Der öffentliche Autor: Über die Selbstinszenierung von Schriftstellern [1. Aufl.] 9783839427576

Authors are the faces of the literary industry. How do they represent themselves? And how does their public significance

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German Pages 500 [495] Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
EINLEITUNG
Einleitung
THEORIE
Entwurf einer feldbasierten, mythologischen Diskursanalyse
Das literarische Feld. Oder: Was der Literaturbetrieb mit dem Pokerspiel gemein hat
Der Mythos. Oder: Wie das Image eines Schriftstellers entsteht
Wie analysiere ich einen Mythos?
Der Diskurs. Oder: Wie man das Image zu greifen bekommt
Wie sich Diskurse im Literaturbetrieb dynamisieren
KULTURGESCHICHTE DER SELBSTDARSTELLUNG
Dichterische Selbstdarstellung im Wandel der Zeit – Eine kulturhistorische Revue
Intellektuelle Repräsentation im Mittelalter. Oder: „ich saz ûf eime steine …“
Erwachende Individualität in der Frühen Neuzeit. Und erste Schönheitskorrekturen
Exkurs: Velázquez’ versteckte Selbstdarstellung
Die Inszenierung des Blicks als wirkungsvolles Element der Selbstdarstellung
Höfische Repräsentanz im 17. Jahrhundert
Self-Fashioning in der Renaissance
Kommerzialisierung im 18. und 19. Jahrhundert. Von heiligen Spenden und der Consumer Revolution
Eine erste Dichtertypologie
Die Entwicklung erster Marketing-Instrumente
Dadaistische Inszenierung und anti-bürgerliche Avantgarde. Oder: „Ich – Nicht – Ich“
Krise der Repräsentation
Neue Nüchternheit nach 1945
Postmoderne Egomanie der 1980er- und 1990er-Jahre
Zusammenfassung
PRAKTIKEN DER SELBSTDARSTELLUNG
Zwölf Praktiken der Selbstdarstellung
Täuschen
Simulation
Dissimulation
Authentizität hypostasieren
Die habituelle Authentizität
Die natürliche Authentizität
Die radikal-subjektive Authentizität
Ironisieren
Demontieren
Häresie
Selbstdemontage
Peritextuell verführen
Der Titel
Der Klappentext
Das Cover
Widmung und Motti
Selbstzeugnisse publizieren
Autobiografisches Erzählen
Offene Briefe
Lesungen
Website, Twitter, Blogs & Co
Film- und Fernsehauftritte
Symbolisieren
Große Gesten
Markenzeichen
Bilder distribuieren
Fotografien
Gemälde und Zeichnungen
Visual Essays
Enttabuisieren
Überraschen
Sexualisieren
Moralisieren, politisieren & ideologisieren
Moralisieren
Political Incorrectness. Oder: Die Irritation der illusio
Selbstviktimisierung
Sprach- und Medienkritik
Allianzen bilden
Multiple Netzwerke (Dichterzirkel)
Historische Wahlverwandtschaften
Amouresken
Politische Paarungen
Öffentliche Geständnisse
Zusammenfassung
Das Inszenierungsmodell. Ein Exkurs in fünf Akten
Auf dem Weg zur Typologie
KLEINE DICHTERTYPOLOGIE
Kleine Dichtertypologie
Einige Exemplare aus dem Dickicht des literarischen Feldes
Der Archivar
Die wachsame Wort krobatin
Der sehnsuchtsvolle Empathiker
Die obsessive Nihilistin
Der charismatische Guru
Der scheue Ironiker
Der cholerische Rebell
Die Diva
Der sendungsbewusste Pop-Dandy
Das ungehemmte Alpha-Mädchen
Der Gockel
Der unermüdliche Aufklärer
Der Denkmal-Zwicker
Der Talent-Sucher
RESÜMEE
Resümee und Diskussion
Sublimationsuntauglichkeit als Realitätsmodell
Neue Äußerlichkeit. Oder: Die Revolution des Pathologismus
LITERATUR
Literatur
Filme
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Der öffentliche Autor: Über die Selbstinszenierung von Schriftstellern [1. Aufl.]
 9783839427576

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Carolin John-Wenndorf Der öffentliche Autor

Lettre

2014-04-28 15-54-48 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03a4365111082438|(S.

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4) TIT2757.p 365111082454

Meinen Eltern in Liebe, mit Dank

Carolin John-Wenndorf (Dr. phil.), Literatur- und Medienwissenschaftlerin, ist freie Lektorin und Texterin in Pfingstberg.

2014-04-28 15-54-48 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03a4365111082438|(S.

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4) TIT2757.p 365111082454

Carolin John-Wenndorf

Der öffentliche Autor Über die Selbstinszenierung von Schriftstellern

2014-04-28 15-54-48 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03a4365111082438|(S.

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4) TIT2757.p 365111082454

Der Text ist die gekürzte Fassung der unter dem Titel »Inszenierte Autorschaft. Theorie und Praxis schriftstellerischer Selbstdarstellung« an der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Duisburg-Essen verfassten Dissertation.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: pip / photocase.com Korrektorat: Jens Maula Satz: Carolin John-Wenndorf Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2757-2 PDF-ISBN 978-3-8394-2757-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2014-04-28 15-54-48 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03a4365111082438|(S.

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4) TIT2757.p 365111082454

Inhalt E INLEITUNG Einleitung | 11

THEORIE Entwurf einer feldbasierten, mythologischen Diskursanalyse | 23

Das literarische Feld. Oder: Was der Literaturbetrieb mit dem Pokerspiel gemein hat | 24 Der Mythos. Oder: Wie das Image eines Schriftstellers entsteht | 33 Wie analysiere ich einen Mythos? | 42 Der Diskurs. Oder: Wie man das Image zu greifen bekommt | 45 Wie sich Diskurse im Literaturbetrieb dynamisieren | 58

KULTURGESCHICHTE DER SELBSTDARSTELLUNG Dichterische Selbstdarstellung im Wandel der Zeit – Eine kulturhistorische Revue | 69

Intellektuelle Repräsentation im Mittelalter. Oder: „ich saz ûf eime steine …“ | 69 Erwachende Individualität in der Frühen Neuzeit. Und erste Schönheitskorrekturen | 74 Exkurs: Velázquez’ versteckte Selbstdarstellung | 76 Die Inszenierung des Blicks als wirkungsvolles Element der Selbstdarstellung | 81 Höfische Repräsentanz im 17. Jahrhundert | 90 Self-Fashioning in der Renaissance | 96 Kommerzialisierung im 18. und 19. Jahrhundert. Von heiligen Spenden und der Consumer Revolution | 101 Eine erste Dichtertypologie | 105 Die Entwicklung erster Marketing-Instrumente | 107 Dadaistische Inszenierung und anti-bürgerliche Avantgarde. Oder: „Ich – Nicht – Ich“ | 115 Krise der Repräsentation 117 Neue Nüchternheit nach 1945 | 123 Postmoderne Egomanie der 1980er- und 1990er-Jahre | 128 Zusammenfassung | 132

P RAKTIKEN DER SELBSTDARSTELLUNG Zwölf Praktiken der Selbstdarstellung | 141

Täuschen | 142 Simulation | 142 Dissimulation | 150 Authentizität hypostasieren | 161 Die habituelle Authentizität | 167 Die natürliche Authentizität | 170 Die radikal-subjektive Authentizität | 172 Ironisieren | 175 Demontieren | 185 Häresie | 185 Selbstdemontage | 190 Peritextuell verführen | 207 Der Titel | 207 Der Klappentext | 210 Das Cover | 213 Widmung und Motti | 229 Selbstzeugnisse publizieren | 232 Autobiografisches Erzählen | 232 Offene Briefe | 270 Lesungen | 285 Website, Twitter, Blogs & Co. | 298 Film- und Fernsehauftritte | 318 Symbolisieren | 323 Große Gesten | 323 Markenzeichen | 325 Bilder distribuieren | 332 Fotografien | 337 Gemälde und Zeichnungen | 346 Visual Essays | 350 Enttabuisieren | 365 Überraschen | 365 Sexualisieren | 370 Moralisieren, politisieren & ideologisieren | 383 Moralisieren | 383 Political Incorrectness. Oder: Die Irritation der illusio | 387 Selbstviktimisierung | 388 Sprach- und Medienkritik | 389 Allianzen bilden | 392 Multiple Netzwerke (Dichterzirkel) | 392 Historische Wahlverwandtschaften | 394 Amouresken | 401 Politische Paarungen | 405

Öffentliche Geständnisse | 406 Zusammenfassung | 409 Das Inszenierungsmodell. Ein psychologischer Exkurs in fünf Akten | 411 Auf dem Weg zur Typologie | 422

KLEINE DICHTERTYPOLOGIE Kleine Dichtertypologie | 431

Einige Exemplare aus dem Dickicht des literarischen Feldes | 431 Der Archivar | 432 Die wachsame Wort -Akrobatin | 433 Der sehnsuchtsvolle Empathiker | 434 Die obsessive Nihilistin | 435 Der charismatische Guru | 435 Der scheue Ironiker | 436 Der cholerische Rebell | 436 Die Diva | 437 Der sendungsbewusste Pop-Dandy | 437 Das ungehemmte Alpha-Mädchen | 438 Der Gockel | 438 Der unermüdliche Aufklärer | 439 Der Denkmal-Zwicker | 440 Der Talent-Sucher | 440

RESÜMEE Resümee und Diskussion | 445

Sublimationsuntauglichkeit als Realitätsmodell | 446 Neue Äußerlichkeit. Oder: Die Revolution des Pathologismus | 452

LITERATUR Literatur | 461

Filme | 495

Einleitung

Einleitung „Die Frage ist, wodurch sich ein Sonnenschirm von einem Regenschirm unterscheidet.“ „Durch die Farbe“, antwortet die Tante, „ein schwarzer Schirm ist ein Regenschirm. So ist es zu meiner Zeit immer gewesen.“ „Durch die Farbe? Ich dachte immer, auch durch die Rüschen.“ THOMAS BERNHARD1

Haben sie sich geirrt? Oder nur versehentlich auf ein falsches Pferd gesetzt? Als die Literaturhistoriker über ihren Büchern, Notizen und Aufzeichnungen saßen und der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Label „Genie-Zeit“ gaben, konnten sie nicht ahnen, dass dieses Etikett zwei Jahrhunderte später zu einem deutschen Dilemma führen sollte. Denn quer durch die Epochen haben sich zwar die literarischen Stile gewandelt, geblieben ist hingegen die Idee des Dichters als genialer Kopf, als kreativer Freigeist, der nicht nur, dank der Lichtgestalten Goethe und Schiller, der deutschen Nation zu seiner kulturellen Identität verhalf, sondern dessen schöpferische und freiheitliche Begabung den Dichter bis heute zum Weltdeuter prädestiniert.2 Die Rolle des intellektuellen Denkers wird den Schriftstellern seither großzügig zugestanden, auch sie selbst gefallen sich darin. Wartend stehen sie bereit, Vernunft und Fantasie in sich vereinend, um auf mediale Nachfrage den Thron der Weisen zu erklimmen, durch ihre geistige Strahlkraft den intellektuell sonst unbestirnten Himmel der Gegenwart zu erleuchten und sprachgewaltig Auskunft zu geben: „Walser vor der wildromantischen Kulisse des Bodensees stehend, spricht über Bosnien oder urteilt über Lopèz.

1 2

Thomas Bernhard im Gespräch mit seiner Tante Hedwig Stavianicek, in: André Müller: „… über die Fragen hinaus.“ Gespräche mit Schriftstellern. München 1998, S. 198. Vgl. Bernhard Giesen: Die Intellektuellen und die Nation. In: Gerd Langguth (Hrsg.): Autor, Macht, Staat. Literatur und Politik in Deutschland. Ein notwendiger Dialog. Düsseldorf 1994; 13-33, 13f. Vgl. auch: Britta Scheideler: Geschichte und Kritik der Intellektuellen. In: IASL Universität München. Siehe: http://iasl.uni-muenchen.de/discuss/lisforen/scheidel.htm (Stand: Januar 2014). Und: Pierre Bourdieu: Die Intellektuellen und die Macht. Hrsg. v. Irene Dölling. Hamburg 1991, S. 64. Vgl. auch Jochen Schmidt: Die Geschichte des deutschen Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1759-1945. 2 Bde. Darmstadt 1985. Und: Wilhelm Lange-Eichbaum/Wolfram Kurth: Genie, Irrsinn und Ruhm. 11 Bde. München 1967.

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Grass bewertet den Somalia-Einsatz der Bundeswehr. Enzensberger kommentiert die Arbeitslosenstatistik aus Nürnberg.“3 Obwohl die Schriftsteller immer wieder eindrucksvoll bewiesen haben, dass sie weder über einen privilegierten Zugang zur Wahrheit verfügen, dem besondere öffentliche Aufmerksamkeit gelten müsste, noch dass Literatur zwangsläufig mit moralischen und gesellschaftskritischen, ja universellen Lebens- und Wertvorstellungen verknüpft ist, genießen sie dennoch einen ehrenvollen Status. Unbeschwert und leidenschaftlich ahmt deshalb auch so mancher den Habitus „Ernest Hemingway[s] nach oder diskutiert, was Heinrich Böll oder Peter Handke schreiben […].“4 Ohne Unterlass wird eine Berufsgruppe geadelt und ihr eine besondere Fähigkeit zum letztgültigen Urteil in politischen, philosophischen und gesellschaftlichen Zweifelsfragen zugesprochen, deren Mitglieder sich im alltäglichen Leben nicht selten durch Neurosen und bei zeithistorischen Fragen durch Unsicherheiten auszeichnen. Und tatsächlich, die Rolle des Denkers scheinen die Dichter jüngst nicht mehr so recht auszufüllen. Ich möchte sogar behaupten, das ehrenvolle Gewand des Intellektuellen war den Schriftstellern schon immer ein wenig zu groß. Kurzum: Dem Genie-Gedanken liegt ein Missverständnis zugrunde. Zwar haben die Dichter gelernt, durch Verdinglichung im Schreibprozess Distanz zu den Dingen zu erlangen. Doch zu Intellektuellen, die befreit vom normativen Denken ihre freischwebende Intelligenz in den Dienst des Allgemeinwohls stellen, taugen sie deshalb noch nicht. Vielmehr zeigen Schriftsteller in der Öffentlichkeit den idealisierten Erwartungen gegenläufige, exhibitionistische, ja „heftige, frei flutende und zugleich mit der Realität kollidierende, neurotisch gezeichnete Instinkte.“ 5 Ungehemmt und zügellos entlädt etwa der Schriftsteller Maxim Biller seinen Emotionsstau öffentlich in cholerischen Wortattacken („Du bist doch ein richtiges Arschloch!“ 6), während Günter Grass seine persönlich empfundene Scham, ähnlich instinktiv, auf Dritte projiziert. Derweil wird Peter Handke von „epileptischen Hassanfälle[n]“7 geschüttelt, zumeist dann – und das ist bemerkenswert – wenn Vertreter der öffentlichen Medieninstitutionen zugegen sind („Meine Beziehung zu Katja Flint? Was soll denn das jetzt? Gehen Sie sich doch ficken!“8). Der schmeichelhaften Überzeugung von der Naivität des Herzens und der Reinheit des Geistes setzen die Schriftsteller ein literatur- und kulturwissenschaftlich bisher wenig beachtetes Realitätsprinzip entgegen: „Ihr Teil ist […] Hemmungslosigkeit über allen Ängsten; Narzissmus bis an die paranoischen Grenzen getrieben.“9 Statt

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Karl-Rudolf Korte: Schreiben über Deutschland, Leiden an Deutschland. In: Gerd Langguth (Hrsg.): Autor, Macht, Staat. Literatur und Politik in Deutschland. Ein notwendiger Dialog. Düsseldorf 1994, S. 71. Fotis Jannidis: Autor und Interpretation. In: Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matias Martinez/ Simone Winko (Hrsg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000, S. 7-29, 7. Theodor W. Adorno: Minima Moralia (1951). Frankfurt a. M. 2003, S. 242 f., § 136. Maxim Biller zit. n. Hubert Winkels: Emphatiker und Gnostiker. In: Die Zeit, Nr. 14, 2006, S. 59. Vgl. Sven Michaelsen: Starschnitte. Köln 2006, S. 97. Sven Michaelsen: Starschnitte. Köln 2006, S. 97. Ebenda, S. 343.

E INLEITUNG

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Kämpfe einzig mit sich selbst auszufechten, verlegen einige Schriftsteller ihren inneren Schauplatz bereitwillig nach außen, in die kulturelle Öffentlichkeit. Auch unaufgefordert leben sie dort ihr emotionales Derangement und ihre Aufgebrachtheit angesichts wechselnder Themen und Anlässe aus – mit epischem, tragischem und komödiantischem Geschick. Über dieses verfügt auch Elfriede Jelinek, deren (karger) Gefühlshaushalt niemandem verborgen bleibt. „Das grausamste Bild, das Sie erfunden haben […] ist eine Selbstverletzung. Die Frau im Buch zerschneidet mit der Rasierklinge ihre Scheide“10, präzisiert der Journalist André Müller im Gespräch mit Elfriede Jelinek eine Episode aus ihrem Roman Lust. – „Das habe ich nicht erfunden“, entgegnet Jelinek. „Das habe ich wirklich getan!“ Und ergänzt: „Es gibt eine schmerzliche Wahrheit.“11 Der Grund, weshalb Schriftsteller nicht notwendig zu Intellektuellen taugen, liegt somit auf der Hand, Adorno formulierte ihn früh: Sie sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Und kausal damit zusammen hängt ein zweiter, für diese Studie wesentlicher Gedanke Adornos: Schriftsteller sublimieren nicht.12 Es sei eine reine, wenn auch eindrucksvolle Illusion, dass Dichter ihre Leidenschaften in sozial erwünschte Werke verwandeln, Erlebtes, wenn schon nicht verdrängen, so doch durch Kunst kompensieren und das moralische Weltgesetz naturgegeben in sich tragen. Dem psychoanalytischen Wunschbild also, dem zufolge sie ihre Begierden endgültig in Romanen loswerden, um aristotelisch gereinigt zu wahrer geistiger Größe zu finden, gehorchen sie nicht – oder zumindest nicht ganz. Lässt auch das Büchlein von Adolf Muschg Literatur als Therapie (1981) das grundlegende Bedürfnis einer Kompensation vermuten, so widerlegen Schriftstelleraussagen den erhofften Effekt: „Es war qualvoll für mich, dieses Buch zu schreiben […]“, bekennt Elfriede Jelinek. „Und es hat mich im Gegensatz zur psychoanalytischen Therapie nicht erleichtert.“ 13 Walter Kempowski meint: „Meine Arbeit ist Sühne […]. Mein Gewissen ist dadurch aber nicht entlastet.“14 Die Sublimation will nicht gelingen. Und dennoch – oder gerade deshalb – drängt es die Schriftsteller, in Wort und Bild, in die Öffentlichkeit. Der Reiz der Inszenierung des Inwendigen, dem die Schriftsteller erliegen, und damit verbunden der narzisstische Diskurs, den sie heute immer wieder in der Öffentlichkeit durch die mediale Multiplizierung ihrer Gefühls- und Geistesswelt anzuzetteln verstehen, wird gewiss von vielen wahr-, aber von wenigen ernst genommen, höchstens belächelt, kaum jedoch die eine oder andere Seite verteidigt oder gar wissenschaftlich erschlossen.15 Wenn aber eine gegenwärtige Erscheinung durch ihre

10 André Müller: „…über die Fragen hinaus.“ Gespräche mit Schriftstellern. München 1998, S. 11. 11 Vgl. André Müller, „… über die Fragen hinaus.“, S. 11. 12 Theodor W. Adorno: Minima Moralia (1951). Frankfurt a. M. 2003, S. 242 f., § 136. 13 Elfriede Jelinek zit. n. Ingrit Seipert/Sepp Dreissinger: Die Frau im Sumpf. In: Das Magazin 10/1985, S. 29-35, 32. 14 Walter Kempowski, in: Sven Michaelsen: Starschnitte. Köln 2006, S. 100-102, 100. 15 Nahezu beiläufig und als lapidare Selbstverständlichkeit unhinterfragt stehen lassend, verkündet beispielsweise Bodo Plachta: „Heutzutage interessiert nicht, ob sich ein Autor, son-

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| D ER ÖFFENTLICHE A UTOR

eigene Kraft tendenziell ins Abseitige gerät, sich beinahe intim verfeindet mit der Ästhetik zeigt, die (vordergründig) von der Literaturkritik mütterlich beschirmt wird, gegen das weiterhin im Geist tradierte intellektuelle Milieu opponiert und dem zuerkannten, unangetasteten Status des ehrenvollen Dichteramtes zuwiderläuft, dann gebietet der wissenschaftliche Impuls, genauer hinzuschauen. So ebnet der eingangs formulierte Gedanke den Weg zum nächsten und führt mich zu der These, die ich in der vorliegenden Studie entfalten, illustrieren und belegen möchte: Schriftsteller sind nicht nur ungeeignet für die leichtfüßige Verarbeitung und Verdrängung von verspürter seelischer Last, „welche Freud naiv als Sublimierung verherrlicht, die es wahrscheinlich gar nicht gibt“16, sie kompensieren also nicht nur nicht, sondern sie kultivieren und inszenieren vielmehr ihre Unfähigkeit zur Sublimation. Die Neigung zur wirksamen Selbstdarstellung entspringt dabei zwar zunächst einem persönlichen Impuls des Schriftstellers17, kanalisiert sich jedoch, und hier verlassen wir schon (vorläufig) das Feld der Pathologie, in gesellschaftlich anerkannten Formen des individuellen Künstlerhabitus. – Als Habitus definiere ich jene markante Subjektivierung, die an der Oberfläche die Deformationen des Inwendigen fortsetzt und die sozial sichtbare Form der Identität begründet.

Abbildung 1: Walter Kempowski (l.)18 und Martin Walser (r.)19

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dern wie er sich inszeniert oder sich inszenieren lässt.“ (Bodo Plachta: Literaturbetrieb. München 2008, S. 24.) Adorno, Minima Moralia, S. 244. Jean Paul Sartre stellte fest: „Eines der Hauptmotive des künstlerischen Schaffens ist gewiss das Bedürfnis, uns gegenüber der Welt wesentlich zu fühlen.“ (Jean-Paul Sartre: Was ist Literatur? (1948/1950) Hrsg. v. Traugott König. Reinbek 1997, S. 36). „Die Leute sagen immer, sie schrieben nicht aus Eitelkeit, sondern aus einem inneren Bedürfnis heraus – als ob Eitelkeit nicht eines der stärksten inneren Bedürfnisse wäre!“ (Vgl. Barbara König: Hans Werner Richter. Notizen einer Freundschaft. München 1997, S. 19.) Walter Kempowski, fotografiert von Volker Hinz. Foto entnommen aus: Michaelsen, Starschnitte, S. 101. Martin Walser, fotografiert von Volker Hinz. Foto entnommen aus: Michaelsen, Starschnitte, S. 88.

E INLEITUNG

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Wenn Walter Kempowski zwischen den Relikten seiner Vergangenheit mit ernstem Blick in die Kamera und Martin Walser Erlösung suchend gen Himmel schaut, erzählen sie uns auch auf bildlicher Bedeutungsebene eindringlich von der Unfähigkeit zur Verdrängung von körperlich und emotional Durchlebtem; mal mit Stahlhelm-Porträt im Hintergrund und als Gefangener seiner selbst, mal mit halb zur Klage, halb zur Frage geöffnetem Mund. Während des Prozesses dieser diskursiven (und damit meine ich der sprachlichen wie anderer darstellerischen Techniken bemühenden) Vergegenständlichung des Inwendigen, nutzen die Schriftsteller die aus ihrem jeweiligen Habitus entspringenden Möglichkeiten und Strategien, um ihren eigenen Mythos, ihr Image zu kreieren. Unvoreingenommen Nachdenkende irritiert dabei zuweilen, dass ihr Mythos – basiert er doch auf einer Bürde, die dem Schriftsteller zunächst wie bei Kempowski als Hemmnis oder bei Handke als permanent Entgleisungen evozierende Unart angelastet werden könnte – ihm dennoch eine herausragende Stellung innerhalb des sozialen Raums der literarischen Welt beschert. Wie gelingt ihm das? Und grundlegender: Wie repräsentieren sich Schriftsteller? Wie entsteht ihre öffentliche Bedeutung? Welche spezifischen Formen und Praktiken der Selbst-Verwirklichung gibt es? Und in welchen Kontexten funktionieren ausgewählte Mechanismen – und wann und warum nicht? Diese Fragen bilden den Grundstein der vorliegenden Studie. Ein erster Hinweis, der später als umfassende Antwort noch komplexer entwickelt wird, soll an dieser Stelle genügen: Zunächst glückt es dem Schriftsteller, ungeachtet seiner angenommenen Sublimationsuntauglichkeit, einen Positionsvorteil auf dem sprachlichen Markt zu erlangen, indem er sich von den habituellen Manifestationen anderer in Erscheinung tretender Kollegen absetzt. Denn, so wissen wir spätestens seit den mit binären Gegensatzpaaren operierenden Systemtheoretikern, die „Identität gewinnt Kontur und bestätigt sich in der Differenz.“20 Um diese zu erzeugen, bringen die Interagierenden auch in nebensächlich erscheinenden Gesprächen, in ihren fotografischen Selbstkommentaren und performativen Randglossen alle ihre Vorlieben, Eigenheiten und Merkmale zum Vorschein.21 Und weil „die Handelnden nie ganz genau wissen, was sie tun, hat ihr Handeln stets mehr Sinn, als sie selber wissen.“22 Diesen Sinn gilt es zu decouvrieren. Denn: „Aus der […] dichterischen Welt ergeben sich sehr wichtige Folgen für die künstlerische Technik, […] viele an sich peinliche Erregungen können für den Hörer oder Zuschauer zur Quelle der Lust werden.“23 Grundlegend für diese Arbeit ist die folgende, einfache These: dass der bisher hinter seine Texte, nicht aber hinter sein Bedürfnis nach Anerkennung und Aufmerk-

20 Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede (1979/1982). Frankfurt a. M. 2006, S. 279. Vgl. auch: Ders: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns (1994/1998). Frankfurt a. M. 1998, S. 48. 21 Vgl. Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis (1972/1976). Frankfurt a. M. 1976, S. 181. 22 Vgl. Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a. M. 1987, S. 127. 23 Sigmund Freud: Der Dichter und das Phantasieren (1908). In: Cordelia Schmidt-Hellerau (Hrsg.): Sigmund Freud. Das Lesebuch. München 2006, S. 157-169.

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samkeit zurückgedrängte Schriftsteller versucht, sich selbst als Protagonist in den Diskurs des literarischen Feldes einzubringen; und zwar nicht allein durch seine Prosa oder Lyrik, sondern indem er sein Ich vermittels einer für ihn typischen Ausdrucksweise und der kombinierten Anwendung unterschiedlicher Inszenierungsstrategien zur Anschauung bringt.24 Die Botschaften, die die Schriftsteller mit ihren Inszenierungen übermitteln, erscheinen dabei in einer „sinnlich phänomenalen Fülle“, wie Bernhard Waldenfels es für jedes Inszenierungsphänomen deklariert; sie sind darüber hinaus stets kontingent und sogar auf doppelte Weise uneindeutig: Einerseits sind die öffentlichen Handlungen der Schriftsteller niemals gänzlich von ihnen geplant und auch die Wirkungen nicht zwingend antizipiert, sondern vielmehr durch intuitive und situative Momente bestimmt. Andererseits sind die Botschaften sowohl in ihrer Generierung als auch in ihrer Rezeption kontingent und nicht eins zu eins dekodierbar. In einer Art Spiralnebel, einer Kondensierung des Wissens verdichten und verschleiern die Repräsentationen der Schriftsteller, mehr oder weniger raffiniert, ihre Bedeutung: „Und Athene goss einen dichten Nebel um ihn aus“, so literalisiert Peter Handke das Selbstdarstellungsprinzip, „damit ihn keiner verhöhnte und ihn fragte, wer er sei.“ 25 Die Alterität, die die Schriftsteller von sich entwerfen, erfolgt dabei in drei grundlegenden Modi: der Ikonografie, der Sprachlichkeit und der Performanz26. Sie ist deshalb (nach Roland Barthes) mythologisch zu nennen, weil sie sich durch kommunikative Latenz auszeichnet. In dieser Latenz, dem noch in Teilen verborgenen, doch sich gleichzeitig in verbalen und paraverbalen Details ankündigenden Mythos, im Moment dieser Andeutungen und Verweise gleichen die schriftstellerischen Darstellungspraktiken einem prosaischen Text. Somit ist für die Analyse von folgender Prämisse auszugehen: „Der Mythos ist eine Sprache.“27 Das Deuten dieser Sprache ähnelt dabei dem „Versuch, ein Manuskript zu lesen (im Sinne von ‚eine Lesart’ entwickeln), das fremdartig, verblasst, unvollständig, voll von Widersprüchen, fragwürdigen Verbesserungen und tendenziösen Kommentaren ist, aber nicht in konven-

24 Wirft man einen Blick auf die nicht-fiktionalen Veröffentlichungen, die Tagebücher und die Briefe, die Essays und die Werkstattgespräche, tritt zutage, wie viel wir über die Autoren als öffentliche und private Figuren wissen (könnten), mehr als von jeder anderen Berufsgruppe; und doch erstaunt es, dass sich nur sehr zaghaft mit diesem wohl formulierten und offen verfügbaren Wissensschatz auseinandergesetzt wird, obwohl in den letzten Jahrzehnten keine Frage so virulent war wie diese: Was ist ein Autor? 25 Peter Handke: Die Geschichte des Bleistifts (1982). Frankfurt a. M. 2008, S. 127. Nachfolgend abgekürzt durch: GB und Seitenzahl. 26 Performanz meint hier sowohl die „Dynamik des sprachlichen Prozesses“ (Stephan Jaeger/ Stefan Willer: Das Denken der Sprache und die Performanz des Literarischen um 1800. Würzburg 200, S. 24) als auch die des „außersprachlichen Handlungsvollzugs“ (Uwe Wirth: Der Performanzbegriff im Spannungsfeld zwischen Illokution, Iteration und Indexikalität. In: Ders. (Hrsg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaft. Frankfurt a. M. 2002, S. 9-60, 27). Vgl. auch: Victor Turner: The Anthropology of Performance. New York 1987. 27 Roland Barthes: Mythen des Alltags (1957/1964). Frankfurt a. M. 2003, S. 7.

E INLEITUNG

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tionellen Lautzeichen, sondern in vergänglichen Beispielen geformten Verhaltens geschrieben ist.“28 Die Studie wird dem Reichtum, den Bedingungen und Strategien dieser mythologischen Sprachform, den Verschleierungen und semantischen Verdichtung nachgehen, um zu erkunden, wie das Image eines Schriftstellers im diskursiven Wechselspiel der literarischen Öffentlichkeit entsteht. Ziel des Ganzen ist, zu zeigen, wie das öffentlich generierte Image zu einem kulturellen Muster oder Typus werden kann und sich auf diese Art, durch diese Entwicklung einer einmal gefundenen Form, unbemerkt in die Kulturgeschichte ein- und dort ungehindert fortschreiben kann. Nebenbei soll der Versuch unternommen werden, nachzuweisen, dass die individuellen schriftstellerischen Strategien der Mythenbildung und Inszenierung einer dem Literaturbetrieb inhärenten Logik folgen, diesen durch die Entsprechung dieser strukturellen Logik permanent bestätigen und die innere Dynamik durch diese Entsprechung sogar beschleunigen, anstatt sie intellektuell zu durchbrechen. Was bislang gedanklich in meiner These verwoben ist, wird im Prozess der theoretischen Annäherung analytisch getrennt. Denn der Schriftstellermythos, das öffentliche Bild, als Vorstellung und Produkt, ist, wie Sartre feststellte, als Ding ebenso wie als Akt zu verstehen. Mit dieser zunächst banal klingenden Annahme ist jedoch die weitreichende Konzeption verbunden, sowohl die Produkte der Selbstdarstellung als auch den Umgang mit diesen Produkten und die diskursive Transformation der Inszenierungen zu beachten, „[…] erst im Rahmen und kraft dieses ganzen Systems gesellschaftlicher Beziehungen, die der Schaffende zur Gesamtheit all der Kräfte unterhält, die zu einem gegebenen Zeitpunkt das kulturelle Feld bilden – zu den anderen Künstlern, Kritikern, Vermittlern zwischen Künstler und Publikum wie Verleger und Kunsthändler oder beispielsweise Journalisten, […] etc. –, realisiert sich die fortschreitende Objektivierung der künstlerischen Intention, bildet sich die öffentliche Bedeutung, die wiederum den Autor definiert, da sie ihn zwingt, sein Verhältnis zu ihr zu 29 klären.“

Den Einstieg in das Thema bilden einige kurze theoretische Vorüberlegungen, welche die Frage beantworten, wie man sich als Germanist einer Selbstdarstellungsanalyse nähert. Dazu wird ein über die literaturwissenschaftliche Heuristik hinausgehendes Deutungsinstrument entworfen. Die entwickelte Methodik ermöglicht, Profilierungsstrategien auf dem literarischen Feld sowie individuelle und epochale Codes schriftstellerischer Selbstdarstellung zu erkennen und zu analysieren. Um universelle, sich durch die Epochen hinweg wandelnde oder überhistorisch existierende Selbstinszenierungsstrategien sichtbar zu machen, ist im zweiten Schritt eine Darstellung einer bis dato noch nicht im wissenschaftlichen Diskurs präsenten (weil zum Zeitpunkt der Entstehung dieser Studie noch nicht formulierten und publizierten) Kultur-

28 Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. M. 1987, S. 15. 29 Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen (1970/1974). Frankfurt a. M. 2003, S. 94 f.

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geschichte der Selbstinszenierung erforderlich. Dieser kleine Spaziergang quer durch die Jahrhunderte schriftstellerischer Inszenierungen beginnt mit dem ersten namentlich bekannten Autor, führt chronologisch durch die Epochen und wirft immer kleine Lichtkegel auf die Selbstdarstellungen berühmter Literaten – von Walther von der Vogelweide bis Charlotte Roche. Nach diesem Streifzug durch die Kulturgeschichte werden die dort entdeckten Strategien der Selbstinszenierung kategorisiert und anschließend in einem überhistorischen Katalog von zwölf Praktiken gebündelt. Das Vorgehen, die unterschiedlichen, im öffentlichen Diskurs präsenten verbalen und visuellen Selbstdarstellungsstrategien von Schriftstellern zu extrahieren sowie ihre Handlungen in spezifische Strategien zu bündeln, könnte man vielleicht als induktivexemplarische Methode bezeichnen. Das Ergebnis der Exemplifikation historischer und aktueller Fälle ist eine Kartei von unterschiedlichen, aber wiederkehrenden konkreten Inszenierungspraktiken des Literaturbetriebs. Für die Analyse der Sprache der einzelnen Fallbeispiele werden zunächst verschiedene Formen der Selbstäußerung wie Essays, Reden und Briefe als Materialbasis ausgewertet. Zudem stützt sich die Analyse auf sämtliche Paratexte, also auf all die Mitteilungen, die außerhalb des Buches eines Autors angesiedelt sind und welche die Wirkung maßgeblich mitgestalten:30 die Epitexte (z. B. Zeitungsartikel, Porträts, Reportagen, Kritiken, wissenschaftliche Analysen, Dokumentationen, Film-, Radiosequenzen, Archivmaterial öffentliche Interviews, Websites und autorisierte Fotos) ebenso wie die Peritexte, die buchinternen, im unmittelbaren Umfeld des Bandes situierten Texte (z. B. die Titelwahl, Umschlaggestaltung und Widmungen), weil sie von mythos-konstituierendem Wert sind. Wird gelegentlich das literatur- und kulturwissenschaftliche Potenzial des Bildlichen vernachlässigt, so soll es hier bewusst hervortreten, weil es maßgeblich am Prozess sozialer Sinnbildung beteiligt und Quellgrund repräsentativer Ordnung ist. Schließlich kann das Foto eines Schriftstellers als eine Art Relais fungieren, das feldspezifische Theorien von Intellektualität, Sprache, Kunst und Geist mit jeweils individuellen Auslegungen und Selbstverortungen verbindet und feldspezifische Erwartungen visuell zu kommentieren vermag. Zu guter Letzt folgt eine nicht ganz ernst gemeinte Typologie dichterischer Selbstdarsteller – ein kleines Panoptikum idealtypischer Dichterfiguren, wie man sie heute, wenn man wachen Auges unterwegs ist, im Literaturbetrieb antreffen kann. Wissenschaftstheoretisch betrachtet, stellt sich mein Vorhaben wie folgt dar: Um den jeweiligen, sich zumeist durch kommunikative Latenz auszeichnenden Mythos (Barthes) eines Schriftstellers zu dekonstruieren, ist zunächst eine dichte Beschreibung (Geertz) der vom Schriftsteller gelegten kultursemiotischen Spuren (Eco) erforderlich, die er auf dem literarischen Feld (Bourdieu), im diskursiven Wechselspiel (Foucault) mit anderen Schriftstellern und Kritikern, durch Paratexte (Genette), Bilder (Boehm), Performanzen (Waldenfelds) und inszenatorische Sprechakte (Searle) hinterlassen hat, um im Anschluss das so gestaltete Image eines Schriftstellers von dem konkreten Fall zu lösen, im induktiv vergleichenden und abstrahierend Verfahren universelle Muster zu erkennen sowie diese zunächst in einzelne Selbstdarstel-

30 „[F]ür Liebhaber von Formeln: Paratext = Peritext + Epitext“ (vgl. Gerard Genette: Paratexte (1987/2001). Frankfurt a. M. 2003, S. 13).

E INLEITUNG

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lungsstrategien aufzuschlüsseln und zu katalogisieren, um sie dann individuell zu kombinieren und in schriftstellerischen Idealtypen (Weber) kulminieren zu lassen.

Theorie

Entwurf einer feldbasierten, mythologischen Diskursanalyse

Wie analysiert man als Germanist schriftstellerische Selbstdarstellungen? Zum Beispiel indem man das öffentlich gezeigte Verhalten der Schriftsteller als einen komplexen Diskurs-Korpus (und damit im weitesten Sinne als einen nicht-linearen, hyperstrukturellen Text) versteht, der öffentlich der kollektiven Rezeption zugänglich ist. Dieser Diskurs-Korpus besteht aus Aussagen, Satzfragmenten, Wörtern, Texten, Verweisen, Fotos, bewegten Bildern und medialen Performanzen, aus deren Zusammenspiel sich das Image des Schriftstellers, der Schriftsteller-Mythos, auf dem literarischen Feld konstituiert. Die Werkzeuge und Grundlagen der Analyse bleiben somit, trotz interdisziplinärer Anleihen, die des Literaturwissenschaftlers: Ausgangspunkt der Selbstdarstellungs-Analyse ist eine genaue Materialstudie, zu deren Zweck die Feldtheorie Pierre Bourdieus, die Terminologie der semiotischen Mythologie Roland Barthes und die Diskursanalyse Michel Foucaults in ihrer feingliedrigen Unterscheidungslogik miteinander verschmolzen werden, um sie unmittelbar praktisch anwenden zu können. Das wissenschaftliche Instrumentarium zur Dekodierung der Inszenierung wäre somit feldbasierte, mythologische Diskursanalyse zu nennen. Im Folgenden wird es erstens darum gehen, einen Blick auf das literarische Feld zu werfen, auf dem sich die Mythen und Diskurse ereignen. Bevor zweitens Mythos und Diskurs singulär betrachtet und voneinander abgegrenzt werden, um dann drittens – in der Kombination von Feld, Diskurs und Mythos – zu erkennen, wie sich das vielschichtige öffentliche Image eines Schriftstellers im medialen Wechselspiel formt und sowohl in die Schriftsteller-Biografie als auch in die öffentlichen Debatten einund dort fortschreibt.

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D AS LITERARISCHE F ELD . O DER : W AS DER L ITERATURBETRIEB MIT

DEM

P OKERSPIEL

GEMEIN HAT Verstehen heißt, das Feld zu verstehen, mit dem und gegen das man sich entwickelt. 1 P. BOURDIEU Wer die Wahrheit übers unmittelbare Leben erfahren will, muss dessen entfremdeter Gestalt nachforschen, den objektiven Mächten, die die individuelle Existenz bis ins Verborgenste bestimmen. 2 T. W. ADORNO

Den Literaturbetrieb kann man sich als einen Ort vorstellen, der von unsichtbaren Fäden objektiver Relationen und sozialer Beziehungen durchzogen ist. „Diese unsichtbare Realität, die man nicht mit dem Finger berühren kann und die gleichwohl der Ursprung für die Mehrzahl unserer Verhaltensweisen ist“3, definiert die Position (das Image oder auch den Mythos) eines Schriftstellers durch den relativen Abstand, den dieser zu anderen einnimmt, schreibt Bourdieu in seinem soziologischen Traktat.4 Sich im Bedeutungsfeld objektiver Relationen zu etablieren, „heißt“ gemäß Bourdieu, „sich an Unterscheidungsmerkmalen (einer Manier, einem Stil, einer Besonderheit), d. h. sublimen Differenzierungen zu erkennen und anerkennen zu lassen.“5 Geht man also von Bourdieus relationaler Distinktions-These aus, so ist es kein Zufall, dass sich Elfriede Jelinek bei der Beantwortung der Frage eines Journalisten, was sie unter Lebensfreude verstehe, bewusst in Beziehung zu Peter Handke setzt, den Abstand zu ihm vergrößernd. Zu Lebensfreude meint sie: „Ja, das, was die anderen machen. Der Handke geht zu Fuß durch den japanischen Urwald. Das finde ich toll.“6 Sie selbst will so tapfer nicht erscheinen: „Ich kann es nicht, tut mir leid.“ Peter Handke wiederum findet seinen solitären Standpunkt im sozialen Koordinatensystem durch den Rekurs auf die Zunft der Journalisten. Bei ihm heißt es: „SpiegelRedakteure haben doch ihren Whiskey; und ihre Frauen sind viel jünger, geiler, exotischer als meine. Die haben alle rassige Reitpferde, und bei mit läuft höchstens ein

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Pierre Bourdieu: Ein soziologischer Selbstversuch. Frankfurt a. M 2002, S. 11. Adorno, Minima Moralia, S. 13. Pierre Bourdieu: Habitus, Herrschaft und Freiheit. Interview mit Antoine Spire et al. (2000/2001). In: Pierre Bourdieu: Wie die Kultur zum Bauern kommt. Hamburg 2001, S. 162-173, 162. Vgl. Joseph Jurt: Das literarische Feld. Das Konzept von Pierre Bourdieu in Theorie und Praxis. Darmstadt 1995, S. 75. Pierre Bourdieu: Soziologische Fragen. Frankfurt a. M. 1993, S. 97. Elfriede Jelinek im Gespräch mit André Müller. In: Müller: „… über die Fragen hinaus.“, S. 13.

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kleiner Igel ums Haus!“7 Obwohl der jeweilige Vergleich mit einem Kulturschaffenden desselben oder angrenzenden Feldes zunächst den Eindruck einer gezielten Herabsetzung der eigenen Person erweckt (Jelinek: Ja, [...] der Handke [...] das finde ich toll. Und Handke: Spiegel-Redakteure [...] die haben alle [...]), liegt vor dem Hintergrund der Feldtheorie in diesen Aussagen eine wesentlich positive Botschaft. Jelineks Flugangst, die sie vom Wandern durch den Dschungel abhält und die sie im Weiteren in sado-masochistischer Manier beschreibt (Mich müsste man geknebelt und narkotisiert im Gepäckraum […] transportieren, unter Aufsicht einer sadistischen Krankenschwester), erzeugt Abstand zu der Normalität, die Jelinek ihrem Schriftstellerkollegen Handke (vordergründig bewundernd) attestiert. Einen möglichst großen Abstand zu anderen Kulturschaffenden einzunehmen, gelingt auch Handke, indem er sich (ebenfalls vordergründig bewundernd) an der Leistungsfähigkeit der Journalisten misst; allerdings nicht an deren intellektueller, sondern deren an Paarbeziehungen orientierter Erfolgsquote. Während Jelinek ihre psycho-pathologisch grundierte Sprachradikalität (geknebelt und narkotisiert) zu Hilfe kommt, nutzt Handke die Ironie zur Stärkung seiner Position im Netz der Relationen, indem er ungewöhnliche Referenz- und Vergleichsgrößen wählt wie die (äußerliche) Qualität der weiblichen Geliebten (jünger, geiler, exotischer als meine) und in der nicht sehr feinen Analogie der Frau mit Gestalten aus dem Tierreich (rassige Reitpferde und kleiner Igel). Möchte man den durch die Feldtheorie sinnhaft werdenden Strukturen der Schriftstelleraussagen ein strategisches Label geben, so könnte man – in Anlehnung an Erasmus (Lob der Torheit) und Lessing (Lob der Faulheit) – vom ‚Lob der Unzulänglichkeit‘ sprechen, das beide Schriftsteller zum Prinzip ihrer Distinktion erheben.8 Wenden wir den Blick zunächst von den Einzelbeispielen Jelinek und Handke ab und schauen auf die Makro-Ebene, auf die innere Dynamik des gesamten Feldes: Die vitalen Existenzbedingungen des literarischen Feldes gründen laut Bourdieu auf den ungleich unter den Akteuren verteilten Kräften, ihrem symbolischen Kapital, also jener akkumulierten sozialen Energie, die sich aus der individuellen Vermengung des ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitals zusammensetzt und die Schriftsteller zum ständigen Ringen um den Erhalt oder die Verlagerung des Ungleichgewichts zu ihren Gunsten motiviert.9 Die Verschiebung der Kräfteverhältnisse unter den Schriftstellern gleicht dabei einem sprach-ästhetischen, intellektuellen und kreativen Spiel. Um das Spiel für sich zu entscheiden, bedarf es bestimmter Einsätze. „Man kann sich das so vorstellen, dass jeder Spieler einen Stapel von verschiedenfarbigen Jetons vor sich liegen hat, die den verschiedenen Kapitalsorten entsprechen, die er besitzt, so dass seine relationale Stärke im Spiel, seine Position im Raum des Spiels und auch seine Spielstra-

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Peter Handke im Gespräch mit Sven Michaelsen. In: Michaelsen, Starschnitte, S. 96. Vgl. Marika Müller: Die Ironie. Kulturgeschichte und Testgestalt. Würzburg 1995. Und: Hannele Kohvakakka: Ironie und Text. Zur Ergründung der Ironie auf der Ebene des sprachlichen Textes. Frankfurt a. M. 1997. Vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Frankfurt a. M. 2006, S. 193ff. Und: Werner Fuchs-Heinritz: Pierre Bourdieu. Konstanz 2005, S. 157-176.

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tegie, also das, was man sein ‚Spiel’ nennt, die mehr oder weniger riskanten, mehr oder weniger vorsichtigen, mehr oder weniger konservativen oder subversiven Züge, die er ausführt, zugleich von der Gesamtmenge seiner Jetons und von der Struktur seines Jetonstapels abhängt.“10

Die Struktur des Jeton-Stapels versinnbildlicht das individuelle Kapital des jeweiligen Schriftstellers, das es ihm ermöglicht, gemäß der eigenen strukturierten und strukturierenden Dispositionen schöpferisch auf die Anforderungen des Feldes zu reagieren, seine Manier zu kultivieren. Bei diesem Spiel kommt es einerseits natürlich auf den Besitz bestimmter Kapitalien an, aber andererseits – und dies in besonderem Maße – auf den geschickten Einsatz der persönlichen Jetons. Nach Bourdieu tritt das Was zurück zugunsten des Wie, also der Art und „Weise der In-BeziehungSetzung“11 der jeweiligen Fähigkeiten zu denen der anderen. Das bedeutet, dass nicht allein das Kapital, also die Qualität des Jeton-Stapels über die Position auf dem literarischen Feld entscheidet, sondern der individuelle und kreative Einsatz des Kapitals. So pokern die Schriftsteller jenseits der Buchdeckel mit ihren Eigenheiten und Fähigkeiten, um ihren Wert zu vermehren oder zu bewahren, sie provozieren („Ich bin dumm wie Brot“12) und kokettieren („Ich benutze Hanf wie ein Segelflieger, nicht wie ein Bruchpilot“13), sie polarisieren und geben sich misanthropisch („Sport, was das überhaupt soll“, und „Wasser ist ja eigentlich zum Kotzen. Das Meer! Oh Gott“14), sie billigen und schmähen („Heute war wohl die 80-jährige Wencke Myhre zu sehen. Gott! Wer will die noch sehen? Damals hat sie uns schon Jahre versaut, und nun fängt sie noch mal von vorne an?“15), und sie nehmen auf ihre Art gefangen („Als Kind wollte ich mich aufhängen, aber dann ist der Strick gerissen.“ 16). „Sie verfügen über Trümpfe, mit denen sie andere ausstechen können und deren Wert je nach Spiel variiert.“17 Sie dienen ihnen dazu, ihr Image zu tradieren (indem das, was sie von sich preisgeben, dieses Image konturiert) sowie um den Diskurs zu dominieren, innerhalb dessen sie ihre Trümpfe ausspielen.18

10 Pierre Bourdieu: Die Logik der Felder. In: Ders./Loïc J. D. Wacquant: Reflexive Anthropologie. Frankfurt a. M., 2006, S. 124-147, 128 f. 11 Reiner Diaz-Bone: Kulturwelt, Diskurs, Lebensstil. Opladen 2002, S. 31. 12 Elfriede Jelinek: „Ich bin die Liebesmüllabfuhr.“ In: Weltwoche, 02.12.2004. 13 Peter Rühmkorf im Gespräch mit Sven Michaelsen. In: Michaelsen, Starschnitte, S. 213. 14 Walter Kempowski im Gespräch mit Rainer Moritz. In: Rainer Moritz: Sympathien für Kühe. In: Neue Zürcher Zeitung, 06.05.2008. 15 Ebenda, NZZ, 06.05.2008. 16 Thomas Bernhard im Gespräch mit André Müller. In: Müller, „… über die Fragen hinaus“, S. 125. 17 Pierre Bourdieu: Die Logik der Felder. In: Ders./ Loïc J. D. Wacquant, Reflexive Anthropologie, S. 128. 18 Meint Diskurs ursprünglich die Bewegung des Hin- und Herlaufens, so ist der selbstdarstellerische Diskurs ebenfalls als eine Bewegung zu betrachten, bei der der Schriftsteller nicht aufhört, Schritte zu unternehmen, um seinen Wert von ‚unbedeutend’ zu ‚anerkannt’ zu wechseln.

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Die Akzentuierung der eigenen wunderlichen oder ironisch gebrochenen, öffentlich sichtbaren Persönlichkeit ist auf dem literarischen Feld umso mehr geboten, als eine der „bezeichnendsten Eigenschaften des literarischen Feldes“ 19 seine „schwache Institutionalisierung“20 ist. Sie zeigt sich am vollständigen Fehlen jeder Instanz, die bei Auseinandersetzungen um Priorität, Legitimität und Autorität und bei Kämpfen um die Verteidigung oder Eroberung von Positionen regulierend, auch schlichtend eingreifen könnte.21 Die geringe Kodifizierung des literarischen Feldes meint auch, dass es, im Unterschied zum akademischen Feld22, dem religiösen Feld23 oder dem politischen Feld24, über keine durch Ausbildung legitimierten Eintrittsvoraussetzungen verfügt und nur vage Positionen bietet, die eher zu gestalten als schon fertig ausgestaltet sind.25 Durch die Durchlässigkeit und strukturelle Offenheit wird das literarische Feld gerade nicht durch Hierarchien definiert, wie sie in anderen Feldern vorgegeben sind, sondern durch permanente, dynamische und ihre Wertigkeit durch Relationen und Repräsentationen erlangende Positionierungen, an denen auch die Literaturkritik, das Feuilleton und Journalisten einen wesentlichen Anteil haben. Die Positionen (das Image, die jeweiligen Mythen) werden zudem legitimiert durch ein kritisches, ausdifferenziertes Publikum, das seine Ansprüche über Marktmechanismen vermittelt, die zur Gestaltung des Feldes machtvoll beitragen. Bourdieu zufolge ist das Feld der kulturellen Produktion in das Feld der Macht eingebettet, das wiederum über alle Felder wie eine Käseglocke gestülpt ist. Diese Käseglocke schließt zum Beispiel all jene Institutionen und Personen aus dem Feld der Macht (so zum Beispiel Institutionen der Literaturvermittlung, die entweder dem Feld der Wirtschaft oder der Massenmedien angehören) ein, die selbst keine professionellen Kulturproduzenten gemäß den Regeln des literarischen Schaffens sind, aber den Erfolg eines Werkes oder eines Schriftstellers als öffentliche Person diskursiv entscheiden. Neben den marktökonomischen Anforderungen, also der Verkaufserfolgserwartung („Massenproduktion“), wird die Dynamik des Feldes bestimmt durch die von der Literaturkritik („Feuilleton“, „Journalismus“) formulierten literarischen Ansprüche, durch die journalistische Gate-Keeper-Funktion sowie durch journalistisch vermittelte, mediale Macht, ausgeübt durch das Agenda-Setting.26

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Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 366. Ebenda, S. 366. Vgl. ebenda, S. 365 f. Das akademische Feld wird, je nach Quelle, auch als wissenschaftliches Feld oder intellektuelles Feld bezeichnet. Vgl. Pierre Bourdieu: Homo academicus (1984/1988). Frankfurt a. M. 1998. Pierre Bourdieu: Das religiöse Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens. Konstanz 2000. Pierre Bourdieu: Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft. Konstanz 2001. Vgl. Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 358 f. Als Antagonist ist somit auch der Kritiker in der habituellen Disposition des Schriftstellers verankert. In offenen Briefen und Verrissen tritt diese Disput und Skandal verheißende Verbindung in ihrer klarsten, weil direktesten Form zutage. Allen voran spürte Goethe, der, obwohl er als Minister noch vom Duodezfürst protegiert wurde, den mit der Entstehung

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Abbildung 2: Die Funktionsweise des Literaturbetriebs nach Bourdieu

des literarischen Marktes und der Anonymisierung der Adressaten verbundenen Konkurrenzdruck; und litt darunter („Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent“ (1774). (Vgl. Carsten Zelle: Auf dem Spielfeld der Autorschaft. Der Schriftsteller des 18. Jahrhunderts im Kräftefeld von Rhetorik, Medienentwicklung und Literatursystem. In: Klaus Städtke/Ralph Kray (Hrsg.): Spielräume des auktorialen Diskurses. Berlin 2003, S. 1-38, 14.) Der Schriftsteller, er leidet bis heute. Die mediale Macht ausspielend verkündete das Magazin der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel Mit Wonne in die Tonne zum Jahreswechsel 2003/2004 „20 Dinge, die wir im neuen Jahr endgültig los sind“, allen voran Peter Handke, dessen Haarschopf in der Illustration ganz vorne aus der Tonne herauslugt.

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Zu bedenken ist darüber hinaus das Folgende: „Nur wenige soziale Individuen hängen so sehr wie die Künstler und, allgemeiner, die Intellektuellen in dem, was sie sind, und in ihrem Bild von sich selbst von der Vorstellung ab, die sich die anderen von ihnen machen.“27 Das bedeutet: Durch die Kenntnis und die Beachtung der in einem Feld zu einer bestimmten Zeit gängigen Erwartungen, die sich wandeln können, also nur durch die Wahrnehmung der Logik des spezifischen Feldes ist es möglich, in diesem erfolgreich zu handeln. Diese spezifische Logik eines Feldes, das positive Unbewusste, Bourdieu nennt es illusio (und meint den oft latent bleibenden Glauben der im Feld Agierenden an das richtige Handeln innerhalb der wahrgenommenen Strukturen28) legt immer wieder eigendynamisch fest, „was auf diesem Markt Kurs hat, was im betreffenden Spiel relevant und effizient ist, was in Beziehung auf dieses Feld als spezifisches Kapital und daher als Erklärungsfaktor der Formen von Praxis fungiert.“29 Das, was in einem Feld Kurs hat, wird nicht allein feldintern festgelegt, sondern definiert sich im Wechselverhältnis zur Macht, genauer: zum sogenannten energetischen Feld der Macht. 30 Erfolg hat, wer entsprechend der illusio agiert, wer den Code des Systems (um auch an Luhmann zu erinnern) kennt und beherrscht: „Wenn Sie einen Mathematiker ausstechen wollen“, so Bourdieu, „muß es mathematisch gemacht werden, durch einen Beweis oder eine Widerlegung. Natürlich hat man auch die Möglichkeit, daß ein römischer Soldat einen Mathematiker köpft, aber das ist ein ‚Kategoriefehler‘, wie die Philosophen sagen würden.“ 31 Wie gelingt es nun einem Schriftsteller, andere Schriftsteller im öffentlichen Diskurs auszustechen, ohne einen Kategoriefehler zu begehen? Was ist also die illusio des literarischen Feldes oder der Code des Literatursystems, wie Niklas Luhmann es nennen würde. Als Antwort auf diese Frage und Basis weiterer Analyseschritte, ist von folgender Hypothese auszugehen: Die illusio, die Leitlinie an der sich die Schriftsteller in ihren Selbstdarstellungen – bewusst oder unbewusst – orientieren, ist die ‚kreative Intellektualität‘. Stellt man sich diese Leitlinie räumlich-dinglich vor als ein quer über das literarische Feld gespanntes Seil, so positionieren sich einige Schriftsteller wie Grass oberhalb, auf dem Seil der Intellektualität tanzend, während andere unterhalb desselben hängen und sich dennoch mit beiden Händen an diesem festhalten, wie Jelinek, die behauptet: „Ich weiß, dass ich nicht klug bin. […] Unlängst hat mich das Fernsehen zu einer Diskussion eingeladen. Ich habe abgesagt, tut mir leid, ich bin dumm wie Brot, ich kann das nicht.“ 32 Die Subversion ihrer selbst (nicht klug, dumm wie Brot) und ihre Distinktion konstruiert sie,

27 Pierre Bourdieu: Künstlerische Konzeption und intellektuelles Kräftefeld. In: Ders.: Zur Soziologie der symbolischen Formen (1970/1974). Frankfurt a. M. 2003, S. 75-124, 86. 28 Vgl. Pierre Bourdieu: Der Tote packt den Lebenden. Schriften zur Kultur und Politik II. Hamburg 1997, S. 73. 29 Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 194 (Herv. i. O.). 30 Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 203. 31 Pierre Bourdieu: Vom Gebrauch der Wissenschaft. Für eine klinische Soziologie des wissenschaftlichen Feldes (1997). Konstanz 1998, S. 28. 32 Elfriede Jelinek: „Ich bin die Liebesmüllabfuhr.“ Gespräch mit André Müller. In: Weltwoche, 02.12.2004.

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indem sie in den intellektuellen Diskurs eintritt und damit die ungeschriebenen Regeln des Feldes bedient; der Intellekt, sagt sie, erneut auf diesen Bezug nehmend: „Das ist in der Tat meine schwache Seite. Verstand habe ich wenig. Ich kann zum Beispiel keinen philosophischen Text lesen. Wenn Sie versuchen, mit mir einen Gedankengang zu Ende zu gehen, kann es sein, dass Sie mich bereits an der Schwelle verlieren.“33 In ihren zunächst ganz unintellektuell klingenden Selbstäußerungen liefert Jelinek dennoch alle Fahnenwörter des intellektuellen Diskurses (Verstand, philosophischer Text, einen Gedankengang gehen etc.). Sich wiederholend bestärkt Jelinek auch im Interview mit Alice Schwarzer ihre Zugehörigkeit zum Feld: „Ich bin eigentlich auch gar nicht sonderlich intelligent. […] Ich kann keinen klaren Gedanken fassen.“34 Was sagt uns das? „Über die Dummheit“, schreibt Roland Barthes, „sei mir nur folgende Aussage erlaubt: sie fasziniert mich.“ 35 Die so stilisierte, faszinierende Eigenheit, die Jelinek in kreativer Umkehrung aller Prinzipien inszeniert, führt somit sofort zu einem erhöhten Aufmerksamkeitswert, der zunächst mit der öffentlichen Herabwürdigung ihrer selbst („Ich bin ein Trampel. Ich bin unfähig“ 36) verknüpft ist. Weil Jelineks stilisierte Unfähigkeit anhand der illusio des literarischen Feldes verläuft – und als wirkungsmächtige Provokation der illusio zu verstehen ist –, führt der von Jelinek definierte „Defekt“37 im literarischen Feld keineswegs zu einem Verlust an symbolischem Kapital, sondern zur Anhäufung desselben sowie zur wirkmächtigen, relationalen Distinktion von ihren Kollegen, die erst einmal vergleichbare Defekte aufweisen müssen. Kurzum: Bliebe in anderen sozialen Zusammenhängen zu befürchten, dass eine so konstatierte Dummheit nur dem eigenen Schaden diene, so führt Jelinek vor, wie das diskursive Spiel mit den eigenen Mangelerscheinungen als inszenierte Abweichung von der Norm zum Positionsvorteil auf dem Feld der Relationen wird. So gelang es Jelinek, dass selbst der Vatikan erregt reagierte (in Unkenntnis der illusio des literischen Feldes), als sie im Jahr 2004 den Nobelpreis für Literatur verliehen bekam. Man empörte sich darüber, wie eine obszöne, nihilistische Neurotikerin 38 den renommierten Preis erhalten könne. Die Provokation saß tief, immerhin handelt es sich bei Jelinek nicht nur um eine Frau und eine Österreicherin, sondern zugleich um einen der „dümmsten Menschen der westlichen Hemisphäre“, wie der Schriftsteller Martin Mosebach dem einsichtigen Fachpublikum erläuterte (auch hier wieder ein Fahnenwort der illusio, sogar im Superlativ: dümmste). Er habe ein „wahres Wort gelassen ausgesprochen“, konterte Jelinek amüsiert und fügte als Mantra zur Versi-

33 Elfriede Jelinek: „Das kommt in jedem Porno vor.“ Gespräch mit André Müller. In: Profil, 25.06.1990, Nr. 26. 34 Elfriede Jelinek: „Ich bitte um Gnade.“ Gespräch mit Alice Schwarzer. In: Emma, 1989, Heft 7. 35 Roland Barthes: Barthes par lui-meme. Paris 1975, S. 55. 36 Jelinek, „Ich bitte um Gnade“, Emma, 1989, Heft 7. 37 Jelinek, „Das kommt in jedem Porno vor“, Profil, 25.06.1990, Nr. 26. 38 Vgl. L’Osservatore Romano, 12.10.2004, hier zit. u. übers. v. André Müller: „Ich bin die Liebesmüllabfuhr“, Weltwoche, 02.12.2004.

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cherung ihres Positionsvorteils erneut hinzu: „Ich bin tatsächlich dumm.“ 39 Damit entspricht Jelinek der illusio des literarischen Feldes, im Gewand des Dispositivs der Intellektualität. Für die Selbstdarstellungsanalyse ist Bourdieus These zur illusio von entscheidender Bedeutung. Denn die illusio ist in der Regel vorbewusst: „Der Spieler, der die Regeln eines Spiels zutiefst verinnerlicht hat, tut, was er tun muss, zu dem Zeitpunkt, zu dem er es muss, ohne sich das, was zu tun ist, explizit als Zweck setzen zu müssen.“40 Diese Erkenntnis befreit davon, den Selbstdarstellungen eine zuvor genau antizipierte Planung zu unterstellen, die dann zur Aus- und Aufführung käme. Das selbstinszenatorische Handeln als eine zuvor gedanklich entworfene und explizit geplante Aktivität zu betrachten, widerspricht dem natürlichen Verlauf sozialen Handelns nicht nur deshalb, weil Handlungen zuallererst intuitiv sind und sich während des Handelns fortentwickeln (denken wir nur an die Idee Heinrich Kleists zu der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Sprechen), sondern auch, weil der Einzelne nur über begrenzte Informationen und der menschliche Geist nicht über die Mittel verfügt, alle Situationen vollständig (vorab) zu (durch-)denken. Die (Inszenierungs-)Strategien richten sich vielmehr in Gestalt der von Husserl beschriebenen Protention41 auf objektive Möglichkeiten, die in der unmittelbaren Gegenwart direkt gegeben sind, auf Fähigkeiten des Einzelnen, die jeweils spontan aktualisiert werden und in der Situation zur Anschauung kommen . Auch der Habitus42 – um einen weiteren für die Selbstinszenierungsanalyse relevanten Begriff Bourdieus in das theoretische Gerüst zu integrieren – entfaltet sich weitgehend unabhängig von geistigen Kategorien. Der Habitus, der durch die feldund milieutypischen Werte und Verhaltensformen geprägt ist, diese tradiert und gleichzeitig individuell überformt, übernimmt für den einzelnen Akteur in seiner

39 Jelinek, „Ich bin die Liebesmüllabfuhr“, Weltwoche, 02.12.2004. 40 Pierre Bourdieu: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt a. M. (1994/1998), S. 168. 41 Protention ist hier zu verstehen als eine auf die Zukunft ausgeweitete menschliche Intuition, eine aus Erfahrungen und Intuition hervorgegangene Erwartung. (Vgl. Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913). Tübingen 1980.) 42 Wie Noam Chomsky in seiner Sprachtheorie der generativen Grammatik meint Bourdieu, dass Menschen, so auch Schriftsteller, über ein System generativer Strukturen verfügen, das unbegrenzt viele Handlungen hervorbringen kann, die typisch für den Stil des Individuums und für die Art der Situation sind, in der sie sich bewegen (vgl. Beate Krais/Gerd Gebauer: Habitus. Bielefeld 2002, S. 32 f). Der Habitus, die Handlungs-, Wahrnehmungsund Denkmatrix (Vgl. Loïc J. D. Wacquant: Auf dem Weg zu einer Sozialpraxeologie. In: Pierre Bourdieu/Loïc J. D. Wacquant: Reflexive Anthropologie. Frankfurt a. M. 2006, S. 17-94, 39), der diesen Stil prägt, ist das Ergebnis der Sozialisation und als solches als ein Speicher gelebter Erfahrung zu verstehen, aus dem sich das Individuum bedient, wenn es eine Haltung in einer sozialen Situation einnimmt (vgl. Christine Weinbach: „… und gemeinsam zeugen sie geistige Kinder.“ In: Armin Nassehi (Hrsg.): Bourdieu und Luhmann. Ein Theorievergleich. Frankfurt a. M. 2004, S. 57-84, 64).

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imagebildenden, selbstdarstellerischen Handlung zwei Funktionen: Der Habitus wirkt als prä-determinierender Faktor, der jegliche Praktiken und Vorstellungen (auch die wahrgenommene illusio) strukturiert, indem er auf einer tiefer liegenden mentalen, nicht unbedingt bewusst reflektierten Ebene als System dauerhafter Dispositionen fungiert.43 Und er wirkt als generierendes Handlungsprinzip, als ein „Prinzip beschränkter Erfindung“44. Der Habitus ist somit die „kreative Kapazität“ jedes Einzelnen, durch die er seinen Mythos zu gestalten und sein Image mit auszubilden imstande ist. Eine kreative Kapazität, die im System der Dispositionen als „ars – als Kunst in ihrem eigentlichen Sinne der praktischen Meisterschaft – und insbesondere als ars inveniendi angelegt ist“45 und den Einzelnen dazu befähigt, auf der Grundlage seiner spezifischen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata den öffentlichen (auch den literarischen) Diskurs zu beeinflussen. In der inszenierungsanalytischen Praxis eröffnet der Habitus-Begriff die Möglichkeit, „im Zentrum des Individuellen Kollektives zu entdecken.“ 46 Denn der feldinterne Klassenhabitus weist darauf hin, wie jede, oftmals als höchst individuell empfundene Handlung im Grunde eine „durch die Praxis aufeinanderfolgender Generationen innerhalb eines bestimmten Typs von Existenzbedingungen geschaffen[e]“ 47 ist und somit geprägt ist durch vorangegangene, soziale, kulturelle sowie besonders milieu- und auch feldspezifische Erfahrungen und Erwartungen. Der Habitus, der ein sichtbarer Moment des Feld-Effektes, also in Handlungen sichtbar gewordenen illusio ist, verbindet somit den Künstler mit der Kollektivität und seinem Zeitalter, ohne dass dieser es merkt. 48 Die sichtbaren Strukturen des literarischen Feldes (wie etwa Anzahl und Dotierung der Literaturpreise eines Landes, Umfang und Themensetzung innerhalb des Feuilletons oder der Grad der Ausdifferenzierung der Verlagslandschaft) bilden die grundlegende „Partitur, der gemäß sich die Handlungen der Akteure organisieren, wobei die Akteure glauben, jeder improvisiere seine eigene Melodie“49, die jedoch erst im Orchester des gesamten Spiels der Inszenierungen seine kulturhistorische und zeittypische Harmonie ergibt. Fassen wir zusammen: Bei der Analyse schriftstellerischer Selbstinszenierungen mit dem Begriff des Feldes zu operieren, bedeutet, objektive, vom Willen und Bewusstsein der Akteure unabhängige Strukturen zu beachten: die Strukturen des Feldes. Sie bilden den Verstehenshintergrund der Positionierungen. Diese Strukturen der sozialen literarischen Welt bilden sich zudem in den Akteuren durch gedankliche Repräsentation ab. Die relevanten Strukturen führen sozusagen ein Doppelleben – sie

43 Vgl. Bourdieu, Sozialer Sinn, S. 98. Und: Bourdieu, Reflexive Anthropologie, S. 154. Auch: Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft (1972/1976), Frankfurt a. M. 1976, S. 165. 44 Gerhard Fröhlich: Kapital, Habitus, Feld, Symbol (1994). In: Ders./Ingo Mörth (Hrsg.): Das symbolische Kapital der Lebensstile. Frankfurt a. M. 1994, S. 31-54, 38. 45 Bourdieu, Reflexive Anthropologie, S. 154. 46 Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, S.132. 47 Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 229. 48 Erwin Panowsky zit. n. Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, S. 132. 49 Bourdieu, Soziologische Fragen, S. 86.

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existieren zweimal: einmal in den materiellen Gütern und Institutionen, die vom Standpunkt eines unparteiischen, die soziale Welt überfliegenden Beobachters jenseits des Handelns beobachtet werden können; und ein zweites Mal in den inneren, mentalen Schemata, den Gedanken, Gefühlen und Bewertungen, die als symbolische Matrix des praktischen Handelns fungieren und sich als solche in gezeigten Verhaltensweisen objektivieren. Trotz des strukturellen Rahmens ist das literarische Feld dank seiner feldspezifischen Diskurse eine dynamische Größe, die sich in den Grenzen des Systems intern wandeln kann. Der Wandel bezieht sich ebenso auf die Makro-Ebene also auf die Gesamtstruktur des Feldes und die illusio wie auch auf die Mikro-Ebene, auf die Verteilung des Kapitals zwischen den Literaten und ihren Reaktionen auf die wahrgenommene illusio.50 In den ‚Spielräumen‘ des literarischen Feldes geht es deshalb auch stets darum, „die Trümpfe, die stechen“, immer wieder neu auszuhandeln.51 Somit ist das literarische Feld, wie jedes andere soziale Feld auch, ein Praxisfeld, ein Spielfeld und ein Kraftfeld, aber eben auch ein „Kampffeld“52, auf dem strategisch um Positionierungen und Deutungshoheit gerungen wird. Die von den Schriftstellern durch relationale Distinktion errungene Anerkennung ist zudem keine ewig währende, sondern bleibt eine temporäre, die immer wieder neu erkämpft werden muss, und sie bleibt stets eine relationale, hängt sie doch von der vorhandenen Konkurrenz auf dem literarischen Feld ab, die, sofern sie eher bescheiden und prunklos ist, auch die Position des geachteten Schriftstellers mäßig erscheinen lässt. In Abwandlung einer berühmten Formulierung Einsteins oder auch Hegels könnte man deshalb auch sagen: Das Wirkliche ist relational. Eine Tatsache, die Günter Grass einst dazu animierte, einen Aufsatz mit der freundlichen „Bitte um bessere Feinde“53 zu verfassen.

D ER M YTHOS . O DER : W IE DAS I MAGE EINES S CHRIFTSTELLERS ENTSTEHT Der „Mythos“, definiert Roland Barthes, „ist eine Aussage.“ 54 Und eine Aussage wiederum kann, wie wir von Foucault wissen, so ziemlich alles sein: „Man findet Aussagen ohne legitime propositionelle Struktur; man findet Aussagen dort, wo man keinen Satz erkennen kann; man findet mehr Aussagen als man Sprechakte isolieren

50 51 52 53

Vgl. Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 205. Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und Klassen. Frankfurt a. M. 1985, S. 27. Ebenda, S. 74. Günter Grass: Freundliche Bitte um bessere Feinde. Offener Brief. In: Volker Neuhaus/Daniela Hermes (Hrsg.): Günter Grass. Essays und Reden I (1955-1969). Werkausgabe in 14 Bänden. Göttingen 1997, S. 175 ff. 54 Roland Barthes: Der Mythos heute (1957/1964). In: Mythen des Alltags. Frankfurt a. M. 2003, S. 85-151, 85.

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kann“55, ganz so, als sei die Aussage feiner und fragiler als das sprachliche System, weniger mit Determinationen beladen und weniger stark strukturiert, zugleich aber auch allgegenwärtiger. In der Analyse ist die Aussage in der Regel das, was ‚bleibt’, wenn man von der Satzstruktur und der äußerlichen Erscheinungsform abstrahiert, in der sie sich manifestiert (übrigens auch in einer Fotografie). Oder anders formuliert: Obwohl die Sprache und die Aussage dialektisch aufeinander bezogen sind, existieren sie nicht auf derselben Ebene: Die Sprache fungiert vielmehr als Konstruktionssystem für mögliche Aussagen, und jede Aussage wiederum entsteht an der Schwelle der Existenz eines Zeichensystems. Dadurch weist die Aussage stets über die Sprache hinaus und erlangt, mit dem Schwellenübertritt, eine eigene, frei schwebende Form – den inhaltlichen Extrakt. Wenn zuvor, zu Beginn der Arbeit konstatiert wurde, der Mythos sei eine Sprache (und die Assoziation nahelag, sie sei sogar eine prosaische Sprache oder gar eine Form kultureller Poesie, in der sich, wie in jeder Dichtung, Wahres und Fiktives, Alltägliches und Metaphysisches, rational Erklärbares und Unverbürgtes vermischt), so muss an dieser Stelle die Analogie von Mythos und Sprache präzisiert werden: Der Mythos ist keine Sprache, sondern eine Aussage, eine Funktion, „eine Weise des Bedeutens“56, eine Botschaft, die ein Gebiet von Strukturen und möglichen Einheiten anarchisch und nahezu beliebig durchkreuzen kann – und zwar eine Aussage, von der wir noch nicht wissen, was sie eigentlich selbst für eine Struktur besitzt. Dazu ist eine weitere Differenzierung notwendig: Streng genommen ist der Mythos keine einfache Aussage, sondern, auf formaler Ebene betrachtet, eine Aussage zweiter Ordnung, eine hinter der einfachen, ‚normalen’ Aussage sich verbergende zweite Botschaft. Die mythologische Aussage ist „ein sekundäres semiologisches System“57, oder anders formuliert: Der Mythos ist ein zusätzlicher, nicht explizit genannter Sinn, der zu einer Aussage hinzutritt.58

55 Michel Foucault: Was ist eine Aussage? In: Engelmann, Foucault. Botschaften der Macht, S. 49-53, 49. 56 Barthes, Mythen des Alltags, S. 149. 57 Ebenda, S. 149. 58 Im Unterschied zu einem literarischen Werk, um diese Verbindungslinie noch aufzuklären, ist der Mythos kein ästhetisches Produkt, sondern eine alltägliche Praxis; die mythologische Aussage ist keine fixierte Struktur, sondern eine andauernde Strukturierung; sie ist ein gleichsam flüssiger wandlungsfähiger Zustand. Zwar verbindet sich im Mythos (wie in der Kunst) ein theoretisches mit einem künstlerischen Moment, aber trotz dieser Entstehungsanalogie bleibt ein gravierender Unterschied – die unmittelbare Beschaffenheit: „Der Mythos […] besteht vornehmlich aus Handlungen“, die konkret, direkt und flexibel sind (vgl. auch Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen (1944/1990). Hamburg 1996, S. 126). Gleichwohl ist der Mythos ein „Gefühlssubstrat“ (ebenda, S.129) und teils fiktiv, „doch er ist keine bewusste, sondern eine unbewusste Fiktion“ (ebenda, S. 119).

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Stehen Mythen traditionell im Dienste einer vorwissenschaftlichen Erklärung der Lebenswelt,59 so macht der Mythos auch heute noch die Welt durch intellektuelle Reduktion verständlich60 – und modelliert das Ideal einer kohärenten Einheit.61

59 In der Antike wurde mythologische Aussagen meist in einer Figur inkorporiert (in Dionysos, zum Beispiel, wurde die Eigenart „des Jubels“, des Jauchzens und Johlens figurativ überformt und göttlich legitimiert). Heute könne alles zum Mythos werden, wie Barths herausstellt, auch der Wein, der zuvor nur Teilelement des Dionysos-Mythos war – indem ihm ein verallgemeinerndes Denkmodell zugrunde gelegt wird (das Bluthafte, das die ursprüngliche Kraft versinnbildlicht und als mediumartigen Substanz zur Kraft der Natur zurückzuführen vermag). Auch ein Schriftsteller „kann von einer geschlossenen, stummen Existenz zu einem besprochenen, für die Aneignung durch die Gesellschaft offen Zustand übergehen.“ (Barthes, Mythen des Alltags, S. 85 ff) 60 Mythen sind heute z. B.: die Römer im Film („Was ist mit diesen eigensinnigen Haarfransen verbunden? Ganz einfach, die Zurschaustellung des Römertums.“ S. 43), das Gesicht der Greta Garbo („Das Gesicht der Garbo steht ein für jenen flüchtigen Augenblick, in dem der Film eine existentielle Schönheit aus einer essentiellen Schönheit gewinnt, […]; indem die Klarheit des Fleisches einer Lyrik der Frau Platz macht […]. Das Gesicht der Garbo ist Idee […].“ (S. 74 f.) oder das Auto („Ich glaube, dass das Auto heute […] eine große Schöpfung der Epoche [ist], […] die in ihrem Bild, wenn nicht überhaupt im Gebrauch von einem ganzen Volk benutzt wird, das sich in ihr ein magisches Objekt zurüstet und aneignet.“ S. 76). (Barthes, Mythen des Alltags.) 61 Seit Platon in der Antike die griechischen Mythenerzählungen mit dem Attribut des Unwahren und darum Zweifelhaften versehen und in den Bereich der Fiktion verwiesen hat, haben die Mythen in der westlichen Tradition einen schweren Stand. Die Kirchenväter des Mittelalters beschäftigten sich mit den Mythen nur, um die heidnische Lehre, die in den Mythen ihren Ausdruck fand, zu widerlegen. Der Vorwurf der christlichen Amoralität und der Fiktion verhalf den Mythen in den Jahrzehnte der Aufklärung zu neuer Anerkennung, obwohl diese im Zeichen der Überwindung vormodernen Wissens stand: Die Mythologie avancierte zu einem heuristischen Prinzip, das J. G. Herder mit der Begründung verteidigte, dass die Mythen durch ihre sinnliche Evidenz Entdeckungen ermöglichten, die im blinden Fleck des rationalistischen Wahrheitsbegriffs liegen (vgl. J. G. Herder: Über die neuere Deutsche Literatur (1767). In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 1. Hrsg. v. B. Supan, Hildesheim 1968, S. 357-531). Auch Karl Philipp Moritz und Friedrich Schlegel werteten die poetische Struktur und fantasievolle Sprache der Mythen programmatisch auf. (Vgl. K. P. Moritz: Götterlehre (1791). Berlin 1979. Und: F. Schlegel: Gespräch über die Poesie (1800). Paderborn 1985). Die ethnologisch geprägte Mythenanalyse des 20. Jahrhunderts, die sich auf die Vorstellungswelt der schriftlosen, sogenannten „primitiven Völker“ konzentrierte, die Claude Lévi-Strauss in Feldstudien zu rekonstruieren versuchte, markiert eine deutliche Zäsur im Mythen-Verständnis; nicht nur, weil die Mythenanalyse erstmals einen systematischen Zugriff auf die diversen Formen mythischen Denkens erlaubte, sondern auch, weil sie die zuvor als diffus eingestufte mythische Vorstellungswelt von dem zählebigen Stigma der Unterlegenheit gegenüber dem logischen Denken befreit hat (vgl.: C. Lévi-Strauss: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. Darmstadt 1956). Während Ernst Cassirer den Mythen eine menschliche Kulturleistung eigener Art attestiert, hebt in ähnlicher Weise Clifford Geertz den Handlungscharakter hervor, der aus der mythischen Le-

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Strukturalistisch gedacht besteht jeder Mythos aus drei grundlegenden Elementen: In Anlehnung an Saussure fügt Barthes den hinlänglich bekannten Begriffen Signifikant und Signifikat einen dritten Terminus hinzu: das Bedeutete. Dieses Bedeutete stellt die gedankliche Gesamtheit der ersten beiden Begriffe dar und bildet eine neue Ebene, die (mythologische) Meta-Ebene der sprachlichen Aussage. Somit hat der Mythos zwar Wurzeln in der sprachlichen Ebene, nimmt diese Ebene aber nicht wörtlich, sondern fügt der durch die Lautfolge (zum Beispiel: A-U-T-O-R) hervorgerufenen inneren Vorstellung (ein Autor) eine neue Bedeutung durch eine Kontexterweiterung hinzu (der Autor als Symbol für etwas anderes). Barthes erklärt es so: „Ein Baum ist ein Baum. Gewiss! Aber ein Baum, der von Minou Drouet ausgesprochen wird, ist schon nicht mehr ganz ein Baum, er ist ein geschmückter Baum, der […] mit literarischen Wohlgefälligkeiten, mit Auflehnungen, mit Bildern versehen ist, kurz: mit einem gesellschaftlichen Gebrauch, der zur reinen Materie hinzutritt.“62

Anders als bei Saussure ist die Verknüpfung der Elemente keine arbiträre, sondern eine hochgradig motivierte, sie ist diskurs- und kontextabhängig.63 Die mythologische Aussage, die sich um eine Person – oder um ein Objekt oder eine Gegebenheit – rankt, wirkt wie ein Code, der den Wert des Umrankten bestimmt. Mythen funktionieren somit wie eine kosmetische ecriture. Als eine zusätzliche theatralische oder schlicht markante Beschriftung, die der Schriftsteller seinem Leben gibt, eskortiert der Mythos, auch unerkannt, all seine Handlungen. Die empirische Seite der mythologischen ecriture, die Erscheinungsformen der Mythen sind immer „ergreifend, tragisch, schön, lustig, beängstigend, wirr, bequem, lästig, langweilig, unnahbar, tröstlich, prächtig, Angst einflößend; und sie sind dies unmittelbar aus sich selbst heraus […]. Jede Qualität als solche ist ein Letztes; sie ist zugleich Ausgangs- und Endpunkt, eben das, als was sie existiert.“64 Entscheidend bei dieser Beschriftung des Schriftstellerlebens ist, wie der Schriftsteller das „unablässige Versteckspiel von Sinn

bensweltauslegung erwächst (vgl.: E. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen (1923-1929). 3 Bde., Berlin 1997. Und: C. Geertz: Dichte Beschreibung (1983). Frankfurt a. M. 1987) Der Auffassung, dass die mythische Denkform keine ungeordnete ist, sondern eine von der rationalistischen Logik zwar verschiedene, aber nichtsdestoweniger komplexe Struktur aufweist, schließt sich auch Roland Barthes an, der der modernen Mythenforschung ein spezialwissenschaftliches Format verlieh – an das die Ausführungen in dieser Arbeit anknüpfen. 62 Ebenda, S. 86. (Die Französin Minou Drouet ist Schriftstellerin. 1955 hat sie als 8-Jährige den Gedichtband Arbre, mon ami (Mein Freund, der Baum) herausgebracht, der zum großen Erfolg, aber auch zum Skandal führte, da ihr unterstellt wurde, die Gedichte nicht selbst verfasst zu haben, was ihrer Berühmtheit jedoch nicht schadete. Im Gegenteil. 63 Vgl. Roland Barthes: Die Sprache der Mode (1967/1985). Frankfurt a. M. 2004, S. 37 ff. 64 John Dewey: Experience and Nature. Chicago 1925; 96. Hier übers. u. zit. v. Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur (1944/1972). Hamburg 1996, S. 125 f.

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und Form, durch das der Mythos definiert wird“65, für sich entwirft und im Wechselspiel gestaltet. In seinen Elementen und seinem Aufbau kann man sich den Mythos, sehr vereinfacht, so vorstellen:

Sprache

Aussage

Signifkant (Laut)

+

Bedeutung I (Zeichen/Saussure) (arbiträr)

Signifikat (Bild) (imaginiert)

+

Bedeutetes (Imagination)

Bedeutung II (Mythos/Barthes) (motiviert)

Mythos

Abbildung 3: Struktur des Mythos

Betrachten wir ein Beispiel. Elfriede Jelinek bekennt nihilistisch: „Wenn ich meine eigenen Sachen lese, wird mir körperlich unwohl. Ich habe neulich meinen Lektor getroffen. Der hatte ein Manuskript von mir dabei. Während wir gegessen haben, habe ich darin gelesen. Es ist mir übel geworden.“66

Anhand dieses Beispiels lassen sich mehrere Aussagen darüber treffen, wie die intellektuelle Selbstinszenierung funktioniert und wie der Mythos entsteht. Zum einen enthalten die drei im Interview getätigten Äußerungen Jelineks eine sachliche, denotative Ebene der Bedeutung, die den Mythos verschleiert: Dies ist eine Aussage Jelineks und ein Bericht von einem Arbeitstreffen (Ich habe neulich meinen Lektor getroffen). Auf dieser ersten Bedeutungsebene erfahren wir außerdem von Jelineks emotional-konstitutioneller Beklommenheit, von der sie spontan überfallen wird, wenn sie ihre eigenen Texte liest – und das ist immerhin erstaunlich. Dies ist also auch die Bekundung eines Gefühls des Unwohlseins (Es ist mir übel geworden). Zum

65 Barthes, Mythen des Alltags, S. 98. 66 Vgl. Michaelsen, Starschnitte, S. 126.

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zweiten transportiert die Aussage eine zweite, konnotative Bedeutung. Diese ist vage und höchst ambivalent. Weiß man nicht, wer denn eigentlich diese Elfriede Jelinek ist, könnte man versucht sein, ihr artikuliertes Unwohlsein als eine typisch weibliche Schwäche zu deuten. Selbst wenn man Jelinek kennt und die öffentliche Kritik an ihr teilt, könnte man die von ihr geschilderte Szene (Er hatte ein Manuskript von mir dabei und Es ist mir übel geworden) als ein Eingeständnis des Scheiterns auslegen, als ein Moment des Gewahrwerdens eines nicht vorhandenen Talents. „Endlich! Sie sieht es ein.“ Auch das wäre durchaus eine mögliche Lesart. Doch schon in dieser scheinbaren Eindeutigkeit der Interpretation keimt der Zweifel. 67 Und allen, die die von der Autorin intendierte, implizite Botschaft noch nicht aufgenommen haben, hilft sie selbst mit einer Interpretation: „Ich habe einen intensiven Selbsthass empfunden.“68

Der so explizierte, den vorangegangen Sätzen inhärente Selbsthass kodiert ihren Mythos: ihre habituelle Einzigartigkeit, in den die Unterthemen von Sublimationsuntauglichkeit und Distinktion eingebaut sind.69 Mit diesem erklärten Selbsthass legt Jelinek fest, dass die Übelkeit (die auftrat, während wir gegessen haben) den Ursprung nicht in dem servierten Essen, sondern – fast dämonisch – in ihr selbst hat. Machtlos solcherart finstere Gefühle zu sublimieren, kommentiert ihr Selbsthass eine sonst unkommentiert gebliebene, in Jelinek selbst eingeschlossene, brodelnde dämonische Drohung: Das Dämonische zeigt kurz seine Zähne und besteht gleichzeitig auf 67 Auch in der Praxis der Selbstinszenierung gibt es nicht wahre oder falsche Bedeutungen und schon gar nicht die eine wahre Bedeutung: „Bedeutung ‚fließt’, sie kann nicht endgültig festgeschrieben werden.“ (Stuart Hall: Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4. Hrsg. v. Juha Koivisto/Andreas Merkes. Hamburg 2004; 110.) Und: Sie „gewährt niemals den reinen eindeutigen Sieg eines Gegenteils über das andere. Sie enthüllt, indem sie sich vollzieht […] unvorhersehbare Synthesen.“ (Barthes, Mythen des Alltags, S. 149.) Deshalb ist es einzig sinnvoll zu fragen, welche der möglichen Bedeutungen die bevorzugte unter ihnen ist. 68 Elfriede Jelinek im Gespräch mit Sven Michaelsen. In: Michaelsen, Starschnitte, S. 126. 69 Zum Unterschied von Habitus und Mythos: Pierre Bourdieu definiert den Habitus als das inkorporierte Soziale, das sich aus der Zugehörigkeit zu einem sozialen Milieu, durch das man sozialisiert wurde, ableiten und nicht verleugnen lässt. Der Mythos hingegen, im Sinne von Roland Barthes (– der den Mythos zunächst nicht auf Personen, sondern auf Alltags-Gegenstände bezogen hat), ist nicht im Subjekt selbst verankert, sondern konstituiert sich aus bewussten oder unbewussten Zuschreibungen und (Über-)Interpretationen. „Mythisch ist die Zelebration des Sinnlosen als Sinn“, wie Adorno zynisch bemerkt (Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt a. M. 1973, S. 125). Der Mythos ist also auf einer Meta-Ebene der Bedeutung angesiedelt, während der Habitus als „Erzeugungs- und Ordnungsgrundlage für Praktiken und Vorstellungen“ fungiert, die bestimmte Mythen generieren können (Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Frankfurt a. M. 1987, S. 98). Eine Dekodierung der Mythen auf der Meta-Ebene gleicht dadurch der Aufdeckung der partikularen, habituellen Interessen, die hinter den sich universal und natürlich ausgebenden Tatsachen stehen.

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Distanz. Die dämonische Attitüde wirkt somit aggressiv, lasziv durch den Reiz der Gefahr. Sie affiziert, lockt und verlangt, ehe sich Jelinek scheu, bescheiden und vorgeblich labil wieder dem Mittagstisch, ihrer Speise widmet, die von ihr verzehrt werden will. Der Kunstgriff zur Erreichung der Distinktion und der mythologischen Wirkung offenbart sich nicht zuletzt in der unterschwellig, doch zielstrebig auf die mythologische Kernbedeutung hinstrebende innere Dramaturgie ihrer Aussage: Der erste Satz benennt auf der abstrakten Ebene das Thema (Wenn ich meine eigenen Sachen lese, wird mir körperlich unwohl) und bereitet die Rezeption vor; der zweite Satz schwenkt auf die Erlebnisebene und führt in die Szene ein (Ich habe neulich meinen Lektor getroffen), die Protagonisten sind benannt; im dritten Satz folgt die Einführung des den weiteren Verlauf der Begegnung bestimmenden Gegenstandes (Der hatte ein Manuskript von mir dabei). Und dann nimmt die Handlung ihren Lauf (Während wir gegessen haben, habe ich darin gelesen), strebt jäh ihrem Ende zu, kulminiert und nimmt eine überraschende Wendung (Es ist mir übel geworden); ja, liefert sogar noch einen finalen Nachsatz, einen Abspann, in dem sich die gesamte Szene verdichtet (Ich habe einen intensiven Selbsthass empfunden). Der Nachsatz, der in seiner semantischen Parallelität zum ersten Satz den mythologischen Kreis schließt, hebt gleichzeitig Jelineks Sublimationsunfähigkeit, ihre Differenz hervor (der Selbsthass ist zu diesem Zwecke stark ausgeprägt und zweifellos sehr intensiv) und festigt so die intendierte Botschaft. Damit sind wir bei einer weiteren Komponente des Mythos angelangt: Die habituelle Einzigartigkeit (das verspürte Übel, in der Steigerung der Hass) wird unhintergehbar dadurch zum Mythos, dass die veranschaulichte Eigenheit Jelineks in der Mitteilung erstarrt. In dem Augenblick, in dem die Aussage den Adressaten erreicht, wird sie „reglos, reinigt sich, macht sich unschuldig“70. Der explizierte Selbsthass wendet sich unmittelbar von jeglichen stilisierenden, ja künstlichen Mechanismen ab. Gegen Übelkeit ist man schließlich machtlos. Durch „das Natürlichmachen“71 der inszenierten Dämonie gelingt es Jelinek die subjektive Intention rational einzukleiden und auf diese Weise ihren kreierten Mythos objektiv vorhanden und naturgegeben erscheinen zu lassen. Somit diffamiert die mythologische Botschaft die Realität, indem die Wirklichkeit ihr zum Instrument und das Subjektive kosmetisch zur faktischen Gegebenheit wird. Dieses subtile Spiel bedingt, dass die Wirkung des Mythos, in unserem Beispiel der Beleg der Dämonie und des Selbsthasses Jelineks, stärker ist als jede rationale Erklärung, die ihn direkt dementieren könnte. Stellen wir zum Zwecke der weiteren Analyse die Parallelität zur bereits grafisch dargestellten Struktur des Mythos her und rasch das semiotische Schema auf: Das gewählte Beispiel besteht aus einfachen Aussagesätzen, das primäre System ist rein sprachlich, linguistisch; auf der ersten Ebene (Bedeutung I) haben wir die Aussage wörtlich vor uns liegen, sie ist klar, ohne Doppeldeutigkeit: Ich habe neulich meinen Lektor getroffen. Die sekundäre Ebene (Bedeutung II) hingegen überformt die erste Bedeutungsebene durch eine Anzahl bewusst oder auch intuitiv gesetzter lexikali-

70 Barthes, Mythen des Alltags, S. 107. 71 Ebenda, S. 114.

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scher, semiotischer, kontextueller, rational bedachter, kunstvoll narrativer und stilisierter Elemente wie Kontrastierungen und semantische Brechungen (Er hatte ein Manuskript von mir dabei und Es ist mir übel geworden), Übertreibungen und sarkastische Zuspitzungen (Ich habe einen intensiven Selbsthass empfunden) und eine reflektierte Ausgestaltung, in Momenten (einem offenen Interview), in denen man, vorläufig anspruchslos, Authentizität und Spontaneität erwarten könnte. Auch unmittelbar auf der Wortebene – durch die Wahl der Verben (ich habe … empfunden) und die passive Form (mir wird körperlich unwohl und es ist mir übel geworden) – bestärkt Jelinek den Eindruck einer empfindsamen, haltlos den Umständen erliegenden Frau: Das so von ihr evozierte Bild der Weiblichkeit markiert jedoch lediglich eine besonders beeindruckende Fallhöhe, wie sie aus dem klassischen Drama bekannt ist. Die vordergründige Empfindsamkeit übernimmt die Funktion der Verschleierung des Mythos, der erst in der Entstellung seine gegensätzlich angelegte Botschaft offenbart. Der Jelinek-Mythos inszeniert die auf das Dämonische zurückgehende Differenz und die Sublimationsuntauglichkeit als authentisches Faktum. Der Subtext der ersten Bedeutungsebene und das Bild der sensiblen, passiv ausgelieferten, leicht zu irritierenden Seite der Persönlichkeit (mir ist übel geworden) wird dabei von der Botschaft der zweiten Bedeutungsebene (das Übel in ihr) überlagert. So gelingt es Jelinek, erstens, eine Unterscheidung zu markieren und, zweitens, diese Unterscheidung öffentlich sichtbar zu machen und, drittens, diese Unterscheidung als natürlich gegeben erscheinen zu lassen. Wir sind hiermit beim eigentlichen Prinzip des Mythos angelangt: Er verwandelt Subjektives in Naturgegebenes. „Die Sache, die bewirkt, dass die mythische Aussage gemacht wird, ist vollkommen explizit, aber sie gerinnt sogleich zu Natur. Sie wird nicht als Motiv, sondern als Begründung gelesen. […] Der Mythos ist eine ‚exzessiv‘ gerechtfertigte Aussage.“72

In der Essenz der Wirksamkeit der dargelegten Elemente gewinnt der Mythos seinen emergenten und eindringlichen Charakter; er ist nicht zu vervollkommnen und zugleich unbestreitbar. Der Mythos ist weder eine Lüge noch ein Geständnis, er ist eine Abwandlung, genau genommen: eine Wirkung. Wenn die individuellen Schriftsteller-Mythen anständig konstruiert und inszeniert sind, funktionieren sie wie ein komplexer Text, wie ein feinmaschiges Netz. Dann sind Mythen wie Spinnweben: „[…] dicht, konzentrisch, transparent, wohlgefügt und befestigt. Sie ziehen alles in sich hinein, was da kreucht und fleucht. Metaphern, die flüchtig sie durcheilen, werden ihnen zur nahrhaften Beute. Materialien kommen ihnen angeflogen. […] Wo der Gedanke eine Zelle der Wirklichkeit aufgeschlossen hat, […] bewährt [er] seine Beziehung zum Objekt, sobald andere Objekte sich ankristallisieren. Im Licht, das er auf einen bestimmten Gegenstand richtet, beginnen andere zu funkeln.“73

72 Barthes, Mythen des Alltags, S. 113. 73 Adorno, Minima Moralia, S. 97, § 51.

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In diesem funkelnden Wechselspiel der Metaphern, der Bilder und der Kommentare verbirgt der Mythos seine dunkle Seite: Er fungiert als Alibi des Schriftstellers: „[A]uch im Alibi gibt es einen erfüllten [offenkundigen] und einen leeren [zu erkundenden] Ort.“74 Indem Jelinek ihre Dämonie als offenkundigen und für alle zugänglichen Ort entfaltet, an dem sie vorgibt zu sein, verbirgt sie den „leeren“ Ort, ihr privates, nicht-öffentliches Sein. Diese Alibi-Strategie verdeutlicht eine letzte Eigenart des Mythos: Der Mythos hat, wenn wir ihn als Alibi verstehen, nicht die letztgültige Wahrheit als Sicherung, sondern nur das Feld, in dem er in konzentrischen Kreisen seine Wirkung erzielt. Darin liegt jedoch seine eigentliche Stärke. In seiner Alibi-Funktion weist der Mythos eine gewisse Nähe zum Topos auf, dessen Definition Aristoteles in seinen Rhetorik-Schriften wenn auch nur vage als „besonderes Muster“ im Rahmen seiner Ausführungen zu den Enthymemen 75 entwickelt hat. Um dieses topische Argumentationsmuster zu erfassen, helfen keine formal-logischen und methodisch strengen Schlussfolgerungen weiter, sondern einzig quasi-logische, im weitesten Sinn kreativ-abstraktere Schlussfolgerungsverfahren, die auf Plausibilität, aber nicht auf Wahrheit abzielen.76 Sowohl durch den ToposBegriff (dessen wissenschaftliche Verwendungsweise begrenzt und zumeist auf die traditionellen Textanalyse beschränkt ist)77 als auch durch das (komplexere und differenziertere, weil über die reine Textanalyse hinausweisende) Konstrukt des Mythos werden kommunikationslatente Argumentationsmuster quantifizierbar, die Aussagen über Tendenzen von (textimmanenten und) gesellschaftlich virulenten Denkweisen ermöglichen. Beruhen die mythologischen wie die topischen Schlussfolgerungen zwar nicht auf Wahrheit, sondern auf Plausibilität, so sind sie doch keinesfalls belie-

74 Barthes, Mythen des Alltags, S. 104. 75 Enthymeme sind bekanntlich Schlussfolgerungen auf der Grundlage von Wahrscheinlichkeit: Eine Prämisse fehlt, wird aber in Gedanken ergänzt. 76 Die unterstellte Nähe des Mythos zum aristotelischen Topos intensiviert sich, sobald die vier von Lothar Bornscheuer aus dem aristotelischen Topos-Begriff abgeleiteten Strukturmerkmale mit denen des Mythos verglichen werden. Nach Bornscheuer ist ein Topos: (1.) habituell, d. h. durch soziale Konventionen verbreitet (= Habitualitäts-Merkmal), (2.) abstrakt, d. h. er verfügt über einen Interpretationsspielraum; er kann mit jeder sprachlichen Handlung modifiziert werden (= Potenzialitäts-Merkmal), (3.) intentional, d. h. durch ihn werden individuelle Interesse verfolgt (= Intentionalitäts-Merkmal) und (4.) symbolisch, d. h. Topoi können unterschiedlich symbolisch, sprachlich, bildlich realisiert werden (= Symbolizitäts-Merkmal). (Vgl. Lothar Bornscheuer: Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft. Frankfurt a. M. 1976.) 77 Zur Kritik an der analytischen Tragkraft des Topos für soziologische Analysen vgl.: Martin Wengeler: Möglichkeiten und Grenzen der topologischen Analyse gesellschaftlicher Debatten. In: Ingo H. Warnke (Hrsg.): Diskurslinguistik nach Foucault. Berlin 2007, S. 165188; siehe etwa S. 166: „Mit der Analyse von Topoi können nur Diskurssegmente erfasst werden und nicht ein ganzer Diskurs und auch nicht die ganze Vielfalt epistemischer Momente, die für das Verstehen jeglicher Äußerung eine Rolle spielen und die eine ‚reiche’, epistemologisch orientierte Semantik bzw. eine tiefensemantische’ Analyse gesellschaftlichen Wissens zu berücksichtigen hat.“ (Herv. i. O.)

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big. Sie arbeiten – um erneut an den Bereich des Kriminologen anzuschließen – im Untergrund. Dort sind auch ihre Methoden beheimatet.78

Wie analysiere ich einen Mythos? Um den Mythos, jenes Wechselspiel zwischen latentem Sinn und manifester Form, das einer Art Kipp-Figur gleicht, zu untersuchen, ist nicht allein eine ideologiekritische Gesinnung von Nutzen, sondern vielmehr ein wissenschaftliches Instrumentarium; denn die (mythologische) Aussage ist ein munteres und bewegliches Extrakt, das, wenn man versucht es zu erfassen, kaum greifbare Elemente bereithält. Weil sich Aussagen anders als das streng strukturierte sprachliche System, anders als durchkomponierte Texte und anders als zerlegbare Gegenstände als reine und offene Funktionen konstituieren, bei denen man nur „durch die Analyse oder Anschauung entscheiden kann, ob sie einen ‚Sinn ergeben’ oder nicht“, brauche man „nicht zu staunen, dass man für die Aussage keine strukturellen Einheitskriterien gefunden hat“, meint Foucault.79 Roland Barthes hingegen entwickelte längst ein semiologischmethodologisches System für „die subtile Analyse von Sinnprozessen“80, das er jedoch nur in praxi verwendete,81 ohne es in ein Theoriemodell zu übertragen. Wie in der Literaturwissenschaft, mehr noch: wie in der Psychoanalyse basiert die Analyse des mythologischen Kipp-Phänomens auf der geschickten, funktionalen Verknüpfung von offenkundig gegebenem und latentem Gehalt des Zeichensystems. 82 Mit Hilfe zweier wesentlicher Prinzipien, der „Referenz“ und der „Subversion“83, prakti-

78 Die Mythen-Analyse folgt dem Prinzip des Gegen-den-Strich-Lesens (reading against the grain); sie rebelliert damit gegen die im Alltag wirksamen, doch unreflektiert und latent bleibende Gemeinplätze, indem sie pragmatisch, doch ideologiekritisch versucht, „in das System des Sinns Risse zu schlagen“ und die selbstverständlich erscheinenden Perspektive durch die Evokation tendenziell denaturalisierender Effekte zu unterlaufen (Roland Barthes: Das semiologische Abenteuer (1985/1988). Frankfurt a. M. 2007, S. 11). 79 Michel Foucault: Was ist eine Aussage? In: Engelmann, Foucault. Botschaften der Macht, S. 49-53, 53. 80 Roland Barthes: Das semiologische Abenteuer (1985/1988). Frankfurt a. M. 2007, S. 8 81 Vgl. Roland Barthes: Einführung: Methode. In: Die Sprache der Mode (1967/1985). Frankfurt a. M. 2004, S. 11-66. 82 Der exakte, analytische und dekodierende Blick gleicht, bildlich gesprochen, dem Blick eines Bahnreisenden, der in einem fahrenden Zug sitzt und die Landschaft durch die Scheibe betrachtet: Er kann seinen Blick entweder auf die Scheibe oder die Landschaft einstellen. In ähnlicher Weise können wir bei der Analyse der mythologischen Praktiken der Selbstinszenierungen den Blick auf die naheliegende Glasscheibe, die erste Bedeutungsebene der Aussagen richten. Oder wir können versuchen, durch die Glasscheibe hindurch auf die zweite Bedeutungsebene zu blicken und die weitläufige Landschaft der hinter der offenkundigen Ebene liegenden Bedeutung zu erkennen. 83 Carlo Brune: Roland Barthes. Literatursemiologie und literarisches Schreiben. Würzburg 2003, S. 92.

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ziert Barthes eine beinahe dekonstruktivistische Arbeitsweise, die auf der InfrageStellung der auf den ersten Blick eingängigen Botschaft basiert. Carlo Brune identifiziert drei auf beiden Prinzipien aufbauende Techniken der Mythen-Dekonstruktion84 bei Barthes, die sich verallgemeinern lassen: „Ein häufig verwendetes Verfahren ist dabei das des ungewöhnlichen Vergleichs. […] Eine andere Technik gründet auf Barthes’ ‚novellistic eye for the detail’. Einzelne Funktionselemente […] werden über eine mikroskopische Vergrößerung derart aufgebläht, dass […] der Mythos so zersetzt wird. […] Des Weiteren sind seine Artikel von [...] Sarkasmus durchzogen […]. All diesen Techniken gemeinsam ist, dass sie die Deformationen der mythischen Sprache selbst deformieren, hierüber leerlaufen lassen und […] entlarven.“85

Während der ungewöhnliche Vergleich die Kenntnis des Kontextes erfordert und die Fähigkeit der fließenden Fusion des Wissensrahmens mit dem Vorhandenen, genügt für die zweite Technik, the novellistic eye for the detail, eine genaue Materialstudie und die Fähigkeit, Kleinigkeiten und ungewöhnliche Details, die der Text (oder auch die bildliche Darstellungsform) offenbart, wahrzunehmen und in einem nächsten Schritt synthetisch zu vergrößern (mikroskopische Vergrößerung). Aus diesen Strategien lässt sich eine weitere entwickeln: die konterkarierende Allegorie, also die spiralförmig hermeneutisch-allegorische Erweiterung des Wissens, die das vom Schriftsteller Gesagte dekontextualisiert, in dem es die Äußerung mit Begriffen aus verwandten Wortfeldern anreichert und damit denaturalisiert. Ein Beispiel werden wir uns gleich anschauen. Die letzte von Carlo Brune herausgestellte Strategie des Sarkasmus lässt sich durch eine mit dem Sarkasmus verwandte Strategie ergänzen: der Verschiebung und Vertauschung der Elemente der denotativen und konnotativen sprachlichen Ebene, die eine ungewöhnliche Neuverknüpfung des Wissens gestattet. Die in Teilen sarkastische Verschiebung erinnert auch an Sigmund Freud, der in seiner Traumdeutung den Verdichtungs- und den Verschiebungsvorgang86 nicht nur als zwei Momente der Traumarbeit beschrieben hat, sondern diese Techniken der Traumarbeit auch mit denen der Techniken des Witzes analogisierte: Die Verschiebung im Traum zeige „mit der Witztechnik die größte Ähnlichkeit“ 87, schreibt er. Beide Strategien harmonieren zudem mit den Strategien mythologischer Dekonstruktion: In allen drei Fällen, der Traumarbeit, der Witztechnik und der Mythende-

84 Die Raffinesse des Mythos besteht darin, dass der Mythos exakt in dem Moment, indem er analytisch rekonstruiert wird, ideologisch zerfällt. Konstruktion und Dekonstruktion sind eins. 85 Brune, Roland Barthes, 101 ff. 86 Während die zwei von Freud eingeführten Begriffe Verschiebung und Verdichtung bereits von der psychoanalytisch orientierten Sprachwissenschaft aufgegriffen und in ihrer Qualität mit jener der Metapher und der Metonymie gleichgesetzt wurden, ist für die mythologische Diskursanalyse der Prozess der Entstehung von Verschiebungen, Entstellung und Dekonstruktionen relevant, der dem sichtbaren Ergebnis vorausgeht. 87 Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten (1905). Frankfurt a. M. 2006, S. 45.

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konstruktion, handelt es sich um einen geistigen und verbalen Prozess der Verdichtung. Michel de Certeau sah die Analogie und benannte das Prinzip, das diesen kommunikativen Handlungen zugrunde liegt und das das Unbewusste, die Pointe oder den Mythos hervorbringt, als eine Form raffinierter „Sprachmanipulation“88: „verbale Verkürzung und Verdichtung, Doppelsinnigkeiten und Widersinnigkeiten, Verschiebungen und Alliterationen, mehrfache Verwendung desselben Materials etc.“89 Mit Hilfe der Vorgänge, die Freud am Beispiel des Witzes darstellt, werden dabei „frech Elemente miteinander in Verbindung gebracht, die etwas anderes in der Sprache […] aufblitzen lassen“90 und auf der praktischen Ebene Äquivalente für das Gesagte und das dadurch initiierte wie bald kolportierte Image sind. Ein Beispielsatz kann dies vielleicht verdeutlichen: „Der ungläubige Thomas, der den Finger in die Wunde legt, war immer einer meiner liebsten Apostel.“91

Auf diese Weise legitimiert Günter Grass, bibelfest und nächstliebend, seine so in den Status der heiligen Bekehrung rückenden verbalen Einwürfe. Mit diesem überschaubar konstruierten Satz, ein Hauptsatz mit einem eingeschobenen Relativsatz, entnommen aus einem Werkstattgespräch des Schriftstellers mit dem Journalisten Harro Zimmermann, legt Grass zahlreiche Spuren, die zu seinem Image des MoralApostels führen und die seine Zugehörigkeit zum literarischen Feld sowie seine Rolle als öffentliche intellektuelle Instanz (als desjenigen, der den Finger in die Wunde legt) festigen. Sprachartistisch erteilt sich Grass mit diesem Sprechakt nicht nur den himmlischen Segen zu der für andere durchaus schmerzhaften Einmischung, sondern lässt dies durch die Eröffnung möglicher Verschiebungen und semantischer Verdichtungen (mein [liebster] Apostel  mein/mich/ich + Apostel  Apostel-Ich) und durch die Einbettung in den religiösen Diskurs zugleich als von Gott gewollt erscheinen. Könnte man auch versucht sein, die Grass’sche Affinität für die Ungläubigkeit (der ungläubige Thomas […] einer meiner liebsten) als ehrenrührige Eigenheit zu betrachten, konturiert der Subtext seiner Aussage doch das Gegenteil. Mit der Tugend des Ungläubigen und des Zweiflers reiht sich Grass nicht nur in die Tradition des kritischen Denkens ein, sondern versäumt es auch nicht, sich mit heiligem Ernst durch die Überformung des christlichen Diskurs in gedankliche Nähe zu den zwölf Aposteln (als Stellvertreter des ungläubigen Thomas) zu bringen und sich damit einen Stammplatz am Abendmahltisch des Retters der Menschheit zu reservieren. Der geistige Prozess der Verdichtung und Entschleierung von Doppelsinnigkeiten ist demnach ein Abstraktionsverfahren, das „einerseits die psychischen hochwertigen Elemente ihrer Intensität entkleidet und andererseits auf dem Wege der Überdetermi-

88 89 90 91

Michel de Certeau: Kunst des Handelns (1980). Berlin 1988, S. 93. Ebenda, S. 92. Ebenda, S. 90. Günter Grass: Vom Abenteuer der Aufklärung. Werkstattgespräche mit Harro Zimmermann. Göttingen 1999, S. 39.

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nierung aus minderwertigen neue Wertigkeiten schafft.“92 Kurzum: Gedanken und „Worte sind ein plastisches Material, mit dem sich allerlei anfangen lässt“93, bestätigt uns Freud. „Wie der Witz eine Taschenspielerei mit Ideen und Vorstellungen ist“, so sei die mythologische Selbststilisierung (Clausewitz nennt sie „die List“) „eine Taschenspielerei mit Handlungen“94. Dahinter steckt die besondere Strategie, die sich nicht nur listig-spielerisch, sondern auch, von der anderen Seite, wissenschaftlich nutzen lässt. Zur analytischen Verdichtung und wissenschaftlichen Entkleidung des Image mithilfe semiotischer und psychologischer Strategien, ist jedoch die Kenntnis des Diskurses und die illusio des Feldes wesentlich, indem sich das Image entfaltet – in eben jener Art wie es der Kontext für den Witz oder der rationale, lebensweltliche Hintergrund für den Traum ist.

D ER D ISKURS . O DER : W IE MAN

DAS I MAGE ZU GREIFEN BEKOMMT

Während der Mythos eine sich in bestimmten Figurationen manifestierende Denkund Bewertungsweise ist, liefert der Diskurs die sprachlichen und symbolischen Bedingungen für die Entstehung und Entfaltung dieser mythischen, imagebildenden Aussagenfiguration. Mit dem Begriff Diskurs liegt ein Bedeutungsfeld vor, dessen Differenziertheit und inflationärer Gebrauch kaum größer sein könnte und das die mit ihm verbundene Unklarheit fachmännisch verdeckt:95 Diskurse können ganz allgemein Verbünde konkreter inhaltlich zusammengehöriger Texte sein oder aber, abstrakter, Amalgamierungen von Themen; Diskurse können als Spuren und Fährten von Wissenssegmenten jeglicher symbolischer Art aufgefasst werden oder als Korrespondenz- und Äußerungsformen des unterschiedlichen Denkens und Argumentierens; Diskurse können somit auch im weitesten Sinne Dia-

92 Sigmund Freud: Die Traumdeutung (1905). Frankfurt a. M. 1991, S. 312. 93 Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten (1905). Frankfurt a. M. 2006, S. 50. 94 Carl von Clausewitz: Vom Kriege. Bonn 1980, S. 387. 95 Zur etymologischen und historische Entwicklung des Diskurs-Begriffs, einführend: Ingo H. Warnke: Diskurslinguistik nach Foucault. Dimensionen einer Sprachwissenschaft jenseits textueller Grenzen. In: Ders. (Hrsg.): Diskurslinguistik nach Foucault. Berlin 2007, S. 324. Zu aktuell vorherrschenden Dimensionen des Diskurs-Begriffs, zusammentragend: Sara Mills: Diskurs. Begriffe, Theorie, Praxis. Tübingen 2007. Zur Entwicklung des DiskursBegriffs bei Foucault: Hans E. Bödeker (Hrsg.): Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte. Göttingen 2003. Und reflektierend: Johannes Angermüller: Diskurs als Aussage und Äußerung. Die enunziatorische Dimension n den Diskurs-Theorien Michel Foucaults und Jacques Lacans. In: Ingo H. Warnke (Hrsg.): Diskurslinguistik nach Foucault. Theorie und Gegenstände. Berlin 2007, S. 53-80. Grundlegend, auch anwendungsorientiert: Klaus-Michael Bogdal: Historische Diskursanalyse der Literatur. Theorie, Arbeitsfelder, Analysen, Vermittlung. Opladen 1999.

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loge sein und in sehr weitem Sinn ein virtueller, weil niemals materiell ganz zu erfassender, in einem bestimmten gesellschaftlichen Bereich existenter Dialog, der sich in einem weit verstreuten Textkorpus manifestiert. In der literaturwissenschaftlichen Forschungspraxis hat sich die Ansicht etabliert, dass der Diskurs eine Menge aufeinander verweisender Aussagen zum gleichen Themenkomplex ist, wobei grundsätzlich zwischen dem virtuellen Gesamtkorpus und dem selektiv ausgewählten Untersuchungskorpus zu unterscheiden ist. Diskurs verstanden als Dialog zielt dabei nicht auf die Erreichung eines Konsens ab (wie in der Diskursethik von Jürgen Habermas angestrebt), sondern hat vielmehr zum Ziel, den Fortbestand des Diskurses zu sichern – und damit auch die Macht, die jedem Diskurs eingeschrieben ist oder, pragmatischer, den Einfluss, der jedem Kommunikationsakt innewohnt sowohl aufrechtzuerhalten als auch fortzuschreiben.96 An dieser Stelle soll sich der Zugriff auf das Feld diskursiver Formationen mit einer Diskurs-Definition aus der Feder Foucaults begnügen: Diskurse sind demnach die „Gesamtheit der Zeichen“97, die inhaltlich aneinander gebunden sind; sie sind somit als intertextuelle Kommunikationsakte zu definieren, sie sind die „in ihrer Form verschiedenen, in der Zeit verstreuten Aussagen“98 und sie sind „dasjenige, womit man kämpft; er [der Diskurs] ist die Macht, derer man sich zu bemächtigen sucht“99, spezifiziert als dasjenige, das der Schriftsteller vermittels öffentlicher Aussagen und Inszenierungen zu beherrschen bestrebt ist.100 Diskurse haben zudem die

96

Vgl. Claudia Fraas/Michael Klemm: Diskurse. Medien. Mediendiskurse. In: Dies. (Hrsg.): Mediendiskurse. Bestandsaufnahme und Perspektive. Frankfurt a. M. 2005, S. 18.

97 98

Michel Foucault: Archäologie des Wissens (1969/1973). Frankfurt a. M. 2005, S. 74. Ebenda, S. 49. An anderer Stelle ähnlich: Diskurse sind „die Gesamtheit aller effektiven Aussagen (énoncés) (ob sie gesprochen oder geschrieben sind, spielt dabei keine Rolle)“, aber auch „eine Fülle von Ereignissen“ (ebenda, S. 41). In diesem Verständnis begründet liegt die Ursache, dass Diskurse nicht in gleicher Weise wie die Sprache analysiert werden können. Denn während die Sprache eine endliche Menge an Regeln bereithält, die eine unendliche Zahl von Aussagen erlaubt, und sich die Sprach-Analyse mit der Frage beschäftigt, gemäß welcher Regeln eine Aussage konstruiert worden ist, fragt die diskursive Analyse, wie es überhaupt dazu kommt, dass eine bestimmte Aussage (ein inhaltlicher Extrakt) auftaucht und keine andere Aussage an ihrer Stelle. Die Diskurs-Analyse interessiert sich im Vergleich zur Sprach-Analyse somit dafür, die Aussage – nicht die Äußerung – in der Enge der Besonderheit ihres Ereignisses zu erfassen sowie Korrelationen mit anderen Aussagen aufzustellen, die mit ihr verbunden sind.

99

Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. In: Jan Engelmann (Hrsg.): Foucault. Botschaften der Macht. Stuttgart 1999, S. 54-73, 55.

