichen und bis zur Freud’schen Psychoanalyse führen. 59 Vgl. Hinrich Fink-Eitel, Die Philosophie und die Wilden. Über die Bedeutung des Fremden für die europäische Geistesgeschichte, Hamburg 1994. 60 Dass Wielands Apologetik Rousseaus so aufwendig erscheint, hängt weniger mit der von Pfotenhauer angenommenen notwendigen Selbstüberzeugung Wielands zusammen als vielmehr

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mittels derer er den von ihm gelenkten ‚Wilden‘ Kultur zu bringen vorgibt, in den Palmblätter-Konfessionen als ein aus der Sexualunterdrückung gespeistes bigottes Unternehmen. Doch bleibt die Fiktion nicht dabei stehen: Es ist Abulfauaris’ Leiden an der eigenen Gespaltenheit, die daraus mehr als eine bloß moralische Exempelgeschichte macht. Dass Jan Philipp Reemtsma Wieland als einen „der ersten modernen Psycho-Analytiker“61 charakterisiert, wirkt vor diesem Hintergrund keineswegs mehr verblüffend.

c) Terra incognita: Theoreme des Unbewussten Die Briefe an einen Freund über eine Anekdote aus J.J. Rousseaus geheimer Geschichte seines Lebens gehören nicht zu den Beyträgen, stehen aber über die 1795 ausdrücklich hergestellte Nähe zu Abulfauaris in engstem Zusammenhang mit diesen. Wieland bemüht sich dort einmal mehr um eine „natürliche[ ] Auflösung“62 der in den Bekenntnissen des Abulfauaris vorformulierten und am fiktiven Material, der ethnopsychologischen Allegorie, versuchsweise beantworteten Frage nach den „geheimen Triebfedern“ menschlicher „Handlungen“.63 Was beides, die Briefe und die Bekenntnisse, strukturell verbindet und aneinanderrückt, ist die Leidenschaft, das starke Gefühl, das in einem differenzierten Konzept der Ganzheitlichkeit eines Individuums jene Triebkraft darstellt, welche das zeitgenössisch vorherrschende Tugendmuster nachhaltig stört. Wieland lässt seine Verteidigungsrede für Rousseau in ein Psychogramm münden, in dem man Vorstellungen der Entwicklungspsychologie Johann Nicolaus Tetens’ erkennen kann: Dessen Hauptwerk Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung erschien 1777, und es ist höchst wahrscheinlich, dass Wieland sich mit der Affektlehre Tetens befasst hat.64 Zwar verharrt Wieland dem Augen-

mit dessen work in progress an einem modifizierten Konzept der selbst das Negative umfassenden Ganzheitlichkeit des Individuums. Dennoch ist Pfotenhauer darin zuzustimmen, dass Wieland die Selbstentblößung des Hässlichen stets anstößig geblieben ist. Vgl. Helmut Pfotenhauer, Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte – am Leitfaden des Leibes, Stuttgart 1987, S. 31. 61 Jan Philipp Reemtsma, „Zeitgenosse Chr. M. Wieland“, in: Die Zeit vom 06.01.1989. 62 Wieland, „Über die vorgebliche Abnahme“, S. 310. 63 Christoph Martin Wieland, „Die Bekenntnisse des Abulfauaris, gewesenen Priesters der Isis in ihrem Tempel zu Memfis in Niederägypten, auf fünf Palmblätter von ihm selbst geschrieben“, in: Wielands Sämmtliche Werke, Bd. 15, S. 29–66, hier S. 50. 64 Wieland selbst hat behauptet, sich mit den Weisheitslehrern in ziemlicher Vollständigkeit auseinandergesetzt zu haben; vgl. Christoph Martin Wieland, „Über die von J.J. Rousseau vorgeschlagenen Versuche den wahren Stand der Natur des Menschen zu entdecken nebst einem

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schein nach auf der (kriminologischen) Ebene der Genese einer Tat, doch wird in den Briefen wie in den Bekenntnissen das Interesse an den „geheimen Winkel[n] des Herzens, in deren sicherem Hintergrund die versteckte Leidenschaft […] uns ungewarnt und mit verdoppleter Wuth“65 überfällt, in einen psychologischen Befund gefasst, welcher die zur menschlichen Existenz gehörige dunkle, abgründige Seite verteidigt. Ist es im Fall des Abulfauaris die sinnliche Leidenschaft für eine schöne ‚Negerin‘, welche die lange sublimierte sinnliche Natur hervorbrechen lässt, so ist die Leidenschaft in Rousseaus Fall auf andere Weise fehlgeleitet. Ganz im Gegensatz zum Devianz-Modell der Erfahrungsseelenkunde scheint sich Wieland mit seinem flammenden Plädoyer am Übergang von der Ethik zur Psychologie für die Emanzipation der Leidenschaften auszusprechen: Und doch konnte Rousseau – ‚so sehr Bösewicht sein?‘ – Nicht Bösewicht, lieber Freund – nur so sehr Mensch! […] Es ist der Ausdruck einer durch die Annalen der Menschheit und die Biografien der besten Menschen (in so fern man keine moralischen Romane daraus gemacht hat) längst bestätigten Wahrheit. […] Eine aufs äußerste gestiegene Leidenschaft kann jeden Menschen, der nicht zu schwach zu einer solchen Leidenschaft ist, auf einen Augenblick zum Unmenschen machen.66

Dem Theoriegehalt nach besteht hier eine deutliche Nähe zu Tetens’ Auffassung von den Affekten als einer psychischen Urkraft – und nicht einer ‚Gemütsstörung‘, die das seelische Gleichgewicht verletzt. Wie für Tetens die strikt psychophysiologischen Richtungen der Anthropologie nicht ausreichend waren, um Vorstellungstätigkeiten und somit den Übergang von einfachen zu höheren seelischen Vermögen zu erhellen, war auch Wieland an einer dynamischen Erklärung (mit sozialen Komponenten) statt an invarianten Gesetzmäßigkeiten interessiert. In den Briefen wie in den Bekenntnissen wird das entwicklungspsychologische Konzept einer modifizierten Ganzheitlichkeit erkennbar, zu der auch noch die Deformation gehört. Überdies wird der ‚junge Wilde‘ Rousseau, den Wieland mit der „Otaheitischen Gleichgültigkeit“67 in Verbindung bringt, der Beobachtung unterzogen: Nur aus dieser, so die Botschaft eines Nachtrags nach Erscheinen der

Traumgespräch mit Prometheus“, in: Wielands Sämmtliche Werke, Bd. 14, S. 177–235, hier S. 179. Allerdings gab Jutta Heinz gesprächsweise zu bedenken, dass sein Wissen wohl eher aus Kompendien stammte. Auch findet sich im Wieland-Archiv Biberach nach Auskunft von Frau Kerstin Buchwald, der ich an dieser Stelle herzlich für verschiedene Informationen danken möchte, kein Werk von Tetens. Aufgrund der deutlichen Übereinstimmung in manchen Aspekten erschiene ein Indizienbeweis jedoch nicht abwegig. 65 Wieland, „Bekenntnisse“, S. 59. 66 Wieland, „Briefe“, S. 189. 67 Ebd., S. 193.

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Confessions, durch die sich Wieland in seinen psychologischen Befunden bestätigt sah, kann man Erkenntnisse ableiten, und so plädiert er für ein behutsames „Urtheilen über die Triebfedern, Absichten und innere Moralität“.68 Eine solch beobachtende Methode hat auch Tetens zu seinem Hauptprinzip erhoben,69 und wenn bei Kant schließlich der Status der Gefühle als der „einer inneren Empirizität“70 festgeschrieben wird, findet sich dies gleichsam als essayistische Psychologie (oder ethnopsychologische Allegorie) bei Wieland vorgebildet.

IV Fazit: Zwischen Eklektizismus und Dilettantismus Die Forschung hat immer wieder den Eklektizismus von Wielands Positionen hervorgehoben. Es soll hier aber einmal mehr betont werden, dass ‚Dilettantismus‘ für Wieland ein legitimer Ansatz auch und gerade zur Erweiterung des Weltwissens war.71 Gleichwohl hat man seinen Weg zu einer dritten Position früher Ethnopsychologie häufig als ironisches launichtes Spiel missverstanden, weil der Gehalt seiner ethnopsychologischen Allegorien auf den bloßer contes philosophiques zurückgestutzt wurde. Heute droht ein erneutes Missverständnis, indem sie (ausschließlich) als sexuell akzentuierte Kolonialismuskritik gelesen werden. Vor diesem Hintergrund ist im vorliegenden Beitrag dargestellt worden, dass es Wieland um etwas anderes ging: In den Briefen versenkt er seine rhetorische Erkundungssonde in die innere Fremde Rousseaus, des individuellen Pendants zu den zahlreichen Berichten über die geographische Fremde in den Beyträgen und im Teutschen Merkur. Wielands psychologischer Biographismus (eines Rousseau, Bonifaz Schleicher oder auch Abulfauaris) zielt mittels rhetorischer Strategien auf ein Bewusstsein, dessen Tiefendimension als die Alteritätserfahrung des

68 Ebd., S. 251. 69 So will er „[d]ie Modifikationen der Seele so nehmen, wie sie durch das Selbstgefühl erkannt werden; diese sorgfältig wiederholt, und mit Abänderung der Umstände gewahrnehmen, beobachten, ihre Entstehungsart und die Wirkungsgesetze der Kräfte, die sie hervorbringen, bemerken; alsdenn die Beobachtungen vergleichen, auflösen, und daraus die einfachsten Vermögen und Wirkungsarten und deren Beziehung auf einander aufsuchen“. Johann Nicolaus Tetens, Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung, Bd. 1, Leipzig 1777, S. IV. 70 Rüdiger Campe, Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1990, S. 384. Campe ordnet Tetens vor Kant einen wichtigen Platz bei der Herauslösung der Psychologie aus der Affektrhetorik zu. 71 Vgl. Marie-Theres Federhofer, „Wieland und die Wissenschaften“, in: Jutta Heinz (Hrsg.), Wieland-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2008, S. 105–108, hier S. 107.

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Zeitalters allmählich in den Blick rückt, ohne dass schon eine adäquate Sprache zu ihrer Erfassung vorhanden wäre. Rhetorische Prinzipien der Abschweifung, des Neuansatzes, der kreisenden Wiederholung zeichnen die Bewegung jener Fortschrittsspirale nach, welche historisch in der Perfektibilität der ‚höheren Fähigkeiten‘ und sprachlich in der Auslotung der inneren Terra incognita enden soll. Die wahre philosophische Reise zu dieser nächsten Fremde beginnt im ausgehenden 18. Jahrhundert freilich erst, und Wieland scheint zunächst auch gar nichts anderes beabsichtigt zu haben, als in einer Art kriminologischer Recherche72 die psychischen Determinationen seines ‚wilden‘ Helden Rousseau freizulegen bzw. dessen „Triebfedern“ in Parallelführung mit ethnologischen Erzählungen ans Licht zu heben, um das moralische Urteil zu suspendieren und an seiner Stelle ein psychologisches zu erwirken. Was ihn aber für das Zeitalter der ethnologischen Erkundungen so interessant macht, obwohl seine ‚Ethnologie‘ ganz im eigenen Haus zu bleiben scheint, ist die mehr als nur metaphorische Analogie zum kulturell Fremden. Ebenso imaginär wie die mexikanische Fremde ist der innere Kontinent der Seele, und Wieland beabsichtigt nicht, die Lücke in den Erklärungsansätzen in kausaler Konnexion endgültig zu schließen und damit die Determination des Individuums erst recht zu bekräftigen. Vielmehr weist die Rückwendung zur Rhetorik einen Weg, den man – bei aller Vorsicht vor überzeichneten Analogien im ‚digressiven‘ Verfahren – als eine Art ‚rhetorische Psychologie‘ bezeichnen könnte. Wieland verabschiedet sich ja keineswegs von den neuen psychologischen Errungenschaften seiner Zeit, aber er betont doch wie kein anderer die Inkongruenz von Zeichen und Bedeutung sowie die Nichtverfügbarkeit letzter Glieder in psychologischen Kausalketten. Das Fremde in seiner originären Unzugänglichkeit bildet dafür ein Modell, eine Aufforderung zum stetigen Neueinsatz einer Erkundung ohne die Gewissheit einer letztgültigen Lösung (und möglicherweise sogar ohne den aufklärerischen Wunsch danach). Ein Modell – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

72 Riedels Hinweis auf die Meißner’sche Sammlung von Kriminal-Geschichten (1778) und deren erklärtes Ziel, die ‚geheime Geschichte des menschlichen Herzens‘ zu ergründen, sei hier wegen der Koinzidenz mit Wielands biographischer Kriminalrecherche noch am Rande erwähnt. Vgl. Wolfgang Riedel, „Influxus physicus und Seelenstärke. Empirische Psychologie und moralische Erzählung in der deutschen Spätaufklärung und bei Jacob Friedrich Abel“, in: Barkhoff/Sagarra (Hrsg.), Anthropologie um 1800, S. 24–53, hier S. 36.

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J.W.L. Gleims Halladat oder Das rothe Buch: die Suren eines „neuen Korans“ oder „Lehrgedichte […] in orientalischem Stil“? I Einleitung Im Rahmen des übergeordneten Themas „Völkerkundliche Anthropologie, Literatur und Ästhetik um 1800“ kann unter anderem gefragt werden, was in diesem Zeitraum mit völkerkundlich-anthropologischem Wissen ‚geschieht‘, wenn es in Literatur übertragen, also unter den spezifischen Bedingungen literarischer Kommunikation aufgenommen, verarbeitet und durch Leser rezipiert wird. Diese Frage ist leitend für den vorliegenden Beitrag, in dem ich untersuchen möchte, was in einem konkreten Fall mit Wissen über eine fremde Religion und Kultur, den Islam, beim Transfer in die Literatur geschehen ist. Johann Wilhelm Ludwig Gleims Gedichtzyklus Halladat oder Das rothe Buch ist, wie Gleim selbst bekundet hat, durch eine neue deutsche Koranübersetzung angeregt worden, deren Verfasser Friedrich Eberhard Boysen er gut kannte und deren Entstehung er mitverfolgt hat. Boysen präsentiert in der Vorrede zu dieser Übersetzung eine Sicht auf den Islam, die innerhalb des Spektrums zeitgenössischer Auffassungen1 als eine sachliche, gut informierte und vorurteilskritische gelten kann. Was mit diesem aktuellen Wissen über den Islam in Gleims Gedichtzyklus Halladat geschieht, möchte ich als eine Entspezifizierung bezeichnen: Die Gedichte entwerfen eine Szenerie von unverkennbar ‚morgenländischem‘ Charakter, enthalten aber keinerlei ausdrückliche Referenzen auf den Koran, auf Mohammed oder den Islam. Diese Entspezifizierung ist jedoch nicht darauf zurückzuführen, dass Gleim dem respektvollen Islambild Boysens nicht zugestimmt oder sich nicht dafür

1 Hilfreiche Überblicke über einige Sichtweisen auf den Islam, die von westeuropäischen Gelehrten im 18. Jahrhundert entwickelt wurden, finden sich etwa in der Forschung zu Lessings Verhältnis zum Islam. Vgl. vor allem Karl-Josef Kuschel, Vom Streit zum Wettstreit der Religionen. Lessing und die Herausforderung des Islam, Düsseldorf 1998, bes. S. 53–90, und Silvia Horsch, Rationalität und Toleranz. Lessings Auseinandersetzung mit dem Islam, Würzburg 2004, bes. S. 11–19. Vgl. ferner Andreas Fischer, Vom Konflikt zur Begegnung? Studien zu Islambildern im pädagogischen Jahrhundert Deutschlands, Marburg 2009. Zur Sicht des Islam in französischen und englischen Schriften des 18. Jahrhunderts vgl. Ahmad Gunny, Images of Islam in Eighteenth-Century Writings, London 1996.

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interessiert hätte; sein Umgang mit dem Wissen über den Islam ist vielmehr, so meine These, in wesentlichem Maße durch verschiedene zeitgenössische Diskussionszusammenhänge geprägt, und zwar einerseits durch theologische und philosophische, andererseits durch dichtungstheoretische. Dabei handelt es sich um Diskussionen, die auch bei anderen Autoren des späten 18. Jahrhunderts die Rezeption neuen Wissens über fremde Kulturen beeinflusst haben, und insofern dürfte Gleims Halladat – bei aller Eigenwilligkeit2 – auch einen gewissen symptomatischen Wert besitzen. Im Folgenden wende ich mich zunächst kurz der Koranübersetzung Boysens zu, um anschließend den Gleim’schen Gedichtzyklus selbst in den Blick zu nehmen. Dabei werde ich zum einen genauer beschreiben, was ich hier als Entspezifizierung des Wissens über den Islam bezeichnet habe, und zum anderen herauszuarbeiten versuchen, wie das Gleim’sche Vorgehen durch zeitgenössische Diskurse beeinflusst wurde. In einem weiteren Abschnitt gehe ich knapp darauf ein, wie die orientalischen Elemente von Halladat in der zeitgenössischen Rezeption wahrgenommen wurden.

II Die Koranübersetzung Friedrich Eberhard Boysens Friedrich Eberhard Boysens Koranübersetzung erschien zuerst 17733 und zwei Jahre später in der zweiten Auflage.4 Boysen war Konsistorialrat und Hofprediger in Quedlinburg und dürfte Gleim während des Studiums in Halle um 1740 kennengelernt haben.5 Boysens Übersetzung war erst die zweite deutsche Koranüber-

2 Walter Hettche hat Halladat als ein Werk bezeichnet, das „aus jedem Rahmen der zeitgenössischen literarischen Diskurse fällt“: Es zähle aber „gerade deswegen zu den bemerkenswertesten Gebilden seiner [Gleims, O.K.] Feder“. Walter Hettche, „Nachwort“, in: Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Ausgewählte Werke, Walter Hettche (Hrsg.), Göttingen 2003, S. 583–609, hier S. 602. 3 Vgl. Der Koran, oder Das Gesetz für die Muselmänner, durch Muhammed den Sohn Abdall, nebst einigen feyerlichen koranischen Gebeten, unmittelbar aus dem Arabischen übersetzt, mit Anmerkungen und einem Register versehen, und auf Verlangen herausgegeben von Friedrich Eberhard Boysen, Halle 1773. 4 Vgl. Der Koran, oder Das Gesetz für die Moslemer, durch Muhammed den Sohn Abdall, nebst einigen feyerlichen koranischen Gebeten, unmittelbar aus dem Arabischen übersetzt, mit Anmerkungen und einigen Denkwürdigkeiten aus der Geschichte des Propheten und seiner Reformation, herausgegeben von Friedrich Eberhard Boysen, zweyte verbesserte Ausgabe, Halle 1775. 5 Zu Boysen vgl. Gustav Frank, Art. „Boysen, Friedrich Eberhard“, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 3, Leipzig 1876, S. 226 f. Über sein Studium in Halle (ab etwa 1736) berichtet Boysen ausführlich in: Friedrich Eberhard Boysen, Eigene Lebensbeschreibung. Erster Theil, Quedlinburg 1795, S. 89–173. Gleim studierte von Ende 1738 bis 1741 in Halle; vgl. Hettche, „Nachwort“, S. 584 u. S. 591. Eine Sammlung von Briefen Boysens an Gleim beginnt mit einem Brief von 1741; vgl. Briefe vom Herrn Boysen an Herrn Gleim, Frankfurt a.M./Leipzig 1772.

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setzung, die nicht auf der Grundlage von Übertragungen in andere europäische Sprachen, sondern direkt aus dem Arabischen angefertigt wurde. Die erste deutsche Übersetzung auf der Basis des Originals war nur ein Jahr vor dem Werk Boysens erschienen; sie stammte von David Friedrich Megerlin und enthielt eine Vorrede, die in großer Zahl Motive der christlichen Tradition antiislamischer Polemik versammelte.6 Megerlins Werk erhielt einige vernichtende Rezensionen, die sowohl die Übersetzung als auch die aggressive Polemik der Vorrede kritisierten.7 Boysens Übertragung hingegen wurde, wenn auch nicht ganz ohne Vorbehalte, von den Fachleuten gelobt oder jedenfalls als ein großer Fortschritt gegenüber derjenigen Megerlins gewertet;8 sie blieb bis ins 19. Jahrhundert hinein die deutsche Standardübersetzung des Koran.9 Boysens Werk unterscheidet sich von Megerlins aber auch dadurch, dass er Mohammed und den Islam im

6 Vgl. Die türkische Bibel, oder des Korans allererste teutsche Uebersetzung aus der Arabischen Urschrift selbst verfertiget: welcher Nothwendigkeit und Nutzbarkeit in einer besondern Ankündigung hier erwiesen von M. David Friederich Megerlin, Professor, Frankfurt a.M. 1772; die Einleitung bzw. „Anzeige“ ebd., S. 5–36. Zu Megerlins und Boysens Übersetzungen vgl. Mounir Fendri, „Tradition und Wandel im deutschen Islam-Bild im 18. Jh. im Spiegel zweier Koranübersetzungen: D.F. Megerlin (1772) – F.E. Boysen (1773)“, in: Kairoer Germanistische Studien, 10/ 1997, S. 253–272; Hartmut Bobzin, „Friedrich Rückert und der Koran“, in: Ders. (Hrsg.), Der Koran in der Übersetzung von Friedrich Rückert, mit erklärenden Anmerkungen von Wolfdietrich Fischer, 3., veränderte Aufl. 2000, S. VII–XXXIII, hier S. X–XIII, und J[akob] Minor, Goethes Mahomet. Ein Vortrag, Jena 1907, S. 18–20 u. S. 76–78. 7 Vgl. die Besprechungen in: Allgemeine deutsche Bibliothek, 17/1772, 2, S. 426–437 (unterzeichnet „C. B.“), und Frankfurter Gelehrte Anzeigen vom 22.12.1772. Die zuletzt genannte Rezension ist gelegentlich Goethe zugeschrieben worden; vgl. Fendri, „Tradition und Wandel im deutschen Islam-Bild“, S. 265 f. Fendri nennt dort auch die Forscherinnen und Forscher, die diese Zuschreibung vorgenommen oder bestritten haben. 8 Vgl. die Rezension des namhaften Orientalisten Johann David Michaelis, [Rez. zu Der Koran, oder das Gesetz für die Muselmänner,] in: Ders., Orientalische und Exegetische Bibliothek, achter Theil, Frankfurt a.M. 1775, S. 30–98, hier S. 31: Michaelis erklärt gleich zu Beginn, dass Boysens Übersetzung sich positiv von „andern Uebersetzungen“ abhebe. Vgl. ferner Johann Friedrich Hirt, [Rez. zu Der Koran, oder das Gesetz für die Muselmänner,] in: D. Johann Friedr[ich] Hirts Orientalische und Exegetische Bibliothek, sechster Theil, Jena 1774, S. 341–353, hier S. 342: In Hirts Besprechung heißt es eingangs, die vorliegende Koranübersetzung lasse „die vorhergehende […] weit hinter sich zurücke“, und Hirt fährt fort: „Ich will damit dieser neuen schönen Uebersetzung des arabischen Gesetzbuchs der Mohammedaner nicht eben durchgehends alle Vollkommenheit zueignen, inzwischen bleibt sie im Ganzen betrachtet allemal vortreflich, und bringt ihrem Verfasser in Deutschland Ehre.“ 9 Vgl. Fendri, „Tradition und Wandel im deutschen Islam-Bild“, S. 269. Zu wichtigen deutschen Teilübersetzungen des Koran aus dem späteren 18. und dem frühen 19. Jahrhundert vgl. Bobzin, „Friedrich Rückert und der Koran“, S. XIII f.

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Vorwort dezidiert gegen traditionelle Verunglimpfungen in Schutz nimmt.10 Zu den geläufigen Elementen der antiislamischen Polemik gehörten die Auffassungen, Mohammed sei ein machthungriger und skrupelloser Betrüger gewesen, der zudem ein sexuell ausschweifendes Leben geführt habe, und der Islam insgesamt sei eine unsittliche Religion.11 Begründet wurde die letztere Auffassung vorzugsweise durch Hinweise auf die sinnlichen Schilderungen des Paradieses im Koran und auf die Erlaubnis für Männer, mehrere Frauen zu heiraten. Boysen hingegen entwirft ein sehr positives Bild von Mohammeds Charakter und seinen Zielen. Es sei diesem vor allem um die politische Einigung Arabiens und die Bekämpfung des Aberglaubens gegangen, und um diese Ziele zu erreichen, habe er eine neue Religion eingeführt.12 Dass Mohammed die göttlichen Mitteilungen an ihn nur vorgegeben habe, schreibt wie Megerlin auch Boysen, aber er stellt dies als ein notwendiges Mittel der Autoritätssicherung dar und vermeidet die Rede vom Betrug.13 Was die angebliche Unsittlichkeit des Islam angehe, so spreche der Prophet von der „Seligkeit des zukünftigen Lebens“ zwar tatsächlich sehr „sinnlich“; aber „die vernünftigen Ausleger“, so Boysen, „deuten diese Ausdrücke anders“, und es sei tatsächlich kaum anzunehmen, dass Mohammed „so kindische und alberne Meynungen im Ernst sollte behauptet haben“.14 Boysen gibt in der Vorrede außerdem eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten Lehren des Islam.15 „Der ganze Islam“ werde „in die Dogmatik,

10 Vgl. auch das Urteil Fendris über Boysens Vorrede: Vergleiche man sie mit der Vorrede Megerlins oder generell mit der traditionellen christlichen Polemik, so sei „Boysens Bemühung um ein korrekteres, also gerechteres, Bild vom Islam unübersehbar und sein Verdienst um eine neue, tolerante Sehweise desselben unleugbar.“ Fendri, „Tradition und Wandel im deutschen Islam-Bild“, S. 271. Auch für Kuschel zeigt sich in Boysens „Beurteilung von Mohammeds Person und Botschaft“ ein Bemühen darum, „einige eingewurzelte Vorurteile zu korrigieren“. Kuschel, Vom Streit zum Wettstreit der Religionen, S. 114. 11 Vgl. etwa Horsch, Rationalität und Toleranz, S. 7 u. S. 17. Zur Herausbildung der westlichen Auffassungen über die Unsittlichkeit des Islam im späten Mittelalter vgl. Norman Daniel, Islam and the West. The Making of an Image, revised edition, Oxford 1993, S. 158–185; knappe Bemerkungen zum Fortleben dieser Ansichten in der Neuzeit ebd., S. 302–317. 12 Vgl. Friedrich Eberhard Boysen, „Vorrede“, in: Der Koran, oder Das Gesetz für die Moslemer, zweyte verbesserte Ausgabe, Halle 1775, S. 9–40; ein Abriss der Biographie Mohammeds ebd., S. 18–31, zu dem hier angesprochenen Punkt S. 22 f. 13 Vgl. ebd., S. 23. 14 Ebd., S. 36. Diese Aussage findet sich fast wortgleich auch in der wesentlich kürzeren Vorrede zur ersten Auflage der Übersetzung; vgl. Friedrich Eberhard Boysen, „Vorrede“, in: Der Koran, oder Das Gesetz für die Muselmänner, Halle 1773, S. 9–14, hier S. 14. 15 In der Vorrede zur ersten Auflage ist dieser Abschnitt knapp gehalten; vgl. ebd., S. 13 f. In der zweiten Auflage hat Boysen diesen Teil deutlich erweitert; vgl. Boysen, „Vorrede“, in: Der Koran, oder Das Gesetz für die Moslemer, zweyte verbesserte Ausgabe, Halle 1775, S. 31–36.

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welche Iman heißt, und in die Moral, die der Din genannt wird, eingetheilt.“16 Die Dogmatik fasst Boysen in zehn Sätzen zusammen; sie handeln von dem einen Gott, der göttlichen Vorsehung, dem Sündenfall des Menschen, den Engeln, den Propheten und von dem Gericht, durch das nach dem Weltende die Guten belohnt und die Bösen bestraft werden. Die Moral umfasst Boysens Darstellung zufolge vier Sätze. Diese bestimmen zunächst das Wesen der Frömmigkeit als „Selbstverläugnung, und völlige Ergebung des Herzens an Gott“17 und nennen dann die Handlungen und Verhaltensweisen, in denen sich diese Ergebung zeige; dazu gehören unter anderem Gerechtigkeit und Mildtätigkeit, die Beherrschung der Leidenschaften sowie Gebet, Almosengeben, Fasten und die Wallfahrt nach Mekka.18 Diese Zusammenfassung hat Boysen im Wesentlichen, ohne das zu kennzeichnen, der ausführlichen Vorrede entnommen, die George Sale seiner 1734 erschienenen englischen Koranübersetzung vorangestellt hatte, die 1746 auch ins Deutsche übertragen worden war.19 Diese „Preliminary discourse“ betitelte Vorrede zeichnet sich durch die Heranziehung zahlreicher muslimischer Quellen sowie durch Sachlichkeit und einen für die damalige Zeit ungewöhnlich weitreichenden Vorurteilsabbau aus und gilt bis heute als eine bedeutende Etappe in der Geschichte der europäischen Islamforschung.20 Boysen charakterisiert in seiner Vorrede schließlich auch die sprachliche Form des Koran und gesteht, dass er wesentliche Qualitäten dieser Form in seiner Überzeugung nicht habe wiedergeben können, nämlich „das Melodische“ und den „erhabenen und feurigen Schwung“.21 Er selbst habe den Koran, obwohl dieser sich teilweise einer metrisch gegliederten Sprache bediene, in Prosa übersetzt. In der ersten, 1773 erschienenen Auflage erwähnt Boysen dann, einer seiner Freunde habe darauf gedrängt, dass die „in Sylbenmaaß“ abgefassten Koranteile

16 Ebd., S. 32. 17 Ebd. 18 Vgl. ebd., S. 32 f. 19 Vgl. George Sale, „Vorläuffige Einleitung“, in: Der Koran, Oder insgemein so genannte Alcoran des Mohammeds, unmittelbahr aus dem Arabischen Original in das Englische übersetzt […] von George Sale, Gent, aufs treulichste wieder ins Teutsche verdollmetschet von Theodor Arnold, Lemgo 1746, S. 1–232, zu der Einteilung in „Iman“ und „Din“ ebd., S. 89 f. 20 Vgl. Daniel, Islam and the West, S. 322 f., und Johann Fück, Die arabischen Studien in Europa bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts, Leipzig 1955, S. 104 f. Vgl. auch die knappe Einschätzung bei Bobzin, „Friedrich Rückert und der Koran“, S. X. 21 Boysen, „Vorrede“, in: Der Koran, oder Das Gesetz für die Muselmänner, Halle 1773, S. 10. Nur leicht verändert in Boysen, „Vorrede“, in: Der Koran, oder Das Gesetz für die Moslemer, zweyte verbesserte Ausgabe, Halle 1775, S. 11.

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auch „in Sylbenmaaß gedollmetscht seyn“22 sollten. Im Folgenden druckt Boysen zwei Gedichte ab, die ihm dieser Freund zugeschickt und als „Sure[n]“ eines „zweyten Korans“23 ausgegeben habe. In der zweiten, 1775 publizierten Auflage der Übersetzung erläutert Boysen den Status und die Genese dieser Gedichte etwas genauer: Seine Koranübersetzung sei „einem der berühmtesten Dichter unsres Jahrhunderts, der die Probebogen gesehen hatte, eine Veranlassung geworden […], dem arabischen Propheten nachzuempfinden“.24 Die Gedichte sollen also „Nachahmungen der muhammedischen Muse“25 sein. In der zweiten Auflage nimmt Boysen sie zwar nicht wieder in seine Vorrede auf, teilt aber mit, dass ihr Verfasser bald eine ganze „Sammlung solcher vortreflichen Gesänge“26 veröffentlichen werde. Bei diesem Verfasser handelt es sich um Gleim und bei der Gedichtsammlung um Halladat oder Das rothe Buch.

III Gleims Halladat oder Das rothe Buch: Die Entspezifizierung des Koran-Bezugs und ihre Gründe a) Die orientalisierenden Elemente Das anonym publizierte Werk Halladat oder Das rothe Buch trägt auf dem Titelblatt die Jahresangabe 1774,27 scheint aber erst 1775 erschienen zu sein.28 Im

22 Boysen, „Vorrede“, in: Der Koran, oder Das Gesetz für die Muselmänner, Halle 1773, S. 11. Boysen zitiert an dieser Stelle wörtlich aus einem Brief Gleims; vgl. Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Brief an Friedrich Eberhard Boysen vom 13.06.1773 (Gleimhaus Halberstadt; Signatur Hs. A 4691). Ich danke den Mitarbeiterinnen des Gleimhauses in Halberstadt dafür, dass sie mir ein Digitalisat des Briefs zur Verfügung gestellt haben. Elisabeth Tilmann danke ich für Hilfe bei der Transkription des Briefs. 23 Boysen, „Vorrede“, in: Der Koran, oder Das Gesetz für die Muselmänner, Halle 1773, S. 12. 24 Boysen, „Vorrede“, in: Der Koran, oder Das Gesetz für die Moslemer, zweyte verbesserte Ausgabe, Halle 1775, S. 11. 25 Ebd. 26 Ebd. 27 Vgl. [Johann Wilhelm Ludwig Gleim,] Halladat oder Das rothe Buch, Hamburg 1774. Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden zitiert, und zwar mit dem Kurztitel: Gleim, Halladat. Ein Wiederabdruck dieser ersten Auflage ist mittlerweile leicht zugänglich in: Gleim, Ausgewählte Werke, S. 381–426; vgl. dort auch die Kommentare des Herausgebers auf S. 698–705. 28 Vgl. den Hinweis auf das Werk in: Gothaische gelehrte Zeitungen vom 12.07.1775, S. 449 f. Dort heißt es, Halladat oder Das rothe Buch sei „im vorigen Jahr […] gedruckt, seit der letzten Ostermesse aber erst bey Bode zu haben.“ Vgl. auch Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Brief an Wilhelm Heinse vom 04.06.1774, in: Briefwechsel zwischen Gleim und Heinse. Erste Hälfte, Carl Schüddekopf (Hrsg.), Weimar 1894, S. 175–177. Wie der Herausgeber mitteilt (vgl. ebd., S. 253),

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selben Jahr wie die Erstausgabe kam eine leicht abgeänderte Ausgabe mit dem Zusatz „Zum Vorlesen in den Schulen“ auf dem Titelblatt heraus.29 Halladat besteht aus zwei Teilen, die 15 bzw. 16 Gedichte in Blankversen enthalten.30 In Briefen bezeichnet Gleim Halladat gelegentlich als einen „neuen Koran[ ]“ und

ist dieser Brief, in dem Gleim schreibt, er habe Halladat kürzlich an Heinse verschickt, von ihm offenbar falsch datiert und in Wahrheit 1775 verfasst worden. Dass Halladat erst 1775 erschienen sei, meint auch Hans-Wolf Jäger, „Anakreontiker als Lehrdichter – Zwölf kurze Kapitel“, in: Manfred Beetz/Hans-Joachim Kertscher (Hrsg.), Anakreontische Aufklärung, Tübingen 2005, S. 223–238, zu Halladat S. 230–238; zum Erscheinungsjahr S. 231. Dieser Aufsatz Jägers enthält die, soweit ich sehe, einzige einlässlichere Untersuchung zu Halladat aus jüngerer Zeit; seinen instruktiven Ausführungen sind die folgenden Überlegungen, wie die Fußnoten erkennen lassen, vielfach verpflichtet. Zum Zusammenhang zwischen Boysens Koranübersetzung und Gleims Halladat vgl. ebd., S. 233 f. Jäger ordnet Halladat der Gattung des Lehrgedichts zu und analysiert es unter anderem im Hinblick auf diese Gattungszugehörigkeit; Gleim hat ihm zufolge mit Halladat „lehrpoetisch einen Neubeginn [gesetzt]“. Ebd., S. 232. An anderer Stelle hat Jäger Halladat noch expliziter in der Gattungsgeschichte des Lehrgedichts verortet; vgl. Hans-Wolf Jäger, „Lehrdichtung“, in: Rolf Grimminger (Hrsg.), Deutsche Aufklärung bis zur französischen Revolution, 1680–1789, München 1980, S. 500–544 u. S. 889–892, hier S. 532 f. Jäger betrachtet Halladat dort als Beispiel für die Phase des empfindsamen Lehrgedichts, die durch verschiedene Formen der Auflockerung (etwa durch narrative, monologische oder dialogische Strukturen), durch Subjektivierung und Emotionalisierung charakterisiert sei. Zur Stellung von Halladat in der Geschichte des Lehrgedichts vgl. auch knapp L.L. Albertsen, Das Lehrgedicht. Eine Geschichte der antikisierenden Sachepik in der neueren deutschen Literatur mit einem unbekannten Gedicht Albrecht von Hallers, Aarhus 1967, S. 380–382. Vgl. zu Halladat ferner Ute Pott, Briefgespräche. Über den Briefwechsel zwischen Anna Louisa Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim. Mit einem Anhang bislang ungedruckter Briefe aus der Korrespondenz zwischen Gleim und Caroline Luise von Klencke, Göttingen 1998, S. 53–61, und Minor, Goethes Mahomet, S. 20 f. u. S. 78 f. 29 Vgl. die Anmerkung des Herausgebers in: Gleim, Ausgewählte Werke, S. 698; dieser Angabe zufolge handelte es sich um „eine etwas anders ausgestattete, auch anders gesetzte Ausgabe“. Vgl. auch den Abdruck des Titelblatts ebd., S. 380. 30 Ein dritter Teil erschien offenbar 1776 unter dem Titel Das rothe Buch. Dritter Theil; von ihm wurden aber einem Brief Gleims zufolge nur wenige, für Freunde bestimmte Exemplare gedruckt. Vgl. Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Brief an Anna Louisa Karsch vom 12.10.1776, in: „Mein Bruder in Apoll“. Briefwechsel zwischen Anna Louisa Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Bd. 2, Ute Pott (Hrsg.), Göttingen 1996, S. 112 f., hier S. 112; vgl. auch die Anmerkung der Herausgeberin ebd., S. 417. Ein Exemplar dieser separaten Publikation des dritten Teils war mir nicht zugänglich. In der 1812 erschienenen Werkausgabe Gleims besteht Halladat aus drei Teilen, die dort Bücher genannt werden. Der Textbestand ist im Vergleich zur Erstausgabe aber nicht nur um das dritte Buch erweitert; außerdem sind die zwei ersten Teile jeweils um ein Gedicht ergänzt worden (vgl. das sechzehnte Gedicht des ersten und das erste Gedicht des zweiten Buchs). Vgl. J[ohann] W[ilhelm] L[udwig] Gleim, Halladat, oder das rothe Buch, in: J.W.L. Gleim’s sämmtliche Werke, erste Originalausgabe aus des Dichters Handschriften, Bd. 6, Wilhelm Körte (Hrsg.), Halberstadt 1812, S. 5–184; das dritte Buch ebd., S. 137–184.

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die einzelnen Gedichte als „Sure[n]“;31 die Titel, mit denen die Gedichte versehen sind, könnten teilweise an die Namen der Suren im Koran angelehnt sein: In Boysens Koranübersetzung lauten Überschriften von Suren etwa „Die Kuh“, „Die Ameise“ und „Die Höhle“, in Halladat gibt es „Der Käfer“ und „Der Wurm“, „Die Landschaft“ und „Die Quelle“; im Koran finden sich die Überschriften „Der Barmherzige“ und „Die Heuchler“, bei Gleim „Der reiche Mann“ und „Der Verwalter“.32Als Sprecherinstanz wird im ersten Gedicht von Gleims Halladat-Zyklus ein „Seher Gottes“ eingeführt, der berichtet, wie er zeitweilig aufgrund seiner Enttäuschung über die Schlechtigkeit der Menschen zum einsiedlerischen Misanthropen geworden ist, bis Gott ihn mit einem Ruf vom Himmel wieder zu den Menschen zurückgeschickt hat.33 Auch in anderen Gedichten erzählt der Seher Episoden aus seiner geistigen Biographie, in denen er Anfechtungen etwa in Form von Zweifeln an der Güte Gottes ausgesetzt oder auf Irrwege wie den des Pantheismus oder der Menschenfeindlichkeit geraten war.34 Diese Verirrungen werden entweder durch direkte Intervention Gottes oder aber durch Belehrungen eines weisen Freundes beendet. In anderen Gedichten spricht der Seher die Menschen wie eine Gemeinde an und belehrt sie über das Wesen Gottes und des gottgefälligen Lebens. Teils haben diese Gedichte mahnenden oder predigenden Charakter,35 teils suchen sie eher die rechte Haltung der Andacht und Verehrung selbst vorzuführen und nähern sich dann einem hymnischen, manchmal auch gebetsähnlichen Ton.36 Vor allem im zweiten Teil finden sich etliche Gedichte erzählender Art, in denen richtige oder falsche Haltungen anhand von Figuren

31 So in Briefen an Heinse, dem Gleim die ersten Fassungen der Gedichte schickte. Vgl. etwa Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Brief an Wilhelm Heinse vom 20.06.1773, in: Briefwechsel zwischen Gleim und Heinse. Erste Hälfte, S. 135: „Da lesen Sie, mein bester Freund, die zweyte Sure des neuen Korans“. Für die Rede von Halladat als einem „Koran“ vgl. auch Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Brief an Gotthold Ephraim Lessing vom 08.02.1774, in: Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 11.2, Helmuth Kiesel (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1988, S. 620 f., hier S. 621. 32 Vgl. das „Verzeichniß der Kapitel“ in: Der Koran, oder Das Gesetz für die Muselmänner, Halle 1773, S. 15 f., und Gleim, Halladat, S. 25 („Der Wurm“), S. 36 („Der Käfer“), S. 53 („Der Verwalter“), S. 55 („Der reiche Mann“), S. 64 („Die Quelle“) u. S. 72 („Die Landschaft“). 33 Vgl. ebd., S. 5–8 (1. Teil, Gedicht I: „Der Beruf“); die Wendung „Seher Gottes“ auf S. 5 u. S. 8. 34 Zum Pantheismus vgl. ebd., S. 15 f. (1. Teil, Gedicht IV: „Die Stimme“). Zu Zweifeln an der Güte oder Allmacht Gottes, die durch die Wahrnehmung des Bösen in der Welt bewirkt werden, vgl. ebd., S. 32–35 (1. Teil, Gedicht XI: „Amatabas“). 35 Vgl. etwa die folgenden Gedichte des ersten Teils: „VIII. Der Wurm“, „X. Der Zweifler“, „XII. Der Käfer“. 36 Vgl. die folgenden Gedichte des ersten Teils: „II. Gott“, „V. Die Seele“, „XV. Die Aussicht“.

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und ihren Geschichten demonstriert werden.37 In stilistischer Hinsicht sind viele Gedichte durch einen vorwiegend parataktischen Satzbau und durch zahlreiche Wiederholungen geprägt. Insbesondere die zentralen Lehren der Gedichte werden oft in kurzen, schlichten Sätzen formuliert, die mindestens einmal, häufig aber mehrfach wiederholt werden: „Der Seher Gottes ist ein Menschenfreund!“,38 „Geschöpfe, betet an!“,39 „Gott ist Gott!“,40 „Gräme dich / Deswegen nicht“,41 „Murr’ ihm [Gott, O.K.] nicht!“42 Daneben finden sich in den meisten Gedichten zahlreiche Anaphern und Wiederholungen von Sätzen oder Satzteilen, die in vielen Fällen der Rhythmisierung dienen dürften, in vielen aber auch der emphatischen Hervorhebung.43 Dass in Halladat eine zentrale Sprecherfigur profiliert wird, verbindet dieses Werk mit anderen Gedichtsammlungen Gleims, insbesondere mit den anakreontischen Gedichten in seinem Versuch in Scherzhaften Liedern und mit der Sammlung Preußische Kriegslieder, die einen Grenadier als fiktiven Verfasser einführte. Ein grundsätzliches Deutungsproblem, das alle diese Werke aufwerfen, besteht in der Frage nach der Beziehung zwischen Autor und Sprecherfigur, also nach dem Maße, in dem entweder eine Identifikation Gleims mit seiner Rolle oder aber eine Distanz zu ihr anzunehmen ist.44 Es ist keineswegs sicher, dass diese Frage für

37 Exempel für falsches Verhalten liefern etwa die folgenden Gedichte des zweiten Teils: „III. Der reiche Mann“, „X. Die Flucht“, „XI. Der Abgesandte“. Exempel für richtiges Verhalten bieten (wiederum im zweiten Teil): „IV. Die häuslichen Freuden“, „V. Die Quelle“, „VI. Die Beerdigung“. 38 Ebd., S. 5 u. S. 8. 39 Ebd., S. 9–12. 40 Ebd., S. 14 f. u. S. 16 f. 41 Ebd., S. 64 f. 42 Ebd., S. 80 f. 43 Klopstock, dem Gleim das Manuskript von Halladat zugeschickt hatte, empfand den Gebrauch von Wiederholungen offenbar als zu weit getrieben; er schrieb an Gleim: „Ihr rothes Buch hat mir keine kleine Freude gemacht. Es hat sehr viel neues in Sache u ausführung; nur etliche lyrische Wiederholungen wünscht ich heraus, u hier u da eine kleine Härte.“ Friedrich Gottlieb Klopstock, Brief an Johann Wilhelm Ludwig Gleim vom 25.02.1774, in: Briefe 1773–1775, Bd. 1, Annette Lüchow (Hrsg.), Berlin/New York 1998, S. 135. 44 Vgl. dazu Ernst Rohmer, „Der ‚Personalcharakter‘ in der Lyrik Johann Wilhelm Ludwig Gleims. Untersuchungen zum Dichtungsverständnis an einem Beispiel aus den ‚Liedern für das Volk‘“, in: Hans-Joachim Kertscher (Hrsg.), G.A. Bürger und J.W.L. Gleim, Tübingen 1996, S. 14–28. Rohmer zufolge hat Gleim in den Liedern für das Volk, aber auch im Versuch in Scherzhaften Liedern, anhand der Sprecherinstanzen ‚Personalcharaktere‘ gestalten wollen; es handle sich um Rollen, die der Dichter spiele und die nicht mit ihm identifiziert werden dürfen. Vgl. dazu und zu dem dichtungstheoretischen Hintergrund dieses poetischen Verfahrens ebd., bes. S. 25–28. Zur großen Bedeutung der „Rollenlyrik“ in Gleims Schaffen vgl. auch Hettche, „Nachwort“, S. 595 f. u. S. 601; der Ausdruck „Rollenlyrik“ auf S. 596. Hettche betont ähnlich wie Rohmer, dass in der Deutung dieser Gedichte die Differenz zwischen Rolle und Autor zu beachten sei. Rohmer und Hettche beziehen

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alle von Gleim geschaffenen Rollen in gleicher Weise beantwortet werden kann. Für Halladat aber ist, wie später noch deutlich werden soll, ein hohes Maß an Identifikation Gleims mit seiner Sprecherfigur anzunehmen. Zunächst aber sei der Frage nachgegangen, wie sich in Halladat die Anregung durch den Koran niedergeschlagen hat. Als Erstes fällt in dieser Hinsicht auf, dass der „Seher Gottes“ offenbar in einem Land des Orients lebt, das allerdings nicht genau benannt wird. Den orientalischen Charakter erhalten die Figur und ihre Umgebung in erster Linie durch den Gebrauch morgenländisch klingender Namen von Personen, Tieren und Orten, die größtenteils in Anmerkungen erläutert werden. So ist in einem Gedicht von einem „Millot“, einem „Arrah“, einem „Bannadar“ und einer „Lißba“45 die Rede, und in Anmerkungen erfährt der Leser, dass diese Namen einen kleinen Käfer, einen großen Adler, einen ungeheuren Felsen und eine Purpurschnecke bezeichnen. Tatsächlich scheint Gleim, wie er selbst in Briefen erklärt und wie die Forschung bestätigt oder zumindest wahrscheinlich gemacht hat, alle diese Namen erfunden zu haben.46 Namen realer Personen und Orte findet man in dem Buch nicht. Das Wort „Halladat“ taucht im neunten Gedicht des ersten Teils auf, in dem der Sprecher eine Figur namens Adazull anspricht und seine Sehnsucht ausdrückt, die Stimme dieses Adazull zu hören und in seinem „tiefern Halladat“47 zu lesen. Eine Anmerkung liefert die folgende Erläuterung zu diesem Wort: „Halladat, ein rothes Buch, in welchem der Weise seine besten und freyesten Gedanken niederschreibt, und in seinem tiefsten Gewahrsam aufbehält, bis er einen Weisen findet, dem er ohne Sorgen alles offenbaren darf.“48 Am Rande sei vermerkt, dass diese Anmerkung mit dem frei denkenden Weisen einen Rollentyp aufruft, der sich von dem des „Seher[s] Gottes“ unterscheidet. Das Wort „Seher“ wurde im hier interessierenden Zeitraum zwar in unterschiedlichen Bedeutungen verwendet, aber die gebräuchlichste und sich

sich in ihren Thesen hauptsächlich auf Gleims anakreontische Gedichte, auf seine Kriegslieder und auf die Lieder für das Volk; ihre diesbezüglichen Thesen können hier nicht diskutiert, sollen also auch nicht in Frage gestellt werden. 45 Gleim, Halladat, S. 11 (1. Teil, Gedicht II: „Gott“). 46 Vgl. Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Brief an Christoph Martin Wieland vom 20.03.1774, in: Wielands Briefwechsel, Bd. 5, Hans Werner Seiffert (Hrsg.), Berlin 1983, S. 241, und Gleim, Brief an Lessing vom 08.02.1774, S. 620 f. Vgl. ferner Jäger, „Anakreontiker als Lehrdichter“, S. 232: Jäger teilt dort mit, er habe eine Liste mit den exotisch klingenden Wörtern und Namen aus Halladat erstellt und sie „Hebräisten und Arabern vorgelegt – erfolglos, außer daß ein von Gleim mehrfach für einen Felsen verwendetes ‚Bannadar‘ im Arabischen möglicherweise ‚Felsen‘ heißen kann. Sonst so gut wie nichts. Gleim scheint diese exotischen Töne erfunden zu haben – eine Leistung.“ 47 Gleim, Halladat, S. 28. 48 Ebd.

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immer mehr durchsetzende Bedeutung war die des vates oder Propheten;49 dass das Wort bei Gleim in der Verbindung „Seher Gottes“ verwendet wird und dass diese Seherfigur in seinen Gedichten tatsächlich Mitteilungen von Gott erhält, legt eine Deutung in diesem Sinne besonders nahe. Mit den Ausdrücken „weise“ oder „Weiser“ hingegen charakterisierte man meist jemanden, der sich durch besondere Verständigkeit oder Vernünftigkeit, durch breites Wissen und durch moralische Einsichten auszeichnet, also durch eine besonders hochwertige Ausbildung von Fähigkeiten, die allen Menschen eigen sind.50 Dafür, dass der Ausdruck „der Weise“ in der Anmerkung in Halladat in einem solchen Sinne gemeint ist, spricht vor allem, dass dieser Weise seine „besten und freyesten Gedanken“ in das Buch schreibt, nicht etwa göttliche Botschaften. Dieses Nebeneinander der Figuren des Sehers und des Weisen ist unter anderem deshalb von Interesse, weil es in Gleims Selbstentwurf als Autor von Halladat eine vergleichbare Zweiteilung gibt, auf die später noch kurz einzugehen ist. Um auf die orientalisierenden Elemente in Halladat zurückzukommen: Seine morgenländische Färbung gewinnt das Buch, wie erwähnt, in erster Linie durch die erfundenen, aber orientalisch klingenden Namen. Ansonsten wird orientalisches Dekor nur behutsam eingesetzt. Die Landschaften, in denen sich die narrativen Partien abspielen, werden nur in knappster und einfachster Weise skizziert, etwa durch die Erwähnung eines hohen Felsens oder einer Wüste, eines Bachs oder eines Palmenhains.51 Was hingegen die Themen der Gedichte angeht, so lassen sie keinen spezifisch orientalischen oder gar islamischen Charakter erkennen. Dabei könnte die inhaltliche Großstruktur des Buchs durchaus von Boysens Ausführungen über die zwei Teile des Islam – „Iman“ und „Din“, Dogmatik und Moral – beeinflusst sein: Wie schon die zeitgenössischen Rezensenten bemerkten, kreist der erste Teil von Halladat vorwiegend um Gott, während der zweite Teil vor allem Fragen der rechten Lebensführung behandelt.52 Aber wenn dieser Aufbau durch Boysens Darlegungen über „Iman“ und „Din“ angeregt war,

49 Vgl. Jacob Grimm/Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Nachdruck, Bd. 16, München 1984 [dieser Band zuerst 1905], Sp. 145 f. 50 Vgl. ebd., Bd. 28, München 1984 [dieser Band zuerst 1955], Sp. 1012–1045 (Einträge „weise, adj.“ und „weise, m.“). 51 Ein hoher Felsen findet sich im dritten Gedicht, ein Hain im vierten und neunten Gedicht, ein Palmenhain im elften Gedicht des ersten Teils; eine Wüste wird im sechsten Gedicht, ein Bach im vierten und im sechsten Gedicht des zweiten Teils erwähnt. 52 Vgl. [Christoph Martin] W[ieland], [Rez. zu Gleim, Halladat,] in: Der Teutsche Merkur, 1775, 2, S. 281–285, hier S. 285: „Das Ganze ist in zwey Theile getheilt, wovon der Erste auf eine unmittelbarere Art Gott, und der Andre den Menschen zum Gegenstande hat.“ Vgl. ferner [Georg Simon Klügel,] [Rez. zu Gleim, Halladat,] in: Allgemeine deutsche Bibliothek, 35/1778, 2, S. 496–499, hier S. 498: „Der zweyte Theil ist mehr moralischen Inhalts; da der erste größtentheils die Lehre von

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so ist dies kaum zu erkennen, denn die Lehren in den zwei Teilen von Gleims Buch enthalten keine Bezugnahmen auf den Islam und dürften die Leser eher an Vorbilder aus der zeitgenössischen deutschen bzw. europäischen Literatur erinnert haben. So hat Hans-Wolf Jäger die Themen wie die Sprechweisen des Werks als ein Gemisch aus Elementen diverser poetischer und ideologischer Strömungen charakterisiert: Gleim verbinde aufklärerische Gedanken wie die Theodizee und das Lob des väterlichen Herrschers mit Motiven der Anakreontik und der Geßner’schen Schäferidyllen, mit empfindsamen Lobgesängen auf Freundschaft, Familie und häusliche Freuden und schließlich mit Anklängen an die Dichtung Klopstocks.53 Wie diese von Jäger prägnant beschriebene Amalgamierung verschiedener Richtungen „zeitgenössischer Poesie und zeitgenössischer Gefühligkeit“54 konkret aussieht, kann am Beispiel des Gedichts „Amatabas“ verdeutlicht werden, in dem das Theodizee-Problem verhandelt wird.55 „Amatabas“, so erfährt man im Text, ist der Name des Gottes des Bösen. Der Sprecher erzählt, wie er einst durch das Böse in seiner Umgebung zu traurigem Grübeln über die Frage veranlasst wurde, weshalb der allmächtige Gott in seiner Welt diesen Amatabas herrschen lasse. Während er sich diesen düsteren Gedanken überlässt, gesellt sich ein gewisser „Rama Thulides, / Der Tröster der Betrübten“, zu ihm und belehrt ihn, dass der Gott des Bösen nur ein „schwacher Gott“ und ebenso wie die Menschen „[v]on dem Erschaffenden erschaffen“56 worden sei. Dann folgt das entscheidende Argument des Rama Thulides: „[…] Sieh’, Armer, sieh hinauf, „Unzählige der Sonnen über dir „Beleuchten deines Gottes Werke, stehn „In ewigem Gehorsam unter ihm,

Gott, und etwas aus der Theodicee enthält.“ Näheres zu diesen Rezensionen unten, in Abschnitt IV. des vorliegenden Aufsatzes. 53 Vgl. Jäger, „Anakreontiker als Lehrdichter“, S. 233 f. Hinzufügen könnte man, dass Gleim sich zumindest an einer Stelle auch kritisch von einer Strömung innerhalb der zeitgenössischen Dichtung abzugrenzen scheint, nämlich von der sogenannten ‚Gräberpoesie‘, wie sie etwa durch Friedrich Carl Casimir von Creutz’ philosophisches Gedicht Die Gräber (1760) repräsentiert wurde: Im zehnten Gedicht des ersten Teils wird ein „finstrer Böser“, dem „Gottes Sonne nicht / Die Stirn erheitert“, von der Sprecherinstanz getadelt. Gleim, Halladat, S. 77. Den Blick dieses Bösen vergleicht der Sprecher mit dem eines „armen Ungetrösteten, der sich / Das Ende seiner Tage wünscht; er sieht / Ein offnes Grab, betrachtet es und seufzt: / Wär’ es für mich! O Böser, solch ein Blik, / Vor deinem Gott, ist dieser, welcher uns / In Schrekken setzt.“ Ebd., S. 77 f. 54 Jäger, „Anakreontiker als Lehrdichter“, S. 233. 55 Vgl. Gleim, Halladat, S. 32–35 (1. Teil, Gedicht XI). 56 Ebd. S. 33 f.

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„Wie? wenn aus allen diesen Erden, und „Aus allen diesen Feuerkugeln Gott „Was möglich war in Geist und Körperwelt „Erschaffen wollte? Wenn er wollte, daß „In allem seinem Raum und seiner Zeit, „Was möglich war in Geist und Körperwelt, „Entstehen sollte? Mußte dann nicht auch „Amatabas? – Und kein Geschöpfe darf „Den Schöpfer fragen, was er will; er ist „Dem Fragenden ein guter Gott – “ […]57

Gleims Figur variiert hier einen Gedanken, der eine bis in die Antike zurückreichende Geschichte hat und von Arthur Lovejoy als „principle of plenitude“ bezeichnet wurde: Dieser Gedanke besagt, vereinfacht ausgedrückt, dass alles, was existieren oder was von Gott geschaffen werden kann, tatsächlich existiert oder jedenfalls irgendwann Wirklichkeit wird.58 Gleims gebildeten Zeitgenossen dürfte diese Annahme vor allem aus der Philosophie Leibniz’ und Wolffs geläufig gewesen sein.59 Deren Antworten auf das Theodizee-Problem sind allerdings um einiges komplexer als die bei Gleim skizzierte Argumentation: Die zitierten Belehrungen des Rama Thulides lassen offen, warum ein gütiger Gott alles, „[w]as möglich war in Geist und Körperwelt“, erschaffen sollte, wenn dies auch die Erschaffung des Bösen impliziert, und sie sagen nichts zu den in den einschlägigen Debatten intensiv diskutierten Fragen, wie viel Freiheit Gott bei der Erschaffung der Welt besaß und wie es um den freien Willen des Menschen bestellt ist. In dem Gedicht endet an dieser Stelle der argumentative Teil, und es folgt eine Szene 57 Ebd., S. 34 f. 58 Vgl. Arthur O. Lovejoy, The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea, New York 1960 [zuerst 1936]; zum „principle of plenitude“ ebd., bes. S. 52. Obwohl bekanntlich die theoretischen Grundannahmen, die Vorgehensweise und diverse historische Thesen der Studie Lovejoys vielfach kritisiert worden sind, hat sich die Begriffsprägung „principle of plenitude“ durchgesetzt. Allerdings ist kritisch eingewandt worden, dass die von Lovejoy unter diesen Namen subsumierten Konzepte sich teilweise erheblich unterscheiden und dass daher die Rede von einem Prinzip irreführend sei. Vgl. Jaakko Hintikka, „Gaps in the Great Chain of Being: An Exercise in the Methodology of the History of Ideas“, in: Proceedings and Addresses of the American Philosophical Association, 49/1975/76, S. 22–38, bes. S. 24–27. 59 Zum „principle of plenitude“ bei Leibniz und zur Rolle dieses Prinzips in seiner Theodizee vgl. Lovejoy, The Great Chain of Being, S. 223–225. Für Wolffs Adaption des genannten Prinzips vgl. etwa Christian Wolff, „Vernünfftige Gedancken Von Gott, Der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt“, in: Gesammelte Werke, 1. Abt., Bd. 2, Jean École u.a. (Hrsg.), Hildesheim u.a. 1983, S. 350. Zur weiten Verbreitung dieses Prinzips bei Denkern der deutschen Aufklärung vgl. auch Thomas P. Saine, Von der kopernikanischen bis zur Französischen Revolution. Die Auseinandersetzung der deutschen Frühaufklärung mit der neuen Zeit, Berlin 1987, S. 56.

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im Stil der empfindsamen Freundschaftsdichtung: Nachdem er von Rama Thulides die zitierte Belehrung empfangen hat, liegt der Sprecher „[m]it angeschmiegtem, blassem Angesicht“ an der „Brust“ seines „Trösters“, horcht auf „[d]es Gottergebnen Weisen Herzensschlag“, bedenkt dessen „Weisheit“ und sieht nun „im Finstern und im Hellen“ nur noch „den guten Gott“.60 Sowohl der gedankliche Gehalt dieses Gedichts als auch die narrative Einkleidung dürften Gleims Lesern also aus der zeitgenössischen deutschen und europäischen Literatur vertraut gewesen sein, so dass allein die Namen der Figuren als fremdartiges Element übrig bleiben. Ähnliches lässt sich auch über die Gedichte des zweiten Teils von Halladat sagen, in denen moralische Lehren anhand von positiven und negativen Exempeln vermittelt werden. Als vorbildliche Beispiele werden in drei Gedichten ein Mann namens Ebarit Abuladott sowie seine Eltern präsentiert.61 Sie zeichnen sich aus durch Weisheit, durch Dankbarkeit gegenüber Gott und durch zärtliche Liebe zueinander. Doch es fällt schwer, in den Schilderungen dieser tugendhaften Familie etwa eine Kritik an Klischees über unsittliche und barbarische Araber zu sehen, da die Figuren allein durch den exotischen Namen als Bewohner des Morgenlandes ausgewiesen werden, ansonsten aber vor allem Tugendexempeln aus der Literatur der Aufklärung und Empfindsamkeit ähneln.

b) Gleims Absichten und die philosophischen, theologischen und poetologischen Diskussionen im Hintergrund Die kurze Beschreibung von Gleims Halladat sollte vor allem deutlich machen, inwiefern sich zwischen Boysens Koranübersetzung und Gleims Gedichtsammlung eine Entspezifizierung vollzogen hat. Im Folgenden möchte ich nun knapp zu rekonstruieren versuchen, wie es zu dieser Reduktion räumlicher und historischer, kultureller und religiöser Spezifika kam. Zunächst gilt es zu betonen, dass Gleim der positiven oder zumindest sachlichen und vorurteilskritischen Sicht auf Mohammed und den Islam, die Boysen in seiner Vorrede vertrat, weder ablehnend noch desinteressiert gegenüberstand. In einem Brief an Boysen widerspricht Gleim entschieden der verbreiteten Verurteilung Mohammeds als „Betrüger“ und behauptet sogar, „beweisen“ zu können, dass „Mahomet“ ein „Gottgeliebter

60 Gleim, Halladat, S. 35. 61 Vgl. ebd., S. 59–69 (2. Teil, Gedichte IV: „Die häuslichen Freuden“, V: „Die Quelle“, VI: „Die Beerdigung“).

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großer Mann“62 gewesen sei; Gleims Formulierungen erwecken den Eindruck, dass er tatsächlich genaue Vorstellungen davon hatte, wie er diesen Beweis führen könnte.63 Dass in Halladat von Mohammed gleichwohl nicht die Rede ist, muss also andere Gründe als kritische Vorbehalte oder Desinteresse gegenüber dem Propheten haben. Mir scheint, dass die Art und Weise, wie Gleim die Anregung durch Boysens Koranübersetzung produktiv umgesetzt hat, entscheidend durch das Zusammentreffen bestimmter philosophischer, theologischer und dichtungstheoretischer Diskussionsstränge geprägt war. Einer dieser Stränge besteht in den das 18. Jahrhundert durchziehenden Diskussionen über die natürliche Religion, also über einen angenommenen Grundbestand religiöser Wahrheiten, der allen Menschen allein aufgrund ihres Verstandes, ohne Zutun der göttlichen Offenbarung, zugänglich sei. Zu diesen grundlegenden Wahrheiten rechnete man vor allem die Annahmen, dass es einen einzigen Gott gebe, dass er durch Frömmigkeit und Tugend zu verehren sei und dass er nach dem Tod gerechte Belohnungen und Strafen verteilen werde.64 Aus vielen Gedichten und Briefen Gleims geht hervor, dass dieses Konzept einer natürlichen Religion für ihn große Bedeutung besaß.65

62 Gleim, Brief an Boysen vom 13.06.1773. Auf diesen Brief und die zitierte Äußerung wird bereits hingewiesen bei Jäger, „Anakreontiker als Lehrdichter“, S. 236, Anm. 51. Gleim bezeichnet „Mahomet“ auch als „großen Mann, der den grösten theil der Menschen von den vielen Göttern zu dem Einen Gott zu bekehren gewußt hat“. Gleim, Brief an Boysen vom 13.06.1773. 63 Gleim schreibt, dass er sich bei diesem Beweis auch auf „des großen Spaldings Buch von der Nutzbarkeit des Predigt Amts“ stützen würde. Ebd. Gemeint ist offenbar [Johann Joachim Spalding,] Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung, Berlin 1772. 64 Vgl. etwa David A. Pailin, Art. „Natürliche Religion. II. Theologie und Religionsphilosophie vom 17. Jh. bis zur Gegenwart“, in: Gerhard Müller u.a. (Hrsg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 24, Berlin/New York 1994, S. 80–85, und Peter Byrne, Natural Religion and the Nature of Religion. The Legacy of Deism, London/New York 1989. 65 Vgl. etwa Gleims Gedicht „An Dich“, in: J.W.L. Gleim’s sämmtliche Werke, erste Originalausgabe aus des Dichters Handschriften, Bd. 5, Wilhelm Körte (Hrsg.), Halberstadt 1812, S. 223–225; das Gedicht beginnt mit den Versen: „Die große Bibel der Natur / Liegt aufgeschlagen!“ Ebd., S. 223. Kritik an der institutionalisierten Theologie und am Klerus wird etwa in folgenden Gedichten ausgedrückt: „Unser Erzbischof“ (ebd., S. 23), „Der Hohepriester und der Laye“ (ebd., S. 39), „An unsre Streit-Theologen“ (ebd., S. 41), „An Herder“ (ebd., S. 220–222). Zu einigen dieser Gedichte, den in ihnen artikulierten religiösen und philosophischen Positionen und ihrer Nähe zu Halladat vgl. auch Wilhelm Totok, Das Problem der Theodizee in der deutschen Gedankenlyrik der Aufklärung, Marburg 1948, S. 115 f. Totok behandelt Gleim in einem Kapitel mit der Überschrift „Die Theodizee unter deistischem Einfluss“. Ebd., S. 115. In Körtes Gleim-Biographie von 1811 heißt es über Gleims Haltung zur Religion: „Ihm war die äußere Religion nur eine von den Vätern angeerbte Form der göttlichen Erkenntniß und Verehrung. Das Heilige selbst war ihm etwas durchaus Eigenmächtiges, welches der Vernunft zu unterwerfen jedes Mündigen Pflicht sey. – Die Gottheit war in ihm, er verleugnete sie nirgends, aber er unterwarf sie überall der Vernunft, dem Gewissen,

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Dieser Umstand dürfte dazu beigetragen haben, dass er ohne Weiteres zu akzeptieren bereit war, dass auch Muslime im Besitz der wesentlichen Wahrheiten der Religion sein können. Zugleich mag das Konzept der natürlichen Religion bei Gleim auch die Neigung befördert haben, spezifische Glaubensinhalte oder Praktiken einzelner positiver Religionen für wenig wichtig anzusehen. Doch Gleims Annahmen über die natürliche Religion hätten ihn zu verschiedenen Arten der produktiven Reaktion auf die Koranübersetzung motivieren können. So dürfte er mit der von verschiedenen Gelehrten und Schriftstellern entwickelten Auffassung vertraut gewesen sein, dass der Islam eine besonders vernünftige Religion sei, deren Lehren sich weitgehend auf die der natürlichen Religion beschränken: Lessing hatte diese Ansicht schon etwa zwanzig Jahre vorher in der Rettung des Hier. Cardanus durch einen fiktiven Moslem vertreten lassen, um damit den Islam gegen Vorurteile und Verunglimpfungen zu verteidigen.66 Boysen wiederum hob in der Vorrede zu seiner Koranübersetzung hervor, Mohammed habe „eine philosophische Religion einführen“67 wollen, wobei er unter einer philosophischen Religion in etwa dasselbe wie eine vernünftige oder natürliche Religion verstanden haben dürfte. Der Orientalist Michaelis schließlich erklärte es in seiner Rezension zu Boysens Koranübersetzung für „[o]ffenbahr“, dass nach der Religion, die in der Bibel gelehret wird, keine so vernünftige ist, als die Muhammedanische, die beynahe den ganzen Inhalt der natürlichen Religion, sonderlich die Lehre von einem einzigen allmächtigen und unendlichen Gott, und einem zukünftigen Leben, in dem gestraft und belohnet wird, beybehält.68

Falls Gleim sich der Auffassung von dem vernünftigen Charakter der islamischen Religion angeschlossen hat – was man angesichts seiner zitierten brieflichen Äußerungen über Mohammed vermuten kann –, so hätte er in seiner dichterischen Reaktion auf Boysens Koranübersetzung versuchen können, diese Eigenschaften des Islam herauszustellen und ihn auf diese Weise aufzuwerten.

dem Herzen, seinem Herzen, das allenthalben nur das Gute wollte, und glücklich lebte und webte in dem Gefühl wahrhafter Güte und Liebe.“ Wilhelm Körte, Johann Wilhelm Ludewig Gleims Leben. Aus seinen Briefen und Schriften, Halberstadt 1811, S. 333; vgl. auch ebd., S. 332–337. 66 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing, „Rettung des Hier. Cardanus“, in: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 3, Conrad Wiedemann (Hrsg.), Frankfurt a.M. 2003, S. 198–223, hier S. 214–217. Zur Deutung des Islam in dieser Schrift Lessings vgl. Horsch, Rationalität und Toleranz, S. 29–41, und Kuschel, Vom Streit zum Wettstreit der Religionen, S. 91–101. 67 Boysen, „Vorrede“, in: Der Koran, oder Das Gesetz für die Muselmänner, Halle 1773, S. 13. Ebenso Boysen, „Vorrede“, in: Der Koran, oder Das Gesetz für die Moslemer, zweyte verbesserte Ausgabe, Halle 1775, S. 35. 68 Michaelis, [Rez. zu Der Koran, oder das Gesetz für die Muselmänner,] S. 31.

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Dass Gleim die Gedichte von Halladat nicht einem solchen Versuch widmete, lag insbesondere daran, dass die Begegnung mit der Koranübersetzung bei ihm mit anderen Vorstellungen und Ambitionen zusammentraf. In einem Brief an Lessing schildert er die Genese von Halladat wie folgt: Das ganze Geheimnis aber ist dieses: Ich wollte schon in meiner ersten Jugend immer eine Bibel schreiben. Dieser Gedanke kehrte bei manchem Anlaß, und bei dem bekannten Streit über die Inspiration, von dem ich mit unsern Gelehrten zu sprechen mehrmalen Gelegenheit hatte, fast täglich immer lebhafter zurück – Ich hörte den Hofrat Michaelis zu Göttingen und den Consistorialrat Boysen zu Quedlinburg von dem göttlichen Mahomet sprechen, wie meinen Leßing vom göttlichen Homer – Boysen aber sagte den vorigen Sommer mir, von s. Übersetzung des Korans, Ich behauptete, daß Verse müßten in Verse gedolmetschet werden, und wollt’ ihm eine Probe, nur der Versart, geben, es wurden der Proben zweie, dreie etc. und so entstand in wenigen Wochen, in wenigen Stunden könnt’ ich mit recht sagen, das rote Buch, und hätt’ ich dem Genius, der mich in mancher Morgenstunde zu dreien Capiteln begeisterte, längere Besuche verstatten können, so würde, glaub’ ich noch mehr als ein Koran entstanden sein.69

Was diesem Brief zufolge den entscheidenden Impuls zur Konzeption von Halladat lieferte, war Gleims seit langem gehegter Wunsch, „eine Bibel [zu] schreiben“: ein Wunsch, der durch verschiedene jüngere Erfahrungen wieder wachgerufen wurde und konkretere Gestalt erhielt. Zu diesen Erfahrungen gehörte zunächst der „bekannte[ ] Streit über die Inspiration“; damit ist offensichtlich die theologische Diskussion um die göttliche Eingebung der Bibel gemeint, die aufgrund der beginnenden historisch-kritischen Bibelforschung an Dringlichkeit und Brisanz gewann. Einer der wichtigsten Kritiker der orthodoxen Lehre von der Verbalinspiration war der in Halle lehrende Theologe Johann Salomo Semler, dessen Werk Gleim gekannt zu haben scheint und dessen Andenken er später in einem Epigramm ehren sollte.70 Wie Gleim sich durch diese Debatte in seinem alten Wunsch, eine Bibel zu schreiben, bestätigt fühlen konnte, wird in dem Brief nicht recht deutlich und lässt sich, wie mir scheint, auch nicht ohne Weiteres erschließen. Vielleicht hat Gleim aus neueren theologischen Erörterungen den Schluss gezogen, dass eine ähnliche Inspiration, wie sie den Verfassern der biblischen

69 Gleim, Brief an Lessing vom 08.02.1774, S. 620 f. 70 Zu Semler, seiner Bibelhermeneutik und seiner Kritik der Lehre von der Verbalinspiration vgl. Ulrich Barth, „Hallesche Hermeneutik im 18. Jahrhundert. Stationen des Übergangs zwischen Pietismus und Aufklärung“, in: Manfred Beetz/Giuseppe Cacciatore (Hrsg.), Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung, Köln u.a. 2000, S. 69–98, hier S. 83–96, und Gottfried Hornig, Die Anfänge der historisch-kritischen Theologie. Johann Salomo Semlers Schriftverständnis und seine Stellung zu Luther, Göttingen 1961, bes. S. 56–115. Das Epigramm Gleims auf Semler findet sich in: J.W.L. Gleim’s sämmtliche Werke, Bd. 5, S. 76.

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Schriften zuteil wurde, ebenso einem neuzeitlichen Dichter, also auch ihm geschenkt werden könnte. Jedenfalls deutet seine Äußerung darauf hin, dass es ihm mit dem Wunsch, eine Bibel zu schreiben, so ernst war, dass er dafür einen Rückhalt in der zeitgenössischen Theologie suchte. Deutlicher wird in dem Brief, welchen Anstoß Gleim von der Koranübersetzung Boysens erhielt: Dass Boysen den Koran in Prosa übersetzte, veranlasste Gleim dazu, eine Koranimitation in Versform zu verfassen, da er diese Form für unverzichtbar hielt. Bestand seine Absicht zunächst allein darin, Boysen „eine Probe […] der Versart“ zu geben, so ging er unter der Einwirkung eines ihn ‚begeisternden‘ „Genius“ offenbar bald dazu über, seinen alten Wunsch, eine Bibel zu schreiben, in die Tat umzusetzen, dies aber eben in einer orientalisierenden Einkleidung.71 Die in dem Brief erwähnte Auffassung Gleims, dass die Verse des Koran in Verse übersetzt werden müssten, könnte auf allgemeinen Annahmen über die kategoriale Differenz zwischen Vers und Prosa und über ihre Implikationen für Übersetzungen beruhen. Sie könnte aber darüber hinaus auch durch zeitgenössische Diskussionen über die Beziehung zwischen Religion und poetischer Sprache beeinflusst gewesen sein. Die Einflussquellen, die gegebenenfalls für Gleim relevant waren, können zwar nicht genau identifiziert werden; in Frage käme aber vermutlich an erster Stelle Klopstock mit seiner Neubelebung des Modells des Dichterpropheten.72 Daneben mag Gleim auch Anregungen von Robert Lowths Vorlesungen über die heilige Poesie der Hebräer empfangen haben, in denen Lowth große Teile des Alten Testaments als Dichtung betrachtete und ihren poetischen Charakter als Ausdruck religiöser Ergriffenheit oder als notwendige

71 Heinse, dem Gleim die ersten Entwürfe für Halladat zuschickte, sprach in seinen Antwortbriefen von dem Werk gelegentlich als von ‚Ihrer Bibel‘. Vgl. Wilhelm Heinse, Brief an Johann Wilhelm Ludwig Gleim vom 28.03.1775, in: Briefwechsel zwischen Gleim und Heinse. Zweite Hälfte, Carl Schüddekopf (Hrsg.), Weimar 1895, S. 1–5, hier S. 5: „Auf Ihre Biebel, Ihr rothes Buch wart’ ich mit Schmerzen“. Vgl. auch Wilhelm Heinse, Brief an Johann Wilhelm Ludwig Gleim vom 30.05.1775, in: ebd., S. 6–9, hier S. 8: „Ihre Biebel, wenn erhält diese Ihr Apostel Paulus, oder Jünger Johannes, daß er daraus die Heyden bekehre?“ 72 Zu Gleims Beziehung zu Klopstock vgl. Gerlinde Wappler, „Sie sind ein ungestümer Freund“. Menschen um Gleim I, Oschersleben 1998, S. 223–240. Zum Modell des Dichterpropheten bei Klopstock vgl. weiterhin Gerhard Kaiser, Klopstock. Religion und Dichtung, Gütersloh 1963, vor allem S. 133–160. Für Klopstocks Urteil über Halladat vgl. den oben bereits zitierten Brief: Klopstock, Brief an Gleim vom 25.02.1774, S. 135. Dort bietet Klopstock Gleim auch an, Halladat „nach [s]einem [Klopstocks, O.K.] Plane auf Subscript. drucken [zu] lassen“. Dazu kam es dann aber nicht, wie Gleim später Uz berichtete: „Ich habe dieses rothe Buch auf meine Kosten zum Druck befördert – Klopstock wollt’ es durch seine Samler verkaufen laßen, mir die Mühe dabey selbst abnehmen – Er muste nach Carlsruh verreisen – Und da blieb’s alles mir zur Last“. Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Brief an Johann Peter Uz vom 04.06.1775, in: Briefwechsel zwischen Gleim und Uz, Carl Schüddekopf (Hrsg.), Tübingen 1899, S. 403–405, hier S. 404.

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Erscheinungsform prophetischer Rede deutete.73 Der im zitierten Brief an Lessing genannte Hofrat Michaelis hatte 1758/61 eine zweibändige, um Anmerkungen und Zusätze erweiterte Ausgabe der Vorlesungen Lowths herausgegeben.74 Der Einfluss solcher zeitgenössischen Diskussionen über den Zusammenhang von Religion und Poesie mag – neben den theologischen Debatten über die Inspiration – auch dazu beigetragen haben, dass Gleim Halladat als ein der Inspiration entsprungenes Werk ansehen und betrachtet wissen wollte: In dem Brief an Lessing wie auch andernorts spricht er von dem „Genius“, der ihn zu diesem Buch „begeistert“ habe. Dass es sich hierbei nicht um eine unverbindliche Formel handelt, zeigt sich in einem Brief, in dem er auf das Ansinnen von Kritikern reagiert, er möge doch die sonderbaren Namen durch andere ersetzen: Gleim lehnt das mit der Begründung ab, Halladat sei ihm nun einmal in dieser Form, mit diesen Namen, eingegeben worden.75 Ganz konsequent war Gleim in dieser Selbstdeutung allerdings nicht; in einem 1776 verfassten Brief an Caroline Luise Hempel, die Tochter von Anna Louisa Karsch, stellt er die fremdartigen Namen als Ergebnis einer überlegten Wahl dar: Wenn sie, beste Freundin, das rothe Buch vertheidigen müßen, dann bitt’ ich mit anzuführen, daß der Verfaßer die Absicht gehabt hätte, für ein arabisches Werck es auszugeben, wie Macpherson seinen Oßian für ein celtisches, deswegen wären die arabischen Wörter und Nahmen nöthig gewesen – 76

73 Vgl. Robert Lowth, De Sacra Poesi Hebraeorum, Oxford 1753. 74 Vgl. Robert Lowth, De Sacra Poesi Hebraeorum […], notas et epimetra adjecit, Ioannes David Michaelis […], Göttingen 1758/61. Johann David Michaelis war seit 1750 ordentlicher Professor für Philosophie in Göttingen und wurde 1761 zum Hofrat ernannt; daher dürfte mit dem in Gleims Brief genannten „Hofrat Michaelis zu Göttingen“ zweifelsfrei er gemeint sein. So auch Helmuth Kiesel, der Herausgeber der Lessing-Ausgabe, in seinem „Kommentar“, in: Lessing, Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 11.2, S. 851–1157, hier S. 1061. Vgl. ferner Julius August Wagenmann, Art. „Michaelis, Johann David“, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 21, Leipzig ²1970, S. 685–690. Zu Lowths Werk über die heilige Poesie der Hebräer vgl. Brian Hepworth, Robert Lowth, Boston 1978, S. 77–98. Zur Rezeption dieses Werks durch Michaelis und Herder vgl. Christoph Bultmann, Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung. Johann Gottfried Herders Interpretation der Genesis als Antwort auf die Religionskritik David Humes, Tübingen 1999, S. 75–85. Vgl. auch Daniel Weidner, „‚Menschliche, heilige Sprache‘: Das Hebräische bei Michaelis und Herder“, in: Monatshefte, 95/ 2003, 2, S. 171–206. 75 Die Briefäußerung wird ohne Nennung von Datum und Adressat des Briefs zitiert in: Körte, Johann Wilhelm Ludewig Gleims Leben, S. 186 f. 76 Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Brief an Caroline Luise Hempel (geb. Karsch, später von Klencke, gesch. Hempel) vom 21.11.1776, in: Pott, Briefgespräche, S. 143 f., hier S. 144. Zu Caroline Luise Hempels enthusiastischer Reaktion auf Halladat vgl. ebd., S. 59 f.

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Generell ist festzustellen, dass Gleim sein „rothe[s] Buch“ in einigen Selbstkommentaren wie auch durch den Zusatz „Zum Vorlesen in den Schulen“ als ein unter didaktischen und wirkungsästhetischen Gesichtspunkten konzipiertes Werk darstellt. Er schwankt also gewissermaßen zwischen dem Autorkonzept des Dichterpropheten und dem des wirkungsästhetisch kalkulierenden Lehrdichters oder will sie miteinander verbinden. Dieses Schwanken oder diese Kombination korrespondiert in gewissem Sinne dem textinternen Nebeneinander der Leitfiguren des Sehers und des Weisen. Um auf die Bedeutung des Koran und des Islam für Halladat zurückzukommen: Dass sich Gleims alter Wunsch, eine Bibel zu schreiben, mit dem Projekt einer poetischen Koranimitation verbinden konnte, war, wie oben argumentiert wurde, durch seine Auffassung von einer natürlichen Religion bedingt. Aber die Orientierung am Koran war für Gleim vermutlich nicht nur plausibel, sondern auch besonders attraktiv. Darauf deutet jedenfalls ein Brief hin, den er kurz vor der Drucklegung von Halladat an Wieland schickte. Dieser hatte Gleim nach der Lektüre des Manuskripts in enthusiastischen Worten zu dem Werk beglückwünscht, aber auch Bedenken wegen der fremdartigen Namen geäußert.77 In seiner Antwort wollte Gleim seine Beweggründe für diese Einkleidung nicht ausführlich darlegen, gab dann aber doch einen Hinweis: „Nur dieß eine! Welche Scene hätt’ ich dem Wercklein geben sollen, um nicht überall anstößig zu werden.“78 Gleim führt nicht aus, weshalb sein „Wercklein“ durch die Wahl einer anderen „Scene“ hätte „anstößig“ werden können, aber die folgende Vermutung erscheint naheliegend: Hätte er in seiner ‚Bibel‘ Schauplätze und Figuren entworfen, die erkennbar einer christlichen Kultur entstammen, dann hätten seine Leser den Eindruck gewinnen können, sein Werk wolle mit der christlichen Bibel konkurrieren. Und selbst wenn sie nicht aus diesem Grund an dem Buch Anstoß genommen hätten, hätten sie darin nach Stellungnahmen zu Streitfragen der christlichen Theologie suchen und Aussagen der Gedichte auf diese Fragen beziehen können. Die orientalische „Scene“ dagegen erlaubt es Gleim, eine Positionierung seiner religiösen Lehren gegenüber dem Christentum zu vermeiden. Über die Rolle, die diese verschiedenen Kontexte bei der Entstehung von Halladat gespielt haben, lässt sich die folgende Hypothese aufstellen: Entscheidend war zunächst die Tatsache, dass Gleim die Anregung durch Boysens Koranübersetzung mit seinem Bestreben verband, selbst ein religiös-moralisches Lehrwerk – eine ‚Bibel‘ – zu verfassen. Dass er aber diese Ambition überhaupt mit

77 Vgl. Christoph Martin Wieland, Brief an Johann Wilhelm Ludwig Gleim vom 14.03.1774, in: Wielands Briefwechsel, Bd. 5, S. 239 f., hier S. 240. 78 Gleim, Brief an Wieland vom 20.03.1774, S. 241.

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dem Versuch verbinden konnte, eine poetische Alternative zu Boysens prosaischer Koranübersetzung vorzulegen, dürfte durch seine Vorstellung von einer natürlichen Religion ermöglicht worden sein, denn diese Vorstellung ließ es legitim erscheinen, die entscheidenden Wahrheiten der Religion und Moral einer orientalischen Sprecherfigur in den Mund zu legen. Die orientalisierende Einkleidung empfahl sich ihm ferner vermutlich dadurch, dass sie es ihm erlaubte, mit seiner selbst verfassten Bibel nicht „anstößig zu werden“.79 Außerdem kann man vermuten, dass Gleim sich in seinem Vorhaben, einen neuen Koran zu verfassen, durch zeitgenössische Überlegungen zum Verhältnis von Poesie und ursprünglicher Religion bestärkt fühlte. Konkrete Referenzen auf den Islam oder auf Mohammed in die Gedichte aufzunehmen, wäre aber mit Gleims belehrenden Absichten wohl nur schwer vereinbar gewesen, da Gleim seine Leser eben nicht über das Wesen des Islam, sondern über das Wesen der wahren Religion und Moral belehren wollte. Ferner lässt sich mutmaßen, dass auch Gleims Selbstdeutung, der zufolge die Halladat-Gedichte der Inspiration entstammten, einer Integration konkreter islamischer Elemente im Weg stand. Das Ergebnis dieses Zusammentreffens unterschiedlicher und teils miteinander konfligierender Absichten bestand in einer Gedichtsammlung, die zwar offenkundig eine morgenländische Färbung aufweist, aber ebenso offenkundig jede räumliche oder historische Konkretisierung vermeidet und in der einerseits die Attribute eines heiligen orientalischen Buchs ostentativ ausgestellt werden, andererseits aber diese orientalisierenden Züge kaum eine erkennbare Funktion haben.

IV Die zeitgenössische Rezeption von Halladat Wie wurden die oben analysierten Merkmale von Gleims Halladat in den zeitgenössischen Rezensionen wahrgenommen und gedeutet? Drei Rezensionen sollen hier knapp unter diesem Gesichtspunkt betrachtet werden. Bereits 1775 veröffentlichte Wieland im Teutschen Merkur eine ausführliche Rezension von Halladat, in der er das Werk emphatisch lobte.80 Eine weitere lobende Besprechung erschien

79 Ebd. 80 Vgl. W[ieland], [Rez. zu Gleim, Halladat]. Dass die Rezension Wieland zugeschrieben werden kann, ist fast sicher: In dem bereits erwähnten Brief, den Wieland nach der Lektüre des Manuskripts an Gleim schrieb, teilt er ihm mit, dass er gerne „durch den Merkur etwas zur Beförderung Ihres Halladats thun“ würde; er schreibt dort auch, dass er gegebenenfalls in einer Besprechung die Identität des Verfassers von Halladat im Dunkeln lassen wolle. Wieland, Brief an Gleim vom 14.03.1774, S. 240. Die Rezension im Teutschen Merkur beginnt denn auch tatsächlich mit den Worten: „Ungeblendet von Freundschaft oder Feindschaft gegen den ungenannten Verfaßer,

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ein Jahr später im von Gottlob Benedikt von Schrach herausgegebenen Magazin der deutschen Critik; sie könnte vom Herausgeber selbst verfasst worden sein.81 1778 schließlich publizierte die Allgemeine Deutsche Bibliothek eine sehr kritische Rezension, die dem Mathematiker Georg Simon Klügel zugeschrieben wird.82 Die Rezensionen unterscheiden sich nicht nur in ihren abschließenden Urteilen, sondern auch in der gesamten Art des Herangehens an Gleims Werk. Gemeinsam ist ihnen aber, dass sie die orientalisierenden Elemente von Halladat als eine Einkleidung auffassen, die prinzipiell durch eine andere hätte ersetzt werden können. Wieland sucht seinen Lesern Halladat nahezubringen, indem er zunächst das Weisheitsideal erklärt, das von der Sprecherfigur in Gleims Gedichten verkörpert werde.83 Diese Weisheit, wie Wieland sie beschreibt, hat keinerlei historisch oder kulturell spezifische Züge. So fährt er denn auch mit der Feststellung fort, der Verfasser von Halladat habe seinen Weisen „nach Arabien oder Persien (wie ich vermuthe) versezt“.84 Dieser Schauplatz ist aber Wieland zufolge plausibel gewählt, denn dort, in „Arabien oder Persien“, habe es „von uralten Zeiten her Weise von ähnlicher Art gegeben“.85 In einem Brief an Gleim aus dem Jahr zuvor hatte Wieland, wie erwähnt, noch Bedenken wegen der fremdartigen Namen geäußert, die nach seiner Ansicht der belehrenden Wirkung abträglich sein konnten, doch in seiner Rezension erwähnt er von diesen Bedenken nichts mehr, sondern stellt die Wahl dieses formalen Mittels als eine wohlbegründete dar: Der Morgenländische Schwung, der im ganzen Halladat herrscht, […] schickt sich überhaupt am besten, Wahrheiten für das Herz, und Empfindungen für den Verstand mit Würde, Kraft und Einfalt vorzutragen. […] Die Arabischen oder Arabisch klingenden Nahmen der Personen und einiger Sachen, waren auf gewisse Art die schicklichsten die der Verfaßer finden konnte; griechische, lateinische, teutsche Nahmen würden zum Ton und Inhalt des Buches nicht gepaßt haben.86

ohne Vorurtheil, ohne andre Absicht als der erkannten und gefühlten Wahrheit Zeugnis zu geben, trete ich hervor“. W[ieland], [Rez. zu Gleim, Halladat,] S. 281. 81 Vgl. S., [Rez. zu Gleim, Halladat,] in: Magazin der deutschen Critik, 4/1776, 2, S. 237–241. 82 Vgl. [Klügel,] [Rez. zu Gleim, Halladat]. In dem Digitalisierungsprojekt „Zeitschriften der Aufklärung“ der UB Bielefeld (genau: „Retrospektive Digitalisierung wissenschaftlicher Rezensionsorgane und Literaturzeitschriften des 18. und 19. Jahrhunderts aus dem deutschen Sprachraum“. URL: www.ub.uni-bielefeld.de/diglib/aufklaerung/index.htm [letzter Zugriff am 15.10.2013]) wird diese Rezension Klügel zugeschrieben. Zu Klügel vgl. Eberhard Knobloch, Art. „Klügel, Georg Simon“, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 12, Berlin 1980, S. 135 f. 83 Vgl. W[ieland], [Rez. zu Gleim, Halladat,] S. 283 f. 84 Ebd., S. 284 (Hervorhebung O.K.). 85 Ebd. 86 Ebd., S. 284 f.

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In der Besprechung im Magazin der deutschen Critik heißt es ähnlich wie bei Wieland, die „Scene“ sei „in allen diesen Gesängen nach Arabien verlegt“.87 Auch dieser Rezensent bewertet die orientalisierende Einkleidung als eine den Inhalten angemessene und unter dem Gesichtspunkt der angestrebten Wirkung sinnvolle: Die „fremde[n] Wörter“, so schreibt er, geben dem Tone des Dichters […] eine gewisse Art von Schicklichkeit; denn die edle Einfalt, welche durchgehends herrschet, die orientalische Simplicität, in der die stärksten Gedanken, die schönsten Empfindungen erscheinen, wird durch diese Fremdheit der Worte vermehrt. Man versetzt sich dadurch gleichsam leichter in eine andre Welt, in andre Gegenden, und hört hier dem Weisen mit ungestörter stiller Ehrfurcht zu.88

Klügel hingegen erklärt zu Beginn seiner Rezension bündig, Gleim habe in Halladat „den Lehren der natürlichen Theologie und der Moral ein orientalisches Kleid umgehüllet“; und er schickt sogleich hinterher, er müsse gestehen, dass diese „Einkleidung“89 ihm nicht gefalle. Erstens habe sie „besonders wegen der vielen orientalisch klingenden Namen ein sonderbares und gesuchtes Ansehen“, zweitens sei sie nicht einmal „in ächtem morgenländischen Geschmacke“, und drittens könnte sie den Leser glauben machen, „daß er was neues und ungesagtes [lese], wenn bloß dies Gewand neu ist.“90 Zusammenfassend kann man zu diesen Rezensionen festhalten: Alle drei Rezensenten betrachten die morgenländischen Elemente in Halladat als eine Einkleidung oder Kulisse, die von der eigentlichen inhaltlichen Substanz unabhängig ist und prinzipiell durch eine andere hätte ersetzt werden können. Damit schreiben sie den orientalischen Zügen in etwa denselben Status zu, den ihnen auch die kurze Vorstellung von Gleims Werk in den Gothaischen gelehrten Zeitungen gab: Halladat wird dort charakterisiert als „[e]ine Sammlung Lehrgedichte, moralischen und philosophischen Innhalts, in orientalischem Stil vorgetragen.“91 Der Islam und der Koran werden bei Wieland und Klügel mit keinem Wort erwähnt, in der dritten der oben betrachteten Rezensionen wird lediglich daran erinnert, dass zwei der Gedichte aus Halladat dem Publikum bereits in der Vorrede zu Boysens Koranübersetzung präsentiert wurden.92 Auch darüber, nach welchen Kriterien eine Einkleidung wie die von Gleim gebrauchte zu bewerten ist, scheinen sich die Verfasser der drei Rezensionen im Wesentlichen einig zu sein,

87 88 89 90 91 92

S., [Rez. zu Gleim, Halladat,] S. 237. Ebd. [Klügel,] [Rez. zu Gleim, Halladat,] S. 496. Ebd., S. 496 f. Gothaische gelehrte Zeitungen vom 12.07.1775, S. 449. Vgl. S., [Rez. zu Gleim, Halladat,] S. 237.

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wenngleich sie in der Anwendung dieser Kriterien zu unterschiedlichen Urteilen gelangen. Sie fragen einerseits nach der Glaubwürdigkeit und nach der ‚Echtheit‘ der gewählten Einkleidung, andererseits danach, inwiefern sie die auf moralische Besserung und Belehrung abzielende Wirkungsabsicht der Gedichte unterstützt. Hinsichtlich des zuletzt genannten Kriteriums urteilen Wieland und der Rezensent des Magazins der deutschen Critik, dass die orientalische Einkleidung tatsächlich der Wirksamkeit der Gedichte zugutekomme, und im vorliegenden Zusammenhang verdient es hervorgehoben zu werden, wie sie dieses Urteil begründen: Beide scheinen vorauszusetzen, dass das Orientalische seinem Wesen nach eine Affinität zu Qualitäten wie „Würde, Kraft und Einfalt“, „Simplicität“ und „edle[r] Einfalt“ besitze. Schließlich sei noch kurz auf ein Dokument der zeitgenössischen Rezeption hingewiesen, in dem Halladat tatsächlich zum Koran in Beziehung gesetzt wird oder in dem zumindest das Wort „Koran“ auftaucht. Herder zitiert in der 1794 erschienenen dritten Sammlung seiner Briefe zu Beförderung der Humanität ein Gedicht aus Halladat und fügt die Bemerkung hinzu: „So unser Gleim in seinem Halladat, oder rotem Buche, dem wir jetzt lieber einen andern Namen geben wollen; es enthält Blätter zum echten Koran der Menschengüte.“93 Dazu, wie sich dieser Gleim’sche Koran zum wirklichen Koran verhält und welche Funktion die orientalisierende oder ‚koranisierende‘ Form bei Gleim hat, äußert sich Herder jedoch nicht; bemerkenswert ist ferner, dass Gleims Gedicht von ihm zunächst als Beleg dafür vorgebracht wird, dass „Wir“, die Deutschen, über Werke verfügen, die ebenbürtig neben den Humanitätsmustern der griechischen Antike stehen können.94

V Schluss Halladat entwickelte sich aus „Nachahmungen der muhammedischen Muse“,95 zu denen Gleim durch die Lektüre der Koranübersetzung Boysens, durch Gespräche mit Boysen und dem Orientalisten Michaelis sowie durch ihre Aussagen über den „göttlichen Mahomet“96 angeregt wurde. Das publizierte Werk enthält aber

93 Johann Gottfried Herder, „Briefe zu Beförderung der Humanität“, in: Werke in zehn Bänden, Bd. 7, Hans Dietrich Irmscher (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1991, S. 210; das Gedicht aus Halladat ebd., S. 209 f. 94 Vgl. ebd., S. 209, und für den Kontext auch S. 202–204. 95 Boysen, „Vorrede“, in: Der Koran, oder Das Gesetz für die Moslemer, zweyte verbesserte Ausgabe, Halle 1775, S. 11. 96 Gleim, Brief an Lessing vom 08.02.1774, S. 621.