100 Foucault geht sogar so weit zu behaupten, das Bezugssystem der Diskurse sei „nicht das

große Modell der Sprache und der Zeichen, sondern das des Krieges und der Schlacht“; die Diskursivität des Lebens, die uns mitreißt und determiniert, sei eine „kriegerische“ (Michel Foucault: Wahrheit und Macht. Gespräch mit Alessandro Fontana. In: Michel Foucault: Dispositive der Macht. Berlin 1978, S. 21-54, 29.) Diese Idee hat er mit Pierre

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faszinierende Eigenheit, dass sie Perspektiven und Praktiken, aber auch mythologische Effekte performativ101 hervorbringen: In dem Moment, in dem das Gemeinte sprachlich (z. B.: „Ich habe einen intensiven Selbsthass empfunden“) oder bildlich (z. B. Kempowski) ausgedrückt wird, bringt es zugleich die Realität hervor (in diesem Fall: der Selbsthass und das Leiden als reale Referenzpunkte des jeweiligen Diskurses). Diskurse sind deshalb letztlich als „Praktiken“ zu verstehen, „die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.“102 Diskurse sind dann „so wie man sie hören kann und so wie man sie in ihrer Textform lesen kann, nicht, wie man vielleicht erwarten könnte, eine reine Verschränkung der Dinge und der Wörter“ 103, sie sind kein dunkler, mysteriöser Rahmen der Inszenierungen, aber auch keine greifbaren, sichtbaren und farbigen Kette der Wörter, nicht allein verbale Stilisierungen, „keine dünne Kontakt- und Reibefläche einer Wirklichkeit und einer Sprache“104, sondern die Gesamtheit der Praxis, des Handlungsrahmens und der Aktivität. Aus diesem offenen Diskursverständnis erwächst die wissenschaftliche Forderung, die Punktualität wahrzunehmen, in der der Diskurs aufscheint, und den Diskurs in jener zeitlichen Streuung zu erkennen, die ihm gestattet, wiederholt, gewusst, vergessen, transformiert zu werden, sowie zugleich die Ruhe zu erschüttern, mit der man bereit ist, den Diskurs in seiner gegenwärtigen Form zu akzeptieren. In der Diskursanalyse105 werden die verstreuten Aussagen aus der alltäglichen Praxis (also „der gesagten Dinge, genau und insoweit sie gesagt worden sind“106) zu einem eigenen Korpus zusammengefügt und in einer Art Koordinatensystem zueinander in Beziehung gesetzt.107

Bourdieu gemeinsam: Auch für Bourdieu sprechen, handeln und argumentieren Akteure, um Deutungshoheit zu erlangen. Doch hier hören schon die Gemeinsamkeiten auf, da für Foucault nur Diskurse, also Sprach- und Denkweisen gesellschaftliche Macht erlangen können, nicht aber einzelne Akteure. (Foucaults Ansichten könnte man mit denen Luhmanns erklären, dessen (simplifizierendes) Motto als abgewandeltes Diktum Heideggers lautet: Nur die Kommunikation kommuniziert, nicht aber das einzelne Subjekt, das – wie wir bereits gesehen haben – für die poststrukturalistische Philosophie keinen theoretischen Wert hat.) 101 Vgl. John Searle: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay (1969/1971). Frankfurt a. M. 1971. 102 Michel Foucault: Archäologie des Wissens (1969/1981). Frankfurt a. M. 2005, S. 74. 103 Foucault, Archäologie des Wissens, S. 74. 104 Ebenda, S. 74. 105 Zur Geschichte und Entwicklung der Diskursanalyse: Jacques Guilhaumou: Geschichte

und Sprachwissenschaft. Wege und Stationen (in) der ‚analyse du disours’. In: Reiner Keller (Hrsg.): Handbuch sozialwissenschaftlichem Diskursanalyse. Bd. 2: Forschungspraxis. Wiesbaden 2003, S. 19-66. 106 Ebenda, S. 159. 107 Da es unmöglich ist, die Gesamtheit der Kommunikationsakte, aus denen ein Diskurs

besteht, zu untersuchen, empfiehlt es sich, die wichtigsten Texte und Ereignisse zu analysieren – solange man ein brauchbares Kriterium dafür hat, was sie wichtig macht. Wovon

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Jeder neue Diskursbeitrag besteht zum großen Teil aus Wiederholungen in mehr oder weniger abgewandelter Form von Passagen früherer Texte, wozu dann der eine oder andere Punkt hinzugefügt wird. Die meisten Verweise sind implizit. Häufiger als man denkt, finden sich wortwörtliche Übernahmen, noch öfter sinngemäße Paraphrasen, manchmal ausdrückliche Zustimmungen neben deutlichen Zurückweisungen. All diese Verweise stellen Spuren dar aus früheren Texten.108 In dem Diskurs um Elfriede Jelinek schreiben sich die von Jelinek gelegten Spuren in Form von Erwartungen und impliziten Bildern ein, die weitgehend unreflektiert die Anschlusskommunikation beeinflussen können und beizeiten direkt zur Anschauung kommen, wie in Interviewfragen (z. B.: „Wie ist es möglich, im Selbsthass so kreativ zu sein?“109, auch abgewandelt: „Sie verabscheuen sogar Ihre Bücher.“110) und Überschriften (wie: „Spezialistin für den Hass“111 oder: „Weltdame schön böse“112 oder aber auch: „Elegant und gnadenlos“113) und sogar in wissenschaftlichen Analysen („Fremde, Vampire. Tod, Sexualität und Kunst bei Elfriede Jelinek“ 114) – hier dehnt sich der Mythos unmittelbar auf die Werk-Rezeption aus, indem die gnadenlosen, blutsaugenden Untoten als Figuren und Motivkomplexe in Jelineks Texten gesucht und nachgewiesen werden.115 „Untersucht man einen solchen aktiven, aus vielen Überlagerungen und Verknüpfungen bestehenden Diskurs über eine gewisse Zeitspanne hinweg, so bewegt man sich folglich in einem mehrdimensionalen Raum, in dem zahllose Wirkungszusammenhänge heraus gearbeitet werden können. Dabei kann man sich das synchrone Geflecht von Aussagen als Schicht vorstellen,

hängt die Wichtigkeit ab? Die Relevanz einer Aussage im Rahmen eines Diskurses ergibt sich aus den Spuren, die diese Aussage in nachfolgenden Aussagen hinterlässt. 108 Wolfgang Teubert: Provinz eines föderalen Superstaates – regiert von einer nicht ge-

wählten Bürokratie? Schlüsselbegriffe des europakritischen Diskurses. In: Reiner Keller (Hrsg.): Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Bd. 2, S. 353-388, 360 f. 109 André Müller: „…über die Fragen hinaus.“ Gespräche mit Schriftstellern. München

1998, S. 7-23, 1. 110 Ebenda, S. 12. 111 Sigrid Löffler: Spezialistin für den Hass. Elfriede Jelinek, eine Autorin, die keine Annähe-

rung gestattet. In: Die Zeit, 04.11.1983. 112 Sigrid Löffler: Weltdame, schön böse. In: Profil, 27.05.1980. 113 Sigrid Löffler: Elegant und gnadenlos. Porträt: Elfriede Jelinek. In: Brigitte, Heft 14,

1989, S. 95-97. 114 Oliver Claes: Fremde, Vampire. Paderborn 1994. 115 Die Mythos-Analyse mit dem Ziel, die individuellen Selbstentwürfe der Schriftsteller und

den diesen zugrunde liegenden sprachlich-argumentativ hergestellten Wirkungsmechanismen zu eruieren, holt sogenannte Gemeinplätze ans Licht, die ohne eine analytische Reflexion latent und damit wirkungsmächtig blieben. Denn, und das ist entscheidend: Ausschließlich durch die verborgen bleibenden Mechanismen des Mythos bleibt seine Macht bestehen.

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und diachron liegen mehrere Schichten mit Verschiebungen und Überschneidungen übereinander. Diese Schichten müssen freigelegt und abgetragen werden.“116

Die Überlagerungen des Diskurses um Elfriede Jelinek geben einen Hinweis auf das Ziel der Diskursanalyse für die Generierung von Schriftsteller-Mythen: Zum einen kann die Analyse „durch Verweisungen auf frühere Texte zeigen, wie einmal ausgesprochene Überzeugungen und Einstellungen in nachfolgenden Texten weiterleben“117, zum anderen aber kann sie auch „die Abgrenzung des Textes zu anderen Textfamilien“118 (und damit die Abgrenzung des Schriftsteller-Mythos von der Mythologie anderer Schriftsteller) verdeutlichen, und Hilfsmittel sein um semantische und kontextuelle Dimension sprachlicher Äußerungen, Überindividuelles, Musterhaftes und Typisches innerhalb der Aussagen zu finden. „Die Diskursanalyse zielt auf […] die semantische Tiefenstruktur, und begreift diese Tiefenstruktur, nicht selten mit aufklärerischem Duktus, als Hinweis auf epistemische Grundlagen, auf Denkformen, auf Mentalitäten in einer Gesellschaft.“119 Die besondere Herausforderung der Diskursanalyse liegt nun darin, „gleichzeitig die Ereignisse zu unterscheiden, ihre Beziehungssysteme und dazugehörige Ebenen zu differenzieren, die sie miteinander verbinden und bewirken, dass die einen aus den anderen bestehen“120 und „zu sehen, wie Wahrheitswirkungen […] entstehen, die in sich weder wahr noch falsch sind“ 121, aber innerhalb des Diskurses – durch ihre mythologische Wirkung – Gültigkeit erlangen. Andreas Gardt schlägt folgendes Verfahren vor: „Das Ersetzen einer nur intuitiven Lektüre durch eine methodischere (was weder Intuition ausschließt noch den hermeneutischen Charakter des Lektürevorgangs leugnet) bringt aber ganz erhebliche quantitative Probleme mit sich. […] Ideal wäre, ein einmal eingeführtes Verfahren konsequent auf den gesamten Text anzuwenden, was aber bei mehreren Verfahren (z. B. Untersuchung der Schlüsselwörter und der Kollokationen und der Argumentationsformen und der

116 Jürgen Martschukat: Diskurse und Gewalt. Wege zu einer Geschichte der Todesstrafe im

18. und 19. Jahrhundert. In: Reiner Keller (Hrsg.): Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, S. 67-96, 73. 117 Wolfgang Teubert: Provinz eines föderalen Superstaates – regiert von einer nicht ge-

wählten Bürokratie? Schlüsselbegriffe des europakritischen Diskurses. In: Reiner Keller (Hrsg.): Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, S. 353-388, 361. 118 Ebenda, S. 361. 119 Andreas Gardt: Diskursanalyse. Aktueller theoretischer Ort und methodische Möglichkei-

ten. In: Ingo H. Warnke (Hrsg.): Diskurslinguistik nach Foucault. Berlin 2007, S. 27-52, 35 (Herv. i. O.). 120 Michel Foucault: Wahrheit und Macht. Gespräch mit Alessandro Fontana. In: Michel

Foucault: Dispositive der Macht. Berlin 1978, S. 21-54, 28. 121 Ebenda, S. 34.

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intertextuellen Verweise usw.) leicht den Untersuchungsrahmen sprengt. Pauschale Lösungen gibt es hier nicht, es muss von Fall zu Fall entschieden werden.“122

Versteht man jedoch die feldbasierte mythologisch orientierte Diskursanalyse in erster Linie als eine Textwissenschaft, so kann man sich mit dieser Von-Fall-zu-FallLösung kaum zufrieden geben. Denn als Textwissenschaft unterscheidet sie sich von anderen epistemologischen Verfahren (etwa von der Psychoanalyse oder der empirischen Soziologie und Ethnologie) dadurch, dass sie das in sprachlicher Form gegebene Material in seiner Eigenstruktur ernst nimmt und ihre Forschungsergebnisse an das sprachliche Material koppeln muss – und glücklicherweise kann. Als textbasierte Wissenschaft ist die mythologische Diskursanalyse zudem angewiesen auf konsensfähige Interpretations-Konstruktionen und Rückkopplungen, die sich aus der Freilegung des auf bestimmten (nicht nur) sprachwissenschaftlichen Regeln basierenden Funktionsspektrums des Textmaterials ergeben sowie aus der Analyse kontextspezifischer Argumentationen und der Kunst der Kontextualisierung123, die auch NichtGesagtes, Mitgemeintes, jene „verdeckte[n] Formen der Kommunikationen, zu denen insbesondere Vagheit und Anspielungen zählen“, sprachwissenschaftlich aufzudecken vermag, ohne dauerhaft die Psychologie bemühen zu müssen, selbst wenn dies gelegentlich spannend ist. Diese Forderungen zum zunächst relativ strengen sprachwissenschaftlichen Umgang mit dem vorhandenen Material bestimmen die nachfolgend aus der diskursanalytischen Forschungsliteratur 124 extrahierten und tabellarisch zusammengefügten Analyseverfahren. Als Werkzeug der mythologischen Diskursanalyse dienen die praktischen Verfahren und analytischen Prinzipien der Erzeugung von Transparenz und der Erhellung des Prozesses der Freilegung der Bedeutungsschichten eines „Textes“, des Mythos der jeweiligen Selbstinszenierung.

122 Andreas Gardt: Diskursanalyse. Aktueller theoretischer Ort und methodische Möglichkei-

ten. In: Ingo H. Warnke (Hrsg.): Diskurslinguistik nach Foucault. Berlin 2007, S. 27-52, 43 f. (Herv. i. O.). 123 Vgl. Dietrich Busse: Diskurslinguistik als Kontextualisierung. Sprachwissenschaftliche

Überlegungen zur Analyse gesellschaftlichen Wissens. Ingo H. Warnke (Hrsg.): Diskurslinguistik nach Foucault, S. 81-106. 124 Vorrangig extrahiert aus 58 Aufsätzen; aus den 34 Beiträgen in: Reiner Keller (Hrsg.):

Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Bd. 1.: Theorien und Methoden und Bd. 2: Forschungspraxis. Wiesbaden 2003; aus den 10 Beiträgen in: Ingo H. Warnke (Hrsg.): Diskurslinguistik nach Foucault. Berlin 2007; und den 14 Beiträgen aus: Reiner Keller (Hrsg.): Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit. Zum Verhältnis von Wissenssoziologie und Diskursforschung. Konstanz 2005.

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Tabelle 1: Werkzeugkasten der mythologischen Diskursanalyse

Werkzeugkasten der mythologischen Diskursanalyse

Kontextualisierung125 Die Kontextualisierung ist eine Kombination sprachlicher und semantischer Untersuchungsstrategien, die das Erfassen und Verstehen des umfassend epistemisch-kognitiven Hintergrunds (und nicht allein – wie alltagsprachlich zumeist angenommen – des sozialen, lokalen Hintergrunds) von Kommunikationsakten ermöglicht und somit zu einem tiefensemantischen Verständnis führt. Grundsätzlich gibt es: „intendierte“, „nicht-intendierte, aber bewusste (/als bewusst unterstellte)“ und „nicht-intendierte, nicht bewusste, nur analytisch feststellbare“ Kontextualisierungszusammenhänge.

Relationen

Etwas wird zu etwas anderem in Beziehung gesetzt (oder gesehen); ein X wird auf ein Y bezogen. Beispiel: Jelinek ↔ Selbsthass

Relation der Zeichen zueinander

Es gilt, Ähnlichkeiten zu im Diskurs getätigten benachbarten symbolischen Zeichen aufzudecken: phonetisch, graphemisch, morphologisch, syntaktisch (Wörter im Satz); semantisch (Wörter im Wortfeld, im Prädikations- oder Wissensrahmen) oder funktional motivierte Zeichen. Beispiel: unwohl, übel (semantisch); gegessen – gelesen – geworden (phonetisch, syntaktisch)

Relation der Zeichen zu den kognitiven Repräsentationen

Es werden Verbindungen der im Diskurs vorkommenden Zeichen zu den im Diskurs evidenten Wertungen und Interpretationen (semantische Ebene) hergestellt. Beispiel: übel → Übel, Hass

125 Vgl. Busse, Diskurslinguistik als Kontextualisierung, S. 81-106.

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Relation zu zeicheninduzierten kognitiven Repräsentationen und „Textwelten“ (Personen, Gegenstände, Ereignisse, Handlungen, Gedankengänge)

Verknüpfungen der „Textwelten“ (der Aussagenfiguration) zu anderen, benachbarten, ähnlichen AussageFigurationen werden vollzogen. Beispiel: Selbsthass – dichterische Sublimationsuntauglichkeit, Selbstinszenierung

Wörter im Satz

Aufdecken ausdruckssyntaktischer Beziehungen, z. B.: koordinativ verknüpfte Prädikate, Attribute, adverbiale Bestimmungen usw. Beispiel: intensiver Selbsthass

Wörter im Wortfeld

Aufdecken semantischer Beziehungen, z. B.: komponentensemantisch (Antonyme, Synonyme), prototypensemantisch (Topoi), feldsemantisch (Kollokationen, Phrasen), rahmensemantisch (Metapher, Metonymie) Beispiel: lesen/Manuskript vs. essen/ Übelkeit (feldsemantisches Antonym)

Wörter im Prädikationsrahmen

Einbettung der Wörter in die Satzsemantik, z. B.: Nomina als Bezugsquelle (Argumentationsstelle, Referenzpunkt), Verben und Adjektive als Prädikate und Zeichen für die weiteren, textweltbezogene Interpretation Beispiel: Manuskript als Indikator und Auslöser für den Hass

Wörter im Wissensrahmen

Herstellung des Diskursbezugs; Einbettung von Wörter in einen Wissensrahmen, in Konzepte Beispiel: Manuskript ↔ Jelinek ↔ Literaturnobelpreis

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Intertextualität

Einbettung von Äußerungen in den Wissensrahmen, das ein spezifisches Format (die materielle Textualität) aufweist Beispiel: Interviewäußerungen Jelineks als Referenzpunkt für journalistische Artikel-Überschriften

Interdiskursivität

Einbettung von Aussagen in das diskursive, oft immaterielle Wechselspiel Beispiel: Aussagen Jelineks (Selbsthass) als Ursprung für weitere Eigenschaftszuschreibungen durch Journalisten (schön böse, gnadenlos)

Satzsemantik

Herausarbeiten der bedeutungsrelevanten Bezugsquellen eines Satzes (einschließlich versteckter, implizierter Bezugsquellen); Feststellen der im Satz enthaltenen Prädikationen; Eruieren der Rolle und Funktion des Sprechers (Illokution) bzw. der kommunikativen Funktion einer Aussage auf der Handlungsebene. Beispiel: Lektor nicht als kommunikativer Gegenpart, sondern als Statist in Jelineks Inszenierung

Lexik Die Lexik-Analyse ermöglicht, einzelne Wörter als Indikatoren für die bewusstseinsgeschichtliche Prägung einer Diskursgemeinschaft aufzudecken. Anders als Teilelemente der Kontextualisierung geht es der Lexik-Analyse nicht so sehr um Relationen, sondern um ideologische Untermauerungen.

Schlüsselwörter: Stigma-Wörter und Fahnen-Wörter126

Stigma-Wörter haben einen universell negativen Wert und werden innerhalb eines Diskurses verwendet, um zu dif-

126 Vgl. Fritz Hermanns: Schlüssel-, Schlag- und Fahnenwörter. Zur Begrifflichkeit und The-

orie der lexikalischen Semantik. Arbeiten aus dem Sonderforschungsbereich 245: Sprache und Situation (Bericht 81). Heidelberg 1994.

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famieren (z. B. Unmenschlichkeit, Betrug, Korruption usw.). Fahnen-Wörtern hingegen kommt stets ein positiver deontologischer Wert zu; Fahnen-Wörter bezeichnen Personen oder Ideen, mit denen man sympathisiert oder sich sogar identifizieren kann (z. B. Gerechtigkeit, Liebe, Freiheit usw.). Beispiel: Hass als Stigma-Wort; in Jelineks Kosmos, zur Gestaltung ihres Mythos wirkt es jedoch als Fahnen-Wort!

qualitative Wort-Auswertung

Analyse der wortsemantischen Merkmale (leicht variierende Bedeutungsverschiebungen), der wortkonzeptionellen Merkmale (– welches Denkkonzept liegt diesem Wortgebrauch zugrunde?) und der wortpragmatischen Merkmale (– was bedeutet dieser Wortgebrauch für die Richtung, in die der Diskurs geht, positiv wie negativ?).

quantitative Wort-Auswertung

Auszählung hoch-frequenter Wörter für die Dominanz, Schwankung und Ablösung bestimmter Ausdrücke.

historische Lexikografie

Aufspüren von Erstbelegung neuer Wörter; Datierung und Systematisierung bestimmter Gebrauchsweisen; Prägung, Etablierung und Veränderung von Wortbedeutungen.

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Rhetorische Elemente, z. B.: Metaphorik127 Die Metaphern-Analyse bietet die Möglichkeit, die Funktionen zu ergründen, die dem metaphorischen Sprachgebrauch in Diskursgemeinschaften zukommt.

realitäts-konstituierende Funktion

Metaphern als bildliche Erläuterung, Metaphern (nicht mit schmückenden, sondern) mit kognitivem Mehrwert: Sie geben Aufschluss über die Denkgewohnheiten einer Diskursgemeinschaft. (Auch hier sind Häufigkeit und Vielfalt zu untersuchen.)

emotiv-wertende Funktion

Metaphern als Mittel der Dramatisierung, Über- und Untertreibung: Sie strukturieren die Interpretation für die Diskursgemeinschaft vor.

Argumentation128 Die Argumentations-Analyse ist besonders dazu geeignet, Vergleiche in der Behandlung und Interpretation von Themen und virulente Denkweisen herauszuarbeiten, die sich nicht auf der Wortebene lokalisieren lassen.

Einzelargumente

Bewusst hergestellte Kausalitäten; sie bilden den inhaltlich-materiellen Kern des Diskurses ab. (Innerhalb eines komplexen Diskurses können sie bspw. gesammelt und anschließend unter einer Anzahl prototypisch formulierter Argumente subsumiert werden.)

Argumentationsmuster

Sind in expliziten argumentativen Wen-

127 Vgl. Karin Böke/Thomas Niehr: Diskursanalyse unter linguistischer Perspektive – am

Beispiel des Migrationsdiskurses. In: Reiner Keller (Hrsg.): Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Bd. 2: Forschungspraxis. Wiesbaden 2003, S. 325-352. 128 Vgl. Karin Böke/Thomas Niehr: Diskursanalyse unter linguistischer Perspektive – am

Beispiel des Migrationsdiskurses. In: Keller, Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Bd. 2, S. 325-352.

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dungen zu finden, aber auch in impliziten Formen des Argumentierens und werden in der Themenwahl, der Verwendung von Schlagwörtern oder in Kollektivsymbolen sichtbar.

Kollokationsmuster129

Sie sind ein enges semantisches Netz, das sich aus zahlreichen Permutationen (eines einzelnen Wortes oder einer einzelnen Idee) sowie der variierenden Wiederholung derselben bildet.

Generalisierung130 Die Generalisierung ist ein Prinzip der diskursanalytischen Abstraktion, das es erlaubt, die zuvor ermittelten und in Aussagefigurationen (Mythen) verdichteten Ergebnisse exemplarisch zu verallgemeinern und in eine Typik zu überführen (z. B. Schriftstellertypen; Idealtypen, Prototypen, Extremtypen). Dafür gelten folgende Grundlagen und Prinzipien:

Auswahl statt Zufall

Typenbildende Verfahren implizieren eine Entscheidung gegen den Zufall und für eine theoretisch systematische, selektive Auswahl.

Allgemeines im Besonderen

Die Herausforderung ist, das Allgemeine und das Typische im Besonderen zu finden; die Kunst der Abstraktion auf das Wesentliche.

Repräsentation statt Repräsentativität

Generalisierung soll durch typische Fälle und nicht durch viele Fälle ermöglicht

129 Vgl. Wolfgang Teubert: Provinz eines föderalen Superstaates – regiert von einer nicht

gewählten Bürokratie? In: Keller, Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Bd. 2, S. 353-388. 130 Vgl. Albert Busch: Der Diskurs – ein linguistischer Proteus und seine Erfassung. Metho-

dologie und empirische Gütekriterien für die sprachwissenschaftliche Erfassung von Diskursen und ihrer lexikalischen Inventare. In: Ingo H. Warnke (Hrsg.): Diskurslinguistik nach Foucault. Berlin 2007, S. 141-164.

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werden. Es geht um das Typische, nicht etwa um quantitative, statistische Repräsentativität.

Generalisierende Existenzaussagen

Generalisierungen können vor allem im Sinne von Existenzaussagen („Es gibt …“) vorgenommen werden.

Hermeneutische Prinzipien131 Hermeneutische Prinzipien verhelfen nicht nur in der traditionellen Literaturwissenschaft, sondern auch in der Diskursanalyse dem Wissenschaftler zu gedanklicher Offenheit.

Transparenz statt Objektivität

Offenlegung des Forschungsprozesses, Subjektivität statt falscher Neutralität.

Fidelität statt Validität

Die Fragestellung bestimmt die Auswertung des Materials, nicht eine modellhafte und vermeintlich logische Methoden-Kausalität.

Stimmigkeit statt Reliabilität

Individuelle Vorgehensweise statt Aufstülpung methodologischer Modelle.

Offenheit statt Strenge

Flexibilität und Angemessenheit gegenüber der Komplexität des Materials; Interdisziplinarität statt gedanklichem Verbot von Handlungsalternativen.

Order at all Points132

Ordnung und Sinn existieren an jeder Stelle. Zwar ist die Geschichte ein unsi-

131 Vgl. Busch, Der Diskurs – ein linguistischer Proteus und seine Erfassung, S. 141-164. 132 Vgl. Jo Reichertz: Order at all Points. Lassen sich Diskursanalyse und Hermeneutik ge-

winnbringend miteinander verbinden? In: Keller, Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit, S. 149-178.

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cheres Gelände, das man nicht mit Adleraugen gänzlich überblicken kann, dennoch ist die Sinnhaftigkeit von Handlungen unbestreitbar. Alles was geschieht hat eine Ursache und eine Wirkung. Hier lässt sich viel konstruieren und interpretieren: Der entscheidende Punkt ist, ob man es mit guten Gründen kann.

Ausgehend von der Annahme, der Mythos eines Schriftstellers konstituiere sich nicht nur durch Einzelaussagen, sondern entstehe dynamisch im diskursiven Wechselspiel zwischen Fremdkommentierung seitens der öffentlichen Kritik und der dichterischen Selbststilisierung, definiere sich also aus der Dialektik von Setzung und Anerkennung, dann ist die Berücksichtigung des Entstehungsprozesses von Aussagen, die sich aneinander reihen und überlagern für die Image-Analyse von großer Bedeutungen und macht die Erfassung und Darstellung der inneren Dynamik eines Diskures unverzichtbar.

Wie sich Diskurse im Literaturbetrieb dynamisieren Als Beispiel für die Analyse des diskursiven Wechselspiels, innerhalb dessen Mythen generiert, gestaltet und transformiert werden, bietet sich der Diskurs um den Dichter Georg Trakl an.

Abbildung 4: Georg Trakl, Selbstporträt (1913)133

133 Georg Trakl, Selbstporträt (1913). Entnommen aus: Frank Möbus: Dichterbilder. Stuttgart 2003, S. 141.

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Ausgangspunkt für den sich dynamisierenden Diskurs um den österreichischen Schriftsteller Georg Trakl ist ein Selbstporträt des Schriftstellers. Es zeigt das Gesicht Trakls. Frontal. Seine Miene wirkt versteinert. Die Augenhöhlen sind dunkel, in ihrer länglichen Mandelform und der überzeichneten Größe könnte man beinahe einen Außerirdischen erkennen. Trakls gesamte Farbwahl ist dunkel (Schwarz, Braun, Dunkelgrün, Dunkelblau). Die Stimmung des Bildes wirkt düster; dieser Eindruck wird bestärkt durch die schwarzen, Teufelshörner andeutenden Schatten rechts und links der Stirn. Die Haare wirken durch ihre braune Farbe und Flächigkeit wie ein Helm aus Lehm oder Erde, der den Kopf förmlich deckelt. Um den Hals liegt ein schwarzer Schal wie eine Schlinge. Die Nase flammt rötlich in der Mitte des Dunkels. Unter der Nasenflamme ist schwarzbraun und verzerrt der Mund zu erkennen, bei dem nicht auszumachen ist, ob er zusammengekniffen oder wie ein Schlund geöffnet ist. Als Trakls Schriftstellerkollege Hans Limbach um den Jahreswechsel 1913/1914 das Selbstporträt während eines Besuchs bei Trakl sah, erkannte er „eine bleiche Maske mit drei Löchern – zwei Augen und einem Mund.“ Trakls eigene Erscheinung bei diesem Zusammentreffen beschrieb er so: „Seine Gesichtszüge waren derb, wie bei einem Arbeiter, welchen der kurze Hals und die nachlässige Kleidung – […] das Hemd war nur durch einen Knopf geschlossen – noch verstärken mochte. Trotzdem prägte sich in seiner Erscheinung etwas Würdiges aus. Aber ein finsterer, fast bösartiger Zug gab ihm etwas Faszinierendes wie bei einem Verbrecher. Denn in der Tat: wie eine Maske starrte sein Antlitz; der Mund öffnete sich kaum, wenn er sprach, und unheimlich nur funkelten manchmal die Augen.“134

Die Beschreibung des leibhaftigen Menschen durch Hans Limbach, die zwischen zwei extremen Polen oszilliert – der positiven Empfindung bei der Begegnung (etwas Würdiges; etwas Faszinierendes) und der negativen Affektbesetzung (finster, fast bösartig, unheimlich) –, veranschaulicht das von mehreren Kraftlinien durchzogene Deutungsfeld, das sich zwischen der malerischen Inszenierung Trakls und seinem tatsächlichen Erscheinungsbild seiner Person erstreckt. Durch den Verzicht Limbachs auf deiktische Partikel, wie ich, hier, jetzt, die unmittelbar einen Zusammenhang zwischen der Szenerie und ihm herstellen könnte, installiert sich der Sprecher weitgehend außerhalb des Diskurses, den er gleichwohl vorantreibt. Verstärkt wird seine distanzierte Haltung durch die Dominanz abwertender Interpretationen (lediglich die Bemerkung, Trakl habe einen kurzen Hals sowie die Beschreibung des Hemdes – nur durch einen Knopf geschlossen – sind annähernd sachneutral). Darüber hinaus aber sind Trakls Gesichtszüge derb, die Kleidung nachlässig. Deutet der letzte Vergleich bereits die Stigmatisierung an, so bleibt Limbach in seiner Beschreibung Trakls vorerst noch wankelmütig. Die Unentschlossenheit, die sich in den abmildernden, relati-

134 Vgl. Ludwig von Ficker/Wolfgang Schneditz: Georg Trakl in Zeugnissen der Freunde. Salzburg 1951. Sowie: Ignaz Zangerle (Hrsg.): Erinnerungen an Georg Trakl. Zeugnisse und Briefe. Salzburg 1959. Frank Möbus: Dichterbilder. Stuttgart 2003, S. 140. Auch: Hans Weichselbaum: Georg Trakl. Eine Biografie mit Bildern, Texten und Dokumenten. Salzburg 1994.

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vierenden und kontrastierenden Konjunktionen (trotzdem …, aber ...) ausdrückt, in den widersprüchlichen Kausalitätsbezügen (seine nachlässige Kleidung verleiht ihm etwas Würdiges, aber seine finsteren, bösartigen Züge geben ihm etwas Faszinierendes) und die sich n der zum Teil unspezifischen Ausdrucksweise spiegelt (etwas Würdiges, etwas Faszinierendes), erklärt sich, wenn wir den außer-situativen Wissensrahmen der Begegnung Trakls mit Limbach hinzunehmen:135 Während der Entstehung des Selbstporträts im November 1913 und der kurz darauf erfolgenden Begegnung mit Limbach war über Georg Trakls ohnehin krisengeschütteltes Leben eine Katastrophe wie aus einer antiken Tragödie hereingebrochen – wenn die Vermutungen, die man aufgrund der Indizien zur Exposition dieser recht grausamen Peripetie ziehen muss, der Wahrheit entsprechen. Im November schrieb Trakl an Ludwig von Ficker: „[E]s haben sich sonst in den letzten Tagen für mich so furchtbare Dinge ereignet, dass ich deren Schatten mein Lebtag nicht mehr loswerden kann. Ja, mein verehrter Freund, mein Leben ist in wenigen Tagen unsäglich zerbrochen worden und es bleibt nur mehr ein sprachloser Schmerz, dem selbst die Bitternis versagt ist […], ich weiß nicht mehr ein noch aus. Es [ist] ein so namenloses Unglück, wenn einem die Welt entzweibricht. Oh mein Gott, welch ein Gericht ist über mich hereingebrochen. Sagen Sie mir, dass ich die Kraft haben muss, noch zu leben, um das Wahre zu tun. Sagen Sie mir, dass ich nicht irre bin. Es ist ein steinernes Dunkel über mich hereingebrochen.“136

Die Verzweiflung, die sich in diesen Zeilen Trakls ausdrückt, ist auch dem Selbstporträt eingeschrieben, hinter dessen maskenhafter Finsternis und der düster versteinerten Mine man das Gesicht Trakls gleichwohl zu erkennen vermag. Dieses Bild von sich selbst, das er angeblich im Spiegel sah, als er aus einem Traum erwachte, ist eine Stilisierung der Selbstverachtung. Der sprachlose Schmerz, das namenlose Unglück, das Trakl im November umfing, verdankte sich offenbar der Nachricht, dass seine vier Jahre jüngere Schwester Margarethe, die seit einem Jahr mit Arthur Langen verheiratet war, ein Kind erwartete, jedoch nicht von ihrem Ehemann Arthur.

135 Diese widersprüchliche Beschreibung Trakls durch Limbach weist eine gewisse Ähnlich-

keit zu einer ebenfalls von oxymoronartigen, antithetischen Adjektiven geprägten, literarischen Personenbeschreibung des Hochstaplers Felix Krull auf, der bekanntlich aus „feinbürgerlichen, wenn auch liederlichem Hause“ stammt und dessen Vater „wiewohl dick und fett […] viel persönliche Grazie“ besitzt (vgl. Thomas Mann: Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Der Memoiren erster Teil (1954). Frankfurt a. M. 1989). Durch die so vollführten, widersprüchlichen Beschreibungen drücken Limbach und (zweifellos mit größerer Stilsicherheit) Mann ihre Parteilichkeit gegenüber dem Beobachteten höchst indirekt aus, und explizieren damit dennoch die implizite Distanz zu dem Beobachteten. Die unschuldige Verweigerung der Solidarisierung mit der beschriebenen Person geschieht bei Thomas Mann gleichwohl ironischer – worin der Kunstgriff der Ironie besteht, der nicht nur literarisch, sondern auch als Selbstinszenierungsstrategie von Interesse ist, diskutiere ich an späterer Stelle. 136 Vgl. Frank Möbus: Dichterbilder. Stuttgart 2003, S. 140.

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Denn Margarethe und Georg Trakl verband seit der Pubertät ein inzestuöses, von gemeinsamen Rauschgiftexzessen begleitetes Verhältnis, das Trakl auch in seinem Gedicht mit dem Titel Blutschuld (1909) unverschlüsselt geschildert hat.137 „Es dräut die Nacht am Lager unserer Küsse. Es flüstert wo: Wer nimmt von euch die Schuld? Noch bebend von verruchter Wollust Süße, Wir beten: Verzeih uns, Maria, in Deiner Huld. Aus Blumenschalen steigen gierige Düfte, Umschmeicheln unsere Stirnen bleich von Schuld. Ermattend unterm Hauch der schwülen Lüfte, Wir träumen: Verzeih uns, Maria, in deiner Huld!“

Doch zurück zum malerischen Porträt. Der Kommentar Limbachs verdeutlicht, wie die Grenzen zwischen dem im Porträt ausgedrückten Selbstbild Trakls und der Fremdkommentierung verschwimmen und, mehr noch, wie Trakl in der Fremdperspektive diesen Selbstentwurf zu verkörpern und sein malerisch geschaffenes Bildnis zu leben beginnt: Denn in der Tat: wie eine Maske starrte sein Antlitz; der Mund öffnete sich kaum, wenn er sprach, und unheimlich nur funkelten manchmal die Augen. Der tatsächliche Trakl wird zum Double seiner Maske. Nicht länger sieht das Bildnis aus wie Trakl, sondern Trakl verwandelt sich unter dem Blick des Fremden in diesen Selbstentwurf. Die affirmative Übertragung des von Trakl Offenbarten auf die Fremdsicht wird hier vorgeführt durch die Wertungen Limbachs, der Georg Trakl aufgrund seiner nachlässigen Kleidung in seiner von außerkontextuellem Wissen beeinflussten Wahrnehmung vom Arbeiter rasch, innerhalb weniger Zeilen, zum Verbrecher herabsetzt. Es lassen sich hier die Bedingungen des Auftauchens und des Fortschreibens von Aussagen erkennen, die zum Mythos werden, aber auch die spezifische, diskursive Form, nach denen der Mythos sich unter Realitätsbedingungen gestaltet. Der im Wechselspiel zwischen Fremdkommentierung und Selbstkommentierung sich ausbildende Mythos Trakls, der Mythos des Schuldigen, für den der Dichter in seinem Gedicht Blutschuld das Vokabular liefert, konstituiert sich nicht allein aufgrund eines einmaligen oder auch wiederholten Ereignisses (die inzestuöse Liebe), auch nicht in einer überzeitlichen Struktur: Er konturiert sich vielmehr erst durch die Gesamtheit der Elemente der dynamischen diskursiven Praxis, der Verknüpfung einzelner Aus-

137 Georg Trakl: Blutschuld (1909) [hier zwei von insgesamt drei Strophen]. Liebhaber der

antiken Sage oder Goethes Bearbeitung derselben werden hier den Gesang Orests wiedererkennen, der, ebenfalls unter Blutschuld leidend, im Gefängnis auf Tauris im Zwiegespräch mit seiner Schwester Iphigenie, seine Befreiung herbeisehnt: „Die liebevolle Schwester wird zur Tat/ Gezwungen. Weine nicht! Du hast nicht schuld,/ Seit meinen ersten Jahren hab ich nichts/ geliebt, wie ich dich lieben könnte, Schwester […].“ (Johann Wolfganf Goethe: Iphigenie auf Tauris. 4. Akt, 1. Aufzug. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14. Bänden. Hrsg. v. Josef Kunz. Bd. 4: Dramatische Dichtung. Hamburg 1964, S. 27.)

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sagen und deren konnotativer Anreicherung. Auch durch Bemerkungen weiter außen stehender Personen wie denen Otto Basils, des Biografen Trakls, der im Jahr 2003 spekulativ schreibt, es sei dahingestellt, ob Margarethe „eine Haltlose, Getriebene, Demidämonische, Halbgeniale, Antibürgerliche und in der sexuellen Beziehung wahrscheinlich die Aktivere“138 war, oder ob der „Fluch des entarteten Geschlechts“139, in dessen Strudel die beiden hilflos gerieten, mit des Bruders „Wollust“ begann, als er „im grünenden Sommergarten dem schweigenden Kinde Gewalt tat“ (wie es in Trakls Novelle Traum und Umnachtung aus dem Jahre 1914 heißt). Der Mythos tradiert sich und wird durch weitere Prädikationen (wie entartet) und Assoziationen (Fluch, Gewalt, Demidämonische, Wollust) diskursiv angereichert. Durch diese sich immer weiter verdichtenden Fremdkommentierungen und Selbsterklärungen entsteht ein komplexes, diskursives Volumen, das es den Themen, Ideen und Erkenntnissen, die sich um den Diskurs der Schuld entfalten, möglich macht, in einer eigenen Bewegung, getragen von einer eigenen Dynamik an die Oberfläche zu treten und weitere Formulierungen zu erzeugen, die das Volumen stetig vergrößern und den Mythos Trakls modifizieren.140 Durch das stets selbstreferenzielle, rückbezügliche und weitere Bezüge produzierende Fortschreiben des Diskurses um Georg Trakl ergeben sich immer wieder Punk-

138 Vgl. Möbus, Dichterbilder, S. 140. 139 Ebenda, S. 140. 140 Im Punkt dieser Vergrößerung des Zeichen- und Aussageninventars lässt sich an Derrida

anschließen, der in seinem Performanz-Konzept nicht nur wie Foucault das Ereignishafte betont, sondern zu bedenken gibt, dass die Dinge durch die Zeichen weniger vertreten als verdrängt werden. Sein einfacher Satz: „Wo das Wort Rose ist, ist keine Blume“ mag das illustrieren. Wesentlich stärker noch als Foucault betont Lacan die Fragilität und Heterogenität eines Diskurses. Lacan hebt hervor, dass eine Äußerung stets auf unterschiedliche Sinnebenen verweist, so etwa der bekannte Satz „Ich denke“, den Descartes als „Ich zweifle“ interpretiert. Das Ich der Aussage von „Ich zweifle“ überlagert das Ich der Äußerung „Ich denke“ und macht ein Ich der Gewissheit (Ich zweifle) sichtbar, das sich von dem sich (oder eine Sache) in Frage stellenden Ich unterscheidet. Dies ist in Lacans Worten die „Teilung von Akt und Fakt des Gesagten“, welche die Beachtung des ÄußerungsAktes und der mit ihm implizierten unterschiedlichen Aussagen-Fakten notwendig macht. Vereinfacht gesprochen: Lacan und Derrida betonen die Instabilität von Sinn- und Bedeutungsstrukturen. So geht die psychoanalytische Verweiskette Lacans von einem kontinuierlichen „Gleiten des Signifikats unter dem Signifikanten“ aus, während Derrida für die immerwährende Verschiebung des Sinns den Begriff der différance geprägt hat. (Vgl. auch Christine Hanke: Diskursanalyse zwischen Regelmäßigkeiten und Ereignishaftem. In: Reiner Keller (Hrsg.): Handbuch sozialwissenschaftlicher Diskursanalyse. Bd. 2, S. 97-118, 100.) Zum Unterschied von Lacans psychoanalytischem Aussagebegriff und dem Foucaults vgl. ausführlich: Johannes Angermüller: Diskurs als Aussage und Äußerung. Die enunziative Dimension in den Diskurstheorien Michel Foucaults und Jacques Lacans. In: Ingo H. Warnke (Hrsg.): Diskurslinguistik nach Foucault. Berlin 2007, S. 5380.

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te zum Einhaken und Weiterentwickeln des mythologischen Diskurses: Die Lyrikerin und Malerin Hildegard Jone, die das Selbstporträt Trakls im Jahr 1927 von Ludwig von Ficker als Geschenk erhielt, behandelte es nicht eben respektvoll: An der Kinnpartie und an den Augen hat sie Übermalungen vorgenommen und von dem unteren Teil des Bildes ein Stück weggeschnitten, um das Bild in den Bilderrahmen einzupassen. Beschädigt, entstellt, zu Lebzeiten von einer fremden Künstlerin und später von der Nachwelt traktiert – das, was für Trakls Selbstporträt gilt, gilt nicht zuletzt wegen des seinen Mythos zusehends ausgestaltenden Diskurses bald für sein gesamtes Leben141 – nicht zuletzt aufgrund einer Diskursdynamik, die seinen Mythos immer weiter ausformt. An diesem mythosproduzierenden Diskurs wird ein weiteres Grundprinzip deutlich: die Prämisse, den Diskurs nicht auf das Denken, auf den Geist oder die Subjekte zu beziehen, welche ihn hervorbringen, sondern auf das praktische Feld, in dem er sich entfaltet. Relevant sind hier nicht die am Diskurs beteiligten Personen, namentlich Otto Basil oder Hildegard Jone (wenngleich es interessant wäre zu beleuchten, wie die einzelnen Personen zu diesen Einsichten gelangen und welches Interesse, welche Ökonomie dahinter steht), sondern relevant sind hier einzig die Wirkungen, die sie mit ihren Aussagen und diskursrelevanten Handlungen vollziehen, sowie die Spuren, die diese im Diskurses hinterlassen – und die in der Konsequenz zur fortschreitenden Diffamierung Trakls führten. Bis heute. In dem Roman Alle Wasser fließen ins Meer von Martin Beyer, in dem die inzestuöse Liebe Trakls zu seiner Schwester in der Andeutung verharrt, der Mythos des Schuldigen gleichwohl umspielt und literarisch ausgestaltet wird, ist beispielsweise die folgende Szene zu lesen: „Sie schleuderte das Kissen von sich, kletterte halb auf ihren Bruder und reckte sich mit einem Arm zu dem Kistchen. Das war zu viel für Georg. Mit einer heftigen Bewegung stieß er den schmalen Körper seiner Schwester weg. Sie fiel vom Kanapee auf die staubigen Holzdielen. Den Wein hatte sie dabei umgeworfen, die Flasche rollte ein Stück auf dem Boden entlang und hinterließ eine rote Spur. Einige Sekunden blieb Grete so liegen, Georg erschrak. Dann aber schnellte sie hoch und warf sich auf ihren Bruder, der neben ihr wie ein Koloss wirkte. Doch er war ein Künstler und kein Raufer, er scheute die Berührung mehr als alles andere. Grete war nun ganz nah, ihre Haut fühlte sich weich an, ihr Seifengeruch war verlockend. Er könnte sie gewähren lassen, aber wieder stieß er sie weg. Grete hatte Tränen in den Augen. Sie wollte sich unbedingt durchsetzen, das war längst kein kindisches Wollen mehr. Es war eine Machtprobe, die sie zwar körperlich verlor, doch am Ende würde sie bekommen, was sie verlangte. Als er sie ein drittes Mal weggestoßen hatte, diesmal deutlich sanfter, so dass sie auf dem Kanapee blieb, schnappte er mit einer Hand nach dem Kistchen und warf es nach ihr. „Mach doch, was du willst.“ – „ Na endlich, Schorsch! Na endlich.“ Vor Anstrengung schnaufend öffnete sie die

141 Georg Trakl, der zu Lebzeiten trotz alldem zu den großen Dichtern seiner Gegenwart ge-

zählt wurde, rückte im August 1914 als Medikamentenassistent in den Ersten Weltkrieg ein. An den Fronterlebnissen, die er in seinen Gedichten Klage (1914) und Grodek (1914) eindringlich schildert, ist er nun wirklich irre geworden. Im Oktober wurde er in die psychiatrische Abteilung des Krakauer Garnisonskrankenhauses eingewiesen. Am 3. November starb er dort im Alter von 27 Jahren an einer Überdosis Kokain.

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Schachtel und nahm eine Zigarette heraus. Sie roch erst daran, dann holte sie ein Zündholz hervor.“142

Geht es hier auch (auf der ersten Bedeutungsebene) nur um eine Zigarette und das Spiel, dass Georg sie Grete verwehrt, lässt sich diese Szene, auch ohne Freud bemühen zu müssen, als eine den Schuld-Diskurs um Trakl vorantreibende interpretieren. Vom Kanapee über das Kissen zum Wein sind die Insignien der Verführung literarisch inszeniert. Auch mit Vorausdeutungen spart Martin Beyer nicht, gibt uns doch die rote Spur auf dem Boden den Hinweis auf einen klassischen Tatort, die Ahnung des Todes. Mit olfaktorischer (ihr Seifengeruch war verlockend) und taktiler Sensibilität (ihre Haut fühlte sich weich an) nimmt Georg die Körperlichkeit seiner Schwester – die verlangte, sich auf ihn warf, vor Anstrengung schnaufend – wahr, so wehrt er sich nur, um im gleichen Moment das Wollen seiner Schwester voranzutreiben (mit einer heftigen Bewegung stieß er den Körper seiner Schwester weg; wieder stieß er sie weg; diesmal sanfter). Bleibt auch der Inzest (ganz so wie in Trakls Poesie) sprachlich vage, Trakls Mythos der Schuld bleibt es keineswegs; wenn auch in dieser Szene letztendlich Margarethe das Mädchen mit den Zündhölzern ist. Die Dichte der diskursiven Praktiken, also die Systeme, die die Aussagen und ihre Bedingungen umfassen (hier: die zum Roman-Motiv gewordene Schuld Trakls; zuvor: die Spekulationen über die Animation zum Inzest durch Otto Basil) sowie die materiellen Dinge des Diskurses (das Selbstporträt) und ihre Verwendungsweise (die partielle Ruinierung durch Hildegard Jone), lässt sich mit Foucault als Archiv definieren: „Mit diesem Ausdruck meine ich nicht die Summe aller Texte […], sondern dass sie, anstatt zufällig erscheinende und ein wenig planlos auf stumpfe Prozesse gepfropfte Gestalten zu sein, gemäß spezifischen Regelmäßigkeiten entstehen. […] Das Archiv ist zunächst das Gesetz dessen, was [sinnvoll] gesagt werden kann, das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelne Ereignisse beherrscht.“143

Dass sich das Archiv, zunächst mit jedem (hier: den Mythos der Schuld ausgestaltendem) Diskurselement erweitert, wird an den Aussagen Limbachs deutlich, der Trakl zunächst als Arbeiter, dann als Verbrecher charakterisiert. Mit der Erweiterung der Optionen geht jedoch auch eine Spezifizierung einher; jede dem Trakl-Diskursarchiv hinzugefügte Beschreibung spezifiziert das Denk- und Sagbare. Nunmehr ist Trakl nicht nur ein Verbrecher, sondern mit ihm werden Assoziationen des Getriebenen, Entarteten, Demi-Dämonischen verknüpft. Diese Bedeutungsverengung innerhalb des Archivs bewirkt, dass sich die Aussagen nicht bis ins amorph Unendliche anhäufen und, durch die Verdichtung, auch nicht so einfach verschwinden, sondern dass sie sich in distinkten Figuren, in Mythen, im Image kristallisieren. Wie hartnäckig diese mythologischen Denkfiguren sind, zeigt der Roman von Martin Beyer, der fast 90

142 Martin Beyer: Alle Wasser laufen ins Meer. Stuttgart 2009, S. 17 f. 143 Michel Foucault: Das historische Apriori und das Archiv (1973). In: Engelmann, Fou-

cault. Botschaften der Macht, S. 77-84, 81.

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Jahre nach der der Aussage Limbachs und beinahe ebenso lange nach dem Tod Trakls erschien. Die sich so herausbildenden und fortschreibenden Schriftstellermythen verbinden sich wiederum in Relationen miteinander; gemäß den spezifischen Regelmäßigkeiten, die den Diskurs in Bewegung halten, behaupten sie sich oder zerfließen. Das Diskursarchiv gestattet es, die Diskursbewegungen einzugrenzen, aber auch das Auftauchen bestimmter Aussagen und Verhaltensweisen zu erklären, die diesem imaginären Archiv als Pool der Möglichkeiten und des Sagbaren entspringen, und damit die Generierungs- und Modifizierungsmechanismen des Mythos als Kristallisationspunkt eines Diskurses zu skizzieren.144 Das Archiv der möglichen Aussagen ist nicht nur innerhalb der Diskursgeschichte um eine Schriftstellerperson analysierbar, sondern auch übertragbar und anwendbar auf einen gesamten gesellschaftlichen Bereich (wie das gesamte literarische Feld). Jeder gesellschaftliche Bereich hat also auch sein eigenes, nicht austauschbares Archiv, das das sinnvoll Sagbare, das Denk- und das Machbare aufbewahrt.

144 Freilich ist dieses minimalistisch gedachte Archiv, das als potenzielles Aussagenfeld ei-

nen Mythos unterfüttert, ein Sandkorn im Vergleich zu den Archiven, die Foucault theoretisierte, etwa Archive einer Gesellschaft, einer ganzen Kultur und einer historischen Epoche; wenngleich Foucault jedoch feststellte, dass diese in ihrer Gesamtheit nicht zu beschreiben sind. (Vgl. Michel Foucault: Das historische Apriori und das Archiv (1973). In: Engelmann, Foucault. Botschaften der Macht, S. 82 f.)

Kulturgeschichte der Selbstdarstellung

Dichterische Selbstdarstellung im Wandel der Zeit Eine kulturhistorische Revue

I NTELLEKTUELLE R EPRÄSENTATION IM M ITTELALTER . O DER : „ ICH SAZ UF EIME STEINE …“ Otfrid (800–875) hatte die besten Absichten. Er wollte ein Buch unter die Leute bringen. Die Bibel. Und er hatte einen Plan. Er nahm sich vor, die Heilige Schrift aus dem Lateinischen in den rheinfränkischen Dialekt zu übertragen, dazu ein spannendes Vorwort zu schreiben, um danach die Abschrift im ganzen Land publik zu machen. So dürfen wir annehmen, dass Mönch Otfrid im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung über den Seiten seiner Aufzeichnungen saß (oder doch eher lag?) und nach Formulierungen für sein Vorwort suchte. Darin, so lesen wir heute, stellt er sich als ehrenhafter Imitator und Vermittler des Wort Gottes vor. Im Selbstverständnis des mittelalterlichen auctors wollte er die christlichen Worte ‚mehren‘ und ‚wachsen lassen‘ (lat. augere). Zur angestrebten Popularität seiner Mundart-Bibel kam es dennoch nicht, jedenfalls nicht in erwünschtem Maße. Zur Verbreitung der frohen Botschaft bedurfte es offensichtlich schon damals mehr als ein qualitatives Sprachwerk und einen ehrenvollen Autor. Was fehlte?1 Betrachten wir zunächst einen anderen Fall: den Bischof Konrad zu Konstanz und seine Variante zur Verbreitung von Gottes Wort. Mit der fragmentarischen Überlieferung des Lebens und nächtlichen Treibens von Konrad zu Konstanz (900-975) liegt uns eine Anekdote vor, die Einblicke in Konrads selbstdarstellerisches Geschick gewährt. Eine Vision, die den Bischof nächtlich im Schlafe überrascht haben soll, nutzte dieser, um das seiner Verantwortung obliegende Kloster mit dem schönen Namen ‚Einsiedeln‘ zu bewerben. „Er sah den Herrn selbst vom Himmel kommen, die künftige Pilgerstätte seiner viellieben Mutter Maria persönlich zu segnen, begleitet von Petrus und den vier Evangelisten, von Gregor d. Gr. und den heiligen Kirchenvätern Ambrosius und Augustinus“, fasst der Historiker Anselm Salzer Konrads nächtlichen

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Vgl. Bodo Plachta, der Otfrid von Weißenburg als ersten namentlich bekannten deutschsprachigen Autor ausweist, B. P.: Literaturbetrieb. München 2008, S. 25. Vgl. auch Horst Dieter Schlosser: Die literarischen Anfänge der deutschen Sprache. Berlin 1977, S. 19 f.

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Traum zusammen, „auch fehlten nicht Sankt Stephan und Sankt Laurentius und die Scharen der Engel […].“2 In der Tat, nachdem Konrad seine nächtliche Vision im Ort publik gemacht hatte, verbreitete sie sich wie ein Lauffeuer, und es kamen bald scharenweise Pilger, die dem Kloster Einsiedeln zu großem Ansehen verhalfen. Zurück zu unserem rheinfränkischen Mönch Otfrid. Hätte es Orfrid geholfen, wenn er Ähnliches hätte behaupten können, etwa die Bibelübersetzung habe ihm des Nachts der göttliche Vater selbst in die Hände gelegt? Vielleicht. Gewiss hätte ihm Konrads vormoderne Marketingstrategie, die im Folgenden zusammengefasst sei, ein wenig Aufsehen beschert, denn diese Strategie war ebenso schlicht wie wirkungsvoll: Sie basierte zunächst auf der Nennung allerhand prominenter testimonials (Petrus, Ambrosius, Augustinus etc.), die für die Qualität des Produktes einstehen; sogar der Herr selbst soll vom Himmel hinabgestiegen sein, um das Kloster zu segnen. Das Mittel der Dramatisierung und das der Beschönigung (der Traum wird Vision, die Mächte des Himmels stehen Pate) leisteten Konrad zusätzliche Hilfe. Als nahezu hellseherische Ahnung und Vorwegnahme wurde Konrads Traum also zu einem tatsächlich von Pilgern und Geistlichen gefragten Ort. Man könnte auch sagen: Dort, wo zuvor Erfolg antizipiert und von glaubwürdigen Patronen bezeugt wurde, stellt sich bald tatsächlich Erfolg ein. Weil noch keine sachlichen Kriterien zählten und es dennoch nicht genügte, sich die Glaubwürdigkeit und das Expertentum selbst zu attestieren (Otfrid), zählte zu den Techniken einer erfolgreichen Selbstinszenierung der mittelalterlichen Dichter und Gelehrten die Tarnung der Selbsterhöhung durch Nennung von Referenzen (Augustinus, Gott), also eine Art self-promotion3 qua Prominenz. Nicht nur der geistliche Konrad von Konstanz bediente sich dieser wirksamen Form der Aufmerksamkeitserzeugung, sondern auch sein Namensgenosse, der Sänger und Pfaffe Konrad. Im Prolog seines mündlichen Vortrages berief er sich zwar nicht auf göttlichen Besuch, praktizierte aber in ähnlicher Weise ein name-dropping und webte in seine Vorrede die Namen von (meist religiösen) Berühmtheiten hinein. Indem er, wie beiläufig, zwischen Lob und Dank die Namen seiner angesehenen Gönner und Auftraggeber fallen ließ (wie es heute noch in Vorworten zahlreicher Bücher Usus ist), legitimierte der Pfaffe Konrad selbst seine Würde. Das name-dropping fungierte darüber hinaus als Wahrheitszertifikat der dichterischen Äußerungen, das damals, der Maxime prodesse et delectare folgend, aufgrund von wahrhaftigen Erzählungen des Dichters ‚belehren’ und dem Publikum ‚nützen’ sollte. Der Pfaffe Konrad tat dies also ganz im Sinne seines Publikums, könnte man meinen. Mit welchem Effekt? Indem Konrad ehrenwerte Personen zitierte und seine Geschichten in eine würdevolle, christliche Traditionslinie stellte, wird ihm vom Publikum Autorität zugesprochen. Trotz mangelnder Augenzeugenschaft, aber aufgrund der (behaupteten) Genealogie und Gön-

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Vgl. Anselm Salzer/Eduard von Tunk (Hrsg.): Illustrierte Geschichte der deutschen Literatur. 6 Bände. Bd. 1: Von den Anfängen bis zum 16. Jahrhundert. Frechen o. J., S. 65. E. E. Jones/T. S. Pittmann: Toward a general theory of strategic self-presentation. In: J. Suls (Hrsg.): Psychological Perspectives on the Self. Hillsdale 1982, S. 231-262. Und: J. T. Tedeschi/S. Lindskold/P. Rosenfeld: Introduction to social psychology. St. Paul (USA), 1985. [Zu der Strategie der self-promotion siehe die Zusammenfassung am Ende des Teils „Praktiken der Selbstdarstellung“.]

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nerschaft aus hohen Kreisen sind die Zuhörer gewillt, ihm Gehör und Glauben zu schenken. Vielfach beriefen sich geistlichen oder singende Dichter in ihrer Vorrede auf lateinische Quellen, denen eine größere Seriosität zugestanden wurde als beispielsweise französischen – so auch Konrad. „Kurios“, schreibt Gaby Herchert, aber als Inszenierungsstrategie der verbalen Selbstinszenierung durchaus nachvollziehbar, „mutet die Behauptung des Pfaffen Konrad (um 1150) an, der sich in seinem Rolandslied auf eine französische Quelle berief, die er zunächst ins Lateinische und dann erst ins Deutsche übersetzt haben will“4: „Ich haize der phaffe Chunrât alsô ez an dem Buoche gesriben stât in franzischer zungen, sô han ich ez in die latîne betwungen, danne in die tiutsche gekêret. ich nehân der nicht an gemêret, ich nehân der nicht ueberhaben.“5

An diesem Beispiel werden der Wunsch nach Anerkennung deutlich, der sich im Bestreben Konrads nach einer tadellosen Reputation spiegelt, und auch die Tatsache, dass dafür ein unsinniger Aufwand betrieben oder zumindest vorgetäuscht werden muss.6 Auch visuell wussten die Dichter und Sänger des Mittelalters zu überzeugen. Mit dem berühmten Bildnis Walthers von der Vogelweide (1198-1230) aus dem Codex Manesse, der Großen Heidelberger Liederhandschrift, liegt uns der erste bedeutsame Beleg bildlicher Schriftstellerinszenierung in der deutschen Literaturgeschichte vor:7 Denkmalsgleich sitzt er da, in königsblauem Gewand, erhöht auf einem Fels, das Ritterschwert beiseitegestellt, um das ein bleicher Geist, ein Leich sich schlingt. Zwei Vöglein, seine Wappentiere, allerdings im Käfig, sind über den Schultern zu sehen.

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Gaby Herchert: „niht anders kann ich iu verhejen…“ – Zur Topik der Selbstpräsentation mittelalterlicher Autoren. In: Gunter E. Grimm/Christian Schärf (Hrsg.): SchriftstellerInszenierung. Bielefeld 2008, S. 13-23, 15. Vgl. Dieter Karschoke (Hrsg.): Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Stuttgart 1993; Vers. 9079-9085. („Ich heiße der Pfaffe Konrad./ So wie es im Buche geschrieben steht/ in französischer Sprache,/ so habe ich es auf Latein übersetzt,/ und dann ins Deutsche gekehrt./ Ich habe nichts hinzugefügt,/ und nichts weggelassen.“ Hier übersetzt von Gaby Herchert, „niht anders kann ich iu verhejen…“, S. 15.) Einen Text aus dem Französischen ins Lateinische zu übertragen, um seiner eigenen daran anschließenden Übersetzung das Ansehen einer Original-Übersetzung aus lateinischen Quellen zu verleihen, würde man heute als Dissimulation bezeichnen, als Bemäntelung und Verbergen der wahren Beschaffenheit des Gegenstandes der Inszenierung [siehe dazu: „Praktiken der Selbstinszenierung“, in diesem Band]. Walther von der Vogelweide, Miniatur (35 x 25 cm), um 1300-1340. In: Große Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse). Universitätsbibliothek Heidelberg. Cod. Pal. Germ. 848, fol. 124.

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Eine Krone ziert sein Haupt, in der Hand ein weißes Blatt, das mit dem Himmel, nicht aber zwingend mit Gott in Verbindung steht. Religiöse Insignien fehlen.

Abbildung 5: Walther von der Vogelweide8 Neben den bildlichen Zeichen, die seinen ritterlichen Stand, auch seine höfische Etikette darstellen, sind besonders der Körper und die Pose des politischen Dichters und weltoffenen Minnesängers von Bedeutung. Der Kopf ruht gedankenschwer in seiner linken Hand, gestützt von seinem Arm, dessen Ellenbogen auf dem angewinkelten Knie liegt. Sein Blick: verträumt oder nachdenklich. Diese Pose ist nicht ganz unbekannt, schon damals nicht; und bis heute hat sie symbolischen Wert: 9 „Den Ellbogen auf ein Knie und den Kopf in die Hand gestützt, so gebeugt sitzt seit Menschengedenken, wen die bildende Kunst als einen in sich Gekehrten, einen Geistesbeschäftigten einbilden will. Von der antiken Grabstele des Demokleides aus dem 4. Jh. v. Chr. über den mittelalterlichen Christus im Elend und Albrecht Dürers Melancholia I bis hin zu Rodins Skulptur Der Denker (der zuerst Der Dichter hieß), steht die physische Haltung des Versunkenseins in sich selbst für die mentale, veräußerlicht das Körperzeichen Trauer, Melancholie, Nachdenklichkeit oder Selbstreflexivität.“10

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Bildnis Walthers von der Vogelweide. Entnommen aus Frank Möbus/Friederike SchmidtMöbus (Hrsg.): Dichterbilder. Von Walther von der Vogelweide bis Elfriede Jelinek. Stuttgart 2003, S. 14. 9 Von der antiken Grabstelle des Demokleides aus dem 4. Jahrhundert vor Christus über Dürers Gemälde Melancholia I bis hin zu Rodins Skulptur Der Denker, die ursprünglich Der Dichter heißen sollte, steht die physische Haltung des Versunkenseins in sich selbst, die das Körperzeichen von Nachdenklichkeit und Selbstreflexivität veräußert und die individuelle Ausgestaltung persönlicher Charaktermerkmale typologisch überdeckt. 10 Vgl. Gerd Dicke: Walther von der Vogelweide. In: Frank Möbus/Friederike SchmidtMöbus (Hrsg.): Dichterbilder. Von Walther von der Vogelweide bis Elfriede Jelinek. Stuttgart 2003, S. 14 (Herv. i. O.).

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Handelt es sich nun um eine Selbststilisierung oder um eine Interpretation des Dichterwesens durch den Maler? Entstanden ist das Dichterbildnis Walthers von der Vogelweide (1170-1230) hundert Jahre nach Walthers Tod, im Jahr 1330. Die Vorlage von Walthers Bildnis sind die von ihm verfassten Verse, die der Maler als lyrische Selbstdarstellung deutete: „Ich saz ûf eime steine und dahte bein mit beine. dar ûf sazte ich den ellenbogen ich hete in mîne hant gesmogen [geschmiegt] mîn kinne und ein mîn wange dô dâht ich mir vil ange, wes man zer wete sollte leben […].“11

Die körperliche Abwesenheit des porträtierten Dichters ist charakteristisch für die frühe Form der bildlichen Inszenierungskunst. Dies war damals üblich und auch deshalb unproblematisch, da es galt, den jeweiligen Dichter als ein Mitglied seiner Zunft darzustellen. Nicht der Künstler als Person sollte im Bild verewigt werden, sondern ein Typus. Gert Dicke pointiert die mittelalterliche Inszenierungskonvention folgendermaßen: „Das Bild ist eine profane Ikone, es porträtiert nicht, es repräsentiert mittels der Pose eine Befindlichkeit, einen Habitus oder – so wie hier im Codex Manesse mit seinen 138 Autorenbildern – eine Rolle: die des Dichters.“12 Diese typisierende Darstellungsweise erfolgt im Modus der bildnerischen imitatio einer universellen Idee vom Künstler- und Dichtersein, sie konzentriert sich auf verlässliche Wiedererkennungswerte und Konstanten der dichterischen Erscheinung, indem sie von seiner historischen, kulturellen und personalen Individualität abstrahiert. Die Hinwendung zu den Konkreta der Dichterwelt ließ jedoch nicht lange auf sich warten. Sie etablierten sich mit der Entfaltung des Individualitäts- und Subjektivitätsbegriff, beginnend in der frühen Neuzeit, exemplarisch mit Oswald von Wolkenstein.

11 Vgl. Dicke, Walther von der Vogelweide. In: Möbus, Dichterbilder, S. 14. 12 Ebenda, S. 14.

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E RWACHENDE I NDIVIDUALITÄT IN DER F RÜHEN N EUZEIT . U ND ERSTE S CHÖNHEITSKORREKTUREN Das erste realistisch gezeichnete und authentische Individualporträt der Literaturgeschichte ist das Dichterbildnis Oswalds von Wolkenstein, des Tiroler Ritters und Lyrikers.13

Abbildung 6: Oswald von Wolkenstein (um 1432)14 In den Jahren nach 1400, an der Epochenschwelle vom Mittelalter zur frühen Neuzeit, markierte die Selbstdarstellung Oswalds erstmals ein künstlerisches Selbstverständnis, das ungeniert und unverschleiert das individuelle dichterische Ich exponierte. Mit seinem Bild, das als Peritext am Beginn seiner handschriftlich von ihm verfassten „Werkausgabe“ platziert ist, machte Oswald also kurzerhand sich selbst und sein ruhmvolles, abenteuerliches Leben zum Hauptthema –„nicht immer vorteilhaft, aber stets auf den eigenen Vorteil bedacht, ichbewusst und standesstolz, groß im Großtun mit Ländern, die er bereist, Sprachen, die er gesprochen, Potentaten, denen er gesungen hat, kleinmütig und wenig zimperlich in unzähligen Zwisten, empfindlich und empfindsam, dickschädelig und dünnhäutig“ 15, so Dicke. Nicht etwa fremde Welten und Geschichten wurden ersonnen, sondern das eigene Leben verbal, singend umkreist. Auch in seinen Texten machte sich Oswald selbst zum Protagonisten. Die inhaltliche Verschiebung innerhalb des Textwerkes zugunsten der Fokussierung auf die Dichterperson, so dürfen wir vermuten, kam nicht nur der eigenen Eitelkeit entgegen, die zuvor hinter der typologischen Darstellung zurückblieb, sondern auch dem wachsenden öffentlichen Interesse. Die langsam entste-

13 Vgl. Dieter Kühn: Ich Wolkenstein. Frankfurt a. M. 1977. Und: Anton Schwab: Oswald von Wolkenstein. Eine Biografie. Bozen 1979. 14 Oswald von Wolkenstein, Tempera auf Pergament (49 x 34 cm), gez. von Antonio Pisano, gen. Pisanello, um 1432. In: Liederhandschrift B. Universitätsbibliothek Innsbruck. Hier entnommen aus: Gerd Dicke: Oswald von Wolkenstein. In: Möbus, Dichterbilder, S. 16. 15 Ebenda, S. 16.

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hende Öffentlichkeit wird sich nur wenige Jahrzehnte später mit der Erfindung des Buchdrucks endgültig kulturell konsolidieren und schnell von den ökonomischen Gesetzen des Marktes gelenkt werden. Oswalds von Wolkenstein dichterisches Werk, eine frühe Form der persönlichen Erlebnisschriftstellerei, deutet somit bereits den Endpunkt der mittelalterlichen, höfischen Lyrik an und weist auf eine Öffnung und Erweiterung des Publikumskreises hin. Seine lyrischen Gesänge und Oswalds bildliche Selbstdarstellung setzen – für seine Zeit visionär – einen neuzeitlichen Gestus in Szene, sie teilen sich das Hauptmotiv: Oswald selbst. Im achtzehnten Gesang seiner etwa 130 allesamt biografisch grundierten und zur Selbststilisierung tendierenden Lieder betont Oswald beispielsweise: „ich Wolkenstain will vor allem geschätzet sein“16. Nicht die Sujets minne und aventiure exponieren seine Texte im Liedgut der Zeit, sondern die Verbindung historischer und biografischer Realität zu einem zusehends individuellen Dichter-Ich. Seine Texte von freud und laid des adligen Weltlebens, die er ebenfalls im Repertoire hat, porträtieren zudem weniger den Adel als Oswald im Kreise des Adels. „Vorrangiges Movens seiner Lieder ist Geltungsbedürfnis, gevallen ihr Daseinszweck, […] (Lied 18/VII). Nicht zu dichten, zu komponieren, zu singen, so Oswalds Sorge, würd’ ihn schier in vergessen geraten lassen – durch churze jar niemand mein gedächte (Lied 117/1).“17 Zum Vergessen kam es nicht. Schließlich wusste Oswald der eigenen Memoria durch zahlreiche Bildnisse aufzuhelfen, die ihn als feudalen Würdenträger, als Kreuzritter, adligen Sänger und schiffbrüchigen Handlungsreisenden zeigen. Schauen wir uns das Dichterbildnis genauer an. Massige Statur, ernster Ausdruck, energischer Mund, unbezähmbar gelockt das Haar, ein Auge lädiert – „gäbe man etwas auf Physiognomie, man ginge diesem Herrn wohl lieber aus dem Weg“ 18, notiert Gerd Dicke seine Empfindungen bei der Betrachtung des Dichterporträts von Oswald von Wolkenstein (1376-1445). An diesem Bild werden zwei sich ergänzende Elemente deutlich, die für die Selbstinszenierung des Künstlers in der frühen Neuzeit entscheidend waren: erstens die nach wie vor enge Verbindung zwischen dem Künstler und der Gelehrsamkeit (mit pelzverziertem Hut und Kragen, mit golddurchwirktem Gewand und mit Orden behängt, repräsentiert der Dichter sich als ordentliches Mitglied des adligen Standes) und zweitens die sich in den Grenzen der Mimesis bewegende Subjektivierung (physiognomisch erscheint Oswald von Wolkenstein bereits individuell und unverwechselbar). Nicht das Ideal, sondern die Natur ist die Lehrmeisterin des Porträtmalers (maestra de’pittori)19. Diese muss dem Dargestellten übrigens nicht zwingend gefallen. Jedenfalls gefiel sie wohl Oswald nicht, der gegen die allzu mimetische Frühfassung seines Porträts protestierte und eine Nachbesserung seines Bildnisses einforderte: „Denn von der Rückseite und bei Licht besehen (am besten bei dem einer Infrarotlampe) tritt in Form einer Vorzeichnung ein Oswald von Wolkenstein aus dem Schatten seiner selbst, wie er sich offenbar nicht gefiel und

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Gerd Dicke: Oswald Wolkenstein. In: Möbus, Dichterbilder, S. 16. Ebenda, S.16 (Herv. i. O.). Ebenda, S. 16. Heinrich Ludwig (Hrsg.): Leonardo da Vinci. Das Buch von der Malerei (entstanden 14901498, erschienen 1651). Bd. I. Wien 1882, S. 44 f.

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nicht porträtiert sehen wollte: der Hals faltiger, die Gesichtszüge schlaffer, auch die Oberlippe vernarbt, Pusteln auf der Nase – ein alter matter Mann.“20 Derlei Einforderungen von Schönheitskorrekturen wie Oswald sie offenbar durchsetzte, bezeichnet man heute in der Sozialpsychologie als Strategie des selfenhancing,21 also als Hang zur Selbsterhöhung und Beschönigung. Damit ist jene Tendenz gemeint, sich kurzfristig besonders positiv darzustellen. Nachträglich eingeforderte Korrekturen am öffentlichen Bild kann entgehen, wer als Künstler selbst fähig ist, sich vollkommen eigenständig in Szene zu setzen und – zeichnerisches Geschick vorausgesetzt – zu porträtieren, wie es zwei Jahrhunderte später beispielsweise Diego de Velázquez tat.

Exkurs: Velázquez’ versteckte Selbstdarstellung Die berühmte Selbstdarstellung Diego de Velázquez’ aus dem Jahre 1656, über die Foucault schreibt, sie gebe einen Zauber frei und habe die Bestimmung „Repräsentationen zu geben, sie aber in Frage [zu] stellen, sie [zu] verhüllen“ 22, ist für die Erforschung der Selbstinszenierung nicht nur deshalb von besonderem Interesse, weil an der malerischen Inszenierung das allmählich voranschreitende Selbstbewusstsein der Künstler im Allgemeinen zu beobachten ist, sondern vielmehr weil die malerische Repräsentation in aller Ehrenhaftigkeit funktioniert. Velázquez’ Selbstporträt (ist er auch kein Schriftsteller, sondern Künstler) hilft somit zu verstehen, wie das dynamische Prinzip der Wirkung eines bewusst inszenierten Bildes vonstattengeht. Auffällig an Velázquez Gemälde ist zunächst, dass das eigentliche Mal-Motiv in dem fast neun Quadratmeter großen Bild fehlt.23 Der Dichter Theophile Gautier hat seine Verwunderung über die Motivverweigerung in einem Ausruf des Erstaunens Ausdruck verliehen: „Où est donc le tableau?!“ („Wo ist denn das Bild?!“).24 Das Bild zeigt statt eines klassischen Motivs den Maler selbst, Velázquez, in seinem Atelier im königlichen Schloss in Madrid bei der Arbeit an einem Porträt. Die Gestaltung lenkt den Blick in den Innenraum des Ateliers. Vorne, in der Mitte des Ateliers steht, kokette Schüchternheit vortäuschend, die fünfjährige Prinzessin Margarita, zu ihrer Rechten und ihrer Linken von zwei Hofdamen umgeben, die sie anblicken. Hinter diesen Drei stehen zwei weitere Bedienstete: eine Ehrendame und der Hofbeamte,

20 Gerd Dicke: Oswald Wolkenstein. In: Möbus, Dichterbilder, S. 16. 21 J. T. Tedeschi/S. Lindskold/P. Rosenfeld: Introduction to social psychology. St. Paul (USA), 1985. 22 Michel Foucault: Die Großzügigkeit des Spiegels. Zu Diego de Velázquez’ Las Meninas (1971). In: Jan Engelmann (Hrsg.): Foucault. Botschaften der Macht. Stuttgart 1999, S. 93109, 98. 23 Lange trug das Bild den Titel „La familia de Felipe IV“, erst seit 1843 wird es im Katalog des Museums del Prado, in dessen Besitz es sich auch heute befindet, als „Las Meninas“ (Die Hoffräulein) geführt. (Zur Geschichte des Bildes vgl. ausführlich Wolfgang-Michael Auer: Las Meninas von Velázquez. Bochum 1976.) 24 Vgl. Christiaan L. Hart Nibbrig: Spiegelschrift. Spekulationen über Malerei und Literatur. Frankfurt a. M. 1987, S. 75.

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der bei Ausflügen des Königskindes in die Natur neben der Kutsche zu reiten pflegte. Der vordere Bildrand wird von zwei kleinwüchsigen Personen beherrscht, die zu den Spaßmachern des Hofes zählten, und einem Hund. Der linke vordere Bildrand wird von der Rückwand einer Staffelei geziert. Weiter im Rauminnern steht Velázquez. Er hat sich so positioniert, dass er auf die Vorderseite der Leinwand und sein entstehendes Kunstwerk schauen könnte – das tut er aber nicht. Er blickt an der Staffelei vorbei, aus dem Bild hinaus und fixiert den fiktiven Betrachter des Gemäldes, der in dieser Komposition das Modell des Malers verkörpern könnte. Der Spiegel, der tief im Rauminnern, an der Rückwand des Ateliers hängt, reflektiert das von Velázquez tatsächlich Betrachtete und gibt die entscheidende Antwort, wer Velázquez wohl Modell stand: Es war das spanische Königspaar. Nur die Reflexion holt das aus dem Bild weitgehend verbannte Sujet des Malers wieder ins Bild hinein, in Form eines winzigen und marginalisierten Adelsporträts im Bildhintergrund.

Abbildung 7: Diego de Velázquez’ Las Meninas – verstecktes Selbstporträt25 Das Bild enthält zahlreiche Merkmale prototypischer Ausdrucksformen der Selbstinszenierung. Unverkennbar ist der Gestus der Selbsterhöhung: Velázquez stellt sich nicht nur als Adliger dar, wie es auch schon Oswald tat, in hochwertiger Robe und dem Orden auf der Brust, sondern auch besonders groß: Er überragt alle Personen im Raum an Körperlänge – und das, obwohl er etwas nach hinten versetzt posiert. Die Malerpalette, der Pinsel in der rechten Hand und die Leinwand sind Signum der künstlerischen Metakommunikation. Als in Szene gesetztes Handwerkszeug des Künstlers stabilisieren und demonstrieren sie (vorerst) kaum mehr als den traditionellen Künstlertypus. Was an der Oberfläche als malerische Perfektion erscheint, ver-

25 Diego de Velázquez: Las Meninas. Entnommen aus: Jan Engelmann (Hrsg.): Foucault. Botschaften der Macht. Stuttgart 1999.

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birgt eine kühne Ironie. Der die Perfektion irritierende, durch diese störende Brechung einen neuen Reiz auslösende, inszenatorische Kunstgriff von Velázquez realisiert sich durch den auffälligen, bewusst stilisierten Mangel an kleinteiliger Ausführlichkeit. So fällt zum Beispiel die nachlässige und schmucklose, malerische Unvollendetheit des Bodens auf, der nicht einmal seine Stofflichkeit erahnen lässt, was im Kontrast zu Velázquez eigener präziser Ausgestaltung steht – eine Technik, die heute in den fotografischen Porträtaufnahmen, bei denen der Hintergrund verschwimmt und nur das Objekt scharf abgebildet wird, eine moderne Entsprechung findet. Die gesamte obere Hälfte des Bildes ist in ein Dunkel gehüllt, das kaum mehr als Konturen zu zeigen bereit ist; somit fehlt ebenfalls jene für die Malerei der Zeit typische, detailreiche Ausgestaltung der Gegenstände wie Lampen und Bilder. Diese Auslassungen stehen zudem in enger Verbindung mit der Maxime einer offenironischen Ästhetik, einer elliptischen Unvollendetheit des mäeutisch Unabgeschlossenen und des Provokanten. Dieses bei Velázquez in Ansätzen sich andeutende inszenatorische Stilelement der abgekürzten Manier, der bewusst stilisierten Nachlässigkeit der Umgebung zugunsten des Künstlers selbst findet sich bis heute in zahlreichen fotografischen Selbststilisierungen, etwa bei der Schriftstellerin Friederike Mayröcker oder dem Schriftsteller Thorsten Becker, die bildlich ihre Gleichgültigkeit gegenüber Konventionen (zum Beispiel die der Ordnung) und eine künstlerischfreiheitliche Pflichtvergessenheit inszenieren.

Abbildung 8: Arbeits- und Denkräume: Mayröcker (o.), Becker (u.) 26

26 Arbeitszimmer von Friederike Mayröcker, fotografiert von Herlinde Koelbl. Entnommen aus: Herlinde Koelbl: Schreiben! 30 Autorenporträts. München 2007, S. 91. Und: Lebens-

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Die stilisierte Nachlässigkeit kann sich motivisch in einer Entleerung (Becker) wie in einer Überladung des den Künstler umgebenden Raumes (Mayröcker) ausdrücken, der dadurch distinktiv und einzigartig von der Norm des Alltäglichen abweichend wirkt. Die sichtbare Nachlässigkeit kann als Ausdruck des schöpferischen Moments gedeutet werden. Bei Becker ist es die mit der Auslassung und dem Verzicht konnotierte Abstraktion von materiellen und christlichen Werte (Unordnung, Unmäßigkeit, Trägheit). Hinzu kommen eine symbolische, im Stile von Günter Eichs Inventur dargestellten Reduktion (meine Zigaretten, mein Brot, meine Heilsalbe) sowie eine von Gleichgültigkeit gegenüber dem eigenen Körper zeugende Fokussierung auf die geistige Tätigkeit. Bei Velázquez manifestiert sich die bewusste, stilisierte Nachlässigkeit – anders als bei Becker und Mayröcker – jedoch nicht in einer lebensmotivischen Nachlässigkeit, sondern einzig in einer malerisch-technischen Stil-Ellipse. Der Verzicht auf das Einhalten anerkannter Verhaltenskonventionen offenbart sich – und zugleich das Selbstverständnis des Künstlers – durch das zwar im Mittelpunkt der Szene zu erkennende, aber nur unscharf angedeutete, verborgene und doch eigentliche Motiv des Kunstwerks von Velázquez: das spanische Königspaar, das den Anlass seines Schaffens und Wohlergehens am Hofe symbolisiert. Einzig durch die ästhetische Ironisierung und Degradierung des Königspaares, von dessen Nähe, Macht und Glanz Velázquez profitiert, ist seine eigene Motiv-Werdung möglich;27 „endlich befreit von dieser Beziehung, die sie [die Repräsentation] ankettete, kann die Repräsentation sich als reine Repräsentation geben.“28 Trotz der inszenierten Nachlässigkeit der Nebenmomente des Bildes haben diese bei Velázquez einen wichtigen und mehrdeutigen, metaphorischen Charakter.

raum und Selbstporträt von Thorsten Becker (1996), fotografiert von Oliver Herrmann. Entnommen aus: Michaelsen, Starschnitte, S. 119. 27 Seine Kühnheit und Selbstsicherheit rührten aus Velázquez Stellung am Hofe und seine enge Beziehung zum König. Sein zeichnerisches Talent und seine adlige Herkunft verschafften ihm früh Ruhm und bald die Berufung nach Madrid. Als er 23 Jahre alt war, porträtierte er den König mit so großem Geschick, dass er sofort zum Maler seiner Majestät ernannt wurde. Er knüpft Kontakte zu zahlreichen Malern, darunter Rubens. Velázquez ist in der glücklichen Lage eines Adligen in hoher Stellung mit finanzieller und künstlerischer Unabhängigkeit, prinzipiell fähig zur reinen Kunstausübung. Ungeachtet dessen nimmt Velázquez seine Berufsrolle als Hofmaler nicht wirklich an, wichtiger war ihm der Aufstieg in den Hochadel. Zu diesem Zweck musste er 140 Zeugen benennen, darunter der Papst, die bestätigten, dass er niemals zum Bestreiten des Lebensunterhalts gemalt habe – dies ist ihm gelungen. Seiner selbsterhöhenden, frechen Stilisierung ist es geschuldet, dass er letztendlich nur wenige Bilder zeichnete, denn jedes Bild stand im Widerspruch zu seiner erreichten Standesrolle. (Vgl. J. Ortega y Gasset: Velázquez und Goya. Stuttgart 1955.) (Er ist somit auch ein frühes Beispiel dafür, wie die hohe Wertschätzung, die den sogenannten sekundären Diskursen entgegengebracht werden, und der unbedingte Ehrgeiz der Aberkennung in diesem Diskurssystem die wirklichen Talente überdecken und welken lassen können.) 28 Michel Foucault: Die Großzügigkeit des Spiegels. In: Engelmann, Foucault. Botschaften der Macht, S. 93-109, 109.

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Darüber hinaus ist an dem Gemälde Velázquez das Suchen und Finden im Spiegel (der als Metapher und Sinnbild für das Publikum des Künstlers gelten kann) sowie der Topos der Selbst-Bespiegelung im Kunstwerk interessant. Wie der gemalte Spiegel bei Velázquez, über dessen Funktion Foucault schreibt, er sei in einer überraschenden und heftigen Bewegung auf der Suche nach etwas vor dem Bild Befindlichen (etwa nach der Macht in der Verkörperung des Königspaares oder nach dem fiktiven Publikum), 29 wäre auch das Kunstwerk selbst als Spiegel und Metapher für das Suchen nach dem Publikum deutbar. Die künstlerische Selbstinszenierung enthüllt etwas und behält dennoch einen wesentlichen Teil für sich. Wie der Spiegel verzerrt die Selbstinszenierung und lässt dem sich selbst Inszenierenden oder durch fremde Hand dargestellten Objekt sein Geheimnis, weil es in dem, was es einfängt zwangsläufig indifferent und unvollständig bleiben muss. Auch ein Spiegel oder ein Gemälde reflektiert nur die Vorderseite, eine Dimension; die Rückseite, das Dahinterliegende bleibt ungesehen. Ein Indiz für eine zweite, sich hinter dem Selbstbildnis öffnende Dimension ist die Tür an der Rückseite des Innenraums des Bildes von Velázquez. Die Tür schneidet ein helles Rechteck aus dem Bild heraus, dessen mattes Licht nicht in das Zimmer dringt. Hinter der Tür beginnt ein Korridor, „aber statt sich in der Dunkelheit zu verlieren, löst er sich in einer gelben Helle auf, in der das Licht, ohne nach vorne einzudringen, in sich selbst tobt und seine Ruhe findet.“30 Aus diesem erleuchteten Fluchtpunkt hebt sich die dunkle Silhouette eines Mannes ab. Man sieht ihn nur im Profil, seine Füße ruhen auf zwei unterschiedlichen Stufen, er ist in Bewegung. Er befindet sich an der Schwelle des dargestellten Raumes. Ganz so als sei es ein kleines Ich des Künstlers – jenes, das auf der Flucht ist. Wie Bertolt Brecht, der hinter seinen Aussagen verschwinden wollte und seinem Publikum mitgab: „Wer immer es ist, den ihr sucht, ich bin es nicht.“31 Das Besondere und für die Analyse der Selbstinszenierung Lehrreiche: In dem Bild von Velázquez „findet ein ständiger Austausch zwischen Betrachter und Betrachtetem statt“32, eine lebendige, kommunikative Wechselwirkung, eine „Bildüberschreitung“33, ja Sphärenvernetzung zwischen künstlerischer Selbstinszenierung und Rezeption – eine gezielte Inszenierung des Blicks.34

29 Foucault, Die Großzügigkeit des Spiegels, S. 102. 30 Ebenda, S. 102. 31 Werner Hecht/Jan Knopf et al. (Hrsg.): Bertolt Brecht. Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. 30 Bände. Berlin, Weimar, Frankfurt a. M. 1988-2000. Bd. 11, S. 199 f. 32 Foucault, Die Großzügigkeit des Spiegels, S. 95. 33 Gottfried Boehm: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens. Berlin 2007. 34 Seit der Antike wissen wir zwar, dass alle Gemälde und sprachlich gezeichneten Bilder „Schattenbilder“ sind, haben aber dennoch erfahren, dass diese literarischen oder medialen Bilder einen emphatischen Rezeptionsprozess einleiten können, der die Medialität überschreitet, und zu einem Realitätserlebnis führt – sei es die Animation zum Selbstmord nach der Lektüre Goethes oder die Ermutigung zur Auslebung der eigenen Gewaltbereitschaft nach dem ausufernden Konsum des Computerspiels Counterstrike. Vielseitige (weniger theoretische (Eco, Derrida, de Man, Benjamin, McLuhan etc.) als an der Praxis geschulte)

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Die Inszenierung des Blicks als wirkungsvolles Element der Selbstdarstellung Der Aspekt, der die Selbstinszenierung von Velázquez nicht nur als historisches Indiz, sondern darüber hinaus auch für die aktuelle Kunst der Selbstdarstellung so bedeutungsvoll macht, ist also die Sphärenvernetzung zwischen dem Bild und dem Betrachter. „Von den Augen des Malers zu dem von ihm Betrachteten ist eine beherrschende Linie gezogen, der wir uns als Betrachter nicht entziehen können. Sie durchläuft das wirkliche Gemälde und erreicht diesseits seiner Oberfläche jenen Ort, von dem aus wir den Maler sehen, der uns beobachtet. Diese Linie erreicht uns unweigerlich und verbindet uns mit der Repräsentation.“35

Dem Anschein nach ist dieses Prinzip, mit dem der Maler den Betrachter in seinen Bann zieht, sehr einfach. Es beruht auf der Reziprozität und nimmt seine Kraft aus dem Blick, den auch Peter Handke, der uns später noch begegnen wird, als Faszinosum erkannte, und der ihm in Phasen der Müdigkeit Momente des Glücks ermöglichte: „Lebendigkeit: ein Blick genügt“ (GW, 23) – von den großtuerischen Anflügen zunächst einmal abgesehen, die mit dem Schauen zusammenhängen („Die Welt geht auf vor meinen Augen“ (GW, 43)). Aus seinem Bild schaut der Maler Velázquez den Betrachter an, als ob er diesen (an)erkennt. „Nichts als ein Sichgegenüberstehen, sich überraschende Augen, Blicke, die sich kreuzen und dadurch überlagern. Dennoch umfließt diese dünne Linie der Sichtbarkeit ein ganzes komplexes Netz von Unsicherheiten, Austauschungen, Ausweichungen. Der Maler lenkt seine Augen nur in dem Maße auf uns, in dem wir uns an der Stelle eines Motivs befinden. Wir, die Zuschauer, sind noch darüber hinaus vorhanden. Von diesem Blick aufgenommen, werden wir von ihm auch verdrängt und durch das ersetzt, was zu allen Zeiten vor uns da war: durch das Modell. Umgekehrt akzeptiert der Blick des Malers, den dieser nach außen in die ihm gegenüberliegende Leere richtet, so viele Modelle, wie Betrachter vorhanden sind.“36

Durch diesen positiv-egalisierenden Blick trifft der Maler das Bewusstsein des Betrachters. Die „eigentümliche Wirkung“37, die bildliche Selbstdarstellungen auslösen

Antworten auf die Frage, wie Medien den Effekt erzielen, ihre eigene Medialität zu überschreiten? gibt Martin Andree: Archäologie der Medienwirkung, Faszinationstypen von der Antike bis heute. München 2005. 35 Foucault, Die Großzügigkeit des Spiegels. In: Engelmann, Foucault. Botschaften der Macht, S. 94. 36 Ebenda,S. 95. 37 Andreas Cremonini: Was ins Auge sticht. Zur Homologie von Glanz und Blick. In: Gottfried Boehm et al. (Hrsg.): Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt. München 2008, S. 93-118, 93.Andreas Cremonini belegt die sprach- und kulturgeschichtlichen Spuren, die Glanz und Blick (engl.: glance) und Glanz und Glamour miteinander verbindet, um auf der Grundlage dieser Homologie Blick- und Glanzeffekte kommerzieller, ikonengebundener Inszenierung (z. B. Sharon Stone für Dior, Kylie Minogue für H & M etc.) zu analysieren.

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können, haben somit nur zum Teil ihren Ursprung im Dargestellten, dem sogenannten sujet. Ebenso wichtig wie die Wirkung der dargestellten Person ist „der Nachhall, den die Darstellung im psychischen Resonanzboden des Betrachters“38 findet. In Das Sein und das Nichts führt Sartre aus, wie nicht das Sehen, sondern der Prozess des Gesehen-Werdens die Subjektkonstitution ermöglicht. Dieser Prozess der Subjektkonstitution wird am Beispiel Velázquez auf doppelte Weise realisiert: Velázquez’ Selbstporträt ist zum einen ein wesentlicher Teil seines öffentlichen Selbst, das die Grundlage schafft, dass er angeblickt wird. Umgekehrt ermöglicht seine malerisch inszenierte Augenkommunikation die Illusion der Subjektkonstitution des Betrachters, der im Moment der Betrachtung ebenfalls wirklich wird, weil er das „Bewusstsein davon erlangt, angeblickt zu werden.“39 Das bedeutet, dass der (inszenierte) „Blick […] zunächst ein Bindeglied [ist], das von mir auf mich selbst verweist.“40 Der Blick, der sich zwar am Auge des anderen entzündet („Der Blick des Anderen macht mich jenseits meines Seins in der Welt sein“ 41), löst sich unmittelbar vom Trägermedium ab und scheint vor dieses zu treten. Die lebendige Manifestation der Subjektivität des Betrachteten könne somit nicht allein reduziert werden auf gegenständliche Merkmale (wie das Auge oder die Pose), so Sartre, sondern beinhaltet eine Art ‚Mehr’, das sowohl durch die Komposition des Bildes als auch die zumeist emotionale Interaktion zwischen Subjekt und Objekt, Betrachter und Betrachtetem zustande kommt. Der Blick und die individuelle Empfindung bei der Gewahrwerdung der Teilnahme an einem Augen-Blick bleibt ausschlaggebend, doch leitet der Blick die angestoßene Empfindung auf weitere, außerhalb der reinen Blickhandlung liegenden Momente, auf die gesamte Darstellung, während zugleich – und das ist entscheidend

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Die Faszination des Glanzes und des Blickes beruhen für Cremonini, Bezug nehmend auf Aby Warburg, auf der „fiktiven Möglichkeit einer lokalen Blendung, dem Paradox einer eingeschränkten Entgrenzung des Sehens“ (S. 94). Für unseren Zusammenhang interessant ist seine Feststellung der affektiven Komponente des Blicks, die durch den Augenglanz im wörtlichen Sinne zustande kommt: „Glänzende Augen affizieren unmittelbar, sie haben einen unmittelbar leibhaftigen Einschlag“ (S. 107), den wir im alltäglichen Umgang meist nicht wahrnehmen. Merleau-Ponty habe diesem Glanzpunkt im Auge des Anderen und seiner künstlerischen Darstellung in den Porträt-Inszenierung eine glänzende Beschreibung gewidmet, die hier nur angedeutet sei; Merleau-Ponty schreibt: „Es braucht eine Jahrhunderte lange Geschichte der Malerei, ehe jener Reflex im Auge entdeckt wurde, ohne den es stumpf und blind bleibt […]. Offenbar wird der Reflex, da er solange unbemerkt bleiben konnte, nicht für sich gesehen, und hat doch seine unstreitige Funktion in der Wahrnehmung, da seine Abwesenheit genügt, […] Gesichtern den lebendigen Ausdruck zu nehmen.“ Maurice Merlau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966, S. 358. Glanz-Reflexe sind gemäß Cermonini stets eine „Quelle der visuellen Erregung“ (S. 112). Cremonini, Was ins Auge sticht. In: Boehm, Movens Bild, S. 93. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. In: Traugott König (Hrsg.): Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Bd. 3: Philosophische Schriften. Reinbek bei Hamburg 1991, S. 467. Ebenda, S. 467. Ebenda, S. 471.

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– die Reflexion über die Kausalität der Empfindung sowie über die Materialität des auslösenden Trägers minimiert werden. So ist die ganze Bild-Szene bei Velázquez gestaltet als ein Aufmerken, das dem Betrachter zu gelten scheint und das nur interaktionsästhetisch und über den Weg der Augenkommunikation zu erfassen ist. An dieser beteiligen sich auch die anderen Figuren auf dem Bild. Unvermittelt blickt die fünfjährige Prinzessin den Betrachter an; ein Blick aus den Augenwinkeln heraus riskiert die Hofdame der Prinzessin zu ihrer Linken. Erwartend schaut, vorne rechts im Bild, die kleinwüchsige Hofnärrin dem Betrachter ins Gesicht. Selbst der Hund! Velázquez gelingt es, an die Stelle der Passivität des Betrachters dessen aktive Einbezogenheit zu setzen und die Illusion der Unmittelbarkeit hervorzurufen. Die physiologische Wahrnehmungslenkung und die Bewegung des Blicks erfolgt, so Maurice Merleau-Ponty in seinem Aufsatz Der Zweifel Cézannes42, durch eine von den „Blickreflexionen“ ausgehende, sich in konzentrischen Kreisen wie kleine Wellen an einer Wasseroberfläche durchziehende Erweiterung der Wahrnehmung. Andere Reize des Bildes, führt Merleau-Ponty weiter aus, leiten und erweitern unmerklich unseren betrachtenden Blick; sie halten ihn in der Regel nicht fest, sondern führen ihn immer wieder zu dem Ursprungspunkt der Aufmerksamkeit zurück. Dies impliziert, dass nicht allein die Augenkommunikation, die in „einem ursprünglichen Seinsbezug zu mir“43 stehe, für die Wirkung eines Porträts ausschlaggebend sei, wenngleich sich an ihr die Wirkung entzünde. Auf einer sekundären Ebene relevant sind die anderen Komponenten des Bildes, die Kleidung, die dargestellte Bewegung, die Gegenstände, welche die Wahrnehmungswirkung verstärken oder verwirren können. An den Fotografien von Marilyn Monroe (um 1961) und Marlene Dietrich (1948) lässt sich dieses Prinzip und die konzentrische Erweiterung im Selbstversuch erproben.

Abbildung 9: Inszenierung des Blicks: M. Monroe (l.) 44, M. Dietrich (r.)45 Wirft Marilyn Monroe mit ihrem Blick in die Kamera den ersten anthropologischemotionalen Anker, der sich in der Wahrnehmung des Betrachters verfängt, so wird

42 Maurice Merlau-Ponty: Der Zweifel Cézannes. In: Gottfried Boehm/Karlheinz Stierle (Hrsg.): Was ist ein Bild. München 2006, S. 39-59. 43 Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 494. 44 Marilyn Monroe und Joe DiMaggio entnommen aus: Bronfen/Straumann, Diva, S. 63. 45 Marlene Dietrich fotografiert von Irving Penn. Entnommen aus: Ebenda, S. 64

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die Wirkung des Blickreflexes erhöht, sobald sich die Wahrnehmung des Betrachters auf das gesamte Setting ausdehnt: auf den im Gegensatz zu Monroe bewusst gesenkten Blick des Fahrers, auf das Lenkrad, auf die Abendgarderobe, auf die Hände, die Monroe vor ihre Schultern hält, schützend und gleichzeitig sich selbst betonend – ist doch die Geste des Sich-auf-die-Brust-Zeigens stets ein (wenn auch fragender) Hinweis auf die eigene Person („Meinen Sie mich?“). Der Blick der Monroe in die Dunkelheit hinein – die Nacht wurde, so steht zu vermuten, erst durch das Blitzlicht des Fotografen erhellt – offenbart die der Selbstinszenierung inhärente Suche nach dem Blick des Anderen. „Jeder Blick gibt uns Bewusstsein davon, dass es Andere gibt, für die ich existiere.“46 In welchem Maße auch immer der erstarkende Starruhm der 1950er-Jahre zu der medialen Ikone Marylin Monroe geführt hat, die den Blick eines Fremden in der Kameralinse sucht, die Szene handelt ebenfalls von einem der energetischsten Momente der Inszenierungskultur: der Übertreibung (im Sinne einer hypostasierten, besonders wirkungsvollen Authentizität), die sich in einer der Natürlichkeit kurzweilig entbehrenden Pose objektiviert. Dass dasjenige, was ich anblicke, mich anblickt, ist ein Befund der Metapsychologie, wie Georges Didi-Hubermann ausführt.47 Die Wirkung der Inszenierung des Augen-Blicks liegt bei Monroe, ebenso wie bei Velázquez, in der Dynamik, die sich in der Tatsache ausdrückt, „dass Bilder nicht nur Fakten, sondern auch Akte sind“48, Sinn generierende Gegenstände. Diese spielen mit dem Zusammenhang von Präsenz und Repräsentation in dem Maße, wie die Anwesenheit des Betrachters im emphatischen Sinne und die Projektion einer subjektiven Empfindung im oszillierenden Blick des Betrachters mit dem dargestellten Augenpaar provoziert werden. Die Vergegenwärtigung des eigenen Selbst im Blick des Anderen und die Spiegelung des Betrachters im Blick des Porträtierten sind eine durch das Medium und die Distanz bloß illusionierte und keineswegs mit der unmittelbaren Lebhaftigkeit und Erfahrung vergleichbar, die ich bei der unmittelbaren Präsenz meines Gegenübers verspüre, wenn dieser mich anblickt. Dennoch wird der Blick zum Angelpunkt der Inszenierung und zum „Ort der visuellen Transitivität“49, weil wir, ob medial vermittelt oder unvermittelt, „mit unserem Blick die Augen des Anderen in der Erwartung [suchen], dass hier das subjektive Leben, die Innerlichkeit des Anderen seinen lebhaften Ausdruck findet. Wie bedeutend wir auch immer den Beitrag anderer Zugänge schätzen – sprachliche, soziale oder symbolische“, es ändert nichts an der Tatsache, dass man annimmt, die „Subjektivität manifestiere sich in den Augen.“50 Während Sartres Betrachtung die wechselseitigen Aufmerksamkeitserzeugungen durch den Blick in den Mittelpunkt stellt, so bricht Merleau-Ponty in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung den gesamten bewusstseinstheoretischen Rahmen dieser Konzeption auf und erweitert die für die Analyse der Selbstinszenierung maßge-

46 Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 504. 47 Georges Didi-Hubermann: Was wir sehen, blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes. München 1999. 48 Gottfried Boehm: Repräsentation, Präsentation, Präsenz. In: Ders. (Hrsg.): Homo pictor. München 2001, S. 3-13, 4. 49 Cremonini, Was ins Auge sticht. In: Boehm, Movens Bild, S. 107. 50 Ebenda, S. 105.

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bende Forschungssensibilität und Wachsamkeit von der Affektion durch den Anderen (die er „Inter-Affektivität“ nennt) auf die Selbst-Affektion des Betrachters (die „IntraAffektion“). Die Erfahrung meiner Passivität in der Rolle des Betrachters (ausgelöst durch den fingierten Illusions-Moment des Erblickt-Werdens) ist damit nicht nur, wie Sartre wiederum meinte, eine allgemeine, durch die Intersubjektivität induzierte Selbst(bewusst)werdung, sondern darüber hinaus eine innere Begegnung mit einem Anderen meines Selbst, den verborgenen Seiten, die ohne das Andere, auch ohne die Kunst, nicht angestoßen worden wäre.51 Das bei der Betrachtung eines Anderen sich einstellende Oszillieren zwischen Inter- und Intra-Affektion (Fremd- und Selbstbetrachtung) ist zugleich Ursprung für das Wecken der Begierde, die als affektiver Impuls die Rezeption und den Erfolg einer Selbstinszenierung zusätzlich steuert – und später im Fan-Kult seinen Höhepunkt finden wird. Für das Gelingen der affektiven Sphärenvernetzung und einer jeden Inszenierung ist ein weiterer Aspekt wesentlich, der hier sichtbar wird: der Moment der Inszenierung einer Öffnung oder Selbstoffenbarung – in der Sozialpsychologie spricht man von der Strategie des self-disclosure.52 Die zur Anschauung gebrachte Offenbarung, die sich in der Ambivalenz von Pose und der in ihr verborgenen Echtheit konstituiert, zeigt Monroe in einer ihr eigenen, „auf Identifikation mit dem Publikum zielenden Menschlichkeit, die darin sichtbar wurde, dass sie [Monroe] offen zur Schau stellte, wie sehr sie den Blick der anderen brauchte.“53 Auch bei Marlene Dietrich ist die Inszenierung einer Öffnung vermittels der affektiven Sphärenvernetzung über die Blicklinie ablesbar. Durch die Abkehr und Rückenansicht – deren entscheidende Requisite, inszenatorisch, bild-stilistisch betrachtet, die schwarze Robe ist, die wie die dunkle Nacht auf dem Bild Monroes ein Geheimnis zu verhüllen imstande ist – wird der Blick (eigentlich posiert sie mit dem Rücken zum Betrachter) als nicht selbstver-

51 Die Vertiefung und Ausarbeitung der kaleidoskopartigen Spiegelung von Momenten des Selbst im Anderen soll Lacans Überlegungen und Ausarbeitungen zum Blick als Triebobjekt vorbehalten bleiben. Vgl. Norbert Haas/Hans-Joachim Metzger (Hrsg.): Jacques Lacan. Das Seminar. Buch XI: Grundbegriffe der Psychoanalyse (1972/73). Berlin 1987. Lacan betont, im Gegensatz zu Sartre, den intra-subjektiven Aspekt des Blicks, durch den ich mich selbst im subjektiven Leben des Anderen, das mir durch seinen Blick vermittelt wird, erkennen kann. Mit ‚Blick’ zielt Lacan somit auf den Umstand, dass es Anteile des Sehens gibt, die über die bloße Identifikation von Gegebenem hinausgehen (S. 102 ff.). Im Porträt des Schriftstellers oder Künstlers, auch der Monroe, lassen sich infolge dessen zwei Wirkmomente oder vereinfacht gesprochen zwei Orte unterscheiden: der Ort der Sichtbarkeit, der für das Auge des Betrachters geschaffen ist, und der Ort der Unsichtbarkeit, aber der Signifikanz, von dem aus der Betrachter sich angeschaut und anerkannt fühlt, der in ihm selbst liegt. Lacans kunstphilosophische Pointe besteht in der Behauptung, der Ort der Signifikanz verhalte sich zum Ort der Sichtbarkeit ‚exzentrisch’, weil er letztendlich in einem selbst verborgen bleibe (S. 109). 52 J. T. Tedeschi/S. Lindskold/P. Rosenfeld: Introduction to social psychology. St. Paul 1985. 53 Elisabeth Bronfen: Zwischen Himmel und Hölle – Maria Callas und Marilyn Monroe. In: Dies./Straumann, Diva, S. 42-67, 62 f.

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ständlich zu erwartender und als besonderer Moment der Öffnung inszeniert.54 Dadurch erlangt der Blick eine spezifische Intensität. „Ich betrachte den Blick, und dieser scharfe Blick hält mich fest, starrt mich an.“55 Nur wenige Jahre älter als Velázquez waren Albrecht Dürer, Johannes Gumpp und Jean-August Dominique Ingres. Die vereinnahmende Wirkung des Blicks in den Selbstbildnissen dieser drei Künstler untersuchte Bonafoux. Über die erwachende Individualität und die Inszenierung des Blicks hält Bonafoux fest: Dieser Blick, „er wird zum Köder.“ Der Blick, den der Maler auf die Leinwand malt, ist der Blick des Malers, also der gleiche Blick, der soeben noch den Spiegel belauert hat. „Nicht Narziss betrachtet mehr sein Spiegelbild, sondern die widergespiegelten Augen betrachten Narziss“, so Bonafoux und ergänzt. „Der eine oder andere muss sich betrügen lassen.“56 Neben dem Blick, der die hermeneutische Dynamik induziert, indem er als „bewusste Forderung, nicht etwa Ruheplatz“ ist, kommen zwei weitere Merkmale der Inszenierung zum Tragen: Wahrheit und Täuschung. Die Selbstdarstellung wird, wie schon bei Velázquez angedeutet, zu einem Spiel des wohlüberlegten Zeigens und Verbergens. Daran schließen sich einige Frage an: Betrügt sich der sich eigenhändig aufs Papier bringende Maler selbst? Verzerren seine Gedanken, die er über sich selbst hegt, seine Wahrnehmung? Geschieht dies bewusst und rechtfertigt deshalb den Begriff des Betrugs? Das imaginäre Element des Trügerischen ist jedenfalls dem Diskurs um die Selbstrepräsentation seit jeher eingeschrieben. Es zeigt sich möglicherweise auch verantwortlich für die Faszination am Phänomen der Selbstinszenierung. Denn dieser im Diskurs und damit in den Denkmustern virulente Aspekt des Trügerischen, dessen charakteristische Eigenheit es ist, etwas vorzugeben, um etwas anderes zu verbergen, liefert gedanklich ein Verborgenes mit, das unbewusst auf Ergründung drängt. Der Reiz entsteht somit nicht nur durch das Rätsel des Wesens des Abgebildeten, das die Abbildung nicht bereit ist aufzulösen, sondern durch die Dynamik, die den Betrachter auffordert, wachsam zu sein. Die dialektischen Reflexionsformen der Wahrheit und Täuschung, die diese Wachsamkeit einfordern, entfalten sich, wie auch schon in dem Gemälde von Velázquez, entlang des Spiegel-Phänomens. Gleich dem Spiegel, der prinzipiell alles ihm Gegenüberstehende mimetisch abbildet, intendiert das Selbstbildnis, das der Künstler von sich abgibt und das er gewinnt, indem er sein Spiegelbild belauert, zunächst die authentische Ganzheit des Seins und des Sichtbaren. Und an diesem Punkt öffnet sich der Horizont der platonischen Frage, ob das Sichtbare und die redliche Darstellung des Sichtbaren in der Selbstdarstellung das Sein abbilden und reflektieren kann oder ob die Abbildseite, die durch das Subjekt, das in den

54 Erst durch den Anderen, das Publikum wird diese für die Wirkung der Selbstinszenierung fundamentale Übertragung realisierbar; deshalb erfordert die Kulturgeschichte der Selbstinszenierung im Grunde auch eine Soziologie des Publikums. Denn das Publikum ist verantwortlich für die von Lacan definierte Begehrensseite, welche erst die triebhafte, auch ökonomische und kulturell relevante Realität des Bildes durch den Blick des Anderen herstellt. 55 Pascal Bonafoux: Der Maler im Selbstbildnis. Genf 1985, S. 23. 56 Bonafoux, Der Maler im Selbstbildnis, S. 23.

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Spiegel schaut und sich wahrnimmt, vermittelt wird, von dem (wahren) Wesenskern getrennt werden muss. Damit entspringt im Zentrum der Selbstinszenierung und der Abbildbeziehung das Problem des Erkennens, der Erkenntnis und der Reflexivität und mithin das eigentlich Authentizitätsproblem. Dieses Problem ist solange nicht aufzulösen, wie man eine Gattungsverschiedenheit zwischen künstlerischer Selbstdarstellung und Wahrheit oder Wirklichkeit postuliert, und es bleibt bestehen, solange das Prinzip der Mimesis, das die Entsprechung von wesenhaftem Urbild und inszenatorischem Abbild bestimmbar macht, nicht angegeben wird und es bei der Behauptung bleibt, das Bild und somit die Selbstdarstellung sei eine (trügerische) Nachahmung (oder verzerrte Spiegelung) des inneren Wesenskerns, anstatt die Selbstdarstellung als Darstellung mit eigenem Recht, als Erscheinung ohne Referenz zu betrachten.

Abbildung 10: Stefan George, sphinxhaft57 Eine besonders magische Belebung des Bildes geschieht auch noch fünf Jahrhunderte später, in der Fotografie durch den Blick des als charismatisch geltenden Stefan George. In der Forschung ist strittig, ob es sich bei der bemühten Augenstellung Stefan Georges (1868-1933) um ein Zitat aus der christlichen Bildtradition handelt, in der Jesus häufig mit nach oben in den Himmel gedrehten Augen dargestellt wird, oder ob George einen Löwen mimt, wie es Boehringer annimmt – „und die Augen drehten/ sich nur als wären sie vom leu der ruhte.“58 Sphinxhaft liegen auch Georges’ Hände wie Tatzen auf der Lehne, ruhig, anbetungswürdig. Nur der Blick verrät die Wachheit. So schreibt das Porträt Georges den Mythos des Majestätischen fort und ergänzt diesen durch die symbolische Eigenheit der Angriffsbereitschaft. Versteht man die Kamera wie in den frühen Jahren der Fotografie als eine technische Reinkarnation der Medusa, die ihre Opfer versteinert und in erzwungener Stellung erstarren lässt, ist der Blick Georges die Umkehrung der versteinernden Wirkung des Objekts durch den Akt des Fotografierens. Denn nicht die Kamera lässt den Fotogra-

57 Fotografie von Stefan George. Entnommen aus: Gunter E. Grimm: „Nichts ist widerlicher als eine sogenannte Dichterlesung.“ Deutsche Autorenlesung zwischen Marketing und Selbstpräsentation. In: Gunter E. Grimm/Christian Schärf (Hrsg.): SchriftstellerInszenierungen. Bielefeld 2008, S. 152. 58 Robert Boehringer: Mein Bild von Stefan George. 2 Bände. Bd. 2. Düsseldorf 1967, Bildtafel 138.

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fierten (hier George) erstarren, sondern mit dem lebendigen Blick zurück beginnt die Verkehrung und mit ihr die Inszenierung. Mit der Wirkungsmacht des Blicks spielend, wurde der Blick bald selbst zum Mittelpunkt der Selbstinszenierung: In der Fotografie Scherzo di Follia hält sich die Comtesse, die Gräfin Castiglione (1837-1899), die den Ruhm genoss, eine der schönsten Frauen des zweiten Kaiserreiches gewesen zu sein, ein dunkles Passepartout so vor ihr im Dreiviertelporträt dargebotenes Gesicht, dass das Passepartout zum Rahmen ihres Auges, ihres Blickes wird, während sie ihre dem Betrachter zugewandte Schulter und Armpartie neckisch teilentblößt. Durch die Rahmung ihrer selbst verweist sie auf die dem fotografischen Bild inhärente Schaulust, berührt den Bereich der Fantasie und Imagination und verdeutlicht die Mechanismen der medial vermittelten Selbstdarstellung, indem sie zeigt und doch verbirgt.

Abbildung 11: Blicke: Scherzo di Follia (l.),59 Les Yeux (r.)60 „In Scherzo di Follia verbirgt der Rahmen zudem paradoxerweise mehr, als er preisgibt. Das Oval zeigt uns nichts weiter als ihren Blick auf den Betrachter“ 61 und somit eine Verkehrung von Betrachter und Betrachtetem; es wirft die Frage auf, wer hier eigentlich wen beobachtet. Der Spiegel, den sie in der zweiten Fotografie hält und der einen Ausschnitt und ein Abbild ihres Gesichts zurückwirft, markiert, wie Foucault ausführt, einen „Grenzort“, der „vom Phantasma bevölkert“ ist, in gewissem Sinne eine Utopie: „Im Spiegel sehe ich mich da, wo ich nicht bin, in einem unwirklichen Raum, der sich virtuell hinter der Oberfläche auftut.“ 62 Es ist ein metareflexives Spiel der Inszenierung. „Der Künstler“, der mit diesem hybriden Ort des Spiegels spielt, schlüpfe in „die Rolle des Wilden, der Jagdbeute“, nah und unnahbar zugleich, so Foucault. Die Klugheit der Inszenierung bestehe darin, sich aufspüren und entde-

59 Virgina de Castiliogne: Scherzo di Follia. Fotografiert v. Pierre-Louis Pierson (um 186366). 60 Virgina de Castiliogne: Les Yeux. Fotografiert v. Pierre-Louis Pierson (um 1863-66). 61 Straumann, Comtesse de Castiglione. In: Bronfen/Straumann, Diva, S. 108. 62 Michel Foucault: Andere Räume (1967/1987). In: Karlheinz Barck (Hrsg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig 2002, S. 34-46, 39.

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cken zu lassen, seinen Jägern den Spaß nicht zu verderben, aber es ihnen auch nicht allzu leicht zu machen, denn sonst wendeten sich die Betrachter zu schnell gelangweilt ab.63 In einem von der Comtesse selbst verfassten Text, der ihre visuelle Selbstinszenierung in seiner Wirkung sprachlich ergänzt, schrieb sie über sich selbst: „Der ewige Vater wusste nicht, was er erschaffen hatte am Tag, an dem er sie das Licht der Welt erblicken ließ; er verlieh ihr eine so prächtige Gestalt, dass seine Sinne schwanden, als er nach getaner Arbeit sein herrliches Wunderwerk betrachtete. Er ließ sie dort, in einer Ecke, ohne ihr einen Platz zuzuweisen. In der Zwischenzeit rief man ihn woanders hin, und als er zurückkehrte, fand er die Ecke, wo er sie gelassen hatte, leer vor.“64

Drei Aspekte dieser sprachlichen Bespiegelung sind bemerkenswert. Zum einen versteht es die Comtesse, fiktional zu erzählen und dadurch sich selbst zu objektivieren, indem sie von sich selbst in der dritten Person berichtet und den Anschein erweckt, nicht sie selbst lobe sich, sondern ein anständiger Dritter. Zweiten stilisiert sie sich als ein von des Vaters Hand erschaffenes Kunstwerk. Damit verweist sie auf ihren göttlichen Ursprung – der ewige Vater –, dem sie zugegebenermaßen schöpferische Zerstreutheit andichtet, war er doch letztendlich verblüfft über sein herrliches Wunderwerk, und den sie durch diese Zuschreibung auch gleich noch übertrumpft. Drittens weiß sie eine nicht selbst verschuldete Ortlosigkeit in der Welt zu inszenieren, die, in Verbindung mit ihrer göttlichen Abstammung eine grandiose Selbsterhöhung zulässt.65 Auch diese Strategie könnte man als ‚fiktionales’ self-enhancing bezeichnen. Zudem trägt ihre Inszenierung durchaus ironische Züge, wie Barbara Straumann anmerkt, und greift die von Foucault definierte inszenatorische Klugheit auf. „Die Gräfin spaltet ihre Selbstinszenierung auf: Einerseits zelebriert sie eitel und selbstzufrieden ihre Schönheit, um andererseits ihre Vanitas selbst zum Objekt ihres selbstkritischen Blickes zu machen“, so Straumann. „In ihren Fotografien und im realen Leben entwirft sie sich mit ihren kontrollierten Posen, Kostümierungen und Rollen, die an überlieferte Bilder und Texte erinnern, als Kunstfigur und nährt mit ihrem distanzierten wie exaltierten Auftreten die Legenden, die sich um ihre Person ranken.“66 Erst die Komplettierung der visuellen Blick-Inszenierungen durch ihre sprachlichen Selbstdarstellungen konturiert ihren Mythos als Diva, auf den sich wiederum die weitere Wirkung stützt. Durch den Blick, mit dem sie den Betrachter fokussiert und durch das Spiel mit demselben soll sie auf ihre Mitmenschen wie eine unnahbare Göttin gewirkt haben, was ihrem Selbstverständnis entgegenkam. In einem ihrer Texte schrieb sie: „Ich bin den anderen so sehr überlegen, dass ich es vorziehe auf einem

63 Foucault, Andere Räume. In: Barck, Aisthesis,S. 40. 64 Vgl. Straumann, Comtesse de Castiglione. In: Bronfen/Straumann, Diva, S. 103. 65 Den Mythos ihrer Ortlosigkeit verbindet sie ebenfalls mit Geschichten über ihre Geburt, wie wir sie von Goethe, Grass und Jelinek kennen; so sagt sie von sich, sie sei „unter keinem guten Stern geboren“ und auch „nicht“ an einem ihr „angemessenen Ort“ auf die Welt gebracht worden (vgl. ebenda, S. 107). 66 Ebenda, S. 103.

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Gipfel zu leben, still, manchmal und stets unabhängig, und vor allem im Schutz vor den banalen Verhältnissen, die ich so hasse.“67

Zusammenfassung Der erste angesehene Künstler, der mit der selbstbewussten Selbstdarstellung und der Inszenierung des Blicks mit der Rezeptionswirkung zu spielen begann, war Diego de Velázquez. Neben Albrecht Dürer, der malerisch Ähnliches erprobte, stellte Velázquez erstmals über eine Pose ein neues künstlerisches Selbstbewusstsein aus, das bald für andere Künstler zum Vorbild wurde. In Bildern wie denen der Lebenskünstlerin de Castiglione, aber auch in Fotografien des 19. und 20. Jahrhundert leben zahlreiche der in Velázquez’ Gemälde erstmals manifestierten Inszenierungselemente fort, die, wie wir noch sehen werden, bis in die Gegenwart hinein eine Verfeinerung und Ausgestaltung erfahren.

H ÖFISCHE R EPRÄSENTANZ IM 17. J AHRHUNDERT Ein Versuch der Inszenierung des Blicks deutet sich historisch früh auch bei den Dichtern des 17. Jahrhunderts an und ist bereits auf einem Kupferstich aus den 1660er-Jahren abzulesen, der von Andreas Gryphius angefertigt wurde, wenngleich der Blick weniger charismatisch wirkt als der von Velázquez oder Dürer. Woran liegt das?

Abbildung 12: Andreas Gryphius’„Autogrammkarte“68

67 Vgl. Barbara Straumann: Comtesse de Castiglione – Die immer schon Vergängliche. In: Dies./Straumann, Diva, S. 102-113, 103.

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Gryphius Statur ist doch gleichwohl massig wie seine Pose weltmännisch ist. Auch an seinem positiv nach oben geschwungenen Bart oder an seiner Haarpracht – eine wichtige „Würdeformel“69 des Standesbewusstseins, die durch das Tragen einer Perücke am Hofe simuliert werden konnte – kann das fehlende Charisma nicht liegen. Bei genauer Betrachtung entdeckt man jedoch, wie Gryphius nicht den Betrachter anblickt, sondern schräg über ihn hinwegschaut und einen entfernten Punkt über der Schulter des Betrachters anvisiert – ein kleines Detail nur, das doch die Wirkung verändert von einem verbindenden Element des Augenkontakts zu einem sich selbst erhöhenden Moment. Gehen wir von der Gesamtwirkung zurück und betrachten das Bild und die schriftstellerische Selbstinszenierung im Detail. In dem Kupferstich von Andreas Gryphius (1616-1664) sticht auf den ersten Blick die ebenso herrschaftliche wie voluminöse, mit allerlei Zierrat geschmückte Kleidung ins Auge: der große weiße Latzkragen, das glänzende Seidenhemd, die gekräuselten Manschetten, die Handschuhe und das Schleifchen, das den Riegel ziert, der über den Bauch gespannt ist – also die äußere Ausstattung, „die für die Charakterisierung einer Persönlichkeit in der frühen Neuzeit wesentliches Instrumentarium war.“70 Die Bedeutung, die dieser Staffage und der Imitation des fürstlichen Habitus zugemessen wird, ist unter anderem daran abzulesen, dass der (Ober-)Körper und die Kleidung (nicht nur in diesem Stich, sondern auch in anderen zeitgenössischen Dichterbildnissen) mehr Raum einnehmen als das Gesicht des Dichters. Über die Bedeutung der für die Zeit der Renaissance typischen Selbstinszenierung vermittels der Kleidung, die über die Demonstration von status and prestige71 sowie der damit verbundenen credibility and trustworthiness72 funktioniert, um die Autorität zu legitimieren und die Meinung zu beeinflussen, schreibt Niefanger: „Diese [die Kleidung] war verhältnismäßig teuer, wurde selten gewechselt und gab relativ sicher Auskunft über den Stand, das Alter, die regionale Herkunft, das Geschlecht und unter Umständen auch über die Familie des Trägers. Gerade am Ornat – und nicht am Gesicht – kann man den militärischen Prahlhans mit seinen riesigen Stiefeln von dem würdigen Gelehrten mit schwarzem Rock, sauberem Hemd und weißem Kragen unterscheiden; selbst die Handschuhe zeugen von einer vornehmen Stellung. Gryphius ist in Kilians Stich als juristischer Vertreter der Glogauischen Stände zu sehen, also als mächtiger Mann. Darauf weist selbstverständlich auch die Körperform des standesgemäß Porträtierten: Die Leibesfülle und das volle Gesicht

68 Andreas Gryphius: Kupferstich (20 x 15cm), gefertigt v. Philipp Kilian (um 1660). In: Andreae Gryphii: Leich-Abdanckungen (Dissertationes Funebres), Leipzig 1667. Hier entnommen aus: Möbus, Dichterbilder, S. 24. 69 Vgl. Alexis Joachimides: Verwandlungskünstler. München, Berlin 2008, S. 94. 70 Dirk Niefanger: Andreas Gryphius. In: Möbus, Dichterbilder, S. 24. 71 J. T. Tedeschi/S. Lindskold/P. Rosenfeld: Introduction to social psychology. St. Paul 1985. 72 Ebenda. Ähnlich auch: Hans Dieter Mummendey: Psychologie der Selbstdarstellung. Göttingen, Toronto, Zürich 1990. (Besonders Kap. 7: Impression-Management-Strategien und -Taktiken.)

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von Gryphius zeugen einerseits von Wohlstand und Macht, andererseits aber auch von den rhetorischen Grundtugenden Gewicht und Würde.“73

Wer so dargestellt wird, habe etwas Wichtiges zu sagen. Ob er damit auch Gehör fand, war freilich noch nicht ausgemacht. Dennoch trägt zur Glaubwürdigkeit und zur standesgemäßen Wirkung (credibility and trustworthiness) maßgeblich die Darstellung der Augenpartie und des Blicks Gryphius’ bei – hätte das Bild doch eine ganz andere Wirkung, würde Gryphius die Augen niederschlagen. Die zitierte Kontextualisierung von Niefanger legt nahe, sofern wir sie als richtig annehmen wollen, dass hier das Leiden des Dichters an der Lebenswirklichkeit (noch) nicht zu finden ist oder jedenfalls verborgen bleibt, verdeckt unter allerhand Tand. Ein für die dichterische Selbstinszenierung in der Renaissance, im Barock und in der frühen Neuzeit charakteristisches Merkmal ist die um 1500 erstmals auftauchende, unterhalb des Porträts platzierte Vers-Inschrift. Durch die Gestaltung als Steinkonsole, auf die der Dichter lässig seine Hand legt, oder als Marmorsäule, in welche die Vers-Inschrift ‚eingraviert’ ist und auf die das Dichterporträt kompositorisch aufgesetzt erscheint, wirkt die Vers-Inschrift rahmend, erhöhend und den Dichter als Denkmalgestalt verewigend.74 Anders als noch in der Zeit der griechischen Antike, in der die Inschrift zumeist auf einen allgemeingültigen Satz begrenzt blieb (zum Beispiel „Das bessere Bild werden dir seine Schriften zeigen“, mit maximal einem sachdienlichen Hinweis wie „imago ad vivam efigiem expressa“/„Das Bildnis nach dem lebenden Bild gestaltet“), gewann im Barock die Schrift innerhalb der Porträtmalerei an Bedeutung. Wurde zudem in der Antike das Bild bekanntlich geringer geschätzt als die Schrift, deren Beziehung als Wettstreit angesehen wurde,75 standen Bild und Schrift, pictura und poesis, im Barock einander ergänzend nebeneinander und sollten zu einer möglichst umfassenden, eindeutigen Lesart beitragen. Inhaltlich greifen die (vorrangig in Latein, vereinzelt auch schon in deutscher sowie seltener in französischer Sprache verfassten) Inschriften auf die humanistischen subcriptions, die huldigenden, predigtartigen, lobrednerischen Paratexte zurück, auch panegyrische Epigramme genannt. „Die Eloge, das Preisgedicht auf die Kollegen der res literaria ist eine genuin humanistische (und damit neulateinische) literarische Gattung. Im 17. Jahrhundert machen solche Verse einen Großteil der Epigrammproduktion aus“76, schreibt Skowronek in ihrer Abhandlung über Autorenbilder. Auch Jutta Weisz weist die Enkomiastik und Panegyrik als charakteristisch für die Epigrammatik des 16. und 17. Jahrhunderts nach: „Der Gelehrtenstand, zu dem die Schriftsteller gehören, feiert darin sich selbst; die lobenden Referenzen werden

73 Niefanger, Andreas Gryphius. In: Möbus, Dichterbilder, S. 24. 74 Susanne Skowronek: Autorenbilder. Wort und Bild in den Porträtkupferstichen von Dichtern und Schriftstellern des Barock. Würzburg 2000, S. 186. 75 Im Gefolge Platons, der die bildende und darstellende Kunst im Sinne seiner Ideenlehre ja als Nachahmung des bereits Nachgeahmten definierte (denn die Realität war die erste Nachahmung – die Nachahmung der Ideen), konnte einzig die Sprache ein angemessenes Porträt und (Selbst-)Bild des Dichters darstellen, weil die Sprache auch das ingenium, den nicht sichtbaren Wesenskern, zu beschreiben vermochte, so meinte er. 76 Skowronek, Autorenbilder, S. 202.

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auf Gegenseitigkeit ausgetauscht. Diese Panegyrik, natürlich nicht nur in Epigrammform, ist als Ausdruck und Stabilisator des elitären Selbstbewusstseins der Gelehrten zu verstehen, die sich in der Gemeinsamkeit der postulierten virtuos als Stand konstituieren.“77 In Weisz’ Befund konkretisiert sich, was im Zeitalter des Barock als Aufgabe des Dichters gilt: die Kunst des Rühmens. Die Inschriften artikulierten das dichterische (durchaus idealisierte) Selbstverständnis. Indem die sprachliche Lobhudelei bildintern mitgeliefert wurde, hat der Künstler in seiner Selbstdarstellung der eventuell weniger freundlichen Kommentierung durch fremde Kritiker vorgebeugt. Der Künstlerkollege, der das Lob im Auftrag verfasst hat, durfte bei anderer Gelegenheit auf einen gleichartigen Freundschaftsdienst hoffen. Joachim Dyck hat den bestehenden Zusammenhang dieser freundschaftlichen Versbeigaben als legitimierendes „Argumentationssystem“78 bezeichnet, das einen gesellschaftlichen Stand bestärkende und gleichzeitig abgrenzende Funktion besaß. Bei Gryphius ist der folgende, lobende Satz zu lesen: „Welch ein Tragödiendichter bewundert das glückliche Germanien, der wie ein Blitz die steinernen Herzen der Menschen trifft. So war sein Aussehen. Vollkommene Kenntnis der Dinge. Und alles, was das ganze Gebiet der unermesslichen Wissenschaften beinhaltet, leuchtet hervor aus den Schriften, die der göttliche Geist hinterließ. Gryphius wird den Elysiern eine zweite Pallas Athene sein.“79

Die ruhmvolle Gabe der vollkommenen Kenntnis der Dinge des Andreas Gryphius wird also mit den schriftstellerischen Fertigkeiten verbunden (wie ein Blitz die steinernen Herzen der Menschen zu treffen); als poeta doctus leuchtet aus seinen Schriften die unermessliche Wissenschaft und der göttliche Geist. Und als Beglaubigung des klugen und ehrenhaften Mannes: sein Bildnis. Ja, so war sein Aussehen! Der Hinweis, dass er eine zweite Pallas Athene verkörpere, nicht etwa Apoll oder Orpheus, spielt nicht auf eine in Gryphius schlummernde Weiblichkeit an, sondern allegorisch auf die in Athene inkorporierte prudentia, die Lebensklugheit, Erfahrung und Weisheit. „Athene als Göttin der Weisheit und der Wissenschaft […] bietet scheinbar mit diesem ad-vokatischen und politischen Aspekten die passende Vergleichsfigur aus dem Repertoire mythologischer und historischer Heroen, um Gryphius angemessen rühmen zu können“80, schreibt Skowronek. Mit der piktoralen und poetischen Selbstdarstellung verfolgt Gryphius stellvertretend für andere Barock-Dichter (z. B. Martin Opitz, Jakob Böhme, Johann Christian Günther) das Ziel, sich „vom gemei-

77 Jutta Weisz: Das deutsche Epigramm des 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1979, S. 122 (Herv. i. O.). 78 Joachim Dyck: Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition. Bad Homburg 1966, S. 113 ff. 79 Im lateinischen Original: „Quem stupuit Tragicum felix Germania Vatem, fulmine qui geryt saxea corda hominum. Talis erat Vultu. Cumulata scientia rerum, et quicquid uasti circulus orbis habet, emicat ex scriptis, quae mens divina reliquit. Gryphius Elysiis altera Pallas erit.” 80 Skowronek, Autorenbilder, S. 109.

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nen Volk abzusetzen.“81 Durch die explizite Artikulation seiner humanistischen Bildung, die die Voraussetzung für das Entschlüsseln des lateinischen Verses und das Erkennen der intertextuellen Anspielung auf die Mythologie ist, demonstriert Gryphius die Ehrwürdigkeit seiner Person und stellt damit seine soziale Distinktion unter Beweis.

Zusammenfassung Insgesamt bemerkenswert ist erstens, wie die Selbstdarstellung in jeder Epoche anderen Trends zu folgen scheint, jeweils gebunden an die Möglichkeiten des gegebenen Mediums. Zweitens wird offenkundig, dass epochenweise auch jeweils spezifische Facetten und Tugenden des künstlerischen Selbst in den Vordergrund rücken: mal die innere Haltung, verkörpert durch die Denker-Pose, mal die Kreativität, zelebriert in extravaganten Kostümierungen und Frisuren, mal der öffentlich legitimierte Wunsch nach Anerkennung durch den Adel, verwirklicht in der demonstrativen Selbsterhöhung durch materielle und standesgemäße Kleidung. Jede Inszenierung scheint außerdem – epochenübergreifend – von dem Spiel zu leben, Nicht-Sichtbares, Seelisches (zum Beispiel den Wunsch nach Anerkennung) sichtbar werden zu lassen und diesen demonstrierten Wunsch nach Anerkennung durch den Akt des Demonstrierens von Eitelkeit zugleich am ‚Ort der Signifikanz’ (Lacan) im Innern des Betrachters (auch der dichterischen Konkurrenz) zu wecken; so kann es dem Dichter gelingen, einen Trend zu begründen. Die Selbstinszenierung zieht zudem offenkundig ihre Kraft aus dem Prozess, ein Spiel des Begehrens zu initiieren: Der Dichter gibt im Selbstporträt etwas von sich preis, erlaubt es sich aber, gleichzeitig einen wesentlichen Teil der Persönlichkeit auf dem Abbild nicht zu zeigen oder sich gezielt hinter einem semiotischen Überangebot zu verbergen. Damit reflektiert das Porträt eine zeittypische Entwicklung: die zunehmende Hinwendung zu einem sich ausdifferenzierenden, zum Teil dem Dichter bereits unbekannten Publikum. Folgt man einigen neueren Forschungsarbeiten, so liegt die Annahme nahe, dass die erwachende Selbstinszenierung ihren Initialgrund in der sattsam bekannten historischen Tatsache des seriellen Drucks hat. Neben den technischen Vervielfältigungsmöglichkeiten war jedoch ebenso die medienprofessionelle Integration der Fiktionalität in die Lebenswelt mitverantwortlich für die sich weiter etablierende Selbstinszenierung. Der Sinn der Identität liegt seit Ende des Mittelalters nicht mehr in der gegebenen lebensweltlichen Ordnung des Seins, die der Mensch bisher nur zu erkennen brauchte, sondern der Sinn muss erst in das Sein hineingelegt werden – mit all den Fallstricken. Sinn ist nicht länger gegeben, sondern wird zunehmend konstruierter Eigen-Sinn, und die Identität bleibt nicht länger ontosemiologischer, sondern erlangt poietische Natur.82

81 Vgl. Skowronek, Autorenbilder, S. 109 f. 82 Vgl. Jörg Dünne/Christian Moser (Hrsg.): Automedialität. Subjektkonstitution in Schrift, Bild und neuen Medien. München 2008. (Darin besonders: Hanno Ehrlicher: Der andere Autor im eigenen Werk. Mediatisierte Autorschaft bei Mateo Aleman und Miguel de Cer-

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Seit der Renaissance, spätestens seit dem Barock, galt es, sich als Dichter zu zeigen und zu präsentieren. In einem seiner Aphorismen empfiehlt der Dichter Gracián sogar das bewusste Sich-Zeigen und Gesehenwerden als erforderliche Grundhaltung des Dichters: „Stets handeln, als würde man gesehen. Der ist ein umsichtiger Mann, welcher sieht, dass man ihn sieht oder sehen wird. Er weiß, dass die Wände hören und dass schlechte Handlungen zu bersten drohen, um herauszukommen. Auch wenn er allein, handelt er wie unter den Augen der ganzen Welt. […]”83

Derjenige, der das angeschaute Objekt ist und sein will, macht sich nach Gracián idealiter selbst wieder zum interessanten Subjekt, indem er potenzielle Zuschauer schon als solche bewusst in sein öffentliches (und privates!) Verhaltenskonzept integriert. „Der Akt des Selbstinszenierung, der in der Renaissance volle Kontur gewinnt“, habe sich, so die These Susanne Bachs, „in gewissen kulturell rückgebundenen Aspekten bis heute wenig verändert.“84 Die den Inszenierungen zugrunde liegenden, besonders für die moderne kommunikationswissenschaftliche Rollentheorie wegweisenden Identitätskonzepte der Renaissance arbeitete Stephen Greenblatt exemplarisch in seiner Analyse des Self-Fashioning heraus.85 Ein Blick in seine Self-FashioningTheorie hilft, die heutigen Erscheinungsformen und Praktiken der Selbstdarstellung, die im nachfolgenden Teil behandelt werden, zu verstehen.

vantes. S. 27-52. Und: Christian Moser: Die Schrift als Halluzinogen. John Bunyan, der Buchdruck und die Konstitution des protestantischen Selbst. S. 53-76. 83 Baltasar Gracián, in: Arthur Hübscher (Hrsg.) Baltasar Gracián. Handorakel und Kunst der Weltklugheit. Übersetzt v. Arthur Schopenhauer. Stuttgart 1983, S. 144 f. Im Original: „Obrar siempre como a vista. Aquél es varón remirado que mira que le mirano que le miraràn. Sabe que las paredes oyn, y que lo mal hecho revienta porsalir. Aun quando solo, obra como a vista de todo el mundo, porque sabe quese sabrá.“ (Baltasar Gracián: El Héroe. El Discreto. Oráculo manual y arte de prudencia. Barcelona 1984, S. 297.) 84 Susanne Bach: Theatralität und Authentizität zwischen Viktorianismus und Moderne. Tübingen 2006, S. 63. 85 Stephen Jay Greenblatt: Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare. London 1980. Den Begriff des Self-Fahioning erläutert und definiert Greenblatt in der Einleitung: „There are always selves […] and always some elements of deliberate shaping in the formation and expression of identity. […] fashioning may suggest the achievement of a less tangible shape; a distinctive personality, a characteristic address to the world, a consistent mode of perceiving and behaving” (S. 1-9; 1 f.). Vgl. zudem: Stephen Jay Greenblatt: Shakespeare Negotiations. Circulation of Social Energy in Renaissance England. Berkeley 1988.

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Self-Fashioning in der Renaissance An Shakespeares Drama Othello stellt Stephan Greenblatt die Mechanismen der Selbstinszenierung heraus, die sich um 1700 in der Literatur eingeschriebenen haben und die als kulturell relevant gelten dürfen, wenn man wie Greenblatt davon ausgeht, dass (literarische) Texte nicht nur als Zeichen, sondern auch als Machtsysteme sowie im Sinne Foucaults als Dispositiv der Macht und damit als Diskurs- und Realitätsbegründer fungieren oder aber diese abbildend begleiten. Im Unterschied zu der zugrundegelegten Idee Bourdieus, die Selbstdarstellung sei intuitiv-strategisch, laufe routiniert und zu einem wesentlichen Teil unbewusst ab, baut Greenblatt seine Thesen über das Self-Fashioning auf der Idee einer kalkulierten Planung zum Zwecke der Manipulation des Gegenübers auf 86 (wenngleich er Feld-Effekte im Sinne Bourdieus berücksichtigt87). Trotz dieses im Ursprung der Selbstinszenierung verankerten Widerspruchs sind Greenblatts Erkenntnisse zum Self-Fashioning gewinnbringend, weil er an seinen Beobachtungen nicht nur sein Modell der Selbstinszenierung entwickelt, sondern die Selbstinszenierung erstmalig literaturwissenschaftlich analysiert, historisch situiert, kultursoziologisch verankert, das 16. Jahrhundert als eine Phase radikaler, sozialpsychologischer Umbrüche definiert sowie die Entstehung eines neuen Verständnisses von Subjektivität nachgewiesen hat, das das Denken bis heute beeinflusst und prägt. Othellos88 intriganter Gegenspieler Iago wird für Greenblatt zum idealen literarischen Repräsentant des Self-Fashioning, der neben seiner Fähigkeit, sich in andere

86 Sein Ansatz basiert auf zwei Prämissen: Zum einen geht Greenblatt davon aus, dass es ein definiertes Selbst gibt, das sich und andere in Relation zueinander wahrnimmt. Zum anderen nimmt Greenblatt an, dass sich dieses Selbst in seiner Darstellung geplant verhält und bewusst – d. h. gemäß der zuvor eigenständig entworfenen, inneren Skripte – verhält und sich auf rollenhafte Weise stilisiert. (Einen ähnlichen Zugang zum selbstdarstellerischen Rollenverhalten hat Erving Goffman schon 1959 mit seinem Buch Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag entwickelt (dt. 1983).) 87 Ähnlich wie Bourdieu betont Greenblatt den Effekt des kulturellen Feldes für die Identitätsentfaltung und Selbstdarstellung: „Whenever I focused sharply upon a moment of apparently autonomous self-fashioning, I found not an epiphany of identities freely chosen but a cultural artefact. If there remained traces of free choice, the choice was among possibilities whose range was strictly delineated by the social and ideological system in force.” (Stephen Jay Greenblatt: Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare. London 1980, S. 256.) 88 Der (dunkelhäutige) Feldherr Othello zieht den Zorn des gehässigen Iago auf sich, der vergebens gehofft hatte, von Othello zum Leutnant befördert zu werden. Der unerfahrene Cassio, dem Othello vollkommen vertraut und der statt Iago befördert wurde, wird zum Spielball von Iagos Rache. Dabei hilft ihm Rodrigo, der unglücklich in die schöne Desdemona, die Frau Othellos verliebt ist. Mit Rodrigos Hilfe gelingt es Iago den treuherzigen Cassio in einen Streit zu verwickeln, der ihn Othellos Zorn aussetzt. Dem verzweifelten Cassio empfiehlt Iago, bei Desdemona Vermittlung zu suchen, um die Gunst Othellos wieder zu erlangen. Als Othello Augenzeuge des Treffens von Desdemona und Cassio wird, weckt Iago Othellos Eifersucht. Iago gelingt es, Othello davon zu überzeugen,

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hineinzuversetzen, ein großes Verstellungs- und Improvisationstalent besitzt, worunter Greenblatt insbesondere folgende Fähigkeit versteht: „[…] to play a role, to transform oneself, if only for a brief period and with mental reservation, into another.“89

Dies erfordere die Fähigkeit, sich zu verstellen und eine Trennung zu vollziehen „between the tongue and the heart“, erst das ergäbe die perfekte Manipulation anderer („the transformation of anothers reality into a manipulable fiction“) 90 – was zeigt, worauf es Greenblatt in seiner repräsentationskritischen Self-Fashioning-Theorie ankommt. Im Dialog zwischen Iago und Roderigo (1. Akt, 3. Szene91), lässt Greenblatt den Kern der Self-Fashioning-Theorie von Iago formulieren: „Our bodies are gardens, to which our will are gardeners, so that if we will plant nettles, or sow lettuce, set hyssop, and weed up thyme; supply it with one gender of herbs, or distract it with many; either to have it sterile with idleness, or manur’d with industry, why, the power, and corrigible authority of this, lies in our wills.“92

Die Kunst der Selbstinszenierung besteht demnach in der Gabe, seinen Körper so zu instrumentalisieren und durch den freien Willen zu lenken, dass der Rollen-Spieler die Situation und sein Leben für sich gewinnbringend manipuliert. Dazu gehört, wie Greenblatt an anderer Stelle schreibt, „that he can exist for a moment in another and as another“93 – ganz so, als sei die in der Renaissance weiter erstarkende Individualität und das Leben nur durch einen Wechsel von körperlichen Hüllen bestimmt und ein gänzlich freier Willensakt. Gleichzeitig erfolge die Selbstinszenierung in dem Wissen, „that an identity that has been fashioned as a story can be unfashioned, refashioned, inscribed anew in a different narrative.“94 Noch ein anderer Aspekt ist interessant: Nicht allein der Intrigant Iago ist für das sich im 17. Jahrhundert entwickelnde Verstehen und die Formen der Selbstinszenierung wichtig und auf das gesellschaftliche dichterische Selbstverständnis übertragbar,

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dass Desdemona ihn mit Cassio betrüge. Ein besticktes Taschentuch, das Desdemona verliert, wird ihm zum entscheidenden Indiz, das Othello annehmen lässt, Desdemona betrüge ihn tatsächlich. Von Desdemonas Untreue überzeugt, erdrosselt Othello sie in ihrem Bett. Als die Intrige ans Licht kommt und Othello seinen Irrtum begreift, ersticht er sich selbst. Greenblatt, Renaissance Self-Fashioning, S. 228 f. Greenblatt, Renaissance Self-Fashioning, S. 229. William Shakespeare: Othello. In: Shakespeares Sämtliche Werke. Hrsg. u. übersetzt v. Wolf Graf von Baudissin. Neu-Isenburg 2006. „In uns selber liegts, ob wir so sind, oder anders.“ – „Unser Körper ist ein Garten, und unser Wille der Gärtner, so dass, ob wir Nesseln drin pflanzen wollen oder Salat bauen, Ysop aufziehn oder Thymian ausjäten, ihn dürftig mit einerlei Kraut besetzen oder mit mancherlei Gewächs aussaugen, ihn müßig verwildern lassen oder fleißig in Zucht halten, – das Vermögen dazu und die bessernde Macht liegt durchaus in unserem freien Willen.“ Greenblatt, Renaissance Self-Fashioning, S. 235. Ebenda, S. 239.

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sondern auch Othello. Seine – nicht Iagos – Selbstinszenierungsstrategie könnte bis heute ein tragfähiges Modell darstellen. Denn für Othello ist nicht der an der Körperoberfläche ablaufende Fake, sondern das von innen heraus kommende Erzählen seiner eigenen Geschichte bezeichnend und für die Gestaltung seines Selbst in Gegenwart von Dritten (hier Desdemona) existenziell. Greenblatt bemerkt beiläufig, Othellos „identity depends upon a constant performance […] of his ,story’”95. In seinen fiktionalen Entwürfen einer Lebensgeschichte, deren konsistenzbildende Macht ganz dem Zwecke der Gewinnung einer lebensnotwendigen personalen Identität untergeordnet ist, bemächtigt Othello sich retrospektiv einer verfügbaren Vergangenheit, deren Fragmente und Zufälligkeiten er ständig in die Einheit eines sich in der Gegenwart präsentierenden konsistenten Selbst überführt.96 Vergleicht man die erzählte Geschichte Othellos und die Geschichten Iagos miteinander, so ist der Unterschied in der Wahl des kurzfristig finalistischen Modus (Iago) und des langfristig und an Kohärenz orientierten kausalen Modus (Othello) markant: Im Kontext der gegebenen Dramaturgie handelt der Intrigant Iago intentional und zweckgebunden; Iagos Fiktionalisierungen der eigenen Person und seine Self-Fashioning-Strategien, die sich in einem Repertoire funktionalisierbarer Rollen und höchst zielgerichteter Selbststilisierungen niederschlagen, setzen primär in der Gegenwart an und versuchen dann, die Zukunft im eigenen Interesse in Gestalt eines interaktiven Rollenspielers manipulativ zu bestimmen. Die Selbstinszenierung Othellos hingegen entspringt zwar ebenfalls der Gegenwart, bezieht sich jedoch maßgeblich auf die Vergangenheit. Das Erzählen seiner Lebensgeschichte wird aus der aktuell inszenatorisch eingenommenen Perspektive zur nachträglichen Fiktionalisierung, die hauptsächlich mit den Mitteln der Selektion, Verdichtung, Theatralisierung und nachträglichen Plausibilisierung arbeitet und dabei den inneren Vorgaben der Etablierung eines in sich geschlossenen und stimmigen Selbst folgt – eine Strategie, der sich auch heute noch zahlreiche Schriftsteller bemächtigen. Man könnte die Selbstinszenierungstechnik, seinem Mythos retrospektiv Kohärenz, Kontinuität und individualgeschichtlichen Sinn zu verleihen, in Anlehnung an die Erkenntnisse Greenblatts, auch ‚Othello-Strategie‘ bezeichnen. Sind Iago und Othello auch durch die Art und Weise sowie die Zweckgebundenheit des Inszenierungsaktes voneinander getrennt, so verbindet sie doch die Kunst zur Übertreibung, Zuspitzung und die Überführung aller vorgängigen Gegebenheiten und Erlebnisse in immer weiter ausufernde Fiktionen des Selbst, die sich zu scheinhaften Identitäten verdichten und diese zum verdeckten Grundmodus der Erscheinungsweise der Person werden lassen. Übertragen auf die (zumindest literarisch) akzeptierten Muster der Selbststilisierung97 zeigen die Erkenntnisse Greenblatts, dass in der Renaissance ein (auch paradoxer) Prozess der Identitätskonstruktion in Gang gesetzt wurde, in dessen Verlauf das Selbst sowohl zum Ausgangspunkt als auch zum Endprodukt seiner Fiktionalisierungen werden konnte.

95 Greenblatt, Renaissance Self-Fashioning, S. 245. 96 Vgl. Bach, Theatralität und Authentizität zwischen Viktorianismus und Moderne, S. 65. 97 Shakespeares Othello wurde damals vom Publikum euphorisch gefeiert, Kritik setzte erst später an. (Vgl. Ulrich Suermann: Der Shakespeare-Führer. Stuttgart 2001, S. 273 ff.)

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Vielfach wird Greenblatts Self-Fashioning-Theorie, die er ausschließlich an Material aus der Zeit der Renaissance entwickelte, zu einer Theorie des Menschen als Schauspieler verallgemeinert. Eine Universalisierung der entdeckten Self-FashioningStrukturen des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts zu einer allgemeinen Handlungs- und Kommunikationstheorie, die auch für das 20. und 21. Jahrhundert gelten soll, steht jedoch auf wackligen Beinen, wenn man die folgenden Überlegungen Dror Wahrmanns berücksichtigt: „Im Rahmen einer […] Historisierung des Begriffs der persönlichen Identität und der ihr in verschiedenen Epochen jeweils zugrundeliegenden epistemologischen Strukturen erscheint das 18. Jahrhundert als Übergangszeit zwischen einem älteren ständischen Modell der Definition des eigenen Selbst und dem modernen internalisierten Persönlichkeitsbegriffs.“98 Entscheidend an Wahrmanns Erkenntnis ist die Beobachtung einer Übergangsphase der Subjektentwicklung. Im Anschluss an Wahrmann etwa kann man im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert „die Ablösung eines von göttlicher oder herrschaftlicher Autorität abgeleiteten Selbstverständnisses feststellen, an dessen Stelle eine relationale, nichtessentialistische Identitätsauffassung getreten ist, in deren Zentrum die persönliche Metamorphose durch austauschbare Rollenzuweisungen stand.“99 Die von Schriftstellern performativ erprobte Nachahmung, Verfremdung, Stilisierung oder Deformierung von Verhaltensnormen und Rollenmustern ließe sich demnach weit präziser interpretieren als Erprobung eines neu entstehenden Identitätsentwurfes. Schaut man nun von der Makro-Ebene der weltgeschlichtlichen Entwicklung des Subjekts auf die Mikro-Ebene der Entwicklung eines einzelnen Individuums, findet die Beobachtung Wahrmanns ihr Äquivalent in der von George Herbert Mead definierten ontogenetischen Entwicklungsphase der Findung des Selbst durch kindlich-spielerisches roletaking.100 Zu den vielgestaltigen Ursachen dieser Rollenerprobung im 17. und frühen 18. Jahrhundert gehört insbesondere die Ablösung vom sakral-monistischen Weltbild durch pluralistische Weltbilder, aus der – identitäts-soziologisch gedacht – zahlreiche Möglichkeiten entstehen, die Georg Simmel später als Hypertrophie beschreiben wird.101 In der Stilisierung zum Lebenskunstwerk qua Rollensimulation erprobt der Rollenspieler das Gesetz des eigenen Wesens (ähnlich wie ein Kind im Rollenspiel zu seiner eigenen Identität findet), und der Schriftsteller erprobt sein öffentliches Selbst, das – sofern er dieses ebenso wie seinen gesellschaftlichen Platz gefunden hat – zu seiner Natur wird, die keiner ständigen exaltierten Erprobung mehr bedarf. Dies könnte sowohl zu Erklärung herangezogen werden, warum das (künstliche, mimetische) Rollenspiel während der Zeit seiner Gültigkeit auf beträchtliche gesellschaftliche Akzeptanz stieß und sich in der neu erblühenden Institution des Theaters kulturell verankern konnte, als auch dafür, dass sich das öffentliche Rollenspiel nach dem

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Joachimides, Verwandlungskünstler, S. 20.

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Ebenda, S. 20. Und: Dror Wahrmann: The Making of the Modern Self. Identity and Culture in the Eighteenth Century. New Haven, London 2004, S. XI ff.

100 Vgl. George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft. Aus Sicht der Sozialbehaviorismus. (1934/1968). Hrsg. v. Charles W. Morris. Frankfurt a. M. 1998, S. 194 ff. 101 Georg Simmel: Der Bildrahmen. Ein ästhetischer Versuch. In: Der Tag, 19.11.1902, Nr.

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Vorbild Iagos schon im 19. Jahrhundert in Teilen überlebt hatte, weil der Schriftsteller seinen Platz im öffentlichen Leben endgültig gefunden hatte. 102 Distanziert und komödiantisch wendet bereits Georg Büchner im 19. Jahrhundert in seinem Stück Leonce und Lena die menschliche Kunst des Spielens von Rollen: „Da fragt der König den charismatischen Müßiggänger Valerio: ‚Wer seid Ihr?‘ und bekommt zur Antwort: ‚Weiß ich’s?‘ Die anschließende Regiebemerkung lautet: Valerio nimmt langsam hintereinander mehrere Masken ab, dann spricht er weiter: ‚Bin ich das? Oder das? Oder das? Wahrhaftig, ich bekomme Angst, ich könnte mich so ganz auseinanderschälen und -blättern.‘ Der König antwortet (Regiebemerkung: verlegen): ‚Aber, aber etwas müsst Ihr doch sein?‘ Valerio antwortet: ‚Wenn Eure Majestät es so befehlen. Aber meine Herren, hängen Sie alsdann die Spiegel herum und verstecken Sie Ihre blanken Knöpfe etwas und sehen Sie mich nicht so an, dass ich mich in Ihren Augen spiegeln muss, oder ich weiß wahrhaftig nicht mehr, wer ich eigentlich bin.‘ Daraufhin antwortet der König: ‚Der Mensch bringt mich in Konfusion, zur Desperation, ich bin in der größten Verwirrung.‘“103

Zusammenfassung Über den zeithistorischen Kontext seiner Analyse hinausweisend hat Stephen Greenblatt aufgezeigt, dass jede Form Kohärenz herstellender Selbstinszenierung eine enorme Bedeutung und generierende Kraft für den Prozess der Subjektkonstitution und Identitätsfindung zukommt. Diese besitzt Gültigkeit ganz unabhängig davon, ob man die Selbstinszenierung kontinuierlich metamorphosisch, rein zweckrational und manipulativ verstehen will (wie Greenblatt sie an Iago gezeigt hat) und sie als ebenso durchkonstruierte Akte wie die Dramen Shakespeares auffasst oder ob man sie impulsiv und habituell-intuitiv (wie Bourdieu) versteht, als freies Spiel im Rahmen eines Improvisationstheaters, das auf einem modernen Persönlichkeitsbegriff (Büchner oder Precht: „Wer bin ich – und wenn ja wie viele?“) basiert.104

102 Christoph Hägele führt am Beispiel von Günter Grass den Nachweis, dass Selbstinszenie-

rung nicht (mehr wie in der Renaissance oder in Greenblatts Modell) über einen beliebigen Rollenwechsel (je nach Situation) geschieht, sondern dass vielmehr eine einmal in der Öffentlichkeit durch gekonnte Selbstinszenierung gefundene Rolle (stil-)prägend ist. Eine Abweichung von dieser mit eindeutigen Zuschreibungen behafteten Rolle wird sodann als Ausnahme wahrgenommen und im diskursiven, um Kohärenz bemühten Wahrheitssystem bekämpft. (Vgl. Christoph Hägele: Skandal oder Inszenierung. Günter Grass in der Kritik. In: Stefan Neuhaus/Johann Holzner: Literatur als Skandal. Göttingen 2007, S. 598-612.) 103 Szene aus Georg Büchners romantischem Lustspiel Leonce und Lena aus dem Jahr 1838. 104 Frauen waren übrigens in der Renaissance, im Barock und in der Aufklärung (soweit sie

nicht von Stand waren wie Aurora von Königsmarck) nur als Kuriosa, neben reimenden Bauern oder als schriftstellerische Assistentin für ihre renommierten Ehemänner (wie Luise Gottsched oder Caroline Schlegel-Schelling) auf der literarischen Bühne anwesend. „[I]m frühen 18. Jahrhundert war man als Poet besser ein Mann, und man hatte möglichst

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K OMMERZIALISIERUNG IM 18. UND 19. J AHRHUNDERT . V ON HEILIGEN S PENDEN UND DER C ONSUMER R EVOLUTION Auf Klopstock geht die „erste professionelle Marketingkampagne“105 zurück, die sich 1773 ereignete, als der Dichter zu einer öffentlichen Vorbestellung seines bald erscheinenden Werkes Deutsche Gelehrtenrepublik (1774) einlud und bei dieser Gelegenheit die gesellschaftliche Position der Dichter neu justierte. Im Rahmen dieser Inszenierung klagte Klopstock sowohl die juristische als auch die finanzielle Autonomie der Dichter mit der höflichen, doch wirkungsvollen Frage ein, „ob es möglich sei, dass die Gelehrten durch so eingerichtete Subskriptionen Eigentümer ihrer Schriften werden. Denn jetzt sind sie dies nur dem Scheine nach; die Buchhändler sind die wirklichen Eigentümer.“106 Um trotz des noch nicht etablierten Urheberrechts107 zu einem erklecklichen Gewinn zu kommen, erhob Klopstock für die Vorbestellung seiner Gelehrtenrepublik eine Gebühr in Höhe eines „Louis d’or“. Diese selbstbewusste Inszenierung, bei der Klopstock ökonomisches wie symbolisches Kapital anhäufte, competence and expertise demonstrierte, als Sprachrohr seiner Zunft agierte und sich nebenbei die Strategie der exemplification zunutze machte, die Demonstration der eigenen Beispielhaftigkeit, betrachtete auch Goethe nicht ohne Neid. Er schrieb über dieses öffentlich wirksame Ereignis: „Hier drängte sich nun Jedermann hinzu, selbst Jünglinge und Mädchen, die nicht viel aufzuwenden hatten, eröffneten ihre Sparbüchsen; Männer und Frauen, der obere, der mittlere Stand trugen zu dieser heiligen Spende bei, und es kamen vielleicht tausend Pränumeranten zusammen.“108

Die „heilige Spende“, wie Goethe die kapitalen Gaben nicht ganz unironisch nannte, würden weniger Klopstocks Werk gelten, als vielmehr der auf dem Marktplatz zur Schau gestellten Persönlichkeit Klopstocks, die in einem „beynahe göttlichen“ 109 An-

sein anderweitig gesichertes Auskommen“, mit dem man das (öffentliche) Leben finanzierte. (Uwe Ketelsen: Nur keine Spaßmacher und Schmarutzer! In: Gunter E. Grimm (Hrsg.): Metamorphosen des Dichters. Frankfurt a. M. 1992, S. 16-34, 19. Vgl. auch: Ernst Kris/ Otto Kurz: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch (1934), Frankfurt a. M. 1995.) 105 Frauke Berndt: Erfindung des Genies. F. G. Klopstocks rhetorische Konstruktion des

Au(c)tors im Vorfeld der Autonomiästhetik. In: Heinrich Detering (Hrsg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. Stuttgart 2002, S. 24-43, 24. 106 Vgl. ebenda, S. 24. 107 Zur Entwicklung des Urheberrechts: Heinrich Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft.

Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit. Paderborn 1981. 108 Johann Wolfgang von Goethe: Dichtung und Wahrheit. In: Johann Wolfgang Goethe.

Sämtliche Werke. Bd. 14: Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hrsg. v. Klaus-Detlef Müller. Frankfurt a. M. 1986, S. 564. 109 Friedrich Gottlieb Klopstock: Declamatio, qua poetas epopeiae auctores. In: Ders: Er

und über ihn. Bd. 1. Hamburg 1780, S. 54-98. Zum Typus des poeta vates siehe auch: Jo-

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flug den Typus des antiken poeta vates zitierte (und diesen durch sein inszenatorisches ökonomisches Programm in der Alltagswelt installierte), dessen Wirkung selbst jene der Vornehmsten und geschätzten Adeligen überboten habe.110 In der Gesellschaftsordnung etabliert, sahen sich die Schriftsteller am Ende des 18. Jahrhunderts bei ihrem Bemühen, Anerkennung und Auftraggeber für ihre Arbeit zu finden, einer neuartigen Situation gegenüber gestellt: Die traditionellen Auftragsund Vertriebsformen eines im persönlichen Kontakt, zumeist am Hofe, hergestellten individuellen Mäzenatentums befanden sich auf dem Rückzug. 111 Im Prozess dieser Auflösung traditioneller, geschäftlicher Bindungen (von denen noch die RenaissanceSchriftsteller wie Gryphius profitierten) und der Freisetzung des Schriftstellers aus dem subventionierten Leben, hing die Bekanntheit und Beliebtheit eines Schriftstellers nun nicht mehr vorrangig von seiner Eloquenz, von seinen sprachlichen und sozialen Fähigkeiten allein und von der repräsentativen Strategie der Demonstration des status and prestige in Adelskreisen ab. Sein Erfolg bemaß sich fortan an seiner Fertigkeit, sich innerhalb eines sich fortschreitend differenzierenden und zusehends anonymisierenden Marktes selbst aktiv ein Publikum zu schaffen, das in seiner Gesamtheit und sozialen Zusammensetzung nun höchst disparat war. In diesem Bemühen erwies sich ein gewisses Talent zur self-promotion als ausgesprochen hilfreich bei der Kommunikation zwischen dem einzelnen Schriftsteller und der Öffentlichkeit.112 Die Entstehung eines bürgerlichen Publikums als kulturelle Öffentlichkeit113 und kollektive Bewertungsinstanz ließ aus den Dichtern gemäß den Marktgesetzen ‚Anbieter’ und aus den Rezipienten ‚Nachfragende’ werden, die sich innerhalb des vorgegebenen Rahmens durch ihre Kaufentscheidung mit bestimmten Werten identifizieren und andere ablehnen konnten. Wie auch in zahlreichen anderen Marktsegmenten konstituieren sich die Teilnehmer in diesem Prozess der consumer revolution114 des 18. Jahrhunderts als Teil eines marktwirtschaftlich orientierten Kulturbetriebs.115

chen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945. Bd. 1. Darmstadt 1985, S. 61 ff. 110 Berndt, Erfindung des Genies, S. 24 f. 111 Vgl. Jürgen Schiewe: Öffentlichkeit. Entstehung und Wandel in Deutschland. München

2004. 112 Vgl. Joachimides, Verwandlungskünstler, S. 12 f. 113 Zum Begriff der Öffentlichkeit vgl.: Reinhart Koselleck: Kritik und Krieg. Eine Studie

zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt a. M. 1959. Und: Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (1962). Frankfurt a. M. 2003. 114 Vgl. N. McKendrick, J. Brewer/J. H. Plump: The Birth of a Consumer Society. London

1983. 115 In Goethes Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1829) wird deutlich, wie die

Künstlerseele auf dem literarischen Feld in eine unbequeme Zwischenposition geraten konnte. (Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hrsg. v. Erich Trunz. Hamburg 1982; Bd. 7.) Zur Erinnerung: Wilhelm Meister, ein Kaufmannssohn mit künstlerisch-schauspielerischen Ambitionen, wird zu Beginn des Romans

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Abbildung 13: Goethe in der römischen Campagna116 Während Goethe seine Roman-Protagonisten, wie den Lehrling Wilhelm Meister, heilsame Erfahrungen mit der menschlichen Inszenierungen, der Schauspielerei und insbesondere den Schauspielerinnen machen lässt, verzichtet er in seiner eigenen Subjektdarstellung keineswegs auf theatrale Elemente. Mag er auch davon ausgegangen sein, er stelle durch seine Vielgestaltigkeit der öffentlichen Selbstinszenierung lediglich eine ihm eigene Natur zur Schau und übernähme keineswegs eine inszenier-

von seiner Geliebten, einer Schriftstellerin, betrogen und verlassen. Er zieht aus, um seinen Charakter zu bilden, und verschenkt sein Herz erneut, an die schöne Philine – ebenfalls eine Schauspielerin. Im Versuch zu gefallen, schließt sich Wilhelm der Theatergruppe an. Sein bald erfolgtes Scheitern und die Überwindung seiner Theaterleidenschaft (angeregt durch die intellektuelle und bildungsorientierte Turm-Gesellschaft, die Wilhelms Selbstfindung durch Lehrbriefe – nicht länger übrigens finanziell – begleitete und förderte), erzählt, wenn auch nebenbei, nichts weniger als die Geschichte der form-ästhetischen Überwindung der theatralischen Nachahmung: Das Ideal, das Goethe in seinem Roman entwickelt, ist nicht das des in der Renaissance geprägten Rollenspielers, sondern eines kurzfristig von der Schauspielerei geblendeten, dann aber zu sich selbst durch Bildung gefundenen Wilhelm Meisters. Jürgen Habermas bringt die in Wilhelm Meisters Lehrjahre anschaulich werdenden Pole zwischen inszeniertem Ideal und tatsächlichem Wesen auf die knappe Formel: „Der Edelmann ist, was er repräsentiert, der Bürger, was er produziert.“ Und der Dichter, er schwebt dazwischen. (Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 68.) Der Mensch, die Künstlerseele mithin, ist in der Folge nunmehr beides, ohne jedoch einzig der Repräsentation oder ausschließlich der Produktion den Vorrang zu gewähren. 116 Goethe in der römischen Campagna, gezeichnet von Johann Heinrich Wilhelm Tisch-

bein. Öl auf Leinwand, 1,64 x 2,06 Meter. Entstand auf Goethes Italienreise 1786/87 und hängt heute im Städel-Museum in Frankfurt a. M. Abbildung entnommen aus: Herbert von Einem: Deutsche Malerei des Klassizismus und der Romantik. 1760-1840. München 1978.

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te Rolle, so gibt doch seine sprachliche Stilisierung als „Dichterfürst“ 117 Anlass, dahinter eine Strategie zu vermuten. Auch seine visuelle Selbstdarstellung legt eine gezielte Selbsterhöhung nahe. Halb liegend posiert Goethe auf den Trümmern der antiken Welt, die als historisches Zitat oder kultureller Verweis Goethes competence and expertise sowie status and prestige suggerieren. Durch den weißen, seine Kleidung verhüllenden Umhang scheint Goethe sich im ersten Moment von der Inszenierung durch Status anzeigende Kleidung zu befreien, zugunsten eines von höfischer Etikette gelösten autonomen, sich einzig der Kunst, dem Geist und der Wissenschaft verschriebenen Dichterbegriffs – allerdings nicht in aller Konsequenz: Sowohl am Kragen wie durch die Freilegung des rechten Beines zeigt Goethe seinen höfischen Habitus und eine gewisse attractiveness an. In seinen Tagebuchaufzeichnungen notiert Goethe am 29.12.1786: „Ich soll in Lebensgröße als Reisender, in einen weißen Mantel gehüllt, in freier Luft auf einem umgestürzten Obelisken sitzend, vorgestellt werden, die tief im Hintergrunde liegenden Ruinen der Campagna di Roma überschauend. Es gibt ein schönes Bild, nur zu groß für unsere nordischen Wohnungen.“ Die Historiografie vergangener Epochen ist im Bild chronologisch von links nach rechts aufgerufen; der eckige Obelisk verkörpert das alte Ägypten, die Zeit der griechischen Antike ist durch das efeuumrankte Relief, auf dem Iphigenie und Orest zu sehen sind, ins Bild geholt, die Zeit der römischen Hochkultur durch die umgestürzte Säule versinnbildlicht. Der Bildhintergrund ist stil-elliptisch entleert. Die überlebensgroße, idealisierend-überhöhende Darstellung Goethes, der sich über den Trümmern der Menschheitsgeschichte als strahlend weiße Lichtgestalt erhebt – einige Bildinterpreten wollen in dem Schlapphut Goethes eine Analogie zum Heiligenschein erkennen, eine Deutung, die durch die um den Hut aufbrechenden Wolken wirkästhetisch verstärkt werde – wird bildkompositorisch durch die Wahl der angedeuteten Froschperspektive betont. Sie fand Goethes Lob. Am 07.07.1787, kurz vor der Vollendung des Bildes schrieb Goethe in sein Tagebuch: „Mein Porträt wird glücklich, es gleicht sehr.“ Eine Huldigung, Reproduktion und Verbreitung des Bildnisses Goethes gelang durch zahlreiche kleinere Kupferstich-Imitate.118

117 Dass die Idee der gesellschaftlichen Existenz eines Dichterfürsten tatsächlich Goethes

Gedanken entsprungen sein könnte, belegt das Deutsche Wörterbuch, das als erste literarische Quelle für den Terminus „Dichterfürst“ Goethes Noten und Abhandlungen zum west-östlichen Divan nennt. Mit dieser Begriffswahl habe Goethe, weitsichtig, nicht nur den gegenwärtigen Ruhm, sondern sogleich den Nachruhm im Sinn gehabt. (Vgl. Eberhard Lämmert: Der Dichterfürst. In: Ulrich Raulff (Hrsg.): Vom Künstlerstaat. München 2006, S. 144-185, 144.) In Goethes Beschreibung ist der Dichterfürst ein unter seinesgleichen besonders Ausgezeichneter. (Vgl. J. W. v. Goethe: Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des west-östlichen Divans. In: Goethes Werke. Hrsg. v. Erich Trunz. Bd. 2. Hamburg 1949, S. 149.) 118 Vgl. Herbert von Einem: Der ‚Wanderer auf dem Obelisk’. Zu Wilhelm Tischbeins ‚Goe-

the in der Campagna’. In: Gedenkschrift für Günter Bandmann. Berlin 1978. Und: Christian Beutler: J. W. H. Tischbein: Goethe in der Campagna. Stuttgart 1962. Sowie: Petra Maisak (Hrsg.): Goethe und Tischbein in Rom. Bilder und Texte. Frankfurt a. M. 2004.

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Eine erste Dichtertypologie Die Heterogenität der Lebensstile und die Pluralisierung der künstlerischen Distinktionsmechanismen im ausgehenden 18. Jahrhundert gehen mit Differenzierungen des Publikumsgeschmacks einher. Als Ausdruck des schriftstellerischen Bemühens, eine eigene Identität im Konfliktfeld der nun wachsenden Konkurrenz zu verwirklichen, entstanden die ersten typisierbaren und verschiedene Publikumsvorlieben ansprechende Formen der Schriftsteller-Inszenierungen. In seiner Studie über frei schaffende Künstler des 18. Jahrhunderts definierte Joachimides119 folgende Typik, die den Dichter als Teil des künstlerischen, kulturellen Lebens einschließt: Es gab den „pseudoaristokratischen Hofkünstler“, den „unhöflichen Misanthrop“ und den „artiste philosophe“ – wenngleich Joachimides diesen Lebensstil als reine Simulation entlarvt –, es gab den „humanistischen Moral-Philosophen“, den „anti-moralischen Simplizissimus“, den „kriminellen Künstler“ (das banditti subject), den „Stadtstreicher“, den „Chronisten des verkommenen Lebens“ sowie den „ambivalenten Bohèmian“, und es gab den „exzentrischen Außenseiter“, den „Dandy“ und das „feierlich-lässige Genie“. Die Selbstinszenierung als banditto, der den Mythos des Schreckens für sich proklamierte und sich literarisch wie performativ mit schockierenden und emotional aufregenden Anekdoten inszenierte, nahm dabei eine Sonderrolle ein. In einem nicht genau datierbaren Porträt aus den späten 1770er-Jahren präsentiert sich der Schriftsteller John Hamilton Mortimer in der Kleidung eines Piraten, mit langen Haaren, einem Kopftuch, das üblicherweise für die Kennzeichnung von seefahrenden Schmugglern verwendet wurde, abgewetzter Kleidung und einem Gesichtsausdruck, der „die Leidenschaft eines rastlosen Geistes“ verrate. 120 Damit schloss er sein öffentliches Erscheinungsbild an das Bildrepertoire und die Gestalt des Gesetzlosen an, wie sie auch in den damals beliebten gothic novels vorkam. Mortimer übte auf sein Publikum, „aufgrund seiner Abweichung von den Normen der polite society, eine besondere Faszination [aus], die durch moralische Bedenken nicht geschmälert werden konnte.“121 Es sei die Ambivalenz der öffentlichen Reaktion zwischen Abgestoßen-Sein und Sich-Angezogen-Fühlens gewesen, die seinen Erfolg garantierte. Prototypisch für das feierlich-lässige Genie und das geniale Selbstverständnis des Künstlers hingegen, ist Johann Gottfried Herders poetischer Morgengesang Die Schöpfung, in dem er unverblümt die selbst entdeckte Größe des Dichters sprachlich feiert: „Ich wie Gott! Da tritt in mich Plan der Schöpfung, weitet sich Drängt zusammen und wird Macht Endet froh und jauchzt: vollbracht! […]

119 Alexis Joachimides: Verwandlungskünstler. Der Beginn künstlerischer Selbststilisierung

in den Metropolen Paris und London im 18. Jahrhundert. München, Berlin 2008. 120 Vgl. Ebenda, S. 271. (Dort auch diverse Abbildungen Mortimers.) 121 Ebenda, S. 280.

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Ich Bins, in dem die Schöpfung sich Punktet, der in alle quillt Und der alles in sich füllt!“ 122

In seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1887) gab Herder seinen genialischen Anflügen ein philosophisch begründetes Fundament, das heute als historischer Wendepunkt und Begründung des modernen Subjekts angesehen werden kann. Darin schrieb er über das authentische, einzigartige Selbst: „Jeder Mensch hat ein eigenes Maß, gleichsam eine eigne Stimmung aller sinnlichen Gefühle zueinander.“123 Mit der Entdeckung der Originalität und der eigenen inneren Stimme entsteht historisch das freie, sich selbst bestimmende Subjekt. Diese neue Freiheit des Subjekts negiert endgültig die bis dahin geltende (religiös determinierte) Lebensordnung. Sie tut dies, so Charles Taylor, „durch den Niedergang oder die Unterhöhlung aller Bilder von einer kosmischen Ordnung.“ Diese errungene Freiheit sei „auch positiv definiert durch die für das neuzeitliche Subjekt maßgeblichen Kräfte der Reflexion, die es mit den verschiedenen Arten von Innerlichkeit ausstatten, also die Kräfte der desengagierten Vernunft und die schöpferische Einbildungskraft.“ 124 Mit der Vorstellung, jedes Individuum besitze etwas Ureigenes, das zugleich jedem die Pflicht auferlegt, der eigenen Originalität im Leben gerecht zu werden, gewinnt das Authentische und Expressive erstmals kulturgeschichtlich an Bedeutung. Den sich am Ende des 18. Jahrhunderts parallel zur Aufklärung und im Zuge der Kultur der Empfindsamkeit ausbildende „Expressiv-ismus“125 lebte übrigens auch Friedrich Schiller aus. Er inszenierte sich vermittels seines sprachlichen Habitus als impulsives Jung-Genie. Adorno wird später urteilen, „der sprachliche Habitus Schillers gemahnt an den jungen Mann, der von unten kommt und, befangen in guter Gesellschaft, zu schreien anfängt, um sich vernehmlich zu machen: power und patzig. […] Dicht hinter dem Ideal steht das Leben.“ 126 Ideal und Leben klafften dabei nicht selten auseinander.

122 Johann Gottfried Herder: Die Schöpfung. Ein Morgengesang (1773). In: Johann Gottfried

Herder. Werke in 10 Bänden, Bd. 3: Volkslieder. Übertragungen. Dichtungen. Hrsg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt a. M. 1990, S. 805-815, 812 f. Der Rückgriff auf religiöse Lebensformen als Ausdruckmittel des self-enhancing signalisiert keineswegs die anerkannte Position des Dichters auf dem literarischen Feld, sondern ist weit mehr ein Symptom für eine Identitätskrise und die legitime, doch paradoxe Strategie künstlerischer Identitätsvergewisserung in Zeiten elementare Verunsicherung. 123 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. In: Sämt-

liche Werke. Bd. 13. Hrsg. v. Bernhard Suphan. Berlin 1887, S. 291. 124 Charles Taylor: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Frankfurt

a. M. 1996, S. 687. 125 Ebenda, S. 693. 126 Adorno, Minima Moralia, § 59, S. 99.

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Nicht zufällig wurde dann das 19. Jahrhundert zur Blütezeit der Literaturkritik.127 Und wollten die Schriftsteller des 18. und 19. Jahrhunderts trotz massenhafter Diffusion kritischer Besprechungen einen gewissen Einfluss auf ihre öffentliche Wahrnehmung (zurück)gewinnen, so konnten sie auf das strategische Mittel des unter maskierter Identität publizierten Eigenlobs zurückgreifen (ähnlichen der panegyrischen Epigramme) oder aber einen befreundeten Autor zur Rechtfertigung eines angegriffenen Werkes ermuntert. Eine besonders erfolgsversprechende Strategie lag darin, durch die bewusst lancierte Selbstinszenierung ihrer eigenen Lebensführung den Kritikern erwünschte personen- wie werkbasierte Schlussfolgerungen nahezulegen. Zu den Kupferstichen und malerischen Inszenierungen, die den jeweiligen Habitus in Szene setzten, traten zu diesem Zwecke fortan auch gehäuft Künstlerbriefe, die neben dem äußeren Bild des Schriftstellers auch die innere, individuelle, wenig fiktional überformte Persönlichkeit des Dichters exponierten sowie Bildungsromane, die Topoi der Persönlichkeitsformung ins Werk setzten, aber auch Autobiografien, essayistische Selbstthematisierung und Lebenserinnerungen, die von den Literaturkritikern wahrgenommen und öffentlich besprochen wurden.

Die Entwicklung erster Marketing-Instrumente Im 19. Jahrhundert erlebt die öffentliche schriftstellerische Selbstdarstellung ihre erste große „mimologische Revolution“128 durch die Erfindung der Fotografie.129 Der publikumswirksame Reiz des neuen Mediums liegt in seiner Echtheitswirkung. Diese Möglichkeit zur fotografisch-mimetischen Verdopplung der Wirklichkeit, die frühe Techniken wie Malerei, Skulptur, Kupferstich und Lithografie oder Porträts auf

127 Die Bedeutung der in den Großstädten entstehenden Publizistik für die Schriftsteller zeigt

sich zudem in der Sorge, wegen einer längeren (durch eine Reise oder eine Schaffenspause verursachte) Abwesenheit den Anschluss an diesen sich ständig ephemer erneuernden Diskurs zu verlieren. Als beispielsweise der Künstler „Johann Zoffny 1789 nach sechs Jahren eines Aufenthalts in Britisch-Indien nach London zurückkehrte, galt er in der metropolitanen Presse bereits als verstorben.“ In einer nicht näher bezeichneten Zeitung wurde kurz vor seiner Rückkehr bereits ein seriöser Nachruf auf ihn verfasst. (Vgl. Joachimides, Verwandlungskünstler, S. 45.) 128 Martin Andree: Archäologie der Medienwirkung. München 2005, S. 131. 129 Diese Revolution leistet zunächst technisch nicht viel mehr, als das Abbild der Camera

Obscura unmittelbar auf Papier zu fixieren, ohne dass dafür noch die zeichnerische Kunst eines Menschen nötig wäre. Damit ist das neue Medium das konsequente Ergebnis einer jahrhundertelangen, kontinuierlich verlaufenden Entwicklungslinie, innerhalb derer man seit der Renaissance eine Bildrealistik unter zunehmender Hinzuziehung optischer Apparaturen erzeugte. Das Abbild aus der Camera Obscura, dem Panorama, dem Diorama und schließlich der Fotografie erfüllt die Authentizitätsforderungen öffentlicher Selbstdarstellungen, die nur gelegentlich bewusst durchbrochen wird. Prinzipiell lassen sich bildrealistische Tendenzen auch in der Malerei, etwa im Detailreichtum des Biedermeiers, und im literarischen Realismus beobachten.

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Geldmünzen nicht realisieren konnten, bescherte den Fotografen sowohl den Vorwurf der „Gotteslästerung“130 als auch Anerkennung und wurde bald enthusiastisch als neue Dimension der Wahrnehmung gefeiert: „Man getraute sich zuerst auch nicht, so erzählte oft mein Vater, die ersten Bilder, die er fertigte, lange anzusehen. Man scheute sich vor der Deutlichkeit der Menschen und glaubte, dass die kleinen winzigen Gesichter der Personen, die da auf dem Bilde waren, einen selbst sehen könnten, so verblüffend wirkte die ungewohnte Deutlichkeit und die ungewohnte Naturtreue der ersten Daguerrotyp-Bilder auf jeden, der noch nie ein solches Bild in der Hand gehabt hatte.“131

Weil die Fotografie schnell zum populären Instrument der Wirklichkeitsdarstellung reifte und damit in unmittelbare Konkurrenz zur sprachlichen Wirklichkeitsreflexion trat, wurde sie anfangs von den Schriftstellern argwöhnisch betrachtet und die Fotografen von ihnen teils verhöhnt.132 In Dramen und Romanen der damaligen Zeit sind die Fotografen, wenn sie überhaupt einmal auftauchen, gescheiterte Künstler und Tagträumer. In Wilhelm Raabes Novelle Der Lar (1888) beispielsweise taucht der Fotograf als fragwürdige Existenz auf, der allein als Leichenfotograf zu Vermögen kommt. In Henrik Ibsens Wildente (1884) ist der Fotograf eine Verliererfigur, die immer wieder von einer absurden Idee träumt: die Fotografie zur Kunstform zu erheben. Im Gegensatz zur Schriftstellerei reproduziere die Kamera bloße Kopien der Wirklichkeit, anstatt sie ästhetisch umzugestalten. „Die Photographie erscheint hier nicht als Repräsentation der Realität, sondern als die Realität selbst.“133 Durch die Erfindung der Fotografie ergaben sich jedoch für den Schriftsteller auch bedeutungsvolle Möglichkeiten der Selbstinszenierung, durch die sich ihr erwünschtes Ich und ihre euphemistische Selbstsicht fotografisch als Lebenswirklichkeit abbilden ließen. Denn: „Bilder wurden zu mehr als bloß nützlichen Werkzeugen:

130 Vgl. Matthias Bickenbach: Das Autorenfoto in der Medienrevolution. Anachronie einer

Norm. München 2010. Und: Heinz Buddemeier: Das Foto. Geschichte und Theorie der Fotografie als Grundlage eines Urteils. Reinbek bei Hamburg 1981. 131 Max Dauthendey: Der Geist meines Vaters (1925). In: Heinz Buddemeier: Panorama,

Diorama, Fotografie. Entstehung und Wirkung neuer Medien im 19. Jahrhundert. München 1970, S. 230. (Der Vater Max Dauthendeys war einer der ersten Fotografen in Deutschland.) 132 Vgl. Erwin Koeppen: Literatur und Fotografie. Über Geschichte und Thematik einer Me-

dienentwicklung. Stuttgart 1987. 133 Bernd Stiegler: Theoriegeschichte der Photographie. München 2006, S. 103 (Herv. i. O.).

Für den Naturwissenschaftler Ernst Mach (dessen ballistische Experimente, bei denen er versuchte, eine Kugel im Flug zu fotografieren, in der Theorie der Fotografie einen wichtigen Stellenwert einnehmen) stellt die Fotografie eine Erweiterung der Sinne dar, die dem Menschen und seiner physiologisch begründeten begrenzten Wahrnehmung neue Felder der Sichtbarkeit erschließt und zudem, so seine mittlerweile medientheoretisch und konstruktivistisch widerlegte Theorie, all die Dinge auf dieser Welt frei von subjektiver Einflussnahme archiviert werden können (vgl.: Ernst Mach: Die Analyse der Empfindungen (1886). Darmstadt 1991.

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sie wurden die Worte der Natur selbst“ und damit temporär wichtiger Teil der diskursiv erzeugten Wahrheit über den Künstler auf dem literarischen Feld.“ 134

Abbildung 14: Frank Wedekind, Atelierfoto Obwohl neben der Ausstattung der Ateliers, die zu Requisitenkammern exotischer und fantastischer Schauplätze umgestaltet werden konnten, auch die Verkürzung der Belichtungszeit eine immer größere Freiheit der Selbstinszenierung bot, knüpften die 134 Erste Brüche und Risse bekam die Vorstellung der mimetischen Natur der Fotografie, als

die Novität des Mediums der Vertrautheit mit demselben wich und einen spielerischen Umgang provozierte. Nicht eine mimetische Abbildung, sondern eine interpretierende Verkürzung und Normierung schreibt der Bild-Theoretiker Breidenbach der Fotografie seit dem Moment ihrer Entstehung zu; „nichts als die Inszenierung“! (Olaf Breidenbach: Bilder des Wissens. Zur Kulturgeschichte der wissenschaftlichen Wahrnehmung. München 2005, S. 121.) „Das Photo ist normativ. […] Das, was sich im photographischen Protokoll abbildet, ist eine Weltsicht und nicht einfach die Welt selbst.“ (Ebd., S. 79.) Breidenbach rekurriert dabei argumentativ auf den Aufsatz Das Bild der Objektivität von Peter Gallison und Lorraine Daston. Gallison und Daston arbeiteten heraus, dass Subjektivität und Objektivität für die Fotografie nur korrelativ, einander ergänzend zu fassen sind. In der Mitte des 19. Jahrhunderts habe sich eine neue, nicht mehr allein abstraktmechanische Form der Objektivität herausgebildet, für die die zuvor aus diesem Begriffsfeld ausgeschlossene Subjektivität konstitutiv sei. Als Medium von abbildender Genauigkeit garantiere die Fotografie einen unauflöslichen Wirklichkeitsbezug, der durch das Subjekt

legitimiert

und

bestätigt

wird.

Spätestens

innerhalb

des

fotografie-

wissenschaftlichen Diskurses des 21. Jahrhunderts wird von Joel Snyder die Polarität von Subjektivität und Objektivität durch die Einführung des Wechselverhältnisses von Sichtbarmachung und Sichtbarkeit gänzlich aufgehoben. Die Fotografie selbst ist dann sowohl Beobachter als auch Interpret, ebenso wie der Betrachter der Fotografie beides ist. (Vgl. Joel Snyder: Sichtbarmachung und Sichtbarkeit. In: Peter Geimar (Hrsg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Kunst, Wissenschaft und Technologie. Frankfurt a. M. 2002, S. 141-167, 151.)

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Schriftsteller-Porträts an die damals üblichen Sehgewohnheiten, die bekannte Bildsprache, deren Motive, Kompositionen und den traditionellen Bildaufbau an. Die meisten Porträts fielen konservativ aus. Eine Ausnahme stellt Frank Wedekinds experimentelle fotografische Selbstdarstellung dar. Zwar zeigt Frank Wedekind sich in voller Statur und zunächst in bürgerlich steifer Pose, doch lässt er kleinere, spielerische Nuancen zu. Neben der Artifizialität (mit feinem Zwirn in der Natur, allein im Wald) mag hier vielleicht auch der Wunsch des Tarnens und Verschwindens der Vater des Inszenierungsgedankens gewesen sein. Die positiv werbende Wirkung des Bildes von Wedekind wird jedoch nicht bloß durch die widersprüchliche Repräsentation verfehlt, sondern maßgeblich durch die Verschleierung einer Blicklinie zum Betrachter, durch die Verhinderung des Blicks als punctum des Bildes.135 Auch könnte die Inszenierung fast beängstigend wirken (die Maske, der Stock, die finstere Kleidung/Verhüllung, der Wald), wäre die Pose nicht so linkisch und harmlos, ja hilflos: Die Kessheit bleibt durch die Anwinkelung des rechten Arms samt in die Hüfte gestemmter Hand lediglich eine Andeutung – und Wedekinds kunstvolle Inszenierung eine Ausnahme. Denn weiterhin wird eine stabile, stereotype Art des Selbstbildes bevorzugt und damit vorerst eine konservative, kaum experimentelle Tradition der weitgehend ernsten Porträtkunst fortgesetzt. Mit der Erfindung der Fotografie im Visitenkartenformat, der cartes de visite, wurde ein neues, zunächst autonomes Werbeinstrument begründet und der Weg zum populären Fanartikel vorbereitet. Hat auch das Visitenkartenporträt seinen Ursprung in der Aristokratie, die das kleine, ästhetische Porträt nutzte, um sich einen schillernden Doppelkörper zu verleihen, der an geliebte Personen weitergereicht und von diesen bewahrt und bewundert werden durfte, so wandelte es sich innerhalb weniger Jahre zum kommerziellen Verkaufsartikel.136 „Das Fotoalbum ist eine direkte Auswirkung dieser beginnenden Zirkulation des Bildes. Es entsteht um 1858 in einer eigenständigen Form, deren Grundprinzip in der Möglichkeit besteht,

135 Als punctum bezeichnet Roland Barthes bekanntlich das zu dem mit souveränem Be-

wusstsein geführte studium (/das allgemeine Interesse an einem Vorgang) hinzutretende speziell mich Treffende, das „wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor[schießt], um mich zu durchbohren“; und „punctum meint auch: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt – und: Wurf der Würfel. Das punctum einer Fotografie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft).“ (Roland Barthes: Die helle Kammer (1980/1985). Frankfurt a. M. 2005, S. 33 ff.) 136 Das Begehren erfasst auch den Adel, der diese Bilder nicht nur anschauen, sondern sie

materiell besitzen will. Nicht allein besessen von ihrer eigenen Schönheit lässt die österreichische Kaiserin Elisabeth (Sissi) 1862 die Weisung ergehen, die Diplomaten sollen ihr alle cartes des visites der weiblichen Schönheiten aller europäischen Hauptstädte beschaffen. Daraufhin sendet man ihr Bilder der High Society, des Theaters und, auf ihren ausdrücklichen Wunsch, sogar aus türkischen Harems. (Vgl. Straumann, Queen, Dandy, Diva, S. 70 f.) Es entstehen das Phänomen des Album of Celebrities und das Poets Album. (Vgl. Matthias Bickenbach: Das Autorenfoto in der Medienrevolution. Anachronie einer Norm. München 2010, S. 332.)

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das Standardformat der Visitenkarte in die Seiten einstecken zu können. Das Weiß der Buchseite, das dem Album seinen Namen gibt, bekommt einen Schlitz, vier Schlitze, die die Seite quadrieren. Durch diesen Schlitz wird die Fotografie geschoben und erscheint auf der Seite, die nun „Kulisse“ heißt. […] Die Bilder werden nicht geheftet oder geklebt, sondern bleiben ‚lose‘ gekoppelte Elemente, deren Austausch jederzeit möglich ist. Das ermöglicht Bildfolgen, ebenso wie Unordnung, Aktualisierung, aber auch Revision.“137

Die Sammlung der Bilder erscheint in der Struktur des Buches, im Dispositiv des Schichtens und Blätterns.138 Das verändert auch die Rezeptionshaltung. Als Buch generiert das Foto- und Sammelalbum die private und gesellige Nahsicht. Das kleine Bildchen rückt aus der Sphäre distanzierter Repräsentation in den Bereich der Intimität der Betrachtung, wird zum flexiblen und greifbaren Gegenstand und Anlass geselliger Kommunikation. Die durch die Bilder erzielte Wirkung wurde schrittweise zu einem Wert an sich, ebenso wie sich die wachsende Affinität für das Visuelle zusehends verselbstständigte. Zu neuartigen Darstellungsverfahren in der Öffentlichkeit gehörten auch die Präsentationen von Fotografien in einem von der Straße aus einsehbaren Atelier. 139 „Das öffentliche Leben wurde zu einer Sache des Beobachtens, der passiven Teilnahme zu einer Art von Voyeurismus.“140 Balzac nannte dies die ‚Gastronomie des Auges‘. Die Ateliers beförderten sowohl die Schaulust als auch das Konsumverhalten der potenziellen Kundschaft, die die ausgestellten Porträt-Fotos von Künstlern, Schriftstellern und Schauspielern erwerben konnten. In der Konsequenz wurden ausgesuchte Schriftsteller in den „Status von Persönlichkeiten“141 erhoben. In den Warenumlauf gebracht, stellten ihre Abbilder zudem eine zuvor unbekannte Nähe und somit ein ganz neues Verhältnis zwischen Rezipient und Künstler her. In der Nahaufnahme, im Fokus auf das Gesicht etwa, stelle sich ein entscheidender Effekt des neuen Bildmediums ein: die Tilgung der Diskretion, so Bickenbach in seiner Studie über das Auto-

137 Bickenbach, Das Autorenfoto in der Medienrevolution, S. 330 f. 138 Vgl. Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 180 f. 139 In London gibt es im Jahr 1850 nur 12 Ateliers, fünf Jahre später schon 55 und im Jahre

1860 existieren in der britischen Hauptstadt 200 Foto-Ateliers. Zu diesem Zeitpunkt leben in Paris bereits 33.000 Menschen direkt oder indirekt von der Fotografie. (Vgl. Barbara Straumann: Queen, Dandy, Diva. In: Dies./Elisabeth Bronfen: Diva. Geschichte einer Bewunderung. München 2002, S. 68-87, 70 f.) Während das 1839 erfundene Verfahren der Daguerreotypie viele Jahre nur Bild-Unikate ermöglichte, beginnt wenige Jahre später mit der Kalotypie, die Kontaktabzüge möglich machte, die Reproduktion. Es folgte bald die industrielle Herstellung von fotografischen Bildern für ein Massenpublikum. (Vgl. Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie (1931). In: Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt a. M. 2003, S. 45-64.) 140 Richard Sennet: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Tyrannei der Intimität. Frank-

furt a. M. 1996, S. 44 f. 141 Ebenda, S. 45.

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renfoto.142 Das fotografierte Porträt eines Schriftstellers sei, so klein es auch sein mag und so marginal es im Schaufenster präsentiert ist, stets ein close up, ein Bild, das Zeugnis der Distanzlosigkeit ist. „Jemandem ungestört genau ins Gesicht zu blicken, ist eine symbolische Machtausübung, die im Alltag restriktiven Regeln unterliegt. Der direkte Blick ins Gesicht ist eine Zudringlichkeit, durch die eine Objektwerdung dessen, der inspiziert wird, von statten geht.“143 „Die über das Foto hergestellte Nähe intensivierte sich, als es 1880 technisch möglich wurde, Bilder neben Texte zu setzen – beispielsweise in Zeitungen, den heute so genannten ‚Klatschspalten‘ – und mit persönlichen Geschichten und Begebenheiten zu ergänzen. Zuvor vom bürgerlichen Leben entrückt, wurden die dargestellten Künstler gleichzeitig überraschend gewöhnlich.“144

Das selbstbewusste und gezielte Spiel mit der Inszenierung perfektionierten im 19. Jahrhundert und historisch als Erste die Bohemians, die als Vorbilder und Ikonen der Pop-Autoren der 1990er-Jahre gelten dürfen. Sie schöpften erstmals die illusorische Kraft der Fotografie vollends aus und verstanden es, das neue Medium in innovativer Weise für ihre Selbstinszenierung zu nutzen. Die Bohème war, so viel ist bekannt, „eine Gruppe junger Künstler, ewiger Studenten, Schriftsteller, Musiker und hoffnungsvoller Philosophen, die sich die Nächte in irgendwelchen Cafés oder möblierten Mansardenzimmern herumschlugen, über das Leben, Religion, Kunst, Politik und Frauen diskutierten, gemeinsam feierten, wenn Geld, und gemeinsam die Gesundheit ruinierten, wenn genügend Absinth vorhanden war.“145

In der berühmten Selbstinszenierung des Künstlers und Fotografen David Octavius Hill wartet nach einer durchzechten Nacht ein Freund, inszeniert als Mediziner auf den ermatteten Künstler, der Opfer seiner ausschweifenden Allüren geworden ist. Während der Mediziner des Künstlers Puls abtastet, schaut dieser zerknirscht zur Seite, die antike Statue scheint sich von ihm abzuwenden. Durch diese Selbstinszenierung verhöhnt bzw. ironisiert Hill nicht nur seine Rolle als Erbe seiner ehrwürdigen Vorfahren, sondern auch die lange Tradition der römischen Antike selbst, die in dem die Skulpturen gelegentlich zierenden, nun doppeldeutigen zu verstehenden Satz

142 Vgl. Bickenbach, Das Autorenfoto in der Medienrevolution, S. 263. 143 Ebenda., S. 263. Die Tendenz zur fotografischen Distanzlosigkeit habe sich bis heute

besonders im angelsächsischen Raum erhalten. Bei englischen (und auch amerikanischen) Autorenfotos lasse sich heute – im Vergleich etwa zu deutschen Autorenbildern – erkennen, dass Schriftstellerporträts etwa in der Sunday Times näher herangezoomt und bildfüllender gesetzt werden. Der Effekt zu großer Nähe zeige dort jedoch nun seine Kehrseite: Das Ganze des Schönen wird in seine Bestandteile zerlegt, erreicht damit die Grenze der Attraktivität und schlägt in Hässlichkeit um. 144 Straumann, Queen, Dandy, Diva, S. 71. 145 Helmut Kreuzer: Die Bohème. Analyse und Dokumentation der intellektuellen Subkultur

vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart 1968, S. 68.

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„The Last of the Romans“ Ausdruck findet. Neben der ironischen, auch provokanten Lebenshaltung zeichnen „das offene Hemd, der verwegen gebundene Schal, skeptische Blicke oder zur Schau gestellte Langeweile“ viele der porträtierten Bohemiens aus, so Dewitz.146

Abbildung 15: D. O. Hill: „Der Morgen danach“ (um 1854)147 Ständiges Improvisieren gewährleistete dieser Gruppe ein erhöhtes Maß an Lebendigkeit, „der Alltag war von sporadischen Beschäftigungen, wechselnden Liebschaften, provisorischen Unterkünften, mangelndem Einkommen und geplatzten Verabredungen angefüllt. […] Bohemiens waren exzentrisch in ihrer Kleidung, wobei besonders lange Haare und Bärte ihnen die kostengünstigem Möglichkeiten boten, ihre Unabhängigkeit und Kreativität herauszustellen.“148 So warnte Gautier seiner Tage: „Mach keine Fehler! Wenn du dein Haar oder deinen Bart abschneidest, beschneidest du dein Talent.“149 Neben der Kleidung war das Rauchen eine wichtige Voraussetzung; man nahm Opium, konsumierte Haschisch. Der besondere Lebensstil des Bohemiens war in der Regel zeitlich begrenzt als eine „kunterbunte, antibürgerliche Episode“ im Leben eines Künstlers, die man zwischen 20 und 30 Jahren einfach durchleben musste.150

146 Porträtgalerie siehe von Dewitz, Bohemians. In: Kanz, Das Komische in der Kunst, S.

203 ff. 147 David Octavius Hill: Der Morgen danach. Entstanden in Edinburgh, in Kooperation mit

dem Fotografen Robert Adamson, um 1845. Heute im Besitz der Scottish National Portrait Gallery. Entnommen aus: Bodo von Dewitz: Bohemians. Die Inszenierung des Künstlers in der Fotografie des 19. Jahrhunderts. In: Roland Kanz (Hrsg.): Das Komische in der Kunst. Köln 2007, S. 186-209, 199. 148 Von Dewitz, Bohemian. In: Kanz, Das Komische in der Kunst S. 188 f. 149 Vgl. Gerd Stein: Bohemian, Tramp, Sponti. Boheme und Alternativkultur. Kultfiguren

und Sozialcharaktere des 19. und 20. Jahrhunderts. Bd. 1., Frankfurt a. M. 1982, S. 9 f. 150 Ebenda, S. 14.

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Charles Bell, ein enger Freund David Octavius Hills, schrieb über die intendierte Wirkung der künstlich evozierten Foto-Szenen und über das Empfinden von Schönheit: „Ein Gesicht, das unter gewöhnlichen Umständen nichts Bemerkenswertes hat, kann durch einen Gesichtsausdruck schön werden.“ Er verwies darauf, dass die Empfindungen, wenn man sie darstellt oder zeigt, die eigentliche Wirklichkeit vermittelten. Und entsprechend verfuhr man in der Fotografie. Arrangierte Porträts, die ebenjene Gefühlslagen transportieren sollten, gehörten für die Bohemiens zum Repertoire ihres Selbstverständnisses. Zur Inszenierung von spezifischen Gefühlslagen zählten aber auch spontan eingefangene Körperinszenierung, fingierte Szenerien – und Gruppenbilder. Auf dem „Gruppenbild anlässlich einer Ägyptenreise“ liegen die Künstler und Schriftsteller C. R. Huber, Franz von Lenbach, Hans Makart, Adolf Gnauth, Leopold Carl Müller und Georg Ebers wie hingemetzelt auf dem staubigen Boden. Doch tot sind sie ganz offensichtlich nicht, denn die mit beiden Händen umfassten Fußfesseln des Herrn Huber und das angewinkelte Bein sowie der leicht erhobene Kopf seines Schriftstellerkollegen lassen auf eine bewusste Inszenierung schließen.

Abbildung 16: Gruppenbild anlässlich einer Ägyptenreise (1875)151 Um den Sinn dieser szenischen Anordnung zu ergründen, wurde, so will es die kulturhistorische Legende, der Rat von Ägyptologen eingeholt. Da die Aufnahme in Kairo entstand, wurde vermutet, dass es sich bei dieser liegenden Formation um eine geheimnisvolle Hieroglyphe handeln musste.152 Zwar hat sich diese Annahme nicht bestätigt, dafür jedoch die Idee, dass es sich um eine vorsätzliche „Inszenierung des lässigen Lebens, einen kalkulierten Bruch von Konventionen“ 153 handelt. Dieses Bild aus der frühen Zeit der Fotografie zeige zudem, „dass es abrufbare unkonventionelle Verhaltensweisen gab, die Künstler zu aktivieren vermochten und die in der Photographie offensichtlich leichter als in der Malerei oder Graphik dargestellt werden konnten. Heute gehören solche oder ähnlich Albereien zum Erinnerungs-

151 Gruppenbild entnommen aus: von Dewitz, Bohemians. In: Kanz, Das Komische in der Kunst, S. 187. 152 Vgl. von Dewitz, Bohemians. In: Kanz, Das Komische in der Kunst, S. 186. 153 Ebenda, S. 186.

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schatz von jedermann, zu den Taten des Urlaubs, damals war dieses – sozusagen Freizeitverhalten – vergleichsweise selten und nur wenigen vorbehalten.“154

Je autonomer und avantgardistischer die Kunst wurde und je weiter die gemeinsame, konventionelle Symbolwelt zerfiel, desto sensibler reagierte die bürgerliche Öffentlichkeit auf die Inszenierungen.155 Das bereits mit Entfremdung begleitete Verhältnis zwischen dem Schriftsteller und der Öffentlichkeit spitzte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu, als die Avantgarde die Bohemiens auf dem literarischen Feld ergänzte.

D ADAISTISCHE I NSZENIERUNG UND ANTI - BÜRGERLICHE AVANTGARDE . O DER : „I CH – N ICHT – I CH “ Während sich die kulturelle Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts für den zur Schau gestellten Körper zu interessieren begann – auch übrigens und besonders für den nackten, kranken, in seiner Sexualität oder Hysterie gebundenen, abnormen Körper (der zum Gegenstand in der bildenden Kunst wurde, sich in den Figuren auf den Theaterbühnen manifestierte und der sich in die Literatur einschrieb)156 –,gewann zu Beginn des 20. Jahrhunderts (nicht länger die irrationale, sondern) die bewusst deplatzierte Geste und der mit der Absicht zur Provokation inszenierte Verstoß gegen das Bürgerliche und Vertraute an Bedeutung.157 Die Brüskierung und die exaltierte Skandalisierung wurden bald zum selbstdarstellerischen Leitprinzip. Der Expressionismus, aber erst recht der Futurismus und Dadaismus traten mit dem offen formulierten Vorhaben an, eine personenzentrierte, provokative Performance profilieren zu wollen, die die (öffentliche) Autorfigur und die (private) Autorperson in einem sichtbaren Autorenkörper und unwiderruflich miteinander verschmelzen sollte. 1922 ließ beispielsweise die avantgardistische Gruppe De Stijl auf einem Düsseldorfer Künstlerkongress die Forderung verlauten: „Aufhören der Tren-

154 Von Dewitz, Bohemians. In: Kanz, Das Komische in der Kunst, S. 187. 155 Vgl. ausführlich dazu Konrad Paul Liessmann: Die Furie des Verschwindens. Über das

Schicksal des Alten im Zeitalter des Neuen. Wien 2000. Und: Peter Gay: Bürger und Bohème. Kunstkriege des 19. Jahrhunderts. München 1999. Auch: Thomas Nipperdey: Wie das Bürgertum die Moderne fand. Stuttgart 1998. 156 Vgl. Andreas Mayer: Enthüllung und Erregung. Kleine Physiologie des Skandals. In:

Tobias Natter/Max Hollein (Hrsg.): Die nackte Wahrheit. Klimt, Schiele, Kokoschka und andere Skandale. München 2005, S. 55-66. Und: Straumann, Queen, Dandy, Diva, S. 76 ff. 157 Dass der Körper diese öffentliche Faszination über drei Jahrhunderte, bis heute besitzt,

erklärt Larcati (Skandalstrategien, S. 111) damit, dass das körperlich-sexuelle Leben durch die christliche Religion die Zone war, die Jahrhunderte lang am intensivsten mit Tabus umgeben wurde.

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nung von Kunst und Leben. Kunst wird Leben.“158 Und 1924 schrieb der Autor Karel Teige in seinem ersten avantgardistischen Manifest des Poetismus: „Der Poetismus ist keine Kunst […]. Der Poetismus ist vor allem ein modus vivendi.“159 Eine Lebensart. Kunst und Künstlerleben waren nicht länger voneinander zu trennen. Diese Form der Künstlerinszenierung war pragmatische Lebenspoetik und kreative Zweckerfüllung zugleich; sie war Irritation. Dadurch wurde ein signifikanter Paradigmenwechsel in der Geschichte der Selbstinszenierung und des skandalösen öffentlichen Ereignisses vollzogen. Dieser bestand darin, die personengebundene Aufmerksamkeitslenkung, die zuvor größtenteils zufälligen oder punktuellen Charakter hatte, und die öffentliche Erregungen des Publikums mit der Etablierung der Avantgarde zu institutionalisieren und gleichsam zum fixen Bestandteil eines erprobten öffentlichen Rituals werden zu lassen.160 Kein Künstler ohne Inszenierung.

Abbildung 17: Max Ernst:„The punching ball“ (1920)161 Die sogenannte Avantgarde lancierte Skandale nach altbekanntem Schema, durch pornografisch und blasphemisch wirkende Werke, 162 Worte (Manifeste, Flugblätter) und Taten (Aktionen, Soireen), wodurch Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft ge-

158 Vgl. Helmuth Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung

um 20. Jahrhundert. München 2004, S. 242. 159 Vgl. ebenda, S. 242. 160 Vgl. Arturo Larcati: Skandalstrategien der Avantgarde. In: Stefan Neuhaus/Johann Holz-

ner (Hrsg.): Literatur als Skandal. Fälle, Funktionen, Folgen. Göttingen 2007, S. 110127, 110 f. 161 Max Ernst: The punching ball ou l’immortalité de buonarotti (1920). Entnommen aus:

Werner Spies (Hrsg.): Max Ernst. Retrospektive zum 100. Geburtstag. München 1991, S. 83. 162 Wie zum Beispiel Gottfried Benns Morgue-Gedichte (1912), mit denen er lyrisch zu

schockieren vermochte, weil er dasjenige thematisierte, was jenseits der Normalvorstellung der Bürger lag: das Kranke, Hässliche, Abstoßende, Tod und Verfall.

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übt sowie deren biedere und gleichmütige Moral partiell irritiert und demontiert werden sollte. Zwar orientierten sich die Avantgarde-Künstler an den modernen Techniken der Reklame, auch der Propaganda, doch emanzipierten sie sich von den imitierenden Fotografien durch suggestiv-unscharfe Bilder, Fotomontagen und Verfremdungseffekte. In der Selbstinszenierung von Max Ernst indiziert er durch Kleiderwahl und Pose traditionell ein konservatives Leistungsstreben – und persifliert dieses zugleich, indem er es durch intellektuelles und künstlerisches Arrangement überzeichnet. Der als Torso stilisierte Punchingball, das Sportgerät, das dem Boxer zum Faust-Training, zur Erhöhung der Reaktionszeit und der Schlagkraft dient, stellt den Künstler Michelangelo dar, wie Yvonne-Patricia Alefeld herausstellte. Im Vergleich zu Max Ernst hat Michelangelo Zwergenformat – er reicht Max Ernst gerade einmal bis zum Kinn. Die Selbstinszenierung Max Ernsts ist damit zunächst eine reine Selbsterhöhung, Michelangelo bleibt für Ernst eine Miniatur und ein Spielball. Das visuell verkörperte Selbstbewusstsein, das zugleich Zerrspiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse sei, so Alefeld, folge der Dramaturgie von „Kampf und Spiel.“163 Kurzum: In der Grauzone zwischen Größenwahn und Scherz, zwischen Profilierungssucht, ironischer Schaumschlägerei und Überzeichnung inszeniert sich der Dadaist mithilfe der Montagetechnik, einer polyvalenten Kunstform, die sich aus bildlichen, grafischen, individuellen und populären Bildern und Worten zusammensetzt. Das Selbstbildnis The punching ball ou l’immortalité de buonarotti diente Max Ernst 1920 zur Vorbereitung und Bekanntmachung der ersten Dada-Messe in Berlin. Mit diesem Poster gelingt Ernst ein intellektueller und werbewirksamer Clou. Er kritisiert und persifliert die bestehenden Macht- und Konkurrenzverhältnisse und wirbt doch gleichzeitig durch die visuelle Personifikation seiner Person flächendeckend und breitenwirksam auch für sich selbst.

Krise der Repräsentation Durch die futuristisch-dadaistischen Montage-Experimente gerät die Porträtkunst im 20. Jahrhundert erstmalig in eine ausgeprägte Krise (die „Krise des Porträts“ 164), die als Signatur und als Katalysator der Entwicklung des modernen Subjekts, des menschlichen Selbstverständnisses und der Selbstdarstellung aufgefasst werden kann. Verwies der mittelalterliche Bildertypus auf ein typisierbares Allgemeines, und setzte die ikonenhafte Selbst-Repräsentation der Früh-Renaissance noch eine absolute Differenz zwischen Mensch und Gott voraus, die erst in der kritischen Auseinandersetzung in der Hoch-Renaissance den Selbstbezug erlaubte und bald einforderte, wird im 20. Jahrhundert die soeben gewonnene Selbstgewissheit sowie die dominierende Individualität und Subjektivität nachhaltig erschüttert.

163 Vgl. Yvonne-Patricia Alefeld: Raoul Hausmann – Pose Poesie Performance. In: Grimm/Schärf, Schriftsteller-Inszenierungen , S. 117-137, 130. 164 Roland Galle: Das Porträt im Schnittpunkt der Moderne. In: Essener Unikate. 14/2000,

S. 46-57, 48.

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Diese Erschütterung und Veränderung ist am ehesten nachzuvollziehen, wenn man sich die in den Porträts zur Anschauung kommenden Denkmuster als einen historisch sich verschiebenden Punkt auf einer imaginären Skala vergegenwärtigt, so Roland Galle. An dem Fußpunkt der Skala befindet sich der Wertmaßstab des vom Subjekt abstrahierenden, schriftstellerischen Ideals. Am Kopfpunkt der Skala sitzt der Wertmaßstab der tatsächlichen Ähnlichkeit, nach dem das Subjekt mimetisch, doch individuiert abgebildet wird.165 Im Punkt des Ideals „wird zur Geltung gebracht, dass die angestrebte künstlerische Vollendung – so sehr der Einzelne auch ihr Thema sein mag – immer auch ein Überindividuelles zur Erscheinung bringt“, wie es in der Frühphase der Selbstdarstellung bis ins 16. Jahrhundert geboten war. 166 Unter der Prämisse der Ähnlichkeit hingegen soll das Individuum naturgetreu repräsentiert werden. Zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert verschob sich der auf dem künstlerischen Feld als erstrebenswert erachtete Darstellungseffekt von der idealisierenden zur mimetischen, der Realität in höchstem Maße ähnelnden Personendarstellung. Es klingt paradox, doch: „Gerade dadurch, dass alle Intensität auf die künstlerische Darstellung und Perfektionierung der körperlichen Erscheinung gesetzt wird, alle Maßstäbe der Gestaltung aus ihr gewonnen werden, kann und wird […] die stärkste seelische Eigenheit zu gewinnen sein“167, so Galle über das möglichst naturgetreue, die innere und äußere Natur abbildende Porträt. Die während des 19. Jahrhunderts im Schriftstellerporträt erwartete Reflexion der seelischen Eigenheit basierte auf einem in der Renaissance geprägten Denk- und Darstellungsmuster. Demzufolge lasse sich die Leistungskraft und Besonderheit eines Porträts erstens an der descriptio extrinseca, also der Fähigkeit des naturgetreuen Nachbildens der äußerlich ablesbaren körperlichen Beschaffenheit des Porträtierten durch den Maler ablesen und zweitens an der descriptio intrinseca, der Fähigkeit zur Darstellung eines gemeinhin analog gedachten Inneren. Lagen noch im 17. Jahrhundert feste, meist idealisierende, symbolisierende Raster vor und waren dementsprechend die Verbindungslinien von außen nach innen topisch, motivisch festgeschrieben, wurde dieses Selbstdarstellungsraster durch die Physiognomik-Debatte des späten 18. Jahrhunderts problematisiert. Der Schweizer Johann Caspar Lavater, Ideenvater der Physiognomik, war zuversichtlich, ein Verfahren gefunden zu haben, das dazu verhalf, anhand von kleinen unscheinbaren, äußeren Merkmalen des menschlichen Gesichts Aussagen über den Charakter und die Wesensart des Menschen treffen zu können. In seinem Werk Hundert physiognomische Regeln (1789), das zu seiner Zeit eine breite Leserschaft begeisterte, zu der auch Johann Wolfgang von Goethe gehörte, zeigte Lavater auf, wie es möglich sei, „durch das Aeußerliche das Innere zu erkennen.“ 168 Geleitet wurde Lavater dabei von der Grundidee einer inneren Weltharmonie, die ihren Niederschlag darin fände, dass sich in der körperlichen Erscheinung die ewige und moralische Ordnung sedimentiert habe. Lavaters Idee: „Je menschlich besser, desto schöner. Je

165 Vgl. Galle, Das Porträt im Schnittpunkt der Moderne, S. 49 ff.

166 Vgl. ebenda, S. 49. 167 Ebenda, S. 49. 168 Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschen-

kenntniß und Menschenliebe. 4 Bde., Leipzig, Winterthur 1775-1778. Bd. 1, S. 13.

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moralisch schlimmer, desto hässlicher.“169 Bekanntlich hat Georg Christoph Lichtenberg gegen Lavaters Thesen generell und insbesondere gegen dessen moralische Zuspitzung vehement Einspruch erhoben, indem er die prinzipielle Unentwirrbarkeit der unendlich vielen Körpermerkmale betonte („Was für ein unermesslicher Sprung von der Oberfläche des Leibes zum Innern der Seele!“ 170). Lichtenberg vertrat die Auffassung, Gegenstand einer Deutung des menschlichen Porträts könnten nur lebensgeschichtlich geprägte und kulturell kodierte Zeichen sein, wie etwa eine sich auf die gesamte „Semiotik der Affekte“171 stützende, den Menschen von innen heraus analysierende, ebenfalls umstrittene Pathognomik. Roland Galle weist darauf hin, dass die physiognomisch fundierte Deutungsmusteranalyse Lavaters dennoch die sehr pragmatische und wichtige Funktion erfüllte, in einer unübersichtlich gewordenen Welt eine Art Erkenntnishilfe zu leisten, um auf diese Art die zunehmende Offenheit und Kontingenz individueller Entwicklungen noch einmal bannen zu können. Die von Lavater abgeleitete Inszenierungs- und Deutungspraxis entspräche somit dem Bedürfnis der Zeit, in den zusehends sich anonymisierenden Wirtschaftsbeziehungen des kulturellen Marktes überzeitlich geltende Verlässlichkeit für die Urteilsfindung im Umgang mit Menschen zu gewinnen.172 Rückblickend fällt es nicht schwer, in der Verwerfung der lange Zeit akzeptierten Physiognomik, durch die die visuelle Idealisierung historisch überwunden wurde, die Freigabe sämtlicher Kategorien zur Charakteristik des sich selbst darstellenden Subjekts zu sehen. Das Erodieren der Ähnlichkeit wiederum habe ihren Ausgangspunkt im Aufkommen der Fotografie.173 Das mag zunächst verwundern, hat doch die Ähnlichkeit in der Fotografie ihre Vollendung gefunden. Doch in der Vollendung liegt bereits die Auflösung.174 Die Fotografie perfektioniert nicht nur das Ähnlichkeitsprinzip, sondern setzt bald auch den Glauben an die in der Abbildung der Realität liegende Wahrheit außer Kraft und damit auch alle errungenen mimetischen darstellerischen Wertmaßstäbe. In der Literatur lässt sich die Krise des überkommenen Porträts daran ablesen, dass die im Vorzeichen der Physiognomik sichergestellte Adäquation von äußerer Gestalt und innerem Wesen in einem grundsätzlichen Sinne aufgekündigt wird. Das neue Kapitel des Porträts und des Subjekts, das die Moderne erzwingt und auch ermöglicht, schlägt sich nicht zuletzt in Thomas Manns Der Zauberberg (1900) nie-

169 Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschen-

kenntniß und Menschenliebe. 4 Bde., Leipzig, Winterthur 1775-1778. Bd. 1, S. 63. 170 Georg Christoph Lichtenberg: Über Physignomik. Wider die Physiognomen. In: Schriften

und Briefe. Hrsg. v. Wolfgang Promies. München 1972, S. 256-295, 264. 171 Ebenda, S. 264. 172 Galle, Das Porträt im Schnittpunkt der Moderne, S. 50. 173 Vgl. Ebenda, S. 52. 174 „So ließe sich – im Rückgriff auf negative Kategorien – die Geschichte des modernen

Porträts schreiben als eine variationsreiche Auflösung eben der Elemente, die zu seiner historischen Vollendung geführt hatten.“ (Galle, Das Porträt im Schnittpunkt der Moderne, S. 52.)

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der:175 Der offenbar wenig gelungene Versuch, die schöne Clawdia Chauchat adäquat darzustellen, führt den Wissenschaftler und Hobbymaler Hofrat Behrens zu der Schlüsselfrage: „Wie wollen Sie denn fertig werden mit einer so vertrackten Visage?“176 Er scheitere nicht zuletzt daran, dass sein Blick an punktueller Genauigkeit und Tiefenschärfe ganz neue Dimensionen erreicht hat: „Die Körperdelle da hat Wissenschaft, die können Sie mit dem Mikroskop auf ihre organische Richtigkeit untersuchen. Da sehen Sie nicht nur bloß die Schleim- und Hornschichten der Oberhaut, sondern darunter ist das Lederhautgewebe gedacht mit seinen Salbendrüsen und Schweißdrüsen und Blutgefäßen und Wärzchen, und darunter wieder die Fetthaut, die Polsterung, wissen Sie, die Unterlage, die mit ihren vielen Fettzellen die holdseligen weiblichen Formen zustande bringt.“177

Nicht ohne Stolz merkte Behrens an, dass seine Porträt-Arbeit unter den Bedingungen seines Berufes, der Wissenschaft, entsteht, die gleichwohl dazu führt, dass er an seiner Aufgabe scheitert, die Naturschönheit nicht mehr zu sehen vermag und das Porträt in seiner überkommenen Form zersetzt und schließlich aufhebt. Im Zauberberg ist dieser Prozess des Ersetzens überkommener Formen in die berühmte Szene mit Hans Castorp übertragen, in der das ersehnte Porträt Clawdia Chauchats schließlich durch ein Röntgenbild der Geliebten ersetzt wird. Zur Signatur der Moderne wird das solchermaßen „transparente Bild des Menschenleibes, Rippenwerk, Herzfigur, Zwerchfellbogen und Lungengebläse […]“, wenn schließlich einem Betrachter dieser Aufnahme die erstaunte Feststellung in den Mund gelegt wird, die – humoristisch und abgründig zugleich – in einem wörtlichen Sinn den Bruch mit der Tradition auf den Punkt bringt: „Das Porträt ohne Kopf.“178 Die paradox anmutende Wendung vom Porträt ohne Kopf, wie Thomas Mann sie seiner Romanfigur in den Mund legte, darf als gemeinsamer Nenner für die Porträtarbeit im 20. Jahrhundert gelten. Die Dadaisten Kurt Schwitters und Raoul Hausmann haben sie in ihren Selbstporträts aus dem Jahr 1920er-Jahren auf ihre Art kommentiert. Seinen Kopf hat Kurt Schwitters ersetzt durch eine kreisrunde rote Plakette, verziert mit weißem Häkelrand. Anstelle seines Gesichts zeigt uns Schwitters geschnörkelt Weiß auf Rot, in werbender Coca-Cola-Manier den Namen seiner literarisch geschaffenen Kunstfigur: !Anna Blume? Durch die Kunstfigur Anna Blume gibt Schwitters sich ein zweites surrealistisches Konterfeit, das sein Werk und ihn als Autor (Schwitters Eigenname samt Unterschrift ist am unteren Bildrand nicht zu verkennen)179 ebenso überdeckt wie bewirbt.

175 Vgl. Galle, Das Porträt im Schnittpunkt der Moderne, S. 52. 176 Thomas Mann: Der Zauberberg (1900). Frankfurt a. M. 1991, S. 356.

177 Mann, Zauberberg, S. 358. 178 Galle, Das Porträt im Schnittpunkt der Moderne, S. 53 f. 179 Werbewirksam standen bei dieser als Star- und Werbepostkarte erschienenen Selbstdar-

stellung auf der Rückseite die bis dahin von Schwitters erschienenen Werke. Ausführlicher dazu: Christel Imscher: Kurt Schwitters. In: Möbus, Dichterbilder, S. 144 f. Und: Wolfgang Ruppert: Der moderne Künstler. Zur Sozial- und Kulturgeschichte der kreati-

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Abbildung 18: Kurt Schwitters (l.)180, Raoul Hausmann (r.)181 Kopflos und mit der Röntgen-Perspektive spielend inszeniert sich Raoul Hausmann als mechanisch gesteuerte ebenso wie lebendige Figur (die blau und roten Adern und Venen deuten zumindest auf ein Herzkreislaufsystem hin); sein Gehirn ist Räderwerk und Schaltstelle. Die kleine Beschriftung am unteren Bildrand Direktion r. hausmann lässt, wie schon bei Max Ernst, selbsterhöhende Tendenzen erkennen und eröffnet zugleich das Feld einer satirisch unterlegten Gesellschafts- und Machtkritik. Durch die avisierte Deformation der gewohnten Wahrnehmungsweise mithilfe eines fragmentarisch montierten Selbstporträts etabliert Hausmann eine Emanzipation des Schauens von den bisher akzeptierten Darstellungsformen. Dekonstruktivistisch und experimentell versinnbildlicht Hausmann die nunmehr obsolete Verbindung von physiologisch (und physiognomisch) eindeutigen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern. Damit wird die mimetische, seit Jahrhunderten angestrebte und tradierte Bild- und Vorstellungssuggestion aufgehoben zugunsten eines neuen Wahrnehmungstrainings. Argumentativ bezugnehmend auf die Theorie der Exzentrischen Empfindung des Neokantianers Ernst Marcus formulierte Hausmann seine inszenatorische Programmatik auch theoretisch in seiner Ästhetik des Neuen Sehens.182 Aufgabe der Selbstin-

ven Individualität in der kulturellen Moderne im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1998. Sowie: V. D. Coke (Hrsg.): Avantgarde-Fotografie in Deutschland 1919-1939. München 1982. 180 Kurt Schwitters: !Anna Blume?, Postkarte an Hannah Höch vom 10.09.1919. Aus: Han-

nah-Höch-Archiv, Berlin. Raoul Hausmann: Selbstportrait des Dadasophen (1920). Entnommen aus: Eva Züchner/Anna Karola Krauße/Kathrin Hatesaul: Der deutsche Spießer ärgert sich. Raoul Hausmann 1886-1971. Berlinische Galerie 1994, S. 218. 181 Raoul Hausmann: Selbstportrait des Dadasophen (1920). Entnommen aus: Eva Züchner/

Anna Karola Krauße/Kathrin Hatesaul: Der deutsche Spießer ärgert sich. Raoul Hausmann 1886-1971. Berlinische Galerie 1994, S. 218 182 Die Ästhetik des Sehens hat ihr Pendant in der aufkommenden Theorie der Sehschule der

Fotografie. Die „Sehschule“ solle „den Menschen auf die Anforderungen des modernen

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szenierung im Modus des Neuen Sehens war es, „zwischen den bekannten und den noch unbekannten optischen, akustischen und anderen funktionellen Erscheinungen weitgehend neue Beziehungen herzustellen und diese in bereichernder Steigerung von den Funktionsapparaten aufnehmen zu lassen.“ 183 Hausmanns Inszenierungsarbeit zielte auf die „Erreichung eines neuen Urzustandes, einer neuen Gegenwart“ 184 ab, die nicht in den Selbstdarstellungen allein, sondern in der Wahrnehmung derselben zu suchen ist. Damit gab Hausmann dem Beobachter eine Autorität und Interpretationsfreiheit zurück, die mit der Tradition, das fotografische Porträt als „objektive Sehform“ anzuerkennen, radikal brach.185 Auf mehrfach reflektierte Weise wurde die Wort- und Fotomontage für die Dadaisten und Raoul Hausmann zu einem neuen Instrument der Selbstdarstellung, die fortan nicht nur egozentrische, sondern ideologiekritische Funktion übernahm. Wie Hausmanns Selbstauskünfte („Wer denkt ist nicht, wer nicht isst, denkt nicht. Da ich esse, denke ich […] Ich bin incognito, denn ich cogitiere nicht. Incognito ergo dada.“186) folgen auch seine Gedichte dem Anti-Kohärenz-Prinzip: EXIS tent ICH CHI ich bin ich nicht bin sei sei bin ich Nicht sei bin ich sei ist ich ist bin sein ist ich bin Ichnichtnicht.

Sein Gedicht Exis tent spielt mit der Fiktion der Existenz, indem Hausmann die menschliche Identität auch sprachlich unterminiert. Stilelement seines identität-

Alltags- und besonders Großstadtlebens vorbereiten.“ (Stiegler, Theoriegeschichte der Fotografie, S. 196) und strebte eine Neujustierung der Wahrnehmung an, weil sich die kulturelle und mediale Umwelt radikal verändert habe. 183 Laszlo Moholy-Nagy: Malerei, Fotografie, Film. Passau 1978, S. 28. 184 Raoul Hausmann: Wie sieht der Fotograf. Gespräch mit Werner Gräff. In: Das deutsche

Lichtbild (1933). Dazu auch: Stiegler, Theoriegeschichte der Photographie, S. 209. 185 Vgl. Eva Zürcher (Hrsg.): Scharfrichter der bürgerlichen Seele. Raoul Hausmann in Berlin 1900-1933. Berlin 1998. Cornelia Frenkel: Raoul Hausmann. Künstler, Forscher, Philosoph. St. Ingbert 1996. Für die Theorie der Selbstinszenierung ebenfalls aufschlussreich: Der deutsche Spießer ärgert sich. Raoul Hausmann 1986-1971. Ausstellungskatalog. Berlin 1994. 186 Raoul Hausmann: Dadaradatsch. Da Dada da war. Aufsätze und Dokumente. Hrsg. v.

Jarl Riha. München, Wien 1980, S. 140.

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destruierenden Gedichts ist die Konversion, die gedankliche Verkehrung alles bisher Bekannten. Das Ich wird zum (fließenden) Chi und damit nicht nur rhetorisch zum Chiasmus. Ist man bereit, das Gedicht auch in seiner Silhouette, die es auf das Papier wirft, wahrzunehmen, erkennt man grafisch eine weibliche Form: Kopf, Oberkörper, Taille, Rock und Füße oder wahlweise der Boden, auf dem die Sprachfigur steht. Ist bei Hausmann von einer männlichen Identität auszugehen, tauscht er diese hier in eine weibliche. Auch die das ganze Gedicht andauernde Oszillation des Ichs zwischen Indikativ und Konjunktiv (bin, bin sei, sei bin, sei) löst das Ich in dieser sprachlichen wie physikalisch denkbaren Hin-und-her-Bewegung auf und macht es für den Betrachter ungreifbar. Bestärkt wird das Verschwinden des Subjekts durch den Titel EXIS-tent, er komprimiert den Sinn der Zeilen. EXIS verweist auf exit und Exitus und führt die mit der nachgestellten Endung -tent indizierte Existenz ad absurdum. Was Hausmann zu Beginn des Gedichts gelungen ist, führt er auch am Ende noch einmal vor: Ichnichtnicht. Könnte man versucht sein anzunehmen, dass das nicht hier das ich überschriebe, so bleibt das Ich in der letzten Zeile doch dreimal vorhanden (Ichnichtnicht) und wird durch die doppelte Verneinung (Ichnichtnicht) subtil rehabilitiert. „Ob man nun in Bezug auf das moderne Porträt von Entindividualisierung, Deformation oder einer Regression spricht, immer handelt es sich in der Tat um Paraphrasierungen einer Konstellation, die dem Porträt sein Zentrum, seinen Kopf genommen hat und die nachhaltig als Menetekel für die Krise gelten kann, die das frühe 20. Jahrhundert ins Bild setzt.“187 Vor diesem Hintergrund lassen sich auch die dadaistischen Selbstporträts als ein Versuch lesen, sowohl das Prinzip des Ideals wie das der Ähnlichkeit zu unterlaufen und dabei zugleich an einem neuen, durch die Porträtmalerei erst ermöglichten Bild des Menschen und künstlerischen Selbstentwurfes zu arbeiten. Gegenstand von Hausmann, Ernst und Schwitters ist somit die sukzessive Zurücknahme normativer Modellierungen und gegenbildlich immer auch die Durchsetzung einer neuen selbstdarstellerischen, doppelbödigen Formensprache.

N EUE N ÜCHTERNHEIT

NACH

1945

Auf die antibürgerliche Avantgarde- und die Dada-Bewegung folgte nach der historischen Zäsur 1945 eine neue Nüchternheit, die trotz Reduzierung des persönlichen Großmuts nicht auf Inszenierungen verzichtete. Allerdings fehlte in den Nachkriegsjahren eine eindeutige Leitlinie der Selbstdarstellung. An die Avantgarde anknüpfen – wollte man nicht. Sich ganz zurücknehmen – konnte man nicht, politisch galt es nun, sich einzumischen. Und so blieb nur eine radikale Reduzierung aller künstlichen oder die Wahrnehmung manipulierenden Stilelemente, die Betonung der kleinen Gesten, gepaart mit Zweifel und Melancholie, die in der aller Farbigkeit entsagenden, nüchtern-puristischen Schwarz-Weiß-Fotografie ihren adäquaten Ausdruck fand.

187 Galle, Das Porträt im Schnittpunkt der Moderne, S. 54.

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Abbildung 19: Doris Lessing (l.), Donna Leon (r.) Inszeniert wurde weniger die Person des Schriftstellers, sondern seine Tätigkeit, das Schreiben, das Lesen, der antimaterialistische Gestus und kritische Geist.

Abbildung 20: Peter Rühmkorf Eingefangen wurden Augenblicke des Verweilens und Sinnierens sowie des Aufbrechens, Flanierens und Spazierens, wie Rühmkorf am Strand. Ins Bild gesetzt wurde der Mensch am Rande, hier am Ufer.

Abbildung 21: T. Dorst und I. Kertész (l.), G. Jonke und P. Hamm (r.) Öffentlich gezeigt wurden aber auch Gefühle und verbindende Beziehungen, wie die Fotografie von Tankred Dorst und Imre Kertesz zeigt, auf der sich beide Schriftstel-

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ler umarmen. Aber auch die Abbildung von Gert Jonke und Peter Hamm vermittelt den solidarischen und freundschaftlichen Habitus, indem – nebst simultanen Gesten (der auf den Handballen gestützte Kopf) – Nähe, Anlehnung und Momente der Menschlichkeit visualisiert wurden. Anstelle der Selbstinszenierung zum verkaufsfördernden Selbstzweck trat die Aufmerksamkeitserzeugung zugunsten moralischer und politischer Ideale. Zu den Wesensmerkmalen und unvermeidlichen Begleiterscheinungen des Schriftstellerlebens gehörte in den Jahren des Wiederaufbaus das Ansinnen der politischen Einflussnahme; beginnend in den 1950er-Jahren bei der führenden Mitwirkung wichtiger Schriftsteller bei den außerparlamentarischen Protestbewegungen gegen die Wiederaufrüstung, gegen die Notstandsgesetze sowie gegen die faktische Zensur und die massenmediale Bewusstseinsbildung durch die (Springer-)Presse bis hin zur wachsenden Empfindlichkeit vieler Autoren gegenüber der Verflechtung der Literatur und einiger Literaten mit der Wohlstandsgesellschaft.188 Politische Verhärtungsprozesse innerhalb der DDR verstärkten in den 1960er-Jahren bei den engagierten Schriftstellern den Eindruck, dass die in den Nachkriegsjahren von den Schriftstellern eingeübte intellektuelle Einflussnahme auf das politische Geschehen zwar ungebrochen relevant blieb, sich der gesellschaftliche Wirkungsspielraum kritischer Autoren in der Bundesrepublik jedoch zusehends verengte. Der Mauerbau am 13. August 1961 versetzte viele intellektuelle Schriftsteller in Verlegenheit, der man sich mit dem Instrument des Offenen Briefes zu widersetzen versuchte, der sowohl das Image des Autors als auch die gesellschaftskritische Durchwirkung des öffentlichen Diskurses beförderte. Günter Grass und Wolfdietrich Schnurre richteten beispielsweise am 16. August 1961 medienwirksam von BerlinWest aus einen „Offenen Brief an die Mitglieder des Schriftstellerverbandes der DDR“. Sie forderten zur offenen Antwort auf, indem die Adressierten entweder „die Maßnahmen ihrer Regierung gutheißen oder den Rechtsbruch verurteilen. […] Wer schweigt wird schuldig.“189 Das Klima in der Bundesrepublik zwischen der Staatsmacht und den Schriftstellern wurde zudem von gegenseitigen Antipathien begleitet, die den schriftstellerischen Widerspruchsgeist zusätzlich herausforderten. Die Kunstfeindlichkeit der Bundesregierung war etwa an dem „Antrag auf Aufnahme in die Liste der jugendgefährdenden Schriften“ des Romans Katz und Maus von Günter Grass abzulesen; gestellt von einem Beamten des hessischen Ministeriums für Arbeit, Volkswohlfahrt und Gesundheitswesen, der in dem Roman „zahlreiche Schilderungen von Obszönitäten“ gefunden haben will und eine sittliche Gefährdung ahnte. Und als etwa 1963 Max Grüns Roman Irrlicht und Feuer erschien, in dem er Kritik

188 Das irritierte Empfinden einer komfortablen Stagnation im Erreichten thematisiert Martin

Walser in Halbzeit (1960). 189 Die persönlichen Antworten (von Stephan Hermlin, Franz Fühmann, Erwin Strittmater

u. a.) waren überwiegend ausweichend; die offizielle Erklärung des Schriftstellerverbandes rechtfertigte das Verhalten der eigenen Regierung und verwies die Schriftstellerkollegen auf die eigenen Freiheitsproblematiken im Westen. (Vgl. Wilfried Barner, Helmut de Boor/Richard Newald (Hrsg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. München 1994, S. 342 f.)

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an den Arbeitsbedingungen im Bergbau übte, kam die Pression fast mit gleicher Stärke aus dem unternehmerischen wie aus dem staatlichen Lager. Durch Reduktion visueller Selbstinszenierung auf ein Minimalprogramm (zurückgenommen, schwarz-weiß, ohne Verfremdungseffekte) und stattdessen durch kritische, politische und moralische Intervention in das gesellschaftliche Geschehen (durch Offener Briefe, politische Reden, publizistische Kommentare des gesellschaftlichen und politischen Geschehens) zeigten sich Schriftsteller vorrangig engagiert und verbal präsent im öffentlichen Diskurs, in dem sie so eine wichtige Rolle einnahmen und Aufmerksamkeit genossen.So etwa auch Erich Fried, der in den 1970erJahren in einem Offenen Brief im literarischen ebenso wie im gesellschaftspolitischen Diskurs für Aufruhr sorgte. In einem Leserbrief, der am 07.02.1973 im Spiegel abgedruckt wurde, polarisierte Fried durch radikale Stigma-Wörter, indem er die Erschießung des Studenten Georg von Rauch durch einen Berliner Polizisten als einen „Vorbeugemord“ bezeichnete, woraufhin er wegen Beleidigung der Staatsgewalt vom Berliner Polizeipräsidenten angeklagt wurde. Der Prozess, an dem Heinrich Böll als Gutachter teilnahm, endete mit viel Aufsehen und einem Freispruch für Fried. Ein anderes Mal politisierte Erich Fried bei der Verleihung des Büchner-Preises im Jahr 1987, als er in seiner Dankesrede sagte, dass wahrscheinlich dieser zwanzigjährige Büchner sich in unserer Zeit „zur ersten Generation der Baader-Meinhof-Gruppe geschlagen hätte“, „und dass er heute im Gefängnis säße oder vor genau zehn Jahren, am 17. Oktober 1977, an einer ähnlichen Art Selbstmord gestorben wäre, wie es Baader, Ensslin und Raspe an diesem Tag widerfahren ist – und 17 Monate zuvor Ulrike Meinhof! Falls Büchner nicht schon vor der Verhaftung polizeilich erschossen worden wäre […].“190

Besonders aber mit seiner politischen Lyrik hat Erich Fried, der hier exemplarisch herausgegriffen sei, heftige Auseinandersetzungen ausgelöst. „Seine Texte würden geradezu missverstanden werden, wenn man ihnen den Charakter eines intendierten Skandals absprechen würde“191, schrieb Segebrecht über die außerliterarische Qualität der Lyrik und Prosa Erich Frieds. Erhebliches Aufsehen erregte in der Folge der Fall einer Bremer Gymnasiallehrerin, die im Unterricht das Gedicht Die Anfrage von Erich Fried behandeln wollte, in dem die Verurteilung zu vierzehn und zu acht Jahren Gefängnisstrafe von Horst Mahler und Ulrike Meinhof mit folgender lyrischer Anfrage192 durch Fried kommentiert wurde: „Aber Anfrage an die Justiz betreffend die Länge der Strafen: Wie viel Tausend Juden

190 Erich Fried: Anfragen und Nachreden. Politische Texte. Hrsg. v. Volker Kaukoreit. Ber-

lin 1994, S. 253 f. 191 Wulf Segebrecht: Die skandalösen Gedichte Erich Frieds. In: Neuhaus/Holzner, Litera-

tur als Skandal, S. 480-490, 481. 192 Erich Fried: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Volker Kaukoreit/Klaus Wagenbach. Bd. 2:

Gedichte II. Berlin 1993, S. 260.

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muß ein Nazi ermordet haben um heute verurteilt zu werden zu so langer Haft.“

Der Fall und Frieds Lyrik landeten schnell im Bremer Senat, wo der Eklat um die Fried’sche Schullektüre ausgefochten wurde. Während der Debatte um die lyrischen Zeilen rief der damalige CDU-Fraktionsvorsitzende Bernd Neumann erregt aus: „So etwas würde ich lieber verbrannt sehen!“ Die Versuche, Gedichte Frieds aus den Schulbüchern zu entfernen, setzten sich im Anschluss an die Affäre in Bayern fort. 193 skandalinduzierend war hier der Holocaust-Kontext, in dessen semantischem Wortfeld sich auch der CDU-Abgeordnete Neumann bewegte. Nachhaltig provozierte Fried auch mit seinem Gedicht Höre, Israel! Schon der Titel sei eine Provokation. Höre, Israel! – Schma Israel heißt das jüdische Glaubensbekenntnis. Die religiöse Wahlverwandtschaft war jedoch keine huldvolle, sondern eine zynische, denn in seinem Gedicht kritisierte er die Israelis für ihr inhumanes Verhalten den Palästinensern gegenüber. Zudem, und darauf weist Segebrecht hin, sei der Titel schon mehrfach für die unterschiedlichsten Zwecke genutzt worden, was Fried nicht entgangen sein dürfte: „so etwa 1987 von Walther Rathenau in seinem leidenschaftlichen Appell zur vollständigen Assimilation der Juden an die Deutschen, von Constantin Brunner (Leo Wertheimer) 1931 in seiner antizionistischen Abhandlung Höre Israel, und höre nicht und schließlich von Walter Frank in einer nationalsozialistischen Hetzschrift aus dem Jahre 1939.“194 „Als wir verfolgt wurden,/ war ich einer von euch./ Wie kann ich das bleiben,/ wenn ihr Verfolger werdet?// Eure Sehnsucht war,/ wie die anderen Völker zu werden/ die euch mordeten./ Nun seid ihr geworden wie sie.// Ihr habt überlebt/ die zu euch grausam waren./ Lebt ihre Grausamkeit/ in euch jetzt weiter?// Den Geschlagenen habt ihr befohlen:/ „Zieht eure Schuhe aus“/ Wie den Sündenbock habt ihr sie/ in die Wüste getrieben// In die große Moschee des Todes/ deren Sandalen Sand sind/ doch sie nahmen die Sünde nicht an/ die ihr ihnen auflegen wolltet.// Der Eindruck der nackten Füße/ im Wüstensand/ überdauert die Spuren/ eurer Bomben und Panzer.“195

Dem Abdruck des Gedichtes fügte Fried den folgenden Kommentar in einer Fußnote hinzu: „Zahllose kriegsgefangene Ägypter mussten im Sechstagekrieg, Juni 1967, ihre Schuhe ausziehen und wurden dann von den Israelis in die Wüste geschickt, sie mögen heimgehen, woher sie gekommen seien. Ohne die Schuhe im brennenden Sand gingen die meisten elend zugrunde. Zionistische Sprecher leugneten später diesen ‚Zwischenfall’[…].“ Es waren vor allem drei Aspekte des Gedichts, die zu vehementem Widerspruch führten: erstens, die als solche besonders von jüdischen Publizisten empfundene Anmaßung Frieds einer der verfolgten Juden zu sein (ich war einer von euch), zweitens, die als solche im öffentlichen Diskurs empfundene und

193 Vgl. Segebrecht, Die skandalösen Gedichte Erich Frieds, S. 480. 194 Ebenda, S. 481. 195 Erich Fried: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Volker Kaukoreit/Klaus Wagenbach. Bd. 2:

Gedichte II. Berlin 1993, S. 260.