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keine expliziten Bezugnahmen auf den Koran oder auf Mohammed, sondern nur erfundene, arabisch klingende Namen, mit denen eine unspezifisch orientalische Kulisse geschaffen wird. Sowohl die Tatsache, dass die Begegnung mit dem Koran und dem Wissen über Mohammed und den Islam so anregend auf Gleim wirkte, als auch seine entspezifizierende Verarbeitung dieser Anregung waren, wie hier gezeigt werden sollte, durch breitere zeitgenössische Diskussionszusammenhänge bedingt: durch Diskussionen über die natürliche Religion, durch den „bekannten Streit über die Inspiration“,97 vermutlich auch durch Überlegungen über den Zusammenhang zwischen ursprünglicher Religion und poetischer Sprache. In dem Maße nun, in dem Konzeption und Gestalt von Gleims Halladat durch diese Diskussionen und Konzepte beeinflusst waren, dürfte das Werk eine gewisse symptomatische Qualität besitzen: An ihm lassen sich einige der diskursiven und konzeptuellen Voraussetzungen studieren, die für die produktive poetische Auseinandersetzung mit fremden Kulturen und Religionen im späteren 18. Jahrhundert prägend waren. Dabei hat sich Gleim in seiner Aneignung der Diskussionen über die natürliche Religion oder über die Beziehung zwischen ursprünglicher Religion und Dichtung offensichtlich weniger intensiv um eine theoretische Klärung und Durchdringung bemüht, als es etwa Lessing oder Herder in ihren Auseinandersetzungen mit diesen Themen getan haben. Insofern könnte ein Vergleich mit Gleims Halladat herauszuarbeiten helfen, worin das Spezifische und Anspruchsvollere der literarischen bzw. theoretischen Anstrengungen Lessings und Herders – etwa in Nathan der Weise (1779) oder Vom Geist der Ebräischen Poesie (1782/83) – besteht.98 Einen gewissen symptomatischen Wert kann man vermutlich auch den zeitgenössischen Rezensionen von Halladat zusprechen, insofern sie nämlich zeigen, dass für die Einordnung der orientalisierenden Züge des Werks ein etabliertes Deutungsmuster bereitstand: Die Rezensenten interpretierten diese Züge als eine Einkleidung, als eine Rahmung oder Verpackung, die von der eigentlichen inhaltlichen Substanz unabhängig war und nach Kriterien der Plausibilität oder ‚Echtheit‘ einerseits, der didaktischen Wirksamkeit andererseits beurteilt werden konnte.

97 Ebd. 98 Zu Lessings Nathan und zum Stand der Forschung vgl. Monika Fick, Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, 3., neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart/Weimar 2010, S. 488–515. Zu Herders Schrift Vom Geist der Ebräischen Poesie vgl. vor allem Daniel Weidner (Hrsg.), Urpoesie und Morgenland. Johann Gottfried Herders „Vom Geist der Ebräischen Poesie“, Berlin 2008.

Stefan Hermes, Freiburg

„[D]er Deutsche wird […] immer Deutscher bleiben, und der Franzose Franzos“ Das anthropologische ‚Wissen‘ von den europäischen ‚Nationalcharakteren‘ bei Jakob Michael Reinhold Lenz I Einleitung: Kulturelle Alterität im Werk Lenz’ Ungeachtet ihrer universalistischen Tendenzen hat sich die Anthropologie der Aufklärung mit einem breiten Spektrum von Alteritätsphänomenen befasst; zu denken wäre etwa an die Auseinandersetzung mit den vermeintlichen Eigenheiten der ‚Wahnsinnigen‘ und der ‚Weiber‘, die regelmäßig das Andere des Vernunftprinzips zu repräsentieren hatten.1 Neben diesen protopsychiatrischen und genderbezogenen Diskursen ist indes die gelehrte Beschäftigung mit Aspekten kultureller Differenz nicht minder zu berücksichtigen. Denn anthropologische Probleme – und damit verbundene philosophische, ästhetische und politische Fragen – wurden im Europa des 18. Jahrhunderts stets auch mit Blick auf die globale Vielfalt des Menschengeschlechts verhandelt, und zwar in wissenschaftlichen Abhandlungen ebenso wie in der fiktionalen Literatur. Insofern erscheint es angemessen, jenem „Zweig der Aufklärungsanthropologie“, der sich mit Alexander Košenina als „[v]ölkerkundliche Anthropologie“2 bezeichnen lässt, künftig größere Aufmerksamkeit zu widmen.3 In diesem Zusammenhang können in heuristischer Absicht mehrere, einander überlagernde Diskursfelder unterschieden werden. Dazu zählt die Debatte um das außereuropäische Fremde, die durch die Rezeption der im Kontext des ‚zweiten Entdeckungszeitalters‘ entstandenen Reiseberichte spürbar an Intensität gewann.4 Dass dieser Gesichtspunkt eine erhebliche Relevanz für Lenz’ Gesamt-

1 Vgl. die nach wie vor wegweisenden Arbeiten von Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, aus dem Französischen von Ulrich Köppen, Frankfurt a.M. 1969, und Claudia Honegger, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750–1850, Frankfurt a.M./New York 1991. 2 Alexander Košenina, Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen, Berlin 2008, S. 11. 3 Zur Forschungslage innerhalb der Germanistik vgl. die Einleitung zum vorliegenden Band. 4 Vgl. etwa Ralph-Rainer Wuthenow, Die erfahrene Welt. Europäische Reiseliteratur im Zeitalter der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1980; Eberhard Berg, Zwischen den Welten. Über die Anthropologie

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werk besitzt, ist kaum zu übersehen: Sein Lied eines schiffbrüchigen Europäers (1776), in dem der als Entdecker Tahitis bekannt gewordene Samuel Wallis Erwähnung findet, zeugt davon ebenso wie das 1775/76 verfasste Dramenfragment Der tugendhafte Taugenichts, das unter anderem die Versklavung von Afrikanern durch Europäer thematisiert. Vor allem aber sind Lenz’ Rekurse auf Versatzstücke des Orientalismus anzuführen, die seine Komödie Der neue Menoza (1774), die Plautus-Bearbeitungen Die Türkensklavin (1774) und Freündschaft geht über Natur (1775) sowie das „Lustspiel à la chinoise“ Myrsa Polagi (1782) nachhaltig prägen. Darüber hinaus ist zu beachten, dass die Aufklärer auch innerhalb Europas lebende Minoritäten wie Juden und ‚Zigeuner‘ nicht selten in völkerkundlichanthropologischer Perspektive wahrnahmen und in die Nähe außereuropäischer Kulturen rückten.5 An diesen Entwicklungen partizipiert Lenz’ Œuvre ebenfalls, beispielsweise durch die Gestaltung der Judenfiguren in Die Soldaten (1776) und der schon genannten Türkensklavin, wo zudem eine alte ‚Zigeunerin‘ auftritt. Im Hinblick darauf wäre vornehmlich zu prüfen, inwieweit seine Dramen auf tradierte antisemitische und antiziganistische Stereotype zurückgreifen – und ob sie diese bekräftigen oder aber konterkarieren. Doch nicht um diese, noch keineswegs systematisch aufgearbeiteten Problembereiche6 wird es im Folgenden gehen; im Fokus des Interesses steht vielmehr die Frage, auf welche Weise sich Lenz in den zeitgenössischen Diskurs um die Unterschiede zwischen den europäischen Nationen einschrieb. Beantwortet werden soll sie durch eine (kursorische) Sichtung seiner expositorischen Schriften und eine exemplarische Analyse der poetologischen Farce Pandämonium Germanikum, die im Frühsommer 1775 fertiggestellt wurde, aber erst 1819 gedruckt vorlag. Dabei wird primär zu zeigen sein, dass Lenz’ Texte zwar rigoros für die ‚Reinhaltung‘ der deutschen Sprache und Kultur plädieren, diese essentialistische Position aber nicht konsequent beibehalten: Bisweilen wird die Unvermeid-

der Aufklärung und ihr Verhältnis zu Entdeckungs-Reise und Welt-Erfahrung mit besonderem Blick auf das Werk Georg Forsters, Berlin 1982; Hans-Jürgen Lüsebrink (Hrsg.), Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt, Göttingen 2006; Thomas Nutz, „Varietäten des Menschengeschlechts“. Die Wissenschaften vom Menschen in der Zeit der Aufklärung, Köln/Weimar/Wien 2009, und Maximilian Bergengruen/François Rosset/Markus Winkler (Hrsg.), Jenseits der empirischen Wissenschaften. Literatur und Reisebericht im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Fribourg 2012. 5 Vgl. beispielsweise Gunnar Och, Imago judaica. Juden und Judentum im Spiegel der deutschen Literatur 1750–1812, Würzburg 1995, und Klaus-Michael Bogdal, Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung, Frankfurt a.M. 2011. 6 Einen ersten Überblick hierzu gewährt mein Artikel „Kulturelle Differenz“, in: Julia Freytag/ Inge Stephan/Hans-Gerd Winter (Hrsg.), J.M.R. Lenz-Handbuch, Berlin/New York [im Erscheinen].

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barkeit von Hybridisierungserscheinungen durchaus anerkannt, und es ist denn auch gerade die literarische Evokation derartiger Phänomene, durch die sich das Pandämonium Germanikum wesentlich auszeichnet. Um ein besseres Verständnis dieser Facetten von Lenz’ theoretischem und literarischem Werk zu ermöglichen, ist jedoch zunächst auf einige zentrale Dokumente des deutschen Nationaldiskurses im 18. Jahrhundert hinzuweisen; sodann wird speziell der Beitrag des jungen Herder zu diesem Diskurs zu rekapitulieren sein.7

II Die Entstehung des ‚modernen‘ deutschen Nationalismus und das anthropologische ‚Wissen‘ von den europäischen ‚Nationalcharakteren‘ Für die Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik stand lange Zeit außer Zweifel, dass sich ein ‚moderner‘ deutscher Nationalismus erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts, im Zuge des antinapoleonischen Widerstands, herausgebildet habe.8 Diese Annahme renommierter Historiker wie Hans-Ulrich Wehler oder Heinrich August Winkler9 ist heute zwar noch immer vorherrschend, aber nicht mehr uneingeschränkt konsensfähig. So hat man verschiedentlich argumentiert, dass die Kernelemente nationalen Denkens bereits seit dem Siebenjährigen Krieg (1756–63) eine signifikante Verbreitung gefunden hätten. Entsprechend formuliert Ute Planert: Am Ende des 18. Jahrhunderts waren […] alle Faktoren vorhanden, die in der neueren Forschung als konstitutiv für einen ‚modernen‘ Nationalismus angesehen werden: die Vorstellung einer spezifischen Identität aller Deutschen als Abstammungsgemeinschaft mit gemeinsamer Kultur und Sprache, einem geteilten – auf bürgerlich-geschlechtsspezifischen Tugenden beruhenden – Wertesystem und einer gemeinsamen Geschichte, die in Mythen beschworen werden konnte; die Entwicklung dieser nationalen Identität in kriegerischer wie

7 Dass Lenz eine fast schwärmerische Verehrung für den gut sechs Jahre älteren Herder hegte, bezeugt nicht zuletzt die Nur ein Wort über Herders Philosophie der Geschichte betitelte Rezension, die er im Juli 1775 in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen publizierte. Den späteren Bruch zwischen den beiden dokumentiert Herders Weigerung, ein Empfehlungsschreiben für Lenz zu verfertigen, als dieser sich 1779 um die Stelle des Rektors der Rigaer Domschule bewarb. 8 Der Nationalismus-Begriff wird hier und im Folgenden nicht in einem „anklagenden, pejorativen Sinn“ verwendet, sondern – wie inzwischen weithin üblich – als „nach Möglichkeit neutrale Abkürzung für ein extrem einflussreiches Ideensystem“. Hans-Ulrich Wehler, Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 2011, S. 12 f. 9 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, München 1987, und Heinrich August Winkler, „Demokratie und Nation in der deutschen Geschichte“, in: Ders., Streitfragen der deutschen Geschichte. Essays zum 19. und 20. Jahrhundert, München 1997, S. 31–51.

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kultureller Abgrenzung zu anderen Sozialkollektiven, insbesondere gegenüber dem als hegemonial betrachteten Frankreich; der Versuch der Übertragung primordialer emotionaler Bindungen auf das Kollektiv; die Sakralisierung des ‚Vaterlandes‘ als oberster Legitimationsinstanz einschließlich der Forderung, das eigene Leben dafür zu opfern; eine geschlechtsspezifische Ausformulierung der Loyalitätspflicht gegenüber der Nation; die Existenz einer sozialen Trägergruppe, die solche Vorstellungen nicht nur artikulierte, sondern auch über die kommunikative Infrastruktur zur Herstellung eines nationalen Diskurses verfügte; die Diskussion über die politische Ausgestaltung eines – in seinen Grenzen wie in der Regierungsform variierenden – Gemeinwesens, das die Herrschergewalt der Fürsten einschränken und an gesetzförmige Regelungen binden sollte; die Erprobung der Wirkung politischer Propaganda im Krieg, in der nationale Feindbilder an die Seite und zunehmend auch an die Stelle konfessioneller Mobilisierung traten.10

Zu den wichtigsten (und im Einzelnen sehr unterschiedlichen) Traktaten, die um 1760 zur Formierung des deutschen Nationalismus beitrugen, gehören Johann Georg Zimmermanns Von dem Nationalstolze (1758) – der Schweizer Zimmermann sollte später mit Herder, Goethe und auch Lenz in brieflicher Verbindung stehen – sowie Thomas Abbts Vom Tode für das Vaterland (1761). In der Folge war es dann Friedrich Carl von Moser, der mit seiner Streitschrift Von dem Deutschen Nationalgeist (1765) an diese beiden „Urtext[e] des neuzeitlichen Nationalismus“,11 aber auch an Montesquieus De l’esprit des loix (1748) und Voltaires Essai sur les mœurs et l’esprit des nations (1756) anschloss. Eine gleichfalls nicht zu unterschätzende Wirkung entfaltete der Nationalgedanke im literarischen Feld, wie dies etwa mehrere Werke Ewald Christian von Kleists oder Gleims Preußische Kriegslieder belegen, die Lessing 1758 herausgab.12 Auch Autoren wie Klopstock oder Gerstenberg wären in diesem Zusammenhang zu nennen, und zahlreiche weitere Beispiele ließen sich anführen.13 Von Belang ist aber insbesondere, dass

10 Ute Planert, „Wann beginnt der ‚moderne‘ deutsche Nationalismus? Plädoyer für eine nationale Sattelzeit“, in: Jörg Echternkamp/Sven Oliver Müller (Hrsg.), Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen 1760–1960, München 2002, S. 25–59, hier S. 53 f. Vgl. auch Jörg Echternkamp, Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770–1840), Frankfurt a.M./ New York 1997, und Christian Jansen/Henning Borggräfe, Nation – Nationalität – Nationalismus, Frankfurt a.M./New York 2007. 11 Planert, „Wann beginnt der ‚moderne‘ deutsche Nationalismus?“, S. 48. 12 Eine schier euphorische Aufnahme erfuhren Gleims martialische Verse durch Herder: „[H]ier hat einmal ein deutscher Dichter über sein deutsches Vaterland ächt und brav deutsch gesungen: ohne an andre Nationen sein Genie zu verpachten.“ Johann Gottfried Herder, „Über die neuere deutsche Literatur. Zwote Sammlung von Fragmenten. Eine Beilage zu den Briefen, die neueste Literatur betreffend“, in: Werke in zehn Bänden, Bd. 1, Ulrich Gaier (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1985, S. 261–365, hier S. 350. 13 Vgl. dazu Hans Peter Herrmann/Hans-Martin Blitz/Susanna Moßmann, Machtphantasie Deutschland: Nationalismus, Fremdenhaß und Patriarchalismus im Vaterlandsdiskurs deutscher

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Nationalität in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts oft nicht als genuin politische, sondern als völkerkundlich-anthropologische Kategorie verstanden wurde. Eminente Bedeutung besaß dabei das Konzept des ‚Nationalcharakters‘, dessen Hauptfunktion mit Ruth Florack darin zu sehen ist, „gesellschaftlich bedingte und historisch gewachsene Unterschiede zwischen den Bewohnern verschiedener Länder als natürliche Eigentümlichkeiten [festzuschreiben]“.14 Zwar war das „anthropologische Wissen“ von den ‚Nationalcharakteren‘ bereits seit der Frühen Neuzeit „Gemeingut der europäischen Gelehrtenwelt“,15 doch gewann es „im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zunehmende Aktualität […], vor allem in Deutschland.“16 Dies hängt damit zusammen, dass der deutsche Nationalismus schwerlich ein ‚subjektiver‘ sein konnte, sich also nicht im vertragstheoretischen Sinn auf die Nation als Wertegemeinschaft zu beziehen vermochte. Dazu nämlich wäre das Vorhandensein eines Nationalstaats erforderlich gewesen, zu dem sich jeder Bürger in einer Art „Plebiszit, das sich jeden Tag wiederholt“,17 hätte bekennen können. Weil diese Möglichkeit fehlte, waren die Verfechter der ‚deutschen Sache‘ förmlich gezwungen, ihre Nationalität aus ‚objektiven‘ Kriterien abzuleiten.18 Da aber das angebliche ‚Wesen‘ des eigenen Volkes nur kontrastiv definiert werden konnte, sah man sich auf jene Schilderun-

Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1996, und Hans-Martin Blitz, Aus Liebe zum Vaterland. Die deutsche Nation im 18. Jahrhundert, Hamburg 2000. 14 Ruth Florack, Bekannte Fremde. Zu Herkunft und Funktion nationaler Stereotype in der Literatur, Tübingen 2007, S. 232. 15 Ebd. Entstanden war es durch die „Ethnisierung oder Nationalisierung der schon seit frühester Zeit geläufigen Temperaments-, Laster- oder Ständetypen“ und die Umfunktionalisierung konventioneller Geschlechterbilder, wobei den Völkern des Nordens tendenziell ‚männliche‘, denen des Südens ‚weibliche‘ Eigenschaften attestiert wurden. Franz K. Stanzel, Europäer. Ein imagologischer Essay, 2., aktualisierte Auflage, Heidelberg 1998, S. 21. Vgl. auch Manfred Beller, Eingebildete Nationalcharaktere. Vorträge und Aufsätze zur literarischen Imagologie, Göttingen 2006. 16 Michael Maurer, „Nationalcharakter und Nationalbewußtsein. England und Deutschland im Vergleich“, in: Ulrich Herrmann (Hrsg.), Volk – Nation – Vaterland, Hamburg 1996, S. 89–100, hier S. 91. 17 So die berühmte, im Jahr 1882 geprägte Formel von Ernest Renan, „Was ist eine Nation?“, in: Ders., „Was ist eine Nation?“ und andere politische Schriften, aus dem Französischen von Henning Ritter, Wien/Bozen 1995, S. 41–58, hier S. 57. 18 Vgl. dazu Gonthier-Louis Fink, „Das Wechselspiel zwischen patriotischen und kosmopolitisch-universalen Bestrebungen in Deutschland und Frankreich (1750–1789)“, in: Herrmann (Hrsg.), Volk – Nation – Vaterland, S. 151–184, hier S. 184, und Hansjörg Bay/Kai Merten, „Einleitung“, in: Dies. (Hrsg.), Die Ordnung der Kulturen. Zur Konstruktion ethnischer, nationaler und zivilisatorischer Differenz 1750–1850, Würzburg 2006, S. 7–29, hier S. 15.

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gen fremder Nationen verwiesen, die in der Epoche der Aufklärung eine rasante Vermehrung sowie eine merkliche Szientifizierung erfuhren: Mit der Rezeption von Montesquieu hatte sich […] ein empirisch-deskriptiver Blick auf nationale Unterschiede eingestellt. Man beobachtete […] die Unterschiede im Alltagsverhalten zwischen Engländern und Italienern, Franzosen und Deutschen; die Charaktere der Völker, ihre Tugenden und Vorzüge wurden enzyklopädisch erfasst.19

Beträchtliche Relevanz fiel dabei der in ihren Grundzügen schon von Hippokrates und Aristoteles formulierten Klimatheorie zu,20 der zufolge jedes Volk durch sein natürliches Lebensumfeld determiniert war. Zwar wurden derlei Auffassungen im Verlauf des 18. Jahrhunderts sukzessive relativiert und die Eigenarten der Nationen auch von der Herrschaftsform und dem religiösen Bekenntnis abhängig gemacht – etwa bei Montesquieu, Voltaire und in Humes Essay Of National Characters (1748) –,21 doch blieb die Klimatheorie weiterhin einflussreich. So wird ihr selbst in Kants Aufsatz Von den verschiedenen Rassen der Menschen (1775) noch ein erhebliches Maß an Zustimmung zuteil – obwohl die Rassentheorie sie schließlich als anthropologisches Hauptparadigma beerben sollte. Dass Lenz’ akademischer Lehrer Kant generell als einer der wichtigsten deutschsprachigen Autoren gelten muss, die regelmäßig auf die unhintergehbare Heterogenität der Menschheit abhoben, erweisen ferner die Porträts diverser europäischer Nationen (wie auch einiger ‚exotischer‘ Völker), die sich in seinen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764) finden. Auf diese Porträts wird noch zurückzukommen sein; zunächst aber ist der folgenreiche Beitrag des Kant-Schülers Herder zum Diskurs um die ‚Nationalcharaktere‘ zu umreißen.

III Das Konzept des ‚Nationalcharakters‘ im Frühwerk Herders Mit Recht wird Herder häufig als Mitbegründer „einer eigenständigen, nicht mehr an theologische Vorgaben gebundenen Anthropologie“22 apostrophiert. Bereits 1765 hält er es für erstrebenswert, „unsre ganze Philosophie“ fortan als „Anthro-

19 Bernhard Giesen, Die Intellektuellen und die Nation. Eine deutsche Achsenzeit, Frankfurt a.M. 1993, S. 15. 20 Vgl. etwa Manfred Beller, „Climate“, in: Ders./Joep Leerssen (Hrsg.), Imagology. The Cultural Construction and Literary Representation of National Characters. A Critical Survey, Amsterdam/ New York 2007, S. 298–304. 21 Vgl. Stanzel, Europäer, S. 30 f., und Florack, Bekannte Fremde, S. 89. 22 Eike Bohlken/Christian Thies, „Einleitung“, in: Dies. (Hrsg.), Handbuch Anthropologie. Der Mensch zwischen Natur, Kultur und Technik, Stuttgart/Weimar 2009, S. 1–10, hier S. 7.

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pologie“23 zu betreiben, also endlich „den Menschen“ in den „Mittelpunkt“24 des Interesses zu rücken. Diesen aber will er nicht als einheitliches Gattungswesen behandelt wissen, über das sich allgemeingültige Einsichten gewinnen lassen; vielmehr unterstreicht er die Notwendigkeit völkerkundlicher Differenzierungen selbst dort, wo er sich unter Bezugnahme auf Haller mit dem commercium mentis et corporis auseinandersetzt – so in seiner Abhandlung Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele, deren erste Fassung er 1774 abschloss.25 Zwar bestreitet Herder die Existenz einer „allgemeine[n] Menschenempfindung“ und „allgemeine[n] Menschendenkart“26 darin nicht grundsätzlich, wohl aber rügt er den diffusen Gebrauch derartiger Begriffe, in welchem er eine bloße „Bemäntelung unserer Lieblingsgrillen“27 erblickt. Mit Nachdruck betont er zudem, dass „Söhne Eines Stammvaters […] einander ähnlicher denken, als Antipoden an Sitte und Empfindung.“28 Elementare Bedeutung besitzt diese kulturrelativistische Perspektive auch für Herders sprachphilosophische Arbeiten, etwa für die 1764 gehaltene Rede Über den Fleiß in mehreren gelehrten Sprachen, die in Teilen an die schon erwähnte Klimatheorie anknüpft.29 In Übereinstimmung mit Kant – aber im Gegensatz etwa zu Lessing und Wieland30 – wird dem Klima darin ein nicht zu verleugnender Einfluss auf das ‚Wesen‘ einer Nation zugeschrieben, habe sich doch jede Nationalsprache „nach dem Boden der sie nährte und der Himmelsluft, die sie

23 Johann Gottfried Herder, „Wie die Philosophie zum Besten des Volks allgemeiner und nützlicher werden kann“, in: Werke in zehn Bänden, Bd. 1, S. 101–134, hier S. 134. 24 Ebd., S. 125. 25 Vgl. Johann Gottfried Herder, „Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume“, in: Werke in zehn Bänden, Bd. 4, Jürgen Brummack/Martin Bollacher (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1994, S. 327–393, hier S. 340. Im Übrigen belegen auch Hallers eigene Schriften die wechselseitige Durchdringung von hominider und humanider Anthropologie im 18. Jahrhundert. Denn obgleich seine Verdienste vornehmlich auf den Gebieten der (Neuro-) Physiologie und der Anatomie liegen mögen, hat sich der passionierte Leser von Reiseberichten stets auch völkerkundlichen Problemen zugewandt; vgl. dazu Karl S. Guthke, „Von arbeitsamen Menschenfressern und Diebstahl im Paradies: Albrecht von Haller und die Völkerkunde seiner Zeit“, in: Ders., Der Blick in die Fremde. Das Ich und das andere in der Literatur, Tübingen/Basel 2000, S. 11–40. 26 Herder, „Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele“, S. 371. 27 Ebd., S. 372. 28 Ebd., S. 368. 29 Vgl. die überblicksartige Darstellung von Manfred Beller, „Johann Gottfried Herders Völkerbilder und die Tradition der Klimatheorie“, in: Ders., Eingebildete Nationalcharaktere, S. 239–259. 30 Vgl. Gonthier-Louis Fink, „Von Winckelmann bis Herder. Die deutsche Klimatheorie in europäischer Perspektive“, in: Gerhard Sauder (Hrsg.), Johann Gottfried Herder 1774–1803, Hamburg 1987, S. 156–176, hier S. 166–168.

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tränkte“,31 herausgebildet. Darüber hinaus seien es aber die nur bedingt von diesen Faktoren abhängigen „Sitten“ der Völker gewesen, welche die einzelnen Sprachen hervorgebracht hätten: „[M]ännlich[ ] redet der kriegrische Deutsche, der tänzerische Gallier erfindet eine hüpfende und nervenlose Sprache: der Spanier gibt seiner ein gravitätisches Ansehen“.32 Insofern wird evident, dass Herder den ‚Nationalcharakter‘ als für die Nationalsprache konstitutiv ansieht, und diese These bekräftigt er 1766/67, wenn er postuliert, die „natürliche Denkungsart der Deutschen“ habe einen maßgeblichen „Einfluß in ihre Sprache“33 gehabt. Allerdings rekurrieren nicht bloß Herders sprachphilosophische Reflexionen fortwährend auf „anthropologische[ ] und ethnographische[ ] Positionen“;34 auch im Rahmen seiner eng damit verschränkten Poetologie erfüllen Versatzstücke der Völkerkunde eine tragende Funktion. Abzulesen ist dies etwa daran, dass Herder die Muttersprache als Medium der „Dichtkunst“ für schlechterdings „unentbehrlich“35 erachtet, und zwar zunächst einmal aus produktionsästhetischen Gründen. Ein literarisches Werk müsse in derjenigen Sprache verfasst werden, in der sein Autor über die höchste Kompetenz verfügt, „und ohne Zweifel ist dies die Muttersprache“.36 Zu dieser eher pragmatischen Ansicht gesellt sich jedoch die Unterstellung einer spezifischen affektiven Disposition eines jeden Schriftstellers: „[S]o wie das Vaterland“ übertreffe für diesen auch die Muttersprache „an Reiz alle übrigen Sprachen“.37 Im berühmten Shakespear-Aufsatz aus der Sammlung Von deutscher Art und Kunst (1773) ergänzt Herder dieses Argument um sein rezeptionsästhetisches Pendant: Ein Autor solle auch deshalb der Muttersprache den Vorzug geben, weil er nur dadurch den Ansprüchen des heimischen Publikums gerecht werden könne, und aus dem gleichen Grund seien die formalen Standards, an denen er sein Schreiben ausrichtet, unter Berücksichtigung von „Volks- und Vaterland-

31 Johann Gottfried Herder, „Über den Fleiß in mehreren gelehrten Sprachen“, in: Werke in zehn Bänden, Bd. 1, S. 22–29, hier S. 23. 32 Ebd., S. 22. 33 Johann Gottfried Herder, „Über die neuere deutsche Literatur. Erste Sammlung von Fragmenten. Eine Beilage zu den Briefen, die neueste Literatur betreffend“, in: Werke in zehn Bänden, Bd. 1, S. 161–259, hier S. 178. 34 Echternkamp, Der Aufstieg des deutschen Nationalismus, S. 98. Vgl. außerdem die materialreiche Studie von Cordula Neis, Anthropologie im Sprachdenken des 18. Jahrhunderts. Die Berliner Preisfrage nach dem Ursprung der Sprache (1771), Berlin/New York 2003, bes. S. 550–604. 35 Herder, „Über den Fleiß in mehreren gelehrten Sprachen“, S. 27. 36 Johann Gottfried Herder, „Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente, als Beilagen zu den Briefen, die neueste Literatur betreffend. Dritte Sammlung“, in: Werke in zehn Bänden, Bd. 1, S. 367–539, hier S. 407. 37 Ebd., S. 408.

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scharakter“38 zu entwickeln. Analog dazu heißt es, jedes Volk müsse „sein Drama nach seiner Geschichte, nach Zeitgeist, Sitten, Meinungen, Sprache, Nationalvorurteilen, Traditionen, und Liebhabereien […] erfinden“.39 Problematisch ist für Herder also nicht die Praxis der Nachahmung überhaupt, sondern lediglich die „lächerlich[e]“ und „verächtlich[e]“ Imitation „fremde[r] Nationen“, insbesondere der Franzosen: „[I]hr Deutsche! müßt ihr schon nachahmen, so ahmt lieber eure Landesleute nach“,40 fordert er mit Vehemenz.41 Ein „Originalschriftsteller“ ist Herder zufolge, „wenige Beispiele ausgenommen, beständig ein Nationalautor“,42 und somit müsse „der Dichter […] seinem Boden getreu bleiben“.43 Dazu aber bedarf es einer recht rigiden Abgrenzung von anderen Völkern, wie sie im Älteren kritischen Wäldchen von 1767/68 zum Ausdruck kommt: Laut Herder schadet „nichts […] dem Nationalcharakter der Schönheit oder Eigentümlichkeit eines Volkes“ so sehr wie „Wanderung, oder fremde Vermischung, und dies ists eben, was die Nordischen Nationen […] ihrer Bildung beraubet“.44 Entgegen dem ersten Eindruck darf aus solchen Zitaten aber nicht gefolgert werden, der frühe Herder habe für eine generelle Zurückweisung alles Fremden plädiert.45 Von einer geschlossenen Weltsicht kann in seinem Fall schwerlich die Rede sein,46 denn mitunter artikuliert er auch konträre Positionen. So bekundet

38 Johann Gottfried Herder, „Shakespear“, in: Werke in zehn Bänden, Bd. 2, Gunter E. Grimm (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1993, S. 498–521, hier S. 508. 39 Ebd., S. 506 f. 40 Herder, „Über die neuere deutsche Literatur. Zwote Sammlung von Fragmenten“, S. 351. 41 Eine diachrone Kontextualisierung von Herders Forderung bietet der instruktive Aufsatz von Olav Krämer, „‚Welcher Gestalt man denen Frantzosen […] nachahmen solle‘. Stationen einer Jahrhundertdebatte (Thomasius, Prémontval, Herder, Friedrich II., Möser)“, in: Jens Häseler/ Albert Meier (Hrsg.), Gallophobie im 18. Jahrhundert, Berlin 2005, S. 61–88. Vgl. außerdem das grundlegende Kompendium von Ruth Florack, Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur, Stuttgart/Weimar 2001, und den Sammelband von Raymond Heitz u.a. (Hrsg.), Gallophobie und Gallophilie in der Literatur und den Medien in Deutschland und Italien im 18. Jahrhundert, Heidelberg 2011. 42 Herder, „Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente, als Beilagen zu den Briefen, die neueste Literatur betreffend. Dritte Sammlung“, S. 409. 43 Ebd., S. 412. 44 Johann Gottfried Herder, „Älteres kritisches Wäldchen“, in: Werke in zehn Bänden, Bd. 2, S. 11–55, hier S. 48. 45 Ein prominenter Text, der dieses Fehlurteil ventiliert, stammt von Wolfgang Welsch, „Transkulturalität“, in: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache, 26/2000, S. 327–351. 46 Vgl. etwa Hans Adler, „Nation. Johann Gottfried Herders Umgang mit Konzept und Begriff“, in: Gesa von Essen/Horst Turk (Hrsg.), Unerledigte Geschichten. Der literarische Umgang mit Nationalität und Internationalität, Göttingen 2000, S. 39–56, hier S. 44 f.

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er in der preisgekrönten Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772), dass die Deutschen noch immer „in [ihren] Wäldern leben“47 würden, hätten sie nicht segensreiche Anregungen von außen erfahren. Mithin erfordert die Etablierung der deutschen Nation ihm zufolge nicht allein „Abgrenzung und adversiale Entgegensetzung“, sondern gleichermaßen „Austausch und Wechselindividuation im Zuge einer internationalen Kontaktgeschichte“48 – sofern es sich nicht um erzwungene, aus Macht- und Geldgier gespeiste Kontakte handelt.49 Damit liegt auf der Hand, dass die skizzierten Auffassungen keineswegs bloß in poetologischer Hinsicht Sprengkraft besaßen: Was Herder anstrebte, war eine „Befreiung nicht nur von ästhetischen, sondern auch von politischen Fesseln.“50 Demgemäß richteten sich seine Invektiven gegen die übermäßige Orientierung der Deutschen am Fremden zuallererst gegen den ‚französierten‘ Adel, und entsprechend formuliert er 1765 den damals nahezu ungeheuerlichen Satz „[D]er Staat muß von unten verbessert werden“,51 um einige Jahre darauf den „Despotismus“ als „wahre[n] Rachen der Menschheit, der alles […] in Tod und einförmige Zermalmung hinabschlingt“,52 zu verdammen. Anstatt diesen schon vielfach behandelten Zusammenhang zu vertiefen, soll nun jedoch der enorme Einfluss herausgestellt werden, den Herders Ansichten auf Lenz’ völkerkundliche Anthropologie und auf die daraus abgeleitete Poetologie ausübten.

47 Johann Gottfried Herder, „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“, in: Werke in zehn Bänden, Bd. 1, S. 695–810, hier S. 806. 48 Gesa von Essen, „Nationale Emanzipation als internationale Kontaktgeschichte bei Johann Gottfried Herder“, in: Ulrike-Christine Sander/Fritz Paul (Hrsg.), Muster und Funktionen kultureller Selbst- und Fremdwahrnehmung. Beiträge zur internationalen Geschichte der sprachlichen und literarischen Emanzipation, Göttingen 2000, S. 391–413, hier S. 392. 49 Zu diesem Ergebnis gelangen auch mehrere Beiträge in Regine Otto (Hrsg.), Nationen und Kulturen. Zum 250. Geburtstag Johann Gottfried Herders, Würzburg 1996. 50 Walter Hinderer, „Das Kollektivindividuum Nation im deutschen Kontext. Zu seinem Bedeutungswandel im vor- und nachrevolutionären Diskurs“, in: Alexander von Bormann (Hrsg.), Volk – Nation – Europa. Zur Romantisierung und Entromantisierung politischer Begriffe, Würzburg 1998, S. 179–197, hier S. 184. Diesen Befund stützen Herders zahlreiche, hier nicht im Einzelnen nachzuweisende Erwähnungen der Schriften Abbts und Mosers. 51 Herder, „Wie die Philosophie zum Besten des Volks allgemeiner und nützlicher werden kann“, S. 130. 52 Herder, „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“, in: Werke in zehn Bänden, Bd. 4, S. 9–107, hier S. 44.

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IV Das ‚Nationalcharakter‘-Konzept in Lenz’ theoretischen Schriften Dass sich ein Autor wie Lenz intensiv mit den Kulturdifferenzen innerhalb Europas befasst hat, mutet schon in Anbetracht seiner Vita naheliegend an.53 So wuchs er als Mitglied der deutschsprachigen Oberschicht Livlands auf, deren Dasein sich eklatant von demjenigen der unterprivilegierten Esten und Letten unterschied. In Straßburg wiederum, wohin es Lenz nach einem knapp dreijährigen Studium in Königsberg zog und wo er von 1771 bis 1776 lebte, war die öffentliche Sphäre von einem Spannungsverhältnis zwischen der französischen Bevölkerungsmehrheit und der deutschen Minderheit geprägt: Belege dafür liefern nicht zuletzt seine theoretischen Schriften, die immer wieder auf völkerkundlich-anthropologische Wissensbestände zurückgreifen, um die Unvereinbarkeit der französischen Lebensart mit dem Charakter des deutschen Volkes zu exponieren. Besonders einschlägig sind in diesem Kontext die sprachphilosophischen Überlegungen, die Lenz 1775 vor der Straßburger Deutschen Gesellschaft präsentierte,54 darunter sein Vortrag Über die Bearbeitung der deutschen Sprache im Elsaß, Breisgau und den benachbarten Gegenden. Darin stellt er fest, dass es primär die gemeinsame Sprache sei, welche die politisch noch ungeeinte deutsche Nation als ein „allgemeines Band“55 zusammenhalte. Im Anschluss an Herder lehnt er aber die Einschätzung ab, unter einer Nation sei nichts anderes als eine Sprachgemeinschaft zu verstehen: Auch Lenz zufolge handelt es sich bei der im Vergleich zum Französischen „edlere[n] und kühnere[n]“56 deutschen Sprache bloß um ein sekundäres Phänomen; ihre Eigenheiten führt er auf die

53 Darauf verweist bereits Christoph Deupmann, „‚O Pfui doch – tu doch so französisch nicht‘. Identitätspolitik und ästhetische Repräsentation bei Jakob Michael Reinhold Lenz“, in: Häseler/ Meier (Hrsg.), Gallophobie im 18. Jahrhundert, S. 13–32, hier S. 16, wo Lenz’ Biographie als „die einer lebenslangen Migration, einer keineswegs ganz selbstgewählten transkulturellen Erfahrung“ charakterisiert wird. Vgl. auch Ariane Martin, „‚Ich bin ein Fremder, […] unstet und flüchtig‘ – Exterritorialität als Selbstdeutungskonzept von J.M.R. Lenz?“, in: Carsten Jakobi (Hrsg.), Exterritorialität. Landlosigkeit in der deutschsprachigen Literatur, München 2006, S. 75–91. 54 Vgl. dazu die detaillierten Ausführungen von Joachim Scharloth, „Deutsche Sprache, deutsche Sitten. Die Sprachkonzeption von J.M.R. Lenz im Kontext der Sprachnormendebatte des 18. Jahrhunderts“, in: Lenz-Jahrbuch, 12/2002/03, S. 89–118. 55 Jakob Michael Reinhold Lenz, „Über die Bearbeitung der deutschen Sprache im Elsaß, Breisgau und den benachbarten Gegenden“, in: Werke und Briefe in drei Bänden, Bd. 2, Sigrid Damm (Hrsg.), München/Wien 1987, S. 770–777, hier S. 777. 56 Jakob Michael Reinhold Lenz, „Über die Vorzüge der deutschen Sprache“, in: Werke und Briefe in drei Bänden, Bd. 2, S. 777–782, hier S. 778.

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„Anlage [d]es Nationalcharakters“57 zurück. Von Belang ist dabei weniger, dass Lenz den eigenen Landsleuten eine gewisse Superiorität attestiert, als vielmehr der Umstand, dass er den Begriff der Nation durch seine Bezugnahme auf das Konzept des ‚Nationalcharakters‘ anthropologisch fundiert. Der schon von Herder relativierten Klimatheorie will er freilich so gut wie keine Relevanz mehr zugestehen; die Einwirkung der Umwelt auf die Lebensweise eines Volkes hält Lenz für letztlich vernachlässigenswert: „[D]er Deutsche wird an der Küste der Kaffern so gut als in Diderots Insel der Glückseligkeit immer Deutscher bleiben, und der Franzose Franzos.“58 Somit hat es den Anschein, als stelle die Nation für ihn eine invariable Größe dar, eine „organische Einheit“,59 die sich aus der gemeinsamen Abkunft ihrer Mitglieder ergibt. In sich widersprüchlich erscheinen Lenz’ Erörterungen allerdings dadurch, dass er zugleich suggeriert, die kulturelle Homogenität der deutschen Nation unterliege einer permanenten Bedrohung.60 So warnt er in der Tradition der barocken Alamode-Kritik vor der Ausbreitung eines „Deutschfranzösisch […], das der Reinigkeit beider Sprache gleich gefährlich werden könnte“61 und als Symptom einer Anbiederung allzu vieler Deutscher an die Franzosen aufzufassen sei.62 Betrieben werde diese Anbiederung „auf Kosten unserer ganzen Art zu denken, zu empfinden und zu handeln, auf Kosten unsers NationalCharakters, -Geschmacks und -Stolzes“.63 Angesichts dieser puristischen Position stellt es einen neuerlichen Argumentationsbruch dar, wenn Lenz andernorts zwar ebenfalls von der Veränderlichkeit nationaler Eigentümlichkeiten ausgeht, sie nun aber affirmiert. Gegen die Übernahme ausgewählter Errungenschaften fremder Nationen hat er dort überhaupt nichts einzuwenden, votiert er doch dafür, die deutsche Sprache durch „französische Leichtigkeit“ und ferner durch „griechische Ründe, römische Stärke, englischen Tiefsinn“64 anzureichern. Demnach ist eine Ähnlichkeit der sprachtheo-

57 Lenz, „Über die Bearbeitung der deutschen Sprache“, S. 772 f. 58 Ebd., S. 770. Zu Lenz Ablehnung der Klimatheorie vgl. schon Deupmann, „‚O Pfui doch – tu doch so französisch nicht‘“, S. 25. 59 Ebd., S. 24. 60 Auf diesen Widerspruch macht bereits Deupmann aufmerksam; vgl. ebd., S. 25. 61 Lenz, „Über die Bearbeitung der deutschen Sprache“, S. 771. Vgl. auch Lenz, „Über die Vorzüge der deutschen Sprache“, S. 778, wo all diejenigen abgekanzelt werden, die das Deutsche „durch Gallizismen verfälschen und verderben“. 62 Vgl. zur Kritik an der ‚Sprachmengerei‘ im 17. und 18. Jahrhundert die Arbeit von Anja Stukenbrock, Sprachnationalismus. Sprachreflexion als Medium kollektiver Identitätsstiftung in Deutschland (1617–1945), Berlin/New York 2005, S. 69–240. 63 Lenz, „Über die Bearbeitung der deutschen Sprache“, S. 773. 64 Ebd., S. 772.

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retischen Arbeiten Lenz’ mit denjenigen des ‚rhapsodischen‘ Denkers Herder auch hinsichtlich manch logischer Inkonsistenzen nicht zu verkennen. Weitere Parallelen zu Herder können im Kontext von Lenz’ Bemühungen um eine – nicht zuletzt politisch wirksame – deutsche Nationalliteratur ausgemacht werden: Als sein gewichtigster poetologischer Text gelten gemeinhin die Anmerkungen übers Theater (1774), in denen er sich energisch gegen „die so erschröckliche jämmerlichberühmte Bulle von den drei Einheiten“65 wendet. Dennoch fällt seine Auseinandersetzung mit Aristoteles durchaus respektvoll aus; beinahe aggressiv begegnet er hingegen jenen Autoren, die er als dessen unberufene Adepten begreift, vor allem Corneille, Racine und Voltaire sowie ihren Nachahmern, den „deutsche[n] Franzosen“,66 deren Werke meist geradezu „ekelhaft“67 gerieten. Zu unterstreichen ist, dass Lenz seine dramentheoretischen Thesen an keiner Stelle auf Voraussetzungen gründet, denen er universelle Gültigkeit zuspricht. Ähnlich wie Herder verficht er die produktionsästhetische Auffassung, dass jeder Dichter aus dem kulturellen Fundus seiner Nation zu schöpfen habe, und auch er instrumentalisiert dabei alles Französische als „Kontrastfolie […], von der sich sowohl der deutsche Nationalcharakter als auch das Wesen und Prinzip der eigentlichen Poesie abheben lassen.“68 Entscheidend sei mithin, „den Volksgeschmack der Vorzeit und unsers Vaterlands zu Rate [zu] ziehen, der noch heut zu Tage Volksgeschmack bleibt und bleiben wird.“69 Daraus resultiert zunächst der Eindruck, dass Lenz den „Volksgeschmack“ für einen unwandelbaren Faktor hält, doch fallen seine poetologischen Ausführungen letztlich ebenso unstimmig wie die sprachtheoretischen aus. Ausschlaggebend dafür ist in erster Linie sein wirkungsästhetisches Postulat, ein Drama könne und solle der Restituierung des Nationalbewusstseins der Rezipienten dienen: Mit Bezug auf den Titelhelden von Goethes Götz von Berlichingen (1773) appelliert Lenz an seine Leserschaft, dem „Charakter dieses antiken deutschen Mannes“ nachzueifern, „damit wir wieder Deutsche werden, von denen wir so weit ausgeartet sind“.70 Dadurch aber offenbart er zugleich, dass er sich der diachronen Persistenz des „Volksgeschmack[s]“ keineswegs sicher ist.

65 Jakob Michael Reinhold Lenz, „Anmerkungen übers Theater“, in: Werke und Briefe in drei Bänden, Bd. 2, S. 641–671, hier S. 654. 66 Ebd., S. 644. 67 Ebd., S. 660. 68 Krämer, „‚Welcher Gestalt man denen Frantzosen […] nachahmen solle‘“, S. 81. 69 Lenz, „Anmerkungen übers Theater“, S. 668. 70 Jakob Michael Reinhold Lenz, „Über Götz von Berlichingen“, in: Werke und Briefe in drei Bänden, Bd. 2, S. 637–641, hier S. 639 f.

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Ungeachtet der Inkonsequenzen, die Lenz’ expositorische Schriften aufweisen, bleibt vorläufig zweierlei zu resümieren. Zum einen hat es ihr Verfasser darauf abgesehen, seine Sprachtheorie wie auch seine Dramenpoetik völkerkundlichanthropologisch zu fundieren: Der allgemeine Sprachgebrauch wie auch die „Produkte[ ] der Kunst“ können seines Erachtens nicht isoliert von den „Nationen mit ihrem Charakter“71 behandelt werden, und so distanziert er sich entschlossen von einem Autor wie Wieland, der derlei (nicht nur) in seinem Aufsatz Der Eifer, unsrer Dichtkunst einen National-Charakter zu geben (1773) bestritten hatte. Zum anderen ist ersichtlich geworden, dass Lenz’ sprachphilosophische und poetologische Positionen stets auch politische Brisanz besitzen, selbst wenn sich diese bisweilen nur unterschwellig zeigt. Gerade literarische Texte müssen ihm zufolge auf Grundlage ihrer öffentlichen „Wirkung“72 bewertet werden; dem „deutschen Vaterlande“73 beizustehen, heißt für Lenz eben auch, einen Beitrag zu seiner Befreiung von unrechtmäßiger Herrschaft und zu seiner staatlich-territorialen Einigung zu leisten.

V ‚Nationalcharakter‘ und Mimikry in Lenz’ poetologischer Farce Pandämonium Germanikum Exemplarisch zu beleuchten ist im Weiteren, inwiefern die geschilderten Zusammenhänge auch für Lenz’ Dramenschaffen von signifikanter Bedeutung sind. Prinzipiell wären dafür verschiedene Werke geeignet, etwa sein kurzes Stück Der Engländer (1776), in dem das Verhältnis von englischem und italienischem ‚Nationalcharakter‘ verhandelt wird, oder die Komödie Die Freunde machen den Philosophen (1776), die neben spanisch-deutschen Kulturkontakten auch den französisch-deutschen Gegensatz thematisiert. Letzterer prägt überdies Lenz’ SoldatenDrama, das zwar in Französisch-Flandern spielt, dessen Figuren aber zu erheblichen Teilen mit deutschen Namen versehen sind. Allerdings ist das Stück gerade dadurch gekennzeichnet, dass die darin entworfene nationalkulturelle Dichotomie nicht stabil bleibt, sondern immer wieder durch Hybridisierungstendenzen unterlaufen wird. Für das Pandämonium Germanikum gilt dies gleichermaßen, hinzu kommt aber, dass der Text neben seiner völkerkundlich-anthropologischen Dimension eine dezidiert poetologische Ausrichtung aufweist.74 Die folgende

71 Jakob Michael Reinhold Lenz, „Briefe über die Moralität der Leiden des jungen Werthers“, in: Werke und Briefe in drei Bänden, Bd. 2, S. 673–690, hier S. 690. 72 Lenz, „Über Götz von Berlichingen“, S. 639. 73 Lenz, „Über die Vorzüge der deutschen Sprache“, S. 778. 74 Überliefert ist das Stück in zwei Handschriften, deren Abweichungen sich unter Heranziehung der synoptischen Ausgabe von Matthias Luserke und Christoph Weiß leicht ermitteln lassen; im

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Untersuchung des Zusammenwirkens beider Aspekte soll insbesondere zeigen, dass Lenz die Qualität eines Autors zwar offenkundig davon abhängig macht, in welchem Ausmaß dieser mit dem ‚Wesen‘ der eigenen Nation übereinstimmt, dass seine Satire aber nicht für die komplette Abschottung der deutschen Literatur einsteht. Denn das Drama enthält auch diametral entgegengesetzte Tendenzen, welche die Verteidigung kultureller Homogenität und sprachlicher ‚Reinheit‘ als im Grunde unmöglich entlarven und ethnizistische Konstruktionen kollektiver Identitäten unterminieren. Die Selbstwidersprüchlichkeit, die in Lenz’ theoretischen Texten zutage tritt, durchzieht somit auch das Pandämonium Germanikum – hier aber wird sie ästhetisch produktiv.75 Bei Lenz’ Stück handelt es sich um ein dreiaktiges Lesedrama, das auf die Präsentation eines kohärenten Geschehensverlaufs verzichtet; die Reihenfolge der oft sehr kurzen Szenen erscheint partiell austauschbar. Nach und nach tritt eine recht unübersichtliche Menge von Figuren auf, die den poetologischen Charakter des Textes schon dadurch zu erkennen geben, dass sie in ihrer Mehrzahl die Namen von Schriftstellern unterschiedlicher Nationalität und Epochenzugehörigkeit tragen. Unter den dramatis personae befindet sich auch Lenz selbst, der im nur rund 150 Wörter umfassenden Schlussakt „ganz erhitzt“76 aus einem Traum erwacht, wodurch alles Vorausgegangene in die Sphäre des Irrealen verschoben wird. Den Beginn des Pandämonium Germanikum markiert indes die Begegnung zwischen den Protagonisten Lenz und Goethe am Fuße eines „steil[en] Gebirg[es]“,77 das auf den Parnass, die Heimat der Musen, verweist. Als Goethe zügig bergan schreitet, kann ihm Lenz nicht folgen; schließlich aber erreicht auch er den Gipfel und verhöhnt gemeinsam mit dem Gefährten all die „Nachahmer“78 und „Philister“,79 die sich vergeblich am Aufstieg versuchen. Nur die

vorliegenden Aufsatz wird auf die etwas längere Erstfassung zurückgegriffen. Zur einigermaßen komplizierten, von gravierenden Irrtümern verschiedener Herausgeber geprägten Druckgeschichte des Pandämonium Germanikum vgl. etwa Matthias Luserke, „Das ‚Pandämonium Germanikum‘ von J.M.R. Lenz und die Literatursatire des Sturm und Drang“, in: Inge Stephan/Hans-Gerd Winter (Hrsg.), „Unaufhörlich Lenz gelesen …“. Studien zu Leben und Werk von J.M.R. Lenz, Stuttgart/ Weimar 1994, S. 257–272, hier S. 258 f. 75 Daher ist es einigermaßen heikel, das Stück kurzerhand zur „poetologische[n] Programmschrift in dialogisierter Gestalt“ zu erklären. Werner Rieck, „Poetologie als poetisches Szenarium. Zum ‚Pandämonium Germanicum‘ von Jakob Michael Reinhold Lenz“, in: Lenz-Jahrbuch, 2/1992, S. 78–111, hier S. 79. 76 Jakob Michael Reinhold Lenz, Pandämonium Germanikum. Eine Skizze, synoptische Ausgabe beider Handschriften, Matthias Luserke/Christoph Weiß (Hrsg.), St. Ingbert 1993, S. 60. 77 Ebd., S. 10. 78 Ebd., S. 14. 79 Ebd., S. 18.

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„Journalisten“ gelangen per Luftschiff zu dem Duo empor, ehe sie plötzlich zu „Schmeißfliegen“80 und danach zu Kleinkindern mutieren. Bedeutsam ist jedoch vor allem, dass die Goethe-Figur in Lenz nicht bloß einen Verfechter kongruenter ästhetischer Grundsätze sieht, sondern überdies einen wackeren „Teutsche[n]“.81 Lenz präzisiert diese Zuschreibung, indem er angibt, „[a]us dem hintersten Norden“82 zu stammen, womit er auf den von Herder modellierten Idealtypus des „nordische[n] Menschen“83 rekurriert, der sich unter anderem durch seine Aufrichtigkeit und Gedankentiefe auszeichne. Ob die im Stück gestaltete Beziehung zwischen den Figuren Lenz und Goethe tatsächlich als ein Versuch des empirischen Autors zu deuten ist, „sich über sich selbst und über sein Verhältnis zu Goethe zu orientieren“,84 mag hier dahingestellt bleiben.85 Zu betonen ist aber, dass bereits diese Beziehung die immense Relevanz erhellt, die der nationalen Identität des Individuums im Pandämonium Germanikum beigemessen wird. Noch klarer geht dies aus dem zweiten Akt hervor, in dem sich der Schauplatz zum „Tempel des Ruhms“86 wandelt und die beiden Hauptakteure eine innige Verbrüderung mit Klopstock, Lessing und Herder vollziehen, die erwartungsgemäß zu verdienten Wegbereitern ‚deutscher Art und Kunst‘ stilisiert werden. Bemerkenswert ist dabei, dass es keineswegs die Figuren prominenter Franzosen wie Rabelais, La Fontaine, Molière oder Voltaire sind, die als Zielscheiben für den Spott des Quintetts herhalten müssen; diese Rolle kommt vielmehr etlichen deutschen Schriftstellern zu, denen eine übermäßige Affinität zu fremden Kulturen angelastet wird. So muss sich Hagedorn als ruchloser Epigone La Fontaines vorführen lassen, und ähnlich ergeht es Gellert, den „[e]inige[ ] Franzosen“ mit einem ironischen „Oh, l’original!“87 begrüßen,88

80 Ebd., S. 24. 81 Ebd., S. 12. 82 Ebd. 83 Herder, „Shakespear“, S. 509. 84 Luserke, „Das ‚Pandämonium Germanikum‘ von J.M.R. Lenz“, S. 260. 85 Eine biographistische Lesart entwickelt etwa der Aufsatz von Fritz Wefelmeyer, „Der scheiternde Künstler auf der Höhe mit ‚Bruder Goethe‘ und Zuschauer. Selbstdarstellung im ‚Pandämonium Germanicum‘“, in: David Hill (Hrsg.), Jakob Michael Reinhold Lenz. Studien zum Gesamtwerk, München 1994, S. 140–160. 86 Lenz, Pandämonium Germanikum, S. 28. 87 Ebd., S. 30. 88 Angespielt wird damit auf eine Audienz Gellerts bei Friedrich II.: Dieser hatte in ihm einen Nachahmer La Fontaines erkannt, woraufhin Gellert den Regenten von seiner Originalität zu überzeugen suchte. Vgl. dazu Stefan Schmalhaus, Literarische Anspielungen als Darstellungsprinzip. Studien zur Schreibmethodik von Jakob Michael Reinhold Lenz, Münster/Hamburg 1994, S. 152.

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sowie Johann Georg Jacobi, der von ihnen als „notre petit“89 infantilisiert wird. Demgegenüber erfährt Gleim zwar keine direkte Degradierung zum Spielzeug der Franzosen, doch wird auch er grell karikiert. Anfangs darf der Verfasser der Preußischen Kriegslieder zwar noch im Harnisch auftreten, doch legt er diesen schon bald ab und gibt fortan nur mehr schwachbrüstigen Schwulst zum Besten. In scharfem Kontrast zu all dem gebärdet sich Wieland zunächst als feuriger Literaturrevolutionär, der sich sämtliche rokokohaften Erotismen strikt verbittet: „[H]eraus mit euch Bänkelsängern, Wolustsängern, Bordellsängern, heraus aus dem Tempel des Ruhms“.90 Nach einer Weile aber bringt auch er bloß noch ziselierte Schlüpfrigkeiten zu Gehör,91 so dass die Goethe-Figur ihn und Jacobi mit der hämischen Frage „Ihr Deutsche?“92 bedenkt. Unmittelbar darauf herrscht Goethe die beiden ‚vaterlandslosen Gesellen‘ an: „Hier ist eine Reliquie eurer Vorfahren. Zu Boden mit euch und angebethet, was ihr nicht werden könnt.“93 Neben Wieland, den ja auch einige weitere Lenz-Texte recht unverblümt schmähen,94 ist es insbesondere Weiße, der im Pandämonium Germanikum genüsslich aufs Korn genommen wird. Just aus „Welschland“ zurückgekehrt, trägt er ein „französische[s] Sammetkleid[ ]“ und eine „englische[ ] Perücke“,95 worin eine Anspielung auf seine an französischen Vorbildern geschulten Bearbeitungen mehrerer Shakespeare-Dramen zu sehen ist. In der Folge werden er und seine Claqueure von einer „Stimme aus dem Winkel“ mit der Sottise „Das sollen Deutsche seyn?“96 abqualifiziert, was offenbar die Quittung dafür ist, dass Weiße mit Vorliebe französisch parliert: „Bon voyage mon cher Monsieur! je vous suis bien obligé de toutes vos politesses.“97 Auch von der Figur seines früheren Leipziger 89 Lenz, Pandämonium Germanikum, S. 36. 90 Ebd., S. 34. 91 Parodiert wird damit der Gesinnungswandel des realen Wieland, der zunächst entrüstet auf die deutsche Anakreontik reagiert hatte, sich mit den 1765 publizierten Comischen Erzählungen aber selbst auf das Feld des Zweideutigen begab. 92 Lenz, Pandämonium Germanikum, S. 38. 93 Ebd. Dass hier auf Goethes Götz abgehoben wird, vermerkt etwa Rieck, „Poetologie als poetisches Szenarium“, S. 89. 94 Zu denken wäre etwa an die Rezension des Neuen Menoza, von dem Verfasser selbst aufgesetzt (1775), mit der Lenz auf Wielands Verriss seiner Komödie im Teutschen Merkur antwortete. Das Wieland scharf attackierende Drama Die Wolken aus dem Jahr 1776 ließ Lenz jedoch, vermutlich auf Veranlassung Goethes, unmittelbar nach dem Druck einstampfen; stattdessen legte er den milder urteilenden Essay Verteidigung des Herrn W. gegen die Wolken von dem Verfasser der Wolken (1776) vor. 95 Lenz, Pandämonium Germanikum, S. 46. 96 Ebd., S. 50. 97 Ebd.

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Studienfreundes Lessing wird Weißes notorische „Nachahmung der Franzosen“98 streng getadelt,99 und als mit einem Mal der wahre Shakespeare vom Himmel steigt, schleicht der angebliche „deutsche Shakespear“100 düpiert von dannen.101 Insgesamt erscheint der oberflächlich-galante Weiße in Lenz’ Stück als ein ganz und gar herkunftsvergessener Deutscher, dessen Verhalten längst der üblichen Kodifizierung des französischen ‚Nationalcharakters‘ entspricht. Dieser besteht laut Kants schon erwähnten Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen vor allem darin, dass der Franzose – wie übrigens auch die Frau102 – allzeit „artig, höflich und gefällig“ agiert: „Er wird sehr geschwinde vertraulich, ist scherzhaft und frei im Umgange […]. Er ist sehr gerne witzig und wird einem Einfalle ohne Bedenken etwas von der Wahrheit aufopfern.“103 Wenig später werden Kants gallophobe Ausführungen noch polemischer: „Der Fehler, woran dieser [der französische, S.H.] Nationalcharakter am nächsten grenzt, ist das Läppische oder, mit einem höflicheren Ausdrucke, das Leichtsinnige.“104 Deutlich wird somit, dass Weiße im Pandämonium Germanikum eine noch stärkere Herabwürdigung als Wieland erfährt. Denn zwar muss auch dieser die Aussonderung aus dem Kollektiv der Deutschen hinnehmen, doch wird er immerhin nicht zum effeminiert-frivolen Franzosen gestempelt – sondern zum Italiener: „Je ne crois pas que ce soit un Allemand, c’est un Italien“,105 lautet das Urteil, das eine namenlos bleibende Figur über ihn fällt. Den Italienern aber gesteht zumindest Kant einen etwas „tiefsinnig[eren]“106 und damit ‚männlicheren‘ Charakter

98 Ebd., S. 52. 99 Ferner erscheint Lessing in Lenz’ Stück als jemand, der seinen ästhetischen Überzeugungen notfalls auch mit „einem Faustschlag unter die Rippen“ Nachdruck verleiht. Ebd., S. 50. 100 Ebd., S. 48. 101 Vgl. zu dieser Schlüsselszene Martin Maurach, „Götter, Helden – und Lenz. Lenzens Trauerspielentwurf im ‚Pandämonium Germanicum‘ und der Epenstreit“, in: Das achtzehnte Jahrhundert, 30/2006, 1, S. 67–78, hier S. 74–78. 102 Vgl. Ruth Florack, „‚Weiber sind wie Franzosen geborne Weltleute‘. Zur Verschränkung von Geschlechter-Klischees und nationalen Wahrnehmungsmustern“, in: Dies. (Hrsg.), Nation als Stereotyp. Fremdwahrnehmung und Identität in deutscher und französischer Literatur, Tübingen 2000, S. 319–338, bes. S. 332–334. 103 Immanuel Kant, „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“, in: Werke in sechs Bänden, Bd. 1, Wilhelm Weischedel (Hrsg.), Darmstadt 1966, S. 821–884, hier S. 872. 104 Ebd., S. 873. Kant bestätigt damit die Auffassung Zimmermanns, der in Von dem Nationalstolze bekundet, dass man in Frankreich „nur in lächerlichen Dingen ernsthaft zu seyn“ pflege. Johann Georg Zimmermann, Von dem Nationalstolze, Konrad Beste (Hrsg.), Braunschweig 1937, S. 73. 105 Lenz, Pandämonium Germanikum, S. 36. 106 Kant, „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“, S. 869.

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als den Franzosen zu.107 Gleichwohl reichten auch sie nicht an die Deutschen heran, die gerade auf künstlerischem Terrain eine merkliche Überlegenheit beanspruchen dürften – jedenfalls dann, wenn sie es nicht auf eine „gekünstelt[e] und nachgeahmt[e]“108 Ähnlichkeit mit anderen Völkern anlegen. Denn nach Kant besitzt der Deutsche „eine glückliche Mischung in dem Gefühle sowohl des Erhabenen und des Schönen; und wenn er in dem ersteren es nicht einem Engländer, im zweiten aber dem Franzosen nicht gleich tut, so übertrifft er sie beide“.109 Vor diesem Hintergrund ist zu bilanzieren, dass Lenz’ Pandämonium Germanikum unzweifelhaft darauf abzielt, einer originär deutschen Kultur zum Durchbruch zu verhelfen. Gewiss kommt es dabei zu einer Reihe ironischer Brechungen, und doch ergibt sich der Eindruck, dass der Text ein ernsthaftes poetologisches Ansinnen verfolgt.110 Dabei fällt indes auf, dass die Imitation fremder Nationen, wie sie Lenz anhand von Figuren wie Wieland und Weiße vorführt, in weiten Teilen einem Verhaltensmuster gleicht, das der postkoloniale Theoretiker Homi Bhabha als kulturelle Mimikry beschrieben hat.111 Zwar bedeutet dies nicht, dass die im Stück thematisierten Verhältnisse mit einer im engeren Sinne kolonialen Situation gleichzusetzen wären, aber Lenz’ deutsche Figuren erscheinen durchaus als Angehörige eines von den Franzosen marginalisierten Kollektivs. Die Praxis der Mimikry ist eine naheliegende Reaktion auf diese Marginalisierung, besteht sie doch in der pflichtschuldigen Nachahmung der Dominanzkultur durch die Subalternen (etwa in sprachlicher oder habitueller Hinsicht), die aber niemals zu einer völligen Angleichung führen kann. Von herausragender Relevanz ist für

107 Vgl. ebd., S. 871. 108 Ebd., S. 874. 109 Ebd. 110 Dieses Ansinnen manifestiert sich auch in den Figuren eines Pfarrers und seines philisterhaften Küsters, mittels derer Lenz die öffentlichen Angriffe auf Goethes Werther-Roman (1774) persifliert: Die beiden bejammern fortwährend einen schändlichen Selbstmordkult, den einzig das unmoralische Geschmiere gottloser Schriftsteller ausgelöst habe. Dass speziell Nicolais Goethe-Parodie Freuden des jungen Werthers (1775), die auch eine maliziöse Anspielung auf Lenz enthält, als dessen Schreibanlass gelten kann, konstatiert Luserke, „Das ‚Pandämonium Germanikum‘ von J.M.R. Lenz“, S. 266. Überzeugend ist seine Einschätzung unter anderem deshalb, weil schon Nicolai in der entsprechenden Passage den Begriff des Pandämoniums verwendet; vgl. Friedrich Nicolai, Freuden des jungen Werthers. Leiden und Freuden Werthers des Mannes. Voran und zuletzt ein Gespräch, Berlin 1775, S. 43. 111 Vgl. Homi Bhabha, „Von Mimikry und Menschen. Die Ambivalenz des kolonialen Diskurses“, in: Ders., Die Verortung der Kultur, aus dem Englischen von Michael Schiffmann/Jürgen Freudl, Tübingen 2000, S. 125–136. Dass es gewinnbringend sein kann, sich Lenz’ Werk im Rekurs auf „Begriffe und Konzepte der postcolonial studies“ zu nähern, betont bereits Deupmann, „‚O Pfui doch – tu doch so französisch nicht‘“, S. 11.

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Bhabha, dass jegliche Mimikry – obwohl sie die Autorität des Hegemons vordergründig bekräftigt – aufgrund der durch sie erzeugten Hybridisierungen das Potential besitzt, den herrschenden Diskurs zu destabilisieren.112 Folgt man dieser Einschätzung, ist jedoch gar nicht mehr entscheidend, dass speziell die forcierte Ausrichtung an Frankreich im Pandämonium Germanikum als eine höchst verfängliche Angelegenheit inszeniert wird: Das gallophile Verhalten der WeißeFigur mag zwar der Lächerlichkeit preisgegeben werden, doch ist es gerade ihre Mimikry, welche die Annahme der Exklusivität der französischen Kultur unwillkürlich konterkariert. Damit aber wird zugleich – entgegen der mutmaßlichen Intention des Autors Lenz – jede auf Eindeutigkeit abzielende Grenzziehung zwischen den Völkern als haltlos exponiert: Wenn der ‚Nationalcharakter‘ etwas ist, das ein Individuum verleugnen, verraten und verlieren kann, dann stellt er keine geeignete Bezugsgröße dar, um Kulturunterschiede in anthropologisierender Weise festzuschreiben.113 Wie schon in Lenz’ sprach- und literaturtheoretischen Schriften ist also im Pandämonium Germanikum das Bestreben erkennbar, eine unüberwindliche Differenz zwischen Franzosen und Deutschen zu etablieren, doch wird auch das permanente, im Grunde unvermeidliche Scheitern derartiger Bemühungen augenfällig. Verstärkt wird dieses Problem noch dadurch, dass es eben nicht allein Negativfiguren wie Weiße sind, anhand derer sich der prekäre Charakter nationaler Zugehörigkeit ausmachen lässt. So unterstreicht auch die Goethe-Figur einmal, dass eine geradlinige Orientierung am deutschen ‚Wesen‘ undenkbar ist, solange die Frage, was denn überhaupt unter dem Attribut ‚deutsch‘ subsumiert werden soll, der Klärung bedarf: „Weiß ich wo ich her bin. Was wissen wir alle wo wir herstammen?“114 Daraus aber ergibt sich, dass auch jemandem wie Weiße nicht einfach die französische „Maske“115 heruntergerissen werden kann, um sein deutsches Antlitz zum Vorschein zu bringen. Stattdessen hebt das Pandämonium

112 Vgl. ebd., S. 131. 113 Ersichtlich wird dies auch anhand der Hauptfigur von Klingers Komödie Die falschen Spieler (1782), deren Handeln sich ebenfalls mit dem Begriff der Mimikry fassen lässt. Allerdings schlüpft der Deutsche Franz von Stahl nicht deshalb in die Rolle eines französischen Marquis, weil dessen Kultur einen unwiderstehlichen Reiz auf ihn ausübt; vielmehr wird die Verschleierung seiner Nationalität dadurch notwendig, dass sich Stahl als professioneller Falschspieler betätigt. Dies aber tut er nicht aus Habgier oder Eitelkeit, sondern um mit seinen illegalen Gewinnen die Armenfürsorge zu unterstützen: Bei seiner Mimikry handelt es sich damit – im Gegensatz zu den von Lenz inszenierten Fällen – um eine bewusste eingesetzte Widerstandsstrategie. Vgl. zu Klingers Stück Nina Birkner, „‚Tolerante Unterjochung‘. Völkerliebe und Vorurteil in der Komödie der Aufklärung“, in: Wirkendes Wort, 62/2012, 1, S. 9–25, hier S. 22 f. 114 Lenz, Pandämonium Germanikum, S. 12. 115 Ebd., S. 50.

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Germanikum ins Bewusstsein, dass das Deutsche mitnichten eine völkerkundlichanthropologische Essenz, sondern vielmehr Gegenstand eines diskursiven Konstruktionsprozesses ist.

VI Zur sprachlichen Hybridität von Lenz’ Farce Noch flagranter geraten diese Zusammenhänge dadurch, dass sie auch in der ästhetischen Gesamtanlage von Lenz’ Traumsatire reflektiert werden. Denn bei dieser handelt es sich insofern um ein äußerst heterogenes Gebilde, als die auf der Figurenebene zu verzeichnende Hybridität einer ebenfalls hybriden Sprachverwendung korrespondiert – schon der Titel kündet davon in anschaulicher Weise. So geht dessen erste Komponente auf einen Neologismus zurück, den Milton in seinem Paradise Lost (1667) geprägt hatte und der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts europaweit zu einem regelrechten Modebegriff avanciert war.116 „Pandæmonium“ bezeichnet bei Milton „the high Capitol / Of Satan and his Peers“;117 kompiliert ist der Terminus aus den griechischen Lexemen ‚pan‘ (alle) und ‚daimon‘ (Dämon) sowie der latinisierten Form von ‚ion‘ (Versammlung). Während also Milton die christliche Mythologie mit dem Entwurf eines diabolischen Pendants zum Pantheon anreichert, übt sich Lenz in einem noch radikaleren Synkretismus. Denn die im Wort „Pandämonium“ gebündelten Allusionen an griechisch-antike, biblische sowie neuere englische Überlieferungskontexte operationalisiert er ja im Titel eines Dramas, das sich mit der Rolle deutscher Schriftsteller innerhalb einer französisch dominierten Kulturlandschaft auseinandersetzt. Zugleich kristallisiert sich schon hier die Valorisierung ‚deutscher Art und Kunst‘ heraus, die das Pandämonium Germanikum als ganzes vollzieht. Es ist

116 Vgl. Hans-Gerd Winter, „‚Poeten als Kaufleute, von denen jeder seine Ware, wie natürlich, am meisten anpreist‘. Überlegungen zur Konfrontation zwischen Lenz und Goethe“, in: LenzJahrbuch, 5/1995, S. 44–66, hier S. 50 f. Im deutschen Sprachraum ging die Milton-Kenntnis wesentlich auf Bodmers erstmals 1732 publizierte Übersetzung des Paradise Lost zurück; revidierte Fassungen erschienen 1742, 1754, 1759, 1769 und 1780. 117 John Milton, „Paradise Lost“, in: Works, Bd. 2.1, Frank Allen Patterson u.a. (Hrsg.), New York 1931, S. 35. Während die hier zitierte Ausgabe der ersten, noch von Milton verantworteten Druckfassung des Paradise Lost folgt, wird die Ligatur „æ“ in den meisten neueren, einen modernisierten Text bietenden Editionen in „e“ umgewandelt. Auch die Groß- und Kleinschreibung erfährt dort gewöhnlich eine Anpassung; zudem ist umstritten, ob der letzte Vokal im ersten Teilvers als „o“ oder „a“ wiederzugeben ist. So heißt es denn in John Milton, Paradise Lost, Scott Elledge (Hrsg.), New York 1975, S. 27, nicht nur „Pandemonium“, sondern auch „the high capital / Of Satan and his peers“ (Hervorhebungen S.H.).

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nämlich keine Nebensächlichkeit, dass Lenz in beiden – in deutscher Kurrent verfassten – Handschriften die Schreibweise „Pandämonium“ wählt,118 also anstelle von „æ“ oder „ae“ den für das Deutsche typischen Umlaut verwendet: Vielmehr kann durchaus von einer bewussten und bedeutungstragenden Germanisierung des griechisch-englischen Wortes ausgegangen werden. Gestützt wird diese Auffassung dadurch, dass der zweite Bestandteil des Stücktitels in den Manuskripten eben nicht „Germanicum“ lautet, sondern der Wortinhalt vermittels der Ersetzung des „c“ durch das im Lateinischen nicht gebräuchliche „k“ auch im Schriftbild repräsentiert wird. Zusammen symbolisieren beide Germanisierungen den genuin deutschen Anteil an der europäischen Literatur- und Kulturgeschichte – allerdings unter konsequenter Beibehaltung einer supranationalen Perspektive.119 Um die ohnehin nicht realisierbare Zurückdrängung alles Fremden zugunsten einer absoluten literarischen Autarkie geht es im Pandämonium Germanikum daher offenbar nicht. Was anhand des von Lenz’ gewählten Titels sinnfällig wird, ist das auch für Herder charakteristische Eintreten für eine kollektive Aemulatio, den Wettstreit gleichberechtigter Völker (nicht nur) auf dem Feld des Ästhetischen. Bestätigung erfährt dieser Befund durch die sprachliche Form des Dramentextes, der ja ebenfalls nicht etwa mono-, sondern multilingual gestaltet ist: Zwar herrscht die deutsche Sprache stark vor, doch werden immer wieder französische Sequenzen,120 griechische und englische Wortfolgen121 sowie lateinische Termini122 eingestreut. Mit dieser polyglotten Verfasstheit des Stücks, die dem (freilich nicht konsequent durchgehaltenen) Purismus von Lenz’ sprachtheoretischen Schriften klar zuwiderläuft,123 konvergieren seine Anleihen bei anderen literarischen Werken, entbehrt ein „intertextuell organisierte[s]“ Drama doch zwangsläufig jeder fest umrissenen „Identität“:124 Im Fall des Pandämonium Germanikum

118 Vgl. die Reproduktion der Titelseiten in Lenz, Pandämonium Germanikum, S. 6 f. 119 Angesichts dessen ist es problematisch, dass etliche Editionen (und auch die meisten Forschungstexte) den Titel Pandämonium Germanikum als „Pandaemonium Germanicum“ und mitunter als „Pandämonium Germanicum“ wiedergeben; vgl. dazu auch die kritischen Anmerkungen von Luserke, „Das ‚Pandämonium Germanikum‘ von J.M.R. Lenz“, S. 259. Zurückzuführen ist diese Praxis wohl darauf, dass schon der von Georg Friedrich Dumpf veranstaltete Erstdruck des Dramas mit „Pandaemonium germanicum“ überschrieben war. 120 Vgl. Lenz, Pandämonium Germanikum, S. 28, 30, 32, 34, 36, 38, 50. 121 Vgl. ebd., S. 34 bzw. S. 48. 122 Vgl. ebd., S. 14, 16, 22, 32. 123 Dies bemerkt bereits Curt Pfütze, Die Sprache in J.M.R. Lenzens Dramen, Braunschweig 1890, S. 67 f. 124 Renate Lachmann, Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt a.M. 1990, S. 57.

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ist nicht zuletzt eine Nähe zur von Lukian geschaffenen Gattung des Totengesprächs und zum satirischen Konzept der ‚Bücherschlacht‘ festzustellen;125 überdies hat man Bezugnahmen auf Alexander Popes The Temple of Fame (1715) und Jakob Pyras Der Tempel der wahren Dichtkunst (1737) nachgewiesen126 sowie die enge Verwandtschaft von Lenz’ Farce mit Goethes Götter, Helden und Wieland (1774) oder Wagners Prometheus, Deukalion und seine Recensenten (1775) akzentuiert.127 Mithin steht die formale Struktur des Dramas in einem reziproken Verweisungsverhältnis zu jener Identitätsproblematik, die auf der Inhaltsebene verhandelt wird.

VII Engführung Insgesamt macht das Pandämonium Germanikum einerseits deutlich, dass die Konstituierung einer nationalen Kollektividentität stets der Bezugnahme auf ein Anderes bedarf, jede Selbstbeschreibung also „Alterität […] in Anspruch nehmen muss“:128 Erst indem „eine Kultur etwas zurückweist, was für sie außerhalb liegt“, vermag sie sie jene „Abgrenzung“ zu vollziehen, „die ihr den Ausdruck ihrer Positivität verleiht“,129 heißt es entsprechend bei Foucault. Andererseits sollte man aber nicht aus dem Blick verlieren, dass eine derartige Abgrenzung kaum einmal vollständig gelingt; fast immer kulminiert die zur Definition des Eigenen notwendige Auseinandersetzung mit dem Fremden in mannigfachen Hybridisierungen, und zwar auch und gerade dann, wenn diese partout vermieden werden sollen. So ist anhand des Pandämonium Germanikum zu beobachten, dass die dem Text eingeschriebenen Reinheitsphantasien unentwegt subvertiert werden, und die vorherige Analyse der Frühschriften Herders und der expositorischen Veröffentlichungen Lenz’ hat ja ein ähnliches Resultat erbracht. Allerdings besteht ein gravierender Unterschied darin, dass die Überzeugungskraft dieser

125 Vgl. Achim Hölter, Die Bücherschlacht. Ein satirisches Konzept in der europäischen Literatur, Bielefeld 1995. 126 Vgl. im Einzelnen Winter, „‚Poeten als Kaufleute, von denen jeder seine Ware, wie natürlich, am meisten anpreist‘“, S. 48 f., und Martin Maurach, „Vom Beobachten und ‚Schreiben‘ einer literarischen Kultur. Ruhm und metaphorische Räume in J.M.R. Lenzens ‚Pandämonium Germanicum‘“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 32/2002, 2, S. 146–157, hier S. 148 f. 127 Vgl. Luserke, „Das ‚Pandämonium Germanikum‘ von J.M.R. Lenz“, S. 265–269, und Franziska Herboth, Satiren des Sturm und Drang. Innenansichten des literarischen Feldes zwischen 1770 und 1780, Hannover 2002, S. 240–258. 128 Ortrud Gutjahr, „Fremde als literarische Inszenierung“, in: Dies. (Hrsg.), Fremde, Würzburg 2002, S. 47–67, hier S. 48. 129 Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, S. 9.

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programmatischen Texte durch die ihnen inhärenten Widersprüche nicht unerheblich geschmälert wird, während sich dies vom Pandämonium Germanikum keineswegs sagen lässt. Denn als ein fiktionales Werk, das nicht direkt auf die außerliterarische Realität zu beziehen ist, verfügt das Stück über eine spezifisch poetische Lizenz. Mehr noch: Gerade durch seine inhaltliche und formale Heterogenität gewinnt es sowohl an gedanklicher als auch an ästhetischer Komplexität130 – und entgeht so der Gefahr, in platter Deutschtümelei zu verharren.

130 Vgl. dazu vor allem Harald Fricke, Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur, München 1981.

Jutta Heinz, Freiburg

„Geographie der dichtenden Seele“ Die Entwicklung einer naturalistischen Ästhetik in Herders Volkslied-Projekt

Im umfangreichen Werk Johann Gottfried Herders saubere Grenzlinien zwischen den heutzutage getrennten wissenschaftlichen Disziplinen ziehen zu wollen, gleicht dem sprichwörtlichen Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln. Ästhetik, Anthropologie, Biologie, Ethnologie, Geographie, Geschichte, Kosmologie, Kunst- und Musikwissenschaft, Philologie, Philosophie und (nur alphabetisch) zuletzt Theologie sind in vielen Texten zu einem ‚genialischen‘ Gesamtentwurf verschmolzen, dessen ‚Überbau‘ verschiedene Namen tragen kann: Gott natürlich, aber auch (beinahe gleichwertig) Natur oder Humanität. Das kann ein Vorteil oder ein Nachteil sein. Für Herders wissenschaftliches Renommee war es wohl eher ein Nachteil, ebenso für seinen Nachruhm: Keine Disziplin fühlt sich bis heute so richtig zuständig für ihn – zumal sein Denken bekanntermaßen nicht von begrifflicher Klarheit und logischer Stringenz geprägt ist, sondern von stilistischem und gedanklichem Überschwang, ausschweifender Bildlichkeit, weitgreifenden Analogien und verwegenen Hypothesen. Und auch seine Stellung zur Dichtung ist, gelinde gesagt, unklar. In einem Brief an die Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach vom November 1781 schreibt er, er sei „kein Dichter, wills auch nicht seyn oder werden“.1 Gleichwohl hat er Gedichte geschrieben und veröffentlicht, und auch seine wissenschaftlichen wie theologischen Beiträge streifen gerade durch ihre stilistische Vielfalt die ohnehin unscharfe Grenze zur Dichtkunst immer wieder. In dieser Gemengelage nimmt Herders Volkslied-Projekt eine zentrale Stellung ein. Zeitlebens hat sich Herder damit beschäftigt, Volkslieder aus möglichst vielen Ländern zu sammeln, in die deutsche Sprache zu übertragen und über ihre Eigenart nachzudenken. In den unterschiedlichen Werkausgaben liegen ausführliche Darstellungen dieses Projekts vor.2 Mir geht es im Folgenden vor allem um

1 Hier zitiert nach Jutta Heinz/Jochen Golz (Hrsg.), „Es war ein Wochenblatt zum Scherze angefangen“. Das Journal von Tiefurt, Göttingen 2011, S. 19. 2 Vgl. zur Einordnung und Bewertung Ulrich Gaier, „Kommentar“, in: Johann Gottfried Herder, Werke in zehn Bänden, Bd. 3, Ulrich Gaier (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1990, S. 839–1495, hier S. 865: „Herder stellt sich […] mit seinem Volksliederprojekt in die an den verschiedensten Stellen Europas virulente Bewegung zur Erhaltung oder Neugewinnung nationaler Identität, in die

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seine Konsequenzen für die Ästhetik und Literaturtheorie: Ich werde zu zeigen versuchen, dass Herders Beschäftigung mit dem Volkslied die Entwicklung einer naturalistisch begründeten Ästhetik forciert, die im Kontrast zur klassizistischen Regelpoetik aufgebaut wird und nicht von der (individualistisch gedachten) Anthropologie der Zeit, sondern von der Ethnologie ausgeht, indem sie auf eine „völlige Geographie der dichtenden Seele“3 zielt. Dazu werde ich zunächst in einem ersten Teil sehr knapp den materiellen Hintergrund des Volkslied-Projekts skizzieren, um im zweiten Teil die ‚naturalistische Ästhetik‘ in einem synthetischen Zugriff auf die theoretischen Texte herauszuarbeiten.4 Im letzten Teil werde ich dann einige Volkslieder unter diesem Blickwinkel exemplarisch analysieren.

I Herders Volkslied-Sammlungen: Krisengeschichte eines Projekts Herders Beschäftigung mit Volksliedern wurde angeregt von Vorläufern in anderen europäischen Sprachen und Literaturen.5 Wichtig war vor allem das sogenannte ballad revival in England. Dort erschienen 1765 drei Bände des Pfarrers Thomas Percy, betitelt Reliques of Ancient English Poetry,6 mit insgesamt 180

Bewegung der Zivilisationskritik zur Simplizität, die mit Rousseau einen zeitgenössischen Sprecher hatte, in die Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse, die durch Unfreiheit in überalterten Feudalstrukturen geprägt waren, in die Emanzipation aus den literarischen Forderungen der doctrine classique“. Heinz Rölleke rückt in seiner Ausgabe der Volkslieder drei verschiedene Funktionen von Herders Projekt in den Vordergrund: eine ontologische (Ursprünglichkeit), eine ethnische (Völker und Nationen) und eine soziale Funktion (Unterschichtendichtung). Vgl. sein „Nachwort“, in: Johann Gottfried Herder, Stimmen der Völker in Liedern. Volkslieder. Zwei Teile 1778/79, Stuttgart 2001, S. 463–496, hier S. 492. 3 Johann Gottfried Herder, „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“, in: Werke in zehn Bänden, Bd. 6, Martin Bollacher (Hrsg.), Frankfurt a.M., S. 298. 4 Dabei muss man in Rechnung stellen, dass Herder selbst seine Ausführungen zu dem Thema zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten sicherlich nicht als ‚System‘ oder als ‚Theorie‘ bezeichnet hätte; trotzdem erweisen sich zumindest einige Aspekte als relativ kontinuierlich und konsistent. 5 Vgl. zu den deutschen Vorläufern (wie z.B. Gerstenbergs Lied eines Mohren oder Ewald von Kleists Lied eines Lappländers) Gaier, „Kommentar“, S. 851 f. 6 „Der Anblick dieser Sammlung gibts offenbar, daß ich eigentlich von Englischen Volksliedern ausging und auf sie zurückkomme. Als vor zehn und mehr Jahren die Reliques of ancient Poetry mir in die Hände fielen, freuten mich einzelne Stücke so sehr, daß ich sie zu übersetzen versuchte, und unsrer Muttersprache, die jener an Kadenzen und Lyrischem Ausdruck auffallend ähnlich ist, auch ähnliche gute Stücke wünschte“. Johann Gottfried Herder, „Volkslieder“, in: Werke in zehn Bänden, Bd. 3, S. 69–428, hier S. 243. In der Vorrede zu den Alten Volksliedern rühmt Herder vor

„Geographie der dichtenden Seele“

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Balladen nach einem alten Manuskript; kurz zuvor hatten bereits die Fragments of Ancient Poetry des Schotten James Macpherson für Aufsehen gesorgt, die angeblich die Gesänge eines gälischen Barden namens Ossian enthielten, tatsächlich aber von Macpherson selbst geschrieben waren.7 1764 veröffentlicht Herder zum ersten Mal ein estnisches Volkslied in einer Zeitschrift; die weiteren Ergebnisse seines Sammeleifers auf diesem Gebiet stellt er in den Folgejahren für seine Verlobte Karoline Flachsland im sogenannten ‚Silbernen Buch‘ zusammen. Die geplante Veröffentlichung einer Anthologie auf dieser Textbasis mit dem Titel Alte Volkslieder im Jahr 1774 scheiterte jedoch.8 Zuvor hatte Herder eine Abhandlung in Briefform unter dem Titel Über Ossian und die Lieder alter Völker verfasst, in der er erstmals eine ethnologisch inspirierte Ästhetik des Volkslieds entwirft; den Text nimmt er dann in die 1773 erscheinende Programmschrift Von deutscher Art und Kunst auf.9 Mit seinem Eintreten für den Wert einer künstlerisch ungeformten Volksdichtung löste er sofort eine heftige Debatte aus, in der sich vor allem Nicolai, Sulzer und Ramler sehr kritisch äußerten.10 Herder ließ das Projekt deshalb vorerst ruhen, stellte dann aber 1777 die Vorreden aus dem Manuskript der Alten Volkslieder zu einer umfangreichen

allem „Einfalt, Rührung, Notdrange ans Herz, Akzente und lange Nachklänge für die innigbewegte Seele“. Johann Gottfried Herder, „Alte Volkslieder“, in: Werke in zehn Bänden, Bd. 3, S. 11–68, hier S. 18. 7 Eine noch ältere Quelle ist das in Montaignes Essais enthaltene brasilianische Liebeslied, das Montaigne als Beispiel für eine poésie populaire präsentierte; vgl. Hermann Bausinger, Formen der ‚Volkspoesie‘, Berlin 1980, S. 13. Auch im deutschen Sprachraum tauchen in der Folgezeit erstmals die Begriffe ‚Volkspoesie‘, ‚Volksdichtung‘ und ‚Volkslied‘ auf; vgl. ebd., S. 12, wo Bausinger darauf hinweist, dass es sich bei der Volkspoesie aufgrund des weitgehenden Fehlens von schriftlichen Quellen um „eine Erfindung, eine Konstruktion“ handele, genauer: „ein Mischprodukt aus dem objektiven Fundament der Volksüberlieferungen und aus genialisch-produktivem Interesse“. Das gilt in verschärftem Maß für Herders Volkslied-Projekt selbst: „[I]n seinen quellenden Sprachbildern und seinen geballten Formulierungen stecken Ansätze zu vielerlei und sehr verschiedenartigen Auffassungen der Volkspoesie. Eben dadurch wirkten seine Entwürfe so lange und nachhaltig“. Ebd., S. 13. 8 Zu den Gründen vgl. die Druckgeschichte bei Rölleke, „Nachwort“, S. 471 f., sowie Gaier, „Kommentar“, S. 895. Herder hatte bereits ein Manuskript nach dem Vorbild Percys zusammengestellt. Es enthielt 55 Volkslieder mit einem Schwerpunkt auf der englischen Literatur. 14 entnahm Herder direkt aus Percys Reliques, zwölf stammten von Shakespeare (bereits Percy hatte auf die volksliedhaften Einlagen in Shakespeares Dramen hingewiesen); dazu kamen 15 deutsche Lieder sowie 14 aus der nordischen Literatur. Die Sammlung war in Bücher und Teile gegliedert (vgl. Rölleke, „Nachwort“, S. 471), dazu kamen begleitende Prosaabhandlungen und Noten; diese Mischung sollte Herder auch in den späteren Volksliedern beibehalten. 9 Die Diskussion um die Volkspoetik hat seit Herder auch immer eine starke nationale Komponente: Es geht um historische Wurzeln für eine deutsche Nationaldichtung. 10 Vgl. zur Kritik im Einzelnen Rölleke, „Nachwort“, S. 472–474.

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theoretischen Abhandlung zusammen. Diese erschien unter dem Titel Von Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst in Boies Deutschem Museum, einem Programmblatt der Sturm-und-Drang-Bewegung. Hier weitet Herder die im Ossian-Briefwechsel bereits vorbereitete Theorie des Volkslieds aus, indem er weitere Nationalliteraturen hinzunimmt und die ethnologische Argumentation noch verstärkt. 1778 folgt eine gegenüber den Alten Volksliedern deutlich erweiterte Anthologie. Ihr allgemeinerer Titel Volkslieder ist dadurch gerechtfertigt, dass Herder eine Reihe neuerer Kunstlieder aufnimmt und die Anthologie dadurch gegenüber der Kritik ästhetisch aufzuwerten versucht.11 Der höhere ästhetische Anspruch zeigt sich auch in der geradezu zahlenmystischen Aufladung der Bandstruktur: Im ersten Buch sind 3 mal 24 Lieder enthalten, im zweiten 3 mal 30 Lieder;12 die Gliederung nach Ethnien ist aufgegeben zugunsten einer Anordnung nach stärker inhaltlichen Kriterien bzw. den Prinzipien von Ähnlichkeit und Kontrast.13 Insgesamt sind nun 162 Volkslieder enthalten. Den größten Anteil haben immer noch die Lieder aus dem englischen Sprachraum mit einem knappen Drittel; darauf folgen deutsche Lieder, und zwar sowohl Volksals auch Kunstlieder von Barockautoren bis hin zu Goethe und Matthias Claudius. Der romanische Sprachraum ist erstmals umfangreich vertreten mit 30 Liedern aus dem Mittellateinischen, Spanischen, Französischen und Italienischen. Einen Schwerpunkt bilden dabei spanische Balladen; Herder lernte für deren Übertragung eigens Spanisch bei dem Weimarer Verleger und Übersetzer Bertuch. Der osteuropäische Raum folgt mit 15 litauischen, lettischen und ‚morlackischen‘14 Liedern. Sechs Texte aus der griechischen und römischen Antike runden die Zusammenstellung ab, dazu altnordische Lieder sowie Beispiele aus ‚kleinen Literaturen‘ wie denen der Esten, Lappen oder Grönländer. Schon die bloße Aufzählung macht zweierlei deutlich: Zum einen ist Herder bestrebt, zumindest den gesamten europäischen Raum abzudecken; zum anderen reicht das Spek-

11 Auch die Vorreden zu den einzelnen Büchern haben eine stark apologetische Tendenz, die auf die Kritik an der mündlichen Volksliedtradition reagiert. 12 Rölleke nennt als Vorbilder für die Anordnung im ersten Teil die homerischen Epen, für den zweiten Teil Lessings Fabeln; vgl. Rölleke, „Nachwort“, S. 477. 13 Vgl. Rölleke, „Nachwort“, S. 477, der darauf hinweist, dass die primär „ästhetisch bestimmte Anordnung“ auch den Materialmangel kaschieren sollte. Gaier, „Kommentar“, S. 923, deutet die Anordnung als „Makro-Anthropos“ der Menschheit; die Gruppen seien inhaltlich so zusammengestellt, dass sie die siebenstufige „Schöpfungshieroglyphe“ abbildeten, die Herder in seiner Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts beschrieben hatte. Ebd., S. 921. 14 Die Maurowalachen sind eine romanische Volksgruppe, die im Gebiet des heutigen Bosniens, Kroatiens und Montenegros lebte. Vgl. zu den Quellen der Volkslieder insgesamt Gaier, „Kommentar“, S. 855–865.

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trum dessen, was als Volkslied firmieren kann, von Sappho bis zur zeitgenössischen Lyrik Goethes. Auch diese Sammlung wurde von der Kritik nicht gerade begeistert aufgenommen. In einem Artikel in seiner Zeitschrift Adrastea aus dem Jahr 1803 resümiert Herder schließlich etwas frustriert seine lebenslangen Bemühungen um das Volkslied: In Deutschland wagte man im Jahr 1778, 1779 zwei Sammlungen Volkslieder verschiedner Sprachen und Völker herauszugeben; wie verkehrt die Aufnahme sein würde, sah der Sammler vorher. Da er indes seine Absicht nicht ganz verfehlt hat, so bereitet er seit Jahren eine palingenisierte Sammlung solcher Gesänge, vermehrt, nach Ländern, Zeiten, Sprachen, Nationen geordnet und aus ihnen erklärt, als eine lebendige Stimme der Völker, ja der Menschheit, selbst vor.15

Eine – nun wieder ethnologisch verfahrende – Gliederung zu dieser neuen „palingenisierte[n] Sammlung“ hat sich erhalten;16 auf ihrer Basis stellte Johannes von Müller 1807 den nochmals um einige Texte erweiterten Band Stimmen der Völker in Liedern zusammen.17 Der Titel resümiert recht treffend den inhaltlichen Kern von Herders gesamtem Volkslied-Projekt: Es ging ihm darum, die Vielfalt menschlicher Äußerungsformen in anthropologischen Grundsituationen sowohl zu dokumentieren als auch für eine Geschichte der Menschheit fruchtbar zu machen. Die Materialsammlung musste aber aufgrund der problematischen Überlieferungssituation lückenhaft bleiben. Gleichwohl versuchte Herder kontinuierlich, durch die Paratexte zu den Anthologien und seine Zeitschriftenbeiträge einen theoretischen Rahmen zu schaffen, innerhalb dessen die Mängel der

15 Johann Gottfried Herder, „Adrastea“, in: Werke in zehn Bänden, Bd. 10, Günter Arnold (Hrsg.), Frankfurt a.M. 2000, S. 804. 16 Vgl. zur Bedeutung der Palingenesie bei Herder die Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit: „Goldene Kette der Bildung also, du die die Erde umschlingt und durch alle Individuen bis zum Thron der Vorsehung reichet, seitdem ich dich ersah und in deinen schönsten Gliedern, den Vater- und Mutter- den Freundes- und Lehrer-Empfindungen verfolgte, ist mir die Geschichte nicht mehr, was sie mir sonst schien, ein Greuel der Verwüstung auf einer heiligen Erde. Tausend Schandtaten stehen da mit häßlichem Lobe verschleiert: tausend andre stehn in ihrer ganzen Häßlichkeit daneben, um allenthalben doch das sparsame wahre Verdienst wirkender Humanität auszuzeichnen, das auf unsrer Erde immer still und verborgen ging und selten die Folgen kannte, die die Vorsehung aus seinem Leben, wie den Geist aus der Masse hervorzog. […] Immer verjüngt in seinen Gestalten, blüht der Genius der Humanität auf und ziehet palingenetisch in Völkern, Generationen und Geschlechtern weiter.“ Herder, „Ideen“, S. 344 f. 17 Einige Restbestände hatte Herder beispielsweise in das im Kreis um Herzogin Anna Amalia herausgegebene Journal von Tiefurt gegeben; vgl. dazu Heinz/Golz, Journal von Tiefurt, S. 18 f. Vgl. zur weiteren Wirkungsgeschichte Rölleke, „Nachwort“, S. 485–487.