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von einigen Kritiker thematisierte Gleichsetzung der Maßnahmen der Israelis gegen die Palästinenser mit denen der Nationalsozialisten gegenüber den Juden, und drittens, die Darstellung einer kriegerischen Aktion durch die Israelis an den Palästinensern (Wie den Sündenbock habt ihr sie in die Wüste getrieben). Zusätzlich verwies Erich Fried auf ein Foto, das diese Tat der Isrealis abbilde. Besonders dieses Foto sorgte für weitere Irritationen. Am nachhaltigsten hat die jüdische Publizistin Alice Schwarz-Gardos Frieds lyrische, öffentliche Einmischung in den politischen Diskurs skandalisiert. Es gibt eine ausführliche Korrespondenz zwischen ihr und Fried, in der sie den Schriftsteller davon zu überzeugen versuchte, dass ihm bei der Deutung des Fotos ein Irrtum unterlaufen sei; dargestellt werden keineswegs israelische Kriegsverbrechen, sondern im Gegenteil eine fürsorgliche Aktion der Israelis. Nicht das Ausziehen der Schuhe werde gezeigt, sondern das Anziehen der Schuhe; die palästinensischen Kriegsgefangenen seien für den Weg durch die Wüste mit neuen Schuhen ausgestattet worden. Unabhängig davon, welche der beiden Lesarten die treffende ist, zeigt die Auseinandersetzung eines: Frieds politische Lyrik wurde nicht als Kunst, sondern als faktisches Dokument rezipiert, das seine Medienwirkung aus der weitgehend tabuisierten israel-kritischen Haltung gewann. Wenige Jahrzehnte weiter scheint sich das gesellschaftskritische Potenzial öffentlicher Schriftsteller-Auftritte verflüchtigt zu haben. Überwältigt von der digitalen Revolution seit den 1990er-Jahren und der Schnelligkeit der Gegenwart zeigt sich der öffentliche Autor auf sich selbst zurückgeworfen. Als Referenzpunkt seiner öffentlichen Aufmerksamkeitserzeugung bleibt nur er selbst – und begründet damit eine neue „Egomanie“.

P OSTMODERNE E GOMANIE J AHRE

DER

1980 ER - UND 1990 ER -

Die Einsicht des Erfolgs möglichst publikumswirksamer Auftritte war schon Thomas Mann vertraut, der offen bekannte: „Mich verlangt auch nach den Dummen.“196 Aber erst im weiteren Verlauf des 20. Jahrhundert hat die Erkenntnis der Vorteile einer breiten medialen Präsenz ihren Gipfelpunkt erfahren. Aus Angst, von den Flaneuren zu den Vorübergehenden herabgestuft zu werden, unternehmen die Schriftsteller allerlei Aufwand, um wohl auch denjenigen zu gefallen, nach denen zuvor schon Thomas Mann verlangte. Um auf dem literarischen Feld des späten 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts nicht unter die Räder zu kommen, darf der Schriftststeller nicht nur, sondern muss er sogar die Welt an Weltlichkeit durchaus umständlich durch kunstvolle und einzigartige Handlungen überbieten. Er tut dies zum Beispiel indem er seine Körperlichkeit martialisch zur Schau stellt und signalisiert, dass er zwar philoso-

196 Thomas Mann: Brief an Hermann Hesse (01.04.1910). In: Thomas Mann. Große Kom-

mentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Hrsg. v. Heinrich Detering et al., Bd. 21: Briefe I, 1889-1913. Hrsg. v. Thomas Sprecher et al., Frankfurt a. M. 2002, S. 448.

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phisch betrachtet nur eine diskursive „Schnittstelle im System“ (Luhmann) oder „göttlich abwesend“ (Bachtin) ist, aber eben auch ein Mensch aus Fleisch und Blut. Diesen Beweis trat Rainald Goetz an, als er sich 1983 beim Ingeborg-BachmannWettbewerb während seiner Lesung aus seinem Roman Irre mit einer eigens dafür mitgebrachten Rasierklinge die Stirn aufschnitt und blutend weiter las. 197 Könnte man seine Inszenierung auch als unvollkommene Parodie auf Vincent van Gogh lesen, dem am Ende seiner im künstlerischen Rausch vollzogenen Selbstverletzung immerhin ein Ohr fehlte, Goetz Virtuosität und seinem Status als Kunst- und Geistesmensch hat sie nicht geschadet, im Gegenteil.

Abbildung 22: Rainald Goetz, „irre“ blutend198 Wäre bei Goetz und seiner Grenzen überschreitenden Blut-Performance nicht das werbewirksame Kalkül so naheliegend,199 böte sich die Affekttheorie als Erklärung

197 Vgl. Petra Gropp: Ich/Goetz/Raspe/Dichter. Medienästhetische Verkörperungsformen der

Autorfigur Rainald Goetz. In: Grimm/Schärf, Schriftsteller-Inszenierungen, S. 231-248. 198 Rainald Goetz (1983) fotografiert von Isolde Ohlbaum. Entnommen aus: Isolde Ohl-

baum. Autoren, Autoren. Ein Bilderbuch. Cadolzburg 2000, S. 47. 199 Man kann Rainald Goetz ein breites medizinisches Wissen, die Kenntnis um die Folgen

einer Selbstverletzung und die Vertrautheit mit wirkungsvollen Inszenierungen und Arrangements durchaus unterstellen: Goetz wurde (am 24.05.1954) als Sohn eines Chirur-

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an. Mit Sigmund Freud betrachtet läge hier eine Konversion des Schmerzmotivs nach außen vor. Auch die Gedanken von Karl Kraus über die sich durch die Satire befreiende Aggressionen ließen sich zitieren, welche die nicht ernst gemeinte Aggression (auch die Auto-Aggression) keineswegs als Gegensatz zum Krieg ausweisen, sondern als Teil desselben: „Bei diesem Spaß gibt’s [zwar] nichts zu lachen. Aber weiß man das, so darf man es, und das Lachen über die unveränderten Marionetten ihrer Eitelkeit, ihrer Habsucht und ihres niederträchtigen Behagens schlagen auf wie eine Blutlache!“200 Die satirische Blutlache des Rainald Goetz wäre dann sowohl als distanziertes gesellschaftskritisches Lachen über die unveränderten Marionetten des Betriebs als auch als Unlusterregung zu deuten, welche die durch das Über-Ich repräsentierte gesellschaftliche Verbotsskala durchbricht, wobei der Autor jedoch in seiner Hab- und Gefallsucht nicht minder eitel ist als jene, die sich in diesem marktwirtschaftlich-kriegerischen Spiel prostituieren. Auch Günter Grass versteht sich auf dieses publikumswirksame Spiel. „Spannender als seine Dramen ist das Drama, das der Schriftsteller Günter Grass selber vorführt“201, bemerkte Joachim Kaiser. Im Nahen Osten zum Beispiel ließ Grass keinen Zweifel darüber aufkommen, welche Ehrerbietung einem durch die Welt tourenden Star-Literaten gebühre, der auf Einladung der jemenitischen Kultur-Dezernentin dem Jemen einen Besuch abstattet. Das ganze Volk sei auf den Beinen gewesen und habe den Besucher in die Moschee begleitet. „Eine Prozession mit Trommeln und Flöten, so als habe sich der Messias persönlich die Ehre gegeben“, beschreibt der Journalist Bloch in der Zeit den Empfang. „Als der Mann aus Lübeck – umringt von bunten Gestalten mit Turbanen und Kaftanen […] – die Moschee ansteuert, ertönt von einem Felsen, der jäh oberhalb des Bergdorfes aufragt, der ungeheure Ruf: Im Namen Allahs, willkommen sei Günter Grass.“202 Nachdem Grass mit der Limousine des Staatspräsidenten und begleitet von einem Sicherheitskonvoi, einem Bus und sechzehn weiteren Fahrzeugen durch die Innenstadt gefahren ist („ein Polizeiauto vorn, eines am Ende des Konvois, Sirenen, Hupen, dazu Soldaten in offenen Jeeps, die die Kreuzung und Zufahrtstraßen sichern. Privatautos werden zur Seite gedrängt […]“203), behauptet Grass sogar: „Dies ist die schönste Reise meines Lebens – und ich habe viele Reisen gemacht.“204 Und dennoch. Er lässt er es sich nicht nehmen, streitbar zu bleiben.

gen und einer Fotografin in München geboren. 1974 begann er ein Studium der Medizin und der Geschichte in München und Paris. Das Geschichtsstudium beendete er 1978 mit der Promotion. 1980 absolvierte Goetz sein praktisches Jahr in der Nervenklinik der Universität München. Ein Jahr darauf folgte die Approbation als Arzt, 1982 die Promotion zum Dr. med., mit einer Studie über Hirnfunktionsstörungen. 200 Karl Kraus: Der Ernst der Zeit und die Satire der Vorzeit. In: Ders.: Schriften. Bd. 5.

Hrsg. v. Christian Wagenknecht. Frankfurt a. M. 1988, S. 25-20, 30. 201 Joachim Kaiser zit. n. Heinrich Vormweg: Günter Grass. Monographie. Reinbek bei

Hamburg 2002, 171. 202 Werner Bloch: Der Schriftsteller als Missionar. In: Die Zeit, 2003, Nr. 3. 203 Ebenda. 204 Günter Grass zit. n. Bloch, Der Schriftsteller als Missionar. In: Die Zeit, 2003, Nr. 3

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„Selbst den Staatspräsidenten verwickelt er bei einer Audienz im Präsidentenpalast in einen kleinen Disput, bei dem sich der Nobelpreisträger für einen jemenitischen Autor einsetzt, der sich wegen einer Veröffentlichung bedroht glaubt: „Ich weiß, Herr Präsident, es gibt ein Gerichtsurteil gegen diesen Autor. Aber die Literatur hat auf Dauer einen längeren Atem.“ Der Präsident ist sichtlich verstört, dann aber erstaunt wohlwollend gegenüber dem unbotmäßigen deutschen Schriftsteller, dem er eigentlich nur einen Orden umhängen wollte.“205

Getragen von seinem Image als Querdenker und als intellektuelle Repräsentanz provoziert Grass auch im Jemen die Aufmerksamkeit. Seine kritische Bemerkung ist dabei weniger eine tumbe Marotte eines alternden Rebellen, sie ist vielmehr ein mittlerweile kapitalträchtiges Markenzeichen, durch das Grass mit großem Geschick den Erhalt seines Status zu sichern und seine Konkurrenz medienwirksam in den Schatten zu stellen vermag. Selbstredend hat Günter Grass auch in Deutschland seine Anhänger, die nicht nur seine Bücher, sondern mittlerweile auch seine künstlerischen, performativen Selbstdarbietungen zu huldigen wissen. Selbst wenn sie ihm nicht von Minaretten aus zurufen können, versammeln sie sich doch, um ihm die Ehre zu erweisen; so geschehen im Berliner Ensemble. Da stand er gemeinsam mit seiner Tochter, der Schauspielerin Helene Grass mit seinem musikalisch-literarischen Programm Des Knaben Wunderhorn auf der Bühne. „Aus gegebenem Anlass war der Hintergrund so blau wie die Blaue Blume der Romantik“206, kommentiert Steffen Richter die Szene. „In den Texten rauscht die Sichel durchs Korn, Gesellen gehen auf Wanderschaft und die Nachtigall singt.“207 Und nicht nur die, auch Günter Grass ließ Töne erklingen: „Wie Vater und Tochter mit Verve im Duett rezitieren, versetzt Darsteller und Publikum gleichermaßen in helle Freude. Welch familiäre Eintracht! Unwillkürlich fühlt man sich an ähnlich erfolgreiche Paare erinnert. Wie war das doch mit Costa Cordalis und Tochter Kiki? […] Als es ans Liedchen […] geht, singt Günter Grass […]. Bei seiner zweiten Gesangseinlage goutiert auch der Unverständigste, dass Grass den Nobelpreis für’s Schreiben bekommen hat.“208

Es ließe sich einwenden, Günter Grass habe seit seinem literarischen Welterfolg in den 1960er-Jahren immer schon medienwirksam agiert und mehr gemacht als nur Bücher geschrieben: „Wo die Welt nur den Romancier sehen wollte, hat er gezeichnet, gedichtet, gebildhauert und gekocht. Dass er auch singt, kann deshalb niemanden ernsthaft verblüffen.“209 Doch zusehends überdeckt die Autorperson Günter Grass durch seine mediale Performance die literarische Arbeit. Seine Selbstinszenierungen sind dabei ein Beispiel für die „Erlebnis- und Spektakelkultur“210, die sich nach Erika 205 Bloch, Der Schriftsteller als Missionar. In: Die Zeit, 2003, Nr. 3.

206 Steffen Richter: Das Lied des Butt. In: Der Tagesspiegel. 24.09.2003. 207 Ebenda. 208 Ebenda. 209 Ebenda. 210 Erika Fischer-Lichte: Inszenierung und Theatralität. In: Herbert Willems/Martin Jurga (Hrsg.): Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch. Opladen 1998, S. 81-90, 89.

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Fischer-Lichte am Ende des 20. Jahrhunderts herausgebildet hat, eine Kultur, die sich „mit der Inszenierung von Ereignissen selbst hervorbringt und reproduziert.“211 Diese Entwicklung kritisch betrachtend schreibt Charles Taylor: „In einer mechanistischen, utilitaristischen Welt gelangen wir dahin, in mechanischer, von Konventionen bestimmter Weise mit Dinge umzugehen. Unsere Aufmerksamkeit ist von Dingen abgelenkt und auf das gerichtet, was wir durch sie erreichen können.“ Eine solche utilitaristisch verstandene Selbstinszenierung (von Grass, aber auch von Rainald Goetz) verfolgt dann nicht länger den Zweck, durch öffentliche Intervention auf gesellschaftliche und moralische Missstände hinzuweisen (wie einst Klopstock, der sich für das Urheberrecht einsetzte, wie Heinrich Heine oder später Heinrich Böll, aber auch wie Grass es etwa in den 1960er- und 1970er-Jahren noch tat), sondern dient dem Literaten einzig und vorrangig dazu, seine Werke zu promoten und sein Image zu pflegen.212

Z USAMMENFASSUNG Als „neuartige Versuchung“, schreibt Adorno in den 1950er-Jahren, verheiße das Leben in den Schlagzeilen den Dichtern ein glanzvolles Dasein und verlocke die theoretisch und künstlerisch Arbeitenden erstmals dazu, „den geistigen Anspruch an sich selbst zu lockern und unter das Niveau zu gehen, in Sache und Ausdruck allen möglichen Gewohnheiten zu folgen, die man als wach Erkennender verworfen hat.“213 Franz Xaver Kroetz fand für die gleiche Erkenntnis, aber aus der Perspektive

211 Fischer-Lichte, Inszenierung und Theatralität. In: Willems/Jurga: Inszenierungsgesell-

schaft, S. 89. 212 Jurek Becker retournierte übrigens die Enttäuschung eines Journalisten angesichts der

neuartigen „intellektuellen Bescheidenheit“ und Jurek Beckers Zurückgezogenheit aus der Öffentlichkeit mit der fragenden Einsicht: „Ist es Resignation, wenn man aufhört, größenwahnsinnig zu sein?“ Jurek Becker: Ist es Resignation, wenn man aufhört, größenwahnsinnig zu sein? Jurek Becker im Gespräch mit Wolfram Schütte und Axel Vornbäumen. In: Frankfurter Rundschau, 28.08.1995. 213 Adorno, Minima Moralia, S. 30. Die Lockerung der eigenen Ansprüche offenbare sich

etwa in dem Verzicht auf den widerspenstigen, sich der materiellen Praxis widersetzenden Geist, der die Qualität eines im Zeichen der Intellektualität geführten Lebens darstelle. (Vgl. ebenda, S. 150.) Im Prinzip der Verkäuflichkeit werde dies sichtbar, etwa dann, wenn ein Schriftsteller behauptet: „Die Bleistiftstummel hebe ich nach Romanen getrennt auf. Ich sammle sie nicht, die sammeln sich halt. Ich werde sie nicht extra wegschmeißen. Wenn ich kein Geld mehr habe, versuche ich, die an ein Literaturmuseum zu verscherbeln.“ (Handke, in: Michalesen, Starschnitte, S. 95). Zugleich jedoch wird die ungefragte, freizügige Feilbietung persönlicher, lebensweltlicher Gegenstände (und Ansichten) von Ambivalenzen begleitet und oft, besonders aber von Schriftstellerkollegen, argwöhnisch betrachtet: „Michel Houellebecq würde ich ganz gerne lesen […] Ich habe einmal eine Seite gelesen. Der Rhythmus der Sätze war gut. Ich kann ihn nur nicht aus-

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des Literaten, die folgenden Worte: „Popularität führt unweigerlich dazu, dass man sich selbst gegenüber dümmlich wird.“214 Doch anders als Adorno vermutete, ist die unterstellte (freiwillige) Unterminierung der Ansprüche und die oft unkritische Selbstinszenierung des Schriftstellers keine „neuartige Versuchung“; sie ist so alt wie der Berufsstand selbst. Erst musste sich der Schriftsteller in der illustren Gesellschaft am Hofe behaupten, in der Folgezeit galt es, sich auf dem freien Buchmarkt – herausgelöst aus höfischen Strukturen und jenseits institutioneller Sicherheiten – gegen die Konkurrenz durchzusetzen. Und immer waren ihm dabei auch ganz unintellektuelle, materielle und ja, auch unsolidarische Hilfsmittel Recht. Schon der Gelehrte Otfrid entschied sich, keine Wahrheiten, sondern werbewirksame Illusionen zu verbreiten. Indem er sein Kloster und seine Arbeit durch die Nennung allerhand christlicher Patronen bewarb, die ihm in einem nächtlichen Traum von der Qualität seiner eigenen Arbeit Kunde getan haben sollen und fortan als zugkräftige, heilige Garanten herhalten durften, stellte er alle anderen Kloster als Pilgerstätte wirksam in den Schatten. Ein weiteres Hilfsmittel, das das schriftstellerische Ansehen zu steigern vermochte, war zudem stets die performative Selbstinszenierung: auf Festlichkeiten, in den sogenannten tableaux vivants, den szenischen Selbstdarstellungen in lebenden Bildern; oder auch die Verteilung kleiner Kupferstiche mit dem eigenen Konterfeit, später dann die carte de visite. Die Kulturgeschichte straft also all jene Ideen Lügen, die die schriftstellerische Selbstinszenierung als Konsequenz der Entwicklung und Verfeinerung telematischer Simulationsmedien, des Verlusts der Aura und der sich selbst in unterschiedlichsten Varianten medialer Spiegelungen kontinuierlich reproduzierenden Kommunikationsgesellschaft sehen. Einzig die Formen, Posen und Codes der Selbstinszenierung haben sich gewandelt. Posierte der Dichter früher in golddurchwirktem Gewand, mit königlicher Pelz-Stola und Orden um den Hals (Gryphius), präsentieren sich heute Schriftsteller von Rang mit ihren Frauen im Spiegel.215 Was vormals die römische Campagna war, ist heute die Uckermark: Dort wandert nun etwa Botho Strauß fotogen plaudernd durch die Natur und berichtet unter dem Titel Wenn der Vater mit dem Sohne216 von intimen Erfolgen (Sohn gezeugt) und finanziellen Verausgabungen (Haus gekauft).217 Betrachtet man den Wandel der Formen und Posen der Selbstinszenierung, stellt das späte 18. Jahrhundert zwar zweifelsohne eine Zäsur dar. Jedoch keine, die allein des Schriftstellers Genialität inaugurierte, sondern auch das Gegenteil. Hatte die In-

stehen, wie er da im Fernsehen sitzt und seine Zigaretten raucht. Das ist eine totale Literaturhure – aber es gibt ja auch tolle und äußerst begabte Huren.“ (Handke, in: Michalesen, Starschnitte, S. 95.) 214 Franz Xaver Kroetz, in: Michalesen, Starschnitte, S. 46. 215 Oder die Schriftsteller werden, ob gewünscht oder nicht, präsentiert. Vgl. Volker Hage:

Der übermütige Unglücksritter. In: Der Spiegel 2008, Nr. 2. 216 Volker Hage: Wenn der Vater mit dem Sohn. In: Der Spiegel 1997, Nr. 16. 217 Vgl. Jürgen Wertheimer: Charisma im Doppelpack – zur Selbstinszenierung deutscher

Autoren. In: Jürg Häusermann (Hrsg.): Inszeniertes Charisma.Tübingen 2001, S. 117128, 122 f.

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spiration bis dahin als eine von Gott geschenkte Gabe gegolten, entzündete sich diese nun autark im Subjekt. Durch diese Verlagerung der Quelle der Inspiration ins dichterische Selbst etablierte sich kulturell die Idee des Dichters als Genie. Was zunächst als Erhöhung des schriftstellerischen Status und Verfestigung seiner Stellung in der Gesellschaft erschien, entpuppte sich bald als handfester Nachteil. Denn nicht nur die Leserschaft adelte den Dichter als genialischen Geist, sondern auch er selbst. Der eigene Absolutheitsanspruch (der etwa in Herders Schöpfungsgesang anklingt) bereitete unaufhaltsam seine Krise vor. Prekär wurde die Situation für den Dichter, als er sich während der Zeit der Aufklärung nicht mehr nur zum Weltdeuter, sondern auch zum Mahner und Kritiker des Bürgertums aufschwang. Sah sich das Bürgertum zuvor noch durch ihn repräsentiert, zerfiel die Einheit des Genies mit der bürgerlichen Gesellschaft zusehends. Diese war fortan kaum mehr bereit, ihn zu fördern, sondern ließ seine Existenz alsbald misslich werden. „Das ganze Metier hat einen Knacks weg“218, schrieb Fontane 1891 über die Entwicklung. Die damals sich abzeichnende explizite, oft übersteigerte Selbststilisierung des Schriftstellers als Genie, als Stürmer und Dränger, später dann als intellektueller Mahner und Warner, der sich immer wieder zu Wort meldete, gibt Zeugnis von der schriftstellerischen Sorge, den Status des kritischen Weltbeobachters zu verlieren, der einen wesentlichen Beitrag zum Erhalt des kulturellen Lebens leistet. Die Selbststilisierung liefert somit auch ein Paradigma für die Paradoxien künstlerischer Identitätsvergewisserung in Zeiten elementarer Verunsicherung.219 Auch die sich rasch etablierte Praxis der Interpretation durch die Literaturkritiker widersprach dem individuellen Geltungsanspruch des sich frei entfaltenden Selbstbewusstseins des Dichters, der sich – übrigens bis zum heutigen Tag – immer wieder zu „Defensivoperationen“220 motiviert fühlte. Um sich der praktischen Usurpation durch die steigende Zahl der Kritiker zu entziehen, entwickelte der Schriftsteller jedoch schon im 18. Jahrhundert eine bis heute tragfähige Strategie: Er begann, eine grundlegend reflexive Haltung gegenüber den konstitutiven Prozessen des sich langsam etablierenden literarischen Systems einzunehmen. Mit der reflexiven Distanz, die er auch zu sich selbst einnahm, ging eine richtungsweisende Ausdifferenzierung des Begriffs der Autorschaft einher. Man könnte sagen, der Begriff des Autors teilte sich semantisch auf: in Autorperson, die der Autor tatsächlich und privat verkörpert, und in Autorfigur, die Rolle also, die er im öffentlichen Spiel auf dem literarischen Feld einnimmt und die seither ein größeres Geheimnis hat, weil sie einerseits aus der

218 Theodor Fontane: Die gesellschaftliche Stellung der Schriftsteller. In: Sämtliche Werke.

Hrsg. v. Walter Keitel. Bd. 1: Aufsätze, Kritiken, Erinnerungen. München 1969, S. 574. 219 Vgl. Britta Scheideler: Zwischen Beruf und Berufung. Zur Sozialgeschichte deutscher

Schriftsteller zwischen 1880 bis 1933. Frankfurt a. M. 1997. Und: Friedhelm Marx: Heilige Autorschaft? Self-Fashioning-Strategien in der Literatur der Moderne. In: Heinrich Detering (Hrsg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. Stuttgart, Weimar 2002, S. 107-120. 220 Walter Delabar: Der Autor als Repräsentant. In: Grimm/Schärf, SchriftstellerInszenierungen, S. 86-102, 97.

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Autorperson hervorgeht, aber nicht alles oder anderes von dieser zeigt und preisgibt.221 Außerdem verrät uns der Gang durch die Kulturgeschichte, wie sich schon im Spätmittelalter künstlerische Strategien etablierten, die bis heute Bestand haben und sich in den Katalog universeller Praktiken schriftstellerischer Selbstdarstellungen aufnehmen lassen. So hat zum Beispiel die aufmüpfig-häretische Inszenierungsstrategie, die sich im 20. Jahrhundert mit der provokativ-performativen Programmatik der Avantgarde fest im kulturellen Diskurs verankerte und bis heute neue Blüten treibt, ihre Wurzeln in der Renaissance und der frühen Neuzeit: Ein häretischer Bruch mit bestehenden Regeln ist schon am Selbstbildnis Albrecht Dürers abzulesen.

Abbildung 23: Albrecht Dürer alias Jesus Christus, Selbstporträt 222 Während sich Dürers künstlerische Kollegen bescheiden als Silhouette zeichneten oder in ihren religiösen Kompositionen – sofern sie sich darin überhaupt verewigten – kaum zu erkennen gaben, beschäftigte sich Albrecht Dürer als einer der ersten Künstler mit der Darstellung (ausschließlich) seiner eigenen Person, während Velàzquez noch die Gegenwart des höfischen Personals in seinem malerischinszenatorischen Setting gestattete. Albrecht Dürers lebensgroßes Selbstbildnis aus dem Jahre 1500, auf dem sich Dürer mit herrschaftlichem Pelzmantel darstellt, frontal den Betrachter an, ja beinahe über ihn hinweg blickt, in einer dominanten, hierarchischen Pose, die bis zu diesem Zeitpunkt lediglich Königen, Päpsten oder Jesus

221 Fast so, wie es einst Marcel Duchamp tat – mit seinen Verwandlungen in sein zweites,

transvestitisches Ich ‚Rose Sélavy’ (Vgl. Josef Früchtl: Ästhetik der Inszenierung. In: Ders./Jörg Zimmermann (Hrsg.): Ästhetik der Inszenierung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 9-47, 43.) – Heute könnte man sogar meinen: „Die Geschöpfe brauchen sie [die Maskierungen], um sich von anderen Geschöpfen zu ernähren und um sich fortzupflanzen.“ (Peter von Matt: Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist. München 2006, S. 19.) 222 Albrecht Dürer (um 1500). Entnommen aus Harald Klinke: Dürers Selbstporträt von

1500. Die Geschichte eines Bildes. Norderstedt 2004

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Christus vorbehalten war, zeugt von einem außergewöhnlichen Selbst- und Sendungsbewusstsein.223 In seinem Selbstporträt entwirft sich Dürer als schöpferisches Ebenbild Gottes. Keine Landschaften und Stillleben abzubilden, sondern sich selbst malerisch in Szene zu setzen, war eine Provokation, sich als Jesus Christus zu malen, war frappierend, ja undenkbar. Den häretischen Bruch vollzieht Dürer somit nicht durch einen zeichnerisch neuartigen Stil, sondern maßgeblich durch die Wahl seines Motivs, durch das er sich nahezu blasphemisch adelt. Indem er die damals üblichen malerischen Konventionen adaptierte und die handwerkliche Technik verfeinerte, zeigte sich Dürer zunächst dem künstlerischen Feld zugehörig – und überflügelte dank des demonstrierten malerischen Könnens einige Kollegen. Seine technische Versiertheit ermöglichte ihm bereits eine kommode Position, doch erst durch seine häretische Egozentrik erlangte er eine singuläre Stellung auf dem künstlerischen Feld. Dass er sich wünschte, durch eine solche gezielte Provokation endlich anerkannt zu werden, und zwar nicht nur als Graveur, sondern darüber hinaus als Maler, bezeugen seine Tagebuchnotizen und Briefe: „Ich habe auch die Maler alle zum Schweigen gebracht, die da sagten, im Stechen wäre ich gut, aber im Malen wüsste ich nicht mit der Farbe umzugehen. Jetzt spricht Jedermann, die hätten schönere Farben nie gesehen.“224 In seinem Selbstbildnis begegnet Albrecht Dürer zudem den gegen ihn laut gewordenen Vorwurf, ihm fehle das Gefühl für Farben, mit der Inschrift „propriis sic effin gebam cooribus – so habe ich mich gemalt in unvergänglichen Farben.“225 Die erlangte Distinktion lebte Dürer auch performativ aus, außerhalb seiner Malerei im alltäglichen Leben durch seinen Kleidungsstil und seine Frisur: Das sehr lang gelockte Haar trug er offen und dazu einen Schnur- und einen Kinnbart: „Es fiel in Nürnberg als Dürers Eigenwilligkeit auf, und er musste sich einigen Spott gefallen lassen. […] Dr. Lorenz Beheim, der damals Domkapitular in Bamberg war, mokierte sich immer wieder über Dürers Bart. In einem Brief an den gemeinsamen Freund Pirckheimer, in dem er sich nach einer Zeichnung erkundigte, die er bei Dürer bestellt hatte, meinte er, Dürer habe wohl keine Zeit, sei mit seinem Bart beschäftigt, den er alle Tage drehen und kräuseln müsse.“226

223 Vgl. Harald Klinke: Dürers Selbstporträt von 1500. Die Geschichte eines Bildes. Nor-

derstedt 2004. 224 Alfred Dürer zit. n. Pascal Bonafoux: Der Maler im Selbstbildnis. Genf 1985, S. 27. 225 Stilprägend wirkte Dürers Selbstinszenierung übrigens auch für Künstler der Romantik.

In Reminiszenz an Dürer sollen der Künstler Friedrich Overbeck und Theodor von Rehbenitz zu Beginn des 19. Jahrhunderts einen bewusst gewählten, tadellos geraden Mittelscheitel getragen haben: „Dieser Scheitel, der in Anlehnung an Dürers Scheitel das Christusbild suggerieren soll, bringt denjenigen, die ihn tragen, den Beinamen Nazarener ein. Das Bild Christi gelangt auf Umwegen über den deutschen Patriotismus in die Epoche der Romantik.“ Vgl. Bonafoux, Der Maler im Selbstbildnis, S. 27. Dürer erhielt somit nicht nur die Legitimation, sondern wurde auch zum Vorbild und erlangte, im Sinne Bourdieus, Deutungshoheit. 226 Karl Bertsch, Online-Publikation, http://kunst.gymszb.de (Stand: Juli 2013).

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Im 19. Jahrhundert verstand sich auch die Comtesse de Castiglioni darauf, mit den Seh- und Erwartungsgewohnheiten häretisch zu brechen – nicht ohne Ironie. Die von Napoleon III verstoßene, gesellschaftlich besonders von der Damenwelt geächtete Comtesse, der die Fürstin von Metternich trotz aller Kritik eine unbeschreibliche Schönheit bescheinigte, als sei sie eine „vom Olymp herabgestiegene Venus“ 227, wusste ihr Publikum ebenfalls häretisch zu brüskieren. Tagelang hatte man gemunkelt, die sonst zurückgezogen lebende Gräfin wolle sich in einer Serie von tableaux vivants anlässlich eines Wohltätigkeitsabends im Salon der Baronesse von Meyendorff so, „wie Gott sie schuf“, – nackt – präsentieren. Doch die Comtesse de Castiglione enttäuschte ihr Publikum, das hohe Eintrittspreise gezahlt hat, und entzog dem Publikum das Bild, das sich zuvor (nicht ohne das Zutun der Comtesse) verfestigt hatte. Musikalisch von Chopins Trauermarsch begleitet, entblößte sie sich nicht, sondern inszenierte sich als Nonne – wie Gott sie schuf. Ihre Inszenierung blieb im Gedächtnis und sie selbst präsent im gesellschaftlichen Diskurs.

Abbildung 24: Selbstporträt als Nonne, „L’Eremite de Passy“ Neben der Strategie der Häresie haben sich über die Jahrhunderte etliche weitere Strategien der Inszenierung etabliert und durchgesetzt, die nachfolgend in einem Katalog der Selbstinszenierungspraktiken zusammengestellt sind.

227 Fürstin von Metternich zit. n. Barbara Straumann: Comtesse de Castiglione. In: Bron-

fen/Strauman, Diva, S. 102-113, 103.

Praktiken der Selbstdarstellung

Zwölf Praktiken der Selbstdarstellung „Alles, was ein Schriftsteller sagt, entlarvt ihn“, erklärt Thomas Bernhard im Interview, und ergänzt, „sofern er überhaupt eine Larve aufhat.“ – „Hat doch jeder“, wirft Bernhards Tante dazwischen. „Weil sie ja einem von einer Sekunde auf die andere nachwächst“, behauptet Bernhard. THOMAS BERNHARD1

Was zeichnet die öffentliche Selbstdarstellung aus? Sie lässt sich dadurch definieren, „etwas in einer phänomenalen Fülle erscheinen [zu lassen], so daß es in dem Raum und für die Dauer der Inszenierung in einer sinnlich prägnanten, aber begrifflich inkommensurablen Besonderheit gegenwärtig wird“2, schreibt Martin Seel. Allein durch diese phänomenale Fülle, versteckt in diesem verführerisch aufbereiteten semiotischen Überangebot können durch geschickte Selbstinszenierungen „Machtwirkungen“3 erzeugt werden, die dem sich selbstdarstellenden Schriftsteller einen Positionsvorteil im Kraftfeld des Literaturbetriebs bescheren. „Jedes Kräfteverhältnis impliziert in jedem Augenblick eine Machtbeziehung“, so Foucault.4 Zu (er)finden, seien „Strategien, die es erlauben, gleichzeitig diese Kräfteverhältnisse zu modifizieren und in der Weise zu koordinieren, dass diese Modifikation […] sich in die Realität einschreibt“5, empfiehlt Foucault.6

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Thomas Bernhard im Gespräch mit André Müller. In: Müller, „… über die Fragen hinaus.“, S. 111 f. Martin Seel: Inszenieren als Erscheinenlassen. In: Josef Früchtl/Jörg Zimmermann (Hrsg.): Ästhetik der Inszenierung. Frankfurt a. M. 2001, S. 48-62, 56. Seel definiert Inszenierung übrigens wie folgt – und gibt zu bedenken:„Jede Inszenierung ist ein Vorgang des Handelns, aber nicht jedes Handeln ist (Teil einer) Inszenierung.“ (Ebenda, S. 48.) Michel Foucault: Die Machtverhältnisse durchziehen das Körperinnere. Gespräch mit L. Fians. In: Ders.: Dispositive der Macht. Berlin 1978, S. 104-117, 112. Ebenda, S. 112. Vgl. auch Michel Foucault: Wahrheit und Macht. Gespräch mit A. Fontana. In: Michel Foucualt: Dispositive der Macht. Berlin 1978, S. 21-54, 41. Michel Foucault: Archäologie des Wissens (1969/1981). Frankfurt a. M. 2005, S. 94 ff. Auch: Mieke Bal: Kulturanalyse. Frankfurt a. M. 2002. Foucault, Dispositive der Macht, S. 113. Den „Strategien“ spricht Foucault einen „impliziten“, „großen, anonymen“ Charakter zu; die Strategien koordinieren die expliziten „geschwätzigen Taktiken“. (Vgl. Foucault, Der

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Der folgende Katalog der Selbstdarstellungsstrategien setzt sich aus 12 Praktiken (zum Beispiel des Täuschens und Fingierens) mit jeweils nuancierten Subkategorien zusammen, die wiederum – individuell kombiniert – die spezifischen, öffentlichen Schriftsteller-Inszenierungen und -Typen auf dem literarischen Feld charakterisieren.

T ÄUSCHEN Die intellektuelle Inszenierung und inszenierte Intellektualität kann, wenn sie in ihrer profansten Form als schlichtes Täuschungsmanöver7 daherkommt, auf zweifache Weise praktiziert werden: als Simulation und als Dissimulation.8

Simulation Die Simulation spiegelt etwas vor, das nicht der Fall ist. Schon die Natur kennt dieses Prinzip, wie Peter von Matt zu illustrieren versteht: „So gibt es Blumen, die ahmen Insekten nach, und Insekten, die ahmen Blumen nach, täuschend genau. Die Fliegenragwurz, Ophrys insectifera, eine kleine, zauberhaft elegante Pflanze, selten, aber in Mitteleuropa doch noch zu finden, hat ihre Blüte der Gestalt einer schmalen Fliege angeglichen, so überzeugend für wirkliche Fliegen, dass sie kopulieren wollen und sich an dem winzigen Phantom abarbeiten. Dabei stoßen sie mit dem Kopf an die Pollenpakete der

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Wille zum Wissen, S. 116.) „Macht“ definiert Foucault nicht nur „juristisch-negativ“, sondern begreift sie auch „technisch-positiv“ als ein „produktives Netz“ (Foucault, Dispositive der Macht, S. 35 ff.): Von einem statuarischen Begriff distanziert sich Foucault zugunsten eines prozesshaften: „Die Macht gibt es nicht. […] die Idee, daß es an einem gegebenen Ort […] irgendetwas geben könnte, das eine Macht ist, scheint mir auf eine trügerischen Analyse zu beruhen und ist jedenfalls außerstande, von einer beträchtlichen Anzahl von Phänomenen Rechenschaft zu geben. Bei der Macht handelt es sich in Wirklichkeit um Beziehungen.“ (Ebenda, S. 126.) Auf dem gesellschaftlichen Feld der Kräfte gehe es einerseits um Macht, derer man sich zu bemächtigen sucht und andererseits um die Brechung der Macht – durch Strategien. (Vgl. Andrea Seier: Macht. In: Marcus S. Kleiner (Hrsg.): Michel Foucault. Eine Einführung in sein Denken. Frankfurt a. M. 2001, S. 90-107.) Bezieht sich das Vortäuschen falscher Tatsachen literatur- und kulturhistorisch zumeist auf täuschend echte Fälschungen eines Originalkunstwerkes oder die Imitation des Stils eines verehrten Dichters, so sind es in der Gegenwart die Künstler selbst, nicht ihre Nachahmer, die ihr Aussehen oder ihre Autobiographie fälschen oder fingieren. Vgl. auch: AnneKathrin Reulecke (Hrsg.): Fälschungen. Zu Autorschaft und Beweis in Wissenschaft und Künsten. Frankfurt a. M. 2006. Vgl. Peter von Matt: Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist. München 2006, S. 20.

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Blume, Pollen bleiben am Kopf haften, und die erregten Tierchen befruchten damit beim nächsten aussichtslosen Versuch die nächste Ophrys inscetifera.“9

Geht es in diesem Beispiel noch um eine glückliche Bestäubung (und die Arterhaltung) qua Simulation, so dient die in Teilen ähnlich komödiantische Inszenierung auf dem literarischen Feld einzig der Darstellung der eigenen intellektuellen Potenz. Der Schriftsteller ist lediglich gewillt, sein Renommee durch die Maskerade zu steigern. Zu diesem Zwecke ahmt er in seiner Selbstinszenierung Eigenheiten bereits mit Erfolg gekrönter Schriftsteller nach, in der Hoffnung, der äußerlichen Anverwandlung könnte eine innere folgen. Heinz Günther alias Heinz G. Konsalik zum Beispiel verrät, er habe die „verrückte“ Angewohnheit, sich während des Schreibens ein besticktes „griechisches Hirtenkäppchen auf den Kopf zu setzen“, und verweist explizit auf sein Vorbild, den fetischverliebten Friedrich Schiller, der einen „angefaulten Apfel“ dazu genutzt haben soll, die Musen anzulocken.10 Eine andere Variante der simulierten Nachahmung ist der Clou, dass der Schriftsteller gleich sich selbst zum huldvollen Vorbild nimmt und die von ihm als Ursache des Erfolgs verstandenen habituellen Eigenheiten und künstlerischen Elemente mimetisch reproduziert. So ist überliefert, ein Schriftsteller habe in seinem Garten die Hauptfiguren seiner Romane als Skulpturen aufstellen lassen, seine eigenen geistigen Produkte, um täglich in guter Gesellschaft zu sein.11 Das der Simulation zugrundeliegende Wirkprinzip ist das der Ähnlichkeit, jener Gleichartigkeit, die sich in einer oder mehreren, nicht aber in allen Eigenschaften niederschlägt. Der Grad der Ähnlichkeit bemisst sich nach dem Verhältnis der gemeinsamen Merkmale zu den voneinander differierenden Merkmalen zwischen Original und Nachahmung.12 Als die kulturelle Ursprungs-Szene der Simulation darf der Malerwettstreit zwischen Zeuxis und Parrhasios angenommen werden:

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Von Matt, Die Intrige, S. 19. Heinz G. Konsalik Gespräch mit Sven Michaelsen. In: Michaelsen, Starschnitte, S. 218. Vgl. ebenda, S. 219. Die wortetymologischen Wurzeln des Begriffs der Ähnlichkeit belegen, dass sich in dem heutigen Wort ähnlich zwei im Mittelalter verschiedene (aber für die Selbstinszenierung wesentliche) Sinnnuancen verschmolzen haben: zum einen die ahd. Form anagilih [mhd. anenlich], die mit den zwei Bestandteilen ana (an) und gilih (gleich) auf das „prozesshafte“ Angleichen hindeutet; und zum anderen das nur im Osten gebräuchliche enlich [mhd. einlich], mit den zwei Bestandteilen en (ein) und lich (gleich), das die ‚wesenhafte’ Einheitlichkeit betont, die das „Ergebnis“ des Angleichungsprozess sein kann. Erkenntnistheoretisch verbirgt sich hinter dem Begriff der Ähnlichkeit die alltägliche Herausforderung, die seit Heraklit bekannt ist, der in seinem 49. Fragment schrieb: „In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht.“ Es sei jedes Mal ein anderes Wasser, das uns entgegenströmt, weil alle Dinge zu jeder Zeit in ihrer eigenen Existenz verschieden sind von allen anderen vorherigen oder zukünftigen Zuständen. Eine neuere Publikation zum weiteren Themenkreis der Ähnlichkeit ist: Gerald Funk/Gert Mattenklott/Michael Pauen (Hrsg.): Ästhetik des Ähnlichen. Frankfurt a. M. 2001.

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„Dieser [Zeuxis] habe so erfolgreich gemalte Trauben aufgestellt, dass die Vögel zum Schauplatz herbei flogen. Parrhasios aber habe einen so naturgetreu gemalten leinen Vorhang [sic] aufgestellt, daß der auf das Urteil der Vögel stolze Zeuxis verlangte, man solle doch endlich den Vorhang wegnehmen und das Bild zeigen. Als er seinen Irrtum einsah, habe er ihm in aufrichtiger Beschämung den Preis zuerkannt, weil er selbst zwar die Vögel, Parrhasios aber ihn als Künstler habe täuschen können.“13

Aus dieser Erzählung (die über die Jahrhunderte hinweg unterschiedliche Variationen erfuhr14), lassen sich wesentliche Aussagen einer ihr impliziten Theorie der Ähnlichkeit extrahieren: Entscheidend für den Wert einer Simulation ist offenkundig allein ihre Wirkung (dass die Vögel herbei flogen, oder: er den Maler bat endlich den Vorhang wegzunehmen), die ihren Erfolg daran bemisst, dass ein anderer, ob Tier oder Mensch, sich täuschen lässt. Eine Simulation ist dann gelungen, wenn sie gründlich die Medialität verschleiert. Darüber hinaus wird deutlich, wie die täuschend echte Simulation (erfolgreich gemalte Trauben, ein naturgetreu gemalter Vorhang) eine künstliche Wirklichkeit erzeugt, welche zugleich in ein sekundäres Verhältnis zu einer primären Welt gestellt werden kann (etwa: echte Trauben). Das Urteil über eine gelungene Täuschung basiert seit der Antike auf der wahrgenommenen Wirklichkeitsreferenz. Irrelevant ist, welcher Gegenstand und welches Phänomen nachgeahmt wird. Es ist vielmehr die Täuschung selbst, die Vergnügen bereitet. Die Inszenierung qua Simulation besitzt die folgende Grundstruktur: „(1) Ein Sender ahmt nach bzw. stellt dar, (2) das mediale Substrat seiner nachahmenden Mitteilung ist das Bild-Zeichen (Ikon), durch welches (3) der Empfänger ‚getäuscht’ bzw. illudiert wird.“15

Dem Modell nach akkumuliert das Zeichen, das nicht nur ikonografisch, sondern auch ein verbal entworfenes Bild einer Idee sein kann, zahlreiche Ähnlichkeiten und nähert sich dabei dem Referenten so lange an, bis es idealerweise mit ihm konvergiert, seine eigene Zeichenhaftigkeit durchstreicht und die Illusion der Präsenz hervorruft. Eine Erweiterung und Überführung der antiken Simulationstheorie in das moderne Verständnis nahm Roland Barthes mit seinen Bemerkungen zum Simulacrum vor. Nach Barthes rekonstruiert ein Simulacrum (ein Gebilde der Ähnlichkeit) seinen Gegenstand keineswegs durch die perfekte Nachahmung und Reproduktion

13 Plinius Secundus der Ältere: Naturkunde. Bd. 35. Hrsg. v. Rodrich König. Darmstadt 1978, S. 55. 14 Etwa: „Ein Hengst sucht eine gemalte Stute zu bespringen“, „Wachteln fliegen auf ein Bild zu“, „eine gemalte Schlange bringt die Vögel zum Verstummen“, „das gemalte Lamm, das Johannes der Täufer auf den Armen hält, soll ein Mutterschaf zum Blöken animiert haben“; „Tizians Bild des Papstes, das er zum Trocknen ans Fenster stellte, soll Passanten zum Grüßen ermutigt haben“, „Bienen lassen sich an gemalten Blumensträußen nieder“ etc. (Vgl. Ernst Kris/Otto Kurz: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch. Frankfurt a. M. 1995, S. 89 ff.) 15 Martin Andree: Archäologie der Medienwirkung. München 2005, S. 34 (Herv. i. O.).

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eines Originals, sondern durch eine selektive Adaption und Neukombination markanter Elemente.16 Wie ein Schriftsteller zum Simulacrum und zum lebenden Zitat seiner Kunst wird, führt exemplarisch Elfriede Jelinek vor, die sich – regelmäßig variierend, doch stets dem Milieu ihres neuesten Romans angepasst – im Stil ihrer fiktionalen Figuren schminkt, frisiert und kleidet. Anrüchig in schwarzem Lederoutfit, mit blutroten Lippen und langen, dunklen Haaren präsentierte sich Jelinek der Öffentlichkeit, als sie ihren Roman Die Liebhaberinnen publizierte. Mit der Veröffentlichung ihres Romans Die Ausgesperrten, dessen Handlung in den 1950er-Jahren zeithistorisch situiert ist, erschien Jelinek im Rockabilly-Look, mit Haartolle und flachen Ballerinas zu Interviews. Passend zu ihrem sozio-kulturellen Rahmen des Romans Lust kleidete sich die Autorin wie ihre Roman-Protagonistin als Direktoren-Gattin, feminin und elegant und inszenierte sich entsprechend der fiktiven Vorlage resigniert und verhärmt; das nun brünette Haupthaar hochgesteckt, der tragische Blick allerlei überstandenes Elend andeutend.17

Abbildung 25: Jelinek als Direktorengattin „Die Frau ist manchmal nicht zufrieden mit diesen Makeln, die auf ihrem Leben lasten: Mann und Sohn. […] Die Frau haftet mit ihrem Leben dafür, dass alles klappt und sie sich wohl fühlen aneinander. […] Der Mann möchte jetzt mit seiner himmlischen Frau allein sein. Die armen Leute müssen zahlen, bevor sie sich ans Ufer legen dürfen. Jetzt hat die Frau nicht einmal Zeit, die Augen niederzuschlagen. Der Direktor pflichtet ihr nicht bei, als sie in die Küche will und etwas herrichten. Er greift entschieden ihren Arm […].“ JELINEK, Lust, S. 7 ff.

16 Vgl. Roland Barthes: Die strukturalistische Tätigkeit. In: Kursbuch, 1966, Heft 5, S. 190196. 17 Vgl. Sigrid Löffler: Elegant und gnadenlos. In: Brigitte, 1989, Heft 14, S. 95-97, 95.

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Um die Simulation analytisch zu durchdringen, soll nachfolgend zunächst die Romanvorlage Lust und im Anschluss daran die visuelle Selbstdarstellung Elfriede Jelineks unter die Lupe genommen werden. Mit dem Roman Lust18 gab Jelinek vor, ein neues Genre entwickeln zu wollen: das der weiblichen Pornografie, das die Vorherrschaft des männlichen pornografischen Blicks ablöst und ersetzt durch den Blick der weiblichen pornografischen Erzählerin. Über den Ehemann, den Direktor, erfährt der Leser nur durch die Beschreibungen seiner mechanischen, zweckorientierten, von außen zu beobachtenden Handlungen etwas. Er „liest die Anzeigen und bestellt seiner Frau im Fachhandel ein Fach, in das sie sich legen kann, aus roter Perlonspitze mit Löchern in der Stille, durch die die Sterne scheinen“ (L, 14). Denn der Mann „ist immer bereit“ (L, 16). Als triebhaftes, sonst aber emotionsbefreites Wesen wird er ergänzt durch den Sohn, der „hinter dem Vater her[läuft], damit aus ihm auch ein Mann werden kann“ (L, 9 f.): „Der Sohn spricht außerhalb der Fütterungszeiten wenig mit seiner Mutter, obwohl diese ihn beschwörend mit einer Decke aus Essen überzieht. Die Mutter lockt das Kind auf einen Spaziergang und bezahlt pro Minute dafür, denn sie muss dem schön gekleideten Kind zuhören. Es spricht ja selbst wie aus dem Fernseher, von dem es sich ernährt.“ (L, 12)

Neben der Banalität der familiären Konstellation, deren Widersprüche und der vor diesem Szenario literarisch inszenierten Subjektlosigkeit ist besonders das „symbolische (Ver-)Fehlen des Weiblichen“19 auffällig. Der Sohn spricht und sie muss zuhören – die Frau bleibt in ihrer passiven Rolle verfangen („Die Frau öffnet den Mund, um ihrem Mann abzusagen. Sie denkt an seine Kraft und schließt den Mund wieder“ (L, 16)). Sie bleibt die Reagierende. „Die Frau will fort, entkommen dieser stinkenden Fessel […]. Die Frau ist dem Nichts entwendet worden und wird mit dem Stempel des Mannes jeden Tag aufs Neue entwertet. Sie ist verloren. […] die Frau lässt sich viel gefallen, und es leben die Sterblichen von Lohn und Arbeit, aber, nicht wahr, Musik gehört halt einfach dazu. Der Direktor hält die Frau mit seinem Gewicht nieder. Um die freudig von der Mühe zur Ruh wechselnden Arbeiter niederzuhalten, genügt seine Unterschrift, er muss sich nicht mit seinem Körper drauf legen.“ (L, 19 f.)

Der Wahrnehmungsmodus des Machtverhältnisses zwischen Mann und Frau zugunsten des Mannes bleibt traditionell und als solcher auch als Handlungsmatrix der Figuren in Jelineks sexueller Poetik bestehen. Es bedarf auf den ersten Blick also keines Kommentars. Die Sachlage ist eindeutig und mit ihr die Kritik: Mit ihrem Roman löst Jelinek den männlichen pornografischen Blick in keiner Weise ab, sondern reproduziert den animalisch-lustvollen Blick des Mannes, multipliziert ihn sogar durch

18 Elfriede Jelinek: Lust. Roman. Reinbek bei Hamburg 1989. Nachfolgend abgekürzt mit: L und Seitenzahl. 19 Annette Runte: Postfeministisches Schreiben. Zu Elfriede Jelineks satirischer Prosa. In: Dies.: Lesarten der Geschlechterdifferenz. Studien zur Literatur der Moderne. Bielefeld 2005, S. 275-302, 276.

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das weibliche Schreiben. Sie dekonstruiert auf inhaltlicher Ebene somit keineswegs die Genre-Tradition, sondern zersetzt ihre eigene Dekonstruktion. Erst bei genauerer Lektüre des Inszenierungsverhaltens treten Schwierigkeiten dieser Lesart auf, erweist sich das Eindeutige als Fehldeutung. Vor dem Horizont der Tradierung einer durch die körperliche Lust und Gewalt ausgeübten Gewaltherrschaft des Mannes will die Frage beantwortet werden: Warum ahmt Jelinek auf realer, außerliterarischer Ebene, in ihren Selbstinszenierungen und Foto-Shootings ausgerechnet die passive Form der Weiblichkeit nach, die sie in Lust kontrapunktisch zum Mann (in ihrem Habitus jedoch gleichförmig reflexions- und kritiklos) entwickelt hat? Mit ihrer simulierenden Selbststilisierung als passiv-resigniertes Lustobjekt destruiert Jelinek doch im ersten Moment auch auf Realitätsebene, erstens, den existenzialistischen Mythos des freien Selbstentwurfs des Einzelnen, zweitens, den marxistischen Mythos vom revolutionären Subjekt und, drittens, den feministischen Mythos von der Frau als subversivem Potenzial. Die Demontage des Mannes vollzieht sich nicht, wie leicht anzunehmen wäre, auf inhaltlicher Ebene – die Handlungsweisen bleiben im ‚männlichen’ und im ‚weiblichen’ Porno gleich. Erst auf der strukturellen, sprachlichen Ebene zeigen sich erste Brüche in dem tradierten pornografischen Bild. Indem Jelinek übertreibt, stellt sie bloß. Anstatt also den männlichen literarischen Porno, wie ihn Marquis de Sade geprägt hat, durch einen poetischen weiblichen zu ersetzen, karikiert Jelinek vielmehr den männlichen Blick, durch den die Frau weitgehend entseelt und instrumentalisiert würde. Dies vollführt Jelinek, indem sie den Mann – seine Triebhaftigkeit im Verfahren des sachlichen Berichtens darstellend (L, 7-255) – inversiv zum Objekt degradiert. Als Objekt ruft der Mann bei der Frauenfigur des Romans jedoch nicht Lust, sondern allenfalls verächtliche Belustigung hervor: „Die Frau lacht nervös, als sich der Mann, noch im Mantel, gezielt vor ihr entblößt. Er entblödet sich nicht, seinen Schwanz dahingestellt zu lassen. Die Frau lacht lauter und schlägt sich mit der Hand auf den Mund […].“ (L, 16) Betrachtet man ihre öffentliche Selbstdarstellung als passive Frau, dann erscheint die zuvor Irritationen auslösende Adaption des männlichen Blicks und damit die Dekonstruktion der Dekonstruktion nicht länger widersprüchlich, sondern als Kernstrategie der Simulation. Ihre öffentliche Selbstinszenierung funktioniert dabei nach den Simulationsprinzipien, die Barthes herausgearbeitet hat: durch die Auswahl höchst markanter Elemente des Originals und deren Neukombination. Die Simulation funktioniert zudem in mehrfacher Hinsicht wie Jelineks Textkonstruktionen. So wie ihre Figuren unter dem voyeuristisch sezierenden Blick der Erzählerin entstehen, wird Elfriede Jelinek durch den Blick der Fotografin, stellvertretend für die literarische Öffentlichkeit und diese vorwegnehmend, konstituiert, nein, raffinierter: Sie konstituiert sich selbst. Die Verschlingungen, Uneindeutigkeiten und Störungen innerhalb der Selbststilisierung Jelineks und der Rezeption derselben kommen dabei, anders als auf Romanebene, nicht allein durch die distanzierte, fremd bleibende Außenperspektive zustande, sondern sind kunstvoller Akt der doppelt gebrochenen Simulation. Simuliert Jelinek im Erzähl-Verfahren erst den männlichen Blick, so überführt sie die simulierende Narration auf die Wirklichkeitsebene des Literaturbetriebs. Weil jedoch der männliche Blick ironisch gebrochen ist, weil Jelinek weniger den Anlass des erotischen Aktes als die vielsagende Nüchternheit, vielleicht Ernüch-

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terung angesichts der Konsequenzen des ehelichen Aktes inszeniert, gelingt ihr die Dekonstruktion und Persiflage. Das für Jelinek von den Anfängen bis heute konstitutive sprachliche Verfahren der mythendestruierenden und ideologiezertrümmernden Umkehrung und Verschiebung gesellschaftlich vorgegebener Muster dehnt sie auf ihre öffentliche Selbstinszenierung aus. Das Vexierspiel von fiktions-, realitäts- und sprachspielbezogener Darstellungsweise dient dabei auch außerliterarisch als Mittel, mit dem sie festgelegte Deutungen artifiziell untergräbt und den Betrachter bewusst im Unklaren lässt, ob es sich um Mimesis oder Parodie handelt. Denn sie wechselt konsequent zwischen beiden Varianten sowie den Objekten, die sie simuliert, und trägt somit zur Zerstörung ihrer eigenen Identitätsentwürfe bei, die sie durch die nachhaltige Dekonstruktion inszenatorisch ad absurdum zu führen versteht. In gleichem Maße wie sie in ihren Texten die Entfaltung des Individuums desavouiert und ebenso namen- wie emotionslose Schablonen sprachkünstlerisch entfaltet (die Rede ist stets, wie gezeigt, von dem „Mann“, der „Frau“ und dem „Kind“), zelebriert Jelinek auch öffentlich die von Foucault geprägte, einzig am Diskurs orientierte Idee der subjektlosen, von einem inneren Wesenskern losgesagten Existenz. Übte Jelinek schon in ihrem Roman Die Ausgesperrten (1980), anspielend auf Jean-Paul Sartres Die Eingeschlossenen (1959), Kritik am philosophischen wie künstlerischen Existenzialismus, so sind ihre öffentlichen Selbstdarstellungen qua Simulation der Romanfiguren Formen der Transformation eines kritischen, performativ dargestellten Subtextes. Sie sind sichtbare Momente einer poetologischen Philosophie, die auf der die Identität und Rollen hinterfragenden Dezentrierung des Subjekts basiert. Die Idee der unaufhaltsamen Amortisierung des Identitätskerns kommentiert Jelinek in ihren Essays, Reden und künstlerisch-inszenatorischen Realitätskommentaren. In ihrem Essay über literarische Wahlverwandtschaften Nicht bei sich und doch zuhause (1998) schreibt Jelinek der Sprache jene strukturelle Spaltung zu, die den Schriftsteller in sich selber unheimisch werden lasse; und stilisiert und ästhetisiert nebenbei die Theoreme Foucaults. Denn durch das (literarische und öffentliche) Sprechen werde „die Hülle des Sprechers zertrümmert, weil es nicht in den Sprecher hineingegangen ist. Es ist zwar aus ihm herausgekommen, aber man hat es nicht hineingehen sehen. Es war überhaupt: zuviel. Daher musste es ausweichen und wurde auch später nicht mehr aufgesammelt.“

Die einzige Gewissheit, die ein Schriftsteller vertreten könne, sei die Nichtgewissheit, jener „Anschein des Unwirklichen“, den zu erwecken die Aufgabe jedes Dichters sei, eben „den der beruhigendsten, sichersten Wirklichkeit, nur dass im letzteren Fall der Dichter zwar der Wirklichkeit, aber seiner selbst nicht sicher ist. Jedenfalls ist er nicht heimisch und weiß auch nicht, wo sonst er sein sollte.“ 20 Die Fremdheit am Ort des Ursprungs und am Ort der Öffentlichkeit bleibt in Jelineks simulierenden,

20 Elfriede Jelinek: Nicht bei sich und doch zuhause. In: Dies./Brigitte Landes (Hrsg.): Jelineks Wahl. Literarische Verwandtschaften. München 1998, S. 11-22, 13 f.

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Orte und Identitäten bewusst inszenierenden, fotografischen Selbststilisierungen Anlass und Folge ihrer dargestellten Präsenz. Bei aller Dekonstruktionsarbeit un-destruiert bleibt hingegen der Mythos eines in der Ökonomie (im Sinne Bourdieus) auflösbaren Schriftstellersubjekts, das sich (mit dem unterstellten Wissen um die differenzbasierte öffentliche Positionierung) von der Konkurrenz durch konstruierte Irritation abhebt, und gleichzeitig dem feststehenden intellektuellen Ideal die wandelbare Körperlichkeit sowie den temporär substanzlosen Selbstentwurf skandalbewusst entgegenhält. Der skandalöse, zumindest temporär aufsehenerregende Impetus mag auch darin seinen Ursprung haben, dass Jelinek ihre Inszenierung nicht entsprechend den ungeschriebenen Regeln des literarischen Feldes, der illusio, an einer vernunft- und identitätsbasierten Intellektualität und somit als Ausdruck einer tief verwurzelten inneren, menschlichen, ethischen, politischen oder moralischen Überzeugung nutzt, sondern als Moment einer diskursiven und damit provisorischen, weitgehend avantgardistischen Bedeutungspraxis, die den Wandel als einzige Konstante anerkennt. Die Wahrnehmungsstörung und Irritation vermittels Variation fungiert sodann als ein erkenntnisleitendes Strukturprinzip einer flexiblen Subjekt- und Rollen-Persiflage. Tatsächlich soll es jedoch auch vorgekommen sein, dass es während der Simulation zu einer vollständigen Identifikation mit dem provisorisch angelegten Selbstentwurf, mit der simulierten, genuin fiktionalen Rolle kam. Wie einst bei Karl May, der bei öffentlichen Auftritten nicht nur die Kleidung imitierte, sondern nachdrücklich versicherte, er habe die von ihm geschilderten Abenteuergeschichten im ‚Wilden Westen‘ nicht nur aus künstlerisch-literarischen Gründen in der Ich-Form verfasst, sondern weil er sie tatsächlich selbst erlebt habe, als Abenteurer und Augenzeuge. Auch in privater Korrespondenz bestätigt er: „Ja, ich habe das alles und noch viel mehr erlebt. […] Ich bin wirklich Old Shatterhand respektive Kara Ben Nemsi.“ 21 Karl May legte öffentlich die Narbe einer Stichverletzung am Hals bloß (fast wie in einer Vorwegnahme von Rainald Goetz‘ Performance), die er im Zweikampf mit Winnetou erlitten haben will. Ein anderes Mal zelebriert er gemeinsam mit dem Publikum, das zu seinem Vortrag angereist war, ein fünf Minuten andauerndes Trauerschweigen, zur Erinnerung an Winnetous Tod. 22 Ein vielköpfiges Publikum in München erfährt von Karl May, dass er über 1.200 Sprachen und Dialekte beherrsche; eine verkündete Tatsache, die er in einem Privatbrief etwas reduzierter, aber auch recht unbescheiden vertritt: „Ich spreche und schreibe französisch, englisch, italienisch, spanisch, griechisch, lateinisch, hebräisch, rumänisch, arabisch 6 Dialekte, persisch, kurdisch 2 Dialekte, chinesisch 6 Dialekte, malaysisch, Namaqua, einige Sunda-Idiome, Suaheli, hindustantisch, türkisch und die Indianer-

21 Claus Roxin: Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand. In: Ders./Heinz Stolte (Hrsg.): Jahrbuch der Karl-May Gesellschaft 1974. Hamburg 1973, S. 20 f. 22 Vgl. Helmut Schmiedt: Karl May. Ein früher Popstar der deutschen Literatur. In: Grimm/Schärf, Schriftsteller-Inszenierungen, S. 59-70, 59 f. Siehe auch: Borwin Bandelow: Celebrities. Vom schwierigen Glück, berühmt zu sein. Reinbek bei Hamburg 2007, S. 29-34.

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sprachen der Sioux, Apachen, Komantschen, Snakes, Uthas, Kiowas, nebst dem Ketschumani 3 südamerikanische Dialekte.“

Und dann folgt noch ein nicht weniger geniale Satz: „Lappländisch will ich nicht mitzählen.“23

Abbildung 26: Karl May (m. und l.), abenteuerlicher Dichter; Schauspieler Lex Barker im Film ‚Winnetou‘ (r.)

Dissimulation Eine ähnliche Strategie des Fälschens und Fingierens zum Zwecke der Anerkennungssteigerung ist die Dissimulation. Anders als die Simulation versucht die Dissimulation nicht, etwas gezielt zum Vorschein zu bringen, sondern, im Gegenteil, etwas geschickt zu verbergen, ebenfalls jedoch um die wahre, eigene Beschaffenheit zu verheimlichen. Diese Inszenierung führt in der Natur spielerisch die afrikanische Teufelsmantis, Idolum diabolicum vor, wie wir von Peter von Matt anschaulich erfahren. „Ihr hat man mit dem wissenschaftlichen Namen schon zu verstehen gegeben, was man moralisch von ihr zu halten hat. Sie spielt die schöne Blume, eine hängende, farbige, leis’ im Winde spielende Orchideenblüte mitten unter vielen wirklichen Orchideenblüten. Die langen Fangarme hält sie, wie es bei den Mantisarten, den Gottesanbeterinnen, üblich ist, neben den kleinen dreieckigen Kopf erhoben. Diese Fangarme sind beim Idolum diabolicum breit und weich gelappt und leuchtend wie Blütenblätter. Ein Insekt, das auf Nektarsuche von Blume zu Blume

23 Schmiedt, Karl May. Ein früher Popstar der deutschen Literatur, S. 60 f.

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schwirrt, schwirrt bei dieser besonders schönen Blüte direkt vor das hungrige Maul und zwischen die blitzartig zugreifenden Krallen.“24

Wie in der Natur beeinflusst auch beim Menschen die bewusst gewählte äußerliche Erscheinung den Erfolg positiv – das hoffte zumindest eine Schriftstellerin mittleren Alters. Auch sie zog es vor, ein wenig attraktiver zu erscheinen als in Wirklichkeit. Auf dem Umschlag ihres Buches war eine dunkelhaarige Schönheit zu sehen, während die Verfasserin in Wirklichkeit blond war und nicht aus Irland, sondern aus Polen stammte und zudem erst seit Kurzem in Irland lebte. Im Zuge des Skandals, der die Aufdeckung der Dissimulation kommentierend begleitete, musste die Verfasserin letztendlich einen für dieses Buch erhaltenen Preis wieder zurückgeben. 25 Mehr noch als die Macht des sekundären Diskurses auf dem literarischen Feld zeigt das Beispiel die Besonderheit des literarischen Lebens: Nicht etwa Schönheit sorgte dort für Aufsehen, sondern der Versuch, körperliche Schönheit als symbolisches Kapital zu definieren und einzusetzen bzw. zu inszenieren. Der Skandal bewirkte immerhin dass, die Grenzen des literarischen Feldes sowie die illusio und mit ihr der Wertmaßstab der einzig ‚geistigen‘ Schönheit temporär erhalten oder besser gesagt wiederhergestellt wurden. Als Inszenierungsstrategie wird die Dissimulation dennoch gerade durch Skandale bestätigt, die einen Aufmerksamkeitswert garantieren. Der durch den Skandal angestoßene sekundäre Diskurs deutet zudem auf den spezifischen Reiz der Dissimulation hin: Es ist nicht das Dargestellte, sondern das Verborgene, welches das Interesse weckt. Auf dem literarischen Feld existieren unterschiedliche Formen der Dissimulation: die Taktik des Pseudonyms, die Gender-Dissimulation, deren Instrument das CrossDressing ist, die religiös-ethische Dissimulation und die kulturell-ethnische Dissimulation. Allen Dissimulationsstrategien gemeinsam ist die zentrale Handlung des Fingierens, durch die performativ eine neue Identität hergestellt wird, indem der Körper als Schauplatz oder Bühne frei gewählter Einschreibungen fungiert. 26 Mit der kulturell-ethnischen und der Gender-Dissimulation erregte beispielsweise die Künstlerin Elizabeth Durack erfolgreich Aufsehen. Sie gab einen Teil ihrer Werke als die Bilder eines von ihr frei erfundenen Aborigine-Künstlers aus, dessen Identität sie für die Zeit der Ausstellung annahm. Sie selbst verschwand aus der Öffentlichkeit und die von ihr erfundene Aborigine-Figur, die nicht nur einen neuen Namen – Eddie Burrup –, sondern auch eine ausführliche biografische Geschichte bekam, tauchte auf. Im Prozess der temporären Dissimulation wechselte Elisabeth Durack neben ihrer kulturellen Zugehörigkeit auch ihre geschlechtliche Identität. Sie entwarf eine Website, auf der „Eddie als schlichter, frohgelaunter Naturbursche“ erschien und

24 Von Matt, Die Intrige, S. 19 f. 25 Der Meldung war leider nicht zu entnehmen, welche dieser Verfehlungen am Ende den Ausschlag dafür gegeben hatte, dass die Unglückliche Ehre und Geld wieder zurückgeben musste. Vgl. Volker Hage: Propheten im eigenen Land. München 1999, S. 9. 26 Im Fall der Körperinszenierung ist es nicht zwingend die Schönheit, die den Aufmerksamkeitswert codiert, sondern die Andersartigkeit, und die bewusste Deviation von zeittypischen Idealen.

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sein Schaffensprozess als „tremendous happiness and a sense of deep fullfilment“ beschrieben wurde. Zu den Werken in der Ausstellung ließ sie Eddie, über ein eingespieltes Tonband in der Sprache der Aborigines, Kreol, seine Lebensstationen erzählen. Schautafeln neben den Bildern kommentierten und erklärten grammatisch inkorrekte und unverständliche Begriffe. Familiäre und kulturelle Erklärungen kommentierten die erfundene Aborigine-Geschichte, die gezielt assoziativen und fragmentarischen Charakter trug, und gaben der Erzählung einen ordnenden Rahmen. 27 Als die fingierte Autor- und Künstlerschaft öffentlich wurde, kam es zum Skandal, der den Bekanntheitsgrad von Elisabeth Durack rapide und nachhaltig steigerte. 28 Brisanz gewann auch der Skandal um die Aufdeckung der religiös-ethischen Dissimulation Bruno Doessekkers, der unter dem Namen Binjamin Wilkomirski (s)eine Holocaust-Erinnerung Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948 veröffentlichte. In seinen mittlerweile vom Suhrkamp-Verlag zurückgezogenen Werk schildert Wilkomirski, wie er und seine Familie, die im Konzentrationslager starb, zum Opfer des nationalsozialistischen Regimes wurden und wie er nach dem Krieg als Waisenkind den Institutionen und später den als lieblos geschilderten Pflegeeltern ausgeliefert war. Als gedemütigtes und traumatisiertes Opfer zeigte sich der Autor in der kulturellen Öffentlichkeit und auf Veranstaltungen als stiller, labiler Mann, der leicht in Tränen ausbrach und die Rückgewinnung seiner Erinnerung öffentlich als therapeutischen Erfolg sichtbar werden ließ – beispielsweise auf einer filmisch dokumentierten Reise nach Warschau, während der sich Wilkomirski beim Anblick der Straßen und Häuser, in Gegenwart anwesender Reporter, an die Orte seiner Kindheit erinnerte. Bei einer öffentlichen Lesung ließ er seinen Text von einem Schauspieler vorlesen, während er selbst „mit einem Schal bekleidet, der an einen Tallith, den jüdischen Gebetsmantel erinnerte, auf der Klarinette das ‚Kol Nidrei’ von Max Bruch, eine ergreifende Melodie, die eigentlich am Vorabend des Jom Kippur gesungen wird“ 29, spielte. In dreizehn Sprachen wurden die preisgekrönten Erinnerungsfragmente über-

27 Vgl. Barbara Schaff: Der Autor als Simulant authentischer Erfahrungen. Vier Fallbeispiele fingierter Autorschaft. In: Heinrich Detering (Hrsg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. Stuttgart 2002, S. 426-443, 431 ff. (Siehe auch: www.elizabethdurack.com) 28 Elizabeth Duracks Identitätsdissimulation wurde öffentlich als post-kolonialer Gewaltakt verstanden und abgelehnt. Gerade in der linguistischen Ausgestaltung der Person Eddies als defizitärem Erzähler, der einer ordnenden und dirigierenden narrativen Instanz bedurfte, wurde eine koloniale Romantisierung gesehen, die ein verzerrtes, karikaturistisches Bild der Aborigines entwarf und den Aborigines einen autonomen Status aberkannte. Elizabeth Durack hingegen legitimierte ihre Dissimulation als Akt der Verschmelzung mit einer Kultur, die sie sei seit ihrer Kindheit fasziniert hatte. (Vgl. Julie Marcus: A Dark Smudge Upon the Sand. Essays on Race, Guilt and the National Consciousness. Canada Bay 1999, S. 151.) 29 Stefan Mächler: Der Fall Wilkomirski. Über die Wahrheit einer Biografie. Zürich 2000, S. 130.

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setzt; Filme wurden gedreht, ein Theaterstück geschrieben. „Wilkomirski avancierte weltweit zum Experten in Sachen ‚Kinder ohne Identität’.“30 In Wahrheit nur war Binjamin Wilkomirski nicht der, als der er sich ausgab, sondern hieß Bruno Doessekker und war weder jüdisch noch Opfer des Holocausts. Seine Bruchstücke, seine Biografie, seine Erinnerungen waren frei erfunden. Doessekker alias Wilkomirski gelang die Evokation der Authentizität dennoch in besonderem Maße, weil er die Erinnerung nach den öffentlich anerkannten Erinnerungsmustern des Bruchstückhaften, Fragmentarischen, assoziativ Zusammengesetzten gestaltete. Die Bruchstücke funktionieren als fingierte Authentizität, weil „sie lieferten, was erinnert werden will. Anders gesagt, wird die Erinnerung des Wilkomirski vom kollektiven und kulturellen Gedächtnis aus entworfen.“31 In seiner Arbeit Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen beschreibt Maurice Halbwachs die Mechanismen der Rekonstruktion der Vergangenheit als nicht gesichertes, prozesshaftes Wissen, sondern stets neue Zusammensetzung vergangener Episoden. Die „neue Form oder eine neue Kombination vertrauter Wirklichkeit“ 32, durch die Vergangenes rekonstruiert werde, könne immer nur „näherungsweise“ 33 und nie kontinuierlich, sondern durch imaginierte Zeitraffungen lediglich fragmentarisch geschehen, durch „in der Zeit nebeneinander gestellte Bilder“34. „Was blieb vo[n] diesem Augenblick […] von unseren einstigen Erinnerungen zurück? Die allgemeine Vorstellung von dem Gegenstande, einige mehr oder weniger charakteristische Figuren, bestimmte besonders malerische, bewegende oder lustige Episoden, manchmal die visuelle Erinnerung […] oder sogar an eine Seite oder einige Zeilen. Tatsächlich fühlen wir uns recht unfähig, im Denken die ganze Folge der Ereignisse in ihren Einzelheiten […] wiederzugeben.“35

30 Silke Mertens: Von der Sehnsucht, Opfer zu sein. In: Die Tageszeitung. 10.10.1998; Magazinbeilage, S. 5. 31 Heinz-Peter Preusser: Erinnerung, Fiktion und Geschichte. Über die Transformation des Erlebten ins kulturelle Gedächtnis: Walser – Wilkomirski – Grass. In: German Life and Letters, 57/2004, Heft 4, S. 448-503, 496. 32 Ebenda, S. 127. 33 Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 132. 34 Ebenda, S. 134. Über die zeitliche Dimension als Ursache des fragmentarischen und Elemente zusammenziehenden Erinnerns schrieb Bergson: „Wenn es nötig ist, damit mein Wille sich an einem Punkt des Raumes manifestieren kann, daß mein Bewußtsein eins nach dem anderen die Zwischenglieder oder Hindernisse überschreitet, deren Summe den ‚Abstand des Raumes‘ ausmacht, ist es ihm andererseits zur Beleuchtung jener Tätigkeiten nützlich, das Zeitintervall zu überspringen, das die gegenwärtige Situation von einer früheren ähnlichen trennt“, es tue „dies mit einem einzigen Sprunge“. (Vgl. Henri Bergson: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung von Körper und Geist. (1896/1909). Hamburg 1991, S. 161.) Der Raum – der gegenwärtige wie der vergangene – wird dabei vom analytischen Verstand erfasst und einzig durch kognitive und schöpferische Aktivität dauerhaft lebendig. 35 Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen (1925/1985). Frankfurt a. M. 2006, S. 125.

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In den literaturhistorischen Mustern der autobiografischen Erinnerung hat sich das Bruchstückhafte36 und Entfremdete soweit durchgesetzt, dass es mitunter auf die gesamte Identität übergreifen darf, ohne dass der Verfasser ein Glaubwürdigkeitsverlust befürchten müsste.37 Dieses Motiv des Widersprüchlichen adaptierte Wilkomirski und nutzt es für seine dissimulierenden Zwecke. Die Bruchstücke sind vom sprachlichen Duktus eines literarischen Zeugenberichts geprägt, innerhalb dessen die Wahrheit der eigenen Verdrängung und Vergesslichkeit abgerungen werden muss. Das Fragmentarische inszenierend schrieb Wilkomirski: „Meine frühesten Erinnerungen gleichen einem Trümmerfeld einzelner Bilder und Abläufe. Brocken des Erinnerns mit harten, messerscharfen Konturen, die noch heute kaum ohne Verletzungen zu berühren sind. Oft chaotisch Verstreutes, chronologisch nur selten zu gliedern; Brocken, die sich immer wieder beharrlich dem Ordnungswillen des erwachsen Gewordenen widersetzen und den Gesetzen der Logik entgleiten.“38

In der Tradition Goethes, der in Dichtung und Wahrheit die subjektive Überformung allen Wissens und vergangenen Erlebens betonte,39 instrumentalisiert Wilkomirski die Unmöglichkeit, Wahrheitsaussagen zu treffen, als Plausibilitätsindikator. In dem Bemühen, seine Dissimulation zu authentifizieren, schrieb Wilkomirski sogar in den Bruchstücken: „Die juristische beglaubigte Wahrheit ist eine Sache, die eines Lebens eine andere. Jahrelange Forschungsarbeit, viele Reisen zurück an die vermuteten Orte des Geschehens, unzählige Ge-

36 Grass leitet seine Lebenserinnerungen Beim Häuten der Zwiebel (2006) ebenfalls mit Bildern und Bruchstücken aus der Vergangenheit ein: „Ab dann will aus der beliebigen Bilderfolge, bei deren Produktion der Zufall Regie geführt hat, unbedingt die Sequenz meiner ersten Feindberührung abgespult werden, und zwar ohne Orts- und Zeitangaben und ohne, das ich den Feind in den Blick bekomme. Nur zu vermuten bleibt: es wird gegen Mitte April gewesen sein. […] Ich sehe unsere Jagdpanther, einige Schützenpanzer, mehrere Lastkraftwagen, die Feldküche und einen zusammengewürfelten Haufen Infanteristen und Panzerschützen in einem Jungwald Stellung beziehen […]“ (Grass, Beim Häuten der Zwiebel, S. 140 f.) 37 Auch bei Pessoa in der Spätmoderne hieß es exemplarisch: „Alles verflüchtigt sich mir. Mein ganzes Leben, meine Erinnerungen, meine Phantasie und was sie enthält, meine Persönlichkeit, alles verflüchtigt sich mit. Ständig fühle ich, dass ich als ein anderer fühlte, dass ich als anderer dachte. Ich wohne in einem Schauspiel mit einem anderen Bühnenbild bei. Und wem ich da beiwohne, das bin ich.“ (Fernando Pessoa: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares. Zürich 1986, S. 65.) 38 Wilkomirski, Bruchstücke, S. 7 f. 39 Goethe schrieb: „Wenn man sich erinnern will, was uns in der frühestens Zeit der Jugend begegnet ist, so kommt man oft in den Fall, dasjenige, was wir von anderen gehört haben, mit dem zu verwechseln, was wir wirklich aus eigener Anschauung besitzen […].“(Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: Josef Kunz (Hrsg.): Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14. Bänden. Dramatische Dichtung Hamburg 1964.)

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spräche mit Spezialisten und Historikern haben mir geholfen, manchen unerklärlichen Erinnerungsfetzen zu deuten.“40

Mit der Situierung seines Textes in den kulturell etablierten Erinnerungsbildern der Shoah,41 der innertextuellen Reflexion von Erinnerung und Wahrheit sowie der Darstellung der erzählten Vergangenheit aus der Opferperspektive gab Wilkomirski eine Rezeptionsweise vor, die Mitgefühl, Trauer und Demut erwarten und eine kritische Hinterfragung gar nicht erst aufkommen ließ. Indem er auch im öffentlichen Leben des literarischen Feldes vollends die Rolle des Opfers adaptierte, zementierte Wilkomirski seine Dissimulation. Die peritextuelle Gestaltung passte sich in seiner Ästhetik etablierten Deutungsmustern an:

Abbildung 27: Buchcover von Binjamin Wilkomirskis „Bruchstücke“ Auf dem in den Farben Schwarz und Weiß gehaltenen Suhrkamp-Buchcover ist das Foto von mittlerweile von Gras überwachsenen Zugschienen zu sehen. Der Klappentext auf der Rückseite macht die Dramatik („Endstation“) deutlich: Es ist ein Ort, wo diese Welt aufhört, diese Welt zu sein. Dieser Satz wäre ohne den Kontext des Zeugenberichts vom Holocaust weitgehend sinnfrei, bekommt jedoch durch die Selbstinszenierung des Autors seine besondere Bedeutung. Doessekker konnte auch deshalb eine derart nachhaltige öffentliche Wirkung erzielen, weil sein literarischer Text und seine öffentliche Selbstdarstellung ineinander griffen und die Wirkung jeweils verstärkten: Der Erinnerungstext fand nicht nur eine breite Akzeptanz, weil er das im kulturellen Feld fest verankerte Thema des Holocaust und der Erinnerung aufnahm und ästhetisch umsetzte, sondern auch, weil er

40 Binjamin Wilkomirski: Bruchstücke. Aus einer Kindheit (1939-1948). Frankfurt a. M. 1995, S. 143. 41 Wilkomirskis Bruchstücke wurde selbst von Überlebenden der Shoah gelobt. Auszüge des Buches haben zudem Eingang in den von Elfriede Jelinek herausgegeben Band Jelineks Wahl. Literarische Wahlverwandtschaften gefunden.

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dies in den vertrauten Wahrnehmungsmustern tat. Ergänzt wurde der Text durch die öffentliche schriftstellerische Selbstdarstellung, die den gesamten Habitus umfasste: die Zelebrierung von jüdischen Feiertagen, die Adaption musikalischer Traditionen, die Wahl der Kleidung, die paratextuellen Feinheiten, die Formen der Sprachlichkeit und die immer wieder an den Themenkomplex des Buches, der Verdrängung und der Erinnerung anknüpfende Performanz (Schweigen, Weinen, Singen). Ein Kritiker sprach, nachdem er Doessekker alias Wilkomirski in Los Angeles getroffen und seine Darstellung als eine unechte, überzogene Nachahmung gewertet hatte, von einer Travestie: „Eine Karikatur! Der Überlebende als krankes Geschöpf. Die Juden als ewige Opfer. Wir verdienen nur noch Mitleid. Das ist der Antisemitismus nach der Endlösung. Ich fühlte mich durch diesen Transvestiten persönlich beleidigt. Ein Holocaust-Transvestit.“42 Doch in der partiellen Übertreibung, in der Vielgestaltigkeit der inszenatorischen Intertextualität und Intervisualität sowie in der (oberflächlichen) Kohärenz des religiös-ethnischen dissimulierten Wilkomirski-Gesamtkunstwerkes lag die illusionistische und medienwirksame Kraft.

Cross-Dressing Eine besondere Variante der selbstdarstellerischen Dissimulation ist das CrossDressing.43 Unter Cross-Dressing ist die Adaption der gegengeschlechtlichen Rolle qua Kostümierung zu verstehen, die von entsprechenden Verhaltensweisen begleitet wird. Ob in Shakespeares Komödien, auf den Bühnen der Nachtclubs oder dem literarischen Feld, das Cross-Dressing funktioniert immer nur dann, wenn durch die angelegte Kleidung das eigentliche, das dissimulierende Geschlecht erkennbar und die Selbstinszenierung eine changierende bleibt. Unter dem Aspekt der Rebellion und vor dem Hintergrund der karnevalistischen Abhandlungen Bachtins44 bietet es sich an, Cross-Dressing als „eine besonders hartnäckige, einfallsreiche, aber getrübte kulturelle ‚performance’ davon zu lesen, wie das Subjekt von einer radikalen Inkommensurabilität zwischen der es bemächtigenden Möglichkeit heterogener Selbstentwürfe und der Annahme eines es kränkenden symbolischen Gesetzes beherrscht wird“45 – und sich daraus zu befreien sucht. 46 In der Gegenüberstellung der Kostü-

42 Leon Stabinski zit. n. Sabine Kyora: Der Skandal um die richtige Identität. Binjamin Wilkomriski und das Authentizitätsgebot in der Holocaust-Literatur. In: Stefan Neuhaus/Johann Holzner (Hrsg.): Literatur als Skandal. Göttingen 2007, S. 624-631, 629. 43 Die Begriffsprägung stammt von Elisabeth Bronfen; vgl. hierzu auch: E. B.: Fatale Liebesspiele im Zeichen des Cross-Dressing. Manche mögen’s ambivalent. In: Dies.: Liebestod und Femme fatale. Der Austausch zwischen Oper, Literatur und Film. Frankfurt a. M. 2004, S. 157-198. 44 Zu Bachtins Karnevalismus-Theorem siehe auch die Zusammenfassung ganz am Ende des Kapitels der „Praktiken der Selbstdarstellung“. 45 Bronfen, Fatale Liebesspiele, S. 168. 46 Innerhalb der Gender-Debatte um die kulturelle Konstruiertheit geschlechtlicher Identität, schreibt Judith Butler dem Cross-Dressing einerseits eine befreiende Geste zu, die anderer-

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mierungen Stefan Georges und denen der aus der gleichen Generation stammenden Else Lasker-Schüler lassen sich die Distinktion garantierenden, unterschiedlichen Varianten des Cross-Dressing studieren. Während George sich eine feminine Note gab, indem er zuweilen einen langen, einem Frauenkleid ähnelnden Mantel aus dunklem Stoff trug und darüber einen weißen Umhang mit Borte, gefiel sich Else LaskerSchüler ebenfalls wenig in ihrer Natürlichkeit und verkleidete sich als Orientale, als ‚Prinz von Theben‘, ‚Jussuf‘ oder ‚Tino von Bagdad‘. Auf dem wohl bekanntesten Foto Lasker-Schülers aus dem Jahre 1910, auf dem sie Flöte spielend posiert, sehen wir sie im Profil, die Arme und die Flöte auf Schulterhöhe erhoben, wie auf einer ägyptischen Wandmalerei. Sie trägt helle Schnabelstiefel mit bunten Steinen, eine Pluderhose und einen Muschelgürtel. „Man konnte weder damals noch später mit ihr über die Straße gehen, ohne dass alle Welt stillstand und ihr nachsah“, schrieb Gottfried Benn. Sie trug „extravagante […] Hosen, unmögliche Obergewänder, Hals und Arme behängt mit auffallendem Schmuck, Ketten, Ohrringen, Talmiringen an den Fingern“. Auch sei sie feindlich gegenüber allem „Satten, Sicheren und Netten“ gewesen.47

Abbildung 28: Lasker-Schülers orientalische Selbststilisierung Über ihre vorgeblich ganz pragmatischen Motive des Cross-Dressing sagte LaskerSchüler selbst: „[…] überhaupt finde ich die Frauenkleider nicht schön […] – ich

seits zu beiderseitigen Abgrenzungen und Stigmatisierungen führen kann. Cross-DressingStrategien stellen somit auch „eine rituelle Entlastung für eine heterosexuelle Ökonomie zur Verfügung […], die ihre Grenzen andauernd gegen die Invasion von ‚queerness’ überwachen muss“, sie verstärkten in Wirklichkeit durch diese „verschobene Erzeugung und Auflösung der panischen Angst vor Homosexuellen das heterosexuelle Regime in seiner selbstverewigenden Aufgabe“ (vgl. Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Berlin 1995, S. 170 f.). 47 Gottfried Benn: Erinnerungen an Else Lasker-Schüler (1952). In: Ders.: Essays und Reden. Mit einer Einführung von Bruno Hildebrand. 2006, S. 541-543, 541.

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verkleide mich als Orientale.“48 Else Lasker-Schüler nutzte die Kostümierung zunächst spielerisch als Selbst-Expression, die zwischen radikaler Individualität und Aufsässigkeit oszilliert. Ihre Kostümierung war Ausdruck einer emotionalen Empfindung, aber im Sinne Georg Simmels auch ein „Abscheidungsmoment“49, das distinktiv wirkt und auf die Poetisierung des Lebens und die Transzendierung des Körpers zum Kunstwerk verweist.50 Die Aneignung exotischer Kleider fungierte für Lasker-Schüler als ein Selbstentwurf, den sie provisorisch annahm. Später erst sollte sie einen zweiten Grad des Cross-Dressing erreichen, die langfristige Dissimulation ihrer Geschlechtlichkeit. In Kurt Pinthus’ klassischer Anthologie expressionistischer Lyrik Menschheitsdämmerung (1920), in die Lasker-Schüler als einzige weibliche Dichterin Eingang gefunden hat, zeigt sich ihre gender-dissimulierende Perfektion, die bis in die Veränderung biografischer Daten reicht. Bei Pinthus gab sie als lebensgeschichtliche Fakten zu ihrer Person die folgenden an: „Ich bin in Theben (Ägypten) geboren, wenn ich auch in Elberfeld zur Welt kam im Rheinland. Ich ging bis 11 Jahre zur Schule, wurde Robinson, lebte fünf Jahre im Morgenlande und seitdem vegetiere ich.“51 Diese Zeilen betrachtend hat Ruth Klüger später von einem verborgenen, kleinen erzählenden Gedicht gesprochen, das die „Flucht aus der Einsamkeit in die Phantasiewelt“52 bedeute. In Pinthus Menschheitsdämmerung ließ Lasker-Schüler ein Selbstbildnis abdrucken, das die Absage an traditionelle Weiblichkeitszuschreibungen auch malerisch konfirmiert:

48 Else Lasker-Schüler zit. n. Gesa Dane: Else Lasker-Schülers eigenwilliger Exotismus. In: Christine Künzel/Jörg Schönert (Hrsg.): Autorinszenierung. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien. Würzburg 2007, S. 47-58, 51. 49 Vgl. Georg Simmel: Die Mode. In: Ders.: Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Mit einem Vorwort von Jürgen Habermas. Berlin 1986, S. 38-63, 43. 50 Bei ihren Verkleidungen überließ sie nichts dem Zufall. Vor jedem Auftritt stellte sie akribisch ihr Outfit zusammen, wählte Accessoires und erwog sorgfältig die Wahl der Farbe ihrer Fingernägel. Sie probte vorher, wo sie auf der Bühne zu stehen hatte, um die bestmögliche Wirkung zu erzielen. Dazu gehörte auch der Test, wie die Beleuchtung beschaffen sein sollte. (Vgl. Peter Sprengel: Else Lasker-Schüler und das Kabarett. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Else Lasker-Schüler. Text + Kritik, Nr.122, München 1994, S. 7586, 77 ff. Und: Ruth Florack: Prinz Jussuf und die Neue Frau. In: Grimm/Schärf, Schriftsteller-Inszenierungen, S. 71-86, 79.) 51 Else Lasker-Schüler, in: Kurt Pinthus (Hrsg.): Menschheitsdämmerung – Symphonie jüngster Dichtung (1920). Reinbek bei Hamburg 1997, S. 149. 52 Ruth Klüger: Nachwort zu Else Lasker-Schüler. In: Ruth Klüger (Hrsg.): Else LaskerSchüler. In Theben geboren. Gedichte. Frankfurt a. M. 1998, S. 91-112, 94 f.

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Abbildung 29: Jussuf alias Else Lasker-Schüler, Selbstbildnis (um 1913) Die Figur wirkt durchaus männlich (sofern man archaische Maßstäbe akzeptiert) mit einem gezückten Dolch in der rechten Hand, einer breitbeinigen Pose und einer Art Kriegsbemalung im Gesicht, einem Stern und einem Halbmond als Zeichen des Prinzen; ein blutender Mond befindet sich im Hintergrund. Die Signatur des Bildes Jussuf trägt nicht die markante Handschrift Lasker-Schülers, sondern eine von ihr verfremdete Sütterlin-Schrift.53 Jussuf diente Lasker-Schüler als das eigene Geschlecht dissimulierendes Rollenvorbild sowie als Vorlage für ihre fantasievollen und produktiven, künstlerisch-poetischen Verfremdungen. Ihre Kunst-Namen stammten aus der christlichen oder mythologischen Tradition oder waren von ihr selbst erfunden, immer aber reflektierte sich darin eine besondere Art der Aneignung, vergleichbar mit dem Tauf-Akt.54 Else Lasker-Schülers eigene Pseudonyme und Metamorphosen – vom ‚Robinson‘ zu ‚Jussuf‘, der orientalischen Version des Joseph – sind symptomatisch für ihre Flucht in die sentimental-exotische Fantasiewelt. Ihre Gender-Dissimulation hielt Lasker-Schüler bis zu ihrem Tod aufrecht. Während ihrer letzten Lebensjahre, die sie in Jerusalem verbrachte, hüllte sie sich stets in einen weiten, alle Körperformen verbergenden Mantel und bedeckte den Kopf mit einer Fellmütze („viel zu warm […] für die Stadt“55, wie Judith Kuckart bemerkte). Lasker-Schüler spielte und zitierte damit die Tradition der orthodoxen osteuropäischen männlichen Juden, die in Berlin auf besonders vehemente Ausgrenzung gestoßen waren.56

53 Florack, Prinz Jussuf und die Neue Frau, S. 71-86. 54 Vgl. ebenda. Manchmal übernahm Lasker-Schüler auch für sich selber Namen, die ihr von anderen gegeben worden waren. „Tino von Bagdad“ hatte Peter Hille sie genannt, immer dann, wenn er sie als orientalische Prinzessin anreden, aber ihr androgynes Rollenverständnis nicht in Abrede stellen wollte. 55 Vgl. Judith Kuckart/Jörg Aufenager: Else Lasker-Schüler. In: Karl Corino (Hrsg.): Genie und Geld. Vom Auskommen deutscher Schriftsteller. Nördlingen 1987, S. 387-398, 397. 56 Wie ganzheitlich und glaubwürdig ihre Dissimulation war, belegt eine Episode: Als Lasker-Schüler einmal durch Jerusalem streifte, hielt man sie gar für eine Bettlerin und wollte

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Das Streben einer weiblichen Schriftstellerin nach einer androgynen oder gar männlichen Identität war zeithistorisch revolutionär. Durch die Nivellierung ihrer weiblichen Attribute befreite sich Lasker-Schüler im inszenatorischen Spiel von den durch ihre Weiblichkeit vorgegebenen gesellschaftlichen Restriktionen, unterlief das antisemitische Klischee von der schönen und geheimnisvollen Jüdin und arbeitete an einem emanzipierten Gegenentwurf kreativer Weiblichkeit. Für den musste sie jedoch zunächst die bürgerliche Existenz hinter sich lassen. Rollenbilder fehlten. Intellektuelle und schreibende Frauen waren die Ausnahme. In Schriftstellerkreisen, allen voran im George-Kreis, hatten Frauen nur als Musen Zugang. (Die partielle Dissimulation der Geschlechterrolle bei George bestärkt vor diesem Hintergrund seinen solitären Status in diesem Kreis.) Bei Else Lasker-Schüler nimmt sich das Spiel mit der Geschlechterrolle ungleich existenzieller aus als bei George. Ihr Rollenspiel und die Adaption des männlichen Habitus wurden von vielen Kollegen mit Aufmerksamkeit goutiert. Einige ihrer Zeitgenossen nahmen jedoch an ihren Selbstinszenierungen Anstoß, wie etwa Franz Kafka oder Elisabeth Langgässer. So korrespondiert Kafka mit Felice Bauer: „Ich kann ihre Gedichte nicht leiden, ich fühle bei ihnen nichts als Langeweile über Leere und Widerwillen wegen des künstlichen Aufwandes. Auch ihre Prosa ist mit lästig aus den gleichen Gründen, es arbeitet darin das wahllos zuckende Gehirn einer sich überspannenden Großstädterin.“57 Setzt sein Kommentar zwar zunächst sachlich auf der rein literarischen Ebene an, so ist er doch mit starken persönlichen Empfindungen durchwirkt (ihre Prosa ist mir lästig), die am Ende an die Person Else Lasker-Schüler rückgebunden werden (eine sich überspannende Großstädterin). Elisabeth Langgässer schrieb an Richard Knies, Lasker-Schüler gehöre zu den „grässlichen Weibern“58, deren Texte sogar in einer Anthologie abgedruckt seien. Irritierend und ungewöhnlich waren damals nicht allein Lasker-Schülers öffentlichen Auftritte und Liebesgedichte, in denen sie das Sinnlich-Erotische in seiner Glückhaftigkeit wie in seinem Schmerzcharakter unverstellt thematisierte. Auch ihr Exotismus und ihre nicht nur beanspruchte, sondern gelebte Autonomie hob sie von den anderen Akteuren deutlich ab.59 Blieben ihr auch die großen Bühnen verwehrt, zeigte sie sich im elitären Kreis der Bohème als eine lebendig gewordene poetische Figur, die die imaginären Räume der literarischen Welt und die Grenzen der Ge-

ihr eine Münze zustecken, was sie mit einer Ohrfeige beantwortete. Keineswegs arm, wie vielfach behauptet wurde, sei sie gewesen, sondern bewusst bescheiden. Nach ihrem Tod wurden weitere ungetragene Exemplare dieses Mantels und zahlreiche neue Kleidungsstücke in ihrem Schrank gefunden. (Vgl. Dane, Else Lasker-Schülers eigenwilliger Exotismus, S. 47-58, 57.) 57 Franz Kafka: Brief an Felice Bauer (12./13.11.1913). In: Ders.: Briefe an Felice Bauer und Korrespondenzen aus der Verlobungszeit. Hrsg. v. Erich Heller/Jürgen Born. Frankfurt a. M. 1976, S. 296. 58 Elisabeht Langgässer: Brief an Richard Knies (19.12.1939). In: Elisabeth Hoffmann (Hrsg.): Elisabeth Langgässer. Briefe 1924-1950. Düsseldorf 1990, S. 331. 59 Vgl. Reinhard Tgahrt: Dichter Lesen. Bd. 3: Vom Expressionismus zur Weimarer Republik. Marbach 1995, S. 331-349.

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schlechterrolle durch ihre konsequente Dissimulation des Natürlichen und Alltäglichen konsequent überschritt.

Zusammenfassung Die Simulations- und Dissimulationsmanöver alles Lebendigen – von der kulturell schillernden Geschlechter-Parodie Else Lasker-Schülers bis zur juristisch strafbaren, diskursiv kreierten Pathogenese des Binjamin Wilkomirski – fungieren als Strategie, Distanz von sich selbst zu gewinnen, um dann gezielt eine arrangierte Position im sozialen Raum einnehmen zu können. In seinen Noten zur Literatur schreibt Adorno, das Gebot der Selbstdarstellung des Dichters und die Selbstsetzung als Genie, als das dieser sich drapiere, nötige manch einem Schriftsteller, der einen Rest von Draperie nie ganz ledig wird, sobald er öffentlich in Erscheinung tritt, sich so gut es geht zu verstecken bzw. sogar zu verstellen.60 Die Dissimulation erfolgt jedoch auch harmlos. „Deshalb hat Marcel Proust […] den Operetten-Dandy mit Zylinder und Spazierstock gespielt und Kafka den […] Versicherungsangestellten, dem nichts so wichtig ist wie das Wohlwollen des Vorgesetzten. Dieser Impuls lebte auch in Thomas Mann […], das Geheimnis seiner Verstellung war Sachlichkeit.“ 61 Die inszenierten Täuschungen machen zudem eine Verletzlichkeit und Unvollkommenheit sichtbar, indem sie diese durch unechte, oft künstlich übertriebe Show-Effekte überdecken und eine „unsaubere Schnittfläche“62 zeigen zwischen den Wünschen und Ansprüchen, ein anderer zu sein, als man ist, und der Realität, aber auch „zwischen der Hartnäckigkeit des individuellen Lustprinzips und den Beschränkungen des öffentlichen Gesetzes.“ 63

AUTHENTIZITÄT

HYPOSTASIEREN

Eine weitere Strategie, um auf dem literarischen Feld Aufmerksamkeit zu erlangen, ist die unverblümt gezeigte, individuelle Innerlichkeit oder anders gesagt: die – mitunter hypostasierte und tendenziell als übertrieben wahrnehmbare – Authentizität. „Das Authentische definiert im Feld der bloß gemachten oder gar gefälschten Zeichen das diese überschreitende Echte.“64 In dem Begriff Authentizität verschmelzen zwei historisch voneinander getrennte Deutungsmuster – das juristische und das ästhetisch – zu einem in der Moderne moralisch grundierten Gedankengebilde: Zum einen handelt es sich um eine Tradierung von der im juristischen Diskurs des 17. und 18. Jahrhunderts entstandenen Bedeutung, wonach authentisch ist, was unverfälscht, original und empirisch überprüfbar ist. Zum anderen handelt es sich um eine Abstra60 61 62 63 64

Vgl. Adorno, Noten zur Literatur, S. 337 Ebenda, S. 337. Bronfen, Fatale Liebesspiele im Zeichen des Cross-Dressings, S. 157-198, 164 f. Ebenda, S. 165. Andree, Archäologie der Medienwirkung, S. 486 (Herv. i. O.).

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hierung der Ästhetik des 18. und 19. Jahrhunderts, der zufolge das vernunftbegabte Subjekt authentisch ist, wenn es aufrichtig, ehrlich und wahrhaftig handelt. 65 Rousseau sieht Authentizität als Voraussetzung zur Entstehung des moralischen Bewusstseins und eines autonomen menschlichen Seins. Das menschliche Subjekt konstituiere sich, indem es sich in einem authentischen Selbstverhältnis befinde, das metaphorisch als Treue zur eigenen inneren Natur bezeichnet werden könne, dem das Gewissen bereits eingeschrieben sei.66 Charles Taylor definiert das authentische Selbst als Ursprung menschlicher Würde und gegenseitiger Anerkennung. Das Authentische impliziere damit zugleich die Aufforderung, niemanden nachzuahmen, sondern selbst zu sein. „Wenn ich mir nicht treu bleibe“, formuliert Taylor, „verfehle ich den Sinn meines Lebens; mir entgeht, was der Mensch für mich bedeutet. […] Sich selbst treu zu sein, heißt nichts anderes als: der eigenen Originalität treu zu sein, und dieses ist etwas, das nur ich selbst artikulieren und ausfindig machen kann. Indem ich sie artikuliere, definiere ich mich zugleich selbst.“67 In der Selbstinszenierung erlebt die Authentizität sodann eine Überformung. Die Symbiose aus normativen und deskriptivinterpretierenden Bedeutungsdimensionen zeichnet also den heutigen, im 21. Jahrhundert gültigen Authentizitätsbegriff aus und sich verantwortlich für die Herausforderungen, um nicht zu sagen das Dilemma, das dieser mit sich bringt. Denn die Wahrhaftigkeit ist nicht ohne Weiteres empirisch überprüfbar – und was überprüfbar ist, ist nicht zwingend mit moralischen Kategorien greifbar. Dennoch scheint die kulturgeschichtliche Faszination des Begriffs in genau dieser Ambivalenz zu liegen und dem Ziel, diese beiden Deutungsmuster zu vereinen. Die mediale Selbstdarstellung unter dem Aspekt der Authentizität geschieht nun mit einer doppelten Verzerrung. Es ist nicht das authentische Selbst, das sichtbar werden kann, denn dies ist ein innerer Prozess. Das authentische Dasein hingegen ist eine Eigenschaft, die einem Subjekt von außen „zugesprochen werden kann, je nachdem, ob es ihm gelingt, sein ‚wahres Selbst‘, seine tiefsten Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen.“68 Im Vollzug dieser Authentifizierung des authentischen Selbst liegt somit die erste Verzerrung, die unauflöslich mit der Duplizität des menschlichen Wesens (Adorno) sowie der Spaltung in ein Inneres und Äußeres verbunden ist. Und sie birgt Gefahren. Adorno etwa unterstellt den Schriftstellern eine gezielte Instrumentalisierung ihres Inneren zur Erzielung äußerer Effekte: „Wohl haben die Künstler, je mehr sie nach innen gingen, auf den infantilen Spaß an der Nachahmung des Auswendigen verzichten gelernt. Aber zugleich lernten sie vermöge der Reflexion auf die Seele mehr und mehr über sich selbst verfügen. Der Fortschritt ihrer Technik, der ihnen stets größere Freiheit und Unabhängigkeit vom heterogenen brachte, resultierte in einer Art von Verdinglichung, Technifizierung des Inwendigen als solcher, um so weniger muss er „sein“,

65 66 67 68

Karlheinz Barck (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar 2000, S. 40 ff. Vgl. Dieter Sturma: Jean-Jacques Rousseau. München 2001, S. 183 f. Charles Taylor: Das Unbehagen an der Moderne. Frankfurt a. M. 1995, S. 38 f. Beate Rössler: Der Wert des Privaten. Frankfurt a. M. 2001, S. 111.

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was er ausdrückt, und in umso größerem Maße wird das Auszudrückende, ja der Inhalt von Subjektivität selber zu einer bloßen Funktion des Produktionsprozesses.“69

Die zweite Verzerrung der authentischen Selbstdarstellung liegt in ihrer medientechnischen Vermittlung, der medialen Brechung. Die Fähigkeit der Verdinglichung des Inwendigen und der Modifizierung führt zurück zu der Frage, ob eine Inszenierung, die genuin inter- (und nicht intra-)subjektiv und damit in der sichtbaren Welt stattfindet, authentisch und folglich deckungsgleich sein kann mit den inneren Regungen, Empfindungen und Selbstbildern, die der Mensch, gemäß Charles Taylor, von sich entwickelt hat. Die Beantwortung dieser Frage, die an dieser Stelle nur angedeutet werden soll, setzt zunächst die Kenntnis des inneren (Selbst-)Bildes voraus. Wenn die Selbsterkenntnis Voraussetzung der Beurteilung ist, ob man sich als Person authentisch, also mit dem inneren Abbild seiner selbst kongruent darstellt, so bedeutet dies, dass eine Selbstinszenierung einzig von der sich darstellenden Person als authentisch oder nicht-authentisch beurteilt werden könnte, da nur sie den Abgleich mit dem inneren, eigenen Selbst vornehmen kann. Aus der Perspektive des Fremden hingegen wird die Frage der Authentizität einer beobachteten Darstellung nur über den Weg der Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit des Gesagten und Gezeigten zu beantworten sein, die sich an intertextuellen und intervisuellen, also zwischen den getätigten Äußerungen bestehenden Harmonien und Stimmigkeiten bemisst. Mit jeder gesellschaftlichen Interaktion wären damit die Postulate der Glaubwürdigkeit, der Aufrichtigkeit und der Authentizität unauflöslich verbunden. Zur Empfindung von Wahrhaftigkeit und Echtheit bei der Einschätzung einer Person problematisiert Lionel Trilling zwei einander gegenläufige Begriffe: sincerity (Aufrichtigkeit) und authenticity (Authentizität).70 Der Begriff sincerity geht von einer dem Selbst inhärenten Doppelstruktur aus, dem äußeren Erscheinen und dem inneren Sein. Das aufrichtige Verhalten, das der Maxime der sincerity folgt, wird von Trilling definiert als eines, das beide Teile des Selbst – inneres Fühlen und äußeres Zeigen – erfolgreich zur Deckung bringt. „Sincerity implies a split between inner and outer. To be sincere means that one’s outward demeanour or action corresponds to one’s inner feeling or intention.“71

Dem so definierten Begriff der Aufrichtigkeit wohnt jedoch ein mit der Ambivalenz und Dualität von Körper und Geist gegebenes weiteres Basisdilemma inne: „Wir brauchen nicht nur Darstellungskünste, wenn wir verbergen wollen, was wir sind, sondern auch, wenn wir glaubwürdig ausdrücken wollen, was wir wirklich sind oder zu sein glauben.“72 Erika Fischer-Lichte geht noch einen Schritt weiter, wenn sie be-

69 Adorno, Minima Moralia, S. 145 f. 70 Lionel Trilling: Sincerity and Authenticity. Camebridge 1972; in dt. Übersetzung: Das Ende der Aufrichtigkeit. Wien 1982. 71 John Vernon: On Lionel Trilling. Boundary 2, No. 2 u. 3, 1974, S. 625-632. 72 Alois Hahn: Inszenierung von Unabsichtlichkeit. In: Erika Fischer-Lichte (Hrsg.): Theatralität und die Krisen der Repräsentation. Stuttgart, Weimar 2001, S. 177-197, 178.

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hauptet, dass Schein und Simulation allein dazu fähig sind, „Sein, Wahrheit, Authentizität zur Erscheinung zu bringen.“73 Die Maxime des aufrichtig inszenierten Verhaltens von sincerity, bei dem Äußeres und Inneres einander angepasst werden, sei laut Trilling paradigmatisch und historisch durch den Begriff der authenticity abgelöst worden. Authenticity, verstanden als die Verschmelzung der philosophischen gedachten Doppelstruktur, hebt die Spannung des Selbst auf, indem der Begriff das Äußere und das Innere als eine unlösbare, nicht länger getrennt zu denkende Einheit versteht. Das äußere Erscheinen ist dann, im Begriffshorizont des Authentischen, nicht eine möglichst aufrichtige und kognitiv gesteuerte Verdopplung des inneren Kerns, sondern das Ausleben des inneren Kerns, mit dem es absolut identisch ist.74 Authentisch zu sein bedeutet für Trilling: „a […] moral experience […], a wider reference to the universe and man’s place in it, and a less acceptant and genial view of the social circumstances of life.“75

Der Triumph des Prinzips und des Ideals der authenticity ist mittlerweile zum Ausgangspunkt der philosophischen Kritik geworden, die Charles Taylor in seiner Schrift The Ethics of Authenticity76 publizierte. Darin kritisiert Taylor die fehlgeleitete Authentizitätsobsession, die in der drastischen Zunahme eines sich selbst zelebrierenden Individualismus Ausdruck findet. Zentriert sich die Nomenklatur von Trillings Diskussion des Sincerity-Begriffs in auffallender Weise um Stichworte wie role-playing, mask, staging und acting, die allesamt mit dem Themenkomplex der Inszenierung korrelieren,77 so ist es bei Charles Tylor der Authenticity-Begriff, der mittlerweile ebenfalls mit den Implikationen der Inszenierung angereichert wurde. Bezieht man nun die Vorstellung Charles Taylors zur übertriebenen, obsessiv inszenierten Authentizität in die Überlegungen Trillings ein, dann ergibt sich ein weiteres philosophisches Dilemma, dem Eric Bentley einen Aufsatz widmete. Bentley macht darauf aufmerksam, dass es zwar keine Alternative zur ständigen Entäußerung des Selbst gäbe, dass es aber andererseits sehr wohl eine freie und durch Kognition

73 Erika Fischer-Lichte: Theatralität und Inszenierung. In: Dies./Isabel Pflug (Hrsg.): Inszenierung von Authentizität. Tübingen 2000, S. 11-27, 23. 74 Als Beispiel können Sartres Reflexionen dienen: „[…] ich bin traurig. Bin ich diese Traurigkeit, die ich bin, nicht in der Weise, das zu sein, was ich bin? Was ist Traurigkeit denn, wenn nicht intentionale Einheit, die das Insgesamt meiner Verhaltensweisen vereinigt und führt? […] Aber wie soll ich die Traurigkeit von meinem Bewusstsein, traurig zu sein, unterscheiden?“ Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts (1943). Reinbek bei Hamburg 1987, S. 108 f. 75 Lionel Trilling: Sincerity and Authenticity. Camebridge 1972, S. 11. 76 Charles Taylor: The Ethics of Authenticity. Camebridge 1992. 77 An einer nicht unwichtigen Stelle der Untersuchung, ganz am Anfang, erfolgt beispielsweise auch der Verweis auf Shakespeares legendären Satz „all the world’s stage – and all the men and women merely actors“. William Shakespeare (As you like; II) zit. n. Trilling, Sincerity and Authenticity, S. 10.

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kontrollierte Wahl zwischen den zurückgehaltenen und den zu zeigenden Seiten der Persönlichkeit gibt. Für Bentley geht es nicht darum, authenticity in vollem Umfang auszuleben, sondern dies geistig reflektiert und ausschließlich in ausgewählten Situationen zu tun. Schließlich habe der Mensch im Gegensatz zum Tier die Wahl und die Möglichkeit, seine aufrichtigen Gefühlsregungen für sich zu behalten oder nach außen zu kehren, ohne Wahrhaftigkeit einzubüßen. „And this is precisely the positive side of the idea: that we do have a choice, that life does offer us alternatives.”78 Nur in ganz selbstvergessenen Momenten ist der Mensch tatsächlich wahrhaftig und ganz bei sich selbst, wie man es bei Kindern beobachten kann. Roland Barthes beschreibt einen solchen verträumten, selbstvergessenen Moment der authentischen, unverstellten Inszenierungsfreiheit: „Vor kurzem sah ich in einem Café einen jungen Mann, der seine Augen durch den Raum schweifen ließ; ab und zu fiel sein Blick auf mich; in einem solchen Moment hatte ich die Gewissheit, dass er mich ansah, ohne indes sicher zu sein, dass er mich sah […] aberwitziges Phänomen: eine Noesis ohne Noema, ein Denkakt ohne Gedanke.“79

Die Faszination des Authentischen lässt sich gegenwärtig an der Ausstrahlungskraft von Originalen und wahren Geschichten ablesen; ein Reiz, der derart groß ist, dass sich der Mensch zur empathischen Rezeption von Fälschungen hinreißen lässt, die sich als besonders authentische Originale ausweisen wie beispielsweise die Veröffentlichung der fälschlicherweise als authentisch verifizierten Hitler-Tagebücher zeigt: Im mythischen Motiv des gefundenen Manuskripts deklarierte das Nachrichtenmagazin Stern die Hitler-Tagebücher als „Fund“ („Wie Stern-Reporter Gerd Heidemann die Tagebücher fand“80) und verkündete glorreich: „Die Geschichte des Dritten Reiches wird in großen Teilen neu geschrieben werden müssen.“ 81 Bei den Tagebüchern handele es sich um außerordentlich wichtige Akten und Papiere, so die von Heidemann entfaltete Narration, die Hitler seinem Diener Arndt anvertraut hätte, der wiederum in einem Flugzeug saß, das damals abgestürzt sei – die Tagebücher sind also, einem uralten Topos folgend, vom Himmel gefallen. Zu der Verbreitung einer nicht nur in sich kohärenten, sondern auch beglaubigten Geschichte waren umfassende Echtheitsbeteuerungen (wie bei Wilkomirski die Wiedererkennung historischer Orte) und die Authentifizierung der Tagebücher durch Experten notwendig. Im Editorial des Stern las sich dies so: „Der Stern hat mit großer Sorgfalt die Tagebücher prüfen lassen – ein Aufwand, der in der Historikerzunft nicht immer üblich ist. Schriftsachverständige und Zeitgeschichtler machten sich über die Dokumente her. Ihr Urteil ist so einstimmig wie eindeutig. Nach Menschenermessen

78 Eric Bentley: The Life of Drama. New York 1975. Vgl. auch: George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft [1943/1968]. Hrsg. u. mit einer Einleitung v. Charles Morris. Frankfurt a. M. 1998. 79 Barthes, Die helle Kammer, S. 122. 80 O. A.: Wie Sternreporter Gerd Heidemann die Tagebücher fand. In: Stern, Heft 18, 1983. 81 Ebenda, S. 20.

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kann kein Zweifel an der Echtheit bestehen. Stellvertretend für sie alle sei hier das Urteil des englischen Hitler-Experten und Historikers Trevor Roper, heute Lord Dacre, wiedergegeben: Er sei voller Skepsis angereist, um die Dokumente zu prüfen. Nun aber sei er hundertprozentig von ihrer Echtheit überzeugt.“82

Charakteristisch für die Inszenierung der Authentizität ist außerdem die Interaktion von Wort und dokumentarischem Bild. Im Stern werden über insgesamt 28 Seiten Texte und authentische Aufnahmen wirkungsvoll mit der Narration Heidemanns verklammert. Schon das Editorial zeigt ein Foto des schreibenden Hitler. Darunter die Bildunterschrift: „Was bislang niemand wusste: Adolf Hitler führte von 1932 bis zu seinem Tode 1945 Tagebuch.“ Bereits zwei Wochen nach der Veröffentlichung wurden die Tagebücher als Fälschung enttarnt. Die „enorm hohe Bedeutung der Authentizität als Erfolgsfaktor in der Medienlandschaft“83, so Andree in seiner umfangreichen Archäologie der Medienwirkung, sei bis heute ungebrochen. Die Faszination des Reality Effects (Andree) zeige sich auch in der Werbung, in der es darum gehe, das angebotene Produkt als das einzig Wahre – the real thing – zu präsentieren.84 Dass Authentizität ein Erfolgsfaktor ist, zeigt sich nicht zuletzt im inzwischen etablierten Genre des Reality-TV, in dessen Zentrum die Darstellung echter, authentischer Geschehnisse steht.85 „Im Fernsehen bringen Reality-Shows (echt!), Doku-Soaps (echter!) und Big-Brother-Formate (am echtesten!) gigantische Einschaltquoten“86, stellt Schriftstellerin, Journalistin und Literaturkritikerin Juli Zeh fest. Das Grundprinzip der Authentizität kann selbst zur Selbstinszenierungsstrategie werden, wenn die Echtheit und die Wahrhaftigkeit der Ansichten und Gefühle besonders hervorgehoben werden. Coupland spricht von stage authenticity, von insze-

82 O. A.: Editorial. In: Stern, Heft 18, 1983, S. 4 f. (Eine parodistische Aufarbeitung haben diese Ereignisse in dem Spielfilm Schtonk (1992) von Helmut Dietl erfahren, für den Hauptdarsteller Götz George mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet wurde.) 83 Andree, Archäologie der Medienwirkung, S. 494. 84 Dies zeigt sich etwa in der Plakat-, Zeitschriften-, Kino- und Fernseh-Werbung des Konzerns Coca-Cola, der mit dem Slogan „It’s the real thing“ das Alleinstellungsmerkmal seiner Limonade formuliert und von Konkurrenzprodukten abhebt. (Vgl. Miles Orvell: The Real Thing. Imitation an Authenticity in American Culture (1880-1940). Chapel Hill 1989, S. 144.) Es zeigt sich auch in der Alltagskultur: Supermärkte heißen real, Kinofilme verheißen Das wahre Leben, das auch als Untertitel einer Comedy-Serie der ARD, Dittsche. Das wahre Leben, Eingang in die wöchentliche Fernsehunterhaltung gefunden hat. 85 Vgl. Claudia Wegener: Reality TV. Fernsehen zwischen Emotion und Information. Opladen 1994. Sowie: Peter Winterhoff-Spurk: Reality-TV. Formate und Inhalte eines neuen Programms. Saarbrücken 1994. Und: Jörg Melich: Reality-TV. Authentizität und Ästhetik am Beispiel der Sendung „Augenzeugenvideo“. Alfeld 1996. Auch: Marcel Feige: Big Brother-TV. Wie Reality Soaps das Fernsehen verändern. Berlin 2001. 86 Juli Zeh: Zur Hölle mit der Authentizität. In: Die Zeit, 21.09.2006.

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nierter Authentizität.87 P. M. Meyer definiert Authentizität in ihrem Aufsatz Mediale Inszenierung von Authentizität als „Unmittelbarkeit“88; Meyer wie Coupland konzipieren Authentizität somit nicht als einen Zustand, sondern, wie auch zuvor Rössler, als einen Beglaubigungsprozess, als einen performativen Akt. Weitgehend garantielos konstituiert sich stage authenticity dem zufolge durch die Erzeugung von Unmittelbarkeit, Echtheit und der damit verbundenen Evokation von Glaubwürdigkeit. Um Authentizitätswirkungen zu erzielen, sind drei unterschiedliche Inszenierungsstrategien denkbar: erstens, die Strategie der habituellen Authentizität, zweitens, die Strategie der natürlichen Authentizität und, drittens, der radikal-subjektiven Authentizität.