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Materialbasis durch ein umfassendes ethnologisches und ästhetisches Konzept kompensiert werden können. Ihm will ich mich im zweiten Teil meiner Ausführungen widmen, der wesentliche Elemente von Herders ‚Theorie des Volkslieds‘ mehr synthetisierend aufzählt als konsistent und chronologisch entwickeln kann; das wiederum entspricht seiner eher rhapsodischen Denk- und Darstellungsweise.18

II Elemente einer naturalistischen Theorie des Volksliedes a) Diskursiver Hintergrund: Zivilisation und Regelpoetik vs. organische Volkspoesie Herder entwickelt seine Auseinandersetzung mit der Volkspoesie vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Zivilisationskritik im Gefolge Rousseaus:19 Er ist auf der Suche nach den unverdorbenen Ursprüngen der Poesie als der grundlegenden menschlichen Äußerungsform, die aus einem „Notdrange ans Herz“20 als natürliches Ausdrucksphänomen entstanden sei. Hinzu kommt, im Blick auf die Poetik, seine Abneigung gegen die vermeintlich immer mehr verfestigten, allzu künstlichen poetischen Regelsysteme, die vor allem der französische Klassizismus aus einer Herder zufolge fehlgeleiteten Antike-Rezeption21 hergeleitet hatte und die

18 Vgl. zum ‚Volkslied‘, das vielfach als repräsentativ für die gesamte Volkspoesie gesehen wird, das Kapitel bei Bausinger, Formen der ‚Volkspoesie‘, S. 252–261. Bausinger erläutert hier zunächst die verschiedenen, uneinheitlichen Versuche zur Kategorisierung nach Inhalten, Themen und Formen – wobei es häufig vorkomme, dass ein Lied in verschiedene Kategorien fällt und durch die instabile Überlieferung auch schillernde Übergänge entstehen (z.B. durch Kontrafaktur). Mögliche, in der Forschung diskutierte Definitionskriterien für ein Volkslied sind: Widersprüche, Varianten durch ‚Zersingen‘; Fragmentstil und Lakonismus; Wiederholung, Konstanz von Motiven, Bevorzugung von Strophenstruktur und Kehrreimen; Volksläufigkeit und Langlebigkeit; Spontaneität des Singens; Anonymität; Gemeinschaftsbindung; Neigung zum Sentimentalen, Gefühlshaften. 19 Vgl. z.B. das folgende Diktum: „Das Licht der sogenannten Kultur, frißt, wie der Krebs um sich! Wir schämen uns schon seit einem halben Jahrhundert Alles was Vaterländisch ist“. Herder, „Alte Volkslieder“, S. 23. Im Ossian wiederum heißt es: „Wir sehen und fühlen kaum mehr, sondern denken und grüblen nur“. Johann Gottfried Herder, „Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker“, in: Werke in zehn Bänden, Bd. 2, Gunter E. Grimm (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1993, S. 447–497, hier S. 474. 20 Herder, „Alte Volkslieder“, S. 18. 21 Die Vorform einer naturalistischen Ästhetik findet Herder hingegen schon in der Poetik des Aristoteles; vgl. den Shakespeare-Aufsatz: „Einheit der Fabel – war Einheit der Handlung, die vor ihnen lag; die nach ihren Zeit- Vaterlands- Religions- Sittenumständen, nicht anders als solch ein

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auch die zeitgenössische Lyrik bestimmten, die damit jegliche nationale Charakteristik zugunsten einer sozusagen ‚globalisierten‘ Idealform verlor.22 Demgegenüber wächst für Herder die nationale Dichtung der unterschiedlichen Völker organisch aus ihrem jeweils unterschiedlichen natürlichen Lebensraum und ihrer spezifischen kulturellen Überlieferung hervor. Die anthropologische Begründung dieser Überzeugung liefert er in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit im achten Buch nach, das den programmatischen Lehrsatz aufstellt: „Die Einbildungskraft der Menschen ist allenthalben organisch und klimatisch; allenthalben aber wird sie von der Tradition geleitet.“23 Auf die einzelnen Völker angewandt, ergibt sich daraus folgendes Prinzip: „Jeder Nation ist ihre Vorstellungsart um so tiefer eingeprägt, weil sie ihr eigen, mit ihrem Himmel und ihrer Erde verwandt, aus ihrer Lebensart entsprossen, von Vätern und Urvätern auf sie vererbt ist.“24 Dies verdeutlicht Herder im Blick auf die als ursprüngliche Dichtung eines bestimmten Volkes verstandenen Volkslieder immer wieder in nicht besonders originellen, aber sehr anschaulichen organischen Metaphern: Eine „lebende

Eins sein konnte. Einheit des Orts – war Einheit des Orts; denn die Eine, kurze feierliche Handlung ging nur an Einem Ort, im Tempel, Pallast, gleichsam auf einem Markt des Vaterlandes vor“. Johann Gottfried Herder, „Shakespeare“, in: Werke in zehn Bänden, Bd. 2, S. 498–521, hier S. 501. Die Lehre von den drei Einheiten hat also keine rein ästhetische, sondern eine pragmatische Notwendigkeit, die sich aus Sozialstruktur und Lebensweise der antiken Griechen ergibt. 22 Der zunächst einigermaßen verwegen anmutende Vergleich der antiken Dichtung, speziell Homers, mit der Volkspoesie, speziell Ossians, wird deshalb von Herder immer wieder aufgenommen. Die alleinige poetologische Orientierung an der Antike verfälscht nach Herder „[a]lles Nationale“. Herder, „Alte Volkslieder“, S. 63. 23 Herder, „Ideen“, S. 294. Das gilt übrigens auch für alle anderen menschlichen Seelenvermögen, die Herder anschließend aufzählt. Die Einbildungskraft nimmt aber eine besondere Stelle als Mittelglied ein: „Überhaupt ist die Phantasie noch die unerforschteste und vielleicht die unerforschlichste aller menschlichen Seelenkräfte: denn da sie mit dem ganzen Bau des Körpers, insonderheit mit dem Gehirn und den Nerven zusammenhangt, wie so viele wunderbare Krankheiten zeigen: so scheint sie nicht nur das Band und die Grundlage aller feinern Seelenkräfte sondern auch der Knote des Zusammenhanges zwischen Geist und Körper zu sein, gleichsam die sprossende Blüte der ganzen sinnlichen Organisation zum weitern Gebrauch der denkenden Kräfte.“ Ebd., S. 302. 24 Ebd., S. 298. Ähnlich formuliert Herder auch im 107. Humanitätsbrief: „Die Poesie ist ein Proteus unter den Völkern; sie verwandelt ihre Gestalt nach Sprache, Sitten, Gewohnheiten, nach dem Temperament und Klima, sogar nach dem Akzent der Völker“. Johann Gottfried Herder, „Briefe zur Beförderung der Humanität“, in: Werke in zehn Bänden, Bd. 7, Martin Bollacher (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1991, S. 572. Deshalb sei auch kein wertender Vergleich der Nationalpoesien denkbar, da jede ihren eigenen Maßstab in sich trage; in dieser Begründung wurzelt Herders Kulturrelativismus.

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Dichterey“ müsse „wie Sprosse auf dem Stamm der Nation“25 wachsen; nur so könne aus „rohen, kleinen, verachteten Samenkörnern der herrliche Wald“ einer „Nationaldichtkunst“26 hervorgehen. Speziell die Stamm-Metaphorik wird wegen ihrer gleichzeitig biologischen und ethnologischen Lesbarkeit an anderer Stelle noch weiter ausgebaut: So seien die alten englischen Dichter nicht nur „Stamm und Mark der Nation“, sondern bildeten insgesamt sogar den „Körper der Nation“.27 In Deutschland hingegen sei die „ganze mittlere Geschichte“ nur „Pathologie des Kopfes, des Kaisers, auf Einer Seite, an Einem Ohre“: „An Physiologie des ganzen Nationalkörpers ist wenig gedacht; und ohne die Vorarbeit ist die Geschichte der Denkart, der Bildung des ganzen Körpers, was auf ihn gute und böse und wie weit Alles würkte? zu schwer und unmöglich!“28 Während also die Historie im Allgemeinen abstrakt von oben, aus den großen Ereignissen und zugespitzt auf das ‚hohe Personal‘, rekonstruiert wird, wäre eine Dokumentation der Volkspoesie in ihrer organischen Eigenart ein anschaulicher Beitrag zu einer ‚Geschichte von unten‘, aus dem lebendigen Erleben der Völker heraus; sie würde gleichzeitig die Prägung des Volkes durch seine natürliche Umgebung wie auch durch seine Tradition und Kultur spiegeln.29

b) Innensicht statt Beobachterperspektive Das Besondere an einer Dokumentation der Volksdichtung ist für Herder damit, dass sie die Probleme einer nur äußerlichen Beschreibung fremder Völker lösen kann, die bekanntlich auch die neuere Ethnologie und Kulturanthropologie seit

25 Johann Gottfried Herder, „Von Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst, nebst Verschiednem, das daraus folgt“, in: Werke in zehn Bänden, Bd. 2, S. 550–562, hier S. 556. 26 Ebd., S. 558. Daraus resultiert auch das Problem der deutschen Dichtung, die wegen der politischen Zersplitterung keinen solchen Nationalstamm hat: „Wenn ein Baum zu früh in viele, wilde Zweige ausschießt, in Stämme verteilt wird, die sich selbst nebeneinander auf Einer Wurzel nicht vertragen können und mögen, und wo’s denn ewiges Schicksal ist, daß von ihm, wenns auch die Krone wäre, ob zur leidigen Ehre? oder zu wahrerem Nachteil? Absenker, Pflänzlinge und Propfreiser nicht eben mit der sorgsamsten, sanftesten Hand entrissen und also der Baum ewig verstümmelt, entzweiget und verhackt werden soll“. Herder, „Alte Volkslieder“, S. 22. 27 Ebd., S. 19. 28 Ebd., S. 49 f. 29 Ähnlich heißt es auch im oben bereits zitierten 107. Humanitätsbrief: „In dieser Galerie verschiedner Denkarten, Anstrebungen und Wünsche lernen wir Zeiten und Nationen gewiß tiefer kennen als auf dem täuschenden Trostlosen Wege ihrer politischen und Kriegsgeschichte“. Herder, „Briefe“, S. 575. Das übergeordnete Ziel dabei sei die „echte, ganze, moralische Natur des Menschen, Philosophie des Lebens“. Ebd., S. 578.

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einiger Zeit umtreiben,30 und zwar, indem man den Beobachterstatus aufgibt und in die Perspektive der ersten Person wechselt: Die Karte der Menschheit ist an Völkerkunde ungemein erweitert: wie viel mehr Völker kennen wir, als Griechen und Römer! wie kennen wir sie aber? Von außen, durch Fratzenkupferstiche, und fremde Nachrichten, die den Kupferstichen gleichen? oder von innen? durch ihr eigne Seele? aus Empfindung, Rede und Tat? – So sollte es sein und ists wenig.31

Tatsächlich hat Herder für seine Volksliedsammlungen immer wieder auf Klassiker der aufklärerischen Reiseliteratur zurückgegriffen, die wesentliche Beiträge zur zeitgenössischen Ethnologie geleistet haben. Er spricht beispielsweise in einer der Vorreden zu den Alten Volksliedern explizit von „wenigen guten Reisebeschreibungen“,32 die er benutzt habe. Während diese aber weiterhin dem Muster der gelehrten Geschichtsschreibung verbunden bleiben, die im SinnlichAnschaulichen nur bis zur Illustration in „Fratzenkupferstiche[n]“ vordringt, geht es ihm mit seinen Volksliedern um einen Beitrag zu einer erst noch zu schaffenden „herrlichen Naturgeschichte der Welt“: „Unvergleichbar anders, wenn man in der Geschichte einmal wie in der Naturkunde handelte! Ein Volk schildern, heißt eigentlich nichts, als die Sitten und Denkart desselben, so möglich, durch sich selbst zeigen.“33 „[D]urch sich selbst zeigen“ wie in der Naturkunde: Herder imaginiert damit eine Art lyrisch-ethnologisches Naturalien-Kabinett, das „unter allen Völkern diese Arten des Wahns, der Dichtung, der Hirngespinste und Vorurteile“ ausstellt und so „dem Menschlichen Verstande einen Dienst [erweist], den zehn Logiken, Ästhetiken, Ethiken und Politiken ihm wahrlich nicht erweisen werden“34 – die eben immer nur den ‚Kopf‘ anstelle „des ganzen Nationalkörpers“ abbilden würden.35

30 Vgl. dazu Jutta Heinz, Narrative Kulturkonzepte. Wielands „Aristipp“ und Goethes „Wilhelm Meisters Wanderjahre“, Heidelberg 2006, Kap. 3.4.; zur Geschichte der Kulturanthropologie vgl. bes. S. 101 f. 31 Herder, „Ähnlichkeit“, S. 560. 32 Herder, „Alte Volkslieder“, S. 60. 33 Ebd., S. 61. 34 Ebd., S. 68. 35 Ähnlich heißt es in den Ideen: „[D]ie ganze Denk- und Empfindungsweise eines Volkes auf dieser Stufe der Kultur, in solchen Gegenden, bei solchen Sitten tönet uns durch sie in Herz und Seele. Oßian und seine Genossen sagen uns mehr vom innern Zustande der alten Galen, als ein Geschichtsschreiber uns sagen könnte“. Herder, „Ideen“, S. 628.

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c) Musik/Ohr statt Kunst/Auge als Leitmedien Neben dem Wechsel der Leitdisziplinen vollzieht sich auf einer anderen Ebene ein ebenso bezeichnender Medienwechsel. Die Reisebeschreibungen schildern die fremden Völker nämlich, wie schon zitiert, durch „Fratzenkupferstiche“, also durch zur Karikatur zugespitzte graphische Darstellungen, die das Exotische verschärfend hervorheben. Auch die ästhetische Theorie der Aufklärung, vor allem zur Lyrik, war bisher weitgehend an einer Poetik des Auges, der ‚malenden‘ Beschreibung und sichtbaren Nachahmung der Natur orientiert. Demgegenüber versucht Herder, die Theorie der Volkspoesie nun über die Aufwertung des Hörens und des Ohrs zu etablieren. Ihr erster, in vielfachen Varianten zitierter Grundsatz lautet: Das Wesen des Liedes ist Gesang, nicht Gemälde; seine Vollkommenheit liegt im melodischen Gange der Leidenschaft oder Empfindung, den man mit dem alten treffenden Ausdruck: Weise nennen könnte. Fehlt diese einem Liede, hat es keinen Ton, keine poetische Modulation, keinen gehaltenen Gang und Fortgang derselben; habe es Bild und Bilder, und Zusammensetzung und Niedlichkeit der Farben, so viel es wolle, es ist kein Lied mehr.36

Schon im Ossian-Aufsatz hatte Herder den engen Zusammenhang von Musik und ursprünglicher Volkspoesie mit der besonderen, direkten Wirkung von Musik auf den unkultivierten, ästhetisch unverbildeten Sinn begründet:37 [J]e wilder, d.i. je lebendiger, je freiwirkender ein Volk ist […], desto wilder, d.i. desto lebendiger, freier, sinnlicher, lyrisch handelnder müssen auch, wenn es Lieder hat, seine Lieder sein! Je entfernter von künstlicher, wissenschaftlicher Denkart, Sprache und Letternart das Volk ist: desto weniger müssen auch seine Lieder fürs Papier gemacht, und tote Lettern Verse sein: vom lyrischen, vom lebendigen und gleichsam Tanzmäßigen des Gesanges, von lebendiger Gegenwart der Bilder, vom Zusammenhange und gleichsam Notdrange des Inhalts, der Empfindungen, von Symmetrie der Worte, der Sylben, bei manchen sogar der Buchstaben, vom Gange der Melodie […] – davon, und davon allein hängt das Wesen, der Zweck, die ganze wundertätige Kraft ab, die diese Lieder haben, die Entzückung, die Triebfeder, der ewige Erb- und Lustgesang des Volks zu sein!38

Der ganze Absatz ist geprägt von Polaritäten, die vom Gegensatz zwischen Ohr und Auge ausgehen und von dort proliferieren; die direkte sinnliche Erfahrung über das Ohr wird dabei zum Inbegriff des Dynamisch-Lebendigen, das sich in Phänomenen wie Tanz oder Melodie äußert. 36 Herder, „Volkslieder“, S. 246. 37 Vgl. auch die Ausführungen zur Bedeutung des Ohrs für die Einbildungskraft in Herder, „Ideen“, S. 293 f. 38 Herder, „Ossian“, S. 452.

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d) Kollektiver Ursprung und kollektive Rezeption Die Konzentration auf das Ohr als Leitorgan und die Musik als Leitmedium trägt direkt zur naturalistischen Begründung der Poetik bei: Für Herder ist mit der Bevorzugung des Hörens gegenüber dem Sehen letztlich eine andere Art von Kunstproduktion wie -rezeption verbunden. Zwar orientiert sich Herder häufig an halb-mythologischen Dichterfiguren wie Homer oder Ossian, den beiden Mustern für Naturdichter schlechthin, die deshalb auch zum Vorbild des Genies werden können; prinzipiell ist jedoch bei der Überlieferung von Volksliedern die Autorfrage durchaus zweitrangig. Es handelt sich um eine Kunstform, die in Aufnahme, Überlieferung und Verbreitung einen kollektiven Charakter hat (nur so ergibt auch die Rede vom „Körper der Nation“ einen Sinn):39 „Es ist wohl nicht zu zweifeln, daß Poesie und insonderheit Lied im Anfang ganz Volksartig d.i. leicht, einfach, aus Gegenständen und in der Sprache der Menge, so wie der reichen und für alle fühlbaren Natur gewesen.“40 Das Volkslied steht damit ganz am Anfang der als genetischer Naturvorgang gedachten Entwicklung der gesamten Dichtung, die sich erst nach und nach in Gattungen ausdifferenziert. Es ist nicht bewusst geformt, sondern entsteht aus natürlichen Erfahrungen in einer bestimmten Umgebung und aus spezifischen Ausdruckszwängen; es ist das Kindheitsstadium der Poesie, die sich so nach dem Muster von Phylogenese und Ontogenese vom Kollektiven zum Individuellen (und von der Natur zur Kunst) entwickelt: Wenn nun für die Sinne des Volkes rührende, treue gute Geschichten, und keine Moral, die Einzige Moral; für ihr Ohr rührend simple Töne und keine Musik, die einzige Musik ist: und wenn jede Menschliche Seele in den ersten Jahren gewissermaßen Seele des Volks ist, nur sieht und hört, nicht denkt und grübelt!41

Deshalb sind auch die Gegenstände aller Volksdichtungen letztlich immer gleich: Es handelt sich um menschliche Grunderfahrungen, die auch Herders Sammlungen unübersehbar prägen (und dann und wann etwas monoton erscheinen lassen): die Liebe natürlich – ihre Leiden meist mehr als ihre Freuden –; der Tod – häufig in enger Verbindung mit der Liebe, aber natürlich auch in Schlacht und Kampf –; die

39 Vgl. dazu Gaier, „Kommentar“, S. 879 f.: „Volkslied ist ein Gedicht dann, wenn sich in ihm die Zusammenstimmung der Menschen mit ihrem Urbild und untereinander in einer gemeinsamen Sing- und Hörerfahrung manifestiert, deren ständige Wiederholung diese urbildliche Zusammenstimmung aller perpetuiert; Volkslied ist Stiftung einer synchronen und einer diachronen Zusammenstimmung der Menschen mit und in ihrer anthropologischen Grundverfassung“. 40 Herder, „Volkslieder“, S. 230. 41 Herder, „Alte Volkslieder“, S. 24.

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Freuden der Jagd, des Weins, des Tanzes; exemplarische Erfahrungen von Freundschaft, Treue, Dankbarkeit, aber auch Bosheit, Verrat, Tücke. Prinzipiell kann auf verschiedenen kulturellen Entwicklungsstufen alles zum Volkslied werden, was das Volk gerade bewegt; die Lieder der Völker, so Herder, sind das Archiv des Volks, der Schatz ihrer Wissenschaft und Religion, ihrer Theogonie und Kosmogonien der Taten ihrer Väter und der Begebenheiten ihrer Geschichte, Abdruck ihres Herzens, Bild ihres häuslichen Lebens in Freude und Leid, beim Brautbett und Grabe. […] Da malen sich alle, da erscheinen alle, wie sie sind. Die kriegrische Nation singt Taten; die zärtliche Liebe. Das scharfsinnige Volk macht Rätsel, das Volk von Einbildung Allegorien, Gleichnisse, lebendige Gemälde.42

Zwar versucht Herder hier, auf der Gegenstandsebene eine Differenzierung nach verschiedenen Volksmentalitäten einzuführen (die kriegerische Nation, die zärtliche Nation), aber der letzte Satz des Zitats zeigt, dass die Verschiedenheit der Volksliteraturen eher in der unterschiedlichen formalen Gestaltung der gleichen Erfahrungen gründet. Diese Verschiedenheit wird jedoch nicht als das Ergebnis bewusster individueller Gestaltung, sondern als naturalistische Folge innerer und äußerer Einflüsse auf das jeweilige Volk gedacht.

III Poetik des Volkslieds: ein lyrisches Kontinuum a) Theoretische Ausführungen im Ossian-Aufsatz Von zentralem Interesse für das Volkslied in ästhetischer Hinsicht ist vor diesem Hintergrund die Ausprägung lyrischer Vielfalt in verschiedenen Ethnien. Aufgrund seiner engen genealogischen Bindung an die eindrückliche akustische Erfahrung und die kollektive Entstehung des Gesangs verwendet Herder zur Charakterisierung häufig die unscharfen ästhetischen Begriffe ‚Ton‘, ‚Weise‘, ‚Modulation‘ oder ‚Stimmung‘ – also letztlich ganzheitliche und deshalb analytisch nicht recht fassbare Phänomene. Das obige Zitat zum Gesang als dem Wesen des Liedes gibt einige Hinweise zu ihrem Verständnis. Das Volkslied wird bestimmt vom „melodischen Gang[ ] der Leidenschaften oder Empfindung“ – vollzieht also eine Art Emotionsmanagement nach harmonischem Muster, mit sanften Kadenzen, Modulationen und Übergängen, wie sie exemplarisch in Volksliedvertonungen vorliegen. Deshalb hat jedes Volkslied seinen eigenen „Ton“ – vergleichbar einer musikalischen Tonart in Dur oder Moll –, und es löst

42 Herder, „Ähnlichkeit“, S. 432.

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im Hörer eine verwandte Stimmung aus, die zärtlich oder grausam, sanft oder spöttisch, traurig oder fröhlich sein kann. Diese Stimmung und die ihr entsprechende lyrische Tonart sind es letztlich, die Herder bei seiner – in vielerlei Hinsicht problematischen – Bearbeitung und Übersetzung43 leiten:44 Oft ist kein ander Mittel, als, wenns unmöglich ist, das Lied selbst zu geben, wie es in der Sprache singet, es treu zu erfassen, wie es in uns übertönet, und festgehalten, so zu geben. Alles Schwanken aber zwischen zwo Sprachen und Singarten, des Verfassers und Übersetzers, ist unausstehlich.45

Ein Volkslied ist für Herder also im Wesentlichen das, was als Volkslied wirkt; solche Wirkungen erläutert er in den theoretischen Paratexten vor allem an Beispielen.46 Eines der eindrucksvollsten findet sich in der Ossian-Abhandlung. Herder vergleicht dort die „wilden“ und „rauhen“ Skandinavier mit den „weich idealisierten Schotten“ und preist die unübertroffen charakteristische Gestaltung der nordischen Volksdichtung: [W]ie viel Sylbenmaße! wie genau jedes unmittelbar durch den fühlbaren Takt des Ohrs bestimmt! ähnliche Anfangssylben mitten in den Versen symmetrisch aufgezählt, gleichsam Losungen zum Schlage des Takts, Anschläge zum Tritt, zum Gange des Kriegsheers. Ähnliche Anfangsbuchstaben zum Anstoß, zum Schallen des Bardengesanges in die Schilde! Disticha und Verse sich entsprechend! Vokale gleich! Sylben Konson! – wahrhaftig eine Rhythmik des Verses, so künstlich, so schnell, so genau, daß es uns Büchergelehrten schwer wird, sie nur mit den Augen aufzufinden; aber denken Sie nicht, daß sie jenen lebendigen Völkern, die sie hörten und nicht lasen, von Jugend auf hörten und mit sangen, und ihr ganzes Ohr darnach gebildet hatten, eben so schwer gewesen sei! Nichts ist stärker und ewiger, und schneller, und feiner, als Gewohnheit des Ohrs! Einmal tief gefaßt, wie lange behält dasselbe! In der Jugend, mit dem Stammeln der Sprache gefaßt, wie lebhaft kommt es zurück, und so schnell mit allen Erscheinungen der lebendigen Welt verbunden, wie reich und mächtig kommt es wieder.47

43 Vgl. zur Übersetzung Gaier, „Kommentar“, S. 918, der vom Verfahren der „künstlichen Restaurierung“ spricht und einige Übersetzungen Herders über die Zeit hinweg vergleicht; vgl. ebd., S. 912–914. 44 Eine besondere Rolle spielt auch der Rhythmus; vgl. z.B. den Ossian-Aufsatz, wo Herder an den lettischen Liedern den „sinnliche[n] Rhythmus der Sprache“ preist, oder seine Ausführungen zu dem peruanischen Lied an die Regengöttin: „Als Weisheit habe ich das Liedchen nicht angeführt: denn Sie wissen, in welchem Ruf die dummen Peruaner stehen? ich rede von Symmetrie des Rhythmus, des Sangbaren“. Herder, „Ossian“, S. 458 f. 45 Herder, „Volkslieder“, S. 247 f. 46 Vgl. zur Begriffsdefinition auch Gaier, „Kommentar“, S. 908 f., der die „anthropologische Vielseitigkeit des Begriffs Volkslied bei Herder“ hervorhebt; es handele sich um einen „synthetischen Prozeßbegriff“. 47 Herder, „Ossian“, S. 453.

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Hier wird sogar im theoretischen Text die beschriebene musikalische Struktur spürbar: eine Art lyrischer Kommandoton, der die Vokale und Silben sozusagen im Stechschritt zum Kampfe antreten lässt.48 Weitere ästhetische Kriterien für Volkslieder im Ossian-Aufsatz sind der „sinnliche Rhythmus der Sprache“ sowie „die Festigkeit, die Bestimmtheit, der runde Contour“ des Einzelliedes:49 Sie wissen aus Reisebeschreibungen, wie stark und fest sich immer die Wilden ausdrücken. Immer die Sache, die sie sagen wollen, sinnlich, klar, lebendig anschauend: den Zweck, zu dem sie reden, unmittelbar und genau fühlend: nicht durch Schattenbegriffe, Halbideen und symbolischen Letternverstand.50

Trotz dieser geradezu klassisch anmutenden Betonung eines festen äußerlichen Umrisses in der Gesamtgestalt ist das Lied in seiner inneren Struktur ein Abbild der unmittelbaren Begeisterung seiner anonymen Schöpfer; es schildert „reich und vielfach“ die „lebendige Welt“ in all ihren Teilen: „Und alle hat das Auge gesehen! Die Seele stellet sie sich vor! Das setzt Sprünge und Würfe! Es ist kein anderer Zusammenhang unter den Teilen des Gesanges als unter den Bäumen und Gebüschen im Walde.“51 Der Zusammenhang zwischen den überraschenden Übergängen im Volkslied wird erst durch den Rezipienten hergestellt, der in seiner „Seele“ nun den festen Kontur, die Verbindung zwischen „Sprüngen und Würfen“, herstellen muss – was er aber (zumindest als Zeitgenosse) mühelos kann, weil der Zusammenhang letztlich in der gemeinsamen und unreflektierten Natur- und Lebenserfahrung des jeweiligen Volkes gegeben ist.52 Letztlich kann so sogar die Entstehung ‚regelmäßiger‘ Gattungsmuster naturalistisch erklärt werden: Das Trauerlied eines Grönländers entwickelt für Herder ganz aus der tief empfundenen Situation heraus die Grundgesetze der Elegie, und er führt den Gedanken weiter: „Sollte es

48 Eine ähnliche Argumentation verfolgt Herder auch noch in der Adrastea: „Unter dem nordischen Klima ists natürlich, daß, wie das Bardit scharf an die Schilde stieß und die Skalden in zwei Zeilen drei ähnliche Anklänge (Alliterationen) statt des Reims liebten, alles hier mehr auf An- als Ausklang gerichtet werde mehr auf andringende Macht, als auf süßzerschmelzende Liebe“. Herder, „Adrastea“, S. 801. 49 Herder, „Ossian“, S. 474. 50 Ebd., S. 472. 51 Ebd., S. 486 f. Damit vergleicht Herder die Odentheorie der Aufklärung mit ihren „schöne[n] Kunstsprünge[n]“. Ebd., S. 487. 52 Deshalb liest Herder auch Ossian auf seiner Schiffsreise: „[G]lauben Sie, da lassen sich Skalden und Barden anders lesen als neben dem Katheder des Professors.“ Ebd., S. 457.

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mit den Gesetzen der Ode, des Liedes nicht eben so sein? und wenn sie in der Natur der Einbildung liegen, wen sind sie nötig zu lehren?“53

b) Hochzeitslieder in den Volksliedern Ich will die Art und Weise, wie sich poetische Vielfalt nach Herder in unterschiedlichen ethnischen Milieus ausdifferenziert, am Beispiel der Variationen zu einem Thema in den Volksliedern sehr kurz illustrieren, und zwar anhand der Hochzeitslieder.54 Einen großen Anteil nehmen die Texte aus dem baltischen Raum ein, der Herder aus biographischen Gründen besonders interessiert; hier ist auch die Verbindung zur Reiseliteratur als Quelle am greifbarsten. Ein solches Beispiel ist das litauische Lied Der versunkne Brautring,55 zu dem Herder Folgendes anmerkt: Die Litthauischen Daino’s, die in diesem Teile vorkommen, sind dem Sammler von Herrn P. K. [Johann Gottlieb Kreutzfeld] in K. worden. Leßings Urteil über die Liederchen dieses Volks […] ist schon unter den Zeugnissen von Volksliedern angeführt. „Homers monotonisches Metrum (sagt der Verf. der Kreuzzüge des Philologen S. 216.) sollte uns wenigstens ebenso paradox vorkommen, als die Ungebundenheit des deutschen Pindars. Meine Bewunderung oder Unwissenheit von der Ursache eines durchgängigen Silbenmaaßes in dem griechischen Dichter ist bei einer Reise durch Kurland und Liefland gemässigt worden. Es gibt in angeführten Gegenden gewisse Striche, wo man das lettische oder undeutsche Volk bei aller ihrer Arbeit singen hört, aber nichts als eine Kadenz von wenig Tönen, die mit einem Metro viel Aehnlichkeit hat. Sollte ein Dichter unter ihnen aufstehen: so wäre es ganz natürlich, daß alle seine Verse nach diesem eingeführten Maasstab ihrer Stimmen zugeschnitten seyn würden […].“56

Bezeichnend an dieser Anmerkung ist zunächst die Berufung auf Vorgänger-Projekte als Legitimationsstrategie (hier: Lessing).57 Noch interessanter ist jedoch das

53 Ebd., S. 488. 54 Das Thema ist immerhin mit 14 Texten (von insgesamt 162) vertreten, wobei die Hochzeit bezeichnenderweise meist nicht zustande kommt: Die Braut stirbt, der Bräutigam ist untreu (oder beides). In vielen der Texte vermischt sich das Hochzeitsmotiv dadurch mit anderen Motivsträngen. 55 Vgl. Herder, „Volkslieder“, S. 85 f. 56 Ebd., S. 217 f. 57 Herder gibt die Passage bei Lessing dann wörtlich in den Zeugnissen über Volkslieder wieder: „Es ist nicht lange, als ich in Ruhigs Litthauischem Wörterbuche blätterte, und am Ende der vorläufigen Betrachtungen über diese Sprache eine hierher gehörige Seltenheit antraf, die mich unendlich vergnügte. Einige Litthauische Dainos, oder Liederchen, nehmlich wie sie die gemeinen Mädchen daselbst singen. Welch ein naiver Witz! Welche reizende Einfalt! Leßing in Liter. Br. T. 2. S. 241. 242“. Ebd., S. 73.

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Zitat aus Hamanns Kreuzzügen eines Philologen, das eine naturalistische Erklärung für die Entstehung bestimmter Versmaße aus konkreten lebensweltlichen Praktiken gibt und noch dazu einen Vergleich mit den höchsten ‚Naturpoeten‘ der Alten, Homer und Pindar, anstellt. Das Lied selbst weist kurze dreizeilige Strophen mit unterschiedlich langen Versen auf; es erzählt nach Art einer Ballade eine auf das Wesentliche verkürzte Handlung in einem ländlichen Umfeld, wobei reichlich „Sprünge“ zu verzeichnen sind, die aber wahrscheinlich eher auf eine korrupte Überlieferung zurückgehen. Ein anderes Beispiel ist Die kranke Braut, ein litauisches Hochzeitslied.58 Herder macht in einer Einleitung folgende Anmerkungen zu den litauischen Liedern insgesamt: Hier wird es manchen Leuten verdrüßlich zu lesen sein, daß man dieser nicht ausgeübten, verachteten Sprache eine Zierlichkeit zuschreiben wolle. Indessen hat sie doch von der griechischen Lieblichkeit etwas an sich. Der öftere Gebrauch der diminutivorum, und in denselben vieler vocalium, mit den Buchstaben l, r und t, gemengt, macht sie lieblicher, als die viele herbe triconsonantes in der Polnischen. […]. S. Ruhigs Betrachtung der Littauischen Sprache, p. 74. 75.59

Herder verwendet hier also ein sprachkundliches Werk, um eine bestimmte Charakteristik der litauischen Sprache zu erläutern, die wiederum die Volkslieder des Kulturraums prägt. Dementsprechend weist beispielsweise Die kranke Braut eine Fülle dieser verniedlichenden Diminutive sowie weitere ‚naive‘ Gedichtstrukturen auf, die Herder besonders schätzt: häufige Parallelismen und Wiederholungen, die einen einprägsamen melodischen Refrain imitieren, sowie eine gleichmäßig sanfte Stimmung, die durch einen recht engen Motiv- und Wortschatz mit vielen beschreibenden Adjektiven erzeugt wird. Ähnlich aufgebaut sind auch die estnischen Hochzeitslieder,60 bei denen Herder wiederum auf eine Quelle in der Reiseliteratur verweist, nämlich August Wilhelm Hupels Topographische Nachrichten von Lief- und Ehstland (Riga 1777).61 Bezeichnend für Herders eher glättende Überarbeitung in den Volksliedern ist aber, dass er gerade die besonders charakteristischen Eigenheiten des Hochzeitsliedes weglässt, die Hupel in der zitierten Passage beschreibt, wie beispielsweise

58 Vgl. ebd., S. 83 f. 59 Ebd., S. 298. 60 Vgl. ebd., S. 300 f. 61 Auch hier entschuldigt sich Herder in der Anmerkung für die mangelnde idealische „Schönheit“ der estnischen Lieder; es könne „hier von treuen, wahren charakteristischen Gesängen eines Volks, und nicht vom abstraktem Ideal eines Liedes die Rede sein“. Ebd., S. 420.

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das Abholen der Braut mit dem Schlitten;62 stattdessen hebt er den allgemein menschlichen Aspekt der Generationenfolge sowie die enge Verbindung von Freud und Leid hervor. Die lustige Hochzeit. Ein wendisches Spottlied63 geht das Thema offensichtlich auf einem ganz anderen „Ton“ an. Die Quelle ist Johann Georg von Eckarts Historia studii etymologici linguae Germanicae (Hannover 1711), die das Lied sowohl in der Originalsprache als auch in einer deutschen Übersetzung enthält. Auch bei Hupel findet sich eine Anspielung auf dieses Lied, wenn es nach dem Abdruck des gerade behandelten Brautliedes heißt: „An diesen Proben mag es genug seyn: unter allen elenden Liedern habe ich die erträglichsten gewählt. Viele sind unausstehlich kindisch, wenn sie z.B. erzählen: die Schwalbe habe Bier gebrauet, die Lerche Holz darzu getragen, der Zaunkönig Hopfen eingelegt u.s.w.“64 Hier lässt sich die verbreitete Geringschätzung der Volkslieder als ästhetisch wertlos, die Herder eben nicht teilt, in der Quelle selbst besonders gut aufzeigen. Aus dem englischen Sprachraum sind zwei schottische Lieder enthalten.65 Das erste (Wilhelm und Margreth. Ein Mährchen) ist eine Romanze aus Percys Reliques; das zweite, Der Brautschmuck,66 stammt aus Allan Ramsays The Evergreen, being a Collection of Scottish Poems wrote by the Ingenious before 1600. Diesen Text lässt Herder unkommentiert, und tatsächlich kommt er eingängig anakreontisch tändelnd daher,67 mit einem glatt fließenden Romanzenvers und der topischen Verbindung von äußerer Anmut und innerer Tugend: Und unter ihnen ziehe sanft Der Schleife Band sich zu;

62 Hupel führt zunächst das estnische Lied in der Originalsprache an und gibt dann eine Prosaübersetzung: „Schmücke dich, schmücke dich Jungferchen! Schmücke dich mit dem Schmuck wormit sich vormals deine Mutter schmückte; lege solche Bänder an, wie vormals deine Mutter anlegte. Auf den Kopf lege das Kummerband; vor die Stirn das Sorgenband; auf den Scheitel das Trauertuch. Bereite dich, es wird draußen hell; bringe alles in Ordnung, die Morgendämmerung ist da: die Schlitten fangen an zu fahren, die Kufen der Bauerschlitten zu tanzen. – Das Lied beziehet sich auf die ehstnische Weiberkleidung, und auf die Gewohnheit die Braut des Nachts aus dem ihrigen in des Bräutigams Haus zu bringen, welches größtentheils im Winter mit Schlitten geschiehet“. August Wilhelm Hupel, Topographische Nachrichten von Lief- und Ehstland, Riga 1777, S. 159 f. 63 Vgl. Herder, „Volkslieder“, S. 118 f. 64 Hupel, Topographische Nachrichten, S. 160. Das Lied ist in variierter Form heute noch unter dem Titel Ein Vogel wollte Hochzeit machen bekannt. 65 Vgl. Herder, „Volkslieder“, S. 127–129. 66 Vgl. ebd., S. 395 f. 67 Auf die Anakreontik als zeitgenössisches Muster der Lyrik-Erwartungshaltung verweist Rölleke, „Nachwort“, S. 464.

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Und berg’ in ihren Busen zart Gelassenheit und Ruh.68

Insgesamt entsprechen beide Lieder dem Bild des „weich idealisierten Schotten“,69 das Herder schon im Ossian-Aufsatz gezeichnet hatte und das sich eben dieser Idealisierung wegen relativ problemlos in das Geschmacksambiente der eigenen Zeit einpassen lässt. Ein Beispiel einer spanischen Romanze zum Hochzeitsthema, ebenfalls im hier reimlosen Romanzenvers, ist Das schiffende Brautpaar70 nach Luis de Gongora. Auch dieser Text ist nur in einem sehr weiten Sinn als Volkslied zu bezeichnen, stand doch sein Schöpfer Pate für die Stilrichtung des barocken ‚Gongorismus‘, einer besonders manieristisch-wortspielerischen Variante der spanischen Barockdichtung. Immerhin weist er jedoch eine Reihe für Herder wichtiger Volkslied-Merkmale auf: eine anthropologische Standardsituation (das Brautpaar ist in seinem Glück bedroht, in diesem Fall durch das Auftauchen von Piraten); eine enge Beziehung zur Lebensweise und „Vorstellungsart“ des Volkes (die Prägung Spaniens durch die Gefahren des Meeres auf der einen Seite, die Neigung zu romantisch stark idealisierten Liebesbeziehungen auf der anderen). Lyrisch umgesetzt wird das in eine sanfte Bewegung, die das Schaukeln der Wellen wie die Harmonie des Paares simuliert, kontrastiert durch den plötzlich Einbruch des Bösen und Bedrohlichen; dazu kommen massiv lautmalerische Elemente, die in der zweimal wiederholten Strophe gipfeln: Und je mehr bei stillem Ruder Sanfter sich die Wellen neigen, Immer schmeichelnder die Winde Rauschten in der Liebe Segel.71

Mit den schottischen und den spanischen Romanzen sind wir schon bei komplexeren Kunstformen angekommen, die sich von den einfachen Formen der Lieder aus dem baltischen Raum deutlich abheben, aber für Herder gleichwohl

68 Herder, „Volkslieder“, S. 396. 69 Herder, „Ossian“, S. 453. 70 Vgl. Herder, „Volkslieder“, S. 393–395. Auf die Schwierigkeit, die Assonanzen, die der spanischen Form eigen sind, im Deutschen nachzubilden, verweist Herder in den Anmerkungen: „[A]us dem Spanischen habe ich nur wenig Stücke gegeben, weil nichts schwerer ist, als die Übersetzung einer simpeln Spanischen Romanze. Übersetze jemand, wenn sich ein langes historisches Gedicht herab, jede zweite Zeile auf ar endigt und damit im Spanischen prächtig und angenehm in der Luft verhallet, übersetze jemand so etwas in unsre Sprache!“ Ebd., S. 244 f. 71 Ebd., S. 394.

„Geographie der dichtenden Seele“

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noch Volkslied-Elemente aufweisen. Kaum noch gilt das jedoch für die poetisch elaboriertesten Texte aus dem Hochzeitskorpus.72 Die direkt auf die estnischen Lieder folgenden griechischen aus Bruncks Analecta veterum poetarum Graecorum73 versieht Herder mit der Anmerkung: „Die griechischen Lieder sind eingemischt, um zarte Seelen über die Barbarei der vorhergehenden und folgenden zu trösten“;74 sie fahren massiv mythologisches Personal und preziöse Vergleiche auf, verbunden mit dem Ton des hohen Pathos.75 Abgeschlossen werden die Hochzeitslieder schließlich – wohl kaum ein Zufall – von einem Brauttanz des deutschen Barocklyrikers Simon Dach, der eher eine allegorische Darstellung des Tanzes ist.76 Die Hochzeitslieder in den Volksliedern entsprechen damit nur zum Teil dem Ideal des naiven, ethnisch-charakteristischen, formal einfachen und trotzdem universal herzrührenden Volksliedes, das Herder in seinen theoretischen Texten skizziert. Sie bilden eine Art Kontinuum ab, das vom fragmentarisch überlieferten, in konkrete Traditionen und Lebenszusammenhänge eingebetteten Volksgesang über formal gebändigte Balladen mit folkloristischem Hintergrund bis hin zu poetisch globalisierten, elaborierten Kunsttexten reicht.77 Dabei legt Herder Wert darauf, diese Entwicklung nicht mit einem ästhetischen Werturteil zu verbinden: Die nationalen Ursprungsformen der Dichtung sind nicht poetisch minderwertig; ihre Ungeformtheit, die vom geschulten Geschmack als schwerer künstlerischer Mangel empfunden wird, hat den Wert höherer Authentizität, nationaler Charakteristik sowie das größere unmittelbare Wirkungspotential für den ungeschulten Hörer.78

72 Ebenfalls entfernt zum Thema Hochzeit gehört Erlkönigs Tochter. Dänisch; das Volkslied verarbeitet Goethe in seinem Erlkönig. 73 Hochzeitlieder (Griechisch); vgl. Herder, „Volkslieder“, S. 303 f. 74 Ebd., S. 420. 75 Ähnliches gilt für eine längliche Übertragung eines lateinischen Hochzeitsgesanges – „aus Katull, einem Dichter, der weit leichter ist zu verschönern als zu übersetzen“, kommentiert Herder lakonisch. Ebd., S. 425. 76 Vgl. ebd., S. 412 f. 77 Schon Ulrich Gaier hat diese Zusammenstellung letztlich höher bewertet als das einzelne Lied: Der Leser werde „durch die von Herder arrangierte Folge der Rührungen in seinem Innersten sukzessive zu einem reinen Menschsein aufgebaut […], ohne sich dieses Werdens bewußt zu seyn“. Gaier, „Kommentar“, S. 924. 78 Vgl. das Montaigne-Zitat, das programmatisch zu Beginn der Zeugnisse über Volkslieder steht: „Die Volkspoesie, ganz Natur, wie sie ist, hat Naivetäten und Reize, durch die sie sich der Hauptschönheit der künstlichvollkommensten Poesie gleichet“. Herder, „Volkslieder“, S. 71. Ähnlich argumentiert Herder im Blick auf die Edda: „Lasset uns also in diesen Gedichten und Sagen schätzen, was wir in ihnen finden, einen eignen Geist roher, kühner Dichtung, starker, reiner und

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Jutta Heinz

Außer ihrem praktischen Nutzen für eine stärker ganzheitliche Geschichtsschreibung und Ethnologie hat die auf diese Weise entstehende „Geographie der dichtenden Seele“ auch einen ästhetischen Mehrwert. Sie erschließt nicht nur ein neues Reservoir von nationalen Themen und Stoffen – was Herder gerade für die problematische Geschichte der deutschen Literatur wichtig ist –, sie präsentiert auch ein Arsenal wirkungsmächtiger, wenngleich einfacher poetischer Mittel, die auf der Natur des Menschen basieren, wie sie sich in frühen Stadien eben nicht als ausdifferenzierte Individualität, sondern als kollektive Mentalität äußert.79 Und dabei könnte sich schließlich sogar herausstellen, dass der Unterschied zwischen einfachen Volksliteraturen und avancierter Kunstliteratur gar nicht so groß ist, wenn man sie nämlich auf ihre naturalen Wurzeln hin befragt: „Wenn nun Frau Sappho und ein litthauisches Mädchen die Liebe auf gleiche Art singen, wahrlich so müssen die Regeln ihres Gesangs wahr sein, sie sind Natur der Liebe und reichen bis ans Ende der Erde.“80

treuer Gefühle, samt einem nur zu künstlichen Gebrauch des Kerns unserer Sprache“. Herder, „Ideen“, S. 639. 79 Mit etwas Mut zu starken Thesen könnte man die naturalistische Ästhetik der Volkslieder insofern als komplementäre Ergänzung zur anthropologisch fundierten Ästhetik der Erlebnislyrik betrachten; dieser Zusammenhang kann hier aber nicht weiter ausgeführt werden. 80 Herder, „Ähnlichkeit“, S. 434.

Christopher Meid, Oxford

Tugendlehre und Anthropologie Gottlieb Konrad Pfeffels China-Gedichte I China als Herausforderung China stellt für das westliche Denken nicht erst seit dem Aufklärungszeitalter eine Herausforderung dar.1 Seine jahrtausendealte Zivilisation hat man in Europa kaum je so leichtfertig abgetan wie etwa die Kulturen Afrikas oder der Südsee; vielmehr stimuliert sie seit den ersten intensiven Kontakten im 16. und 17. Jahrhundert Künstler, Literaten und Philosophen gleichermaßen.2 Einen Höhepunkt erlebt diese China-Begeisterung im 18. Jahrhundert. Sie schlägt sich sowohl in folgenreichen theoretischen Auseinandersetzungen mit dem ‚Reich der Mitte‘ als auch in der materiellen Kultur nieder: Dies bezeugen zeitgenössische Ballette und Porzellanwaren ebenso wie Architektur und Gartenkunst.3 Wenn Goethe in den Venetianischen Epigrammen schreibt, „sogar der Chinese / Male[ ], mit ängstlicher Hand, Werthern und Lotten auf Glas“,4 reflektiert er damit globale ökonomische Beziehungen: Tatsächlich wurden in China Werther-Porzellane für den europäischen Markt hergestellt.5 Auch in den westlichen Literaturen ist China im 18. Jahrhundert kontinuierlich präsent. So nutzen etliche Romane wie Albrecht von Hallers Usong (1771) die

1 Vgl. Renate Petersen-Kocabas, Natürliche und zivile Religion. Die Bedeutung der Kunde von China für die Religionskonzepte der Aufklärung, Berlin 1996, S. 264. 2 Vgl. grundlegend die komparatistische Studie von Willy Richard Berger, China-Bild und ChinaMode im Europa der Aufklärung, Köln/Wien 1990. Zur Rezeption chinesischer Architektur vgl. mit weiterführenden Literaturhinweisen Andreas Lange, „Exotismen in der Architektur. Versuch einer Gegenüberstellung von Chinoiserie, Ägyptenmode und islamisierender Architektur“, in: Gerhard Höpp (Hrsg.), Fremde Erfahrungen. Asiaten und Afrikaner in Deutschland, Österreich und in der Schweiz bis 1945, Berlin 1996, S. 435–458. 3 Vgl. Berger, China-Bild und China-Mode, S. 173–178 (zu den Balletten) u. S. 235–259 (zu chinesischen Gärten). 4 Johann Wolfgang Goethe, „Klein ist unter den Fürsten Germaniens freilich der meine“, in: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, Bd. 3.2, Hans J. Becker u.a. (Hrsg.), München 1990, S. 132. 5 Vgl. Hans J. Becker u.a., „Kommentar“, in: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke, Bd. 3.2, S. 430–663, hier S. 500: „1779 schon wurden in Deutschland chinesische Glasmalereien mit Werther-Motiven bekannt.“ Zum Zusammenhang von Porzellanen und Literatur vgl. Anett Lütteken, „‚Minna‘ auf der Zuckerdose. Porzellane des 18. Jahrhunderts als literaturgeschichtliche Quelle betrachtet“, in: Das achtzehnte Jahrhundert, 27/2003, 2, S. 217–234.

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fernöstliche Kulisse, um politische Fragen zu diskutieren,6 und mit Voltaires Tragödie L’Orphelin de la Chine (1755) gelangt sogar ein chinesischer Dramenstoff, wenn auch in stark überformter Weise, auf die Bühne.7 Zudem entsteht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum eine ganze Reihe von lyrischen Texten, die in unterschiedlicher Weise auf China Bezug nehmen.8 Kanonisierungsprozesse haben dazu geführt, dass gerade Nebenwerke der Klassiker große Resonanz gefunden haben. Dies gilt etwa für Goethes Epigramm Der Chinese in Rom, in dem China als Symbol für das Verworrene, Unzugängliche, ja Kranke dient: Siehe, da glaubt’ ich, im Bilde, so manchen Schwärmer zu schauen, Der sein luftig Gespinst mit der soliden Natur Ewigem Teppich vergleicht, den echten reinen Gesunden Krank nennt, daß ja nur er heiße, der Kranke, gesund.9

Der Chinese des Gedichts, hinter dem sich bekanntlich Jean Paul verbirgt, ist nicht in der Lage, die klassische Kunst zu verstehen: Maß und Harmonie sind ihm fremd.10 Im klassischen Versmaß des elegischen Distichons gibt Goethe den populären Konkurrenten der Lächerlichkeit preis und zeichnet ihn gar als pathologischen Fall. Ein Gegenbeispiel zu dieser chinesischen Konfusion bilden die beiden Sprüche des Konfuzius von Schiller, die in großer Verdichtung allgemeine Lebensweisheiten formulieren.11 Mit China aber, gar mit Konfuzius, haben diese Weisheiten bis auf ihren Titel nichts zu tun – es sei denn, man möchte allgemeine Affinitäten zwischen klassisch-deutschem und chinesischem Geist konstruieren.12 Schiller schreibt seine eigenen Maximen Konfuzius zu, um zum einen ihre Auto-

6 Vgl. Dalia Salama, Albrecht von Hallers „Usong“. Ein orientalisierender Staatsroman, Hamburg 2006. 7 Vgl. Berger, China-Bild und China-Mode, S. 204–213. 8 Vgl. dazu Eduard Horst von Tscharner, China in der deutschen Dichtung bis zur Klassik, München 1939; Ursula Aurich, China im Spiegel der Literatur des 18. Jahrhunderts, Berlin 1935, und Elizabeth Selden, China in German Poetry from 1773 to 1833, Berkeley/Los Angeles 1942. 9 Johann Wolfgang Goethe, „Der Chinese in Rom“, in: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, Bd. 3.2, Reiner Wild (Hrsg.), München 1988, S. 857 f., hier S. 858. 10 Vgl. Jochen Golz, „‚Der Chinese in Rom‘: Jean Paul und die Weimarer Klassiker“, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft, 42/2007, S. 3–21. 11 Vgl. Friedrich Schiller, „Sprüche des Konfuzius“, in: Sämtliche Werke, Bd. 1, Harald Fricke/ Herbert G. Göpfert (Hrsg.), 8., durchgesehene Auflage, München 1987, S. 226 f. 12 So andeutungsweise Tscharner, China in der deutschen Dichtung, S. 85; vgl. auch Günther Debon, Schiller und der chinesische Geist, Frankfurt a.M. u.a. 1983.

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rität zu vergrößern und zum anderen die Universalität dieser Einsichten zu unterstreichen, die eben nicht an bestimmte Kulturkreise gebunden seien. China als das Andere, das Bizarre – oder aber als Ursprung größter Weisheit: In diesem Spannungsfeld findet die Beschäftigung mit dem Reich der Mitte statt. Weder Goethe noch Schiller beziehen sich in den erwähnten Texten auf chinesische Muster. Stattdessen handelt es sich in beiden Fällen um lyrische Fantasien, die China als Autorität bemühen, um die jeweilige Aussage des Sprechers, sei sie nun polemisch oder philosophisch, zu unterstützen. Das kann nur deshalb funktionieren, weil es ein fest gefügtes Repertoire stereotyper Zuschreibungen gibt, das für das Gros der westlichen Rezipienten die Eigenart des Chinesischen bestimmt. Zugleich aber beginnt im Laufe des 18. Jahrhunderts eine allmähliche Auseinandersetzung mit genuin chinesischen Themen und Texten. Zwar ist auch diese mehrfach gebrochen, sie zeigt aber doch ein grundsätzliches Bedürfnis an, sich direkt mit der Kultur Chinas zu befassen. Von ungleich größerem Interesse als die Gelegenheitswerke der Weimarer Autoren sind also – zumindest im Zusammenhang mit völkerkundlich-anthropologischen Fragestellungen – literarische Texte, die tatsächlich in einen, wenn auch vermittelten Dialog mit China treten. Im deutschen Sprachraum ist es insbesondere Gottlieb Konrad Pfeffel, der seit den 1770er Jahren chinesische Stoffe versifiziert; seine populären moraldidaktischen Gedichte bilden gleichsam eine späte Summe der China-Diskurse des 18. Jahrhunderts. Im Zusammenspiel von chinesischen Motiven und aufklärerischem Gedankengut entstehen eigentümliche Gebilde, die – je nach Wirkungsabsicht – auf fernöstliche Motive zurückgreifen, diese aber, wie ein Vergleich mit den Quellen zeigt, deutlich variieren. Im Zentrum von Pfeffels Interesse an China stehen anthropologische Fragestellungen, die im Rückgriff auf ethnologisches Wissen erörtert werden. In einem eigentümlichen Doppelbezug geht es ihm sowohl um den Menschen an sich als auch um dessen kulturelle Überformung. Dieses Verhältnis steht im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen: Pfeffels Gedichte sind zunächst daraufhin zu befragen, welche Aussagen sie über China und die Chinesen treffen. Darüber hinaus ist zu diskutieren, wie sich ethisch-anthropologischer Universalismus und kulturelle Determination in seiner Lyrik zueinander verhalten. Indes ist das proprium von Pfeffels Entwürfen ohne einen Blick auf die historischen und kulturellen Kontexte kaum verständlich: Erst vor dem Hintergrund der China-Mode des 18. Jahrhunderts erschließen sich wesentliche Eigenheiten des Colmarer Aufklärers, der zentrale Aspekte des zeitgenössischen China-Diskurses aufgreift.

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II Konfuzius-Mode und Chinoiserie. China-Rezeption(en) im 18. Jahrhundert Das europäische Wissen über China ist lange Zeit diffus. Erst mit den Entdeckungsreisen des 16. Jahrhunderts kommt es zu einem dauerhaften Kulturkontakt zwischen Europa und China.13 Die wirkmächtigsten Berichte stammen von den Jesuiten, die „eine beispiellose Öffentlichkeitsarbeit“14 betrieben, um ihre Missionstätigkeit zu propagieren:15 Es mutet geradezu ironisch an, dass die Berichte christlicher Geistlicher erheblich dazu beitrugen, ein idealisiertes China-Bild zu vermitteln,16 das eine enorme Anziehungskraft auf Philosophen wie etwa Leibniz ausübte.17 Dieser geht sogar so weit, China als ,östliches Europa‘ zu bezeichnen und einen direkten Kontakt mit dem chinesischen Herrscherhaus vorzuschlagen.18 Diese Tendenzen zur Idealisierung prägen die westlichen Vorstellungen von China in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf entscheidende Weise. Popularisiert insbesondere durch Jean-Baptiste Du Haldes vierbändige Description géographique, historique, chronologique, politique et physique de L’Empire de la Chine et de la Tartarie Chinoise (1735) gilt China als „Hort der Weisheit, Tugend und Toleranz“;19 der Konfuzianismus erscheint hier als Beispiel einer „natürlichen Vernunftreligion“.20 Zwar setzte der Ritenstreit dieser Phase der Annäherung ein jähes Ende,21 die Wertschätzung chinesischer Philosophie aber zieht sich durch

13 Vgl. hierzu Walter Demel, Als Fremde in China. Das Reich der Mitte im Spiegel frühneuzeitlicher europäischer Reiseberichte, München 1992, und Berger, China-Bild und China-Mode. 14 Adrian Hsia, China-Bilder in der europäischen Literatur, Würzburg 2010, S. 11. 15 Vgl. zur Jesuitenmission in China Liam Matthew Brockey, Journey to the East. The Jesuit Mission to China, 1579–1724, Cambridge 2007, und Lavinia Brancaccio, China accommodate. Chinakonstruktionen in jesuitischen Schriften der Frühen Neuzeit, Berlin 2007. 16 Vgl. Berger, China-Bild und China-Mode, S. 40: Der „Konfuzianismus hat durch die Vermittlung der Mission weit größeren Anklang in Europa gefunden als das Christentum in China.“ 17 Vgl. Leibniz korrespondiert mit China. Der Briefwechsel mit den Jesuitenmissionaren (1689–1714), Rita Widmaier (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1990. 18 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Novissima Sinica/Das Neueste von China, Heinz-GüntherNesselrath/Hermann Rheinbote (Hrsg.), Köln 1979, S. 9: „Durch eine einzigartige Entscheidung des Schicksals, wie ich glaube, ist es dazu gekommen, daß die höchste Kultur und die höchste technische Zivilisation der Menschheit heute gleichsam gesammelt sind an zwei äußersten Enden unseres Kontinents, in Europa und in Tschina (so nämlich spricht man es aus), das gleichsam wie ein Europa des Ostens das entgegengesetzte Ende der Erde ziert.“ 19 Berger, China-Bild und China-Mode, S. 49. Du Haldes Schrift war „von ihrem Erscheinen bis zum Ende des XIX. Jahrhunderts das Standardwerk der europäischen China-Kenntnis“. Ebd., S. 49. 20 Ebd. 21 Vgl. David E. Mungello (Hrsg.), The Chinese Rites Controversy. Its History and Meaning, Nettetal 1994.

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das gesamte 18. Jahrhundert hindurch.22 Freilich handelt es sich bei diesen sinophilen Hypostasierungen um Projektionen aufklärerischer Ideale, die von wesentlichen Aspekten chinesischer Kultur absehen, an ihrer Wirkmächtigkeit ändert dies jedoch nichts. So unterstreicht Christian Wolff in seiner 1721 in Halle gehaltenen Rede über die praktische Philosophie der Chinesen, diese seien, obwohl sie keine Offenbarungsreligion besäßen,23 zur wahren Tugend vorgedrungen.24 Dass Wolff daraufhin nach erbitterten Kontroversen Preußen bei ‚Strafe des Stranges‘ verlassen musste,25 verdeutlicht, wie brisant dieses Lob Chinas in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts tatsächlich ist.26 Das Provokationspotenzial einer derartigen Idealisierung darf nicht unterschätzt werden: Die Begegnung mit China stellt von Beginn an vermeintliche Gewissheiten in Frage, etwa das christliche Schöpfungsdatum, das nur schwer mit der chinesischen Kaiserchronologie in Einklang zu bringen ist.27

22 Vgl. Li Wenchao, „Konfuzius in der deutschen Frühaufklärung“, in: Die Kunst der Aufklärung. Eine Ausstellung der Staatlichen Museen zu Berlin, der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen München und des National Museum of China, Berlin/ Dresden/München 2011, S. 84–94. 23 Vgl. Christian Wolff, Oratio de Sinarum philosophia practica/Rede über die praktische Philosophie der Chinesen. Lateinisch/Deutsch, Michael Albrecht (Hrsg.), Hamburg 1985, S. 27. 24 Vgl. ebd., S. 37: „Wer aber seinen Geist zur deutlichen Erkenntnis der Dinge erhebt und durch dasjenige Streben, das die Philosophen das vernünftige nennen, zum Guten angetrieben wird, der wird durch den freien Willen zu guten Handlungen bestimmt und braucht, um beim Guten zu bleiben, keinen Herren, da er ja den inneren Unterschied zwischen Gut und Böse erkennt und ihn, wenn es nötig ist, anderen zureichend erklären kann. Wer bei der Ausbildung der menschlichen Sitten besser darauf geachtet hätte als die Chinesen, den kenne ich in der Tat nicht.“ 25 Vgl. zur Rezeption der ‚Belle Wolfienne‘ den umfassenden Beitrag von Donald F. Lach, „The Sinophilism of Christian Wolff (1679–1754)“, in: Journal of the History of Ideas, 14/1953, 4, S. 561–574. 26 Vgl. ebd., S. 563: „Wolff pointed out that China, the nation with the longest continuous historical record, enjoying in eighteenth-century Europa a brilliant reputation for intellectual and cultural achievements, possessed in the Confucian tradition a non-Christian philosophical system based on human reason and the example of nature.“ 27 Vgl. Hsia, China-Bilder in der europäischen Literatur, S. 12, sowie Urs Bitterli, Die ‚Wilden‘ und die ‚Zivilisierten‘. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, zweite, durchgesehene und erweiterte Auflage, München 1991, S. 63: „Wenn diese Diskussion auch, wie manche ihrer Art, nicht zu gesicherten Ergebnissen vorzudringen vermochte, zeigte sich doch, daß man in Europa begann, die Begegnung mit einer anderen Weltkultur als Herausforderung zu begreifen und damit als einen Anlaß, das kulturelle Selbstverständnis einer Prüfung zu unterziehen“. Vgl. auch Hartmut Walravens, China illustrata. Das europäische Chinaverständnis im Spiegel des 16. bis 18. Jahrhunderts, Weinheim 1987, S. 17–22.

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Die moralischen Tugenden der Chinesen sind für die westlichen Theoretiker vor allem von Bedeutung, weil sie vermeintlich das perfekte Staatswesen mit sich bringen. Voltaire, dessen universalhistorischer Essai sur les mœurs et l’esprit des nations (1756) die einschlägigen Diskurse bündelt, stellt dies pointiert heraus: Le respect des enfants pour leurs pères est le fondement du gouvernement chinois. L’autorité paternelle n’y est jamais affaiblie. […] Les mandarins lettrés y sont regardés comme les pères des villes et des provinces, et le roi, comme le père de l’empire. Cette idée, enracinée dans les coeurs, forme une famille de cet Etat immense.28

Die positive Eigenschaft, die China zum Vorbild qualifiziert, ist also primär im unterstellten Einklang von privater und öffentlicher Sphäre zu sehen. Der chinesische Staat sei auf der individuellen Tugendhaftigkeit seiner Bewohner aufgebaut, die vor allem in der Elternliebe bestehe. Spätere Theoretiker sehen allerdings gerade diesen Aspekt kritisch:29 Aus klimatheoretischer Perspektive relativiert etwa Montesquieu das politische System Chinas, das nun als Paradebeispiel despotischer Herrschaft erscheint.30 Während seine Betrachtungen über die Chinesen aber noch weitgehend neutral sind, kommt es bald zu drastischen Abwertungen ihres ‚Nationalcharakters‘: China gilt nun als Land, das von Stagnation und Despotie geprägt ist – diese

28 Voltaire, „Essai sur les mœurs et l’esprit des nations“, in: Œuvres complètes de Voltaire, Bd. 7, Charles Lahure (Hrsg.), Paris 1859, S. 132 f. 29 Bereits Christian Thomasius warnte 1689 in den Monatsgesprächen vor der übertriebenen China-Verehrung, die auch auf Vorurteile zurückzuführen sei. Zu Konfuzius etwa merkt er an: „Lutherus und Scaliger bleiben beyde wohl zwey berühmte Leute / obgleich die angeführten Bücher zu ihren Ruhm den wenigsten Theil contribuiren; Also bleibt Confutius wohl ein scharffsinniger und weiser Philosophus, obgleich diese Scientia Sinica nicht eben die scharffsinnigste ist. In denen Scaligeranis sind viel gelehrte Anmerckungen enthalten; aber es sind auch viel allzufreye Dinge drinnen / und die wenig Beyfall finden möchten; Die Tisch-Reden Lutheri begreiffen viel Gottsfürchtige und nützliche Sachen in sich; aber es sind auch andere Historien darinne / derer sich die Papisten, wie bekant / sehr wieder uns zu Nutz zu machen wissen / oder die ziemlich lächerlich herauß kommen / […]. Also ist zwar nicht zu leugnen / daß in denen drey Büchern Scientiae Sinensis gar viel überaus kluge und subtile Lehren des Confucii enthalten sind / die wohl zu wünschen wären / daß man sie auff hohen Schulen oder in gemeinem Leben inacht nähme. Allein es sind auch viele nichts würdige Dinge darinnen / bey welchen man sich des Lachens kaum enthalten kann / und das acumen wohl ein Jahr lang vergebens suchen solte.“ Christian Thomasius, [Rez. zu Philippe Couplet, Confucius Sinarum Philosophus […], Paris 1687,] in: Freimütige, lustige und ernsthafte, jedoch vernunftmäßige Gedanken oder Monatsgespräche über allerhand, fürnehmlich aber neue Bücher, 4/1689, S. 599–634, hier S. 605 f. 30 Vgl. Berger, China-Bild und China-Mode, S. 108–113. Zur literarischen Rezeption von Montesquieus China-Bild vgl. Adrian Hsia, Chinesia. The European Construction of China in the Literature of the 17th and 18th Centuries, Tübingen 1998, S. 99–113.

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Stereotype haben ihre Wirkmächtigkeit bis weit ins 20. Jahrhundert hinein behalten. Reiseberichte von Kaufleuten tun ein Übriges, ein negatives China-Bild zu entwerfen, und die Nachwirkungen reichen bis zu Herder, für den China der Inbegriff des Stillstandes ist. Elternliebe erscheint jetzt als Zeichen der Unterwürfigkeit; die Chinesen seien schwach und zum Fortschritt nicht befähigt.31 Unter gewandelten Vorzeichen werden dieselben Befunde also unterschiedlich gewichtet. Deutlich erkennbar tritt neben die Wertschätzung chinesischer Philosophie und Tugendlehre eine negative Sicht auf China, die nun auch biologische Faktoren einschließt. So bezeichnet August Ludwig Schlözer China als „das größte, aber auch – da ihm Klima, Sitten, und unmenschliche Despotie keinen Gebrauch seiner ungeheuren Kräfte verstatten – zugleich das dümmste Reich der Welt, bei allem äussern Anschein von Cultur.“32 Christoph Meiners schließlich führt den Despotismus Chinas auf die biologische Disposition der Chinesen zurück:33 Hier kündigen sich Positionen an, die im 19. und 20. Jahrhundert in dem Schreckbild der sogenannten Gelben Gefahr aufgehen.34 Wenngleich die Wertungen Chinas im Verlauf des 18. Jahrhunderts tendenziell negativer ausfallen,35 finden sich aber auch in den letzten Jahrzehnten noch positive Stellungnahmen. Vielfach bleiben die Gegensätze unaufgelöst: Unterschiedliche China-Bilder stehen nebeneinander.

31 Vgl. Johann Gottfried Herder, „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“, in: Werke in zehn Bänden, Bd. 6, Martin Bollacher (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1989, S. 442: „Taumelnd von Tatarischem Stolz verachten sie den Kaufmann, der sein Land verläßt, und wechseln betrügliche Ware gegen das was ihnen das sicherste dünket: sie nehmen sein Silber und geben ihm dafür Millionen Pfunde entkräftenden Tees zum Verderben Europa’s.“ Vgl. zu Herders China-Bild Rolf J. Goebel, „China as an Embalmed Mummy: Herder’s Orientalist Poetics“, in: South Atlantic Review, 60/1995, 1, S. 111–129. 32 August Ludwig Schlözer, Vorstellung der Universal-Historie, Göttingen 21775, S. 122. 33 Vgl. Christoph Meiners, Grundriß der Geschichte der Menschheit, Lemgo 1785, S. 150 f. Vgl. zu Meiners Hsia, China-Bilder in der europäischen Literatur, S. 44, und Eun-Jeung Lee, „Anti-Europa“. Die Geschichte der Rezeption des Konfuzianismus und der konfuzianischen Gesellschaft seit der frühen Aufklärung. Eine ideengeschichtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, Münster/Hamburg/London 2003, S. 208–221. 34 Vgl. Heinz Gollwitzer, Die Gelbe Gefahr. Geschichte eines Schlagworts. Studien zum imperialistischen Denken, Göttingen 1962. 35 Vgl. Berger, China-Bild und China-Mode, S. 117: „Die ideologische Abwertung Chinas, der wir vornehmlich in der zweiten Jahrhunderthälfte begegnen, erfolgt vor allem im Zeichen des Rousseauismus“.

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III China in Pfeffels lehrhafter Dichtung Auch die lehrhafte Dichtung von Gottlieb Konrad Pfeffel ist keineswegs einheitlich in ihren Aussagen über China.36 Der Versuch, aus seinen Gedichten ein China-Bild zu extrahieren, ist mithin von vornherein zum Scheitern verurteilt: Der Autor nutzt das zeitgenössische Wissen über China auf höchst variable Weise, um die didaktische Wirkungsabsicht seiner Texte zu unterstreichen. Oft dient China dabei lediglich als Hintergrund. So stellt das Gedicht Der Drache (1782) unaufgeklärte Götzenverehrung dar;37 Das Gift (1786) ist eine Satire auf die verderblichen Wirkungen des Obskurantismus.38 Tien und Xangthi (1792) wiederum wirft ein skeptisches Licht auf die Fähigkeit des Menschen zur Aufklärung: „Und wenn die Bonzen ihn nicht mehr betrügen, / So werden es Sophisten thun“,39 lautet das ernüchternde Fazit. Doch während Pfeffel China in den genannten Gedichten nur als (durchaus austauschbare) Kulisse nutzt, transformiert er in vier anderen lyrischen Texten chinesische Stoffe:40 Holien (1778), Kiefuen (1779), Mutter und Tochter (1799) und Die Brüder (1804) kreisen allesamt um das Thema der Elternliebe.41 Sie

36 Vgl. zu Pfeffel Gonthier-Louis Fink, Der Elsässer Gottlieb Konrad Pfeffel. Die Welt von gestern in der Sicht von heute. Vortrag anläßlich der Ausstellung „Gottlieb Konrad Pfeffel – Satiriker und Philanthrop“ am 11. November 1986 in der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe, Karlsruhe 1987; Badische Landesbibliothek (Hrsg.), Gottlieb Konrad Pfeffel. Satiriker und Philanthrop (1736–1809). Eine Ausstellung der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe in Zusammenarbeit mit der Stadt Colmar, Karlsruhe 1986, und Achim Aurnhammer/Wilhelm Kühlmann (Hrsg.), Gottlieb Konrad Pfeffel (1736–1809). Signaturen der Spätaufklärung am Oberrhein, Freiburg 2010. 37 Vgl. Gottlieb Konrad Pfeffel, „Der Drache“, in: Poetische Versuche, Bd. 2, vierte rechtmäßige, verbesserte und vermehrte Auflage, Tübingen 1802, S. 18. 38 Vgl. Gottlieb Konrad Pfeffel, „Das Gift“, in: Poetische Versuche, Bd. 3, vierte rechtmäßige, verbesserte und vermehrte Auflage, Tübingen 1803, S. 139–142. 39 Gottlieb Konrad Pfeffel, „Tien und Xangthi“, in: Poetische Versuche, Bd. 4, vierte rechtmäßige, verbesserte und vermehrte Auflage, Tübingen 1802, S. 144. 40 Vgl. Tscharner, China in der deutschen Dichtung, S. 67: „In einigen anderen Verserzählungen aber versuchte Pfeffel, eigentliche chinesische Stoffe neu zu gestalten. In all diesen Gedichten handelt es sich um die kindliche Ehrfurcht, die ja die Chinesen als die höchste Tugend schätzen und in vielen rührenden und heldenhaften Geschichten verherrlicht haben.“ Vgl. zu Pfeffels China-Gedichten außerdem Wei Maoping, „Pfeffels chinesische Fabeln und ihre Bedeutung für die Moralphilosophie“, in: Ralf Bogner u.a. (Hrsg.), Realität als Herausforderung. Literatur in ihren konkreten historischen Kontexten. Festschrift für Wilhelm Kühlmann zum 65. Geburtstag, Berlin/ New York 2011, S. 329–340, und Aurich, China im Spiegel der Literatur des 18. Jahrhunderts, S. 114–120. 41 Die Popularität von Pfeffels Gedichten bezeugen unter anderem die Stiche von Daniel Chodowiecki zu Holien und Kiefuen. Vgl. Ludwig Daniel Jacoby, Chodowiecki’s Werke. Oder: Verzeichniß sämtlicher Kupferstiche, welche der verstorbene Herr Daniel Chodowiecki, Direktor der Königl.

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beziehen sich auf französische Vorlagen, die wiederum auf chinesischen Quellen basieren.42 Holien, entstanden 1778, stellt den gleichnamigen Chinesen in den Mittelpunkt, der mit seiner Sohnesliebe einen Räuber dauerhaft zur Tugend bekehren kann. Das Gedicht setzt mit einer Ortsangabe ein: In China lag beym Sternenlichte Ein Jüngling – Dank sey der Geschichte Für seinen Namen – Holien Lag müd auf seiner Binsenmatte Und sah vom Räuber ungesehn, Der sein Gemach erstiegen hatte, Wie hurtig er, was ihm gefiel, In seinen weiten Schnapsack steckte. Er regt sich nicht auf seinem Pfühl Und blinzt die Augen zu. Nun streckte Der Gaudieb die verfluchte Hand Nach einem Topf von Siegelerde, Der leer in einem Winkel stand. Laß, rief er mit flehender Geberde Itzt Holien, laß, armer Mann, Mir diesen Topf, damit ich morgen Für meine Mutter kochen kann. Der Räuber bebt: Schlaf ohne Sorgen; Solch einen Sohn bestehl ich nicht, Lallt er, legt all die Beute nieder Und wischt sich Thränen vom Gesicht. Seit diesem Tag stahl er nicht wieder.43

Wie bereits der zweite Vers andeutet, folgt Pfeffel einem Prätext; in einer emphatischen exclamatio dankt der Sprecher der Überlieferung dafür, dass sie das moralische Exempel mit einem konkreten Namen verknüpft habe. Dies dient der Autorisierung des Gedichts: Durch die Berufung auf einen Text, der den Anspruch auf Faktualität erhebt, verleiht Pfeffel dem Inhalt zusätzliches Gewicht. Tatsächlich bezieht sich Pfeffel auf eine chinesische Anekdote, die im dritten Band von Du Haldes Kompilation überliefert ist.44 Er lehnt sich eng an diesen

Preuß. Academie der Künste von 1758 bis 1800 verfertigt, und nach der Zeitfolge geordnet hat, Berlin 1808, S. 112. 42 Die fehlerhaften Quellenangaben von Tscharner, China in der deutschen Dichtung, S. 121, finden sich auch bei Wei, „Pfeffels chinesische Fabeln“. 43 Gottlieb Konrad Pfeffel, „Holien“, in: Poetische Versuche, Bd. 2, S. 69. 44 Vgl. Jean-Baptiste Du Halde, Description géographique, historique, chronologique, politique et physique de l’Empire de la Chine et de la Tartarie Chinoise, Bd. 3, Den Haag 1736, S. 259. Vgl. zu Du

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Text an, verzichtet aber – wohl aus Gründen der Zuspitzung – auf die Vorgeschichte. Ho Lun, so erfahren wir bei Du Halde, ist „un exemple de piété filiale“:45 Er sorgt sich über das gewöhnliche Maß hinaus um seine verwitwete Mutter und weint Zeit seines Lebens jedes Jahr am Todestag seines Vaters heiße Tränen.46 Von dieser Sohnesliebe ist der nächtliche Dieb zutiefst erschüttert und beschämt: „Le voleur tout honteux laissa la poële & tout le reste, & dit en se retirant: Ce feroit m’attirer quelque malheur que de voler un si bon fils. On assûre même qu’à cette occasion il conçut une vraye estime pour la vertu, & qu’il quita son prémier métier.“47 Die Aussage der chinesischen Anekdote entspricht derjenigen von Pfeffels Gedicht: Beide Texte erzählen von einer moralischen Besserung. Diese erfolgt durch eine exemplarische tugendhafte Handlung, die emotional auf den Kriminellen wirkt und dadurch sein Moralempfinden weckt. Pfeffel aber verstärkt diese Komponente im Vergleich zur Vorlage erheblich: Bei ihm „bebt“ der Räuber, er „lallt“ und weint „Thränen“. Auch die Schlusspointe spitzt Pfeffel zu. Während es bei Du Halde sehr vermittelt heißt, man versichere, dass der Räuber aus Furcht vor dem Unglück, das eine solche Tat nach sich ziehen werde, sein verbrecherisches Handeln aufgegeben habe, konstatiert Pfeffels Sprecher mit großer Gewissheit, dass die Bekehrung erfolgreich verlaufen sei: „Seit diesem Tag stahl er nicht wieder.“48 Von einer rational begründeten Wertschätzung der Tugend ist allerdings nicht die Rede: Pfeffel überführt die abstrakte Begrifflichkeit der Vorlage in eine Sprache der Gefühle, die auch die Körperlichkeit der literarischen Figur beinhaltet.49 Der „zuletzt so gefühlvolle Räuber“50 ist dauerhaft gebessert, überwältigt durch die unmittelbare sinnliche Erfahrung beispielhafter Tugend.51

Haldes einflussreicher China-Beschreibung Isabelle Landry-Deron, La preuve par la Chine. La „Description“ de J.-B. Du Halde, jésuite, 1735, Paris 2002. 45 Du Halde, Description, Bd. 3, S. 259. 46 Vgl. ebd., S. 259: „A la mort de son pere, il porta les choses bien au-delà ce qui est de pure obligation. Depuis, jusqu’à la derniere année de sa vie, au jour de la mort de son pere, il le pleura aussi tendrement, que s’il n’avoit fait de le perdre.“ 47 Ebd. 48 Vgl. zum Tränenkult des 18. Jahrhunderts den Sammelband Das weinende Saeculum. Colloquium der Arbeitsstelle 18. Jahrhundert, Gesamthochschule Wuppertal, Universität Münster, Schloss Dyck vom 7.–9. Oktober 1981, Heidelberg 1983; vgl. außerdem Gerhard Sauder, Empfindsamkeit, Bd. 1, Stuttgart 1974. 49 Vgl. Tscharner, China in der deutschen Dichtung, S. 68: „Das Unchinesischste in diesem Gedichte sind die moralischen Tränen des Diebes, mit denen Pfeffel seine Vorlage ausschmückte.“ 50 Aurich, China im Spiegel der Literatur des 18. Jahrhunderts, S. 116. 51 Pfeffels späte Ballade Die Brüder. Eine chinesische Sage (1804) stellt in ähnlicher Absicht die tugendhaften Handlungen von zwei musterhaften Söhnen heraus. In Zeiten einer verheerenden Hungersnot wird der ältere Bruder auf der Suche nach essbaren Wurzeln von drei hungrigen

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Um einiges komplexer als in diesem eher durch seine Eindeutigkeit bestechenden Text verhält es sich in Pfeffels 1779 entstandenem Gedicht Kiefuen. Es stellt wieder einen vorbildhaften Sohn in den Mittelpunkt, erweitert den Konflikt aber um eine politische Dimension: Ein Mandarin ward wegen Räubereyen, Die Fürsten nur sich selbst verzeihen, Zum Schwert verdammt. Kiefuen, sein Sohn Warf sich vor des Beherrschers Thron Und bat um seines Vaters Leben: „Ich weiß, er ist des Todes werth; Doch mußt du dem Gesetz ein Opfer geben, Hier ist es! weyhe mich dem Schwert Und laß ihn los.“ Mit scheinbar strenger Miene Sprach der Monarch: dein Wunsch ist dir gewährt; Man führ ihn auf die Todesbühne. Der Jüngling küßt entzückt des Kaysers Hand Und springet auf. Halt, rief der Fürst voll Freude, Den Vater schenk ich dir, und dich dem Vaterland. Er küsset ihn und hängt sein eignes Halsgeschmeide Dem Helden um. Beschämt ergreift er den Talar Des Kaysers. Herr, erlaß mir diese goldne Bürde, Sprach er, die täglich mich daran erinnern würde, Daß einst mein Vater schuldig war.52

Räubern überfallen, die ihn verspeisen wollen. Ihr potentielles Opfer bittet um Aufschub, um zuvor seine Mutter mit der gesammelten Nahrung zu versorgen: „Mich essen wollt ihr? Laßt mich nur / Die Wurzeln der Mutter erst bringen; / Dann eil’ ich, Tieng, vernimm den Schwur! / Zurück mit Adlers Schwingen.“ Als er nach dem Abschied von der Mutter zu den Räubern zurückkehrt, findet er dort seinen jüngeren Bruder vor, der an seiner Stelle sterben möchte: Er sei „zärter und fetter“ als der Ältere. Von dem anschließenden Tugendduell der Brüder sind die Räuber so gerührt, dass sie ihre Opfer ziehen lassen. Gottlieb Konrad Pfeffel, „Die Brüder. Eine chinesische Sage“, in: Poetische Versuche, Bd. 9, vierte rechtmäßige, verbesserte und vermehrte Auflage, Tübingen 1809, S. 48–50, hier S. 49 f. Pfeffels Quelle ist die Abhandlung von Pierre-Martial Cibot, „Doctrine ancienne et nouvelle des Chinois sur la piété filiale“, in: Mémoires concernant l’histoire, les sciences, les arts, les mœurs, les usages, etc. des Chinois, par les Missionaires de Pe-kin, 4/1779, S. 1–298, hier S. 258. Dort ist allerdings nur die Rede von einem Sohn; der Tugendwettstreit, der an Iphigenie-Dramen der Aufklärung erinnert (vgl. dazu Werner Frick, „Die Schlächterin und der Tyrann. Gewalt und Aufklärung in europäischen Iphigenie-Dramen des 18. Jahrhunderts“, in: Goethe-Jahrbuch, 118/2001, S. 126–142), ist Pfeffels Zutat. Dies gilt ebenso für das an Schillers Bürgschaft erinnernde Motiv des Aufschubs. 52 Gottlieb Konrad Pfeffel, „Kiefuen“, in: Poetische Versuche, Bd. 2, S. 22. Erstmals publiziert wurde der Text in den Fabeln der helvetischen Gesellschaft gewidmet, Basel 1783, S. 194. Dort heißen die letzten Verse: „Der Jüngling küßt entzükt des Kaysers hand / Und raft sich auf. Halt, rief der Fürst mit Thränen, / Den Vater schenk ich dir und dich dem Vaterland; / Umarme mich,

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Das Thema der Sohnesliebe wird nun in einem höfischen Rahmen verhandelt; mit dem Kaiser von China tritt der absolute Monarch selbst auf. Es geht um Verbrechen und Strafe; dabei steht mindestens ein Menschenleben auf dem Spiel. Pfeffels literarische Versuchsanordnung um Politik, Moral und Sohnesliebe folgt zwar dem gängigen Schema einer beispielhaften Handlung, die belohnt wird, geht aber zugleich über dieses konventionelle Muster hinaus. Denn schließlich ist neben der Liebe zu seinem Vater die Scham Kiefuens wesentliche Emotion: Die Belohnung ist somit nicht in der Lage, die Probleme zu lösen; sie wird vielmehr zur Belastung für den Ausgezeichneten. Äußere und innere Vorgängen stehen in einem denkbar scharfen Kontrast. Ein Blick auf Pfeffels Quelle hilft, die Stoßrichtung seines Textes genauer zu fassen. Dieser bezieht sich auf eine chinesische Anekdote, die im vierten Band der Mémoires concernant l’histoire, les sciences, les arts, les mœurs, les usages, etc. des Chinois, par les Missionaires de Pe-kin (1776–91) überliefert ist – übrigens im selben Jahr erschienen wie Pfeffels Gedicht, auf den der Stoff einen unmittelbaren Reiz ausgeübt haben muss.53 Die Erzählung von Hi-fen gehört in den Zusammenhang einer Darstellung chinesischer Sittenlehren, die explizit Beispiele kindlicher Ehrfurcht kompiliert: Le pere de Hi-fen fut calomnié, saisi, jugé & condamné à mort. Hi-fen se tint jour & nuit à la porte de la prison, pleurant & se lamentant de maniere à attendrir les coeurs les plus insensibles. O mon pere! mon pere! s’ecrioit-il, qui m’obtiendra de mourir en votre place? L’Empereur en fut instruit par un Censeur, & fit recommencer en secret la procédure, ne pouvant croire que le pere d’un fils si vertueux eût fait les malversations dont on l’accusoit. La calomnie fut constatée; mais l’innocence du pere découverte, il falloit donner en spectacle la Piété Filiale du fils pour la faire connoître à tout l’Empire. Hi-fen fut conduit en présence de l’Empereur. Jeune téméraire, lui dit le Prince, en le regardant d’un air terrible, connois-tu la rigueur des supplices, quand tu demandes à mourir pour ton pere? Délibere avant que de te dévouer à cette affreuse mort; il n’y aura plus à reculer, si tu l’accepts. Je suis trop jeune, Seigneur, répondit Hi-fen, pour connoître la rigueur des supplices; mais il n’en est aucun que je ne préfere à la douleur de voir mourir mon pere qui m’a toujours si tendrement aimé. Soit, reprit l’Empereur, j’y consens; vas le faire sortir de prison & reste à sa place. Hi-fen obéit avec une joie qui marquoit la sincérité des ses sentimens, & laissa ignorer à son pere à quelle condition il etoit délivré. Mais à peine eut-il eté chargé de chaînes qu’on vint les lui ôter par ordre de l’Empereur, lui annoncer la justification de son pere, & lui déclarer les graces & les bienfaits dont Sa Majesté récompensaoit sa Pieté Filiale.54

mein Freund, ein Ordensband / Soll deine Kindestreue krönen. / Nein, sprach der Sohn, und faßte den Talar / Des Kaysers, nein! erlaß mir eine Zierde, / Die täglich mich daran erinnern würde, / Daß einst mein Vater schuldig war.“ 53 Vgl. Tscharner, China in der deutschen Dichtung, S. 68 f. 54 Vgl. Cibot, „Doctrine ancienne et nouvelle des Chinois sur la piété filiale“, S. 266 f.

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Pfeffel hält sich einerseits recht eng an den Plot der Vorlage – der Vater wird verurteilt, der Sohn will sich opfern, beide werden vom Kaiser begnadigt –, andererseits differiert seine Wertung der Figuren wie auch die Figurenmotivation merklich von der chinesischen Anekdote.55 In Pfeffels Quelle ist der Vater Opfer einer Verleumdung.56 Als Beweis für die Unschuld des Vaters fungiert die Tugendhaftigkeit des Sohnes, der – so die kaiserliche Logik – unmöglich einen verbrecherischen Vater haben kann. Die kindliche Ehrfurcht gilt also einem legitimen Objekt, und darüber hinaus kommt ihr eine staatserhaltende Bedeutung zu: Hi-fen wird gleichsam ausgestellt, um dem ganzen Reich die Bedeutung dieses Verhaltens sinnfällig zu machen. Die kaiserliche Belohnung trifft den Richtigen. Dieser optimistische Schluss überstrahlt auch das Problem, das der Text nicht zu lösen vermag, nämlich wie es denn in einem Musterstaat zu einer derartigen Verleumdung kommen kann. Demgegenüber verschließt sich Pfeffels Gedicht einer harmonisierenden Lesart schon von Beginn an: Grundtendenz ist die Abwertung sowohl des Vaters als auch des Kaisers. Denn der Mandarin aus Pfeffels Gedicht ist eben nicht zu Unrecht angeklagt, sondern hat Verbrechen begangen, die „die Fürsten nur sich selbst verzeihen“. Mit anderen Worten: Der verbrecherische Staatsdiener hat eine Tat begangen, die allenfalls bei den Herrschenden ohne Strafe bleiben würde. Dies verweist auf kritische Bemerkungen, etwa bei Montesquieu, der in Anlehnung an Reiseberichte von den „brigandages des mandarins“57 schreibt. Dass dadurch auch der Kaiser in einem zweifelhaften Licht erscheint, versteht sich von selbst.58 Indem er Kiefuen belohnt, lenkt er nur von den Systemfehlern des Staatswesens ab. Pfeffel distanziert sich damit von einer langen Tradition, die

55 Aurich, China im Spiegel der Literatur des 18. Jahrhunderts, S. 115, betont die Nähe des Gedichts zu Schillers Bürgschaft; Tscharner, China in der deutsche Dichtung, S. 69, hebt die Verdichtung der Handlung hervor. 56 Auf diesen für die Interpretation von Pfeffels Text wesentlichen Punkt weist auch Wei, „Pfeffels chinesische Fabeln“, S. 334, hin, ohne allerdings den Befund fruchtbar zu machen. 57 Montesquieu, De l’esprit des lois, Bd. 1, Gonzague Truc (Hrsg.), Paris 1949, S. 134. Vgl. zu Montesquieus Vorstellungen Berger, China-Bild und China-Mode, S. 108–113. Vgl. auch das ChinaBild, das Corneille de Pauw in den Recherches Philosophiques sur les Egyptiens et les Chinois, Berlin 1773, entfaltet: „Wüsteneien, Wilde, Räuber, Hungersnöte, elende Sklaverei und rohester Despotismus – das sind die Farben, mit denen er sein düsteres Gemälde malt.“ Berger, China-Bild und China-Mode, S. 119. 58 Anders Hsia, China-Bilder in der europäischen Literatur, S. 120, für den an der Vorbildhaftigkeit des Kaisers kein Zweifel besteht.

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den Kaiser von China als Ideal eines Herrschers auffasste:59 Bereits 1697 stellt ihn Joachim Bouvet als leuchtendes Vorbild dar;60 auch Voltaire preist den ‚Sohn des Himmels‘ in hymnischer Weise.61 Von dieser Vorbildhaftigkeit ist Pfeffels Kaiser weit entfernt. In dem Missionarsbericht wird erzählt, wie ein Systemfehler korrigiert wird; Pfeffel hingegen führt einen individuellen Gnadenakt vor Augen, das System aber bleibt bei ihm bestehen. Sein Gedicht gehört somit in eine lange Tradition literarischer Hofkritik, die gerade die Dissonanz zwischen politischem und ethischem Handeln betont.62 Der Sohn selbst versucht, seine moralische Integrität zu retten: Er zeichnet sich zugleich durch seine unbedingte Liebe zum Vater und zur Ehre aus. Beide Affekte sind nur schwer miteinander in Einklang zu bringen, denn auch für Kiefuen besteht nicht der geringste Zweifel an der Schuld des Vaters. Sein Opferwille geht einzig auf eine Sohnesliebe zurück, die von dessen Verfehlungen völlig absieht: „Ich weiß, er ist strafbar.“ Als redlicher Mann sticht der Sohn aus der höfischen Sphäre heraus, wo „Räubereyen“ anscheinend an der Tagesordnung sind. Im Kontrast zum kaiserlichen Vereinnahmungsversuch steht das Verhalten von Kiefuen, insofern er sich der demonstrativen Ehrung entzieht und stattdessen seine Scham betont. Die Belohnung erscheint als „goldne Bürde“, mithin als Last. Der Akt kindlicher Ehrfurcht hält zugleich dem Vater den Spiegel vor: Die Sohnesliebe gehört in Pfeffels Gedicht in den privaten Bereich, sie taugt nicht als Grundlage des Staates. Der Text thematisiert vielmehr Schuld und Scham und rückt die Identitätsproblematik der Titelfigur in den Mittelpunkt. Die vermeintlich typisch chinesische Liebe zu den Eltern stellt Pfeffel in einem anderen Text deutlich kritischer dar. In dem Gedicht Mutter und Tochter (1799) wendet er diesen Topos ins Satirische: In China, wo Respekt vor grauen Haaren Und auch die Cur des Stocks noch üblich sind, Schlug einst ein Mütterlein von achtzig Jahren Ihr Töchterchen, ein ungezognes Kind

59 Vgl. Hsia, China-Bilder in der europäischen Literatur, S. 27: „Parallel zur Doktrin vom chinesischen Figurismus versuchte man auf sinophiler Seite, den zeitgenössischen chinesischen Kaiser als das Vorbild aller europäischen Fürsten zu propagieren.“ 60 Vgl. Joachim Bouvet, Portrait historique de l’empéreur de la Chine, Paris 1697. 61 Vgl. Walter Engemann, Voltaire und China. Ein Beitrag zur Geschichte der Völkerkunde und zur Geschichte der Geschichtsschreibung sowie zu ihren gegenseitigen Beziehungen, Leipzig 1932, S. 91–98. 62 Vgl. Helmuth Kiesel, „Bei Hof, bei Höll“. Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller, Tübingen 1979.

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Von sechzigen. Es weinte bittre Zähren Und ächzte jämmerlich. Was heulest du? Sprach die Mama; sonst schlug ich derber zu, Und habe dich noch nie so winseln hören. Wohl, Mütterchen, du hast nur allzurecht Und eben das thut meinem Herzen wehe, Rief jene schluchzend aus, denn ach! ich sehe, Wie sehr das Alter deinen Arm geschwächt.63

Pfeffel entwirft ein humoristisches Sittengemälde Chinas: Ehrfurcht vor dem Alter und ihre gewaltsame Durchsetzung kennzeichnen das Land. Dabei ist die satirische Stoßrichtung unverkennbar: Sie wird deutlich an den witzigen Kontrasten – ein „Mütterlein“ von achtzig Jahren, ein sechzigjähriges „ungezognes Kind“ – und darüber hinaus an dem Verb „winseln“. Die Quelle findet sich wiederum bei Du Halde.64 Anders als im Fall von Kiefuen vereinfacht Pfeffel hier die chinesische Anekdote, bei der es sich um eine Besserungsgeschichte handelt: Ein Junge, der keinen Respekt vor den Eltern zeigt, wird mit einem Bild konfrontiert, das eben diese Geschichte zum Inhalt hat. Während Du Halde erzählt, wie die bildliche Darstellung einer vorbildlichen Handlung eine positive Wirkung ausübt, stellt Pfeffel in höchster Verdichtung eine grotesk anmutende Szenerie dar, die von einer freiwilligen lebenslangen Unterwerfung zeugt. Indem er die Vorlage massiv umwertet und komisch depotenziert, schließt er an den sinophoben Diskurs des ausgehenden 18. Jahrhunderts an. Der Erziehungsakt seiner Quelle wird ad absurdum geführt und zu einem zugleich lächerlichen und abschreckenden Exempel freiwilligen Autonomieverlusts umgestaltet.65

IV Anthropologischer Universalismus? Pfeffel geht es nicht darum, in Gedichtform Wissen über China zu vermitteln; ein geschlossenes China-Bild jedenfalls lässt sich aus seinen Texten nicht rekonstruieren. Vielmehr greift er auf chinesische Stoffe zurück, um ethische Konflikte zu thematisieren, die von universeller Bedeutung sind. Die universelle Verwendbarkeit der übernommenen Motive setzt die Annahme allgemeinmenschlicher Ver-

63 Gottlieb Konrad Pfeffel, „Mutter und Tochter“, in: Poetische Versuche, Bd. 8, vierte rechtmäßige, verbesserte und vermehrte Auflage, Tübingen 1805, S. 76. 64 Vgl. Du Halde, Description, Bd. 3, S. 225. 65 Hingegen betont Tscharner, China in der deutschen Dichtung, S. 69, die rührenden Aspekte, die trotz aller parodistischen Elemente nicht völlig ausblieben.

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mögen und Eigenschaften voraus, die von kulturellen oder auch biologischen Faktoren unabhängig sind. So stehen die chinesischen Figuren in Pfeffels Gedichten für Tugenden, die denen einer empfindsam getönten europäischen Aufklärung entsprechen. Mithin kommt es ihrem Autor auch nicht auf eine Nachahmung chinesischer Formen an.66 Dennoch ist China für Pfeffel keine bloße Kulisse. Zwar wird in der Forschung betont, wie wenig Pfeffel tatsächlich von China weiß;67 dieser sicherlich zutreffende Befund geht aber am Kern der Sache vorbei: Indem Pfeffel mit Versatzstücken kulturellen Wissens über China hantiert und diese Elemente in produktiver Auseinandersetzung mit seinen Quellen jeweils neu zusammenfügt und wertet, partizipiert er an einem Diskurs über China, dessen Filiationen allesamt Spuren in seinem Werk hinterlassen haben. Wenn der Autor auf chinesische Anekdoten zurückgreift, dann verdeutlicht dies, dass China als besonders stark aufgeladener Bezugsraum dient. Pfeffels Verfahren setzt nicht zuletzt auch ein völkerkundliches Wissen über China voraus. Elemente dieses Wissens, besonders über die Elternliebe der Chinesen und den bei ihnen angeblich herrschenden Despotismus, verbindet Pfeffel mit einer Tugendlehre, die auf den ‚ganzen Menschen‘ abzielt. Denn indem er die Bekehrung in keinem seiner Gedichte rein rational, sondern vor allem emotional verlaufen lässt, wertet er die menschlichen Affekte moralphilosophisch auf. Das betrifft aufgrund der allgemeinen Natur des Menschen China ebenso wie den Westen: Pfeffels China ist überall.