Die habituelle Authentizität Ein für die Selbstinszenierung zu adaptierender Authentizitätsgarant für die habituelle Authentizität kann, gemäß Bourdieu, zu allererst der individuelle Habitus sein, der alle drei von Coupland genannten Wirkungen (Unmittelbarkeit, Echtheit, Glaubwürdigkeit) zuverlässig hervorruft, weil er sich kaum unterdrücken oder ablegen lässt. Wesentlich manifestiert sich der Habitus – und damit die habituelle Authentizität – in einem milieuspezifischen Geschmack. So lasse sich der Habitus einer Gemeinschaft, Klasse89 oder Berufsgruppe bereits aus deren Mobiliar und Kleidungsstil, aus der Vorliebe für bestimmte Musik oder aus der Essenszubereitung ablesen, weil sich in diesen Merkmalen die ihre Auswahl beherrschenden ökonomischen und kulturellen Zwänge objektivierten sowie in diesen vertrauten Dingen glaubwürdig und unmittelbar gegenständliche Gestalt gewinnen. Folglich werden sie als echt und unverfälscht wahrgenommen.90 Ein „besonders interessanter Faktor für die Selbstdarstellung in repräsentativen Situationen“91 sei, gemäß Bourdieu, neben dem plausibel zur Schau gestellten Lebensstil (zu dem auch das Arbeitszimmer eines Schriftstellers zählt), der Geschmack für bestimmte Speisen:

87 Indem Nachrichtensprecher im Fernsehen Glaubwürdigkeit durch ein bestimmtes Mischungsverhältnis zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, zwischen Intimität und Distanz erzeugten, versuchen sie gezielt und zumeist erfolgreich, Inauthentizitätseffekte zu vermeiden. Vgl. ausführlich: Nikolas Coupland: Stylization, Authenticity and TV- News Review. In: Discourse Studies 3, 04/2001, S. 413-442. 88 Petra Maria Meyer: Mediale Inszenierung von Authentizität und ihre Dekonstruktion im theatralen Spiel mit Spiegeln. In: Erika Fischer-Lichte (Hrsg.): Inszenierung von Authentizität. Tübingen 2000, S. 71-91. 89 Eine soziale Klasse, wie Bourdieu sie im Sinn hatte, sei weder definiert durch ein einziges dominantes Merkmal noch durch die Summe von Merkmalen, sondern vielmehr durch die spezifische Struktur der Beziehungen zwischen den einzelnen Merkmalen (auch der Nutzung von Gegenständen etc.), die Kombination und der durch diese erzeugte Wirkung im sozialen Raum (vgl. Bourdieu: Die feinen Unterschiede, S. 182). 90 Bourdieu, Die feinen Unterschiede, 136 f. u. 282 f. 91 Ebenda, S. 141.

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„Sicherlich bildet der Stil der Speisen, die man gerne auf den Tisch stellt, ein sehr aufschlussreiches Indiz für das Bild, das man den anderen vermitteln oder gerade verbergen möchte, und ist von daher ein systematischer Ausdruck eines Faktorensystems, das neben den Indikatoren für die eingenommene Stellung innerhalb der ökonomischen und kulturellen Hierarchie auch den Werdegang in wirtschaftlicher, sozialer, kultureller Hinsicht umfasst.“92

In der Art und Weise der Essenzubereitung und Speisenvorliebe offenbare sich die gesamte alltagsphilosophische Dialektik des Lebens. „Ausgehend von der Opposition von Form und Substanz ließen sich alle übrigen Gegensätze zwischen den beiden antagonistischen Arten der Behandlung der Nahrung und des Essens aufrollen: hier das Nahrungsmittel als sättigender Stoff, der „vorhält“ und Kraft spendet […], dort lässt die Form (z. B. des Körpers) und den „Formen“ eingeräumte Vorrangigkeit das Interesse an Kraft und Substanz zweitrangig werden und wahre Freiheit in der selbst gewählten Askese finden.“93

Vermutlich ist es nicht ganz falsch, wenn man in Günter Grass’ (zumeist von ihm selbst erwähnten) Kochkünsten – auch den fiktionalisierten („Ilsebil salzte nach. Bevor gezeugt wurde, gab es Hammelschulter zu Bohnen und Birnen.“94) – eine gewisse Analogie entdeckt zu seinen steten Heroisierungen des einfachen Bürgers, als der auch er immer gelten wollte.95

Abbildung 30: Günter Grass, „kocht gern“ – selbst stilisierte Vita (l.)96, Foto (r.) 97

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Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 141. Ebenda, S. 321 Günter Grass: Der Butt. Roman. Darmstadt 1977, S. 9. Der Titel einer Biografie spielt mit diesem Motiv: „Bürger Grass“ von Michael Jürgs, München 2002. 96 Günter Grass: Kurzvita. Entnommen aus: Claudia Mayer-Iswandy: Günter Grass. München 2002, S. 14.

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In den deftigen Speisen reflektierten sich Weltsichten; nahrhafte Speisen, besonders die, die mit dem Löffel oder der Schöpfkelle serviert werden, um nicht den Eindruck aufkommen zu lassen, man müsse streng bemessen, symbolisieren den Mythos des Authentischen, Wirklichen im Gegensatz zu allem bloß Scheinhaften: „[…] es ist die Realität gegenüber dem Glamour, allem Nachgemachten, aller Augenwischerei; es ist die kleine Kneipe an der Ecke, die mir ihren Marmortischen und Papiertischtüchern zwar nicht gerade besticht, wo man aber für sein Geld etwas Anständiges bekommt und nicht wie in den hochgestochenen Restaurants mit Worten abgespeist wird; das ist Sein gegen den Schein, die Natur, das Natürliche, Einfache und Schlichte (‚ohne Umstände’, ‚ungezwungen’) gegen das Gedruckste und Gezierte, gegen das Förmliche und Manierierte, das allemal im Verdacht steht, bloßer Ersatz für Substanz zu sein.“98

Diesem Eindruck von Fülle und Übermaß, das besonders Männer schätzten, stehe die Selbstbeschränkung der Frauen gegenüber, die sich zu zweit ein Stück teilen oder die Reste vom Vortag essen. Sich kochend und aus dem Suppentopf schöpfend zu zeigen, hilft Grass, sich in der Öffentlichkeit als wahrhaftiger Mann zu inszenieren und den Mythos des einfachen Bürgers zu verbreiten. In seiner Biografie übernimmt nicht Grass, sondern sein Biograf Michael Jürgs die Inszenierung für ihn. Nicht nur, dass Jürgs das Kochen als Handwerk idealisiert, bei dem man es zur Meisterschaft bringen kann, die natürlich dem Dichter (ein Euphemismus) gelungen ist, auch wird die meisterhafte Kochkunst als eine aus der Not geborene milieuspezifisch verortet und sogleich unwiderruflich in Grass’ Habitus verankert (das Kochen ist von dem bestimmt, was man sich leisten kann): „Der Dichter kocht […]. Abgeschaut hat er das Handwerk des Kochens seiner Mutter in Danzig. In eigenen und eigenwilligen Rezepten wird er es zur Meisterschaft bringen, von Gästen des Hauses Grass dann als Maître ihrer Plaisirs gerühmt. Hier in Paris ist Kochkunst aus der Not geboren, von dem bestimmt, was man sich leisten kann, und dadurch aufs Einfachste beschränkt.“99

Indem Jürgs Grass’ Lage (aufs Einfachste beschränkt) im Superlativ und mit sich dem Inhalt anpassenden sprachlichen Simplifizierungen (aufs Einfachste) romantisiert, wirkt Grass’ Leistung (vom Einfachsten zum Maître ihrer Plaisirs) umso erstaunlicher. Der Habitus ist auch hier Erzeugungsprinzip von Praxisformen und Repräsentationen. Der Geschmack der eigenen und eigenwilligen Rezepte ist „amor fati, Wahl des Schicksals, freilich eine unfreiwillige, durch Lebensumstände geschaffe-

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Fotografie von Günter Grass. Entnommen aus: Michael Jürgs: Bürger Grass. Biografie eines deutschen Dichters. München 2002, S. 108. Dort trägt es den Untertitel: „Meister Grass in der Küche. Freunde rühmen vor allem seine Pilz- und Fischsuppen.“ Fotografiert von Renate von Mangoldt, Literarisches Colloquium, Berlin.

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Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 321.

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Jürgs, Bürger Grass, S. 107.

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ne.“100 Indem Jürgs die Konditionierung nicht unterschlägt, sondern unterstreicht und die daraus sich entfaltende Kunstfertigkeit idealisiert, wird der aus unfreier Wahl geborene Geschmack als gewollt und das Auftischen eben jener Speisen als meisterhaft und erstrebenswert stilisiert. Auch im habituell bedingten Kochen reflektiert sich so, als Habitus getarnt, ein Teil des charismatischen Mythos. Dieser wird von Grass durch eine zweite Bedeutungsfacette angereichert, denn er assoziiert mit seinen Speisen eine Potenz bringende Kraft; im Butt heißt es beispielsweise: „Er hat wohl, vor Hammel mit Birnen und Bohnen, Ilsebills Fischsuppe, aus dem Sud bis zum Zerfall gekochter Dorschköpfe gewonnen, jene fördernde Kraft gehabt, mit der die Köchinnen in mir, wann immer sie zeitweilten, zum Wochenbett einluden; denn es klappte, schlug an, aus Zufall, mit Absicht und ohne weitere Zutat. Kaum war ich – wie ausgestoßen – wieder draußen, sagte Ilsebill ohne grundsätzlichen Zweifel: ‚Na, diesmal wird es ein Junge.’ Das Bohnenkraut nicht vergessen. Mit Salzkartoffeln oder historisch mit Hirse. […] In der Fischsuppe, die Ilsebill mit Kapern gemacht hatte, schwammen Dorschaugen weiß und bedeuteten Glück.“101

Die Kochkunst vermengt sich mit der Liebeskunst, aus deren Symbiose jene fördernde Kraft hervorgeht, die Glück bedeutet – denn es klappte. Möglicherweise sensibilisiert der Mythos des sich – aus Zufall, mit Absicht – ein Süppchen zusammen brauenden Grass auch dafür, dass die „Künstler und Ästheten und deren Ringen um das Monopol künstlerischer Legitimität so unschuldig nicht sind, wie sie sich geben“, so Bourdieu: „[…] keine Auseinandersetzung […], bei der es nicht auch um die Durchsetzung eines Lebensstiles ginge, will heißen die Umwandlung einer willkürlichen Lebensform in eine legitime, die jede andere Form in die Sphäre der Willkürlichkeit verbannt.“102

Grass stage authenticity wirkt echt, weil er und sein Biograf sie habituell begründen und damit (wie auch Jelinek) als naturwüchsig und alternativlos erscheinen lassen. Dass es sich bei dem Eintopf kochenden Bürger nur um eine hypostasierte, stilisierte Authentizität handelt und nur um eine herausgegriffene Eigenschaft Grass’, zu denen auch weniger bodenständige gehören, wird hier von Jürgs biografisch-mythologisch überdeckt. Stattdessen werden die auserwählten Eigenschaften publikumswirksam fotografisch und literarisch untermauert.

Die natürliche Authentizität Sich der Mechanismen der visuellen Narration bedienend, verstand auch Peter Handke es seit jeher, sich von zivilisatorischem Zierrat zu befreien. Durch eine mit Hilfe von Selbstinszenierungen in der Natur implimentierten Authentizität erscheint er als

100 Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 290. 101 Grass, Der Butt, S. 10. 102 Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 106.

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individualauthentisch, als wahrhaftig und als echter Naturbursche. Wenn Handke am Fuße eines über Jahrzehnte gewachsenen, mächtigen Baumstammes sitzt, ein anderes Mal Früchte erntet, im klaren Wasser schwimmt oder im Freien liest, wird dieser fiktionalisierte, instrumentalisierte Naturzustand zu seiner Alterität und, verstärkt durch ein dadurch evoziertes gefühlsbedingtes Existenzbewusstsein, zum Symbol für seine unverfälschte und damit auch moralisch integre Natur.

„Wir sind so gerne in der freien Natur, weil diese keine Meinung über uns hat.“ FRIEDRICH NIETZSCHE

Abbildung 31: Handke: im Wald (o. l.), im Garten (o. r.), im Wasser (u. l.), lesend vor bewaldeten Hügeln (u. r.) Handke ist vielleicht nicht „Messias der Natur“, wie Novalis 1789 den sich selbst und die Natur offenbarenden Künstler beschrieb, doch sein Authentizitätskonzept ist mit einem romantischen Subjektivitätsbegriff durchaus kompatibel. Es entspricht dem von Wetzel herausgearbeiteten Authentizitätsbegriff,103 der sich aus dem Erleben eines göttlichen Naturzustandes (Romantik) und einem subjektiven Sein (Moderne) konstituiert. Die ideale Authentizität entsteht hier durch eine genuin anmutende Konstellation von Objekt (Natur) und Subjekt (Handke). Damit wird die natürliche Authentizität, die auf der Verknüpfung von Naturzustand und Menschsein basiert, bei Handke zu einem Schlüsselbegriff der Selbststilisierung, in der sich ein anthropologisches Grundbedürfnis ebenso artikuliert wie sie einen metaphysisch erfahrbaren Weltzusammenhang voraussetzt.

103 Michael Klaus Wetzel: Autonomie und Authentizität. Untersuchungen zur Konstitution und Konfiguration von Subjektivität. Frankfurt a. M. 1985.

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Das romantische Subjekt entwirft Charles Taylor als ein durch Empfindungen und Stimmungen getragenes: „Diese Stimmung rührt her von der Wiedergewinnung der erlebten Erfahrung oder schöpferischen Tätigkeit, die unserem Bewusstsein der Welt zugrunde liegt und von der vorherrschenden mechanistischen Deutung ausgeschlossen oder denaturiert worden war.“104 Diese Wiedergewinnung wird als Befreiung von den utilitaristischen Zwängen empfunden, denn „durch die Anerkennung des Seins kann die Erfahrung lebhafter und die Tätigkeit ungehemmter werden, und es wird möglich, daß sich in unserer Haltung zur Welt Alternativen auftun, die vorher ganz verborgen waren.“ 105 Im Gespräch mit Herbert Gamper bestärkt Handke den authentischen Mythos (ohne ihn explizit zu nennen) und das durch den natürlichen Zustand an einem natürlichen Ort wiedergewonnene Erleben: „die Gelassenheit, […] da kann man – was eigentlich der schönste Zustand ist – durch die Ruhe alles wieder sehen; man sieht dann einfach das, was einem Antwort gibt“106 – in der Natur, jenseits der künstlich erschaffenen Zeichenwelt.107

Die radikal-subjektive Authentizität Eine Authentizitätsinszenierung anderer Art, die einer existenzphilosophischen – im Sinne Kierkegaards: unverfälschten, unverstellten, augenblickshaften108 – Darstellung des authentischen Moments109 gleich kommt, gab exemplarisch Charles Bu-

104 Taylor, Quellen des Selbst, S. 796 105 Ebenda, S. 796. 106 Peter Handke im Gespräch mit Herbert Gamper. In: Herbert Gamper (Hrsg.): Peter Handke. Aber ich lebe von den Zwischenräumen. Frankfurt a. M. 199, S. 23. 107 Handke: „Diese Zeichenwelt, es muß ja nicht nur die Reklamewelt sein, tut mir weh“; und fährt fort, die Sensibilität verbal in schöpferische Kraft verwandelnd: „– es sei denn, ich finde selber meine Zeichen, also ich entdecke an einem unschuldigen Gegenstand, an einem urwüchsigen, naturwüchsigen Gegenstand das Zeichen, das diesen sozusagen über sich selber hinaus gelten lässt.“ (Ebenda, S. 24 f.). Bei Hulme, auf den sich Charles Taylor bei der Erkundung des romantischen Subjekts bezog, heißt es über die Verschmelzung von Geist und Natur: „Ich wurde von einem Alptraum erlöst, der seit langem mein Gemüt beunruhigt hatte.“ Das war „ein geradezu physisches Gefühl der Erleichterung, eine plötzliche Steigerung, eine geistige Explosion.“ (Thomas Ernest Hulme: Notes on Bergson. In: Sam Hynes (Hrsg.): Further Speculations. Minneapolis 1995, S. 47. Hier übersetzt v. Charles Taylor: Taylor, Quellen des Selbst, S. 796.) 108 Vgl. Søren Kierkegaard: Entweder – Oder (1843). Bd. 1. Hrsg. v. H. Diem. München 1975, 117 ff. 109 Vgl. Hans-Otto Hügel: Die Darstellung des authentischen Moments. In: Ders./Jan Berg/Hajo Kurzenberger (Hrsg.): Authentizität als Darstellung. Hildesheim 1977, S. 44 f.

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kowski. Der 22. September 1978 war einer dieser Abende, an dem „der Schriftsteller keine besondere Lust [hatte], im Fernsehen aufzutreten.“110 Minkmar schreibt: „Schon der Gang in die Maske war ihm zuwider, [ebenso] die Vorstellung, dass auf seine lebenslange Akne noch mehr Schminke kommen sollte. Die beiden Flaschen Weißwein kamen da gerade recht […]. Im Studio saßen schon einige Kollegen, sie kamen ihm übermäßig belesen, eitel und sehr kühl vor.“111

Während die Apostrophes-Sendung voranschritt, genoss Charles Bukowski den ausgeschenkten Alkohol und bereicherte die Diskussionsrunde mit tendenziell am Thema der intellektuellen Gesprächsrunde vorbeiführenden Bemerkungen, die vor allem den Rock der neben ihm sitzenden Schriftstellerin Catherine Paysan betrafen. Bukowskis Ansicht nach war er viel zu lang, sie solle sich doch zukünftig ruhig etwas freizügiger kleiden, empfahl er. Dafür benutzte er obszöne Worte. Ein paar Ratschläge später verließ Charles Bukowski die Runde, jedoch nicht ohne das Equipment gründlich zu demolieren. Selbst ein in unklarer Absicht von Bukowski gezücktes Messer will man aufblitzen gesehen haben.112 „Die Apostrophes-Sendung mit Charles Bukowski […] ging in die Fernsehgeschichte ein und bildet vielleicht den brisantesten Moment der Begegnung von Literatur und Fernsehen.“ 113 Bukowskis hypostasierte Authentizität korreliert mit dem Authentizitätskonzept Søren Kierkegaards. In seinem Authentizitätsentwurf – jenseits aller romantischen Natur – geht Kierkegard von einem singulären Individuum aus, das stets latent von seinen Gefühlen bewegt wird und vor dem Hintergrund der jeweils irreduziblen, nicht verallgemeinerungsfähigen subjektiven Innerlichkeit handelt. Die radikal-subjektive Authentizität, die Bukowski zelebriert, ist nichts weniger als das Lebens-Wagnis, das er eingeht, um sein Leben nicht zu verfehlen, wenngleich Bukowski bereit ist, öffentliche Verfehlungen für dieses Wagnis in Kauf zu nehmen. Karl Jaspers attestiert jedem Menschen einen „Willen zur Echtheit“, wobei er zugleich die Prozesshaftigkeit dieses Unterfangens zu bedenken gibt: „Das Echte ist nicht da, sondern es ist Idee, Richtung.“ Jenseits von metaphysischen und religiösdogmatischen Sicherheiten hat der Einzelne, wie Bukowski, in permanenter Auseinandersetzung mit den ihn umgebenden Umständen (auch dem Nihilismus) seine Form der risikobehafteten Existenzherstellung zu betreiben. Das AuthentizitätsMotto lautet für Jaspers: „Der Mensch will wahrhaftig sein, will wirklich, will echt sein“.114 Diese Lebensechtheit als ureigene Form und als Öffentlichkeitsprinzip zeigt auch Harry Rowohlt bei seinen Lesungen. Zum Zwecke der Erzeugung von Lebens-

110 Vgl. Nils Minkmar: Vom Reiz der Hautrötung. Bücher sind das beste Fernsehen (gewesen). In: Kursbuch 2003, Heft 153: Ina Hartwig/Tilman Spengler (Hrsg.): Literatur. Betrieb und Passion. Berlin 2003, S. 21-27. 111 Minkmar, Vom Reiz der Hautrötung, S. 21.

112 Vgl. Minkmar, Vom Reiz der Hautrötung, S. 21. 113 Ebenda, S. 21. 114 Vgl. Karl Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen (1919). Berlin, Heidelberg 1971, S. 35 f.

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echtheit trinkt er während seiner Lesungen (die zumeist etwa drei bis vier Stunden dauern) – kein Wasser, sondern Whiskey: „Ich habe von Anfang an versucht, das zu vermeiden, das mich an anderen Dichterlesungen stört: dass eine Doppelnamentussi vierzig Minuten lang Gedichte liest, die sich nicht reimen, und dazu Mineralwasser trinkt, das nicht sprudelt, und danach ist Diskussion. […] Wenn man mich zu Lesungen bucht, bin ich immer blitznüchtern, weil ich der Meinung bin, dass das Publikum ein Anrecht darauf hat, mitzuerleben, wie der Referent sich zugrunde richtet. Ich fang allerdings immer spät mit dem Trinken an. Ich verachte Kollegen, die bereits breit wie ein Schützenkönig erscheinen. Das ist Beschiss am Publikum.“115

Die inszenierte Echtheit entsteht hier durch die von Jaspers herausgestellte Prozesshaftigkeit des Authentischen und die Tatsache, dass Harry Rowohlt sein Publikum miterleben lässt, wie er sich zugrunde richtet. Eine andere Form der radikalen Authentizität, der Selbstpreisgabe und eines besonderen Lebenswagnis jenseits aller Vernunft brachte als cholerischer Ausnahmekünstler idealtypisch auch Klaus Kinski zur Anschauung. Jesus Christus Erlöser heißt der Film, in dem Kinskis Nachlassverwalter den gleichnamigen gesellschaftlichen Rezitationsabend aus dem Jahr 1971 erneut aufleben lässt: Kinski steht auf der Bühne der Berliner Deutschlandhalle, den Blick in erhabenem Wahnsinn auf die fünftausend Zuschauer im Parkett gerichtet. Und er wütet. Als zorniger, antiinstitutioneller Aufrührer wollte Kinski Jesus Christus darstellen, doch er wird vom Publikum unterbrochen. Kinski maße sich zu Unrecht an, Jesus Christus zu sein! Einer der Zuschauer kommt auf die Bühne geklettert und sagt, Jesus sei ein duldsamer Charakter gewesen. Kinski staucht ihn zusammen. Jesus habe Störenfriede mit einer Peitsche traktiert und ihnen in die Fresse gehauen. Ja, das habe er gemacht. „Du dumme Sau!“, schreit Kinski. Eine derart fiebrige, hitzige Veranstaltung scheint im 21. Jahrhundert nahezu befremdlich, aus zweierlei Gründen. Zum einen, weil Kinski, der auf der Bühne zwar cholerisch, aber ohne Fassade und Selbstschutz steht, jegliche Distanz zwischen seiner Person und der Rolle nivelliert. Und zum anderen, weil die Zuschauer die Perspektive Kinskis unreflektiert übernehmen, sie für wahr halten. Wie ein Kind, das emotional in das Geschehen eines Kasperle-Theaters involviert ist, fern von Zeit und Raum, betrachteten auch die Zuschauer Kinskis Stück nicht als Schauspiel, sondern als authentischen (Debatten-)Beitrag. Zum Skandal konnte es also nur kommen, weil die Inszenierung durch den Authentizitätsgestus nachhaltig verstörte und die affirmative Rezeption initialisierte. Kinskis Authentizität, in der das öffentliche Unbehagen an der Zivilisation in einem explodierenden Authentizitätsgestus rasend zum Ausdruck kommt, kann heute vielleicht als Teil einer verlorenen kulturellen Praxis gelten. „Im Prozess der Zivilisation werden beharrlich Fremdzwänge in Selbstdisziplin umgewandelt, man legt sich

115 Harry Rowohlt, in: Thomas Böhm (Hrsg.): Auf kurze Distanz. Die Autorenlesung: OTöne, Geschichten, Ideen. Arnheim 2003, S. 165 f.

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in der Moderne eine ‚psychische Zwangsapparatur’ an.“116 Einzig dem Authentiker obliege es heute, so Soboczynski, „die Zurichtungen und Einengungen, das alltägliche Sich-Zusammenreißen zu markieren und für einen Moment zu unterwandern.“ 117 Kinski bündelte die kollektive Unzufriedenheit aufgrund der Affektdämpfung, indem er auf Basis von Nichtigkeiten, einer kleinen hässlichen Bemerkung etwa, vollends die Fassung verlor. Modellhaft gedacht kommt es dabei nicht auf den Inhalt des im Prozess dieser radikalen Wahrhaftigkeit Gesagten an, ausschlaggebend ist vielmehr die Vehemenz, mit der das Gesagte vorgetragen wird, die Überzeugung und kämpferische Echtheit des Redners und damit die Subversion des diplomatischen, leidenschaftslosen und wohl temperierten Verhaltensideals. Nicht jedes Erscheinen des radikal-authentischen Authentikers wird gelingen und auf wohlwollende Resonanz stoßen. Das Gelingen ist sogar unwahrscheinlich. Aber gerade in der Variante des Misslingens einer radikal-authentischen Inszenierung haben sich öffentliche Figuren tief in das kulturelle Bewusstsein eingeschrieben.118 Der Anthropologe Helmuth Plessner hat ausgeführt, dass jeder Mensch an einem Punkt die Karikatur seiner selbst wird, dass das Innere, das man zur Sprache bringen möchte, an den Grenzen des Körpers und seiner Ausdrucksmöglichkeiten bisweilen zerschellt. In dem Moment jedoch, in dem die authentische Selbstdarstellung zur Karikatur wird, weist sie über sich selbst hinaus und hinein in den für die intellektuelle Selbstdarstellung nicht minder relevanten Bereich der Komödie sowie der mitunter unfreiwilligen, dann wieder gezielt provozierten, immer aber facettenreichen Ironie.

I RONISIEREN Der Schriftsteller kann den Umständen des literarischen Marktes mit vollem Ernst entgegentreten (und daran möglicherweise, zumindest temporär, zerbrechen). Er kann sie aber auch voll Heiterkeit von oben betrachten oder versuchen, sich ihnen völlig zu entziehen. Und er kann ihnen gegenüber bewusst seine ganze geistige Überlegenheit zur Schau stellen, um mit den Gegebenheiten und dem öffentlichen Interes-

116 Norbert Elias: Die Gesellschaft der Individuen (1939). Hier zit. n. Adam Soboczynski: „Du dumme Sau!“ In: Die Zeit, 05.06.2008, S. 47. 117 Vgl. Adam Soboczynski: „Du dumme Sau!“ In: Die Zeit, 05.06.2008, S. 47. 118 Außerhalb des literarischen Feldes hat der Fußballtrainer Giovanni Trapattoni eindrucksvoll bewiesen, wie ein authentischer Auftritt Geschichte schreiben kann. Das Ereignis ist bekannt: Der ehemalige Trainer des FC Bayern München beschimpfte auf einer Pressekonferenz die eigenen Spieler („In diese Spiel, es waren zwei, drei oder vier Spieler, die waren schwach wie Flasche leer!“), ehe er mit dem legendären Satz „Ich habe fertig!“ feierlich und nicht frei von Stolz den Raum verließ. Auch im Literaturbetrieb regt sich heutzutage ab und an ein Einzelner öffentlich auf. Dabei haftet ihm jedoch stets etwas Tragikomisches an. Ernst nimmt man derlei Gefühlsausbrüche nur zu selten. Zu leicht scheint es doch, sich besonnen über derlei Rage zu erheben.

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se leichtfüßig, ironisch zu spielen. Eine ironische Haltung ermöglicht es dem Schriftsteller, eine besondere Stellung auf dem literarischen Feld zu markieren und das Beherrschen des Spiels einzig durch den Geist zu demonstrieren. In der einfachsten seiner verschiedenen Bedeutungen umschreibt Ironie den Sachverhalt, etwas zu sagen und etwas leicht anderes zu meinen – nicht um zu täuschen oder zu spotten, sondern um ein Missverhältnis zwischen dem Sprechenden und dem, mit dem er oder dem, worüber er spricht (oder sogar zwischen der eigenen Rede und sich selbst) zu signalisieren. Die Ironie unterscheidet sich nach Weinrich von der Lüge durch das Ironie-Signal: „Man verstellt sich, gewiss, aber man zeigt auch, dass man sich verstellt.“119 Ähnlich wie Weinrich sieht Lapp die Ironie als Simulation zweiter Stufe: „Der ironische Sprecher muss voraussetzen, dass der Hörer in der Lage ist, seine wahre propositionale Einstellung zu erkennen. Die Ironie ist also keine echte oder wirkliche Lüge, sondern eine simulierte Lüge. Meine These zur Unterscheidung von Ironie und Lüge lautet“, so Lapp: „Die Lüge ist eine Simulation der Aufrichtigkeit; die Ironie ist eine Simulation der Unaufrichtigkeit.“ 120 Dieses Bekunden der Verstellung ist zeichenhaft, es existiert in unterschiedlichen, auch paraverbalen Zeichenvariationen: Das mag ein Augenzwinkern sein, ein Räuspern, eine emphatische Stimme oder eine besondere Intonation, in gedruckten Texten wird auf Kursivschrift oder Anführungszeichen zurückgegriffen. Diese stilistisch angelegte Katalogisierung lässt sich kommunikationstheoretisch erweitern, dann ist das IronieSignal ein Sprachzeichen innerhalb eines Sprechaktes, das diesen begleitet und dessen Bedeutung modifiziert: „Es ist von solcher Art, dass es sowohl vernommen als auch überhört werden kann. Es gehört nämlich einem Code zu, der nicht mit dem allgemeinen Code der Grammatik identisch ist und an dem nur diejenigen Anteilhaben, die Witz haben.“121 Der produktive Beitrag des Interpreten gehört bei der Ironie auf eine unaufhebbare Weise zum Sinn des Verstehens dazu. Wilhelm Genazino beschreibt die der Ironie zugrunde liegende, auch auf der Entfremdung basierende Kraft als „komische Kompetenz“122, die aus der Geschichtlichkeit unserer Erfahrung hervorgeht. „Ihr Grundelement lautet: Wir sind genauso mangelhaft laboriert wie die Welt, in der zurechtzukommen uns aufgegeben ist. Künftig werden wir immer öfter auf innere Lachreize stoßen, wenn wir unsere Vorstellung dabei erwischen, dass sie sich zu romantische oder glatte oder sonst wie gefälschte Bilder von etwas gemacht hat und wir auf diese Bilder wieder einmal hereingefallen sind.“123

119 Harald Weinrich: Linguistik der Lüge. Heidelberg 1966, S. 60. 120 Edgar Lapp: Linguistik der Ironie. Tübingen 1992; 146. 121 Weinrich, Linguistik der Lüge, S. 63. 122 Wilhelm Genazino: Über das Komische. Der außengeleitete Humor. Paderborn 1998, S. 13. 123 Ebenda, S. 13.

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Die komische Empfindung124 („Wir fühlen, dass wir nicht ganz passend sind“125) helfe dem Schriftsteller, die Differenz zwischen gewünschter Anschmiegung und verfehlter Anpassung auch bei anderen zu bemerken (zum Beispiel Peter Handke: „Der Mann, wohlfrisiert, der sich beim Anblick von mir Zerzaustem unwillkürlich über den Kopf strich“ (GW, 149)). Diese Erkenntnis der verfehlten Anpassung lässt sich als (Über-)Lebens- und Inszenierungsstrategie entwickeln. So ist die ironische Haltung vielleicht sogar die feinste und höchste Form der intellektuellen Selbstdarstellung. Sie begegnet uns sprachlich in zwei grundlegenden Varianten: als Einzelwort, also als Wort-Ironie (tropus), und als den ganzen (Kon-)Text betreffend, als Gedanken-Ironie (figura). Als einzelner tropus lässt sich die Ironie aus ihrer ernst gemeinten Umgebung leicht herauslösen, wie der folgende Dialog zwischen Thomas Bernhard und seiner Tante veranschaulicht, der während eines ursprünglich geplanten Einzel-Interviews mit dem Schriftsteller Thomas Bernhard von André Müller aufgezeichnet wurde: Tante: „Woher kommt bei Dir dieses ‚Wurscht’? Das ärgert mich furchtbar. Abgesehen davon, dass ich nicht gerne Würste esse, hasse ich diese Redewendung. Vielleicht stört es mich rein akustisch. Was soll es bedeuten?“ Bernhard: „[…]“ Tante: „Ich gehe.“ Bernhard: „Wohin?“ Tante: „In die Küche.“ Bernhard: „Kirche?“ Tante: „Nein, das ist mir zu weit.“

Die Ironie kommt einerseits durch die Ähnlichkeit der Wörter Küche und Kirche zustande, die vermuten lässt, dass Bernhard annimmt, seine Tante könnte aus Protest (das ärgert mich) mit der Absicht aufgestanden sein, in die Kirche zu gehen, um dort Linderung des Ärgers über Würste zu erfahren. Andererseits erweitert sich der tropus zur figura, sobald man den Blickwinkel auf die gesamte Struktur des Dialoges öffnet; dann ist nicht länger das Einzelwort Kirche für die Ironie verantwortlich, sondern – inhaltlich weiter gefasst – die Torpedierung der Idee des Neffen. Die Torpedierung erfolgt jedoch nicht, indem die Tante das ihr unterstellte Vorhaben mit dem Verweis auf Abwegigkeit beantwortet, sondern indem sie mit dem pragmatischen Hinweis pariert, die Kirche sei ihr zu weit.

124 Definition der komischen Empfindung (Genazino): „Die komische Empfindung entsteht, wenn wir ausdrücken wollen, dass sich etwas, worin wir einmal einen Sinn vermutet haben, als nicht sinnvoll erwiesen hat. Wir lachen über eine Null-Erfahrung, die wir aus unserer Biografie nicht tilgen können, im Gegenteil, an die wir immer wieder erinnert werden, meistens sogar unfreiwillig – und von der wir uns nur durch ein knappes Lachen distanzieren können, das uns momentweise zu entschädigen scheint.“ (Genazino, Über das Komische, S. 12.) 125 Genazino, Über das Komische, S. 13.

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Möglichkeiten der ironischen Haltung sprachlich Gestalt zu verleihen, finden sich viele. Voraussetzung dabei ist eine präzise gegliederte Sprache. Denkbar und üblich ist die ganz beiläufige Zusammenstellung ein wenig blamabler oder unpassender Gegensätze (Oxymoron-Effekt126, z. B. Woody Allen: „Das Essen ist hier ungenießbar und die Portionen sind so klein!“), die Anspielung, die stilistische Untertreibung, die Diskrepanz zwischen der Erlebnisintensität des Dargestellten und der Ausdrucksintensität der Darstellung (kafkaeske Ironie 127) oder die satirische Übertreibung. Eine artifizielle, ironische Konstruktion der Aussage liegt mit der kurzen Stellungnahme Jelineks zur Gender-Debatte vor: „Das eigentliche Wunder für mich bleibt […], dass Frauen ihre Männer so selten beim Frühstück mit der Axt erschlagen.“128

Elfriede Jelinek durchsetzt ihre Aussage keineswegs mit eindeutigen Ironie-Signalen. Sie beginnt stattdessen ein imaginäres Spiel mit den Erwartungen des Zuhörers, das seine ironische Kraft aus der Überschreitung einer Grenze zieht: der Grenze zwischen der realen Wirklichkeit (Frauen und Männer beim Frühstück) und der fiktiven Sub-Realität der Aussage (mit der Axt). Diese Vertauschung der fiktionalen und der faktischen Ebene erfüllt den Tatbestand der ironischen Parabase, des ironischen „Daneben-Tretens“, die erzähltechnisch durch die Gedanken-Ironie realisiert wird. In dieser Erscheinungsform der figura steht die Ironie deutlich im Dienste der dekonstruierenden Ironie Jelineks, also einer Ironie, die ständig das Reale mit dem Unmöglichen konfrontiert und die dabei dialektisch in der Dekonstruktion des Existenziellen (das Wunder des friedlichen Ehelebens) das Potenzielle (die Zerstörung der Idylle) diskursiv konstruiert. Jelineks Ausdrucksform, die die Verfestigung der Wirklichkeit ironisch aufbricht, um mögliche Gegenverläufe in den Köpfen der Zuhörer zu erschaffen, ist die Anspielung. In diesem Referenzrahmen ist Jelinek allwissend, wobei die ironische Brechung exakt dadurch zustande kommt, dass dieses Wissen und das angebliche Staunen (ein Wunder) dem Wissen der Mehrheit diametral entgegen stehen. Die Ironie erschöpft sich somit nicht in den klassischen Ironie-Signalen (die auf der tropus-Ebene kaum vorhanden sind), sondern in ihrer tieferen Bedeutung, jener fundamentalen, Sinnfragen aufgreifenden und reflektierenden Partikularisierung in der figura. Jelinek tut dies mit souveräner Gelassenheit, wenngleich sie dem Rezipienten eine unschuldige Solidarisierung mit den erwähnten Personen, Männern wie Frauen, verweigert und genau dadurch eine distanzierte, ironische Perspektivierung erzeugt. Die ironische figura, die Gedanken-Ironie, in selbstironischer Distanz nutzend, stilisiert sich beispielsweise auch Ernst Jandl in seinen Gedichten. Unter dem Titel selbstporträt, 18. juli 1980 referiert Jandl penible Informationen über das Trinkverhalten eines er. Bei diesen spärlichen Angaben über das Selbst, das Jandl hier vor-

126 Vgl. Marika Müller: Die Ironie. Würzburg 1995, S. 96. 127 Vgl. Ebenda, S. 84 f. 128 Elfriede Jelinek: Krimis sind Lebensersatz. Über das Wesen des Kriminalromans. Jelinek im Gespräch mit Jakob Arjouni. In: Die Weltwoche, 01.10.1992.

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dergründig zu porträtieren beabsichtigt, will es der Autor offenbar bewenden lassen, als sei damit alles Wissenswerte gesagt. Seine Virtuosität lässt Jandl gern im Gewand vorsätzlicher Spracharmut erscheinen: „Aus dreckigem glase jetzo trinke er das übliche gemisch, nur etwas mehr mineralwasser, dafür weniger whiskey, die flasche beinah leer“129

Sein reduktionistisches Selbstporträt ist eine Parodie der Gattung. Seine Kritik gegenüber der offenkundig gespürten Forderung, etwas von sich selbst preiszugeben, hat er an anderer Stelle explizit formuliert: „ich schreibe, weil ich schreibe“ – „und wenn mir das genügt, als motiv, muss es allen genügen; niemand muss, was ich schreibe, genügen, aber allen muss genügen, was ich davon sage, warum.“ 130 In dem kleinen Poem drückt sich Jandls Unmut über die erwünschten Selbstauskünfte im Imperativ aus: jetzo trinke er; und keineswegs zum Spaß und in guter Gesellschaft, sondern aus dreckigem glase. Diese schmutzige Angelegenheit, soll im üblichen Gemisch erscheinen, um zu munden. Zur ironischen Kontrafaktur der Autorenrolle im literarischen Diskurs gehört auch die karge Umschreibung des geschmacklosen Gemischs: Mineralwasser ist erlaubt, doch soll alles durch einen Schuss Whiskey belebt werden – bloß keine faden Lebensdaten, stattdessen warmer, die Kehle hinab laufender, milder oder brennender, die Geister beflügelnder Whiskey. Durch die ironische Haltung, die entsteht, weil Jandl sein angekündigtes Vorhaben in der Durchführung durch Abweichung (nicht von sich selbst spricht er, sondern von den öffentlichen Befehlen; jetzo trinke er), Normverletzung (nicht der Mensch steht im Vordergrund seiner poetischen Betrachtung, sondern ein Trinkritual) und der Übersteigerung jeder Selbstdarstellung innewohnenden Banalität konterkariert (die flasche, beinahe leer), demontiert er weniger sich selbst, als die Idee der Selbstdarstellung des Schriftstellers. Das nüchterne Selbstporträt Jandls verrät so gut wie nichts über Jandl, die Selbstauskunft Jandls wie die lyrische Whiskey-Flasche: beinahe leer. Nicht sehr fein, dafür sehr deutlich und erheiternd hat Ernst Jandl seine Absage an die eigene autobiografische Offenbarung und die stilisierende, vorgeblich das Unterfangen ablehnende Selbstkommentierung anderer Künstler auch in seinem Gedicht kommentar ausgedrückt: „dass niemals er schreiben werde seine autobiographie

129 Ernst Jandl: selbstporträt, 18. juli 1980. In: Ernst Jandl: mal franz, mal anna. Gedicht. Hrsg. v. Klaus Siblewski. Stuttgart 2012. 130 Ernst Jandl: Die schöne Kunst des Schreibens. Darmstadt 1976

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dass ihm sein leben viel zu sehr als dreck erscheine dass nur wenige punkte, blutige er noch erinnere dass aber niemals er zögern werde in den dreck zu fassen um herauszuziehen was vielleicht einen stoff abgäbe für poesie seinen widerlichen lebenszweck“

Der Provokation bewusst, fügt Jandl diesem Gedicht eine Prosa-Passage hinzu „Sollte jemand durch den mürrischen Abschluss des kommentars sich vexiert fühlen, böten sich als Alternative die Verse: ‚für poesie / seinen wunderlichen / lebenszweck’ an.“ So wird der Selbstgebrauch des Künstlers, der niemals zögern werde in den dreck zu fassen, um herauszuziehen, was vielleicht einen stoff gäbe, vom widerlichen Vorgang zur wunderlichen Poesie harmonisiert. Geht es um Jandls eigenen wunderlichen Lebenszweck, bleibt er diffus, ironisch und vermeidet alles, was transparent ist und von eigenen Emotionen Kunde geben könnte. In seinem selbstporträt des schachspielers als trinkende uhr, das den Zusatz 24. juli 1980 trägt, listet Jandl tatsächlich einzig Mitteilungen einfacher Art auf: Zunächst vermerkt er das Bedienen des Schachcomputers und das Anstecken einer Zigarette, ehe er akribisch die Zeiteinheiten des Trinkens festhält: „das glas gin tonic mit dem mülheimer stadtwappen zur erinnerung an eine große stunde fülle er alle 25 minuten und nehme daraus alle 4 bis sieben minuten gerade einen schluck“

Die verschwenderisch im Gedicht eingeschalteten Zeitläufe im Minutentakt kommentiert er als „background-struktur für mein heutiges gedicht“. Indem er der Background-Struktur „Ökonomie und Präzision“ zuspricht, persifliert er zugleich – durch die Anwendung der Ökonomie auf das Einfachste des Lebens (alle 4 bis sieben/ minuten/ gerade einen schluck) und der damit verbundenen Wahnwitzigkeit des öko-

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nomischen Prinzip und der Selbstkasteiung (gerade einen schluck) – die Anpassung an diese Struktur. Außerdem parodiert er die Unterordnung unter dieses ökonomische System, dem auch die Selbststilisierung zugehörig ist. Mit diesem ironischen Selbstporträt führt er nicht nur die Möglichkeit einer freien Selbstdarstellung im System der Ökonomie vor, sondern auch den Sinn ad absurdum: das glas/ fülle er/ alle 25 minuten/ und nehme daraus/ alle 4 bis sieben/ minuten/ gerade einen schluck – das Verb des lyrischen Satzes steht im imperativischen Konjunktiv I und scheint dem Künstler vorzuschreiben, was er wann tun dürfe.131 In der ironischen Phänomenologie des Schluckens bleibt das selbstporträt in der Außenwelt verhaftet. Inneres wird nicht antizipiert. Dieser Maxime folgt Jandl auch bei seinen fotografischen Selbstdarstellungen. In den 1980er- und 1990er-Jahren porträtierte der Fotograf Sepp Dreissinger insgesamt 66 österreichische Schriftsteller und Künstler und bat sie, das Bild mit einem Selbstporträt zu ergänzen. Von Jandl machte Dreissinger 1989 in Wien dieses Foto:

Abbildung 32: Ernst Jandl Das Bild wurde unprätentiös von Jandl mit der ironisch-absurden, weil weitere Ansichten verheißende Bemerkung versehen: „willst du meine hände sehen musst du das foto umdrehen“

131 Einen Schluck nehmen – ein Akt, der unweigerlich an die Bemerkung Hans Magnus Enzensbergers erinnert, welche die von Jandl dargestellte Ökonomie unterstreicht: „Liefern schlucken liefern schlucken: das ist der Imperativ des Marktes; wenn Schreiber und Leser bemerken, daß, wer liefert geschluckt wird und wer schluckt geliefert ist, so führt das zu Stockungen“ – oder zu Ironie. (Hans Magnus Enzensberger: Gemeinplätze die neueste Literatur betreffend (1968). In: Renate Matthei (Hrsg.): Grenzverschiebungen. Neue Tendenzen in der deutschen Literatur. Köln 1972, S. 37 f.)

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Abbildung 33: Ernst Jandl, Porträtkommentar In den Selbststilisierungen Ernst Jandls verbinden sich Ironie und Häresie. In seinen selbst initiierten Selbstdarstellungen bedient sich Jandl eher selten der Fotografie und weitaus häufiger der Lyrik. Beiden Formen jedoch gesteht Jandl einen miteinander verwandten, zynischen Wirkmechanismus zu: die Fähigkeit, nicht allein etwas darzustellen, zu zeigen, sondern es im selben Moment zu verbergen. Eine Eigenheit, die ihn die Fotografie fast ebenso wertschätzen lässt wie die Lyrik, sei die beiden Darstellungsformen inhärente Gabe, das Spontane, Momentane und Unfeierliche zu betonen und auf das Pathetische zu verzichten. „Man kann es [das Selbstporträt], wolle man darin nicht einen Dauerzustand erblicken, eine ‚Momentaufnahme’ nennen, oder, wird die Malerei bevorzugt, ein ‚Selbstporträt, mit Grimasse’. Überhaupt dürfte der Begriff des ‚Selbstporträts’ sich für manches Gedicht wohl eignen. Es tritt dabei, da es in Sprache geschieht, das Innere zumeist deutlicher nach außen als in Farbe, in Malerei, obzwar auch dort, bekannt bei Rembrandt oder van Gogh, die Seele leuchtet oder brennt. Doch gerade weil Sprache vermag, was sie vermag, nämlich das Innerste nach außen zu wenden, kann es eine unwiderstehliche Herausforderung sein, alles Innen, oder fast alles Innen, einmal drinnen zu belassen und für ein Gedicht als Selbstporträt nur das Außen zu benutzen.“132

Bemerkenswert bleibt, dass Ernst Jandl in seinen Selbstdarstellungen gerade dem Impuls, das Innerste nach außen zu wenden, nicht folgt, sondern stattdessen eine poetische Grimasse zeigt. Das Spiel mit der Innen- und Außensicht, vorne und hinten, Einsehen und Nachsehen parodiert er in seinen lyrischen Selbstporträts ebenso wie in seinen fotografischen. Dem scheuen Ironiker Jandl gelingt es durch die satirische Demontage des Prinzips der Selbstdarstellung, in der literarischen Öffentlichkeit präsent zu sein und dennoch, einzig durch die Kunst der Ironie, Auskünfte über sein Innenleben konsequent zu verweigern.

132 Ernst Jandl zit. n. Heidi Gidion: Bin ich das? Oder das? Literarische Gestaltungen der Identitätsproblematik. Göttingen 2004, S. 47.

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Dieses höchste geistige Spiel des künstlerischen und menschlichen Ausdrucks gründet auf der bewussten, inszenierten „Verfehlung (vitium) gegen die Wahrhaftigkeit.“133 Nach Aristoteles steht der Wahrhaftige zwischen dem Aufschneider, der zu viel behauptet, und dem Sich-unwissend-Stellenden, der zu wenig oder gar nichts behauptet. „Der Ironische, der sich geringer macht, scheint eine feinere Art zu haben“, formuliert Aristoteles in der Nikomachischen Ethik, „denn er scheint nicht wegen des Gewinnens so zu sein, sondern um die Anmaßung zu meiden. Am liebsten verleugnet er, was große Ehre macht, wie es auch Sokrates zu tun pflegte. […] Wer die Ironie mit Maß anwendet, scheint liebenswürdig.“ 134 Und wer um Wahrhaftigkeit in seinem Ausdruck bemüht ist, kann sich auf dem literarischen Feld, um der Aufschneiderei auszuweichen, in eine gewisse Nähe zum Sich-unwissend-Stellenden begeben. Die der Ironie inhärente, vordergründig bescheidene Strategie der Selbstinszenierung exemplifiziert Roland Barthes an der Haltung der Literaturkritiker, die er, seinerseits nicht unironisch, folgendermaßen beschreibt: „Warum erklärt die Kritik von Zeit zu Zeit ihre Ohnmacht oder ihre Verständnislosigkeit? Es geschieht gewiss nicht aus Bescheidenheit, niemand fühlt sich wohler als jemand, der bekennt, dass er nichts vom Existentialismus begreift, niemand ist ironischer, also selbstgewisser als ein anderer, der verschämt eingesteht, dass er nicht das Glück habe, in die Philosophie des Außerordentlichen eingeweiht zu sein; und niemand ist militaristischer als ein dritter, der für das dichterisch Unsagbare plädiert. All das bedeutet in Wirklichkeit: man hält sich für so intelligent, dass das Eingeständnis des Nichtverstehens die Klarheit des Autors in Frage stellt, nicht aber die der eigenen Vernunft. Man spielt Beschränktheit […]: „Ich, dessen Beruf es ist, intelligent zu sein, verstehe nichts […].“135

Die Ironie, die nicht allein dem Berufsstand der Kritiker und Feuilletonisten innewohnt, sondern auch dem der Schriftsteller, zeigt sich nicht allein verbal, sondern auch piktoral im Selbstporträt. Das Selbstporträt von Ernst Theodor Amadeus Hoffmann ist gespickt mit satirischen, scherzhaften Anmerkungen. Neben seinem Gesicht, das er mit Buchstaben alphabetisch beschriftet hat, hat er eine Legende von a bis p angelegt, in der er körperliche Merkmale mit Verhaltensgewohnheiten und Lebenserfahrungen kombiniert. Während a – die Nase, b – die Stirn und c – die Augen kommentieren, wird Hoffmann bald ironischer, ergänzt d – Wangen mit der Bemerkung durch Steak und Portwein, g wird erläutert durch den Hinweis toupierte Haare oder Geistererscheinungen. Selbstironisch scheint sein Verhältnis zu seinem Werk Elixiere des Teufels zu sein; dieses Werk macht er verantwortlich für die Zornesfalte zwischen den Augen: m – Mephistotelesmuskel oder Rachgier und Mordlust – Elixiere des Teufels.

133 Vgl. Reiner Nickel/Monica Meinhold: Ironie, Parodie und Satire. Würzburg 1977, S.11. 134 Aristoteles: Nikomachische Ethik. Buch IV, Abschnitt 13. 135 Barthes, Mythen des Alltags, S. 33 f.

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Abbildung 34: E. T. A. Hoffmann, Selbstporträt (um 1815)136 „Ironisch zu sein bedeutet“, resümiert M. Müller, „subjektiv und bewertend zu sein, und zwar in solchem Maße, dass der Rezipient seinerseits zu einer Stellungnahme herausgefordert ist.“137 Dieser Vorgang entspricht dem ursprünglichen dialogischen Impetus der Herausforderung und der Offenheit, die der Ironie seit Sokrates als Merkmal zueigen ist. Wenn der Schriftsteller dem Dasein so gegenübertritt, als sei es nicht unbedingt ernst zu nehmen, als sei die Realität nicht festgezurrt und kategorisch und als würden Abweichungen nicht sanktioniert, dann kann er lebendig und improvisierend sein. Er ist dann ein anschauliches Exempel für die durch einen ironischen Nihilismus gewonnene Freiheit. Befreit aus intellektuellen Zwängen. An einen so errungenen Distanzgewinn zu sich selbst mag auch Schiller gedacht haben, als er in Über die ästhetische Erziehung schrieb, eine wahre Wesensäußerung des Menschen werde nur im „Spiel“ sichtbar. „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ 138 Die ästhetische Erfahrung und die intellektuelle, von der Sprache getragene Selbstdarstellung wären demnach als ein Spiel mit der Entfremdung der Welt zu verstehen sowie als eine Rückgewinnung des menschlichen Daseins durch den spielerischen Umgang mit der Welt und die ironische, nie gänzlich festgelegte Erfahrung darin.

136 E. T. A. Hoffmann: Selbstporträt (um 1815). Entnommen aus: Möbus (Hrsg.), Dichterbilder, S. 59. 137 Müller, Die Ironie, S. 135. 138 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795). Hrsg. v. Klaus Berghahn. Stuttgart 2006, 15. Brief.

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D EMONTIEREN Häresie Eine weitere Methode, um auf dem literarischen Feld sein symbolisches Kapital zu vermehren, ist die Häresie. Ein wesentliches Merkmal der häretisch agierenden Selbstdarsteller ist die ihnen inhärente „große Freude daran, mit ihren bis zum Äußersten getriebenen Herausforderungen und ihren nicht nur symbolischen Ohrfeigen das bürgerliche Publikum bis zur Empörung zu reizen.“ 139 Die häretische Selbstinszenierung ist somit zu definieren als eine (zumeist subversiv intendierte) InfrageStellung allgemein akzeptierter Entitäten, oder anders formuliert: die demonstrative Abweichung von geltenden Normen und die gezielte Diskreditierung etablierter Persönlichkeiten, Institutionen und (Denk-)Systeme. Debütanten auf dem literarischen Feld bedienen sich dieser Strategie ebenso wie sich vom Literaturbetrieb abwendende Alt-Literaten. Die Alteingesessenen verfolgen dabei so genannte „Konservierungs-Strategien“, deren Ziel es ist, ihr akkumuliertes Kapital und die über Jahre errungene Deutungshoheit zu bewahren, indem das Nachrückende durchaus kritisch beobachtet und teils zynisch kommentiert wird. Die Neulinge auf dem literarischen Feld verfolgen hingegen „Subversiv-Strategien“, die auf eine spezifische Kapitalakkumulation gerichtet sind, welche eine mehr oder weniger radikale Umwälzung der Werteskala voraussetzt, eine mehr oder weniger revolutionäre Neudefinition der Produktions- und Bewertungsprinzipien und damit zugleich eine Entwertung des von den Herrschenden gehaltenen symbolischen Kapitals. 140 Einen der stärksten häretischen Einstände gab Peter Handke, dessen ungestüme, „spontan-erregte, zornige Schmährede (die naturgemäß provozieren sollte)“ 141 als ein Angriff auf das Dichterselbstverständnis der späten Nachkriegszeit schlechthin verstanden werden darf: Im April 1966 – exakt einen Monat, nachdem sein Debütwerk Die Hornissen an die Buchhandlungen ausgeliefert wurde – reiste der damals 23jährige Handke auf Einladung Hans Werner Richters zur Tagung der Gruppe 47 nach Princeton. Den dort versammelten arrivierten Schriftstellern, Literaturkritikern und anwesenden Journalisten erklärte der junge Peter selbstbewusst: „Ich bemerke, dass in der gegenwärtigen deutschen Prosa eine Art Beschreibungsimpotenz vorherrscht. Man versucht sein Heil in einer bloßen Beschreibung, was von Natur aus schon das Billigste ist, womit man überhaupt Literatur machen kann. […]“ 142 Die Zuhörer wa-

139 Arturo Larcati: Skandalstrategien der Avantgarde: vom Futurismus zum Dadaismus. In: Stefan Neuhaus/Johann Holzner (Hrsg.): Literatur als Skandal. Göttingen 2007, S. 110127, 110. 140 Pierre Bourdieu: Haute couture und Haute culture (1974/1993). In: Ders.: Soziologische Fragen. Frankfurt a. M. 1993, S. 188 f. 141 Georg Pilcher: Die Beschreibung des Glücks. Peter Handke. Eine Biografie. Wien 2002, S. 69. 142 Peter Hanke zit. n. Georg Pilcher: Ebenda., S.71. Die Abschrift des Tonbandmitschnitts des gesamten Redebeitrags Handkes findet sich ebenfalls in Pilcher (S. 71-73).

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ren entsetzt. Mit derlei Angriffen auf Stil, Inhalt und etablierter Ästhetik hatte niemand unter ihnen gerechnet. Was Handke damals vor dem literarischen Establishment von sich gab – 140 Personen, davon 31 Autoren nahmen teil beim vorletzten Treffen der Gruppe 47 –, stellte einen Tabubruch im jahrelang erprobten Ritual der Gruppe dar, die vieles, aber kaum sich selbst als Einheit in Frage stellte. Aufgrund seiner häretischen Rede wurde Peter Handke der Interviewpartner aller anwesenden Journalisten. Abends bei der wie es hieß „missglückten Party“ (der Alkohol musste erst aus dem nächsten Bundesstaat besorgt werden), saß Handke entspannt auf dem Sofa, umgeben von Zeitungsleuten, und erklärte die Gruppe 47 für überholt. „Hans Werner ging kopfschüttelnd vorbei. […] Grass hatte in der Kleiderablage in den Innenrand von Peter Handkes Elbschoner (eine Mütze mit festem Rand) mit Filzstift ‚Ich bin der Größte’ geschrieben, während Handke mit einer Holzhand andere Teilnehmer begrüßte“ 143, erinnert sich Toni Richter, die Frau Hans Werner Richters. Die in ihren zitierten Erinnerungen anklingende Konkurrenzsituation zwischen Grass und Handke legte den Grundstein für ein weiteres publikumswirksames Selbstdarstellungsverhalten: Einige Monate später, im Oktober desselben Jahres, griff Günter Grass den 15 Jahre jüngeren Handke wegen seiner Kritik in Princeton in einem Offenen Brief, abgedruckt in der Münchner Abendzeitung, heftig an, woraufhin Handke im gleichen Blatt erwiderte: „Sie tun so, als hätte ich mich aus Reklamegründen zu Wort gemeldet, und wissen doch, dass es eine Augenblickshandlung war.“144 Dass die Häresie bei Handke zunächst aus dem Zufall geboren war und doch viele Jahre lang als Inszenierungsstrategie fungierte, wird besonders an seinem literarischen Werk anschaulich. Deutlich häretische Züge trägt beispielsweise auch sein erstes Theaterstück Publikumsbeschimpfung145, das im Sommer 1966, in der Zeit zwischen seinem Auftritt in Princeton und der öffentlichen Auseinandersetzung mit Grass, in Frankfurt uraufgeführt wurde. Zu Beginn des Stücks thematisieren die vier Sprecher den Zuschauerraum und die Erwartungen des Publikums, um daran anschließend umso fulminanter, durch die wiederholte Negation der Erwartungsmuster, das traditionelle Theaterverständnis des geschlossenen aristotelischen Raumes zu destruieren und ihr eine offen Ästhetik (die Verdeutlichung der artifiziellen Gemachtheit des Kunstwerks und seinen autonomen Charakter) entgegenzusetzen.146 Schon zu Beginn des Stückes wird die anonyme Behaglichkeit des Zuschauers im dunklen Saal häretisch gestört: Der Zuschauerraum ist ebenso hell ausgeleuchtet wie die Bühne. Indem die vier Sprecher diesen Zuschauerraum durch ihre Sprachhandlungen zur Bühne überblenden, findet der erste häretische Bruch statt; der zweite

143 Toni Richter: Die Gruppe 47 in Bildern und Texten. Köln 1997, S. 129. 144 Vgl. Günter Grass: Bitte um bessere Feinde. Offener Brief an Peter Handke. In: Münchener Abendzeitung, 1./2.10.1966. Und: Peter Handke: Bitte kein Pathos! Antwort auf den offenen Brief von Günter Grass. In: Münchner Abendzeitung, 22./23.10.1966. 145 Publikumsbeschimpfung. Uraufführung im Frankfurter Theater am Turm am 8. Juni 1966. Regie: Claus Peymann. Vgl.: Peter Handke: Publikumsbeschimpfung. Mit einer DVD der Theateraufführung, in der Reihe: Suhrkamp 1968. Frankfurt a. M. 2008. 146 Zur ironischen Öffnung des geschlossenen Theaters vgl.: Müller, Die Ironie, S. 12 ff.

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folgt sogleich, indem der voyeuristische Unterhaltungsanspruch des Publikums unterminiert wird: Das ist kein Spiel. Wir zeigen Ihnen nichts. Wir spielen keine Schicksale. Wir spielen keine Träume. Den Höhepunkt findet die Häresie am Ende des Stückes in der Beschimpfung (ihr Gauner, ihr Teufelsbrut, ihr Flegel, ihr Saujuden, ihr Genickschussspezialisten). Eine der Besonderheit der subversiv-rebellischen Strategie Handkes, die zugleich eine der Hauptursachen für die Kritik, ja den Skandal wurde, bestand in dem radikalen Willen, einen Standpunkt jenseits der Alternativen einzunehmen und die Maßstäbe für die gängige Beurteilung und Klassifizierung in Frage zu stellen. Dazu löste Handke auf der Theaterbühne die Geschichte auf – es verschwand nicht nur die Bühnendekoration, sondern auch die Handlung. Der Spieler auf der Bühne wurde zum Sprecher, aber jeder Dialog, jede Rückkopplung war (anders als bei der radikal-subjektiven Authentizitätsinszenierung Kinskis) untersagt. Theaterstück und Häresie sind ein in sich verwobenes Ereignis, ein Statement, das keine Irritation von außen zuläßt.147 Ein Affront.148 Mit dieser expliziten Überwindung der Zwänge der geschlossenen Ästhetik gewinnt Handke eine deutlich reflektierte, ästhetische Freiheit. Eine solche Freiheit des sich enthusiastisch im Werk äußernden Gestaltungsdrangs wurde erstmals von Schlegel als Selbstschöpfung bezeichnet und hat durchaus inszenatorisches Gewicht. Damit eine solche (häretische) Selbstschöpfungsstrategie langfristig Wirkung zeige, so Schlegel, müsse das kreative Potenzial jedoch stets durch die Maßnahmen der Selbstreflexion und der Selbstkritik als rückwirkende, korrigierende Skepsis gegen das eigene Vermögen gebändigt werden, so dass der Selbst-Illusion durch das Hinterfragen des eigenen Tuns entgegengewirkt werde. Denn andernfalls stelle sich, laut Schlegel, die künstlerische Häresie in einem höchst fragilen und doppelbödigen Sein dar – als steter „Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung.“149 Die Zerstörung gemeinschaftsstiftender Handlungsmodelle und Denksysteme (sei es das Theaterverständnis oder die Einheit der Gruppe 47) wurde Handke wiederholt vorgeworfen.150 Doch gerade dieser diskursive, durch Handkes häretische Reizung ausgelöste Abwehr-Affekt fungierte als dynamisches Teilelement des öffentlichen Diskurses und verstärkte Handkes Distinktionsbemühungen ebenso wie es sein kulturelles Kapital anreicherte und spezifizierte.

147 Zuschauer aus dem Parkett, die sich bei dem Sprechstück, bei dem sie poetisch kontinuierlich angesprochen wurden („Im Stehen könnten Sie besser als Zwischenrufer wirken. Gemäß der Anatomie des Körpers könnten Ihre Zwischenrufe im Stehen kräftiger sein. Sie könnten …“) tatsächlich persönlich angesprochen gefühlt haben und auf die Bühne kletterten, wurden von Angestellten des Theaters von der Bühne entfernt. (Zitatauszug aus dem Stück: Peter Handke: Publikumsbeschimpfung. Frankfurt a. M. 2008, S. 30.) 148 Vgl. Jean-Marie Valentin: Reine Theatralität und dramatische Sprache. In: Raimund Fellinger (Hrsg.): Peter Handke. Frankfurt a. M. 1985, S. 51-74. Pilcher, Die Beschreibung des Glücks, S. 69 ff. 149 Friedrich Schlegel: Aphorismus 51. In: Kritische Ausgabe. Bd. 2. München 1971, S. 165. 150 Vgl. Oliver van Essenberg: Kulturpessimismus und Elitebewusstsein. Marburg 2004; 65 f. Und: Gerhard Pfister: Handkes Mitspieler. Bern 2000.

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Den häretischen Effekt versuchte auch Jelinek für sich zu nutzen. Im Alter von 21 Jahren plante sie 1969 zusammen mit ihrem Weggefährten Wilhelm Zobel und dem Maler Aramis rotwäsche – ein terrorstück mit publikum, das in einem KellerGewölbe in Stuttgart aufgeführt werden sollte. Den system-häretischen Coup entwarf sie so: Auf der Bühne werden während des Stückes alle Gegenstände rot angestrichen, die Akteure, Jelinek, Zobel und Aramis höchstselbst, bespritzen sich gegenseitig mit Farbe, dazu ertönen Orgasmus-Klänge aus den Lautsprechern. Das Publikum wird mit Farbbeuteln beworfen. Jelinek tritt als stumme Sängerin auf und setzt sich, nur die Lippen bewegend, Männern im Publikum auf den Schoß. Auf dem Klavier kopuliert im Anschluss daran Zobel mit Jelinek, ehe das Klavier zertrümmert wird. Zum Höhepunkt gießt Aramis Buttersäure in die Belüftungsschächte, die den Brechreiz der Zuschauer, die im Saal eingeschlossen bleiben, stimulieren soll. Durch eine laute Geräuschmontage werden zudem die Bedrängnis und die Unfreiheit des Handelns illustriert.151 Auch wenn das Stück nicht zur Aufführung kam, drückt sich in dem gedanklichen Akt und dem später diskursiv verbreiteten Agitationswillen ein häretisches Moment aus. „meine kunst“, schreibt Jelinek 1970, „wird nicht mehr für literaturmanager gemacht werden dürfen. meine literatur wird ihre isolation aufzugeben haben. meine literatur wird heiss werden müssen wie eine explosion. wie in einem rauchpilz wird das sein. wie napalm“, und ergänzt: „ich als kunstproduzent muss die wirkung eines kampfgases besitzen.“152 Häretische Elemente sind den Selbstdarstellungen Jelineks bis heute eingeschrieben. Doch sind diese längst nicht mehr so radikal, eher nebenbei und intertextuell angelegt. In der folgenden Fotografie dient ihr die Kasperle-Puppe153 als Requisit. Als Selbstkommentar signalisiert diese unaufällig unter den Arm geklemmte Puppe ironische Distanz zum Akt der Repräsentation. Neben den selbstkritischen Konnotationen erschließen sich systemkritische, sobald die fiktive Figur des Kaspers, die sie in ihrem Debütroman wir sind lockvögel, baby! entwirft, in ihr intertextuelles darstellerisches Gesamtkonzept integriert wird. In ihrem Collage-Roman übernimmt der

151 Vgl. Mayer/Koberg, Elfriede Jelinek. Ein Porträt, S. 54 f. 152 Elfriede Jelinek: „bisher öde kunst gemacht zu haben“. In: Renate Matthaei (Hrsg.): Grenzverschiebungen. Neue Tendenzen in der deutschen Literatur der 1960er Jahre. Köln 1970, S. 215. 153 Dem Kasper, Harlekin oder Clown werden traditionell vier Hauptfunktionen zugeschrieben: Er symbolisiert die menschliche Begrenztheit des Geistes und reizt durch sein oft sinnverfehlendes Handeln zum Lachen oder Nachdenken. Er verbirgt zudem hinter seiner Maskerade eine tiefe Menschenkenntnis. Drittens äußert der Kasper oder Clown Gefühle und Gedanken, die konventionell-zivilisatorisch verborgen bleiben. Und schließlich enthüllt sein Handeln den alltäglichen Widerspruch zwischen Zielsetzung und Scheitern. (Vgl. Horst S. Daemmrich/Ingrid G. Daemmrich: Themen und Motive in der Literatur. Tübingen, Basel 1995, S. 88.)

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Kasper die Funktion des Revolutionärs: „der kaspar scheißt dem riesen auf den kopf.“ 154

Abbildung 35: Jelinek: „der kasper scheißt dem riesen auf den kopf“155 Häresie und Demontage richten sich jedoch nicht nur künstlerisch und ästhetisch gegen fremde Erwartungen, sondern können auch persönliche Angriffe auf andere Personen des literarischen Feldes umfassen. Derlei häretische Offensiven treten nicht immer offen zutage, sondern finden im Verborgenen statt. Sie können sich außerdem als lustige Späße tarnen. Mit einem solchen Spaß begann das so genannte Busenattentat auf Theodor Adorno. Das Ereignis ist bekannt: Am 22. April 1969 will Adorno im Hörsaal der Frankfurter Universität seine Einführung in das dialektische Denken beginnen. Doch im Saal herrscht Tumult, es wird gelärmt und gepfiffen, auf Initiative von Aktionstruppen des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes. Adorno sagt: „Ich gebe Ihnen fünf Minuten Zeit. Entscheiden Sie, ob meine Vorlesung stattfinden soll oder nicht.“ Da nähern sich drei junge Studentinnen, sie umkreisen und umtänzeln ihn, versuchen ihn zu küssen. Schließlich reißen sie ihre Jacken auf und halten dem Professor ihre nackten Brüste hin. Johlendes Gelächter. Der schockierte Philosoph greift seine Aktentasche, hält sie vors Gesicht und läuft aus dem Hörsaal. Den drei Demonteurinnen verschaffte diese Aktion allerdings nur temporäre Aufmerksamkeit. Ohne inhaltliche Fundierung verhallen auch markante, durch den Windschatten des Gelächters temporär beschleunigte und verstärkte Inszenierungen ebenso schnell, wie sie sich ereignet haben. Bei Adorno hingegen war die Verstörung in einem öffentlichen Spiegel-Interview deutlich spürbar.156

154 Elfriede Jelinek: wir sind lockvögel, baby! (1988). Reinbek bei Hamburg 2004, S. 104. 155 Elfriede Jelinek (1993), fotografiert von Karin Rocholl. Entnommen aus: Brigitte Landes (Hrsg.): Stets das Ihre. Elfriede Jelinek. Arbeitsbuch. Berlin 2006, S. 1. 156 Vgl. Anonym: Keine Angst vor dem Elfenbeinturm. Interview mit Theodor W. Adorno. In: Der Spiegel 19/1969, 05.05.1969, S. 204. Vgl. auch: Personalien. In: Der Spiegel

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Selbstdemontage Nach der Theorie der Selbstwerterhaltung157 folgt der Mensch im Allgemeinen der „Tendenz, sich selbst positiv zu beurteilen“158 und im sozialen Vergleich einen hohen Selbstwert zu attestieren. Im Falle der Selbstdemontage verhält es sich anders herum. Die Selbstbewertung – die ein hypothetisches Konstrukt bleibt, eine nicht unmittelbar beobachtbare Größe ist159 – tendiert während der strategischen Selbstdemontage zur diskursiven Selbstherabsetzung. Das Prinzip selbstdemontierender Inszenierung zielt auf eine Veränderung der Bedeutungshierarchien zu den eigenen Ungunsten: Der Schriftsteller wertet im bewusst gezogenen Vergleich mit den Kollegen (im Prozess des social comparison160) sich selbst ab oder zeigt Verhaltensdimensionen, die seine Position vordergründig schwächen. Die negative Selbstbewertung erfolgt zumeist dialogisch, lyrisch oder essayistisch im Modus der Sprache, aber auch im Modus der Ikonografie und nicht zuletzt, performativ, durch die selbst gewählte Absenz im öffentlichen Diskurs. Eine negative Selbstbewertung verfolgte auch Elfriede Jelinek: Indem Jelinek nicht in der Bibliothek posiert, also an einem Ort kulturell archivierten Wissens, und auch nicht vor einem Denkmal historischer Geistesgrößen, etwa vor einer Skulptur Schillers oder Goethes, sondern vor einer Wandmalerei mit einem lebensgroßen Primaten in ihrem Rücken, demontiert sie die intellektuelle illusio des Feldes und mithin ihre eigene Funktion auf dem literarischen Feld.161

18/1969, 28.04.1969, S. 222. Jens Soentgen: Selbstdenken. Wuppertal 2003, 139-145. Anne Lemhöfer: Hörsaal IV. Busenattentat im Raum für Ideen. In: Frankfurter Rundschau, 30.04.2008. Tanja Stelzer: Die Zumutung des Fleisches. In: Der Tagesspiegel, 07.12.2003. 157 Hans Dieter Mummendey: Psychologie der Selbstdarstellung. Göttingen 1990, S. 114 ff. 158 Ebenda, S. 114. 159 Vgl. A. Tesser/J. Campbell: Self-definition and self-evaluation maintenance. In: J. Suls/A. Greenwald (Hrsg.): Social psychological perspectives on self. Bd. 2, 1983, S. 131. 160 Mummendey, Psychologie der Selbstdarstellung, S. 115. 161 Boccaccio stellte die These auf, der Dichter sei der Affe des Philosophen, nicht zu geistigen Höhen berufen, jedoch zu närrischen Spielereien. In der romanischen Plastik und in gotischen Drolerien singen und musizieren die Affen; im Dialogus creaturarum schreibt ein Affe ‚schöne Bücher‘. In dem Gemälde lm Zirkus (1914) von Louis Moilliet gesellt sich ein Clown zu den Affen hinzu, die sich im tragischen Zwang, bestaunt zu werden und komisch sein zu müssen, in der Manege versammeln. In dem Gemälde René Auberjonois Affen und Papageien in Menagerie von 1927 sind die Affen gefangen, ohne Umraum bleiben sie auf Assoziationen der Betrachter reduziert. (Vgl. Thomas Zaunschirm: Affe und Papagei. Mimesis und Sprache in der Kunst. In: Kunsthistoriker. Mitteilungen des Österreichischen Kunsthistorikerverbandes. Graz, Wien, Jg. I, 1984, Heft 4, S.14-17.) Ganz anders der Lyriker Thomas Kling (1947-2005). Auf einer Fotografie von Ute Langanky posiert der Lyriker vor einem Relief Oswalds von Wolkenstein. So ruft Thomas Kling, der Wolkenstein für seine Pilger-Touren verehrte, die Genealogie des

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Abbildung 36: Die Kunst sich zum Affen zu machen, Jelinek in Wien (l.)162, Maskottchen neben ihrer Schreibmaschine (r.) 163 Als Formgebung der absurden Seinsverfassung dient das Motiv des Affens traditionell dazu, Krisenerscheinungen des Realitäts- und Selbstverständnisses zu thematisieren, ironisch zu reflektieren und dadurch die Identitätserwartungen persiflierend zu unterlaufen.164 Jelinek spielt mit diesem Effekt. Als sich zahlreiche Literaturkritiker auch von Jelineks Romanen angewidert, abgestoßen und alarmiert fühlten, setzte Jelinek die Selbstdemontage in Interviews fort und gesteht: „Ich muss schon sagen, ich fühle mich geschwächt. Ich habe mich noch nie in meinem Leben stark gefühlt und habe auch noch nie in meinem Leben weniger Anlass dazu gehabt. Im Grunde ist mein Buch ein Scheitern. […] Aber im Schreiben hat der Text mich zerstört – als Subjekt und in meinem Anspruch […].“165 Sind es in diesem Beispiel der eigene Anspruch, an dem Jelinek vorgibt zu scheitern und der Text, der sie zerstört, so ist es ein anderes Mal der Journalist, der Jelineks Selbstkonzept desavouiert: „Im Augenblick habe ich das Gefühl, ich glaube an gar nichts mehr. Mit keiner meiner Thesen gelingt es mir durchzudringen. Dieses Interview hat mich völlig dekonstruiert.“ 166

Dichters und seiner Reisen auf. (Fotografie in: Thomas Kling: Itinerar. Frankfurt a. M. 1997, S. 61.) 162 Elfriede Jelinek, Szenenbild aus dem Dokumentarfilm Prater von Ulrike Ottinger, 2007. 163 Elfriede Jelineks Arbeitsplatz, fotografiert von

Herlinde Koelbl. Entnommen aus:

Koelbl, Schreiben!, S. 51. 164 Der Mensch habe „von Natur aus einen unwiderstehlichen Trieb zum Absurden“, schreibt beispielsweise Johann Wolfgang von Goethe in seinem 15. Buch in Dichtung und Wahrheit. Das ungewöhnlich Absurde wirke zugleich anziehend und abstoßend. In den Xenien hielt Goethe außerdem fest: „Nichts schrecklicher kann dem Menschen geschehn,/ Als das Absurde verkörpert zu sehen.“ 165 Vgl. Sigrid Löffler: Elfriede Jelinek. Elegant und gnadenlos. In: Brigitte 14/1989, 20.06.1989, S. 95-97, 96. 166 Elfriede Jelinek im Gespräch mit André Müller. In: Müller, „… über die Fragen hinaus.“, S. 7-22, 22.

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Mit ihrer abschließenden Grußformel Stets das Ihre und der Analogisierung ihrer Person mit einem aus Buchstaben und Zeichen bestehenden Schweinchen demontiert sich Jelinek am Ende jeder von ihr verfassten E-Mail selbst, ironisch. Ihre elektronische Signatur persifliert die Unterwürfigkeit und Bereitschaft, stets alle Erwartungen und Wünsche zu erfüllen, die per E-Mail an sich gerichtet werden.

Stets das Ihre: ~ .. ~ ----- \ 9 (oo) _____ / ww ww

Abbildung 37: Jelineks E-Mail-Signatur, das Schweinchen Die Form der Selbstherabsetzung wie sie Jelinek praktiziert, ist dem Konzept der Selbstbehauptung, wie sie Adorno und Horkheimer in ihrer Dialektik der Aufklärung entwickelt haben, in ihrem ideologiekritischen Gestus verwandt, wenngleich weniger radikal und vorrangig auf das Persönliche bezogen. In der Auseinandersetzung von Odysseus mit den Zyklopen, innerhalb derer sich Odysseus als Udeis („Niemand“) vorstellt, sehen Adorno und Horkheimer das Grundmuster der neuzeitlichen Selbstbehauptung durch Selbstentsagung verkörpert.167 Durch die sprach-rationalistische Verleugnung der eigenen Identität gelingt es Odysseus, den Zyklopen in die Irre zu führen und zu überlisten. Um den Argumentationszusammenhang Adornos und die Idee nachzuvollziehen, wie sich der „menschliche Kunstprozess, dem wir die Individuation verdanken“168, entwickelt habe, sei in diesem Fall eine längere Passage der Dialektik der Aufklärung zitiert, in der Adorno und Horkheimer die These entfalten, dass die Kunst des Selbst, in der Welt zu bestehen, darin liege, „sich wegzuwerfen, um sich zu behalten“169: „Die Irrfahrt von Troja nach Ithaka ist der Weg des leibhaft gegenüber der Naturgewalt unendlich schwachen und im Selbstbewusstsein erst sich bildenden Selbst durch die Mythen […]. Die Abenteuer, die Odysseus besteht, sind allesamt gefahrvolle Lockungen, die das Selbst aus der Bahn seiner Logik herausziehen. Er überlässt sich ihnen immer wieder aufs Neue, probiert als unbelehrbar Lernender, ja zuweilen als töricht Neugieriger, wie ein Mime unersättlich seine Rollen ausprobiert. ‚Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch‘: das Wissen, in dem seine Identität besteht und das ihm zu überleben ermöglicht, hat seine Substanz an der Erfahrung des Vielfältigen, Ablenkenden, Auflösenden, und der wissende Überlebende ist zugleich der,

167 Theodor W. Adorno/Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1944/1969). Frankfurt a. M. 2004, S. 50 ff. 168 Adorno/Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 52. 169 Ebenda, S. 55.

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welcher der Todesdrohung am verwegensten sich überlässt, an der er zum Leben hart und stark wird. Das ist das Geheimnis im Prozess zwischen Epos und Mythos: das Selbst macht nicht den starren Gegensatz zum Abenteuer aus, sondern formt in seiner Starrheit sich erst durch diesen Gegensatz, Einheit bloß in der Mannigfaltigkeit dessen, was jene Einheit verneint. Odysseus, wie die Helden aller eigentlichen Romane nach ihm, wirft sich weg, gleichsam um sich zu gewinnen.“170

In Homers Epos ist Odysseus’ Identität so sehr Funktion des Unidentischen, des Dissoziierten, dass der Mensch erst durch das Abenteuer und das Einlassen auf das Unbekannte hervortreten, sich bilden und erstarken kann. Wo die Angst ist, ist der Weg. Die Identität formt sich im ersten Schritt, der auch bei Greenblatts Self-FashioningTheorie markant ist, aus der erst im Leben zu erringenden Kombination des starren, geschichtlich gegebenen Daseins (hier: Epos) und der Überwindung, ja Negation dieser Starrheit durch den flexiblen kreativen Selbstentwurf (hier: Mythos). Im Abenteuer hinterfragt Odysseus stellvertretend für das Individuum das determinierende, individualgeschichtliche Epos und die gegebenen Grenzen seines Selbst, indem er sich töricht, neugierig und unersättlich in Frage stellt, selbst auflöst, demontiert, den Tod akzeptiert, sich der drohenden Demontage ausliefert, diese sogar sucht, sich der Gefahr selbst überlässt, erst dann werde er „hart und stark am Leben“. Und hinter den losen ephemeren Fügungen des Subjekts, die sich aus der Nebeneinanderstellung der Negationen des eigenen Selbst formen und in der Kette bestätigen, bildet sich eine Identität. Der Transfer des Modells der menschlichen (Selbst-)Erkenntnis und Identitätsentwicklung auf das Modell der Selbstinszenierung ergibt ein neues Bild, das eine weitere, fundamentale Selbstdarstellungsstrategie enthält. Diese Strategie herauszulesen setzt voraus, den Prozess der Identitätsbildung im öffentlichen Raum nicht existenzphilosophisch, sondern spielerisch zu betrachten. Die Basis des Spiels mit der Identität ist die Annahme, dass die Entwicklung einer stabilen schriftstellerischen Selbstfindung mit Eintritt in die mediale Öffentlichkeit weitgehend abgeschlossen ist (als biografisches, imaginäres Epos existiert). Im Verfahren der Selektion, welche Eigenschaften stilisiert und welche negiert werden, kann sich sodann nicht nur ein neuer Mythos bilden, der sich grundlegend vom Epos unterscheidet. Es kann sich auch ein zweites, privates Selbst im Verborgenen entfalten, das sich schützend hinter der Fassade der öffentlichen Negation spezifischer Persönlichkeitsfacetten verbirgt. Man könnte von einer Spaltung der privaten Autorperson und der öffentlichen Autorfigur sprechen, wobei die Kunst des öffentlichen Abenteuers darin bestünde, sich im performativen Akt kunstvoll und unterhaltsam – als Strategie der Ablenkung im Sinne des Udeis – immer wieder zu demontieren und jede öffentlich errungene Erkenntnis zur Autorfigur in Frage zu stellen, um das private Selbst zu bewahren. 171 Dieses

170 Adorno/Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 53 ff. 171 Der Schriftsteller J. D. Salinger hat die öffentliche Negation seines Selbst in Extremform betrieben, indem er sich gänzlich aus der Öffentlichkeit zurückzog. Seinen Biografen Ian Hamilton hat Salinger verklagt und die Verantwortlichen von Internetseiten, die zu ausführlich aus seinem Werk zitierten oder persönliche Angaben über ihn nannten, juristisch

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private Selbst der Autorenperson formt sich gleichwohl im medialen Abenteuer weiter aus, wächst daran und erstarkt im Idealfall. Weniger subjektkonstitutiv und performativ, aber künstlerisch und poetisch wird die Udeis-Strategie, wenn der schriftstellerischen Selbstminimierung im öffentlichen Diskurs ein Verschwinden in der Sprache folgt. Thomas Pynchon praktizierte dieses Prinzip des öffentlichen Verschwindens, indem er als Autor ganz hinter seine Texte zurück trat und alles Persönliche vom literarischen Feld absorbierte. Elfriede Jelinek, die die Werke Thomas Pynchons übersetzte, übertrug das Prinzip der Selbstauflösung poetisch in die Schrift. Zahlreiche Texte Jelineks haben identitätszersetzenden Charakter und variieren die Idee der Fragmentierung und der Auflösung des Subjekts, des sprach-poietischen Wegwerfens, um sich selbst zu behalten: „Wer ist denn schon zu Hause bei sich, wer ist denn schon sein eigener Herr? Wer es wäre, der würde sofort wieder von sich fortstreben, kaum, dass er sich kennengelernt hätte, denn was er da kennengelernt hätte, wäre, daß er von seiner Existenz beherrscht wird, die nicht dasselbe ist wie sein einsames Ich: eine leere, aber formatierte Diskette, der wir den Namen Ich geben, wird beschrieben, indem man sich mit sich selbst identifiziert und eine Identität erlangt. Da man sich auf dieser Diskette abspeichert, kann man von ihr auch wieder fortgehen, das Ich bleibt ja da aufgeschrieben, und die Rückkehr zu sich besteht darin, dass man sich immer wieder überschreiben kann nach jedem Aufbruch, nach jeder Rückkehr zu sich. Man kann sich sorgen, dass man in diesem Überschreiben eine der alten Identitäten verliert, man kann sorgfältig sein im Aufbewahren der Identität, und man kann auch aufhören, sich um sich zu kümmern und, anstatt seiner selbst, etwas anderes speichern: dann wird man selbst zur Sprache.“ 172

In nahezu jedem selbstdemontierenden Text stehen sprachlich der dekonstruierende Stil, der die üblichen grammatikalischen und syntaktischen Darstellungsmodalitäten unterwandert, und die sich selbstauflösenden Anspielungen des Schriftsteller-Ichs (Ich: eine leere, aber formatierte Diskette) miteinander in ironischer Verbindung. Am Beispiel des Romans Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull von Thomas Mann wird dieses Verfahren der Selbstdemontage fiktionalisiert und das Wechselspiel zwischen Selbsterhöhung und Selbstminimierung besonders anschaulich. Der Roman beginnt:

belangt. Der Roman Der Fänger im Roggen thematisiert die Idee des Verschwindens des Autors und des Erzählers explizit, bereits im ersten Satz: „Falls Sie wirklich meine Geschichte hören wollen, so möchten Sie wahrscheinlich vor allem wissen, wo ich geboren wurde und wie ich meine verflixte Kindheit verbrachte und was meine Eltern taten, bevor sie mit mir beschäftigt waren, und was es sonst noch an David-Copperfield-Zeug zu erzählen gäbe, aber ich habe keine Lust, das alles zu erzählen. Erstens langweilt mich das alles, und zweitens bekämen meine Eltern pro Nase je zwei Schlaganfälle, wenn ich so persönlich Auskunft geben würde. Sie sind in der Hinsicht sehr empfindlich, besonders mein Vater.“ (Jerôme David Salinger: Der Fänger im Roggen (1951/1954). Köln 2000, S. 7.) 172 Elfriede Jelinek: nicht bei sich und doch zuhause. In: Dies./Brigitte Landes (Hrsg.): Jelineks Wahl. Literarische Wahlverwandtschaften. München 1998, S. 11-22, 12.

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„Indem ich die Feder ergreife, um in völliger Muße und Zurückgezogenheit – gesund übrigens, wenn auch müde, sehr müde (so dass ich wohl nur in kleinen Etappen und unter häufigem Ausruhen werde vorwärtsschreiten können), indem ich mich also anschicke, meine Geständnisse in der sauberen und gefälligen Handschrift, die mir eigen ist, dem geduldigen Papier anzuvertrauen, beschleicht mich das flüchtige Bedenken, ob ich diesem geistigen Unternehmen nach Vorbildung und Schule denn auch gewachsen bin.“173

Stilistisch betrachtet stellt der Textanfang Thomas Manns mit seiner stockenden, einschubreichen Syntax das Gegenteil eines stringenten, flüssigen, dynamisch auf eine Zielperspektive hin konstruierten Textbeginns dar. In diesem demontierenden Grundprinzip ähnelt er dem mäandernden Jelinek-Text. Charakteristisch für beide vorgeblich selbstdemontierende Texte sind im Wesentlichen drei Stil-Prinzipien: Das ist zum einen die Fokussierung auf das Ich. Während sich allein in dem kurzen Auszug aus Felix Krull acht Personal- und Possessivpronomina finden lassen, verbirgt sich das Ich in der kurzen Sprachhandlung Jelineks zwar hinter dem allgemeingültigen Terminus man, kommt aber dennoch dreimal unverhohlen zum Vorschein, obwohl es sich anschickt, zurückzutreten (dann wird man selbst zur Sprache, aber das Ich bleibt ja da). Unmittelbarkeit und Authentizität werden verwirklicht durch eine starke Eingrenzung des Blickfeldes mit Hilfe des ausschließlichen Selbstbezugs.174 Das zweite Stil-Prinzip besteht in der sich wiederholenden Verwendung von Parenthesen, Neuansätzen und Brüchen. Sie legen bereits früh den Gedanken an ein Scheitern des Schreibers nahe. Doch dieses scheinbar drohende Scheitern wird inhaltlich negiert und ironisiert, weil der Schriftsteller formal das Schreiben selbst und inhaltlich das Thema seiner Demontage als artifizielles Konstrukt seines Ingeniums präsentiert und sich dadurch von seinem sich zersetzenden Ich ironisch distanziert, womit das dritte Stil-Prinzip benannt wäre: die Ironie. Im Falle Felix Krulls kommt die Ironie durch die Anhäufung von Selbstlob (gesund übrigens) zustande, so dass der Leser einen beinahe an dem Unterfangen scheiternden (wenn auch müde, sehr müde), jedoch gleichwohl in seiner Selbsteinschätzung sich dieser Aufgabe gewachsen sehenden Erzähler vor sich hat. Nimmt man den Titel Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull hinzu, eröffnet sich ein weiterer ironischer Horizont, denn: schon die Gattungsbezeichnung Bekenntnisse rekurriert auf die gestaltgebende Struktur der Autobiografie und zitiert mehr oder weniger ironisch mindestens zwei traditionsstiftende Werke, die Bekenntnisse von Aurelius Augustinus (Confessiones, um 400 n. Chr.) und die Bekenntnisse von Jean-Jacques Rousseau (Les Confessions, 1782-1789). Die Kombination dieses Traditionsbezugs mit Krulls Berufsbezeichnung des Hochstaplers und dem spezifischen Inhalt seiner Lebenserin-

173 Thomas Mann: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Der Memoiren erster Teil. (1954). Frankfurt a. M. 1989. 174 Zur Analyse der Ich-Erzählsituation in Thomas Manns Roman Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull siehe: Jochen Vogt: Aspekte erzählender Prosa. Opladen 1998, S. 66 ff.

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nerungen färbt die Bekenntnisse parodistisch ein.175 Bei Jelinek ist die Ironie ungleich schwieriger zu entdecken, liegt sie doch nicht im tropus, sondern in der figura. Beide Texte inszenieren stilsicher das Phänomen der eigenen Minimierung und Erhöhung gleichermaßen und bilden dieses symptomatisch ab. In selbstreferenzieller Manier weisen sie jeweils auf ihren (fiktiven) Urheber zurück, wobei der Urheber zusätzlich selbst die Unterminierung seiner Autopoiesis kommentiert. Frei verfügt Krull über die Zeitebenen, willkürlich unterbricht er seine Erzählung, um schließlich den Erzählfaden zu einem demonstrativ selbstbestimmten Zeitpunkt wieder fortzuspinnen. Durch Relativierung und Irritation der Sukzession gelingt es auch Jelinek autark und nicht minder machtvoll, sich selbst zu demontieren, um aus diesem metanarrativen Binnenrahmen und über diesen Text hinaus auf sich als Person und Sprachkünstlerin hinzuweisen. Liegt bei der fiktiven Romanfigur Krull die Selbstdemontage in der kontinuierlichen Betonung der Gefährdung des Unternehmens durch seine Person selbst, so basiert die dynamische Selbstauflösung in Jelineks essayistischem Text in der inhaltlichen Transformation des Selbst in ein anderes Medium: die Diskette und das Fluidum der Sprache. Krull, der sich gleichwohl omnipotent als Gewährsmann und Verweigerer von Inhalten erzählerisch in den Vordergrund spielt und damit selbstreferenziell als Objekt der Aufmerksamkeit aufdrängt, erschafft sich letztendlich, ebenso wie Jelinek, durch den artifiziellen Akt der intellektuellen Demontage umso fulminanter. Dieser vorgebliche Zweifel an der eigenen Kompetenz beinhaltet eine rhetorische, sokratische Dimension. Sie ist von der Art affektierter Bescheidenheit, wie sie schon die Autoren der Antike gebrauchten. Dieses Inszenierungsmuster stilisierter Bescheidenheit lässt sich auch am Textanfang des Doktor Faustus von Thomas Mann studieren. Die fiktiven Erinnerungen an den verstorbenen Komponisten Adrian Leverkühn schreibt dessen Freund und stiller Bewunderer Serenus auf, der nicht vergisst, seinen eigenen akademischen Titel (Mein Name ist Dr. phil. Serenus Zeitblom), seine Tugenden (Ich bin eine durchaus gemäßigte, […] gesunde, human temperierte, auf das Harmonische und Vernünftige gerichtete Natur, ein Gelehrter) und seine Herkunft (Mein Vater […] war Apotheker – übrigens der bedeutendste am Platze) zu erwähnen. Die Erinnerungen an den Freund Leverkühn beginnen mit der Vergegenwärtigung des Erzählers, unter dem Vorzeichen demutsvoller Selbstminimierung: „Mit aller Bescheidenheit will ich versichern, daß es keineswegs aus dem Wunsche geschieht, meine Person in den Vordergrund zu schieben, wenn ich diesen Mitteilungen über das Leben des verewigten Adrian Leverkühn, dieser ersten und gewiss sehr vorläufigen Biographie des teuren, vom Schicksal so furchtbar heimgesuchten, erhobenen und gestürzten Mannes und genialen Musikers einige Worte über mich selbst und meine Bewandtnisse vorausschicke.“176

175 Zur Parodie des autobiografischen Schreibens und zur Titelanalyse Felix Krulls siehe: Jochen Vogt: Aspekte erzählender Prosa. Opladen 1998, S. 69. 176 Thomas Mann: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde (1947). Frankfurt a. M. 2008, S. 7.

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Bescheidenheit prägt nicht nur die Art und Weise, in der sich Serenus selbst beschreibt, sondern sie sei auch das Movens, das ihn antreibe: „Einzig die Annahme bestimmt mich dazu, daß der Leser – ich sage besser: der zukünftige Leser; denn für den Augenblick besteht ja noch nicht die geringste Aussicht, daß meine Schrift das Licht der Öffentlichkeit erblicken könnte, – es sei denn, daß sie durch ein Wunder unsere umdrohte Festung Europa zu verlassen und denen draußen einen Hauch von den Geheimnissen unserer Einsamkeit zu bringen vermöchte; – ich bitte wieder ansetzen zu dürfen: nur weil ich damit rechne, daß man wünschen wird, über das Wer und Was des Schreibenden beiläufig unterrichtet zu werden, schicke ich diesen Eröffnungen einige wenige Notizen über mein eigenes Individuum voraus […].“177

Die Selbstinszenierung des Erzählers verläuft über zwei miteinander verbundene Techniken. Zum einen über die exzessive Verwendung der Pronomen der ersten Person Singular – 24 Mal findet in den folgenden Zeilen bis zum Ende des Abschnitts das Ich in Form von ich, meiner, mich etc. Ausdruck, während er, Adrian Leverkühn, nur einmal Erwähnung findet, und ein weiteres Mal in der euphemistischen Umschreibung des in Gott ruhenden unglücklichen Freundes. Zum anderen über die inhaltliche Negierung aller selbstbezogenen Absichten. Wird zunächst die Antizipation der Gefühlswelt des Lesers dazu genutzt, die eigenen Gemütsbewegungen des Erzählers zu thematisieren (Ich […] kann nicht umhin, ihnen eine gewisse Unruhe und Beschwertheit des Atemzuges anzumerken, die nur bezeichnend sind für den Gemütszustand, in dem ich mich heute […] befinde), so folgt kurz darauf die Demontage des selbstbewussten, von herzpochendem Mitteilungsbedürfnis getragenen, doch gleichwohl tiefe Scheu dabei empfindenden Ichs. Diese Scheu wirkt keinesfalls hemmend, sondern wird in diesem intellektuellen Inszenierungsverfahren instrumentalisiert. Als Legitimation des egozentrischen Sprechens lenkt die Selbstherabsetzung idealtypisch von den eigentlichen Motiven der Selbsterhöhung ab: „Aber in meinem Zweifel, ob ich mich zu der hier in Angriff genommenen Aufgabe eigentlich berufen fühlen darf, kann mich diese Entschiedenheit oder, wenn man so will, Beschränktheit meiner moralischen Person nur bestärken. […] Hier breche ich ab, mit dem beschämenden Gefühl artistischer Verfehlung und Unbeherrschtheit. […]“178

In einem Wechsel von Selbstthematisierung und Selbstdemontage konstituiert sich das Ich als eines, das trotz oder gerade aufgrund seiner Unzulänglichkeiten an Profil gewinnt. Und falls dem Leser dieses sich unterschwellig bildende und unter der diskursiven Schicht der Selbstminimierungen sich bald bäumende Ich nicht aufgefallen sein sollte, wird seine rühmliche Eigenschaft explizit und ebenso beiläufig wie absichtslos genannt – Ich hatte soeben kaum die Feder angesetzt, als ihr ein Wort entfloß, das mich heimlich bereits in gewisse Verlegenheit versetzte: das Wort „genial“. Aus dem sprachlichen Spiel stilisierter Beschränktheit, den Zweifeln und der

177 Mann, Doktor Faustus, S. 7. 178 Ebenda, S. 9ff.

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Besonnenheit erwächst das selbstdemontierte Ich – so inständig, daß es mir schreckhafterweise zuweilen schien, als würde ich damit über die mir eigentlich bestimmte und zukömmliche Gedankenebene hinausgetrieben und erführe selbst eine „unlautere“ Steigerung meiner natürlichen Gaben.179 Was ursprünglich in der antiken Sprachlehre lediglich als rhetorische captatio benevolentiae zur Erringung der Gunst des Publikums beteuert wird, nämlich dass dem Sprecher, dem Erzähler oder Redner, angeblich jede Begabung fehle, dass er von beschämendem Gefühl eigener Begrenztheit beherrscht wird, nicht vorbereitet sei und somit den Ansprüchen des geschätzten Publikums keineswegs gerecht werden könne, erweist sich als außerordentlich prestige- und gewinnbringendes Potenzial. Krull (nebst Serenus Zeitblom) wie auch Jelinek kokettieren somit mit ihrer eigenen Geringschätzung und angeblichen Unfähigkeit wie der Redner der Antike. Umso größer gerät dann die Wirkung beim Publikum, welches mit sprachlichen und ironischen Leistungen überrascht wird. Wenn diese Selbstherabsetzung mit den Möglichkeiten des Artifiziellen (wie zuvor über das Symbol des Affen in der Umgebung Jelineks) effektvoll in Szene gesetzt wird, dann entsteht frühzeitig in der inszenierten Selbstdemontage ein publikumswirksamer Erfolg. Durch ihre fiktionalen, prosaischen Werke verstärkt Jelinek interdiskursiv ihre öffentliche Selbstdemontage und den Mythos der alles verneinenden Literatin: In ihrem assoziativen und sämtliche Gegenwartsphänomene persiflierenden und destruierenden Debüt-Roman wir sind lockvögel, baby!180, der aus Werbespot-Sprüchen, Liedtexten, Film-Szenen, Comic-Strip-Adaptionen und Theorie-Fragmenten kompiliert ist,181 verkörpert die fiktionalen Figur „otto“182 das alle Gewissheiten negierende und den auktorialen Identitätskern zersetzende Prinzip. otto ist die einzige Konstante. Die Konstanz liegt jedoch nicht in otto selbst, sondern im Auftauchen ottos in den sich metamorphosisch verändernden Kontexten; otto ist eine permanente Wandlung: otto ist Mann und Frau, Vater, Mutter und Kind, Täter und Opfer, Rassist und Farbiger, Faschist und Revolutionär, Herrscher und Sklave, Sieger und Verlierer, Totschläger, Krankenschwester, Frauenschänder, Retter, Versandhaus, Kunstmaler, Ty-

179 Vgl. Mann, Doktor Faustus, S. 9f. 180 Elfriede Jelinek: wir sind lockvögel, baby! Reinbek bei Hamburg 1988. Nachfolgend abgegkürzt mit: WSL und Seitenzahl. 181 Mal persifliert Jelinek die Beatles, mal die bürgerliche Ehe: „ringo hatte bei seinem taumel von einem flüchtigen abenteuer in nächste einen schalen geschmack im mund. einen nachgeschmack. er sagte oft zu paul der sich im flitterbikini von einem hohen glänzenden star herabschwang you moving from a star verdammt noch einmal lass uns ehrlich zueinander sein.“ (WSL, 142) An anderer Stelle: „wir verstanden uns vom ersten tag, nach drei jahren kam das erste kind […] seit vierzig jahren führen wir eine glückliche ehe […] eben strecke ich meinen blondkopf zur tür herein. Good morning!“ (WSL, 123) 182 Im Folgenden werden Namen der Figuren, die aus Jelineks Roman wir sind lockvögel, baby! stammen (otto, maria, irma, …), kleingeschrieben, um den Unterschied zur Figurenidentität in Goethes Wahlverwandtschaften, die als Matrix dienen, kenntlich zu machen.

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rann und Organspender. ottos „teuflisches Genie“ (WSL, 48) kennt keine Grenzen, nur Widersprüche, otto ist omnipräsent und omnipotent, er stirbt und lebt weiter, er erzeugt und vernichtet. Er ist eine Maske, eine kontinuierliche Verstellung, auf die der Leser des Romans im ersten Satz des ersten Kapitels die funktion ottos hingewiesen wird: „die funktion ottos denn alles was er bisher gezeigt hatte war verstellung nun brach sein wahres naturell mit aller macht durch.“ (WSL, 9) otto ist die personifizierte Verdunklungsstrategie, er ist eine permanente Negation, eine variable Universalfunktion. Das 69. kapitel, das nur aus einem Satz besteht, pointiert das Affirmations- und Negationsprinzip, das mit dem aufklärerischem Begehren nach Klarheit und ihrem Versagen spielt: „let there be more light! fordert einer aus der runde. aber alles was brian jones darauf antwortet: DREHT ENDLICH DAS LICHT AB!“ (WSL, 244). Identität und Auflösung, Sinn und Widersinn befinden sich in permanenter Metamorphose: „Die beiden wussten nicht war es ernst oder war es scherz dem kasperl durften sie sowohl eine lustige flunkerei wie einen übermütigen streich zutrauen jedenfalls erhöhte das die stimmung der zauberfeen auf dem rücken des feuerspeienden drachens.“183

In ihrer Nobelpreisvorlesung (2004)184 reflektiert Jelinek diese Diffusion ihrer Schriftsteller-Identität und die Konsequenzen; das Missverstehen der Rezipienten, das sie durch diese bewusst inszenierte Selbstsubversion evoziert: „Ich bin fort, indem ich nicht fortgehe. Und auch dort möchte ich zur Sicherheit Schutz haben vor meiner eigenen Unsicherheit, aber auch vor der Unsicherheit des Bodens, auf dem ich stehe.“

Die Deutungssicherheit, die sie ihren Rezipienten verweigert, sucht Jelinek weiterhin für sich selbst, um die Unsicherheit des Bodens zu minimieren. Die Sprache als autonomes, von ihr losgelöstes Sprachtier beschützt sie und zerfleischt sie: „Es läuft zur Sicherheit, nicht nur um mich zu behüten, meine Sprache neben mir her und kontrolliert, ob ich es auch richtig mache, ob ich es richtig falsch mache, die Wirklichkeit zu beschreiben, denn sie muss immer falsch beschrieben werden, sie kann nicht anders, aber so falsch, dass jeder, der sie liest oder hört, ihre Falschheit sofort bemerkt. Die lügt ja! Und dieser Hund Sprache, der mich beschützen soll, dafür habe ich ihn ja, der schnappt nach mir. Mein Schutz will mich beißen.“

Die Gefahr dieses nihilistischen, die Wirklichkeit destruierenden Verfahrens (die Wirklichkeit … sie muss immer falsch beschrieben werden) wird hier bereits deutlich: Es richtet sich letztlich gegen Jelinek selbst. Die erodierende Sicherheit wird durch

183 Elfriede Jelinek: wir sind lockvögel, baby! Reinbek bei Hamburg 1988, S. 103. 184 Elfriede Jelinek: Im Abseits. Nobelpreisvorlesung, anlässlich der Verleihung des Literaturnobelpreises an Elfriede Jelinek 2004. Online-Publikation: http://www.nobelprize.org/ nobel_prizes/laureates/2004/jelinek-lecture-g.html (Stand: Januar 2014)

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Jelineks Rede diskursiv verankert. Die Wirklichkeit ist so brüchig wie der Boden, auf dem sie steht (Wie sollte man auf diesem bodenlosen Loch bauen können?), so brüchig wie die Sprache und die Identität selbst. Und sogar das ist nicht bruchlos sicher. Wenige Zeilen weiter schreibt sie: „Was immer geschieht, nur die Sprache geht von mir weg, ich selbst, ich bleibe. Die Sprache geht. Ich bleibe, aber weg. Nur auf dem Weg. Und mir bleibt die Sprache weg. Nein, sie ist noch da.“

Die Irritation durch die otto-manische Polarität der Anwesenheit und Abwesenheit von Sprache und Selbst sowie die Revision (die Sprache geht … nein, sie ist noch da; ich bleibe, aber weg) wird noch weiter getrieben; zunächst positiv (das Adverb „weg“ wird zum Substantiv und der „Weg“ damit eine Offerte). Kurz darauf destruiert Jelinek die Hoffnung auf einen Ausweg, indem der Weg, über den sich Sprache und Selbst auflöst und wiederkehrt, kein Weg ist, sondern, in Analogie zum Bodenloch, Leere: „Das Leere ist der Weg. […] Weg ist weg. Weg ist kein Weg.“ Selbst die Peritexte zu Jelineks Romanen fordern zur Demontage auf. Auf der ersten Seite ihres Romans wir sind lockvögel, baby! fordert Elfriede Jelinek ihre Leser auf, dem erworbenen Buch selbst einen Untertitel zu geben. Zur Auswahl stellt sie die disparaten Alternativen: „die verabschiedung der begleiter“, „liebe machen in geschützten fichten“, „der zauber der montur & sein nachlassen“, „das eigene nest“ „ist das nicht schon krieg“ und „die vorübung“. In der auf der zweiten Seite abgedruckten Gebrauchsanweisung befiehlt Jelinek: „sie sollen dieses buch sofort eigenmächtig verändern. sie sollen die untertitel auswechseln. sie sollen hergehen & sich überhaupt zu VERÄNDERUNGEN ausserhalb der legalität hinreissen lassen.“

Zur Auswahl stehen die folgenden Titel: die verabschiedung der begleiter, liebe machen in geschützten fichten, der zauber der montur & sein nachlassen, das eigene nest, ist das schon krieg?, die vorübung. Zum Ausschneiden ermutigen gestrichelte Linien und das ikonische Zeichen der Schere.

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Abbildung 38: Peritexte zu „wir sind lockvögel, baby!“ (1988)185 Jelinek verfolgt mit ihren ebenso obsessiven wie stets nihilistischen Sprachspielen zwei diametral entgegengesetzte Zwecke: Während ihr das literarische und künstlerische Sprachspiel, das sie in ihren Theater- und Prosatexten einsetzt, dazu dient Missstände (z. B. faschistoide gesellschaftliche Tendenzen) zu enttarnen, indem sie sie sprachlich entarten lässt, so fungiert das Sprachspiel auf persönlicher Ebene in umgekehrter Weise: Weil sie wahre und falsche Aussagen über sich selbst, in einem Wortstrom aneinander montiert, verschleiert sie die Wahrheit über ihre eigene Persönlichkeit, indem sie sie ausspricht und iterativ kolportiert. Selbstdemontierende Aussagen und den sich immer wiederholenden, wechselnden Widerspruch praktiziert die Schriftstellerin auch in Interviews und manifestiert so ihr Image. Im Gespräch mit Georg Biron in der Zeit antwortet sie auf die Frage, ob sie ein ehrlicher Mensch sei, mit der Aussage: „Ich bin unheimlich verlogen.“ 186 Ein anderes Mal behauptet Jelinek am Ende eines Interviews: „Wahrscheinlich ist auch alles gar nicht wahr, was ich gesagt habe.“187 Die stilisierte Falschheit manifestiert sich außerdem inhaltlich. Im Gespräch mit Hanne Egghardt erzählt Jelinek erst: „Es ist ein Mythos, dass Künstler ein chaotisches Leben führen. Mein Leben verläuft in fest geregelten Bahnen.“ Ihr Tagesablauf sei „minutiös eingeteilt“, sie stehe um 06:30 Uhr auf, eine Stunde später im Winter, setze sich nach dem Frühstück an die Arbeit und schreibe bis 09:30 Uhr. Dann gehe sie mit dem Hund spazieren. Nach dem Spaziergang lese sie Zeitung und Texte bis zum Mittagessen. Kurz darauf sagt sie, die Struktur durchbrechend, das Vorherige widerlegend: „Ich gehöre zu den chaotischen Auto-

185 Elfriede Jelinek: wir sind lockvögel, baby! Reinbek bei Hamburg 1988. 186 Elfriede Jelinek: „Wahrscheinlich wäre ich eine Lustmörderin.“ Jelinek im Gespräch mit Georg Biron. In: Die Zeit, 28.09.1984. 187 Elfriede Jelinek: „Wie ich wirklich bin, weiß niemand.“ Gespräch mit Rudolf Maresch. In: Mittelbayrische Zeitung, Tagesanzeiger, Regensburg, 16.01.1993.

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ren.“188 Im Interview mit der Vogue verrät sie über Mode und Make-up: „Ich will mich nicht präsentieren. […] Ich will abweisen. […] Eine Frau sollte nie tragen, was Männern gefällt“189, im FAZ-Magazin beginnt sie ihre Identitätskonstruktion ähnlich:190 „Ich will mich durch Bekleidung und Kosmetik nicht eigentlich schön machen. […] Man muss ja auch kritisch sehen, was das Make-up überhaupt für eine Frau bedeutet. Es steckt ja das Bewusstsein vom niedrigen Wert im Vergleich zum Mann dahinter.“

Die Subversion der Aussage setzt kurz darauf ein: „Ich denke, wenn ich mich schminke, sehe ich noch ganz gut aus für mein Alter. […] Ich würde auch kosmetische Operationen machen lassen, […] Ich hoffe, daß die kosmetische Chirurgie, wenn ich sie brauche, Fortschritte gemacht hat.“

Und ergänzt: „Die Sache ist schon höchst ambivalent.“

Wie die Sprache ihr weder als Abbild noch als Werkzeug dient, sondern als differenzielle Bedeutungspraxis, die imaginäre, symbolische und diskursive Effekte hervorruft, so ist auch ihre (öffentliche) Identität kein mimetischer Ausdruck, sondern performatives und provisorisches Resultat eines wandlungsfähigen Aktes, eine nichtidentische Wiederholung. Ihre poetologische und inszenatorische Technik des avantgardistischen potenzierten Zitierens und der dadurch entstehenden Distanzierung zelebriert sie reflexiv in ihrem Vorwort-Text „nicht bei sich und doch zuhause“ ihres Kompendiums mit dem Titel Jelineks Wahl. „Auf der Werkbank der Dichtung wird auf die Sprache eingeschlagen, damit sie etwas herausbildet. Was sie nicht freiwillig tun will. Der Sprache passt es nicht, dass, anstatt sich mit etwas herumzuschlagen, nun auf sie eingeprügelt wird. Dass man sie in eine andre Form zwingt. Sie will nicht gern verbogen werden. Gefährlich zu sein, das wäre schön, dabei aber unschuldig bleiben! So hätte sies denn gern, die Sprache. Es ist ihr aber manchmal nicht erlaubt, denn einer schickt sie hinaus, nachdem sie unter dem Hammer gewesen und, oft, recht billig verschleudert wurde, und dann darf sie stiften gehen. Was denn stiften? Den Bleistift stiften? Nein, der Stift stiftet gewiss nicht die Dichtung, umgekehrt, die Dichtung ermöglicht die Sprache und was der Stift notiert, ein Stift, der keinen Herrn hat und kennt und sich selbst nicht kennt, weil ein anderer ihn führt. In Deutschland nennt man (nannte man früher) ja den Lehrling einen „Stift“. Wer ist also sein Herr, wer ist die gelassene Hand, die von der Hand die Worte lässt, die dann über-

188 Elfriede Jelinek: PC und Autoren. Texte wie im Fernsehen. Jelinek im Gespräch mit Hanne Egghardt: In: Trend-Profil Extra, 1987, Nr. 1, S. 26 f. 189 Elfriede Jelinek: „Eine Frau sollte nie tragen, was Männern gefällt.“ Elfriede Jelinek über Mode. Gespräch mit Pascal Morché. In: Vogue 1987, Nr. 1, S. 74. 190 Elfriede Jelinek: Warum ist das Schminken so wichtig für Sie, Frau Jelinek? Jelinek im Gespräch mit Agnes Hümer. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Magazin, 31.10.1986.

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raschend schnell allein gehen können, und ihr Schöpfer rennt schreiend hinter ihnen her. Wer ist wichtiger? Von welchen beiden, man müsste sie ja beide kenne, um zu wissen, auf wen man dabei setzen soll.“191

Die Kunst sei, sich selbst auszusparen und so immer wieder neu an der Oberfläche zu erfinden. Noch einmal otto: Man kann angesichts struktureller Übereinstimmungen den Namen otto als Symbol des selbstsubversiven Wirkprinzips verstehen, das in Jelineks Aussagen, in ihrem Roman wir sind lockvögel, baby! und in Goethes Wahlverwandtschaften zur Anschauung kommt. Das Palindrom o-t-t-o lässt sich vorwärts wie rückwärts lesen; es verweist damit auf die von Goethe exemplifizierte Spaltung in ein „zweites Ich“.192 Das Prinzip verbirgt sich in den Wahlverwandtschaften in zahlreichen gegensätzlichen, doch einander bedingenden Daseinsbezügen: der „Lustsee“ wird zum „Todessee“, Eduards Geburtstag erweist sich als Ottilies Todestag, Neubauten (wie die umgestaltete Kapelle) werden zu Gruften umfunktioniert. otto steht also für Anfang und Ende, Liebe und Tod. Wie in einer parodistischen Fortführung Goethes behauptet Jelinek ironisch: „otto ist nicht tot. otto ist nur untergetaucht um sich dem zugriff der polizei zu entziehen. jetzt kommt er wieder um die herrschaft über die welt zu erobern.“ (WSL, 35). 193 Als Strukturprinzip vermag otto zwar zu vergehen, doch vermag er ebenso aus sich selbst heraus wieder zu entstehen. „aus ottos trümmern kriecht otto hervor“ (WSL, 248).194 In ihrer Nobelpreisvorlesung, in der Jelinek, dem Topos des Abseitigen folgend, die Sprache mal als Waffe (Durch den Rückstoß dieser Sprache werde ich immer weiter in diesen abseitigen Raum hineingejagt), dann als Katze, als Hund (will sie gar schon wieder zubeißen?), als scheinbar zahmes Haustier, als Vater, als Mutter, als Kind und als Gefängniswächter metaphorisch stilisiert und selbst mit ihr verschmilzt, sich an sie bindet (Ich bin die Gefangene meiner Sprache), überträgt sie das Identität desavouierende Universalitätsprinzip, wie sie es in wir sind lockvögel, baby! fiktional an otto erprobt hat, auf ihre öffentliche Autorfigur. Denn: „Was bleiben soll, ist immer fort. Es ist jedenfalls nicht da“, erklärt sie im letzten Satz ihrer Rede die Unmöglichkeit, ein anderes Verhalten zu zeigen: „Was bleibt einem also übrig.“ Damit erhebt sie ihr selbstdemontierendes Inszenierungsprinzip zu etwas Unabänderlichem, Naturgegebenem und verleiht ihm zugleich – vermittels der omnipotenten

191 Jelinek, nicht bei sich und doch zuhause, in: Jelinek/Landes (Hrsg.): Jelineks Wahl, S. 11 f. 192 Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. In: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 6. Hrsg. v. Erich Trunz. München 1973, S. 267. 193 Dieses mit dem obsessiven Nihilismus verbundene Herrschaftsdenken klingt auch in Jelineks Nobelpreis-Rede an; dort heißt es: „Sie ist weg, um zu überlegen, wem sie überlegen ist.“ 194 Vgl. Uda Schestag: Sprachspiel als Lebensform. Strukturuntersuchungen zur erzählenden Prosa Elfriede Jelineks. Bielfeld 1997, S. 178 ff. Und: Jochen Hörisch: Das Sein der Zeichen und das Zeichen des Seins. In: Jacques Derrida: Die Stimme und das Phänomen. Ein Essay über das Problem des Zeichens in der Philosophie Husserls. Frankfurt a. M. 1979, S. 19 f.

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Selbstgenierung – eine überzeitliche Kraft; Goethe würde diese Kraft als „Verhängnis“ bezeichnen.195 Bei Jelineks geballter nihilistischer Selbstminimierungsrhetorik im Dienste der Aufrechterhaltung einer kalkulierten Öffentlichkeitsoptik zwischen (inszenierter) Negation und (inszenierter) Dominanz entsteht ein virtuelles Bild der Autorin, ihr Mythos, jenseits aller empirischen Identität. Ein Subjekt aus Zeichen, Aussagen, Gesten, Floskeln, Sprachritualen, die den Ideen Foucaults insofern entsprechen, als hier die Figur der Autorin sich selbsttätig und gleichwohl den marktkapitalistischen Mechanismen entsprechend aufzulösen und zu verflüchtigen beginnt. Ähnlich wie Jelinek nutzt die Lyrikerin Barbara Köhler die Selbstdemontage in sprachartistisch dissimulierender Weise: Sie spricht über sich, ohne wirklich etwas von sich preis zu geben; die Worte dienen ihr nicht der kommunikativen Transparenz, sondern der Verschleierung ihrer Autorperson. In ihrem experimentellen Sprachwerk cor responde schreibt sie über die Funktion der Sprache: „aus den rollen gefallen erfinden wir uns in eine sprache die rede ein netz nennt discurso die rede ein zuspruch im wechsel der sprache aber antwortet farbe werden die worte gewogen auf gewogen“196

Als einzige autobiografische Notiz zu der Autorin und den an dem Buch Beteiligten heißt: „Es gibt Voraussetzungen, es gibt Namen und Namenlose, es gibt Überlieferungen von Menschen und Orten und Texten.“ 197 Zur Inszenierung von Barbara Köhler, die öffentlich selten und wenn, dann bescheiden auftritt, mag hier ein Brief dienen, eine Vermittlung. In diesem lyrisch-poetischen Brief kritisiert Barbara Köhler vor der Matrix einer zerbrochenen Liebesbeziehung (die auch medial als Liaison zwischen Autorin und Öffentlichkeit zu deuten ist) die Gefährdung der Selbstpreisgabe. Als Schutz vor Verletzungen verbirgt sich die Autorin sprachartistisch hinter ihren Wortflächen. Indem sie sich im Sprachspiel ohne Struktur und Muster demontiert, Deutungen offen lässt, Doppeldeutigkeiten provoziert, gelingt es Barbara Köhler einen eindeutigen, wenngleich in der Poesie verborgenen Identitätsentwurf zu verwässern. Ein greifbarer Kern wird ebenso undeutlich wie die Wörter, die hier, gänzlich ohne Satzzeichen und Absätze, zu einem Gedankenmeer verschwimmen: „Fünfter Brief korrespondenzen, Mariana, liebe, korrosion: zwei elemente die sich mischen eine dünne schicht veränderung die haut in der die zeit sich faltet in die wir uns erinnern hüllen höhlen höllen hellen verwachsen unter narben zu empfindlichkeiten für anklänge für übergänge übergangenes für verlorene worte die niemand haben wollte wie liebesmüh was niemand annimmt aber bleibt bleibt ein gegebenes & was nicht zählt bleibt unberechenbar es bleibt am leben wie am tod es atmet grenzt an schweigen & spricht darin wie zuspruch antwortet ungefragte zwiesprache einer stimme klang der einen hand an grenzen: verletzlichkeiten die verbinden Mariana poröses

195 Goethe, Wahlverwandtschaften, S. 261. 196 Barbara Köhler: Abertura. In: Dies./Michael Ueli: Cor responde. Hrsg. v. Jörg und Karen van den Berg. Duisburg, Berlin 1998, o. S. 197 Ebenda, o. S.

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pergament membran papier beschrieben ist eine schmerzgrenze an der nerven offen enden unter der hand verletzt ein wunder mund spricht: kein wunder nur der lauf der dinge jeder schritt ein fortschritt kein entgegenkommen gegen den lauf der zeit gehst du grenzgängerin in deinem hautland randland am meer entlang das atmet gehst im wind in windhaut gehst am tag und in der nacht der nachthaut schlafhaut eine dünne schicht vergängliches im dunkeln leuchtend im licht opake erwiderung die bleibt & aus der zeit geht in die schrift einem & allen zugewandt wirst du dir lesbar dein vergehen zu verwandlung zur letzten gabe an den fortgegangenen ihm nicht vergeben ihn verlorengeben ihn aufgeben: die auf gabe die er nicht lösen kann mit der du alles er hälst ihm nichts vergisst & er sich schritt für schritt & punkt für punkt verrechnet bis zur null summe die übrigbleibt. wenn man die haut abzieht“

Der Brief, den die Erzählerin aus Lissabon schreibt, und der in erster Linie von einem er handelt, der die liebesmüh nicht annimmt und doch bleibt, zumindest als Gegebenes (was er gibt, bleibt hingegen weitgehend unbekannt), reflektiert weit mehr als die Ergründung der Person des er. Die Zeilen reflektieren den poetisierten Prozess, der die haut abzieht und so erkundet, was übrigbleibt. Zwar wird kein einziges Mal das Personalpronomen „ich“ gebraucht, doch täuscht das sprachliche Netz nicht darüber hinweg, dass es sich um die Reflexionen, Korrespondenzen, den Austausch und die Zersetzung, um die Korrosion von Ideen, Idealen und die Er-Findung derselben, sowie auch des Selbst geht. Die zwiesprache, die die Erzählerin führt – mit mariana, der liebe(n), und mit sich selbst – ist getragen von der Hoffnung auf zuspruch (von mariana, dem unbekannten er und auch vom Leser), ein zuspruch, der nur in lichten Momenten geschieht – im licht opake erwiderung. Köhlers Inszenierung findet auch hier im Verborgenen statt. Indem sie einen Kontext mit geringem Inhalt anbietet und sich selbst so in einen Rahmen (im Sinne Derridas parergon) verschleiert mäandernder Wörter stellt, lässt sie den Leser selbst das Bild suchen, das er in den Rahmen hineinzustellen vermag. Durch die Unent-scheidbarkeit einer adjektivischen oder substantivisch elliptischen Lesart generiert sie mehrere widersprüchliche Bedeutungen: ein wunder mund spricht. Gleichwohl, ob Wunder oder Wunde, das Sprechen ist Voraussetzung für beides. Und es ist ein Wagnis. Denn dort, wo eine Öffnung geschieht, finden verletzlichkeiten statt. Dort ist die schmerzgrenze an der nerven offen enden, bei Unachtsamkeit rasch unter der hand verletzt. Nicht allein in der Liebe, auch auf dem literarischen Feld sind die hüllen und Fassaden, die höhlen, die verborgenen Räume und die höllen Bestandteil der Kommunikation, die an Sichtbares und Körperlichkeit gebunden sind: die Haut. Das Gesagte ist festgehalten auf poröse[m] pergament membran papier. beschrieben ist eine schmerzgrenze. So wie das Pergament als beschriebene (Tier-)Haut weist die menschliche Haut als lesbarer Text auf eine ebensolche Deutung hin; das hautland als sichtbare Schmerzgrenze, an der veränderung […] verwachsen [sind] unter narben zu empfindlichkeiten, und als Grenzlinie zwischen dem Ich und dem anderen, der sieht und deutet im Wissen um das Poröse dieser Textur. Und ist auch das Zueinanderfinden und Voneinanderwegbewegen kein wunder nur der lauf der dinge jeder schritt ein fortschritt kein entgegenkommen gegen den lauf der zeit, so bleibt der Blick auf den anderen immer durch das Gefühl der Fremdheit determiniert. Der Eindruck der Fremde, der entsteht, wenn mehr verborgen als gezeigt wird, macht sich die Erzählerin selbst zunutze: Folglich verfügt der Brief

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über kein Ich, das greifbar wäre, trotz metaphorischer Körperlichkeit, über keine Gefühlsregung, die deutbar wäre ohne nicht auch die Gegenposition wahrscheinlich erscheinen zu lassen. Das poetisierte Ich ist eine grenzgängerin, die sich am Rand aufhält: gehst du grenzgängerin in deinem hautland randland am meer entlang das atmet gehst im wind in windhaut gehst am tag und in der nacht der nachthaut schlafhaut. Objektiviert durch die zweite Person Singular ist die Grenzgängerin in der Lage, ihre Häute zu wechseln, sich je nach Situation eine dünne Schutzschicht überzuziehen, sich der Umgebung anzupassen und damit eher verborgen zu bleiben, als sich zu zeigen. Im Privaten, in der Liebe, wie Barbara Köhler sie thematisiert, und in der Öffentlichkeit wirkt die Ökonomie, der in Zahlen und Fakten mess- und berechenbare Wert: was nicht zählt bleibt unberechenbar – die auf gabe die er nicht lösen kann mit der du alles er hälst – & er sich schritt für schritt & punkt für punkt verrechnet bis zur null summe die übrigbleibt. Als Beispiel für die Ökonomisierung des NichtÖkonomisierbaren, der Emotionen und das Scheitern daran (die auf gabe die er nicht lösen kann) markiert diese Textstelle zugleich den Wendepunkt innerhalb des Zwiegesprächs. War zuvor der er das Phänomen, das Fragen offen ließ und dem nicht mehr leiblich nachzuspüren war, weil er fortgegangen ist, so es ist nun die Erzählerin selbst, die sich als Rätsel stilisiert: die auf gabe die er nicht lösen kann mit der du alles er hälst. Es bleibt die Frage offen, ob er, und auch der Leser, mit ihrer lyrischen Offenbarung alles Wissen über sie wie ein Geschenk erhält oder ob er nicht vielmehr die Aufgabe erhält, ihre Eigenheiten weiter zu ergründen – und im Zuge dieser ergründung des dichterischen Wesens, ihren Mythos im Akt der Suche am Leben hält. So wie die Dichterin sich im Sprachspiel, im Strom der Wörter verbirgt und damit ein (an)greifbares Ich demontiert, so sorgt sie gleichwohl für Imaginationen; oder anders formuliert: Das (sprachliche) Rätsel sorgt für gedankliche Präsenz im Gegenüber und im Diskurs. Als weitere Variation oder Substrategie der Selbstdemontage, wie wir sie fiktional an dem Roman Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, essayistisch an Jelineks Texten und Reden sowie lyrisch an einem Brief der Sprachkünstlerin Barbara Köhler gesehen haben, eignet sich zudem die selbstinszenatorische Technik des boulevardesken Spektakels, mit dem (nicht selten jedoch ungewollten) Effekt der Herabsetzung der eigenen Person, bei gleichzeitiger Aufmerksamkeitsgarantie: „Das Spektakel […] sagt nichts mehr als: ‚Was erscheint, das ist gut; was gut ist, das erscheint’“198 , definiert Guy Debord diese Aufmerksamkeitsstrategie, die sich maßgeblich in den Gazetten wie etwa auch in den Schlagzeilen der Bild-Zeitung spiegelt. Das Spektakel stelle „eine ungeheure und unbestreitbare Positivität“ dar, es sei eine „oberflächliche Zur-Schau-Stellung von Marginalien“, oder kritisch gewendet: Es ist die „Erhaltung der Bewusstlosigkeit.“ 199 Die Sprache des Spektakels besteht aus der Reproduktion der „Zeichen der herrschenden Produktion, die zugleich der letzte Endzweck dieser Produktion sind“.200

198 Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels (1971/1996). Berlin 1996, S. 17. 199 Vgl. Ebenda, S. 23. 200 Ebenda, S. 15.

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Die Strategie der spektakelnden Selbstdemontage lässt sich exemplarisch an einem verbalen Fauxpas von Günter Grass illustrieren, den sein intellektueller Ehrgeiz bei einem Auftritt in Danzig zu Beleidigungen über die polnische Hygiene und Infrastruktur motivierte. In Polen „hatte Grass, […] die Massen mit dem Scherz begeistert, man möge endlich dafür sorgen, dass in Danzig jede Wohnung eine eigene Toilette bekommt“201, womit er nebenbei die Annahme kolportierte, es gäbe in Polen weder ein flächendeckendes Abwassersystem noch den Willen und die Mittel zur gebotenen Modernität. Das Spektakel als selbstdemontierendes Inszenierungsinstrument, so zeigt das Beispiel, ist in diesem Falle auch das Gegenteil des Dialogs. Es erzielt gleichwohl einen veritablen, öffentliche Aufmerksamkeit generierenden Effekt – und macht das Gegenüber in der Regel sprachlos.

P ERITEXTUELL VERFÜHREN Eine wichtige schriftstellerische Sichtbarkeitsstrategie mit mythosgenerierendem Wert ist der Peritext. Bei der Untersuchung der Peritexte 202, die im unmittelbaren Umfeld eines veröffentlichten Textes situiert sind (z. B. der Titel, die Widmung, ein Vorwort oder Zitat), mitunter in den Zwischenräumen des Textes auftauchende Kapitelüberschriften und Anmerkungen, zeigen sich der Titel, der Klappentext und die Covergestaltung eines Buches als die sicherlich auffälligsten und wirkungsvollsten Elemente der peritextuellen Inszenierung. Titel, Klappentext und Covergestaltung sind verlegerische Peritexte. Als verlegerischer Peritext wird der gesamte Bereich des Peritextes bezeichnet, für den direkt und hauptsächlich (aber nicht ausschließlich) der Verlag verantwortlich ist und bei dessen Gestaltung der Autor dennoch Einfluss geltend machen kann. 203 Bei der Widmung und dem Motto handelt es sich um selbstständige Aussagen, die dem Werk vorangestellt, einzig und allein vom Autor bestimmt und dadurch wichtiges Indiz für seine (öffentlich gemachte) Selbstsicht sind.204

Der Titel Der Titel besteht – im Vergleich zu manch historischen, sehr langen, resümierenden Titeln (wie sie im Barock und der Zeit der Aufklärung üblich waren)205 – heute aus 201 Gunther Latsch: Große Geste. In: Der Spiegel, 2004, Nr. 8. 202 Vgl. Gérard Genette: Paratexte. Das Buch zum Bewerk des Buches (1987/1989). Frankfurt a. M. 2001, S.12. 203 Vgl. Genette, Paratexte, S. 22-40. 204 Vgl. ebenda, S. 115-150. 205 Zum Beispiel der ursprüngliche, ungekürzte Titel von Daniel Dafoes Robinson Crusoe (1719), der da lautet: Das Leben und die seltsamen überraschenden Abenteuer des Robinson Crusoe aus York, Seemann: der 28 Jahre allein auf einer unbewohnten Insel an der

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eher unvollständigen Formen, die Assoziationsfreiräume lassen, etwa: Titel + Untertitel (Peter Handke: Kali. Eine Vorwintergeschichte; Elfriede Jelinek: Der Tod und das Mädchen. Prinzessinnendrama) oder Titel + Gattungsangabe (Günter Grass: Im Krebsgang. Novelle), ganz zu schweigen von den minimalistischen und heute vielfach zu findenden Titeln, die sich auf das Element Titel beschränken ohne Untertitel oder Gattungsangabe (Elfriede Jelinek: Lust). Wie jede andere Kommunikationsinstanz besteht der Titel aus drei Elementen: der Mitteilung (dem Titel als solchem), einem Adressaten (dem Publikum) und einem Adressierenden (dem Autor oder Verleger). Der Adressat ist im Grunde nicht die Summe der Leser des Buches, sondern eine Gesamtheit, die auch die Personen umfasst, die das Buch nicht oder nicht vollständig lesen, aber dennoch an seiner Rezeption und Verbreitung beteiligt sind. „Dazu gehören zum Beispiel – die Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit – der Verleger, seine Presseattachés, seine Vertreter, seine Buchhändler, die Kritiker und Gesellschaftskolumnisten und sogar und vielleicht vor allem diese unbezahlten oder freiwilligen Kolporteure, die wir alle irgendwann einmal sind […]. In dieser Definition übersteigt das Publikum, wie man sieht, bei weitem oft und aktiv den Leser. Man hat schon lange begriffen, woraus ich hinaus will: Der Adressat des Textes ist durchaus der Leser, der Adressat des Titels aber ist das Publikum im eben präzisierten oder eher erweiterten Sinn.“206

Auf dem nicht lesenden, aber den Titel rezipierenden Publikum gründet nicht selten ein wesentlicher Teil des Erfolgs eines Buches. Der literarische Text ist Gegenstand der Lektüre, der Titel aber ist, wie auch der Autorname, Gegenstand einer Zirkulation, eines Gespräches oder Diskurses, und kann als Beschleuniger der Rezeption dienen. Die Funktion des Titels hat Charles Grivel so zusammengefasst: erstens „das Werk zu identifizieren“, zweitens „seinen Inhalt zu bezeichnen“ und drittens die für unseren Zusammenhang wichtigste Funktion, „ihn in ein günstiges Licht zu rücken“, bzw. das Publikum mit dem Titel zu verführen.207 „Ein schöner Titel ist der Zuhälter eines Buches.“208 Ob der Titel dabei thematisch formuliert ist (und eng an den tatsächlichen Inhalt oder den Protagonisten des Buches angelehnt ist) oder rhematisch formuliert ist (also auf eine zusätzliche, zusammenfassende, referenzielle oder ein übergeordnetes Motto andeutende Aussage abzielt), ist zwar analytisch relevant, für die peritextuelle Selbst- und Werk-Inszenierung allerdings sekundär, da sowohl ein thematischer Titel (wie der von Birgit Kempker: Als ich das erste Mal mit einem

Küste von Amerika lebte, in der Nähe der Mündung des großen Flusses Oroonoque; Durch einen Schiffbruch an Land gespült, bei dem alle außer ihm ums Leben kamen. Mit einer Aufzeichnung, wie er endlich seltsam aus den Händen von Piraten befreit wurde. Geschrieben von ihm selbst. Beispielhaft auch, der folgende Titel von Hans Sachs (1568): Eygentliche Beschreibung Aller Stände auff Erden. Hoher und Nidriger, Geistlicher und Weltlicher, Aller Künsten, Handwercken und Händeln, etc. vom grösten biß zum kleinesten, Auch von iarem Ursprung, Erfindung und gebreuchen. 206 Genette, Paratexte, S. 76 f. 207 Charles Grivel zit. n. Genette, Paratexte, S. 77. 208 Antoine Furetière zit. n. Genette, Paratexte, S. 92.

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Jungen im Bett lag) als auch rhematischer Titel (etwa Elfriede Jelinek: Gier) die gleiche Wirkung erzielen kann, solange der Titel skandalöse (deskriptive) Fahnenwörter oder konnotative Potenziale enthält. Proust gefiel zum Beispiel der Titel L’Education sentimentale besonders gut, wegen seiner kompakten und fugenlosen Festigkeit und trotz seiner grammatikalischen Unkorrektheit.209 Einen anderen Modus der Verführung über den Titel will Lessing entdeckt haben: „Ein Titel muss kein Küchenzettel sein. Je weniger er von dem Inhalt verrät, desto besser ist er.“ 210 Tatsächlich habe „der Stumpfsinn begrifflicher Titel im deutschen Klassizismus“ Lessing seinerzeit Recht gegeben, so Adorno in seinen Noten zur Literatur:211 „Aber wollte man Stücke oder Romane heute noch, wie Lessing vorschlug, nach Hauptfiguren nennen, man wäre schwerlich besser daran. Nicht nur ist bei den eingreifenden Produkten der Epoche fraglich, ob sie so etwas wie Hauptfiguren noch haben oder ob diese mit den Helden hinab mußten. Darüber hinaus unterstreicht die Zufälligkeit eines Eigennamens über einen Text die Urfiktion, daß es um einen Lebendigen ginge, bis zum Unerträglichen. Konkrete Namenstitel klingen bereits ein wenig wie die Namen in Witzen, ‚Bei Paschulkes ist ein Kleines angekommen‘. Der Held wird herabgewürdigt, indem man ihm einen Namen gibt, wie wenn er noch eine leibhafte Person wäre; weil er den Anspruch nicht erfüllen kann, wird der Name lächerlich, wofern es nicht, bei prätentiösen Namen, unverschämt ist, sie überhaupt zu tragen.“212

Titel sollten wie Namen treffen, nicht jedoch Namen von Hauptfiguren tragen. Eigentlich wiederhole sich im Titel die Paradoxie des Kunstwerkes – der Titel ist der Mikrokosmos des Textes, Schauplatz der Aporie jeder Dichtung selbst. Die guten Titel seien so nah an der Sache, dass sie deren Verborgenheit achten, daran frevelten nur die intentionierten und allzu ambitionierten Titel. 213 Der Titel antwortet auf eine Rätselfrage. Verleger-Idiosynkrasien richteten sich oft, so Adorno, gegen Titel mit ‚und‘: „Ein solcher war wohl schon das Verhängnis von Kabale und Liebe. Wie in der Allegorese erlaubt das Und alles mit allem zu verbinden und ist darum ohnmächtig zum Meisterschuß.“ 214 Aber wie alle ästhetischen Vorgaben ist auch das Tabu über das Und nur eine Stufe zur eigenen Aufhebung: „In Romeo und Julia ist das Und das Ganze, dessen Moment es ist. In ‚Sittlichkeit und Kriminalität‘ von Kraus wirkt das Und als verschluckte Pointe.“ 215 Ein guter Titel würde genug aussagen, um die Neugier zu wecken, doch zu wenig, um sie zu stillen, schreibt Genette. Ein Titel, sagt Umberto Eco, solle die Ideen verwirren, aber nicht ordnen.216 Und: „Ob Zuhälter oder nicht, der Paratext ist ein Relais und kann gele-

209 Marcel Proust zit. n. Genette, Paratexte, S. 92. 210 Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie (XXI), zit. n. Genette, Paratexte, S. 92 211 Theodor W. Adorno: Noten zur Literatur (1981). Frankfurt a. M. 2002, S. 325. 212 Adorno: Noten zur Literatur, S. 325. 213 Vgl. ebenda, S. 326 f. 214 Ebenda, S. 327. 215 Adorno, Noten zur Literatur, S. 327. 216 Vgl. Genette, Paratexte, S. 92 ff.

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gentlich, wenn der Autor zu dick aufträgt, wie jedes Relais abschirmend wirken und letztlich der Rezeption im Wege stehen“217 – es sei denn, der Autor ist an einer ernsthaften Rezeption weniger interessiert als an der Aufmerksamkeit. All zu konkrete Titel laufen jedoch Gefahr, sich an das Primat der Kommunikation anzupassen, das bald die Sache zu ersetzen beginnt. In der Hamburgerischen Dramaturgie meint Lessing: „Ich möchte doch lieber eine gute Komödie mit einem schlechten Titel.“218

Der Klappentext Wie der Titel gehört der Klappentext zu den für die Selbstinszenierung und Aufmerksamkeitslenkung wichtigsten Peritexten. Die traditionelle Definition des Klappentextes bezieht sich auf die bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts übliche materielle Form des Textes, den Waschzettel, definiert als: „Gedruckte Beilage mit Angaben über das Werk, die in die Exemplare für die Kritiker eingeheftet wird.“ Diese Bedeutung wird heute üblicherweise auf die unterschiedlichsten medialen Formen ausgedehnt, so dass die Definition modifiziert werden muss. Genette weitet die Definition durch die Betonung der Funktionsweise aus. Ein Klappentext ist demnach zu verstehen als: „‚Drucksache, die Angaben über ein Werk enthält.’ In anderen, nämlich unseren Worten: ein kurzer Text (üblicherweise zwischen einer halben und einer ganzen Seite), der durch ein Resümee oder jedes andere Mittel auf meistens lobende Weise das Werk beschreibt, auf das es sich bezieht – und dem er seit gut einem halben Jahrhundert auf die eine oder die andere Art und Weise beigefügt ist.“219

Der Klappentext als Lektüreersatz ermöglicht dem Verlag und dem Autor, die intellektuelle Komplexität des Werkes so gewinnbringend zu reduzieren, dass der Klappentext bei eiligen Kritikern den Eindruck zu wecken vermag, eine kursorische, bereits gelenkte Lektüre des Werkes genüge für eine Besprechung. Der heute übliche Klappentext gibt „Auskunft über Inhalt und Autor eines Buches und befindet sich bei gebundenen Büchern in der Regel auf den Klappen der beiden Umschlaginnenseiten, bei Taschenbüchern auf der hinteren Umschlagseite.“ 220 Der Text ist in der dritten Person verfasst und gibt, wenn er vom Verlagsredakteur formuliert wurde, in der Regel keine Auskunft über seinen Urheber; stammt er hingegen von prominenter Stimme, wird die zumeist positive Kritik mit Namen versehen. Dieses Zitat nennt man

217 Vgl. Genette, Paratexte, S. 92 ff. 218 Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Bd. 4, Leipzig, Wien o. J., S. 437. 219 Genette, Paratexte, S. 103. 220 Michael Angele: Klappentext. In: Erhard Schütz (Hrsg.): BuchMarktBuch. Der Literaturbetrieb in Grundbegriffen. Reinbek bei Hamburg 2005, S. 172-173, 172. Vgl. auch: Gudrun Langer: Textkohärenz und Textspezifität. Frankfurt a. M. 1995.

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Blurb.221 Eine Vorform des Blurbs und eine frühe Form der Inszenierung eines Autors über sein Werk belegt Genette mit Emile Zolas Waschzettel, von dem Henri Mitterand meint, dieser stamme vermutlich aus der Feder Zolas selbst. Zolas Waschzettel: „Der neue Roman von Emile Zola, L’Argent, ist eine äußerst dramatische und lebendige Studie über die Welt der Börse, in der der Autor, unter Berufung auf die Rechte des Historikers, einige berüchtigte Persönlichkeiten, die ganz Paris kennt, auf Papier bannt. Es wird eine unserer großen Finanzkatastrophen geschildert, die Geschichte einer dieser Kreditanstalten, die dank der plötzlich ausgebrochenen Tollheit der Öffentlichkeit innerhalb weniger Jahre ein Königreich an Gold erobern, dann zusammenstürzen und ein ganzes Volk von Aktionären unter Schlamm und Blut begraben. – Für Emile Zola ist das Geld eine blinde, zum Guten wie zum Bösen befähigte Macht, eine Macht, die inmitten der Ruinen, die die Menschheit fortwährend hinter sich lässt, zur Zivilisation beiträgt. Und er hat seine Idee auf packende Weise anhand eines großen zentralen Dramas, das von einer ganzen Serie individueller Dramen begleitet und vervollständigt wird, wiedergegeben. Es handelt sich um eines der Meisterwerke dieses Schriftstellers.“ 222

Aufgeteilt in einen deskriptiven, sachlich informierenden Abschnitt, einen Abschnitt für den thematischen und stilistischen Kommentar sowie ein lobendes, durchaus normativ zu verstehendes Urteil in den letzten Worten (ein Meisterwerk), erhält der werbende Text doch besonders durch seine Wortwahl subtil inszenatorische Wirkung. Bereits im ersten Satz sind die zahlreichen, (auch superlativ) verwendeten Adjektive charakteristisch (äußerst dramatisch, lebendig, berüchtigt). Es werde nicht etwas Bedeutungsloses geboten, sondern die ganze Welt der Börse. Verheißungsvoll wird angedeutet, dass es sich um einen Insider-Bericht handele, da Zola über nichts weniger schreibe als über berüchtigte Persönlichkeiten, die ganz Paris kennt. Nicht allein Popularität wird hier zum Lockmittel, sondern vielmehr der Umstand, dass der Waschzettel vorgibt, es sei dem Autor gelungen, an diese berüchtigten Persönlichkeiten heranzukommen und die gleiche Luft zu atmen, sie zu sehen und zu erkennen und es zu verstehen, diese sonst wohl offenkundig Unzähmbaren zu bannen, auf Papier. Eine werbende Wirkung erfährt der Text zudem im weiteren Verlauf durch eine untergründige Skandalisierung (die Tollheit der Öffentlichkeit, die zu einem Unglück mit katastrophalem Ausmaß führte und ein ganzes Volk unter Schlamm und Blut begraben hat) und durch Boulevardisierung (Geld, Macht, individueller Dramen, das Gute, das Böse, Ruinen), die aber akademisch (unter Berufung auf die Rechte des Historikers) legitimiert wird. Um sein Werk über derartige Kommentare weiter zu bewerben und den Diskurs um seine Person zu erhalten, lässt Zola in der von ihm betreuten Pléiade-Ausgabe Henri Mitterand zitieren, der positiv über Zolas neues Buch schrieb:

221 Vgl. Schütz, BuchMarktBuch, S. 172. Auch: Genette, Paratexte, S. 31. (Der Blurb (oder auch promotional statement) bezeichnet etwas, das im deutschen Sprachgebrauch (neudeutsch und umgangssprachlich) wenig euphemistisch Geblubber oder Blabla genannt wird.) 222 Vgl. Genette, Paratexte, S. 105 ff.

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„Es handelt sich um eine persönliche Seite, die sich ihm Gegensatz zur Tonart von L’Assomoir vor allem an die Sensibilität der Leserinnen wendet. Diesen Roman kann man ohne Bedenken auf dem Familientisch liegen lassen.“

Der (idealen) Selbstinszenierung entsprechend, vergisst Zola nicht, ein wenig ironisch dieses selbst zur Verbreitung gebrachte Lob zu relativieren; an Flaubert schreibt er: „Diese Kerle haben vielleicht einen Stil! Aber ich fand die Reklame gut, insofern gesagt wird, dass man meinen Roman auf dem Familientisch liegen lassen kann.“223 Klappentexte, die heute im 21. Jahrhundert Verbreitung finden, arbeiten exakt mit den gleichen Techniken. Damals wie heute erscheinen die Pointierung, die knappe Strukturierung, die Skandalisierung, die Boulevardisierung und der Blurb als erfolgversprechende Mittel der Verführung. Bei der Bewerbung des Buches Kameramörder von Thomas Glavinic stand beispielsweise die Skandalisierung des Inhalts 224 und die von prominenter Stelle erfolgte Bescheinigung des gelungenen, wenngleich skandalösen Sprachwerks im Vordergrund. Der Klappentext des Verlages Volk & Welt hob werbend hervor, wie sich bei den Hauptpersonen des Romans die „Lust an der Sensation“ mit der „Abscheu gegenüber dem Verbrechen“, übrigens ein „ungeheures Verbrechen“, mischten. Damit sind die skandalösen Signalwörter genannt (Lust, Abscheu, Verbrechen). Flankiert wird die thematische Zusammenfassung auf dem Schutzumschlag der Erstausgabe mit einem Zitat aus Georg Büchners Woyzeck: „Jeder Mensch ist ein Abgrund“, das als Variante des name-dropping, als intellektuelles, akademisch-kanonisiertes Gütesiegel fungiert. Die Rezeption des Kameramörders war beachtlich.225 Innerhalb von wenigen Monaten nach der Erstveröffentlichung 2001 (und mehr als ein Jahr vor der Preisverleihung des Krimi-Preises der Au-

223 Vgl. Genette, Paratexte, S. 105 f. 224 Der Kameramörder beginnt mit dem emotionslosen Bericht des Ich-Erzählers, der zu Protokoll gibt, er und seine Frauen seien zu Besuch in dem Dorf, in dem sich Folgendes ereignet hat: Ein Unbekannter hat in der Nähe des Dorfes drei Kinder gezwungen, ihm in den Wald zu folgen. Dort habe er zwei von den drei Brüdern unter Androhung sonst den dritten zu foltern, dazu gebracht, von einem hohen Baum in den Tod zu springen; das dritte Kind konnte entkommen. Der Unbekannte hat die Todessprünge ebenso wie die während der Qual und unmittelbar vor dem Tod geführten Interviews mit den Jungen auf Video aufgezeichnet. Dieses authentische Video lässt der Unbekannte einem Fernsehsender zukommen, der dieses Video, unterbrochen von Werbeschaltungen und mit der Rechtfertigung, es handele sich um die Aufarbeitung einer unfassbaren Tragödie, ausstrahlt. In seinem Protokoll der Ereignisse schildert der Ich-Erzähler die Faszination, die die Ausstrahlung beim Zuschauer sowie auch bei seiner Frau und dem befreundeten Ehepaar auslöst. Es stellt sich heraus, dass der Ich-Erzähler der Mann ist, der die Kinder zum Selbstmord angestiftet und den Medienhype mit dem Snuff-Video ausgelöst hat. 225 Vgl. Eberhard Sauermann: Thomas Glavinic’ Kameramörder – doch kein Skandal? In: Stefan Neuhaus/Johann Holzner (Hrsg.): Literatur als Skandal. Göttingen 2007, S. 666677.

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toren 2002) war er in den bedeutenden österreichischen Medien (Der Falter, Die Presse, ORF, Der Standard, profil, Wiener Zeitung etc.), in einer der renommierten Schweizer Zeitungen (Neue Zürcher Zeitung) und in wichtigen deutschen Medien (die tageszeitung, Der Spiegel, Die Welt, Rheinischer Merkur, literaturkritik.de, Literaturen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Deutschland-Radio) besprochen worden. Bald folgten Porträts und Interviews mit dem Autor.

Das Cover Das Cover eines Buches, die Vorderseite des auf Papier oder Karton gedruckten Buchumschlags ist ein visuelles, schnell wirkendes und damit wesentliches Inszenierungsinstrument eines Autors. Die Etablierung des Buchcovers führt zurück ins frühe 19. Jahrhundert.226 In der Zeit der Weimarer Klassik besaßen Bücher noch ausschließlich einen Ledereinband, der nur auf dem Buchrücken (also auf der Schmalseite, die auch im Regal sichtbar ist) den abgekürzten Titel und mitunter den Namen des Autors trug. Der verlegerische Peritext wurde bis dahin hauptsächlich im Buchinnern (auf der Titelseite) untergebracht. Über die den Umschlag grundierende Farbe lässt sich oft eine ganze Buchreihe oder eine Gruppe von Reihen identifizieren. Am Beginn des 19. Jahrhunderts verbargen beispielsweise in Frankreich gelbe Umschläge anzügliche und anstößige Texte. Auf subtilere Weise besaß das Cover der französischen Übersetzung von Thomas Manns Dr. Faustus einst eine diskret, aber unmissverständlich sich abzeichnende Silhouette. 227 Heute sind Gartenbücher oft grün, politische Bücher, Krimis und Thriller rot und schwarz, Fotobände schwarz-weiß, Kochbücher meist orange, Diätbücher hingegen weiß, Reisebücher blaugrundig und Kinderbücher bunt.228 Kaum waren die Möglichkeiten eines bedruckbaren Umschlags entdeckt, hat man diesen rasch zur Selbstinszenierung des Schriftstellers und seines Produktes genutzt. Die heute obligatorischen Erwähnungen auf dem Cover sind der Autorenname, der Titel des Werkes und das Verlagssignet. Das Design des Umschlags trägt zumeist ein für den Verlag typisches Charakteristikum. Da die Umschlaggestaltung in den Verantwortungsbereich des Verlages fällt und der Autor nur in begrenztem Maße Einfluss nehmen kann, ist bei der Buchcover-Gestaltung zu einem großen Teil von einer Fremd-Inszenierung auszugehen.

226 Ein erstes gedrucktes Buchcover liegt mit Voltaires Oeuvre complètes aus dem Jahre 1825 vor. 227 Vgl. Genette, Paratexte, S. 30. 228 Vgl. Andreas u. Regina Maxbauer: Praxishandbuch Gestaltungsraster. Mainz 2002, S. 132.

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Typografisch dominierte Umschlaggestaltung Neben der klassisch-visuellen Gestaltung kann auch die Schrift zu einer bildlich sinntragenden Darstellung auf dem Buchcover werden. Wie gelingt ihr das? In der typografischen Fachliteratur findet sich wiederholt die These, die Typografie eines geschriebenen Textes sei analog zur Betonung des Gesprochenen aufzufassen: 229 So könne der geschriebene Text eher laut wirken, wenn er groß, breit oder fett gedruckt ist (wie Jelineks Buchcover zum Roman wir sind lockvögel, baby!) oder eher still, dezent und unauffällig. Auch die gewählte Kleinschreibung, wie Jelinek sie praktiziert, deutet auf eine inszenierte Distinktion hin, indem sie sich von der üblichen typografischen Ästhetik und den grammatischen Konventionen abhebt.

Abbildung 39: Buchcover-Typografie Während Alexa Hennig von Langes Roman Peace (l.) durch die im parergon der Friedensbewegung situierten, farbigen und psychedelischen Typografie (eine Friedenstaube haucht eine Pistole aus) das Lebensgefühl der 1970er-Jahre reflektiert,230 wirkt die Typografie ihres Romans Risiko (r.) durch die klassisch-konservative Schriftart nüchtern.231 Ganz im Gegensatz zur Typografie des Romans Die Ausgesperrten (m.) von Elfriede Jelinek, die durch die Wahl des krakeligen Schrifttyps

229 Christian Gutschi: Emotionale Wirkung typographischer Schriften. Wien 1995. Horst Moser: Surprise me. Editorial Design. Mainz 2002. Hans-Peter Willberg: Typolemik. Typophilie. Streiflichter zur Typographical Correctness. Mainz 2002. 230 Alexa Hennig von Lange: Peace. Roman. Reinbek bei Hamburrg 2009. Zum Inhalt: Der Protagonist des Romans, Joshua, ist ein Kind der frühen 1970er-Jahre, dessen Mutter Hippie-Braut, Lesbe, Goa-Touristin, LSD-Konsumentin und Pazifistin ist, die, laut Klappentext, „in ihrer ideologischen Verwirrtheit beschließt, sich aus Solidarität zu den ehemaligen RAF-Häftlingen für den Rest ihres Lebens in Isolationshaft zu begeben – und zwar im Gästeklo.“ 231 Alexa Hennig von Lange: Risiko. Roman. Reinbek bei Hamburg 2007.

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unweigerlich die Assoziation des Infantilen oder des psychisch Labilen hervorruft. 232 Das Buch-Cover kann allein durch die typografische Gestaltung eine Lesart andeuten. Ebenso kann die Auswahl eines ganz spezifischen Autorenfotos und das dadurch transportierte Image eines Schriftstellers die Rezeption des Buches bestimmen und im Prozess wechselseitiger Verstärkung auf das Schriftsteller-Image zurückwirken.

Personenzentrierte Umschlaggestaltung

Abbildung 40: Personenzentrierte Umschlaggestaltung der Werke Handkes Bei der Cover-Gestaltung der Werke Peter Handkes ist die Fokussierung auf die Autorperson charakteristisch, was sich zum einen in dem Abdruck des Autorenfotos auf dem Cover manifestiert, das an die Funktion der mittelalterliche Autoritätsbezeugung zu Beginn eines Textes anknüpft („ich haize der phaffe Chunrat. Also ez an dem buoche gescriben stat […]“233), mit denen sich ein Autor anempfiehlt. Untermauert wird der Eindruck der Aufmerksamkeitslenkung über die Persönlichkeit Handkes durch die Schriftgröße und Schriftart des Autornamens (nicht etwa kleiner) und des Buchtitels. Die Einheitlichkeit der Schrift evoziert beim Betrachter visuell einen nahtlosen Übergang des Namens und des Buchtitels mit der Konsequenz, dass der Betrachter optisch nicht unmittelbar zwischen Autornamen und Buchtitel differenzieren kann, den Titel also nicht liest, ohne nicht zuvor auch den Namen des Autors wahrgenommen zu haben. 234 Buchcover sind traditionell hochformatig, sofern sie nicht in einem Sonderformat gedruckt sind, wie es bei Bildbänden üblich ist (z. B.: Günter Grass: Letzte Tänze,

232 Elfriede Jelinek: Die Ausgesperrten. Reinbek bei Hamburg 1985. Zum Inhalt: Die Ausgesperrten erzählt von jungen Leuten, die sich zu einer Gang zusammenschließen, um im Schutz der Dunkelheit und ihres schülerhaft-harmlosen Aussehens Passanten auszurauben und zu misshandeln. 233 Vgl. Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Hrsg. v. Dieter Karschoke. Stuttgart 1993, Vers 9079 f. 234 Zu Handkes über die Jahre vom Suhrkamp Verlag gestalteten Peritexte siehe: Raimund Fellinger (Hrsg.): Handke. Das Werk. Suhrkamp. Frankfurt a. M. 2008.

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das in einem quadratischen Format erschienen ist). Das natürlichste Format eines Bildes ist hingegen das Querformat, weil unsere Augen nebeneinander und nicht übereinander liegen. Innerhalb dieser Grundform sind Rechtecke mit dem Größenverhältnis 3:2 (wie bei einem Bildschirm oder dem Kameradisplay) wiederum die populärsten, wobei diese allerdings einerseits vertraut, andererseits aber auch schnell langweilig wirken können. Dem Querformat wird darüber hinaus eine ruhigere Wirkung zugesprochen (die wiederum den Körpererfahrungen des passiven, statischen Liegens und des aktiven, dynamischen Stehens entsprechen). Das Hochformat wirke dagegen steigend und beweglich.235 Eine unaufgeregte Wirkung kann demnach erzielt werden, wenn das hochkantige Buchcover äquatorial in der Mitte geteilt wird. Bei den abgebildeten Suhrkamp-Ausgaben der Werke Peter Handkes wird eine solche Teilung zum Beispiel durch ein Foto erreicht. „Vag ist, was die Bücher von außen sagen, als Versprechen: das ihrer Ähnlichkeit mit dem, was sie enthalten.“236 Das Foto Paul Celans auf dem Buchumschlag ist ein Versprechen – und eine enge Verbindung von Text (Autorenname und Titel) und Bild im Zeichen strategischen Marketings und intendierter Lesart.

Abbildung 41: Paul Celan, Cover mit Nahaufnahme Die Fotografie zeigt Celan mit einem leichten Lächeln, jedoch nicht im Modus fröhlicher Ausgelassenheit, sondern freundlicher Melancholie, gleichwohl ernst, wissend und den Betrachter fokussierend. So fügt sich dieses Autorenfoto in das allgemeine Bild Celans ein: als ein Zeuge des Holocausts. „Das Bild irritiert nicht diesen Verstehenshintergrund, sondern bestätigt ihn, es fügt sich dieser Auslegung und es fügt sich ihr hinzu – Lyrik nach Ausschwitz. Kein Autorenfoto kann dieses Wissen transportieren, aber das Wissen kann das Autorenfoto auswählen. Der Umschlag des Suhrkamp Verlags […] passt zu einer, wenn nicht zu der Werkinterpretation.237 Die Interpretation, die das Autorenfoto dem Buch verleiht, orientiert sich seinerseits jedoch nicht (wie innerliterarische Buchillustrationen) am konkreten Inhalt der Texte, sondern an der abstrakten Mythologie des Autors. 238 Das Bild veranschauli-

235 Vgl. A. u. R. Maxbauer: Praxishandbuch Gestaltungsraster. Mainz 2002, S. 168. 236 Adorno, Noten zur Literatur, S. 356. 237 Matthias Bickenbach: Das Autorenfoto in der Medienevolution. München 2010, S. 275. 238 Vgl. ebenda, S. 144.

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che, wie Celan im öffentlichen Diskurs rezipiert werde, als „ernster, aufmerksamer und nachdenklicher Mensch“, ebenso förmlich wie freundlich. „Die Hand am Kinn zeigt zudem den ‚Dichter und Denker‘ an.“239 Sie bestätigt sein Image und setzt seine Wirkung fort. Für die mythologische Gesamtwirkung ist noch ein zweiter Aspekt wesentlich: Die Ausgabe der Atemwende ist eines von fünf Bänden, unter denen der Suhrkamp Verlag die Gesammelten Werke240 Paul Celans publizierte. Alle fünf ziert dasselbe Porträtfoto Celans. In der Redundanz liegt ein Erfolg des Porträts und Celans Mythos. Ein weiterer liegt in der Bildgestaltung, in der Wahl des Bildausschnitts. Das Autorenfoto Celans ist ein vergrößerter Ausschnitt aus einem Bild, das Wolfgang Oschatz von dem Schriftsteller machte. Das Ursprungsbild zeigt die Statur Celans, der Ausschnitt fokussiert ausschließlich das Gesicht. Der Nahblick gibt „Zeugnis einer realen Nähe“, die freilich inszeniert ist. Der Nahblick funktioniert nicht nur als „Aufmerksamkeitsverstärker, der nichts mehr verlangt als einen grundlegenden Teil menschlicher und kultureller Wahrnehmung: die Gesichtserkennung.“241 Diese ist eine anthropologisch fundierte Wahrnehmungsform, die stets interessant ist und extrem schnell funktioniert. Kurzum: „Das Gesicht ist immer eine Attraktion.“242 Besonders wenn es den Dichter ganz dicht heranholt. Das Porträt funktioniert – wie bereist kulturgeschichtlich gezeigt – als Medium illusionierter Annäherung. Gesteigert wird der Effekt, wenn das Gesicht des Dichters nicht klein und am Rande, sondern coverfüllend gezeigt wird, wie das Cover für ein Buch von Sigrid Weigel über Walter Benjamin aus dem Fischer Verlag mit dem vielsagenden Titel Entstellte Ähnlichkeit demonstriert.

Abbildung 42: „Das Gesicht ist immer eine Attraktion.“

239 Matthias Bickenbach: Das Autorenfoto in der Medienevolution. München 2010, S. 274. 240 Paul Celan: Gesammelte Werke. 5 Bände. Hrsg. v. Beda Allemann/Stefan Reichert. Frankfurt a. M. 1986. 241 Bickenbach, Das Autorenfoto in der Medienevolution, S. 260. 242 Ebenda, S. 261.

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Während der offene, die Kamera fixierende Blick Paul Celans die Zudringlichkeit der Kamera offensiv unterläuft und sein Bild damit zum Zeichen gelassener Selbstsicherheit und Souveränität wird, weicht Walter Benjamin dem Blick des Betrachters aus, hält die Hand zwischen Gesicht und Kameralinse, als sei der fremde Blick eine Form grenzüberschreitender Belästigung. In der Kleinen Geschichte der Photographie von 1931 gibt es eine Stelle, an der Benjamin (an einem Kinderfoto Franz Kafkas) die Zudringlichkeit der fotografischen Erfassung als Gewaltakt benennt: „Damals sind jene Ateliers mit ihren Draperien, Palmen, Gobelins und Staffeleien entstanden, die so zweideutig zwischen Exekution und Repräsentation, Folterkammer und Thronsaal schwankten, aus denen erschütterndes Zeugnis ein frühes Bildnis von Kafka bringt. […] Palmenwedel starren im Hintergrund. Und als gelte es die gepolsterten Tropen noch stickiger und schwüler zu machen, trägt das Modell in der Linken einen unmäßig großen Hut […]. Gewiß, daß es in diesem Arrangement verschwände, wenn nicht die unermeßlich traurigen Augen diese ihnen vorbestimmte Landschaft beherrschen würden.“243

Die gepolsterten Tropen sind keineswegs Ort der Idylle, sondern von außen aufgezwungene Rahmung des fotografierten Individuums. Objektiviert bleibt von diesem einzig der Blick als Indikator des Lebendigen. Palmenwedel, Anzug und Hut decken das Subjekt ab.244 Dass das Bild Kafkas zu einem solch komplexen philosophischen und historischen Souvenir, zum Fundstück der Erinnerung Benjamins und seiner Theorie wurde, liege an der Identifikation Benjamins,245 denn kurz vor der zitierten Stelle aus der Kleinen Geschichte der Photographie ist nicht Kafka das Objekt der Bildwerdung, sondern Benjamin selbst mit seiner Familie. Über den Einzug, den die Fotografie in die zunächst nur familiäre Öffentlichkeit und ins Leben hielt sowie die daraus resultierenden Konsequenzen schrieb Benjamin: „Das war die Zeit, da die Photographiealben sich zu füllen begannen. […] auf Konsolen und Gueridons im Besuchszimmer fanden sie sich am liebsten: Lederschwarten mit abstoßenden Metallbeschlägen und den fingerdicken goldumrandeten Blätterns, auf denen närrisch drapierte oder verschnürte Figuren – Onkel Alex und Tante Rieckchen […] – verteilt waren und endlich,

243 Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie. In: Ders.: Gesammelte Schriften. 12 Bände. Bd. II. Hrsg v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1980, S. 368-385, 375 f. 244 Georg Simmel hat in seinem Aufsatz zur Ästhetik des Porträts (1905) und in Philosophie der Mode (1905) darauf hingewiesen, wie der Mensch der Zudringlichkeit des fremden Blicks entgehen könne: indem er durch Kleidung die Preisgabe des Persönlichen reguliere. Mode fungiere sodann als Schutzfilter und Kontrollinstanz, die das Persönliche, das Seelische überdecken könne. (Vgl. Georg Simmel: Ästhetik des Porträts. In: Ders. Gesamtausgabe. 24 Bände. Bd. 7. Hrsg. v. Rüdiger Kramme/Angela Rammstedt/Orthein Rammstedt. Frankfurt a. M. 1995, S. 321-332. Und: Georg Simmel: Philosophie der Mode. In: Ders: Gesamtausgabe. 24 Bände. Bd. 10. Hrsg. v. Micheal Behr/Volker Krech/Gert Schmidt. Frankfurt a. M. 1995, S. 9-38.) 245 Vgl. Bickenbach, Das Autorenfoto in der Medienevolution, S. 283 ff.

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um die Schande voll zu machen, wir selbst, als Salontiroler, jodelnd, den Hut gegen gepinselte Firnen schwingend, oder als adrette Matrosen.“246

Die fotografische Erfassung wird zur Schande einer geradezu gewaltsamen Entstellung, deren Ziel und Höhepunkt der Perversion die repräsentative Darstellung ist. Der Topos der fotografischen Entstellung kehrt noch einmal wieder, in Benjamins Erinnerungen zur Berliner Kindheit um Neunzehnhundert247 und wird zum theoretischen Bezugspunkt, nämlich der Spannung zwischen dem mimetischen Vermögen und der entstellten Ähnlichkeit. Entdeckte Benjamin auch im geistigen Spiel mimetische und entstellte Ähnlichkeiten zwischen Worten und Ideen, die Anlass wurden zur eigenen Fantasieentfaltung,248 so fand er doch eine einzige Ähnlichkeit nie: die zwischen sich und seinem fotografischen Abbild: „Und darum wurde ich so ratlos, wenn man Ähnlichkeit mit mir selbst verlangte. Das war beim Photographen.“249 Benjamin weist damit im Kontext der Schriftstellerinszenierung auf die zentrale Differenz zwischen Innenwelt des Fotografierten und dem Bild als Entwurf der Repräsentation hin. Diese verstellte Identität, die auf dem Buchcover als Repräsentation inszeniert wird, weicht Benjamin durch Vermeidung der Blicklinie zur Kamera aus, wenngleich er nicht vermeiden konnte, dass diese Abstandnahme von der Zudringlichkeit des fremden Blicks auch noch nach dem Tod sein öffentliches Erscheinen prägen sollte. Kritisch sah Adorno die Inszenierung, die fotografische und die versierte Stilisierung der Buchgestaltung. „Die Anpassung an das, was man zu Recht oder Unrecht für die Bedürfnisse des Konsumenten hält, hat ihre Erscheinung verändert. Bucheinbände sind, international, zur Reklame für das Buch geworden. Jene Würde des in sich Gehaltenen, Dauernden, Hermetischen, das den Leser in sich hineinnimmt, gleichsam über ihm den Deckel schließt wie die Buchdeckel über dem Text – das ist als unzeitgemäß beseitigt. Das Buch macht sich an den Leser heran; es tritt nicht länger auf als ein für sich Seiendes, sondern als ein für anderes, und eben darum fühlt sich der Leser ums Beste gebracht.“250

Die Inszenierung sei längst kein reiner Fassadenprozess, sondern ein fundamentaler Eingriff in das Werk des Autors. Sie trägt entscheidend zu seiner öffentlichen Bedeutung bei. Ein Eingriff, der nicht aufzuhalten sei, auch nicht, indem sich die Bücher unbeirrt auf ihr Wesen besinnen würden und nach einer Form haschten, die diesem Wesen, nicht dem Voyeurismus entspreche:

246 Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie, S. 374 f. 247 Walter Benjamin: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert. In: Ders.: Gesammelte Schriften. 12 Bände. Bd. IV. Hrsg v. Rolf Tiedemann /Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1980. 248 Vgl. Walter Benjamin: Die Mummerehlen. In: Ders.: Berliner Kindheit um Neunzehn-

hundert. In: Ebenda, S. 260-263. 249 Benjamin, Die Mummerehlen, S. 261. 250 Adorno, Noten zur Literatur, S. 345.

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„Nicht bloß sind die Verleger unwiderleglich, wenn sie allenfalls renitente Autoren, die ja auch leben wollen, darauf aufmerksam machen, daß ihre Bücher auf dem Markt umso geringere Chancen haben, je weniger sie jenem Zug sich einfügen. Sondern die Rettungsversuche sind durchschaubar als das, was sie schon in den Theorien von Ruskin und Morris waren, die gegen die Verschandelung der Welt durch den Industrialismus sich wehrten, indem sie Massenproduziertes so präsentierten wollten, als wäre es Handwerk. […] Hoffentlich entdecken Vandalen nicht auch das und behandeln nagelneue Vorräte wie abgefeimte Restaurateure Flaschen, die algerisch verfälschter Rotwein füllt, mit einer synthetischen Staubschicht überziehen.“251

Ein solcher Nostalgie-Effekt ist längst entdeckt.

Abbildung 43: Buchcover: Italo Svevo, mit herausnehmbarem Autorenfoto Das Buchcover des im Verlag Zweitausendeins erschienenen Werkes Zenos Gewissen von Italo Svevo252 greift das nostalgische Element des Fotoalbums mit Fotoecken auf. Der Buchumschlag als Adaption der Fotoalben-Ästhetik ist eine Art Mutation, welche die Eigenschaft des Fotoalbums mit denen der Ausstellungswand rekombiniert. Das Cover inszeniert zudem die Macht des Rezipienten, und es fördert den voyeuristischen Blick durch die Intimität der Nahaufnahme wie auch die Instrumentalisierung des Fotos durch das Angebot der Dekontextualisierung. Was die Zukunft in der Geschichte der peritextuellen Selbstdarstellung sein kann, ist mit dem Buchcover Svevos bereits antizipiert: die (in diesem Fall manuelle und durch den Rezipienten erfolgte) Befreiung des Buches vom repräsentierenden Abbild des Autors und damit der Autorfigur schlechthin. Oder der andere Extremfall: die Abwesenheit der Schrift und der Imagination, wenn an die Stelle visionärer und autarker Leseeindrücke im Kopf des Lesers der Kopf des Autors tritt, der zunächst das Cover, dann die Schrift und die Fantasie verdeckt. „Das richtige Verhältnis zu den Büchern wäre darum eines von Unwillkürlichkeit, die dem sich anheim gibt, was das zweite apokryphische Leben der Bücher will“, anstatt auf dem ersten, dem Konsumistischem, dem Sichtbaren zu beharren.253

251 Adorno, Noten zur Literatur, S. 349 f. 252 Italo Svevo: Zenos Gewissen (1923/1928). Frankfurt a. M. 2000. 253 Adorno, Noten zur Literatur, S. 350 ff.

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Künstlerische Umschlaggestaltung durch den Autor

Abbildung 44: Künstlerische Eigengestaltungen des Covers der Werke von Grass Bei Günter Grass ist der Autorname größer als der Buchtitel und signalisiert, dass es sich um einen Markenartikel handelt – Marke: Grass –, dessen inhaltliche Qualität und Titel tendenziell sekundär erscheinen. Obwohl sie in gleicher Weise personenzentriert sind wie die durch ein Foto des Autors geschmückten Cover Handkes, so befördern die Cover der Werke Grass’ die Zentrierung auf die Persönlichkeit nicht minder. Grass erhält eine Plattform, auf der er sein malerisches Talent öffentlich ausstellen kann, indem die Umschlaggestaltung seiner künstlerischen Eingebung obliegt. Er verwirklichte sich lithografisch (Der Butt), er zeichnete mit Aquarellfarbe (Mein Jahrhundert) bzw. mit Kreide (Beim Häuten der Zwiebel). Und vergaß nicht, auch zeichnerisch seinem Leser den richtigen Weg mit einem roten Pfeil (Mein Jahrhundert) zu weisen.

Liebesemantische Umschlaggestaltung

Abbildung 45: Romantisierende Buchcovergestaltung der Werke Martin Walsers Mit einer das romantische Liebesideal umspielenden Thematik, mit Kitsch und Trivialität verführen die Peritexte Martin Walsers den Leser. Herzerwärmend: das in der Abendsonne lächelnde Gesicht Katja Riemanns, wenn sie ihrem ebenfalls lachenden Partner liebevoll die Hand auf die Brust legt, der wiederum beschützend ihren Arm

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hält, alles vor der Kulisse des Meeres (Ein fliehendes Pferd); der ebenso rote wie pralle, lächelnde Mund (Der Lebenslauf der Liebe) und der verliebte Blick Goethes, durch den allerhand Sehnsucht angedeutet wird, schaut doch seine Angebetete woanders hin (Ein liebender Mann). Die Lenkung der Aufmerksamkeit des Betrachters auf die schematisch dargestellte Wirbelsäule (Ohne einander) könnte hingegen auf ein Rückenleiden hindeuten und lässt daran zweifeln, ob Walsers Texte die geweckten romantischen Erwartungen tatsächlich einlösen können.254 – Ganz anders als die späten Peritexte der Werke Martin Walsers (frühere Buchausgaben Walsers sind expressionistischer gestaltet), wirken Elfriede Jelineks visuelle Narrationen auf ihren Buchcovern weniger durchschaubar, expressiver und aggressiver.

Grafisch-irritierende Umschlaggestaltung

Abbildung 46: Expressionistische Buchumschlaggestaltung bei Jelinek „Linien, Kreise, Figuren – da steckt’s! Wer das lesen könnte …“, rief einst Georg Büchner aus. Das Wirkprinzip des Grafischen, Expressionistischen und des Ikonischen zu erklären, führt zunächst auf schwankenden Boden, wie Gottfried Boehm in seiner Studie Wie Bilder Sinn erzeugen ausführt. Das Bild-Verstehen entsteht in bestem hermeneutischem Sinn aus der Liaison mit dem Unbestimmten, dem Spalt, der sich zwischen dem betrachteten Bild mit all seinen Implikaten und dem Betrachter auftut, der diese erkennt und deutet. „Wenn wir von Bildern reden (flachen, plastischen, technischen, räumlichen etc.), meinen wir eine Differenz, in der sich ein oder mehrere thematische Brennpunkte (Fokus), die unsere Aufmerksamkeit binden, auf ein unthematisches Feld beziehen. Wir sehen das eine im anderen. […] Entscheidend für die Logik der Bilder sind die kategorialen Implikate dieses visuellen Befundes. Sie sagen, dass jedes Bild seine Bestimmungskraft aus der Liaison mit dem Unbestimmten zieht. Wir können gar nicht anders, als das Dargestellte auf seinen in ihm vorstrukturierten Horizont und Kontext zu betrachten.“255

254 Weitere Titel Walsers: Der Augenblick der Liebe; Ehen in Phillipsburg u. a. 255 Gottfried Boehm: Wie Bilder Sinn erzeugen. Berlin 2007, S. 48 f.

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Es sei die Verschmelzung unterschiedlicher Realitäten, die den Anstoß dafür geben kann, dass ein sinntragender Überschuss (wie beim Mythos) entsteht. 256 Die gedankliche Symbiose dieser beiden Realitäten (des wahrnehmendes Erkennens und Assoziierens) macht die analytische Unterscheidung zwischen dem Dargestellten des Coverbildes und der Interpretation des Dargestellten notwendig. Beide Realitäten sind niemals deckungsgleich. Boehm spricht deshalb von ikonischer Differenz: „Davon [vom deiktischen Potenzial] unbenommen bleiben die Bilder mit vielerlei Fasern in sprachliche Netzwerke verflochten und reagieren auf sie. Spätestens im Bewusstsein und im Munde ihrer Betrachter wird der Sinn der Bilder auch sprachlich erprobt. Gleichwohl hängt alles daran, die Macht des ‚Zeigens’ und deren Souveränität zu erkennen und ihre gewaltige Rolle in der Kultur zur Geltung zu bringen. Sie lässt sich auf ‚Sagen’ niemals reduzieren, und gerade deshalb ist sie der eigentliche, der sinnerzeugende Überschuss, der in Bildern wirksam wird.“257

Diesen Überschuss zu erfassen (vielleicht ist er nur spürbar und zu ahnen, aber nicht sprachlich zu duplizieren), ihn dennoch weitest möglich in das Fasernetz der Sprache zu integrieren, versucht Gerhard Rump. Er verfolgt eine sehr praktische, manchmal vereinfachende, aber für die Analyse visueller Peritexte sehr effektive Strategie, denn er verknüpft Kunstphilosophie und Sozialbiologie miteinander. 258 Mit dem Zurückbuchstabieren komplexer visueller Phänomene auf die einfachsten Grundelemente der Farben, Formen und Figurationen hat Rump eine dichte argumentative Grammatik entwickelt, die, Chomskys Universalgrammatik nicht unähnlich, von einer in jedem Menschen vorhandenen Grundstruktur zur Deutung visueller Erscheinungen ausgeht. Das Deutungsmuster nach Rump beruht auf der Annahme der natürlich angeborenen Instinkte des zivilisierten Menschen. Denn ausschließlich mit rein rationalen Maßstäben betrachtet, gäbe es keinen Anlass, einen harten Kontrast zwischen Farben (z. B. Rot und Schwarz, Gelb und Blau, Schwarz und Weiß, wie er in der expressionistischen Malerei zu finden ist), kultur- und epochenunabhängig als spannungsreich und energiegeladen zu interpretieren oder diese Farbkombinatorik als aggressiver und provokativer zu interpretieren als die Verbindung von Grün und Blau oder Beige und Grün. In der Natur haben intensive Färbungen und Kontraste eine Warnfunktion. Dies kann die Warnung vor der eigenen Wehrhaftigkeit sein (etwa die GelbSchwarz-Ringelung bei Wespen; augenscheinlich auch bei dem wir sind lockvögel baby!-Cover Jelineks) oder vor der Giftigkeit und dem schlechtem Eigengeschmack – eine Warnung, die sich an Fressfeinde richtet.

256 Boehm, Wie Bilder Sinn erzeugen, S. 49. 257 Vgl. Ebenda, S. 15. 258 Vgl. Gerhard Charles Rump: Kunstwissenschaft und Verhaltensforschung. Duisburg 1987. Und: Ders.: Ethnologie und Bildkommunikation. In: Martin Schuster (Hrsg.): Nonverbale Kommunikation durch Bilder. Göttingen 1989, S. 81-91.

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Das visuelle Verstehen ergründend, schließt Erwin Panowsky wie Rump an die Sozialbiologie an.259 Panowsky geht von der Grundannahme aus, jedes Bild lasse sich als wesentlicher Teil einer historisch-hermeneutischen Wissenschaft wie eine Sprache entschlüsseln, ohne dabei jedoch die Aussage eines Bildes (und hier decken sich seine Annahmen mit denen Boehms) einzig von seiner ästhetischen Qualität abzuleiten. Die ungewohnte Herausforderung bei der Dekodierung von Bildern liege darin, „dass im alltäglichen Bilderleben die einzelnen Verstehensschritte nicht als Abfolge erlebt werden, sondern als simultaner Prozess.“260 Möchte man Bilder verstehen, kommt man nicht umhin, trotz legitimer Vorbehalte,261 innerhalb der visuellen Narration eine Grammatik aufzuspüren und auch dem Bild ein „syntaktisch dichtes Zeichensystem mit hoher Fülle“262 zuzusprechen.263

259 Vgl. Erwin Panowsky: Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst. In: Ekkehard Kaemmerling (Hrsg.): Ikonographie und Ikonologie. Theorien, Entwicklungen, Probleme. Bildende Kunst als Zeichensystem. Bd. 1. Köln, 1979, S. 185-206. Und: Erwin Panowsky: Ikonologie und Ikonographie. In: Kaemmerling: Ikonographie und Ikonologie, S. 207-225. 260 Claudia Maria Wolf: Bildsprache und Medienbilder. Die visuelle Darstellungslogik von Nachrichtenmagazinen. Wiesbaden 2006, S. 132 261 So schreibt Daniel Chandler kritisch: „There can probably never be an alphabet for images. Nevertheless, the brain does respond to the image’s basic visual elements of colour, form, depth and movement. Although these elements may not have the simple symbolic meaning of alphabetic characters, a difficulty in finding an alphabet for images indicates the richness of communication possibilities of pictures over words.” (Daniel Chandler zit. n. Oliver R. Scholz: Was heißt es, ein Bild zu verstehen? In: Klaus Sachs-Hombach/Klaus Rehkämper (Hrsg.): Thesen zu einer Theorie bildhafter Darstellung. Wiesbaden 1998, S. 105-117, 110.) 262 Nelson Goodman: Languages of Art. An approach to a theory of symbols. Indianapolis, 1968. (Das Aufspüren einer Grammatik durch die Kunstwissenschaft kann als weiterer Beweis gedeutet werden wie produktiv und erkenntnisleitend die Sprachwissenschaft sowie die literaturwissenschaftliche Hermeneutik für andere gesellschaftliche Bereiche sind, auch für die visuelle Wahrnehmung und die Bildwissenschaft.) 263 Den potenziellen Kritiker einer Grammatik des nonverbalen Bildes sei mit Karl Valentin in Erinnerung gerufen, dass auch die Sprache, trotz Regelhaftigkeit, fallibel bleibt und jede Kommunikation, auch die sprachliche, ein ebenso aufregendes wie heiteres Unterfangen ist, das oft, wie das Bild, einer assoziativen und nicht rein argumentativen Logik folgt. Valentin sprach: „Weil wir grad vom Aquarium reden, ich hab nämlich früher – nicht im Frühjahr – in der Sendlinger Straße gewohnt, nicht in der Sendlinger Straße, das wäre ja lächerlich, in der Sendlinger Straße könnte man ja gar nicht wohnen, weil immer die Straßenbahn durchfährt, in den Häusern hab ich gewohnt in der Sendlinger Straße. Nicht in allen Häusern, in einem davon […].“ (Karl Valentin zit. n. Klaus Niedermaier: Metaphernanalyse. In: Theo Hug (Hrsg.): Wie kommt die Wissenschaft zum Wissen. Einführung in die Forschungsmethodik und Forschungspraxis. Hohengeren 2001, S. 144165, 156.)

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Weil die Wiederholung das Zeichen begründet (Barthes), weil also ohne Wiederholung kein Zeichen und ohne Zeichen keine Grammatik möglich ist, sondern nur ein vorwissenschaftliches Verstehen,264 soll im Folgenden gezeigt werden, welche Darstellungskonventionen sich im Laufe der Zeit entwickelt haben. „The analogy with language does not imply, however, that visual structures are like linguistic structures. The relation is more general. Visual structures realize more meanings as linguistic structures do also, and thereby point to different interpretations of experience and different forms of social interaction. The meanings which can be realized in language and in visual communication overlap in part, that is, some things can be expressed both visually and verbally; and in part they diverge – some things can be ‘said’ only visually, others only verbal.“265

Zu den sozialbiologisch verankerten und kulturell modifizierten „Leseregeln“ und damit der zumeist vor-bewussten Interpretation des kommunikativen Gehalts visueller Strukturen gehört, neben der bereits erwähnten Farbigkeit, die geometrische Formensprache mit geraden Linien und geschwungenen Formen. Da davon auszugehen ist, dass wir auf Farben, Formen sowie auf die Beschaffenheit von Oberflächen phylogenetisch reagieren (Rump), rufen auch Umwelteinflüsse bestimmte tief verwurzelte Empfindungen hervor: „Wenn etwa rote oder orange Töne als ‚warm’, bläulichweiße als ‚kalt’ empfunden werden, so spiegelt sich darin die Sonne bzw. die Gluthitze des Feuers wider und das kühlende Weißblau des sprudelnden Wassers, indem sich der Himmel spiegelt.“266 Bestimmte Reizbilder evozieren einen „Angeborenen Auslösenden Mechanismus (AAM)“ 267 des Begehrens oder Erschreckens. Allgemein kann davon gesprochen werden, dass zackigen Formen ein höherer Aufmerksamkeitswert zugesprochen werden kann als runden, wenngleich organische Formen positiver bewertet werden. Das Erregende an spitzen Formen sei anthropologisch auf die scharfkantigen und spitzgeformten Raubtierzähne zurückzuführen; ähnlich ließe sich die positive Empfindung von glatten Oberflächen mit geringer Verletzungsgefahr erklären.268 Bildelemente sind anders als sprachliche Elemente, nicht arbiträr,

264 „Without a grammar, images cannot be considered as language. Without a language pictures cannot be read.” Daniel Chandler zit. n. Claudia Maria Wolf: Bildsprache und Medienbilder. Wiesbaden 2006, S. 137. 265 Gunther Kress/Theo van Leeuwen: Reading Images. The Grammar of Visual Design. London, 1996, S. 56. 266 Rump, Ethnologie und Bildkommunikation, S. 85. f. Vgl auch: Eva Heller: Wie Farben wirken. Farbpsychologie, Farbsymbolik, kreative Farbgestaltung. Reinbek bei Hamburg 2001, S. 13. 267 Rump, Ethnologie und Bildkommunikation, S. 85 f. (Der vielleicht bekannteste AAM ist das Reizbild des sogenannten ‚Kindchen-Schemas’: allgemeine Rundlichkeit verbunden mit kullerigen Knopfaugen und einem leicht geöffneten kleinen Mund, was dann sowohl Beschützerreflexe als auch ein Empfinden von Niedlichkeit und Begehrlichkeit hervorrufen kann – das wusste schon Konrad Lorenz.) 268 Vgl. Rump, Ethnologie und Bildkommunikation, S. 86 ff.

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sondern instinktiv-semantisch sowie obendrein kulturhistorisch überformt. Schauen wir uns ein Beispiel an:

Abbildung 47: Visuell inszenierte Schaumgeburt: Marilyn Monroe269 Botticellis Formensprache der Geburt der Venus (die sich wiederum auf Motive aus dem Gedicht Das Reich der Venus von Polizians stützt)270 prägt bis heute die am Vorbild der griechischen Göttin orientierte und zumeist (wenn es nicht um CrossDressing geht) weibliche Selbstinszenierung. Das Meer zu Füßen von Botticellis Venus schlägt kleine, zart schäumende Wellen, die sich in der Bildmitte verdichten und zur gefalteten Muschel zusammenziehen. Die Wirkung von Marilyn Monroes berühmter Pose aus dem Film The seven Year Itch (1955), die als eine Adaption jener Urszene zu interpretieren ist, könnte sich demnach aus der Formensprache erklären lassen: Der aus dem Untergrund der U-Bahn-Station durch das Gitter strömende Windhauch lässt den weißen Plissee-Rock empor schäumen, der in seiner gleichmäßigen Faltenlegung Botticellis Muschel in Erinnerung ruft.271 Der Luftzug setzt die intervisuelle, organische und sehr weibliche Formensprache wie die Venus-Wellen in Bewegung. Alles Scharfkantige, Raue und Aggressive fehlt, der zarte Wind umfängt die weiße, blonde „Göttin“ mit weißem Wellenschlag; 272 die Gischt kehrt als Kleid

269 Gemälde und Fotografie entnommen aus: Juliane Vogel: Himmelskörper und Schaumgeburt. Der Star erscheint. In: Wolfgang Ullrich/Sabine Schirdewahn (Hrsg.): Stars. Annäherungen an ein Phänomen. Frankfurt a. M. 2002, S. 11-39. 270 Vgl. Aby Warburg: Sando Botticellis ‚Geburt der Venus’ und Frühling. Eine Untersuchung über die Vorstellung von der Antike in der italienischen Frührenaissance. Hamburg 1893, S. 11-65, 20. Vgl. auch: Frank Zöllner: Botticelli. München 2005. 271 Vgl. Juliane Vogel: Himmelskörper und Schaumgeburt. Der Star erscheint. In: Wolfgang Ullrich/Sabine Schirdewahn (Hrsg.): Stars. Annäherungen an ein Phänomen. Frankfurt a. M. 2002, S. 11-39, 14. 272 Botticellis kulturell kodiertes Motiv des „Weiß des idealen Körper“ der Venus, das aus der weißen Gischt der Wellen hervor und in den Körper der Göttin übergeht (Vogel, Himmelskörper und Schaumgeburt, S. 14), wird Marilyn Monroe adaptieren, indem sie

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und die Muschel als Form derselben zurück, und nicht zum letzten Mal verschiebt sich die Muschel von unten nach oben, auf die Höhe des Unterleibs.273 Die damit einhergehende Verheißung der angedeuteten Enthüllung wird durch die simultane Evokation von Leichtigkeit bestärkt, die durch das Flattern des Stoffes hervorgerufen wird. In einer Welt, in der sich Dinge aufgrund ihrer Schwerkraft von oben nach unten bewegen, wird alles diesem Gesetz Widersprechende als besonders interessant wahrgenommen. Die Empfindung von Leichtigkeit bei all den Dingen, die nach oben streben, reflektiert sich auch in der Gestaltung von Manuskriptseiten oder traditionellen Peritexten (wie dem Buchumschlag): Was auf einer zu gestaltenden Seite oben positioniert ist, wird tendenziell mit „leicht“ assoziiert, was unten steht mit „schwer“. In Texten oder Bildern oben Platziertes wird zugleich gedanklich mit „Aktivität“ verknüpft, das unten Stehende (durch das Gesetz der Schwerkraft bereits Angekommene) mit „Passivität“. Eine ähnliche visuelle Wirkkraft resultiert aus der Schreibrichtung. In einer Kultur, in der Texte von links nach rechts und von oben nach unten geschrieben werden, steht die linke Seite für „Anfang“ und die rechte Seite für „Ziel“, woraus sich wiederum für die visuelle Narration folgende Deutung ergibt: Auch bei der Anordnung von Bildelementen wird eine Bewegung von links nach rechts imaginiert; je nach Dichte wird damit „Dynamik“ oder auch „Flucht“ assoziiert. Bewegungen von rechts nach links werden mit einem kraftvollen, da gegen den Strom der normalen Blickrichtung strebendes „Hineinkommen“ verknüpft. „Ruhe“ und Harmonie hingegen entstehen, wenn die Bildelemente symmetrisch, statisch dargestellt werden.274 Die Versinnbildlichung von zeitlichen Strukturen bringt ebenso mit sich, dass wir zumeist das, was rechts positioniert ist (z. B. in einer Bilanzkurve, einer Zeitungsspalte oder auf einer Website), als besonders aktuell und relevant wahrnehmen. Die sicherste Regel bei der Interpretation von visuellen Narrationen sei es, „von der realen Seherfahrung des Menschen auszugehen, und die Fläche […] wie eine Landschaft oder einen Raum zu verstehen, in der [/dem] der Betrachter einen festen Standpunkt hat. Daraus ergebe sich, das ‚Nahe’ an den unteren Rand zu stellen und das ‚Ferne’ an den oberen Rand bzw. in den oberen Teil der zu gestaltenden Fläche. Ähnlich sei bei der dargestellten

sich fast ausschließlich in Weiß kleidet. (Vgl. Elisbathe Bronfen: Maria Calla und Marilyn Monroe. Zwischen Himmel und Hölle. In: Bronfen/Straumann, Diva, S. 43-68.) 273 Zahllose Filmsequenzen und Großaufnahmen inszenieren die Göttergeburt in dieser Bildersprache. In der ersten Bond-Verfilmung „James Bond 007 – jagt Dr. No“ (1962) steigt Ursula Andres als Bikini-Venus aus der Brandung. Und Brigitte Bardot nimmt zu den Dreharbeiten zu „Mio Figlio Nerome“ (1955) ein Milchschaumbad in einer ovalen Wanne; auch Marlene Dietrich badete im Schaum, und Julia Roberts entstieg in „Pretty Woman“ dem luxuriösen Schaumbad in Richard Geres Hotelsuite als Göttin unter nun hygienisch einwandfreien Umständen. (Vgl. Vogel, Himmelskörper und Schaumgeburt, S. 11-39.) 274 Vgl. Kress/Leeuwen, Reading Images, S. 56 f. Maxbauer/Maxbauer, Praxishandbuch Gestaltungsraster, S. 130 ff.

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Höhe vorzugehen: Was von unten gesehen wird, steht oben – was von vorne gesehen wird, steht in der Mitte – was von oben gesehen wird, steht unten.“275

Darstellung die diesen kulturellen Erfahrungen (Schreibrichtung als Erzählrichtung), dem physikalischem Wissen (Schwerkraft) und den alltäglichen Seherfahrungen (Ordnung der Dreidimensionalität) widersetzen, irritieren die Wahrnehmungslogik; aber auch das kann (nicht nur bei Jelinek) ein inszenatorisches Ziel sein.

Abbildung 48: Elfriede Jelineks „Die Kinder der Toten“(1997) Elfriede Jelineks Buchcover irritieren. Sie zerstören die zeitlichen Strukturen, die Empfindungen von Ruhe, und sie verstören visuell vermittelt das Wohlbehagen. In der Gestaltung des Umschlags des Romans Die Kinder der Toten scheint eine Fluchtbewegung, wie sie in der europäischen Kultur (zweidimensional gedacht) von links nach rechts angetreten wird, kaum möglich, da der Mann, dessen Umrisse in der Dunkelheit nur schemenhaft zu erkennen sind und der damit den Habitus des Unheimlichen trägt, von rechts kommt und dabei den gesamten Raum der rechten vorderen Umschlagseite ausfüllt. Erschauert der Rezipient noch nicht gleich beim Lesen des Titels, den fettgedruckten Signalwörtern Jelinek sowie wie der assoziativen Verbindung der Begriffe Kinder und Toten, so fröstelt es ihn spätestens angesichts der farblichen (blau und schwarz) sowie der motivischen Kälte: Der Mann läuft nicht nur durch die Dunkelheit, sondern offenbar auch durch einen Regensturm oder Schneewehen, vielleicht sogar von einer Kamera begleitet, die das Bild wackelnd verzerrt. Dadurch wird (à la Blair Witch Project oder im Sinne Thomas Glavinics Kameramörder) Authentizität und Unvermitteltheit bei gleichzeitiger Bedrohung suggeriert. Die Nebenfarbe (Orange-Rot) bestimmt und verstärkt in vorliegendem Kontext die Grundfarben Blau und Schwarz. In der Kombinatorik der warmen und kalten Farben, die widerstrebende Gefühle auslösen, liegt ein zusätzlicher Reizwert des vorliegenden Covers. In ihrer Farbpsychologie betont Heller, dass farbigen Kontrasten etwas „Vitales“ anhafte; demgegenüber sei eine Neigung zur Verwendung von dezenten Farben (wie

275 Claudia Maria Wolf: Bildsprache und Medienbilder. Wiesbaden 2006, S. 201 f.

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sie bei der Buchumschlaggestaltung Martin Walsers nachzuweisen ist) dem Wunsch geschuldet sei, „exklusiv“ und „seriös“ wirken zu wollen,276 natürlich, langlebig und echt.277

Widmung und Motti Ob man als Motto zu Beginn eines Werkes Goethe oder Günther Netzer zitiert oder beide in ironischer Kombination, macht einen wesentlichen Unterschied bei der Positionierung des Werkes und des Literaten auf dem literarischen Feld. Denn auch die Widmung, die am Anfang des Buches unübersehbar positioniert ist, gibt Aufschluss über das persönliche Beziehungsgeflecht freundschaftlicher, familiärer oder anderer Art, in dem der Autor sich verortet wissen möchte. Üblicherweise wird das Motto auf der rechten Seite nach der Widmung, aber vor dem Vorwort angebracht. Die Funktion der Widmung definiert Genette als „die (aufrichtige oder unaufrichtige) Zurschaustellung einer (wie auch immer gearteten) Beziehung zwischen dem Autor und irgendeiner Person, Gruppe oder Entität. Abgesehen von zusätzlichen Übergriffen auf die Funktion des Vorwortes erschöpft sich ihre eigene Funktion – die deshalb nicht gering zu veranschlagen ist – in dieser Zurschaustellung, die explizit oder implizit sein kann.“278

Explizite Zurschaustellung meint, dass das Wesen dieser Beziehung präzisiert wird, wie etwa in den klassischen Widmungsepisteln oder in genaueren, mitunter sogar

276 Eva Heller: Wie Farben wirken. Farbpsychologie, Farbsymbolik, kreative Farbgestaltung. Reinbek bei Hamburg 2001. Vgl. Auch: Claudia Maria Wolf: Visuelle Codes und Nachrichtenaufbereitung. Erhebung zum Fachwissen der visuellen Kommunikation von Mediengestaltern. In: Dies.: Bildersprache und Medienbilder. Wiesbaden 2006, S. 196236.) 277 David Batchelor stellt die herausfordernde These auf, die westliche Welt leide unter Chromophobie, die sich darin äußere, Farbe kulturell zu entwerten. Alle Formen von Farbigkeit werden, so Batchelor, abwertend mit dem meist „weiblichen, orientalischen, primitiven, kindlichen, vulgären, absonderlichen oder pathologischen“ Wesen assoziiert oder in das „Reich des Oberflächlichen, Nachträglichen, Unwesentlichen“ verbannt, wohingegen Schwarz und Weiß mit Eigenschaften des Puristischen, Intellektuellen, Abstrakten verbunden seien. Farbe werde „aus den höheren Sphären des Geistes ausgeschlossen.“ Mag Batchelors These auch bei genauerer Betrachtung Schwachpunkte enthalten, so gibt sie doch einen Hinweis auf die verbreitete Vorliebe, innerhalb der schriftstellerischen Selbstinszenierung auf die Schwarz-Weiß-Fotografie zurückzugreifen, um sich zeitlos von allem Modischen und Vorübergehenden zu distanzieren, Zeitlosigkeit anzustreben und sich nicht in der Sphäre des kindlich Konkreten, aber des Abstrakten zu verewigen. (Vgl. David Batchelor: Chromophobie. Angst vor der Farbe. Wien 2002, 20 ff.) 278 Genette, Paratexte, S. 132 f.

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einschränkenden Formulierungen des Typs „Für So-und-So, aus diesem Grund [und keinem anderen].“ Eine derart explizite Widmung wählte zum Beispiel Benjamin von Stuckrad-Barre in Livealbum (1999): „dies – wie ohnehin alles für Anke to know you is to love you to love you is to be part of you (Versmaß! Aber von Madonna gesungen, kommt es magischerweise hin.)“

Implizite Zurschaustellung hingegen lässt das Wesen der Beziehung in der Schwebe und überlässt die Interpretation dem Leser. Diese implizite Widmung nutzte etwa Judith Hermann in Sommerhaus, später (2001): „Für F. M. und M. M.“

Oder etwa Grass zu Beginn seiner Autobiografie Beim Häuten der Zwiebel (2006): „Allen gewidmet, von denen ich lernte“

Oder Handke, der sein Journal Das Gewicht der Welt (1979) lapidar mit einer Klammer begann mit: „(Für den, den’s angeht)“

Die unmittelbar wirtschaftliche Funktion der Widmung, falls sie einen Geldgeber oder Gönner erwähnt, ist heute obsolet geworden, ihre Rolle als moralische, intellektuelle oder ästhetische Säule des eigenen Denkens hat sich jedoch erhalten: 279 „Erwähnt man als Auftakt […] eines Werkes eine Person oder Sache als vorrangigen Adressaten, so wird sie zwangsläufig als eine Art idealer Inspirator einbezogen.“ 280 Als solcher kann der Adressat auch satirisch annonciert werden, wie Jelinek: „gewidmet dem österreichischen bundesheer“ (wir sind lockvögel, baby! (1988).) Ähnlich verhält es sich mit den Motti. Genette bestimmt für das Verwenden eines Mottos, das immer „eine stumme Geste darstellt, deren Interpretation dem Leser überlassen bleibt“ 281, vier Funktionen. Bei der ersten handelt es sich um „die mitunter entscheidende Funktion des Kommentars und der Verdeutlichung, die nicht als Begründung für den Text, sondern für den Titel dient.“ Das Motto signalisiert dann, wie der Titel beispielsweise im übertragenen Sinne zu verstehen sei und dass der Autor ein ebenso scharfzüngiger wie feinsinniger Zeitgenosse ist. Die zweite mögliche Funktion des Mottos besteht aus

279 Breite Danksagungen finden sich besonders in der amerikanischen Literatur – vom Kriminalroman bis zur Habilitationsschrift. 280 Genette, Paratexte, S. 133. 281 Ebenda, S. 152.

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einem „Kommentar zum Text, dessen Bedeutung auf diese Weise indirekt präzisiert und hervorgehoben wird.“282 Seinem Versuch über die Müdigkeit (1989) stellt Handke eine Bibelstelle voran: „Und aufgestanden vom Gebet, kommend zu den Jüngern, fand er sie schlafend vor Betrübnis – Lukas 22,45“

seinem Versuch über die Jukebox (1990) ein Beatles-Zitat: „And I saw her standing there – Lennon/McCartney“

Die ausweichende, eher affektive als intellektuelle Funktion lässt sich bei den meisten Motti nachweisen; die semantische Bedeutung ist demzufolge oft aleatorisch, „und man kann ohne die geringste Boshaftigkeit vermuten, dass manche Autoren ihre Motti völlig reglos verstreuen in der berechtigten Überzeugung, dass jede Zusammenstellung Sinn ergibt und sogar das Fehlen von Sinn eine Wirkung zur Folge hat, und zwar oft die stimulierendste […].“283 Der eine – Handke – stellt dem Kurzen Brief zum langen Abschied (1972) ein einzelnes Zitat aus Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser voran: „Und einst, da sie an einem warmen, aber trüben Morgen vors Tor hinausgingen, sagte Iffland […].“

Der andere – Stuckrad-Barre – setzt auf die ergänzende Wirkung mehrere geistiger Paten. Diese sind bei Stuckrad-Barres Livealbum (1999) der Sänger Falco sowie die Popstars Madonna und Robbie Williams: „In der Moral eines Unterhaltungskünstlers muss nur eines Priorität haben, das Wissen nämlich, dass die Leute unterhalten werden wollen (Falco) Let me entertain you (Robbie Williams)”

Die dritte Funktion, die ein Motto übernehmen kann, ist die selbsterhöhende Funktion des name-dropping. „Bei einer großen Anzahl von Motti ist die Hauptsache also bloß der Name des zitierten Autors“, in dessen Glanz der Zitierende sich selbstbewusst sonnt. Genette veranschaulicht den Effekt dieser Strategie mit einer kleinen Geschichte; er erzählt: „Wenn ich Ihnen sage: ‚Ich hatte den Eindruck, Soundso war beim gestrigen Abendessen in blendender Form‘, und wenn Soundso eine berühmte Persönlichkeit ist, mit der man sich gern zeigt, dann, so ist es klar, dass die hauptsächliche Information nicht die anscheinend gute Ge-

282 Genette, Paratexte, S. 153. 283 Ebenda, S. 154.

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sundheit dieser Person ist, sondern sehr wohl die Tatsache, dass ich mit ihr gespeist habe. Desgleichen ist bei einem Motto die Hauptsache oft nicht das Gesagte, sondern die Identität des Autors und die Wirkung einer indirekten Bürgschaft, die durch diese Anwesenheit am Saum eines Textes erzeugt wird [...].“284

Die vierte und letzte Funktion eines Mottos beruht auf seiner bloßen Anwesenheit, Genette nennt es den Motto-Effekt. Das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines Mottos ist mit hoher Sicherheit als solches bereits eine Signatur für den Autor oder die Tendenz eines Werkes. „Das bloße Motto ist ein Signal (das ich als Indiz verstehe) für Kultur. Ein Losungswort für Intellektualität.“ 285

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Autobiografisches Erzählen Um auf dem literarischen Markt Gehör zu finden, bietet es sich als Inszenierungstaktik an, Privates oder fiktional Überformtes preiszugeben, um Nähe zum Rezipienten und sympathiestiftende Ähnlichkeiten zwischen dem Autor und seinem Publikum zu evozieren. Eine einfache und wirkungsvolle Variante dieser Inszenierungsstrategie ist das autobiografische Erzählen. Autobiografische Texte kommen in einer großen Bandbreite vor, in pragmatischen und in poetischen Formen: von der Kurzskizze der persönlichen Vita über die Beichte, die Anekdote oder das psychoanalytische Gespräch bis hin zum Brief, Tagebucheintrag oder Gedicht. Das autobiografische Schreiben und Erzählen übernimmt im Kontext der Selbstinszenierung die Funktion, einzelne Episoden in einen mythologischen Gesamtzusammenhang zu stellen. Diese meist von einem abgeklärten Standpunkt vorgenommene Retrospektive eine unbewusste oder bewusste, oft sentenziöse Systematisierung, Neuordnung und einheitliche Wertung der biografischen Fakten. „Diese kann motiviert sein von der Suche nach der eigenen Identität, vom Wunsch nach Selbstergründung, moralischer oder politischer Rechtfertigung, vom Drang zum Bekenntnis und Enthüllung, von erzieherischen Impulsen.“286 Für die autobiografische Selbstdarstellung bezeichnend sind der ausgeprägte Subjektivismus, ein hoher, auch kulturhistorischer Wahrheitswert und eine relativ ausgeprägte Wahrhaftigkeit, besonders im Bereich der Gefühle und Meinungen. Die bekannteste und bis heute gültige Definition der Autobiografie gab Georg Misch im Jahr 1907: „Sie [die Autobiografie] lässt sich kaum näher bestimmen als durch die Erläuterung dessen, was der Ausdruck be-

284 Genette, Paratexte,, S. 154. 285 Ebenda, S. 156. 286 Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen. Hrsg. v. Günther u. Irmgard Schweikle. Stuttgart 1990.

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sagt: Die Beschreibung (graphia) des Lebens (bios) eines Einzelnen durch diesen selbst (auto).“287

Die Autobiografie in Buchform Die geläufigste Form des autobiografischen Erzählens ist – neben dem diskursiv verstreuten, fragmentarischen Erzählen – die schriftstellerische Autobiografie in Buchform. Darin hat das „Erzählen über die Identitäts-Findung“ den gleichen Stellenwert wie das „Finden der Identität durch das Erzählen“.288 Das alle Lebenserzählungen verbindende Moment ist die Sprache: „Übergreifende Strukturen bilden sich dadurch – und deshalb kann auch weiterhin von einer abgrenzbaren Gattung Autobiographie gesprochen werden –, dass Verbindlichkeiten nicht über verpflichtende Lebensschemata hergestellt werden, sondern über die Art, wie sprachlich, stilistisch und textstrategisch der Verlust an lebensimmanenter Erfahrungshaltigkeit in einen Gewinn ästhetischer Erfahrung umgemünzt wird.“289

Und mehr noch: Der motivische Verlust an lebensimmanenter Erfahrungshaltigkeit wird nicht allein deshalb zu einem Gewinn, weil er in ästhetische Erfahrung übertragen wird, sondern weil sich in den Lebensgeschichten und den sprachlich-ästhetische Selbsterzeugungen Denkmuster und Mythologien kristallisieren.290 Jean-Jacques Rousseaus Bekenntnisse dürfen als die erste, historisch überlieferte Autobiografie gelten.291 Darin verkündet er: „Ich plane ein Unternehmen. Das kein

287 Georg Misch: Geschichte der Autobiographie. 2 Bde., Bd. 2, Frankfurt a. M. 1989, S. 38. 288 Bernd Neumann: Paradigmenwechsel. Vom Erzählen über die Identitäs-Findung zum Finden der der Identität durch das Erzählen. In: Edda-Hefte, 1991, Nr. 2, S. 99-109. Die Ansicht Neumanns, dass ein Paradigmenwechsel im 20. Jahrhundert vom Erzählen der Identität zum Finden der Identität innerhalb der „Gattung“ Autobiografie stattgefunden haben soll, teile ich hingegen nicht. Vielmehr scheinen mir beide Aspekte, das Erzählen und das Sich-Finden, seit jeher untrennbar miteinander verbunden zu sein. 289 Michaela Holdenried: Autobiographie. Stuttgart 2000, S. 55. 290 Ein vergleichender Blick auf die unterschiedlichsten Dichterautobiografien gibt zum einen über die einzelnen Persönlichkeitsstrukturen Aufschluss, zum anderen aber auch über eine ihnen allen inhärente Motivik. In der Verschmelzung und Abstraktion der diesmal nicht sprach- und form-stilistischen, sondern der typologischen Grundstruktur der Autobiografie lässt sich beispielsweise der schriftstellerische Ur-Mythos der Sublimationsuntauglichkeit als Realitätsmodell nachweisen, der sich strukturlogisch über die Lebensstationen aufbaut und im Vergleich der autobiografischen Selbstdarstellungen sichtbar wird. [Siehe dazu: Zusammenfassung am Ende des Kapitels „Praktiken der Selbstdarstellung“.] 291 Die Encyclopedia Brittanica reklamiert die erstmalige Verwendung des Wortes Autobiografie (autobiography) durch William Taylor für das Jahr 1797 und bringt es in Zusammenhang mit dem von Taylor ins Englische übersetzen Werkes Confessions von Rous-

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Vorbild hat und dessen Ausführungen auch niemals einen Nachahmer finden wird.“292 Der Satz wird fortgesetzt mit der Definition des von Rousseau angestrebten Ziels und darf fortan als universeller Maßstab bezeichnet werden: „Ich will vor meinesgleichen einen Menschen in aller Wahrheit und Natur zeigen, und dieser Mensch werde ich sein. Einzig und allein ich.“293 Denn, so begründet Rousseau weiter: „Wenn ich nicht besser bin, so bin ich doch wenigstens anders. Ob die Natur gut oder übel an mir getan, die Form zu zerbrechen, in der sie mich gestaltete, das wird man nur beurteilen können, nachdem man mich gelesen hat.“294 Letzteres impliziert die Transformation des körperlich erfahrbaren Ichs in die Schrift und umgekehrt und das Erkennen eines Ichs in der Schrift. „Vom Bösen habe ich nichts verschwiegen“, lockt Rousseau seine Leser, „dem Guten nichts hinzugefügt, und sollte es mir doch widerfahren sein, irgendwo im Nebensächlichen ausgeschmückt zu haben, so ist es niemals aus einem anderen Grunde geschehen, als um eine Lücke auszufüllen, die mein Gedächtnis verursacht hat.“295

Der Ur-Schock, oder die mit vielen Zutaten belastete Wiege Ganz ähnlich beginnt auch Johann Wolfgang von Goethe seinen autobiografischen Text Dichtung und Wahrheit: „Am 28. August 1749, mittags mit dem Glockenschlage zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt. Die Konstellation war glücklich; die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau und kulminierte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sich freundlich an, Merkur nicht widerwärtig; Saturn und Mars verhielten sich gleichgültig, nur der Mond, der soeben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins umso mehr, als soeben seine Planetenstunde eingetreten war. Er widersetzte sich meiner Geburt, die nicht eher erfolgen konnte, als bis diese Stunde vorübergegangen. Diese guten Aspekte, welche mir die Astrologen in der Folgezeit sehr hoch anzurechnen wussten, mögen wohl Ursache an meiner Erhaltung gewesen sein: denn durch Ungeschicklichkeit der Hebamme kam ich für tot auf die Welt, und nur durch vielfache Bemühungen brachte man es dahin, dass ich das Licht erblickte. Dieser Umstand gereichte jedoch meinen Mitbürgern zum Vorteil […].“296

Kaum auf der Welt, schon für tot erklärt. Die kurze Episode von Goethes Geburt, die – trotz der Ungeschicklichkeit der Hebamme – ein glückliches Ende fand und somit,

seau. Im deutschen Sprachraum verdrängte im 19. Jahrhundert die Autobiografie den Begriff der Memoiren. 292 Jean-Jacques Rousseau: Bekenntnisse (1781/1985). Frankfurt a. M. 2007, S. 37. 293 Ebenda, S. 37. 294 Ebenda, S. 37. 295 Ebenda, S. 37. 296 Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: Josef Kunz (Hrsg.): Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14. Bänden: Dramatische Dichtung. Hamburg 1964.

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wie er nicht zu erwähnen vergisst, seinen Mitbürgern zum Vorteil gereichen sollte, verdeutlicht ein nicht nur für Goethe bedeutungsvolles Prinzip: das sperrige Verhältnis des Dichters zur Welt. In diesem Falle sogar umgekehrt, will doch die Welt dem Dichter schon von Geburt an den Weg ins Leben versperren. Und tönt auch die Sonne euphorisch „nach alter Weise/ in Brudersphären Wettgesang“ 297, wie im himmlischen Prolog des Faust, so verbergen auch die kosmischen Kräfte einen weiteren, überirdischen Widersacher, der die Geburt Goethes zwar nicht vereiteln, wohl aber hinauszögern konnte: der Mond. In tiefer, schauervoller Nacht, bevor Goethe das Licht der Welt erblickte, übte also der Mond die unbändige Macht des Gegenscheins aus. Schon die Geburt des Dichters, ohne dass er auch nur eine Silbe von sich gegeben hat (vielleicht einen Schrei? – aber dazu bei Handke mehr), stellt eine Bürde für alle Beteiligten dar und symbolisiert eine verhängnisvolle, wechselseitige Leiden andeutende Verbindung zwischen dem Dichter und der Welt. Noch einmal Goethes Faust: „Und Stürme brausen um die Wette,/ Vom Meer aufs Land, vom Land aufs Meer,/ Und bilden wütend eine Kette/ Der tiefsten Wirkung rings umher.“298

Weniger pathetisch als bei Goethe, der das Licht erblickte, ist es bei Günter Grass literarisch einfach passiert – „abgenabelt; es war nichts mehr zu machen.“299

297 Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: Josef Kunz (Hrsg.): Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14. Bänden: Dramatische Dichtung. Hamburg 1964. 298 Goethe, Faust, Der Tragödie erster Teil. 299 Eine bemerkenswerte Parallelität zu Goethes Geburt weist die Geburt Oskar Matzeraths auf; in der Blechtrommel heißt es: „Es war in den ersten Septembertagen. Die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau. Von fernher schob ein spätsommerliches Gewitter, Kisten und Schränke verrückend, durch die Nacht. Merkur machte mich kritisch, Uranus einfallsreich, Venus ließ mich ans kleine Glück, Mars an meinen Ehrgeiz glauben. Im Haus des Aszendenten stieg die Waage auf, was mich empfindlich stimmte und zu Übertreibungen verführte. Neptun bezog das zehnte Haus der Lebensmitte und verankerte mich zwischen Wunder und Täuschung.“ (Günter Grass: Die Blechtrommel (1959). Göttingen 1993, S. 46 ff.) Und auch dieses beginnende Leben sollte kein leichtes sein; nur das in Aussicht gestellte, zu spielende Instrument hinderte den Erzähler daran, dem Wunsch nach Rückkehr in die embryonale Kopflage stärker Ausdruck zu geben.

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Abbildung 49: Günter Grass, bäuchlings300 Sind es nicht Gewitterwolken, die über dem Kopf des kleinen Günter Grass, hier auf einer Häkeldecke in der elterlichen Wohnung in Langfuhr bäuchlings liegend, aufziehen? Ungefragt in die Welt geworfen, vom Himmel gefallen ist Grass nicht, doch an unliebsamer Stelle zur Welt gebracht, wie er nicht nur seine Mutter wissen lässt: „Nicht auf Strohdeich und Bürgerwiesen, nicht in der Pfefferstadt – ach wär’ ich doch geboren zwischen Speichern auf dem Holm! In Strießbachnähe, nahe dem Heeresanger ist es passiert.“301

Weder eine Frau noch eine Hebamme überschattet seine Geburt im Jahr 1927, nein, es ist sein Geburtsort in Strießbachnähe, der Grass verdrießlich stimmt und sein Unbehagen, sogar seine Gespaltenheit zu verantworten hat. Denn, so schreibt Grass, „da meine so reichlich mit Zutat belastete Wiege […] im Freistaat Danzig stand, also in einem Territorium, das weder zur Republik Polen noch zum Deutschen Reich gehörte und deshalb ein begehrenswerter Zankapfel war, wuchs ich auf doppelt genähte Weise in einem Spannungsfeld auf.“302 Von seiner Mutter, die kaschubischer Herkunft war, und seinem deutschstämmigen Vater habe Grass etwas in die Wiege gelegt bekommen, was ihn ein Leben lang als „stets offener Zwiespalt“303 wach gehalten habe. Durch die historische Rückbindung seines Zwiespalts an den Ort der Geburt scheint die innere Spaltung, die Grass sich zuschreibt, weniger aus seinem selbstverantwortlichen Handeln zu resultieren, als ihm vielmehr unschuldig, ja naturgegeben, von Beginn an in die Wiege gelegt worden zu sein. Diesem Zwiespalt, dem Urgrund des sperrigen Verhältnisses des Dichters zur Welt, wird mit der retrospektiv

300 Kinderfoto von Günter Grass. Entnommen aus: Michael Jürgs: Bürger Grass. Biografie eines deutschen Dichters. München 2002, S. 24. 301 Günter Grass: Kleckerburg. Gedicht. In: Franz Josef Görtz (Hrsg.): Günter Grass. Gedichte. Stuttgart 1985, S. 63-68. 302 Günter Grass: Dankesrede für die Verleihung des Viadrina-Preises. Gehalten an der Universität Frankfurt a. d. Oder 2001. 303 Ebenda.

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stilisierten Geburt ein ebenso existenzphilosophischer wie individueller Status verliehen, der den Dichter von der Welt trennt, ihn aber zugleich mit den anderen Dichtern (in diesem Fall mit Goethe) verbindet, die, literarisch, lyrisch oder essayistisch verbürgt, Ähnliches erlitten.304 Von widrigen Umständen, die ein Spannungsverhältnis zur Welt befördern, wurde auch die Geburt Peter Handkes begleitet. Mitten im Krieg im Dezember 1942 wurde Handke im niederösterreichischen Südkärnten an der slowenischen Grenze in einer „niedrigen, dürftigen Stube“ geboren, zu der man nur über eine steile Holztreppe gelangte, wie die Hebamme in ihrem Erinnerungsbuch die Wohnverhältnisse beschrieb.305„Es muss so eine Art Urschock gegeben haben. Manchmal meine ich, es waren Angstzustände als Kind“306, erinnert sich Handke. Von den „Sirenen des Ernstfalls“ (WU, 31 f.) beschallt, sei der Krieg das bestimmende „Angstgespenst der frühen Kinderjahre“ (WU, 27 f.) gewesen – in „Kinderalpträumen nach außen geschwitzt und damit vertraut gemacht“ (WU, 32). „Das erste, an was ich mich erinnere in meinem Leben, ist der Schrei, den ich ausstieß, als man mich in einem Waschbecken badete und als plötzlich der Stöpsel herausgezogen wurde und das Wasser unter mir weggurgelte.“ (KB, 88)

Die Hilflosigkeit, die sich in diesen „nackten, dämonischen Schrecknissen“ 307 des badenden Kindes ausdrückt, spiegeln Handkes bald poetisch reflektierte Existenzangst. Bricht sich auch der Versuch des erforderten Widerstandes gegen die Welt in Handkes (Ur-)Schrei bahn, so konnte dieser die durch Manipulation herbeigeführte Beeinträchtigung (als plötzlich der Stöpsel herausgezogen wurde) nicht mehr aufhalten. Das Wasser ist fort, weggegurgelt, das Entsetzen vor der „kalte[n], kalte[n] Welt“ (GW, 270) aber bleibt.

304 Die schwierige Geburt ist kein Privileg der Dichter, auch andere Künstler wissen die Geburtsstunde zu nutzen, um ihren Mythos zu begründen: So will die Schauspielerin und Sängerin Sarah Bernhardt als Säugling vom Hochstuhl gesprungen sein, nachdem sie zuvor das Tablett, das sie ihm Hochstuhl festhielt, zur Seite geklappt hatte. Anstatt auf dem Boden zu landen, springt oder fällt sie ins offene Kaminfeuer. Von diesem ersten Aufbegehren bleibt das Leitmotiv ihres Lebens: der Sprung. (Als 5-Jährige sprang sie, nicht zum letzten Mal, aus Protest dem Fenster. Bei einem inszenierten Sprung während einer Tosca-Aufführung in Buenos Aires stürzte sie auf die Bühnenbretter, weil zuvor vergessen wurde, dort wie üblich Matratzen auszulegen.) Vgl. Elisabeth Bronfen: Sarah Bernhardt. Die Unermüdliche. In: Dies./Barbara Straumann: Diva. Eine Geschichte der Bewunderungen. München 2002, S. 90-101, 91. 305 Vgl. Adolf Haslinger: Jugend eines Schriftstellers. Salzburg 1992, S. 7. 306 Peter Handke: Die Leiden des jungen Peter Handke. Peter Handke im Gespräch mit Sigrid Löffler. In: Profil, 27.05.1973, S. 50. 307 Vgl. Gerhard Melzer: Das erschriebene Paradies. Kindheit als poetische Daseinsform im Werk Peter Handkes. In: Ders./Gerhard Fuchs (Hrsg.): Peter Handke. Die Langsamkeit der Welt. Dossier Extra. Graz 1993, S. 47-62, 47.

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Postnatale Rückschläge musste auch Elfriede Jelinek aushalten. Als einzige Tochter einer spät gebärenden, ehrgeizigen Mutter und eines psychisch labilen, später dann psychisch kranken Vaters, den Jelinek als „das tragischste Wesen, das mir je untergekommen ist“308 beschreibt, ist sie im Oktober 1946 im österreichischen Mürzzurschlag „per Zangengeburt“ auf die Welt gekommen. Ihr Verhältnis zur Welt war von Beginn an ein widerständiges, ihre Kindheit ein andauernder Ausnahmezustand: „Schlimme Familienverhältnisse […] bei mir daheim“309, heißt es, gelegentlich auch differenzierter: Sie sei „wie ein Tier“ von früher Kindheit an auf die Mutter fixiert gewesen, die weniger mütterliche Liebe als eine Autorität darstellte und „absolute Macht“ über sie gehabt habe. „Seit ihrem Tod hat sich manches geändert, aber gesund bin ich nicht geworden. Die Angst wird immer größer statt kleiner“ 310, so Jelinek. Jean-Paul Sartre hingegen sah einst nicht Licht (wie Goethe), nicht Stroh (wie Grass), doch ähnlich schlimm den Tod lauern. In seiner autobiografischen Schrift Die Wörter erinnert er sich: „Als ich fünf Jahre alt war, spähte er nach mir aus, am Abend trieb er sich auf dem Balkon herum, presste seine Schnauze ans Fenster, ich sah ihn, wagte aber nichts zu sagen. Auf dem Quai de Voltaire begegneten wir ihm einmal, er war eine große, alte, schwarz gekleidete und verrückte Dame, sie murmelte, als ich vorüberging: „Dies Kind stecke ich mir in die Handtasche“. Ein anderes Mal nahm der Tod die Gestalt eines Kellers an. […] Ich spielte lustlos Hoppereiter und hopste um das Haus. Plötzlich bemerkte ich ein finsteres Loch: man hatte den Keller geöffnet; ich weiß nicht mehr so recht, welche Gewissheit des Schreckens und der Einsamkeit mit blendete.“311

Angst und „Schrecken der Kindheit“ erlebte in artverwandter Weise auch Marie Luise Kaschnitz, zumindest literarisch. Einem ähnlich bedrohlichen Gefühl nachspürend, schreibt sie: „Schrecken der Kindheit. Das Nicht-einschlafen können, mit den fest schlafenden Geschwistern im Zimmer, dem Schlag der Kuckucksuhr, böser Vogel, mit dem Wind draußen und den Sternen draußen, dem letzten Räderrollen, der ersten Dämmerung, lauter Vorgänge, an denen teilzunehmen ein Frevel war […] Die Furcht vor den Hunden auf dem Schulweg, bösen bissigen Hunden, die als solche auf einem Schild am Gitter ausgewiesen waren, die bereits zu bellen

308 Elfriede Jelinek im Gespräch mit Sigrid Löffler. In: Sigrid Löffler: Elfriede Jelinek. Spezialistin für den Hass. Eine Autorin, die keine Annäherung erlaubt. In: Die Zeit, 04.11.1983. 309 Vgl. Verena Mayer/Roland Koberg: Elfriede Jelinek. Ein Porträt. Reinbek bei Hamburg 2006, S. 124. 310 Jelinek, „Ich bin die Liebesmüllabfuhr“, Weltwoche 02.12.2004. 311 Jean-Paul Sartre: Die Wörter (1964/1965). In: Vincent von Wroblewsky (Hrsg.): JeanPaul Sartre. Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Bd. 1: Autobiografische Schriften. Reinbek bei Hamburg 2009, S. 54 f.

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anfingen, wenn man noch weit entfernt war, und die sich, während man vorbeilief, mit fetten Leibern, keuchenden Mäulern gegen den schadhaften Zaun warfen, jeden Tag, jeden Tag.“312

Das Kind als „realistische Gestalt oder idealisierter Mythos“ ist für Kaschnitz Inbegriff des „ewig Fremde[n]“, aber auch ein Mensch in offenster und zaghaftester Gestalt.313 Die metaphorisch-existenzielle Erfahrung der ersten Dämmerung ereilte sie beinahe so früh wie Sartre. Das kindliche Kaschnitz-Ich nimmt die Außenwelt als eine (zunächst rein physische) Grenze wahr, hinter der es zurückbleibt; zu dem physischen Eingesperrt-Seins gesellt sich das Motiv der in ihr selbst begründeten, innerlich empfundenen Ausgeschlossenheit. Anders als ihren Geschwistern, ist es dem kindlichen Ich nicht gewährt, friedlich zu schlafen. Stattdessen hört es den bösen Vogel. Ruhelos des nachts, und am Tag, jeden Tag ausgeliefert, ist das kindliche, autobiografische Schriftsteller-Ich schon seit den ersten Lebensjahren mit Fremdheit und Weltfurcht ausgestattet. Ähnlich wie Handke beschreibt Kaschnitz die Erfahrungen einer kalten Welt, vor der sie erstarrt: „Das Frieren der Kinder, die gezwungen wurden, viele Stunden am Tag in der „frischen Luft“ mit halb erstarrten, heftig schmerzenden Händen und Füßen, auf den Havelseen Schlittschuh zu laufen, und wie wir da vor Müdigkeit oder Ungeschick hinfielen und wieder aufstanden mit blutenden Knöcheln, und die Tränen gefroren auf dem Gesicht. Wie wir uns in die Getränkebude flüchteten, in die heiße rauchige Luft, den Berliner-Pfannkuchen-Duft, aber nicht bleiben durften, kaum eine Minute lang.“314

Das Bleiberecht auf der Welt scheint auch Kaschnitz von klein auf verwehrt zu sein. Den Zwang, „draußen“ zu sein, erträgt das Kind nur halb erstarrt und unter heftigen Schmerzen. Selbst in der Getränkebude durfte es nicht verweilen, kaum eine Minute lang. Die Tränen gefroren.315 Kindheitsmuster Jelineks prägende Kindheits-Erfahrung war „das neurotische Mutter-TochterVerhältnis“316, das sich in totaler Vereinnahmung und bedingungsloser Abhängigkeit ausdrückte. In Jelineks Biografie heißt es:

312 Marie Luise Kaschnitz: Schrecken der Kindheit. In: Christian Büttrich/Norbert Miller (Hrsg.): Gesammelte Werke. 7 Bde. Frankfurt a. M. 1981-1989; Bd. 3, S. 522. 313 Vgl. Dagmar Gersdorff: Marie Luise Kaschnitz. Eine Biografie. Frankfurt a. M. 1992, S. 20. 314 Kaschnitz, Schrecken der Kindheit, S. 522. 315 Die fragmenthafte Syntax untermauere ihr Gefühl der Vereinzelung, und reflektiere „als Formverunsicherung die massiven Störfaktoren: kindliche Ängste, Qualen, Traumata.“ Vgl. dazu ausführlich: Nikola Roßbach: Gepeinigt von Fantasie. Autobiografische Kindheitsentwürfe bei Marie Luise Kaschnitz. In: Dirk Göttsche (Hrsg.): Für eine aufmerksamere und nachdenklichere Welt. Stuttgart 2001, S. 49-64, 58. 316 Mayer/Koberg: Elfriede Jelinek, S. 112.

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„In einem Alter, da man sich normalerweise abnabelt, war Elfriede Jelinek von ihrer Mutter abhängig wie ein kleines Kind. So blieb sie Jahrzehnt um Jahrzehnt bei ihrer Mutter, mit ihr eine Art ‚Doppelgeschöpf‘ bildend, zwei Frauen, die symbiotisch und auf sich selbst zurückgeworfen, nebeneinander und durcheinander lebten.“

Als Elfriede Jelinek eine junge Autorin war und erstmals für einen längeren Beitrag im Fernsehen porträtiert wurde, ließ sich auch ihre Mutter Ilona Jelinek filmen. Mit gelöstem Haar präsentierte sie sich auf der Le-Corbusier-Liege wie eine exaltierte Mitbewohnerin.317 Von ihrer Mutter hatte Jelinek Anfang der 1970er-Jahre einen „Bubble Chair“ des finnischen Designers Eero Aarnio geschenkt bekommen, jenen durchsichtigen, bis auf die Sitzöffnung in sich geschlossenen Plexiglasball, der an einer Eisenkette von der Decke baumelte und Jelinek mit der darüber liegenden Wohnung ihrer Mutter wie über eine Nabelschnur verband. Ein Leben lang blieb sie der „Fisch im Fruchtwasser der Mutter“ (K, 83), und entsprechend einsam. Die pathologisch symbiotische Einheit von Mutter und Kind bearbeitet Jelinek in ihrer Prosa318 und in ihren Stücken319, indem sie diese literarisch zu persiflieren und zu zerstören sucht. Die Hauptfigur ihres Romans Die Klavierspielerin (1983), den Jelinek als „eingeschränkte Biografie“320 bezeichnet, trägt in Anspielung an den Wiener Psychoanalytiker Heinz Kohut den Namen Erika Kohut. Während der Psychoanalytiker über die frühkindliche narzisstisch-egozentrische Mutterfixierung schreibt: „Nun, da alle Vollkommenheit und Stärke in dem idealisierten Objekt [der Mutter] liegen, fühlt das Kind sich selbst leer und machtlos, wenn es von ihm getrennt ist, und es versucht deshalb dauernd mit ihm vereint zu bleiben.“321 Jelinek kehrt die Fixierung der Tochter auf die Mutter künstlerisch um, in einer Fixierung der Mutter auf die Tochter: „Wenn Erika einmal im Monat in einem Café sitzt, weiß die Mutter in welchem und kann dort anrufen. Von diesem Recht macht sie freizügig Gebrauch. Ein hausgemachtes Gerüst von Sicherheiten und Gewöhnungen. Die Zeit um Erika herum wird langsam gipsern. Sie bröckelt

317 Mayer/Koberg: Elfriede Jelinek, S. 112 f. 318 So zum Beispiel in Jelineks Theater-Text Babel, in der die symbiotische Mutter das Kind wortwörtlich verschlingt und sich einverleibt. 319 In ihrem Theater-Text Begierde und Fahrerlaubnis inszeniert Jelinek „eine Frau, die in einem endlosen Spiegelstadium steckengeblieben ist, also in dem Moment, in dem sie sich selbst erkennt und sich damit bannt. Sie tritt sozusagen nicht in die Vergesellschaftung ein.“ (E. F. im Gespräch mit Anke Röder: Überschreitungen. Publiziert auf Jelineks Homepage, http://www.elfriedejelinek.com (Stand: Juli 2013).) Die damit einhergehende narzisstische Störung illustriert Jelinek in ihrem Stück an der Figur der Frau, die unfähig ist, sich aus der Mutter-Kind-Dyade zu lösen und der es verwehrt bleibt, sich selbst als eigenständiges Ich zu erkennen. (Vgl. Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bilder der Ichfunktion. In: Ders: Schriften I. Weinheim 1996.) 320 Vgl. Mayer/Koberg, Elfriede Jelinek, S. 14. 321 Heinz Kohut: Narzissmus. Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzisstischer Persönlichkeitsstörungen. Frankfurt a. M. 1973, S. 57.

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sofort, schlägt die Mutter einmal mit der Faust gröber hinein. Erika sitzt in solchen Fällen mit den gipsernen orthopädischen Kragenresten der Zeit um ihren dünnen Hals herum zum Gespött der anderen da und muss zugeben: ich muss jetzt nach Hause. Erika ist fast immer auf dem Heimweg, wenn man sie im Freien antrifft.“ (K, 10)

Die Protagonistin, die in jahrelanger Gebundenheit an die Mutter recht gefühllos wird, nur in Selbstverletzungen sich zu spüren vermag, hat als eine von ihrer Mutter Unterworfene, an dem ständigen Leistungsdruck und der Triebunterdrückung Leidende eine sado-masochistische Neigung ausgebildet. In dem Verbot, kindliche sexuelle Gefühle auszuleben („Erika hat keine Empfindungen und keine Gelegenheit, sich zu liebkosen. Die Mutter schläft im Nebenbett […].“ (K, 54)), bleibt sie das ewige Kind – und dabei „der Phallus der Mutter […], und die Mutter ist der Phallus des Kindes, Ersatz des Vaters. […] Indem Mutter und Tochter einander Phallus sind, sind sie unlösbar im Phantasma der gegenseitig sich spiegelnden ‚Ganzheit’ verbunden; sie leben […], indem sie den Vater ‚kastrieren’“. 322

Freuds Psychoanalyse karikierend und überzeichnend, erlebt die Protagonistin in der Klavierspielerin zudem gelegentlich eine Regression, sie „saugt und nagt an diesem großen Leib [der Mutter] herum, als wolle sie noch einmal hineinkriechen, sich darin zu verbergen.“ (K, 235)

Abbildung 50: „Bambiland“, Hörbuch-Cover (l.), Buch-Cover (r.) Außerhalb ihrer literarischen Texte macht Jelinek den Muttermord, ganz im Sinne Freuds, zum Thema in Interviews. Auch ihre Paratexte, so zum Beispiel diejenigen zu Bambiland (2004), spielen gezielt mit dem Themenkomplex des gewaltsamen Verlustes der Mutter des kleinen Rehkitzes Bambi.323

322 Vgl. auch Bärbel Lücke: Elfriede Jelinek. Paderborn 2008, S. 75 f. 323 Die Paratexte führen in diesem Fall gezielt in die Irre und dienen eher Jelineks Mythos als dem Inhalt des Stücks, das von dem Coverbild völlig losgelöst ist: Jelineks Stück Bambiland (2004) handelt keinesfalls vom Muttermord, sondern vom Irak-Krieg unter der Präsidentschaft Georg W. Bushs. (Der Name Bambiland geht, so Jelinek, auf einen Vergnügungspark in Serbien zurück, der von Slobodan Milošević für seinen Sohn Marko gebaut wurde; und den sie als Symbol der Perversion nutzt.) Gleichwohl ist das Stück Bambiland, das Christoph Schlingensief 2004 als Installation Attabambi – Pornoland.

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Den Diskurs um ihre eigene narzisstische Störung bestärkt Jelinek in Interviews, indem sie von „schizophrenen Schüben“324 spricht, die sie erleide, und von einer „manischen Fernsehsucht“, der sie erliege. Außerdem berichtet sie, dass sie „wirklich total kaputt“ sei und gibt davon Kunde, wie sie diverse „Psychiater […] verschlissen“ habe: „Ich habe es dreimal versucht. Allerdings keine orthodoxe Analyse, sondern eine Gesprächstherapie. Es war schrecklich, denn beim ersten Mal war ich sieben… Es hat mir mehr geschadet

Reise durchs Schwein in Wien auf die Bühne brachte, eine Beschäftigung Jelineks mit der Psychoanalyse, eine psychoanalytische Ausleuchtung der Ursachen der Ereignisse des 11. Septembers und des Irakkrieges: Bush ist in diesem Stück Jesus („Jesus George Bush“) und Teil der Dreifaltigkeit (Rumsfeld, Cheney, Bush). In einer Macht-Fetisch-PhallusOrgie, in der Technik, Religion und Sexualität verschmelzen (vgl. auch Derridas Idee vom Krieg als Sinnbild der göttlichen Ratio und phallischen Macht: „Ist es nicht die kolossale Automatizität der Erektion?“ In: Ders./Vattimo, Gianni: Die Religion. Frankfurt a. M. 2001, S. 78), lässt er mit Hilfe der Präzisionswaffen Druck ab („Na endlich spritzt er ab, ich habe schon gedacht, er kommt überhaupt nicht mehr“, Bambiland). Die islamischen Terroristen sind bei Jelinek vom Inzestwunsch und der Ödipusfixierung gequält („Die Schwänze wollen springen wie die Lachse, es treibt sie was zurück zu Mama“, Bambiland), darunter auch Mohammed Atta, aus dessen Testament Jelinek wörtlich zitiert. Der Terrorist und seine Mutter bleiben in Bambiland aufeinander fixiert und infantil („Schleckt der diese Wunde, der Idiot, der mein Sohn ist, aber dass er meine Fut schleckt, auf die Idee kommt er natürlich wieder mal nicht. Aber die Person, die den Bereich seiner Genitalien wäscht […], das soll ein guter Muslim sein und Handschuhe tragen“). Vorsichtig formuliert: Der Krieg könnte in Bambiland aus der engen und ‚lebenslänglichen’ Mutter-Kind-Dyade entstanden sein, die bei ‚Jesus George Bush’ Macht- und Gewaltfantasien auslösten und bei Mohammed Atta im heiligen Krieg und im Selbstmordattentat als einzige Möglichkeit der Loslösung von der heiligen Mutter endeten. Der SprachKrieg, den Jelinek führt, und der mit Freud als eine Wiederholung des destruktiven Unlustzwangs analysiert werden könnte, als Mittel zur Bewältigung und Bemächtigung der Unlust, als sprachgewaltige Ersatzbefriedigung, soll hier allerdings nicht weiter ausgeführt werden, zu offensichtlich und stilisiert ist die bewusste, diskursive und inszenierte Lenkung Jelineks in die psychoanalytische Richtung. Indem sie ein bewusstes, fiktionales Spiel mit psychisch unbewussten Prozessen beginnt und diese in der literarischen Umwandlung expliziert und poetisch plakatiert, wird von Jelinek die Wirkung der These Freuds, dass es einen Bereich, eine energiegeladene Sphäre, den Bezirk des Unbewussten, gibt, der als unentdeckte Energiequelle fungiert, partiell bereits unterlaufen – in dem Moment nämlich, in dem die Psychoanalyse selbst instrumentalisiert und bewusst wird. 324 Elfriede Jelinek im Gespräch mit Sigrid Löffler. In: Sigrid Löffler: Elfriede Jelinek. Spezialistin für den Hass. Eine Autorin, die keine Annäherung erlaubt. In: Die Zeit, 04.11.1983.

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als genützt, weil es dieser Neigung zur Vereinzelung, mich auf völlig verquere Weise einzigartig zu fühlen, verstärkte.“325 „Ich bin schon ziemlich neurotisch, glaub’ ich. Ich kann meine unglückliche Kindheit nicht vergessen. Mein Hirn ist seltsam, es speichert nur die negativen Dinge. Es ist mit Hass getränkt wie mit Kieselsäure.“326

Während Jelinek durch die in ihren Aussagen verwendeten Begriffe (schizophren, manisch, neurotisch, seltsam, verquer, mit Hass getränkt) ihr mythologisches Archiv anzureichern versteht, schreiben sich diese Begriffe, gemäß den Gesetzen der Dynamik und Produktivität des Diskurses, selbstreferenziell fort. Ihre Neigung zur Vereinzelung und ihre singuläre Empfindung, sich auf völlig verquere Weise einzigartig zu fühlen, überträgt sie so auf die kollektive Wahrnehmung ihrer Person innerhalb des literarischen Feldes. Dialektisch übernimmt die literarisch interessierte Öffentlichkeit die Rolle des Gegenparts zu Jelinek in dieser inszenierten Gesprächstherapie. Im Prozess der Schaffung einer neuartigen und eigenen Position auf dem literarischen Feld vergisst Jelinek dennoch nicht zu erwähnen und zu relativieren, dass ihre eigenen (literarischen) Aussagen teil-fiktionalisierte Zuspitzungen sind, wenn sie auch ihren Ursprung in Kindheitserfahrungen,327 in der biologischen, unveränderlichen Natur, also in ihrem Körper und ihr selbst haben: „Ich muss in meiner Literatur geradezu zwanghaft die Verhältnisse zuspitzen, um die Schrecknisse dieser biologischen Eingeschlossenheit und Ausweglosigkeit beschreiben zu können.“328 Das Prinzip des „Enthüllens durch Verhüllen“329, das auch der literarischen Darstellung eigen ist,

325 Alle Zitate: Elfriede Jelinek im Gespräch mit Hanna Molden: Die kultivierte Neurose. In: Cosmopolitan, 1985, Heft 5, S. 31. 326 Elfriede Jelinek im Gespräch mit Sigrid Löffler. In: Sigrid Löffler: Weltdame schön böse. In: Profil, S. 62-63, 63. 327 Jelineks Kindheit war geprägt von großen Erwartungen mütterlicherseits. Elfriede wurde schon mit drei Jahren zum Ballet geschickt und begann mit sieben Jahren Klavier zu spielen. Ein Jahr später erhielt sie zusätzlich Geigenunterricht. Als Jelinek 13 war, kam das Orgelspiel hinzu. Neben der Schule besuchte sie das Wiener-Konservatorium, studierte Klavier, Orgel und Komposition und absolvierte dort, ehe sie mit 17 Jahren ihr Abitur machte, die Abschlussprüfung zur staatlichen Organistin. „Als Wunderkind programmiert und dementsprechend überfordert, blieb ihr eine unbeschwerte Kindheit versagt. Die Mutter tat ein Übriges, um ihr Kind von den gemeinen Spielplätzen fern zu halten. Elfriede kam in eine Klosterschule. (Vgl. Erich Follath: Elfriede Jelinek. In: Stern, 1976, Heft 21.) 328 Elfriede Jelinek: „Ich schlage mich selber, bevor es ein anderer tut.“ Elfriede Jelinek im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung. In: Süddeutsche Zeitung, 07.12.2002. 329 Joseph Jurt: Das literarische Feld. Darmstadt 1995, S. 100. Vgl auch Margarete Steinrücke (Hrsg.): Pierre. Die verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zu Politik und Kultur I. Hamburg 1992, S. 86.