66 Darin unterscheidet er sich von Ludwig August Unzer, der versucht, ‚chinesische‘ Klangwirkungen zu erzeugen. Vgl. dazu Arne Klawitter, „Poetische Kuriosität oder dichterisches Experiment? Ludwig August Unzer und seine Nänie im chinesischen Geschmack“, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 85/2011, S. 489–507. 67 Vgl. Lee, „Anti-Europa“, S. 171: „In seinen Erzählungen wird deutlich, wie wenig er eigentlich von der chinesischen Kultur und der konfuzianischen Lehre verstanden hat.“

Ralph Häfner, Freiburg

Thaumaturgie und Kinetik Anthropologische Aspekte der Diskussion über den orientalischen Despotismus im thematischen Umkreis von Friedrich Schillers Romanfragment Der Geisterseher

Folgt man dem Bibellexikon (1722/28) des Geistlichen des Benediktinerklosters von Senones (Lothringen), Augustin Calmet (1672–1757), so bewahrt Armenien die Erinnerung an das irdische Paradies: „A RMENIA , Asiae Provincia, Euphratis, Tigridis[,] Araxis, & Phasidis fontes continens, in qua credimus sitam fuisse Provinciam Eden, locum Paradisi terrestris.“1 Eden ist der Ort, in dem Gott nach Genesis 2,8 jenen ‚Lustgarten‘ gegründet hatte: „Plantaverat Deus Paradisum voluptatis.“ Calmet schließt: „Igitur regionem Eden in Armenia sitam, suoque ambitu Euphratis, Tigris, Phasis, & Araxis fontes continere censemus.“2 Armenien steht indes nicht nur für das Gedächtnis des Gartens Eden; das armenische Gebirge ist zugleich der Ort, an dem Noahs Arche strandete, nachdem sich die Wogen der Sintflut gelegt hatten: „quo loco legimus Arcam supra montes Armeniae consedisse“.3 Athanasius Kircher hatte diese Topographie, die bis weit ins 18. Jahrhundert hinein gültig bleiben sollte, in seinem Werk Arca Noë (1675) en détail rekonstruiert. Die Signatur der Landschaft birgt damit zugleich eine zeitliche Dimension, deren sittliche Ambiguität durch die Vorstellungen von Urzustand, Vernichtung und Restitution bezeichnet ist. Der Raum erzählt von einer Zeit, die einst gewesen und die einst wieder sein wird. Die Zukunft projiziert den Menschen nicht in die Ungewissheit kontingenter Ereignisketten, sie ist vielmehr ihrem Gehalt und ihrer Form nach durch den Ursprung bestimmt. Wenn sich der Ort des irdischen Paradieses4 und die Pflanzstätte der Nachkommen Noahs exakt lokalisieren ließen, so konnte die Geschichte der Menschheit in ihrer zeit-räumli-

1 Augustin Calmet, Art. „Armenia“, in: Ders., Dictionarium historicum, criticum, chronologicum, geographicum, et literale sacrae scripturae, übersetzt von Giovanni Domenico Mansi, Augsburg 1738, S. 155 (zweite Paginierung). 2 Augustin Calmet, Art. „Eden“, in: Ders., Dictionarium, S. 385. 3 Augustin Calmet, Art. „Armenia“, S. 155. 4 Zu Begriffsgeschichte und Allegorese des irdischen Paradieses vgl. Reinhold R. Grimm, Paradisus coelestis, paradisus terrestris. Zur Auslegungsgeschichte des Paradieses im Abendland bis um 1200, München 1977.

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chen Dimension mit geometrischer Gewissheit vermessen und alle Ambiguität textueller und monumentaler Überlieferung ausgeschlossen werden. Calmet ist auch der Autor einer 1746 erstmals erschienenen Schrift über Geistererscheinungen und Wiedergänger. Ein im Laufe des 18. Jahrhunderts rekurrentes Phänomen schien für Calmet umso unbestreitbarer, als es sich an einer ununterbrochenen Kette von Beispielen vom Zeitalter der Bibel bis in seine eigene Gegenwart aufweisen ließ. Hatte doch Plinius in seiner Naturgeschichte geschrieben, dass wir nicht urteilen dürfen, dass das, was vor langer Zeit geschehen ist, nicht habe sein können, nur weil wir es nicht mehr nachprüfen oder durch unsere Vernunft begreifen können.5 Das Problem einer aus ihrem geisthaften Ursprung deutbaren Kohärenz des Seins im Ganzen6 liegt auch Friedrich Schillers Prosafragment Der Geisterseher zugrunde. Das Werk erschien erstmals zwischen 1787 und 1789 in Schillers Zeitschrift Thalia. Im Verlauf einer verwickelten Handlung vollzieht es die Bewegung von Urzustand, Vernichtung und Restitution präzise nach. Der Armenier,7 der dem Helden in entscheidenden Situationen gegenübertritt, verkörpert „unter dem Namen des Unergründlichen“8 jenes intelligible Prinzip von allem, in dem die ausgedehnten zeit-räumlichen Dimensionen des Lebens zur ausdehnungslosen

5 Vgl. das – amplifizierende – Motto zu Augustin Calmet, Traité sur les apparitions des esprits, et sur les vampires, ou les revenans de Hongrie, de Moravie, &c., nouvelle édition revue, corrigée & augmentée, Bd. 1, Senones 1759, nach Plinius, nat. 7,1,6: „quam multa fieri non posse prius quam sunt facta iudicantur?“ Das vollständige Motto bei Calmet lautet: „Quemadmodum multa fieri non posse, priusquam facta sunt, judicantur; ita multa quoque, quae antiquitùs facta, quia nos ea non vidimus, neque ratione assequimur, es iis eße, quae fieri non potuerant, judicamus. Quae certè summa insipientia est“. Ursprünglich erschien die Abhandlung unter dem Titel Dissertations sur les apparitions des anges, des démons & des esprits. Et sur les revenans et vampires. De Hongrie, de Boheme, de Moravie & de Silesie, Paris 1746. 6 Vgl. zu den Begriffen Kontingenz, Kausalität und Providenz im Kontext konspirativer Praktiken im 18. Jahrhundert die ausgezeichnet informierte Untersuchung von Ralf Klausnitzer, Poesie und Konspiration. Beziehungssinn und Zeichenökonomie von Verschwörungsszenarien in Publizistik, Literatur und Wissenschaft 1750–1850, Berlin 2007, S. 66–75. Zu den chiliastischen Implikationen in der geschichtsphilosophischen Diskussion der Zeit im Ausgang von Kant vgl. Alice Kuzniar, „Philosophic Chiliasm: Generating the Future or Delaying the End?“, in: Eighteenth-Century Studies, 19/1985, S. 1–20. 7 Es greift zu kurz – wie in der Forschung oft geschehen –, den Armenier mit den Mitgliedern der armenischen Kirche in Venedig in Verbindung zu bringen (so etwa Mathias Mayer, „Anmerkungen“, in: Friedrich Schiller, Der Geisterseher, Mathias Mayer [Hrsg.], Stuttgart 1996, S. 209–214, hier S. 209) oder ihn kurzerhand mit Cagliostro zu identifizieren. Vgl. grundsätzlich den Kommentar von Klaus Deinet, Friedrich Schiller. Der Geisterseher, München 1991. 8 Friedrich Schiller, „Der Geisterseher. Aus den Memoires des Grafen von O**“, in: Sämtliche Werke, Bd. 5, Gerhard Fricke/Herbert G. Göpfert (Hrsg.), München 71984, S. 48–182, hier S. 76 f.

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Allgegenwart gerinnen: „Es gibt glaubwürdige Leute,“ so Lord Seymour im Gespräch mit dem Prinzen, „die sich erinnern, ihn in verschiedenen Weltgegenden zu gleicher Zeit gesehen zu haben.“9 Nach einem von Glaubensskepsis geprägten Intermezzo, während dessen der Prinz in der freidenkerischen Gesellschaft des Bucentauro mit der materialistischen ‚neuen Philosophie‘ in Berührung kommt, kehrt er am Ende zur tieferen Einsicht in das – unergründliche – intelligible Prinzip zurück. Die angedeutete Konversion zum Katholizismus kommt einer Restitution des paradiesischen Urzustandes gleich, wenn sich der Held von neuem und nun ganz bewusst der Leitung des Armeniers anvertraut: „Erinnern Sie sich des Armeniers, der uns voriges Jahr so zu verwirren wußte? In seinen Armen finden Sie den Prinzen, der seit fünf Tagen – die erste Messe hörte.“10 Die Frage nach dem Interesse an fremden Kulturen in den Jahrzehnten um 1800, um die das Thema des vorliegenden Bandes zentriert ist, besitzt im Falle Armeniens mit seinem biblischen Hintergrund eine eigene Dynamik. Gewiss, es gab Versuche, die auf dem amerikanischen Kontinent oder in den Steppen Nordostasiens lebenden ‚Wilden‘ in die biblische Erzählung von der Einheit des Menschengeschlechts einzubeziehen; auch die noch unentdeckten Völker ferner Kontinente mussten sich als Nachkommen Noahs aufweisen lassen, wenn die Geschichte von der Großen Flut in Geltung bleiben sollte. Aber man wusste von Weltgegenden, die dem Ursprung des Menschengeschlechts näher lagen und in denen dieser Ursprung gleichsam noch gegenwärtig war. In der Person des Armeniers – in Schillers Romanfragment – gewinnt die Geschichte von paradiesischem Urzustand, Vernichtung und Restitution eine Gegenwart, die zugleich die Spur der ältesten Weisheitstradition sichtbar werden lässt: „Daß er lang in Aegypten gewesen, wie viele behaupten,“ so Lord Seymour, „und dort aus einer Pyramide seine verborgene Weisheit geholt habe, will ich weder bejahen noch verneinen.“11 Lord Seymour ist in Schillers Geisterseher die Figur des Agnostikers. Er ist repräsentativ für eine Erzählstrategie, die die Enthaltung des Urteils über die Verlässlichkeit des Berichteten beständig mit ins Kalkül zieht. Sie prägt einen Handlungskomplex, innerhalb dessen auch das Urteil über des Prinzen „Lieblingsschwärmerei“, durch magische Praktiken „mit der Geisterwelt in Verbindung“12 zu treten, in der Schwebe gehalten wird.

9 Ebd., S. 77. 10 Ebd., S. 160. 11 Ebd., S. 76. 12 Ebd., S. 59. Zur Funktion der Laterna magica als Zaubermedium in Schillers Fragment vgl. Monika Schmitz-Emans, „Die Zauberlaterne als Darstellungsmedium. Über Bildgenese und Weltkonstruktion in Schillers ‚Geisterseher‘“, in: Walter Hinderer (Hrsg.), Friedrich Schiller und der

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Die Enthaltung des Urteils über die Möglichkeit, mit der Geisterwelt in Verbindung zu treten, so suggeriert die Erzählung zumindest beiläufig, kommt indes schon einem Zugeständnis an die Wirklichkeit des Geisterreichs gleich. Während die Mehrheit der Ausflugsgesellschaft nach den Villen der Brenta durch den wunderbaren Schlüsselfund zu der Auffassung gelangt, „daß alle diese geheimen Künste auf eine Taschenspielerei hinausliefen“, plädieren „wenige, worunter der Prinz war“, dafür, „daß man sein Urteil über diese Dinge zurückhalten müsse.“13 Chaldäische Magie, jüdische Kabbala, ägyptische Geheimlehren: Auf der Suche nach fremden Kulturen uralter Weisheit sind dem Zeitalter Schillers noch immer jene geisthaften Kontinente gegenwärtig, deren Zeugnisse das Wissen um die älteste Geschichte der Menschheit bereichern zu können schienen. Dementsprechend ist der Geisterseher immer wieder in den Kontext der Arcana coelestia Emanuel Swedenborgs und der Betrugsaffäre Cagliostros gestellt worden.14 Die im Umkreis der Kabbala verortete Elementargeisterlehre der Schrift Le Comte de Gabalis ou Entretiens sur les sciences secrètes – eine Folge fiktiver Gespräche im Stil des hermetischen Dialogs, die der Weltgeistliche und Freidenker NicolasPierre-Henri Montfaucon de Villars (1635–73) im Jahr 1670 publiziert hatte – gehört zu den wenigen Referenzen, die Schiller selbst dem Romanfragment eingeschrieben hat.15 Dieses steht dabei im gedanklichen und entstehungsgeschichtlichen Kontext des ‚republikanischen Trauerspiels‘ Die Verschwörung des Fiesco zu Genua (1783), des ‚dramatischen Gedichts‘ Don Karlos (1787),16 der Philosophischen Briefe (1786/89),17 des für Wielands Teutschen Merkur geschriebenen Auf-

Weg in die Moderne, Würzburg 2006, S. 375–399, bes. S. 386 f. Vgl. auch Klaus H. Kiefer, „Die famose Hexen-Epoche“. Sichtbares und Unsichtbares in der Aufklärung, München 2004, passim. 13 Schiller, „Der Geisterseher“, S. 57. 14 Vgl. Klausnitzer, Poesie und Konspiration, S. 364–373; Carlo Gentile, Il mistro di Cagliostro e il sistema egiziano, Foggia 1997, und Paolo Cortesi, Cagliostro. Maestro illuminato o volgare impostore, Rom 2004. Zum Hintergrund des Schauerromans vgl. neuerdings Jürgen Barkhoff, „‚The echo of the question, as if it had merely resounded in a tomb‘. The Dark Anthropology of the ‚Schauerroman‘ in Schiller’s ‚Der Geisterseher‘“, in: Andrew Cusack/Barry Murnane (Hrsg.), Popular Revenants. The German Gothic and Its International Reception 1800–2000, Rochester 2012, S. 44–59. 15 Die Reichweite dieses Werks für Schillers Fragment ist bis heute noch nicht eigentlich erkannt worden. Der Kommentar der revidierten Hanser-Ausgabe der Werke Schillers (2002) ist darin ein Rückschritt gegenüber der alten Hanser-Ausgabe; er schreibt nicht nur den Fehler („Sabalis“) dieser Ausgabe fort, so dass der Bezug zur Kabbala unkenntlich bleibt, sondern tilgt auch den wichtigen Hinweis auf die Elementargeisterlehre. 16 Vgl. Hans-Jürgen Schings, Die Brüder des Marquis Posa. Schiller und der Geheimbund der Illuminaten, Tübingen 1996. 17 Vgl. Wolfgang Riedel, Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der „Philosophischen Briefe“, Würzburg 1985.

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satzes Jesuitenregierung in Paraguay (1788),18 der Jenaer Vorlesung Die Sendung Moses (1790) und des Ägyptengedichts Das verschleierte Bild zu Sais (1795).19 Dabei sollte nicht vergessen werden, dass Erzählungen wie Le Diable amoureux (1772) von Jacques Cazotte, die Geisterparodien des Grafen Anthony Hamilton oder Jean Terrassons Ägyptenroman Sethos, histoire ou Vie tirée des monumens anecdotes de l’ancienne Egypte (1731) in Schillers Zeit eine erhebliche Resonanz gefunden hatten. Terrassons Fiktion einer aus einem griechischen Manuskript übersetzten Geschichte nimmt dabei das narrative, zwischen Authentizität und Erfindung oszillierende Modell von Cervantes’ Don Quijote unmittelbar auf. Mehr noch: Der Zusammenhang zwischen Magie und Politik, zwischen den geisthaften Gründen der ratio status und der Rechtfertigung des Absolutismus, der in Schillers Geisterseher thematisiert wird, beschreibt ebenso einen Grundzug des französischen Ägyptenromans. Terrassons Roman war dem deutschen Publikum durch die Übersetzung von Matthias Claudius (1740–1815) präsent.20 Claudius ist auch der Übersetzer eines Werks, in dem der Konnex von Magie und Politik auf exemplarische Weise problematisiert wird: Es handelt sich um Louis Claude de SaintMartins Abhandlung Des erreurs et de la vérité (1774), die 1782 in einer deutschsprachigen Ausgabe erschien. Wie ich an anderem Ort zu zeigen versucht habe, spielte Saint-Martins Abhandlung eine wichtige Rolle in der politischen Diskussion der Zeit.21 Schiller persiflierte 1796 Claudius’ Übersetzung in einem Epigramm folgendermaßen: „Irrthum wolltest du bringen und Wahrheit, o Bote von Wandsbeck; / Wahrheit, sie war dir zu schwer; Irrthum, den brachtest du fort.“22 Werfen wir also zunächst einen Blick auf Terrassons Ägyptenroman, bevor wir uns dem politischen Denken Saint-Martins im Kontext von Schillers Geisterseher zuwenden. Abschließend werden wir dann unsere Ergebnisse in den Horizont des ‚orientalischen Despotismus‘ stellen, der mit Nicolas Antoine Boulangers Recherches sur l’origine du despotisme oriental (1761) zu einem Leitthema der Jahrzehnte vor dem Ende des Ancien Régime geworden war.

18 Vgl. Thomas C. Starnes, Der Teutsche Merkur. Ein Repertorium, Sigmaringen 1994, S. 191. 19 Vgl. Jörg Robert, Vor der Klassik. Die Ästhetik Schillers zwischen Karlsschule und Kant-Rezeption, Berlin 2011, S. 161–222. 20 Vgl. Herbert Rowland, Matthias Claudius. Language as „Infamous Funnel“ and Its Imperatives, Cranbury 1997. 21 Vgl. Ralph Häfner, „Macht der Willkür und Poesie des Lebens. Herders Swedenborg-Lektüre zwischen Saint-Martin und Friedrich Schiller“, in: Sabine Groß/Gerhard Sauder (Hrsg.), Der frühe und der späte Herder: Kontinuität und/oder Korrektur. Beiträge zur Konferenz der Internationalen Herder-Gesellschaft, Saarbrücken 2004, Heidelberg 2007, S. 399–413. 22 Friedrich Schiller, Nachlese zu Schillers Werken nebst Variantensammlung, Bd. 1, Karl Hoffmeister (Hrsg.), Stuttgart/Tübingen 1840, S. 111, Nr. 18. Das Epigramm wurde zuerst im Musenalmanach für das Jahr 1797 gedruckt.

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Die scheinbar magische Beschwörung im Geisterseher findet zunächst eine rationale Auflösung, nachdem man „die Dielen des Saals aufgebrochen“ und „ein geräumiges Gewölbe“ entdeckt hatte, „worin ein Mensch gemächlich aufrecht sitzen konnte“.23 „In diesem Gewölbe fand man eine Elektrisiermaschine“24 und weitere Utensilien, die für die Inszenierung eines vorgeblich übernatürlichen Ereignisses benötigt wurden. Die Gegenwart und das an ein Wunder grenzende Verschwinden des Armeniers, den der Erzähler gelegentlich mit dem heidnischen Wundertäter Apollonios von Tyana verglichen hatte – „Jetzt sahe sich der Prinz nach dem Armenier um – aber er war nicht mehr vorhanden“25 –, lassen aus der Perspektive des Prinzen allerdings keine rationale Erklärung zu; er ist überzeugt: „Dahinter ist mehr.“26 Erst im Kontakt mit der Gesellschaft des Bucentauro, die das Übernatürliche als eine Scheinwelt entlarvt, der keine Wirklichkeit korrespondiert, kommt er zur Einsicht, dass „nichts dahinter sei“.27 Vielmehr setzt man ihn von dem innigen Zusammenhang von Magie und Politik, von religiöser Offenbarung und politischem Herrschaftswissen, von liturgischer Praxis und absoluter Machtausübung in Kenntnis. Das Modell für diese Art der Aberglaubenskritik stand dem Zeitalter Schillers seit längerem zur Verfügung. Ziemlich genau einhundert Jahre zuvor hatte Antonius van Dale (1638–1708) die Figur des politischen Betrugs durch inszenierte Beschwörungsriten in seiner Abhandlung De oraculis veterum ethnicorum (1683) zur Darstellung gebracht,28 indem er dem Leser derartige betrügerische Zurichtungen an den heidnischen Orakelstätten auch im Medium des Kupferstichs vor Augen führte. Wie man weiß, hatte Bernard de Fontenelle (1657–1757) van Dales Orakelschrift adaptiert und durch seine oft wiederaufgelegte Histoire des oracles (1687) popularisiert.29 Mit einer sarkastischen Pointe hatte van Dale dargelegt, dass die Wirkung der Orakel in dem Maße abgenommen habe, in dem die Menschen klüger geworden seien: Dass nun auch die Glaubwürdigkeit der Bibel davon unmittelbar betroffen war, verdeutlicht das Frontispiz zur ersten Buchausgabe von Schillers Geisterseher.

23 Schiller, „Der Geisterseher“, S. 66. 24 Ebd. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 69. 27 Ebd. 28 Vgl. Antonius van Dale, De oraculis veterum ethnicorum dissertationes duae: quarum prior de ipsorum duratione ac deflectu, posterior de eorundem auctoribus. Accedit et schediasma de consecrationibus ethnicis, Amsterdam 1683. 29 Vgl. Bernard de Fontenelle, Histoire des oracles, Paris 1687.

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Abb. 1: Die Hexe von Endor. Frontispiz zur ersten Buchausgabe von Schillers Geisterseher

Die Abbildung zeigt „Die Hexe von Endor“, um die sich, nach dem ersten Buch Samuel, Kapitel 28, folgendes Ereignis rankt: Wegen seiner Verfehlungen hat sich Gott von Saul abgewendet. Auch durch Träume, Losorakel und die Propheten bekommt Saul keinen Einblick in die Zukunft mehr. Man sucht die Wahrsagerin von En-Dor auf, die auf Sauls Wunsch den toten Samuel erscheinen lässt. Samuel

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Abb. 2: Die Hexe von Endor. Frontispiz zu Joseph Glanvills Sadducismus Triumphatus

weissagt eine Zukunft mit ausgesprochen apokalyptischen Zügen. Joseph Glanvill (1636–80) hatte im Frontispiz zu seiner Abhandlung Sadducismus Triumphatus: Or, full and plain Evidence Concerning Witches and Apparitions (zuerst 1681, 3. Aufl. 1700) von Erscheinungen dieser Art Rechenschaft gegeben.

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Für Terrasson war van Dales Erklärungsmuster betrügerischer Weissagungen 1731 bereits zum Gemeinplatz geworden. Der Autor des von Voltaire geschätzten Ägyptenromans Sethos schildert die Lebensgeschichte eines jungen aristokratischen Helden, der in die ägyptischen Mysterien eingeweiht wird.30 Terrasson selbst stellte das Werk in eine Reihe mit Fénelons erfolgreichem Roman Les Aventures de Télémaque (1694–96) und dem ebenfalls vielgelesenen Werk Les Voyages de Cyrus (1727) von Andrew Michael Ramsay, der von 1725 bis 1728 den freidenkerischen Zirkel des Club de l’Entresol in Paris frequentiert hatte. Dieser Typ des völkerkundlichen Romans präsentierte reiches Material aus historisch und geographisch weit entfernten Lebenshorizonten und förderte in der Auseinandersetzung mit fremden Kulturen die Wahrnehmung von Defiziten der eigenen – europäischen – Gesellschafts- und Regierungsformen. Terrasson nimmt beiläufig auf die Urgestalt dieses Romantyps, Apuleius’ Metamorphosen, Bezug,31 und gibt damit einen wichtigen Hinweis auf die Frage nach der Gattung derartiger Werke. Im Falle von Apuleius’ Fiktion handelt es sich um eine Folge von Episoden (‚varias fabulas conseram‘) im humoristischen und absichtlich mystifizierenden Stil der ‚milesischen Märchen‘ (Milesiaka) des Aristeides (‚sermone isto Milesio‘).32 Wenn wiederum Schiller den Geisterseher als „Farce“33 charakterisiert, stellt er sein Romanfragment sehr bewusst in diese Tradition eines quasi-dramatischen Handlungsbogens: Es überrascht daher nicht, dass das Werk noch zu Schillers Zeit wiederholt auf die Bühne gebracht worden ist. Wie eine präzise Gattungsbeschreibung des spätantiken Episodenromans mutet es überdies an, wenn Schiller an Charlotte von Lengefeld und Caroline von Beulwitz schreibt: „Der Leser des Geistersehers muß gleichsam einen stillschweigenden

30 Vgl. Jan Assmann/Florian Ebeling, Ägyptische Mysterien. Reisen in die Unterwelt in Aufklärung und Romantik, München 2011, S. 48–58; Linda Simonis, Die Kunst des Geheimen. Esoterische Kommunikation und ästhetische Darstellung im 18. Jahrhundert, Heidelberg 2000, und Klausnitzer, Poesie und Konspiration, S. 11. 31 Vgl. Jean Terrasson, Geschichte des egyptischen Königs Sethos, aus dem Französischen übersetzt von Matthias Claudius, Bd. 1, Breslau 1777, S. 277. 32 Vgl. die Edition des Prologs in: Ahuvia Kahane/Andrew Laird (Hrsg.), A Companion to the Prologue of Apuleius’ Metamorphoses, Oxford 2001, S. 9 (mit Kommentar S. 11). Vgl. außerdem Ralph Häfner, „Intensité et Finesse. Le Prologue de ‚L’âne d’or‘ d’Apulée dans les traductions vernaculaires (allemandes, italiennes, espagnoles, anglaises et françaises) de la fin du XVe siècle à la première moitié du XVIIe siècle“, in: Laurence Bernard-Pradelle/Claire Lechevalier (Hrsg.), Traduire les Anciens en Europe du Quattrocento à la fin du XVIIIe siècle: d’une renaissance à une révolution?, Paris 2012, S. 171–190. 33 Friedrich Schiller, Brief an Charlotte von Lengefeld und Caroline von Beulwitz vom 12.02.1789, in: Schillers Briefe. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 2, Fritz Jonas (Hrsg.), Stuttgart u.a. 1893, S. 228–230, hier S. 228.

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Vertrag mit dem Verfasser machen, wodurch der letztere sich anheischig macht, seine Imagination wunderbar in Bewegung zu setzen, der Leser aber wechselseitig verspricht, es in der Delicatesse und Wahrheit nicht so genau zu nehmen.“34 Als Terrassons Geschichte des egyptischen Königs Sethos 1777 in Claudius’ Übersetzung erschien, brauchte das Interesse an der Geschichte einer Einweihung in die ägyptischen Mysterien, wie sie Apuleius am Ende der Metamorphosen mit der Isis-Weihe seines Helden Lucius präsentiert hatte, nicht erst geweckt zu werden. Die Parallelen zu den zeitgenössischen Freimaurerbünden sind evident. Der Übersetzer Claudius hatte erst 1774 die Weihen des Hamburger Freimaurerordens Zu den drei Rosen durchlaufen; der Ägyptenroman erhielt in seinem Falle gewissermaßen eine autobiographische Dimension. Über den Verfall des antiken Weissagungswesens konnte man in Terrassons Roman lesen: Es ist wahr, daß, da in den folgenden Zeiten der Gebrauch des Weissagens nach Griechenland übergieng, oder auch selbst noch in Egypten, die Absichten der Weissager äußerst verderbt worden sind. Denn ohne von den groben Spitzbübereyen zu reden, welche die würklichen Betrüger anwendeten, bloß um die Leute ums Geld, oder die Weibsleute um ihre Tugend zu bringen, so haben die Priester von einigen Tempeln zu magischen Operationen und schrecklichen Beschwörungen ihre Zuflucht genommen, weil sie geglaubt haben, man könne dadurch sicherer, als durch Anrufungen der Götter, oder als durch menschliche und natürliche Nachforschungen verborgene Dinge entdecken. Uebrigens erhellet aus diesen Betrachtungen zusammengenommen so viel, daß unsre Griechen, die alle Art von Weissagung für Betrügerey gehalten, die Menschen in diesem Stück nur halb gekannt haben: und daß das Vorurtheil und der Fanatismus derjenigen selbst, welche die Antworten gaben, mehr Antheil an dem Irrthum der Weissagung gehabt, und sie länger unterhalten haben, als der bloße Betrug hätte thun können. Da indessen so wohl die eine als die andre Ursache der Wahrheit weicht, die sich mehr und mehr offenbart, so verfällt das Weissagen von Tage zu Tage, und man kann, ohne ein Weissager zu seyn, ihren nahen und gänzlichen Untergang vorhersagen.35

Die Schlusswendung entspricht mit ihrem ironischen Duktus der Einschätzung van Dales und Fontenelles über das Verschwinden der heidnischen Weissagungen: Magische Praktiken konnten sich nur so lange halten, wie die politischen und sozialen Ordnungen von „Vorurtheil“ und „Fanatismus“ geprägt waren. Terrasson, der sich übrigens immer wieder auf die – längst ridikülisierten – ägyptologischen Forschungen Athanasius Kirchers und auf das völkerkundliche Werk des Jesuiten Joseph-François Lafitau beruft, stellt sich damit mehr oder weniger offen in die Tradition der intellektuellen Libertinage, die insbesondere seit dem

34 Ebd. 35 Terrasson, Geschichte des egyptischen Königs Sethos, Bd. 1, S. 275.

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17. Jahrhundert36 maßgeblich die – von Voltaire in der Tragödie Le Fanatisme ou Mahomet le prophète (1741) so genannte – Allianz von Thron und Altar demolierte. Die Annahme von geisthaften Prinzipien, die die Wirklichkeit im Ganzen gestalten, und die Voraussetzung von spirituellen Agentien, die die menschlichen Handlungen ursächlich leiten, waren Teil einer politischen Theologie, die auch Montfaucon de Villars im Kontext der von Schiller angedachten Elementargeisterlehre des Comte de Gabalis in den Zusammenhang der Diskussion über die beste Regierungsform gerückt und parodiert hatte. Cazotte, der sich in Le Diable amoureux beiläufig auf Balthasar Bekkers (d.Ä.) Gespensterbuch37 und Jean Bodins Démonomanie38 bezieht, hat die politische Elementargeisterlehre des Comte de Gabalis zu einem wesentlichen Element der Handlungsführung gemacht. Sobald man die Wirksamkeit von geisthaften Prinzipien anerkennt, verschwimmt die Grenze des Möglichen und des Unmöglichen: „Où est le possible? … Où est l’impossible?“39 Aber impliziert der Begriff des ‚Geistes‘ auch schon dessen Wirklichkeit? Immanuel Kant hatte diese Frage in dem Swedenborg-Pamphlet Träume eines Geistersehers (1766) mit Nachdruck verneint: Wir können begreifen, was ein Geist ist, ohne doch zugleich zu behaupten, dass er ist.40 Für den Protagonisten von Schillers Geisterseher indes fallen Möglichkeit und Dasein zusammen: „Eine höhere Gewalt verfolgt mich. Allwissenheit schwebt um mich. Ein unsichtbares Wesen, dem ich nicht entfliehen kann, bewacht alle meine Schritte. Ich muss den Armenier aufsuchen und muß Licht von ihm haben.“41 Die vielfältigen Schwierigkeiten, die das sogenannte ‚philosophische Gespräch‘ aus dem Geisterseher aufwirft, sind auch dadurch bedingt, dass die in utramque partem geführte Argumentation keiner letztgültigen Auflösung zugeführt wird. Wie kann die Annahme einer „ewigen Fortdauer“42 des Menschen begründet werden, wenn man die Existenz eines die körperlichen Prozesse zugleich steuernden und übersteigenden geisthaften Prinzips leugnet? Wenn sich der Mensch im irdischen Dasein erschöpft, wenn er für seine Handlungen keine Belohnung oder Strafe in einer anderen Welt als der irdischen zu gewärtigen hat,

36 Vgl. René Pintard, Le Libertinage érudit dans la première moitié du XVIIe siècle, Paris 1943. 37 Vgl. Balthasar Bekker, De Betoverde Wereld, Leeuwarden 1691 (deutsche Ausgabe: Die Bezauberte Welt, Amsterdam 1693). Das Werk erschien außerdem in einer von Johann Salomo Semler vermehrten Ausgabe in drei Bänden, Leipzig 1781–82. 38 Vgl. Jean Bodin, De la Démonomanie des sorciers, Paris 1580. 39 Jacques Cazotte, Le Diable amoureux, Georges Décote (Hrsg.), Paris 1981, S. 81. 40 Vgl. Immanuel Kant, Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, Königsberg 1766. 41 Schiller, „Der Geisterseher“, S. 57. 42 Ebd., S. 161.

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so wird auch alle Moral hinfällig. An die Stelle der Tugend, deren Ausübung eine „hohe[ ], ewige[ ] Ordnung“43 voraussetzt, in der der Mensch fortdauert und in die er nach dem Tode des Leibes eingehen wird, rückt das Verlangen nach Genuss, der in jedem Augenblick erfüllt sein soll. Herder hatte in seiner Polemik gegen Moses Mendelssohns Unsterblichkeitsspekulation – und wenige Monate vor der Publikation des ersten Bandes von Lavaters Aussichten in die Ewigkeit (1770–73) – von einem „Kreislauf des Genußes“44 gesprochen, ohne eine Verlängerung des Daseins im Jenseits gänzlich auszuschließen. Nur sei die Annahme des letzteren nicht Bedingung des irdischen Lebens, wie Mendelssohn in dem schon im Titel auf Platon Bezug nehmenden Dialog Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele (1767) angenommen hatte. „In unserer Natur“, so Herder damals, ist gleichsam mehr specifische Masse von einer Thiernatur als von einem reinen Geist, und solchergestalt also zu einem vermischten Wesen geschaffen (nicht bloß durch eine willkürliche Association ein solches, wie wir immer annehmen) muß ich mich auch als eine vermischte Natur denken, oder ich gerate von beiden Seiten auf ein äußerstes.45

Dieses ‚Äußerste‘ – Herder wird später von den „zwei Extreme[n], Unglaube u[nd] Mysticismus“,46 sprechen – hatte der Prinz in Schillers Geisterseher aus der Perspektive des Materialismus präzis umschrieben. Wenn die menschlichen Handlungen den Druck- und Stoßgesetzen unterliegen, die man in der unbelebten Natur beobachtet hat, so gibt es physikalische Folgen von Handlungen, aber keine moralischen Zwecke, die auf ein gutes oder böses Ziel gerichtet wären. Über den illusorischen Zusammenhang von Tugend und Dasein äußert sich der Prinz wie folgt: Ist nicht alles Flucht um mich herum? Alles stößt sich und drängt seinen Nachbar weg, aus dem Quell des Daseins einen Tropfen eilends zu trinken und lechzend davonzugehn. Jetzt in dem Augenblick, wo ich meiner Kraft mich freue, ist schon ein werdendes Wesen an meine Verwesung angewiesen. Zeigen Sie mir ein Wesen, das dauert, so will ich tugendhaft sein.47

Schiller greift im Geisterseher auf Problemlagen zurück, die die anthropologischen Diskussionszusammenhänge seit etwa der Mitte des 18. Jahrhunderts be-

43 Ebd. 44 Johann Gottfried Herder, Brief an Moses Mendelssohn von Anfang April 1769, in: Briefe, Bd. 1, Wilhelm Dobbek/Günter Arnold (Hrsg.), Weimar 21984, S. 137–143, hier S. 140. Vgl. den Kommentar von Günter Arnold in: Johann Gottfried Herder, Briefe, Bd. 11, Günter Arnold (Hrsg.), Weimar 2001, S. 93–102. 45 Herder, Brief an Mendelssohn von Anfang April 1769, S. 138 f. 46 Johann Gottfried Herder, Brief an Herzog Ernst II. Ludwig von Sachsen-Gotha vom 08.06.1796, in: Briefe, Bd. 9, Günter Arnold (Hrsg.), Weimar 1988, S. 593 f., hier S. 593. 47 Schiller, „Der Geisterseher“, S. 160.

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stimmt hatten. Seit Beginn der 1780er Jahre ist eine intensive Beschäftigung Schillers mit dem Werk Denis Diderots, der am 31. Juli 1784 verstorben war, belegt. 1785 übersetzt er die Episode der Mme de la Pommeraye aus Jacques le Fataliste et son maître.48 Zufall und Freiheit, Vorsehung und Notwendigkeit sind einige der Stichwörter, die wie Leitmotive das ‚philosophische Gespräch‘ im Geisterseher bewegen. Diderot selbst nimmt damit auf eine Diskussionslage Bezug, die ziemlich genau in der Jahrhundertmitte zum Austrag gebracht worden ist: Die Frage, ob die Natur oder das Universum im Ganzen überhaupt als ein Kontinuum aufgefasst werden müsse, um das komplexe Phänomen der Bewegung zu erklären, war von Pierre-Louis Moreau de Maupertuis,49 dem zeitweiligen Präsidenten der Preußischen Akademie der Wissenschaften, im Essai de cosmologie (1750) grundsätzlich verneint worden. Für Maupertuis lassen sich alle ‚Bewegungen‘ im Universum durch das „principe de la moindre quantité d’action“50 bestimmen, ohne dass man ein stoffliches Kontinuum voraussetzen müsste. Maupertuis hatte die Gültigkeit dieses Prinzips auch für die Entstehung und die vererbbare ethnische Differenzierung des Lebens aufweisen wollen. Wenn die Naturgesetze auch unter der Annahme Gültigkeit besitzen, dass das Universum kein Kontinuum bildet, sondern sich vielmehr aus diskreten Partikeln zusammensetzt, dann konnte die physische Natur bestehen, auch wenn ihre Bewegungsabläufe den Charakter zufälliger oder chaotischer Prozesse trugen. Der Prinz in Schillers Geisterseher legt eine ausgezeichnete Kenntnis dieses Problemzusammenhangs an den Tag, wenn er die Wirkungsweise der „physischen Natur“ wie folgt schildert: „Wie viele Keime und Embryonen, die sie [die Natur] mit so viel Kunst und Sorgfalt zum künftigen Leben zusammensetzte, werden wieder in das Elementenreich aufgelöst, ohne je zur Entwicklung zu gedeihen. – Warum setzte sie sie zusammen?“51 Und über die kulturelle Entwicklung der Menschheit seit Adam und Eva – letzter Reflex des irdischen Paradieses im Geisterseher – legt er dar: In jedem Menschenpaare schläft, wie in dem ersten, ein ganzes Menschengeschlecht, warum ließ sie aus soviel Millionen nur einen einzigen werden? So gewiß sie auch diese verderbenden Keime verarbeitet, so gewiß werden auch moralische Wesen, bei denen sie einen höhern Zweck zu verlassen schien, früher oder später in denselbigen eintreten. Ergründen zu wollen, wie sie eine einzelne Wirkung durch die ganze Kette fortpflanzt, würde eine kindische Anmaßung verraten. Oft, sehen wir, läßt sie den Faden einer Begebenheit plötzlich fallen, den

48 Vgl. Roland Mortier, Diderot en Allemagne (1750–1850), Paris 1954, S. 220–238. 49 Vgl. Mary Terrall, The Man Who Flattened the Earth. Maupertuis and the Sciences in the Enlightenment, Chicago 2002. 50 Pierre-Louis Moreau de Maupertuis, Essai de cosmologie, François Azouvi (Hrsg.), Paris 1984, S. 42. 51 Schiller, „Der Geisterseher“, S. 180.

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sie drei Jahrtausende nachher ebenso plötzlich wieder aufnimmt, versenkt in Kalabrien die Künste und Sitten des achtzehnten Jahrhunderts, um sie vielleicht im dreißigsten dem verwandelten Europa wieder zu zeigen, ernährt viele Menschenalter lang gesunde Nomadenhorden auf den tartarischen Steppen, um sie einst dem ermattenden Süden als frisches Blut zuzusenden, wie sie auf ihrem physischen Gange das Meer über Hollands und Seelands Küsten würft, um vielleicht eine Insel im fernen Amerika zu entblößen!52

Die „physische[ ] Natur“ ist offenbar durch Wirkgesetze bestimmt, die durch eine Mittel-Zweck-Relation nicht zu beschreiben sind. Erscheinungen, die man gewöhnlich dem durch Endzwecke bestimmten Sittengesetz zuordnen würde, beruhen auf zufälligen Folgen unerkennbarer, weil prinzipiell unerklärlicher Ereignisketten – wenn man in einem Universum diskreter Materieteilchen überhaupt noch von Ereignisketten sprechen kann. Der Grund für die Aporien des Unsterblichkeitsproblems im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts (und darüber hinaus)53 liegt in einer Äquivokation des Begriffs vom ‚ganzen Menschen‘, die in der Forschung – soweit ich sehe – bisher nicht thematisiert worden ist. Gegenüber der aus sokratischer Perspektive trivialen Auffassung einer leibseelischen Einheit – sei es im Sinne des commercium mentis et corporis, sei es im Sinne der zeitgenössischen Psychophysiologie – beharrt die platonische Anthropologie des ersten Alkibiades explizit darauf, dass ‚der Mensch etwas anderes als sein Leib‘ sei: ‚Was ist nun also der Mensch?‘, fragt Sokrates seinen jungen Gesprächspartner und kommt im Für und Wider der Argumente zu dem Ergebnis: ‚dass die Seele Mensch ist‘ (ὅτι ἣ ψυχή ἐστιν ἄνθρωπος).54 Im Ausgang des Neuplatonismus55 hat diese ‚animus-homo-totus‘-Lehre – ‚der Geist ist der ganze Mensch‘ – über die Vermittlung des rinascimentalen Platonismus eines Girolamo Cardano56 noch das 18. Jahrhundert erreicht. Der anonyme Autor der im Jahr 1700 erschienenen Abhandlung Le Platonisme dévoilé, Matthieu (Jacques) Souverain,57 versuchte zu zeigen, dass die christliche Lehre von der

52 Ebd., S. 180 f. 53 Vgl. Ralph Häfner, Die Weisheit des Silen. Heinrich Heine und die Kritik des Lebens, Berlin/New York 2006, bes. S. 200–207. 54 Vgl. Platon, Alc. prim., bes. 129e7–130c7. 55 Vgl. ausführlich Jean Pepin, Idées grecques sur l’homme et sur dieu, Paris 1971. 56 Vgl. Girolamo Cardano, „De consolatione“, in: Ders., De sapientia libri quinque. Eiusdem de consolazione libri tres, aliàs aediti, sed nunc ab eodem authore recogniti […], Nürnberg 1544, S. 303: „Sic è diverso cum intellectus homo sit totus, atque hoc ipsimet cognoscat, intellectu superstite, homo etiam totus, quanquam corpus euanescat, incorruptibilis est.“ 57 Vgl. [Matthieu Souverain,] Le Platonisme dévoilé ou Essai touchant le Verbe Platonicien, [fingierter Druckort:] Köln 1700. Es liegt auch eine Neuausgabe vor: Jacques Souverain, Le Platonisme dévoilé, Sylvain Matton (Hrsg.), Paris 2000.

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Inkarnation des Wortes im Wesentlichen eine Überformung dieses Platonismus darstellte. Das Werk, das 1782 in erster und 1792 in zweiter Auflage in deutscher Übersetzung publiziert wurde,58 hat in frühidealistischen Zusammenhängen mächtig nachgewirkt.59 Eine anonyme zeitgenössische Karikatur (vor 1788) entlarvt mit der offensichtlichen Parodie von Souverains Buchtitel – „Le Magnétisme dévoilé“ – die modernen Thaumaturgen der Wissenschaft, Benjamin Franklin und Franz Anton Mesmer, als betrügerische Scharlatane.

Abb. 3: Anonyme Karikatur (Quelle: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b84 104296)

58 Vgl. Matthieu Souverain, Versuch über den Platonismus der Kirchenväter oder die Untersuchung über den Einfluß der platonischen Philosophie auf die Dreyeinigkeitslehre in den ersten Jahrhunderten, übersetzt von Josias Friedrich Christian Löffler, Züllichau 1782. Löffler war später Oberkonsistorialrat und Generalsuperintendent des Herzogtums Gotha. 59 Vgl. Michael Franz, Schellings Tübinger Platon-Studien, Göttingen 1996, S. 28–43.

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Noch für Kant ist die platonische Anthropologie Ausgangspunkt seiner Widerlegung Swedenborgs. In den Träumen eines Geistersehers führte er aus: „Ein Geist, heißt es, ist ein Wesen, welches Vernunft hat. So ist es denn also keine Wundergabe, Geister zu sehen; denn wer Menschen sieht, der sieht Wesen, die Vernunft haben.“60 Ein scheinbar doppeltes Paradox: Sind die Träume eines Geistersehers also nur die Träume der – platonischen – Metaphysik, von der Kant im Titel seines Pamphlets gesprochen hatte? Und ein weiterer gedanklicher Hintergrund ist im Zusammenhang mit dem eschatologischen Modell von Urzustand, Vernichtung und Restitution zu bedenken, das Schiller mit der ‚esoterischen‘ Welt des Armeniers im Geisterseher thematisiert hat. Wie erwähnt, hatte Claudius 1782 eine deutsche Übersetzung der ursprünglich 1774 erschienenen Abhandlung Des erreurs et de la vérité des Freimaurers und politischen Theologen Louis Claude de Saint-Martin vorgelegt. Saint-Martin vertritt darin die Auffassung, dass der Körper mit seinen sinnlichen Vermögen Ausdruck eines Leidens ist; dieses Leiden erinnert den Menschen an den schuldhaften Verlust des früheren Zustands einer geisthaften Erfüllung. Die Dauer des körperlichen Lebens gleicht einer Zeit der Strafe und Sühne: „Chacune de ses souffrances est un indice du bonheur qui lui manque ; chacune de ses privations prouve qu’il étoit fait pour la jouissance, chacun de ses assujettissements lui annonce une ancienne autorité ; en un mot, sentir aujourd’hui qu’il n’a rien, c’est une preuve secrète qu’autrefois il avoit tout.“61 Das Leiden ist dabei nichts eigentlich Wirkliches; es ist vielmehr die Abwesenheit oder Privation der Tätigkeit. Jede Tätigkeit ist im Grunde etwas Gutes; das Leiden ist böse, weil ihm die Tätigkeit mangelt: [L]e bien tient de lui-même toute sa puissance & toute sa valeur ; le mal n’est rien, quand le bien règne. Le bien fait disparoître, par sa présence, jusqu’à l’idée & aux moindres traces du mal ; le mal, dans ses plus grands succès, est toujours combattu & importuné par la présence du bien. Le mal n’a par lui-même aucune force, ni aucuns pouvoirs ; le bien en a d’universels qui sont indépendants ; & qui s’étendent jusques sur le mal même.62

Die wahre Freiheit des Menschen besteht deshalb darin, sich innerhalb des ihm vorgeschriebenen Gesetzes zu erhalten, seine Kraft und Unabhängigkeit zu bewahren und sich den Hindernissen, die sich ihm in den Weg stellen, gemäß diesem Gesetz zu handeln, zu widersetzen.63

60 Kant, Träume eines Geistersehers, A 8. 61 Louis Claude de Saint-Martin, Des erreurs et de la vérité, ou les hommes rappelés au principe universel […], „Edimbourg“ [i.e. Paris] 1775, S. 31 f. 62 Ebd., S. 11 f. 63 Vgl. ebd., S. 21.

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Der ‚philosophe inconnu‘, als den Saint-Martin sich selbst mystifizierend bezeichnete, hatte im Vorwort seiner Abhandlung eine präzise Leseanweisung gegeben. Er werde, so führte er dort aus, sich oft in einen Schleier hüllen, den selbst geübte Augen nicht immer werden durchdringen können, umso mehr, als er mitunter von etwas ganz anderem sprechen werde, als wovon er zu handeln scheine.64 Nimmt man Saint-Martins Schrift als vielleicht radikalstes Zeugnis der politischen Theologie im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, so konnte seine Lehre auch als Rechtfertigung des Absolutismus verstanden werden. Herder und Schiller haben sie in diesem Sinne aufgefasst und Claudius’ Übersetzung entsprechend kritisch gewürdigt.65 Allerdings hatte Saint-Martin selbst genügend Fingerzeige gegeben. Aus der natürlichen Ungleichheit unter den Menschen leitet er das Prinzip der ‚politischen Souveränität‘ des Herrschers gegenüber den Untertanen ab.66 Im Herrscher fallen weltliche und geistliche Macht zusammen, denn er ist die ‚tätige und geisthafte Ursache‘ von allem.67 Das wahre Modell der politischen Gesellschaft ruhe deshalb auf den Prinzipien der Überlegenheit (superiorité) der einen und der Abhängigkeit (dépendance) der anderen.68 Eine Gesellschaft, die sich aus dem freien Entschluss aller Individuen zusammensetzen würde, sei nicht nur unwahrscheinlich, sondern unmöglich. Ein derartiger Zusammenschluss sei daher tatsächlich weder gerechter noch vernünftiger als die absolute Herrschaft; er sei vielmehr ganz undurchführbar.69 Der Prinz in Schillers Geisterseher hat Saint-Martins Souveränitätsgebot inzwischen offenbar verinnerlicht, wenn er ausruft: „Der Elendeste unter dem Volk […] oder der nächste Prinz am Throne! Das ist ganz dasselbe. Es gibt nur einen Unterschied unter den Menschen – Gehorchen oder Herrschen! […] Bei Gott! Es ist etwas Großes um eine Krone!“70 Wie eine Parodie auf die Heilslehre Saint-Martins mutet es endlich an, wenn Schillers Fiesco – auf der Peripetie des dritten Aktes – den Willen zur Macht mit der „wachsenden Sünde“ begründet: „Gewiß! Wenn auch des Betrügers Witz den Betrug nicht adelt, so adelt doch der Preis den Betrüger. […] Die Schande nimmt ab mit der wachsenden Sünde. (Pause. Dann mit

64 Vgl. ebd., S. V. 65 Vgl. Häfner, „Macht der Willkür und Poesie des Lebens“. 66 Vgl. Saint-Martin, Des erreurs et de la vérité, S. 289 u. S. 294. 67 Vgl. ebd., S. 279. 68 Vgl. ebd., S. 277. 69 Vgl. ebd., S. 269. 70 Schiller, „Der Geisterseher“, S. 157. Zum Zusammenhang dieser Stelle mit dem Fiesco vgl. schon die erstmals 1858 erschienene Studie von Kuno Fischer, Schiller als Philosoph, Heidelberg 1891, S. 112 f.

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Ausdruck) Gehorchen! – Herrschen! – ungeheure, schwindligte Kluft.“71 Die Maßlosigkeit des politischen Betrugs macht den Herrscher zu einem gottgleichen Wesen: „Gehorchen und Herrschen! – Sein und Nichtsein! Wer über den schwindligten Graben vom letzten Seraph zum Unendlichen setzt, wird auch diesen Sprung ausmessen.“72 Saint-Martins politische Theologie gewinnt ihre innere Plausibilität aus ihrer biblischen Rahmung: Solange das körperliche Leben dauert, befindet sich der Mensch im Zustand eines Leidens, das nur durch ein tätiges – gleichsam monarchisches – Prinzip aufgehoben werden kann. Wie kommt Saint-Martin zu dieser Engführung? Seine Widerlegung des Materialismus gründet in dem Gedanken, dass alle Ausdehnung nur das Produkt und die schöpferische Folge der Bewegung ist. Anders ausgedrückt: Die Bewegung oder das selbsttätige Prinzip von allem ist dem Raume vorgängig.73 Man könne also nicht sagen, so Saint-Martin, dass die Bewegung im Raum oder eine Eigenschaft des Raumes sei; der Raum existiert vielmehr nicht ohne Bewegung oder bewegendes Prinzip. Alles verschwinde in dem Maße, in dem sich die Bewegung vermindere: „Concluons donc, que si tout disparoit à mesure que le mouvement se retire, il est évident que l’étendue n’existe que par le mouvement, ce qui est bien différent de dire que le mouvement est à l’étendue & dans l’étendue.“74 Nach Saint-Martin gibt es zwei Arten von Bewegung, die in der sinnlich wahrnehmbaren, stofflichen Welt beständig ineinanderspielen. Da ist das bewegende Prinzip, das den stofflichen Körper schafft, ihn wachsen lässt und im Dasein erhält, und es gibt eine andere Bewegung, eine Art von Schwerkraft, die den Körper zum Zentrum der Erde hin zieht und die letztlich auf seine Zerstörung gerichtet ist. Direkt einander entgegengesetzt, neigt die eine Bewegung zu vernichten, was die andere erzeugt und im Dasein zu erhalten strebt. Aus dem Zusammenspiel der beiden Kräfte lassen sich folglich alle Prozesse des Entstehens und Vergehens in der stofflichen Natur erklären. Weil und insofern sie dem Raum nicht angehören, existieren sie unabhängig vom Raum. Das Prinzip beider Bewegungen ist dasselbe; es ist – pythagoreisch gesprochen – die Vierzahl (Quaternarius), aus der sich alle möglichen Veränderungen der Körper bestimmen lassen.75

71 Friedrich Schiller, „Die Verschwörung des Fiesco zu Genua. Ein republikanisches Trauerspiel“, in: Sämtliche Werke, Bd. 1, Gerhard Fricke/Herbert G. Göpfert (Hrsg.), München 1984, S. 639–754, hier S. 698. 72 Ebd. 73 Vgl. Saint-Martin, Des erreurs et de la vérité, S. 381. 74 Ebd. 75 Vgl. ebd., S. 386. Saint-Martin nimmt hier Spekulationen über das Tetragramm auf, die sein Lehrer Martinès de Pasqually im Traité de la réintégration des êtres (1770–72) im Kontext kabbalis-

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Im Menschen äußert sich dieses Prinzip als eingeborene intelligible Macht. Wenn die Materialisten den Menschen eine Maschine nennen, so Saint-Martin, sollten sie ihn wenigstens eine tätige Maschine nennen, die das Prinzip ihrer Tätigkeit in sich selbst hat.76 Insofern der Mensch tätig ist, das heißt insofern er Macht ausübt, ist er gut. Nur ein freies Wesen kann wahrhaft unglücklich sein, dann nämlich, wenn es in der Ausübung seiner Macht gehindert wird; wenn sich der Mensch (im Sündenfall) aus freien Stücken in Schmerz und Unglück gestürzt hat, so erlegt ihm dieselbe Freiheit die fortgesetzte Verpflichtung auf, seine Verfehlungen durch die Tat, das heißt durch Ausübung von Macht, wiedergutzumachen.77 Schillers philosophisches Gespräch aus dem Geisterseher gleicht einer Parodie auf Saint-Martins Darlegungen, in denen sich zoroastrische, pythagoreische und platonische Denkfiguren mit den jüngsten Ergebnissen der Newtonschen Physik verbinden. Der Prinz setzt die beiden Bewegungsarten Saint-Martins sehr präzis gegeneinander ab, indem er ausführt, dass „die Beweggründe oder die bewegenden Kräfte“ aus einem „innern Prinzipium“78 hervorgehen, durch das sich die stofflichen Körper erhalten. Die Natur lege in jedem moralischen Wesen ein „neues Zentrum“ an, gegen welches sich alle Tätigkeiten dieses Wesens mit einem Zwange neigen [müssen], wie sie ihn in der physischen Welt durch die Schwerkraft ausübt. Dieses Wesen ist auf die Art in sich selbst gegründet, ein wahres und wirkliches Ganze, durch diesen Fall zu seinem Zentrum dazu gebildet, ebenso wie der Planet der Erde durch die Schwerkraft zur Kugel ward, und als Kugel fortdauret.79

Die Freiheit des moralischen Wesens beruht nun gerade darauf, dass es in der Lage ist, sein „Vermögen, sich selbst zu bewegen“,80 auszuüben. Diese „zweckmäßige Tätigkeit“ ist die „notwendige[ ] Bedingung seiner Glückseligkeit“.81 Der Wert eines Menschen bemisst sich folglich „nach der Menge seiner Wirkungen“.82 Den Einwand, dass der „Despot auf dem Thron, der jede Stunde seiner Regierung

tischer Denkfiguren thematisiert hatte. Vgl. hierzu Wilhelm Schmidt-Biggemann, Politische Theologie der Gegenaufklärung. Saint-Martin, De Maistre, Kleucker, Baader, Berlin 2004, bes. S. 27. Vgl. grundsätzlich Gérard van Rijnberk, Martinès de Pasqually. Un thaumaturge au XVIIIe siècle, Hildesheim 1982, und Michelle Nahon, Martinès de Pasqually. Un énigmatique franc-maçon théurge du XVIIIe siècle, fondateur de l’ordre des Élus Coëns, Saint-Malo 2011. 76 Vgl. Saint-Martin, Des erreurs et de la vérité, S. 48. 77 Vgl. ebd., S. 74. 78 Schiller, „Der Geisterseher“, S. 163. 79 Ebd., S. 163 f. 80 Ebd., S. 164. 81 Ebd. 82 Ebd., S. 168.

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mit Blut und Elend bezeichnet“, nach dieser Lehre „ein weit würdigeres Glied der Schöpfung [sei], als der Feldbauer in seinen Ländern, weil er ein wirksameres ist“, dass „Laster und Tugend“ also ununterscheidbar würden, kontert der Prinz mit dem Argument, dass ein „verwüstendes Leben“ kein „tätiges“ sei: Der Despot ist das unnützlichste Geschöpf in seinen Staaten, weil er durch Furcht und Sorge die tätigsten Kräfte bindet und die schöpferische Freude erstickt. Sein ganzes Dasein ist eine fürchterliche Negative; und wenn er gar das edelste, heiligste Leben greift und die Freiheit des Denkens zerstöret – hunderttausend tätige Menschen ersetzen in einem Jahrhunderte nicht, was ein Hildebrand, ein Philipp von Spanien in wenig Jahren verwüsteten.83

Der vollkommene Herrscher ist nach diesem martinistischen Modell zugleich Thaumaturg, indem er das Wunder einer absoluten Machtentfaltung vollbringt; in der „schöpferischen Freude“84 des Monarchen vollendet sich die politische Kinetik Saint-Martins. Schillers Geisterseher ist mithin Teil einer komplexen Diskussionslage, in die unterschiedlichste Aspekte der politischen Theologie des 18. Jahrhunderts Eingang gefunden haben. Die Lehre eines intelligiblen Bewegungsprinzips, die Saint-Martin mit dem pythagoreisch-zoroastrischen Hintergrund dem kleinasiatischen Ideenkreis einer ältesten Weisheitstradition einschreibt, öffnet im Geisterseher in der Gestalt des Armeniers einen Bedeutungshorizont, der gleichfalls auf die Geheimwissenschaft der ägyptischen Pyramidenpriester verweist. Nicolas Antoine Boulanger (1722–59) hatte in seinen postum veröffentlichten Recherches sur l’origine du despotisme oriental (1761) zu zeigen versucht, dass die Annahme eines ,übernatürlichen Gesetzes‘ die ‚natürlichen, sozialen und zivilen Gesetze‘ außer Kraft setzen würde.85 In den europäischen Monarchien seien noch Reste jenes orientalischen Despotismus kenntlich, der den Monarchen zu einem gottgleichen Wesen erhoben habe. Boulangers Anspruch, in die Zukunft der europäischen politischen Verfassungen zu blicken, bedeutete zudem, die vom Absolutismus geprägte Gegenwart zu antiquieren, sie vorurteilslos ‚wie einen Gegenstand der Altertumskunde‘ („comme une antiquité“)86 zu analysieren. Worauf aber läuft die zukünftige Regierungsform nach Boulanger hinaus? Die Form der ursprünglichen Theokratie mit ihrer Berufung auf übernatürliche Prinzipien des politischen Körpers sei, so legte er dar, nicht nur der Idee des Gottesgnadentums der absoluten Monarchie eigen, er sei vielmehr auch in die republikanischen Verfassungen Griechenlands und Roms mit ihrem Heroenkult eingegangen. Auch die 83 84 85 86

Ebd. Ebd. Vgl. Louis Antoine Boulanger, Recherche sur l’origine du despotisme oriental, s.l. 1761, S. XVII. Ebd., S. VII.

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Republiken berufen sich auf übernatürliche Prinzipien im Modus chimärischer Tugenden, die das Wesen des Menschen verkennen. Das von Boulanger vorgeschlagene Regierungsmodell ist demgegenüber dasjenige der konstitutionellen Monarchie. Der Monarch beruft sich darin nicht mehr auf ein übernatürliches Gesetz, sondern auf die ‚Gesetze der Gesellschaft, die er regiert‘.87 Boulanger glaubte damit die Herrschaft der alten Theokratie gebrochen und den Weg zu einem ‚vernünftigen Europa‘, das sich auf die Prinzipien einer rationalen ‚Staatswissenschaft‘ stützen würde, gebahnt zu haben. Die Erinnerung an das irdische Paradies und die mit ihm verknüpfte eschatologische Erzählung von Urzustand, Vernichtung und Restitution schien damit endgültig aus der politischen Theorie verabschiedet. Saint-Martins Bewegungslehre indes brachte mit ihrer impliziten biblischen Rahmung die Elemente einer aus ihrem Ursprung begründeten Theokratie nochmals ins Bewusstsein. Der gegenwärtige Mensch konnte nicht das ‚wahrhafte Modell‘ dessen sein, was der Mensch sein soll; aus den stofflichen Schöpfungen konnte der Urheber von allem, der alles in sich birgt („qui a tout en soi“),88 nicht erschlossen werden. Die Spannung, die sich aus dem Gedanken der Inkommensurabilität zwischen dem intelligiblen Prinzip und der sichtbaren Schöpfung ergibt, grundiert auch die anthropologische Problemlage von Schillers Geisterseher. Wenn der „Genuß“, dessen der sinnliche Mensch fähig ist – so argumentierte der Prinz in dieser Parodie eines platonischen philosophischen Gesprächs –, wenn der Genuss in einem „Maximum der inneren Tätigkeit“ besteht, so ist die „Vortrefflichkeit“, die er durch seine Handlungen zu erreichen imstande ist, schlechterdings inkommensurabel mit der „Glückseligkeit“, die ihn in jenem anderen Leben erwartet: „Es wäre ebenso denkbar, daß der Glanz der Sonne in den heutigen Mittag und ihre Wärme in den folgenden fiele, als daß die Vortrefflichkeit des Menschen in diese Welt und seine Glückseligkeit in die andre fallen könnte –“.89 Auch die schlimme Handlung habe ihr Gutes, insofern sie Handlung und damit Äußerung der inneren Tätigkeit ist.90 Für Schillers Zeitgenossen stellte Saint-Martins Schrift eine eminente Herausforderung dar, weil sie das Problem der Freiheit mit der theologisch begründeten Theorie absoluter Herrschaft verknüpfte. Für Saint-Martin war diese Staatsform das durch alchemistische Prozesse gewonnene „Grand Œuvre“91 – der ‚Stein der Weisen‘, der sich mit mathematischer Evidenz aus der Geometrie des durch das

87 88 89 90 91

Vgl. ebd., S. 419. Saint-Martin, Des erreurs et de la vérité, S. 540. Schiller, „Der Geisterseher“, S. 177. Vgl. ebd., S. 174. Saint-Martin, Des erreurs et de la vérité, S. 290.

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intelligible Prinzip geschaffenen Raums errechnen ließ. Herder schrieb 1781 an Hamann: „Es ist nicht zu glauben, was in unserm aufgeklärten Jahrhundert die Magie insonderheit Raum gewinnt. Von Paris bis Berlin ist sie ausgebreitet, u[nd] die Voltärianer sind Hauptsproße derselben; eine Menge vornehmer, aufgeklärter Leute. Ihr Band ist Ungefähr u[nd] ein blinder Gehorsam“.92 Herders Diagnose in den 1790er Jahren, das Zeitalter ringe mit den „zwei Extreme[n], Unglaube u[nd] Mysticismus“,93 ist auch eine präzise Beschreibung des Konflikts, den Schiller in dem Romanfragment Der Geisterseher zum Austrag gebracht hat.

92 Johann Gottfried Herder, Brief an Johann Georg Hamann von Anfang März und vom 11., 14., 21.05.1781, in: Briefe, Bd. 4, Wilhelm Dobbek/Günter Arnold (Hrsg.), Weimar 1979, S. 176–182, hier S. 178 f. 93 Herder, Brief an Herzog Ernst II. Ludwig von Sachsen-Gotha vom 08.06.1796, S. 593.

Sebastian Kaufmann, Freiburg

„Was ist der Mensch, ehe die Schönheit die freie Lust ihm entlockt?“ Völkerkundliche Anthropologie und ästhetische Theorie in Kants Kritik der Urteilskraft und Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen

I Zur Einführung: Anthropologie, Völkerkunde und Ästhetik um 1800 Ist vom Zusammenhang zwischen Anthropologie und Ästhetik um 1800 die Rede, so zielt diese zumeist auf das Konzept des ‚ganzen Menschen‘.1 Als prominentester Vertreter einer solchen ästhetischen Anthropologie darf sicher Schiller gelten, nach dessen vielzitierten Worten der Mensch „nur da ganz Mensch [ist], wo er spielt“,2 d.h. wo er sich im „ästhetischen Zustande“ (ÄE, 636) befindet. Das Erlebnis des Schönen, das diesen Zustand charakterisiert, verbürge nämlich die harmonische Einheit der ‚Doppelnatur‘ des Menschen, insofern es Sinnlichkeit und Vernunft – wenigstens für Augenblicke – miteinander vermittle.3 Der homo sapiens ist im Idealfall ein homo ludens und als solcher ein homo aestheticus; Anthropologie und Ästhetik sind demnach unauflöslich miteinander verbunden.

1 Hierzu vgl. vor allem Hans-Jürgen Schings (Hrsg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur um 1800, Stuttgart/Weimar 1994; Maximilian Bergengruen/Roland Borgards/Johannes Friedrich Lehmann (Hrsg.), Die Grenzen des Menschen. Anthropologie und Ästhetik um 1800, Würzburg 2000, und Ernst Stöckmann, Anthropologische Ästhetik. Philosophie, Psychologie und ästhetische Theorie der Emotionen im Diskurs der Aufklärung, Tübingen 2009. 2 Friedrich Schiller, „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“, in: Werke und Briefe, Bd. 8, Rolf-Peter Janz (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1992, S. 556–676, hier S. 614. Schillers Ästhetische Briefe werden im Folgenden unter der Sigle ÄE nach dieser Ausgabe (HorenFassung) im fortlaufenden Text zitiert. 3 Zu dieser „innerweltlichen Utopie“ von Schillers ästhetischer Anthropologie vgl. Wolfgang Riedel, „Die anthropologische Wende: Schillers Modernität“, in: Hans Feger (Hrsg.), Friedrich Schiller. Die Realität des Idealisten, Heidelberg 2006, S. 35–60, hier S. 55. Riedel betont an dieser Stelle die ‚realistische‘ Einschränkung des Schönen durch das Erhabene: „Die Ästhetik des Schönen will die beiden Naturen [des Menschen, S.K.] im ästhetischen Zustand versöhnen, die Ästhetik des Erhabenen dagegen spielt das Potential der Differenz und Entzweiung von Körper und Geist aus.“

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Doch nicht nur die Anthropologie des ganzen Menschen, der es im Zuge einer „Rehabilitation der Sinnlichkeit“4 um das ausbalancierte Zusammenspiel von Geist und Körper (commercium mentis et corporis) geht, sondern auch jener „andere[ ] Zweig der Aufklärungsanthropologie, der sich mit systematischen Vergleichen zwischen den Völkern befasst“5 – es ließe sich analog von einer Anthropologie der ‚ganzen Menschheit‘ sprechen –, ist mit der Ästhetik um 1800 eng verknüpft. Von der Forschung wurde dies indes vergleichsweise wenig beachtet; erst seit kurzem setzt sich die Einsicht durch, dass Ästhetik und Anthropologie in diesem Zeitraum „insofern ‚gleichursprünglich‘ [sind], als die anthropologischen und ethnologischen Erkenntnisse die ästhetischen Debatten […] geradezu hervortreiben.“6 In der Tat findet eine anthropologische Auseinandersetzung mit außereuropäischen Völkern während des sogenannten zweiten Entdeckungszeitalters nicht nur in völkerkundlichen Abhandlungen, Reiseberichten sowie in der fiktionalen Literatur statt, sondern in erheblichem Ausmaß auch auf dem Boden der theoretischen Ästhetik. Die Präsenz von ‚Wilden‘, ‚Barbaren‘, ‚Negern‘ usw. in der deutschen Kunstund Schönheitstheorie um 1800 ist erstaunlich groß: Man denke etwa an die Gegenüberstellung der ‚richtigen‘, griechisch-europäischen Schönheitsbegriffe und der ‚falschen‘ ästhetischen Ansichten aller anderen Völker, besonders der Bewohner klimatischer Extremzonen wie „Mohren“ und „Kalmücken“,7 in Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums (1763), an die berüchtigte ‚Hottentotten‘-Passage in Lessings Laokoon (1766) oder an das emphatische Plädoyer für den „Wilde[n]“, der „seine Cocos, seine Federn, und seinen Körper [modelt]“,8 in Goethes Aufsatz Von deutscher Baukunst (1772). Den Zusammenhang von Anthropologie, Völkerkunde und Ästhetik, wie ihn derartige Reflexionen dokumentieren, soll mein Beitrag genauer beleuchten, und zwar zunächst anhand von Kants Kritik der Urteilskraft (1790), die sich – in einer so fokussierten Relektüre – als ein eminenter Beitrag zur anthropologischen ‚Ästhetik des Wilden‘ erweist. Dasselbe gilt, wie anschließend zu zeigen ist, für Schillers Briefe

4 Panajotis Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Stuttgart 1981, S. 19. 5 Alexander Košenina, Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen, Berlin 2008, S. 11. 6 Jörg Robert, „Ethnofiktion und Klassizismus. Poetik des Wilden und Ästhetik der ‚Sattelzeit‘“, in: Ders./Friederike F. Günther (Hrsg.), Poetik des Wilden, FS Wolfgang Riedel, Würzburg 2012, S. 3–39, hier S. 24 f. (Hervorhebungen S.K.). 7 Johann Joachim Winckelmann, „Geschichte der Kunst des Altertums“, in: Winckelmanns Werke in einem Band, Helmut Holtzhauer (Hrsg.), Berlin/Weimar 41986, S. 165–311, hier S. 192. 8 Johann Wolfgang Goethe, „Von deutscher Baukunst“, in: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 18, Friedmar Apel (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1998, S. 110–118, hier S. 116.

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Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795), die sich nicht zuletzt auf dieser Ebene mit Kant auseinandersetzen. Insbesondere die Briefe 23 bis 27, die den Bedingungen nachgehen, welche „die Fesseln des physischen Standes lösen, und den Wilden zur Schönheit führen“ (ÄE, 660), sind als kritischer Gegenentwurf zu den entsprechenden Passagen aus Kants dritter Kritik zu verstehen. Zunächst aber einige allgemeine Vorbemerkungen zum ästhetischen Konzept des Wilden um 1800: In Anlehnung an Rousseaus abstrakt-hypothetische Konzeption des homme naturel9 tendiert auch das in den ästhetischen Diskurs integrierte völkerkundlich-anthropologische ‚Wissen‘ zur Abstraktion, ja zur Pauschalisierung. Nicht selten wird einfach von den Wilden gesprochen, womit dann alle ‚Naturvölker‘ gemeint sind. So werden nach Adelung „dergleichen Völker und Menschen gemeiniglich Wilde genannt“, welche „im Stande der Natur, ohne merkliche bürgerliche Verfassung leben[ ]“.10 Dieses Konzept des Wilden erweist sich als eine Art Vexierbild, das gegensätzliche Images vereint. In einer eigentümlichen Verschränkung von Geschichtsphilosophie und Anthropologie werden die Wilden als Repräsentanten eines menschheitsgeschichtlich frühen Zustands betrachtet,11 als Vertreter des ‚Kindesalters‘ der Menschheit, während die eigene, europäische Kultur als Zustand des reifen ‚Erwachsenenalters‘ erscheint.12 Deutlich wird dadurch die spezifische Alterisierungstendenz dieser Betrachtungsweise: Der Wilde ist nicht einfach der Fremde oder Andere, sondern darüber hinaus der Unzivilisierte, ‚Primitive‘, Zurückgebliebene. Zugleich kann er aber auch als der Ursprüngliche, Natürliche, Unverdorbene wahrgenommen werden. Der Blick

9 Vgl. Sebastian Kaufmann, „Die stoisch-ciceronische Naturrechtslehre und ihre Rezeption bis Rousseau“, in: Barbara Neymeyr/Jochen Schmidt/Bernhard Zimmermann (Hrsg.), Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Moderne, Bd. 1, Berlin 2008, S. 229–292, hier S. 286–292. 10 Johann Christoph Adelung, Art. „Das Naturvolk“, in: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 3, Leipzig 1798, S. 449 f. 11 Zu dieser Analogisierung von Onto- und Phylogenese im kulturanthropologischen Diskurs der Aufklärung vgl. Lucas Marco Gisi, Einbildungskraft und Mythologie. Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte im 18. Jahrhundert, Berlin 2007. 12 Vgl. z.B. Schillers Jenaer Antrittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (1789): „Die Entdeckungen, welche unsre europäischen Seefahrer in fernen Meeren und auf entlegenen Küsten gemacht haben, geben uns ein eben so lehrreiches als unterhaltendes Schauspiel. Sie zeigen uns Völkerschaften, die auf den mannichfaltigsten Stufen der Bildung um uns herum gelagert sind, wie Kinder verschiednen Alters um einen Erwachsenen herum stehen, und durch ihr Beispiel ihm in Erinnerung bringen, was er selbst vormals gewesen und wovon er ausgegangen ist.“ Friedrich Schiller, „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“, in: Werke und Briefe, Bd. 6, Otto Dann (Hrsg.), Frankfurt a.M. 2000, S. 411–431, hier S. 416 f.

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auf das Fremde bleibt ambivalent. Der „Angst vor dem Anderen“,13 die sich hinter der Berufung auf die Überlegenheit der eigenen Kultur verbergen mag, korrespondiert im umgekehrten Extrem die sentimentalische Sehnsucht nach dem vermeintlich unentfremdeten Dasein der ‚edlen Wilden‘, die ein glücklicheres und auch moralisch besseres Leben führen als die durch ihre Zivilisation korrumpierten Europäer.14 Dieses zwiespältige Urteil über die Naturvölker zeigt sich besonders auch im Feld der ästhetischen Theorie. Überblickt man die Rekurse auf den Wilden innerhalb der deutschen Ästhetik um 1800, so lassen sich in typologischer Hinsicht drei grundlegende Aspekte voneinander unterscheiden. Erstens und am häufigsten steht die Frage nach der Schönheit oder Hässlichkeit der körperlichen Erscheinung des Wilden zur Debatte: In engem Zusammenhang mit der klischeehaften ethischen Differenzierung zwischen ‚edlen‘ und ‚unedlen‘, ‚guten‘ und ‚bösen‘ Wilden15 erscheint der außereuropäische Fremde aufgrund der kalokagathischen Denkweise der zeitgenössischen Physiognomik häufig entweder als guter und schöner16 oder als böser und hässlicher17 Wilder. Hier variieren die stereotypen Aussagen im Hinblick auf die verschiedenen exotischen Völker,18 wobei üblicherweise das Schönheitsideal der griechischen Antike als absoluter Beurteilungsmaßstab fungiert: Je mehr die ‚Exoten‘ ihm (vermeintlich) entsprechen, desto schöner erscheinen sie – und

13 Alexandra Böhm/Monika Sproll, „Einleitung“, in: Dies. (Hrsg.), Fremde Figuren. Alterisierungen in Kunst, Wissenschaft und Anthropologie um 1800, Würzburg 2008, S. 7–26, hier S. 10. 14 Zum Topos des edlen Wilden vgl. Karl-Heinz Kohl, Entzauberter Blick. Das Bild vom Guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation, Frankfurt a.M. 1983, und Hayden White, Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, übersetzt von Brigitte Brinkmann-Siepmann/Thomas Siepmann, Stuttgart 1986, S. 216–231. 15 Vgl. die Beiträge des Abschnitts „I. Der ‚gute‘ und der ‚böse‘ Wilde: Vom Reisebericht zur Anthropologie“, in: Monika Fludernik/Peter Haslinger/Stefan Kaufmann (Hrsg.), Der Alteritätsdiskurs des Edlen Wilden. Exotismus, Anthropologie und Zivilisationskritik am Beispiel eines europäischen Topos, Würzburg 2002, S. 31–153. 16 „[E]ine schöne Gestalt kann fast als Wesensmerkmal des Edlen Wilden angesehen werden. Daß hier Maßstäbe europäischer Ästhetik angelegt werden, versteht sich gleichsam von selbst. Antikisierende Beschreibungen der ‚guten Wilden‘ in Wort und Bild sind für die Reiseberichte ebenso charakteristisch […] wie die Betonung einer wohlgeformten, häufig erotisch aufgeladenen Gestalt bei den Edlen Wilden der Literatur“. Stefan Kaufmann/Peter Haslinger, „Einleitung: Der Edle Wilde – Wendungen eines Topos“, in: Fludernik/Haslinger/Kaufmann (Hrsg.), Der Alteritätsdiskurs des Edlen Wilden, S. 13–30, hier S. 21. 17 Zur topischen Hässlichkeit des ‚unedlen‘ Wilden vgl. Michaela Holdenried, „Häßlichkeit und Devianz. Monster, Mythen, Menschenkunden um 1800“, in: Böhm/Sproll (Hrsg.), Fremde Figuren, S. 213–228. 18 Vgl. die Ausführungen von Urs Bitterli, Die ‚Wilden‘ und die ‚Zivilisierten‘, München 32004, S. 356–364.

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umgekehrt. Von diesem Rekurs auf den Wilden als Objekt der ästhetisch-physiognomischen Wahrnehmung zu unterscheiden ist zweitens die Reflexion auf den Wilden als Subjekt der ästhetischen Rezeption. Kontrovers diskutiert wird hierbei die Frage, ob bzw. inwiefern der Wilde seinerseits in der Lage ist, das Schöne und Erhabene in Natur und Kunst wahrzunehmen. Von der Beantwortung dieser Frage abhängig ist drittens die Betrachtung des Wilden als Subjekt der ästhetischen Produktion, d.h. der künstlerischen Gestaltung. Ausgehend von völkerkundlichen Kenntnissen über ‚primitiven‘ Körperschmuck wird beispielsweise in zahlreichen kunsttheoretischen Texten um 1800 dessen Verhältnis zur Kunst des eigenen Kulturraums problematisiert. Sind jene Verzierungen – wie Feder- oder Knochenschmuck, Tätowierungen oder Körperbemalungen, Nasen- oder Lippenringe – bloß groteske Ausgeburten eines ‚rohen Geschmacks‘ und als solche strikt von der ‚wahren‘, europäischen Kunst zu unterscheiden? Oder zeugen sie vielmehr von einer allen Menschen innewohnenden „bildende[n] Kraft“, die sich, wie der junge Goethe behauptet, sowohl in „rauher Wildheit“ als auch in „gebildeter Empfindsamkeit“ als die „einzige wahre“, „charakteristische Kunst“ äußert, die sich bei den einzelnen – europäischen und außereuropäischen – „Nationen“ nur graduell, nicht aber substantiell unterscheidet?19 Strittig ist um 1800 also, ob ‚ästhetische Zustände‘ überall möglich sind – oder nur im zivilisierten Europa. Die Konjunktur der vergleichenden Völkerkunde erweist sich mithin als echte Herausforderung für die zeitgenössische Kunst- und Schönheitstheorie, wobei sich zwei gegensätzliche Reaktionsweisen auf die „Irritationspotentiale“20 des Exotisch-Primitiven unterscheiden lassen: Eine normative Ästhetik, die in der ‚edlen Einfalt und stillen Größe‘ der griechischen Klassik das allein- und allgemeingültige Ideal sieht, konkurriert mit einem ästhetischen Relativismus, der die außereuropäischen Kunstpraktiken und Schönheitsvorstellungen zu integrieren sucht. Im Kontext dieser ‚doppelten‘ Ästhetik des Wilden zeigt sich nicht zuletzt eine enge Verbindung zwischen völkerkundlicher und philosophischer Anthropologie. Daher soll die Anthropologie der ganzen Menschheit im Folgenden nicht gegen die des ganzen Menschen ausgespielt werden; vielmehr gilt es, die Gleichursprünglichkeit beider Zweige der Aufklärungsanthropologie sichtbar zu machen. Wenn ich mich nun exemplarisch der Ästhetik des Wilden in Kants Kritik der Urteilskraft und in Schillers Ästhetischen Briefen zuwende, klammere ich dabei

19 Goethe, „Von deutscher Baukunst“, S. 116 f.; vgl. Sebastian Kaufmann, „Der ‚Wilde‘ und die Kunst. Ethno-Anthropologie und Ästhetik in Goethes Aufsatz ‚Von deutscher Baukunst‘ (1772) und Schillers philosophischen Schriften der 1790er Jahre“, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik, 4/2013, 1, S. 29–57, bes. S. 35–45. 20 Robert, „Ethnofiktion und Klassizismus“, S. 26.

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die (gerade bei Kant durchaus wichtige) Frage nach der Schönheit oder Hässlichkeit des exotischen Körpers aus; stattdessen konzentrieren sich meine Überlegungen auf die Diskussion um die ästhetische Rezeptions- und Produktionsfähigkeit des Wilden. Herausgearbeitet werden soll zunächst die latente Widersprüchlichkeit der Ausführungen Kants: Fixiert er einerseits den Wilden im Rahmen einer dualistischen Anthropologie auf ‚tierische‘ Sinnenlust und spricht ihm deshalb die ästhetisch reflektierende Urteilskraft weitgehend ab, so erblickt er andererseits jedoch in primitiven ästhetischen Praktiken bereits den Beginn der Humanisierung. Im Anschluss daran werde ich erläutern, wie Schiller das ambivalent bleibende Modell Kants aufgreift und im Zeichen einer Anthropologie des ganzen Menschen dahingehend modifiziert, dass er zu einer konsequenten Aufwertung des Primitiven in aestheticis gelangt.

II „Barbarischer Geschmack“ und „interesseloses Wohlgefallen“ in Kants Kritik der Urteilskraft a) Kants Rassentheorie als Grundlage seiner ‚Ästhetik des Wilden‘ Vor der Betrachtung der ‚Ästhetik des Wilden‘ in der Kritik der Urteilskraft empfiehlt es sich, einen kurzen Blick auf Kants Rassentheorie zu werfen. Bekanntlich beschäftigte sich dieser als einer der ersten unter den deutschen Aufklärern, wenn auch nur als ‚Lehnstuhlreisender‘, intensiv mit außereuropäischen Völkern. Anders als sein ihm hierin widersprechender Schüler Herder teilt Kant die Menschheit dabei in vier ‚Grundrassen‘ ein, die in einer strikten, unter anderem klimatisch begründeten Hierarchie stehen, wie er dies in seinen Vorlesungen über Physische Geographie (erschienen 1802) ausführt: In den heißen Ländern reift der Mensch in allen Stücken früher, erreicht aber nicht die Vollkommenheit der temperirten Zonen. Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen. Die gelben Indianer [Inder/Asiaten, S.K.] haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Teil der amerikanischen Völkerschaften.21

Ähnliche Aussagen finden sich bereits in den ‚vorkritischen‘ Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764) sowie in den Aufsätzen Von den

21 Immanuel Kant, „Physische Geographie“, in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 9, Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Berlin u.a. 1900 ff. [im Folgenden entsprechend der Konvention der Kant-Forschung zitiert unter der Sigle AA], S. 316.

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verschiedenen Racen der Menschen (1775) und Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace (1785).22 In anthropologischer Hinsicht ergibt sich hieraus das intrikate Problem, ob die Angehörigen aller Rassen in gleicher Weise in der Lage sind, die von Kant universalistisch formulierte Bestimmung des Menschen zu verwirklichen. Eigentlich müssten nach Kant alle Menschen als per definitionem „mit Vernunft begabte[ ] Erdwesen“23 zur zivilisatorisch-moralischen Vervollkommnung fähig sein. So heißt es in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798/1800) ganz allgemein: „Der Mensch ist durch seine Vernunft bestimmt, in einer Gesellschaft mit Menschen zu sein, und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaften zu cultiviren, zu civilisiren und zu moralisiren; wie groß auch sein thierischer Hang sein mag“.24 Aus Kants hierarchischer Rassentheorie, nach der die „Menschheit […] in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen [ist]“, geht jedoch schon hervor, dass es in seinen Augen hinsichtlich jener „Perfectionirung des Menschen“25 gravierende Unterschiede zwischen den Völkern gibt. Für Kant stellt eben, wie er ausdrücklich „gegen Rousseau“ argumentiert, die „Civilisirung durch Cultur“26 eine notwendige Bedingung für die Ausbildung der menschlichen Vernunftanlage zur Moralität dar, und diese Voraussetzung sei am meisten bei den europäischen Nationen erfüllt. Die außereuropäischen Völker stünden dagegen auf niedrigeren Stufen der vernünftig-moralischen Entwicklung. Einige Äußerungen Kants legen sogar nahe, dass er überhaupt nicht von einer gleichen Entwicklungsfähigkeit der verschiedenen Rassen ausgeht. In den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen wird das Vermögen der Perfektibilität den „Negers von Afrika“ jedenfalls abgesprochen, die „von der Natur kein Gefühl [hätten], welches über das Läppische stiege.“27 Da selbst unter den zahlreichen in Europa lebenden freigelassenen Sklaven, wie Kant bei Hume gelesen hat, „nicht ein einziger jemals gefunden worden, der entweder in Kunst oder Wissenschaft, oder irgend einer andern rühmlichen Eigenschaft etwas

22 Zu Kants Rassentheorie vgl. Alex Sutter, „Kant und die ‚Wilden‘. Zum impliziten Rassismus in der kantischen Geschichtsphilosophie“, in: Prima Philosophia, 2/1989, S. 241–265, und Gudrun Hentges, „Die Erfindung der ‚Rasse‘ um 1800 – Klima, Säfte und Phlogiston in der Rassentheorie Immanuel Kants“, in: Birgit Tautz (Hrsg.), Colours 1800/1900/2000: Signs of Ethnic Difference, Amsterdam 2004, S. 47–66. 23 Immanuel Kant, „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“, in: AA 7, S. 119. 24 Ebd., S. 324 f. 25 Ebd., S. 322. 26 Ebd., S. 623. 27 Immanuel Kant, „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“, in: AA 2, S. 253.

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Großes vorgestellt habe“,28 wird den ‚Negern‘ implizit auch die Fähigkeit abgesprochen, sich moralisch zu perfektionieren. Ähnlich heißt es in generalisierendem Bezug auf die Wilden noch in Kants Vorlesung Über Pädagogik (1803): Man sieht es auch an den wilden Nationen, daß, wenn sie gleich den Europäern längere Zeit hindurch Dienste thun, sie sich doch nie an ihre Lebensart gewöhnen. Bei ihnen ist dieses aber nicht ein edler Hang zur Freiheit, wie Rousseau und Andere meinen, sondern eine gewisse Rohigkeit, indem das Thier hier gewissermaßen die Menschheit noch nicht in sich entwickelt hat.29

Kant lässt an dieser Stelle zwar offen, ob nicht vielleicht durch sehr „frühe“, schon in der Kindheit angewandte „Zucht“ diesen „Menschen die Wildheit“30 ausgetrieben werden könnte, doch andernorts verneint er diese Frage ganz eindeutig. So heißt es etwa in einer Notiz aus den 1780er Jahren, dass allein die Weißen „alle Anlagen zur Cultur und Civilisirung“ und damit die Fähigkeit zur Vervollkommnung besitzen: „Sie sind die einzige[n], welche immer in Vollkommenheit fortschreiten.“31 Angesichts dieser Diagnose formuliert Kant eine verstörende geschichtsphilosophische Perspektive, wonach schließlich allein die weiße Rasse den Zivilisationsprozess überleben werde: „Der Neger kan disciplinirt und cultivirt, niemals aber ächt civilisirt werden. Er verfällt von selbst in die Wildheit. / Alle racen werden ausgerottet werden (Amerikaner und Neger können sich nicht selbst regiren. Dienen also nur zu Sclaven), nur nicht die der Weissen.“32 Welchen Widerspruch sich Kant mit seiner These einhandelt, dass die außereuropäischen Völker nicht nur auf niederen Stufen der Humanität stehen, sondern auch nicht (im vollen Maß) zur geistig-moralischen Perfektionierung fähig sind, ist vor dem Hintergrund seines anthropologischen Universalismus offensichtlich: Es handelt sich demnach um Menschen, die keine ‚echten‘ Menschen sind. Man kann diesen Widerspruch auch nicht durch die verkürzende Annahme „vermeiden“, dass die nicht-weißen Rassen für Kant „nur formell, in einem bloß biologischen oder physischen Sinne der Menschengattung an[gehören], anthropologisch bzw. moralisch gesehen […] der Tierheit, nicht etwa der Menschheit zugeschlagen werden“33 müssen. Vielmehr ordnen zahlreiche Äußerungen Kants die außereuropäischen Rassen auch in anthropologischer Hinsicht der Gattung ‚Mensch‘ zu, indem ihnen doch zumindest die Anlage zur Moralität attestiert wird – wenngleich sie

28 29 30 31 32 33

Ebd. Immanuel Kant, „Über Pädagogik“, in: AA 9, S. 442. Ebd. Immanuel Kant, „Reflexionen zur Anthropologie“, in: AA 15, S. 878. Ebd. Sutter, „Kant und die ‚Wilden‘“, S. 254.

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diese ‚von Natur aus‘ nicht oder nur eingeschränkt ausbilden können, je nachdem, wo sie als ‚Rote‘, ‚Schwarze‘ oder ‚Gelbe‘ ihren Platz innerhalb der Rassenhierarchie finden. Dieser paradoxe Gedanke ändert aber nichts an dem grundsätzlichen Befund, dass diese Menschen für Kant – obzwar auf je verschiedene Weise – lediglich zwischen den Tieren und den ‚wahren‘, europäischen Menschen stehen. An einigen Stellen erwägt er allerdings, inwiefern und unter welchen Bedingungen sich der Beginn der Zivilisierung (auch ohne Zwangsdisziplinierung vonseiten der Europäer) schon bei einigen exotischen Völkern abzeichnet. Hier hat denn auch die ‚Ästhetik des Wilden‘, wie Kant sie in seiner Kritik der Urteilskraft entfaltet, ihren systematischen Ort. Denn es sind primitive ästhetische Praktiken, in denen er den Anfang der Humanisierung erblickt, obwohl er gleichzeitig dazu tendiert, den Wilden so gut wie keine ästhetische Urteilskraft zuzugestehen. Im Folgenden versuche ich zu zeigen, wie sich Kants widersprüchliche Beurteilung der außereuropäischen Völker auf seine Theorie des Schönen und Erhabenen auswirkt.

b) Der Wilde und die ästhetische Erfahrung des Schönen und Erhabenen Kant geht in seiner dritten Kritik an mehreren Stellen der Frage nach, ob bzw. inwiefern der Wilde fähig ist, das Schöne und Erhabene – die beiden Grundkategorien der kantischen Ästhetik – zu erfassen. Die fundamentale anthropologische Relevanz dieser Frage zeigt sich zunächst mit Blick auf das Schöne, wenn man berücksichtigt, dass Kant dieses, bereits auf Schiller vorausdeutend, als eine genuin menschliche Erfahrungsmöglichkeit konzipiert. Denn Kant grenzt das Schöne in zweifacher Hinsicht sowohl vom Sinnlich-Angenehmen als auch vom SittlichGuten ab, indem er es auf die physisch-metaphysische Doppelnatur des Menschen, auf den ‚Zusammenhang der tierischen Natur mit seiner geistigen‘ bezieht. So hält Kant fest, dass das Schöne gleichsam zwischen dem Angenehmen als einer rein ‚tierischen‘ Erfahrung und dem Guten als einer rein ‚geistigen‘ Erfahrung in der Mitte stehe. Während der Mensch zwar wie ein Tier das Angenehme zu empfinden und wie ein (von Kant hypothetisch angenommener) reiner Geist das Gute zu begreifen vermöge, komme allein ihm die Wahrnehmung des Schönen zu: „Annehmlichkeit gilt auch für vernunftlose Thiere; Schönheit nur für Menschen d.i. thierische, aber doch vernünftige Wesen, aber auch nicht blos als solche (z.B. Geister), sondern zugleich als thierische; das Gute aber für jedes vernünftige Wesen überhaupt“.34

34 Immanuel Kant, „Kritik der Urtheilskraft“, in: AA 5, S. 210. Kants Kritik der Urteilskraft wird im Folgenden unter der Sigle KU nach dieser Ausgabe (1793 = Ausgabe B) im fortlaufenden Text zitiert.

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Die Frage, ob der Wilde zu ästhetischen Urteilen über das Schöne in der Lage ist, schließt in diesem Kontext also die Frage nach dem Status seines Menschseins ein. Mit Blick auf Kants hierarchische Rassentheorie steht freilich zu erwarten, dass die außereuropäischen Primitiven auch hierbei nicht sonderlich gut davonkommen, genauer gesagt: dass sie mehr als Tiere denn als Menschen erscheinen. In diesem Sinne beruft sich Kant gleich zu Beginn seiner „Analytik des Schönen“, in § 2, wo er die erste seiner vier grundlegenden Bestimmungen des Schönen erläutert, der zufolge das Wohlgefallen daran „ohne alles Interesse“ sei, beispielhaft auf eine von Charlevoix überlieferte Andekdote. Diese berichtet von einem nach Frankreich gereisten „Irokesische[n] Sachem [Häuptling, S.K.]“, der, nachdem ihm die bedeutendsten Bauwerke und Kunstschätze der französischen Hauptstadt gezeigt worden waren, lakonisch bemerkt haben soll, „ihm gefalle in Paris nichts besser als die Garküchen“ (KU, 204).35 Damit erweist sich der Irokesenhäuptling nicht bloß als ‚Kunstbanause‘, sondern als prinzipiell unfähig zur ästhetischen Wahrnehmung im Sinne eines interesselosen Wohlgefallens am Schönen. Er ist ganz beherrscht vom physischen Interesse am Angenehmen, welches das ‚niedere Begehrungsvermögen‘ anspricht. Bei diesem Interesse handelt es sich um „Neigung“, um „eine Begierde nach dergleichen Gegenstande“ (KU, 207), den man besitzen, genießen, sich einverleiben will. Das Wohlgefallen am Angenehmen ist also ein Vergnügen, das auf sinnlichen (wie Kant auch sagt: pathologischen) Genuss ausgeht – und somit das genaue Gegenteil der freien Gunst, die der ästhetisch Urteilende dem Schönen gewährt, dem er gleichsam seine eigenständige Existenz gönnt. Bei diesem interesselosen Wohlgefallen am Schönen handelt es sich zwar ebenfalls um ein Lustgefühl, aber nicht um ein „pathologisch-bedingtes“ (KU, 209), sondern um ein reflexives, bei dem höhere Erkenntnisvermögen im Spiel sind (und zwar buchstäblich: im „freien Spiele“ [KU, 217] von Einbildungskraft und Verstand).36

35 Vgl. François Xavier de Charlevoix, Histoire et description générale de la Nouvelle-France, avec le Journal historique d’un voyage fait par ordre du Rois dans l’Amérique Septentrionnale, Bd. 3, Paris 1744, S. 322; erzählt wird die Anekdote auch in der anonym erschienenen Schrift Sphinx und Oedipus. Räthsel mit und ohne Lösung, Brandenburg 1781, S. 117 f. Bereits in seinen Vorlesungen über Logik (in: AA 24, S. 353 f.) von 1772 greift Kant auf diese Anekdote zurück, um den Unterschied zwischen dem Wohlgefallen am Angenehmen und dem am Schönen zu erläutern: „Als man einen Irokesen den man in ganz Paris herumgeführet, frug was ihm doch am besten gefallen, sagte er die Garküche. Was da gefällt weil es schön ist, gefällt ganz anders, als das was da gefällt weil es angenehm ist.“ 36 Zur neueren Diskussion um diese für Kants „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“ zentrale Theorie des freien Spiels vgl. die Beiträge von Jürgen Stolzenberg, Jens Kulenkampff und Christel Fricke in dem Sammelband von Ursula Francke (Hrsg.), Kants Schlüssel zur Kritik des Geschmacks.

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Dass der Irokese in Kants Beispiel keinen Gefallen an schöner Kunst findet und stattdessen nur ans Essen denkt, soll also zeigen, dass bei ihm die tierische Natur dominiert, dass er eben nur über einen ‚rohen, barbarischen Geschmack‘ verfügt, den Kant folgendermaßen definiert: „Der Geschmack ist jederzeit noch barbarisch, wo er die [sic!] Beimischung der Reize und Rührungen zum Wohlgefallen bedarf, ja wohl gar diese zum Maßstabe seines Beifalls macht.“ (KU, 223) Ein solch barbarisches Geschmacksurteil ist nach Kant insofern ‚unrein‘, als dabei die körperliche Begierde, der sinnliche Reiz des Angenehmen Einfluss nimmt bzw. das Richtmaß abgibt. Denn lediglich umgekehrt gelte: „Ein Geschmacksurtheil, auf welches Reiz und Rührung keinen Einfluß haben […], ist ein reines Geschmacksurtheil.“ (KU, 223) Verallgemeinernd lässt sich festhalten, dass für Kant die Naturmenschen mit ihrem barbarischen Geschmack bloß zu unreinen, weil durch das ‚tierische‘ Interesse am Sinnlich-Angenehmen bestimmten Geschmacksurteilen fähig sind. Am Schönen können sie demzufolge höchstens dann Gefallen finden, wenn es akzidentell mit dem Angenehmen verbunden ist, nicht aber am ‚reinen‘, d.h. ‚wahren‘ Schönen. Doch nicht nur zum reinen ästhetischen Urteil über das Schöne ist der Wilde laut Kant nicht in der Lage; er erweist sich auch als gänzlich unfähig, ästhetische Urteile über das Erhabene zu fällen. Anders als das Schöne, das Kant in das Naturund das Kunst-Schöne unterteilt, konzipiert er in der Kritik der Urteilskraft das Erhabene ausschließlich als eine ästhetische Erfahrung angesichts der Natur. Indessen sollte man dabei nicht von einer Erfahrung erhabener Natur, sondern vielmehr von einer erhabenen Erfahrung der Natur sprechen, da „die Erhabenheit“ nach Kant „in keinem Dinge der Natur, sondern nur in unserem Gemüthe enthalten“ ist (KU, 264), und zwar im Gemüt des Menschen als eines endlichen Vernunftwesens.37 Beispielsweise gebe die Natur als dynamische Macht, wie sie sich in tosenden Stürmen, schroffen Felsen usw. zeige, dem Menschen als einem „Naturwesen“ zwar seine „physische Ohnmacht zu erkennen“; sie enthülle aber zugleich – unter der Bedingung, dass sich der Betrachter in Sicherheit befindet – Ästhetische Erfahrung heute – Studien zur Aktualität von Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘, Hamburg 2000, S. 1–64. 37 Zu Kants Ästhetik des Erhabenen vgl. u.a. Hubertus Busche, „Die spielerische Entgegnung der Idee auf die ernste Natur. Versuch über Kants Analytik des Erhabenen“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 45/1991, S. 511–529; Winfried Menninghaus, „Zwischen Überwältigung und Widerstand. Macht und Gewalt in Longins und Kants Theorien des Erhabenen“, in: Poetica, 23/1991, S. 1–19; Christine Pries, Übergänge ohne Brücken. Kants Erhabenes zwischen Kritik und Metaphysik, Berlin 1995, und Werner Strube, „Der Begriff des Erhabenen in der deutschsprachigen Ästhetik des 18. Jahrhunderts“, in: Lothar Kreimendahl (Hrsg.), Aufklärung und Skepsis. Studien zur Philosophie und Geistesgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts, FS Günter Gawlick, Stuttgart 1995, S. 272–302.

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„ein Vermögen, uns als von ihr [der Natur] unabhängig zu beurtheilen“ (KU, 261): Gemeint ist das Vermögen der reinen praktischen Vernunft, den menschlichen Willen, unabhängig von jeglichen naturalen Neigungen, allein gemäß dem Sittengesetz zu bestimmen. Die „Allgewalt“ der Natur erweist sich dadurch als nur „scheinbare“, weil der Mensch nach Kant eben nicht nur ein natürliches, sondern aufgrund seiner Vernunft zugleich ein über-natürliches Wesen ist, das sich durch „eine Überlegenheit über die Natur“ (KU, 261) auszeichnet. Aus dem Anteil, den die Vernunft an der ästhetischen Erfahrung des Erhabenen hat, folgt schon, dass die Wilden als Naturmenschen, bei denen Kant zufolge die Tierheit die Menschheit überwiegt, nicht zum Erhabenheitsurteil fähig sind. Stattdessen empfinde der Wilde angesichts der dynamisch-mächtigen Natur nichts als Schrecken, während der zivilisierte Mensch, nachdem zwar auch seine Einbildungskraft zunächst von den mächtigen Naturerscheinungen abgestoßen wird, anschließend ein durch das Hinzutreten vernünftiger Ideen erzeugtes Wohlgefallen verspüre.38 Der Wilde hingegen vermöge das (Dynamisch-)Erhabene nicht zu erfahren, weil dieses Hinzutreten von Vernunft-Ideen fehlt; er empfinde lediglich das negative Gefühl einer Hemmung seiner Lebenskräfte. „In der That“, schreibt Kant, wird ohne Entwickelung sittlicher Ideen das, was wir, durch Cultur vorbereitet, erhaben nennen, dem rohen Menschen bloß abschreckend vorkommen. Er wird an den Beweisthümern der Gewalt der Natur in ihrer Zerstörung und dem großen Maßstabe ihrer Macht, wogegen die seinige in Nichts verschwindet, lauter Mühseligkeit, Gefahr und Noth sehen, die den Menschen umgeben würden, der dahin gebannt wäre. (KU, 265)

Da aber das Gefühl des Erhabenen nicht allein auf Kultur beruhe, sondern „seine Grundlage in der menschlichen Natur […], nämlich in der Anlage zum Gefühl für (praktische) Ideen“ habe (KU 265), die Kant an dieser Stelle, obzwar als unausgebildete Anlage, auch dem Naturmenschen beimisst, sei dieser zumindest imstande, den kultivierten Europäer für seine furchtlose Erfahrung des

38 Im Unterschied zum freien, harmonischen (Zusammen-)Spiel der Erkenntnisvermögen Einbildungskraft und Verstand, das insofern das dritte Moment des Schönen, die subjektive, formale Zweckmäßigkeit ohne Zweck kennzeichnet, als der schöne „Gegenstand für unsere Urtheilskraft gleichsam vorherbestimmt zu sein scheint“ (KU, 245), herrscht beim Erhabenen zunächst ein „Widerstreit“ zwischen „Einbildungskraft und Vernunft“ (KU, 258). Denn die Naturphänomene, von denen das Gefühl des Erhabenen ausgeht, erscheinen „der Form nach […] zweckwidrig für unsere Urtheilskraft […] und gleichsam gewaltthätig für die Einbildungskraft“ (KU, 245). Erst die Ideen der praktischen Vernunft, die dadurch zugleich hervorgerufen werden, lassen laut Kant „eine von der Natur ganz unabhängige Zweckmäßigkeit in uns selbst fühlbar“ (KU, 246) werden: den moralischen Zweck unserer Existenz.

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Erhabenen zu bewundern. „Denn was ist das, was selbst dem Wilden ein Gegenstand der größten Bewunderung ist?“, fragt Kant, um die Antwort gleich hinterherzuschicken: „Ein Mensch, der nicht erschrickt, der sich nicht fürchtet“ (KU 262). Letztlich erweist sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen der doppelten Unfähigkeit des Wilden zur Erfahrung „der ächten Schönheit“ (KU, 226) wie des Erhabenen: Dem Appetit jenes Irokesenhäuptlings, der die Schönheit von Paris nicht wahrzunehmen vermag, weil ihm der betörende Duft der Garküchen in die Nase steigt, korrespondiert nach Kant nämlich die Furcht, die den Wilden den Anblick eines gewaltigen Naturschauspiels instinktiv fliehen lässt, selbst wenn er sich in völliger Sicherheit befindet. Doch „[w]er sich fürchtet, kann über das Erhabene der Natur gar nicht urtheilen, so wenig als der, welcher durch Neigung und Appetit eingenommen ist, über das Schöne.“ (KU, 261) Dies ist, zugespitzt formuliert, die Rückseite der Esslust des Wilden: die auf dem Fehlen moralischer Ideen basierende Furcht vor einer Natur, die er seiner intelligiblen Persönlichkeit nicht unterzuordnen vermag, weil ihm diese selbst unbekannt ist.

c) Das „empirische Interesse“ des Wilden am Schönen als „Anfang der Civilisirung“ Doch der Wilde erweist sich in der Kritik der Urteilskraft nicht im selben Ausmaß als unfähig zur Erfahrung des Schönen wie zu der des Erhabenen. Kant deutet ausdrücklich darauf hin, dass die Naturvölker eher einen Sinn für das Schöne als für das Erhabene besitzen, wenn er schreibt, dass „das Urteil über das Erhabene […] Cultur bedarf (mehr als über das Schöne)“ (KU, 265). Mit seinem Beispiel vom Irokesen, der die Pariser Garküchen den eigentlichen Sehenswürdigkeiten vorzieht, will Kant also nicht sagen, dass der Wilde in gar keiner Weise zur ästhetischen Erfahrung des Schönen in der Lage ist. Der Häuptling bietet nur ein – Kants Rassenhierarchie entsprechendes – Extrembeispiel für einen barbarischen Geschmack niederster Art, der buchstäblich nicht über das Schmecken hinausgelangt. Damit bleibt aber noch die Möglichkeit eines etwas ‚höheren‘ barbarischen Geschmacks offen, der zwar immer noch ‚unrein‘ ist, für den das Schöne aber schon eine gewisse Rolle spielt. So wird die Voraussetzung eines – wenngleich eingeschränkten – Sinns der Wilden für das Schöne in der Kritik der Urteilskraft denn auch an mehreren Beispielen deutlich, etwa an den in § 16 genannten „Neuseeländer[n] mit ihrem Tettawiren [Tätowieren, S.K.]“ von „allerlei Schnörkeln und leichten, doch regelmäßigen Zügen“, mit denen man wohl „eine Gestalt […] verschönern“ könnte, „wenn es nur nicht ein Mensch wäre“

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(KU, 230).39 Kant differenziert sogar zwischen verschiedenen Entwicklungsstufen auf dem Weg vom Naturzustand zur Zivilisation, wobei der ästhetischen Erfahrung bzw. der Gestaltung des Schönen eine entscheidende Funktion zukommt. In diesem Kontext werden jedoch erhebliche Inkonsistenzen in seiner Argumentation sichtbar, wie nun gezeigt werden soll. Trotz aller Vorbehalte gegen ‚barbarisch-unreine‘ Geschmacksurteile stellt das in der Ästhetik um 1800 vieldiskutierte Phänomen, dass Naturmenschen ihre eigenen Körper und ihre Gebrauchsgegenstände verzieren, für Kant sowohl den Anfang des ästhetischen Geschmacks als auch der Zivilisierung dar, wie in § 41 der Kritik der Urteilskraft kenntlich wird, der „[v]om empirischen Interesse am Schönen“ (KU, 296) handelt. Dass Kant jetzt von einem „Interesse am Schönen“ spricht, mag zunächst verwundern, hatte er doch in seiner „Analytik des Schönen“ das Wohlgefallen an diesem ausdrücklich als ‚interesselose Reflexionslust‘ gekennzeichnet. Indes hält Kant auch weiterhin daran fest, dass das Geschmacksurteil über das Schöne „kein Interesse zum Bestimmungsgrunde haben“ dürfe (KU, 296); das reine Schönheitsurteil kann also nicht aus einem Interesse (sei es am Sinnlich-Angenehmen oder am Sittlich-Guten) entspringen. Wohl aber könne, „nachdem es als reines ästhetisches Urtheil gegeben worden“, ein „Interesse damit verbunden werden“ (KU, 296). Ein solches Interesse am Schönen kommt mithin erst nachträglich hinzu, wird dem zuvor schon gefällten reinen Geschmacksurteil gleichsam aufgepfropft. Genauer gesagt handelt es sich um eine indirekte Verbindung, die der Vermittlung durch ein Drittes bedarf: Im Fall des „empirischen Interesses am Schönen“ bestimmt Kant dieses Bindeglied zwischen interesseloser Lust an der Reflexion und interessierter Lust an der Existenz des Schönen als den „der menschlichen Natur“ inhärenten „Trieb zur Gesellschaft“ (KU, 296). Dass Kant auch die Körper- und Gegenstandsverzierungen der Naturvölker, obwohl es sich doch um Ausdrucksformen eines ‚unreinen‘ Geschmacks handeln soll, im ästhetisch-anthropologischen Kontext des empirischen Interesses am

39 Dies ist vor dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen freier Schönheit (pulchritudo vaga), die ohne Begriff gefällt, und anhängender Schönheit (pulchritudo adhaerens), die einen Begriff der als schön beurteilten Sache voraussetzt, zu verstehen. Die verschnörkelten Tätowierungen der indigenen Neuseeländer (Maori) sind für Kant zwar freie Schönheiten, die für sich, d.h. unbegrifflich, gefallen – genauso wie die zuvor angeführten „Zeichnungen à la grecque, das Laubwerk zu Einfassungen oder auf Papiertapeten“ (KU, 229). Dennoch sind sie in Verbindung mit der begrifflich bedingten Schönheit des menschlichen Körpers kein Gegenstand eines ästhetischen Wohlgefallens: Dies allerdings nicht, weil freie Schönheiten gepaart mit anhängenden Schönheiten überhaupt nicht gefallen könnten, sondern weil eine solche Verzierung dem „Begriff vom Zwecke“ (KU, 230) des Menschen widerspricht. In letzter Konsequenz ergibt sich daraus, dass diesen Wilden ein adäquates Selbstverständnis fehlt.

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Schönen verortet, erhellt schon aus seinem Hinweis auf die gesellige Dimension jeglichen Schmucks: „Für sich allein würde ein verlassener Mensch auf einer wüsten Insel weder seine Hütte, noch sich selbst ausputzen“ (KU, 297). Allgemeiner formuliert: „Empirisch interessirt das Schöne nur in der Gesellschaft“ (KU, 296). Der Mensch will seinen Mitmenschen gefallen; aus diesem Grund putze auch der Wilde „sich selbst“ und „seine Hütte“ aus. Von hier aus wird erklärlich, weshalb das in diesem ‚Ausputzen‘ sich manifestierende empirische Interesse am (vermeintlich) Schönen von Kant nicht etwa als Eitelkeit verurteilt, sondern im Prinzip positiv bewertet wird. Denn „die Geselligkeit“, um derentwillen der Mensch sich und seine Umwelt schmückt, versteht Kant als „zur Erforderniß des Menschen als für die Gesellschaft bestimmten Geschöpfs, also als zur Humanität gehörige Eigenschaft“ (KU, 296 f.). Insofern Schmuck und Putz dem geselligen Umgang der Menschen miteinander dienen, gelten sie sogar als „Beförderungsmittel“ (KU, 297) der Humanität; nicht zufällig erblickt Kant in diesem Mitteilungsbedürfnis durch den Geschmack, mag er auch noch ‚roh‘ sein, den „Anfang der Civilisirung“ (KU, 297). Im Einzelnen beschreibt Kant die Entwicklungsgeschichte, die das zivilisierende Potential des entstehenden ästhetischen Geschmacks demonstriert, als einen dreistufigen Prozess, der mit einem ‚barbarischen‘ Geschmack beginnt, wie er noch gegenwärtig bei den wilden Völkern zu beobachten sei: [S]o werden freilich anfangs nur Reize, z.B. Farben, um sich zu bemalen (Rocou bei den Caraiben40 und Zinnober bei den Irokesen), oder Blumen, Muschelschalen, schönfarbige Vogelfedern, mit der Zeit aber auch schöne Formen (als an Canots [Kanus, S.K.], Kleidern u.s.w.), die gar kein Vergnügen, d.i. Wohlgefallen des Genusses bei sich führen, in der Gesellschaft wichtig und mit großem Interesse verbunden: bis endlich die auf den höchsten Punkt gekommene Civilisirung daraus [aus dem Putz, S.K.] beinahe das Hauptwerk der verfeinerten Neigung macht (KU, 297).

40 In seinen handschriftlichen Reflexionen zur Anthropologie nimmt Kant dieses Beispiel noch einmal auf, indem er auch dort auf die gesellige Dimension dieser Körperbemalung abhebt, sie aber skeptischer bewertet. Zum einen handle es sich zwar um einen ‚gesitteten Zwang‘, der jedoch zum anderen als ‚künstlicher Geschmack‘ ‚unwesentlich‘ sei und zu ‚Verstellung‘ führe: „Durch diesen Zwang sind wir Gesittet, und es ist in der That ein Zwang, weil wir uns ungern darunter sehen. Sollte dieser Zwang wegfallen, so wäre alles roh, unmanierlich und grob. Selbst der Caraibe sagt, er sey noch nackend, weil er noch nicht mit Rocou bemalt ist. Weil diese Regeln von der bloßen außeren Erscheinung hergenommen sind und vom Geschmack, so sind sie künstlich, und weil sie nichts wesentliches enthalten, so machen sie Verstellt.“ Kant, „Reflexionen zur Anthropologie“, S. 338 f.

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Auf der ersten Stufe des empirischen Interesses am Schönen ist der Geschmack insofern noch „barbarisch“, als er die „Reize […] zum Maßstabe seines Beifalls macht“ (KU, 223). Die Farben und Formen, mit denen sich diese Wilden schmücken, sind nicht schon – vor dem empirischen Interesse an ihnen – als „freie Schönheiten“ (KU, 229) Gegenstände eines interesselosen Wohlgefallens, sondern sie ‚vergnügen‘ noch ausschließlich im Sinne der pathologischen Affizierung durch das Angenehme.41 Erst auf der zweiten Stufe geht es um Formen, die schon für sich eine reine Reflexionslust hervorrufen, bevor man mit Blick auf die Geselligkeit an ihnen Interesse nimmt und beispielsweise Kanus und Kleider mit ihnen verziert, um zu gefallen. Jetzt ist der Geschmack schon nicht mehr „barbarisch“, der Mensch eigentlich kein Wilder mehr. Auf der dritten Stufe schließlich, der Stufe höchster Zivilisation, bilde das „empirische Interesse am Schönen“ fast die Hauptsache des geselligen Umgangs; es befördere so zwar die Humanität, schaffe damit aber einen „nur sehr zweideutigen Übergang vom Angenehmen zum Guten“ (KU, 298). Denn der verfeinerte Geschmack, der sich einerseits an der – die Moralität begünstigenden – Idee allgemeiner Mitteilbarkeit orientiere, sei andererseits ebenfalls verbunden „mit allen Neigungen und Leidenschaften“ (KU, 298). Dieses Stufenmodell erweist sich allerdings in mehrfacher Hinsicht als problematisch; Kants Argumentation ist hier auffällig inkonsequent. So wird etwa nicht deutlich, weshalb die Farben, mit denen sich die Karaiben und Irokesen bemalen, „nur Reize“, also gerade keine Gegenstände eines interesselosen Wohlgefallens sein sollen.42 Dasselbe gilt erst recht für die Blumen, Muscheln und

41 Diese entscheidende Differenz zwischen Reiz und interesselosem Wohlgefallen überspielt Georg Kohler, „Gemeinsinn oder: Über das Gute am Schönen. Von der Geschmackslehre zur Teleologie“, in: Otfried Höffe (Hrsg.), Immanuel Kant. Kritik der Urteilskraft, Berlin 2008, S. 137–150, hier S. 146 f.: „Kant bemüht ethnologische Befunde, um das [zivilisierende Potential des Schönen, S.K.] evolutionshistorisch zu verdeutlichen: Er erinnert zunächst an die ‚Karaiben‘ und ‚Irokesen‘, die den ästhetischen Reiz von Farben, Ornamenten der organischen und anorganischen Natur, von formal gelungenen Artefakten und Gebrauchsdingen nutzen, um durch schöne Vorstellungen gemeinsame Gefühle und Gefühle der Gemeinsamkeit zu bewirken.“ (Hervorhebung S.K.) Schon die Formulierung ‚ästhetischer Reiz‘ verfehlt Kants Unterscheidung zwischen Schönem und Angenehmen. 42 Die Schwierigkeiten, die sich diesbezüglich ergeben, werden bereits in § 14 deutlich, wo Kant zunächst gegen die Verfechter der These, Farben seien „an sich […] schön“, den konjunktivisch (!) formulierten Einwand erhebt, dass Farben „bloß die Materie der Vorstellungen, nämlich lediglich Empfindung, zum Grunde zu haben scheinen und darum nur angenehm genannt zu werden verdienten“ (KU, 224). Unter dieser Voraussetzung würde gelten, dass sie auch in den bildenden Künsten bloß „zum Reiz [gehören]; den Gegenstand an sich können sie zwar für die Empfindung belebt, aber nicht anschauungswürdig und schön machen“ (KU, 225). Andererseits erwägt Kant aber auch, „daß Farbe und Ton nicht bloße Empfindungen, sondern schon formale Bestimmung

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Federn, mit denen sie sich schmücken. Es handelt sich hierbei ja gerade um die in den Paragraphen 4 und 16 von Kant angeführten Paradebeispiele für „Naturschönheiten“, die im Sinne eines reinen Geschmacksurteils „frei und für sich gefallen“ (KU, 229). Unklar bleibt, weshalb sie sich plötzlich als sinnliche „Reize“ von den „schöne[n] Formen (als an Canots, Kleidern u.s.w.), die gar kein Vergnügen, d.i. Wohlgefallen des Genusses bei sich führen“, unterscheiden sollen.43 Abgesehen davon stellt sich die zentrale Frage, wie aus dem bloßen Reiz des Angenehmen, d.h. aus dem „Sinnengenuß“ (KU, 297), „mit der Zeit“ ein interesseloses Wohlgefallen am Schönen – die reine Reflexionslust – werden kann. Das Problem besteht also weniger in dem am Ende von § 41 diskutierten „Übergang vom Angenehmen zum Guten“ als vielmehr in dem stillschweigend vorausgesetzten ‚Übergang vom Angenehmen zum Schönen‘, den Kant nicht zu erläutern vermag. Doch anstatt diese Schwierigkeit zu thematisieren, benutzt er seine sonstigen Beispiele für freie Schönheiten nun einfach zur Charakterisierung der ersten Stufe, auf der die Urteilskraft noch nicht zu reinen Geschmacksurteilen in der Lage sei, so dass die extreme Differenz zur zweiten Stufe, auf der das Schöne mit einem Mal ohne Interesse gefällt, nivelliert wird. Damit tritt die Ambivalenz, die Kants völkerkundlich-anthropologische Ästhetik aufgrund seiner dualistischen Denkweise prägt, deutlich hervor: Einerseits soll der Wilde als ‚tierischer‘ Mensch unfähig zur Erfahrung „der ächten Schönheit“ (KU, 226) sein, andererseits soll er jedoch mit seinem empirischen Interesse am Schönen – das eigentlich schon ein reines Schönheitsurteil voraussetzt – den „Anfang der Civilisirung“ bilden. In diesem Widerspruch, den Kant selbst freilich

der Einheit eines Mannigfaltigen derselben sein und alsdann auch für sich zu Schönheiten gezählt werden können.“ (KU, 224) Perfekt wird die Verwirrung dadurch, dass die hierzu Stellung nehmende Zwischenbemerkung in den Ausgaben A (1790) und B (1793) lautet: „woran ich doch gar sehr zweifle“, während es in C (1799) dann plötzlich heißt: „woran ich doch gar nicht zweifle“ (KU, 224). Vgl. den Kommentar zu AA 5, S. 527, und Hans Feger, Die Macht der Einbildungskraft in der Ästhetik Kants und Schillers, Heidelberg 1995, S. 159 f. 43 Aufschlussreich ist hierfür wieder eine Passage aus § 14, wo Kant zwischen schönem Zierat und reizendem Schmuck unterscheidet: „Selbst was man Zierathen (Parerga) nennt, d.i. dasjenige, was nicht in die ganze Vorstellung des Gegenstandes als Bestandstück innerlich, sondern nur äußerlich als Zuthat gehört und das Wohlgefallen des Geschmacks vergrößert, thut dieses doch auch nur durch seine Form […]. Besteht aber der Zierath nicht selbst in der schönen Form, ist er, wie der goldene Rahmen, bloß um durch seinen Reiz das Gemälde dem Beifall zu empfehlen, angebracht: so heißt er alsdann Schmuck, und thut der ächten Schönheit Abbruch.“ (KU, 226) Im letztern Fall beruht der Reiz auf dem materiellen Wert des Goldes. Die (von Kant nicht gestellte) Frage bleibt aber, ob den Blumen, Muscheln oder Vogelfedern, mit denen sich die Naturvölker schmücken, für sie ein solcher Wert zukommt.

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nicht reflektiert, bleibt seine ‚Ästhetik des Wilden‘ schließlich stecken. Genau hier setzt Schiller an.

III Die ‚ästhetische Revolution‘ des Wilden in Schillers Ästhetischen Briefen a) Schillers kritischer Ausgang von Kant: Wilder vs. Barbar Wenn Schiller kurz nach Erscheinen seiner Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen am 1. März 1795 an Kant schreibt: „Es sind dieß die Früchte, die das Studium Ihrer Schriften bey mir getragen“,44 so ist dies nicht zuletzt auf das Problem einer ‚Ästhetik des Wilden‘ zu beziehen, das er aus der Kritik der Urteilskraft aufgreift. Allerdings verschweigt Schiller, dass es sich um kritische „Früchte“ seines Kant-Studiums handelt. Kant hätte jedenfalls Grund genug gehabt, „den Geist [seiner] Philosophie“ (auch) in diesem Punkt zu „vermissen“,45 wogegen sich Schiller jedoch zu verwahren sucht. Die Kant-Kritik Schillers betrifft also nicht nur allgemein den Dualismus von Sinnlichkeit und Vernunft, Natur und Freiheit usw., sondern, damit verbunden, auch speziell die anthropologische Frage nach der ästhetischen Kompetenz primitiver Völker. Schillers Interesse an den Wilden ist indes nicht erst durch Kant geweckt worden. Spurenelemente der zeitgenössischen „Erschließung der geographisch fremden Welt“ und ihrer Bewohner, vermittelt über die Lektüre von Reiseberichten, finden sich bereits seit den frühen 1780er Jahren immer wieder „in den Erzählungen, Dramen, Gedichten“46 sowie in den geschichtsphilosophischen Vorlesungen von 1789 und 1790. Auf den Zusammenhang völkerkundlich-anthropologischer Aspekte mit Fragestellungen der Ästhetik dürfte Schiller aber wohl tatsächlich erst durch sein Studium von Kants dritter Kritik, das im Februar 1791 begann und im Herbst 1792 intensiviert wurde,47 aufmerksam geworden sein. Bei

44 Friedrich Schiller, Brief an Immanuel Kant vom 01.03.1795, in: Werke und Briefe, Bd. 8, S. 1407. 45 Ebd. 46 Karl S. Guthke, „Zwischen ‚Wilden‘ in Übersee und ‚Barbaren‘ in Europa. Schillers EthnoAnthropologie“, in: Ders., Der Blick in die Fremde. Das Ich und das andere in der Literatur, Tübingen/Basel 2000, S. 101–122, hier S. 103. 47 Zu Schillers Rezeption der Kritik der Urteilskraft vgl. Hans Feger, „Durch Schönheit zur Freiheit. Wie Schiller Kant liest“, in: Monatshefte, 97/2005, 3, S. 439–449. Vgl. auch Friedrich Schiller, „Vollständiges Verzeichnis der Randbemerkungen in seinem Handexemplar der ‚Kritik der Urteilskraft‘“, in: Jens Kulenkampff (Hrsg.), Materialien zu Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘, Frankfurt a.M. 1974, S. 126–144.

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dieser Auseinandersetzung mit Kants ‚Ästhetik des Wilden‘ ist Schillers Bestreben erkennbar, deren argumentationslogische Mängel zu beheben. Die Frage nach der Vermittlungsleistung der ästhetischen Erfahrung des Schönen für die „Akkulturation des Wilden“,48 für den Übergang aus dem ‚tierischen‘ Natur- in den menschlichen Kulturzustand, avanciert in der Folge denn auch zu einem Hauptthema der Ästhetischen Briefe, in denen Schiller ein neues Denkmodell entwickelt, um diese Problematik zu bewältigen. Ähnlich wie in der kurz darauf publizierten Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96), in der die Wilden aus alten Zeiten und fernen Ländern ebenso wie Kinder mit der durchaus positiv konnotierten Kategorie des Naiven assoziiert werden,49 erfahren die ethnisch Primitiven in den Briefen eine entschiedene Aufwertung, mit der sich Schiller von Kant absetzt.50 Zugleich erteilt er damit auch dem – in seiner Jenaer Antrittsvorlesung über Universalgeschichte noch selbst vertretenen – Fortschrittsoptimismus eine Absage, indem er nun zivilisationskritische Töne anschlägt. In diesem Zusammenhang ist die prominente Dichotomie von „Wilden“ und „Barbaren“ zu verstehen, wie Schiller sie in den Ästhetischen Briefen konzipiert. Der Barbar, bei Kant noch ein Synonym für den Wilden, steht hier für den (einseitig) aufgeklärten, zivilisierten Europäer, der von der Harmonie der beiden menschlichen Naturen ebenso weit entfernt ist wie der Wilde im Naturzustand (den Schiller ‚physischen Zustand‘ nennt): „Der Mensch“, so schreibt Schiller im 4. Brief, „kann sich […] auf eine doppelte Weise entgegengesetzt sein: entweder als Wilder, wenn seine Gefühle über seine Grundsätze herrschen; oder als Barbar, wenn seine Grundsätze seine Gefühle zerstören.“ (ÄE, 567) Der Barbar ist also genauso wenig ein ‚ganzer Mensch‘ wie der Wilde; das commercium mentis et corporis befindet sich bei beiden im Ungleichgewicht: Während beim Wilden das Körperliche das Geistige überwiegt, unterdrückt beim Barbaren umgekehrt das Geistige das Körperliche. Schiller kommt es aber gerade auf die Balance beider Wesensdimensionen des Menschen an, wie sie allein im ‚ästhetischen Zustand‘ erreicht werden könne.51 Allerdings hegt Schiller größere Sympathie für den sinn-

48 Vgl. Peter-André Alt, „Akkulturation des Wilden bei Schiller“, in: Robert/Günther (Hrsg.), Poetik des Wilden, S. 263–286; zu den Ästhetischen Briefen vgl. S. 275 f. 49 Dass es sich bei „Schillers Charakteristik des naiven Genies […] um eine potenzierte Akkulturation von Rousseaus Wildem handelt“, zeigt Alt, ebd., S. 282. 50 Zur Entwicklungsgeschichte dieser Aufwertung im ästhetischen Denken Schillers von 1789 bis 1795/96 (unter Aussparung der Ästhetischen Briefe) vgl. Kaufmann, „Der ‚Wilde‘ und die Kunst“, S. 45–53. 51 Riedel, „Die anthropologische Wende“, S. 54 f., spricht in diesem Zusammenhang von einem „homöostatische[n] Gleichgewicht“ zwischen Körper und Geist und verweist auf Schillers Kritik

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lichen Wilden als für den aufgeklärten Barbaren, wie bereits aus der folgenden Passage hervorgeht: „Der Wilde verachtet die Kunst, und erkennt die Natur als seinen unumschränkten Gebieter; der Barbar verspottet und entehrt die Natur, aber verächtlicher als der Wilde fährt er häufig genug fort, der Sklave seines Sklaven zu sein.“ (ÄE, 567 [Hervorhebung S.K.]) Noch eindeutiger formuliert Schiller im 7. Brief: „Man wird in andern Weltteilen in dem Neger die Menschheit ehren, und in Europa in dem Denker schänden.“ (ÄE, 579) Dass dieses Denkmuster ‚Wilder vs. Barbar‘ dazu geeignet ist, die eurozentrische Gegenüberstellung von primitiven Exoten und zivilisierten Europäern in ästhetischer Hinsicht zu suspendieren, reflektiert Schiller ausdrücklich, wenn er sich im 10. Brief auf die „denkenden Köpfe“ beruft, die angesichts der wilden und der barbarischen „Unempfindlichkeit für das Schöne“ „nicht ganz so schlimm von jener Wildheit [denken], die man den ungebildeten Völkern zum Vorwurf macht, und nicht ganz so vorteilhaft von dieser Verfeinerung, die man an den gebildeten preist.“ (ÄE, 588) Der intellektuelle Barbar verachtet die Kunst nämlich nicht minder als der sinnliche Wilde, nur dass er sich nicht der einseitigen Herrschaft der Natur, sondern der Vernunft unterstellt. Das „kalte[ ] Herz“ des „abstrakte[n] Denker[s]“ (ÄE, 575) vermag nicht, sich für die Kunst zu erwärmen, aber gerade dadurch erweist sich seine Verachtung der Schönheit als die tiefere, abgründigere. Deshalb mündet die von Schiller im 6. Brief artikulierte kritische Diagnose seines Zeitalters, das durch eine Dialektik des Fortschritts in einen entfremdeten Zustand der Barbarei geraten sei, in die Formulierung des ‚erzieherischen‘ Ziels der Ästhetischen Briefe: Es gelte, die aufgeklärte Barbarei zu überwinden und die – in der griechischen Antike einstmals existierende – „Totalität in unsrer Natur, welche die Kunst [gemeint ist die rationalistische Kultur, S.K.] zerstört hat, durch eine höhere Kunst [nämlich die schöne, eigentliche Kunst, S.K.] wieder herzustellen.“ (ÄE, 578) Die schöne Kunst soll aus einseitig rationalen Barbaren allseitig gebildete ‚ganze Menschen‘ machen. Schiller formuliert dieses Ziel von vornherein im Hinblick auf eine höhere, ethisch-politische Aufgabe: Durch die Schönheit soll der Mensch „zu der Freiheit wander[n] (ÄE, 560); im Durchgang durch den ‚ästhetischen Zustand‘ soll aus dem „Staat der Not“ ein „Staat der Freiheit“ (ÄE, 567) werden. In den fünf letzten Briefen (23 bis 27) wird indes nur die vorgängige Frage beantwortet, auf welche Weise der Wilde zur Erfahrung des Schönen gelangt. Dabei bezieht sich Schiller nicht etwa bloß oder in erster Linie auf die ‚verwilderten‘ niederen Klassen, die er im 5. Brief mit Blick auf die „gegenwärtigen Ereig-

an „Kants Modell der Herrschaft der Vernunft“, gegen das jener „das medizinische Modell der Gesundheit, des zwanglosen Fließgleichgewichts zwischen Trieb und Vernunft“ stelle.

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nisse“ (ÄE, 567 f.) der Französischen Revolution den ‚erschlafften‘ höheren Klassen komplementär gegenüberstellt,52 sondern vor allem auf den ‚ursprünglichen‘ Menschen, wie er in früheren Zeiten in Europa gelebt habe und wie er an fernen Orten jenseits dieses Kontinents noch immer lebe. So entwickelt Schiller im vierten und letzten Abschnitt seiner Abhandlung zunächst ein triadisches Modell der sowohl phylo- wie ontogenetischen Entwicklung des Menschen vom physischen über den ästhetischen zum moralischen Zustand, wobei die erste Entwicklungsstufe besondere Aufmerksamkeit beanspruche, da „[d]er Schritt von dem ästhetischen Zustand zu dem […] moralischen […] unendlich leichter [ist], als der Schritt von dem physischen Zustande zu dem ästhetischen“ (ÄE, 644). Damit ist exakt die Schwierigkeit benannt, in die Kant in § 41 der Kritik der Urteilskraft geraten war, ohne es selbst recht zu bemerken. Schiller hingegen sieht das Problem und versucht es in den letzten Briefen zu lösen. „Es kann“, so resümiert er am Schluss des 25. Briefs die vorläufige Modifikation seiner Aufgabenstellung, „nicht mehr die Frage sein, wie er [der Mensch, S.K.] von der Schönheit zur Wahrheit übergehe […], sondern […] wie er von bloßen Lebensgefühlen zu Schönheitsgefühlen den Weg sich bahne.“ (ÄE, 659) Der Beantwortung dieser Frage sollen die beiden abschließenden Briefe (26 und 27) dienen.

b) Die „Umwälzung“ des Wilden zum Menschen durch die Erfahrung des Schönen Zuvor aber liefert Schiller noch eine ausführliche Beschreibung des wilden Naturzustands, um die extreme Differenz fasslich zu machen, die zwischen diesem und dem ästhetischen Zustand besteht. Auf die Frage hin, was der Mensch sei, „ehe die Schönheit die freie Lust ihm entlockt, und die ruhige Form das wilde Leben besänftigt“ (ÄE, 649), wird das düstere, unrousseauistische Bild einer tierähnlichen Rohheit ohne Kenntnis der „Menschenwürde“ (ÄE, 650) gezeichnet. Der unfreie Naturmensch, wie Schiller ihn hier modelliert, ist ein erkenntnisloser Sklave physischer Notwendigkeit, der überall nur seine Begierde zu befriedigen strebt und deshalb (ähnlich wie bei Kant) für die Schönheit und Erhabenheit der Natur buchstäblich blind ist.53 Sein einziges Verhältnis zu dieser bleibt die – ein-

52 Zum Zusammenhang zwischen Französischer Revolution und Schillers Ästhetik vgl. PeterAndré Alt, Schiller. Leben – Werk – Zeit, Bd. 2, München 2000, S. 111–126. 53 Auf die Unfähigkeit des Wilden zur Erfahrung des Naturerhabenen kommt Schiller ausführlich in den Zerstreuten Betrachtungen über verschiedene ästhetische Gegenstände von 1794 zu sprechen – weitgehend im Sinne Kants: „Ohne eine gewisse Stärke der Phantasie wird der große Gegenstand gar nicht ästhetisch, ohne eine gewisse Stärke der Vernunft hingegen wird der

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verleibende oder abstoßende – „Berührung“: „Umsonst läßt die Natur ihre reiche Mannigfaltigkeit an seinen Sinnen vorüber gehen; er sieht in ihrer herrlichen Fülle nichts, als seine Beute, in ihrer Macht und Größe nichts als seinen Feind.“ (ÄE, 649) Dagegen werde dem Menschen im Übergang zum ästhetischen Zustand die ihn umgebende Welt sichtbar, da seine unmittelbare Begierde nun schweige und an ihre Stelle die distanzierte Reflexion trete, in der unschwer die kantische Interesselosigkeit wiederzuentdecken ist. Der ästhetische Zustand kann sonach wörtlich verstanden werden als ein Zustand der Aisthesis, der freien Welt-Wahrnehmung: „Die Betrachtung (Reflexion) ist das erste liberale Verhältnis des Menschen zu dem Weltall, das ihn umgibt.“ (ÄE, 655) Und das Werk dieser liberalen Betrachtung ist nach Schiller nichts anderes als eben die Schönheit, die Realität und Idealität, Materie und Geist vereint, dem Menschen in der „sinnliche[n] Welt“ selbst „die Welt der Ideen“ (ÄE, 657) eröffnet, wodurch der ästhetische Zustand von sich aus in den moralischen übergeht. Wie soll nun aber der vorausliegende diskontinuierliche Übergang des Wilden vom gierigen Sklaven der Natur zum freien (interesselosen und souveränen) Betrachter ihrer Schönheit möglich sein? Schiller streckt vor dieser Frage, die Kant sich so noch gar nicht gestellt hatte, gewissermaßen die Waffen rationaler Erklärung, indem er jenen Entwicklungssprung als ein kontingentes glückliches Ereignis begreift, das der Mensch nicht aus eigener Kraft hervorzurufen vermag. So heißt es von der „ästhetische[n] Stimmung“: „Ein Geschenk der Natur muß sie sein; die Gunst der Zufälle allein kann die Fesseln des physischen Standes lösen, und den Wilden zur Schönheit führen.“ (ÄE, 660) Im Weiteren bringt Schiller diese zufällige Gunst der Natur auf einen klimatheoretischen Nenner, wenn er als Entstehungsbedingungen des ästhetischen Empfindens ein gemäßigtes Klima und entsprechende Lebensverhältnisse nennt: Erforderlich seien eine nicht zu karge, nicht zu üppige Natur sowie ein nicht zu einsames (‚troglodytisches‘), nicht zu geselliges (‚nomadisches‘) Leben. Nur „in den fröhlichen Verhältnissen, und in der gesegneten Zone“ fänden sich die optimalen Voraussetzungen für die „ästhe-

ästhetische nicht erhaben. Die Idee des Absoluten erfodert schon eine mehr als gewöhnliche Entwicklung des höhern Vernunftvermögens, einen gewissen Reichtum an Ideen und eine genaue Bekanntschaft des Menschen mit seinem edelsten Selbst. Wessen Vernunft noch gar keine Ausbildung empfangen hat, der wird von dem Großen der Sinne nie einen übersinnlichen Gebrauch zu machen wissen. […] Daher die stupide Unempfindlichkeit, mit der der Wilde im Schoß der erhabensten Natur und mitten unter den Symbolen des Unendlichen wohnen kann, ohne dadurch aus seinem tierischen Schlummer geweckt zu werden, ohne auch nur von weitem den großen Naturgeist zu ahnden, der aus dem Sinnlich-Unermeßlichen zu einer fühlenden Seele spricht.“ Friedrich Schiller, „Zerstreute Betrachtungen über verschiedene ästhetische Gegenstände“, in: Werke und Briefe, Bd. 8, S. 460–490, hier S. 485 f.

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tische Stimmung des Gemüts“ (ÄE, 660) – eine Beschreibung, die merklich an Winckelmanns Lobpreis der klimatischen und kulturellen Vorzüge des antiken Griechenlands erinnert. Allerdings geht Schiller keineswegs davon aus, dass sich nirgendwo sonst Zeichen des Übergangs vom physischen in den ästhetischen Zustand finden lassen.54 Wenngleich bisher allein in der griechischen Antike die höchste Schönheit zu Hause gewesen sei, zeigt sich für Schiller das spezifische „Phänomen“, durch welches „sich bei dem Wilden der Eintritt in die Menschheit verkündigt“, auch an zahlreichen anderen „Völkerstämmen“ (ÄE, 660 f.) aus vergangenen Zeiten oder fernen Weltgegenden.55 Ähnlich wie von Kant, der die Humanisierung des Wilden mit der Freude am ‚Putz‘ (vgl. KU, 297) einsetzen lässt, wird jenes „Phänomen“ auch von Schiller bestimmt, dabei jedoch genauer ausdifferenziert, namentlich in „die Freude am Schein, die Neigung zum Putz und zum Spiele.“ (ÄE, 661) Anders als Kant führt Schiller diese aber nicht auf protoethische Aspekte des geselligen Umgangs, sondern auf den rein ästhetischen Spieltrieb zurück. Zuerst hebt er auf die Freude am Schein ab: Zu ihr sei der Mensch von Natur aus veranlagt, und zwar durch seinen Seh- und seinen Hörsinn, die sich von den bloß berührenden bzw. erleidenden „tierischen Sinnen“ (ÄE, 662) dadurch unterscheiden, dass sich „das Gemüt“ im Sehen und Hören „schon nicht mehr an dem [weidet], was es empfängt, sondern an dem, was es tut.“ (ÄE, 661) Bei dem Wilden, der noch im tierischen Zustand verharrt, sind jene höheren Sinne zwar auch schon vorhanden, sie erfüllen aber nur eine dem Empfinden untergeordnete Funktion: „Solange der Mensch noch ein Wilder ist, genießt er bloß mit den Sinnen des Gefühls, denen die Sinne des Scheins in dieser Periode bloß dienen. […] Sobald er anfängt, mit dem Auge zu genießen und das Sehen für ihn einen selbstständigen Wert erlangt, so ist er auch schon ästhetisch frei und der Spieltrieb hat sich entfaltet.“ (ÄE, 662) Mit der schieren Lust am Sehen (und Hören) beginnt für Schiller also bereits jene ‚liberale‘ Betrachtung des Kosmos, die nicht von Begierde oder Furcht geprägt ist, sondern – zumindest ansatzweise – ‚ohne Interesse‘ die Schönheit der umgebenden Natur in Augen-Schein nimmt.56

54 Dies wäre Robert, „Ethnofiktion und Klassizismus“, S. 31, präzisierend entgegenzuhalten, wenn er den Anfang des 26. Briefes wie folgt kommentiert: „Das Schöne entsteht nur […] – wie schon Winckelmann für Griechenland betont hatte – ‚in der gesegneten Zone‘ des mediterranen Raums. […] Der Wilde bleibt dagegen topographisch auf die ‚karge Natur‘ festgelegt, ‚wo der Mensch sich troglodytisch in Höhlen birgt‘.“ 55 Vgl. hierzu Yvonne Ehrenspeck, „Schiller und die Realisierung von Freiheit und Sittlichkeit im Medium ästhetischer Bildung“, in: Feger (Hrsg.), Friedrich Schiller, S. 305–341, hier S. 310 f. 56 Dazu, wie „die Abhandlung insbesondere auf das optische Phänomen“ eingeht, vgl. Carsten Zelle, Art. „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“, in: Matthias

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Somit findet bereits auf jener kulturanthropologisch frühen Stufe des Austritts aus der Wildheit durch den Beginn der Aisthesis „eine wahre Erweiterung der Menschheit und ein entschiedener Schritt zur Kultur“ (ÄE, 661) statt. Nach der noch reichlich abstrakten Beschreibung dieses evolutionären „Sprung[s]“ (ÄE, 670), dieser „totalen Revolution“ (ÄE, 667) wendet sich Schiller im letzten Brief konkreten Ausdrucksformen einer Kunst des schönen Scheins in menschheitsgeschichtlichen Frühstadien zu, wie sie nach dem damals gängigen Denkmuster einer ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ von primitiven Exoten repräsentiert werden. Wenn Schiller hier nur Beispiele aus der Alten Geschichte (Germanen, Kaledonier) wählt, spricht dies also nicht dagegen, dass er dabei zugleich an jene zeitgenössischen „ungebildeten Völker“ außerhalb Europas denkt, von denen in den vorigen Briefen wiederholt die Rede war. Gleich zu Beginn des 27. Briefes wird der durch den 26. schon vorbereitete Auflösungsversuch der kantischen Aporie in § 41 der Kritik der Urteilskraft präsentiert: Kant wollte ja die von ihm beispielhaft angeführten Praktiken der Karaiben und Irokesen, sich mit Farben und Blumen, Muscheln und Federn zu schmücken, bloß auf ein (‚tierisches‘) Interesse am Angenehmen, Reizenden zurückführen, auf das dann erst später ein interesseloses Wohlgefallen am Schönen in Gestalt arabesker Verzierungen von Gebrauchsgegenständen folge – ein Umschlag, den er jedoch nicht erklären konnte. Schillers Lösungsversuch dieses Problems in den Ästhetischen Briefen dürfte nach dem Gesagten nicht mehr überraschen: Er versucht zwar nicht, andere Gründe als die „Gunst der Zufälle“ für die „Umwälzung“ vom physischen zum ästhetischen Zustand zu finden, doch gemäß seiner These, dass mit der bloßen Freude am Augen-Schein bereits ein freies Reflexionsverhältnis zur Welt eingenommen wird, hält er Kant (freilich ohne direkten Hinweis auf ihn) entgegen, dass Interesselosigkeit prinzipiell überall da schon vorhanden ist, wo sich die menschliche „Neigung zum Putz“ in irgendeiner Weise regt. Und das

Luserke-Jaqui (Hrsg.), Schiller-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2005, S. 409–445, hier S. 434. Im Hinblick auf Schillers Sprachgebrauch an dieser Stelle – ‚Erhebung‘ zum Sehen, ‚Freiheit‘ im Sehen – betont Zelle die auch ansonsten in seiner Interpretation der Ästhetischen Briefe hervorgehobene implizite Bedeutung des Erhabenen (bzw. der ‚energischen Schönheit‘, wie es im 16. Brief heißt): „Mit der Keimform des Spiels [dem selbstzweckhaften Sehen, S.K.] wird zwar die transzendentale Bestimmung des Schönen thematisiert, das Erhabene bzw. die Erhebung jedoch zu seiner Voraussetzung gemacht.“ Ebd., S. 435. Dies läuft auf Zelles Grundthese hinaus, der zufolge die Briefe insofern ‚einseitig‘ bleiben, als das Programm einer ästhetischen Erziehung neben dem Schönen zwar auch das Erhabene voraussetze, aber nur unzureichend thematisiere: „Eine solche Anthropologie [der sinnlich-rationalen Doppelnatur des Menschen, S.K.] impliziert zwingend eine doppelte Ästhetik, die das Schöne des Spiels und das Erhabene […] umfasst, d.h. eine Ästhetik, die die ‚Kallistik‘ zwingend durch eine Erhabenheitslehre ergänzt.“ Ebd., S. 422.

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heißt: Überall dort, wo dies der Fall ist, handelt es sich nicht mehr um Wildheit im Sinne der „bloße[n] Idee“ eines vormenschlichen „Zustand[s] roher Natur“ – der sich bezeichnenderweise auch „bei keinem Volk und Zeitalter nachweisen“ lässt (ÄE, 650) –, sondern um den Beginn humaner Kultur, den Beginn des ästhetischen Zustands. Schiller äußert sich in dieser Hinsicht zwar vorsichtig, aber unmissverständlich, indem er von „Spuren“ eines interesselosen Wohlgefallens spricht: Wo wir also Spuren einer uninteressierten freien Schätzung des reinen Scheins entdecken, da können wir auf eine solche Umwälzung seiner [des Wilden, S.K.] Natur und den eigentlichen Anfang der Menschheit in ihm schließen. Spuren finden sich aber wirklich schon in den ersten rohen Versuchen, die er zur Verschönerung seines Daseins macht (ÄE, 668).

Schiller adaptiert also grundsätzlich Kants ästhetische Theorie, der zufolge schön ist, was ohne Interesse gefällt, modifiziert sie aber dahingehend, dass er ein solches interesseloses Wohlgefallen nur dem als „bloße Idee“ charakterisierten Wilden vor der Menschwerdung abspricht. Alle realen Primitiven, die ihr Dasein auf irgendeine „rohe“ Weise zu verschönern suchen, sind für Schiller schon über den physischen Zustand hinaus und haben die „Umwälzung“ vom Wilden zum Menschen bereits hinter sich.57 Sie sind generell zur interesselosen Lust am Schein fähig, d.h. mit ästhetischer Freiheit gegenüber dem unmittelbaren physischen Bedürfnis begabt, wenn auch nur in niederen Graden.58 Mit seiner Unterscheidung verschiedener Grade des ästhetischen Spieltriebs knüpft Schiller zwar in gewisser Weise an Kants Dichotomie zwischen unreinen und reinen Geschmacksurteilen an, korrigiert diese jedoch zugleich in einem entscheidenden Punkt. Während nämlich Kants Ausführungen darauf hinauslaufen, das unreine ästhetische Urteil als eine Verwechslung des Angenehmen mit dem Schönen zu bestimmen, die höchstens zufällig das Schöne treffen mag, zielt

57 Vgl. auch die – in erstaunlichem Ausmaß mit Schillers Theorie übereinstimmende – ästhetisch-anthropologische Erklärung, die laut Claude Lévi-Strauss, Traurige Tropen, übersetzt von Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M. 1978, S. 185, die brasilianischen Caduveo-Indianer selbst (!) bezüglich ihrer Gesichtsmalereien liefern: „Die Gesichtsmalereien verleihen […] dem Individuum seine Menschenwürde; sie vollziehen den Übergang von der Natur zur Kultur, vom ‚stumpfsinnigen‘ Tier zum zivilisierten Menschen.“ 58 Einen „Schimmer von [ästhetischer, S.K.] Freiheit“ erblickt Schiller sogar schon im Pflanzenund Tierreich, etwa in der verschwenderischen Produktion überzähliger Keime, Wurzeln und Zweige oder im zwecklosen Brüllen des Löwen, im Schwärmen der Insekten oder im Gesang der Vögel: „So gibt uns die Natur schon in ihrem materiellen Reich ein Vorspiel des Unbegrenzten, und hebt hier schon zum Teil die Fesseln auf, deren sie sich im Reich der Form [im Menschen, S.K.] ganz und gar entledigt.“ Das „physische Spiel“ wertet Schiller also gewissermaßen als ‚Vorspiel‘ des ästhetischen Spiels (ÄE, 669).

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Schiller auf eine tatsächliche Vermischung von physischem und ästhetischem Trieb ab,59 die auf den niedrigsten Stufen primitiver Kunst durchaus krude anmuten kann, „da der sinnliche [Trieb, S.K.] mit seiner eigensinnigen Laune und seiner wilden Begierde unaufhörlich [bei dem Spiel des ästhetischen Triebs, S.K.] dazwischen tritt, die hohe Notwendigkeit des Ideals mit der Notdurft des Individuums verwechselt, und […] durch die unreine Spur eines vorübergehenden Verlangens befleckt.“ (ÄE, 671) Von hier aus beschreibt Schiller die erste Stufe seines (wiederum) triadisch strukturierten Phasenmodells des ästhetischen Zustands, das er wie Kant mit einem „rohen Geschmack“ beginnen lässt, der aber eben schon „Spuren“ von Interesselosigkeit aufweist. Viel stärker als Kant hebt Schiller dabei auf die Produktivkraft dieses rohen Geschmacks ab: Aufgrund der skizzierten Mischung von ästhetischem und sinnlichem Trieb „sehen wir den rohen Geschmack das Neue und Bizarre, das Heftige und Wilde zuerst ergreifen […]. Er bildet groteske Gestalten, liebt rasche und abrupte Übergänge, üppige Formen, grelle Kontraste, schreiende Lichter, einen pathetischen Gesang.“ (ÄE, 671) All dies liebe der primitive Mensch zwar, weil es „aufregend“ ist (man denke an Kants „Reiz“-Begriff), aber als aufregender Impuls zu einem selbsttätigen Bilden; „diese Gegenstände […] gefallen ihm nicht, weil sie einem Bedürfnis begegnen, sondern weil sie einem Gesetz Genüge leisten, welches, obgleich noch leise, in seinem Busen spricht.“ (ÄE, 671) Es handelt sich mithin bereits um veritable ‚ästhetische Gegenstände‘. Im Vergleich mit Kants Drei-Stufen-Modell der ästhetischen Zivilisierung fällt unter anderem auch auf, dass Schiller die Reihenfolge der beiden ersten Stufen in gewisser Weise vertauscht. Bildeten bei Kant Körperbemalungen und Körperschmuck die erste – noch auf bloßen ‚Sinnenreizen‘ beruhende – Stufe, während erst auf der zweiten Stufe ein interesseloses Wohlgefallen an selbst gestalteten schönen Formen vorherrschen sollte, geht bei Schiller die Bildung von (grotesken) Gestalten umgekehrt der Verzierung von Gebrauchsgegenständen und des eigenen Körpers voran. Denn erst wenn der Mensch den zweiten Grad des ästhetischen Zustands erreicht, sei „er nicht mehr damit zufrieden, daß ihm die Dinge gefallen: er will selbst gefallen, anfangs nur durch das, was sein ist, endlich durch das, was er ist. […] Er schmückt sich.“ (ÄE, 671 f.) Jetzt verziert er seinen eigenen Körper, etwa mit Tätowierungen, Federn usw. Weshalb Schiller in den Ästhetischen Briefen dem Körperschmuck einen höheren ästhetischen Rang als den bizarren Kunstobjekten der ersten Stufe bei59 Zu Schillers unkantischer Einbeziehung der Physiologie in die Ästhetik vgl. Caroline Welsh, „Von der Ästhetik der Rührung zur Autonomieästhetik. Physiologie und Ästhetik bei Kant und Schiller“, in: Marie Guthmüller/Wolfgang Klein (Hrsg.), Ästhetik von unten. Empirie und ästhetisches Wissen, Tübingen/Basel 2006, S. 113–139.

„Was ist der Mensch, ehe die Schönheit die freie Lust ihm entlockt?“

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misst, wird deutlich, wenn man die dritte und höchste Stufe des ästhetischen Zustands betrachtet, der auf ihr wie von selbst in den moralischen übergeht. Die beschriebene Entwicklung verläuft von außen nach innen; zuerst werden die äußeren Dinge verschönert, dann das Äußere des Menschen selbst und schließlich auch sein Inneres. Die Schönheit des inneren Menschen ist aber die ‚Schönheit seiner Seele‘:60 Die Moralität bildet das Ziel des ästhetischen Prozesses. Schiller fasst den Verlauf aller drei Entwicklungsstadien wie folgt zusammen: „So wie sich ihm [dem Menschen, S.K.] von außen her, in seiner Wohnung, seinem Hausgeräte, seiner Bekleidung allmählich die Form nähert, so fängt sie endlich an, von ihm selbst Besitz zu nehmen, und anfangs bloß den äußeren, zuletzt auch den inneren Menschen zu verwandeln.“ (ÄE, 672) Mit poetischem Pathos (und in Anspielung auf den humanisierten ‚Barbaren‘ Thoas in Goethes Iphigenie) werden die Folgen dieser Verwandlung des inneren Menschen geschildert, die sich mit dem Einmünden des ästhetischen Zustands in den moralischen Zustand vollzieht. Aus dem „Wilden“ ist – zumindest gemäß der hier entfalteten rückwärtsgewandten Utopie – schließlich ein ästhetisch-moralisch „gebildeter Mensch“ (ÄE, 567) geworden: „Jetzt wird die Schwäche heilig, und die nicht gebändigte Stärke entehrt; das Unrecht der Natur wird durch die Großmut ritterlicher Sitten verbessert. Den keine Gewalt erschrecken darf, entwaffnet die holde Röte der Scham, und Tränen ersticken eine Rache, die kein Blut löschen konnte.“ (ÄE, 673) Die (weiteren) Unterschiede zu Kants kulturanthropologischem Entwicklungsschema sind eklatant. Zwar zeichnet auch Schiller insgesamt einen „Übergang vom Angenehmen zum Guten“ (KU, 298) durch das Schöne nach. Doch zum einen liegt für ihn die Unfähigkeit zum interesselosen Wohlgefallen am Schönen (die pathologische Fixierung auf das Angenehme) gänzlich außerhalb des skizzierten Stufenmodells, nämlich in der Sphäre der Wildheit, die hier nur die Idee eines ‚vormenschlichen‘ Menschseins, den hypothetischen Null- und Ausgangspunkt der menschlichen Zivilisierung darstellt. Zum anderen fällt auf, dass Schiller das Humanisierungspotential des Ästhetischen im Gegensatz zu Kant keineswegs als „zweideutig“ bewertet: Während für Kant die ästhetische Garnierung der Lebenswelt allzu oft nur einer „verfeinerten Neigung“ (KU, 297) dient, ohne die Moralität zu befördern, differenziert Schiller gar nicht zwischen „angenehmer Kunst“, die auf bloßen Genuss abzielt, und „schöner Kunst“ (KU, 305), die das Schöne als „Symbol des Sittlich-Guten“ (KU, 353) gestaltet. Stattdessen geht er von einem kontinuierlichen Übergang von der ästhetischen zur moralischen

60 Zu Schillers Konzept der schönen Seele vgl. die Studie von Marie Wokalek, Die schöne Seele als Denkfigur. Zur Semantik von Gewissen und Geschmack bei Rousseau, Wieland, Schiller, Goethe, Göttingen 2011, S. 208–277.

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Freiheit aus, der sich im Zivilisationsprozess mit innerer Konsequenz realisiert – wenn er nicht durch Rückfälle in die Verwilderung oder durch dialektische Umschläge in die aufgeklärte Barbarei unterbrochen wird. Diese Einschränkung macht Schiller jedoch, ohne das Ästhetische darin involviert zu sehen. Verwilderung und Barbarei sind für ihn vielmehr gerade durch eine ‚Verachtung‘ von Kunst und Schönheit gekennzeichnet, deren ‚Achtung‘ umgekehrt nicht nur zu einer symbolischen Repräsentation des Guten, sondern realiter zur höchsten Humanität führt. Angesichts dieses Übergangs ‚durch Schönheit zur Freiheit‘ muss man den oft geäußerten Vorwurf, wonach an die Stelle einer Erziehung durch die Kunst im Verlauf von Schillers Abhandlung eine Erziehung zur Kunst tritt,61 ein Stück weit relativieren. Moralische bzw. politische Freiheit folgt in den Briefen stets aus ästhetischer Freiheit. Allerdings kann man Schiller zu Recht vorhalten, dass er sein anfängliches Ziel, zu zeigen, wie aus einseitig aufgeklärten „Barbaren“ durch ästhetische Erziehung allseitig „gebildete Menschen“ werden können, bei denen die sinnliche Natur mit der vernünftigen harmoniert, schließlich nicht erreicht. Die Ästhetischen Briefe brechen ab und bleiben insofern ein ‚einarmiger Torso‘,62 als sie nur die Hälfte des ursprünglich geplanten „doppelte[n] Kursus“63 absolvieren: Dargestellt wird lediglich die ästhetische Erziehung des Wilden durch die „schmelzende“ Schönheit, nicht diejenige des Barbaren durch die „energische Schönheit“ (ÄE, 616), hinter der sich das Erhabene verbirgt. Vielleicht hat der Fragmentcharakter der Schrift auch damit zu tun, dass sich die zuletzt genannte ästhetische Kategorie in Bezug auf Schillers Konzept des ganzen Menschen eher als Störfaktor erweist, insofern der Dualismus von Sinnlichkeit und Vernunft im Erhabenen wieder aufbricht,64 wie Schiller in seinem Aufsatz Über das Erhabene (wohl 1796) ausführt. Doch abgesehen von solchen konzeptionellen Schwierigkeiten, die ein Thema für sich bilden, sollte deutlich geworden sein, dass auf der ‚Ästhetik des Wilden‘ in den Ästhetischen Briefen ein eigenes Gewicht liegt und Schiller zumin-

61 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 61990, S. 88: „Bekanntlich wird aus einer Erziehung durch die Kunst eine Erziehung zur Kunst. An die Stelle der wahren sittlichen und politischen Freiheit, zu der die Kunst vorbereiten sollte, tritt die Bildung […] einer für die Kunst interessierten Bildungsgesellschaft.“ 62 Vgl. Elizabeth M. Wilkinson/Leonard A. Willoughby, Schillers ,Ästhetische Erziehung des Menschen‘. Eine Einführung, München 1977, S. 65. 63 Carsten Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche, Stuttgart/Weimar 1995, S. 173. 64 Vgl. ebd., S. 183: „Das Interesse am Erhabenen ist bei Schiller […] motiviert […] durch jene Zuspitzung, wo die ganzheitliche Erziehung zu Geschmack und Schönheit durch ihre Supplementierung um das Geistesgefühl des Erhabenen gefährdet wird und kollabiert.“

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dest in diesem Punkt zu einer konsequenteren Argumentation gelangt als sein Lehrer aus Königsberg. Im Ergebnis der Korrekturen, die Schiller am kantischen Modell vorgenommen hat, steht dabei in ästhetischer Hinsicht eine deutliche Aufwertung des ethnisch Primitiven, die auf einer grundlegenden Rehabilitation der Sinnlichkeit im Kontext einer Anthropologie des ganzen Menschen beruht,65 auch wenn diese schließlich selbst problematisch bleibt. Schillers kunst- und schönheitstheoretische Reflexionen bewegen sich mithin im diskursiven Feld einer Anthropologie des ganzen Menschen und der ganzen Menschheit; philosophische und völkerkundliche Anthropologie bilden gemeinsam die Basis seiner – fragmentarischen und nicht widerspruchsfreien – Ästhetik.

65 Vgl. auch Robert, „Ethnofiktion und Klassizismus“, S. 34.

Alexander Honold, Basel

Astronomische Gesetze der Anthropologie? Hölderlins Poetik geographisch-klimatischer Extreme

Die Tage aber wechseln, wenn einer dann Zusiehet denen, lieblich und bös’, ein Schmerz, Wenn einer zweigestalt ist, und es Kennet kein einziger nicht das Beste1

In der mythologischen Figur des Kentauren Chiron, jener Doppelnatur aus Mensch und Pferd, sieht Hölderlin ein Sinnbild der Zwiegestalt, wie sie Tag und Nacht auf der Erde ausbilden. So dauerhaft im Verhältnis zur Sonne die beiden Seiten „lieblich“ und „bös’“ als gleich starke einander erhalten, so fließend sind im Wechsel der Tage ihre Grenzen. Die natürliche Rhythmik der wechselnden Tage bringt das Gedicht (nicht von ungefähr in die Sammlung der sogenannten Nachtgesänge eingereiht) mit der Ambivalenz menschlichen Handelns und moralischer Wertungen in eine zunächst nur poetisch motiviert erscheinende Analogiebeziehung. Doch zeigt ein Blick zurück auf die früheren Entwürfe und Ausgestaltungen des Materials, dass Hölderlin in der astronomischen Gesetzmäßigkeit der Erdbewegung, gespiegelt am scheinbaren nächtlichen ‚Weggang‘ des lebensspendenden Sonnenlichts, einen grundlegenden und auch kulturgeschichtlich bedeutsamen Entwicklungsrahmen sämtlicher anthropologischen Konditionen sah, die es für die eigene Gegenwart zu reflektieren galt. Im mythischen Gewand einer Trauer um den Sonnenjüngling hatte Hölderlin in einer frühen Fassung (Dem Sonnengott) das Phänomen der projektiven Sonnen-Kreisbahn erstmals als ein Begründungsmodell menschlicher Entwicklung ins Spiel gebracht: Dich lieb’ ich, Erde! trauerst du doch mit mir! Und unsre Trauer wandelt, wie Kinderschmerz, In Schlummer sich, und wie die Winde Flattern und flüstern im Saitenspiele, Bis ihm des Meisters Finger den schönern Ton Entlokt, so spielen Nebel und Träum’ um uns,

1 Friedrich Hölderlin, „Chiron“, in: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, Michael Knaupp (Hrsg.), München 1992, S. 439 f., hier S. 440, V. 33–36.

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Bis der Geliebte wiederkömt und Leben und Geist sich in uns entzündet.2

Aus der Trauer des Sängers und der Erde, mit der er sich einig weiß, spricht eine fundamentale Abhängigkeit von dem einzigen für das Leben auf Erden verantwortlichen Lichtspender. An- und Abwesenheit des Sonnenlichtes bestimmen die irdischen Grundlagen des Menschen und bringen auch seine kulturellen Betätigungen (das „Saitenspiel“) hervor. Zugleich formuliert die periodische Natur des Lichtwechsels den notwendigen Übergang vom „Kinderschmerz“ (über das einmalige Ereignis der Abwendung des Lichts) zur Einsicht in die zyklische Ordnung des Geschehens zwischen Himmel und Erde. Weiß der Schmerz über einen erlittenen Verlust diesen als endgültig, so findet er in der Trauer zu einer beständigen Haltung. Im Verlust des Sonnenlichts dagegen liegt der umgekehrte Fall vor, dass Trauer sich wandeln, sich besänftigen lassen kann. Auch der Kinderschmerz ist unbedingt in seiner Trauer, aber ohne relationales Zeitbewusstsein; fast nahtlos kann er in die Geborgenheit des Schlummers übergehen. In wenigen Verszeilen bietet Hölderlin also nichts Geringeres an als eine ätiologische Lesart des menschlichen Schlaf-Wach-Rhythmus, indem er den nächtlichen Schlummer als eine umgewandelte Trauer über den Verlust des Sonnenlichts deutet. Sobald sich aber das menschliche Bewusstsein über den kindlichen Standpunkt erhebt, beginnt es zu forschen, dem vermeintlichen Ende des Sonnentages und seiner mutmaßlichen Bahn nachzugehen. Der Sonne über den Horizont hinab zu folgen, bedeutet letztlich, sich den Grund und das Gesetz dieser zyklischen Wiederkehr selbst vor Augen zu führen, ihr rund um die Erde mitreisend Gesellschaft zu leisten, sie niemals aus den Augen verlierend. Daran erinnert die Weiterbearbeitung der Ode, Der blinde Sänger. Dieser fragt: Wo bist du, Jugendliches! das immer mich Zur Stunde wekt des Morgens, wo bist du, Licht!3

Denn er sieht die Sonne nicht mehr. Wohl aber hört er sie, oder den Donnerer Jupiter, der bei Hölderlin verschiedentlich mit dem Sonnenlauf und dem dafür zuständigen Gotte Phoebus gleichgesetzt wird. Mit einem besonders feinen Sensorium für Schwingungen ausgestattet, vermag der blinde Sänger das Tages-

2 Friedrich Hölderlin, „Dem Sonnengott“, in: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, S. 194, V. 9–16. 3 Friedrich Hölderlin, „Der blinde Sänger“, in: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, S. 281–283, hier S. 281, V. 1 f.

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gestirn auch bei seinem Weg durch die Nachthälfte, um die ganze Erde herum also, zu begleiten. Er hört: Den Donnerer vom Untergang zum Orient eilen und ihm nach tönt ihr Ihm nach, ihr meine Saiten! es lebt mit ihm Mein Lied und wie die Quelle dem Strome folgt, Wohin er denkt, so muß ich fort und Folge dem Sicheren auf der Irrbahn. Wohin? wohin? ich höre dich da und dort Du Herrlicher! und rings um die Erde tönts. Wo endest du? […]4

Der Sänger vollzieht virtuell jene Kreisbahn rings um die Erde, die von der Projektion der gedachten Sonnenlinie über den Globus gezogen wird.5 Astronomisch versiert (der spätere Chiron gilt sogar als Lehrer der Sternkunde), ist der Sänger mit einem Beobachtungs-‚Instrument‘ besonderer Art ausgestattet, seinem Saitenspiel. Damit kann er die Sonne dort, wo sie nicht zu sehen ist, ‚tönen‘ hören. Dass dem Erdkreis eine akustische Resonanz zugeschrieben wird, verweist auf die Sphärenklänge der pythagoreischen Astronomie. Das entscheidende Merkmal des pythagoreischen Modells ist seine wohlgeordnete Ganzheit, die in der Grundanlage einer sphärischen Weltordnung zum Ausdruck kommt. Für Hölderlin ersetzt das Denkmodell der sphärischen Astronomie nicht nur weitgehend die pietistische Frömmigkeit seines schwäbischen Herkunftsmilieus;6 die Astronomie wird – qua Klimatheorie – auch zu einem vorrangigen Erklärungsmuster für die bipolare Natur des Menschen und die Dynamik seiner kulturellen Errungenschaften. Wie sich mittels der projektiven Sonnenbahn die Phänomene der kalten, heißen und gemäßigten Klimate auf dem Planeten Erde einschreiben, das versucht Hölderlin in der die sphärischen Zusammenhänge rekonstruierenden Argumentation seiner Ode vom Sonnengang anschaulich zu machen. Freilich, es geht

4 Ebd., S. 282, V. 31–39. 5 Bernhard Böschenstein hat an dieser Passage die Identität des Donnerers Zeus mit der Personifikation des Sonnengottes deutlich herausgestellt – gemeint ist die Figur der orbitalen Bahn, die Lichthälfte und Dunkel einander abwechseln lässt: „Obwohl nur vom Donnerer die Rede ist, lassen sich der Wagen und die in der Nacht von Westen nach Osten führende Bahn nur auf die Sonne beziehen. […] Der Donnergott Zeus nimmt den Sonnengott Apoll in sich auf und wird zu einem Himmels- oder Tagesgott, der das ‚himmlische Feuer‘ des Geistes zur Erde sendet.“ Bernhard Böschenstein, Hölderlins Rheinhymne, Zürich/Freiburg 21968, S. 42 f. 6 Zum biographischen und kulturgeschichtlichen Kontext vgl. Alexander Honold, Hölderlins Kalender. Astronomie und Revolution um 1800, Berlin 2005.

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um eine Anschaulichkeit aus der Abstraktion heraus. Das Auge des Sängers bleibt blind, es peilt die Lichtquelle nicht an; vielmehr ist es die Sonne selbst, die ihren Strahl über die Erde schickt und dadurch deren Oberfläche gleichsam beschriftet. Im Zusammenspiel von Eigendrehung und Projektion zeichnet der lotrechte Sonnenstrahl eine erdumspannende Kreislinie, die an zwei Tagen im Jahr (den Äquinoktien) mit dem Äquator zusammenfällt. Auf dieser Linie balancieren dann gleichzeitig: der Wechsel von Tag und Nacht, Sommer und Winter, Nord und Süd. Im Blinden Sänger verweist die ausgezeichnete Beobachtungsphase der „Dämmerung“,7 die beim abendlichen und morgendlichen Lichtwechsel sich einstellt, auf den jahreszeitlichen Gleichgewichtszustand der Tagundnachtgleichen, an denen Nord- und Südhemisphäre von der Sonne gleich erhellt, Tag und Nacht auf Erden überall gleich lang sind und die Sonne beim Auf- und Untergang genau die Mitte zwischen Nord und Süd trifft. „Am Mittag, wenn der eherne nahe kommt“,8 gibt der Sonnenstand Aufschluss über den durch Jahreszeit und Beobachterstandort verursachten Grad der Abweichung von der raumzeitlichen Mittellinie.9 Vom Äquator aus betrachtet verschiebt sich der Sonnenhöchststand aus dem im März und September erreichten Zenitpunkt jahreszeitlich bedingt um maximal 23½°, bis er nordwärts am 21. Juni seinen Umkehrpunkt erreicht, um am Winteranfang südwärts ebenso weit abzuweichen. Die Methode der sphärischen Astronomie besteht nun darin, diese scheinbare Sonnenbahn am Himmel als Liniennetz ‚blind‘ auf den Erdglobus zu projizieren, d.h. ohne dass sie auf der Oberfläche sichtbare Spuren hinterließe. So entstehen in der physikalischen Geographie der Großkreis des Äquators und die parallel zu ihm verlaufenden Breitengrade, die mit wachsender Entfernung vom Äquator an Umfang abnehmen. Vier geographische Breiten sind dabei durch den wandern-

7 Hölderlin, „Der blinde Sänger“, S. 282, V. 5. 8 Ebd., V. 26. 9 Auf die geosphärische Bedeutung dieses „Culminationspunktes“ hatte Pfleiderers Physik-Vorlesung aufmerksam gemacht: „Man denkt sich nehmlich eine auf der Erde senkrecht stehende Ebene, die durch das Zenith jedes Menschen geht, und heißt sie den Mittagskreis. Mittag ist nun der Durchgang der Sonne durch diese Ebene über der Erde, und Mitternacht der Durchgang derselben unter der Erde. Die Zwischenzeit zwischen zwei Durchgängen ist der eigentliche Sonnentag“. Christoph Friedrich von Pfleiderer, Physik. Naturlehre nach Klügel, Nachschrift einer Tübinger Vorlesung von 1804, Paul Ziche (Hrsg.), Stuttgart 1994, S. 77. Dieser Kulminationspunkt ist nicht immer gleich: „Denn mit der Umdrehung der Erde um ihre Axe verbindet sich zugleich ihre Bewegung um die Sonne, daher entsteht ein scheinbares Vorrüken dieser von Abend nach Morgen, wodurch der Sonnentag […] verlängert wird, und da die Bahn der Umdrehung der Erde um die Sonne eine Ellypse ist, so ist jene Verlängerung bald größer bald kleiner, je nachdem die Erde bald der Sonne näher, bald entfernter ist, am grösten zur Zeit des solstitii hibernalis, am kleinsten zur Zeit des solstitii aestivi.“ Ebd.

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den Sonnenstand besonders ausgezeichnet: der Äquator selbst, dann der Breitengrad, bis zu dem maximal der Zenitstand der Sonne reicht (die beiden Wendekreise auf 23 ½° nördlicher und südlicher Breite), weiterhin der Breitengrad, ab dem in den Sommer- respektive Winterphasen der Wechsel von Tag und Nacht für mehr als 24 Stunden suspendiert ist (nördlicher und südlicher Polarkreis auf 66½°), und schließlich die beiden Pole, an denen zu den Zenitständen des Äquators die Sonne jeweils für 24 Stunden genau auf der Horizontlinie wandert. Beobachteter Sonnenstand, geographische Breite und jahreszeitliche Position korrespondieren einander in schöner Gesetzmäßigkeit,10 wodurch sich die sphärische Harmonie als Ordnungskonstrukt erweist, das sinnliche Evidenz mit symmetriebildender Eleganz verbindet. Die laterale Verschiebung von Breitengrad zu Breitengrad ist mit dramatischen Veränderungen der geophysischen Bedingungen verbunden. Jeder Breitengrad hat eine natürliche Referenz, die sich durch Sonnenstand, Temperaturschwankungen, Witterung, Vegetation usw. unzweideutig manifestiert und von anderen Breitengraden klar unterscheiden lässt. Das Ensemble der stabilen, d.h. den Jahreszyklus übergreifenden meteorologischen Bedingungen wird seit Mitte des 18. Jahrhunderts mit dem Begriff ‚Klima‘ zusammengefasst, der etymologisch wie sachlich aus der ‚Neigung‘ der Sonne abgeleitet ist, ihrer für den jeweiligen Breitengrad charakteristischen Steigungskurve und Mittagshöhe.11 Auch wenn für die erweiterte Klimageographie Alexander von Humboldts der Einfallswinkel der Sonnenstrahlen nicht mehr die allein entscheidende Determinante meteorologischer Varietäten darstellt, so ist sie doch der einzige Faktor, der unter Absehung von akzidentiellen terrestrischen Beschaffenheiten ausschließlich mit den Mitteln der sphärischen Astronomie und ihrem auf die Erde geworfenen Gradnetz konstruierbar ist.

10 Die Mittagshöhe der Sonne variiert entsprechend der geographischen Breite des Beobachterorts (φ) und der Jahreszeit. Auf der Nordhalbkugel beträgt die Höhe des Kulminationspunktes der Sonne zu den Äquinoktien 90° – φ, am 21.06. sogar 90° – φ + 23,5°, am 22.12. dagegen nur 90° – φ – 23,5°. 11 Vgl. Wilhelm Pape, Art. „klima“, in: Ders., Griechisch-Deutsches Handwörterbuch, Bd. 1, Braunschweig 21864, S. 1335 f.; das davon abgeleitete, ebenfalls auf den Sonnenbogen bezogene klimakedón bedeutet ‚stufenweis, nach Art einer Treppe‘. Ebd., S. 1336. „The original meaning of the term κλιμα […] is geometric in character: ‚inclination‘. In astronomical context it means the inclination of the earth’s axis with respect to the plane of the local horizon, directly observable by the […] ‚elevation of the pole‘. Obviously this concept presupposes the discovery of the sphericity of the earth.“ Otto Neugebauer, A History of Ancient Mathematical Astronomy, Bd. 2, Berlin/ Heidelberg/New York 1975, S. 725. Vgl. auch Gonthier-Louis Fink, „Klima- und Kulturtheorien der Aufklärung“, in: Georg-Forster-Studien, 2/1996, S. 25–44.

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Im Unterschied zu den Längengraden sind die Breitenkreise nicht an den Polen ‚verankert‘, haben weder Anfang noch Ende. Breitengrade führen rings um die Erde durch ein prinzipiell gleichförmiges, von natürlichen Gegebenheiten abstrahiertes Raumgebilde. Demzufolge unterhält ihre Erstreckungsdimension in ostwestlicher Richtung eine nur relative und rein konventionelle Skalierung, auf der Festlegungen primär durch den fortschreitenden Sonnenstand zu treffen sind. Doch seien „Ost und West“, insistiert Herders astronomischer Abriss in den Ideen, „so sehr einander entgegen, als Nord und Süd. Es ist eingeschränkt, diese Abwechselung bloß der Breite nach berechnen zu wollen, etwa weil die Länge weniger ins Auge fällt.“12 Um die geographische Länge hinreichend exakt bestimmen zu können, bedurfte es der fortgeschrittenen Uhrentechnik des 18. Jahrhunderts.13 Denn die skalierende Unterteilung des Äquators (und seiner Parallelen) in einzelne Segmente orientiert sich am astronomischen Volltag und seinem 24-StundenKreis, wobei das Vorrücken auf der Erdoberfläche um ein Winkelsegment von 15° dem scheinbaren Weiterrücken der Sonne um eine Stunde entspricht; vice versa war demnach an der Zeitverschiebung, mit der vorausberechnete astronomische Ereignisse eintraten, die Veränderung der geographischen Länge abzulesen. Mit den Längengraden, die den Äquator kreuzen und segmentieren, verhält es sich demnach genau umgekehrt zur Funktionsweise der Breitenkreise. Sie haben längs ihrer Erstreckungsdimension eine deskriptive Funktion, denn sie führen durch geophysisch distinkte Breitengrade, sind aber lateral, in ihrem Verhältnis zu anderen Längengraden, nur durch arbiträre Konventionen wie den Nullmeridian von Greenwich zu definieren. Der Meridian ist der vom Südhorizont eines Beobachters über den Zenit, den Himmelsnordpol, den Nordpunkt des Horizonts und schließlich den Nadir zurück zum Südpunkt gezogene Großkreis, der, anders als der Äquator, keine geophysische Referenz hat. Die im Blinden Sänger angedeutete virtuelle Fahrt längs eines Breitenkreises verdeutlicht die prinzipielle Gleichförmigkeit aller Zeitzonen (im Rahmen einer gegebenen breitenspezifischen Lage), insofern der Sonnenstrahl „da und dort“ präsent ist und sie alle im Laufe eines 24-Stunden-Tages auf dieselbe Weise überstreicht. Dagegen würde eine Ortsveränderung längs des Längengrads (und hier gilt: irgendeines Längengrads) höchst dramatische Differenzen erweisen, die vom 24-stündigen Dauersonnenschein bis zur permanenten Finsternis, von hitzeflirrenden Wüstengürteln bis zu den kältestarren Polarregionen reichen. Genau dies hat

12 Johann Gottfried Herder, „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“, in: Werke in zehn Bänden, Bd. 6, Martin Bollacher (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1989, S. 33. 13 Es war die Ganggenauigkeit der Uhren John Harrisons, welche die exakte Zeit- und damit Ortsbestimmung auf See ermöglichte und so das Problem der Ermittlung der Längengrade lösen half. Vgl. Dava Sobel, Längengrad, aus dem Amerikanischen von Mathias Fienbork, Berlin 1996.

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Hölderlin in seiner Elegie Der Wanderer anhand eines Gedankenexperiments dargelegt, das den antiken Topos der drei klimatischen Gürtel der Erde aufnimmt und in einer Serie von virtuellen Wanderungen durchmisst.14 Verfolgten die Dem Sonnengott und Dem Sonnenuntergang gewidmeten Oden, und noch elaborierter dann Der blinde Sänger, die durch den lotrechten Sonnenstrahl rings um die Erde gezogene Linie des Breitenkreises, so hat sich Hölderlins Elegie der dazu komplementären Nord-Süd-Achse der Längengrade verschrieben. Der Wanderer Einsam stand ich und sah in die Afrikanischen dürren Ebnen hinaus; vom Olymp reegnete Feuer herab; Reißendes! milder kaum, wie damals, da das Gebirg hier Spaltend mit Stralen der Gott Höhen und Tiefen gebaut. Aber auf denen springt kein frischaufgrünender Wald nicht In die tönende Luft üppig und herrlich empor. […] Um der Haine Gesang, ach! um die Gärten des Vaters Bat ich vom wandernden Vogel der Heimath gemahnt. Aber du sprachst zu mir: auch hier sind Götter und walten, Groß ist ihr Maas, doch es mißt gern mit der Spanne der Mensch. Und es trieb die Rede mich an, noch Andres zu suchen. Fern zum nördlichen Pol kam ich in Schiffen herauf. Still in der Hülse von Schnee schlief da das gefesselte Leben, Und der eiserne Schlaf harrte seit Jahren des Tags. Denn zu lang nicht schlang um die Erde den Arm der Olymp hier, Wie Pygmalions Arm um die Geliebte sich schlang. Hier bewegt’ er ihr nicht mit dem Sonnenblike den Busen, und in Reegen und Thau sprach er nicht freundlich zu ihr15

Der Wanderer ist Hölderlins erste Elegie, 1796 oder spätestens im Frühjahr 179716 in enger Verbindung zu dem hexametrischen Gedicht An den Aether entstanden,17

14 Durchaus ablehnend äußerte sich dagegen Herder über die kulturgeschichtliche Gepflogenheit, „nach einem alten ptolemäischen Fachwerk von Klimaten auch die Menschengeschichte zu teilen“. Herder, „Ideen“, S. 33. 15 Friedrich Hölderlin, „Der Wanderer [zweite Fassung]“, in: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, S. 305–308, hier S. 305 f., V. 1–6 u. V. 15–26. 16 Knaupp datiert den Beginn des Entwurfs auf „Ende 1796“. Michael Knaupp, „Kommentar zu Band I“, in: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 3, Michael Knaupp (Hrsg.), München 1993, S. 33–366, hier S. 94. 17 Die erste Fassung erschien, nachdem Schiller das Urteil Goethes eingeholt hatte, 1797 in den Horen (Bd. 10, 6. Stück); diese Druckfassung trug Hölderlin, vermutlich im Sommer 1800, in das Stuttgarter Foliobuch ein. Die auf diesem Schriftträger entstandene zweite Fassung geht nach

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mit dem sie die episch ausgreifende Evokation weiter, erdumspannender Räume gemein hat; später tritt noch der Hexameterhymnus Der Archipelagus in diese Reihe. ‚Episch‘ ist die dem Hexameter schon seit der Antike gattungskonventionell inhärente Tendenz zur Darstellung ausgedehnter Handlungsverläufe, ansonsten ein in der Lyrik eher als Fremdkörper wirkendes Sujet. Das menschliche Treiben in seiner kollektiven Gestalt ist es, als Reisen, Handelsverkehr und Abenteuerlust, welches sich über die geschilderten Erdregionen ausbreitet und sie, letztlich erfolglos, in ihrer noch ‚herrenlosen‘ Weite zu erobern, auszufüllen und auch auszubeuten versucht. Als programmatische Manifestation dieses ästhetischen Konzepts kann folgende Passage aus An den Aether angeführt werden: Thöricht treiben wir uns umher; wie die irrende Rebe, Wenn ihr der Stab gebricht, woran zum Himmel sie aufwächst, Breiten wir über den Boden uns aus, und suchen und wandern Durch die Zonen der Erd’, o Vater Aether! vergebens18

Die Horizontale ist eine Dimension eitlen, vergeblichen Strebens. Während das himmelwärts gerichtete Spalier an einem stationären Punkte bleibt und der Weinstock dort Halt findet, aufwächst und gedeiht, geht das seitliche Ausbrechen der Rebe, gerade weil ihrem Wachstum dann ein unerschöpflicher Spielraum sich öffnet, ins Leere. Das ‚Irren‘ ist hier im kritischen Sinne gebraucht; es bezeichnet ein Wandern, das allein auf Abwechslung ausgerichtet ist und permanente Progression bzw. Substitution erheischt.19 Hölderlins Elegie, das selbstreflexive Muster dieses Genres, nennt die ziel- und haltlose horizontale Progression als ihr textkonstituierendes Prinzip: Täglich geh’ ich heraus und such’ ein Anderes immer, Habe längst sie befragt, alle die Pfade des Lands20

V. 82 in das Konzept einer erweiterten Schlusspartie über, von der Hölderlin sodann eine neue Entwurfsabschrift anfertigte. Vgl. Knaupp, „Kommentar zu Band I“, S. 173. 18 Friedrich Hölderlin, „An den Aether“, in: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, S. 176–178, hier S. 177, V. 37–40. 19 Eine metonymische Progression hat Eckhard Lobsien als Genre-Gesetz des Pittoresken und des Voyage pittoresque beschrieben. Die Besonderheit pittoresker Gegenstände respektive Arrangements sieht Lobsien darin, dass „sie im puren Nebeneinander des Unähnlichen bereits Kontiguitätsverhältnisse vorstellen: etwa einen verfallenen Turm in einer bukolischen Landschaft“. Eckhard Lobsien, „Landschaft als Zeichen. Zur Semiotik des Schönen, Erhabenen und Pittoresken“, in: Manfred Smuda (Hrsg.), Landschaft, Frankfurt a.M. 1986, S. 159–177, hier S. 168. 20 Friedrich Hölderlin, „Elegie“, in: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, S. 287–290, hier S. 287, V. 1 f.

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Das bloße Weitergehen über Land, und sei es rings um die Erdoberfläche, wird zwar ein ums andere Mal enttäuscht, seine Hoffnung auf ein „Anderes“ aber ist schwerlich auszuräumen, solange irgendwo ‚draußen‘ noch unbetretene, weiße Flächen sind. Nun sind allerdings die beiden Exkursionen des Wanderers nicht von leerer Neugier, sondern von einem deutlichen klimageographischen Interesse angetrieben. Sie schweifen nicht ziellos über die Erde hin und folgen auch nicht der scheinbaren Ost-West-Bewegung der Himmelskörper. Vorbild des Wanderers sind vielmehr die „Störche“21 und andere Zugvögel, deren jahreszeitlich bedingte Migrationen zwischen Brutplätzen und Winterquartieren sich, wie der zeitgenössischen Ornithologie bekannt war,22 hauptsächlich durch zwei geophysikalische Phänomene leiten lassen. Zum einen sind es die periodischen Veränderungen der Tageslichtdauer, die den Wandersinn der Zugvögel aktivieren, zum anderen richtet sich ihr Orientierungssystem an der Polarisation des terrestrischen Magnetfeldes aus; beide Faktoren sind, wie die Wanderzüge der Vögel selbst, in NordSüd-Richtung ‚gepolt‘. Längs dieser Achse verläuft auch des Wanderers Bewegung durch die nach Breitengraden und Klimaten abgestuften „Zonen der Erd’“, und zwar bis zu den ariden und arktischen Extremen. Anders als in vergleichbaren Wanderer-Gedichten der Zeit23 spielt in Hölderlins Elegie die Fortbewegungsart selbst nicht die geringste Rolle. Entscheidend sind allein ihre Ziele, die in bemerkenswert ungastlichen Regionen liegen und einander trotz ihrer gegensätzlichen physikalischen Bedingungen zugleich auf eigentümliche Weise korrespondieren. Die Wege des Wanderers führen zur Wüste in beiderlei Gestalt, in die Breitengrade der afrikanischen Heißwüsten und in jene der arktischen Eiswüsten.

21 Hölderlin, „Der Wanderer [zweite Fassung]“, S. 305, V. 12. 22 Zum Stande des ornithologischen Wissens (Buffon, Pernau, Naumann) im Hinblick auf die jahreszeitlichen Wanderungen der Zugvögel vgl. Helmut Mottel, „Apoll envers terre“. Hölderlins mythopoetische Weltentwürfe, Würzburg 1998, S. 170–172. Mottel weist nach, „daß dem 18. Jahrhundert eine Theorie des Vogelflugs bekannt war, die aus dem Instinkt der Tiere eine Speicherfähigkeit ihres Gehirns bezüglich der topographischen Gegebenheiten ableitet“. Ebd., S. 171. 23 Eine Ausnahme bilden die Evokationen rascher landschaftlicher Szenenwechsel in manchen Gedichten Matthissons, auf deren Abstraktheit Schiller in seiner Besprechung dieser Gedichte tadelnd eingeht; vgl. Friedrich Schiller, „Ueber Matthissons Gedichte“, in: Schillers Werke, Nationalausgabe, Bd. 22, Herbert Meyer (Hrsg.), Weimar 1958, S. 265–283, hier S. 279. Auf Matthisson als ein Vorbild für Hölderlins frühe, ideale Landschaftsentwürfe weist David J. Constantine (The Significance of Locality in the Poetry of Friedrich Hölderlin, London 1979, S. 13–18) hin, auf die ikonographischen Traditionslinien ferner Ulrich Port, der „in der Geschichte der Ideallandschaft […] die semantischen Potentiale des Elegischen, Idyllischen und Erhabenen“ ausgeformt sieht. Ulrich Port, „Die Schönheit der Natur erbeuten“. Problemgeschichtliche Untersuchungen zum ästhetischen Modell von Hölderlins ‚Hyperion‘, Würzburg 1996, S. 298.

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Ein „frischaufgrünender Wald“, wie ihn der Wanderer aus der Heimat kennt, wird in beiden Zonen vergeblich (aber warum überhaupt?) gesucht. Gemeinsam ist ihnen das Kriterium der Wüste schlechthin: die Vegetationsarmut. Reißendes Feuer und eiserner Schlaf sind konträre Abweichungen von einem im Begriff der ‚Temperatur‘ implizierten gemäßigten Mittelwert. Mit den lebensfeindlichen Elementargewalten Feuer und Eis sind Grenzwerte erreicht, die dem Wanderer zweimal die Umkehr nahelegen. Das große göttliche „Maas“, das in solchen Extremwerten sich bekundet, muss „der Mensch“ (das hiermit generalisierte Subjekt des Gedichts) mit kleinerer Spanne messen, in seinen anthropomorphen Maßstab übersetzen; daher unternimmt er diese Wanderung, deren Ergebnis allerdings vorab schon feststeht. Beide Exkursionen sind offenkundig weder zu erbaulichen Reise- noch zu kolonialen Siedlungszwecken unternommen worden, sondern um einer Feier der Mitte willen, die in der dritten Strophe der Elegie erreicht wird. Sie ist zugleich als familiale Synthese angelegt, als Rückkehr zu den Eltern, nachdem der Wanderer im Wüstengebirge der ersten Strophe „die Gärten des Vaters“ vermisst und in der zweiten die zu Eis erstarrte „Mutter Erde“ als „Wittwe“24 betrauert hatte. Also sagt’ ich und jezt kehr’ ich an den Rhein, in die Heimath, Zärtlich, wie vormals, weh’n Lüfte der Jugend mich an; Und das strebende Herz besänftigen mir die vertrauten Offnen Bäume, die einst mich in den Armen gewiegt, Und das heilige Grün, der Zeuge des seeligen, tiefen Lebens der Welt, es erfrischt, wandelt zum Jüngling mich um. Alt bin ich geworden indeß, mich blaichte der Eispol, Und im Feuer des Süds fielen die Loken mir aus.25

Wiegende Arme, offene Bäume, heiliges Grün: der deutsche Wald wird hier mit lieblichsten Konnotationen von ‚Kindheit‘ ausgestattet. Seine entscheidende Spannung aber gewinnt dieses Wiedersehen mit der Heimat aus dem Gegensatz zwischen dem trügerischen Gefühl wiedererlangter Jugend und den unverkennbaren Altersspuren, mit welchen sich die erfahrenen klimatischen Extreme in die Physiognomie des Wanderers eingegraben haben. Die zweite, hier nicht ausführlich zu erörternde Strophentrias wird denn auch die Vision wiedererlangter Jugend als Chimäre erweisen, denn Vater und Mutter, die den Wandernden lange „umsonst […] gesucht“26 hatten, sind nun selbst „in heilige Fremde dahin […],

24 Hölderlin, „Der Wanderer [zweite Fassung]“, S. 306, V. 27 f. 25 Ebd., V. 37–44. 26 Ebd., S. 307, V. 82.

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und nie kehret ihr Leben zurük“.27 Die dreieinige Familie, sie muss als biographische Verwurzelung zerstört und dem Fortstreben der Jugend geopfert werden, um schließlich auf allegorischer Ebene neu erstehen zu können.28 Als Trinität der Elemente angerufen werden Äther, Erde und Licht: „[I]hr einigen drei, die walten und lieben, / Ewige Götter! mit euch brechen die Bande mir nie.“29 Diese ausformulierte Sakralisierung der omnipräsenten Naturgewalten tritt erst in der zweiten Fassung der Elegie auf, ebenso die strengere formale Durchgestaltung der Komposition. Die Binnengliederung ist paradigmatisch für die nachfolgenden Elegien, aber auch für die Zahlenkombinatorik des poetischen Spätwerks insgesamt wegweisend.30 Die einzelnen Strophen bestehen aus je drei mal drei Distichen, die Gesamtstruktur ergibt sich aus zwei Strophen-Triaden; diese auffällige Kombination von Dyade und Triade verleiht dem die Lebensgeschichte des Wanderers überwölbenden Gegensatz von familialer Ordnung und Trinität der Elementargötter zusätzliches Gewicht. Allerdings scheint die ‚heilige Familie der Elemente‘ eine bloße Coda zur Klimageographie des ersten Teils zu sein, in der Überarbeitung dem Gedicht eher willkürlich aufgesetzt und bereits der zwischen 1798 und 1800 ausgearbeiteten Denk- und Werkschicht des Empedokles-Komplexes zugehörig. Insofern liegt es näher, in den Zahlenverhältnissen der Form statt einer Apotheose der Trinität vielmehr einen unaufgelösten, im Strophenmaß schwebend untergebrachten Konflikt zwischen binärem und ternärem Ordnungsschema zu sehen. Zwei Extreme fordern und entwerfen ex negativo31 die Mitte als ihr Drittes: Darin besteht die Struktur der ersten Strophentrias auch in der zweiten Fassung. Die Relation zwischen binärem Widerspruch und ternärer Synthese ist demnach nicht ein-

27 Ebd., S. 308, V. 89 f. 28 Diese Lesart favorisiert Maria Behre: Obwohl sich die Verfehlung „des Abenteuer suchenden Sohnes und der ihn suchenden Eltern […] in der Zeit nicht rückgängig machen“ lasse, führe die Sequenz aus Kindheit, Wanderung und Rückkehr als „gelungene[r] Dreischritt“ zur „Triade“ von „Vater Aether, Mutter Erde und Licht“. Maria Behre, „Das Messen der Zeit“, in: Gerhard Kurz (Hrsg.), Interpretationen. Gedichte von Friedrich Hölderlin, Stuttgart 1996, S. 113–123, hier S. 120 f. 29 Hölderlin, „Der Wanderer [zweite Fassung]“, S. 308, V. 99 f. 30 Vgl. Knaupp, „Kommentar zu Band I“, S. 174. 31 Die Verneinungsstruktur in der Beschreibung der beiden Extremklimate hat Goethe als Konstruktionsfehler der Elegie bemängelt, da sie eine anschauliche Vorstellung der jeweiligen Landschaftseindrücke verhindere: „Der Dichter hat einen heitern Blick über die Natur, mit der er doch nur durch Überlieferung bekannt zu sein scheint. Einige lebhafte Bilder überraschen, ob ich gleich den quellenden Wald, als negierendes Bild gegen die Wüste, nicht gern stehen sehe.“ Johann Wolfgang Goethe, Brief an Friedrich Schiller vom 28.06.1797, in: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 32.1, Volker C. Dörr/Norbert Oellers (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1998, S. 358 f., hier S. 358.