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bleibt in Jelineks Relativierungen präsent. In Anknüpfung an Otto Gross, 330 dessen Theorien Jelinek in Bambiland verarbeitet, weist sie den Rezipienten gezielt und explizit auf eine psychoanalytische Entschleierung und Interpretation ihrer selbst und ihrer Werke hin, indem sie die ihr eigene Eingeschlossenheit in seelischem Schutt thematisiert und eine Abtragung anrät: „Die Psychoanalyse könnte jedenfalls, denke ich mir, für den Künstler eine Technik sein, diesen Schutthaufen zu durchwühlen, den wir gesammelt haben (oder der uns hingeschüttet worden ist), aber der Künstler will oft gar nicht wissen, wer spricht, im Sinne, dass er wissen würde wollen, wer er ist, der da spricht.“331

Ohne den von Jelinek öffentlich drapierten Schutthaufen tiefenpsychologisch zu beachten, soll es an dieser Stelle genügen, die Stilisierung der symbiotisch kontrollierenden Mutter und Jelineks „katastrophale Kindheit“ als Kuriosität zu interpretieren, die Jelinek Distinktion garantiert, ihre tiefgründige Apathie gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft mythologisch begründet und in der paratextuellen wie literarischen Überspitzung eine erste spezifische Form findet. Bei Günter Grass sind es die lyrischen und essayistischen Formen, derer er sich bemächtigt, um seinen Mythos vom Ursprung an sprachlich nachzuzeichnen und poetisch wie moralisch zu untermalen. Den mythosbildenden Moment findet Grass in seiner Kindheit: „Als ich Kind war […] kleckerte ich, sobald wieder einmal der Sommer versprach, endlos zu sein, an einem der Strände entlang der Danziger Bucht aus nassem Seesand verschieden hohe Türme und Mauern zu einer Burg, […]. Immer wieder untergrub die See den gekleckerten Bau. Was hoch getürmt stand, stürzte lautlos in sich zusammen. Und aufs Neue lief mir nasser Sand durch die Finger.“332

Wenn es ein Ariadnefaden gibt, der sich durch das Leben von Günter Grass zieht, dann ist es wohl die lebensphilosophische Haltung des „mühsamen und fröhlichen Steinewälzers“, dessen Startpunkt, von dem sich alles Weitere entwickelt, Grass retrospektiv in seiner Kindheit knüpft. In Camus hat Grass sein Vorbild gefunden: „Was vor allem von Camus gelernt werden kann, ist seine Haltung: dieses Aushalten einer deprimierenden Zeit. [...] Camus könnte hilfreich sein, wenn es darauf ankommt, [...]

330 „Eine Kunst, die sich nicht traut, durch die letztmöglichen Fragen der Unbewusstseinspsychologie hindurchzugehen, ist nicht mehr eine Kunst.“ (Vgl. Bärbel Lücke: Der Krieg im Irak als literarisches Ereignis: Vom Freudschen Vatermord über das Mutterrecht zum islamischen Märtyrer – Elfriede Jelineks Bambiland und zwei Monologe. Eine dekonstruktivistische-psychoanalytische Analyse. Online-Publikation, http://www.vermessungsseiten.de/luecke/jelinek_bambiland.pdf (Stand: Januar 2014).) 331 Elfriede Jelinek: Zur Wiedereröffnung des Wiener Psychoanalytischen Ambulatoriums. Publiziert auf der Homepage von Jelinek, http://ourworld.compuserve.com/homepages/elfriede (Stand: Juli 2010). 332 Günter Grass: Beim Häuten der Zwiebel. Autobiografie. Göttingen 2006. S. 14 f.

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nicht zu resignieren, weiter Widerstand zu leisten. Camus und mein Privatheiliger: Sisyphos.“333 Mit dem Wissen um Grass‘ bis ins 80. Lebensjahr öffentlich verschwiegene SSVergangenheit bekommt die Verehrung für Sisyphos eine tiefere, eine andere Bedeutung. Der Stein, den Grass gewälzt hat, symbolisiert dann nicht nur einen Kraftakt, den er öffentlich gegen die im Nachkriegsdeutschland präsente konservative Scheinheiligkeit geführt hat, sondern auch einen inneren Kraftakt gegen seine eigenen Widerstände. Camus beschreibt diesen Kraftakt in einem Textauszug, der, mit den Augen von Grass gelesen, eine neue Sinnebene offenbaren dürfte: „Ich sehe, wie dieser Mann schwerfälligen, aber gleichmäßigen Schrittes zu der Qual hinunter geht, deren Ende er nicht kennt. Diese Stunde, die gleichsam ein Aufatmen ist und ebenso zuverlässig wiederkehrt wie sein Unheil, ist die Stunde des Bewusstseins. […] Dieser Mythos ist tragisch, weil sein Held bewusst ist. [...] Der Arbeiter von heute arbeitet sein Leben lang an den gleichen Aufgaben, und sein Schicksal ist genauso absurd. Tragisch ist es aber nur in den wenigen Augenblicken, in denen er sich dessen bewusst wird. Sisyphos, der ohnmächtige und rebellische Proletarier der Götter, kennt das ganze Ausmaß seiner elenden conditio: über sie denkt er nach während des Abstieges. Die Klarsichtigkeit, die Ursache seiner Qual sein sollte, vollendet zugleich seinen Sieg. Es gibt kein Schicksal, das durch Verachtung nicht überwunden werden kann.“ 334

Wie Sisyphos ohnmächtig aufgrund seines bereits zurückgelegten Lebens ist, so treibt auch Grass wie Sisyphos ein rebellisches Dennoch an, gegen all das anzugehen (bei Grass: anzuschreiben), was seinen Abgrund bedeutet. Was für Grass Camus ist, ist für Handke eine Comicfigur: Seine grundlegende Weltempfindung sei das erschütternde horror vacui des Bewussteins. Dieses horror vacui ist ein Gefühl, dass sich bei ihm in einer für ihn leitmotivischen, jedoch rein imaginär-fiktiven Handlung manifestiert. Die Comicfigur spaziere über die Wolken, bis sie plötzlich merkt, dass sie schon die längste Zeit „auf der bloßen Luft“ weitergeht (WU, 105), bis sie also bemerkt, dass sie zwischen dem Sein und dem Nichts schwebt und dem Nichts entgegenstürzt. 335 Wäre man romantisch, könnte man Handke jene von Joseph Eichendorff in der Mondnacht erdachten lyrischen Schwingen wünschen, die aufgespannt den Glücklichen „durch die stillen Lande“ nach Hau-

333 Günter Grass: Sisyphos und der Traum vom Gelingen. Günter Grass im Gespräch mit Johano Strasser/Oskar Negt (1985). In: Volker Neuhaus (Hrsg): Günter Grass. Werkausgabe in zehn Bänden. Bd. 10: Gespräche mit Günter Grass. Darmstadt: Luchterhand 1987, S. 323-341, 340. 334 Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos (1942/1999). In: Vincent Wroblewski (Hrsg.): Albert Camus. Der Mythos des Sisyphos. Reinbek bei Hamburg 2009, S. 153-160, 157 f. 335 Den Schwebezustand zwischen dem Sein und dem Nichts definiert Novalis als zentrales Prinzip des (schriftstellerischen) Lebens: „Sollte es noch eine höhere Sphäre geben, so wäre es die zwischen Sein und Nichtsein – das Schweben zwischen beiden – ein Unaussprechliches, und hier haben wir den Begriff von Leben“ (Richard Samuel (Hrsg.): Novalis. Schriften. Bd. 2. Darmstadt 1983, S. 106 f.).

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se fliegen lassen.336 Ohne Schwingen, aber zynisch begegnet Handke seiner mythologisch grundlegenden Angst, jener Angst vor dem Sturz ins Leere, indem er diese Angst zeitweilig in „Lust“ verwandelt, in den Wunsch, bewusst „in ein offenes Kanalloch zu fallen, aus Bösartigkeit gegen die Welt“ (GW, 145).337 Spricht Peter Handke von seiner frühen Kindheit, berichtet er von seinem Verlust der Freiheit, ohne jedoch einen Halt in der diesseitigen Endlichkeit zu finden. Er erzählt von traumatischen Erfahrungen, die er nur selten relativiert.338 „Seitdem ich mich zurückerinnern kann, bin ich wie geboren für Entsetzen und Erschrecken gewesen“ (KB, 9) auch familiärer Art, schreibt Handke. Der leibliche Vater, „die erste Liebe“ (WU, 27) von Peter Handkes Mutter Maria, „der, im Zivilberuf Sparkassenangestellter, nun als militärischer Zahlmeister ein bisschen was besonderes war“ und Maria bald schon in andere Umstände brachte, war verheiratet; eine Tatsache, die Handke kommentierte mit: „sie liebte ihn“ (WU, 27 f.), er trennte sich noch vor der Geburt von ihr. Kurz vor der Entbindung heiratete sie einen Unteroffizier der deutschen Wehrmacht, Bruno Handke. 339 Er stammte aus Berlin, arbeitete vor dem Krieg als Straßenbahnschaffner und war für die Mutter eine Notlösung, wie Handke behauptet: „Er war ihr zuwider, aber man redete ihr das Pflichtbewusstsein ein (dem Kind einen Vater geben): […] ‚Ich glaubte, er würde ohnehin im Krieg fallen’, erzählte sie.“ (WU, 30 f.). Die frühen Ernüchterungen und Grenz-Erfahrungen (nicht nur die der Sprache – Handke wuchs in einem „gemischtsprachigen Gebiet“340 auf –, sondern auch die Erfahrung des Krieges, die ihn, ebenfalls als eine Art Gegenschein, die Endlichkeit des Lebens ahnen ließ) führten zu einer anhaltenden „Suche nach dem verlorenen Zusammenhang“, über die Hans Höller schreibt, sie sei „der am tiefsten reichende Impuls“ Handkes. Dieser so diskursiv verankerte Impuls gewinnt bald stilbildenden Charakter. So verwundert es nicht, dass Handke in Langsam im Schatten die Worte domotozje (Heimweh) und hrepenenje (Sehnsucht) zu seinen Lieb-

336 Joseph Karl Benedikt von Eichendorff: Mondnacht. In: Wolfdietrich Rasch (Hrsg.): Jospeh von Eichendorff. Werke. München 1971, S. 273. 337 Kierkegaard würde hier vielleicht seinen angstinduzierten Schwindel entdecken (im Sinne von Schwindeligkeit nicht Lüge). Ein solcher Schwindel umschreibt die individuelle Freiheit und Selbstbestimmung als ein lockend-ängstigendes Nichts umschreibt, das entsteht, „indem […] die Freiheit nun hinabschaut in ihre eigene Möglichkeit und da die Endlichkeit ergreift, um sich daran zu halten. In diesem Schwindel sinkt die Freiheit ohnmächtig um“ und wird wieder Angst, gar Existenzangst (Liselotte Richter (Hrsg.): Søren Kierkegaard. Der Begriff der Angst (1844). Hamburg 1991, S. 57). Ein Schwindel, der bei Jean-Paul Sartre durch „die Erkenntnis einer Möglichkeit“ entsteht, die man gleichwohl nicht wahrzunehmen imstande ist. (Vgl. Traugott König (Hrsg.): Jean-Paul Sartre. Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Reinbek bei Hamburg 1991, S. 102.) 338 „Als Kind habe ich auch manchmal Hüpfschritte gemacht: so schlimm kann die Kindheit also nicht gewesen sein.“ (GW, 160) 339 Hans Höller: Peter Handke. Reinbek bei Hamburg 2007, S. 11. 340 Georg Pilcher: Die Beschreibung des Glücks. Peter Handke. Eine Biografie. Wien 2002, S. 11.

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lingswörtern zählt.341 Später dann und lebensmotivisch konsequent wird Handke seine Grenzgänge inszenieren: Über die Dörfer (1981), Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina (1996), Unter Tränen fragend. Nachträgliche Aufzeichnungen von zwei Jugoslawien-Durchquerungen im Krieg (1999). Er wird sie öffentlich inszenieren und von sich selbstbewusst behaupten: Die Hymne entsteht am Saum.

Der Bewusstseinsschmerz. Und das Einsamkeitsmotiv Meine fixen Ideen sind vielleicht Privatsache; aber was unterscheidet die fixen Ideen einzelner eigentlich von den Mythen mehrerer? Es ist noch keine Sprache bemüht worden, welche die fixen Ideen einzelner als den Mythos vieler übersetzt. PETER HANDKE (GW, 242)

Handkes autobiografische Gedanken, die hier zitiert werden, weil sie bei scheinbar privatem Charakter von durchaus exemplarischer Geltung sind, entfalten sich immer wieder um die eigene Fremdheit in der Welt, von der der Schriftsteller durch die (unbeteiligte) Beobachtung Distanz gewinnt und behält.342 Dem Befremden gegenüber der von ihm als kalt und beziehungslos empfundenen Welt begegnet Handke mit offener Abscheu –

341 Peter Handke: Über Lieblingswörter. In: Ders.: Langsam im Schatten. Gesammelte Verzettelungen (1980-1992). Frankfurt a. M. 1995, S. 14-15, 15. 342 Die folgenden Gedanken und Bemerkungen stammen aus Peter Handkes Notiz- und Tagebuch Das Gewicht der Welt. Die Aufzeichnungen, die auf den Gedanken beruhten, die Handke „Tag und Nacht durchquerte[n]“, hat er in der Absicht begonnen, sie später in ein fragmentarisches Theaterstück oder in eine zusammenhängende Geschichte zu bringen. Bald verselbständigte sich jedoch der Umgang mit seinem privaten Merkbuch, und alles, was in Handkes Bewusstsein trat, wurde in dem Moment des Erlebnisses notiert; „es gab nur noch die spontane Aufzeichnung zweckfreier Wahrnehmung“, von der Handke überzeugt war, sie sei „von jeder Privatheit befreit und allgemein“ (ebd., S. 7). „Fast durchweg geht es um existenzielle Momente“, bestätigt ihm die Literaturwissenschaft. Die Wichtigkeit gerade dieses Buches besonders für seinen Autor zeige sich auch darin, „dass es einerseits die Krisenhaftigkeit seines Lebens protokolliert, andererseits ihm jedoch ein Mittel an die Hand gab, Krisen durchzuhalten, zu überstehen“ (Katharina Mommsen: Peter Handke. das Gewicht der Welt – Tagebuch als literarische Form. In: Raimund Fellinger (Hrsg.): Peter Handke. Frankfurt a. M. 2004, S. 242-251, 244). Kritisch bewertet Bartman Handkes autobiografische Notizen; vgl. Christoph Bartmann: Das Gewicht der Welt – revisited. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Peter Handke. Text + Kritik, 1989. Heft 24 (5. Aufl., Neufassung), S. 34-41.

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„Ein Essen wurde ihm so aufgetischt, als sei es schon des Öfteren vergeblich anderen Leuten angeboten worden.“ (GW, 194) „Die Frau, deren Hand in die Waggontür geklemmt wurde, schrie, so dass ich sie zuerst für ein Kind hielt.“ (GW, 181)

Das gilt auch für die Banalität des Alltags, die er in seiner solitären Exzessivität erlebt („Fast jedes Zusammensein mit jemandem empfinde ich inzwischen als eine Art von Prüfung.“ (GW, 252)). In Das Gewicht der Welt notiert er: „Die Maklerfrau, völlig erbarmungsloses Stück, und daneben ganze Liebeswürdigkeit, wenn der Ausgefragte ihr z. B. einen Kugelschreiber reicht.“ (GW, 187) „Den ganzen Tag mit Raffzähnen (Maklern, Besitzern usw.) zusammen: endlich im Kino, fühle ich mich wieder kompetent.“ (GW, 184) „Die Lieblosigkeit fängt an: man fragt jemanden, was er so macht.“ (GW, 263)

Die Distanz und Gespaltenheit zwischen ihm und der Welt drückt sich in einer Unlust zur Kommunikation aus und versetzt Handke in einen lähmenden Zustand: „Ich bin zwar manchmal tätig, aber das tätige Leben ist mir nicht selbstverständlich: es gelingt mir nur manchmal.“ (GW, 186) „In der Küche Umrührbewegungen in einer Pfanne vollführen: die Lähmung, die mich erfasst, als ich so wieder einmal die trostlosen Bewegungen einer Toten verdopple; die Vorstellung, das Gesicht in die Pfanne stecken zu müssen.“ (GW, 217)

Ein lähmender Zustand, der sich nicht nur auf die Unfähigkeit und die gefühlte Sinnlosigkeit von Alltagshandlungen überträgt, sondern sich auch in seinen zwischenmenschlichen Kontakten reflektiert und die Einsamkeit fortsetzt: 343

343 Auch in der Literatur existiert und tradiert sich das Motiv der Einsamkeit der Dichterfigur, oft verbunden mit Leid, Depression und Wahn. Kleist, der bekanntlich seinen lebensweltlichen Schmerz mit dem Freitod beendete, ließ im Zerbrochenen Krug (1806) den Dichter mit dem vielsagenden Namen Licht als einsamen Außenseiter auftreten, der das Geheimnis des ‚Bruchs’ kennt, dem aber niemand Gehör schenkt. E.T.A. Hoffmann stellt den vereinsamten, mit dem Wahnsinn ringenden Künstler in den Elixieren des Teufels (1816) in der Figur des Kapellmeisters Kreislar dar, der bewusst biografische Züge trägt. Goethe ließ seinen einsamen, (Briefe) schreibenden Werther emphatisch verzweifelt klagen: „Auch ihr vernünftigen Leute! Leidenschaft! Trunkenheit! Wahnsinn! Ihr steht so gelassen, so ohne Teilnehmung da, ihr sittlichen Menschen! scheltet den Trinker, verabscheut den Unsinnigen, geht vorbei, wie der Priester, und dankt Gott, wie der Pharisäer, dass er euch nicht gemacht hat wie einen von diesen. Ich bin mehr als einmal trunken gewesen, und meine Leidenschaften waren nie weit vom Wahnsinn, und beides reut

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„Ich verliere immer mehr das oft Gemeinsamkeit stiftende traute Gefühl der Gleichzeitigkeit vieler andrer Leben und Geschehnissen, während ich allein bin, immer mehr herausgeschnitten und nur auf mich gestellt.“ (GW, 189) „Ich komme mir dicklich vor in der ‚Fremdbestimmtheit’; gehe wie ein verlorener Forscher in der Wohnung umher.“ (GW, 189)

Nur in der Stille der Einsamkeit scheinen sich die wahren Empfindungen einstellen zu dürfen, auch das Vergnügen, „Vergnügen beim Umblättern eines Buches, an dem leichten Aneinanderhaften der Seiten zu bemerken, dass man der erste Leser ist.“ (GW, 148) „Regen auf dem Dach wie Vogelhüpfen.“ (GW, 252) „Momente: vor die Tür treten, wo es schon Nacht ist und aufatmen.“ (GW, 21)

Es gibt auch die Weltgerührtheit: „Nicht vernachlässigen: die Rührung über einen von jemand anderem angenähten Knopf; Entdeckung des von fremder Hand unauffällig angenähten Knopfes – das Gefühl, ich wollte ewig dankbar sein.“ (GW, 192) „Beim Einkauf abends in kleinen Geschäften: eine Erwärmung, auch wenn man nur die Namen von Waren ausgesprochen hat und einander einen guten Abend wünscht.“ (GW, 247) „Ich gewann einen Fremden lieb, nur weil dieser kritisch war – kritisch zu sich selbst.“ (GW, 136)

mich nicht; denn ich habe in meinem Maße begreifen lernen, wie man außerordentlichen Menschen, die etwas Großes, etwas unmöglich Scheinendes wirkten, von jeher für Trunkene und Wahnsinnige ausschreien musste.“ Für Thomas Manns Tonio Kröger zerstört die Kunst selbst, die in ihrem Wesen Erkenntnis war, das Leben und verhindert, dass der Künstler am Leben teilhat. Exemplarisch und parabelhaft hat Kafka die Vereinsamung des Menschen gestaltet (und eine Rückkopplung an seine Person (K.) gestattet). Max Brod hat denn auch in seinem Nachwort zu Amerika die drei großen Romane Kafkas (Der Prozess, Das Schloss und Amerika) als „Trilogie der Einsamkeit“ bezeichnet. Ks Einsamkeitsmotiv artikuliert sich in einer weitgehend gestörten und gar nicht mehr möglichen zwischenmenschlichen Kommunikation, die bei Kafka bekanntlich nur durch eine tragikomische, tiefe Ironie und den Vorgang des Nicht-Emotionalisierens hoch emotionaler Vorgänge bewältigt wird. Auch Oskar Matzerath in der Blechtrommel ließe sich, wenn man wollte, als Alter Ego von Grass lesen, der einsam, einzig auf sich selbst gestellt trommelwirbelnd und schreiend auf die Missstände hinweist, ohne dass man ihn hört oder ernst nimmt, zu klein und unbedeutend bleibt er doch.

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Oder die Liebe, die sich durch die Distanz und dadurch gleichzeitig hergestellte Sehnsucht einstellt: „Ich sah sie, wie schön sie war, und schaute mit meiner Sehnsucht woandershin.“ (GW, 162) „Das Haar des Kindes: kein Geruch, sondern sofort ein Gefühl.“ (GW, 32)

Dies verbindet ihn zwar im Herzen mit den Menschen und der Welt, der praktische Zugang zum Leben bleibt ihm dennoch verwehrt. Die Einsamkeit wird zum Zufluchtsort des Schriftstellers, der ihn vor allem Profanen und der Fantasielosigkeit schützt, aber gleichzeitig seine Weltirritation fortsetzt. „Unaufmerksamkeit vor lauter Praktisch-sein-müssen; phantasielos vor Unaufmerksamkeit.“ (GW, 148) „‚Du bist ja ganz realistisch.‘ – ‚Das kommt vom Autofahren.‘“ (GW, 179)

Und ihn zu dem Schluss verleitet: „Ich würde die Gesellschaft lieben wie nur irgendjemand, wäre ich nicht gewiss, mich dabei nicht nur von meiner schlechteren Seite zu zeigen, sondern als jemand ganz anderer, als ich bin.“ 344 „Lieber die Angst aushalten als die Gesellschaft.“ (GW, 189)

Das schriftstellerische Leben ist hier eine „Passionsgeschichte“ 345 und von dem Eindruck geprägt, das Leben sei ein fragwürdiges und der Schriftsteller unterlegen („Unterlegenheitsgefühl dem gegenüber, der sich Illusionen macht – er sieht schön dabei aus“ (GW, 246)). Die gedankliche Manifestation der eigenen Fragwürdigkeit untergräbt bei Handke sukzessive das Gefühl der Natürlichkeit des Daseins und führt in der Konsequenz zur Reduzierung des zwischenmenschlichen Kontaktes und damit zur tatsächlichen Abwesenheit des Schriftstellers in der praktischen Wirklichkeit. Die eigene Fragwürdigkeit wirft einen ständigen Schatten des Weltverlustes (der sich schon im Säuglingsschrei andeutete) und des Todes auf das illusionsfreie Leben. Selbst in den ekstatischen Momenten spürt er dunkel, dass er auf stumpfsinnigem Untergrund wandelt („Das Lächerliche an der Sexualität: Techniken zu benutzen“ (GW, 162)). Dadurch würden die schönsten Augenblicke kostbarer, aber auch unecht, un-wirklich. Dies bestärke den ontologischen Zweifel, das (gelegentlich von einem Kater begleitete)346 Gefühl, man sei ein sinnloses überflüssiges Wesen, das in

344 Jean-Jacques Rousseau, Motto-Zitat bei Peter Handke: Die Geschichte des Bleistifts (1982). Frankfurt a. M. 2008, S. 110. 345 Katharina Mommsen: Peter Handke. Das Gewicht der Welt. Tagebuch als literarische Form. In: Raimund Fellinger (Hrsg.): Peter Handke. Frankfurt a. M. 2002, S. 242-251, 251. 346 Zur Einsamkeit scheinen Drogen und Alkoholika als Emotionsverstärker, Wutbeschleuniger oder die Seelenschmerzen mildernder Fluchtweg zum Wesen des Dichters ebenso da-

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die Wolken schaut und zur Abwechslung denkt, so Handke: „Nein, ich werde keinen Selbstmord begehen!“ (GW, 17). Die mit der Geburt mythologisch beginnende Spaltung mündet bei Handke in der Einsamkeit. Die gedankliche Zurückgezogenheit bedingt dabei eine körperliche Distanzierung; Handke distanziert sich, fast in symbolischer Dialektik zum Geistigen, von jeglicher Körperlichkeit: „Jede Art der Körperform erscheint mir lächerlich“ (GW, 152). Er nimmt nicht nur die eigene Körperlichkeit mit Befremden wahr („Nachdem ich mir die Lächerlichkeit meiner Handlungen bewusst gemacht, fühle ich mich wohl dabei“ (GW, 152)), sondern auch die der Mitmenschen („Im Bus: die junge Frau mit dem von Beherrschtheit affenartigen Gesicht“ (GW, 190)). Je weiter er sich von den Menschen, auch von seinem Publikum gedanklich entfernt und sich nunmehr freiwillig selbst in der geistigen Enklave verortet („Wie ich schon den ersten Moment des Wachsseins benütze, kreuz und quer in mir herumzuforschen“ (GW, 209)), desto mehr verliert er nicht nur den Zugang zu den praktischen Routinen des Alltags, sondern fördert auch den Kultus seines schlechthin unerklärlichen Wesens. „Im Taumel der Fremdheit“ (GW, 208), nimmt er alles nur wahr „mit dem Gefühl der Gestörtheit davon“ (GW, 196), und seine seltenen Routinen sind das für andere Selbstverständliche: „Meine Art kleiner Routine: in der Drehtür eines Luxushotels einfach weiterreden“ (GW, 178). Die Fähigkeit alleine zu sein („Meine Größe: das Alleinsein“(GW, 56)), ist dabei eine zwiespältige Gabe, schöpferisch und zerstörerisch zugleich. Sie erlaubt dem Schriftsteller über die Realität zu sinnieren und literarisch umzuarbeiten, aber auch weitere Ängste und Neurosen, selbst Wut zu produzieren.347 Weil die Welt als künstlich empfunden wird, scheint sie ihm einzig durch

zuzugehören, wie das Reden darüber: „Früher hatten meine Tränen bestimmt drei Promille. Ich trinke gerne viel. Weißbier macht mich euphorisch, animiert mich. Da kann ich saufen. Aber dann übersäuert sich der Magen, es rebelliert alles, und dann bin ich einfach krank. Ich sehe mich gerne als saufenden Rabauken, aber das ist lange her. Ich sehne mich nach meiner Jugend, wo man in der Früh aufwachte und die Fahndung wartete, weil man was gemacht haben könnte. Mit Weißbier kann ich besser schreiben. Der Kopf wird aggressiv, klar, stählern. Bier und Schnaps ist eine furchtbare Mischung. Da fangen Sie das Raufen an, aber literarisch gesehen ist das sehr günstig. Rotwein macht gemütlich, ruhig, versöhnlich, friedlich, rund. Man legt sich lieber hin und macht die Augen zu.“ (Franz Xaver Kroetz im Gespräch mit Sven Michaelsen. In: Michaelsen, Starschnitte, S. 46). John Updike meint: „Wer zu trinken aufhört, hackt ein kleines Stück seiner Menschlichkeit ab“ (John Updike im Gespräch mit Sven Michaelsen. In: Michaelsen, Starschnitte, S. 123). Jean-Paul schrieb einst zur Rechtfertigung seines exzessiven Konsums von Alkohol und anderen Rauschmitteln, ironisch vergleichend: „Mit bloßem natürlichen Feuer ohne Äußeres sind gewisse Kalzinier-Effekte gar nicht zu machen.“ Heines letzter Trost soll der Opium-Genuss gewesen sein, und Baudelaire soll Haschisch hoch geschätzt haben (vgl. Walter Muschg: Tragische Literaturgeschichte. Zürich (1948), Neuauflage 2006, S. 458 f.). 347 Kroetz: „Menschen, die mich überraschend besucht haben, habe ich zusammengeschrien, dass der Kirchturm gewackelt hat. Ich war immer ein Einzelgänger. […] Ich lege auch auf Menschen nicht so viel wert. Die stören mich nur.“ (Michaelsen, Starschnitte, S. 46)

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Künstlichkeit zugänglich. Die so geschaffene Polarität zwischen körperlicher und geistiger Welt lässt den Schriftsteller all das Menschliche als Künstliches wahrnehmen, zu dem ihm der praktische Zugang nur durch eigene Künstlichkeit möglich scheint: „Indem ich etwas wirklich tue, z. B. jetzt das Kind anblicke, spiele ich es einen Moment vorher schon, mache eine Pantomime des Anblicks, noch bevor ich es richtig anblicke, eine Pantomime des Lachens, bevor ich herzlich lache – und diese Ungleichzeitigkeit verhindert oft das Gefühl und erzeugt, im vorschnellen Spiel-Lachen, eine Art Gefühllosigkeit (zu merken auch bei den meisten anderen); dass ich etwas äußere, noch bevor das Gefühl dafür ganz da ist – das gibt der Äußerung etwas Gespieltes, Scheinheiliges.“ (GW, 43)348

Die Einsamkeit und Gespaltenheit als Movens des Dichters anzunehmen, heißt auch, Selbstinszenierungen als einen Prozess zu erkennen, durch den die Marginalisierung überwunden werden kann. Zudem bedingt die Zerrissenheit, „die ewige Entzweitheit“ (GW, 106) zwischen ihm und der Welt nicht nur seine Einsamkeit. Weil er die Bewusstseinsschmerzen affirmativ internalisiert, spalten ihn diese auch innerlich. Sein Ich ist ein dialektisches, ebenso negierend wie sehnsuchtsvoll.

Die ungestillte Sehnsucht Ist auch die Abwehr des Dichters gegen das süße Leben kaum zu leugnen, das in seiner Sinnfreiheit ernst zu nehmen lächerlich anmutet, die Sehnsucht nach etwas anderem ist es nicht. Während Kant die Frage, ob ein denkender Mensch das Leben (unter den besten aller möglichen Erdenbedingungen) freiwillig wählen würde, wenn er vor der Geburt eine Wahlmöglichkeit hätte, verneint,349 so drückt sich der ambivalente Charakter des Seins bei Handke in der Frage aus: „Könnte man […] die Welt eine verfluchte nennen und daneben trotzdem Sehnsucht haben, nach einem Unsagbaren?“350 Bei Handke ist es die „Wunschvorstellung von einem Glückszustand, der mich zugleich praktisch machen würde“ (GW, 269) – und den er durchaus zu erwarten scheint: Um sich der Möglichkeit des Glücks zu vergewissern, notiert er sich den Satz eines Protagonisten aus dem Film Die Wasserfälle von Slunj: „Es gab es also das Glück. Chwostik kannte es ja aus eigener Erfahrung“ (GW, 271). Den Wunsch nach Freiheit und ohne Ballast zu sein, formuliert er (allgemein): „Ohne Gepäck sein,

348 An anderer Stelle ähnlich: Nach einigen Stunden der Wahrhaftigkeit, obwohl diese weiter anhielt, kam es mir so vor, als ob ich diese nur mehr spielte; nur mehr durch Spielen aufrecht erhalten konnte (GW, 278). Oder auch: So ungeübt, die Gefühle zu zeigen, dass man sie spielen muss, obwohl man sie zugleich doch hat; manchmal die Notwendigkeit, die tatsächlichen Gefühle ausdrücklich vorzuspielen; paradoxes Vortäuschen, Heucheln tatsächlicher Empfindungen (GW, 276). 349 Vgl. Ludger Lütkehaus: Natalität. Philosophie der Geburt. Zug 2006, S. 111. 350 Peter Handke: Brief an die Mutter, 29.04.1962. In: Adolf Haslinger: Jugend eines Schriftstellers. Salzburg 1992, S. 67 f.

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Gepäck los sein wollen, das Glück der freien Hände, ‚nichts als eine Zahnbürste’“(GW, 14). Auf das literarische Feld bezogen, auch auf die Literaturkritik, notiert er: „andere über mich denken lassen zu können, was sie wollen’“ (GW, 200). Die Sehnsucht kristallisiert sich bei Handke weniger in der Suche nach dem großen Glück heraus, sondern in Kleinigkeiten und in dem Wunsch nach Echtheit und Natürlichkeit.351 So will er eigentlich nur der zuvor von ihm verfluchten Gemeinschaft („Die Energie, die ich brauche, um die Ruinen von Leuten zu idealisieren“ (GW, 271)) angehören: „In der Métro gerüttelt unter anderen: Nehmt mich auf!“(GW, 145). Darin eingeschlossen ist außerdem der Wunsch nach Anerkennung, der in seiner natürlichsten Form in einem einfachen Wahrgenommen-Werden auftaucht: „Einmal sich in einem Geschäft nicht in Stellung rücken zum Zeichen, dass man jetzt dran ist, das Um-Sich-Schauen aufgeben und nur still stehen und warten, ob man auf diese Weise auch in einem überfüllten Laden irgendeinmal doch dran kommt!“ (GW, 45). Es gibt auch den Wunsch nach Wahrheit, Entgrenzung,352 Erkenntnis („Wunsch: einmal, aus dem Fenster schauend, plötzlich ‚den Zusammenhang’ begreifen, wie in einem Kriminalroman“ (GW, 162)) sowie den nach Gradlinigkeit und Selbstgenügsamkeit („Triumphgefühl, jemand zu sein, der sich etwas ausdenkt und danach leben wird“ (GW, 244)). Doch weil in diese sentimentalen Wünsche stets ein häufig unsentimentales Gegenüber eingeschlossen ist, etwa der Literaturkritiker, bleibt ihm die Erfüllung nicht selten verwehrt. 353 Nicht nur für seine Glücksvorstellungen und Sehnsüchte sind die Einsamkeit sowie der Bewusstseinsschmerz Grundvoraussetzung, sondern auch für Handkes

351 „Zufriedenheit: an einer Bushaltestelle in der warmen Sonne mit einem Kind wartend auf einer Stufe gesessen.“ (GW, 204), „Auf dem Platz, der in der Dämmerung, mit all den abgefallenen Blättern bedeckt, plötzlich wie ein Park erscheint, ein Glücksgefühl, dass man immer haben könnte.“ (GW, 17), „Wie lange die frischgefallenen Kastanien kalt bleiben in der Hand.“ (GW, 196). 352 „Schönheit als Erfahrung von Entgrenzung, als Erlebnis der unverhofften Offenheit“ (GW, 244.) 353 Bemerkenswert an Handkes formulierten Wünschen ist, dass sie sich nicht auf andere Objekte beziehen, sondern auf ihn selbst. Will die Sehnsucht doch zumeist nicht das eigene Anderssein, sondern das Sein des Anderen. Wenn der Tod am schwersten lastet, dann beginne in der Liebe umso mehr das Beginnen, hoffte Hanna Arendt lebensphilosophisch in ihrer Arbeit Der Liebesbegriff bei Augustinus: „amo volo ut sis“ – „Ich liebe, ich will, dass du bist“. Dieser Satz, der zwischen Heidegger und Arendt kursierte (vgl. Lütkehaus, Natalität, S. 29), markiert eine Überwindung der Todesfurcht in der Liebe – durch den ermöglichten Neubeginn. Ungeachtet der Tatsache, dass auch hier eine partnerschaftliche Überwindung anvisiert ist, lässt sich die angestrebte Überwindung der Fremdheit, der Einsamkeit und des Leids und damit der Neubeginn ebenso auf die Liebe zum Kind übertragen, beginnend mit der Geburt. Diese ist auch abstrakt denkbar als die Geburt von etwas Neuem, vielleicht einem literarischen Werk, das zumindest kurzzeitig die Funktion der Überwindung der Fremdheit in Form der kulturellen, objektivierten Ersatzbefriedigung übernimmt, obwohl sie den Bewusstseinsschmerz nicht endgültig sublimieren kann.

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Schreiben. Die Einsamkeit ist der Inbegriff der Vermeidung aller bedrohlichen Weltlichkeit. Und: „Einsamkeit ist ein seelischer Zustand, in den viele Wege führen, am sichersten aber ist der Schmerz“ (TL, 443). Assmann und Assman sprechen von einer universellen dichterischen „schriftgestützten Einsamkeit“354 – als sine qua non des dichterischen Daseins: „Wenn in Texten so viel von Einsamkeit die Rede ist, liegt der Rückschluss nahe, dass die Erfahrung der Einsamkeit, der sozialen Isolation ein Motiv ihrer Entstehung war und die Erfahrung der Vereinsamung eine typische Entstehungsbedingung von Literatur, eine ‚poetogene Situation‘ par excellence darstellt.“355

Eine Königsfrage, die das Gegenteil des Einsamkeitsmotivs und der (stilisierten) Nichtigkeit zu beweisen versucht, lautet vielleicht: „Ist Schreiben nicht immer ein Kontaktversuch?“ Eine Antwort rief Thomas Bernhard aus: „Ich will ja gar keinen Kontakt! Im Gegenteil, ich hab es immer abgelehnt, wenn jemand etwas wollte. Briefe schmeiß ich sowieso weg, […], sonst müsste ich es so machen wie diese SauSchriftsteller, die […] alles beantworten und jedem Arschloch hinten hineinkriechen mit einem Brieferl.“356

Impliziert die auf diese Weise formulierte Frage bereits eine zwischen Autor und Gesellschaft im Diskurs verankerte Hemmschwelle, die einen gezielten Kontaktversuch nötig macht, dessen Erfolg nicht zwingend angenommen werden kann, so bestätigt die gegebene Antwort Bernhards die Hürde in ihrer tatsächlichen, gedanklichen, gesellschaftlich diskursiven Existenz – immerhin will der Autor sie selbst errichtet haben (Ich will ja gar keinen Kontakt!). Die Vehemenz, mit der jeder Wunsch nach Geselligkeit abgewehrt wird, ist auch bei Handke sichtbar: „Starkstromleitung, fall herunter auf mich!“ (GW, 233) „Wenn es mir schlechter nicht mehr gehen kann und ohnehin schon alles gleichgültig ist, werde ich mich, kurz vor dem endgültigen Tod, der Gesellschaft (irgendeiner) anschließen.“ (GW, 46)

Daraus sprechen der ambivalente Charakter des Daseins und einmal mehr die unbestimmte Sehnsucht. Kein Todestrieb ohne die faustische Sehnsucht nach dem wahren Leben.357

354 Aleida u. Jan Assman: Schrift, Gott, Einsamkeit. Einführende Bemerkungen. In: Dies. (Hrsg.): Einsamkeit. Archäologie der literarischen Kommunikation. Paderborn 2000, S. 13-26, 14. 355 Assman, Schrift, Gott, Einsamkeit, S. 13. 356 Thomas Bernhard im Gespräch mit André Müller. In: Müller, „ …über die Fragen hinaus“, S. 147. 357 „Eine Sammlung meiner fixen Ideen: […] dass ich, im Aufzug von Stockwerk zu Stockwerk abwärts fahrend, überlege, wie sich jetzt und jetzt, wenn der Lift abstürzte, die

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Die Einsamkeit garantiert Handke den Schutz vor der nicht zu erfüllenden Anforderung der praktischen Realität und garantiert die Verbindung zu einer übersinnlichen Inspiration, die bei Kritikern auf Missbilligung stößt. „Schließlich, wenn man das Schreiben als Abwesenheit begreift, heißt das dann nicht einfach, in transzendentalen Worten das religiöse Prinzip der zugleich unwandelbaren und nie erfüllten Tradition und das ästhetische Prinzip vom Überleben des Werks, von seinem Fortbestand über den Tod hinaus […] zu wiederholen?“358, fragt exemplarisch Foucault und meint, „dass ein solcher Gebrauch des Begriffs Schreiben Gefahr läuft, die Privilegien des Autors im Schutz des a priori zu bewahren“359, und damit das „Verschwinden des Autors“, das laut Foucault seit Mallarmé erfolgreich fortschreitet, zu blockieren. Das literarische Feld, das nicht unbeeinflusst bleibt von dem wissenschaftlichen Feld, 360 in dem Ende des 20. Jahrhunderts die philosophischen, poststrukturalistischen Diskurse Foucaults, Derridas und Luhmanns virulent waren, verweigert dem Schriftsteller offenkundig die praktische Zugehörigkeit, einzig die ideelle ist ihm gestattet.

Im Schreiben zuhause? Das Gefühl der Einsamkeit, das bald in der Angst der (gesellschaftlichen) NichtExistenz mündet und exemplarisch für die Dichterexistenz per se ist, hat Handke in einer Szene ausgestaltet, die er in Nachmittag eines Schriftstellers beschreibt: „Nur noch ausruhen, die Augen schließen, weghören; nichts mehr unternehmen als ein- und ausatmen. Er wollte, es wäre schon Schlafenszeit. […] Aber er hatte auch genug vom Alleinsein; es war ihm dabei, mit der Zeit, als durchlebe er alle möglichen Spielarten des Wahnsinns und als platze ihm schließlich der Kopf. Und hatte er nicht […] auf Seitenwegen, von keiner Menschenseele wahrgenommen, mit einer seltsamen Beklommenheit von sich geglaubt, er existiere nicht mehr? So – […] um sich zu vergewissern, dass er nicht verrückt war […] – kehrte er jetzt in jenes Gasthaus am Stadtrand ein, das er bei sich „die Kaschemme“ nannte. Es lag an einem Straßendreieck und war während der Monate der Arbeit in Abständen sein Ziel gewesen. Er hatte dort sogar seinen Platz, in einer Wandnische, in der Nachbarschaft der Jukebox, mit Ausblick auf die Kreuzung und die Gebrauchtwagen-Landschaft dahinter. Doch als er sich

Überlebenschancen vergrößern; dass ich, beim Vorbeigehen an einem stehenden Tankwagen, schätze, ab welchem Abstand ich bei einer Explosion aus der Todeszone wieder heraus wäre; […] dass der Seilbahndraht gerade über dem tiefsten Abgrund reißt.“ (GW, 45.) 358 Foucault, Was ist ein Autor?, S. 34. 359 Ebenda, S. 35. 360 Zum Prozess und der Art und Weise der gegenseitigen Einflussnahme der gesellschaftlichen Teilbereiche, Felder oder Subsysteme vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. 1984. Und: Georg Kneer: Differenzierung bei Luhmann und Bourdieu. In: Armin Nassehi/Gerd Nollmann (Hrsg.): Bourdieu und Luhmann. Ein Theorievergleich. Frankfurt a. M. 2004, S. 25-56.

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diesmal durch das Getümmel gedrängt hatte, erwies sich seine Nische als zugemauert. Für einen Augenblick war ihm, er habe das Lokal verwechselt und sei am falschen Ort […]“361

Zugemauert ist nicht nur die Nische, in die er sich setzen möchte, sondern auch der Weg in die Gesellschaft; selbst in der Gemeinschaft der Kneipengesellschaft bleibt er isoliert und ist überall am falschen Ort.362 Nicht in der Welt, sondern im Schreiben, in jedem seiner Texte richtet sich der Schriftsteller, laut Adorno, häuslich ein: „Wie er mit Papieren, Büchern, Bleistiften, Unterlagen, die er von einem Zimmer ins andere schleppt, Unordnung anrichtet, so benimmt er sich in seinen Gedanken. Sie werden ihm zu Möbelstücken, auf denen er sich niederlässt, wohlfühlt, ärgerlich wird. Er streichelt sie zärtlich, nutzt sie ab, bringt sie durcheinander, stellt sie um, verwüstet sie. Wer keine Heimat mehr hat, dem wird wohl das Schreiben zum Wohnen.“363

Ortlos kann sich das fremdelnde, gespaltene, dichterische Ich nur in der Sprache seines Selbst vergewissern;364 dort ist es frei, offen, erkenntnisreich. Der Sprache und dem Schreiben wird dabei eine rettende Funktion zugestanden, behauptet auch Jelinek: „Ich glaube, dass mir die Sprache das Leben gerettet hat gegen eine drückende und auch geistig verwirrte mütterliche Autorität. Es gab einen Vater, der mich nicht gerettet hat vor dieser Mutter, aber er hat mir wenigstens die Sprache gegeben, so dass ich subversiv, mit Sprache, in einer Weise unten durch tauchte, wo mir die Autorität nicht folgen konnte.“365

Die Fahnenworte des ersten Satzteiles [G]laube – Sprache – Leben dienen ihr als Rettung (in Analogie zur christlichen Heilungsverheißung Glaube – Liebe – Hoffnung), allerdings nicht durch, sondern vor der Autorität. So wie Martin Walser konstatiert: „Ein Roman ist die Antwort auf die andauernde Erfahrung des Mangels“ 366,

361 Peter Handke: Nachmittag eines Schriftstellers (1987). Frankfurt a. M. 1990, S. 61 f. 362 An der Einsamkeit leidend bekennt Paul Bowles: „Seit Jahren rede ich kaum noch mit einem Menschen und gehe abends um sechs ins Bett.“ (Paul Bowles in: Michaelsen, Starschnitte, S. 183) Ähnlich ergeht es Elfriede Jelinek, die von sich behauptet: „Ich habe mal ein Jahr nicht auf die Straße gehen können. Das waren einfach so Beklemmungen.“ (Elfriede Jelinek in: Michaelsen, Starschnitte, S. 126) „In Gesellschaft bin ich in der Tat so verspannt und von Panikattacken geplagt. Deswegen habe ich am Tag nur eine Stunde Kontakt mit anderen“, sagt Joachim Lottmann. Sten Nadolny bemerkt: „Mir geht jedes Talent für gesellschaftliches Treiben ab.“ (Beide in: Michaelsen, Starschnitte, S. 157 u. S. 233.) 363 Adorno, Minima Moralia, § 51, S. 98, 364 Zur Sprache und Selbstfindung vgl. auch die autobiografischen Texte von Thomas Bernhard: Die Ursache. Eine Andeutung (1975), Der Keller. Eine Entziehung (1976), Der Atem. Eine Entscheidung (1978). Die Kälte. Eine Isolation (1981) und Ein Kind (1982). 365 Vgl. Mayer/Koberg, Elfriede Jelinek, S. 124. 366 Martin Walser im Gespräch mit Sven Michaelsen. In: Michaelsen, Starschnitte, S. 88.

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entwirft Jelinek den Mangel als eine unterlassene Hilfeleistung (einen Vater, der mich nicht gerettet hat vor dieser Mutter). Damit stilisiert sie ihr (schriftstellerisches, öffentliches, diskursiv inszeniertes) Dasein als eines, das von Kindheit an der Rettung bedurfte, die ihr zugleich – und hier wird der Schriftstellermythos im Sinne Barthes naturalisiert und dadurch unangreifbar – durch die Mutter wie durch den Vater verwehrt blieb. Die Bedeutung, die der Sprache zugemessen wird, könnte somit größer kaum sein, ersetzt sie doch den von den Eltern verweigerten Schutz. Der verspürte Druck (die drückende Autorität) und die geistige Verwirrung werden in Jelineks Aussage ebenso thematisiert und in den öffentlichen Diskurs hineingebracht wie das aus ihr selbst heraus erwachsene subversive Potenzial. Dass jedoch einzig die Sprache ein klarer Fluss ist, in den sie als Schriftstellerin ein- und in dem sie untertauchen kann, um sich zu befreien, weckt Zweifel, bietet doch gerade der sich in der Sprache manifestierende Gedanke, zumal wenn er subversiv ist, eine neue Angriffsfläche, die eine abermalige Rettung notwendig erscheinen lässt. Den pathogenen Aspekt des Schreibens umspielend postuliert sie an anderer Stelle, nicht ohne ihren Ekel zu stilisieren: „[D]as Schreiben ist kein Genuss. Es ist das Quälende. Etwas, was man tut wie Kotzen: Man muss es tun, obwohl man es eigentlich nicht will.“367 Das Schreiben erleichtert nur zeitweilig, verspricht temporär Hoffnung. „Das Schreiben war mein Rettungsboot“, resümiert Jelinek, „aber befreit hat es mich nicht.“368 Wolfgang Koeppen antwortete einst auf die Frage eines Journalisten, ob sein öffentliches Schweigen und das Verweigern des (Fort-)Schreibens ein Akt der Enttäuschung, Verzweiflung, Resignation, Erschöpfung, ein Akt der Selbstverweigerung sei, mit den Worten: „Ja; ja. Ja und nein, das ist alles nicht so bewusst“, die Frage sei nicht ohne den Verzicht auf Intimes zu beantworten, er lebe in einer tiefen Depression: „Ich bin mutlos vor dem großen Unvermögen auszudrücken, was mich bewegt.“369 „Interviewer: Was heißt denn für Sie schreiben? Koeppen: Qual, Freude, sinnlose Sinngebung des Sinnlosen. Interviewer: Was quält sie daran? Koeppen: Der Zwang zu schreiben quält mich entsetzlich. […] Wer unglücklicherweise sein Brot verdienen muss, sollte keinen halbliterarischen Beruf wählen, nicht Redakteur, nicht Dramaturg, Lektor werden, eher Börsenmakler, Bankangestellter oder Portier in einem Bordell, nichts, was an den Kräften zehrt.“370

Der Prozess des Schreibens ist nach Lukács „die Wanderung des problematischen Individuums zu sich selbst, der Weg von der trüben Befangenheit in der einfach da seienden, in sich heterogenen, für das Individuum sinnlosen Wirklichkeit zur klaren

367 Elfriede Jelinek im Gespräch mit Sven Michaelsen. In: Michaelsen, Starschnitte, S. 126. 368 Elfriede Jelinek: „Ich bin die Liebesmüllabfuhr.“ In: Weltwoche 02.12.2004. 369 Wolfgang Koeppen im Gespräch mit Christian Linder: „Mein Tag ist mein großer Roman“ (1971). In: Rudolf de le Roi (Hrsg.): Jemand der schreibt. 57 Aussagen. München 1972, S. 179-185, 181. 370 Koeppen, Mein Tag ist mein großer Roman, S. 181.

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Selbsterkenntnis.“371 Doch dieses scheint den Schriftsteller nicht zu retten. „Nach dem Erringen dieser Selbsterkenntnis scheint zwar das gefundene Ideal als Sinn des Lebens in die Lebensimmanenz hinein, aber der Zwiespalt von Sein und Sollen ist nicht aufgehoben und kann auch in der Sphäre, wo dies sich abspielt, in der Lebenssphäre des Romans nicht aufgehoben werden.“372 An einem herausragenden autobiografischen Text der modernen Literatur offenbart sich der Versuch der Sublimation des Dichters durch den Akt des Schreibens und die Verdichtung des schriftstellerischen Lebens als eine zugleich individuelle und epochale Geschichte des Bewusstseinsschmerzes.373 In Friedrich Nietzsches Ecce homo vollzieht sich die Verschmelzung des Lebensweges mit den Bewegungen des Schreibaktes zu einer die Zweifel überwindenden Gebärde des Schriftstellers angesichts seiner Lage, jenseits metaphysischer Gewissheit. Mit autobiografischem Pathos demonstriert Nietzsche die Entsagung von der Überwindung des prekären Lebens und inszeniert diskursiv seinen in der Sprache manifest werdenden Todestrieb. In Ecce homo zeichnet Friedrich Nietzsche allein in der Abfolge der Kapitelüberschriften die zerstörerische, exzentrische Bahn seines Lebens nach – Warum ich so weise bin/ Warum ich so klug bin/ Warum ich so gute Bücher schreibe bis hin zum Wende- und Höhepunkt Warum ich ein Schicksal bin. Seine Autobiografie sei die „Umschreibung jenes Prozesses, der nicht eher zur Ruhe kommt, als dass das gesamte Ich Nietzsches zu einem mit Schrift überzogenen und von der Schrift durchdrungenen Körper geworden ist.“374 Schreiben wird für ihn zum „Abtötungsverfahren des eigenen Leibes“375, das zunächst harmlos beginnt. Im ersten Kapitel schreibt er, Gesundheit simulierend, bei gleichzeitigem Durchwirken des Gesagten mit pathogenen Diskursfragmenten: „Niemand hat je an mir Fieber constatiren können. Ein Arzt, der mich länger als Nervenkranker behandelte, sagte schliesslich: ‚nein! An ihren Nerven liegt’s nicht, ich selber bin nur nervös.‘ Schlechterdings unnachweisbar irgendeine lokale Entartung; kein organisch bedingtes Magenleiden, wie sehr auch immer, als Folge der Gesamterschöpfung, die tiefste Schwäche des gastrischen Systems. Auch das Augenleiden, dem Blindwerden zeitweilig sich gefährlich annähernd, nur Folge, nicht ursächlich: so dass mit jeder Zunahme an Lebenskraft auch die Sehkraft wieder zugenommen hat.“376

371 Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. München 1994, S. 70. 372 Lukács, Die Theorie des Romans, S. 70. 373 Zu Formen der autobiografischen Selbstentblößung seit Augustinus und der autobiografischen, diaristischen Schmerzreflexion seit Rousseau vgl.: Burkhard Meyer-Sickendiek: Affektpoetik. Würzburg 2005, S. 424 ff. 374 Christian Schärf: Autobiografie als Graphogenese des Selbst. Friedrich Nietzsches „Ecce homo“ und Jean-Paul Sartres „Die Wörter“. In: Ders.: Schreiben. Szenen einer Sinngeschichte. Tübingen 2002, S. 195-210, 196. 375 Ebenda, S. 196. 376 Volker Gerhardt (Hrsg.): Friedrich Nietzsche. Ecce homo. Wie man wird, was man ist. München 2005, S. 15. Im Folgenen abgekürzt mit: EH und Seitenzahl.

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Am Ende des ersten Kapitels besteht kein Zweifel, „eine lange, allzu lange Reihe von Jahren bedeutet bei mir [Nietzsche] Genesung,– sie bedeutet leider auch zugleich Rückfall, Verfall, Periodik“, eine Art lebensphilosophischer und körperzentrierter „décadence“ (EH, 16). Die in seinem körperlichen Leid begründete und durch den Anstoß von Schopenhauers Werk Welt als Wille und Vorstellung, das er in einem Antiquariat gefunden und rauschhaft durchgelesen haben will, initiierte „zwanghafte Idee“377 eines alles umstürzenden Schreibens und Lebens, setzt Nietzsche in den folgenden Kapiteln derart konsequent um, dass die Verschmelzung von Leben und Schreiben zum versuchten Selbstmord in der Schrift führt, der „einen Höhepunkt der Sinngeschichte des Schreibens“378 bilde, aber in seiner ästhetischen, hochartifiziellen Machart – auf den letzten Seiten werden die Sätze immer elliptischer, seine Gedanken assoziativer, Ausrufe häufiger – eine gewisse Inszenierung nicht verbergen kann. Inszeniert werden der Pathos und eine radikale Pathogenese, wobei der Pathos sein ungenierter Größenwahn ist: „Es scheint mir eine der seltensten Auszeichnungen, die Jemand [sic] sich erweisen kann, wenn er ein Buch von mir in die Hand nimmt, – ich nehme selbst an, er zieht sich dazu die Schuhe aus.“ (EH, 52) „Wer mich […] gesehn hat, wo ich, ohne Unterbrechung, lauter Sachen ersten Ranges gemacht habe, die kein Mensch mir nachmacht – oder vormacht, mit einer Verantwortlichkeit für alle Jahrtausende nach mir, wird keinen Zug von Spannung an mir wahrgenommen haben.“ (EH, 51) „Wenn ich mich darnach [sic] messe, was ich kann, nicht davon zu reden, was hinter mir drein kommt, […] so habe ich mehr als irgendein Sterblicher den Anspruch auf das Wort Grösse [sic].“ (EH, 50) „Vergleiche ich mich nun mit den Menschen, die man bisher als ‚erste’ Menschen ehrte, so ist der Unterschied handgreiflich. Ich rechne diese angeblich ‚Ersten’ nicht einmal zu den Menschen überhaupt, – sie sind für mich Ausschuss der Menschheit, Ausgeburten von Krankheit […].“ (EH, 50)

Seine Pathogenese hingegen ist sein innerer Tyrann, entstanden, wie Nietzsche schreibt, „aus der Härte gegen sich“ (EH, 9) und der Überwindung des Leidensdrucks: „Wenn man von einem unerträglichen Druck loskommen will, so hat man Haschisch nöthig. Wohlan, ich hatte Wagner nöthig.“ (EH, 41).

Seine Selbstinszenierung formt sich durch seinen Umgang mit beidem, Pathos und Pathogenese: „Ich kenne keine andre Art, mit grossen Aufgaben zu verkehren als das Spiel“ (EH, 51). Nietzsches Spiel ist die Verkehrung, die den Leser beizeiten im Un-

377 Schärf, Autobiografie als Graphogenese des Selbst, S.197. 378 Ebenda, S. 205.

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klaren lässt, was Aussage und was Widerlegung ist. Das Spiel beginnt, als er sich, als deutscher Pastorensohn, gegen alle Evidenz in seiner autobiografischen Schrift die adlige Herkunft eines „polnischen Edelmannes“ (EH, 18) zulegt, und sie hört nicht auf, als er sich mit Sokrates und Jesus auf eine Stufe stellt und zugleich mutmaßt, „Julius Cäsar könnte mein Vater sein – oder Alexander“ (EH, 19). Die Selbstkonstitution im schöpferischen Akt des Schreibens gleicht bei Nietzsche zunächst einer Selbsterhöhung, bald einer Selbstopferung, die in der diskursiven, in Nietzsches Selbstverständnis höchst heroischen Selbst-Kreuzigung kulminiert. Lässt sich das Schmerz-Motiv an Nietzsches Text durchaus nachweisen – auch wenn Nietzsche von sich behauptet: „Es fehlt jeder krankhafte Zug an mir“ (EH, 50) –, wird hingegen die Vermutung, dass im Akt des Schreibens eine Sublimierung möglich sei, mit der Betrachtung von Nietzsches Schriften immer unwahrscheinlicher. Die Idee, durch die Schrift und das Schreiben erfolge eine seelische Genesung, ist nach der Lektüre Nietzsches nicht mehr aufrechtzuerhalten. Die von Adorno im Schreiben vermutete und lokalisierte Heimat ist damit kaum mehr sicher: Am Ende, ganz am Ende, „ist es dem Schriftsteller nicht einmal im Schreiben zu wohnen gestattet.“379 Festzuhalten bleibt: Die schriftstellerischen Selbstzeugnisse und die persönlichen Einblicke in das Literatenleben – beginnend mit Goethes poetisch stilisierter Geburt über Jelineks psychoanalytisch eingefärbte Lebensschwäche bis hin zu Nietzsches sprachinszenatorischem Selbstmord – fungieren als Basis medialer Kolportage und diskursiver Verfestigung des Schriftstellermythos. Elfriede Jelinek gelingt es auf diese Weise, ihren neurotischen Sonderstatus auf dem literarischen Feld zu manifestieren, Peter Handke umkreist mit seinen Einlassungen den Mythos des sensiblen und beinahe an der Welt zerbrechenden Literaten, Marie Luise Kaschnitz etabliert in ihrer biografischen Erzählskizze den Topos der Ausgeschlossenen und untermauert so ihre künstlerisch-solitäre Rolle im Gesellschaftsgefüge. Zugleich weisen alle Selbstzeugnisse ein verbindendes Element, ein Leidens- und Schmerzmotiv auf, das einen ersten Hinweis auf einen universell vorhandenen Dichterhabitus gibt.

Die Anekdote Dass Autobiografien sich zahlreicher Anekdoten bedienen, wenn nicht sogar maßgeblich auf diesen basieren, kann als erstes Indiz für die Wichtigkeit anekdotischen Wissen für die öffentlichen Subjektkonstitution gesehen werden. Fließt das anekdotische Erzählen in autobiografische Identitätskonstruktionen ein, so kann die Anekdote gleichwohl als eigenes Stilprinzip der Inszenierung definiert werden. Zunächst war der altgriechische Begriff anékdota ein editionstechnischer Fachausdruck für ein unpubliziertes Werk380, dann wandelte sich dieser Begriff im 17. Jahrhundert zu einer vorrangig der Unterhaltung dienenden Darstellung.381 Heute be-

379 Adorno, Minima Moralia, § 51, S. 98. 380 Verwendet wurde dieser Begriff etwa von Cicero in eben diesem Sinne. Vgl. Sonja Hilzinger: Anekdotisches Erzählen. Stuttgart 1997, S. 16. 381 Vgl. Hilzinger, Anekdotisches Erzählen, S. 36 ff.

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zeichnet der deutsche Begriff Anekdote einen relativ kurzen, Elemente des Literarischen aufweisenden Text, der bis dato von der Öffentlichkeit als historisches oder unterhaltendes Material noch nicht zur Kenntnis genommen wurde und das Interesse durch seinen Neuigkeitswert zu wecken versteht. Als prägende Zeit der Verbreitung anekdotischen Wissens kann der Beginn des 19. Jahrhunderts festgelegt werden:382 Mit den literarisch von Heinrich von Kleist aufgearbeiteten Polizeimeldungen, den Schilderungen von Tagesereignissen in den Berliner Abendblättern sowie den Kalendergeschichten383 Johann Peter Hebels, die er für den Rheinländischen Hausfreund verfasste, fand diese neue anekdotische Erzählform erstmals als Druckwerk Verbreitung und diese Form der Wissensweitergabe Eingang ins kultur- und literaturhistorische Gedächtnis. Die Kalendergeschichten, die auf mündlich ihm zugetragenen Geschichten basierten, entsprachen dabei dem breiten Interesse an aussagekräftigen Besonderheiten, faszinierenden realen Geschichten und kleineren Bildungsinformationen durch kürzere Auszüge aus dem Leben von Persönlichkeiten. 384

382 Hilzinger, Anekdotisches Erzählen, S. 36 ff. 383 Johann Peter Hebel: Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes (1811). Berlin 1973 384 Vgl. Volker Weber: Anekdote, die andere Geschichte. Erscheinungsformen der Anekdote in der deutschen Literatur, Geschichtsschreibung und Philosophie. Tübingen 1993. Hans-Peter Neureuter: Zur Theorie der Anekdote. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1973, S. 458-480. Heinz Grothe: Anekdote. Stuttgart 1971. Um die Anekdote als intellektuelle Selbstinszenierungsstrategie zu begreifen, ist es hilfreich, die „Misere der Anekdotentheorie“, wie Walter E. Schäfer und Sonja Hilzinger sie beschreiben, zu ignorieren, und die Anekdote ausschließlich als Arbeitsbegriff und Hilfsmittel zu verstehen. Anekdote soll hier weder rein zeitgebunden verstanden werden (also nicht als sich historisch wandelnde Kategorie) noch rein abstrakt (somit auch nicht als gattungsmerkmalspezifische Hülse), sondern als zeit-ungebundene, nicht formal, doch funktional interessante Kategorie und offene Mischform: als ein bemerkenswertes, inoffizielles Erlebnis, erzählt in sprachlich knapper Form. (Vgl. Walter E. Schäfer: Anekdote – Anti-Anekdote. Zum Wandel einer literarischen Form in der Gegenwart. Stuttgart 1997, S. 5. Sonja Hilzinger: Anekdotisches Erzählen im Zeitalter der Aufklärung. Stuttgart 1997.) Damit schließt sich das hier zugrundegelegte Anekdoten-Verständnis an den New Historicism an, innerhalb dessen die Anekdote nicht nur unterhaltenden Wert hat, sondern durch Form und Präsenz im Gegenwartsdiskurs Bedeutung gewinnt – und, nebenbei, für die ungelösten Widersprüche, die offenen Widerstände gegenüber einem vereinheitlichen Geschichtsdiskurs zu stehen vermag (vgl. Moritz Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie. Tübingen 2005, S. 38 ff.). Den großen Erzählungen, den grand récits, so erläutert auch Gallagher, kann die Anekdote als petit récit entgegengestellt werden, die die „Big Stories“ unterbreche und in Frage stelle, indem die persönliche Exzentrik in den Fokus rückt und kulturwissenschaftlich Gewicht bekommt. In der Existenz der Anekdote selbst liegt die Bedeutung; sie ist allein machtvoll, weil sie im Diskurs präsent ist (vgl. Catherine Gallagher/Stephen Greenblatt: Practicing New Historicism. Chicago 2001, S. 52).

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Folgt man zudem den bereits ausgeführten Gedanken Greenblatts und der Annahme, dass der Mensch sich ständig sprachlich selbst erschafft, indem er Erzählungen aus der Vergangenheit modifiziert und kolportiert, so bestärkt dies die These, dass auch die öffentliche, schriftstellerische Identität wesentlich auf anekdotischem Erzählen basiert und sich der Mythos durch Anekdoten ausbildet. Die aufmerksamkeitserzeugende, werbende Funktion des anekdotischen Wissens haben jüngst auch Betriebs- und Wirtschaftswissenschaftler zu Marketingzwecken für sich entdeckt und dafür den Begriff des Storytelling (Herbst)385, Storytising (als eine Verbindung von Storytelling und Advertising (Simoudis)386) und Story Dealing (Geißlinger)387 erdacht. „Die Technik des Storytelling besteht aus den drei Komponenten: was das Unternehmen erzählt (Handlung), wie das Unternehmen dies erzählt (Darstellung) und wozu (Wirkung). Was: Mit der Handlung und den daran beteiligten Personen verdeutlicht das Unternehmen, wie es die Motive seiner Bezugsgruppen optimal befriedigt. Wie es das erzählt, ist durchdacht und nach einem Muster aufgebaut. Die beiden wichtigsten Anforderungen: Die Handlungen stehen in einem zeitlichen und inhaltlichen Zusammenhang. […] Wozu: Die Ziele des Storytelling sind zum einen, das Unternehmen bei wichtigen Bezugsgruppen bekannt zu machen und dieses in deren Köpfen präsent zu halten, so dass es im Fall einer Entscheidung spontan erinnert wird; zum anderen tragen Geschichten dazu bei, das klare Vorstellungsbild vom Unternehmen und 388 seinen Leistungen aufzubauen und dieses Bild langfristig und systematisch zu entwickeln.“

385 Dieter Herbst: Storytelling. Konstanz 2008. Darin: „Was fällt Ihnen auf, wenn Sie an Greenpeace denken? Sicher die Geschichte des kleinen Schlauchbootes, das gegen den großen Öltanker kämpft. David gegen Goliath. Solche Geschichten fallen auf, sie informieren uns, sie lösen Gefühle in uns aus und erinnern uns besonders gut und gern an sie.“ (S. 7) Oder aus der Spülmittel-Werbung für Fairy Ultra: „Villariba gegen Villabajo: das bedeutet spanisches Lebensgefühl, Gemeinschaft, Essen und Fairy Ultra für den Stolz, sein Geschirr am schnellsten und saubersten zu reinigen: ‚Während Villariba schon feiert, wird in Villabajo noch gespült.‘“ (S. 23) Ziel sei es, „mit Witz, Intelligenz und Ästhetik“ Alleinstellungsmerkmale in den Köpfen der Rezipienten aufzubauen. Das Storytelling erfülle damit vier wesentliche PR-Aufgaben: Es macht aufmerksam, es informiert, es löst bedeutende Gefühle aus und es sorgt dafür, dass der Rezipient die Informationen durch das Kreieren innerer Bilder besser speichern sowie leicht und schnell aus dem Gedächtnis abrufen kann (S. 11). Eine wichtige Eigenschaft des Storytelling sei ihre Offenheit für Varianten und Fortsetzungen. 386 Georgios Simoudis: Storytising. Über die Kraft narrativer Markenkommunikation. In: Brigitte Gaiser/Richard Linsweiler/Vincent Brucker (Hrsg.): Praxisorientierte Markenführung, neue Strategien, innovative Instrumente und aktuelle Fallstudien. Wiesbaden 2005, S. 529-543. 387 Hans Geißlinger/Stefan Raab: Strategische Inszenierung. Story Dealing für Marketing und Management. Heidleberg 2007. 388 Herbst, Storytelling, S. 12 (Herv. i. O.).

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Als Anekdote im Sinne des Storytelling, die Distinktion und Interesse provoziert und den individuellen Mythos konturiert, kann die von Jelinek in einem öffentlichen Interview zum Besten gegebene Priester-Anekdote gelten: „Jelinek: Ich bin im Kloster erzogen worden. Stern: Streng katholisch. Jelinek: Ja, was natürlich das Interesse an Sexualität mehr fördert als irgendetwas sonst. Die Klöster sind ja immer Brutstätten für Pornographie gewesen. Das hat auch de Sade gewusst. Stern: Können Sie sich erinnern, ob Sie in der Klosterschule aufgeklärt worden sind? Jelinek: Ganz sicher nicht aufgeklärt. Aber ich weiß noch, dass unter den Mädchen schon mit sechs, sieben Jahren schweinische Witze die Runde gemacht haben. Da habe ich nicht einmal gewusst, wie ein nackter Mann aussieht. In meiner Familie hat man sich nicht nackt gezeigt. Stern: Und was haben Sie dem Priester im Kloster so alles gebeichtet? Jelinek: Ich habe ganz unglaubliche Unkeuschheiten erfunden. Ich habe den Priester, das weiß ich noch, aufgegeilt. Der hat mich, glaube ich, stundenlang in der Beichte knien lassen. Ich hatte nachher Französisch, und ich weiß noch, dass meine Französisch-Unterrichts-Schwester immer verzweifelt im Hintergrund gewunken hat, weil die Stunde beginnen sollte. Und ich musste immer noch im Beichtstuhl knien und dem Priester Schweinereien erzählen.“389

Als Erzählung, die nicht die Wahrheit als letzte Sicherung hat, basiert die Anekdote in Teilen auf fantasiereichen Ausschmückungen und individuell interpretierenden Wertungen, hier sogar Pauschalisierungen (Die Klöster sind ja immer Brutstätten für Pornographie gewesen). Der tatsächliche Wahrheitskern der Priester-Anekdote Jelineks ist retrospektiv kaum überprüfbar, fällt doch das von ihr damals möglicherweise Erzählte unter das Beichtgeheimnis. Einzig an logischen Brüchen ist der faktische und fiktionale Anteil der Anekdote aufzuspüren; zu fragen wäre beispielsweise, wie Jelinek – im Beichtstuhl kniend – die Unterrichtsschwestern in ihrem Rücken habe winken sehen wollen; oder wie sie – ganz sicher nicht aufgeklärt –, den Priester mit Schweinerein unterhalten haben will. Dass die Schwestern Französisch unterrichteten, passt zwar in den sexuell aufgeladenen Diskurskontext, darüber hinaus bleibt aber fraglich, ob sich an jede Beichtstunde (die Schwestern haben immer verzweifelt gewunken), der Französisch-Unterricht anschloss oder die Kategorisierung der Unterrichtsschwestern nicht vielmehr als eine den pornografischen Diskurs umspielende fiktionale Anreicherung gewertet werden muss. Diese Fiktionalisierungen zugunsten einer kohärenten Geschichte werden innerhalb des anekdotischen Erzählens abgesi-

389 Elfriede Jelinek: „Männer sehen in mir die große Domina.“ Jelinek im Gespräch mit Birgit Lahan. In: Stern, 08.09.1988. (Dass Jelineks Anekdoten nur bedingt glaubwürdig sind – was ihrem Mythos allerdings keinen Abbruch tut –, untermauert Jelinek, indem sie im selben Interview an anderer Stelle über ihr Verhältnis zur Wahrheit verlauten lässt: „Ich winde mich ständig wie ein Wurm bei diesem Thema“. An anderer Stelle, nachdem sie über Prostitution gesprochen hat, betont Jelinek erneut ihren Hang zur Fiktionalisierung der Wahrheit mit der Aussage: „Wahrscheinlich ist auch alles gar nicht wahr, was ich gesagt habe.“ (Elfriede Jelinek: „Wie ich wirklich bin, weiß niemand.“ In: Mittelbayerische Zeitung, 16.01.1993.))

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chert durch die Betonung der Berufung auf die eigene, instabile Erinnerung (das weiß ich noch; ich glaube; und ich weiß noch). Markant ist weiterhin die Antizipation der Gefühlslage der geschilderten Personen (Ich habe den Priester aufgegeilt; die Unterrichts-Schwestern waren verzweifelt). Die aufgrund der faktischen Ungenauigkeit und fiktiven Übermalung der Erinnerung erzielte Wirkung dieser Art der Selbstinszenierung ist in dem gewählten Beispiel deutlich an dem Interviewpartner Jelineks abzulesen, der neugierig fragt: Und was haben Sie dem Priester im Kloster so alles gebeichtet? Kurioses, Überraschendes, Distinktives und die eigenen Handlungen anekdotisch Fiktionalisierendes weiß auch Paulo Coelho zu inszenieren und dadurch sein Alleinstellungsmerkmal zu explizieren: „Weil ich einen extremen Charakter hatte, landete ich mit 23 für zwei Jahre bei der gefährlichsten Geheimgesellschaft, die es gibt.390 Die Lehren dieses Mentors waren für mich damals eine stärkere Droge als Kokain. […] Wir opferten keine Babys wie in den einschlägigen Filmen, aber wir praktizierten schwarze Magie ohne jede Ethik und arbeiteten mit Kräften, die ich Ihnen nicht beschreiben werde. Ich fühlte mich beinahe allmächtig, und das führte mich an den Abgrund. Emotional und spirituell war ich so gut wie tot. Ich habe sieben Jahre gebraucht, um mich von diesen Erlebnissen zu erholen. Ich habe viele Wunder erlebt. Vor einiger Zeit war ich Zeuge, als ein brasilianischer Medizinmann ohne Betäubung einer Frau den Oberkörper vom Hals bis zum Bauchnabel aufschnitt und einen Tumor entfernte. Ich habe mit den Fingern ihre inneren Organe berührt. Wenig später war die Frau wieder auf den Beinen. Ich habe mir solche Operationen mehrere Male angesehen. Glauben Sie nicht, ich sei naiv. Ich kenne die magischen Techniken. Es ist schwer, mich zu täuschen.“391

Coelho teilt Geheimes (die magischen Techniken), sogar Verbotenes, Tabuisiertes (ohne jede Ethik), Privat-Intimes (emotional und spirituell war ich so gut wie tot) mit. Auch hier ist die historische Verbürgtheit kaum nachvollziehbar, für die Wirkung des Erzählten jedoch zweitrangig (Ich habe viele Wunder erlebt). Und auch hier liegt die Bedeutung des Erzählten in der für die Anekdote relevanten Kopplung von Behauptung und Selbstbehauptung sowie in der Art, wie Coelho sich im doppelten Wortsinn selbst produziert. Raum für Imaginationen lassend, potenziert Coelho den diskursiven Wert seiner Person erneut, indem er erzählend durch die Häufung von Superlativen – die sich sowohl auf seinen Charakter (einen extremen Charakter) als auch auf seine Taten beziehen (die gefährlichste Geheimgesellschaft, die es gibt; beinahe allmächtig) – das anekdotische Wissen als extraordinäre Beschreibung nicht mehr steigerungsfähig inszeniert (wir arbeiteten mit Kräften, die ich Ihnen nicht be-

390 Diese Aussage wurde im Original-Interview-Text mit dieser Anmerkung ergänzt: „Der antireligiöse ‚Ordo Templi Orientis’ wurde vom 1947 gestorbenen Engländer Aleister Crowley gegründet, dem drogensüchtigen Okkultisten, der mit Hostien aus Exkrementen, Blut von Kleintieren und ritualisierten Sexorgien das Christentum überwinden wollte.“ 391 Paulo Coelho: „Ich habe keinen meiner Folterer jemals zu Gesicht bekommen.“ In: Michaelsen, Starschnitte, S. 111-113, 111.

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schreiben werde). Auf diese Weise schließt er den Bereich der Fantasie des Publikums als letzte Steigerung auf.392 Satirisch konturiert hingegen Robert Gernhardt seinen Mythos des charmantironischen Situationslyrikers mit einer Anekdote: Der Tag, an dem ich Unseld übersah:393 „Am Tag, an dem ich Unseld übersah – Es war in Frankfurt. Ich war auf der Messe, die Bücher sehend, dacht ich: Meine Fresse, das alles schrieb, nur ich habe geschwiegen, das alles wurde, mein Projekt blieb liegen, wie war das möglich, dass mir dies geschah? Am Tag, an dem ich Unseld übersah – Ich hatte nichts geschafft, nun war mir elend, die andren trumpften auf, es war schlicht quälend, dies Werk an Werk, das füllte die Regale in voller Breite, und mit einem Male begriff ich: Ich war gar nicht da! Am Tag, an dem ich Unseld übersah – Ich ging daran, mich langsam auszuklinken, wer schon nichts tut, soll wenigstens gut trinken, da tönt wer rum: Der Gernhardt übersieht mich! Ich denke noch: Der Gernhardt? Ja, bezieht sich das denn auf mich? Und: Wer macht so’n Trara? Am Tag, an dem ich Unseld übersah – ich schwieg verwirrt. Er winkte mir im Gehen. Da spür ich Stolz: Ich hab ihn übersehen. Er war nicht da, weil ich, der Überseher, ihn übersah. So kamen wir uns näher. Nur näher? Waren wir uns da nicht nah? Im Namen der Barmherzigkeit: Sagt ja!“

In der heute gültigen Bedeutung der Anekdote amalgamieren sich historisches, unterhaltendes und den Nimbus des Neuen tragenden Wissens, ganz im Sinne der französischen anecdote als histoire secrète,394 wie sie auch Friedrich Schlegel paraphrasierte: die „noch unbekannte Geschichte.“395 Die Anekdote trägt zur Profilbildung des Schriftstellers im öffentlichen Diskurs bei, indem sie erstens exzentrisch ist, zweitens Intimes und Sekundäres preisgibt, das sonst verschwiegen würde, und drit-

392 Die zitierte Anekdote expliziert, doch das sei nur nebenbei erwähnt, die heroisch eingekleidete selbstdarstellerische Impertinenz (Ich habe ihre Organe berührt, etc.), die den Subtext zahlreicher Inszenierung durchzieht. 393 Robert Gernhardt: Gesammelte Gedichte. 1954-2006. Frankfurt a. M. 2008, S. 389 f. 394 Vgl. Rudolf Schäfer: Die Anekdote. Theorie, Analyse, Didaktik. München 1982, S. 9 f. 395 Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe. Bd. 2. Hrsg. v. Ernst Behler et al., München 1959, S. 394.

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tens den voyeuristischen Affinitäten des Publikums entgegenkommt und sie fortsetzt.396 Performativ ist die Anekdote damit insofern, als ihr mythologischer Bedeutungskern, ihre Aussage, als Atom des Diskurses dynamisch und beweglich ist, dadurch weitere Diskurselemente anstößt. Im Sinne von Austins Sprechakttheorie ist die Anekdote zudem nicht nur ein ebenso illokutionärer (äußernder) wie perlokutionärer (Wirkungen erzielender) Akt, sondern verfügt darüber hinaus über exzertive (also machtausübende, den Wert der eigenen Person steigernde) inszenatorische Kraft.397 Zwar nicht mit Wundern (wie Coelho), aber doch mit nicht minder das Publikum fesselnden Bekenntnissen zu der eigenen wundersamen Natur, versteht auch das Tagebuch als ein Medium, welches das Alleinstellungsmerkmals des Dichters inszeniert, die Aufmerksamkeit Dritter hervorzurufen.

Das (publizierte) Tagebuch Das Tagebuch, ebenfalls eine Variante des autobiografischen Erzählens, basiert auf mehreren in regelmäßigen Abständen, meist sogar täglich, verfassten chronologischen Aufzeichnungen, in denen der Schriftsteller Erfahrungen mit sich und seiner Umwelt aus höchst subjektiver Perspektive festhält (wie etwa: „In meinem ersten Schmerzensausbruch warf ich mich zu Boden und biss in die Erde.“ 398 (Rousseau)). Die Wahrheit bleibt bei der Selbstpreisgabe innerhalb des Tagebuchs, anders als in der Anekdote, das Ideal, die Richtschnur und vorgeblich die letzte Sicherungsinstanz. Die durch ihre stilistische Offenheit geprägten Tagebuchabschnitte können die Form ungeordneter Kurznotizen, impressionistischer Skizzen oder psychologischer Fragmente annehmen, in denen oft widersprüchliche Stimmungen und Urteile verhandelt werden. Ebenso finden sich reflektierte essayartige Zustandsberichte oder bekenntnishafte Analysen, die als veröffentlichtes Zeugnis bedeutender Persönlichkeiten aus früheren Epochen kulturgeschichtlichen und individualpsychologischen Dokumentarcharakter besitzen. Die Tagebücher Thomas Manns sind beispielsweise genau das: „Kokettierspiegel und Beichtbuch, klatschsüchtiges Sudelheft und literarische Selbstanalyse, Sammlung lächerlicher Notate am Rande des Bigotten und großartiges Arbeitsjournal“ 399, so Fritz J. Raddatz. Als wolle Thomas Mann seine Leser „durch erbarmungslose Selbst-Karikatur verführen“400, ist der wesentliche Teil seiner Eintragungen durchzogen von altjüngferlichen Eitelkeiten und hypochondrisch-skurrilen Pedanterie, die

396 Vgl. Lydia Hartl (Hrsg.): Die Ästhetik des Voyeurs. Heidelberg 2003. 397 Vgl. John L. Austin: How to do things with words. London 1962. Und: Ders.: Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart 1998. 398 Rousseau, Bekenntnisse, S. 85. 399 Fritz J. Raddatz: Etwas Halsweh vom nachmittäglichen Tragen kurzer Hosen. Thomas Mann in seinen Tagebüchern. In: Ders: Schreiben heißt sein Herz waschen. Literarische Essays. Springe 2006, S. 99-129, 99. 400 Ebenda, S. 99.

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nichts weniger zeigen als einen „hoch-neurotische[n], zwischen Selbstbeobachtung, Selbstmitleid und Selbstzweifeln schwankende[n] Mensch[en]“ 401, der eben durch diese offenbarte Menschlichkeit und Empfindlichkeit – mythologisch bedeutsam – seine Empathie demonstriert, die aus den eigenen Leid-Erfahrungen erwächst und die Fähigkeit zu psychologischer Tiefe zeigt. Sorgsam wird beobachtet: „Litt unter wehem Finger“, „viel leidend. Seelenschmerz“, „fand keine Ruhe nachmittags“ und natürlich „Seifenbad des Fingers“.402 Ob „mittags zur Pediküre, die schmerzhaft war und Verbände gegen Infektion erforderte“, ob „Abholung der neuen grünen Brille“, „drei Paar Schuhe putzen lassen“ oder „nie wieder Strandausflug“ – nichts scheint zu unbedeutend, um nicht dem Nichts qua Notat entrissen zu werden. 403 Der Autor selbst bleibt Fixstern in seinem eigenen Sonnensystem, die anderen Sterne stören nur, wie gelegentlich seine Frau Katja oder sein Sohn Klaus. Nahezu mürrisch bemerkt Thomas Mann über seine Frau Katja: „K. zahnleidend“, kühl und distanziert bezeichnet Mann Klaus’ Selbstmordversuch am 11. Juli 1948 als „Vorfall“. Eine andere Facette seiner Persönlichkeit hingegen geben die Eintragungen preis, in denen Thomas Mann die Faszination thematisiert, die die männliche Schönheit auf ihn ausübte. Ob er die Liebe Platens zum Hauptmann Hornstein kommentiert („Mit dem Hauptmann im Bett zu liegen – wie wär’s gewesen?“), ob er „tief entzückt von der Jugend und Freundlichkeit“ eines „reizenden jungen Studenten“ ist oder ob er sich ähnlich aufgerührt an einen Filmhelden erinnert – die erotische Anziehung galt dem eigenen Geschlecht. Geradezu komisch wirke, so Raddatz, wie Mann den minimalsten Spuren der erotischen Erregung und schönen Sünde bei anderen nachgeht: Zänkischkeiten von Bruno Walters frigider Frau, weil der einem Matrosen nachgesehen habe; Stendhals Erlebnis mit einem jungen russischen Offizier, den „er nicht anzusehen wagt“; nach der Lektüre von Hesses „Glasperlenspiel“-Roman: „Knechts Ende deutlich homo-erotisch“.404 In seiner uncamouflierten Selbstdarstellung und mit derselben nüchternen, voyeuristischen Erbarmungslosigkeit bei gleichzeitiger liebevoll versteckter Anteilnahme, mit denen er seine Romanfiguren zum Leben erweckte, hat Thomas Mann sich selbst zur Kunstfigur gemacht, durch seine Tagebücher, posthum. Das Weltgeschehen verblasst angesichts der persönlichen Alltäglichkeiten. „Vollends grausig“ 405, urteilt Fritz J. Raddatz, sei diese Mann’sche Gewichtung, die selbst einen drohenden Atomkrieg lediglich als Marginalie festhält. Thomas Mann notierte am 6. August 1945 in sein Tagebuch: „Schloss Kapitel XXVII ab. – In Westwood zum Einkauf von weißen Schuhen und farbigen Hemden. – Erster Angriff auf Japan mit Bomben, in denen Kräfte des gesprengten Atoms (Uran) wirksam.“ So also die Reihenfolge seiner Ge-

401 Raddatz, Etwas Halsweh vom nachmittäglichen Tragen kurzer Hosen. In: Ders.: Schreiben heißt sein Herz waschen, S. 100. 402 Mann, Tagebücher, Band 1946-1948. 403 Ebenda. 404 Vgl. Raddatz, Etwas Halsweh vom nachmittäglichen Tragen kurzer Hosen. In: Ders.: Schreiben heißt sein Herz waschen, S. 106. 405 Vgl. Raddatz, Etwas Halsweh vom nachmittäglichen Tragen kurzer Hosen. In: Ders.: Schreiben heißt sein Herz waschen, S. 100.

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danken: erst sein Werk, dann die Marotten, zuletzt die Welt. Den Stellenwert der Mann’schen Tagebücher herausstellend, resümiert Raddatz: „Sie sind das grandiose Selbstporträt eines […] Künstlers, der seine Nerven bis in die feinsten Endungen mikroskopiert, der sich zeichnet mit allen Schattierungen seiner Tinte […]. Was es in Kunst und Literatur kaum je gab – er hat [es] gemalt.“

Dennoch, daran ist kein Zweifel, wich der Dichter von dem Selbstporträt ab, das er in seiner Prosa und seinen Tagebüchern suggerierte. Dass seine Texte gleichwohl die „offizielle Künstlermetaphysik“, die nietzscheanische „Verneinung des Willens zum Leben“ nahelegten, auch daran besteht kein Zweifel. Begründet aber ist die Skepsis, ob er tatsächlich so war, „ob nicht gerade diese Suggestion einer Strategie entsprang, die er an der Goethe’schen eingeübt haben mochte, übers eigene Nachleben zu gebieten.“406 Nur kam es Mann weniger auf das Nachleben an als darauf, wie er den Zeitgenossen als public figure erschien. Zu diesem Zwecke stilisierte sich Thomas Mann gezielz in seinen autobiografischen Texten und Tagebüchern; er trug Masken. Masken sind auswechselbar und der Vielfältige hat mehr als eine. Die bekannteste Maske Thomas Manns ist die des kühlen und distanzierten, im Verborgenen leidenden Hanseaten, des reservierten Lübecker Senatoren-Sohnes und Großbürgers. „Präsentiert er trotzdem vielen sich so, als wäre der Bürger zumindest die eine Seele in seiner Brust gewesen, so stellte er wohl ein Element seines Wesens, das seinem Willen wiederstand, in den Dienst der Illusion, die er koboldhaft zu erwecken trachtete. […] Nicht umsonst schrieb er zwei voneinander höchst abweichende Handschriften“407, bemerkt Adorno über Thomas Mann. „Die Privatperson jedoch habe ich“, sagt Adorno den Schriftsteller-Mythos und die Tagebucheinsichten ergänzend, „keine Sekunde lang steif gesehen, es sei denn, man verwechselte seine Begabung zum druckfertigen Sprechen und seine Freude daran, die er mit Benjamin teilte, mit würdigem Gehabe.“408 Im Verhalten war er eher lässig. Für gesellschaftliche Hierarchien und Anflüge des Mondänen fehlte ihm jeder Sinn. Nicht bloß war Thomas Mann – sei es aus frühkindlicher Sicherheit heraus oder als Arrivierter – darüber erhaben, sondern seinen Interessen gemäß indifferent dagegen, so als wäre die Erfahrung der hierarchischen Unterschiede gar nicht zu ihm vorgedrungen. Den Gefühlen der Freude und des Schmerzes sei er so schutzlos und ungepanzert ausgeliefert gewesen, wie es nie ein Eitler wäre; seine Sensibilität habe sich bis ins Moralische erstreckt; sein Gewissen in geistigen Dingen reagierte so seismografisch fein, dass selbst noch der plumpeste und törichteste Angriff ihn zu erschüttern vermochte. Gleichwohl war er perfektionistisch, „[e]r wollte reizen und gefallen.“409 Die „Doppelbödigkeit seines Naturelles“ zeigte sich in Handlungen ebenso wie in seinen Äußerungen: „Alles was er sagte, klang, wie wenn es einen geheimen Hinter-

406 Theodor W. Adorno: Zu einem Porträt von Thomas Mann. In: Adorno, Noten zur Literatur, S. 335-344, 336. 407 Ebenda, S. 339. 408 Ebenda, S. 338. 409 Ebenda, S. 342.

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sinn mit sich führte, den zu erraten er den anderen mit einiger Teufelei überließ.“ 410 Nicht die leiseste narzisstische Regung habe man an ihm feststellen können. Das, was ihm als Eitelkeit ausgelegt wurde, sei der untilgbare Anspruch an die Vollkommenheit seines Werkes, des literarischen Gebildes, gewesen, in dessen Dienst auch die Notizen und autobiografischen Aufzeichnungen standen. Zeigen seine Notizen eine besondere Affinität zum körperlichen Verfall, versteckt sich dahinter nicht allein eitle Selbstbetrachtung, sondern der Aberglaube, dass Beobachtete durch den Akt des Benennens zu bannen: „Wollte er den Tod überlisten, so heilt er zugleich Kompanie mit ihm aus dem Gefühl, daß es keine Versöhnung des Lebendigen gibt als Ergebung: nicht Resignation.“ Was man Thomas Mann nicht zuletzt auf der Grundlage seiner Tagebücher als Dekadenz vorwarf, war ihr Gegenteil: Humanität, „die Kraft der Natur zum Eingedenken ihrer selbst als hinfälliger.“ Auch davon zeugen seine Tagebücher und die begleitenden Diskurse. Als kapitaleffizientes und zielsicher intellektuelles Selbstdarstellungsinstrument können zwar grundsätzlich alle publizierten Notiz- und Tagebücher angesehen werden, besonders aber diejenigen, die schon im Hinblick auf eine spätere, auch posthume Veröffentlichung konzipiert und auf ein Image oder eine Position auf dem literarischen Feld hin stilisiert sind. Zu den privaten Petitessen und penibel archivierten Befindlichkeiten treten in den bewusst auf eine Veröffentlichung hin konzipierten Tagebüchern in der Regel besonders philosophische, zeit- und kunstkritische Reiseoder Kriegserlebnisse reflektierende Betrachtungen. Aber auch das literarische Tagebuch mit Gedanken und Materialien zu geplanten Arbeiten, das in erster Linie Aufschlüsse über den künstlerischen Schaffensprozess gibt, kann als ein auf die spätere Veröffentlichung hin geplantes schriftstellerisches Nebenprodukt betrachtet werden und übernimmt damit eine wichtige Funktion für die durch die Selbstanalyse, Weltund Textbeobachtung erschaffene Profilierung und Positionierung des Schriftstellers auf dem literarischen Feld.411

Das Gedicht Durch die Kürze, die Konzentration und die Abbreviatur komplexer Sinnverhältnisse sowie durch die Verdichtung, die Bedeutungsintensität und die Abstandlosigkeit zwischen Subjekt und Objekt eignet sich das Gedicht wie keine zweite Form zur Selbstdarstellung. Als poesievolle Kristallation des Gemüts offenbart es Seelisches und verschleiert im gleichen Moment artifiziell die Faktizität des Offenbarten.412 In MonoLogisches Gedicht No. 2 verrät Durs Grünbein über die Prinzipien des Notiz-Gedichts und die Motivation des lyrischen Ichs ganz unverschleiert:

410 Adorno, Zu einem Porträt von Thomas Mann. In: Adorno, Noten zur Literatur, S. 340. 411 Vgl. Uwe Schultz (Hrsg.): Das Tagebuch und der moderne Autor. Darmstadt 1965. Peter Boerner: Tagebuch. Stuttgart 1969. Rüdiger Görner: Das Tagebuch. München, Zürich 1986. 412 Vgl. Walter Killy: Elemente der Lyrik. München 1971. Und: Dorothea Ruprecht: Untersuchungen zum Lyrikverständnis in Kunsttheorie, Literaturhistorie und Literaturkritik. Göttingen 1987. Reinhold Grimm (Hrsg.): Zur Lyrik-Diskussion. Göttingen 1987.

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„Zwischendurch gibt es dann/ manchmal Tage an denen/ habe ich wieder Lust ein/ Gedicht anzufangen der Art/ wie sie noch immer nicht/ sehr beliebt sind. Ich meine/ eins ohne alle meta-/ physischen Raffinessen oder/ was als Ersatz neuerdings/ dafür gilt […].“ 413

Die selbstinszenatorische Funktionsweise, die ein Gedicht übernehmen kann, zeigt – exemplarisch und ohne weitere Interpretation, einzig als den öffentlichen Diskurs begleitendes und mythologisches Indiz – das Gedicht „Ich“ von Ingeborg Bachmann:414 „Sklaverei ertrag ich nicht Ich bin immer ich Will mich irgend etwas beugen Lieber breche ich. Kommt des Schicksals Härte oder Menschenmacht Hier, so bin ich und so bleib ich Und so bleib ich bis zur letzten Kraft. Darum bin ich stets nur eines Ich bin immer ich Steige ich, so steig ich hoch Falle ich, so fall ich ganz.“

O FFENE B RIEFE Am 13. Januar 1898 wurde der Offene Brief als Inszenierungsstrategie in die moderne Literaturgeschichte eingeführt.415 An dem Tag nämlich, als ein ursprünglich privates Dokument eine veritable Staatsaffäre auslöste. Diese entzündete sich zwar am Gegenstand des Briefes, wirkte jedoch nachhaltig auf die Bedeutung und die Be-

413 Durs Grünbein: MonoLogisches Gedicht No.2. In: Ders.: Grauzone morgens. Gedichte (1985-1988). Frankfurt a. M. 2004, S. 83 f. 414 Ingeborg Bachmann: „Ich.“ In: Ingeborg Bachmann. Sämtliche Gedichte. München 2009, S. 11. 415 Bezeichnete der Terminus Offener Brief bis ins 19. Jahrhundert hinein so viel wie Befehl und Mandat, aber auch öffentliche Bekanntmachung, so fand mit dem Brief Zolas eine bis heute gültige Umakzentuierung statt. „Die in unserem Jahrhundert überaus häufig gewordenen ‚Offenen Briefe’, waren ursprünglich Urkunden, die jedermann lesen konnte und sollte. Dementsprechend wurden seit dem Spätmittelalter auch öffentliche Anschläge so genannt.“ (Reinhard Nickisch: Schriftsteller auf Abwegen? Über politische Offene Briefe deutscher Autoren in Vergangenheit und Zukunft. In: Journal of English and Germanic Philology, JEGP 93/1994, S. 469-484, 475 f.). Zur Geschichte des Offenen Briefes als Medium vgl. Rolf-Bernhard Essig: Der Offene Brief. Geschichte und Funktion einer publizistischen Form von Isokrates bis Günter Grass. Würzburg 2000, S. 331-363.

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kanntheit des Verfassers zurück: Auf der Titelseite der französischen Tageszeitung L’Aurore erschien ein Offener Brief des Schriftstellers Emile Zola an das französische Staatsoberhaupt. Darin protestierte Zola schriftlich gegen die unrechtmäßige, zu diesem Zeitpunkt bereits vier Jahre zurückliegende Degradierung des jüdischen Offiziers Dreyfus.416 Zolas Brief ist aus dreierlei Gründen für die intellektuelle Selbstinszenierung interessant. Erstens veranschaulicht das Textdokument die Verknüpfung des literarischen Feldes mit dem Feld der Macht. Zweitens zeigen die an die Veröffentlichung des Briefes anschließenden Reaktionen die Bedingungen, unter denen schriftstellerische Distinktion (unabsichtlich) gelingt und zudem, zumindest partiell, wie sich die herrschenden Wahrnehmungs- und Bewertungskriterien öffentlich verändern. Und drittens enthält der Textkorpus stilbildende Elemente, die für den Offenen Brief als Instrument der öffentlichen Inszenierung bis heute maßgebend sind. Der Brief, für den Clemenceau, der Mitherausgeber von L’Aurore, den berühmt gewordenen (und mit Signalwirkung ausgestatteten, sich somit für die Skandalisierung mitverantwortlich zeichnenden) Titel J’accuse – Ich klage an gefunden hat, beginnt mit Höflichkeitsfloskeln, Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse, euphemistischen Ehrbekundungen an den genannten Adressaten sowie Huldigungen seiner Taten: „Sehr geehrter Herr Präsident! Erlauben Sie mir, dass ich mich in dankbarer Erinnerung an den wohlwollenden Empfang, den Sie mir vor einiger Zeit gewährt haben, um den Ihnen gebührenden Ruhm sorge, erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, dass Ihr bisher so glücklicher Stern von einem unauslöschlichen Schandfleck bedroht ist. Sie haben die niedrigsten Verleumdungen ohne Schaden überstanden, Sie haben die Herzen erobert. Sie sind der strahlende Stern des patriotischen Festes, das die Allianz Frankreichs mit Russland besiegelt, und Sie schicken sich an, unserer Weltausstellung zu präsidieren, die unser großes Jahrhundert der Arbeit, der Wahrheit und der Freiheit in einem feierlichen Triumph krönen wird.“417

Keine Steigerung, sondern die Kehrtwende, die Anschuldigung, Mittäter eines Verbrechens zu sein, folgt im nächsten Satz, rhetorisch eingeleitet durch die Konjunktion aber:

416 Der deutschstämmige, jüdische Hauptmann Alfred Dreyfus wurde am 22.12.1894 auf der Grundlage fragwürdiger Beweise vom Obersten Kriegsgericht in Paris des Landesverrats, der Spionage und der „Komplizenschaft mit einer ausländischen Macht“ beschuldigt, degradiert, verurteilt und verbannt. Vgl. Vincent Duclert: Die Dreyfusaffäre, Militärwahn, Republikfeindschaft, Judenhass. Berlin 1994. Julius H. Schoeps: Theodor Herzl und die Dreyfus-Affäre. Wien 1995. Alain Pagès/Karl Zieger (Hrsg.): Emile Zola. Die DreyfusAffäre. Artikel, Interviews, Briefe. Innsbruck 1998, S. 102-113. 417 Emile Zola: „J’accuse!“ Brief an Félix Faure, Präsident der Republik (1898). In: Alain

Pagès/Karl Zieger (Hrsg.): Emile Zola. Die Dreyfus-Affäre. Artikel, Interviews, Briefe. Innsbruck 1998, S. 102-113.

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„Aber was für ein Fleck beschmutzt Ihren Namen – Ihre Regierungszeit, wollte ich sagen: die schreckliche Dreyfus-Affäre! Ein Kriegsgericht hat es gewagt, auf Befehl einen Mann wie Esterhazy freizusprechen, und hat damit jeder Wahrheit, jeder Gerechtigkeit einen vernichtenden Schlag ins Gesicht versetzt. Das genügt, Frankreich trägt nun diesen Makel auf seiner Wange, und die Geschichte wird festhalten, dass ein solches Verbrechen gegen die Gesellschaft unter Ihrer Präsidentschaft begangen werden konnte.“418

Es folgen viele deskriptive Zeilen und Seiten über den Ablauf des Prozesses, über Fehlleistungen des Geheimdienstes der französischen Armee und über die mangelhafte Anklageschrift, die zur Grundlage des Urteils, der Höchststrafe für Hochverrat und der Degradierung von Dreyfus wurde. Danach widmet sich Zola dem Major Esterhazy, der das geheime Dokument, das so genannte Bordereau,419 in Wirklichkeit verfasst hatte. Doch Esterhazy (der Schuldige) wurde freigesprochen. Zola kritisiert die Richter (Sie haben ein widerrechtliches Urteil gefällt), das Kriegsministerium (diesen Jesuitenhaufen) und die Skandalpresse (Es ist ein Verbrechen, die öffentliche Meinung irre zu führen). Nach Ausrufen und resignierten Erkenntnissen (Oh!, diese erste Affäre ist für jeden, der ihre Einzelheiten kennt, ein Alptraum und Ach!, wie wertlos ist doch diese Anklageschrift), Dramatisierungen (Es ist meine Pflicht, offen zu sprechen. Meine Nächte würden sonst vom Gespenst des Unschuldigen heimgesucht werden) und Zuspitzungen wendet sich Zola wieder dem Präsidenten, seinem expliziten Adressaten zu: „Was für ein Schmerz ist es, diese Wahrheit, diese Gerechtigkeit, die wir so leidenschaftlich gewollt haben, dermaßen geohrfeigt zu sehen, noch mehr und verkannt und verdunkelt denn je! […] Die Militärgerichte haben tatsächlich eine eigenartige Vorstellung von Gerechtigkeit. Das ist also die einfache Wahrheit, Herr Präsident, sie ist schrecklich und wird ein Fleck auf Ihrer Präsidentschaft bleiben. Ich zweifle nicht daran, dass Sie selbst keinen Zugriff auf diese Affäre haben, dass Sie ein Gefangener der Verfassung und Ihrer Umgebung sind. Nichtsdestoweniger haben Sie eine menschliche Pflicht, an die Sie wohl denken und die Sie erfüllen werden. Ich zweifle im Übrigen keineswegs am Sieg. Ich wiederhole es noch mal aus voller Überzeugung: Die Wahrheit ist auf dem Vormarsch und nichts wird sie aufhalten.“420

Dann folgt die legendäre Schluss-Passage, die harmlos beginnt: „Dieser Brief ist lang geworden, Herr Präsident, und es ist Zeit zu schließen. Ich klage Oberstleutnant du Paty de Clam an, unbewusst, wie ich gerne glauben will, der teuflische Handlanger des Justizirrtums gewesen zu sein und seit drei Jahren sein unheilvolles Werk durch die abstrusesten und verbrecherischsten Machenschaften gestützt zu haben. Ich klage General Mercier an, zumindest aus Geistesschwäche zum Komplizen einer der größten Ungerechtigkeiten dieses Jahrhunderts geworden zu sein.

418 Zola, „J’accuse!“, S. 102. 419 Das Bordereau beinhaltete vertrauliche Daten des französischen Militärs an einen deut-

schen Militärattaché. Dreyus wurde des Verfassens und der Weitergabe dieser Daten bezichtigt und angeklagt. 420 Zola, „J’accuse!“, S. 111 f.

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Ich klage General Billot an […]. Ich klage General de Boisdeffre und General Gonse der Mittäterschaft am selben Verbrechen an […]. Ich klage General de Pellieux und Hauptmann Ravary an […]. Ich klage die drei Schriftsachverständigen an […]. Ich klage die Ministerialbüros an […]. Ich klage schließlich das erste Kriegsgericht an […].“421

Der Brief endet mit dem Passus: „Ich habe nur eine Leidenschaft, jene der Aufklärung im Namen der Menschheit, die so viel gelitten hat und die ein Recht hat, glücklich zu sein. Mein flammender Protest ist nur der Aufschrei meiner Seele. Man möge mich vor ein Schwurgericht stellen, und die Untersuchung möge in aller Öffentlichkeit stattfinden! Ich warte! Mit dem Ausdruck vorzüglicher Hochachtung Emile Zola“422

Zolas Brief ist ein Modellfall für die medial inszenierte Kommunikation. 423 Die große Resonanz resultierte zum einen aus Zolas eigener Entscheidung, seinen Protest nicht wie zuerst geplant in einer Broschüre zu verlautbaren, sondern an die Zeitung L’Aurore heranzutreten. Zum anderen trug die Verordnung Clemenceaus, den Brief auf die Titelseite zu setzen, die Überschrift J’accuse! zu formulieren und die Auflagenzahl zu verzehnfachen (auf 300.000 Exemplare), dazu bei, einen Skandal zu evozieren. In der Nacht vor Erscheinen der Ausgabe ließ Clemenceau zudem überall in Paris Plakate mit dem Titelblatt der Zeitung und der Schlagzeile J’accuse! kleben.424 Nicht allein die Anschuldigungen und Forderungen Zolas wurden am nächsten Morgen und in den darauffolgenden Wochen diskutiert, auch die Person Zola war Gegenstand der Debatte. Der Brief wirkte unmittelbar auf den Bekanntheitsgrad des Autors Zola zurück; aus der Affäre Dreyfus wurde alsbald die Affäre Zola.425 Konnte Zola auch dem Misskredit seiner Person nicht entgehen, den er durch den Vulgaritätsverdacht, der mit der erfolgreichen Aufmerksamkeitserzeugung verbunden ist, hervorrief, so konnte er diesen doch mildern, indem er, kreativ und innovativ, „für den Künstler einen subversiven prophetischen Auftrag ersann, der intellektuell und politisch zugleich geeignet ist, als ästhetisch-ethisch-politische Konzeption erscheinen zu lassen, was seine Gegner als Folge eines vulgären oder abwegigen Geschmacks beschreiben.“426 Zola als engagierter, intellektueller Schriftsteller profiliert sich mit dem Offenen Brief also, indem er, im Namen der Autonomie eines kulturellen Pro-

421 Zola, „J’accuse!“, S. 112 f. 422 Ebenda, S. 113. 423 Vgl. Rolf-Bernhard Essig: Der Offene Brief. Würzburg 2000, S. 173 ff. 424 Pagès/Zieger, Emile Zola, S. 113 u. 180 f. 425 Vgl. Liselotte Schmidt: Edouard Drumont – Emile Zola. Publizisten und Publizistik in der Dreyfus-Affäre. Berlin 1962, 98. 426 Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 209 f.

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duktionsfeldes, das zu einem hohen Grad von Unabhängigkeit gegenüber den staatlich-gesellschaftlichen Machtinstanzen charakterisiert ist, in das Feld der Macht erzürnt kritisierend eingreift. Er beruft sich auf das Allgemeine (wie den irreduziblen Wert der Wahrheit), von dessen Wirkungsmacht er zugleich profitiert. „Zurückgezogen auf die ihm eigene Ordnung, gestützt auf seine ureigenen Werte der Freiheit, Selbstlosigkeit, Gerechtigkeit, die ausschließen, daß er seine spezifische Autorität und Verantwortlichkeit zugunsten zwangsläufig minderwertiger Profite und Machtbefugnisse aufgibt, behauptet sich der Intellektuelle – gegen die eigentümlichen Gesetze der Politik, die der Realpolitik und der Staaträson – als Verteidiger, die nichts sind als das Ergebnis der Universalisierung spezifischer Prinzipien seines eigenen Universums.“427

Sprachlich übt Zola seine Kritik – und auch das ist für den Offenen Brief stilprägend – durch „Verleumdungen taktischer Art“, „hochrhetorische Vereinfachungen“ und „polemische Allegorien“, die ihre Wirkung nicht verfehlen, politisch instrumentalisiert für den Zweck der Gerechtigkeit. Der Brief Zolas zeichnet sich zudem in besonderem Maße durch Beteuerungen des seelischen Äußerungszwangs aus (Es ist meine Pflicht, offen zu sprechen; ich möchte nicht mitschuldig sein), durch die Betonung der eigenen Redlichkeit und durch zynische Lobreden (Und wem, soll ich denn die üblen Machenschaften der wahren Schuldigen anzeigen, wenn nicht Ihnen, dem höchsten Richter des Landes?), durch (pathetische) Wiederholungen und die Verwendung emotional aufgeladener Begriffe und stigmatisierender Wortfelder, die in der Tat weniger zum Mitdenken animieren, sondern polarisieren und Zustimmung einfordern. Oberstleutnant du Paty de Clam wird eingeführt als ein unheilbringender Mensch, der erste Schuldige des schrecklichen Justizirrtums; dem Kriegsminister General Mercier bescheinigt Zola die unrühmliche Eigenschaft, dass dessen Intelligenz etwas beschränkt zu sein scheint. Darüber hinaus ist die Rede vom dümmsten Schwindel, von einem unauslöschlichen Schandfleck und schrecklichem Wissen, von Schande, Verstandesschwäche, und dem Monstrum an Ungerechtigkeit. In einem einzigen Satz fällt allein sechsmal das Wort Verbrechen, zahlreich sind auch die Wörter Irrtum, Schuld und Verrat. (In den einleitenden Absätzen des Briefes verwendet Zola kontrastierend ebenfalls sechsmal den Leit- und Fahnenbegriff Wahrheit.) Die Kriminalisierung der Vorgänge steht im Kontrast zur Unschuld von Dreyfus und zur Rechtschaffenheit des Schreibers Zola. Zola betont dazu seinen selbst attestierten Status als honnête homme, als ehrenhafter und ehrlicher Mensch. Zolas Strategie ist – trotz der immensen Informationsmenge – auf Emotionalisierung ausgerichtet. Dazu nutzt er seine Fähigkeiten als Romancier: In seinem Offenen Brief, darauf weist Essig hin, reizt er „die literarisch-dramatische Qualität des Falles [aus], der mit verschleierten Frauen, Duellen, gefälschten Papieren und durch Spiel hochverschuldeten Offizieren Ingredienzien des Trivialromans aufwies.“428

427 Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 211. 428 Essig, Der Offene Brief, S. 178.

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Darüber hinaus instrumentalisiert Zola das Schreiben, das er durch seine Profession beherrscht, und die in allen gesellschaftlichen Schichten bekannten Konventionen des brieflichen Schreibens für einen doppelt intendierten Zweck: Einerseits erreicht er eine nationale, alle Schichten durchziehende Debatte, nicht zuletzt, weil er in seinem Offenen Brief eine Gesamtinterpretation der Dreyfus-Affäre lieferte, die allen Lesern die Mitsprache ermöglichte. Andererseits lenkte er die Aufmerksamkeit auf seine Person – denn zwar reagierte der Präsident nicht auf seine Forderungen, aber die Zeitungsleser reagierten auf Zola, wenn auch zum Teil erbost und mit Angriffen auf seine Person. In einem Interview aus dem Jahre 1897 antwortet Zola auf die Frage, ob er aus dieser „außerordentlich dramatischen Affäre“ sein nächstes literarisches Werk mache: „Wenn Sie ein französischer Journalist wären, würde ich Ihnen keine Antwort auf Ihre Frage geben […]. Aber, da Sie für russische Leser schreiben, sage ich Ihnen folgendes: Ja! Nachdem ich nun jetzt eine tiefere Kenntnis dieser Affäre erworben habe, habe ich mich natürlich dazu entschlossen, daraus einen Nutzen zu ziehen.“429 Schließlich profitierten neben Zola auch weitere an der Veröffentlichung des Briefes und an dessen Interpretation beteiligte Personen und Institutionen, darunter die Presse und die Printmedien sowie auch Schriftstellerkollegen von Theodor Fontane bis Heinrich Mann, die sich dem öffentlichen Echo anschlossen, auf der Dreyfus-Solidaritätswelle mit schwammen oder sich später auf sie bezogen.430 Mit diesen benannten Funktionen entsprichte Zolas Offener Brief den Kriterien, die Dücker in seiner Definition des Offenen Briefes universalisierte. Als Kriterien benennt er: „Ein meist prominenter Schreiber wendet sich an eine einflussreiche Persönlichkeit, um ihn [sic] in einer Angelegenheit zu einer Stellungnahme bzw. zu eigener Aktivität zu veranlassen. Indem er diesen Brief nicht nur dem Adressaten, sondern auch einer breiten Leserschaft zur Kenntnis bringt, kann er durch den daraus erwachsenden Prozess der Meinungsbildung einen gewissen Druck auf den Adressaten ausüben“431

Zugleich kann er auch auf sich selbst aufmerksam machen. Ein Offener Brief stelle in der Regel keine spontane Reaktion dar, sondern sei das Ergebnis strategischer Abwägungen seiner möglichen Wirkungen, auch für den Geltungsanspruch des Verfassers. Insofern könne es sich sogar um letzte Möglichkeiten der Formulierung und Durchsetzung eines individuellen Anspruchs handeln. Weil die artikulierte DissensErfahrung für das Selbstbild des Verfassers ausschlaggebend sei, öffentlich aber kontrovers diskutiert werde, provoziere der Offene Brief stets einen Konflikt, für dessen Lösung es nur zwei Alternativen gäbe: die eigene Position und die Alterität, 429 Emile Zola, in: Gespräch mit Emile Zola. Von Eugen Semenov. In: Novosti, 30.11.1897. (Auch abgedruckt in: Pagès/Ziegler, Emile Zola, S. 66-69, 66.) 430 Vgl. Michael Braun: „J’accuse.“ Literarische Skandalisierung in Offenen Briefen am Beispiel der Grass- und der Walser-Debatte. In: Neuhaus/Holzner, Literatur als Skandal, S. 588-599, 588. 431 Burckhard Dücker: Der offene Brief als Medium gesellschaftlicher Selbstverständigung. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht. 23/1992, Heft 69, S. 32-42, 38 f.

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wenngleich die Gegenposition argumentationslogisch sich stets auf die im Offenen Brief formulierte Position beziehe und sie dadurch im öffentlichen Diskurs tradiere.432 Der Offene Brief fungiert somit als Diskursbegründer und Distinktionsinstrument. Durch seinen kommunikationsauslösenden Charakter und seine operative Ausrichtung, die vorgibt, Wahrheit dialogisch auszuhandeln, sei diese Text- und Selbstdarstellungsform eine „Waffe“ (Nickisch) 433, die durch ihre provozierende und gewaltige Wirkung Anschlusshandlungen und ein Reflexionskontinuum garantiere. „Als Kommunikationsform hat der Offene Brief Briefcharakter (Anrede, Datierung, Eingangsformel, Schlussgruß) und wendet sich an einen expliziten Adressaten, der zu Beginn des Offenen Briefes genannt wird, und an einen zweiten, impliziten Adressaten, die Öffentlichkeit. Diese doppelte Anrede kann unterschiedlich gewichtet sein. Gewinnt der Leser des Briefes auch zuerst den Eindruck, Zola wende sich vorrangig an den expliziten Adressaten, den Präsidenten, um eine appellative Wirkung zu erzielen, so wird der Eindruck nicht nur dadurch revidiert, dass Zola Fakten und Erklärungen liefert, die dem Präsidenten bekannt sein dürften, sondern auch und spätestens wenn er dem Präsidenten attestiert, dass er zweifelsohne machtlos sei: Ich zweifle nicht daran, dass Sie selbst keinen Zugriff auf diese Affäre haben, dass Sie ein Gefangener der Verfassung und Ihrer Umgebung sind. Eine Bemerkung, die als Indiz dafür gelesen werden könnte, dass Zola neben der appellative Wirkung (Appell an die Menschlichkeit), die den expliziten wie die impliziten Adressaten erreicht, auch voyeuristische Wirkung im Sinn hat. Dieser zweite Wirkmechanismus impliziert das entscheidende Kriterium des selbstinszenatorischen Kalküls und des Offenen Briefes schlechthin, nämlich, dass der Offene Brief zu vollen Entfaltung seiner Sinnkonstitution des intendierten Lesens der Öffentlichkeit bedarf.“434

Braun arbeitet heraus, wie Zolas Offener Brief als Prototyp für Skandale des gegenwärtigen literarischen Feldes gewertet werden könne, weil innerhalb des Briefes erstmals nicht der im Brief Angesprochene (der Präsident), sondern die Öffentlichkeit zum Adressaten wird.435 Der Präsident wird angeschrieben, weil er über Popularität, Prestige und Ansehen verfügt, die sich auf die Wahrnehmung und emotionale Einordnung des Offenen Briefes übertragen soll. Als Adressat hat er damit schlichtweg werbewirksame Verstärkerfunktion.

432 Vgl. Burckhard Dücker: Zur unverbrauchten Aktualität des Kriegsthemas im „Offenen Brief“. In: Ursula Heukenkamp (Hrsg.): Schuld und Sühne? Kriegserlebnis und Kriegsdeutung in deutschen Medien der Nachkriegszeit (1945-1961). Amsterdam, Atlanta 2001, S. 717-732, 718. 433 Reinhard Nickisch: Brief. Stuttgart 1991, 102. Und: Ders.: Schriftsteller auf Abwegen? Über politische „Offene Briefe“ deutscher Autoren in Vergangenheit und Gegenwart. In: Journal of English and Germanic Philology. 1994, Nr. 93, S. 469-484. 434 Essig, Der Offene Brief, S. 16 (Herv. i. O.). 435 Vgl. Braun, „J’accuse!“, S. 592.

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Offener Brief (M)

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Legende A = Aktualitätsanzeige

Sehr geehrter … (E) Hiermit fordere (H) ich (S) Sie (E) heute (A) aus den genannten Gründen (B) im Interesse der Allgemeinheit (V) öffentlich (Ö) eindringlich und nachdrücklich (R) dazu auf, in dieser Sache (D) verantwortlich zu handeln (H). Mit freundlichen Grüßen … (S)

B = Begründung D = Darstellung/Referenz E = Empfängerfunktion, expliziter & impliziter Adressatenbezug H = Handlungsbezug M = metasprachliche Funktion (Gattungsbezeichnung) Ö = Öffentlichkeitsfunktion R = rhetorisch-persuasive Funktion S = Sender, Schreibersubjekt V = Voraussetzung, Vorannahmen

Abbildung 51: Funktionsschema „Offener Brief“436 Dort, wo es sich um ein Protestschreiben eines Schriftstellers handelt, ist von einem Willen zur Provokation auszugehen, von der Lust zum Widerspruchsgeist, der zwar in Briefform einen Adressaten wählt, diesen jedoch durch die öffentliche Form der Aussage sogleich transzendiert. Ähnlich verhält es sich, wenn ein Literaturkritiker, der mit Hilfe des Offenen Briefes (vorgeblich) den Schriftsteller anspricht, sich die Signalwirkung von dessen Namen zunutze macht, aber sich eigentlich nicht an ihn, sondern an die Öffentlichkeit wendet. „Statt zu Lesern über Literatur zu sprechen, spricht der Kritiker nicht mehr (nur) über Schriftsteller, sondern direkt und öffentlich zu ihnen.“437 Er macht sich den diskursiven und dialogischen Grundzug zueigen, der „einer Argumentation dient, die durch das Eingehen auf das Gegenüber, auf vermutete Reaktionen und vorgegebene Erwartungen des Publikums dessen Meinungs- und Geschmacksbildung zu fördern bestrebt ist. […] Doch beim genaueren Hinsehen unterbreiten sie keine Gesprächsvorschläge, sondern geben Bankrotterklärungen des jeweiligen Romans im Gestus kaum gemilderter Ablehnung ab.“438

436 Hans Wellmann: Der Offene Brief und seine Anfänge. Über Textart und Mediengeschichte. In: Maria Pümpel-Mader/Beatrix Schönherr (Hrsg.): Sprache, Kultur, Geschichte. Sprachhistorische Studien zum Deutschen. Innsbruck 1999, S. 361-384, 369. 437 Braun, „J’accuse!“, S. 592. 438 Ebenda, S. 591.

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Die Textform des Offenen Briefes könne somit auch „etwas widerlich Großspuriges“ haben. „[D]er Schreiber stellt sich auf ein Postament, damit ihn nur ja recht viele sehen können, und schreit mit voller Lunge an den Adressaten hinüber […].“439 Als Beispiel für die Selbstinszenierung über dieses Medium sollen Marcel ReichRanickis langer Offener Brief an Günter Grass aus dem Spiegel vom 21.08.1995 mit dem Totalverriss des Romans Ein weites Feld und Frank Schirrmachers kurzer Offener Brief an Martin Walser aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 29.05.2002 mit einer Ablehnung des Vorabdrucks von Martin Walsers Tod eines Kritikers dienen.440 Außergewöhnliche Bedeutung erlangen diese beiden Briefe für das Publikum, weil sie Romane angreifen, die zu diesem Zeitpunkt der Öffentlichkeit noch nicht vorlagen – der Wissensvorsprung wird, wie für die Inszenierungsstrategie, zum wichtigen Vorteil der Aufmerksamkeitserzeugung.