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sinnig oder statisch, sondern wechselseitig und dynamisch. Erst recht gilt dies für die Gesamtkonzeption der ersten Fassung, die unmittelbar nach Fertigstellung des ersten Hyperion-Bandes entstand und zu den klimatologischen Erörterungen insbesondere des Athen-Briefes in enger Korrespondenz steht. Von ihren jeweiligen paradigmatischen Konstruktionspunkten einer Mitte zwischen Extremen her gesehen, sind Athen-Brief und Wanderer-Elegie als einander ergänzende kulturgeographische Modelle zu verstehen. Die Extremerfahrungen des Wanderers folgen konträren ‚Abirrungen‘ der Sonne selbst. „Spaltend mit Stralen“ demonstriert sie ihre Zerstörungsmacht im Wüstengebirge, dessen Gestein durch die enormen Temperaturschwankungen zwischen Mittagsglut und Nachtkälte verstärkter Erosion ausgesetzt ist.32 Mit dem Entzug ihrer wärmenden Kraft straft die Sonne dagegen die Eiswüste. Als ihr meteorologischer Erfüllungsgehilfe auf Erden fungiert der „Olymp“, der Regen und Tau zu spenden vermag und im Verein mit der Sonne jenes hydrozyklische Gleichgewicht von Verdunstung und Niederschlägen schafft, das dem Gedeihen pflanzlichen und tierischen Lebens und damit auch der menschlichen Ökumene zugrunde liegt. Als höchste Stufe der Belebung und Besiedlung erscheint im Gedicht der innige Verkehr zwischen Landschaft und Gesellschaft, wie er im Weinbau und seinen Folgen zum feierlichen Ausdruck kommt; ihn lokalisiert Hölderlin am Entstehungsort der Elegie, dem inmitten prosperierender Weinbauregionen gelegenen Frankfurt.33 Selbst in ihren gemäßigten Zonen aber lebt die Erde nicht aus sich selbst, sondern muss umarmt und belebt werden wie Pygmalions steinerne Geliebte, der ihr himmlischer Meister „mit dem Sonnenblike den Busen“ bewegte. Will sagen: Die Erde ist kein selbstleuchtendes Wesen, sondern ein lebloses Geschöpf, dem allein das Himmelslicht Wärme und Beseeltheit einzuhauchen vermag. Anders als der tote Marmor aber kann Mutter Erde mit dem himmlischen Vater durchaus fruchtbringende Hochzeit halten. Aber vieleicht erwarmst du dereinst am Strale des Himmels, Aus dem dürftigen Schlaf schmeichelt sein Othem dich auf; Daß, wie ein Saamkorn, du die eherne Schaale zersprengest, Los sich reißt und das Licht grüßt die entbundene Welt,

32 So Mottel, „Apoll envers terre“, S. 124. 33 Ausdrücklich wird die Gegend von Taunus und Rheingau angesprochen, doch gelten für den Oberrhein und auch den mittleren Neckarraum zwischen Laufen und Tübingen ähnliche Bedingungen: „Seeliges Thal des Rheins! kein Hügel ist ohne den Weinstok, / Und mit der Traube Laub Mauer und Garten bekränzt, / Und des heiligen Tranks sind voll im Strome die Schiffe, / Städt’ und Inseln sie sind trunken von Weinen und Obst.“ Hölderlin, „Der Wanderer [zweite Fassung]“, S. 306, V. 49–52.

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All’ die gesammelte Kraft aufflammt in üppigem Frühling, Rosen glühen und Wein sprudelt im kärglichen Nord.34

Ein Aufleben des vegetativen Zyklus scheint im kärglichen Norden noch eher denkbar als im Dürregürtel der afrikanischen Wüsten. Was aus den Wanderungen zu den klimatischen Extremzonen als Charakteristikum der gemäßigten Breiten hervorgeht, ist, wie diese Passage zeigt, das Zeitmaß der Jahreszeiten.35 Die Wanderung längs des Längengrads war auch eine Zeitreise zu den ‚Stationen‘ des Jahreslaufs, die in den Tropen und am Pol nur in getrennter, isolierter Existenz herrschen, dazwischen aber in periodischem Wechsel und auch in abgemilderter Form. Ist der Zeitgang im tropischen Gürtel „eilend“,36 so scheint er nördlich des Polarkreises stillzustehen.37 Das aus Vater und Mutter hervorgehende Dritte aber hat keine Eigenständigkeit; es lebt allein aus dem dynamischen Zusammenspiel seiner beiden Extreme, als deren geographische Grenzlinien hier die Breitenkreise von 23½° und 66½° nördlicher Breite auszumachen sind. Die „des Tags“ harrende Zone andauernder arktischer Nacht beginnt am Polarkreis, die „Afrikanischen dürren / Ebnen“ und Wüstengürtel wiederum sind ein Phänomen der sogenannten Rossbreiten, des von Passatwinden überstrichenen permanenten Hochdruckgürtels an den tropischen Wendekreisen.38 Derlei geographische Erfahrungen von der Symmetrie gegensätzlicher Sonneneinwirkung hatten bereits den Griechen die Schlussfolgerung nahegelegt, Erde und Himmel als gekrümmte, als kugelförmige Räume aufzufassen und darzustellen. Der entscheidende epistemologische Durchbruch in der Geschichte der Himmelskunde, so Otto Neugebauer, war das Modell der sphärischen Astronomie, auf das die Griechen im 5. Jahrhundert v.Chr. durch ihre Ausdehnung im südosteuropäischen und kleinasiatischen Raum geführt wurden. Bei Reisen in Nord-Süd-Richtung verschob sich nicht nur die Mittagshöhe der Sonne, sondern auch der Bereich zirkumpolarer Sternbilder. Diese Abweichungen waren, wie Neugebauer betont, „quite drastic between Greek settlements, e.g. in the Nile 34 Ebd., V. 31–36. 35 Auch Behre weist auf die jahreszeitlich korrekte Abfolge des imaginierten Vegetationszyklus hin, den sie freilich für eine nur „rhetorisch provozierte Gegenbewegung“ zur Realität der Eiswüste hält. „Das Modell ist der Jahreszeitenrhythmus, nach dem auf den Winter Frühling (‚Samkorn‘, [V.] 33), Sommer (‚Rosen‘, [V.] 36) und Herbst (‚Wein‘, ebd.) folgen.“ Behre, „Das Messen der Zeit“, S. 118. 36 Hölderlin, „Der Wanderer [zweite Fassung]“, S. 305, V. 12. 37 Vgl. Mottel, „Apoll envers terre“, S. 126 f. 38 Die großen ‚Passatwüsten‘ Nord- und Südafrikas (Sahara, Namib), Arabiens, Nord- und Südamerikas verlaufen längs der tropischen Wendekreise; in außertropischen Wüsten ist die Wasserarmut durch spezifische Binnenfaktoren wie Meeresferne oder Reliefgestaltung verursacht.

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Delta and in the Crime“.39 Bei den erheblichen Diskrepanzen, die zwischen Sternbeobachtungen am nördlichen und am südlichen Rand der griechischen Ökumene festzustellen waren – die eindrucksvolle Fülle der niemals untergehenden Polarsternbilder zum einen, der zweimalige jährliche Zenitstand der Sonne in Regionen südlich von Syene zum anderen –, konnte die den Griechen bekannte Welt tatsächlich zu einem Nord und Süd übergreifenden Modell astronomischer Extremzustände werden. Bemerkenswert ist vor allem, wie dabei Erd- und Himmelsbeobachtungen in korrespondierender Weise Gestalt gewannen; die Großkreise der Nord-Süd- wie auch jener der Ost-West-Ausrichtung reproduzierten auf Erden gleichsam die Koordinaten des Himmels, ohne deren virtuelle Konstruktion ihre irdischen Entsprechungen als solche nicht hätten erfasst werden können. Denn die falsche, aber operational sinnvolle Annahme eines himmlischen Sphärengehäuses (nahegelegt von der rings um die Erde ‚tönenden‘ Sonne) war wissensgeschichtlich die Voraussetzung für den richtigen Schluss auf die annähernde Kugelgestalt der Erde.40 Es sind diese phylogenetisch erworbenen Einsichten der Antike, deren mutmaßliche Ursprünge Hölderlin in seinen Sonnenjünglings-Gedichten und vor allem in der Reisevita seines Wanderer-Subjekts idealtypisch reformuliert. Der Wanderer ist wie nach dem Lehrbuch der sphärischen Astronomie durchkonstruiert. Der Wendekreis des Krebses bezeichnet das nördliche Ende der Wanderung des Sonnen-Zenitstandes (in V. 9 als „Mittag“41 erwähnt), der Polarkreis hingegen den südlichen Anfang jenes Bereichs, an dem die scheinbare Sonnenwanderung zweimal im Jahr für mehr als 24 Stunden den Horizont nicht schneidet. In seiner auf den Einfluss kartographischer Darstellungsformen abzielenden Lektüre dieser Elegie hat Helmut Mottel zeigen können, wie systematisch die Komplementarität der beiden Breitengrade in die Tiefenstruktur des Gedichts eingearbeitet ist. Ihm ist aufgefallen, dass Frankfurt, der Entstehungsort dieser Elegie, vom nördlichen Polarkreis exakt ebenso weit entfernt liegt wie der im Gedicht mehrmals genannte Olymp vom Wendekreis des Krebses.42 Der nordgriechische Berg an der Grenze Thessaliens befindet sich ziemlich genau auf dem 40. Breitengrad, Frankfurt dagegen liegt nicht minder exakt am 50. Grad nördlicher Breite. Die Handelsstadt, in einem Fragment des Homburger Folioheftes als „Nabel /

39 Neugebauer, Ancient Mathematical Astronomy, Bd. 2, S. 576. 40 „For the east-west-curvature of the earth one has, of course, no such simple observational data at one’s disposal but arguments of symmetry and successful explanation of the phenomena connected with risings and settings by means of a rotating celestial sphere must have strongly supported the concept of a spherical earth.“ Ebd. 41 Hölderlin, „Der Wanderer [zweite Fassung]“, S. 305. 42 Vgl. Mottel, „Apoll envers terre“, S. 127.

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Dieser Erde“43 apostrophiert, ist in einer Europakarte von 1790 tatsächlich in die anatomische Nabel-Position einer die Kartenumrisse Europas piktoral umspielenden Frauengestalt platziert.44 Als kulturelle Mittelpunkte korrespondieren einander im Horizont der Wanderer-Elegie die griechische Antike, hier durch den Olymp (im Hyperion durch die Polis Athen) repräsentiert, und das zeitgenössische Frankfurt, eine Stadt des Kommerziums, in der sich Handelswege aus Nordund Süddeutschland, aus West- und Mitteleuropa trafen. Die geglückte Temperierung der Extreme, die in Hölderlins mythogeographischer Darstellung an ausgezeichnete Städte und ihre Institutionen geknüpft wird – die „beredte Agora“45 und ihr modernes Pendant des Marktes46 –, erwies sich in kulturgeschichtlicher Perspektive als ein Produkt des agrarischen Zyklus und damit der Jahreszeiten. Wo diese fehlen, so ist aus astronomischer Sicht zu ergänzen, entbehrt der Kalender des belebenden Zusammenspiels von Tagesund Jahreszyklus. Im Hinblick auf die Gegensätze Nord und Süd, Sommer und Winter verhält sich die Äquatorzone indifferent; tropische Hölzer weisen keine Jahresringe auf.47 Alle Rhythmik des Lebens geht jahraus, jahrein vom gleich-

43 Friedrich Hölderlin, „Das Nächste Beste“, in: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, S. 420–425, hier S. 423, V. 20 f. 44 Gemeint ist die Karte „Europa. Volgens de nieuwste Verdeeling“ (Europa gemäß neuester Einteilung) von Henrik Kloekhoff, Haarlem 1790. „Hier wird der tatsächliche kartographische Befund, im Küstenverlauf nur geringfügig geglättet, zugrunde gelegt und ihm – vor allem durch Schraffuren und Farben sowie durch Drehung der Karte um 90° – die Figur einer vornübergebeugt sitzenden Frau abgewonnen, wobei wiederum Spanien das Haupt darstellt. Die Gestalt scheint sich fast natürlich aus der Beschaffenheit der europäischen Länder zu ergeben, welche sie überzeichnet. Auf dieser Karte nun nimmt die mit Namen aufgeführte Stadt Frankfurt in etwa die Stelle des Nabels der Dame ein. Auf sie passen jedenfalls die näheren Bestimmungen der Verse Hölderlins: Die Gestalt ist ‚Abdruck der Natur‘, nämlich als kartographische Projektion des Erdteils auf die Ebene des Papiers, und sie ist die ‚Gestalt des Menschen‘.“ Anke Bennholdt-Thomsen/Alfredo Guzzoni, Analecta Hölderliana. Zur Hermetik des Spätwerks, Würzburg 1999, S. 22 f. 45 Friedrich Hölderlin, „Hyperion oder der Eremit in Griechenland“, in: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, S. 609–760, hier S. 688 (I, S. 150). Zitate aus dem Hyperion werden der leichteren Auffindbarkeit wegen auch mit Band- und Seitenzahl der Erstausgabe nachgewiesen. 46 Auf die Institution des Marktes als ein der antiken Öffentlichkeit analoges Medium der gesellschaftlichen Synthese kommt Hölderlin in der Hymne Archipelagus ausführlicher zu sprechen. Der „fernhinsinnende Kaufmann“, so heißt es dort, war von den Göttern der Alten nicht minder geliebt als der Dichter, „dieweil er die guten / Gaaben der Erd’ ausglich und Fernes Nahem vereinte“. Friedrich Hölderlin, „Der Archipelagus“, in: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, S. 295–304, hier S. 297, V. 72 u. V. 74 f. 47 Diese Zeitmarkierungen fehlen bei den Bäumen tropischer Breiten, da sie weder ein sekundäres Breitenwachstum noch eine alternierende Folge von Wachstumsphasen und Stillstand kennen. Vgl. Hansjörg Küster, Geschichte des Waldes. Von der Urzeit bis zur Gegenwart, München 1998, S. 200.

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mäßigen Wechsel zwischen Tag und Nacht aus, der als kalendarische Bezugsgröße den Jahreszyklus des Erdumlaufs ersetzen muss. Jenseits der Polarkreise dagegen ist der tägliche Lichtwechsel in die alternierende Folge von Winter und Sommer übergegangen, sind Nacht und Tag gleichsam vom Jahresrhythmus absorbiert. Wie am Äquator die Erdrotation den alleinigen Zeitgeber darstellt (die hier mit der größten Schleuderkraft erfolgt), so an den Polen der Jahresumlauf. Diese sind allein vom Jahr, die Tropen hingegen ganz vom Tage bestimmt. Es bedarf also nicht nur des gleichzeitigen Ablaufs von Sonnenumlauf und Eigendrehung der Erde, um die Jahreszeiten und den Kalender hervorzubringen, sondern auch der Interferenz beider Zyklen, ihrer regelhaften Verschiebung gegeneinander, die einen dritten, aus Tageslänge und Jahresphase kombinierten, den gemäßigten Breiten der Erde vorbehaltenen Rhythmus generiert. Der jahreszeitliche Kalender und die mit ihm einhergehende Prosperität des landwirtschaftlichen Lebens verdanken sich der Neigung der Erdachse um ca. 23½° gegenüber der Lotrechten zur Ebene ihrer Umlaufbahn. Dieser Kippwinkel zwischen Rotations- und Revolutionsachse ist verantwortlich für den periodischen Wechsel der Jahreszeiten, der an jedem Ort gemäßigter Breite einen wohltemperierten Miniaturdurchlauf jener Exkursionen bietet, für die Der Wanderer unter enormen Strapazen den halben Erdball zu durchqueren hatte. Denn bei Übereinstimmung beider Drehebenen würden der Einfallswinkel der Sonnenstrahlen und die tägliche Sonnenscheindauer für einen gegebenen Breitengrad durch das Jahr hindurch konstant bleiben. Deshalb machen sich die Jahreszeiten nur in jenen Breiten bemerkbar, die mehr als 23½° vom Äquator entfernt sind und sich somit außerhalb jenes Korridors befinden, in dem die beiden Drehebenen, wenn auch nur zeitweilig, zusammenfallen. Kulturtheorie und Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts, des Zeitalters der Enzyklopädie und der Weltumseglungen, standen nicht an, diesen astronomischen Sachverhalt im Sinne einer säkularisierten Theodizee in Anspruch zu nehmen und als Ausdruck kosmisch prästabilierter Rationalität zu werten. In den klimatischen Extremen kann der Mensch nur als nomadisches Wesen, als Wanderer, existieren. In den gemäßigten Zonen dagegen erreicht eine moderate Abwechslung der klimatischen Amplituden von Hitze und Eis die siedelnden Menschen. Ohne die Unterschiede der Klimazonen, so Rousseau, wären weder Sprache noch Kultur entstanden. Sein Essay Über den Ursprung der Sprachen ist, wie letztlich auch Hölderlins Elegie, ein Plädoyer für die gesellschaftlichen Kräfte des Austauschs und Reisens, das im periodischen Vorrücken und Zurückweichen der belebenden Sonne sein natürliches Vorbild erkennt: „Derjenige, welcher wünschte, daß der Mensch gesellig werde, berührte mit dem Finger die Achse des Globus und neigte ihn zur Achse des Universums. Durch diese kleine Bewegung

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sehe ich das Antlitz der Erde verändert und das Geschick der menschlichen Rasse entschieden.“48 In seiner Ode Die Zukunft beschrieb Klopstock den Kreisel-Effekt dieser Neigung zur Ekliptik: „Wenn des Planets Pole sich drehn, und im Kreislauf / Wälzen“.49 Spekulationen, wonach die Neigung der Erdachse als Störung in der ursprünglichen Harmonie auf eine kosmische Katastrophe zurückgeführt werden könne, erfreuten sich unter den Physikotheologen des 18. Jahrhunderts enormer Beliebtheit. Immer wieder wurden Kometen- und Sintflut-Mythen, Indizien großer Vulkanausbrüche und interplanetarer Kollisionen in den Zeugenstand der Naturgeschichte geladen. Erst Herders Ideen entzogen der Suche nach einem prähistorischen Weltunfall den Boden, indem sie die irdische Neigung zur Ekliptik gerade in ihrer Kontingenz zum notwendigen Glücksfall in der Geschichte der menschlichen Gattung erheben. Der „Winkel unsrer Erdachse zum Sonnenäquator“ ist nach Herder weder durch die „Kugelbewegung“50 induziert noch bei den anderen Planeten des Systems in gleicher Weise ausgeprägt. „Ob sie ihn von jeher gehabt? davon darf jetzt noch keine Frage sein; gnug sie hat ihn.“51 Der kuriose, „unnatürliche“ oder „wenigstens uns unerklärliche“ Neigungswinkel sei der Erde längst schon „eigen geworden“ und habe sich „seit Jahrtausenden nicht verändert“; überdies scheine er, lautet sodann Herders Hauptargument, „zu dem, was jetzt die Erde und auf ihr das Menschengeschlecht sein soll, notwendig. Mit ihm nehmlich, mit dieser schiefen Richtung zur Ekliptik werden bestimmt-abwechselnde Zonen, die die ganze Erde bewohnbar machen, vom Pol bis zum Äquator, vom Äquator wieder zum Pol hin.“52 Die Verschiebungen längs der longitudinalen Dimension, in Hölderlins Wanderer einem stellvertretenden geographischen Akteur aufgetragen, vollziehen sich realiter mittels der Veränderungen im Verhältnis zwischen Erde und Sonne. Die Erde muß sich regelmäßig beugen, damit auch Gegenden, die sonst in Cimmerischer Kälte und Finsternis lägen, den Strahl der Sonne sehn und zur Organisation geschickt werden. Da uns nun die lange Erdgeschichte zeigt, daß auf alle Revolutionen des menschlichen Verstandes und seiner Wirkungen das Verhältnis der Zonen viel Einfluß gehabt: […]

48 Jean-Jacques Rousseau, „Essay über den Ursprung der Sprachen, worin auch über Melodie und musikalische Nachahmung gesprochen wird“, in: Musik und Sprache. Ausgewählte Schriften, Peter Gülke (Hrsg.), übersetzt von Dorothea Gülke/Peter Gülke, Leipzig 1989, S. 99–168, hier S. 127. 49 Friedrich Gottlieb Klopstock, „Die Zukunft“, in: Ausgewählte Werke, Bd. 1, Karl August Schleiden (Hrsg.), München/Wien 41981, S. 104, V. 5 f. 50 Herder, „Ideen“, S. 35. 51 Ebd. 52 Ebd., S. 35 f.

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so sehen wir abermals, mit welchem feinen Zuge der Finger der Allmacht alle Umwälzungen und Schattierungen auf der Erde umschrieben und bezirkt hat.53

Im Falle des irdischen Winkels zur Ekliptik vermochte Herder durchaus in die Abgründe der Kontingenz zu blicken: „Nur eine kleine andre Richtung der Erde zur Sonne und alles auf ihr wäre anders.“54 Die Kulturgeschichte der Menschheit als Naturprozess zu erzählen und aus dem nichtintentionalen Wirken physischer Kräfte und kosmischer Konstellationen herzuleiten, dieses Programm war für Hölderlin durch die kulturtheoretischen Schriften Rousseaus wie durch die eher entelechial argumentierende Geschichtsphilosophie Herders abgesteckt; es bildet den Horizont auch der diesbezüglichen Reflexionen im Hyperion. Von Rousseau übernimmt Hölderlin die emphatische Herauspräparierung von Naturdeterminanten, von Herder die feierliche Betonung des goldenen Mittelweges als der Balance von Extremzuständen. Wenn Herder in den Ideen behauptet hatte, „weder aus dem kältesten noch heißesten Erdgürtel sind jemals die Wirkungen aufs Ganze erfolgt, die die gemäßigte Zone hervorbrachte“,55 so musste die historische Auszeichnung Griechenlands als ‚Wiege Europas‘ zum willkommenen Prüfstein für die klimageographischen Voraussetzungen dieser These taugen. Hyperion findet in Griechenland, was Der Wanderer in Afrikas Wüsten und am Nordpol vergeblich suchte: ein dynamisches Gleichgewicht der Klimate und Jahreszeiten. In einem kulturhistorischen Exkurs zur Genese der attischen Blütezeit trägt Hölderlins Protagonist Argumente vor, die an Buffons und Montesquieus klimageographische Herleitung anthropologischer und kultureller Differenzen anknüpfen. Zwar sieht Hyperion im Klima keine hinreichende Bedingung für die beispiellose Entwicklung Athens – denn, so gibt er zu bedenken, es bietet auch den so viel ärmeren Neugriechen noch die gleich günstigen Voraussetzungen. Doch hatten unstreitig „auch Himmel und Erde für die Athener, wie für alle Griechen, das ihre gethan, […] ihnen nicht Armuth und nicht Überfluß gereicht. Die Stralen des Himmels sind nicht, wie ein Feuerreegen, auf sie gefallen. Die Erde verzärtelte, berauschte sie nicht mit Liebkosungen und übergütigen Gaben“.56 In wörtlichen und motivischen Korrespondenzen ist das Modell der Wanderer-Elegie in dieser Passage präsent. Zwischen Armut und Überfluss, just wie die Erde als Planet bei ihrem Sonnenumlauf, hat der geschichtliche Weg der Griechen Balance zu halten verstanden. Die Amplituden des afrikanischen Feu53 54 55 56

Ebd., S. 36. Ebd. Ebd. Hölderlin, „Hyperion“, S. 682 (I, S. 140).

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erregens und einer Eisstarre, welche der Liebesumarmung durch einen Pygmalion harrte, werden nun mit historischen Exempla besetzt. Die Pole entgegengesetzter Verfehlung des von den Griechen gehaltenen goldenen Mittelwerts bilden „Aegyptier“ und „Gothen“, an Breitengraden ungefähr gleich weit von Athen entfernt. „Der Aegyptier trägt ohne Schmerz die Despotie der Willkühr, der Sohn des Nordens ohne Widerwillen die Gesezesdespotie“,57 weiß Hyperion. Diese Klimatologie der Sittlichkeit hat ihre Wurzeln in Montesquieus Abhandlung Vom Geist der Gesetze: „Wie man die Klimate nach den Breitengraden unterscheidet, könnte man sie sozusagen nach dem Grade der sinnlichen Empfänglichkeit unterscheiden.“58 Montesquieu hatte die vermeintliche intellektuelle und sittliche Überlegenheit der Völker des Nordens damit begründet, dass sich in der warmen Luft das äußere Körpergewebe ausdehne und erschlaffe, der Mensch demzufolge an Tatkraft und Selbstkontrolle einbüße.59 Die Menschen der südlichen Klimate bedurften daher, so Montesquieu, „eines weisen Gesetzgebers in höherem Grade als die Völker unseres Klimas“.60 Die naturgesetzliche Begründung der ungleichen Gesellschaftsformen auf dem Globus scheint in Hyperions geophysischer Herleitung der „aegyptischen Despotie“ wiederzukehren, um dort noch strikter mit dem Kriterium des Sonnenhöchststandes korreliert zu werden. Wie ein prächtiger Despot, wirft seine Bewohner der orientalische Himmelsstrich mit seiner Macht und seinem Glanze zu Boden, und, ehe der Mensch noch gehen gelernt hat, muß er knieen […]; ehe sein Herz ein Gleichgewicht hat, muß es sich neigen, und ehe der Geist noch stark genug ist, Blumen und Früchte zu tragen, ziehet Schiksaal und Natur mit brennender Hizze alle Kraft aus ihm.61

Von der Despotie der Sonne absehen zu können, ist in den ägyptischen Landstrichen schlechthin unmöglich. Über die am Ende des zweiten Bandes besuchten Deutschen aber, die zeitgenössischen Nachfolger der im Athen-Brief auftretenden Gothen, bemerkt der Grieche Hyperion: „[W]enn von der Sonne warmem Strale berauscht, der Sclave seine Ketten froh vergißt […], so bleibt der Deutsche doch in seinem Fach’ und kümmert sich nicht viel ums Wetter!“62 Dem südlichen Übermaß an erhitzter Natur hält im Norden ein Übermaß an moralischer Subjektion

57 Ebd., S. 684 (I, S. 143). 58 Charles de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Bd. 1, übersetzt und hrsg. von Ernst Forsthoff, Tübingen 1992, S. 313. 59 „In den warmen Ländern, wo das Gewebe der Haut schlaff ist, sind die Enden der Nerven offen und der kleinsten Einwirkung der geringfügigsten Gegenstände ausgesetzt.“ Ebd., S. 312. 60 Ebd., S. 315. 61 Hölderlin, „Hyperion“, S. 686 (I, S. 146). 62 Ebd., S. 756 (II, S. 115).

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die Waage, bei der eine freie Entwicklung der Kräfte allzu früh unterbunden wird: „[M]an mißt sich Schuld von allem bei, noch ehe die Unbefangenheit ihr schönes Ende erreicht hat“.63 Diese Unbefangenheit der Kindheit aber ist die wichtigste Voraussetzung des im Athen-Brief entfalteten kulturgeschichtlichen Modells, und sie wird als spezifischer historischer Standortvorteil der Griechen ausdrücklich hervorgehoben. „Sich selber überlassen“ und ungestört von den benachbarten Großmächten, verläuft die kollektive „Kindheit“64 der Griechen (die nicht von ungefähr an jene von Rousseaus Emile erinnert) gleichsam im Windschatten der Geschichte. Ein sowohl geographisches wie politisch-historisches Gleichgewicht entgegengesetzter Kräfte hat diese Entwicklung möglich gemacht, erkennt Hyperion: „[D]aß die Athener so frei von gewaltsamem Einfluß aller Art, so recht bei mittelmäßiger Kost aufwuchsen, das hat sie so vortreflich gemacht, und diß nur konnt’ es!“65 Kein monokausaler Determinismus also herrscht zwischen Klima und Sitten, wohl aber ein Ermöglichungsverhältnis. Die Erinnerung an diese Ausgangsbedingungen ist dem griechischen Selbstverständnis durch Kunst und Philosophie tief eingeprägt worden, so Hyperion. Im kulturellen Gedächtnis der Griechen nimmt die Denkfigur eines umfassenden Gleichgewichtszustandes eine konstitutive Rolle ein. Heraklits Wendung des „ευ διαϕερου εαυτῳ“66 ist ein formelhafter Ausdruck für dieses Modell eines universellen Ausgleichs, dessen umfassendste Vorstellung der Begriff des Kosmos als Dualität von Himmel und Erde vor Augen führt. „Wer mit dem Himmel und der Erde nicht in gleicher Lieb’ und Gegenliebe lebt, wer nicht in diesem Sinne einig lebt mit dem Elemente, worinn er sich regt, ist von Natur auch in sich selbst so einig nicht, und erfährt die ewige Schönheit wenigstens so leicht nicht wie ein Grieche.“67 Ein solches Wechselspiel von Liebe und Gegenliebe ist dem Klima, den Rhythmen des agrikulturellen Lebens und der menschlichen Metabolismen vorgegeben durch den elementaren Wechsel von kalt und warm, Nacht und Tag, trocken und feucht; das Element, worin der Mensch, und nicht nur der griechische, sich regt, sind die zyklologischen Prozesse im Jahreslauf.

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Ebd., S. 686 (I, S. 147). Ebd., S. 682 (I, S. 138). Ebd., S. 683 (I, S. 140). Ebd., S. 685 (I, S. 145). Ebd., S. 685 f. (I, S. 146).

Robert Krause, Freiburg

Kultureller Synkretismus Völkerkundliche Anthropologie und Ästhetik in den SizilienDramen Voltaires, Goethes und Schillers

Voltaire war nicht nur einer der wichtigsten französischen Schriftsteller und Philosophen des 18. Jahrhunderts,1 sondern auch noch postum für Goethes Generation eine polarisierende Autorität.2 Selbst überzeugt davon, dass kulturell bedeutsame Epochen wesentlich durch einzelne zentrale Personen beeinflusst werden, schrieb Voltaire mit Blick auf Ludwig XIV. an einer „Geschichte des menschlichen Geistes“.3 Anders als die christlich-theologische histoire universelle in der Tradition Bossuets begriff er den Geschichtsverlauf zudem philosophisch und kulturhistorisch: Um „eine allgemeine Idee“ der Völker zu vermitteln, die „auf der Erde leben und leiden“,4 konzentriert sich sein Essai sur les mœurs et l’esprit des nations auf deren Bräuche und Gesinnungen. Als die Abhandlung nach fast zwei Jahrzehnten Bibliotheksstudien und Vorarbeiten 1756 in einer ersten Fassung erschien, lag nicht weniger als eine umfassende Zivilisationsgeschichte vor. In bislang kaum gekanntem Umfang bringt Voltaire darin auch „den außereuropäischen Kulturen globale Aufmerksamkeit und wissenschaftliches Interesse“5 entgegen; bei seinem Essai handelt es sich daher um ein veritables Gründungs-

1 Zumindest in Frankreich gilt das 18. Jahrhundert als siècle de Voltaire und wird bis heute oft so genannt. 2 So erinnert Goethe in seinen Gesprächen mit Eckermann an die „Bedeutung, die Voltaire und seine großen Zeitgenossen“ für ihn hatten. Johann Peter Eckermann, „Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens“ [Eintrag vom 30.01.1830], in: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 39, Christoph Michel (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1999, S. 373. 3 Voltaire, Brief an den Abbé Dubos vom 30.10.1738, in: Correspondances, Bd. 1, Theodore Besterman (Hrsg.), Paris 1963, S. 1181: „Ce n’est point simplement la vie de ce prince que j’écris, ce ne sont point les annales de son règne; c’est plutôt l’histoire de l’esprit humain, puisée dans le siècle le plus glorieux à l’esprit humain.“ (Hervorhebungen R.K.) Angesprochen ist damit Voltaires Darstellung Siècle de Louis XIV (1751); vgl. dazu Ernst Köhler, Vorlesungen zur Geschichte der Französischen Literatur, Bd. 5.1, Henning Krauß/Dietmar Rieger (Hrsg.), Freiburg 2006, S. 12 f. 4 Voltaire, „Essai sur les mœurs et l’esprit des nations“ (II), in: Les Œuvres complètes de Voltaire, Bd. 22, Bruno Bernard u.a. (Hrsg.), Oxford 2009, S. 2 f. 5 Erich Pelzer, „Voltaire: ‚Essai sur les mœurs et l’esprit des nations et sur les principaux faits de l’histoire depuis Charlemagne jusqu’à nos jours‘“, in: Volker Reinhardt (Hrsg.), Hauptwerke der Geschichtsschreibung, Stuttgart 1997, S. 704–707, hier S. 704.

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dokument der Völkerkunde im 18. Jahrhundert. Dass er mit der Schilderung des Orients beginnt und ‚Orientalen‘ wiederholt als historische Akteure berücksichtigt,6 ist besonders bemerkenswert: Denn so wird nicht nur der Eurozentrismus der bisherigen Historiografie relativiert, sondern es werden auch ein Kulturraum und seine Bewohner fokussiert, die in Voltaires Dramen ebenfalls eine wichtige Rolle spielen. Während der Titelheld der 1741 uraufgeführten Tragödie Le fanatisme ou Mahomet le Prophète mit abschreckender Radikalität die Gesetze des Koran verbreiten und Arabien zur Weltmacht führen will,7 tritt die aufklärerische Didaktik in Voltaires Stück Tancrède von 1760 zugunsten ästhetischer Neuerungen zurück. Durch erhöhte Anschaulichkeit möchte Voltaire die dramatische Kunst, „l’art de la tragédie […] dans lequel les Français se sont le plus distingués“,8 wirkungsästhetisch so verändern, dass sie mit der griechischen Tragödie konkurrieren, ja diese gar übertreffen kann.9 Zu diesem Zweck schließt sein Ritterdrama, dessen Handlung im Sizilien der Jahrtausendwende angesiedelt ist und sich vor dem Hintergrund der damaligen Kämpfe zwischen Sarazenen und Normannen entfaltet, an den Essai an.10 Inwiefern dabei historische Ereignisse und kulturelle Traditionen aus der Vergangenheit Siziliens als Versatzstücke verwendet und zu einer bildlich vorstellbaren mittelalterlichen Szenerie verdichtet werden, rekonstruiert der erste Teil des vorliegenden Aufsatzes (I.). Daraufhin wird dargelegt, auf welche Weise Goethes Übersetzung bzw. Nachdichtung Tancred (1801) nationale und ethnische Differenzen aktualisiert und dadurch ein spezifisches Franken- bzw. Frankreichbild sowie eine bestimmte Imago der Mauren entwirft (II.). In Goethes Arbeit eingebunden war Schiller, dessen Braut von Messina (1803) schließlich die arabischen und christlichen Kulturbezüge um antike Referenzen

6 Vgl. Voltaire, „Essai sur les mœurs et l’esprit des nations“ (II), S. 5–7. 7 Vgl. Voltaire, „Le fanatisme ou Mahomet le Prophète“, in: Les Œuvres complètes de Voltaire, Bd. 20b, Christopher Todd/Ahmad Gunny (Hrsg.), Oxford 2002. 8 Voltaire, „À Madame la Marquise de Pompadour“, in: Les Œuvres complètes de Voltaire, Bd. 49b, Nicholas Cronk/Janet Godden (Hrsg.), Oxford 2009, S. 127–133, hier S. 128 f. 9 Vgl. ebd., S. 129: „La tragédie n’est pas encore peut-être tout à fait ce qu’elle doit être; supérieure à celle d’Athènes en plusieurs endroits, il lui manque ce grand appareil que les magistrats d’Athènes savaient lui donner.“ 10 Vgl. John S. Henderson/Thomas Wynn, „‚Tancrède‘, Introduction“, in: Les Œuvres complètes de Voltaire, Bd. 49b, S. 59–124, hier S. 64: „Though the ‚Essai sur les mœurs et l’esprit des nations‘ makes no mention of Syracuse in this period, nor of the year 1005 as being of any particular interest, its preparation had undoubtedly exposed Voltaire to a great deal of material relevant to ‚Tancrède‘.“ Zitate aus Voltaires Tancrède sind diesem Band der kritischen Werksausgabe entnommen (S. 135–230) und werden fortan – da keine durchgehende Verszählung existiert – unter Angabe von Akt, Szene und Vers(en) im Fließtext nachgewiesen.

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ergänzt und gemeinsam intendierte dramenästhetische Innovationen integriert, wie zuletzt zu zeigen sein wird (III.). Um dieses Zusammenspiel von völkerkundlicher Anthropologie, Literatur und Ästhetik um 1800 adäquat analysieren zu können, sind zunächst Begriff und Phänomen des kulturellen Synkretismus zu explizieren.

I Kulturgeschichte und Ritterdrama: Voltaires Essai sur les mœurs et l’esprit des nations und Tancrède In Kapitel 40 seines Essai beschreibt Voltaire unter anderem die Eroberung Siziliens durch die Normannen im 10. und 11. Jahrhundert. Dabei konstatiert er durchaus parteiisch, dass die Insel unter der jahrhundertelangen Herrschaft der arabischen Muslime gelitten und die byzantinischen sowie lateinischen Monarchen vergeblich um neuerlichen Einfluss in der Region gekämpft hätten. Deren Einwohner hätten infolgedessen weder gewusst, wem sie politische Loyalität schuldeten, noch seien sie sich sicher gewesen, ob sie dem römisch-christlichen, griechisch-orthodoxen oder muslimischen Glauben folgen sollten.11 Die verbreiteten Sitten seien durch die „mélange“ aller Völker, Regierungen und Religionen verschlechtert worden, und vom „esprit naturel“ der Bewohner sei keinerlei Funke mehr ausgegangen.12 Voltaire unterscheidet hier also explizit zwischen dem wirkungslos gewordenen ‚natürlichen‘ Esprit einerseits und einem dominierenden Geist andererseits, der ebenso wie die Sitten der Nationen durch den Terminus der ‚Mischung‘ charakterisiert wird. Expressis verbis kommt damit eine Kategorie zur Sprache, die oftmals als ‚kultureller Synkretismus‘ verhandelt wird und in den heutigen Kulturwissenschaften auch unter ‚Hybridität‘ firmiert.13

11 Vgl. Voltaire, „Essai sur les mœurs et l’esprit des nations“ (III), in: Les Œuvres complètes de Voltaire, Bd. 23, Bruno Bernard u.a. (Hrsg.), Oxford 2010, S. 25 f.: „La Pouille, la Calabre, la Sicile, furent en proie aux incursions de Arabes. Les empereurs grecs et latins se disputaient en vain la souveraineté de ces pays. […] Les peuples se savaient qui ils appartenaient, ni s’ils étaient de la communion romaine, ou de la grecque, ou mahométans.“ 12 Vgl. ebd., S. 27: „Les mœurs se ressentaient du mélange de tant de peuples, de tant des gouvernements et de religions. L’esprit naturel des habitants ne jetait aucune étincelle.“ 13 Zum Synkretismusbegriff vgl. den Artikel in Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 20, Leipzig 1942, Sp. 1424 f., sowie in historischer und systematischer Perspektive Ulrich Berner, Untersuchungen zur Verwendung des Synkretismus-Begriffes, Wiesbaden 1982, und Christopher Balme, „Inventive Syncretism. The Concept of the Syncretic in Intercultural Discourse“, in: Ders./Peter O. Stummer (Hrsg.), Fusion of cultures?, Amsterdam/Atlanta 1996, S. 9–18, bes. S. 10 f. „Kultureller Synkretismus“ fungiert in diesem Zusammenhang als „ein Sammelbegriff für vielfältig auslegbare Formen der sprachlichen, politischen, religiösen und ästhetischen Kulturmischung“

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Während diese Analysebegriffe der postkolonialen Theorie jedoch zumeist ein interkulturelles Selbstverständnis benennen und gegen die Idee fixer Identitäten vorgebracht werden,14 ist die beschriebene Mischung in Voltaires Essai eindeutig negativ konnotiert. Moniert werden dort fehlende Authentizität, Orientierung und geistig-kulturelle Ausstrahlung der hin- und hergerissenen Mittelmeervölker. Aus diesen Defiziten resultiere allerdings wiederum ihre verbreitete Lust an der Pilgerschaft und an Ritterabenteuern, so Voltaires Befund,15 den er am Beispiel der Söhne Tancrèdes von Hauteville exemplifiziert, die Sizilien ab 1061 zurückeroberten.16 Von den benannten Konflikten zwischen nationalen und religiösen Gruppierungen auf Sizilien und von Tancrède handelt auch Voltaires gleichnamiges Drama. Es spielt in und bei der Stadt Syrakus, wo im Jahr 1005 die junge Aménaïde aus politischem Kalkül zur Verlobung mit dem ehemaligen Familienfeind Orbassan genötigt wird. Ihr Versuch, mit dem im Exil lebenden Geliebten Tancrède Kontakt aufzunehmen, scheitert; der verschlüsselte Brief wird abgefangen, Aménaïde des Verrats angeklagt und zum Tode verurteilt. Nach Syrakus zurückgekehrt, tritt Tancrède im Duell gegen Orbassan für die Geliebte ein, obwohl er sie aufgrund einer Fehldeutung ihres Handelns ebenfalls für schuldig

und wird auch als „Hybridität bezeichnet“. Birgit Neumann, Art. „Synkretismus, kultureller“, in: Ansgar Nünning (Hrsg.), Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze, Personen, Grundbegriffe, 4., aktualisierte und erweiterte Auflage, Stuttgart/Weimar 2008, S. 699 f., hier S. 699. Der Terminus „Hybridität“ wiederum, geprägt von der Biologie, in der man unter einem „Hybriden“ ein „aus Kreuzungen hervorgegangenes Produkt von Vorfahren mit unterschiedlichen erblichen Merkmalen“ versteht, entwickelte sich „in den Rasselehren des 19. Jh. zu einer kulturellen Metapher“ und wurde schließlich in den 1980er Jahren „zu einem kulturtheoretischen Schlüsselbegriff umgedeutet“. Julika Griem, Art. „Hybridität“, in: Nünning (Hrsg.), Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, S. 297 f., hier S. 297 f. 14 Vgl. etwa Edward Saids Diktum: „Alle Kulturen sind hybrid, keine ist rein […], keine bildet ein homogenes Gewebe.“ Edward Said, „Kultur, Identität und Geschichte“, aus dem Englischen übersetzt von Wilfried Prantner, in: Peter Weibel (Hrsg.), Inklusion – Exklusion. Versuch einer neuen Kartografie der Kunst im Zeitalter von Postkolonialismus und globaler Migration, Köln 1997, S. 37–46, hier S. 44. Terry Eagleton hingegen merkt kritisch an, dass „Hybridität Artenreinheit voraussetzt“, da man „nur eine Kultur hybridisieren [kann], die rein ist“. Terry Eagleton, Was ist Kultur?, München 2001, S. 26. Ähnliches moniert Peter Burke, Kultureller Austausch, aus dem Englischen von Burkhardt Wolf, Frankfurt a.M. 2000, S. 22. 15 Vgl. Voltaire, „Essai sur les mœurs et l’esprit des nations“ (III), S. 27 f.: „Le goût des pèlerinages et des aventures de chevalerie régnait alors“. 16 Vgl. ebd. S. 30 f.: „Bientôt après arrivent trois fils de Tancrède de Hauteville, du territoire de Coutance […], et la Sicile allait retourner aux Grecs s’ils n’avaient pas été ingrats. […] Le vieux Tancrède est étonné de se voir père d’une race de conquérants.“ Einen Überblick zur Geschichte Siziliens im fraglichen Zeitraum bietet Denis Mack Smith, A History of Sicily, Bd. 2, London 1968, S. 9–23; vgl. auch Günter Kettermann, Atlas zur Geschichte des Islam, Darmstadt 2001, S. 36.

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hält. Aufgelöst wird das Missverständnis erst, als Tancrède in der anachronistisch angelegten Schlacht gegen die Sarazenen als Held stirbt. Dass sarazenische und byzantinische Heere um Syrakus wetteifern, kommt bereits im ersten Akt des Dramas zur Sprache (vgl. I.1, V. 12–15). Dort fordert Aménaïdes Vater Arsir, der älteste Ritter der Stadt, in seinem Eröffnungsmonolog, die beiden feindlichen Mächte endlich zu verjagen und einen prosperierenden, friedlichen Kleinstaat aufzubauen, wie es nach Ende der kalbitisch-islamischen Herrscherdynastie (1053) tatsächlich mehrere auf Sizilien gab. Indem Arsir den fränkischen Heerführer Karl Martell, den asturischen König Pelayo und Papst Leo IV., den Retter Roms, als Vorbilder nennt (vgl. I.1, V. 28–32), rekurriert er analog zu Voltaires Essai17 auf Personen und Stationen des Kampfes gegen die arabischen Muslime. Angesichts dieser Traditionslinie diagnostiziert Voltaires Dramenfigur, dass sich die muslimische Macht und Größe dem Ende zuneige; daher sei nun der Moment gekommen, den Bürgerkrieg in Syrakus endgültig beizulegen und gemeinsam die tyrannische Fremdherrschaft zu überwinden (vgl. I.1, V. 27 u. 35–43). Dieser Meinung schließt sich der anwesende Orbassan an, der durch die geplante Heirat mit Arsirs Tochter die verfeindeten Familien zusammen- und sodann gegen die Sarazenen führen will (vgl. I.1, V. 44–52). Beabsichtigt ist demnach eine Vereinigung zweier Streitender gegen einen Dritten, die man im Griechischen ebenfalls ‚Synkretismus‘ nennt; Plutarch etwa verwendet den Begriff, um die Zweckallianz der sonst häufig untereinander zerstrittenen Kreter gegen äußere Feinde zu bezeichnen.18 Insofern erscheinen interne Differenzen in Voltaires Ritterdrama hinfällig angesichts der Bedrohung durch fremde Völker, zu denen außer den Sarazenen auch die als „les Français“ (I.1, V. 57 f.) apostrophierten Normannen zählen. Gelten diese in Syrakus anfangs noch als Imperialisten und zumindest im Falle Tancrèdes auch als willens, dem byzantinischen Kaiser als Söldner zu dienen (vgl. I.1, V. 53– 93), so erscheint der Einfluss des Muslims Solamir, der Verräter kaufe und Intrigen schmiede, als moralisch verderblich für die christliche Bevölkerung Siziliens (vgl. I.1, V. 94–111). Zum Ausdruck kommen damit bestimmte Vorstellungen von ‚Nationalcharakteren‘, die zum Kernbestand der damaligen völkerkundlichen Anthropologie gehören und ideen- bzw. diskursgeschichtlich zu kontextualisieren sind.19 Auf diesen Aspekt wird im zweiten Teil des vorliegenden Aufsatzes am

17 Vgl. Voltaire, „Essai sur les mœurs et l’esprit des nations“ (II), Kap. 6, 27 u. 28. 18 Vgl. Wolfgang Leidhold, Art. „Synkretismus“, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Darmstadt 1999, Sp. 799–801, hier Sp. 799; vgl. auch den Artikel im Grimmschen Wörterbuch, Sp. 1424. 19 Zu den Anfängen der Ethnologie vgl. etwa Alexander Košenina, Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen, Berlin 2008, S. 23–38.

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Beispiel von Goethes Übersetzung bzw. Nachdichtung kurz eingegangen; vorab jedoch sind die genannten Akteure aus Voltaires Drama genauer zu profilieren. Bei allen Protagonisten handelt es sich um nichtkönigliche Figuren in einer mittelalterlichen Szenerie, was ein dramengeschichtliches Novum darstellt, auf das Voltaire besonders stolz war.20 Geradezu programmatisch lässt er Ritter wie Tancrède agieren, deren Courtoisie er ebenso wie die von ihnen ausgefochtenen Zweikämpfe bereits im Essai kulturhistorisch beschrieben hatte: Dort nehmen Schilderungen des mittelalterlichen Rittertums, der Turniere und Duelle jeweils ein ganzes Kapitel ein.21 Insbesondere die Auseinandersetzung mit dem Duellwesen zeugt von völkerkundlichem Interesse, denn das Konzept des Zweikampfs als Gottesurteil findet Voltaire nur in der Geschichte des christlichen Abendlands; weder die Christen des Orients noch frühere Nationen hätten diese „barbarie“ je praktiziert.22 Von vornherein als barbarische Sitte abgewertet – und insofern den mittelalterlichen Wasserproben gleichgestellt23 –, wird das als Gottesurteil verstandene Duell zwar nicht in seinen soziopolitischen Zusammenhängen situiert,24 wohl aber vom militärischen Zweikampf zwischen Heeresführern dezidiert abgegrenzt.25 Vor diesem kulturgeschichtlichen Hintergrund lässt sich auch das Duell zwischen Tancrède und Orbassan am Ende des dritten Akts besser verstehen und damit eine geläufige Position der Voltaire-Forschung relativieren. In den Regieanweisungen beschreibt Voltaire eine aufwendige Szenerie, wie sie bis dato im französischen Theater kaum zu sehen war: Aménaïde befindet sich inmitten von Wächtern; Ritter und Volksmenge füllen den gesamten Platz aus26 – erstmals steht hier die schiere Menschenmasse auf der Bühne. Von dieser aber wendet sich 20 In Voltaire, „Tancrède“, S. 135, Anm. 1, wird die entsprechende Bemerkung zitiert: „Nous n’avons ni rois ni reines, ni princes, ni princesses, ni même gouverneur de toute la province, comme dit P. Corneille et c’est encore un agrément.“ 21 Vgl. Voltaire, „Essai sur les mœurs et l’esprit des nations“ (IV), in: Les Œuvres complètes de Voltaire, Bd. 24, Bruno Bernard u.a. (Hrsg.), Oxford 2011, Kap. 97, 99 u. 100. 22 Vgl. ebd., S. 525 f.: „Cette coutume de juger des procès par un combat juridique ne fut connue que des chrétiens occidentaux. On ne voit point de ces duels dans l’Église d’Orient; les anciennes nations n’eurent point cette barbarie.“ 23 Vgl. Voltaire, „Essai sur les mœurs et l’esprit des nations“ (II), Kap. 22. 24 Zu diesem Versäumnis Voltaires vgl. Anm. 1 in Kapitel 100 des „Essai sur les mœurs et l’esprit des nations“ (IV), S. 525. 25 Vgl. ebd., S. 532: „Il ne faut pas confondre avec tous ces duels, regardés comme l’ancien jugement de Dieu, les combats singuliers entre les chefs de deux armées, entre les chevaliers des partis opposés. Ces combats sont des faits d’armes.“ 26 Vgl. die Regieanweisungen in Voltaire, „Tancrède“, S. 193: „La scène s’ouvre: on voit Aménaïde au milieu des gardes, les chevaliers, le peuple remplissent la place“. Vgl. außerdem JeanFrançois La Harpe, Commentaire sur le théâtre de Voltaire, Paris 1814, S. 309: „Ce n’est que dans

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die Angeklagte in einem pathetischen Monolog bewusst ab und dafür explizit dem höchsten Richter im Himmel zu, der allein über ihr Leben und ihre Ehre urteilen könne (vgl. III.4, V. 282–291): Verlangt wird mithin ein Gottesurteil, das sich im Ausgang des Duells manifestieren soll. Dem abendländischen Konzept des Ordals zufolge müsste Aménaïdes Unschuld durch Tancrèdes folgenden Sieg über Orbassan bewiesen sein, doch bezweifelt Tancrède selbst die Schuld der Geliebten ja nicht im Geringsten. Während die Schuldfrage daher in der VoltaireForschung als ambig gilt,27 soll hier eine alternative Lesart vorgeschlagen werden. Berücksichtigt man nämlich Tancrèdes Auftreten im Zweikampf, dann liegt die Vermutung nahe, dass dem Duell auch jenseits des Gottesurteils eine wichtige Funktion zukommt: Wenn Tancrède von Arsir als edler Ritter vorgestellt wird, der das Heer in die kommende Schlacht gegen die Sarazenen führen und helfen werde, das Vaterland zu schützen, korrespondiert dies mit dessen eigener Einschätzung, Syrakus benötige ihn womöglich dringender als seinen Kontrahenten Orbassan, den er dann auch prompt tötet. In der Hoffnung, den Staat retten zu können, fordert Tancrède daraufhin die anderen Ritter auf, mit ihm gegen die muslimischen Angreifer ins Feld zu ziehen, wobei er sich endgültig als militärischer Befehlshaber erweist (vgl. III.5, V. 279–337). Da Tancrède bereits zuvor wie ein souveräner Feldherr und eben nicht nur als Vollstrecker himmlischer Gerechtigkeit aufgetreten ist, findet sich im Drama keinerlei Diffamierung des Duells, wie sie Voltaire aufgrund seiner Vorbehalte gegen vermeintliche Gottesurteile im Essai ja sehr wohl formuliert. Hatte er dort das abendländisch-juristische und das universell-militärische Duellkonzept noch streng voneinander geschieden, verbinden sich beide Konzepte im Tancrède-Drama, das somit auch auf dieser Ebene dem Synkretismus huldigt. Wie dies im Kontext kriegerischer Auseinandersetzungen häufig der Fall ist, kommt es also auch im dargestellten Sizilien der Jahrtausendwende zu einer Vermischung heterogener Traditionsbestände. Diesen Synkretismus veranschaulichen die Konflikte und Kämpfe in Voltaires Ritterdrama, dessen Übersetzung Goethe im Sommer des Jahres 1800 in Angriff nahm.28

‚Tancrède‘ et dans ‚Sémiramis‘ qu’on a jamais vu si grand appareil, et tant d’objets différents, sur la scène.“ 27 Vgl. Henderson/Wynn, „Introduction“, S. 64, Anm. 10: „The question of Aménaïde’s guilt is ambiguous.“ 28 Vgl. Johann Wolfgang Goethe, „Tancred“, in: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 11, Hans-Georg Dewitz/Wolfgang Proß (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1998, S. 589–653. Zitate werden fortan nach dieser Ausgabe unter Angabe der Verszahl(en) im Fließtext nachgewiesen. Zur Datierung und zu den Entstehungshintergründen von Goethes Tancred-Übertragung wie auch zu den ersten Aufführungen vgl. den dortigen Kommentar mit „Dokumenten zu Entstehung und Rezeption“, S. 1253–1273, sowie Sonia Goldblum/Robert Krause, „Dramatisches Experiment und persönliches Pharmazeutikum. Goethes Übersetzung von Voltaires ‚Tancrède‘“, in: Markus May/

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II Differenzerfahrung: Goethes Tancred-Übertragung „Es ist eigentlich ein Schauspiel: denn alles wird darin zur Schau aufgestellt und diesen Charakter des Stücks kann ich noch mehr durchsetzen, da ich weniger geniert bin als der Franzose“,29 kommentiert Goethe durchaus chauvinistisch seine Überarbeitung von Voltaires Drama in einem Brief an Schiller. Dabei akzentuiert er den Begriff des Schauspiels, dessen poetisches und wirkungsästhetisches Potenzial über das gewählte Versmaß und Metrum hinaus auch durch die eigenen Figurenprofile und dramaturgischen Ideen gesteigert werden soll, so dass sich die Frage nach dem Verhältnis von Original und Übertragung stellt.30 ‚Ungeniert‘ erscheinen denn auch einige übersetzerische Freiheiten, die Goethes TancredDrama zur eigenständigen Nachdichtung in der Tradition der „belle infidèle“ werden lassen31 und die nicht zuletzt völkerkundliche Aspekte betreffen, etwa in der zweiten Szene des vierten Akts: Tancrède: Solamir en ces lieux adora ses attraits. Il demanda sa main pour le prix de la paix: Hélas, l’eût-il osé, s’il n’avait pas su plaire? Ils sont d’intelligence. En vain j’ai cru mon cœur. (IV.2, V. 91–94)

Tancrèd: Schon in Byzanz hat Solamir für sie, Ich wußt es wohl, geglüht, auch hier, vernehm ich, Hat seine Leidenschaft ihn angetrieben Sich, einem Muselmann, der Christin Hand, Vom Vater, als des Friedens Pfand, zu fordern. (V. 1364–1370)

Goethe erweitert hier den Ausgangstext durch die explizite Erwähnung religiöser Unterschiede zwischen dem Sarazenen Solamir und der von ihm begehrten Amenaide (vgl. V. 1369), wodurch die interreligiöse und interkulturelle Dimension von

Evi Zemanek (Hrsg.), Austausch und Bereicherung. Goethes Übersetzungen in interkultureller und poetologischer Perspektive, Würzburg 2013, S. 103–124. 29 Johann Wolfgang Goethe, Brief an Friedrich Schiller vom 29.07.1800, in: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 32.2, Volker C. Dörr/Norbert Oellers (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1999, S. 59–61, hier S. 59. 30 Von dieser Leitfrage ausgehend findet sich eine Parallellektüre der Dramentexte Voltaires und Goethes bei Goldblum/Krause, „Dramatisches Experiment und persönliches Pharmazeutikum“. 31 Gero von Wilpert resümiert in seinem Lexikonartikel zu Goethes Tancred, dieser sei „fast eher Nachdichtung als bloße Übersetzung“. Gero von Wilpert, Goethe-Lexikon, Stuttgart 1998, S. 1045 f. Zur erwähnten Übersetzungstradition vgl. Georges Mounin, Les belles infidèles, Lille 1994, bes. S. 55–67, und zur entsprechenden Einordnung von Goethes Tancred-Übertragung im Kontext seiner übersetzungstheoretischen Überlegungen wiederum Goldblum/Krause, „Dramatisches Experiment und persönliches Pharmazeutikum“, S. 123 f.

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Voltaires Stücks akzentuiert wird. Diese Bedeutungsschicht ist zwar bereits dem Ausgangstext eingeschrieben, gerät dort aber weniger massiv als in Goethes Fassung, wie eine Parallellektüre der thematisch einschlägigen Anfangsszenen erweist: Lorédan: Quelle honte en effet dans nos jours déplorables, Que Solamir, un Maure, un chef des musulmans, Dans la Sicile encore ait tant de partisans! […] Un sexe dangereux dont les faibles esprits D’un peuple encor plus faible attirent les hommages, Toujours des nouveautés et des héros épris, A ce Maure imposant prodigua les suffrages. Combien des citoyens aujourd’hui prévenus Pour ces arts séduisants que l’Arabe cultive! Arts trop pernicieux, dont l’éclat les captive, A nos vrais chevaliers noblement inconnus. (I.1, V. 94–111)

Loredan: Welch eine Schande für die Eingeborenen! Daß sie ein Fremder, sie ein Feind so leicht, Durch irgend einen Schein verblenden kann. […] Wie mancher von den unsern ließ sich nicht Durch Wissenschaft und Kunst betören, die Der Araber, uns zu entkräften, bringt. Am meisten aber, daß ich nichts verschweige! Neigt sich der Frauen leicht verführt Geschlecht Den Lockungen des fremden Glanzes zu. An Solamir und seinen Edlen schätzt Ein weiblich Auge, lüstern, manchen Reiz. Des Morgenlandes auserlesene Pracht, In Kleid und Schmuck, Gewandtheit der Gestalt, Der Neigung Feuer und der Werbung Kühnheit. Indes wir der gerechten Sache nur, Dem Wohl des Staates, Sinn und Arme widmen, Und Kunstgewerbe ritterlich verschmähen. (V. 109–130)

Während Voltaire zwar die angeblich verführerischen Künste des Arabers – „ces arts séduisants“, „[a]rts trop pernicieux, dont l’éclat les captive“ (I.1, V. 109 f.) – hervorhebt, es jedoch einer paratextuellen Anmerkung des Verfassers bedarf, um die arabische Vormachtstellung in den Wissenschaften und die Gründung der medizinischen ‚Schule von Salerno‘ im 10. Jahrhundert zu erklären,32 integriert und expliziert Goethes Übertragung diese Zusammenhänge: Mancher Einwohner

32 Vgl. die Anmerkung bei Voltaire, „Tancrède“, S. 142: „En ce temps les Arabes cultivaient seuls les sciences en Occident, et ce sont eux qui fondèrent l’école de Salerne.“

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von Syrakus habe sich bereits „[d]urch Wissenschaft und Kunst betören“ (V. 118) lassen, die als strategische Mittel der Kriegsführung von den Arabern eingeschleppt worden seien. Dass deren fremdartige Reize, die sowohl auf ihrem Kleidungsstil als auch auf Habitus und Temperament beruhten, besonders christliche Frauen in ihren Bann zögen, ergänzt Goethe selbstständig (vgl. V. 120–127). Evoziert wird somit das Klischee des attraktiven Fremden aus dem Morgenland, der kulturell überlegen und für Frauen sexuell anziehend sei, von den christlichen Rittern aber durch Konzentration auf Recht und Staat besiegt werden könne (vgl. V. 128–131). Dass diese Stereotype allerdings der eingeschränkten Perspektive Loredans entstammen und keineswegs von sämtlichen Figuren Goethes geteilt werden, zeigt sich im weiteren Handlungsverlauf. Denn Amenaide erhofft sich die Rettung aus ihrer Unfreiheit in Syrakus ja gerade nicht vom angeblich so verführerischen Sarazenen Solamir, der sie immerhin heiraten möchte, sondern vom Franken Tancred.33 Zumindest implizit erscheint dieser schon bei Voltaire als Personifikation der zuvor beschworenen Ritterideale – „the ideals of patriotism, bravery, military success, and devotation to a lady“34 – und als französischer Held avant la lettre,35 den das kriegsmüde Publikum gern gesehen haben dürfte. Entsprechend patriotisch wirkt es, wenn Tancrède nach seinem Duellsieg von Lorédan aufgefordert wird, die Religion und Gesetze von Syrakus gegen die Sarazenen zu verteidigen,36 wobei Goethes Dramenfassung wiederum eine bemerkenswerte Erweiterung aufweist: Im deutschen Text wird der Begriff „Freiheit“ ergänzt und als „[j]enes hohe Recht / Sich selbst Gesetze zu geben“ (V. 1284–1286) bestimmt. Postuliert wird demnach eine liberale Selbstgesetzgebung, die mit den moralischen Kategorien, welche auch andernorts in Goethes Tancred-Übertragung einfließen,37 und mit der Tradition der deutschen Aufklärung korrespondiert, aber nicht nur in diesem Punkt vom siècle des lumières Voltaires abweicht.38

33 Vgl. Goethe, „Tancred“, V. 581: „Ein einziger kann die Verwirrung lösen.“ 34 John Dunkley, „Medieval Heroes in Enlightenment Disguises: Figures from Voltaire and Belloy“, in: Peter Damian-Grint (Hrsg.), Medievalism and ‚manière gothique‘ in Enlightenment France, Oxford 2006, S. 152–180, hier S. 161. 35 Vgl. Henderson/Wynn, „Introduction“, S. 71: „[H]e is implicitly configured as being a French hero.“ 36 Vgl. Voltaire, „Tancrède“, IV.6, V. 14: „Défendez avec nous notre culte et nos lois.“ 37 Vgl. Goethe, „Tancred“, V. 493: „Pflicht, Freiheit, Ehre, Glück und Leben“. 38 Zur deutschen Aufklärung und ihrem Verhältnis zu Voltaire vgl. Gérard Raulet (Hrsg.), Aufklärung. Les Lumières allemandes, Paris 1995.

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III Die Heimat des Chors und der Schatten der Antike: Schillers Braut von Messina Ein anderer, nämlich ästhetischer Freiheitsbegriff findet sich nun in Schillers brieflicher Reaktion auf Goethes Voltaire-Übersetzung: Die Freiheit, die Sie sich mit dem französischen Original zu nehmen scheinen[,] ist mir ein sehr gutes Zeichen Ihrer produktiven Stimmung, auch auguriere ich daraus, daß wir noch einen Schritt weiter vorwärts kommen werden als beim Mahomet. […] Wenn Sie den Gedanken mit dem Chor ausführen, so werden wir auf dem Theater ein wichtiges Experiment machen

– mit diesen Worten animiert Schiller Goethe am 30. Juli 1800 zur Weiterarbeit.39 In seinem Brief erwähnt er überdies diejenige ästhetische Neuerung, die Goethe noch in seine Tancred-Übertragung integrieren will: „Als öffentliche Begebenheit und Handlung fordert das Stück notwendig Chöre, für die will ich auch sorgen“,40 hatte dieser zuvor an Schiller geschrieben, der mit seinen Entwürfen zur Braut von Messina, einem „Trauerspiel mit Chören“,41 beinahe zeitgleich ein ähnliches Projekt verfolgte.42 Dabei strebte er nicht nur den Agon mit den griechisch-antiken Tragikern an,43 sondern suchte auch den geographischen und kulturellen Ursprung des Chors zu bestimmen, der in Sizilien „einheimisch und ein lebendiges

39 Friedrich Schiller, Brief an Johann Wolfgang Goethe vom 30.07.1800, in: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 12, Norbert Oellers (Hrsg.), Frankfurt a.M. 2002, S. 526. 40 Goethe, Brief an Schiller vom 29.07.1800, S. 59. Was Goethe plante, aber nie ausführte, zeigt sein Vorschlag zu lyrischen Episoden für den Tancred, der für Zelter gedacht war und Auskunft über die intendierte Wirkungsästhetik des übersetzten Dramas gibt. Vgl. Johann Wolfgang Goethe, Konzept eines Briefes an Carl Friedrich Zelter vom Juli oder August 1800, in: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 11, Hans-Georg Dewitz/Wolfgang Proß (Hrsg.), Frankfurt a. M. 1998, S. 1261 f. 41 Friedrich Schiller, „Die Braut von Messina oder Die feindlichen Brüder. Ein Trauerspiel mit Chören“, in: Sämtliche Werke in fünf Bänden, Bd. 2, Peter-André Alt (Hrsg.), München/Wien 2004, S. 813–912. Zitate werden fortan nach dieser Ausgabe unter Angabe der Verszahl(en) im Fließtext nachgewiesen. 42 Vgl. dazu Karl S. Guthke, „Braut von Messina“, in: Helmut Koopmann (Hrsg.), Schiller-Handbuch, 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage, Stuttgart 2011, S. 494–516, und Georg-Michael Schulz, „Die Braut von Messina oder die feindlichen Brüder“, in: Matthias Luserke-Jaqui (Hrsg.), Schiller-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart/Weimar 2005, S. 195–214. 43 Schiller bezieht sich vor allem auf Aischylos und Sophokles, mit denen er wetteifern möchte, und kündigt Körner eine „einfache Tragödie, nach der strengsten griechischen Form“, mit Chören an. Friedrich Schiller, Brief an Christian Gottfried Körner vom 13.05.1801, in: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 12, Norbert Oellers (Hrsg.), Frankfurt a.M. 2002, S. 570 f., hier S. 570.

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Gefäß der Tradition“ sei,44 wie es in einem Brief an Körner aus dem Jahr 1803 heißt. Passend zur Antike-Rezeption der Weimarer Klassik und zum sizilianischen Handlungsschauplatz seines Dramas lässt Schiller im Gefolge der Protagonisten einen zweigeteilten Chor auftreten, der die Ritterrunde Voltaires und Goethes beerbt. „Einer aus dem Chor“ (V. 190) stellt gleich zu Anfang die rhetorische Frage: Warum ziehn wir mit rasendem Beginnen Unser Schwert für das fremde Geschlecht? Es hat an diesem Boden kein Recht. Auf dem Meerschiff ist es gekommen, Von der Sonne rötlichem Untergang, Gastlich haben wirs aufgenommen (Unsre Väter! Die Zeit ist lang) Und jetzt sehen wir uns als Knechte Untertan diesem fremden Geschlechte. (V. 203–211)

Rekapituliert wird hier die Geschichte der Normannen, die mit Schiffen aus dem Norden kamen und im 11. Jahrhundert ihre Vorherrschaft in Sizilien konsolidierten. Diese Geschehnisse und ihre Vorgeschichte hatte Schiller bereits in seiner Universalhistorischen Übersicht der merkwürdigen Staatsbegebenheiten zu den Zeiten Kaiser Friedrichs I. (1790) geschildert und dabei ähnlich wie der Essayist Voltaire die synkretistischen Verhältnisse auf Sizilien und die fehlende nationale Identität der Bevölkerung betont.45 In der Braut von Messina stammen die Protagonisten Don Manuel und Don Cesar vom „fremden Geschlecht“ (V. 204) der Normannen ab. Die Gründe für ihren „unselge[n] Bruderhaß“, der anfangs noch auf ein „unbekannt[es]“ (V. 25) Verhängnis zurückgeführt wird, kommen in dem analytischen Drama sukzessive ans Licht: Die Feindschaft geht letztlich auf die mehrfache, unter anderem inzestuöse Schuld der Mutter Donna Isabella, Fürstin von Messina, zurück (vgl. V. 960–980), die ihre Söhne darüber im Unklaren lässt, ihnen aber einschärft, der einheimische Chor könne der Herrscherfamilie, „den Fremdlingen, dem eingedrungnen Stamm“ (V. 341 f.), gegenüber gar nicht aufrichtig und wohlmeinend sein (vgl. V. 338–349). Somit wird der mythisch-familiäre Konflikt, der an Dramen von Aischylos (Orestie [458 v. Chr.]), Sophokles (König Ödipus [ca. 429 v. Chr.])

44 Friedrich Schiller, Brief an Christian Gottfried Körner vom 10.03.1803, in: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 12, Norbert Oellers (Hrsg.), Frankfurt a.M. 2002, S. 648–650, hier S. 649. 45 Vgl. Friedrich Schiller, „Universalhistorische Übersicht der merkwürdigen Staatsbegebenheiten zu den Zeiten Kaiser Friedrichs I.“, in: Nationalausgabe, Bd. 19.1, Waltraud Hagen/Thomas Prüfer (Hrsg.), Weimar 2003, S. 41–64.

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und Horace Walpole (The Mysterious Mother [1768]) angelehnt ist, zumindest partiell auf die ethnopolitische Ebene projiziert.46 Hierzu passen sowohl die zunächst irritierenden Namen der Hauptfiguren, die metonymisch für verschiedene Herrscherdynastien aus der bewegten sizilianischen Geschichte stehen,47 als auch das orientalische Ambiente, das Don Manuel auf „dem Bazar“ vorfindet, „wo die Mohren zum Verkauf / Ausstellen, was das Morgenland erzeugt / An edelm Stoff und feinem Kunstgewerbe“ (V. 814–817). Wie schon in Goethes Tancred-Drama wird der Orient mit exquisiten Schmuck- und Kleidungsstücken assoziiert, angeboten von Mauren und dazu geeignet, Frauen zu betören, wie es Don Manuel mit der schönen Unbekannten Beatrice vorhat:48 Er weiß noch nicht, dass es sich um seine Schwester handelt, die vor vielen Jahren in einem Kloster versteckt wurde (vgl. V. 1286–1356). Den Anlass dazu gaben der vom Vater eingeholte Orakelspruch „eine[s] sternekundigen Arabier[s]“ (V. 1317 f.), der den tragischen Familienverfall nach der Geburt einer Tochter ankündigte (vgl. V. 1231–1234), und ein darauffolgender Traum Donna Isabellas, dessen Deutung „ein Mönch, / Ein gottgeliebter Mann“ (V. 1346 f.), vornahm.49

46 Diese „frühe ethnologische Perspektive“ in Schillers Drama akzentuiert Günter Oesterle, „Friedrich Schiller: ‚Die Braut von Messina‘. Radikaler Formrückgriff angesichts eines modernen kulturellen Synkretismus oder fatale Folgen kleiner Geheimnisse“, in: Paola Chiarini/Walter Hinderer (Hrsg.), Schiller und die Antike, Würzburg 2008, S. 167–175, hier S. 168. 47 Zur Namensgebung vgl. Claudia Albert, „Sizilien als historischer Schauplatz in Schillers Drama ‚Die Braut von Messina‘“, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, 226/1989, S. 265–276, hier S. 268–270, und Beatrix Langner, „Der Name der Blume. Schillers Trauerspiel ‚Die Braut von Messina‘ als Dramaturgie der geschichtlichen Vernunft“, in: Otto Dann/Norbert Oellers/Ernst Osterkamp (Hrsg.), Schiller als Historiker, Stuttgart/Weimar 1995, S. 219–242, bes. S. 238 f.: „[D]ie dramatischen Figuren Isabella, Beatrice, Don Cesar und Don Manuel sind – auf der Ebene der dramatischen Handlung – Symbole historischer Phänomene. Sie verkörpern vier historisch verifizierbare politische Genera der europäischen Reichsidee, vertreten durch das von Justinian gegründete byzantinische Großreich (Don Manuel) und das weströmischkarolingische imperium sacrum (Don Cesar), die gleichzeitig bestanden, das staufische Reich (Beatrice), mit dem die Hoffnung auf Vereinigung beider Reiche verbunden war, und das spanisch-habsburgische Hl. Römische Reich deutscher Nation (Isabella), in dem sich praktisch die Auflösung des alten europäischen Machtgefüges vollzog.“ 48 Auch hier ist ein religiöser und kultureller Synkretismus zu konstatieren, denn „[i]n der Schilderung des Brautgewands für Beatrice durch Don Manuel wird bezeichnenderweise die christliche Symbolik der Jungfrau Maria mit griechisch-fernöstlichen Merkmalen angereichert: seine ‚Königin‘ ist ein Mischwesen aus der Jungfrau Maria (roter Mantel), der Madonna mit dem Strahlenkranz (ein Schleier, ‚gleich einem hellen Lichtgewölk‘), einer orientalischen Prinzessin (arabische Stoffe, indische Sandalen), einer griechisch-römischen Thronerbin (das Diadem, die goldene Mantelspanne […]) und damit ein Sinnbild byzantinisch-christlicher Prachtentfaltung“. Langner, „Der Name der Blume“, S. 238. 49 Vgl. dazu Oesterle, „Friedrich Schiller: ‚Die Braut von Messina‘“, S. 171.

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Die muslimische Prophezeiung und die christliche Traumdeutung „widersprechen“ (V. 2364) einander nur vermeintlich, letztlich treffen beide Vorhersagen ein. Denn Beatrice vereint zuerst „der Söhne streitende Gemüter / In heißer Liebesglut“ (V. 1350 f.), wird dann jedoch zum Anlass des Brudermords aus Eifersucht und des anschließenden Suizids von Don Cesar. Wenn sich dieser einerseits auf antike „Todesgötter[ ]“ (V. 2644) und andererseits auf den christlichen Monotheismus beruft (vgl. V. 2831), um seine Tat zu rechtfertigen, erscheint das zwar auf den ersten Blick recht fragwürdig. Plausibel wird es indes vor dem religions- und kulturhistorischen Hintergrund der Dramenhandlung, verdrängten doch unter der Stauferherrschaft im 11. und 12. Jahrhundert christliche Ideale die altgriechischen Konzepte in Messina.50 Dass sich dort „Christenthum, Griechische Mythologie und Mahomedianismus wirklich begegnet und vermischt haben“, entsprach denn auch Schillers Vorstellungen, wie dies der bereits zitierte Brief an Körner vom 10. März 1803 zeigt, in dem die „Vermischung dieser drey Mythologien“ gar „zum Charakter“51 seines Dramas erklärt wird. Abermals ist damit ein Synkretismus angesprochen, auf den Schiller durch verschiedene Reiseberichte und Studien zur sizilianischen Geschichte – vor allem durch Patrick Brydones A Tour Through Sicily and Malta: In a Series of Letters to William Beckford (1773) sowie durch Karl Wilhelm Ferdinand von Funcks Horen-Beiträge und dessen Geschichte Kaiser Friedrichs des Zweiten (1792) –,52 aufmerksam geworden sein dürfte.53

IV Resümee Geographisch in Syrakus oder Messina und historisch um die Jahrtausendwende in multikulturellen Gesellschaftsverhältnissen situiert, weisen die behandelten Dramen Voltaires, Goethes und Schillers signifikante Gemeinsamkeiten auf. Der

50 Auf diesen Paradigmenwechsel hat bereits Renate Homann, Erhabenes und Satirisches. Zur Grundlegung einer Theorie ästhetischer Literatur bei Kant und Schiller, München 1977, S. 124, hingewiesen. 51 Schiller, Brief an Körner vom 10.03.1803, S. 649. Vgl. zu diesem Brief Mathias Luserke-Jacqui, Friedrich Schiller, Tübingen/Basel 2005, S. 339 f. 52 Dass die genannten Werke zu den „wichtigsten von Schiller benutzen Quellen“ gehören, erläutert der Kommentar von Peter-André Alt, in: Schiller, Sämtliche Werke in fünf Bänden, Bd. 2, S. 1093–1305, hier S. 1281. Auf Schillers Kenntnis von Funcks Abhandlung Robert Guiscard. Herzog von Apulien und Calabrien, die 1797 im dritten Band der Horen erschienen war, verweist Albert, „Sizilien als historischer Schauplatz“, S. 27. 53 Schulz, „Die Braut von Messina oder die feindlichen Brüder“, S. 196, konstatiert diesbezüglich einen „religiösen Synkretismus“ – ein Begriff, dem der übergreifende Terminus ‚kultureller Synkretismus‘ aber vorzuziehen sein dürfte.

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sizilianische Schauplatz und die mittelalterliche Geschichte sind jeweils handlungstragend und motivieren bzw. plausibilisieren zum einen verschiedene ethnische, religiöse und kulturelle Konflikte, zum anderen – im Falle Schillers – auch die innovative Dramenästhetik, die den antiken Chor wiedereinzuführen versucht. Insofern handelt es sich bei allen drei Stücken um veritable SizilienDramen. Während ihre formale Konzeption bereits häufig untersucht wurde,54 hat man die Bezüge zur Anthropologie im Allgemeinen und zu deren völkerkundlichen Strömungen im Besonderen bis jetzt vergleichsweise wenig beachtet.55 Dass eine komparatistisch und interkulturell ausgerichtete Analyse der Dramen diese Implikationen und Kontexte aufdecken und damit einen Beitrag zur Forschungsdebatte um die völkerkundliche Anthropologie um 1800 leisten kann, sollte einsichtig geworden sein. Welche Bedeutung konkrete zeithistorische Umstände für die Entstehung und Rezeption der betreffenden Texte hatten – Voltaires Drama kam schon im vorrevolutionären Jahr 1760 zur Aufführung, die Stücke Goethes und Schillers gelangten erstmals 1803 auf die Bühne –, wäre hingegen noch genauer zu rekonstruieren.56 Schließlich dürften die Französische Revolution und die folgende Neuordnung Europas auch das zeitgenössische Denken und Schreiben über die Randgebiete des Kontinents wesentlich mitbestimmt haben.

54 Vgl. etwa Gustave Flaubert, Le Théâtre de Voltaire I, Theodore Bestermann (Hrsg.), Genf 1967, S. 307–330, und die in Anm. 42 genannten Studien zu Schillers Drama. 55 Vgl. aber die luzide Deutung von Oesterle, „Friedrich Schiller: ‚Die Braut von Messina‘“. Außerdem finden sich instruktive Ansätze bei Guthke, „Braut von Messina“, S. 265; Homann, Erhabenes und Satirisches, S. 124, und Gerhard Kluge, „Braut von Messina“, in: Walter Hinderer (Hrsg.), Schillers Dramen, Stuttgart 1979, S. 242–270, hier S. 258. 56 Auf eine ideen- und stoffgeschichtliche Verbindung zwischen Goethes Tancred-Übertragung und Schillers Braut von Messina, die beide „die Genese der europäischen Reichsidee mit staufischem Bezug als symbolische[n] Gegenstand“ hätten, weist Langner, „Der Name der Blume“, S. 236, hin.

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Völkerkundliche Anthropologie in August Klingemanns Geschichtsdrama Columbus Schiller war von der Kombination aus Neugierde und Kühnheit, die der Entdecker Christoph Kolumbus (1451–1506) verkörperte, schon früh fasziniert. In den Philosophischen Briefen rühmt er dessen „bedenkliche Wette mit einem unbefahrenen Meere“,1 die er schließlich auch gewann. In dem Gedicht Columbus aus dem Musen-Almanach für das Jahr 1796 lautet die Parole, mit der eine Idee zur Wirklichkeit gezwungen werden soll: „Immer, immer nach West! Dort m u ß die Küste sich zeigen, / Liegt sie doch deutlich und liegt schimmernd vor deinem Verstand.“2 Die Mission galt der Ergründung eines Seewegs nach Indien, die nicht nur zur Entdeckung und Eroberung des amerikanischen Kontinents führte, sondern auch zur Begegnung mit Menschen, die den Europäern bis dahin unbekannt waren. Mit Kolumbus’ Entdeckungsreisen erwacht im späten 15. Jahrhundert ein neues ethnologisches Interesse, das dreihundert Jahre später, in der Blütezeit der Anthropologie, auch literarische Aufmerksamkeit findet. Um 1800 gibt es ein geradezu modisches Interesse an der Menschheitsgeschichte, das sich nicht zuletzt auf dem Unterhaltungstheater abzeichnet. In deutschen Kolonial- und Plantagenstücken kommen Schwarze und Sklaven fast immer gut davon; Wolfgang Heribert von Dalbergs Oronooko (1786), Friedrich Wilhelm Zieglers Die Mohrinn (1801) oder August von Kotzebues Die Negersklaven (1802) sind nur drei der 21 von Barbara Riesche untersuchten Stücke aus der Zeit von 1776 bis 1814.3 Klingemanns Columbus (1808) tritt bei ihr aber nicht einmal beiläufig in den Blick.4 Das ist wenig verwunderlich, denn August Klingemann (1777–1831) ist literarhistorisch der vielleicht unbekannteste Bekannte um 1800.5 Seine anonym publi-

1 Friedrich Schiller, „Philosophische Briefe“, in: Werke. Nationalausgabe, Bd. 20, Benno von Wiese (Hrsg.), Weimar 1962, S. 107–129, hier S. 127. 2 Friedrich Schiller, „Columbus“, in: Werke. Nationalausgabe, Bd. 1, Julius Petersen/Friedrich Beißner (Hrsg.), Weimar 1943, S. 239. 3 Vgl. Barbara Riesche, Schöne Mohrinnen, edle Sklaven, schwarze Rächer. Schwarzendarstellung und Sklavereithematik im deutschen Unterhaltungstheater (1770–1814), Hannover 2010. 4 Das gilt auch für die Skizze der – vor allem französischen, italienischen und spanischen – literarischen Kolumbus-Rezeption in der Biographie von Frauke Gewecke, Christoph Kolumbus, Frankfurt a.M. 2006, S. 116–124. 5 Vgl. Achim Aurnhammer, Art. „Klingemann, August“, in: Wilhelm Kühlmann (Hrsg.), Killy Literaturlexikon, Bd. 6, Berlin/New York 22009, S. 483–485, und Hugo Burath, August Klingemann und die deutsche Romantik, Braunschweig 1948.

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zierten Nachtwachen von Bonaventura (1804) kennt fast jeder, nicht aber die zahlreichen Dramen und Theaterschriften des Braunschweiger Schauspieldirektors, der 1829 erstmals Goethes Faust (1808) auf die Bühne brachte. In letzter Zeit gibt es indes Anzeichen für ein neu erwachendes Interesse an Klingemann, einige jüngere Editionen lassen auf eine Wiederentdeckung dieses äußerst produktiven und vielseitigen Autors zwischen Klassik und Romantik hoffen.6 Zugegeben: Klingemanns Romane und Theaterstücke halten mit den intellektuell verrätselten und kompositorisch raffinierten Nachtwachen nicht immer Schritt. Als Produkte für ein größeres Publikum spiegeln sie aber umso besser den Zeitgeist, das öffentliche Interesse und die politischen Themen um 1800. Auch für die literarische Anthropologie wäre es lohnend, über die Nachtwachen – in denen es wesentlich um Fragen der Subjektkonstitution zwischen Rollenspiel, Maskenhaftigkeit und Wahnsinn geht – hinauszublicken. Vier Jahre früher erscheint etwa Selbstgefühl. Ein Karaktergemälde in fünf Aufzügen (1800). Die Handlung erscheint zunächst relativ banal: Ein Mann verlässt eine junge Frau und das gemeinsame Baby, macht bei Hof Karriere als Rat und heiratet dort die Tochter eines Ministers, die ein Kind von ihm erwartet. Als der Betrug auffliegt, sieht sich dieser Mann vor einem unlösbaren Dilemma: Als Verführer und Heiratsschwindler hat er sich strafbar gemacht, er ist in seinem Amt nicht mehr zu halten, verliert das Vertrauen des Ministers und Fürsten, und zu allem Überfluss überbieten sich beide Frauen noch in ihrer standhaften Liebe und Vergebung. Da entwickelt sich der Bruder der einstigen Geliebten zu einer Art sokratischem Lehrmeister: Statt dem ersten Impuls zur Rache oder gerichtlichen Anklage zu folgen, moderiert er den Konflikt als Psychologe. Nicht Amt, Ansehen oder öffentliche Ehre stehen ihm zufolge auf dem Spiel, sondern allein das Selbstgefühl als einzige Form der Ehre – also die innere Wahrnehmung, die Selbstachtung, die seelische Balance, letztlich die Bestimmung des Menschen. Seine Analyse und Empfehlung, die den Selbstmord aber nicht mehr verhindern können, lauten: „Sein Muth ist erloschen, sein Selbstgefühl unterdrückt, […] er steht am Rande des Abgrunds […]. Er muß zuvor ganz zernichtet werden, ehe er sich wieder erheben kann – er muß fort von hier und in einer andern Lage sich durch sich selbst wieder zu heben suchen.“7

6 Vgl. August Klingemann, Nachtwachen von Bonaventura, Freimüthigkeiten, Jost Schillemeit (Hrsg.), Göttingen 2012, ders., Ahnenstolz. Lustspiel in fünf Aufzügen nach Cramer, Manuel Zink (Hrsg.), Hannover 2012, und ders., Theaterschriften, Alexander Košenina (Hrsg.), Hannover 2012. 7 August Klingemann, Selbstgefühl. Ein Karaktergemälde in fünf Aufzügen, Braunschweig 1800, S. 113.

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Mit dem Konzept des Selbstgefühls ruft Klingemann eine der wegweisenden psychologischen und subjektphilosophischen Kategorien der Zeit auf, die etwa Hegel wenig später in der Phänomenologie des Geistes (1807) zum entscheidenden Bindeglied zwischen der ihrer selbst noch unbewussten sinnlichen Gewissheit und dem entwicklungsgeschichtlich später hervortretenden Bewusstsein und schließlich dem Selbstbewusstsein erhebt.8 Statt um diese Flanke einer seelenkundlichen Anthropologie des ganzen Menschen, die bei Klingemann weiter zu vertiefen wäre, soll es im Folgenden aber um die ethnologische Perspektive auf die ganze Menschheit gehen. Lange bevor sie sich im Geschichtsdrama Columbus manifestiert, kündigt sich diese Perspektive bereits in dem frühen Trauerspiel Die Maske (1797) an. Das Stück, eine Melange aus Schillers Räubern (1781), dem Fiesko (1784) und dem Geisterseher (1787–89), spielt im Italien des späten 16. Jahrhunderts. Die Herrschaft des aufgeklärten Herzogs Lorenzo und Antonie, die Dame seines Herzens, werden von dessen feindlichem Bruder Julius beansprucht. Um einen tückischen, intriganten Jesuitenpater formiert sich eine Gruppe von Verschwörern, die den schwachen Julius benutzt, um den kirchenkritischen Lorenzo zu stürzen. Verhindert wird dieser Staatsstreich von einem als Armenier maskierten Unbekannten, der den Herzog wiederholt warnt und schützt. Immer wieder greift er auf geheimnisvolle und scheinbar allwissende Weise als Verteidiger der Menschenrechte und der Aufklärung in das Geschehen ein. Er vereitelt einen Mordanschlag auf Lorenzo, verhindert einen Selbstmord, erschreckt mit einer unter seiner eigentlichen Larve getragenen Totenkopfmaske manchen Bösewicht und schlägt mittels Preisgabe seines wahren Gesichts die bewaffnete Rebellion der Armee nieder. Hinter den Masken – die auch in den Nachtwachen zur Verschleierung der wahren Identität gerne übereinander gestülpt werden – steckt Franzesko, der von Jesuiten nach Rom entführte und totgesagte Verlobte Antonies und zugleich verstoßener Sohn eines der Verschwörer. In unserem Zusammenhang ist entscheidend, wie sich der geheimnisvolle ‚Armenier‘ einführt: Er erzählt die Geschichte eines persischen Herrschers, der sich von seinem Volk geliebt glaubte, von seinem feindlichen Bruder aber hintergangen und aus dem Amt vertrieben wurde. Dieser verstoßene Herrscher überreichte dem Unbekannten einen Ring mit den Worten: „Gieb ihn einem Fürsten, der in Gefahr steht eben so betrogen zu werden.“9 Der aufs Äußerste bedrohte italienische Herzog weist die Parabel, den Ring und die wiederholte Warnung des

8 Vgl. Hermann Drüe, Art. „Selbstgefühl“, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Basel 1995, Sp. 444–453. 9 [August Klingemann,] Die Maske. Trauerspiel in vier Aufzügen, Braunschweig 1797, S. 14.

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Unbekannten indes leichtfertig von sich: „Wohl uns, daß es solche Brüder nur im Oriente giebt. […] [E]in solches Volk, einen solchen Fürsten wirst Du in Europa nicht finden.“10 Das Stück wiederlegt auf spannende und eindrucksvolle Weise diese eurozentrische Selbstgewissheit: Intrige und Verschwörung sind im Humanismus der italienischen Renaissance bzw. in dem damit umschriebenen deutschen aufgeklärten Absolutismus ebenso präsent wie in den legendenhaften Vorstellungen vom Orient. Während Klingemann die Relativierung einer vermeintlichen kulturellen Überlegenheit Europas in Die Maske lediglich als Ausgangspunkt für einen rasant dramatisierten Staatsstreich nutzt, erhebt er diese Perspektive gut zehn Jahre später zum zentralen Gegenstand seines Geschichtsdramas Columbus. Im März 1808 kündigt er es dem Freund Friedrich Ludwig Schmidt – nach Engagements in Braunschweig und Magdeburg inzwischen Schauspieler in Hamburg – wie folgt an: „Ich habe jetzt den Columbus begonnen, und diese Arbeit macht den Geist wieder gesund!“11 Dem historisch-romantischen Schauspiel in fünf Akten geht das Vorspiel Die Entdeckung der neuen Welt voraus, das die von der langen Fahrt ins Ungewisse zermürbte Mannschaft zeigt: Sie schickt sich zu einer Meuterei gegen Columbus an, weil das immer wieder versprochene Land nicht in Sicht kommen will. Die kurze Szene erzeugt eine ungeheure Fallhöhe, die Forderung an den „großen Mann“12 Kolumbus lautet: „Land, oder Tod!“ (238); die Besatzung ist mit der Geduld am Ende und hat ihm ein Ultimatum gestellt: Drei Tage räumte ihm das Schiffsvolk ein, Zur Fortsetzung der unglücksel’gen Irrfahrt, Doch wenn die vierte Morgenröthe nicht Das lang’ versprochne Land enthüllen wird, Verpflichtet ihn sein Eid das Schiff zu wenden, Und uns nach Spanien zurückzuführen. (219)

Das unverkennbar an Schiller orientierte Konzept unbeugsamer Größe bewährt sich buchstäblich in letzter Sekunde: In einem erhabenen Moment schicksalhafter

10 Ebd., S. 14 f. 11 August Klingemann, Brief an Friedrich Ludwig Schmidt vom 10.03.1808, in: Denkwürdigkeiten des Schauspielers, Schauspieldichters und Schauspieldirectors Friedrich Ludwig Schmidt (1772–1841), Hermann Uhde (Hrsg.), zweite Ausgabe, erster Theil, Stuttgart 1878, S. 274 f., hier S. 274. 12 August Klingemann, „Columbus. Ein historisch-romantisches Schauspiel in fünf Akten“, in: Theater, Bd. 2, Tübingen 1811, S. 213–413, hier S. 218. Nach dieser ersten Ausgabe wird im Folgenden mit nachgestellter Seitenzahl zitiert.

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Prägnanz – „Die nächste Stunde m u ß mein Wort erfüllen, / Wenn dieser Ball kein Spiel des Zufalls ist“ (239) – feuert die voraussegelnde Pinta zwei Kanonenschüsse ab und meldet durch das Sprachrohr: „L a n d ! L a n d ! L a n d ! “ (244) Kolumbus entscheidet die bedrohliche Situation letztlich als Menschenkenner für sich. Denn er weiß, wiederum mit Schiller13 und anderen Anthropologen: „Auch für den Herzenspol giebt’s einen Compaß“ (233). Menschenkenntnis wird hier zum Schlüssel für die Lösung eines lebensgefährlichen Konflikts zwischen Kolumbus und seiner Mannschaft in der beengenden Situation des Schiffsdecks gemacht, was auf eine Konstante des gesamten Stücks vorausdeutet. Immer wieder geht es darin um die Begegnung mit fremden Menschen, um die Deutung von Verhaltensweisen und Körperzeichen, letztlich um eine Form von Kulturhermeneutik. Im Vorspiel gelingt sie nicht zuletzt durch die Fokussierung auf einen kleinen, prägnanten Ausschnitt, den das Bühnenbild vorstellt. Klingemann hat diesen Kampfplatz für die wenigen Verteidiger und vielen Gegner des Kolumbus sorgfältig vorgegeben und der folgenden Briefpassage sogar als Skizze beigefügt. Das Theater stellt einen Theil des Verdeckes vor, Seiten und Hinter-Coulisse sind Luftperspective, um das Theater läuft eine kleine Galerie. In der Mitte sieht man den Mast bis in die oberen Koulissen hinaufragen, und Tauwerk und Strickleitern ziehen sich daran nieder. Der Schiffsjunge und die Matrosen klettern in die Höhe u s w.14

Das im Stile von Opernaufführungen ausschnittartig gezeigte Bühnenbild rückt Kolumbus ins Zentrum, der sich gegen alle Anfechtungen erfolgreich durchsetzt, dreimal den Schiffsjungen im Mastkorb befragt: „Was siehst Du Knabe?“ und immer die gleiche Antwort erhält: „Nichts als Meer und Himmel!“ (240 f.). Diese Perspektive korrespondiert zugleich dem kolonialen Blickwinkel schlechthin. So zeigt das Frontispiz zu dem Kinderbuch-Bestseller Die Entdeckung von Amerika (1780/81) von Klingemanns Onkel Joachim Heinrich Campe, in dessen Braunschweiger Garten er zuerst mit Vertretern der Romantik in Verbindung kam, im Vordergrund groß die spanischen Entdecker und Eroberer, klein im Hintergrund sieht man einige spärlich bekleidete ‚Indianer‘ schematisch angedeutet.

13 In der Voranzeige der Rheinischen Thalia kündigt Schiller 1786 „G e m ä l d e m e r k w ü r d i g e r M e n s c h e n u n d H a n d l u n g e n “ an, die gleichsam dazu dienen, „die Magnetnadel an sein Herz hinzuhalten“ und „neugefundene Räder in dem unbegreiflichen Uhrwerk der Seele“ zu beobachten. Friedrich Schiller, „Ankündigung der Rheinischen Thalia“, in: Werke. Nationalausgabe, Bd. 22, Herbert Meyer (Hrsg.), Weimar 1958, S. 93–98, hier S. 95. 14 Klingemann, Brief an Schmidt vom 10.03.1808, S. 275.

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Abb. 1: Die Skizze aus der Handschrift (Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, FLS: Bl. 168–169) wird hier mit freundlicher Genehmigung der Bibliothek abgebildet

Der Blick führt – wie hier – in der Regel von den europäischen Entdeckern zu den ‚Eingeborenen‘; Lichtenbergs kritische Umkehrung im folgenden Aphorismus ist eine eher seltene Ausnahme: „Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung.“15 Klingemann mochte ein solcher Perspektivenwechsel etwa aus Johann Gottfried Seumes – in Schillers Thalia erschienenem – Gedicht Der Wilde (1793) bekannt gewesen sein. Es handelt von einem ‚edlen Wilden‘, einem Indianer vom Stamm der Huronen, dem ein ‚zivilisierter‘ europäischer Pflanzer in einer Gewitternacht Hilfe und Herberge verweigert; als der Europäer sich aber selbst auf der Jagd im Wald verirrt, gewährt ihm der vorerst noch unerkannt bleibende „wackre Wilde“ vollendete Gastfreundschaft, um ihm am Ende eine Lektion zu erteilen: „Seht, ihr fremden, klugen, weisen Leute, / Seht, wir Wilden sind doch beßre Menschen“.16 Auch Klingemann eröffnet sein Hauptstück aus dieser Perspektive des heimgesuchten und eroberten

15 Georg Christoph Lichtenberg, „Sudelbücher II“, in: Schriften und Briefe, Bd. 2, Wolfgang Promies (Hrsg.), München 21975, S. 7–564, hier S. 166. 16 Johann Gottfried Seume, „Der Wilde“, in: Werke in zwei Bänden, Bd. 2, Jörg Drews (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1993, S. 478–481, hier S. 481. Vgl. dazu Norbert Puszkar, „Johann Gottfried Seume’s Der Wilde. Homely/Unhomely Encounters in the Wilderness“, in: Lessing Yearbook, 38/2008/09, S. 249–257.

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Abb. 2: Frontispiz von Joachim Heinrich Campes Die Entdeckung von Amerika (1780/81)

Volkes. Im ersten Akt wechseln die Szenen zwischen den Bewohnern von Haiti und den spanischen Seefahrern. Anders als im Drama erreichte Kolumbus am 12. Oktober 1492 wahrscheinlich zuerst die Inselgruppe der Bahamas (San Salvador oder Cat Islands) und fuhr dann erst weiter nach Kuba (Juana) und Haiti (Hispaniola).17 Der erste Brief aus der Neuen Welt – jener legendäre spanische Landungsreport, der in lateinischer Übersetzung in einem Fass dem Meer übergeben wurde – enthält aber viele Details, die auch bei Klingemann wiederkehren. Im Stück dominiert das „neoko17 Diese gängige Ansicht wurde 1986 von einer Expertenkommission in Frage gestellt, die von der Insel Saman Cay als erstem Landungsort ausging. Zur neueren Forschungsdiskussion, auch zum umstrittenen Verhältnis von Kolumbus’ Brief und Bordbuch, vgl. ausführlich Michaela Holdenried, Künstliche Horizonte. Alterität in literarischen Repräsentationen Südamerikas, Berlin 2004, S. 60–106.

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loniale Interesse, das die nicht-spanische Öffentlichkeit Europas bewegte“:18 ‚Edle Wilde‘ sehen sich friedlichen Europäern gegenüber, die ihre territorialen und wirtschaftlichen Ansprüche gleichwohl energisch verfechten. Klingemann bringt zunächst die indigene Bevölkerung aufs Theater, die sich durch ihre braune Hautfarbe auszeichnet. Zur Darstellbarkeit auf der Bühne bemerkt er in einem Brief: „Sollte die braune Farbe der Indier anstößig sein, so lässt sich (wie es in Berlin geschehen) durch ein stärker aufgetragenes r o u g e schon ein hinlänglicher Contrast hervorbringen.“19 Zu sehen ist zunächst die Häuptlingstochter Malwida, die vom tapferen Krieger Hatuei als Preis für drei Siege über die „Karaiben“ (250) begehrt wird. Kolumbus hatte von diesem grausamen, kannibalischen Inselvolk nur gehört;20 der Mythos findet zur Kontrastierung der freundlichen und vertrauenswürdigen Einwohner von Hispaniola indes Eingang in Klingemanns Drama. Malwida, so der Hintergrund für die sich anbahnende Kolonialromanze, ist allen Menschen gut, sie liebt Hatuei aber nicht als Mann und künftigen Gatten. In dieser heiklen Situation der Entscheidung – hier der siegreiche, werbende Eroberer, dort die verhaltene Tochter des ebenfalls zögernden Häuptlings – landen die Spanier an, inszeniert als eine strahlende Epiphanie. Den Insulanern kündigen sie sich durch ein völlig unbekanntes Erscheinungsbild und durch ungeheuerliche Zeichen an: Nach dem wiederholten Kanonendonner, den sich die Indianer nicht erklären können, tauchen drei Schiffe auf – „riesenart’ge Ungeheuer“ mit weiten Flügeln, die aussehen wie „große schwimmende Palläste“ (255) –, schließlich götterähnliche Wesen, deren Antlitz als ein nie gesehenes „helles blendend Weiß“ (256) erscheint. Die Eingeborenen, allen voran Malwida, sind überwältigt. Der erste symbolische Akt ist – wie auf dem Frontispiz zu Campes Jugendbuch zu sehen – die Inbesitznahme des unbekannten Landes. Nachdem die Fahnen in den Boden gerammt wurden und einige Matrosen den Boden geküsst haben, erklärt Kolumbus: „Im Namen Ferdinands und Isabellens, / Nehm’ ich Besitz von dieser neuen Welt! / […] / Und diese ganze Wunderwelt ist m e i n ! /

18 Susanne M. Zantop, Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland (1770–1870), Berlin 1999, S. 199. Abgesehen von einem kleinen populären Aufsatz (Helmut Barak, „Immer, immer nach West! Armands Amerika und Klingemanns Columbus“, in: Literatur in Bayern, 31/1993, S. 34–37) bietet Zantops Studie die bislang einzige Auseinandersetzung mit Klingemanns Stück (S. 199–205). 19 August Klingemann, Brief an einen unbekannten Adressaten vom 27.06.1809. Die Handschrift verwahrt die Universitätsbibliothek Heidelberg, Heid. Hs. 2120, 83. 20 Christoph Kolumbus, Der erste Brief aus der neuen Welt. Lateinisch/Deutsch, Robert Wallisch (Hrsg.), Stuttgart 2000, S. 31 f.: „Diese Insel bewohnt ein Volk, das von seinen Nachbarn für überaus grausam angesehen wird. Die Bewohner von Carib essen nämlich Menschenfleisch.“

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Mein Eigenthum! Die Schöpfung meines Geistes!“ (257 f.) Dem fremden Anführer als „Sonnengott“ (257) und seinen Begleitern als „Donnergötter[n]“ (259) unterwerfen sich die Haitianer ohne Zögern oder Vorbehalte, der – auch bei Campe namentlich genannte – Kazikenhäuptling Guakanahari legt ihnen symbolisch seine Krone zu Füßen, wenig später folgt ein „Segensfest“ (280) für die Ankömmlinge. Dieser Akt der Ergebung befeuert das koloniale Auftreten der Eroberer, die aus dem Erstaunen und Nichtwissen der Insulaner das Urteil „dummes Volk“ (263) ableiten zu können glauben. Sie selbst betonen ihre Abstammung „von recht tugendhaften Göttern“, bestehen aber auf ihrer natürlichen Überlegenheit gegenüber der auf Haiti vorgefundenen „Spielart“ (264) der Menschheit. Das Erstaunen der Einwohner beantworten sie demnach nicht mit eigener Neugierde, und gerne belassen sie diese im Irrglauben vom Erscheinen der Sonnengötter. Campes Jugendbuch – Klingemanns vermutliche Hauptquelle – beschreibt die Erstbegegnung in der Karibik mit ähnlichen Worten: Je länger die erstaunten Indier da standen und gafften, desto unbegreiflicher war ihnen alles, was sie sahen und was sie hörten. Die weiße Farbe der Europäer, ihr bärtiges Gesicht, ihre Kleidung, ihre Waffen, ihr Betragen – alles war ihnen neu und wunderbar. Und da sie nun vollends den Donner der Flinten und Kanonen hörten, fuhren sie zusammen, als würden sie vom Wetterstrahle getroffen, und hielten es endlich für ausgemacht, daß diese mit Blitz und Donner bewaffneten Fremdlinge keine Sterbliche, sondern übermenschliche Wesen, Kinder ihrer Gottheit, der Sonne, wären, die zu einem irdischen Besuche sich herabgelassen hätten.21

Das Verdikt der Dummheit gründen die Spanier vor allem auf das Unwissen der Eingeborenen über den Wert des Goldes. Warum sollten sie einem Metall aber besonderen Wert beimessen, das sie überall finden können? Statt die unterschiedliche Wertschätzung als kulturelle Differenz zu verstehen, werten die Eroberer das geringe Interesse der ‚Wilden‘ an Gold als Ausdruck von Dummheit und Rückständigkeit – „Dies arme Volk ist schrecklich noch zurück“ (267) – und nutzen es schamlos aus. Bereits im Brief aus der neuen Welt gibt Kolumbus diese eurozentrische Sichtweise vor, wenn er über den ungleichen und deshalb schließlich unterbundenen Tauschhandel von Gold gegen Nichtigkeiten berichtet: Auch Bruchstücke von Fassreifen, Krügen und Holzfässern nahmen sie, dumm wie das Vieh, und gaben dafür Baumwolle und Gold. Weil dies aber sehr ungerecht war, verbot ich diesen Handel und gab ihnen, ohne einen Preis zu verlangen, viele schöne und ansprechende

21 Joachim Heinrich Campe, Die Entdeckung von Amerika. Ein Unterhaltungsbuch für Kinder und junge Leute. Zur allgemeinen Schul-encyclopädie gehörig. Mit Titelkupfern und Karten, erster Theil, 5. Auflage, Braunschweig 1801, S. 64.

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Dinge, die ich zu diesem Zweck mitgebracht hatte, um sie leichter für mich zu gewinnen, und damit sie Christen würden.22

Kolumbus spielt den Menschenfreund, ist dabei aber keineswegs selbstlos: Gute diplomatische Beziehungen und Christianisierung sind seine wichtigsten Ziele. Dafür nimmt er – ohne Widerstand zu befürchten – gleich von der ersten Insel „einige Inder unter Einsatz von Gewalt mit“,23 um sie als Dolmetscher und ortskundige Führer heranzuziehen. Seinem König verspricht er im Brief die Rückführung von großen Mengen an Baumwolle, heidnischen Sklaven und Gold. Ausgerechnet das Edelmetall, für dessen Geringschätzung die Eingeborenen als äußerst dumm beurteilt werden, entpuppt sich indes bei Klingemann – in einer merkwürdigen interkulturellen Dialektik – als eigentlicher Keim des Konflikts. Ein zentrales, durchaus kolonialismuskritisches Motiv im Stück ist die Goldgier, die zur Spaltung der Mannschaft, zum Verlust des abtrünnigen Schiffes Pinta und zu politischen Intrigen gegen Kolumbus in der Heimat führt. Viele dieser Handlungselemente wirken wie Anspielungen auf die methodisch hoch reflektierte Vorrede von Georg Forsters Reise um die Welt (1778/80). Kolumbus wird darin gleich im zweiten Satz eingeführt, seine für die Menschheit so wichtige Mission aber zugleich mit den ökonomischen Interessen des spanischen Königshauses in Verbindung gebracht: „[D]ieser unsterbliche Seemann ward endlich nur darum in Schutz genommen, weil er eine neue, ohnfehlbare Quelle von Reichthümern entdeckte.“24 Wenn Forster im Folgenden auf die Relativität von Beobachtungen verweist und einen historischen Perspektivismus lehrt – „daß man einerley Dinge oft aus verschiedenen Gesichtspunkten ansieht“25 –, dann darf man Klingemann durchaus als seinen getreuen Schüler bezeichnen. Das zeigt sich nicht zuletzt am (Vor-)Urteil über die vermeintliche Dummheit von Angehörigen anderer Kulturen: Der von Cook von seiner Reise mitgebrachte Tahitianer O-Maï „ward in England für sehr dumm oder auch für besonders gescheut angesehen“.26 Im zweiten Akt von Klingemanns Stück – die erste Landung im Oktober 1492 liegt schon lange zurück – sieht man die Spanier im Goldrausch rauben, brandschatzen und vergewaltigen. Klingemann schließt sich hier deutlich der kolonialismuskritischen Perspektive Bartolomé de Las Casas’ an, der in seinem Kurzgefaßten Bericht von der Verwüstung der Westindischen Länder (1552) die

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Kolumbus, Der erste Brief aus der neuen Welt, S. 23. Ebd., S. 25. Georg Forster, Reise um die Welt, illustriert von eigener Hand, Frankfurt a.M. 2007, S. 39. Ebd., S. 41. Ebd., S. 43.

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Raubzüge und die christianisierende Conquista scharf verurteilte.27 Die offizielle spanische Geschichtsschreibung der Zeit verwirft den Bericht Las Casas’, der die Gräuel dieser ‚Eroberung‘ erstmals als Völkermord benennt, als Leyenda negra, als schwarze Legende. Herder jedoch nimmt ihn in seinen Briefen zu Beförderung der Humanität (1796) gegen den Vorwurf der Übertreibung und glühenden Einbildungskraft in Schutz und fragt: „Und warum sollte das was man glühende Einbildungskraft nennet, nicht lieber ein edles Feuer des Mitgefühls mit den Unglücklichen gewesen seyn“?28 „Das Gold ist ihre Gottheit“ (312), lautet im Stück die zutreffende Erklärung der indigenen Bevölkerung für die unerwartete Offensive der Spanier. Zur Besänftigung der Götter werfen die Insulaner das gesamte verfügbare Gold ins Feuer oder ins Meer. Hatuei führt den Widerstand gegen die fremden Eroberer an und ruft sein Volk „[z]um Kampf gegen diese weißen Tieger“ (318) auf. Diese erscheinen plötzlich nicht mehr als Götter, sondern nur noch als sterbliche „Menschen gleich uns selbst“ (315) – allerdings mit schwarzen Herzen. Der Kazikenhäuptling Guakanahari und seine Tochter beharren hingegen auf des „Gastrechts Pflicht“ (321) und schützen die Weißen. Malwida lässt dafür sogar ihr Leben, als sie sich – im dritten Akt – vor Kolumbus stellt und von einem Giftpfeil des in Eifersucht entbrannten Hatuei tödlich getroffen wird: Diesen tragischen Höhepunkt der eingelagerten Kolonialromanze zeigt das Frontispiz der Wiener Ausgabe von 1820. Durch diese Entwicklung ist eine Art Gleichgewicht in dem Drama hergestellt: Kolumbus wird von der goldgierigen Besatzung der abtrünnigen Pinta am spanischen Hofe des „Hochverraths“ (292) beschuldigt; der aufständische Hatuei stößt Guakanahari als „Verräther“ (322) nieder, weil dieser die Spanier schützt, und tötet seine um Kolumbus werbende Geliebte Malwida, die als missionierte Christin stirbt. Diese Konstellation chiastischer Loyalität zwischen amerikanischer Urbevölkerung und Europäern erinnert an die im 18. Jahrhundert populäre – unter anderem von Gellert (1748) lyrisch gestaltete – Geschichte von Inkle und Yariko: Sie erzählt von einem Engländer, den eine Indianerin vor ihren eigenen Stammesgenossen rettet, um anschließend ohne jede Dankbarkeit in die Sklaverei verkauft zu werden.29

27 Vgl. den Text und insbesondere das Nachwort in: Bartolomé de Las Casas, Kurzgefaßter Bericht von der Verwüstung der Westindischen Länder, Hans Magnus Enzensberger (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1966. 28 Johann Gottfried Herder, „Briefe zur Beförderung der Humanität“, in: Sämtliche Werke, Bd. 18, Bernhard Suphan (Hrsg.), Berlin 1883, S. 1–356, hier S. 238. 29 Vgl. Florian Gelzer, „Inkle und Yarico in Deutschland: Postkoloniale Theorie und Gattungsgeschichte im Konflikt“, in: The German Quarterly, 77/2004, 2, S. 125–144.

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Während der vierte Akt sich vor allem als politisches Geschichtsdrama über die Rebellion um Francisco Roldán und die Entmachtung von Kolumbus als Gouverneur und Vizekönig durch Francisco de Bobadilla im Jahre 1500 entwickelt,30 wendet sich der fünfte Aufzug nochmals stärker den Individualkonflikten zu. Kolumbus bleibt die Lichtgestalt, die – contra historiam – zuletzt auch von allen Vorwürfen freigesprochen wird, die niederträchtige Intriganten mit gefälschten Dokumenten aufgebracht haben. Ganz im Zeichen einer idealisierten Aufklärung bleibt er dem Grundsatz treu: „Laßt lieber eignen Untergang uns wählen, / Als dies schuldlose gute Volk verderben!“ (353) Die bürgerkriegsartige Notwehr der indigenen Bevölkerung versucht er zu besänftigen durch die Deutung einer totalen Mondfinsternis als Zeichen des zürnenden Sonnengottes: „[T]ödtliche[n] Schrecken“ (357) fordert entsprechend die Regieanweisung als Reaktion in den Gesichtern der Indianer.

Abb. 3: Frontispiz von Klingemanns Columbus, Wien 1820

30 Vgl. die konzise Darstellung in der Biographie von Gewecke, Christoph Kolumbus, S. 41–67.

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Hatuei, der Mörder Malwidas und Anführer der Rebellion, erhebt die schwersten Vorwürfe gegen die Kolonialherren. Stellvertretend klagt er die göttliche Sonne an, „[d]aß sie hieher die weißen Männer sandte, / Zum Mörder und Verbrecher mich zu wandeln“ (388). Die schrecklichen Folgen der Okkupation, die Versklavung der Bevölkerung in Goldminen und Plantagen, ist unübersehbar: Unmenschlich wüthen diese bösen Weißen, Die Männer sterben in den tiefen Minen, Und unsre treuen Weiber auf den Feldern, Wo man mit Schwertern sie zum Anbau zwingt! (389)

Weiter heißt es: Zum Fluche bist du [Kolumbus] unter uns erschienen! Vernichtet ist der Friede und die Treue, Die Unschuld und der alten Götter Seegen, Seitdem die alten Teufel hier gelandet! (406)

Hatuei, der sich zum Schein an der Befreiung des Kolumbus beteiligt, tatsächlich aber die Absicht hegt, diesen selbst als ersten der „weißen Teufel“ (406) zu töten, verletzt sich in einem Handgemenge am eigenen Giftpfeil und stirbt. Seine bedrückende Einschätzung der Lage seines Volkes teilt freilich ein spanischer Offizier; sie bestätigt sich für Kolumbus also auch aus einer anderen Perspektive: Es ist das Schicksal Hispaniolas! – Gleich einem Teufel wüthet Bovadilla, Ein großes Mordfeld ist die weite Insel, Und keine Gottheit kann die Schuld bezahlen, Die hier an diesem armen Volk verübt, Zu hunderten schleppt man sie in die Minen, Sie bluten fallend unter ihren Henkern (403)

Der ungeheure Grad an Unterdrückung und Verwüstung lässt Kolumbus selbst an seiner Mission zweifeln: Den Vorwurf des Hochverrats an der spanischen Krone kontert er mit der Formel vom Hochverrat „an der ganzen Menschheit“ – ermöglicht durch seine eigene Entdeckung und begangen von der „Christen Grausamkeit“ (378). Entgegen der historischen Realität wird bei Klingemann nicht Kolumbus in Ketten nach Spanien zurückgeschickt, sondern sein korrupter Widersacher Bobadilla. Kolumbus hingegen erhält eine zweite Chance zur besseren, menschlicheren Kolonisierung der Neuen Welt. Sein Schlussplädoyer lautet: „Mit Kühnheit will ich denn mein Werk beginnen; / Und wenn die Nachwelt diesen Zeitpunkt richtet, / So richte sie mich s e l b s t , und nicht mein Schicksal!“ (413) Tatsächlich

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ist dies, wie Susanne M. Zantop bemerkt, die Perspektive der deutschen Romantik auf das koloniale Geschehen um 1500: „Als ein wiedergeborener Kolumbus kann der Entdecker zum Identifikationsobjekt für Deutsche werden, die ‚wie er‘ sind – ehrlich, moralisch, väterlich, diszipliniert, ausdauernd, mutig, fleißig und klug – und denen deshalb auch eine zweite Chance zugestanden werden sollte.“31 In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, dass Klingemann sich offenbar weniger an differenzierten historischen Quellen orientiert, sondern eher auf populäre Erzählungen und Legenden setzt. Während Campe die Ereignisse für so bedeutend hielt, dass er sie in einem Jugendbuch für die Bildung der jungen Leserschaft aufbereitete, übernahm Klingemann dieses didaktische Konzept für das größere Theaterpublikum. Damit schuf er ein historisches Drama, das weniger auf eine Geschichtslektion als auf eine Selbstverständigung der ‚deutschen Seele‘ zielt. Columbus war auf der Bühne sehr gefragt, Klingemann berichtet im März 1809 von Inszenierungen in Dresden und Wien.32 Zu der insgesamt positiv aufgenommenen Berliner Aufführung am 13. April 1809 bestätigt die Haude- und Spenersche Zeitung die Zentralstellung des Kolumbus, gegen den das ganze übrige Dramenpersonal „eigentlich nur Folie“ sei. Die Wildheit des Eingeborenen Hatuei sowie die Grausamkeiten der Spanier wirkten in ihrer Expressivität jedoch etwas befremdend und anstößig auf das deutsche Publikum: Hr. Bethmann hatte mit der wilden Natur des Indier-Anführers Hatuei zu kämpfen; die Raserei verschmähter Liebe, eifersüchtige Wuth und Rache, welche der Dichter für Europäer mit zu crassen Farben, wenn gleich wahr, auftrug, drückte Hr. B. mit wirklicher Leidenschaft aus; einige Mäßigung des wild lodernden Feuers dürfte indeß den unmenschlichen Charakter erträglicher machen. – Ueberhaupt thut diesem – eigentlichen – Trauerspiel – die zu natürliche und wiederholte Schilderung der spanischen Greuelthaten in dem friedlichen fremden Lande, Schaden, und das zu lange Ganze dürfte bei mildernder Abkürzung gewinnen.33

31 Zantop, Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland, S. 201. 32 August Klingemann, Brief an Friedrich Ludwig Schmidt vom 26.03.1809, in: Denkwürdigkeiten des Schauspielers, Schauspieldichters und Schauspieldirectors Friedrich Ludwig Schmidt (1772–1841), Hermann Uhde (Hrsg.), zweite Ausgabe, erster Theil, Stuttgart 1878, S. 276 f.: „Mein Columbus geht mir reißend ab. Auch in Wien haben sie ihn angenommen und honorirt, wobei mir der Fürst Esterhazy eigenhändig sehr schmeichelhaft geschrieben hat. Am 4ten April wird er dort in Szene gehen. In Dresden ist er am 16ten März gegeben, und ich habe von dorther sogar ein Sonett erhalten, dessen Verfasser Winkler (Theodor Hell) ist.“ Das Huldigungsgedicht, in dem im zweiten Terzett Schiller über der Szene schwebt und ausruft: „E r f ü r m i c h !“, ist abgedruckt in: Paul Zimmermann, „Aus den Briefschaften August Klingemanns“, in: Braunschweigisches Magazin, 1923, S. 25. 33 Der anonym publizierte Text ist abrufbar unter: http://berlinerklassik.bbaw.de/BK/theater/ Zeitung.html?zeitung_id=257 (letzter Zugriff am 15.10.2013).

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Klingemanns Ansatz, Kolumbus zu einem ‚großen Mann‘ um 1500 zu stilisieren, passt bestens in die Geschichtsauffassung des frühen 19. Jahrhunderts.34 Seine Interpretation, die historisch belegbare Züge wie Ehrgeiz und Ruhmsucht ausspart,35 hebt weniger auf den tollkühnen Seefahrer und tatkräftigen Eroberer als auf den nachdenklichen, fast behutsamen Entdecker und Forscher ab, der den anthropologisch sensiblen Kontext der ganzen Menschheit im Blick behält. Eine solche Deutung vertrat am prominentesten Alexander von Humboldt in seinem Examen critique de l’histoire de la géographie de Nouveau Continent (1836–39), wo er Kolumbus’ „Eroberung durch Nachdenken“36 hervorhebt. Dieses Verdienst sei, so Humboldt, bis dahin weniger belichtet worden als sein unbeugsamer Wille: Sicherlich verdienen die intellektuellen Fähigkeiten des Columbus nicht mindere Bewunderung als die Tatkraft seines Willens; aber es liegt in den Bestimmungen des menschlichen Geschlechts, die Kraft, ja selbst das Übermaß der Kraft dem edlen Aufschwunge der Gedankentätigkeit vorgezogen zu sehen. […] Unter den Charaktereigenschaften des Columbus müssen vorzugsweise der durchdringende Blick und der Scharfsinn hervorgehoben werden, womit er die Erscheinungen der Außenwelt erfaßt. Er ist ebenso bewundernswert als genauer Beobachter der Natur wie als unerschrockener Seefahrer.37

„[G]enauer Beobachter der Natur“ – kaum eine Formel wäre geeigneter, um eine Anthropologie des ganzen Menschen wie der ganzen Menschheit prägnant zu erfassen. Indem Klingemann in diesem Sinne Kolumbus’ Beitrag zum Völkerverständnis und vielleicht auch zur Völkerverständigung vor dessen Kontinentalentdeckung rückt, profiliert er die Forscher- gegenüber der Erobererfigur. Dass er sein Stück später in einem trübseligen Augenblick wie sein „dramatisches Talent“ insgesamt radikal in Frage stellte und den Columbus als „aufgedunsene[n] Tugendquark“38 verwarf, sollte uns nicht irritieren. Der Text mag aus ästhetischer

34 Vgl. Michael Gamper, „Ausstrahlung und Einbildung. Der ‚große Mann‘ im 19. Jahrhundert“, in: Jesko Reiling/Carsten Rohde (Hrsg.), Das 19. Jahrhundert und seine Helden. Literarische Figurationen des (Post-)Heroischen, Bielefeld 2011, S. 173–198. Herzog Lorenzo in Klingemanns Die Maske wäre ein anderes Beispiel für dieses Konzept. 35 Vgl. Gewecke, Christoph Kolumbus, S. 85–87. 36 Alexander von Humboldt, Kritische Untersuchung zur historischen Entwicklung der geographischen Kenntnisse von der neuen Welt und den Fortschritten der nautischen Astronomie im 15. und 16. Jahrhundert, Ottmar Ette (Hrsg.), Frankfurt a.M./Leipzig, 2009, S. 190. 37 Ebd., S. 191–193. 38 August Klingemann, Brief an Friedrich Ludwig Schmidt vom 10.09.1822. Die Handschrift verwahrt die Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, CS2, Klingemann, Ernst August Friedrich, Bl. 3–4.

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Perspektive keine große Aufmerksamkeit verdienen, zu dem um 1800 starken öffentlichen Interesse an der Völkerkunde und dem zunächst verpassten Kolonialismus in Deutschland leistet es aber einen aufschlussreichen populären Beitrag.

Dieter Heimböckel, Luxemburg

Von Locarno bis St. Jago oder: alles relativ? Heinrich von Kleists Neuigkeiten aus der Provinz I Von Christen und Seeländern Jüngsten Berechnungen zufolge soll Heinrich von Kleist in seiner vergleichsweise kurzen Lebensspanne, die von seiner Geburt in Frankfurt an der Oder am 10. Oktober 1777 bis zu seinem Freitod am Kleinen Wannsee (Berlin) am 21. November 1811 reicht, nicht weniger als 27.799 Kilometer, also drei Viertel des Erdumfangs, zurückgelegt haben.1 Dabei war Kleist nicht einmal ein Globetrotter wie sein Zeitgenosse Alexander von Humboldt; mit dem Schiff ist er nie unterwegs gewesen, und der südlichste Zielpunkt seines Reisens war die oberitalienische Lombardei. Nach Rom oder in die Ägäis hatte es ihn nie verschlagen, geschweige denn in die Karibik oder nach Südamerika. Kleist reiste viel, aber nicht weit.2 Im Feld der Literatur dagegen bewegte sich Kleist geographisch ungleich weit- und weltläufiger. Zwar bleibt er dem deutschen Sprachraum durchaus gewogen, wenn er einige seiner Dramen und Novellen in Brandenburg, Sachsen, Westfalen oder Schwaben spielen lässt, aber angesichts seines eigenen eher bescheidenen Reiseradius ist der literarische Ausgriff auf die Nahfremde – auf die Niederlande, die italienische Schweiz, Italien und Griechenland –, vor allem jedoch auf den überseeischen Raum einigermaßen beachtlich. Kleist partizipiert damit an der in der Aufklärung begonnenen literarischen Neuvermessung der Welt, ohne allerdings ihre Prämissen zu teilen. Während viele Aufklärer ferne und fremde Welten bereisen und beschreiben, um den eigenen Wissens- und Erfahrungshorizont zu erweitern und daraus Einsichten für den eigenen Standort zu gewinnen, greift Kleist dieses Wissen auf, um es in Frage zu stellen. Während die Aufklärer das Fremde aufsuchen, um es zu verstehen, nimmt Kleist das Fremde zum Anlass, um Nichtverstehen zu thematisieren. Und während nicht wenige Aufklärer glauben, aus der Auseinandersetzung mit dem Fremden die Universalität ihrer Wertvorstellungen ableiten zu können, macht Kleist am Fremden deren Relativierung fest. Eine dafür zentrale Äußerung, die immer wieder als Beleg für seine Werterelativierung im Zuge der sogenannten Kant-Krise zitiert wird, ent1 Die Berechnung geht auf ein Schülerprojekt im Rahmen des Kleist-Jahres 2011 zurück. Vgl. Hubert Spiegel, „Kleists Katzensprünge“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.05.2011. 2 Vgl. Ingo Breuer, „Kleists Nomadentum“, in: Günter Blamberger/Stefan Iglhaut (Hrsg.), Kleist. Krise und Experiment. Die Doppelausstellung im Kleist-Jahr 2011, Bielefeld u.a. 2011, S. 84–91.

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Dieter Heimböckel

stammt einem seiner Briefe aus Paris, wo ihm die Konfrontation mit dem Alltagsleben die Illusion nimmt, dass sich die in Deutschland vielbewunderte französische Aufklärungsphilosophie in der Praxis umsetzen ließe. Am 15. August 1801 schreibt Kleist an Wilhelmine von Zenge: Ja, wahrlich, wenn man überlegt, daß wir ein Leben bedürfen, um zu lernen, wie wir leben müßten, daß wir selbst im Tode noch nicht ahnden, was der Himmel mit uns will, wenn niemand den Zweck seines Daseins und seine Bestimmung kennt, wenn die menschliche Vernunft nicht hinreicht, sich und die Seele und das Leben und die Dinge um sich zu begreifen, wenn man seit Jahrtausenden noch zweifelt, ob es ein Recht giebt – – kann Gott von solchen Wesen Verantwortlichkeit fordern? Man sage nicht, daß eine Stimme im Innern uns heimlich und deutlich anvertraue, was recht sei. Dieselbe Stimme, die dem Christen zuruft, seinem Feinde zu vergeben, ruft dem Seeländer zu, ihn zu braten und mit Andacht ißt er ihn auf – 3

Es gibt, so die Quintessenz dieser Äußerung, keinen übergeordneten Maßstab, der es uns erlaubt, eine Handlung als gut oder böse zu beurteilen. Deren Einschätzung erfolgt vielmehr nach Maßgabe ihrer kulturellen Voraussetzungen bzw. steht in Abhängigkeit von den Grundlagen ihres jeweiligen kulturellen Umfeldes. Von dieser Warte aus müsste die im Titel meines Beitrags aufgeworfene Frage schon an dieser Stelle zurückgenommen oder durch ein eindeutiges Ja beantwortet werden. Der Zusammenbruch des aufklärerischen Glaubens, der sich in der Briefpassage dokumentiert, mündet demnach unmittelbar in die Relativierung aller Werte und die Vorstellung, dass kulturelle Ordnungen prinzipiell vieldeutig sind. Mit der Feststellung, dass Kleist sich dem Relativismus verschrieben habe, ist allerdings nur bedingt etwas gewonnen. Denn sie sagt weder etwas über dessen Herleitung und Ausprägung noch über dessen Bedeutung für sein Werk aus. Sie sagt aber vor allem nichts darüber aus, ob die Abkehr von der Aufklärung sich nicht unter Voraussetzungen vollzieht, die in ihr selbst bereits angelegt sind, die aber durch Kleist eine spezifische Weiterführung erfahren. Nachfolgend sollen daher zunächst diese Voraussetzungen geklärt werden, indem anhand der schon länger geführten Diskussion um Herders Kulturbegriff die Übergängigkeit von Universalismus und Relativismus in den Blick gerückt wird. Anschließend wird es einerseits darum gehen, die für Kleists Position spezifische Engführung von sprachlichem und kulturellem Relativismus als ein Charakteristikum seiner Anthropologie herauszuarbeiten. Andererseits richtet sich mein Augenmerk auf die Frage, inwieweit sich seine Poetik des Befremdenden auf seine Anthropologie

3 Heinrich von Kleist, Sämtliche Briefe, Neuausgabe, Dieter Heimböckel (Hrsg.), Stuttgart 2011, S. 270 f.  

Von Locarno bis St. Jago oder: alles relativ?

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zurückbeziehen lässt und in welcher Form sie in sein Werk, speziell in Das Erdbeben in Chili und Die Verlobung in St. Domingo, hineinwirkt.

II Unter Spannung: Herders Kulturanthropologie In der neueren Diskussion um Herders Kulturbegriff sind zwei Kontroversen entbrannt, die auf den ersten Blick parallel zu verlaufen scheinen, bei näherer Betrachtung aber unterschiedlichen Implikationen folgen. Es geht dabei zum einen um die Frage, ob Herder einen offenen bzw. pluralistischen oder einen essentialistischen Kulturbegriff vertritt, und zum anderen um das Problem seiner Zuordnung, darum also, inwieweit seine Kulturtheorie zum Universalismus tendiert oder aber relativistische Züge aufweist. Je nach Schwerpunktsetzung gilt er den einen als Kulturchauvinist und Vordenker des modernen Nationalismus, den anderen als Vorläufer der amerikanischen Kulturanthropologie und früher Wegbereiter interkulturellen Denkens. Aus diesem geradezu abstrus anmutenden Gegensatz zieht die jüngere Forschung allerdings die Konsequenz, die konträren Positionen nicht gegeneinander aufzurechnen, sondern in ihnen ein für Herders Kulturtheorie spezifisches Spannungsverhältnis auszumachen. „Herders Schriften“, so Till Dembeck, „bieten Ansätze zu einem systematisch verankerten Kulturkonzept, die eine präzise Beschreibung dieser Spannungen ermöglichen – vielleicht auch gerade deshalb, weil sie sie selbst mit hervorgebracht haben.“4 Die in Herders Universalgeschichte der Menschheit zutage tretenden Spannungen ergeben sich aus dem nicht immer widerspruchsfreien Verhältnis zwischen philosophischer Anthropologie einerseits und Kulturanthropologie andererseits. Während seine philosophische Anthropologie darauf zielt, den Menschen als Gesellschaftswesen zu deuten, das sich durch seine göttliche Vernunft und Sprachbegabung vom Tier unterscheidet und in der Lage ist, in Freiheit zu einer religiös begründeten Lebensform zu gelangen, kommt der darin enthaltene Gedanke von der Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen mit Herders Kulturanthropologie dort in Konflikt, wo er kulturrelativistisch von der Gleichwertigkeit der unterschiedlichen Kulturen ausgeht: Das „anthropologische Axiom der

4 Till Dembeck, „X oder U? Herders ‚Interkulturalität‘“, in: Dieter Heimböckel u.a. (Hrsg.), Zwischen Provokation und Usurpation. Interkulturalität als (un)vollendetes Projekt der Literaturund Sprachwissenschaften, München 2010, S. 103–128, hier S. 105. Vgl. auch Anne Löchte, Kulturtheorie und Humanitätsidee der „Ideen“, „Humanitätsbriefe“ und „Adrastea“, Würzburg 2005, S. 26, und schon früher Hans-Jakob Werlen, „Multikulturalismus, Postmoderne und Herder“, in: Regine Otto (Hrsg.), Nationen und Kulturen. Zum 250. Geburtstag Johann Gottfried Herders, Würzburg 1995, S. 303–317, hier S. 312.

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Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen lässt Herder auf einen Fortschritt in der Geschichte der menschlichen Kultur und damit auf unterschiedliche Kulturstufen schließen. Damit steht aber sein Kulturrelativismus in einer widersprüchlichen Spannung zu seiner Entwicklungstheorie.“5 Mit diesem Widerspruch eng verknüpft ist das Problem von Herders Hermeneutik des Fremden. Denn ihm geht es zwar darum, die Kulturen in ihrer jeweiligen Ausprägung zu verstehen, doch kommt es bei ihm zu ethnozentrischen Einseitigkeiten, die zwischen dem Bild vom edlen Wilden und dem vom wilden Barbaren changieren können. Insofern verwundert es auch nicht, dass Herder allen Völkern attestiert, Kulturvölker zu sein („Welches Volk der Erde ists, das nicht einige Cultur habe?“),6 dass er aber dessen ungeachtet Völker zu kennen meint, die zur „niedrigste[n] Gattung der Menschen“7 zählen und mithin noch den Anfängen ihrer kulturellen Entwicklung verhaftet seien. Aus diesem spannungsreichen kulturtheoretischen Konglomerat geht Herder als Universalist und Relativist sowie als Vertreter einer teleologischen ebenso wie einer pluralistischen Kulturentwicklung hervor. In der Unterscheidung zwischen philosophischer Anthropologie und Kulturanthropologie liegt jedoch zugleich die Möglichkeit begründet, die internen Spannungen von Herders Kulturtheorie und der daraus hervorgehenden Deutungen und Folgen zu klären. Denn dort, wo Herder kulturanthropologisch argumentiert, privilegiert seine Anthropologie, wie es Ulrich Gaier formuliert, eine „Theorie der Kulturen im Plural“,8 das heißt, die Kulturen werden in ihrer Vielfalt erfasst und unter ihren je eigenen Voraussetzungen, Möglichkeiten und Leistungen begriffen. „Da die große Mutter auf unsrer Erde kein ewiges Einerlei hervorbringen konnte noch mochte: so war kein andres Mittel, als daß sie das ungeheuerste Vielerlei hervortrieb und den Menschen aus einem Stoff webte, dies große Vielerlei zu ertragen“,9 heißt es in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, wo gleichzeitig ein Aufriss über die den Kulturen inhärenten Anlagen zur je eigentümlichen Vollkommenheit gegeben wird: Bei den Sinesen wars eine feine politische Moral: bei den Indiern eine Art abgezogener Reinheit, stiller Arbeitsamkeit und Duldung: bei den Phöniciern der Geist der Schiffahrt und

5 Mathias Hildebrandt, Multikulturalismus und Political Correctness in den USA, Wiesbaden 2005, S. 136. 6 Johann Gottfried Herder, „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“, in: Werke, Bd. 3.1, Wolfgang Proß (Hrsg.), München/Wien 2002, S. 9. 7 Ebd., S. 222. 8 Ulrich Gaier, „Herder als Begründer des modernen Kulturbegriffs“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, 57/2007, 1, S. 5–18, hier S. 16. 9 Herder, „Ideen“, S. 30.

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des handelnden Fleißes. Die Cultur der Griechen, insonderheit Athens, ging auf ein Maximum des sinnlich-Schönen sowohl in der Kunst als den Sitten, in Wissenschaften und in der politischen Einrichtung. In Sparta und Rom bestrebte man sich nach der Tugend eines vaterländischen oder Heldenpatriotismus; in beiden auf eine sehr verschiedene Weise.10

Im Vielerlei der Kulturen sieht Herder ihre Alterität verbürgt. Jede Kultur hat ihre eigenen Vorzüge und ihre eigene Berechtigung, jede Kultur bringt ihre eigenen Leistungen hervor und „jede trägt das Ebenmaß ihrer Vollkommenheit, unvergleichbar mit andern, in sich“.11 Doch obwohl Herder die Unvergleichbarkeit der Kulturen konstatiert, belässt er es nicht dabei. Während der Relativismus, zumal in seiner modernen Ausprägung, davon ausgeht, dass die Kulturen prinzipiell inkommensurabel sind,12 ist Herders Denken darauf ausgerichtet, das ihnen Gemeinsame, ein ihnen gemeinsames Zentrum, auszumachen. Damit scheint das Konzept einer „Kultur im Singular“13 auf, und im Zentrum dieses Konzepts steht, als philosophische Seite von Herders Anthropologie, die Idee der Humanität. Mit ihr wird die Beschreibung der kulturbedingten Unterschiedlichkeit der Menschen in den „Aufweis einer Menschheit“14 überführt: „[W]eder vier oder fünf Racen, noch ausschließende Varietäten gibt es auf der Erde. Die Farben verlieren sich in einander: die Bildungen dienen dem genetischen Charakter; und im Ganzen wird zuletzt alles nur Schattierung eines und desselben großen Gemäldes, das sich durch alle Räume und Zeiten der Erde verbreitet.“15 Von der Position der Humanität aus betrachtet, werden der im Relativismus angelegte Skeptizismus und die Negierung objektiver Werte und Maßstäbe zurückgenommen. Das hat Isaiah Berlin dazu veranlasst, Herders Position nicht als relativistisch, sondern als pluralistisch zu bezeichnen.16 Was mit dieser Umetikettierung zum einen sinnfällig wird, ist die Vermischung philosophischer und kultureller Kategorien in Herders Anthropologie, die in der Herder-Rezeption zu den angesprochenen kurzschlussartigen Zuschreibungen geführt hat. Zum anderen wird aber mit der Unterscheidung zwischen Relativismus und Pluralismus

10 Ebd., S. 598. 11 Ebd., S. 597. 12 Vgl. Karl-Heinz Kohl, Ethnologie – die Wissenschaft vom kulturell Fremden. Eine Einführung, 2., erweiterte Auflage, München 2000, S. 147. 13 Gaier, „Herder als Begründer des modernen Kulturbegriffs“, S. 17. 14 Bernd Fischer, „Herder heute? Überlegungen zur Konzeption eines transkulturellen Humanitätsbegriffs“, in: Herder-Jahrbuch, 8/2006, S. 175–193, hier S. 187. 15 Herder, „Ideen“, S. 231. 16 Vgl. Isaiah Berlin, Das krumme Holz der Humanität. Kapitel der Ideengeschichte, Henry Hardy (Hrsg.), Berlin 2009, S. 142–156.

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eine Differenz eingeführt, die in Kleists Anthropologie eine entscheidende Rolle spielen wird. Denn insofern pluralistisch heißt, dass anders als beim Relativismus die Vielfalt der Werte und Einstellungen, „die die Angehörigen anderer Gesellschaften (im Lichte ihrer eigenen Wertesysteme) bewundern oder verurteilen mögen“,17 prinzipiell verstanden werden kann, kommt dem Moment der Verstehbarkeit eine distinktive Bedeutung zu, die ins Zentrum der Relativismus-Diskussion führt. Streng genommen müssten mit dem Relativismus das Verstehen anderer Kulturen und „deren Übersetzung in den eigenkulturellen Erfahrungshorizont eigentlich unmöglich sein.“18 Das ist bei Herder jedoch nicht der Fall: Indem er von universalen Werten ausgeht, die er benennen kann, und sich zugleich in der Lage sieht, ferne Gesellschaften zu begreifen, nimmt er nicht nur eine besondere Kulturkompetenz in Anspruch,19 auch die Möglichkeit des Verstehens und Erkennens betrachtet er als durchaus gewährleistet. Der Mensch könne zwar „keine vollkommenen Wahrheiten besitzen, sondern nur zu eingeschränkten, da sprachlich und sinnlich vermittelten Erkenntnissen gelangen, aber diese genügten seinen Zwecken“.20

III Was weiß man schon. Zum Sprach- und Kulturrelativismus bei Kleist So wenig der Relativismus bei Herder kulturanthropologisch in einen radikalen Skeptizismus mündet, so wenig ist seine Sprachauffassung davon betroffen. Jürgen Trabant hat als Grund dafür angegeben, dass Herder ein zu pfingstlicher Denker gewesen sei: Bei ihm vereinige der heilige Geist die Menschen auch in ihren verschiedenen Sprachen.21 Von einer solchen Auffassung ist bei Kleist nichts mehr oder höchstens noch in Ansätzen etwas zu spüren. Weder gibt es ein einheitsstiftendes Prinzip, das die Menschen verbindet, noch ist das Verstehen zwischen ihnen gesichert. Ganz im Gegenteil: Weil die Menschen sich schon in ihrer eigenen Sprache nicht verstehen, wird das Verstehen interkulturell erst recht zu einem Problem. Der Einbruch der Skepsis in die aufklärerisch gestimmte Wissenseuphorie der frühen Jahre wird bei Kleist unmittelbar mit den Erfahrungen der sogenannten

17 Ebd., S. 143. 18 Kohl, Ethnologie, S. 150. 19 Vgl. Dembeck, „Herders ‚Interkulturalität‘“, S. 117. 20 Löchte, Kulturtheorie und Humanitätsidee, S. 40. 21 Vgl. Jürgen Trabant, Europäisches Sprachdenken. Von Platon bis Wittgenstein, München 2006, S. 228.

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Kant-Krise Anfang 1801 in Verbindung gebracht. Die Frage, ob sie durch Kant selbst, durch Fichtes Philosophie oder eine anderweitige Lektüre ausgelöst wurde, hat die Forschung seit jeher beschäftigt und schließlich sogar die Vermutung befördert, Kleist habe die Auseinandersetzung „mit der neueren sogenannten Kantischen Philosophie“22 bloß als Vorwand genutzt, um sich seiner Verpflichtungen bei der Technischen Deputation in Berlin entledigen und die Verlobung mit Wilhelmine von Zenge lösen zu können. Zunächst lässt sich sicherlich ganz allgemein sagen, dass das besonders in den Briefen an seine Schwester Ulrike (vom 5. Februar 1801) und an Wilhelmine von Zenge (vom 22. März 1801) entwickelte Krisenszenario eine existentielle Befindlichkeit ausdrückt, in der nicht nur offenbar wird, was unterschwellig bei Kleist immer schon da war,23 sondern die darüber hinaus allgemeine Züge der um 1800 virulenten Wissens- und Erkenntnisproblematik trägt. Nicht entscheiden zu können, „ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint“,24 bezeichnet einen Zwiespalt, der für Kleist die Relativierung seiner vormaligen Wissens- und Wissenschaftsüberhöhung zur Konsequenz hat: Selbst die Säule, an welcher ich mich sonst in dem Strudel des Lebens hielt, wankt – – Ich meine, die Liebe zu den Wissenschaften. – Aber wie werde ich mich hier wieder verständlich machen? – Liebe Ulrike, es ist ein bekannter Gemeinplatz, daß das Leben ein schweres Spiel sei; und warum ist es schwer? Weil man beständig und immer von Neuem eine Karte ziehen soll und doch nicht weiß, was Trumpf ist; ich meine darum, weil man beständig und immer von Neuem handeln soll und doch nicht weiß, was recht ist. Wissen kann unmöglich das Höchste sein – handeln ist besser als wissen. Aber ein Talent bildet sich im Stillen.25

Kleists Abwertung des Wissens, die Überzeugung, „daß uns die Wissenschaften weder besser noch glücklicher machen“,26 geht einher mit der Einsicht in die Unfähigkeit des begrifflich-diskursiven Instrumentariums, „sich und die Seele und das Leben und die Dinge um sich zu begreifen“,27 so dass sich seine forcierte Relativierung des Wissens und die Skepsis gegenüber den Ausdrucksmöglich-

22 Kleist, Briefe, S. 213. 23 Vgl. Dieter Heimböckel, Emphatische Unaussprechlichkeit. Sprachkritik im Werk Heinrich von Kleists. Ein Beitrag zur literarischen Sprachskepsistradition der Moderne, Göttingen 2003, S. 50–52. 24 Kleist, Briefe, S. 213. 25 Ebd., S. 207 f. 26 Ebd., S. 269. Zur Wissensproblematik und der damit einhergehenden ästhetischen Aufwertung des Nicht-Wissens bei Kleist vgl. Dieter Heimböckel, „‚Warum? Weshalb? Was ist geschehn?‘ Nicht-Wissen bei Heinrich von Kleist“, in: Michael Bies/Michael Gamper (Hrsg.), Literatur und Nicht-Wissen. Historische Konstellationen 1730–1930, Zürich 2012, S. 59–75. 27 Kleist, Briefe, S. 270 f.

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keiten der Sprache als zwei Seiten einer Medaille erweisen. Dass er nicht weiß, was er über sich, „den unaussprechlichen Menschen“,28 sagen soll, wie es in der für seine Sprachskepsis zentralen Äußerung in einem Brief an Ulrike (vom 13. März 1803) heißt, bindet seine Wissensskepsis argumentativ und rhetorisch unmittelbar an die Aporie sprachlichen Agierens. Die Wissens- und Sprachskepsis, so sehr sie in ihrer erkenntniskritischen Spezifik an Kant gebunden ist, formiert sich bei Kleist allerdings auch dadurch, dass er gleichzeitig auf Distanz zu ihm geht. Kant ist zwar das Einfallstor seiner Krise, Kleist legt in ihr aber auch den Keim einer Neuausrichtung, in deren Folge es zu einer Radikalisierung des Relativismus kommt, die Bedingung seiner radikalen Poetik des Befremdenden ist. Dieser Prozess lässt sich an seiner anthropologischen Wende ablesen, die in dem eingangs zitierten Vergleich zwischen Christen und Seeländern aus der Zeit seines Paris-Aufenthaltes im August 1801 ihren Ausdruck findet. Noch elf Monate zuvor, in seiner Abhandlung Über die Aufklärung des Weibes, einem Sendschreiben an Wilhelmine von Zenge, nimmt er ein vergleichbares Bild zum Anlass, seiner Verlobten angesichts der Unzuverlässigkeit der Gefühle den kategorischen Imperativ zu predigen: „Denn mit demselben Gefühle, mit welchem Du bei dem Abendmahle des Brod nimmst aus der Hand des Priesters, mit demselben Gefühle, sage ich, erwürgt der Mexicaner seinen Bruder vor dem Altare seines Götzen.“29 Kleist relativiert zwar die kultischen Handlungen, er nutzt aber mit Blick auf die Tatsache, „daß alle diese religiösen Gebräuche nichts sind, als menschliche Vorschriften, die zu allen Zeiten verschieden waren und noch in diesem Augenblicke an allen Orten der Erde verschieden sind“, diesen Relativismus dazu, Wilhelmine von der Existenz eines universal gültigen Pflichtbegriffs zu überzeugen: „[I]n uns flammt eine Vorschrift – und die muß göttlich sein, weil sie ewig und allgemein ist; sie heißt: erfülle Deine Pflicht; und dieser Satz enthält die Lehren aller Religionen.“30

28 Ebd., S. 321. 29 Ebd., S. 132. 30 Ebd. Die Nähe Kleists zu Kant wird deutlich, wenn man mit Otfried Höffe bei Kant voraussetzt, dass für ihn „moralisches Urteilen und Handeln nicht die Sache eines persönlichen Gefühls oder einer willkürlichen Entscheidung und nicht eine Frage der gesellschaftlich-kulturellen Herkunft, des Taktes oder der eingespielten Konvention sind. Vielmehr sieht er das menschliche Handeln unter letzte Verbindlichkeiten gestellt, für deren Einhalten man von anderen, aber auch von sich selbst zur Verantwortung gezogen wird.“ Otfried Höffe, Immanuel Kant, 7., überarbeitete Auflage, München 2007, S. 175. Auch Werner Hamacher sieht in der Kleists Schreiben zugrunde liegenden Pflichtvorstellung noch den kategorischen Imperativ am Werke; vgl. Werner Hamacher, „Das Beben der Darstellung“, in: David E. Wellbery (Hrsg.), Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists ‚Das Erdbeben in Chili‘, München 31993, S. 149–173 u. S. 188–192, hier S. 190.

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Von Pflicht und Pflichterfüllung ist im August 1801 nicht mehr die Rede. In prononcierter Kantferne31 endet Kleists kulturanthropologischer Vergleich zwischen dem Christen und dem Seeländer „im totalen Relativismus“.32 Inzwischen ist ihm der Glaube abhandengekommen: der Glaube daran, dass es eine überindividuelle Wahrheitsinstanz gebe und dass eine intakte Sprache imstande sei, diese zu verbürgen. So auf sich selbst verwiesen, führt Kleists ursprüngliches Bedürfnis nach intersubjektiver Verständigung und Selbstbestätigung in die Aporie, weil das Medium der Vermittlung, die Sprache, das Innerste nicht unmittelbar und unmissverständlich wiederzugeben vermag.33 Dass „zu sprechen (sich) sich entfremden heißt“, darum kreist, so Roland Reuß im Anschluss an Hans Heinz Holz,34 spätestens seit 1801 Kleists Nachdenken über Sprache. Es ist die Kehrseite seines Autonomiebegehrens, aber zugleich auch das Durchgangsstadium zu einer neuen Souveränität, mit der der Sprachkrise sprachlich Paroli geboten wird. Was heißt das aber für Kleists kulturanthropologischen Relativismus und für den Relativismus insgesamt? Es wurde darauf hingewiesen, dass Kleists Blick in die Ferne vergleichsweise interesselos verlaufe.35 Er sei nicht darauf ausgerichtet, aus der Auseinandersetzung mit dem Fernen Einsichten über das Fremde zu gewinnen, sondern ziele darauf ab, es in den Dienst des Eigenen zu stellen. Damit

31 Vgl. Walter Hinderer, „Vorwort“, in: Ders. (Hrsg.), Kleists Erzählungen, Stuttgart 1998, S. 7–16, hier S. 11. 32 Christian Moser, „Französische Aufklärung“, in: Ingo Breuer (Hrsg.), Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2009, S. 195–203, hier S. 199. 33 Die zentrale Stelle aus Kleists sogenanntem Sprachskepsisbrief an seine Schwester Ulrike vom 5. Februar 1801 lautet: „Ach, Du weißt nicht, wie es in meinem Innersten aussieht. Aber es interessirt Dich doch? – O gewiß! Und gern möchte ich Dir Alles mittheilen, wenn es möglich wäre. Aber es ist nicht möglich, und wenn es auch kein weiteres Hinderniß gäbe, als dieses, daß es uns an einem Mittel zur Mittheilung fehlt. Selbst das einzige, das wir besitzen, die Sprache taugt nicht dazu, sie kann die Seele nicht mahlen und was sie uns giebt sind nur zerrissene Bruchstücke. Daher habe ich jedesmal eine Empfindung, wie ein Grauen, wenn ich jemandem mein Innerstes aufdecken soll; nicht eben weil es sich vor der Blöße scheut, aber weil ich ihm nicht Alles zeigen kann, nicht kann, und daher fürchten muß, aus den Bruchstücken falsch verstanden zu werden. […] Ach Du weißt nicht, Ulrike, wie mein Innerstes oft erschüttert ist – Du verstehst dies doch nicht falsch? Ach, es giebt kein Mittel, sich Andern ganz verständlich zu machen und der Mensch hat von Natur keinen andren Vertrauten, als sich selbst.“ Kleist, Briefe, 204 f. 34 Roland Reuß, „‚Im Geklüft‘. Zur Sprache von Kleists ‚Penthesilea‘“, in: Brandenburger KleistBlätter, 5/1992, S. 3–27, hier S. 25. Über sein Selbst sprechen, heißt nach Holz, „es entfremden. […] Die Sprache ist der Ort der Selbstentfremdung des Menschen.“ Hans Heinz Holz, Macht und Ohnmacht der Sprache. Untersuchungen zum Sprachverständnis und Stil Heinrich von Kleists, Frankfurt a.M./Bonn 1962, S. 150. 35 Vgl. Gabriele Kapp, „Des Gedankens Senkblei“. Studien zur Sprachauffassung Heinrich von Kleists 1799–1806, Stuttgart/Weimar 2000, S. 163.

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scheint in Einklang zu stehen, dass in Kleists kultureller Differenzsemantik Erwägungen über die Unterschiedlichkeit der Sprachen (wie bei Rousseau und Herder) theoretisch keine Rolle spielen. Fragen des Nichtverstehens und der Nichtverstehbarkeit, wie sie für den kulturanthropologischen Relativismus zentral sind, werden bei ihm konsequent vor dem Hintergrund und im Medium der eigenen Sprache reflektiert. Nichtverstehen ist also an erster Stelle ein intrakulturelles und erst an zweiter Stelle ein interkulturelles Problem,36 wobei im Sinne eines strikt verstandenen Sprachrelativismus mit der Begrenzung der eigenen Sprache die Grenze zur fremden Sprache zwangsläufig gesetzt ist.37 Auf der anderen Seite ist die Engführung von sprachlichem und kulturellem Relativismus bei Kleist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert. Erstens deutet sich in ihr eine Entwicklung an, die sich in ihrer diskursiven Ausprägung erst um 1900 vollzieht, als der linguistic turn, so Daniel Strauss, „was accompanied by an increasing awareness of relativism within the circles of historicist thinkers.“38 Zweitens eröffnet die kulturanthropologische Relativierung Kleist selbst nicht nur die Möglichkeit, das Sprachproblem in einen übergreifenden Kontext zu überführen, sie verleiht ihm auch ästhetische Dignität, indem das Differente und Fremde der Sprache in eine Topographie des Fremden eingeschrieben wird.

36 Mit Blick auf das Nichtverstehen unterscheidet Franz Martin Wimmer in Anlehnung an Elmar Holenstein kulturphilosophisch zwei Positionen: erstens eine platonische, die von der Voraussetzung ausgeht, „dass die wahrgenommene Welt für alle Menschen vollkommen gleich ist, dass nur die Wörter und Zeichen, mit denen sie ihre Vorstellungen zum Ausdruck bringen, unterschiedlich sind“, und zweitens eine romantische, nach der Kulturen als geschlossene Ganzheiten wahrgenommen werden, „die untereinander nicht in einen wirklichen Austausch treten können, keine relevanten Universalien teilen und jeweils Welten für sich bilden. Keine dieser Ganzheiten ist an den Maßstäben einer anderen, keine ist an einer objektiven Wirklichkeit zu messen.“ Franz Martin Wimmer, Interkulturelle Philosophie. Eine Einführung, Wien 2004, S. 144 f.; vgl. auch Elmar Holenstein, Kulturphilosophische Perspektiven, Frankfurt a.M. 1998. Kleist wäre nach dieser Unterscheidung der romantischen Position zuzuordnen, wobei freilich auch hier irreführend ist, dass Herder in diesem Zusammenhang als einer ihrer Vertreter hervorgehoben wird. 37 Das ist die Konsequenz, wenn man mit Iwar Werlen den Grundgedanken sprachlicher Relativität vor dem Hintergrund einer starken, deterministisch geprägten Hypothese liest: „[W]enn die Fremdheit einer andern Sprache so groß ist, dass sie den Sprecher, die Sprecherin der Sprache in ein sprachliches Gefängnis einschließt, dann ist es (a) nicht möglich, diese Sprache von einer andern Sprache her zu verstehen, (b) ist es nicht möglich, das, was in der einen Sprache ausgedrückt wird, in der andern auszudrücken, und (c) ist eine Person, die mehrere Sprachen spricht, sozusagen gespalten: sie kann sich selbst nicht verstehen.“ Iwar Werlen, Sprachliche Relativität. Eine problemorientierte Einführung, Tübingen/Basel 2002, S. 27 f. 38 Daniel Strauss, „Between Cultural Relativity and Logical Inconsistency: an Escape-Route from Relativism“, in: Fritz G. Wallner u.a. (Hrsg.), Intercultural Philosophy. New Aspects and Methods, Frankfurt a.M. u.a. 2010, S. 105–130, hier S. 107.  

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„Alles Vortreffliche“, heißt es in einer Literatur-Notiz der Berliner Abendblätter zu Achim von Arnims Halle und Jerusalem, „führt etwas Befremdendes mit sich, am meisten in Zeiten, wo die Wunder der Poesie der großen Mehrzahl der Menschen auf Erden fremd geworden sind.“39 Über das Befremdende wird insofern wieder ein Bezug zur Ferne hergestellt, der das Eigene an die Fremde zurückbindet und es dadurch epistemologisch auflädt. Selbst wenn die Interesselosigkeit gegenüber der Ferne intendiert wäre, bleibt sie, wie zu zeigen sein wird, immer noch diskursiv vermittelt.

IV St. Jago ≠ Locarno Bei Kleist ist das Befremdende unauflösbar mit dem Unerhörten verknüpft. Das gibt seinen Erzählungen eine novellistische Ausprägung und macht aus den Dramen Texte, die kraft ihrer Ausrichtung auf das Unerhörte die Gattungskonvention sprengen und einer spezifischen Inversionslogik gehorchen. Späße, die zum Totlachen sind, gehören hierzu, aber auch Mythos- und Geschichtsneuschreibungen, wie sie aus Michael Kohlhaas, Penthesilea, Die Herrmannsschlacht und Prinz Friedrich von Homburg bekannt sind. Das Unerhörte steht dabei im Bezugsrahmen einer poetischen Alterität, mit der bestehende Differenzen aufgelöst werden, die aber im Auflösungsprozess zugleich neue Differenzen sichtbar macht. Während sich die Differenzen verschieben, ereignet sich in Kleists Werk regelmäßig das Unerhörte.40 Die Differenzverschiebung markiert den Zusammenbruch der bestehenden Ordnung und ist zugleich das Vehikel ihrer Neubegründung unter veränderten Voraussetzungen. Darum haben wir bei Kleist beides: dritte Räume und deren Überführung in strikt voneinander getrennte Entitäten. Für die Inszenierung dieser Bewegung eignen sich besonders solche Konstellationen, bei denen Grenzen verhandelt werden:41 Grenzen zwischen den Geschlech-

39 Heinrich von Kleist, „Literatur“, in: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 3, Klaus Müller-Salget (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1990, S. 588 f., hier S. 589. 40 Unter Verschiebung (oder Deplatzierung) wird hier allgemein ein Verfahren verstanden, das das Ungewohnte im Gewohnten und das Andere bzw. Fremde im Bekannten aufscheinen lässt. Vgl. hierzu weiterführend Dieter Heimböckel, „Wie vom Zufall geführt. Kleists Griffel“, in: Ders. (Hrsg.), Kleist. Vom Schreiben in der Moderne, Bielefeld 2013, S. 23–46, hier S. 36. 41 Angesichts des komplexen Verhältnisses von Dritter-Raum- und Oppositions-Konstellationen bei Kleist unterliegt der Begriff der Grenze hier und im Folgenden einer doppelten Kodierung, indem mit der Vorstellung von der Grenze als einem Ort der Abgrenzung auch die Grenze als Raum des Übergangs, das heißt ihre liminale Ausprägung, mitzudenken ist. Zu diesem Grenzbegriff vgl. Rolf Parr, „Liminale und andere Übergänge. Theoretische Modellierungen von Grenzzonen, Normalitätsspektren, Schwellen, Übergängen und Zwischenräumen in Literatur- und

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tern und Generationen, zwischen Individuen und ihren gesellschaftlichen Institutionen, aber eben auch zwischen Nationen und Kulturen. Material für ein interkulturelles Denken der und/oder „an der Grenze“42 stand Kleist infolge der weit ausgreifenden Neuvermessung der Anthropologie und der Entstehung der Ethnologie im 18. Jahrhundert besonders reichhaltig zur Verfügung,43 auch wenn sich für die fremdkulturellen Kontexte seiner Werke, wie etwa des Erdbebens in Chili, bislang keine konkreten Quellen in Form von Reiseberichten nachweisen ließen.44 Dieses Manko muss allerdings zunächst nicht überraschen, stellt man speziell für diesen Text, aber auch für Kleists Novellen, die im italienischsprachigen Raum angesiedelt sind, die verbreitete Meinung in Rechnung, dass die Schauplätze der Handlung, ob nun St. Jago oder Locarno, durchaus anderswo situiert sein könnten. In diesem Zusammenhang vermuten Hedwig Appelt und Dirk Grathoff mit Blick auf das Erdbeben, dass Kleist die chilenische Hauptstadt als ein „nach Südamerika verlegtes Würzburg“45 imaginiert habe.

Kulturwissenschaft“, in: Achim Geisenhanslüke/Georg Mein (Hrsg.), Schriftkultur und Schwellenkunde, Bielefeld 2008, S. 11–63, hier S. 12. 42 Stuart Hall, „Wann war der Postkolonialismus? Denken an der Grenze“, in: Elisabeth Bronfen u.a. (Hrsg.), Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen 1997, S. 219–246. 43 Vgl. etwa Sergio Moravia, Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie in der Aufklärung, München 1973, und Wolfgang Riedel, „Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Sonderheft 6/1994, S. 93–157. 44 Vgl. Claudia Liebrand, „Das Erdbeben in Chili“, in: Breuer (Hrsg.), Kleist-Handbuch, S. 114–120, hier S. 114. Alexander Košenina konnte allerdings – einen Hinweis von Jochen Schmidt aufnehmend – gute Argumente dafür vorlegen, dass Kleist bei der Konzeption seiner Novelle auf Friedrich Theodor Nevermanns Drama Alonzo und Elvira, oder: das Erdebeben zu Lissabon zurückgegriffen habe. Vgl. Jochen Schmidt, Heinrich von Kleist. Die Dramen und Erzählungen in ihrer Epoche, Darmstadt 2003, S. 185, sowie Alexander Košenina, „Friedrich Theodor Nevermanns ‚Alonzo und Elvira‘ (1795), eine Quelle für Kleists ‚Erdbeben in Chili‘ (mit Textanhängen)“, in: Heilbronner Kleist-Blätter, 22/2010, S. 59–78. 45 Hedwig Appelt/Dirk Grathoff, Erläuterungen und Dokumente. Heinrich von Kleist: ‚Das Erdebeben in Chili‘, Stuttgart 1993, S. 47. Zu Kleists Novellen Die Marquise von O…., Der Findling und Das Bettelweib von Locarno vgl. Viviana Chilese, „Heinrich von Kleist und sein imaginäres Italien/ L’Italia immaginaria di Heinrich von Kleist“, in: Ursula Bongarts/Wolfgang de Bruyn (Hrsg.), Auf den Knien meines Herzens. Kleist trifft Goethe/Sulle ginocchia del mio cuore. Kleist incontra Goethe. Eine Ausstellung des Kleist-Museums, Frankfurt (Oder), in Zusammenarbeit mit der Casa di Goethe, Rom, Bonn 2010, S. 70–85. Dort heißt es unter anderem: „[D]ie Erzählungen Kleists könnten auch an jedem anderen Ort spielen. […] Bei Kleist ist Italien ein rein literarisches, weniger imaginäres als angedeutetes Gebilde, das dazu noch jeglichen Projektionswert eingebüßt hat.“ Ebd., S. 76 bzw. S. 78.

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Für die Gleichgültigkeit des Ortes scheint des Weiteren zu sprechen, dass es Kleist immer wieder darum ging, Analogien herzustellen. Wer an seine Werke mit dem Maßstab historischer Richtigkeit oder geographischer Angemessenheit herantritt, verkennt die ihnen zugrunde liegende Strategie der Verschiebung und Überschreitung. Allerdings eröffnet der literarische Ausgriff auf den amerikanischen bzw. südamerikanischen Kontinent nicht nur „ungeahnte Räume von Alterität“,46 sondern auch die Möglichkeit, die sich daran entzündenden Phantasien in Frage zu stellen (bzw. zu relativieren). Denn es war gerade „die Neue Welt und nicht etwa der Orient oder Afrika“, die im 18. Jahrhundert „die Phantasien über nationale Erneuerung durch Eroberung und territoriale Herrschaft, durch die Kolonisierung und ‚Kultivierung‘ hervorbrachte.“47 Zwar hat Kleist mit dem Erdbeben unter anderem das Ziel verfolgt, die durch das Erdbeben von Lissabon ausgelöste Theodizee-Diskussion aufzugreifen und durchzuspielen,48 aber zu berücksichtigen ist eben auch, dass die Wahl auf Chile und nicht, was angesichts seiner erzählerischen Vorliebe für den italienischen Raum durchaus naheliegend gewesen wäre, auf Süditalien fiel, wo sich im 17. und 18. Jahrhundert ebenfalls Erdbeben von verheerendem Ausmaß ereignet hatten. Wenn man also davon ausgehen darf, dass die Entscheidung für Südamerika offensichtlich nicht willkürlich getroffen wurde, sondern im Kontext des zeitgenössischen Interesses an der amerikanischen Welt zu sehen ist, so fällt auf, dass ein interkultureller Gegensatz im Erdbeben, anders als in der Verlobung in St. Domingo, auf der Ebene der Handlung keine Rolle spielt. Der Ausgriff auf die Ferne ist hier ein Ausgriff unter der Voraussetzung ihrer totalen kolonialen Inbesitznahme. Das Land erscheint sozial, institutionell und religiös bereits ganz und gar spanisch geprägt49 und damit unter das „Paradox des todbringenden Ver-

46 Robert Weimann (Hrsg.), Ränder der Moderne. Repräsentation und Alterität im (post)kolonialen Diskurs, Frankfurt a.M. 1997, Vorsatzblatt. 47 Susanne M. Zantop, Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland (1770–1870), Berlin 1999, S. 62. Vgl. übergreifend auch Michaela Holdenried, Künstliche Horizonte. Alterität in literarischen Repräsentationen Südamerikas, Berlin 2004. 48 Vgl. Achim Geisenhanslüke/Dieter Heimböckel, „‚Deux afflictions mises ensemble peuvent devenir une consolation‘. Theodizee bei Jean Paul und Heinrich von Kleist“, in: Werner Jung u.a. (Hrsg.), Wege in und aus der Moderne. Von Jean Paul zu Günter Grass. Herbert Kaiser zum 65. Geburtstag, Bielefeld 2006, S. 125–138. 49 Weil koloniales Handeln in der Erzählung auf den ersten Blick keine Rolle zu spielen scheint, ist die Novelle merkwürdigerweise bislang kaum in den Fokus postkolonialer Analysen gerückt worden. In der filmischen Adaption durch Helma Sanders-Brahms von 1975 wird ihr Subtext unter anderem dadurch an die Oberfläche geholt, dass Jeronimo, der bei Kleist ein Spanier ist, der indigenen Bevölkerung entstammt. Auf diese Weise wird der Zuschauer ganz unmittelbar mit der Situation des Kolonialsystems im 17. Jahrhundert konfrontiert. Zu den Unterschieden zwischen

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stehens“50 gestellt, das Todorov mit der Trias von Verstehen, Einnehmen und Zerstören für die Eroberung Amerikas ausgemacht hat. Dem Leser wird insofern ein Land nach der Unterwerfung durch den kolonialen Aggressor vorgestellt, dessen weiterhin vorhandene Bereitschaft zur exzessiven Gewalt sich in der finalen Tötungsszene dokumentiert. In der beinahe wahllos sich ergehenden Mordlust „der satanischen Rotte“51 offenbaren sich Züge einer Massakergesellschaft, die, was charakteristisch für sie ist, zu unkontrollierten Gewaltausbrüchen neigt, wenn sie vom Verfall moralischer Prinzipien betroffen ist. Deshalb wird nach Todorov das Massaker auch „vornehmlich fernab begangen, dort wo sich das Gesetz nur schwer durchsetzen kann: Bei den Spaniern in Amerika oder notfalls auch in Italien. Das Massaker ist also eng mit den Kolonialkriegen verknüpft, die fern von der Metropole geführt werden.“52 Aus dem Kontrast zwischen Metropole und Kolonie folgert Todorov schließlich, dass „hier und dort völlig verschiedene Moralgesetze das Verhalten regeln: Das Massaker benötigt einen angemessenen Rahmen.“53 Das Massaker ist nichts, worüber man spricht. In der Regel wird es verleugnet, ist es ein Tabu. Seine Enttabuisierung ist unerhört. Nicht von ungefähr zeigte sich die zeitgenössische Rezeption gerade über die finale Gewaltszene von Kleists

der literarischen Vorlage und der filmischen Umsetzung vgl. Knut Hickethier, „Literatur als Film – Verfilmte Literatur. Helma Sanders: ‚Das Erdbeben in Chili‘ nach der Novelle von Heinrich von Kleist“, in: Ders./Joachim Paech (Hrsg.), Methoden der Film- und Fernsehanalyse, Stuttgart 1979, S. 63–90. 50 Tzvetan Todorov, Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, Frankfurt a.M. 1985, S. 155. 51 Heinrich von Kleist, „Das Erdbeben in Chili“, in: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 3, S. 189–221, hier S. 221. 52 Todorov, Die Eroberung Amerikas, S. 175. 53 Ebd., S. 176. Von den Massakergesellschaften hebt Todorov am Beispiel der Azteken und Spanier des 16. Jahrhunderts die Opfergesellschaften ab und stellt vor allem heraus, dass in diesen die Identität des Geopferten streng geregelt ist: „Er darf nicht zu fremd, nicht zu fern sein […]. Aber er darf auch nicht derselben Gesellschaft angehören: Man opfert nicht seinen eigenen Mitbürger.“ Ebd., S. 174. In diesem Sinne können die Getöteten im Erdbeben nicht als Opfer verstanden werden. René Girard dagegen sieht gerade in der Schlussszene ein Opferritual am Werk, das der „Wiederherstellung von Ordnung“ dient und dessen Spezifikum in der willkürlichen Auswahl der Opfer liegt. René Girard, „Theorie der Mythologie/Anthropologie“, in: Wellbery (Hrsg.), Positionen der Literaturwissenschaft, S. 130–148, hier S. 142. Sieht man einmal vom Moment der Willkür ab, das eine zentrale Differenz zur Position Todorovs markiert, so ist die These von Girard auch insofern problematisch, als sie Fragen des Kolonialismus unberücksichtigt lässt. Klaus Müller-Salget spricht übrigens mit Blick auf das finale Verbrechen ausdrücklich von einem „Massaker“. Klaus Müller-Salget, „Kommentar“, in: Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 3, S. 675–1256, hier S. 813.

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Novelle empört. In Wien wurde der erste Band seiner Erzählungen sogar mit der Begründung verboten, dass „deren Gehalt, wenn auch nicht ohne Wert, doch die unmoralischen Stellen nicht vergessen machen könne, welche besonders in der Erzählung ‚Das Erdbeben von Chili‘ vorkommen, deren Ausgang im höchsten Grade gefährlich sei.“54 Dass dieselbe Stimme, die dem Christen zuruft, seinem Feind zu vergeben, ihm erlaubt, ihn „allen Fürsten der Hölle“55 zu übergeben, ist in diesem Fall aber nicht nur deswegen ein Skandalon, weil sie sich gegen die eigene Bevölkerung richtet. Hinzu kommt die Tatsache, dass sich das dem Kolonialismus inhärente Projekt der Kulturalisierung bereits dem Anspruch nach als verwirkt offenbart. Die Grenze zwischen den Kulturen zeigt sich insofern als eine Begrenzung, die der kolonialen Kultur eingeschrieben ist und die sich in der Novelle durch „die Darstellung der Blindheit und Brutalität der alten kolonialen Elite und der die kolonialen Beziehungen durchsetzenden Gewalt“56 enthüllt. Wenn die Neuigkeiten aus der Provinz57 schon nicht dazu geeignet sind, die mit der Ferne verknüpfte Wunschvorstellung eines harmonischen Zusammenlebens intrakulturell zu beglaubigen, so muss sich dessen Scheitern in der interkulturellen Begegnungssituation erst recht erweisen. Kleists an der Schwelle zwischen den Kulturen angesiedelte Novelle Die Verlobung in St. Domingo führt dieses Scheitern vor, indem sie die Verstehbarkeit des Anderen am Beispiel der Beziehung zwischen dem aus der Schweiz stammenden Söldner Gustav von der Ried und Toni, der hellhäutigen Tochter einer ‚Mulattin‘, umfassend (nämlich sprachlich, physiognomisch und gestisch) problematisiert. Dabei ist die Wahl des Schauplatzes ebenso wenig zufällig wie im Fall des Erdbebens. Die Haitianische Revolution, in die das Geschehen eingebettet ist, war um 1800 in ganz Europa ein Medienereignis ersten Ranges und beschäftigte die Gemüter auch deswegen, weil die Karibik zu dieser Zeit aufgrund ihrer ökonomischen und politisch-strategischen Bedeutung ins Zentrum der weltpolitischen Aufmerksamkeit rückte und Saint-Domingue, wie die Insel in der Sprache der damaligen Kolonisatoren hieß, in diesem Zusammenhang eine Schlüsselrolle beigemessen wurde.58 Der Haiti-Stoff bildete darüber

54 Helmut Sembdner (Hrsg.), Heinrich von Kleists Nachruhm. Eine Wirkungsgeschichte in Dokumenten, Frankfurt a.M. 1984, S. 524 f. 55 Kleist, „Das Erdbeben in Chili“, S. 215. 56 Zantop, Kolonialphantasien, S. 164. 57 Provinz wird hier in Anlehnung an die römische Vorstellung als ein durch Annexion unterworfenes Gebiet begriffen, das außerhalb des imperialen Zentrums liegt. 58 Vgl. Reinhard Blänkner, „Heinrich von Kleists Novelle ‚Die Verlobung in St. Domingo‘. Literatur und Politik im globalen Kontext um 1800. Einführung“, in: Ders. (Hrsg.), Heinrich von Kleists Novelle „Die Verlobung in St. Domingo“. Literatur und Politik im globalen Kontext um 1800, Würzburg 2013, S. 9–19, sowie Iwan-Michelangelo D’Aprile, „‚St. Domingo, die Achse des großen politischen Schwungrades von Europa‘. Haiti und die Globalisierung des politischen Diskurses in

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hinaus die Grundlage für zahlreiche belletristische Adaptionen, so dass Kleist seine Novelle in dem Wissen verfasste, dass das Sujet auf ein breites Publikumsinteresse stieß.59 Die unterschiedlichen und zum Teil antagonistischen Diskurse, die Kleists Erzählung aufgreift, bezeugen – aus postkolonialer Sicht – allerdings die relativistisch bedingte Unerzählbarkeit dieses weltgeschichtlichen Ereignisses60 und haben deren Verschiebung in eine Liebesgeschichte zur Konsequenz. Auf der Ebene der erzählten Geschichte spiegelt sich das Unerzählbare der Weltgeschichte als Aporie der Verständigung wider.61 So steht das tragische Ende der Novelle nicht nur für ein bei Kleist typisches Szenario des Unbegreiflichen – die gutgemeinte und aus Liebe erwogene List Tonis wird zum Vehikel der Vernichtung beider Liebenden –, in ihm dokumentiert sich auch die Unmöglichkeit des Fremdverstehens in der interkulturellen Konstellation: „‚Ach!‘ rief Toni, und streckte, mit einem unbeschreiblichen Blick, ihre Hand nach ihm aus: ‚dich, liebsten Freund, band ich, weil – –!‘ Aber sie konnte nicht reden und ihn auch mit der Hand nicht erreichen“.62 In dieser Szene abgründiger Unaussprechlichkeit bilden das „Ach!“ und die Gedankenstriche den Rahmen, in den die stumme Bewegung von Blick und Hand eingefasst ist. Dadurch ergibt sich eine komplexe Schweige-Textur, bei der jedes Segment auf ein anderes verweist: das „Ach!“ auf den Blick, der unbeschreiblich ist, der Blick auf die Hand, die ins Leere greift, und die Hand auf die Gedankenstriche, die die Leere in der Sprache markieren. In all dem kündigt sich bereits der nahende Tod an, das endgültige Verstummen, in dem jedoch zugleich das für die Erzählung konstitutive Problem der Intersubjektivität kulminiert. Gerade Tonis vergebliches Bemühen um gestische Vergewisserung zeugt von der Unmöglichkeit, die zwischen den Betroffenen stehenden Kommunikationshindernisse zu überwinden; ja sie selbst ist eine letzte „significant gesture of failed communica-

Preußen um 1800“, in: Blänkner (Hrsg.), Heinrich von Kleists Novelle „Die Verlobung in St. Domingo“, S. 93–105. 59 Vgl. ebd., S. 95 f. 60 Vgl. Anja Bandau, „Das Ende von Saint-Domingue. Wie Unsagbares erinnert wird“, in: Comparativ. Zeitschrift für Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsforschung, 22/2012, S. 33–48. 61 Vgl. hierzu auch Gerhard Neumann, „Die Verlobung in St. Domingo. Zum Problem literarischer Mimesis im Werk Heinrich von Kleists“, in: Christine Lubkoll/Günter Oesterle (Hrsg.), Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik, Würzburg 2001, S. 93–117, hier S. 115: Dort macht Neumann auf die Problematik bzw. Unmöglichkeit des „Erzählens von Geschichte“ bei Kleist aufmerksam. 62 Heinrich von Kleist, „Die Verlobung in St. Domingo“, in: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 3, S. 222–260, hier S. 258.

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tion“,63 von der hier alle verbalen und nonverbalen Äußerungen bis hin zu Tonis unbeschreiblichem Blick, der strukturell noch auf Gustavs „unaussprechlichen Ausdruck von Gram“64 rekurriert, affiziert sind. Daher ist Tonis „Ach!“ mehr als nur ein Widerhall ihres bevorstehenden Todes: In ihm tönt die verzweiflungsvolle Einsicht in die Aporie der Verständigung nach. Dass es dazu kommen konnte, ist vor dem Hintergrund des in Rede stehenden Zusammenhangs der Unmöglichkeit des Fremdverstehens zuzuschreiben, einer Unmöglichkeit, die Kleist in der Verlobung nicht nur in sprachlich-intersubjektiver, sondern auch in wahrnehmungsspezifischer Hinsicht durchspielt. Denn hier, am „Kreuzpunkt von Liebesgeschichte und Rassendiskurs“,65 in der Begegnung zwischen Gustav und Toni bzw. zwischen verschiedenen Kulturen, erweist sich das Scheitern des physiognomischen Blicks als paradigmatischer Fall. Dabei bildet das von Kant in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht als „Naturantrieb“66 bezeichnete Verfahren physiognomischen Fremdverstehens für Gustav eine Quelle permanenten Versehens. Während Kant davon ausging, dass wir dem, „welchem wir uns anvertrauen sollen, er mag uns auch noch so gut empfohlen sein, vorher ins Gesicht, vornehmlich in die Augen, sehen, um zu erforschen, wessen wir uns gegen ihn zu versehen haben“,67 erkennt Gustav weder die Intrige, die sich zu Beginn um ihn rankt, noch durchschaut er die List, mit der Toni ihm angesichts der Rückkehr Congo Hoangos das Leben zu retten sucht. Er bleibt durchweg Gefangener seiner kulturellen Prägung und vermag nicht, sie sprachlich und mental zu überschreiten. Ähnlich verhält es sich bei Toni. Auch wenn ihre Entwicklung auf die Nachahmung Marianes, der ehemaligen Verlobten Gustavs, hinausläuft,68 bedient sie sich auf dem Wege der Emanzipation von ihrer Familie jener Listen und Täuschungen, die sie in der Vergangenheit im Kreise der Ihrigen eingeübt hat. Es ist das Tragische der Erzählung, dass sich Toni „aus der typischen Denkweise ihrer Umwelt befreien will, indem sie eben diese Denkweise als Mittel zur Befreiung benutzt.“69 Sie erschrickt über ihre „lügenhaften Anstalten“70 zur Rettung Gus-

63 Roswitha Burwick, „Issues of Language and Communication: Kleist’s ‚Die Verlobung in St. Domingo‘“, in: The German Quarterly, 65/1992, S. 318–327, hier S. 319. 64 Kleist, „Die Verlobung in St. Domingo“, S. 257. 65 Sigrid Weigel, „Der Körper am Kreuzpunkt von Liebesgeschichte und Rassendiskurs in Kleists Erzählung ‚Die Verlobung in St. Domingo‘“, in: Kleist-Jahrbuch, 1991, S. 202–217. 66 Immanuel Kant, „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“, in: Werke in sechs Bänden, Bd. 6, Wilhelm Weischedel (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1966, S. 395–690, hier S. 639. 67 Ebd. 68 Vgl. Weigel, „Der Körper am Kreuzpunkt“, S. 212. 69 Walter Müller-Seidel, Versehen und Erkennen. Eine Studie über Heinrich von Kleist, Köln/Wien 3 1971, S. 42. 70 Kleist, „Die Verlobung in St. Domingo“, S. 245.

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tavs und gerät, indem sie sich gegenüber beiden Seiten aus taktischen und durchaus ehrenwerten Gründen verschlossen und unehrlich verhält, fast notwendig in die für sie symptomatische Position im „Niemandsland“71 zwischen den Kulturen. Sie täuscht alle, Congo Hoango und seine Gefolgsleute, Babekan, Gustav und schließlich auch sich selbst in der Erwartung, der Fremde würde ihr, zumal nach der gemeinsam verbrachten Nacht, vertrauen und die gute Absicht hinter ihrer List durchschauen. Hätte er über die von Toni unterstellte Weitsicht verfügt, wäre er vermutlich gar nicht erst das Opfer der Intrige geworden. Das ist ihr Irrtum. So zieht, nach dem Muster der Unaussprechlichkeit, ein Versehen das andere nach sich: bis Gustav die Pistole gegen sich selbst richtet und dieses Muster – was bezeichnend genug ist – mit dem Schuss durch den Mund (Artikulationsraum) in das Gehirn (Zentrum der Sinne) exekutiert. Bricht man das Narrativ der Unaussprechlichkeit auf die interkulturelle Konstellation herunter, so wird in ihr ein Differenzkonzept erkennbar, das ganz offensichtlich von einer substantiellen Kulturdistanz und einem zwangsläufig daraus resultierenden Miss- und Nichtverstehen ausgeht. Kleists Novelle setzt damit ästhetisch um, was dem Relativismus kulturanthropologisch und sprachwissenschaftlich als Absurdität ausgelegt wurde: dass er nämlich, wenn man ihn konsequent zu Ende denke, das Verstehen fremder Kulturen und den gelingenden Austausch mit ihnen für unmöglich erkläre. Auf der anderen Seite wurde der Novelle bescheinigt, dass es in der Inszenierung der Kulturbegegnung immer wieder zur Verwischung von Grenzen bzw. zur Inszenierung liminaler Räume komme, indem der Text „die Gegensätze und kulturellen Festschreibungen in zahllose Zwischentöne, in eine third culture“,72 auflöse. Relativismus und die Perspektivierung von Kulturen des Dritten schließen sich bei Kleist jedoch nicht aus, auch wenn sich solche Kulturen immer nur episodisch einstellen: als vorübergehende Momente und Möglichkeitsräume wie bei Toni und Gustav oder, um ein flankierendes Beispiel aus Kleists Dramen anzuführen, wie in der Liebesbeziehung zwischen Penthesilea und Achill. In diesen Momenten deutet sich an, was möglich wäre, wenn der Mensch sich von seiner kulturellen Prägung lösen könnte;73 mit ihnen werden aber aufgrund der Unmöglichkeit, sie zu überwinden, zugleich kulturelle Differenzen festgeschrieben. Dabei macht gerade Penthesilea

71 Hans Peter Herrmann, „Die Verlobung in St. Domingo“, in: Walter Hinderer (Hrsg.), Interpretationen. Kleists Erzählungen, Stuttgart 1998, S. 111–140, hier S. 127. 72 Andrea Bartl, „Kulturwissenschaften“, in: Breuer (Hrsg.), Kleist-Handbuch, S. 394–397, hier S. 396. 73 So beschreibt etwa Ottmar Ette die Verlobung als „Erprobungsraum einer möglichen Konvivenz, in deren Scheitern ein Wissen vom künftigen Zusammenleben aufscheint.“ Ottmar Ette, „Kleist – Karibik – Konvivenz. ‚Die Verlobung in St. Domingo‘ als Erprobungsraum künftigen

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deutlich, dass es sich bei der kulturellen Prägung um ein Konstrukt handelt – ein Konstrukt freilich, dessen Entstehung in eine mythische Vorzeit zurückreicht und mit dem das Schicksal der Protagonistin unauflöslich verknüpft ist. ACHILLES Und woher quillt, von wannen ein Gesetz, Unweiblich, du vergibst mir, unnatürlich, Dem übrigen Geschlecht der Menschen fremd? PENTHESILEA Fern aus der Urne alles Heiligen, O Jüngling: von der Zeiten Gipfeln nieder, Den unbetretnen, die der Himmel ewig In Wolkenduft geheimnisvoll verhüllt. Der ersten Mütter Wort entschied es also, Und dem verstummen wir, Neridensohn, Wie deiner ersten Väter Worten du.74

Als Gründungsakte des Amazonenstaates ist das Gesetz der Tanaïs Verhaltensnorm und Handlungsmaxime in einem. Es setzt – gerade auch sprachlich – Zeichen („Und dem verstummen wir“), deren Grenzen intersubjektiv nicht überschritten werden sollen. Wer wie Penthesilea dennoch versucht, sie zu überwinden, setzt sich der Gefahr kommunikativer Exklusion aus und wird sowohl diesseits als auch jenseits dieser Grenzen nicht mehr verstanden. Da auch Achill den Worten seiner „ersten Väter“ verpflichtet ist, kommt es – in freier Auslegung des Wittgensteinschen Grundsatzes aus dem Tractatus logico-philosophicus, dass die „Grenzen meiner Sprache […] die Grenzen meiner Welt“75 bedeuten – zwischen seiner sprachlichen Welt und derjenigen Penthesileas beinahe unweigerlich zur Kollision. In Erwartung des Rosenfestes, in dessen Genuss nur kommt, wer den Amazonen im Kampf unterliegt, fordert Achill die Königin zum Schein heraus. Seine fatale Fehleinschätzung des amazonischen Brauchtums und des damit verbundenen Konflikts, den das Objekt seiner Begierde in sich austrägt, ist dabei nicht zuletzt Ausdruck problematischer Intersubjektivität und mithin Kehrseite des Versehens, dem Penthesileas Handeln zugrunde liegt. Noch als sie sich mit ihren Hunden zum Kampf gegen ihn rüstet, erscheint ihm ihr Verhalten nicht anders als „listig“:76 „Sie tut mir nichts, sag’ ich! Eh’ wird ihr Arm, / Im Zwei-

Zusammenlebens“, in: Blänkner (Hrsg.), Heinrich von Kleists Novelle „Die Verlobung in St. Domingo“, S. 187–224, hier S. 224. 74 Heinrich von Kleist, „Penthesilea. Ein Trauerspiel [Erstdruck]“, in: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 2, Ilse-Marie Barth/Hinrich C. Seeba (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1987, S. 143–256, hier S. 213. 75 Ludwig Wittgenstein, „Tractatus logico-philosophicus“, in: Schriften, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1969, S. 7–83, hier S. 64. 76 Kleist, „Penthesilea“, S. 236.

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kampf gegen ihren Busen wüten, / Und rufen: ‚Sieg!‘ wenn er von Herzblut trieft, / Als wider mich!“77 Weil sie aber nach dem Brauch der Amazonen „mit Eisen ihn umarmen muß“,78 ist die Liebe nur um den Preis der Gewalttätigkeit zu erzwingen. Dass Penthesilea am Ende im Überschwang der Gefühle „das Eine für das Andre“79 ergreift und beißt, wo sie hätte küssen sollen, verknüpft das Versprechen mit einer Differenz, die – darauf hat László F. Földényi unter Bezugnahme auf die bereits zitierte Äußerung aus dem Brief Kleists an Wilhelmine von Zenge ausdrücklich hingewiesen80 – ihren Ursprung in Kleists anthropologischem Relativismus hat: „Denn mit demselben Gefühle, mit welchem Du bei dem Abendmahle des Brod nimmst aus der Hand des Priesters, mit demselben Gefühle, sage ich, erwürgt der Mexicaner seinen Bruder vor dem Altare seines Götzen.“81

V Alles Zufall – alles relativ „Kleist“, so Yoko Tawada in ihrem Essay Kleist auf Japanisch, „situierte seine Geschichten in die italienisch- oder spanischsprachigen Länder, damit sich in den Namen der Buchstabe O zweimal wiederholen konnte. Das war der wichtigste Grund, warum die Figuren bei Kleist oft Ausländer sind“.82 Tawada überträgt mit dieser Äußerung ihre Vorliebe für den Buchstaben O auf das Werk Kleists. Für sie spiegelt sich in diesem Buchstaben eine Dimension der Fremdheit dadurch wider, dass er ikonographisch gewissermaßen Löcher und Lücken in die Bewegung der Sprache reißt und damit die „selbstverständliche Abfolge kultureller Codes“83 unterbricht. Das O ist der Ort der Unterbrechung, aber zugleich der Ort, an dem Kultur in ihrem Verhaftetsein an die Sprache sichtbar wird. Auch Kleists Texte sind mit Löchern und Lücken übersät. Dadurch hinterlassen sie fortlaufend Zeichen der Unterbrechung, Male syntaktischer Zerstückelung, in denen das Unbegreifliche der beschriebenen Ausnahmezustände formal aufgehoben ist.84 Ob für Kleist aus diesem Grunde eine Affinität zum O bestim-

77 Ebd., S. 234. 78 Ebd., S. 173. 79 Ebd., S. 254. 80 Vgl. László F. Földényi, Heinrich von Kleist. Im Netz der Wörter, München 1999, S. 50. 81 Kleist, Briefe, S. 132. 82 Yoko Tawada, „Kleist auf Japanisch“, in: Dies., Sprachpolizei und Spielpolyglotte, Tübingen 2007, S. 85–90, hier S. 89. 83 Hansjörg Bay, „Transkulturelle Stockungen. Verwandlung und Verhaftung bei Kafka und Tawada“, in: Heimböckel u.a. (Hrsg.), Zwischen Provokation und Usurpation, S. 251–274, hier S. 264. 84 Vgl. Heimböckel, Emphatische Unaussprechlichkeit, S. 297–320.

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mend war, die mit derjenigen Tawadas vergleichbar ist, muss allerdings dahingestellt bleiben, auch wenn die Vorstellung eines gewissen ästhetischen Reizes nicht entbehrt, dass die sich im O zeigende Öffnung beispielsweise mit der „zufälligen Wölbung“85 in Verbindung zu bringen ist, der Jeronimo zu Beginn der Erdbeben-Novelle sein Leben verdankt. Was der Vergleich mit Tawada allerdings heuristisch befördert, ist das Verständnis für die mit den Unterbrechungen einhergehenden Ordnungsverstöße, die ästhetisch das Befremdende organisieren, das in dem Ausgriff auf die fernen Provinzen auch topographisch angelegt ist. Das aus der Ferne herübertönende Beben geht dabei in ein „Beben der Darstellung“86 über, die Ordnungen – sprachliche ebenso wie kulturelle – nicht mehr unangetastet lässt. Insofern ist Ordnung bei Kleist potentiell immer auch NichtOrdnung, in der sich der von ihr vorgegebene Sinn als Nicht-Sinn erweist. In einer als brüchig erfahrenen und als brüchig beschriebenen Welt wie der von Kleist ist Ordnung dementsprechend nur noch ein Muster für die Anfälligkeit für den Zufall. Ordnung zeigt sich insofern als etwas, das fortwährend bedroht ist, und zwar durch ein Anderes, das der Zufall selbst ist. Der Zufall ist die Einfallsstelle des Anderen und zugleich der Ort, an dem sich die Andersheit der Ordnung zeigt: „Eine neue Form der Ordnung, die wir als modern bezeichnen können, bricht sich Bahn“, so Bernhard Waldenfels, „wenn der Verdacht aufkommt, die so unverbrüchlich und allumfassend scheinende Ordnung sei nur eine unter möglichen anderen.“87 Mit einer solchen Vorstellung ist das universalistische Konzept einer übergeordneten bzw. für alle geltenden Ordnung nicht mehr kompatibel. Ordnung kann von dieser Warte aus lediglich von den Grenzen her gedacht werden, von dem her, was sie von anderen Ordnungen trennt und was in diesen jeweils an Normen, Werten und Ideen vorherrscht. Kleists relativistischer Abendmalvergleich hat in diesem Denken seinen Ursprung – und sein Denken der und/oder „an der Grenze“88 auch. Die Grenze kann aber nicht ausschließlich als Ort der Abgrenzung verstanden werden, weil sie selbst ein Raum ist, der die Dinge in der Schwebe hält. Von diesem liminalen Raum aus erweist sich die Ordnung nicht als unumstößliche Entität, sondern als in ihrer Geltung beschränkt – räumlich wie geistig. Insofern markiert Kleists Relativismus nicht allein eine Grenze, an der interkulturelle Differenzen sichtbar werden, sondern sie führt die Relativität selbst in ihren Grenzen vor, indem die vermeintliche Unverwechselbarkeit der jeweiligen kulturellen Ordnung als Resultat kontingenter Prozesse inszeniert 85 86 87 88

Kleist, „Das Erdbeben in Chili“, S. 193. Hamacher, „Das Beben der Darstellung“. Bernhard Waldenfels, Der Stachel des Fremden, Frankfurt a.M. 1990, S. 18. Hall, „Wann war der Postkolonialismus? Denken an der Grenze“.

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wird. Das ist im Vergleich zu Herder und zur Aufklärung das erregend Andere und Neue bei Kleist – und seine Neuigkeiten aus der Provinz künden davon. Wer unter seinen Figuren von ihnen betroffen ist, wird entweder wahnsinnig oder lässt sich dazu verleiten, das Andere gerade so zu verstehen, wie es zu seinem vorgängigen Ordnungsverständnis passt. Dies führt dazu, dass man sich, wie in der Verlobung in St. Domingo, nicht versteht, oder dass man, wie im Erdebeben in Chili, dazu neigt, dem Begehren nach Eindeutigkeit nachzugeben und somit zur vermeintlichen Wiederherstellung der durch den Zufall gestörten Ordnung beizutragen. So ist bei Kleist in der Tat alles relativ, aber im Sinne eines Relativismus, der seine Prämissen selbst zur Disposition stellt. Denn erst dadurch gewinnen seine Werke jene ästhetische Energie, die Grenzen zieht, um sie zu überschreiten.

Maximilian Bergengruen, Karlsruhe

Der Ursprung aller Kraft Zur Zigeunerin in E.T.A. Hoffmanns Das öde Haus – mit einem magnetischen Seitenblick auf den Sandmann

I Zigeuner um 1800 War es ein Zufall oder eine konzertierte Publikationsoffensive? Auf jeden Fall erschienen unlängst beinahe zeitgleich zwei theoretisch ambitionierte Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte des ‚Zigeuners‘: Klaus-Michael Bogdals Europa erfindet die Zigeuner von 2011 und Hans Richard Brittnachers Leben auf der Grenze von 2012. Keiner der beiden Studien geht es um eine Geschichte der Ethnie selbst, auch nicht um deren Selbstbeschreibungen, sondern um das Diskursphänomen Zigeuner, also deren Beschreibung von außen in ihrer jeweiligen Zeit (was auch die Beibehaltung des Begriffs rechtfertigt). Bogdal und Brittnacher plädieren, um der paradox erscheinenden Rolle des Zigeuners in der (früh)neuzeitlichen Gesellschaft gerecht zu werden, für eine nicht-aristotelische, also nicht-binäre Logik, wie sie insbesondere seit Agamben im Rahmen der Literaturwissenschaft häufig diskutiert wird:1 Der Zigeuner, heißt es, wird in der jeweiligen europäischen Gesellschaft verortet, aber ohne ihr Mitglied zu sein; er ist also als ein aus ihr Ausgeschlossener in sie eingeschlossen.2 Die relative Fremdheit des „nahe[n] Fremde[n]“3 wird dabei, wie Brittnacher ausführt, exotisch wie historisch gedacht; der Zigeuner wird dementsprechend, trotz seiner Anwesenheit im kulturellen Hier und Jetzt, auf einer anderen oder einer früheren Kulturstufe situiert. Letzteres hat wiederum zur Folge, dass er als ein ‚Hybrid‘ zwischen Natur und Kultur verstanden wird, wobei er gemeinhin das Gegenbild des ‚edlen Wilden‘ darstellt, also nicht für einen unverdorbenen, sondern für einen verdorbenen Naturzustand steht. Der Zigeuner trägt mithin, wie

1 Vgl. vor allem Giorgio Agamben, Ausnahmezustand, Frankfurt a.M. 2006, und Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M. 2007. 2 Vgl. Klaus-Michael Bogdal, Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung, Berlin 2013, S. 49. 3 Hans Richard Brittnacher, Leben auf der Grenze. Klischee und Faszination des Zigeunerbildes in Literatur und Kunst, Göttingen 2012, S. 29.

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zeitgenössisch im Rückgriff auf Hobbes formuliert wird, dessen bürgerkriegsähnliche „Gewalt“, das „Naturrecht des Stärkeren“,4 in die Kultur hinein. Für meine Überlegungen ist nun wichtig, dass es im frühen 19. Jahrhundert neben den genannten noch eine Reihe weiterer ans Stereotype heranreichender Topoi im Diskurs über die Zigeuner gibt, die theoretisch mehr und mehr fragwürdig werden, sich aber zugleich in ihrer motivischen Ausgestaltung als sehr hartnäckig erweisen. Dazu gehört die Behauptung, dass die Zigeuner – dies hängt mit der immer wieder diskutierten, wiewohl ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert verworfenen, These zusammen, sie stammten aus Ägypten5 – zur Mantik, Magie und teuflischen „Zaubereien“6 begabt, ja als Hexen oder Zauberer mit dem Teufel im Bunde seien.7 Seit der Aufklärung wurde diese Selbst- oder Fremdzuschreibung jedoch ebenfalls oft mit dem Zusatz versehen, dass sie keineswegs zutreffe.8 Des Weiteren wird noch im frühen 19. Jahrhundert die Vorstellung kolportiert, dass die Zigeuner – dies wird durch ihr Nomadenleben erklärt – zur Kriminalität im Allgemeinen und zum „Kinderraub“9 im Besonderen neigten,10 wobei auch diese Vorstellung zunehmend als fragwürdig gekennzeichnet

4 Johann Christian Christoph Rüdiger, Von der Sprache und Herkunft der Zigeuner aus Indien [1782], Harald Haarmann (Hrsg.), Hamburg 1990, S. 38. Vgl. Brittnacher, Leben auf der Grenze, S. 29–41. 5 Ab diesem Zeitpunkt gilt, nicht zuletzt wegen der Untersuchung Grellmanns, der die „[a]egyptische Abkunft der Zigeuner“ zugunsten einer aus „Hindostan“ zurückweisen konnte (Heinrich Moritz Gottlieb Grellmann, Historischer Versuch über die Zigeuner. Betreffend die Lebensart und Verfassung, Sitten und Schicksale dieses Volks seit seiner Erscheinung in Europa und dessen Ursprung, Göttingen 21787, S. 250), der indische Ursprung als „ausgemacht“; so Johann Erich Biester, „Ueber die Zigeuner, besonders im Königreich Preußen“, in: Berlinische Monatsschrift, 21/ 1793, S. 108–165 u. S. 360–393, hier S. 150. Vor Grellmann, ihm aber unbekannt, hatte bereits Rüdiger, Von der Sprache, S. 62, auf die Wurzel der Sprache der Zigeuner in „Ostindien“ hingewiesen. Vgl. dazu die Ausführungen des Herausgebers Harald Haarmann, „Einleitung“, in: Rüdiger, Von der Sprache, S. VII–XXII, hier S. XIX–XXI. Zu Rüdiger, Grellmann und Biester vgl. Stefani Kugler, Kunst-Zigeuner, Konstruktionen des ‚Zigeuners‘ in der deutschen Literatur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Trier 2004, S. 46–112. 6 Biester, „Ueber die Zigeuner“, S. 140. 7 Vgl. Bogdal, Europa erfindet die Zigeuner, S. 68–86, Brittnacher, Leben auf der Grenze, S. 223–245, und Marian Zaloaga, „Die ‚Zigeunerin‘ als ‚Hexe‘. Eine Analyse der gegenwärtigen und historischen Dimension eines Diskurses und seiner Bedeutung für Identität“, in: Herbert Uerlings/ Iulia-Karin Patrut (Hrsg.), ,Zigeuner‘ und Nation. Repräsentation – Inklusion – Exklusion, Frankfurt a.M. u.a. 2008, S. 551–570. 8 Vgl. etwa Biester, „Ueber die Zigeuner“, S. 140 f. 9 Grellmann, Historischer Versuch, S. 55. 10 Vgl. Brittnacher, Leben auf der Grenze, S. 171–181, und Stefani Kugler, „Zigeuner als Kinderräuber. Fontanes ‚Graf Petöfy‘ und die Tradition eines Vorwurfs“, in: Uerlings/Patrut (Hrsg.), ‚Zigeuner‘ und Nation, S. 571–588.

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wird.11 Die intellektuelle Desavouierung der genannten Gedankenfiguren kann diesen jedoch nur begrenzt etwas anhaben. Bereits die spätaufklärerische Fachliteratur hatte konstatiert, dass an die von ihr als falsch entlarvten Topoi unverändert „stark geglaubt[ ]“12 würde. Genau hier setzt die literarische Auseinandersetzung mit dem Thema im frühen 19. Jahrhundert an. Es ist in der Forschung verschiedentlich festgehalten worden, dass die Zigeuner in der Romantik eine Aufwertung erfahren, die über eine manchmal offensichtliche, manchmal subkutane Identifizierung der Literatur mit den Zigeunern bzw. dem Zigeunerischen erfolgt.13 Die romantische Auseinandersetzung mit dem Thema unterscheidet sich dabei insofern von der wissenschaftlich-aufklärerischen Perspektive, als die Topoi nicht einfach als überholt gekennzeichnet werden: Vielmehr werden sie vorderhand, in ihrer Fragwürdigkeit, aufgenommen. Dies bedeutet jedoch nicht, wie Brittnacher14 und vor ihm schon Saul15 und die Oesterles gezeigt haben,16 dass sie damit bejaht würden. Ganz im Gegenteil: Stereotype aufzunehmen kann auch bedeuten, Umschriften literarischer Prätexte herzustellen und die bestehenden Semantiken ins Wanken zu bringen. In Ludwig Tiecks Elfen beispielsweise, einer Erzählung aus dem von Hoffmann des Öfteren als Prätext beanspruchten Phantasus, werden einige der genannten Zigeuner-Topoi zitiert, dabei jedoch bei näherem Hinsehen unterlaufen. Die mit der Topik des Zigeunerischen aufgerufene Figur des Hybriden wird demzufolge auch in der literarischen Performanz hybrid eingesetzt; bei Tieck mit dem

11 Grellmann, Historischer Versuch, S. 55, schreibt, dass die Annahme des Kinderraubs „wenig oder gar keinen Grund für sich hat“. 12 Ebd. 13 Vgl. hierzu die entsprechenden Kapitel bei Bogdal, Europa erfindet die Zigeuner, S. 177–210, und Brittnacher, Leben auf der Grenze, S. 279–288, aber auch Nicholas Saul, Gypsies and Orientalism in German Literature and Anthropology of the Long Nineteenth Century, London 2007, S. 20–46, bes. S. 30, und die erhellenden Ausführungen von Ingrid und Günter Oesterle, „Die Affinität des Romantischen zum Zigeunerischen oder die verfolgten Zigeuner als Metapher für die gefährdete romantische Poesie“, in: Holger Helbig/Peter Horst Naumann (Hrsg.), Hermenautik – Hermeneutik. Literarische und geisteswissenschaftliche Beiträge zu Ehren von Peter Horst Neumann, Würzburg 1996, S. 95–108, bes. S. 98 f. Ähnlich auch Günter Oesterle, „‚Zigeunerbilder‘ als Maske des Romantischen“, in: Wilhelm Soms/Daniel Strauß (Hrsg.), ,Zigeunerbilder‘ in der deutschsprachigen Literatur. Tagung in der Universität Marburg vom 5. bis 7. Mai 1994, Heidelberg 1995, S. 47–64. 14 Vgl. Brittnacher, Leben auf der Grenze, S. 174. 15 Vgl. Saul, Gypsies and Orientalism, S. 21. 16 Vgl. Ingrid und Günter Oesterle, „Die Affinität des Romantischen“, S. 96 f., sowie, ihnen folgend, Kugler, Kunst-Zigeuner, S. 218, und Wilhelm Solms, Zigeunerbilder. Ein dunkles Kapitel der deutschen Literaturgeschichte. Von der frühen Neuzeit bis zur Romantik, Würzburg 2008, S. 206.

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Effekt, dass die Menschen, die „dem Anschein nach Zigeunervolk“17 sind, sich letztlich als, freilich märchenhafte, Schutzgeister der Gegend entpuppen. In eine ähnliche Richtung weist die Beschreibung der Zigeunerin in Hoffmanns Erzählung Das öde Haus aus den Nachtstücken von 1816/17. Auch diese Figur erfüllt, wie ich im Folgenden ausführen möchte, alle Klischees: vom Kindsraub bis zur teuflischen Zauberei. Aber auch hier werden die Topoi sublimiert und ambivalent gehalten – und zwar im Sinne der, in diesem Falle freilich sehr versteckten, Identifizierung der romantischen Literatur mit dem Objekt ihrer Darstellung. Dies rührt daher, dass Hoffmann im Öden Haus völkerkundliche Elemente, die Beschreibung von Zigeunern, mit einer traditionellen Anthropologie kombiniert, ja dass er die in der Erzählung vorkommende Zigeunerin zu einer Schlüssel- und Zentralfigur seiner Vorstellungen von Psychologie und animalischem Magnetismus macht. Die in der Einleitung dieses Bandes beschriebene Verschränkung des Wissens vom ganzen Menschen mit dem von der ganzen Menschheit wird in diesem Text also besonders markant auf den Punkt gebracht. Das Öde Haus diskutiert nämlich nicht nur die Frage, welche Auswirkungen der magnetische Rapport für den Rezipienten haben kann (nämlich den Aufruf psychischer Krankheiten wie etwa der fixen Idee), sondern auch und besonders die Frage nach dem Ursprung der dafür notwendigen, ja überhaupt aller psychischen Energie. Und hier gerät die Zigeunerin mit ihrer topischen Verbindung zum Kindsraub und zum Hexenhaften auf einmal, ganz unvermutet, in die Nähe des romantischen Poeten.

II Auswirkungen der magnetischen Gewalt Die Handlung des Öden Hauses ist schnell rekapituliert: Der Ich-Erzähler Theodor wird bei Spaziergängen in Berlin18 von dem titelgebenden öden Haus magisch angezogen. Es ist jedoch nicht nur das Gebäude selbst, sondern vor allem die Vision einer „holde[n] Engelsgestalt“,19 die er am Fenster dieses Hauses zu sehen

17 Ludwig Tieck, „Die Elfen“, in: Schriften in zwölf Bänden, Bd. 6, Manfred Frank (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1985, S. 306–327, hier S. 307 (Hervorhebung M.B.). 18 Zum Handlungsort Berlin vgl. Klaus Kanzog, „Berlin-Code, Kommunikation und Erzählstruktur. Zu E.T.A Hoffmanns ‚Das öde Haus‘ und zum Typus ‚Berlinische Geschichte‘“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie. Sonderheft E.T.A Hoffmann, 95/1976, S. 42–63, hier S. 46 f., sowie Robert McFarland, „Reading ‚Das öde Haus‘. E.T.A. Hoffman’s Urban Hermeneutics“, in: Monatshefte, 100/2008, 4, S. 489–503. 19 E.T.A. Hoffmann, „Das öde Haus“, in: Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 3, Hartmut Steinecke (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1985, S. 163–198, hier S. 177. Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden mit nachgestellter Seitenzahl zitiert.

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vermeint. Diese Vorstellung gestaltet sich ihm zu einer „fixe[n] Idee“ (182) bzw. zum „fixen Wahnsinn“ im Sinne von Johann Christian Reils, im Text ausdrücklich erwähntem, „Buch über Geisteszerrüttungen“ (181), also den Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen von 1803. Dieses Buch rezipiert Theodor sorgfältig und diskutiert dessen Ergebnisse im Gespräch mit dem psychiatrisch versierten Mediziner „Doktor K.“ (182). Bald wird jedoch deutlich, dass die genannte fixe Idee nicht psychogen entstanden ist, sondern extern, genauer gesagt: durch magnetische Beeinflussung, herbeigeführt wurde: Am Ende stellt sich heraus, dass sich hinter den psychischen ‚Angriffen‘ auf Theodor eine wahnsinnige Gräfin namens Angelika verbirgt. Angelika hat sich mit ihrer Tochter oder Nichte (was genau sie ist, bleibt unklar) mit Namen Edwine oder Edmonde (auch das lässt sich nicht restlos klären)20 und besagtem Theodor in einen „magnetischen Rapport“ (198) versetzt, dergestalt dass dieser in seinen magnetischen Visionen die hässliche Angelika in Form der entzückenden Edwine/Edmonde begehrt. Hinter dem Ganzen steckt jedoch die genannte Zigeunerin. In der Forschung ist des Öfteren hervorgehoben worden, dass Das öde Haus eine Dublette des Sandmanns darstellt.21 Das ist nicht zu bestreiten. Richtet man

20 Der Graf P. stellt Theodor besagte Frau als „Gräfin Edwine von S.“ vor; Angelika wird als „Schwester ihrer [Edwines/Edmondes] Mutter“ (192) bezeichnet: Demnach wäre Gabriele ihre Mutter und Angelika ihre Tante. Doktor K. wiederum spricht von „Edmonden“ (197). Auch er geht davon aus, dass Gabriele die Mutter dieser Frau ist. Edwine und Edmonde sind also eine Person; die Differenz der Namen geht höchstwahrscheinlich auf einen Schreib- bzw. Erinnerungsfehler Hoffmanns zurück. Die Identität der Mutter ist hingegen sehr zweifelhaft: Gabriele findet, nachdem ihr eigenes Kind geraubt wurde, vor der Haustür ihres Vaters ein Mädchen, das der Erzähler mit den Worten „es ist ihr Kind! – es ist die verlorne Tochter!“ (196 f.) als das ihr abhanden gekommene bezeichnet. Die vom Erzähler vorgenommene Zuschreibung ist aber nicht sicher, denn der „Schwiegersohn“, also Graf S., der Mann von Gabriele, war nicht, wie er angab, „auf dem Wege nach Pisa“ (196), sondern bei Angelika. Dort hat ihn ein „Nervenschlag[ ]“ getroffen. Was er vorher getan hat, bleibt unklar. Angelika geht zumindest davon aus, dass er mit ihr ein Kind gezeugt hat, eben jenes Kind, das die Zigeunerin Gabriele bringt: „Sie bekennt, daß Graf S. in ihre Arme zurückgekehrt, und daß das Kind, welches die Zigeunerin ins Haus des Grafen von Z. brachte, die Frucht dieses Bündnisses sei“ (197). In diesem Falle wäre Gabrieles eigenes Kind tot und Edwine/Edmonde die Tochter (und nicht die Nichte) Angelikas. 21 So z.B. Max Milner, „Phantasik und Familienroman in ‚Das öde Haus‘“, in: Jean-Marie Paul (Hrsg.), Dimensionen des Phantastischen. Studien zu E.T.A. Hoffmann, St. Ingbert 1998, S. 213–225, hier S. 213; Claudia Lieb, „Und hinter tausend Gläsern keine Welt. Raum, Körper und Schrift in E.T.A. Hoffmans ‚Das öde Haus‘“, in: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch, 10/2002, S. 58–75, hier S. 62, und Ricarda Schmidt, „Der Dichter als Fledermaus bei der Schau des Wunderbaren. Die Poetologie des rechten dichterischen Sehens in Hoffmanns ‚Der Sandmann‘ und ‚Das öde Haus‘“, in: R. J. Kavanagh (Hrsg.), Mutual Exchanges. Sheffield-Münster Colloquium I, Frankfurt a.M. 1999, S. 180–192, hier S. 180–183.

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den Blick jedoch nicht nur auf die Frage der Innovation in der Handlungsführung, sondern auch auf die epistemologische Dimension von Hoffmanns literarischer Anthropologie, muss das nicht zwangsläufig negativ gewertet werden. Vielmehr wird man sagen können, dass Hoffmann im Öden Haus die Versuchsanordnung aus dem Sandmann modifiziert, um die bereits erzielten Ergebnisse auf Basis einer größeren Varianzbreite zu überprüfen. Doch beginnen wir mit den Übereinstimmungen, die zwischen dem Sandmann und dem Öden Haus bestehen: Beide Texte zielen, in ihrer Verbindung von Wunderlichem und Wunderbaren,22 auf eine literarische Erprobung der Konsequenzen der Beeinflussung durch den magnetischen Rapport, wie jüngst eine grundlegende Freiburger Dissertation gezeigt hat.23 In beiden Erzählungen wird ein junger Mann, im Falle des Sandmanns: Nathanael, im Falle des Öden Hauses: Theodor, Opfer einer magnetischen Kur, die allerdings keineswegs zu seinem Besten dient. Ausgeführt wird diese ‚Kur‘ durch einen nicht-einheimischen, ja nicht einmal sesshaften Fremden: durch einen „italienischen Tabuletkrämer[ ]“ (177) im Öden Haus bzw. den Optiker Coppola, der ebenfalls „italiänischer Abkunft ist“,24 im Sandmann. Der Rapport erfolgt in beiden Fällen durch – das sind Fachbegriffe der Zeit – magnetische „Zwischenkörper“ oder „Substitute“.25 Während es im Sandmann ein „Taschenperspektiv“26 ist, das Coppola Nathanael bei seinem zweiten Besuch

22 Vgl. hierzu Claudius Sittig, „Vom ‚Wunderlichen‘ in der Poesie. Wissbegierde und Einbildungskraft in E.T.A. Hoffmanns ‚Nachtstück‘ ‚Das öde Haus‘“, in: Barry Murnane u.a. (Hrsg.), Populäre Erscheinungen. Der deutsche Schauerroman um 1800, München 2011, S. 231–248. 23 Vgl. Daniel Hilpert, Magnetisches Erzählen. E.T.A. Hoffmanns Poetisierung des Mesmerismus, Diss. masch., Freiburg 2012, S. 12–205. Vgl. zu Hoffmanns Auseinandersetzung mit dem Magnetismus allgemein, freilich meist mit einem Schwerpunkt auf dem Magnetiseur, Margarete Kohlenbach, „Ansichten von der Nachtseite der Romantik. Zur Bedeutung des animalischen Magnetismus bei E.T.A. Hoffmann“, in: Nicholas Saul (Hrsg.), Die deutsche literarische Romantik und die Wissenschaften, München 1991, S. 209–233; Maria M. Tatar, Spellbound. Studies on Mesmerism and Literature, Princeton 1978, S. 121–151, und Jürgen Barkhoff, Magnetische Fiktionen. Literarisierung des Mesmerismus in der Romantik, Stuttgart 1995, S. 195–238. Speziell zum Öden Haus vgl. Jürgen Barkhoff, „Geschlechteranthropologie und Mesmerismus. Literarische Magnetiseurinnen bei und um E.T.A Hoffmann“, in: Gerhard Neumann (Hrsg.), ‚Hoffmanneske Geschichte‘. Zu einer Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft, Würzburg 2005, S. 15–42. Zu den Ähnlichkeiten zwischen den beiden Geschichten aus einer nicht-magnetischen Perspektive vgl. Milner, „Phantasik und Familienroman“, S. 214–216. 24 E.T.A. Hoffmann, „Der Sandmann“, in: Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 11–49, hier S. 24. 25 Carl Alexander Ferdinand Kluge, Versuch einer Darstellung des animalischen Magnetismus als Heilmittel, Berlin 1815, S. 171 bzw. S. 402. 26 Hoffmann, „Der Sandmann“, S. 36.

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verkauft, ist es im Öden Haus ein Spiegel: „Mit den Worten: ‚Auch hier hab’ ich noch schöne Sachen!‘ […] hielt [er] mir einen kleinen runden Taschenspiegel […] in kleiner Entfernung seitwärts vor. – Ich erblickte das öde Haus hinter mir, das Fenster und in den schärfsten deutlichsten Zügen, die holde Engelsgestalt meiner Vision“ (177).27 Leicht zu sehen also, was bei Hoffmann vom Magnetiseur an seine Patienten oder besser Opfer vermittelt wird: In beiden Fällen geht es, wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise, um die Introduktion weiblicher Vorstellungsbilder mit starker erotischer Anziehungskraft.28 Während es im Öden Haus die besagte edwinische oder edmondische Engelsgestalt ist, haben wir es im Sandmann mit dem Bild einer verlebendigten Puppe zu tun: „Olimpia’s Gestalt schwebte vor ihm [Nathanael] her […] in den Lüften und trat aus dem Gebüsch, und guckte ihn an mit großen strahlenden Augen […]. Clara’s Bild war ganz aus seinem Innern gewichen, er dachte nichts, als Olimpia“.29 Man kann also sagen, dass die „fixe Idee“ bzw. der „fixe[ ] Wahnsinn“, der Nathanael und Theodor befallen hat, eine spezielle Form hat: Es handelt sich, mit Reil gesprochen, um die Unterkategorie „f)“, die „sich auf Liebe bezieht“30 – um Liebeswahn also, oder genauer gesagt: um künstlich erzeugten Liebeswahn.31 Damit werden im Sandmann wie auch im Öden Haus zwei Bereiche zusammengebracht und -gedacht, die in der psychologischen Fachliteratur der Zeit, zum Beispiel bei Reil, nur ansatzweise miteinander verbunden werden, aus der Perspektive des Magnetismus jedoch notwendig zusammengehören: Die Rede ist

27 Vgl. hierzu Erik Peez, Die Macht der Spiegel. Das Spiegelmotiv in Literatur und Ästhetik des Zeitalters von Klassik und Romantik, Frankfurt a.M. u.a. 1990, S. 341–347, sowie, ihm folgend, Lieb, „Hinter tausend Gläsern“, S. 70, und Rupert Gaderer, Poetik der Technik. Elektrizität und Optik bei E.T.A. Hoffmann, Freiburg u.a. 2009, S. 96 f., die aber die magnetische Dimension zu wenig berücksichtigen. Die Fernmagnetisierung erkennt nur Jürgen Barkhoff, „Geschlechteranthropologie“, S. 38. Unabhängig davon müsste aber noch einmal unterschieden werden: Während das Taschenperspektiv ein wirkliches Substitut darstellt, das die Anwesenheit des Magnetiseurs entbehrlich macht, handelt es sich bei dem Spiegel lediglich um ein verstärkendes Medium, das die Anwesenheit eines Magnetiseur erfordert, was ja auch insofern möglich ist, als Angelika im öden Haus anwesend ist. Spiegel sind, mehr noch als Taschenperspektive, im Magnetismus häufig gebrauchte Gegenstände, die es erlauben, die magnetische Kraft zu konzentrieren, so dass der Rapport noch leichter funktioniert als durch eine unmittelbare Übergabe von Energie vom Magnetiseur an den Patienten. Vgl. hierzu Hilpert, Magnetisches Erzählen, S. 187 f. 28 Vgl. auch Heinz Brüggemann, Das andere Fenster: Einblicke in Häuser und Menschen. Zur Literaturgeschichte einer urbanen Wahrnehmungsform, Frankfurt a.M. 1989, S. 146–149. 29 Hoffmann, „Der Sandmann“, S. 37. 30 Johann Christian Reil, Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen [1803], Frank Löhrer (Hrsg.), Aachen 2001, S. 346. 31 Vgl. zum historischen psychiatrischen Konzept des Liebeswahns Andrea Möhr, Liebeswahn. Phänomenologie und Psychodynamik der Erotomanie, Stuttgart 1987.

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von der theoretischen Annahme, dass bei entsprechender Disposition der Magnetismus durch die Strukturanalogie des somnambulen Zustands zu bestimmten psychischen Krankheiten ebendiese zum Ausbruch bringen kann.32 Reil thematisiert nämlich in den Rhapsodieen bei der Beschreibung von fixem Wahnsinn lediglich die Symptome und klammert deren Ätiologie weitgehend aus. Da er hier jedoch implizit, an anderer Stelle sogar explizit,33 Zustände wie diesen mit somnambulen Zuständen vergleicht und da im magnetischen Diskurs generell davon ausgegangen wird, dass die psychische Krankheit und der somnambule Zustand eine analoge Struktur haben, liegt eine Verbindung durchaus nah, zumal aus mesmerischer Perspektive. Bei Kluge heißt es beispielsweise: Vorzüglich machen diejenigen Krankheiten, denen der animalische Magnetismus gleichsam zum Voraus eins oder das andere seiner Symptome geliehen zu haben scheint, die Menschen, an welchen sie haften, für dieses Mittel besonders empfänglich, und die Natur hat in solchen Fällen dem Magnetiseur schon voraus in die Hände gearbeitet.34

Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass psychiatrische Modekrankheiten wie die fixe Idee, zumindest bei der entsprechenden melancholischen Prädisposition, magnetisch erzeugt werden können. Und diese melancholische Prädisposition wird in beiden Texten ausführlich verhandelt: Im Rahmen dieses Aufsatzes kann aber nicht auf die sogenannte Trauma-Episode im Sandmann eingegangen werden. Hier sei lediglich bemerkt, dass auch Theodor aus dem Öden Haus eine sein weiteres Leben prägende Erfahrung im Arbeitszimmer seines Vaters gemacht hat, die zudem ebenfalls durch ein Ammenmärchen, wenn auch nicht das des Sandmanns, vorstrukturiert ist. Der Ich-Erzähler gibt nämlich zu, dass der Blick in den magnetischen Spiegel ihn an einen anderen Blick erinnert, den er in frühester Kindheit getan hat: Mit Beschämung muß ich euch bekennen, daß mir jenes Ammenmärchen einfiel, womit mich in früher Kindheit meine Wart’frau augenblicklich zu Bette trieb, wenn ich mich etwa gelüsten ließ, Abends vor dem großen Spiegel in meines Vaters Zimmer stehen zu bleiben und hinein zu gucken. Sie sagte nehmlich, wenn Kinder Nachts in den Spiegel blickten, gucke ein fremdes, garstiges Gesicht heraus, und der Kinder Augen blieben dann erstarrt stehen (177).

Wie im Sandmann wird die Fantasie also von einem Ammenmärchen und einer unheimlichen Erfahrung in der frühen Kindheit angeregt. Gleichzeitig ist diese 32 Vgl. auch Hilpert, Magnetisches Erzählen, S. 166–171. 33 Vgl. Johann Christian Reil, „Ueber das Gemeingefühl“, in: Kleine Schriften wissenschaftlichen und gemeinnützigen Inhalts, Halle 1817, S. 34–112, hier S. 38, 77, 108. 34 Kluge, Magnetismus, S. 426.

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Erfahrung jedoch, nicht zuletzt weil Theodor im Zimmer seines Vaters allein ist, wesentlich weniger einschneidend als diejenige Nathanaels. Das ist auch der Grund, warum Theodor lediglich eine fixe Idee ausbildet – und nicht, wie Nathanael, zwei Krankheiten, die zwar durch den magnetischen Rapport nicht bezweckt waren, gleichwohl aber durch ihn aufgerufen wurden: Verfolgungswahn und Manie.35 Eine Gemeinsamkeit besteht jedoch darin, dass bei Theodor wie bei Nathanael der magnetische Einfluss auf eine ihm entsprechende melancholische Prädisposition stößt und so den Liebeswahn erzeugen kann. Dies führt bei Theodor schließlich dazu, dass er in das öde Haus eindringt und sich Angelika, geleitet durch das Engelsbild von Edwine/Edmonde, nähert: „Rasend vor dürstendem Liebesverlangen stürzte ich auf die Tür; sie wich meinen Druck, ich stand auf dem matterleuchteten Hausflur“ (188). Doch was ihn erwartet, hatte er nicht erwartet: „Willkommen – willkommen, süßer Bräutigam – die Stunde ist da, die Hochzeit nah!“ – So rief laut und lauter die Stimme eines Weibes, und eben so wenig, als ich weiß, wie ich plötzlich in den Saal kam, eben so wenig vermag ich zu sagen, wie es sich begab, daß plötzlich aus dem Nebel eine hohe jugendliche Gestalt in reichen Kleidern hervorleuchtete (188).

Es ist aber bei näherem Hinsehen keine wunderschöne Braut, sondern ein „gräuliche[s] alte[s] Weib[ ]“ (189). Dieses „trat näher auf mich zu, da war es mir, als sei das scheußliche Gesicht nur eine Maske von dünnem Flor, durch den die Züge jenes holden Spiegelbildes durchblickten“ (189). Erklärt wird dieses Phänomen durch den Begriff der „mystische[n] Wechselwirkungen“ (198). Dieser Begriff ist Mesmers Werk Mesmerismus oder System der Wechselwirkungen entliehen, das 1814 in Berlin erschien: Mesmer versteht dort den Magnetismus als Teil der „Harmonie der Wechselverhältnisse, worin die Stoffe miteinander zusammen bestehen“.36 Dies gilt auch und besonders für die „Einwirkung des Magnetismus“.37 Menschen „rufen“, schreibt Mesmer, „auf eine harmonische Weise die Spannungen ihrer Fähigkeiten hervor, und können so angesehen werden, als bildeten sie nur Ein Ganzes zusammen“.38 „Ein Ganzes“ – die

35 Vgl. zu beiden Krankheiten Maximilian Bergengruen, „Dämonomanie. Verfolgungswahn, Magnetismus und Vererbung in E.T.A. Hoffmanns ‚Der Sandmann‘“, in: Eva Geulen u.a. (Hrsg.), Der Dämon, Göttingen 2014 [im Erscheinen]. 36 Franz Anton Mesmer, Mesmerismus oder System der Wechselwirkungen, Theorie und Anwendung des thierischen Magnetismus als die allgemeine Heilkunde zur Erhaltung des Menschen. Mit dem Bildniß des Verfassers und 6 Kupfertafeln, Karl Christian Wolfart (Hrsg.), Amsterdam 1966, S. 33. 37 Ebd., S. 177. 38 Ebd.

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„Einwirkung des Magnetismus“ ist also nach Mesmer immer aus einer Einheit heraus zu begreifen; einer Einheit, die, wie man mit Hoffmann schließen muss, ab einem gewissen Punkt die Superiorität des Magnetiseurs gegenüber seinem Patienten bzw. Opfer aufhebt39 und zu einer Gleichursprünglichkeit in der Wechselwirkung führt. Damit ist konkret auf das Öde Haus bezogen gemeint, dass sich Angelika nicht nur in magnetischen Rapport mit Theodor setzt, sondern dass sie Edwine/Edmonde in diesen Rapport einbeziehen kann – und zwar so, dass (hierauf beruht die Wechselwirkung) diese nicht nur Empfänger, sondern auch Sender von magnetischen Manipulationen wird, also ihrerseits, freilich im Dienste ihrer Mutter/Tante, ihr eigenes Bild für den Rapport mit Theodor zur Verfügung stellt, um diesen gefügig zu machen. Edwine/Edmonde selbst, die wie Theodor durch eine melancholische Prädisposition (es handelt sich bei ihr um ein durch „psychischen Überreiz verkränkeltes Wesen“ [191]) empfänglich für magnetische Manipulation ist, braucht, als der nunmehr aktive Part, keine kunstvollen magnetischen Kräfte, um ihre Attraktion gegenüber Theodor auszuspielen, da sie diesen, als sie sich endlich von Angesicht zu Angesicht treffen, allein durch ihr Aussehen und ihre Anmut „im Innersten erbeb[en]“ und ihr „mechanisch“ (190) folgen lässt. Soweit zu Hoffmanns narrativ geformten Überlegungen zu einer, auf Reil gestützten, Präzisierung der im Magnetismus gepflegten Vorstellung, dass durch den magnetischen Rapport, bei entsprechender psychischer Prädisposition, bestimmte Krankheiten wie zum Beispiel die fixe Idee, genauer: der Liebeswahn, hervorgerufen werden können – und zwar im Rahmen von Wechselwirkungen, in denen schließlich jeder Subjekt und Objekt magnetischer Manipulation sein kann.

III Der Ursprung der magnetischen Kraft Das öde Haus und in gewissem Sinne auch Der Sandmann fragen jedoch nicht nur nach den Folgen, sondern auch und besonders nach den Ursachen magnetischer Manipulation. Woher stammt, so ließe sich die Frage reformulieren, die das gesamte Öde Haus durchzieht, die magnetische Kraft, die von einem Menschen auf den anderen übertragen werden kann, ursprünglich? Und hier, bei dieser Frage, kommt – endlich – die Zigeunerin ins Spiel.

39 Ebd., S. 173 f: „Sobald ein Körper in Harmonie ist, so ist er gegen die Wirkung des Magnetismus unempfindlich [….]; im Gegenteil wird ein in Disharmonie [….] sich befindender Körper [….] durch die Anwendung des Magnetismus es werden“.

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Doch bevor wir sie auftreten lassen, sollten wir uns vergegenwärtigen, wie genau das System der magnetischen Wechselwirkungen im Öden Haus aufgebaut ist: Erwähnt wurde bereits, dass und wie Angelika, Edwine/Edmonde und Theodor miteinander magnetisch verbunden sind. Der Text macht weiterhin deutlich, dass auch der „alte Kammerdiener“ in die „mystische[n] Wechselwirkungen“ (198) integriert ist. Ob auch er mit Edmonde und Theodor verbunden ist, sei dahingestellt, auf jeden Fall wird mitgeteilt, dass er sich von Angelika „verleiten“ (197) ließ, ihr zu helfen – und das wird sicherlich nicht freiwillig gewesen sein. Es gibt jedoch noch eine Vorgeschichte zum geschilderten magnetischen Szenario zwischen Angelika, Edwine/Edmonde und Theodor – und das ist die Dreiecksgeschichte zwischen dem Grafen S., Angelika und ihrer Schwester Gabriele. Diese Vorgeschichte veranschaulicht noch einmal, was unter mystischen Wechselwirkungen im Bereich des Magnetismus zu verstehen ist. Angelika hatte nämlich den Grafen ebenfalls magnetisch beeinflusst, so dass sich dieser, entgegen seinem eigentlichen Gefühlszustand, in sie verliebte. Nun ist zu ergänzen, dass der magnetische Rapport in den Diskussionen der Zeit – insbesondere, wenn er Liebeswahn hervorrufen soll – eine natürliche Vorform, zu verstehen als „natürliche[r] Rapport“,40 besitzt, nämlich die Liebe selbst; angesprochen wurde dies ja schon mit Blick auf Edwines/Edmondes Einfluss auf Theodor. Hoffmann bezieht sich hierbei nicht nur auf die magnetische Fachdebatte, sondern auch auf literarische Texte, die sich auf ähnliche Art und Weise mit dem Gegenstand auseinandersetzen. Man denke etwa an Heinrich von Kleist, der dieses Phänomen im Prinzen von Homburg, insbesondere aber in der Holunderbusch-Szene im vierten Akt des Käthchen von Heilbronn auf den Punkt gebracht hat:41 Liebe ist die wahre magnetische Gewalt. Da nun der magnetische Rapport gleichsam die künstliche Fortentwicklung dieser natürlichen Gewalt der Liebe darstellt, ist es bei Hoffmann möglich, dass ein Mensch kraft seiner in ein Liebesverhältnis eindringen und dieses verändern kann. Auf diesem Prinzip basieren die Verstrickungen, denen zum Beispiel Maria in Der Magnetiseur, Angelika (und Moritz) in Der unheimliche Gast und Ferdinand in Die Automate ausgesetzt sind. Manchmal ist der künstliche Rapport stärker (wie im Magnetiseur), manchmal der natürliche (wie im Unheimlichen Gast). Im Verhältnis zwischen Angelika und dem Grafen im Öden Haus siegt vordergründig der natürliche Rapport: Zwar kann Angelika anfangs durch ihre magnetischen Manipulationen erreichen, dass der Graf „sich in ihren Reizen […]

40 Kluge, Magnetismus, S. 134. 41 Vgl. hierzu Katharine Weder, Kleists magnetische Poesie. Experimente des Mesmerismus, Göttingen 2008, S. 159–172 bzw. S. 328–354.

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verfing“, als er aber Angelikas Schwester Gabriele zu Gesicht bekommt, ist es so, als ob er „aus einer Bezauberung erwachte“ (193).42 Man muss dabei berücksichtigen, dass die erotische Attraktion, die vom Grafen ausgeht, für Angelika ebenfalls einen quasi-magnetischen Charakter hat, den sie durch den künstlichen Rapport zu erwidern hofft. Als sich der Graf endgültig für ihre Schwester entscheidet, behauptet sie freilich, dass keine mystische Wechselseitigkeit, sondern lediglich eine einseitige Beeinflussung vorlag: „Der törichte Knabe! er merkt nicht, daß nicht ich, daß er mein Spielzeug war, das ich wegwarf“ (193). Jemand anderen zum Spielzeug oder zur Puppe zu machen, das ist in diesem Text (und, wenn auch auf andere Weise, im Sandmann) die zentrale Metapher für die magnetische Manipulation. Trotz der Behauptung des Gegenteils fühlte sich Angelika offenbar vom Grafen durch dessen natürliche Reize zum Spielzeug gemacht und hat alles darangesetzt, dieses Verhältnis umzukehren – erfolglos vor der Heirat, mit Erfolg aber danach, da sie den Grafen noch einmal zu sich locken kann und wahrscheinlich ein Kind (Edwine/Edmonde) mit ihm bekommt, das wiederum Gabriele, anstelle ihres eigenen, höchstwahrscheinlich getöteten, untergeschoben wird. Es gibt aber im Öden Haus noch eine zweite Variante der Metapher von der zweiseitigen Verspielzeugung des Menschen, welche die Reziprozität der magnetischen Manipulation auf den Punkt bringt – und zwar in der Beziehung zwischen Angelika und (da ist sie endlich) der Zigeunerin. Man muss nämlich hinzufügen, dass Angelika die Kraft zur magnetischen Manipulation nicht von sich aus besitzt, sondern sie von der Zigeunerin empfangen hat: Wir nähern uns also der zentralen Frage nach dem Ursprung der magnetischen Kraft. Berichtet wird in der Vorgeschichte, dass eine Gruppe von Zigeunern aufgegriffen wird, von der man glaubt, dass sie einen Diebstahl im Herrschaftsgebiet von Angelikas und Gabrieles Vater begangen hat. Ob dem so ist, bleibt ungewiss, was sich aber bewahrheitet, ist, dass ein „Zigeunerweib“ mit einem „blutroten Shawl“ (194) – eine literarische Reminiszenz an Tiecks Liebeszauber, wo die böse Alte „ein scharlachrotes Leibchen“43 trägt – große Macht über Angelika ausübt. Anscheinend bringt es diese dazu, den Vater zu bitten, die Zigeunerbande freizulassen. Und hier findet die gleiche Metapher erneut Verwendung: „Ei mein schönes Püppchen, meint trautes Goldkind, das wußt ich ja wohl, daß du es nicht leiden würdest!“ (194 [Hervorhebung M.B.]) Die Begebenheit, die Theodor von Dr. K. (dem magnetisch versierten, ihn behandelnden Arzt) erfährt, lässt keinen Zwei42 Dies gegen Barkhoff, „Geschlechteranthropologie“, S. 36, der Angelika als „Opfer männlichvoyeuristischen Begehrens“ versteht. 43 Ludwig Tieck, „Liebeszauber“, in: Schriften in zwölf Bänden, Bd. 6, S. 210–246, hier S. 218. Vgl. zu dieser Gemeinsamkeit auch Lieb, „Und hinter tausend Gläsern“, S. 60.

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fel daran, dass die Zigeunerin eine magnetische oder quasi-magnetische Macht über Angelika besitzt. Es wird also der erste der oben erwähnten Topoi aufgegriffen: Der Zigeuner bzw. die Zigeunerin erscheint als jemand, der direkten Zugang zu magischen oder, zeitgenössisch formuliert, magnetischen Künsten besitzt. Die Zigeunerin antwortet mit dieser magnetischen Gewalt auf eine Gewalt, die Angelika ihr gegenüber ausübt, wird doch die erotische Attraktivität der Gräfin ihr gegenüber angedeutet: Sie „bedeckte Gesicht und Busen mit ekelhaften Küssen“ (194).44 Um ihre Manipulationen fortsetzen zu können, zieht die Zigeunerin mit Angelika in das öde Haus, wohin später auch Graf S. zwecks Kindszeugung gelockt wird. Angelika kann sich aber – und damit befinden wir uns im Zentrum der Reziprozität magnetischer Beeinflussung – aus der Umklammerung der Zigeunerin lösen, also aus der passiven in die aktive Rolle wechseln. Die Zigeunerin hilft der Gräfin höchstwahrscheinlich dabei – das ist die Realisierung des zweiten der erwähnten Topoi –, das Kind der Schwester zu stehlen, zu töten und gegen das eigene auszutauschen. Damit aber macht sie sich allem Anschein nach angreifbar und abhängig von Angelika: Nachdem die Zigeunerin das Kind abgegeben hat, „kugelt diese um, wie eine leblose Puppe“ (196 [Hervorhebung M.B.]). Auch die Zigeunerin kann also zum Spielzeug gemacht werden. Mit deren Tod hat Angelika schließlich ihre magnetische Macht übernommen, was sich jetzt auch physiognomisch niederschlägt: „Mit Entsetzen bemerkt der Graf die Rückkehr des Wahnsinns, indem plötzlich Angelika’s Gesicht die Züge des Zigeunerweibes anzunehmen scheint“ (196 [Hervorhebung M.B.]).

IV Dämonen Dass Angelika die magnetische Macht vollkommen freiwillig übernommen hat, darf jedoch bezweifelt werden. So gilt es das Augenmerk auf die Tatsache zu legen, dass sie, wie aus dem obigen Zitat zu ersehen ist, spätestens nach dem Tod der Zigeunerin wahnsinnig wird: Dieser Wahnsinn drückt sich darin aus, dass anscheinend eine zweite Person, nämlich die verstorbene Zigeunerin, in ihr vorhanden ist und wirkt (ähnlich wie Angelika später in Edwine/Edmonde). Ein historisches, aber zeitgenössisch noch greifbares Konzept, das diese Verbindung aus Wahnsinn und postmortaler zweiter Persönlichkeit erklären kann, ist das des Dämons. Dieses wird im Text mehrfach anzitiert, bemerkenswerterweise ausschließlich im Hinblick auf den Magnetismus, der im Öden Haus auch einer theoretischen Erörterung unterzogen wird. Theodor diskutiert nämlich die

44 Vgl. dazu auch Barkhoff, „Geschlechteranthropologie“, S. 36.

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Wirkungen des Rapports mit einem zweiten erfahrenen Mediziner, und in diesem Zusammenhang werden die Maßnahmen zur Erreichung des „magnetischen Zustand[s]“ und die Einwirkungen „dämonische[r] Kräfte[ ]“ (185 [Hervorhebung M.B.]) miteinander gleichgesetzt. Dementsprechend ist auch im Folgenden ganz selbstverständlich von „dämonische[n] Kräften“ und einem „dämonischen Prinzip“ (186 [Hervorhebungen M.B.]) die Rede, wiewohl es sich eigentlich um magnetische Prozesse handelt. Selbst die magnetischen „Wechselwirkungen“, von denen bereits gehandelt wurde, werden als ein „dämonisches Spiel“ beschrieben (198 [Hervorhebung M.B.]). Was genau ist mit dem Begriff des Dämonischen gemeint? Ein expliziter Hinweis wird im Text selbst gegeben, wenn in besagtem Gespräch eine Rückverlängerung des Mesmerismus in die Hexenlehre der frühen Neuzeit erfolgt: „‚So kämen wir‘, fiel ein Anderer lachend ein, ‚mit einem gar nicht zu großen Schritt [vom Magnetismus, M.B.] auf die Lehre von Verhexungen, Zauberbildern, Spiegeln und andern unsinnigen abergläubischen Fantastereien längst verjährter alberner Zeit […].‘“ (185) Das ist vom Diskussionspartner des Mediziners komisch gemeint, wird aber von diesem selbst als eine durchaus ernst zu nehmende historische Analogisierung gewertet. Damit wäre das christliche Verständnis von Dämonomanie45 angesprochen, das cum grano salis mit den Einflüssen des oder der Teufel bzw. bösen Geister zusammenfällt: Das Buch des bekanntesten Gegners der Hexenverfolgung, Johann Weyer, heißt nicht zufällig De praestigiis daemonum (1563), die bekannteste Erwiderung von Jean Bodin nicht zufällig De la démonomanie des sorciers (1580) bzw. De magorvm daemonomania (1581). Die im letztgenannten Buch beschriebene „Zugesellung / Gemeynschafft vnd Beiwohnung der Geyster zu den Menschen“46 könnte auch, um auf das Öde Haus zurückzukommen, bei der Erscheinung der Zigeunerin statthaben: Es handelt sich um eine Form der Besessenheit, bei der ebenfalls der böse Geist „im Leib“ seiner Opfer agiert, dort sozusagen unbewusst eingreift und zum Beispiel an deren Stelle spricht, „wann“, wie es bei Bodin heißt, die Besessenen „schon die Zung gar auß dem Rachen gestreckt“47 haben.

45 Vgl. Peter Habermehl, Art. „Dämonologie, E. Christlich“, in: Hubert Canick u.a. (Hrsg.), Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 3, Stuttgart 1997, S. 269, und Herbert Nowak, Zur Entwicklungsgeschichte des Begriffes Daimon. Eine Untersuchung epigraphischer Zeugnisse vom 5. Jh. v. Chr. bis zum 5. Jh. n. Chr., Bonn 1960, S. 63–69. 46 Jean Bodin, Vom aussgelasnen wütigen Teuffelsheer [1591], übersetzt von Johann Fischart, Graz 1973, S. 8. 47 Ebd., S. 189. Auf S. 188 wird ein anderes diesbezügliches Exemplum angeführt: „Melanchthon schreibt / er hab ein besessen Weib in Saxen gesehen / welchs weder schreiben noch lesen kont / vnd gleichwol Griechisch und Latinisch redet“.

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Man muss allerdings berücksichtigen, dass der christliche, genauer: teuflische Dämonenbegriff um 1800 bereits für den magnetischen Einfluss tout court verwendet wird; demnach steht er nicht mehr für das besondere Phänomen zur Verfügung, dass der Geist der Zigeunerin in Angelika weiterlebt und dort ihren Wahnsinn produziert. Höchstwahrscheinlich ist für dieses komplexere Phänomen das antike Verständnis von Dämonomanie ausschlaggebend, wie es nicht zuletzt in der zeitgenössischen Psychiatrie ventiliert wird: Bei dem Gerichtsmediziner Johann Müller lässt sich zum Beispiel lesen, dass die Dämonen „die Geister verstorbener Menschen“48 waren. „Man hielt sie“, schreibt Müller weiter, „für fähig, in die Leiber der lebenden Menschen überzugehen, sich in ihnen niederzulassen, und Krankheiten, besonders Seelenkrankheiten, Melancholie, Verstandesverwirrung, Raserey hervorzubringen“.49 Müller rekurriert hierfür auf Theorien von Hesiod (erga 122–126), die sowohl bei Platon (pol. 468e–469b; nom. 865d–e; symp. 202d–203a) als auch in literarischen Verarbeitungen der Orestie, insbesondere in Aischylos‘ Eumeniden (Eum. 183; 264 f.; 302–305), zum Tragen kommen. Sie besagen, dass die Dämonen, in letzterem Falle identisch mit den Erinyen, nicht bloß Vermittler zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen, sondern Geister der Toten sind, die durch Eintritt in ein menschliches Wesen einen/ihren Tod rächen, der sonst nicht mehr gerächt werden kann. Diese Idee verschneidet Müller nun mit der homerischen Gedankenfigur, dass die Dämonen für Phänomene wie Verblendung und Wahnsinn zuständig sind (Od. 12,295; 14,488).50 Die Vorstellung vom Dämon als Rächer (s)eines Todes und als Ursache für psychische Krankheiten passt augenscheinlich sehr gut auf Hoffmanns Zigeunerin, die ebenfalls tot ist und ihre Rache im Geist von Angelika, sozusagen als deren zweites Ich, auslebt, was sich an dem zweiten Gesicht ablesen lässt, das die Zigeunerin in den Zügen der Gräfin ausbildet. Dieser (antike) Dämon würde sein Opfer mit Wahnsinn dafür strafen, dass es sich die (jetzt im christlichen Verständnis) dämonischen Techniken angeeignet und diese gegen ihn gewendet hat.

48 Johann Valentin Müller, Entwurf der gerichtlichen Arzneywissenschaft. Nach juristischen und medicinischen Grundsätzen für Geistliche, Rechtsgelehrte und Aerzte, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1798, S. 497. 49 Ebd. 50 Vgl. Sarah I. Johnsten, Art. „Daemonen, V. Griechenland und Rom“, in: Der neue Pauly, Bd. 3, S. 262–264, hier S. 262, und Angus Nicholls, Goethe’s Concept of the Daemonic. After the Ancients, Rochester 2002, S. 44 f.

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Dass zeitgenössische Psychiater einen solchen Dämonenbegriff als einfache allegorische Beschreibung für Geisteskrankheiten ansehen,51 muss Hoffmann nicht daran hindern, diese Reduktion zurückzunehmen und beide Seiten der Analogie gleichwertig zu behandeln. Denn das literarisch Interessante am Konzept des Rachedämons ist ja, dass ein externer Einfluss und eine Nervenkrankheit zusammen existieren können, man sich also gerade nicht, wie die zeitgenössische Psychiatrie, für eine der beiden Erklärungen entscheiden muss. Berücksichtigt man nun, dass das Motiv eines zweiten Gesichts bei Angelika nicht nur in Bezug auf die Zigeunerin auftaucht, sondern auch in Bezug auf Edwine/Edmonde, die ja noch keineswegs gestorben ist und ihren natürlich-magnetischen Einfluss in den Dienst von Angelika stellen muss, dann sollte deutlich werden, dass im Öden Haus die Vorstellung der Besessenheit bzw. des Rachedämons multipliziert oder ubiquitär anwendbar gemacht wird. Es gibt nicht nur einen bösen Geist und einen Rachedämon, sondern unendliche „Wechselwirkungen“ verschiedener Geister. Homo homini genius malignus, könnte man sagen.

V Poet und Zigeunerin Dass das Konzept der Dämonie im Laufe der Erzählung zu einem frei flottierenden Prinzip wird, schwächt die Ausgangsposition der Zigeunerin keineswegs. Sie allein ist es, die, noch lebend, ihre natürlich-magnetischen Techniken einsetzt, und sie allein ist es, die als Tote bzw. Dämon dieses Prinzip überträgt und damit für alle anderen adaptierbar macht. Auf sie geht also alle magnetische Gewalt zurück. Woher aber hat sie diese Macht? Kehrt man noch einmal zu den gängigen Zigeuner-Topoi zurück, die ich anfangs referiert habe, dann kann sie diese nur über ihre Nähe zur Natur erhalten haben. Die ursprüngliche magnetische Kraft wird im frühen 19. Jahrhundert als eine Kraft der Natur angesehen, als, wie Mesmer selbst es nennt, ein „natürlicher Magnetismus“52 – etwa, wie gesehen, in der Liebe. Da die Zigeuner im Sinne der zeitgenössischen Topik zwar eine große Nähe zur Natur aufweisen, dabei aber meist nicht deren positive, sondern negative, teuflische oder gewaltsame Momente repräsentieren, ist es folgerichtig, dass Hoffmanns Zigeunerin ihre natürlich-magnetische Kraft nicht für die wahre Liebe einsetzt, sondern für deren Zerstörung. Daraus könnte man ableiten, dass Hoffmann – um die zweite große Frage zu beantworten, die im Öden Haus verhandelt 51 So heißt es bei Müller, Entwurf der gerichtlichen Arzneywissenschaft, Bd. 2, S. 501: „Wir können demnach Besessene, Nervenkranke und Wahnwitzige […] als gleichbedeutende Worte ansehen“. 52 Mesmer, Mesmerismus, S. LXVII.

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wird: die nach dem Ursprung der Nachtseite des magnetischen Einflusses – alle negativen Zigeuner-Topoi zusammenzieht: den Kindsraub, die dämonische Magie und die Nähe zur gewalttätigen Natur. Die zu konstatierende Zuschreibung pejorativer Eigenschaften ist jedoch durchaus ambivalent. Dies wird deutlich, wenn man sie mit der anderen Seite der Dublette, also dem Sandmann, vergleicht. Ich habe oben erwähnt, dass im Öden Haus und im Sandmann ganz ähnliche Versuchsanordnungen vorfindlich sind: In beiden Fällen geht es um einen jungen Mann, der magnetischem Einfluss ausgesetzt ist und in einen Liebeswahn getrieben wird, was wiederum nur möglich ist, weil er eine psychische Prädisposition aufweist, die ihn gegenüber solch einem Einfluss ungeschützt sein lässt. Im Sandmann allerdings ist diese psychische Disposition weit stärker ausgeprägt, so dass bei Nathanael auch die psychische Krankheit wesentlich deutlicher zum Vorschein kommt: Neben der fixen Idee befällt ihn ein auf Verfolgungswahn basierender periodischer Wahnsinn mit starken manischen Zügen. Dementsprechend drängt sich auch mit Blick auf den Sandmann durchaus die Frage auf, wer den Ursprung der magnetischen Gewalt darstellt. Wer hat ein Interesse daran, wie Angelika beim Grafen S., Nathanael von Clara more magnetico zu entlieben und einer neuen ‚Liebe‘ zuzuführen? Wer ist also der Zigeuner oder die Zigeunerin hinter dem Italiener Coppola? Oder genauer: Wer ist noch zigeunerischer als die Zigeunerin, wenn er Nathanael nicht nur einen Liebeswahn introduziert, sondern ihn wahnsinnig werden und qualvoll umkommen lässt? Nun, es gibt in der Erzählung eine Figur, die ein ziemlich deutliches Interesse daran hat, Nathanael von Clara zu trennen – und, da dies nach der Entlarvung Olympias als Puppe auf einfachem magnetischen Wege nicht mehr möglich ist, zum Äußersten greifen und ihn in den Wahnsinn und schließlich in den Selbstmord treiben muss. Diese Figur ist der Erzähler selbst. Gehen wir die Geschichte von hinten an: „[M]ehrere[ ] Jahre[ ]“ nach Nathanaels Sprung vom Turm ist Clara „mit einem freundlichen Mann“ verheiratet und hat „zwei muntre Knaben“.53 Über die Identität des Mannes wird nichts weiter gesagt, aber es handelt sich definitiv nicht um Nathanael. Bemerkenswert ist zudem, dass sich der Erzähler eindeutig moralisch positioniert – und zwar gegen Nathanael. Er macht deutlich, dass sein Protagonist nicht der richtige Mann für Clara war und ihr „das ruhige häusliche Glück“,54 das sie seiner Meinung nach benötigt und verdient, nicht hätte geben können. Damit erweist sich der Erzähler als unzuverlässig. Denn seine bisherige Erzählung war ganz eindeutig darauf ausgerichtet, gegen alle Widerstände auf

53 Hoffmann, „Der Sandmann“, S. 49. 54 Ebd.

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einen glücklichen Fortgang der Beziehung zwischen Clara und Nathanael und mithin der psychischen Entwicklung des letzteren hin zu erzählen. Wenn er hier nun die Unheilbarkeit von Nathanael und somit auch dessen Beziehungsunfähigkeit konstatiert, dann stellt er sich damit in einen klaren Widerspruch zu den bislang unternommenen narrativen Anstrengungen. Warum aber setzt der Erzähler ohne Not seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel? Der Versuch einer Antwort auf diese Frage könnte lauten: weil er dafür seine ganz persönlichen Gründe hat. „Nun könnte ich“, bemerkt der Erzähler in der Mitte der Geschichte, „getrost in der Erzählung fortfahren; aber in dem Augenblick steht Clara’s Bild so lebendig mir vor Augen, daß ich nicht wegschauen kann, so wie es immer geschah, wenn sie mich holdlächelnd anblickte“.55 Aus diesen wenigen Zeilen geht hervor, dass der Erzähler entweder direkten Kontakt mit Clara hatte oder diesen zumindest imaginiert: „so wie es immer geschah, wenn sie mich holdlächelnd anblickte“. Dieses reale oder virtuelle Zusammensein scheint beim Erzähler einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen zu haben – und zwar in Form eines inneren Bildes, das ihn so sehr in Beschlag nimmt, oder genauer: fixiert, dass es ihn am Weitererzählen hindert. Es liegt also erneut eine Fremdbeeinflussung qua Imagination vor, die hier jedoch nicht durch einen konventionellen Magnetismus erfolgt, sondern, zumindest wenn der Kontakt tatsächlich stattgefunden haben sollte, durch dessen natürliche Urform, die erotische Attraktion.56 Geht man hingegen davon aus, dass der Erzähler durch die von ihm selbst imaginierte Clara affiziert wird, hätten wir es mit einer, protomagnetisch verstehbaren, Autosuggestion zu tun. Wie dem auch sei: Dass der Erzähler die Anziehungskraft, die Clara auf ihn ausübt, nur sehr verschämt und chiffriert ausdrückt, passt dazu, dass er auch nur sehr verschämt und chiffriert, also gegen seine eigenen Behauptungen, auf ein psychisches Desaster Nathanaels und die damit verbundene ‚Freigabe‘ Claras hin schreibt – und zwar mit Mitteln, von denen er sich selbst seitens Clara behelligt fühlt, nämlich denen der magnetischen Beeinflussung, diesmal jedoch in der künstlichen Variante (also mit Hilfe Coppolas). Der Erzähler des Sandmanns befindet sich damit in einer ganz ähnlichen Konstellation wie Angelika, die ihrer erotischen Unterlegenheit ebenfalls auf magnetischem Wege Abhilfe schaffen will, verfügt aber, anders als sie, zugleich über die dazu notwendigen Mittel – kraft seiner Narration und zu deren Rettung, da Clara ihn ja, wie gesagt, am Weitererzählen hindert. Der Erzähler hat also, als

55 Ebd., S. 27. 56 Vgl. hierzu, freilich ohne alle magnetischen Kontexte, Detlef Kremer, Romantische Metamorphosen. E.T.A. Hoffmanns Erzählungen, Stuttgart 1993, S. 147.

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Erzähler, Zugang zum Ursprung aller Kraft, auf den im Öden Haus nur die Zigeunerin Anspruch erheben kann – und genau darauf macht er am Ende, da er Clara von Nathanael ‚glücklich‘ getrennt hat, ausdrücklich aufmerksam. Daraus erhellt, dass sich die Zigeunerin im Öden Haus, wenn man die Ursprungsgeschichte des Sandmanns hinzuzieht, nicht in allerschlechtester Gesellschaft befindet, nämlich in der des romantischen Poeten. Dieser räumt, andersherum gesagt, bereitwillig ein, dass seine Motive nicht immer die lautersten sind, ja dass er für die Hervorbringung von fantastischer Literatur57 – also von Literatur, in welcher das dämonische Element eine wichtige, wenn auch nicht die einzige wichtige Rolle spielt – auf Mittel zurückgreifen muss, die ebenfalls keinem befriedeten Seelenleben, sondern einem zigeunerischen Hybridzustand entstammen. Daraus folgt, dass die Zigeunerin und der romantische Poet eine untergründige Verbindung besitzen und sich in ‚mystischer Wechselwirkung‘ zur Ambivalenz verhelfen. Wer nicht nur die Tag-, sondern auch die Nachtseite des menschlichen Seelenlebens beschreiben möchte, so könnte die Konsequenz aus dem Vergleich der beiden Texte Hoffmanns lauten, muss sich die, der Zigeunerin zugeschriebene, ‚schmutzige‘ Kraft der Natur zu eigen machen. Umgekehrt resultiert daraus, dass sich in dieser schmutzigen Kraft, über welche die Zigeunerin verfügt, Potenzial von allerhöchstem literarischen Adel verbirgt. Zigeunerromantik eben.

57 Vgl. zur Reichweite, aber auch zur Problematik dieses Begriffs bei Hoffmann Bergengruen, „Daemonomanie“.

Zu den Autorinnen und Autoren Maximilian Bergengruen, Prof. Dr., geb. 1971, ist Professor für Deutsche Literatur am Institut für Germanistik der Universität Karlsruhe (KIT). Forschungsschwerpunkte: Literatur und Wissen, Literatur und Recht vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Literaturtheorie. Ausgewählte Publikationen: Schöne Seelen, groteske Körper. Jean Pauls ästhetische Dynamisierung der Anthropologie, Hamburg 2003; als Hrsg. (mit Markus Winkler und François Rosset): Jenseits der empirischen Wissenschaften. Literatur und Reisebericht im 18. und frühen 19. Jahrhundert – Au-delà des sciences expérimentales. Littérature et relation de voyage au XVIIIe siècle et autour de 1800 – Beyond Empirical Sciences. Literature and Travel Report in the 18th Century and around 1800, Fribourg 2012 (= Colloquium Helveticum, 42/2011); als Hrsg. (mit Roland Borgards und Johannes Lehmann): Die Grenzen des Menschen. Anthropologie und Ästhetik um 1800, Würzburg 2001. E-Mail-Adresse: [email protected]. Ralph Häfner, Prof. Dr., geb. 1962, ist Lehrstuhlinhaber für Neuere deutsche Literaturgeschichte am Deutschen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Forschungsschwerpunkte: Deutsch-französische Literaturbeziehungen, Intellectual History, Frühe Neuzeit, Aufklärung und Klassizismus, Rezeption der Antike. Ausgewählte Publikationen: Konkrete Figuration. Goethes „Seefahrt“ und die anthropologische Grundierung der Meeresdichtung im 18. Jahrhundert, Tübingen 2002; Götter im Exil. Frühneuzeitliches Dichtungsverständnis im Spannungsfeld christlicher Apologetik und philologischer Kritik (ca. 1590–1736), Tübingen 2003; Die Weisheit des Silen. Heinrich Heine und die Kritik des Lebens, Berlin/New York 2006. E-Mail-Adresse: [email protected]. Dieter Heimböckel, Prof. Dr., geb. 1961, ist Professor für Literatur und Interkulturalität am Institut für deutsche Sprache, Literatur und für Interkulturalität der Universität Luxemburg. Forschungsschwerpunkte: Neuere deutsche Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Interkulturalität, Literaturtheorie, Theater, Moderne. Ausgewählte Publikationen: als Hrsg. (mit Irmgard Honnef-Becker u.a.): Zwischen Provokation und Usurpation. Interkulturalität als (un)vollendetes Projekt der Literatur- und Sprachwissenschaften, München 2010; Kein neues Theater mit alter Theorie. Stationen der Dramentheorie von Aristoteles bis Heiner Müller, Bielefeld 2010; als Hrsg.: Kleist. Vom Schreiben in der Moderne, Bielefeld 2013. E-Mail-Adresse: [email protected]. Jutta Heinz, PD Dr., geb. 1962. Forschungsschwerpunkte: Aufklärung, Weimarer Klassik, literarische Anthropologie, Kulturtheorie, Editionen (Wezel, Wieland,

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Zu den Autorinnen und Autoren

Brentano). Ausgewählte Publikationen: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung, Berlin/New York 1996; Narrative Kulturkonzepte. Wielands ‚Aristipp‘ und Goethes ‚Wilhelm Meisters Wanderjahre‘, Heidelberg 2006; als Hrsg.: Wieland-Handbuch, Stuttgart/Weimar 2008. E-Mail-Adresse: [email protected]. Stefan Hermes, Dr., geb. 1980, ist akademischer Mitarbeiter am Deutschen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Forschungsschwerpunkte: Interkulturelle Literatur vom 18. bis zum 21. Jahrhundert, Theorien des Kolonialismus und Postkolonialismus, Reiseliteratur, literarische Anthropologie. Ausgewählte Publikationen: ‚Fahrten nach Südwest‘. Die Kolonialkriege gegen die Herero und Nama in der deutschen Literatur (1904–2004), Würzburg 2009; „Zivilisierte Barbaren. Figurationen kultureller Differenz in Lenz’ ‚Der neue Menoza‘ und Klingers ‚Simsone Grisaldo‘“, in: Wirkendes Wort, 59/2009, 3, S. 359–382; „Jenseits des Allgemein-Menschlichen. Zur völkerkundlichen Anthropologie der Sturm-und-Drang-Dramatik“, in: Colloquium Helveticum, 42/2011, S. 95–113. E-Mail-Adresse: [email protected]. Michaela Holdenried, Prof. Dr., geb. 1957, ist Professorin für Neuere deutsche Literatur und Interkulturelle Germanistik am Deutschen Seminar der AlbertLudwigs-Universität Freiburg und Extraordinary Professor an der Stellenbosch University (Südafrika). Forschungsschwerpunkte: Repräsentationen von Alterität, Reiseliteratur, Identität und Erinnerung, Autobiographik. Ausgewählte Publikationen: Autobiographie, Stuttgart 2000; Künstliche Horizonte. Alterität in literarischen Repräsentationen Südamerikas, Berlin 2004; als Hrsg. (mit Weertje Willms): Die interkulturelle Familie. Literatur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2012. E-Mail-Adresse: [email protected]. Alexander Honold, Prof. Dr., geb. 1962, ist Ordinarius für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Forschungsschwerpunkte: Interkulturelle und postkoloniale Literatur, Erzählforschung, Wissensgeschichte, Literaturtheater der Goethezeit. Ausgewählte Publikationen: als Hrsg. (mit Ralf Simon): Das erzählende und das erzählte Bild, München 2010; (mit Christof Hamann) Kilimandscharo. Die deutsche Geschichte eines afrikanischen Berges, Berlin 2011; Die Zeit schreiben. Jahreszeiten, Uhren und Kalender als Taktgeber der Literatur, Basel 2013. E-Mail-Adresse: [email protected]. Sebastian Kaufmann, Dr., geb. 1979, ist akademischer Mitarbeiter am Deutschen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und wissenschaftlicher Kommentator im Forschungsprojekt „Nietzsche-Kommentar“ der Heidelberger Aka-

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demie der Wissenschaften. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Philosophie vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Ästhetik und Poetologie, literarische (Ethno-) Anthropologie. Ausgewählte Publikationen: „Schöpft des Dichters reine Hand …“ Studien zu Goethes poetologischer Lyrik, Heidelberg 2011; „Die stoisch-ciceronische Naturrechtslehre und ihre Rezeption bis Rousseau“, in: Barbara Neymeyr/ Jochen Schmidt/Bernhard Zimmermann (Hrsg.), Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik, Bd. 1, Berlin/New York 2008, S. 229–292; „Der ‚Wilde‘ und die Kunst. Ethno-Anthropologie und Ästhetik in Goethes Aufsatz ‚Von deutscher Baukunst‘ (1772) und Schillers philosophischen Schriften der 1790er Jahre“, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik, 4/2013, 1, S. 29–57. E-Mail-Adresse: [email protected]. Alexander Košenina, Prof. Dr., geb. 1963, ist Professor für Deutsche Literatur des 17. bis 19. Jahrhunderts am Deutschen Seminar der Leibniz Universität Hannover. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Naturwissenschaften, Verbrechensdarstellung in der Frühen Neuzeit, Berliner Aufklärung, Theater und Schauspielkunst. Ausgewählte Publikationen: Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen, Berlin 2008; Karl Philipp Moritz. Literarische Experimente auf dem Weg zum psychologischen Roman, Göttingen 2006 (22009); als Hrsg. (mit Carsten Zelle): Kleine anthropologische Prosaformen der Goethezeit (1750–1830), Hannover 2011. E-Mail-Adresse: alexander.kosenina@germanistik. uni-hannover.de. Olav Krämer, Dr., geb. 1977, ist akademischer Rat auf Zeit am Deutschen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18. Jahrhunderts und der Klassischen Moderne, Literatur und Wissensgeschichte, Komparatistik, Interpretationstheorie. Ausgewählte Publikationen: Denken erzählen. Repräsentationen des Intellekts bei Robert Musil und Paul Valéry, Berlin/New York 2009; als Hrsg. (mit Lilith Jappe und Fabian Lampart): Figurenwissen. Funktionen von Wissen bei der narrativen Figurendarstellung, Berlin/Boston 2012. E-Mail-Adresse: [email protected]. Robert Krause, Dr., geb. 1980, ist akademischer Mitarbeiter am Deutschen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Forschungsschwerpunkte: Literatur vom späten 18. bis zum 20. Jahrhundert, Kultur- und Literaturtheorie, Exil und Übersetzung. Ausgewählte Publikationen: Lebensgeschichten aus der Fremde. Autobiografien deutschsprachiger emigrierter SchriftstellerInnen als Beispiele literarischer Akkulturation nach 1933, München 2010; „Die Architektur des Genies. Zu Goethes Essay ‚Von deutscher Baukunst‘“, in: Goethe-Jahrbuch, 127/2010, S. 95–106; „‚Man könnte die Geschichte der Grenzen schreiben‘ – Moosbruggers

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Zu den Autorinnen und Autoren

‚wildes Denken‘ und die Kultur des Okzidents“, in: Musil-Forum, 31/2011, S. 38–51. E-Mail-Adresse: [email protected]. Christopher Meid, Dr., geb. 1982, ist Feodor Lynen-Forschungsstipendiat der Alexander von Humbold-Stiftung am Queen’s College der Universität Oxford. Forschungsschwerpunkte: Reiseliteratur, Antikenrezeption, Roman des 18. Jahrhunderts, Literatur und Politik. Ausgewählte Publikationen: Griechenland-Imaginationen. Reiseberichte im 20. Jahrhundert von Gerhart Hauptmann bis Wolfgang Koeppen, Berlin/Boston 2012; Die griechische Tragödie im Drama der Aufklärung: „Bei den Alten in die Schule gehen“, Tübingen 2008. E-Mail-Adresse: christopher. [email protected]. Sebastian Treyz, geb. 1984, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Seminar der Universität Basel und Mitglied im ProDoc-Graduiertenkolleg Intermediale Ästhetik. Spiel – Ritual – Performanz der Universitäten Basel und Bern. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18. Jahrhunderts und der klassischen Moderne, Ästhetikgeschichte und Dramentheorie. Ausgewählte Publikationen: „‚Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und man verknüpft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst.‘ Überlegungen zum Verhältnis von Natur und Kunst in Goethes Ästhetik“, in: Goethe-Jahrbuch, 126/2009, S. 365–373; „Die Berufseinstellung des Phänomenologen. Zur Methode der Reduktion bei Husserl, Heidegger, Lévinas und Henry“, in: Sophia Kattelmann/Sebastian Knöpker (Hrsg.), Lebensphänomenologie in Deutschland. Hommage an Rolf Kühn, Freiburg/München 2012, S. 17–37; „‚Schämt euch der Wehmuth nicht, die feucht im Auge schimmert.‘ Tränen- und Trauerdispositive im Theater der Empfindsamkeit“, in: Seraina Plotke/Alexander Ziem (Hrsg.), Sprache der Trauer. Konzeptualisierungen einer Emotion im Spannungsfeld von kognitiver und historischer Semantik, Heidelberg [im Erscheinen]. E-Mail-Adresse: [email protected]. Carsten Zelle, Prof. Dr., geb. 1953, ist Professor für Neuere Deutsche Literatur, insbesondere Literaturtheorie und Rhetorik, am Germanistischen Institut der Ruhr-Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte: Literatur, Ästhetik, Anthropologie und Antikenrezeption seit dem 17. Jahrhundert, Germanistik- und Komparatistikgeschichte. Ausgewählte Publikationen: „Angenehmes Grauen“. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert, Hamburg 1987; Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche, Stuttgart/Weimar 1995; als Hrsg. (mit Anett Lütteken und Heidi Eisenhut): Europa in der Schweiz. Grenzüberschreitender Kulturaustausch im 18. Jahrhundert, Göttingen 2013. E-Mail-Adresse: [email protected].

Personenregister Abbt, Thomas 104, 110 Adelung, Johann Christoph 185 Adler, Hans 109 Adorno, Theodor W. 34 Agamben, Giorgio 287 Albert, Claudia 245 f. Albertsen, Leif Ludwig 81 Alt, Peter-André 40, 201, 203, 246 Aischylos 243 f., 301 Anna Amalia, Herzogin von Sachsen-WeimarEisenach 125, 129 Apollonios von Tyana 166 Appelt, Hedwig 276 Apuleius 169f. Aristeides von Milet 169 Aristoteles 106, 113, 130 Arnim, Achim von 275 Arnold, Günter 172 Assman, Jan 169 Aurich, Ursula 146, 152, 154, 157 Aurnhammer, Achim 152, 249 Bachmann-Medick, Doris 7 Bachtin, Michail 40 Balme, Christopher 235 Bandau, Anja 280 Barak, Helmut 256 Barkhoff, Jürgen 3, 164, 292 f., 298 f. Barr-Nisbet, Hugh 67 Barth, Ulrich 91 Bartl, Andrea 282 Baumgarten, Siegmund Jacob 45 f., 49 Bausinger, Hermann 127, 130 Bay, Hansjörg 5, 105, 284 Bayle, Pierre 45 Becker, Hans J. 145 Becker-Cantarino, Barbara 29 f. Behre, Maria 223, 225 Bekker, Balthasar (d.Ä.) 171 Beller, Manfred 5, 105–107 Bennholdt-Thomsen, Anke 227 Berg, Eberhard 2, 101 Bergengruen, Maximilian 2, 4, 15, 102, 183, 295, 305

Berger, Willy Richard 145 f., 148, 150 f., 157 Berlin, Isaiah 269 Bernard, Jean Frédéric 37, 42, 44–46, 50 Berner, Ulrich 235 Bernsen, Michael 21 Bertuch, Friedrich Justin 128 Bethmann, Heinrich Eduard 262 Beulwitz, Caroline von 169 Bhabha, Homi 11, 119 f. Blitz, Hans-Martin 104 f. Blumenberg, Hans 64 Biester, Johann Erich 288 Biloa Onana, Marie 65 f. Birkner, Nina 18, 25, 27 f., 120 Bitterli, Urs 2, 186 Blänkner, Reinhard 279 Blaschke, Bernd 22 f., 29 Bobadilla, Francisco de 260 Bobzin, Hartmut 77, 79 Boccaccio, Giovanni 42 Bodin, Jean 171, 300 Bodmer, Johann Jakob 121 Bogdal, Klaus-Michael 102, 287 f., 289 Bohlken, Eike 106 Böhm, Alexandra 2, 17, 186 Bohnstedt, Georg Christian 53 Boie, Heinrich Christian 128 Borgards, Roland 4, 7, 183 Böschenstein, Bernhard 215 Bossuet, Jacques Bénigne 233 Boulanger, Nicolas Antoine 13, 165, 180 f. Bourdieu, Pierre 28 Bouvet, Joachim 158 Boysen, Friedrich Eberhard 10, 75–80, 82, 85, 88–92, 94 f., 97 f. Brancaccio, Lavinia 148 Brandes, Helga 23 f. Breger, Claudia 8 Breuer, Ingo 265 Brittnacher, Hans Richard 287–289 Brockey, Liam Matthew 148 Brüggemann, Diethelm 31 Brüggemann, Heinz 293 Brunck, Richard François Philippe 143

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Personenregister

Brydone, Patrick 246 Budde, Bernhard 62 Buffon, Georges-Louis Leclerc de 5, 221, 230 Bultmann, Christoph 93 Burath, Hugo 249 Burke, Peter 236 Burwick, Roswitha 281 Busche, Hubertus 193 Byrne, Peter 89 Cagliostro, Alessandro 162, 164 Calmet, Augustin 161 f. Campe, Joachim Heinrich 253, 255–257, 262 Campe, Rüdiger 72 Caraccioli, Louis Antoine de 35 Cardano, Giralamo 174 Catull 143 Cazotte, Jacques 165, 171 Cervantes, Miguel de 165 Charlevoix, François Xavier de 192 Chilese, Viviana 276 Chodowiecki, Daniel 152 Cibot, Pierre-Martial 155 f. Cicero 39 Claudius, Matthias 128, 165, 170, 176 f. Clifford, James 10, 59, 62 Constantine, David J. 221 Cook, James 2, 258 Corneille, Pierre 113, 238 Cortesi, Paolo 164 Couplet, Philippe 150 Creutz, Friedrich Carl Casimir von 86 Dach, Simon 143 Dalberg, Wolfgang Heribert von 249 Dale, Antonius van 166, 170 Daniel, Norman 78 f. D’Aprile, Iwan-Michelangelo 279 Debon, Günther 146 Deinet, Klaus 162 Dembeck, Till 267, 270 Demel, Walter 148 De Smet, Ingrid A.R. 40 Destouches, Philippe Néricault 26 Detken, Anke 28 Deupmann, Christoph 111, 119 Diderot, Denis 112, 173

Drüe, Hermann 251 Dubos, Jean-Baptiste 233 Du Halde, Jean-Baptiste 148, 153 f., 159 Dumpf, Georg Friedrich 122 Dunker, Axel 9 Dunkley, John 242 Eagleton, Terry 236 Ebeling, Florian 169 Eberhard, Johann August 37 Echternkamp, Jörg 104, 108 Eckermann, Johann Peter 233 Eckart, Johann Georg von 141 Ehrenspeck, Yvonne 205 Engemann, Walter 158 Erhart, Walter 57, 59, 62, 65 f. Ernst II. Ludwig, Herzog von Sachsen-GothaAltenburg 172, 182 Essen, Gesa von 16, 110 Ette, Ottmar 282 Fauser, Markus 4 Federhofer, Marie-Theres 72 Feger, Hans 199 f. Fendri, Mounir 77 f. Fénelon, François 169 Fichte, Johann Gottlieb 271 Fick, Monika 99 Fink, Gonthier-Louis 18, 105, 107, 152, 217 Fink-Eitel, Hinrich 69 Fischer, Andreas 75 Fischer, Bernd 269 Flachsland, Karoline 127 Flaubert, Gustave 40, 247 Florack, Ruth 5, 18, 25, 29, 105 f., 109, 118 Fludernik, Monika 5, 186 Földényi, László F. 284 Fontenelle, Bernard de 166, 170 Forster, Georg 1, 10, 62, 65, 258 Foucault, Michel 101, 123 Francke, Ursula 192 Frank, Gustav 76 Franklin, Benjamin 175 Franz, Michael 175 Freud, Sigmund 33 Frick, Werner 16, 155 Fricke, Christel 192

Personenregister

Fricke, Harald 124 Friedrich II. (der Große) 116 Frühsorge, Gotthardt 24 Frye, Northrop 40 Fück, Johann 79 Fulda, Daniel 29 Funck, Karl Wilhelm Ferdinand von 246 Gadamer, Hans-Georg 210 Gaderer, Rupert 293 Gaier, Ulrich 125–128, 135, 137, 143, 268 f. Gamper, Michael 263 Gantet, Claire 39 f. Gellert, Christian Fürchtegott 11, 116, 259 Gelzer, Florian 259 Gentile, Carlo 164 Geisenhanslüke, Achim 277 Geitner, Ursula 59 Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von 104, 126 Geßner, Salomon 86 Gestrich, Andreas 24 Gewecke, Frauke 249, 260, 263 Giesen, Bernhard 106 Girard, René 278 Gisi, Lucas Marco 185 Glanvill, Joseph 168 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 10 f., 75–99, 104 Goebel, Rolf J. 151 Goethe, Johann Wolfgang 1–3, 14, 77, 104, 113, 116 f., 123, 128 f., 143, 145–147, 184, 187, 209, 219, 223, 233 f., 238–247, 250 Goldblum, Sonia 239 f. Gollwitzer, Heinz 151 Golz, Jochen 125, 129, 146 Gongora, Luis de 141 Göttsche, Dirk 9 Gottsched, Johann Christoph 9, 17, 22–24, 30 f., 34 Gottsched, Luise 9, 17–35 Grathoff, Dirk 276 Greiner, Bernhard 32 Grellmann, Heinrich Moritz Gottlieb 288 f. Griem, Julika 236 Grimm, Jacob 85, 235 Grimm, Reinhold R. 161 Grimm, Wilhelm 85, 235

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Gruenter, Rainer 24 Günther, Friederike Felicitas 4 Guny, Ahmad 75 Guthke, Karl S. 5, 58, 107, 200, 243, 247 Gutjahr, Ortrud 123 Guzzoni, Alfred 227 Haarmann, Harald 288 Habermehl, Peter 300 Häfner, Ralph 3, 12 f., 53, 165, 169, 174, 177 Hagedorn, Friedrich von 116 Hall, Stuart 276 Haller, Albrecht von 5, 37, 46, 49, 107, 145 Hamacher, Werner 272 Hamann, Johann Georg 140, 182 Hamilton, Anthony 165 Harrison, John 218 Haslinger, Peter 5, 186 Hawkesworth, John 61 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 59, 64, 251 Heimböckel, Dieter 15, 271, 275, 277 Heinse, Wilhelm 2, 80, 82, 92 Heinz, Andrea 60 Heinz, Jutta 4, 11, 58, 71, 125, 129, 131 Heitz, Raymond 109 Hell, Theodor (Karl Gottfried Theodor Winkler) 262 Hempel, Caroline Luise 93 Henderson, John S. 234, 239, 242 Hentges, Gudrun 189 Hepworth, Brian 93 Heraklit 232 Herbelot, Barthélemy dʼ 58 Herder, Johann Gottfried 1–3, 5, 11 f., 14 f., 37, 60 f., 67, 93, 98 f., 103 f., 106–113, 122 f., 125–144, 151, 177, 182, 188, 218 f., 229 f., 259, 266–270, 274, 286 Hermann, Ralf 64, 66, 69 Hermes, Stefan 11, 102 Herodot 2 Herrliberger, David 45 Herrmann, Hans-Christian von 22 Herrmann, Hans Peter 104, 282 Herrmann, Ulrich 24 Hesiod 301 Heßelmann, Peter 22 Hettche, Walter 76, 83

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Personenregister

Hickethier, Knut 278 Hildebrand von Soana (Gregor VII., Zuchtrute Gottes) 180 Hildebrandt, Mathias 268 Hilpert, Daniel 292–294 Hinck, Walter 23, 26 Hinderer, Walter 110, 273 Hintikka, Jaakko 87 Hippokrates 106 Hirt, Johann Friedrich 77 Hobbes, Thomas 288 Höffe, Otfried 272 Hoffmann, E.T.A 15 f., 287–305 Holberg, Ludvig 22, 26 Holdenried, Michaela 10, 57, 59, 186, 255, 277 Hölderlin, Friedrich 13 f., 213–232 Holenstein, Elmar 274 Hölter, Achim 123 Holz, Hans Heinz 273 Homann, Renate 246 f. Homer 91, 131, 135, 139 f., 301 Honegger, Claudia 6, 101 Honold, Alexander 13, 29, 215 Hoorn, Tanja van 2 Hornig, Gottfried 91 Horsch, Silvia 75, 90 Hsia, Adrian 148 f., 151, 157 f. Humboldt, Alexander von 217, 263, 265 Hume, David 106, 189 Hunt, Lynn 39, 44–46 Hupel, August Wilhelm 140 f. Jacob, Margaret 39, 44–46 Jacobs, Jürgen 25 Jacoby, Ludwig Daniel 152 Jäger, Hans-Wolf 81, 84, 86 Johnsten, Sarah I. 301 Jung-Stilling, Johann Heinrich 37 Justinian I. 245 Kaiser, Gerhard 92 Kant, Immanuel 2 f., 5, 13, 15, 72, 106 f., 118 f., 162, 171, 176, 183–185, 187–203, 205–209, 211, 265, 271–273, 281 Kanzog, Klaus 290 Kapp, Gabriele 273

Karl Martell 237 Karsch, Anna Louisa 81 Kaufmann, Sebastian 13, 185, 187, 201 Kaufmann, Stefan 5, 186 Kepler, Johannes 40 Kerth, Thomas 27 Kettermann, Günter 236 Kiefer, Klaus H. 164 Kiesel, Helmuth 93, 158 Kircher, Athanasius 161, 170 Klammroth, Heinz 39 Klausnitzer, Ralf 162, 164, 169 Klawitter, Arne 160 Kleist, Ewald Christian von 104, 126 Kleist, Heinrich von 15, 265–286, 297 Kleist, Ulrike von 271 f. Klingemann, August 14, 249–264 Klinger, Maximilian 120 Kloekhoff, Henrik 227 Klopstock, Friedrich Gottlieb 83, 86, 92, 104, 229 Klosterberg, Brigitte 39 Klotz, Volker 32 Kluge, Carl Alexander Ferdinand 292, 294, 297 Kluge, Gerhard 247 Klügel, Georg Simon 85, 96 f. Knaupp, Michael 219 f., 223 Knobloch, Eberhard 96 Kohl, Karl-Heinz 186, 269 f. Kohlenbach, Margarete 292 Köhler, Ernst 233 Kohler, Georg 198 Kolumbus, Christoph 249, 255–258, 260, 263 Kondylis, Panajotis 184 Konfuzius 146, 150 Kord, Susanne 25 Kornbacher-Meyer, Agnes 23 Körner, Christian Gottfried 243 f., 246 Körte, Wilhelm 89 f., 93 Košenina, Alexander 3–5, 14 f., 17, 21, 101, 184, 237, 276 Kotzebue, August von 2, 249 Krämer, Olav 10 f., 109, 113 Krause, Robert 14, 239 f. Krauss, Werner 39 Krebs, Roland 23, 32

Personenregister

Kremer, Detlef 304 Kreutzfeld, Johann Gottlieb 139 Kristeva, Julia 22, 40, 69 Krüger, Johann Gottlob 9, 37–56 Kugler, Stefani 288 Kühlmann, Wilhelm 152 Kühn, Rolf 33 Kulenkampff, Jens 192 Kuschel, Karl-Josef 75, 77, 90 Küster, Hansjörg 227 Kuzniar, Alice 162 Lach, Donald F. 149 Lachmann, Renate 122 La Croze, Mathurin Veyssière de 53 Lafitau, Joseph-François 9, 38 f., 42, 49–53, 170 La Fontaine, Jean de 116 La Harpe, Jean-François 238 Landry-Deron, Isabelle 154 Lange, Andreas 145 Langner, Beatrix 245, 247 Las Casas, Bartolomé de 258 f. Lavater, Johann Caspar 2, 172 Lee, Eun-Jeung 151, 160 Leerssen, Joep 5 Lehmann, Johannes Friedrich 4, 183 Leibniz, Gottfried Wilhelm 87, 148 Leidhold, Wolfgang 237 Lengefeld, Charlotte von 169 Lenz, Jakob Michael Reinhold 2, 3, 11, 101–124 Leo IV. 237 Lessing, Gotthold Ephraim 2 f., 22 f., 58, 75, 82, 84, 88–91, 93, 99, 107, 118, 128, 139, 184 Lévi-Strauss, Claude 207 Lichtenberg, Georg Christoph 254 Lieb, Claudia 291, 293, 298 Liebau, Heike 39 Liebrand, Claudia 276 Linden, Mareta 5 Linné, Carl von 67 Lipsius, Justus 39 Lobsien, Eckhard 220 Löchte, Anne 267, 270 Löffler, Josias Friedrich Christian 175 Louis XIV. 233

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Louis XV. 26 Lovejoy, Arthur O. 87 Lowth, Robert 92 f. Lukas, Wolfgang 27 Lukrez 46, 49 Lüsebrink, Hans-Jürgen 2, 102 Luserke(-Jacqui), Matthias 21, 114 f., 119, 122 f., 246 Luther, Martin 150 Lütteken, Anett 145 Macpherson, James 93, 127 Maoping, Wei 152, 153, 157 Marquard, Odo 5 Martin, Ariane 111 Matthisson, Friedrich 221 Maupertuis, Pierre-Louis Moreau de 173 Maurach, Martin 118, 123 Maurer, Michael 105 Mayer, Mathias 162 McFarland, Robert 290 Megerlin, David Friedrich 77 f. Meid, Christopher 12 Meier, Albert 24 Meier, Georg Friedrich 38 Meiners, Christoph 151 Meißner, August Gottlieb 73 Melanchthon, Philipp 300 Mendelssohn, Moses 172 Menhennet, Alan 60, 62, 64 Menninghaus, Winfried 193 Merten, Kai 5, 105 Mesmer, Franz Anton 175, 295, 302 Michaelis, Johann David 77, 90 f., 93, 98 Mijnhardt, Wijnand 39, 44–46 Milner, Max 291 f. Milton, John 121 Minor, Jakob 77, 81 Mix, York-Gothart 28 Mohammed (Mahomet) 75, 77 f., 88–91, 94, 98 f. Möhr, Andrea 293 Möller, Frank 20 Molière 26, 116 Montaigne, Michel de 127 Montesquieu 2, 14, 61, 104, 106, 143, 150, 157, 230 f.

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Personenregister

Montfaucon De Villars, Nicolas-PierreHenri 164, 171 Moore, Francis 64 Mor, Lucia 59, 65 Moravia, Sergio 276 Mortier, Roland 173 Moscherosch, Johann Michael 39 Moser, Christian 273 Moser, Friedrich Carl von 104, 110 Moßmann, Susanna 104 Mottel, Helmut 221, 224–226 Mounin, Georges 240 Mourey, Marie-Thérèse 28 Mühlmann, Wilhelm Emil 5 Müller, Johann Valentin 301 f. Müller, Johannes von 129 Müller-Salget, Klaus 278 Müller-Seidel, Walter 281 Mulsow, Martin 40 f., 44, 53 Mungello, David E. 148 Nahon, Michelle 179 Naumann, Johann Friedrich 221 Nehring, Andreas 39 Neis, Cordula 108 Neugebauer, Otto 217, 225 f. Neuhuber, Christian 21 Neumann, Birgit 18 f., 236 Neumann, Gerhard 280 Nevermann, Friedrich Theodor 276 Newton, Isaac 179 Nicholls, Angus 301 Nicolai, Friedrich 119, 127 Niebuhr, Carsten 1 Nikolaus II. Esterházy de Galantha 262 Nowak, Herbert 300 Nutz, Thomas 2, 102

Pape, Wilhelm 217 Parr, Rolf 275 Pasqually, Martinès de 178 Paul, Jean 69, 146 Pauw, Corneille de 155 Peez, Erik 293 Pelayo 237 Pelzer, Erich 233 Pepin, Jean 174 Petermann, Werner 6 Petersen-Kocabas, Renate 145 Percy, Thomas 126 f., 141 Pernau, Ferdinand Adam von 221 Pfeffel, Gottlieb Konrad 12, 145–160 Pfister, Manfred 17 Pfleiderer, Christoph Friedrich 216 Pfotenhauer, Helmut 4, 69 f. Pfütze, Curt 122 Philipp II. von Spanien 180 Picart, Bernard 10, 39, 42–48, 50 Pindar 140 Pintard, René 171 Platon 172, 174, 301 Plautus 102 Planert, Ute 103 f. Plessner, Helmuth 33 Plinius (d.Ä.) 162 Plutarch 237 Plütschau, Heinrich 38 Pope, Alexander 123 Port, Ulrich 221 Pott, Ute 81 Preisendanz, Wolfgang 60 Pries, Christine 193 Puszkar, Norbert 254 Pyra, Jakob 123 Quevedo, Francisco de 39

Och, Gunnar 8, 102 Oesterle, Günter 245, 247, 289 Oesterle, Ingrid 289 O-Maï 258 Ossian 93, 127, 131, 133, 135 Otto, Regine 110 Pailer, Gaby 26, 29 Pailin, David A. 89

Rabelais, François 116 Rabener, Gottlieb Wilhelm 40 Racine, Jean 113 Ramler, Karl Wilhelm 127 Ramsey, Allan 141 Ramsey, Andrew Michael 169 Raulet, Gérard 242 Reemtsma, Jan Philipp 70

Personenregister

Reil, Johann Christian 291, 293 f., 296 Reim, Helmut 39, 51 Renan, Ernest 105 Reuß, Roland 273 Richel, Veronica C. 27 Rieck, Werner 115, 117 Riedel, Wolfgang 3–5, 7, 73, 164, 183, 201 Riesche, Barbara 249 Rijnberk, Gérard van 179 Robert, Jörg 4, 165, 184, 187, 205, 211 Röcke, Werner 17 Rohmer, Ernst 83 Roldán, Francisco 260 Rölleke, Heinz 126–129, 141 Roselt, Jens 34 Rosset, François 2, 102 Rothe, Matthias 22 Rousseau, Jean-Jacques 2, 10 f., 14, 19, 57–59, 61, 63, 66–73, 126, 130, 185, 189 f., 201, 228–230, 232, 274 Rowland, Herbert 165 Rüdiger, Johann Christian Christoph 288 Ruhig, Philipp 139 f. Ruppert, Rainer 21 Russell, John R. 27 Sagarra, Eda 3 Said, Edward 236 Saine, Thomas P. 87 Saint-Martin, Louis Claude de 13, 165, 176–179, 181 Salama, Dalia 146 Sale, George 79 Sanders-Brahms, Helma 277 f. Sappho 129, 144 Sauder, Gerhard 154 Saul, Nicholas 289 Scaliger, Joseph Justus 150 Scarron, Paul 39 Schäfer, Klaus 59 Scharloth, Joachim 111 Schiller, Friedrich 2, 12–14, 20, 146 f., 155, 157, 161–185, 187 f., 191, 200–211, 219, 221, 223, 234, 240, 243–247, 249, 251–253 Schings, Hans-Jürgen 3, 164, 183 Schlösser, Rainer 30

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Schlözer, August Ludwig 151 Schmalhaus, Stefan 116 Schmidt, Friedrich Ludwig 252 f., 263 Schmidt, Jochen 276 Schmidt, Ricarda 291 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 3, 179 Schmidt-Hannisa, Hans-Walter 40–42, 49 Schmitz, Walter 4 Schmitz-Emans, Monika 163 Schneider, Helmut J. 18 Schörle, Eckart 35 Schrach, Gottlob Benedikt von 96 Schröder, Winfried 44 Schulz, Georg-Michael 21, 243, 246 Schwabe, Johann Joachim 64 Selden, Elizabeth 146 Sembdner, Helmut 279 Semler, Johann Salomo 91 Seume, Johann Gottfried 254 Shakespeare, William 127 Simonis, Linda 169 Sittig, Claudius 292 Smith, Denis Mack 236 Sobel, Dava 218 Solms, Wilhelm 289 Sophokles 243 f. Souverain, Matthieu 174 f. Spalding, Johann Joachim 89 Spiegel, Hubert 265 Sproll, Monika 2, 17, 186 Stanzel, Franz K. 105 f. Starnes, Thomas C. 165 Steinmetz, Horst 18 Stichweh, Rudolf 18 Stöckmann, Ernst 183 Stolzenberg, Jürgen 192 Strauss, Daniel 274 Strube, Werner 193 Struck, Wolfgang 62, 65 Stuckenbrock, Anja 112 Sulzer, Johann Georg 19 f., 127 Sutter, Alex 189 f. Swedenborg, Emanuel 164, 171, 176 Swift, Jonathan 42, 67 Tacitus 2 Tancrède de Hauteville 236

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Personenregister

Tatar, Maria M. 292 Tawada, Yoko 284 Tetens, Johann Nicolaus 70–72 Terrall, Mary 173 Terrasson, Jean 13, 165, 169 f. Thies, Christian 106 Thomasius, Christian 150 Tieck, Ludwig 289 f., 298 Titze, Michael 33 Todorov, Tzvetan 278 Torra-Mattenklott, Caroline 21 Totok, Wilhelm 89 Trabant, Jürgen 270 Treyz, Sebastian 9 Tscharner, Eduard Horst von 146, 153 f., 156f., 159 Turk, Horst 17 Uerlings, Herbert 9 Unzer, Ludwig August 160 Uz, Johann Peter 92 Velten, Hans Rudolf 17 Vermeulen, Han F. 5 Vogl, Joseph 40 Vollhardt, Friedrich 39 Voltaire 2, 12, 14, 106, 113, 116, 150, 158, 169, 171, 233–247 Wagenmann, Julius August 93 Waldenfels, Bernhard 19, 285 Wallis, Samuel 61, 102 Walpole, Horace 245 Walraven, Hartmut 149 Wagner, Heinrich Leopold 123 Wappler, Gerlinde 92 Weder, Katharine 297 Wefelmeyer, Fritz 116 Wehler, Hans-Ulrich 103 Weidner, Daniel 93, 99 Weigel, Sigrid 6, 281 Weimann, Robert 277

Weiß, Christoph 114 Weiße, Christian Felix 11, 117 f. Welsch, Wolfgang 109 Welsh, Caroline 208 Wenchao, Li 149 Werlen, Hans-Jakob 267 Werlen, Iwar 274 Weyer, Johann 300 Wezel, Johann Karl 2 White, Hayden 186 Wieland, Christoph Martin 10, 57–73, 84 f., 94–98, 107, 114, 117 f., 164 Wild, Reiner 25 Wilkinson, Elizabeth M. 210 Wilpert, Gero von 240 Willoughby, Leonard A. 210 Wimmer, Franz Martin 274 Winckelmann, Johann Joachim 3, 37, 184, 205 Winkler, Heinrich August 103 Winkler, Markus 2, 102 Winter, Hans-Gerd 120, 123 Wipperfürth, Susanne 60 f. Wittgenstein, Ludwig 283 Wokalek, Marie 209 Wolff, Christian 12, 87, 149 Wolff Metternich, Beatrix 24 Wuthenow, Ralph-Rainer 2, 101 Wynn, Thomas 234, 239, 242 Wyss-Giacosa, Paola von 39, 44–46 Zaloaga, Marian 288 Zammito, John H. 2 Zantop, Susanne M. 256, 262, 277, 279 Zelle, Carsten 4, 9 f., 21, 37 f., 52, 55, 205 f., 210 Zelter, Carl Friedrich 243 Zenge, Wilhelmine von 266, 271 f., 284 Zeuch, Ulrike 21 Ziegenbalg, Bartholomäus 38 Ziegler, Friedrich Wilhelm 249 Zimmermann, Johann Georg 104, 118 Zimmermann, Paul 262