Abbildung 52: „Mein lieber Günter Grass …“, Spiegel-Cover (Montage), 1995 Drei Merkmale sind für den Sprachstil des Offenen Briefes wesenhaft. Erstens: die allen Ansprüchen der Rhetorik gerecht werdende Einleitung (exordium). Dies ist bekanntlich eine Äußerung, die den Geist des Hörers in geeigneter Weise auf den restlichen Vortrag vorbereitet. Sie soll ebenso zu der Sache hinführen, wie auch schon auf den eigenen Standpunkt aufmerksam machen. „Dem exordium kommt somit eine wichtige Rolle zu, in ihm wird die erste Hürde zur Überzeugung des Zuhörers bereits genommen: ‚Doch sollte man […] dem Richter anfangs nur einen leichten Anstoß geben, so dass der Rest der Rede auf ihn wirken kann, wenn er sich schon geneigt

439 Frank Thieß: Das Gesicht des Jahrhunderts. Briefe an Zeitgnossen. Stuttgart 1923, S. 19. 440 Diese beiden Briefe bieten sich deshalb für eine vergleichende Betrachtung an, da durch die in beiden Fällen gewählte auflagenstarke Publikationsform ein hohes Maß an Aufmerksamkeit (im In- und im Ausland) gegeben war. Zudem sind die Autoren, in erster Linie Marcel Reich-Ranicki, sowie die Kritisierten Grass und Walser durch eine wechselvolle Vorgeschichte von Lob- und Schmähreden miteinander verbunden und geben dadurch auch einen tieferen Einblick in die Diskursivität und Performanz des Literaturbetriebs. Pikanterweise spielt der Verfasser des Offenen Briefes an Grass obendrein in der Walser-Debatte eine prominente Rolle als Vorlage einer Romanfigur.

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zeigt.‘“441 Die Einleitung besteht aus dem Erlangen von Aufmerksamkeit (attentum parare), im Offenen Brief Marcel Reich-Ranickis an Grass durch eine ironischeuphemistische, direkte Anrede: „Mein lieber Günter Grass,“

Es folgt die Erweiterung der Aufnahmefähigkeit (docilem parare) durch eine knappe sachliche Ankündigung und Vorschau auf das zu Erwartende: „es gehöre zu den ‚schwierigsten und peinlichsten Aufgaben des Metiers‘ – meinte Fontane - , ‚oft auch Berühmtheiten, ja, was schlimmer ist, auch solchen, die einem selber als Größen und Berühmtheiten gelten, unwillkommene Sachen zu sagen zu müssen.‘ Aber – fuhr er fort – ‚schlecht ist schlecht, und es muss gesagt werden. Hinterher können dann andere mit Erklärungen und Milderungen kommen.‘ Das ist ziemlich genau meine Situation“

Und schließlich folgt das Erlangen des Wohlwollens (captatio benevolentiae) durch (zynische) Lobhudelei: „Ich halte Sie für einen außerordentlichen Schriftsteller, mehr noch: Ich bewundere Sie – nach wie vor.“

Dadurch hat er die Aufmerksamkeit von Grass’ gewiss; die des Publikums erschreibt Ranicki sich, indem er fortsetzt: „Doch muss ich sagen, was ich nicht verheimlichen kann: dass ich Ihren Roman ‚Ein weites Feld‘ ganz und gar missraten finde. Das ist, Sie können es mir glauben, auch für mich schmerzhaft.“

Typisch für den Offenen Brief ist, zweitens, der konziliante, joviale Ton, der dem Brief den Anstrich eines wohlmeinenden, pädagogischen Mahnens verleiht, dabei zugleich eine ernsthafte Auseinandersetzung verhindert (Ranicki an Grass: Wollten Sie einen Roman über Fontane schreiben? Wohl kaum, Sie wissen doch, dass es längst einen solchen Roman gibt und dass ein Konkurrenzkampf mit jenem, der ihn verfasst hat, leichtsinnig, wenn nicht aussichtslos wäre). Signifikant sind die das Gesagte untermalende Polemik und die freundschaftlich verpackte, ironisch eingekleidete Beleidigung (Ranicki: Wie beinahe alle erfolgreichen Autoren gelten auch Sie – diesen Ruf verdanken Sie natürlich Ihren Kollegen – als größenwahnsinnig), die in einer argumentativen Spirale immer noch steigerungsfähig ist (Nicht Größenwahn, so will es mir scheinen, hat Ihre Produktionskraft stark beeinträchtigt, sondern eher Unsicherheit, genauer: mangelndes Selbstvertrauen). Aber auch die rücksichtslose Bewertung der dem Adressaten unterstellten Handlungsmotive ist für den Offenen Brief bezeichnend (Fast habe ich den Verdacht, dass Sie jetzt mehr an Ihr Talent als Graphiker glauben denn als Erzähler, als Romancier). Zumeist erfolgt die Bewertung der angenommenen (keineswegs als richtig bestätigten) Handlungsmotive des

441 Gert Ueding/Bernd Steinbrink: Grundriss der Rhetorik. Stuttgart, Weimar 2005, S. 259.

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Adressaten, indem diese Motive als lächerlich, naiv oder unwissend, in jedem Falle aber als nicht erfolgversprechend ausgewiesen werden. Ohne allzu sehr ins Detail zu gehen, sind derlei Bewertungen, Beleidigungen und kleinere Gemeinheiten an zahlreichen Stellen greifbar, auch in Zolas und Schirrmachers Brief, und dürfen damit als wesenhaft für den Offenen Brief gelten. Provokant ist der Satz, in welchem Ranicki behauptet, die Krux der Epik bei Grass bestünde darin, dass seine „Naivität verkümmere“, die ihn noch glücklich während des Schreibens der Blechtrommel und von Katz und Maus begleitet habe. Damit desavouiert Ranicki nicht nur Grass’ intellektuelle Integrität, sondern zersprengt sie, indem er ihm nicht einmal mehr die Existenz am untersten Rand der Skala geistiger Aktivität zugesteht. Auch die Passage: Ein Schweißfuß – diese Volksweisheit, die ich aus einem Stück von Brecht kenne, wird Ihnen zusagen –, ein Schweißfuß kommt selten allein, wirkt höchst despektierlich, weil Ranicki seine unsachliche Kritik mit einem Zitat Brechts absichert, das die Provokation nur noch verstärkt, da sich dagegen zu wehren hieße, weder den großen Brecht noch einen kleinen Spaß zu verstehen. Durch die wiederkehrende saloppe salutatio „Mein lieber Günter Grass“ (sieben Mal kommt sie im Brief vor), ersetzt der nur sieben Jahre ältere Ranicki an den Gelenkstellen seiner Argumentation die Logik der argumentativen Beweisführung durch die Insinuation einer Vertrautheit des Kritikers mit dem Adressaten, die jenem auch harte Worte zu sagen erlaubt. Überhaupt ist die briefliche Anrede inflationär. Ob Ranicki im singulären Ich-Ton oder als Sprecher eines leidgeprüften Kollektivs spricht, es kommt kaum ein Satz vor, in dem Ranicki Grass nicht persönlich anredet; über 150 pronominale Variationen sind im Offenen Brief verstreut. Grass’ Verleger Gerhard Steidl erklärte im August 1995 in einem Interview sein Verständnis des Offenen Briefes: „Profil: Besonders pikant an Reich-Ranickis Rezension ist die Form des Offenen Briefes, wodurch suggeriert wird, dass ein persönliches Nahverhältnis zwischen Grass und Reich-Ranicki bestehe. Steidl: Darüber hat Grass sich sehr verwundert gezeigt. Von einem persönlichen Verhältnis kann keine Rede sein, weil ja hinlänglich bekannt ist, wie angespannt die Beziehung zwischen den beiden ist. Auch hier gibt Reich-Ranickis Verhalten Rätsel auf. […] Vielleicht erwartet er eine Antwort auf seinen Brief, die Grass ihm selbstverständlich nicht geben wird.“442

Ganz offenkundig waren sich weder der Interviewer noch der Verleger darüber bewusst, dass gerade der Offene Brief keineswegs ein persönliches Verhältnis voraussetzt, sondern im Gegenteil dieses im Brief erst generiert wird. Drittens ist für den Offenen Brief das Stilprinzip politisch-moralischer Äußerungen charakteristisch, das sich in einem körperlichen Schmerz des Schreibers manifestiert (Ranicki: Doch muss ich sagen, was ich nicht verheimlichen kann: dass ich Ihren Roman […] ganz und gar missraten finde. Das ist […] auch für mich sehr schmerzhaft. Zola: Was für ein Schmerz ist es, diese Wahrheit geohrfeigt zu sehen!) und in klagenden, zeternden und polemischen Formen textlich materialisiert. „Die Öffentlichkeit bedarf offenbar solch starker Reize, um ihre Aufmerksamkeit länger

442 Gerhard Steidl im Interview. In: Profil, 28.08.1995.

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zu beschäftigen.“443 Diese im individuellen Schmerz begründete inszenierte Zwanghaftigkeit des Ausdruck der Kritik bestärkt die Glaubwürdigkeit und Authentizität, die wiederum dazu führt, dass in ähnlicher Weise geantwortet und die Kommunikation personalisiert und dadurch weitgehend skandalisierend fortgeführt wird. Hatte die Webekampagne des Steidl Verlags zu dem Roman Ein weites Feld von Günter Grass bis dahin schon größten Widerhall gefunden,444 wirkte dieser Offene Brief nun als „Zündkraut, das in Verbindung mit den Feuilletons zur Explosion führen musste.“ 445 Zahlreiche Kritiken folgten, die sich gegen Ranicki und die Art der Darstellung wandten, nicht zuletzt auch gegen den visuell inszenierten Verriss auf der Titelseite des Spiegel. Gerold Späth, Klaus von Dohnanyi und Werner Aschemann vom Kölner Express verfassten in gleicher Manier Offene Briefe an Marcel Reich-Ranicki.446 Peter Rühmkorf überwarf sich mit Reich-Ranicki. In einem nicht öffentlichen Brief sagt Rühmkorf eine gemeinsame Veranstaltung mit Reich-Ranicki bei der jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main ab. Obwohl Rühmkorf in der Sache unmissverständlich vorwurfsvoll argumentiert,447 zeichnet sich sein Brief durch Zeichen der Verbundenheit und Zwischentöne aus, die sehr klar tiefe freundschaftliche Enttäuschung, aber keinesfalls eine kühle Absage offenbaren.448 Reich-Ranicki allerdings gibt Teile von Peter Rühmkorfs privatem Brief an die Öffentlichkeit, an die Nachrichtenagentur dpa, weiter. Anstatt persönlich auf Rühmkorfs Brief zu antworten, beauftragt er Jochen Hieber von der FAZ damit, eine Antwort an Rühmkorf zu verfassen. Daraufhin erst geht Rühmkorf an die Öffentlichkeit und lässt in der Zeitung Die Woche seinen ersten Brief an Reich-Ranicki und als Offenen Brief seine Antwort auf Jochen Hieber (und Marcel Reich-Ranicki) abdrucken:449 „Da er [Reich-Ranicki] es vorgezogen hat, die Sache über Dritte zu regeln, darf ich Sie [Hieber] wohl als ein Sprachrohr betrachten und Sie meinerseits als sein Hörrohr in Anspruch nehmen, wozu ich mir freilich Die Woche als Adapter heran gebeten habe, damit sich ein tief reichender Dissens nun nicht mehr bloß entre nous verkrümelt. Tatsächlich war ich zunächst so naiv gewesen, meine Verzichtserklärung als Privatissimum zu betrachten. Ich bin kein

443 Essig, Der Offene Brief, S. 327. 444 Vgl. Ebenda, S. 324. 445 Ebenda, S. 324. 446 Oskar Negt (Hrsg.): Der Fall Fonty. „Ein weites Feld“ von Günter Grass im Spiegel der Kritik. Göttingen 1996, S. 48. 447 Der private Brief von Rühmkorf wurde später in der Zeitung Die Woche (15.09.1995) abgedruckt. In seinem Brief lehnt Rühmkorf den Verriss im Spiegel ebenso ab wie „das autoritäre Niederschreien eines schwierigen Buches“ durch Ranicki in der Fernsehsendung Das Literarische Quartett. Dort hatte Ranicki Grass in Goebbels-Nähe gerückt: ein Sachverhalt, der für Rühmkorf unerträglich war. 448 So schreibt Rühmkorf an Ranicki: „Ob Sie meine Absage als ein Äußerstes an Affront registrieren, kann ich natürlich nicht ahnen. Ich selbst empfinde […]. Ich grüße Sie einseitig herzlich.“ Peter Rühmkorf, in: Die Woche, 15.09.1995 449 Vgl. Essig, Der Offene Brief, S. 326.

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Resolutionist und habe insofern an keinem Gewerkschaftsprotest teilgenommen. Ich habe keine Steidl-Sammeladresse unterschrieben und sehr bewusst auf einen Leserbrief an den Spiegel verzichtet. Ich habe eine für mich ungemein qualvolle Entscheidung allein mit mir selbst ausgemacht und die hinterher ins Vertrauen gezogenen […] um äußerste Diskretion gebeten […].“450

Weiter schreibt Rühmkorf: „Dass Sie meine Absage missbilligen (‚Ich verachte Ihre Entscheidung. Sie ist würdelos.‘), mag ja noch hingehen. Sie bezeugen mir allerdings höchste Indigniertheit mit Wörtern wie ‚nichtswürdig‘, ‚fatal‘ und ‚gemein‘ und begegnen einer nicht Ihnen geltenden Majestätsbeleidigung nach Lehnsmannsart.“451

Das durchaus Erschütternde an Rühmkorfs Brief, in dem es ihm nicht mehr um persönliche Enttäuschung, sondern um die Kritik am Umgang Reich-Ranickis mit der medialen Macht geht, ist die Art, wie etwas sehr Privates wie freundschaftlicher Umgang und Fragen des Anstandes in der Öffentlichkeit (in diesem Fall durch den Adressaten Ranicki) kalkuliert und den Marktgesetzen gehorchend zur Schau gestellt wird. Dabei wächst die Bedeutung des Dissens’ allein durch Prominenz und Prestige der Beteiligten, nicht aber auf der Grundlage des Sachinhalts (NS-Vergleiche, sachliche Unrichtigkeit, die Gefahr von Pauschalurteilen etc.). Und dennoch: Im besten Fall bietet der Offene Brief genau das: Prominenz des Absenders, Prominenz des Adressaten, ein allgemein interessierendes Thema und die emotionale Personalisierung eines Sachverhalts, die den voyeuristischen Impuls des Lesers reizt. „Das ist sicherlich einer der Gründe, die Form gelegentlich zu verwenden“452, vermutet Essig. „Im Medienverbund ist der Offene Brief“, so Braun, „Teil eines dreifachen Kontextes, von dem er abhängt und den er zugleich mit konstituiert.“ 453 Es gehe dabei immer um die intermediale Wechselwirkung zwischen dem Offenen Brief und anderen Medien, in denen sich der Inhalt des Briefes und der Autor diskursiv fortschreiben. Es gehe aber auch und maßgeblich um die „gattungskonstitutive Relation zwischen Absender und Adressat“454, die durch die in Briefform evozierte Vertraulichkeit eine Nähe zwischen Briefschreiber und dem Adressat des Briefes herstellt, während in Wirklichkeit eine tatsächliche Nähe zwischen Briefschreiber und Publikum vorgetäuscht wird, die sich aus der Tatsache ergibt, dass der Briefschreiber das Publikum, als stünde es hinter ihm am Schreibtisch, über die Schulter blicken und an seinen genuin privaten Gedanken teilnehmen lässt. Und es gehe nicht zuletzt um die „Adaption und Variation der Gattung des Briefes“455, die im narzisstischen Diskurs der Öffentlichkeit verändert und inszenatorischen Zwecken unterworfen wird. Ein

450 Peter Rühmkorf, in: Die Woche, 15.09.1995. (Auch abgedruckt in: Essig, Der Offene Brief, S. 326 f.) 451 Ebenda. 452 Vgl. Essig, Der Offene Brief, S. 328. 453 Braun, „J’accuse!“, S. 589. 454 Ebenda, S. 589. 455 Ebenda, S. 589.

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letzter Blick auf den Brief Schirrmachers an Walser mag dies zusammenfassend und abschließend verdeutlichen. Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, lehnte 2002 den Vorabdruck von Martin Walsers Roman Tod eines Kritikers ab. Der Protagonist in Walsers Roman ist ein Literaturkritiker, der Ähnlichkeiten mit dem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki aufweist und auf Romanebene einem gekränkten Autor vermeintlich zum Opfer fällt. Weil darin mit dem „Literaturpapst“ ReichRanicki abgerechnet würde, sah sich Schirrmacher außer Stande, Teile des Romans vorab zu drucken. Stattdessen publizierte Schirrmacher selbst in seinem Blatt einen Offenen Brief an Martin Walser.456 Darin zeigte sich Schirrmacher „angewidert“ angesichts des offensichtlichen „Spiel[s] mit dem Repertoire antisemitischer Klischees“ und eröffnete einen (neuen) Diskurs um Walsers vorgebliche antisemitische Gesinnung.457 Schirrmacher dispensierte sich gleich zu Beginn von der Sachebene, indem er die Bewertung des Romans an seine Kritikerkollegen delegierte. Damit nahm er sich das Recht heraus, unmittelbar moralische Maßstäbe zur Begründung seiner Ablehnung des Romans heranzuziehen, der bald von Schirrmacher auch nicht mehr als „Roman“, sondern als „Dokument des Hasses“ bezeichnet wurde. Kurzerhand versteht Schirrmacher den Titel von Walsers Roman Tod eines Kritikers wörtlich, schließt den fiktiven Inhalt des Romans mit einer von ihm angenommenen realen „Mordphantasie“ des Schriftstellers Walsers kurz und unterstellt argumentativ auf dieser Grundlage Walser Antisemitismus, schließlich sei Reich-Ranicki, dessen Biografie hinlänglich bekannt ist, nicht nur Kritiker, sondern auch jüdischer Herkunft und Walsers Roman somit von der Perfidität des „Massenmord[s ] der Nazis“ nicht zu trennen. Der Offene Brief rekurriert auf den Roman nicht auf der Grundlage seiner literarischen Qualität, sondern aufgrund der performativen Qualität des Themas, das instrumentalisiert wird. Signifikant sind hier die von Emotionen getragenen, persönlichen Diffamierungen (wie wir sie auch von Reich-Ranicki kennen: ich verachte, das ist würdelos). Schirrmacher empfindet Walsers literarische Handlung als fatal: „Ich habe, lieber Herr Walser, in meiner Laudatio in der Paulskirche eine Summe ihres Werkes und Wirkens gezogen. Ebenso klar sage ich, dass ich fatal finde, was Sie jetzt zu tun im Begriff sind. Als Adolf Hitler seine Kriegserklärung gegen Polen formulierte, die Sie in Ihrem Roman so irrwitzig parodieren, war dies auch eine Kriegserklärung an den damals in Polen lebenden Marcel-Reich-Ranicki […]“

In einem didaktisch-pädagogischen Kniff hierarchisiert Schirrmacher das im Brief gestaltete Verhältnis zwischen ihm und Walser zu seinen eigenen Gunsten, am Ende des soeben zitierten Abschnitts setzt Schirrmacher Martin Walser mit einem zu Belehrenden gleich:

456 Frank Schirrmacher: Tod eines Kritikers. Der neue Roman von Martin Walser: Kein Vorabdruck in der FAZ. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.05.2002, Nr.122, S. 49. 457 Vgl. Daniel Hofer: Ein Literaturskandal, wie er im Buche steht. Zur Vorgeschichte, Missverständnissen und medialem Antisemitismus rund um Martin Walsers „Tod eines Kritikers“. Wien 2007.

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„Verstehen Sie, dass wir keinen Roman drucken werden, der damit spielt, dass dieser Mord fiktiv nachgeholt wird?“

Und Schirrmacher insistiert durch Wiederholung desselben Satzmusters: „Verstehen Sie, dass wir der hier verbrämt wiederkehrenden These, der ewige Jude sei unverletzlich, kein Forum bieten werden?“

Genau dieses Forum jedoch hat Schirrmacher mit seinem Offenen Brief inszeniert, und zwar eines, indem Schirrmacher die Deutungshoheit besaß, denn er allein hatte Einblick in die Druckfahnen zum Vorabdruck. Bis das Werk bei den ersten Rezensenten war, sollte noch einige Zeit vergehen, ebenso bis das Buch im Handel lag. Der Offene Brief ist somit zugleich eine Demonstration kultureller Macht. Schirrmacher hat, indem er in Walsers Roman antisemitische Klischees wirken sah (Schirrmacher: das Repertoire antisemitischer Klischees ist leider unübersehbar), diese zur Grundlage seines eigenen Diskurses um Martin Walser gemacht und durch die zahlreichen Stigma-Wörter in seinem Brief (Hitler, Holocaust, Ermordung, Getötetwerden, Warschauer Ghetto, Juden, Antisemitismus etc.) in seinem Brief das weitere öffentliche Gespräch über Walser medienwirksam geprägt. Im somit eröffneten Diskurs zirkulierten und flottierten fortan diese Begriffe und reicherten das Diskursarchiv um Walser an, das schon bald ergänzt wurde. Ignaz Bubis, damaliger Vorsitzender des Zentralrats der Juden, warf Walser nämlich „geistige Brandstiftung“ und „latenten Antisemitismus“ vor,458 Hubert Spiegel schrieb Walser die Eigenschaft „hasserfüllt“ zu,459 Sigrid Löffler sprach von „manifestem Judenhass“ und „sozialem Todesurteil“.460 Kurzum: Mit allen konventionalisierten Regeln des Privatbriefes brechend (ein Briefgeheimnis gibt es nicht, weil der Brief unverschlossen ist) und die Bewertungsmaßstäbe der Kritik außer Kraft setzend (die Sachebene wird sekundär, die persönliche Ebene rückt in den Fokus), dient der Offene Brief als Skandalinstrument und Aufmerksamkeitsgenerator. Nicht die ernsthafte Debattenkultur steht im Vordergrund, sondern – insbesondere durch die polemische Aufladung des Beitrags – die Position des Briefeschreibers, indem der primäre Adressat des Briefes auf dem literarischen Feld öffentlich herabgesetzt wird. Zugleich ist der Offene Brief ein wichtiges diskursives Element der Mythenbildung qua Fremdkommentierung. Weniger polemisch, aber ebenso publikumswirksam ist die SelbstdarstellungsStrategie, sich nicht allein zwischen den Zeilen in Offenen Briefen, sondern auf öffentlichen Lesungen persönlich und leibhaftig zu präsentieren.

458 Ignatz Bubis zit. n.: o. A.: Literaturskandal. FAZ lehnt Walser-Vorabdruck ab. In: Der Spiegel, 28.05.2002. 459 Hubert Spiegel: Der Müll und der Tod. Martin Walser und die Gespenster der Vergangenheit. In: Frankfurt Allgemeine Zeitung, 01.06.2002. 460 Vgl. Hofer, Ein Literaturskandal, wie er im Buche steht, S. 20.

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L ESUNGEN „Ein kleiner dunkler Saal, hoch im Verhältnis zu seiner Grundfläche, annähernd würfelförmig. Eine steile Rampe aus Sitzreihen, ganz oben der Eingang für die Zuhörer, die eintretend wie auf den Grund eines Hörsaals hinabschauen“, beschreibt der Schriftsteller Georg Klein den Ort des Geschehens: „Nur Sitze, keine Klapptischchen. Kein Scharnier, das quietschen könnte, und kein boshaftes altes Holz, das, wie auch immer aufknarrend, vor allem von der Unbehaglichkeit des auf ihm lastenden Hinterns erzählen würde. Stattdessen moderne, fast sesselartige Plätze, deren schwarze Lehnen dazu verführen, sich zurückfallen zu lassen. Fast könnte man den Kubus für einen Vorführraum des Kinos halten […].Alle Plätze sind besetzt. Ein schöner Überschuss an Besuchern hat sich zudem auf dem Teppichboden der Treppe niedergelassen. Viele halten ein Glas, eine Flasche oder eine Tasse in der Hand, denn im Vorraum werden Getränke verkauft: Mineralwasser, Bier, Wein und auch frischer Kaffee, […]. Leichthin findet das Publikum in jenes angespannte Murmeln und Wispern, das der Veranstaltung, der erklärten letzten Lesung des Schriftstellers, schon vor ihrem Anhub die richtige Referenz erweist. Wie andernorts glauben auch hier im Saal die Alten am besten zu wissen, was gleich kommen wird.“461

Es ist – die Lesung. In dem für die Erfassung des gegenwärtigen Literaturbetriebs grundlegenden Lexikon Das BuchMarktBuch462 findet man über die „Lesung“ folgende Zeilen: „Mündlicher Vortrag eines literarischen Textes vor Publikum, entweder durch den Verfasser selbst (Autoren-, Dichterlesung) oder durch einen Schauspieler bzw. Sprecher. Weder ist bisher die Geschichte der Lesung systematisch erschlossen noch eine Terminologie für ihre Beschreibung und Analyse entwickelt worden. Entsprechend fehlen auch Maßstäbe oder Kriterien ihres Gelingens oder Misslingens, ihrer Strategie und Wirkung.“463

Grundsätzlich gilt: Die Lesung fungiert als eine Rahmenhandlung, in die sich einzelne inszenatorische Elemente integrieren lassen, bei Harry Rowohlt zum Beispiel das authentische und häretische Moment, die in der Kombination Rowohlts Mythos des Unangepassten konfirmieren, bei Judith Hermann das auf dem Gespräch beruhende, dialogisch einfühlende, verstehende Moment464 und bei Johannes Ullmaier das bunte, chaotische, laute Moment, die „möglichst bruchlose (Live-)Symbiose von Autoren-

461 Georg Klein: Letzte Lesung. In: Thomas Böhm (Hrsg.): Auf kurze Distanz. Die Autorenlesung. O-Töne, Geschichten, Ideen. Arnheim 2003, S. 7-12, 7. 462 Erhard Schütz (Hrsg.): Das BuchMarktBuch. Der Literaturbetrieb in Grundbegriffen. Reinbek bei Hamburg 2005. 463 Ebenda, S. 203. 464 Vgl. Judith Hermann: Wenn jede Lesung eine solche Frage hätte. In: Böhm, Auf kurze Distanz, S. 69-74.

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rezitationen und beatbetonter Musik“465, die Ullmaiers Image als literarischer Popstar bestärken. „Ziel der Veranstaltung muss es sein“, deklariert Böhm, „einen Rahmen zu schaffen, in dem die ‚Innere Musik’ der Autoren zum Erklingen gebracht wird.“ 466 Das Erklingenlassen, das Vorlesen eigener oder fremder Texte hat eine lange Tradition. Diese ist seit der Antike geprägt durch die Dreieinigkeit Text, Oralität und Performanz sowie den Glauben an die Unmittelbarkeit des Wortes, die in diesem Handlungsrahmen besonders zelebriert werden kann. Historisch betrachtet sind zwei Arten von Lesungen stilprägend: zum einen die Bibel-Rezitation innerhalb der Kirche und zum anderen die Lesung innerhalb der Universität. Während sich die christlichen Vortragsrituale dadurch auszeichnen, alle drei Grundeinheiten (Text, Oralität, Performanz) in gleicher Weise zum Leuchten zu bringen – den Text durch die Modulation der Stimme (Lesen und Singen) bei gleichzeitig performativen Handlungen (die Arme zum Himmel heben) –,467 zeichnet sich der akademische Vortrag durch eine puristische Reduktion der performativen Dimension aus, ohne jedoch gänzlich auf letztere zu verzichten. So stellt die universitäre Vorlesung weniger den Akt der Vermittlung als vornehmlich allein den Text und die dem Publikum angemessene mündliche Zusammenfassung wissenschaftlicher Erkenntnisse ins Zentrum des Interesses.468 Zwischen den Darstellungsvarianten des Geistlichen und des Geistigen stellt die mit der Entstehung des freien Marktes im 18. Jahrhundert bald institutionalisierte Schriftstellerlesung eine Mischform dar. Weder bekehrenden noch belehrenden Anspruch hegend, spielt so manche Lesung dennoch mit dem Gestus des Erleuchteten, ästhetisch Seelenheil Verheißenden. Bei Stuckrad-Barres Lesungen pendeln und kreisen zu Beginn etwa Lichtkegel durch den Raum, ehe die Lichter, mit einem Knall lautlich unterlegt, auf den Schriftsteller gerichtet werden, um dort zu verweilen – bis der im Raum einzig Erleuchtete spricht.469 Und auch ohne die Hoffnung auf intellektuelle Höheflüge zu verheißen, adaptiert beinahe jeder Autor den Habitus des Wissenden, dem am Ende der Lesung

465 Johannes Ullmaier: Wassereimer vs. Wasserglas. Beat und Aktion im Lesungsgenre. In:

Böhm, Auf kurze Distanz, S. 147-164, 159. 466 Thomas Böhm: Für ein literarisches Verständnis von Lesungen. In: Ders.: Auf kurze Distanz, S. 170-185, 173. 467 Zur unmittelbaren Hervorbringung des „lebendigen Geistes“ durch „tote Buchstaben“ siehe Auszüge aus der Studie: Andree, Archäologie der Medienwirkung, darin: „Der Mythos des Geheimnisses (Exodus)“, S. 156-173; „Gottunmittelbarkeit. Von Geschichten und Visionen“, S. 335-364. 468 Diese Unterschiede spiegeln sich auch im Setting: So zeichnet sich der religiöse Rahmen durch vielfarbige, vom Tageslicht erleuchteten Fenster, Blumenarrangements und einen geschmückten Altar aus, der den festlichen Akt und die Zeit des Zelebrierens betont. Der Hörsaal ist hingegen seit alters her architektonisch minimalistisch und vom Komfort spartanisch gehalten. Die Schriftstellerlesung bedient sich sowohl des religiösen als auch des universitären Rahmens: einem häufig mit Blumen geschmückten Purismus. 469 Seine Erfahrungen auf Lesereisen sowie mit Buchhandlungen, Agenten und Lesern hat Stuckrad-Barre in dem 260 Seiten umfassenden Buch Livealbum (1999) festgehalten.

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vom Publikum Fragen gestellt werden dürfen, die er mehr oder weniger weise beantwortet. Die Faszination und besondere Bedeutung der Lesung basiert auf dem ihr zugrunde liegenden Prinzip der Unmittelbarkeit. Diese Unmittelbarkeit lässt sich definieren als „Überschreitung von Medialität“ schlechthin.470 Von der Aura des Unmittelbaren und Authentischen, die im direkten Kontakt mit dem Publikum hergestellt werden kann, gibt eine Klopstock-Lesung Zeugnis: „Erst fing ich mit einigen Auserwählten an, denen gefiel’s. Die Gesellschaft wurde für mein Stübchen bald viel zu groß, nun räumte mir der Magistrat einen öffentlichen Platz ein, und die Anzahl meiner Zuhörer stieg bald auf einige Hunderte. [...] Oh, das war ein festlicher Anblick, wie alles so in feierlicher Stimmung da saß, wie die Empfindung auffuhr und in Verwunderung und Thränen ausbrach. Klopstock! Klopstock! Scholl’s von allen Lippen, wenn eine Vorlesung geendigt war.“471

Die Aura der Lesung entsteht, indem die Kommunikationssituation vorgibt, immediatus zu sein, also direkt und nicht medial vermittelt. Jacques Derridas Grammatologie472 widmet sich am Rande auch der Analyse der Unmittelbarkeit. Seine Untersuchung tastet die abendländische Tradition auf die Unterscheidung von Stimme und Schrift ab und zeigt, dass die Ablehnung der Schrift (prägnant ist die christliche Wendung: „Denn der Buchstabe (littera) tödtet/ Aber der Geist (spiritus) machet lebendig“473) immer zugleich eine Ablehnung von Medialität bedeutet. Präferenzobjekt der Unmittelbarkeit, so Derrida, sei die menschliche Stimme, die innerhalb der unaufhörlichen Fortschreibung der Medialität das Fantasma einer UnMittelbarkeit erzeugen kann. Analog zu Derrida kann Unmittelbarkeit auch innerhalb der Lesung wirksam werden. Denn bei einer Lesung handelt es sich um ein Kommunikationsphänomen, das zwar durch Sinnvermittlung geprägt ist, doch durch die Fa-

470 Vgl. Christine Zimmermann: Unmittelbarkeit. Theorien über den Ursprung der Musik und der Sprache in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1995. Und: Martin Andree: Unmittelbarkeit. Der Reiz des Erlebens. In: Ders.: Archäologie der Medienwirkung. München 2005, S. 335-391. 471 Tgahrt, Dichter lesen, Bd.1, S. 35. Vgl. auch: Wolfgang Adam/Markus Fauser (Hrsg.): Geselligkeit und Bibliothek. Lesekultur im 18. Jahrhundert. Göttingen 2005. Ebenso: Detlev Gaus: Geselligkeit und Gesellige. Bildung, Bürgertum und bildungsbürgerliche Kultur um 1800. Stuttgart 1998. Und: Günter Häntzschel et al. (Hrsg.): Zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Jahrhundertwende. Tübingen 1985. Reflexion und Niederschlag hat dieses emphatisch-erhebende Gefühl während und nach der Lesung in Goethes Werther gefunden. 472 Jacques Derrida: Grammatologie (1967/1994). Frankfurt a. M. 1994. 473 Biblia Germanica. Übers. v. Martin Luther. Faks. Nachdruck der Ausgabe Wittenberg 1545. Stuttgart 1967, 2. Korinther 3, 6.

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ce-to-Face-Situation das Gegenwärtigkeitsprinzip suggeriert und jegliche Medialität und Vermitteltheit zu überschreiten versucht.474 Johann Gottfried Herder beschreibt in seiner frühen Schrift Ueber die neuere Deutsche Litteratur (1767) die Herausforderungen des Schriftstellers bei der Herstellung von Unmittelbarkeit. Hat Herder hier noch den schriftlichen Text im Sinn, enthält seine kurze Abhandlung nebenbei eine ganze Miniaturenlehre der unmittelbaren Kommunikation: „Er soll Empfindungen ausdrücken – Empfindungen durch eine gemahlte Sprache in Büchern sind schwer, ja an sich unmöglich. Im Auge, im Antlitz, durch den Ton, durch die Zeichensprache des Körpers – so spricht die Empfindung eigentlich, und überläßt den todten Gedanken das Gebiet der toten Sprache. Nun, armer Dichter! und du sollst deine Empfindungen aufs Blatt mahlen, sie durch einen Kanal schwarzen Safts hinströmen, du sollst schreiben, daß man es fühlt, […] du sollst deine ganze lebendige Seele in todte Buchstaben hinmahlen […] – Hier sieht man, daß bei dieser Sprache der Empfindungen, […] wo ich nicht schreiben, sondern in die Seele reden muß, daß es der andre fühlt: daß hier der eigentliche Ausdruck unabtrennlich sey. Du mußt den natürlichen Ausdruck der Empfindung künstlich verstellen, wie du einen Würfel auf der Oberfläche zeichnest; du mußt den ganzen Ton deiner Empfindungen in den Perioden, in der Lenkung und Bindung der Wörter ausdrücken; du mußt ein Gemälde hinzeichnen, daß dies selbst zur Einbildung des andern ohne Beihülfe spreche, sie erfülle, und durch sie zum Herzen grabe: du mußt Einfalt und Reichthum, Stärke und Kolorit der Sprache in deiner Gewalt haben, um das durch sie zu bewürken, was du durch die Sprache des Tons und der Geberden erreichen willst. Daher rührt die Macht der Dichtkunst in jenen rohen Zeiten, wo die Seele der Dichter […] nicht schrieb, sondern sprach, […] in jenen Zeiten, wo die Seele des andern nicht las, sondern hörte, und auch selbst im Lesen zu sehen und zu hören wußte.“475

Herders Lehre der Unmittelbarkeit wird zunächst mit der medientheoretischen Prämisse unterlegt, und zwar mit der eben genannten Unterscheidung zwischen todten

474 Im Idealfall ermöglicht die Lektüre des Romans auch ohne die Inszenierung der Lesung eine solche Unmittelbarkeit und nimmt den Leser unumwunden für Werk und Person des Autors ein. Solche Lektüren der Unmittelbarkeit erhoffte sich etwa Rousseau mit seinen Bekenntnissen, darin heißt es zu Beginn: „Nachdem man mich gelesen hat […]“ – der Leser liest hier nicht etwa sein Buch, sondern Rousseaus Seele. Diese Überschreitung der Medialität, die eine Verbindung zwischen Leser und dem Autor oder dem Erzähler herstellt, oder den Text selbst zu einem unmittelbaren Gesprächspartner erhebt, kann so weit gehen, dass das Buch zum quasi menschlichen Freund und Ratgeber wird, wie es schon bei Goethe implizit war. Die Leiden des jungen Werther beginnen mit einer Aufforderung an den Leser: „Lass das Büchlein dein Freund seyn, wenn du aus Geschick oder eigner Schuld keinen nähern finden kanns.“ (Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Bd. 8: Die Leiden des jungen Werther. Die Wahlverwandtschaften. Kleine Prosa. Hrsg. v. Waltraut Wiethölter. Frankfurt a. M. 1994, S. 10.) 475 Johann Gottfried Herder: Sämmtliche Werke. 31 Bände, Bd. 1: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Eine Beilage zu den Briefen, die neuestes Literatur betreffend (1767). Hrsg. v. Bernhard Suphan. Berlin 1877, S. 394 f.

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Buchstaben und lebendigem Erscheinen, dem natürlichen Ausdruck der Empfindung, der lebendigen Sprache des Tons und den Geberden. Statt ein paar Schriftzeichen soll sich der Dichter selbst hin malen, um zu den Herzen der Rezipienten vorzudringen. Herder entwirft sodann eine kleine Philosophie der Unmittelbarkeit, die produktions- und wirkungsästhetisch als transzendentale, übergeordnete Signifikaten die Gefühle nennt – Gefühle, über die der Schriftsteller verfügen muss, um sie beim Rezipienten zu wecken. Eine Kommunikation zwischen Schriftsteller und Publikum findet dann statt, wenn es dem Schriftsteller gelingt, dem Gegenüber in die Seele zu reden, so lebendig, dass dieser jegliche Medialität vergisst. Die Unmittelbarkeit wird hier zum zentralen Kriterium der kommunikativen Wirkung. Als weitere Techniken der Unmittelbarkeit beschreibt Herder die Sinnlichkeit der Erfahrung (die Schrift wird Stimme, der Rezipient soll sehen und hören). Exponenten sind etwa die Unmittelbarkeit des Blicks, das Antlitz, die Zeichensprache des Körpers und der Ton. Wo gelänge die Kombination all dieser Elemente eindringlicher als bei einer Lesung? Das Fantasma dieser Unmittelbarkeit hängt bei Herder eng mit der im 18. Jahrhundert idealisierten Natursprache und dem natürlichen Ausdruck zusammen, bei dem Zeichen und Bedeutung durch einen Real-Nexus miteinander verbunden sind und das Gezeigte unmittelbar auf die Seele verweist – wenngleich Herder den hypostasierenden Gestus zur Herstellung einer unmittelbaren Wirkung mitdenkt (Du musst den natürlichen Ausdruck der Empfindung künstlich verstellen, wie du einen Würfel an der Oberfläche zeichnest). Die Wirkungsweise dieser unmittelbaren, seelenberührenden Sprache, die nicht mehr nur eine literarische, sondern auch eine mündlich vorgetragene sein kann, erläutert Herder in seiner Schrift Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772): „Bei Kindern und dem Volke der Sinne, bei Weibern, bei Leuten von zartem Gefühl, bei Kranken, Einsamen, Betrübten würken sie [Töne, Gebärden, Melodien] tausendmal mehr […]. Diese Worte, dieser Ton, die Wendung dieser grausenden Romanze usw. drangen in unsrer Kindheit, da wir sie das erste Mal hörten, ich weiß nicht mit welchem Heere von Nebenbegriffen des Schauders, der Furcht, der Freude in unsre Seele. Das Wort tönet, und wie eine Schar von Geistern stehen sie alle mit einmal in ihrer dunklen Majestät aus dem Grabe der Seele auf: sie verdunkeln den reinen, hellen Begriff des Wortes, der nur ohne sie gefaßt werden konnte. Das Wort ist weg und der Ton der Empfindung tönet. Dunkles Gefühl übermannet uns: der Leichtsinnige grauset und zittert – nicht über Gedanken, sondern über Silben, über Töne der Kindheit, und es war die Zauberkraft des Redners, des Dichters, uns wieder zum Kinde zu machen. Kein Bedacht, keine Überlegung, das bloße Naturgesetzt lag zum Grunde: Ton der Empfindung soll das sympathetische Geschöpf in denselben Ton versetzen.“476

Ist man bereit davon abzusehen, dass die Rezipienten einer empathischen Kommunikation idealiter Kinder und Frauen (sensualistisch betrachtet: intensiv Fühlende) sind und dass die Wirkung durch die charakterliche Disposition der Einfalt bestärkt werden kann, so offenbart Herders Schrift auch heute noch gültige Bedingungen der szenischen Unmittelbarkeit. Das [geschriebene] Wort ist weg und die Empfindung tönet.

476 Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1771). Hrsg. v. Hans Dietrich Irmscher. Stuttgart 1966, S. 15 ff. (Herv. i. O.).

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Die Übertragung der Empfindung findet hier nicht allein durch die Schrift, sondern über das gesprochene Wort statt; nicht über Gedanken, sondern über Silben, über Töne, so dass der Hörer grauset und zittert oder eben gespannt lauscht. Faszinierend an dieser Passage ist, dass es sich, abstrakt gesprochen, um eine Übertragung des Kongenialitätstheorems des 18. Jahrhunderts in die moderne Diskurslogik handelt, was die Diskurslogik mit Gefühlen auflädt. Somit wird die Lesung durch kongeniale, beidseitige Teilhabe an einem in der Situation evozierten Gefühl (durch den spezifischen Klang der mündlichen Sprache des Autors und durch die körperliche Gegenwart) einzigartig und unmittelbar. In Herders Kalligone ist die Rede von Tönen, die „Stöße, Hauche, Wellen der Rührungen und Vergnügen“ in der Seele bewirken.477 Die Hauch-Metapher transportiert dabei die Vorstellung einer unmittelbaren Berührung, die gleichsam auf die Seele überspringt und auf diese Weise die Rührung wie das klang-inspirierte Verstehen befördert. Die unmittelbare Sprache ist damit auf unterschiedliche Weise ein Ideal der Poesie, der Prosa und der öffentlichen Lesung. Pragmatisch betrachtet, ließe sich die inszenatorische Wirkungsmacht einer Lesung am besten durch ihr „Gegenteil charakterisieren, das durch falsche Betonung, fehlende Spannungsbögen und Auswahl von Textpassagen gekennzeichnet ist, deren Kontexte sich dem Publikum nicht ausreichend erschließen.“478 Goethe, der sich in seinem Aufsatz Regeln für den Schauspieler (1803) eingehend mit der Vortragskunst befasste, unterschied drei Selbstdarstellungsweisen, die während einer Lesung praktiziert werden: die nüchterne Rezitation, die psalmodierende Rezitation und die effektheischende Deklamation.479 Unter der nüchternen Rezitation verstand er einen Vortrag „ohne leidenschaftliche Tonerhebung“, exakt „zwischen der kalten ruhigen und der höchst aufgeregten Sprache“ liegend. Die psalmodierende Rezitation zeichne sich durch eine starke, stimmlich vollzogene Rhythmik aus, die aus dem Text nahezu einen Gesang mache; diese Art des Lesens eigne sich besonders für Balladen. Als Deklamation bezeichnet Goethe die „gesteigerte Recitation“, die einem dramatischen Rollenspiel gleiche. „Die Worte, welche ich ausspreche, müssen mit Energie und dem lebendigsten Ausdruck hervorgebracht werden, so daß ich jede leidenschaftliche Regung als wirklich gegenwärtig mitzuempfinden scheine.“480 Der Vortragende dürfe dabei jedoch weder ins Singen noch in Monotonie oder ins Predigen verfallen, sondern müsse den Sinn jeden Satzes nachhaltig darstellen können. Ein beliebtes Stilmittel dazu sei die Strukturierung des Gesagten durch wohlgewählte Pausen. Bei der effektheischenden Deklamation will „der Gegenstand mit noch mehr erhöhtem pathetischen Ausdruck declamirt sein“, durch eine bald lebhaft gesteigerte, bald zurückgenommene Stimmstärke, in jedem Fall mit markierten Affekten und

477 Johann Gottfried Herder: Kalligone. Hrsg. v. Heinz Begenau. Weimar 1955. 478 Thomas Böhm: Lesung. In: Schütz, Das BuchMarktBuch, S. 203-206, 205. 479 Gunter E. Grimm: „Nichts ist widerlicher als eine sogenannte Dichterlesung.“ Deutsche Autorenlesungen zwischen Marketing und Selbstpräsentation. In: Ders./Schärf, Schriftsteller-Inszenierungen, S. 141-168, 155. 480 Johann Wolfgang von Goethe: Regeln für den Schauspieler (1803). In: Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. Hrsg. v. Johann Wolfgang von Goethe/Karl Theodor Musculus/Friedrich Wilhelm Riemer. 43. Bd. Stuttgart, Tübingen 1833, S. 296 ff.

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Nuancierungen. Goethe selbst bevorzugte das Deklamieren. 481 Schon damals zählte für das akustisch-optische Worterlebnis der Grundsatz, der bis heute Gültigkeit hat: „Im Konkurrenzkampf der Autoren liegt allemal der vorne, der mehr als nur gut schreiben kann, der einen theatralischen Mehrwert hat und gut vorträgt.“ 482 Die Stimme ist das wichtigste Instrumentarium. Von Stefan George ist überliefert, er habe klanglich eher reduziert gelesen, ohne dramatische Steigerungen mit nur leicht singender Stimme; Höhen und Tiefen seiner Stimme habe er nur in ganz seltenen Abständen gewechselt und den Ton lange gehalten, fast wie eine gesungene Note und ähnlich dem Responsorium in der katholischen Liturgie. Dadurch entstand der Eindruck einer ein-tönigen Litanei, die mehr das Metrum als die rhythmische Bewegung des Verses berücksichtigte.483 Ganz anders Else Lasker-Schüler, die pathetischrhapsodenhaft, singend und ekstatisch gelesen haben soll: „Sie untermalte sie [ihre Gedichte] mit einer eigenen Geräuschkulisse […], mit erstaunlicher Unmittelbarkeit und Direktheit. Sie untermalte ihre Gedichte mit Summgeräuschen oder Klangwirkungen […]. Sie […] klingelte, summte dann ihr Aha ahha aha ha, klingelte dazwischen, dehnte diese Töne und faszinierte gleichzeitig mit der Großartigkeit ihrer Sprache.“484

Paul Celan habe hingegen verhalten, fast zögerlich gelesen: „Eine Hand hielt das Buch oder Manuskript, die andere stützte den Kopf. Bisweilen schaute der Lesende auf und verstand einzelne Verse als Anrede an die Lauschenden. Sonst keine Bewegung.“485 Die heute übliche, weitgehend besonnene und nüchterne Stimmführung hat früh Gottfried Benn praktiziert. Benns Stimme „war leise und ruhig, eindringlich und angenehm, weder zu hoch, noch zu tief, er sprach nie eilig, nicht gepresst, nicht forciert, eher undramatisch, etwas unterkühlt und distanziert, nie jedoch gleichgültig und unbeteiligt.“486 In der Gegenwart gibt es, so Gunter E. Grimm, im Grunde nur zwei Arten des Vortrags bei einer Lesung ergo zwei Typen der Vortragenden: die unbewegten Vorleser und die innerlich wie äußerlich bewegten Vorleser. Die unbewegten Vorleser zielten einzig auf die Sinnvermittlung ab; die bewegten Vorleser wiederum bringen den Inhalt auch durch die Sprechweise zum Schwingen und Klingen.487 Ein idealtypischer Leseabend, initiiert von einem Verlag oder einer Buchhandlung zu Marketingzwecken, gliedert sich heute in der Regel in fünf Teile: die Anmoderation, die eigentliche Lesung, das Publikumsgespräch, die Signierstunde

481 Goethe, Regeln für den Schauspieler, S. 296 ff. 482 Grimm, „Nichts ist widerlicher als eine Dichterlesung“, S. 49. 483 Vgl. Reinhard Tgahrt (Hrsg.): Dichter lesen. 3 Bde., Bd. 2. Marbach 1989, 327 ff. Und: Irmgard Weithase: Zur Geschichte der gesprochenen deutschen Sprache. 2 Bände, Bd. 1, Tübingen 1961, S. 508. 484 Vgl. Tgahrt, Dichter lesen, Bd. 3, S.349. 485 John Felstiner: Paul Celan. Eine Biographie. München 1997, S. 329. 486 Thilo Koch: Gottfried Benn und der Rundfunk. In: Gottfried Benn. Das Hörwerk (19281956). Hrsg. v. Robert Galitz et al. Frankfurt a. M. 2004, S. 57 f. 487 Grimm, „Nichts ist widerlicher als eine Dichterlesung“, S. 159.

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und das abschließende, gesellige, informelle Beisammensein.488 Diese fünf Teilelemente der Lesung lassen sich in unterschiedlicher Weise für die Selbstdarstellung des Schriftstellers nutzen. Für den Erfolg einer Lesung in seiner Gesamtheit, aber auch der einzelnen Teilelemente bestimmt Stephan Porombka fünf Parameter: die Einzigartigkeit, die Episodenhaftigkeit, die Gemeinschaftlichkeit und die Interaktion.489 Schriftsteller, die den Schwerpunkt ihrer Lesung auf das Teilelement des Publikumsgesprächs legen und dabei besonders die Einzigartigkeit, Gemeinschaftlichkeit und Interaktion betonen wollen, können es beispielsweise wie Judith Hermann halten, von der man weiß, dass sie die Frage, wie autobiografisch der soeben vorgelesene Text sei, mit der Antwort pariert, dass jede Geschichte, die sie schreibt, auf einem besonderen Satz basiert, den jemand zu ihr oder einem anderen in Hörweite gesagt hat, oder auf einem besonderen Augenblick, den sie erlebt hat. Daraufhin entspinne sich regelmäßig im Gespräch mit der Autorin ein Ratespiel, in dem die Zuhörer, die zur Steigerung des familiären Intimitätsgefühls von der Autorin geduzt werden, versuchen zu erfassen, welcher der Kernsatz und der Ausgangsgedanke des Textes sein könnte. „Es gab eine Lesung“, erinnert sich Judith Hermann im Gespräch mit Böhm, „da passierte, was immer passierte: Jemand fragte, was denn in der Geschichte, die ich gerade gelesen hatte, der Ausgangssatz sei. Ich antworte, dass ich den nicht verrate“, woraufhin das Publikum anfing, zu spekulieren und probehalber Sätze laut zu formulieren. „In einer umgekehrten Logik war das immer der Satz für den jeweiligen Leser. […] Ich dachte, dass das der größtmögliche Kontakt ist, den man schließen kann in diesen zwei Stunden.“490 Über die Bedeutung der Signierstunde und die Wertigkeit der Unterschrift des Schriftstellers – als Souvenir für den Leser – schrieb Marie Luise Kaschnitz kritisch: „Habe ich wirklich nichts im Gedächtnis behalten als die Grausamkeit des Publikums, das mich einmal, als ich, einer Nervenentzündung im linken Arm wegen, nicht signieren wollte, zwang, doch zu signieren, sich in der kalten Zugluft der Vorhalle gegen den ohnehin wackligen Tisch warf, eben noch dankbar, ja ergriffener Zuhörer, aber jetzt unerbittlich; aufzustehen und wegzugehen, ich hätte es nicht gewagt.“491

Sich in das Publikum einfühlend betont Richard Powers wiederum die Relevanz der Signierstunde als wesentliches Element der Lesung:

488 Christoph Bartmann: Dicht am Dichter. Die Lesung als Ritual und Routine. In: Anja HillZenk/Karin Sonsa (Hrsg.): To read or not to read. Von Leseerlebnissen und Leseerfahrungen, Leseförderung und Lesemarketing. Leselust und Lesefrust. München 2004, S. 120-129, 125. 489 Vgl. Stephan Porombka: Vom Event zum Non-Event und zurück. Über den notwendigen Zusammenhang von Literatur und Marketing. In: Böhm, Auf kurze Distanz, S. 125-139, 132. Explizit bezieht sich Porombka auf: Werner Kroeber-Riel (Hrsg.): Marketing. München 1998. Und: Oliver Nickel (Hrsg.): Eventmarketing. Grundlagen und Erfolgsbeispiele. München 1998. Sowie: Peter Weinberg: Erlebnismarketing. München 1992 490 Judith Hermann, in: Böhm, Auf kurze Distanz, S. 69 f. 491 Marie Luise Kaschnitz, in: Böhm, Auf kurze Distanz, S. 76.

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„Wenn jemand mich bittet, ihm eine Widmung in ein Exemplar des Buches zu schreiben, dann spüre ich die Sehnsucht dahinter, die Sehnsucht des einsamen Lesers, dem persönlichen Akt des Lesens ein wenig Gemeinsamkeit zu geben. Es ist der Drang, der uns überhaupt zum Lesen bringt: Zu hören, wie die Geschichte der Welt sich anhört, wenn ein anderer sie erzählt. Ob Aura oder Banalität, ob Bestätigung oder Überraschung, Befriedigung oder Enttäuschung: Wir begegnen einem anderen schöpferischen Ich und damit einer Geschichte, auf die wir selbst keinen Einfluss haben. Und das muss doch, alles in allem, eine gute Sache sein. Das unterschreibe ich.“492

Der selbstdarstellerische Spielraum während der Signierstunde am Ende einer Lesung ist zumeist zeitlich begrenzt, größer ist er hingegen während der Zeit des informellen Beisammenseins. Das informelle Beisammensein gibt dem Autor die Möglichkeit, seine Zugehörigkeit zum literarischen Feld zu demonstrieren, zum Beispiel durch die Stilisierung der Sublimationsuntauglichkeit oder aber indem er sich bescheiden, doch gleichwohl authentisch dem Schicksal ergibt, wie etwa Max Frisch, der von einer Lesung das Folgende berichtete: „Ein wenig Lampenfieber jedes Mal. Beim Lesen vergesse ich Wort für Wort, was ich lese. Nachher ein kaltes Buffet; ich antworte auf dieselben Fragen nicht immer dasselbe. So überzeugend finde ich keine meiner Antworten. Ich blicke einer Dame, während sie spricht, auf ihre nahen guten Zähne, bekomme ein Glas in die Hand und schwitze. Das ist nicht mein Beruf, denke ich, aber da stehe ich – […]“493

Das Potenzial der spezifischen Handlungssituation der Lesung für die Generierung und Verfestigung des öffentlichen Schriftsteller-Images durch beispielhaftes Sprechen und körperliche Präsenz berührt dabei stets Elemente des Schauspielerischen. An die Stelle der chiffrierten, gleichsam körperlosen Überlieferung in Buchstaben auf weißem Papier tritt die Vermittlung durch die konkrete Physis des Autors. „Jede Lesung ist eine Verwandlung“, meint John von Düffel: „In dem Moment, da der Autor das Podium betritt, wird er zur Figur. Es stellen sich auf einmal Fragen der Glaubwürdigkeit und der Sympathie und Antipathie jenseits des Textes. („Was weiß denn dieser junge Bursche schon von Tod und Trauer?“ – „Also, das Buch mochte ich ja sehr, aber seine Art ist mir irgendwie unsympathisch.“) Es entsteht ein Primat der Person über die Fiktion.“494

Dabei gibt von Düffel zu bedenken, dass es hervorragende Autoren gäbe, die als leiblich-erzählerisches Medium ihrer Texte so wenig taugen, dass sie selbst die schillerndsten Geschichten ruinierten. Und es gäbe durchaus mäßige Autoren, die als Performer und Schauspieler derart begabt seien, dass sie auch einen schwachen Text auf Lesungen zu ungeahnter Wirkung brächten. Um diese zu erzielen, bedürfe es ledig-

492 Richard Powers, in: Böhm, Auf kurze Distanz, S. 77. 493 Max Frisch: Montauk. In: Max Frisch. Gesammelte Werke in zeitlicher Folge 1931-1985. Bd. 6: 1968-1975. Hrsg. v. Hans Mayer. Frankfurt a. M. 1976, S. 655. 494 John von Düffel: Der Autor als Medium. In: Böhm, Auf kurze Distanz, S. 49-56, ff.

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lich der Beachtung eines Leitsatzes, den Harry Rowohlt kolportiert („Dezenz ist Schwäche“495) und wie folgt auslegt: „Die Aufmerksamkeitsspanne von Erwachsenen ist genauso lang wie die bei Kindern: maximal zweieinhalb bis drei Minuten. Und deshalb muss immer irgendwas passieren. Man muss das Publikum irgendwie erschrecken. Ich hatte eine Zeitlang eine Reiseflasche Paddy, die aussah wie aus Glas, aber aus Plastik war. Und wenn gar nichts mehr half, hab ich die umgestoßen, so dass das Publikum aufwachte und dann doppelt aufwachte, weil es nicht klirrte. Oder neulich im Roten Salon der Volksbühne […]. Am Tag vorher hatte mir der Zahnarzt ein Provisorium ins Maul gebaut und ich hab das Publikum darauf hingewiesen, dass mir jederzeit dieses Provisorium aus dem Kopf fallen kann. Damit war ich natürlich der ungeteilten Aufmerksamkeit sicher.“496

Kabarettistische Momente, wie sie im 20. Jahrhundert erstmals Karl Kraus in seinen Lesungen installierte, und musikalische, auch theatralische Momente, wie sie die Dadaisten und Avantgardisten in ihren Aktionslesungen etablierten, gehören heute zum festen Repertoire der Schriftstellerlesung. Und da die Lesung genau genommen und „jenseits ihrer Säulenheiligen eine recht billige Kulturtechnik“ 497 sei, wie Monika Rinck bemerkt, wird diese Kulturtechnik zum einen begünstigt durch die Auswahl des Textes, die Oralität und die Performanz, zum anderen durch alle Formen der materiellen Erscheinung, nicht zuletzt durch die Räumlichkeiten, in denen die Lesung stattfindet. Die Schriftstellerlesung bedient sich dabei in der Regel eines schlichten Raumarrangements (eine Bühne, ein Tisch, ein Stuhl, ein Wasserglas, gegenüber Sitzreihen), um dieses allein intellektuell, ästhetisch durch Worte und Geschichten, vereinzelt auch durch Taten zu füllen. Seit den 1990er-Jahren bemühen sich Literaten, der Lesung einen zusätzlichen Sinn zu verleihen, indem sie ungewöhnliche Orte für ihre Lesung auswählen und die Räume so neu auratisieren. So dienen ihnen Blumenläden, Waschsalons und brachliegende Industrieanlagen als Bühne und Kulisse. Bei der Suche nach „interessanten Locations“ für eine Lesung sei zu beachten, dass Orte, die zunächst mit Poesie zu tun haben, mit dem Subtext der Literatur gekoppelt werden können, empfiehlt Monika Rinck. Die individuelle, über den Neuigkeits- und Unterhaltungswert des jeweiligen Lese-Events hinausgehende und imagestärkende Qualität einer Lesung wiederum definiert sich über die harmonische Integration des performativen Lese-Aktes in das Gesamtbild des bereits existierenden oder sich etablierenden Schriftstellermythos. So kann es für einen sich im häretischen Sinne jung und wild stilisierenden Neuling auf dem literarischen Markt günstig sein, ähnlich wie für den resignierten ExIntellektuellen, Lyrik ins Leichenhaus zu bringen, fantastische Prosa nachts im Fahrstuhl zu lesen oder schnelle Texte in der U-Bahn rattern zu lassen, während die Dis-

495 George Moorse zit. n. Harry Rowohlt. In: Böhm, Auf kurze Distanz, S. 168. 496 Harry Rowohlt: Dezenz ist Schwäche. Harry Rowohlt im Gespräch mit Thomas Böhm. In: Böhm, Auf kurze Distanz, S. 165-169, 169. 497 Monika Rinck: Oft geht es eine Treppe hinab, seltener auch eine Treppe herauf. In: Böhm, Auf kurze Distanz, S. 78-92, 78.

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tinktion eines neo-konservativen Romantikers darin bestehen kann, die Lesung traditionell zu gestalten und zur Pointierung minimal zu überzeichnen. Nicht für den Metzger-Club, sondern für die spirituell-sinnliche Variante entschied sich beispielsweise Judith Hermann. Madonnenhaft aus ihrem Erzählband Nichts als Gespenster (2003) lesend, stilisierte die junge Schriftstellerin die Veranstaltung zu einer den Prinzipien der Versenkung und der Kontemplation folgenden Andacht: „Gelesen wurde in den Sophiensälen in der Berliner Mitte, wo die gemauerten Wände so kalt und nackt sind und der Putz so malerisch von der Decke bröckelt, als seien dort jene Gespenster zuhause, von denen Hermann erzählt.“ 498 Um eine Lesung zu planen und im Vorfeld, aber auch aus der Retrospektive, das Gelingen oder Misslingen genau zu bestimmen, sei vorher das Imagekonzept des Autors zu definieren, um dann ein mögliches Erlebniskonzept assoziativ zu generieren, so Porombka; dazu gehöre eine Beschreibung der Zielgruppe sowie eine dezidierte Konkurrenzanalyse. Darauf folge eine „Eingrenzung des Möglichkeitsfeldes, Operationalisierung, Dramatisierung und Visualisierung der Konzepte, systematische Überprüfung, Beurteilung und Auswahl, Test verbleibender Alternativen, Ableitung eines Schlüsselbildes für die Umsetzung.“ Und dann: „Locationscouting, […] Präsentation, Umsetzung.“ Mit dieser Eventhermeneutik ließe sich zum Beispiel der erstaunliche Erfolg der Poetry-Slams erklären, bei denen zumeist junge Autoren auf der Bühne mit einer drei- bis zehnminütigen Textperformance gegeneinander antreten, um das Publikum über Sieg und Niederlage entscheiden zu lassen. 499

Der Poetry-Slam „Als Slammer anzutreten, heißt, […] ein Stück Literatur als Soundclip zu inszenieren. In erster Linie wird dabei nicht auf literarische Qualität geachtet. Auch schlechte Texte können gewinnen, wenn sie nur gut in Szene gesetzt werden. Gedruckt will man sie deshalb nicht sehen. Aber hören will man sie gerne. Nicht nur live, sondern auch auf CD. Neuestes Produkt der Slam-Szene ist der Poetry-Clip, ein Videoformat, in dem der Autor mit seinem Text so ins Bild gesetzt wird, dass man sich […] an MTV und Viva erinnert fühlt. […] In diesem Sinn erreichen diese Veranstaltungen – durch die konsequente Übertragung etablierter Eventregeln aus einem literaturfremden Bereich – auf geradezu wunderbare Weise ein Zielpublikum, dass man für den Konsum von Literatur schon längst verloren geglaubt hat.“500

498 Porombka, Vom Event zum Non-Event und zurück. In: Böhm, Auf kurze Distanz, S. 135 f. 499 Ein Poetry-Slam verläuft dabei wie eine Casting-Show, bei der sich mehrere Kandidaten dem Urteil Dritter, meist einer Jury stellen. Die Motive, die Kandidaten wie auch die Wertungsrichter dazu bewegen, an einem solchen Event teilzunehmen, und den Erfolg dieses Formates analysiert Jo Reichertz ausführlich in seinem Aufsatz „…denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Von James Dean zu Alexander Klaws. In: Jo Reichertz: Die Macht der Worte und der Medien. Wiesbaden 2007, S. 93-97. 500 Porombka, Vom Event zum Non-Event und zurück. In: Böhm, Auf kurze Distanz, S. 134 f.

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Die Besonderheit dieser spezifischen Form der Lesung liegt in der „ReizIntensivierung, Vereinfachung und Zeitverkürzung.“ 501 Stärker noch als bei klassischen Autorenlesungen steht während eines Slams neben dem vorgetragenen Text die Selbstdarstellung im Vordergrund. Dies hat zwei Gründen: Erstens hat der sogenannte Slammer in der Regel noch keinen Text in einem Verlag publiziert und muss somit allein durch die Darbietung voraussetzungslos überzeugen; zweitens trägt er seinen Text nicht lesend, sondern in freier Performance vor. Durch den Einsatz des ganzen Körpers, nicht bloß der Stimme, findet eine intensive Personalisierung statt. Die Rezeption folgt zudem den Prinzipien des telematischen Sehens: Die Akteure werden von dem Publikum als Rollenträger wahrgenommen. Ambivalenzen treten zurück zugunsten einer Schematisierung der Rolle, die eine Identifikation oder Abgrenzung durch den Zuschauer innerhalb kürzester Zeit möglich macht. In der inszenierten Selbstkonzeption geht es dann vor allem darum, mittels der kognitiven und körperbezogenen Darstellung die eigene kreative Facette der Persönlichkeit samt „ihren Wünschen und Fantasien, die in der sozialen Sphäre der Lebenswelt zirkulieren“502 im empathisch-poetischen Umfeld zur Anschauung zu bringen. Wichtiges Kriterium für einen erfolgreichen Auftritt sei in diesem Kontext ein eindeutig und schnell dekodierbares Alleinstellungsmerkmal sowie das Moment der Glaubwürdigkeit, das nicht selten durch die Aufhebung der Trennung von Erzähler und Autor zustande kommt. Zur Veranschaulichung des Inszenierungsprinzips eines Poetry-Slams seien nachfolgend zwei kurze Auftritte herausgegriffen: der Auftritt der Finalistin Pauline Füg beim Poetry Slam im Juni 2006 in Rosenau, bei dem sie den Text sprech-akt inszenierte, und der Auftritt von Michael Schönen, der ebenfalls beim Rosenau-Slam seinen Text Als Gott mich schuf vortrug, mit dem er den Poetry-Slam gewann.503 Michael Schönen, ein junger Mann beleibter Statur, so protokolliert Stephan Ditschke den Auftritt, kletterte betont ungelenk und die Anstrengung im Mienenspiel erkennen lassend auf die Bühne. Bereits das Erklettern der Bühne animiert das Publikum zu Gelächter und weckt erste Erwartungen an den Poetry-Vortrag. Das Publikum „schreibt Michael Schönen bereits vor dem Vortrag des ersten Textes zu, eine lustige Person zu sein, wodurch der Ausgangspunkt zur Konstruktion einer Akteursfigur gegeben ist“504, analysiert Ditschke die Szenerie. Schönen erhebt die Stimme und beginnt: „Ich bin dick, aber nett!“

501 Gerhard Schulze: Kulissen des Glücks. Streifzüge durch die Eventkultur. Frankfurt a. M. 2000, S. 64. 502 Lothar Mikos: Film- und Fernsehanalyse. Konstanz 2008, S. 176. 503 Beide im Nachfolgenden ausführlich zitierte Beispielanalysen basieren auf der Beschreibung von Stephan Ditschke: „Ich sei dichter, sagen sie.“ Selbstinszenierung beim PoetrySlam. In: Grimm/Schärf, Schriftsteller-Inszenierungen, S. 169-184. 504 Ditschke, „Ich sei dichter, sagen sie.“ In: Grimm/Schärf, Schriftsteller-Inszenierungen, S. 174.

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Damit gelingt es Schönen, thematisch an seine Kletter-Performance anzuschließen. Indem er die beiden Adjektive dick und nett mit der Konjunktion aber verbindet, die ohne die Angabe von Gründen impliziert, dass die beiden auserwählten Eigenschaften einander ausschlössen, was sodann einen auf Inkongruenz beruhenden komischen Effekt erzeugt, knüpft Schönen an geweckte Erwartungen eines in erster Linie unterhaltsamen Vortrags an. Die wenigen Attribute der mythologisch-stereotypen „Akteursfigur des netten und lustigen Dicken“ werden somit früh untermauert. Schönen weiter: „Und für’s Dicksein kann ich noch nicht einmal was, ich bin so gemacht worden. Um das zu illustrieren, hab ich ‘n Gedicht mitgebracht. Das trägt den Titel Als Gott mich schuf.“

Durch die Kombination seines gezeigten Verhaltens und seiner Worte kann der Zuschauer darauf schließen, dass sich auch der kurz darauf dargebotene Text auf Schönen selbst bezieht; Person und Text bilden somit für den Zuschauer einen kohärenten Zusammenhang: „Als Gott mich schuf Gott hinkte mächtig hinterher: ein Tag noch blieb ihm und nicht mehr, wollt er sich an den Zeitplan halten, noch rasch die Menschen zu gestalten. Und auch wenn Gott unfehlbar ist: er baute in der Hektik Mist. So blieben, als der Tag vorbei, noch ein Gehirn – und Fleisch für drei.“

Weniger die lyrische Qualität seines Nonsens-Gedichts habe das Publikum überzeugt, als vielmehr der ganzheitliche, auf ein Aussageziel hin gestaltete und von (Selbst-)Ironie getragene Auftritt. Diese Harmonie des Handelns und Artikulierens bewirkt, dass seine Selbstdarstellung ungekünstelt und Schönen authentisch wirke, zwei Eigenschaften, die seinen Erfolg befördern. Ähnlich verhält es sich bei dem Poetry-Slam-Auftritt von Pauline Füg. Auch wenn Füg ihre Vorrede nicht zur Konstruktion einer Akteursfigur nutzte, die das Publikum anschließend in den Texten wiederfinden konnte, so verschränkte sie ihren Text dennoch auf enge Weise mit ihrem Auftritt. Bereits zu Beginn des Vortrags identifiziert sich Pauline Füg mit der Erzählinstanz ihres Textes, indem sie sich durch den Kontext als Referenzobjekt des Deiktikums ich deklariert: „ich will jedes mal neu sein das mikrofon sei mein transmitter hier kommt mein botenstoff für euch […] meine damen und herren es besteht kein grund zur beruhigung das ist in wirklichkeit kein text und deswegen brauch ich auch kein tipp-ex mehr ich hab einmal alles markiert und dann auf entfernen gedrückt

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und das hier blieb übrig das ist in wirklichkeit kein text ich stehe ganz nackt vor euch lass meine hüllen fallen bin euer sprech-akt“

Die gelungene Selbstinszenierung beruht auf Fügs Fähigkeit, Empathie zu evozieren, indem sie das Gefühl des Selbstzweifels poetisch entwirft (das ist in wirklichkeit kein text, ich hab alles markiert und dann auf entfernen gedrückt). Darüber hinaus erzielt sie mit ihrer gezeigten Aufrichtigkeit einen Sympathie-Effekt. Dieser kommt durch die Selbstoffenbarung zustande (ich will jedes mal neu sein, lass meine hüllen fallen) und durch die Übertragung der Verantwortung ihres Gefühlshaushaltes an die Zuschauer (ich stehe ganz nackt vor euch, bin euer sprech-akt), die dadurch in eine Machtposition versetzt werden. Über die direkte Ansprache wird eine Verbindung zwischen Füg und den Zuschauern geschaffen, die nicht als gegeben vorausgesetzt werden kann. Indem Füg sich innerhalb ihres Textes explizit und förmlich an die damen und herren vor sich wendet, zementiert sie ihre Distinktion, die auf der Anpassungsverweigerung der sonst üblichen informellen Konventionen eines Slams beruht, und appelliert zugleich an höfliche Umgangsformen. Die Zuhörer werden dadurch in die Lage versetzt, auf das Wohlbefinden der Slammerin einwirken zu können. Wenn die Zuhörer sich in dieser Macht-Konstellation ernst nehmen, werden sie auch die Autorin ernst nehmen.505 Mit ihrer ruhigen und ernsten Stimme verleiht Füg dem Gesagten Relevanz. Weil sie das inszenatorische Stilmittel der Emotionalität nutzt, indem sie sprachliche Bilder und deskriptive Emotionswörter verwendet sowie eine Verknüpfung derselben mit dem kontextuell aufgeladenen, zweifach konnotierten Pronomen ich herstellt (durch die Entsprechung der fiktionalisierten, im mündlichen Vortrag beschriebenen Situation mit der faktisch gegebenen Situation), gelingt es Füg, dass ihre geschilderten Gefühle als authentisch interpretiert und damit zur Identifikationsgrundlage werden. Kurzum: Das Identifikationsangebot ist ein wesentlicher Erfolgsgarant des Poetry-Slams, ein anderer ist die persönliche Präsenz. Wie in keiner anderen öffentlichen Situation auf dem literarischen Feld lebt der Poetry-Slam (fast einzig) von der Kunst der Selbstdarstellung.

W EBSITE , T WITTER , B LOGS & C O . Um Aufmerksamkeit zu erzeugen, zu binden und das Interesse des Publikums zu lenken, sind Social Media Kanäle wie Facebook, Twitter und Blogs nahezu unumgänglich. Einer der wichtigsten Social Media Kanale für die Selbstdarstellung ist die Website eines Autors, weil er sich auf dieser umfassend, individuell und nach den eignen Regeln und Ideen, weitgehend losgelöst von fremden Kategorien, darstellen

505 Vgl. dazu auch: Sabine Winko: Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900. Berlin 2003, 105 f.

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kann. Eine Website ist bekanntlich eine „Standort-Präsenz innerhalb des WorldWide-Web.“ Genauer: „Es ist das komplette Angebot eines Unternehmens, einer Organisation, einer Verwaltung, einer Universität […] oder einer Privatperson, die sich hinter dem Domainnamen verbirgt, wobei eine Website in aller Regel aus vielen, in aller Regel hierarchisch angeordneten Webseiten besteht. Eine davon ist die Homepage, von der aus sich die Webseiten-Hierarchie eröffnet.“506

Wird der Begriff der Homepage alltagssprachlich als Synonym für den Begriff der Website verwendet, so bezeichnet die Homepage korrekt „die Einstiegsseite oder Startseite einer Website.“ Eine Homepage ist „eine komplette Bildschirmseite, von der aus über Rubriken, Unterpunkte oder über textliche und grafische Links der Zugriff auf die folgenden Seiten erfolgt.“507 Links wiederum sind die Kurzform für Hyperlinks, die als Querverbindungen in virtuellen Textdokumenten zu anderen Dokumenten führen. Ein solcher Link kann ein interner Link sein, der mit einem Dokument oder einer Seite der eigenen Website verbunden ist, oder es kann ein externer Link sein, der zu einer fremden Website führt, zum Beispiel zu der Website eines Verlages, in dem der Autor seine Bücher publiziert. Darüber hinaus, und auch das ist wichtig für die Terminologie der anschließenden Interpretation, unterscheidet man zwischen Surface-Links, die mit der obersten Ebene einer anderen Website, der Homepage, verknüpft sind, und den Deep-Links, die direkt zu einer tieferen Ebene einer Website, zu einer spezifischen Unterseite führen. Von einem reziproken Link spricht man, wenn Links in beide Richtungen zwischen zwei Webseiten geschaltet sind. „Homepages von Schriftstellern haben Hochkonjunktur“, stellt der Schriftsteller Norbert Kron nüchtern fest. Dort wird getwittert (die neuesten Nachrichten aus dem persönlichen Leben des Schreibers mehrmals am Tag in kurzen Sätzen, maximal 140 Zeichen, „zwitschernd“ verbreitet), gebloggt (längere tagebuchartige Textblöcke von Gedanken in regelmäßigem Turnus der Mitwelt anvertraut) und in Foren gechattet (dialogisch im Wechsel ein Ereignis kommentiert). Unter deutschen Autoren habe sich die Erkenntnis eingestellt, „dass man als Schriftsteller eine Art Kleinunternehmer auf dem Markt der Kreativität ist. Und so, wie jeder Bäcker oder Klempner heute seinen Internet-Auftritt hat, muss auch der Text-Handwerker seine Visitenkarte in der virtuellen Welt abgeben. […] Homepages sind die virtuelle PR-Abteilung des Schriftstellers und für Informationen und Werbung in biografischer Sache zuständig.“508 „So ist es mittlerweile nicht nur bei Verlagen üblich, eine gut gestaltete Homepage [gemeint ist eine Website] ins Netz zu stellen, die den Nutzern die Möglichkeit geben soll, relativ eigenständig durch die Angebotsseiten zu klicken und dabei auch Auszüge aus neuen Büchern,

506 O. A.: IT-Wissen. Das große Online-Lexikon für Informationstechnologie. OnlinePublikation: http://www.itwissen.info (Stand: Juli 2010). 507 Ebenda. 508 Norbert Kron: www.schriftsteller.de – Der Blick durch das virtuelle Schlüsselloch. In: Die Welt, 08.05.2003.

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Sammlungen von Rezensionen, Interviews mit den Autoren (zuweilen sogar im Audio- oder Video-Format) abrufen zu können. Die Autoren selbst haben die Möglichkeit entdeckt, sich und ihr Werk im Netz zu präsentieren. Dabei gehen sie über die bloße Auflistung der Texte und Projekte hinaus und verwandeln die Homepage [die Website], das eigene Werk und die eigene Biographie selbst in ein fortlaufendes Erzählprojekt, das dem Leser einen Eindruck vom Selbstverständnis des jeweiligen Autors geben soll. Entsprechend dienen diese Homepages [Websites] besonders bei etablierten Autoren nicht etwa dem Direktverkauf von Büchern, sondern der Etablierung und Stabilisierung des jeweiligen Images.“509

In seinem Aufsatz Das Individuum im öffentlichen Austausch (1971) arbeitet Erving Goffman den Begriff Territorium heraus. Bedachte dieser Begriff zwar noch nicht die Website als kleines, persönliches Territorium im weltweiten Datennetz, so berührt der Terminus doch genau die dort entstandenen Möglichkeiten und Grenzen: „Jedes Individuum beansprucht einen Raum, über den es frei verfügen will“, so Goffman. „Territorien sind symbolische Räume zur Erzeugung und Sicherung der eigenen Identität. Sie dienen dem Auftritt des Individuums. […] Territorien sollen Distanz und Nähe herstellen.“510 In seinem nur wenige Jahre darauf erschienenen umfangreichen Werk Rahmenanalyse (1974) überführt und erweitert Goffman seine Idee des Territoriums in den Begriff des Rahmens. Dieser wäre vereinfachend zu umschreiben als typisierbarer Handlungszusammenhang, der den Akteuren Aufschluss über zu erwartende Kommunikationen gibt. Rahmen zeigen zunächst die Grenzen des Kontextes an, die das Gelingen der Interaktion maßgeblich bestimmen. Rahmen legen also die Bedeutungsgrenzen, aber auch die Erwartungen fest – und mehr noch: Sie tönen die Lesart des Gerahmten nicht nur graduell ab, sondern sie bestimmen es entscheidend mit. Rahmen organisieren schlichtweg die darin zu machenden Erfahrungen. Als einen solchen Rahmen verstehen auch die Kommunikationswissenschaftler Marth und Reichertz die Website: „Die Homepage […] ist ein historisch neuer Rahmen, die ihren Ort und ihre genaue Bedeutung noch sucht. […] Bezogen auf die Funktion siedelt die Homepage gleich in der Nähe von zwei vertrauten Rahmen: So liegt sie zum einen (mal mehr, mal weniger) in der Nähe der Werbeanzeige, da sie nicht allein den Eigennamen von etwas nennt, sondern versucht, für das hinter ihr Stehende, also den beworbenen Gegenstand, einzunehmen.“511

Damit unterscheidet sich die Gestaltung einer Homepage und Website als Strategie der Selbstinszenierung maßgeblich von anderen Praktiken, da für die persönliche Internetpräsenz eine gezielte Planung, rationale Ideenfindung und konsequente Umsetzung sowie schrittweise, auch nachträgliche Modifizierung notwendig ist. Zum anderen berührt die Homepage in gewisser Weise das Inhaltsverzeichnis: Sie nennt die einzelnen Kapitel und zeigt den Weg dorthin. Im Hinblick auf ihre Topologie ist die

509 Stephan Porombka: Internet. In: Schütz, Das BuchMarktBuch, S. 147-152, 150 f. 510 Heinz Abels: Interaktion, Identität, Präsentation. Wiesbaden 1997, S. 157. 511 Jo Reichertz/Nadine Marth: Abschied vom Glauben an die Allmacht der Rationalität? In: Jo Reichertz: Die Macht der Worte und der Medien. Wiesbaden 2007, S. 243-269, 245 (Herv. i. O.).

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Homepage mit dem Buchcover verwandt. Sie ist die oberste und öffentliche Frontseite eines tief, wenn auch nicht unbedingt linear gestaffelten und strategisch gestalteten Bedeutungsgefüges.512 Weil der Schriftsteller das Geflecht von Erwartungen und Annahmen kenne, die sich auf dem literarischen Feld durch die dort herrschenden Diskurse ergeben, und weil er wisse oder doch zu wissen glaube, was eine Handlung auf dem literarischen Feld nach sich zieht, inszeniert er seine Website so, wie er es tut.513 Nicht alle Autoren nehmen jedoch die Möglichkeit der Selbstvermarktung via Website wahr. Weder Brigitte Kronauer noch Herta Müller oder Christa Wolf, weder Günter Grass noch Martin Walser oder Botho Strauß, weder Maxim Biller noch Rainald Goetz haben eine eigene Website. Andere hingegen sind in der Planung oder „under construction“.

Abbildung 53: Homepage von Joachim Bessing (2008) So verkündet Joachim Bessing ebenso avantgardistisch wie verheißungsvoll eine baldige Präsentation seiner Person im Netz mit den folgenden Worten und visuellen Eindrücken an: „Hier kommt was Neues auf Sie zu.“ Und auf den Kopf gestellt: der Satz auf Englisch, für die Fans von Bessing im Ausland: „Something great is coming up very soon“, ehe Bessing zunächst flüchtig, danach kryptisch und zuletzt beinahe in Blindenschrift sein Vorhaben qua Unterschrift unterzeichnet. Auch die Homepage von Peter Handke lässt baldige Informationen erhoffen:

512 Jo Reichertz/Nadine Marth: Abschied vom Glauben an die Allmacht der Rationalität? In: Jo Reichertz: Die Macht der Worte und der Medien. Wiesbaden 2007, S. 243-269, S. 245. (Herv. i. O.). 513 Ebenda, S. 245 ff.

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Abbildung 54: Homepage von Peter Handke (2008) Wie ein Pfeil oder Gottes Fingerzeig – man mag sich an Michelangelos Fresko erinnert fühlen, in dem der Mensch (hier die Hände Handkes) von der Berührung Gottes nur eine Armlänge entfernt ist – ragt ein Ast des links im Bild stilisierten Baumes aus dem Himmel und lenkt den Blick des Betrachters zurück auf den schattenhaft dargestellten Schriftsteller. Der Romantiker Handke steht am Fuße des Baumes in der grünen Natur, diesmal allerdings vor einer künstlich stilisierten. Im Hintergrund sind – traditionell im Schreibmaschinen-Typoskript – die Titel seiner Werke zu sehen, die zu Handkes zweiter Natur wurden, vor denen er sich unerkannt, nur als Schatten seiner selbst den Interessierten präsentiert. Den Blick gesenkt, vielleicht auf ein Manuskript, das er demütig in den Händen hält, inszeniert sich Handke minimalistisch. Über Inhalte und Zukünftiges erfährt der Betrachter der Homepage www.peterhandke.com, die nur diese eine Startseite umfasst, nichts. Nur dies: „Die Peter Handke Homepage wird derzeit überarbeitet und soll Ende 2008 erweitert und verbessert wieder online gehen. Bitte schicken Sie uns trotzdem per E-Mail weiter Anfragen und Hinweise zu Rezensionen, Aufsätzen und Sekundärliteratur. Es grüßt Sie Katharina Pektor ([email protected]).“ Dies steht am unteren Bildrand noch drei Jahre nach der Ankündigung geschrieben. Ähnlich unprätentiös präsentiert sich, mit einer weißgrundigen, informationspuristischen Seite, die Mehrheit der Popautorinnen und -autoren wie Benjamin von Stuckrad-Barre, Christian Kracht oder Alexa Hennig von Lange.

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Abbildung 55: Homepage von Benjamin von Stuckrad-Barre (2008) Lediglich der Autorenname, der in großen Lettern den Kopf der Website ziert sowie aktuelle Ankündigungen zum Erscheinungstermin des neuesten Werkes (links) samt der Vorschau des Buchcovers (rechts) prägen die monochromisch in Schwarz-Weiß gehaltene Website. Die Autoren-Website verfolgt damit eine für die Selbstinszenierung wichtige Sichtbarkeitsstrategie in der virtuellen literarischen Welt. Dies tut sie jedoch in höchst reduzierter Weise. Zwar ist der Autor online präsent, doch erfüllt seine Websitepräsenz kaum mehr als die Funktion eines „Schwarzen Brettes“, das sich auf die notwendigsten und aktuellesten Informationen beschränkt. Das gleiche Sichtbarkeitsprinzip findet sich auf der Website von Christian Kracht:

Abbildung 56: Homepage von Christian Kracht (2008)

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Ganz anders und hypertextuell komplexer zeigt sich die Webpräsenz der Schriftstellerin Alexa Hennig von Lange. Die Website Hennig von Langes ist zunächst eine Grafik, die sich aus einer Reihe von verschiedenen Gestaltungselementen zusammensetzt.

Abbildung 57: Homepage von Alexa Hennig von Lange (2008) Innerhalb einer schwarzen, schmalen und horizontal verlaufenden Linie oben und unten (hier unter dem Foto Hennig von Langes; nicht im Bild) des somit nur angedeuteten Rahmens lassen sich insgesamt fünf Elemente ausmachen: (a) das Branding der Seite: der Name der Autorin – links oben, typografisch gestaltet in schwarzen Großbuchstaben und Fettdruck, (b) ein interaktives, nach 30 Sekunden wechselndes, typografisch in Kursivschrift temporär fixiertes Zitat der Autorin, ergänzt durch den Titel ihres jeweiligen Romans, aus dem das Zitat entnommen ist („Wie schön wäre es, bereits ans Lebensende gekommen zu sein mit der Gewissheit, alles heil überstanden zu haben.“ – Warum so traurig514), direkt neben dem Namen,

514 In der Zitat-Auf-und-Ausblendung finden sich u. a. auch diese: „Ich wußte gar nicht, dass man als Frau gleichzeitig auf drei Typen stehen kann. Cotsch würde sagen: 'Bist du bescheuert? Was denkst du denn? Je mehr Männer zur Auswahl, desto besser.'“ – Leute, die Liebe schockt. Sowie: „An Mattis nackter Wade lief es in der Innenseite feucht über seine verschorften Füße. Überall war Dreck und Blut von den Gräsern und dem Korn, das ihnen beim laufen entgegen gepeitscht war.“ – Risiko. Oder auch: „Ist das jetzt meine Ge-

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(c) neun linear angeordnete, typografisch in Großbuchstaben und Kursivschrift fixierte Hyperlinks: Neu – Romane – Kinder- und Jugendbücher – Radio – Kolumnen, Visual Essay – YouTube – Lebenslauf – Presse; die Hyperlinks stehen unter dem Zitat und durchziehen das obere Drittel der Homepage wie ein geschriebener Satz, übernehmen jedoch die Funktion des Navigationsmenüs, das es dem Besucher der Seite ermöglicht, durch Anklicken eines Schlagwortes mehr darüber zu erfahren, (d) farblich abgehoben ein hellblau grundiger Kreis, in dem in kleiner weißer Blockschrift die Ankündigung: coming up soon und in weißen Großbuchstaben der Titel des zu erwartenden neuen Buches Leute, das Leben ist wild zu lesen ist, darunter stehen in kleiner schwarzer Blockschrift die Bekanntmachung: out now und in schwarzen Großbuchstaben der Titel des zuletzt erschienen Romans Alexa Hennig von Langes: Leute, die Liebe schockt, (e) ein Foto der Autorin, das sie in roten Leggins und durchsichtiger, zebragestreifter Kurzarmbluse auf allen vieren auf dem mit Laub bedeckten Waldboden zeigt, im Dunkeln, der Blick in die Kamera gerichtet. Die genannten fünf Elemente fügen sich zu drei Gruppen zusammen: (a) Der Schriftzug Alexa Hennig von Lange entspricht, gemäß den Maßstäben der Werbung, dem Produktnamen; (b), (d) und (e) spezifizieren das Produkt. Das Foto personalisiert das Produkt und stellt eine Offenheit (Hennig von Lange privat) sowie eine Verbindung zum Betrachter her; das punctum ist ihr Blick, der als Wahrheitsstrategie (Goffman) oder als Strategie der Glaubwürdigkeit und Vertrauenswürdigkeit (Mummendey) auf die Position legitimierter Autorität verweist – dort, „[w]o der Darsteller dann auch noch aus seiner Rolle herauszutreten scheint, und sich seinem Publikum gewissermaßen öffnet, da sind wir sofort bereit, an die Wahrheit zu glauben.“515 Es handelt sich bei dem Foto nicht um eine professionell ausgeleuchtete Studioaufnahme, die den Inszenierungsrahmen verrät, sondern es ist in der Natur, im Freien aufgenommen. Wüsste man nicht, dass dieses Foto aus der Serie des Fotokünstlers Walter Pfeiffer stammt und damit hochgradig inszeniert ist, könnte man meinen, es handele sich um einen Schnappschuss. Die Ikonografie des Bildes trägt den Charakter eines Privatfotos, als handele es sich um einen authentischen Augenblick im Leben, der spontan festgehalten wird, aus der Bewegung einer sich unbeachtet wähnenden Person, aus einer unprätentiösen Handlungswirklichkeit heraus. Die Haare sind zerzaust, die Körperhaltung ist gebeugt, der Mund ist zum Atmen oder Reden geöffnet, der Blick verfängt sich wie zufällig durch die Umdrehbewegung in der Kamera. Damit knüpft die Inszenierung Hennig von Langes an die seit der Antik bestehende Faszination des Authentischen an, die mit einer ethischen Komponente der Kommunikation verknüpft ist: Schon „der innerste Kern des christlichen Religionskultes lässt sich auf die Vorstellung einer Authentizität des Leibes zurückführen,“516 deren Grundannahme darauf basiert,

genwart, ist das ihre Gegenwart, gehört die Gegenwart uns beiden? Gibt es eine Gegenwart oder so viele Gegenwarten, wie es Menschen und Tiere gibt? Woher soll ich das bitteschön wissen?“ – Relax. 515 Abels, Interaktion, Identität, Präsentation, S. 176. 516 Andree, Archäologie der Medienwirkung, S. 441 (Herv. i. O.).

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dass sich in der Gegenwart des menschlichen Körpers die Seele, das Wesen oder der Geist der Person zeige. Aus diesem Grunde sei die Leiblichkeit Grundbedingung der Authentizität; solche Echtheitsbeteuerungen der körperlichen Anwesenheit übernehmen die Funktion, historische Wahrheit zu bezeugen. 517 Der authentische Körper fungiert ebenso als Beleg für die Augenzeugenschaft, die Evidenz und die Autorisierung, in dessen Kraftfeld sich das inszenierte Schnappschussfoto Hennig von Langes einbetten lässt. Das Original, das Echte ist das Interessante und das Wertvolle.518 Die wechselnden Zitate auf der Startseite fungieren als Taktik der Selbstanpreisung, als self-promotion, im Stil von competence & expertise (Mummendey). Sie deuten zudem auf inhaltlicher Ebene eine stilisierte Sublimationsuntauglichkeit und Lebenslast an (Wie schön wäre es, bereits ans Lebensende gekommen zu sein …) und symbolisieren zugleich die universelle Eigenschaft der Dichterin, die Kreativität. Indem sich Hennig von Lange auf ihrer Homepage selbst zitiert, erhebt sie sich in diesem Rahmen eigenständig zur Autorität (wie einst die mittelalterlichen Sänger), stilisiert sich aber (modern und individualistisch) als besondere Marke. Wie ein Gütesiegel, „Prädikat: besonders wertvoll“, signalisiert der hellblaue Ankündigungsbutton, den Sehgewohnheiten des konsumierenden und nach den besten Qualitätsmerkmalen entscheidenden Menschen entsprechend, ihre Güteklasse, nicht jedoch mit einer Bewertung, sondern mit einem Hinweis auf zwei ihrer Werke, die als Qualitätsetikett genügen. Dass sich dieses Gütesiegel nicht allein deutschsprachiger, sondern auch englischer Diskursanteile (coming up soon, out now) bedient, deutet auf eine Selbstsituierung der Autorin in einem internationalen und dadurch mit Weltgewandtheit assoziierten Interpretationskontext hin. Außerdem attribuieren die besonders in der Jugend- und Wirtschaftssprache Verwendung findenden Anglizismen, die auch wie nahezu selbstverständlich in ihren schriftstellerischen Wortschatz integriert sind, Hennig von Langes öffentliche Person mit den als Einheit zu denkenden Eigenschaften „jung und erfolgreich“. Die verlinkten Schlagworte (c) erfüllen die Funktion des Wegweisers, der den Betrachter über die unterschiedlichen Wege noch näher an die Autorin heran und zu den wichtigen Inhalten der Seite (Lebenslauf, YouTube, Presse etc.) hinführt. Die Website ist nicht hermetisch geschlossen, sondern verfügt neben zahlreichen internen auch über externe Links. Die auf der öffentlichen Videofilm-Plattform YouTube archivierten Live-Auftritte Hennig von Langes sind jedoch als Podcast in die Website integriert. Auffällig ist hier, dass es sich bei den externen Links um nicht-reziproke Surface-Links handelt, die entweder auf die Homepage eines Museums oder eines Fotografen verlinken, ohne dass eine direkte Verbindung zu Alexa Hennig von Lange auf dieser externen Website erkennbare wäre. In Anbetracht dieser Tatsache liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei diesen externen Surface-Links um eine Strategie des self-enhancing durch geschicktes name-(/domain-)dropping handelt. Dort, wo es (weniger für das Image als vielmehr) für die Verkaufszahlen der Werke Hennig

517 Andree, Archäologie der Medienwirkung, S. 441 ff. 518 In der virtuellen Welt des Internets, das die Entauratisierung der Reproduktion der Fotografie, wie Benjamin sie beschrieb, torpediert und in radikaler Weise fortsetzt, ist der authentische Körper ein illusionistisches Paradox und die Authentizität eine Täuschung – die dennoch beim Massenpublikum Wirkungen erzielt.

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von Langes relevant ist, sind Deep-Links geschaltet, die uns, markstrategisch klug, nicht etwa zu der allgemeinen Startseite des Internet-Buchhandels Amazon führen, sondern direkt zu der Amazon-Unterseite, auf der unmittelbar der jeweilige Roman Hennig von Langes zum Kauf per Mausklick angeboten wird. Folgt man den einzelnen Links der Website, ergibt sich die folgende Struktur:

Produktname (a)

Selbst-Zitat (b)

Wegweiser (d)

Gütesiegel (c)

Autorfoto (e)

Neu R1

R2

R3

R4

Romane

R5 bestellen

KJ-Bücher

bestellen

Radio quu.fm Kolumnen

unicum.de

Visual Essay

fotomuseum.ch

Youtube Lebenslauf Presse

V1

V2

V3

V4

V5

Fotograf 1

Fotograf 2

quu.fm.

Mail AP 1

Mail AP 2

AHvL

Legende: R = Roman, V = Video, Mail AP = E-Mail-Adresse des Ansprechpartners bei Pressefragen, AHvL = E-Mail an Alexa Hennig von Lange, Füllfarbe (Mittelgrau) = externe Links, → (Pfeil) = interner Link

Abbildung 58: Website-Struktur, Alexa Hennig von Lange (2008)

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Eine einzigartige virtuelle Selbstpräsentation liegt mit der Website der Schriftstellerin Sibylle Berg vor. Berg simuliert weder Authentizität noch demontiert sie sich oder andere, sondern sie inszeniert sich im Kontext einer Erzählung, in der sie selbst eine Figur darstellt. Der Erfolg der Website liegt in der Anziehung, die auf dem Faszinationstypus des Geheimnisvollen gründet. Auf ihrer Website verbindet Berg die Kunst der Erzählung mit filmischen und akustischen Darbietungsformen bei gleichzeitiger Bestimmung der Reihenfolge des erzählten Plots und der mentalen Dramaturgie aktiv durch den Besucher der Website. 519

Abbildung 59: Startseite der Website von Sibylle Berg (2010) Die Startseite des Internetauftritts von Sibylle Berg zeigt ein vom Künstler Stefan Batsch gestaltetes, zwischen Foto- und Comic-Ästhetik angesiedeltes Schwarz-WeißBild eines Hauses in der Wildnis am Steilhang. Am Fuße des Hanges tobt die Meeresbrandung; akustisch animiert hört der Besucher der Seite das Meeresrauschen. Im Bildvordergrund sind comicartig stilisierte Felsblöcke zu sehen, die durch ihre Größe suggerieren, man befände sich in unmittelbarer Nähe zu diesen. Die Blicklenkung führt von den Felsen der Brandung nach oben, zum Haus, das fragil auf zwei Stahlwinkeln über den Abgrund gebaut ist. Über dem Haus hängen tiefschwarze Wolken. Als Ausnahme auf der insgesamt monochrom gestalteten Seite ist die Fensterfront des Hauses gelb gestaltet und virtuell animiert; das Gelb flackert wie der Lichtschein eines Kamins. Fährt man mit dem Curser der Computermaus über die Bildschirmoberfläche zu weiter hinten gelegenen Fenstern des Hauses, erlischt das Licht der vorderen Fensterfront und das mit dem Cursor berührte Fenster leuchtet gelb auf.

519 Website von Sibylle Berg, http://www.sibylleberg.de (Stand: Juli 2010).

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Am rechten oberen Bildrand stehen unter dem Namenssignum Sibylle Berg acht Links: Zu Hause (Startseite) – Kinderzimmer – Bibliothek – Klassenzimmer – Theatersaal – Galerie – Elternzimmer – Sterbezimmer.520

Abbildung 60: Kinderzimmer Das Kinderzimmer besteht grafisch hauptsächlich aus einer schwarzen Wand und einer einen Spaltbreit geöffneten Tür, durch die der Betrachter in das Innere eines Zimmers blickt. In diesem erkennt er an dem Spiegel der gegenüberliegenden Wand den Rücken einer weiblichen Figur. Rechts im Bild befindet sich ein weißgrundiges Informationsfeld, in dem das Abonnement des Newsletters angeboten wird: „Für die An- und Abmeldung des Newsletters sind Sie selber verantwortlich. Wenn Sie also, verehrter Freund, in äußerst unregelmäßigen Abständen Post von mir bekommen wollen, in der irgendetwas steht, dann tragen Sie hier Ihren Namen und Mail-Adresse ein. Newsletteranmeldung Newsletterabmeldung“

Auf der Seite Kinderzimmer von Sibylle Berg ist rechts oben ein Link installiert: Twitter. Der Deep-Link verbindet den Besucher mit einer weiteren persönlichen Website Sibylle Bergs auf der externen Internetplattform Twitter. Dort ist ein Porträtfoto von Berg zu sehen; die eine Gesichtshälfte ist mit ihren langen lockigen Haaren 520 Die Idee erinnert an Das Haus der Poesie von Robert Gernhardt. In seiner legendären Essener Poetik-Vorlesung führte Gernhardt durch die Gedankenräume des GedichteSchreibers im Haus der Poesie. Dort gibt es verschiedene Zimmer und Stationen: Im Kinderzimmer sitzen Peter Rühmkorf und Hans Magnus Enzensberger und spielen und singen. Im Clubraum streiten und wetteifern Goethe und Gernhardt, und im Fitnessraum trainieren Stefan George und Schiller die unterschiedlichen Disziplinen eines Gedichts. Vgl. Robert Gernhardt: Was das Gedicht alles kann: Alles. Eine Führung durch das Haus der Poesie. 5 CDs. Hamburg 2010.

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verdeckt. Daneben steht ihr Name. Darunter sind Kommentare aufgelistet, die Berg zu ihrem Leben und zu weltpolitischen, aber auch zu literarischen Themen abgegeben hat. Die letzte, aktuellste Mitteilung steht oben, alle vorherigen schriftlich von ihr dort festgehaltenen Aussagen rutschen mit jedem Neueintrag weiter nach unten. 521 Jeder Nutzer dieser Plattform kann die Nachrichten eines anderen Nutzers abonnieren, dann erscheinen die neuesten, zum Beispiel von Sibylle Berg auf ihrer TwitterSeite verbreiteten, Kommentare direkt auf der eigenen Twitter-Seite. Man bezeichnet die an fremdem Kommentargut interessierten Leser als Follower. Die jeweilige Anzahl der Follower, die eine Person hat, dient als plattforminterner Indikator des individuellen Renommees.522 Auf Sibylle Bergs Twitter-Seite sind beispielsweise am 21. Februar 2010 die folgenden Kommentare zu lesen: „‚jemand hier, der olga-petra heißt?‘ ‚followerschwund nach letztem tweet macht klar: wir müssen lernen unseren darm anzunehmen als wäre er ein teil von uns‘ ‚haiti und axolotl sind durch. amok mit 1 leiche rockt nicht. was jetzt? könnte die hirnis vom freitag fragen, aber sie haben mich vergessen.‘ ‚stark und kompetent erwacht. bereit, anspruchsvolle aufgaben zu erfüllen‘ ‚stösschen‘“

Bezieht sich Berg auch auf das politische und aktuelle Geschehen (auf die Erdbebenkatastrophe in Haiti im Januar 2010 und den Amoklauf an einer Berufsschule) sowie auf literarische Themen (auf den Roman Axolotl Roadkill von Helene Hegemann523),

521 Das Schreiben dieser Ich-Nachrichten wird als twittern bezeichnet; eine Nachricht selbst als Tweet.. 522 Barack Obama stellte während des US-Präsidentschaftswahlkampfes im Jahre 2008 mehrmals täglich Informationen über Twitter online. Bei den Wahlen im Iran 2009 nutzten die Anhänger des Oppositionellen Hussein Mussawi trotz Internet-Zensur der iranischen Regierung die Plattform, um weltweit Informationen zu verbreiten. Laut Nutzerstatistik des Marktforschungsunternehmens Nielsen hatte Twitter im Jahr 2010 in Deutschland zwei Millionen Nutzer. (Vgl. auch Wolfgang Hünnekens: Die Ich-Sender: Das Social Media-Prinzip. Twitter, Facebook & Communitys erfolgreich einsetzen. Business Village 09/2009.) Im Jahr 2013 waren es bereits 2,5 Millionen Nutzer in Deutschland. Weltweit nutzen im Jahr 2013, laut Social Media Statistik, 220 Millionen Menschen monatlich den Twitter-Dienst, mehr als 900 Millionen weltweit hatten einen angemeldeten Twitter-Account. 523 Als die 17-jährige Helene Hegemann 2009 im Ullstein-Verlag ihren Debüt-Roman Axolotl Roadkill veröffentlichte, wurde sie als Wunderkind der Digital-Bohème gefeiert und ihr Buch für den „Preis der Leipziger Buchmesse“ 2010 nominiert, ehe sie sich einen Plagiatsvorwurf gefallen lassen musste. Der „wütende Adoleszensroman“ (FAZ), die „halluzinatorische Entladung eines traumatisierten Bewusstseins“ (Die Zeit) beleuchte „radikal, sperrig und unfertig“ (Der Spiegel) die Wohlstandsverwahrlosung der 16jährigen Mifti. Der Vater verdient sein überdurchschnittliches Einkommen mit dem Zusammenkleben von Plattencovern zu expressionistisch melancholischen Kunstwerken,

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so tut sie dies doch in intellektuell und sprachästhetisch minimalistischer, ironisch grundierter Weise. Das Zentrum ihrer stark verkürzten Gedanken und in durchgehender Kleinschreibung verfassten Einlassungen ist die Autorin selbst (stark und kompetent erwacht) – wenngleich hier eine Wendung aus Manns Lotte in Weimar anklingt524 – , und auch innerhalb des satirisch überzeichneten Kommentars amok mit 1 leiche rockt nicht nimmt die Autorin die selbstbezogene, unterhaltungsorientierte Betrachterperspektive ein. Die polemische, meinungsbildende Wirkung dieses Satzes baut sich zudem darüber auf, dass die subjektive Perspektivierung verschleiert wird, indem der Satz als allgemeingültige Prämisse formuliert ist. Ob Berg von hirnis spricht und damit Menschen meint, die zu ihrem sozialen Twitter-Netzwerk gehören, ob sie simplifizierende Intimitätsfloskeln verwendet oder Nonsens-Kontexte eröffnet (jemand hier, der olga-petra heißt?) – der Zweck dieser Äußerungen auf der TwitterPlattform ist die öffentliche Präsenz. Diese wird gesichert durch, erstens, den Umstand, über das aktuelle Tagesgeschehen informiert zu sein, zweitens, die meinungsbildende Wertung des Geschehens, drittens, die Fähigkeit, die eigenen Gedanken kurz und abbildend darzustellen, viertens, den Gebrauch einer möglichst eingängigen Sprache, und, fünftens, viele und regelmäßige Tweets, das heißt mehrere pro Tag oder wenigstens pro Woche. Weil Berg diese fünf Anforderungen bei gleichzeitigem Verzicht auf den (sichtbar) kritischen Gestus erfüllt, aber weiterhin über das Distink-

der Bruder entwirft Kapuzenpullover, auf denen in Schwarz-Rot-Gold der Slogan „Unsere Nationalfarben sind beschissen“ steht und die Schwester organisiert als „durchtriebene Marketingbitch“ Raves auf Kornfeldern. Mifti liest aufgeklärte Belletristik über pakistanische Psychoanalytiker und die gesammelten Klassiker der Poptheorie, schläft mit taxifahrenden Schauspielern und der besten Freundin, kippt den achten Wodka Tonic herunter, streitet über den Feminismus und die Furunkel am Hintern von Karl Marx und verschwindet dann hinter der Stahltür einer Bar oder unter zerkoksten Medienleuten auf vierhundert Quadratmetern Parkettboden irgendwo in Berlin. – Alles nicht ganz neu, befanden einige Leser, die Szenen und Teile der Geschichte bis hin zum exakten Wortlaut aus dem Internet-Blog Strobo von Airen kannten. (Die Blog-Texte Airens sind 2009 ebenfalls in Buchform im SuKuLTuR-Verlag erschienen: Airen: Strobo. Berlin 2009.) Es folgte der Skandal: Airen sprach in seiner Moabiter Wohnung über sein geistiges Eigentum, Helene Hegemann bei Harald Schmidt über ihre alternative Lebens- und Denkweise. „Originalität gibt es sowieso nicht, nur Echtheit“, sagte Hegemann am 08.02.2010 in der Bild-Zeitung. Der Ullstein-Verlag reagierte auf den Plagiatsvorwurf nach einigen Wochen mit der vergleichenden Darlegung sämtlicher kopierter Passagen und entging dem Vorwurf weiterer Fremdmaterialanleihen seiner Autorin mit dem Hinweis: „Dieser Roman folgt in Passagen dem ästhetischen Prinzip der Intertextualität und kann daher weitere Zitate enthalten“. 524 In identischer Weise erwacht Goethe, noch schlaftrunken und traumumfangen, zu Beginn des siebten Kapitels des Romans Lotte in Weimar von Thomas Mann zu seinem großen inneren Monolog. (Vgl. Thomas Mann: Lotte in Weimar (1945). Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe in zwei Bänden. Text und Kommentar. Hrsg. von Werner Frizen. Frankfurt 2003)

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tionsinstrument ihrer provozierenden und sinndestruierenden Schreibweise verfügt, gelingt es ihr, eine große Zahl von Followern zu unterhalten. In ihrem vorletzten Kommentar pointiert Berg das Erfolgsgeheimnis der Plattform: „followerschwund nach letztem tweet macht klar: wir müssen lernen unseren darm anzunehmen als wäre er ein teil von uns“

Dieser Satz liest sich als Aufforderung an die Follower, den Darm akzeptieren zu lernen, um Sibylle Bergs Kommentaren weiterhin gerne folgen zu wollen. Was der menschliche Enddarm (symbolisch wie faktisch) enthält, soll an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden.

Abbildung 61: Bibliothek Im virtuellen Zimmer der Bibliothek steht der Besucher im Hauptgang einer Bibliothek; rechts und links zweigen Bücherregalreihen ab. Aus einem Gang ragt ein Bein, das, so steht zu vermuten, zu einem in diesem Gang liegenden, toten oder schlafenden Mann gehört. Die Bibliothek informiert über Meine Bücher und Fremde Sachen. Unter Meine Bücher ist Bergs Roman Der Mann schläft vorgestellt: „Eine Frau liebt einen Mann, weil der die Frau liebt. Was kann man sich Besseres wünschen in einer Welt, in der Liebe nur noch ein Marketinginstrument ist? Ebendiese Welt kennt kein Pardon: Auf einer Reise nach China kommt der Mann gleich wieder abhanden, und man fragt sich, ob das mit rechten Dingen zugeht. Warum sucht man nach Veränderung, wenn man das Glück gefunden hat? Warum bleibt man nicht dort, wo man glücklich ist? Sibylle Berg erzählt eine moderne Liebegeschichte und zeigt mit so melancholischen wie bösartigen Bildern eine Welt, in der man höchstens zu zweit überleben kann.“

Unter Fremde Sachen erscheint zuerst ein persönlicher Appell Bergs: „Andere Autoren sind auch Menschen. Mit Gefühlen. Verletzt sie nicht. Kauft ihre Bücher!“ Es folgt die Empfehlung des Romans Nacht von Richard Layman. Sie liest sich wie folgt:

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„Als Alice den Job als Babysitterin annimmt, ahnt sie nicht, dass ihr die schrecklichste Nacht ihres Lebens bevorsteht. Denn kaum ist sie allein im Haus, wird sie von einem geheimnisvollen Anrufer terrorisiert. Als er dann auch noch versichert, in das Haus einzudringen, weiß sie sich nicht anders zu helfen, als ihn mit einem Säbel niederzustrecken. Super, nicht wahr? Fällt euch auf, dass ich eine Vorliebe für Splatterbücher habe? Erstaunlich.“

Im virtuellen Raum Klassenzimmer (hier ohne Abbildung) steht ein Satz geschrieben, der nicht auf die Lehrzeit Sibylle Bergs rekurriert, sondern auf die des Besuchers der Seite; dort steht: „Sie wollen so reich, berühmt und gutaussehend werden wie Frau Berg? Drücken Sie hier. www.die-schreibschule.com“

Im virtuellen Raum der Galerie (hier ohne Abbildung) sieht sich der Besucher mit der schriftlich fixierten Frage konfrontiert: Wer ist Herr Gygax? Und findet darunter ein Foto, auf dem ein Mann nur in Jeans bekleidet, mit freiem Oberkörper und dem Rücken zum Betrachter posiert. Sein Kopf ist kahl rasiert und seinen Rücken zieren unzählige Tätowierungen. Unter dem Bild steht: Tim (2006) von Wim Delvoye.

Abbildung 62: Theatersaal Im virtuellen Theatersaal blickt der Betrachter von der oberen rechten Bild-Ecke in den Raum. Auf dem Boden im Publikumsraum liegen Flaschen und Stühle verstreut herum. Die Bühne ist leer, wenngleich eine Kamera oder ein Scheinwerfer auf sie gerichtet ist. Die rechte Bildhälfte ist durch ein weißgrundig-transparentes Informationsfeld verdeckt. Über das Anklicken einzelner Links auf diesem Feld lassen sich, alternativ zum nicht vorhandenen Bühnenschauspiel, Videos von Sibylle Berg ansehen. Durch einen Klick auf einen externen Deep-Link gelangt der Rezipient wahlweise zu einem Kurzfilm über Sybille Berg, der in der Fernsehsendung Kulturzeit des Senders 3sat im Jahr 2006 ausgestrahlt wurde, zu einem Kurz-Clip von Berg, der auf der Internetplattform YouTube archiviert ist, zu einem Interview, das Berg auf der Buchmesse 2007 auf dem Blauen Sofa gegeben hat oder zu Aufnahmen des Theater-

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stück Helges Leben. Darüber hinaus steht es dem Besucher frei, Musik zu hören. Zwei Songs von Karsten Riedel: So geht das alles nicht und Wenn Männer … Zur weiteren musikalischen Auswahl zählen: Wünsch dir was! Ein Broadwaytaugliches Musical (Uraufführung Schauspielhaus Zürich 2006) sowie der Song: Bollywood. Musik: Markus Schönholzer.

Abbildung 63: Elternzimmer Im Elternschlafzimmer steht der Betrachter virtuell neben dem Ehebett und schaut aus dem geöffneten Fenster in die Nacht. Währenddessen huscht der gelbe Lichtkegel einer Taschenlampe, die von außen den dunklen Raum abtastet, durch das Blickfeld. In die Szenerie hineinversetzt, imaginär im Schatten der Dunkelheit eines (fremden) Zimmers stehend, wird der Besucher der Seite in diesem Moment selbst zum Beobachteten und mit der Idee konfrontiert, gleich einem unbekannten Eindringling ausgeliefert zu sein. Ein klassisches Spannungsmoment filmischer suspense. Auf dieser Seite finden sich fünf interne Links: Die Betreuer – Die Journalisten – Die Fotos – Die Termine – Die Anderen. Unter den Betreuern sind die Kontaktdaten der Literaturagentin Bergs und diejenigen des Verlages zu finden. Termine – zurzeit keine. Dafür darf sich der geneigte Nutzer ein einziges Foto herunterladen, mit dem verkaufsfördernden Verweis „Diese und andere Fotos gibt es bei Katja Hoffmann“ und einem Befehl: „Und immer schön den Namen nennen!“ In der Rubrik Die Anderen sind drei weitere Links installiert: Der Jurist sagt – Bilder kaufen – Parkavenue. Der letzte Link verweist auf die Seite der Zeitschrift Parkavenue, für die Berg als Kolumnistin tätig ist. Für Die Journalisten hat Berg eine Verhaltensanweisung in Form eines Offenen Briefes formuliert: „Kleine Journalistenfibel Es sind immer wieder angenehme Tage, an denen ich einen freundlichen Journalisten treffe. Einen, der seine Arbeit ernst nimmt, sich für das, was er tut, interessiert, und nicht schlecht vorbereitet und voller Vorurteile zu einem Gespräch kommt. […] Ich respektiere Ihre Arbeit. Bitte respektieren Sie auch meine. […] Das Leben ist zu kurz, um es sich gegenseitig zu ver-

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miesen. […] Wenn Sie Ihre Informationen aus dem Internet beziehen, dann am besten hier, denn ich kenne mich und meinen Lebenslauf. Falls wir uns persönlich treffen, dann müssen wir über folgende Punkte nicht mehr reden, was uns Zeit schenkt, in der wir Menschen beobachten können, die interessanter sind als ich.“

Abbildung 64: Sterbezimmer Im Sterbezimmer lesen wir Letzte Worte von mir und anderen, in diesem Fall von der Schriftstellerin Milena Moser: „Sterbebegleitung von Milena Moser Gute Menschen, schlechte Menschen Nicht alle Menschen sind schlecht. Ich bin es nur an manchen Tagen. An einem Dienstag kann ich schlecht sein von früh bis abends spät. Ich trete jeden Hund, der mir begegnet, ich weise die Nachbarin auf etwas Grünes zwischen ihren Zähnen hin und halte den Bus unnötig lange auf, indem ich ohne Grund auf dem Trittbrett stehenbleibe. Apropos Hund: ausgerechnet an einem Dienstag wurde meine Freundin von einem niedergemacht. Gefällt wie ein Baum mit zwei Axthieben in die Seite, wo der Hund das Herz vermutete. Allerdings hat er davon nie viel verstanden. Vom Herz. Meine Freundin liegt auf dem Fußboden und wimmert. Mit letzter Kraft versucht sie, ihr Glas festzuhalten, es nicht fallen zu lassen. Soll ich dir helfen, das Glas zu halten, frage ich. Aber sie will nicht. Sie wimmert nur, dass der Hund wiederkommen soll. Dass sie ihn zurückhaben will. Dass er sie jetzt mit der Axt erschlagen darf, wenn er nur zurückkommt. Ich konnte Hunde noch nie leiden. Letzten Sommer habe ich Unterschriften gesammelt […].“

Sibylle Bergs Webauftritt spielt mit dem Reiz des Mysteriösen und Geheimnisvollen, dessen Inszenierungstechnik die Andeutung ist. In jeder geheimnisvollen Kommunikation verstecken sich Hinweise, die darauf deuten, dass es Tieferliegendes, (noch) nicht Ausgesprochenes, etwas die Kommunikationssituation Überschreitendes und diese Ergänzendes gibt, das gleichwohl so faszinierend ist, dass es sich lohnt, dies zu ergründen. Das in Andeutungen verharrende Geheimnisvolle manifestiert sich bei Berg grafisch in den hollywoodaffinen Erzählrahmungen (ein Haus in der Wildnis;

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eine Leiche in der Bibliothek; eine ahnungslose Person, die mit dem Rücken zu der sich öffnenden Tür sitzt), filmischen Requisiten (ein umgefallener Stuhl, der wandernde Lichtkegel einer Taschenlampe) und Grusel-Elementen (das Sterbezimmer). Die verstreuten Momente des Mysteriösen sind darüber hinaus dem textlich verankerten Plot eingeschrieben, der aus der Person Sibylle Berg weitgehend ein Geheimnis macht. Von Raum zu Raum gehend, erfährt der Rezipient zwar, welche Bücher Berg empfiehlt und welche Lieder. Auch zitiert Berg fremde Texte, doch sie selbst entdeckt man nicht. Das Geheimnis auratisiert die Kommunikation und verleiht ihr einen Mehrwert. Seit frühesten Zeiten konstituiert sich das Geheimnis als Paradox, welches die Überschreitung des bereits Mitgeteilten verheißt und doch immer nur kommunizierte Hoffnung bleibt – ein Geheimnis bleibt nur so lange ein Geheimnis, wie es nicht enthüllt ist. Oscar Wilde expliziert dies am wohl geheimnisvollsten Bildnis der Kulturgeschichte, der Mona Lisa: „The picture [Mona Lisa] becomes more wonderful to us than it really is, and reveals to us a secret of which, in truth, is known nothing, and the music of the mystical prose is as sweet in our ears as was that flute player’s music that lent to the lips of La Giaconda those subtile and poisonous curves. […] For when the works is finished it has, as it were, an independent life of its own, and may deliver a message for other than that which was put into its lips to say.“525

Das Geheimnis sei „per se erklärungsbedürftig und erzeuge so eine Unterscheidung zwischen einer primären und einer sekundären Kommunikation“; wirkungsvolle Geheimnisse erzeugten durch Einhaltung der reduzierten primären Kommunikation eine „ungeheure Menge solcher Deutungen, ohne dass sie selbst dabei verbraucht werden.“526 Damit liegt es nahe, dem Urheber des Geheimnisses „eine Art absolutes Wissen“ zu attestierten, das das Wissen des Rezipienten übersteigt. Darüber hinaus spiele jedes Geheimnis mit zwei komplementären Elementen: der Oberfläche und der Tiefe. Die Ergründung der Tiefe und damit die Enthüllung des Geheimnisses werden durch Schwellen verhindert, die wiederum die Rezeptionsweise der Ehrfurcht und der Hierarchie von Eingeweihten erzeugen. Der Grad der Einweihung bestimmt, welche Schwellen überschritten werden dürfen. Das Geheimnis befindet sich immer hinter der Schwelle; es ist zu erahnen und entzieht sich doch der Sicht. Man mag sich diesem Geheimnis asymptotisch immer weiter annähern, doch die Dialektik des Geheimnisses, die Wechselbeziehung zwischen Offenbarung und Verbergen, bedingt, dass die Annäherung an das Geheimnis eine nie endende Bewegung bleibt.527 Jedes Geheimnis erfordert eine ausgeklügelte Dramatisierung. Die Urszene und Inauguration des geheimnisvollen Prinzips findet man im biblischen Exodus, wie Andree herausarbeitet: Nicht nur der Name Gottes (JHWE = Ich bin der, der ich sein werde) ist ein Rätsel und Geheimnis, sondern auch die Weise seines Erscheinens. Als Moses auf dem Hügel vor dem brennenden Dornenbusch stand, um von Gott die Gesetzestafeln entgegenzunehmen, darf sich Moses nicht nä-

525 Oscar Wilde: The Complete Works. 12 Bände. Bd. 5. New York 1925, S. 157 ff. 526 Andree, Archäologie der Medienwirkung, S. 168. 527 Vgl. Ebenda, S. 168.

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hern: „,Tritt nicht herzu.’ Moses verhüllt daraufhin furchtsam sein Gesicht – bereits in dieser ersten Begegnung wird die Dialektik zwischen Schau und ihrer Einschränkung, zwischen dem Sich-Zeigen und Sich-Verhüllen schon voll entfaltet.“528 Auch als Gott seine Erscheinung am Berg Sinai ankündigt, verknüpft er diese mit einem komplexen System von Schwellen, von Geboten und Ritualen: Das Volk solle seine Kleider waschen und sich vorbereiten, den Berg dürfe es nicht erklimmen, sonst drohe der Tod; in drei Tagen werde Gott dort erscheinen. Der Berg wird zum Ort des Heiligen, der Transzendenz, der nur dadurch zum Ort des absoluten Wissens werden kann, weil dem Volk, das sich am Ort des Profanen befindet, der Zugang entzogen wird. Der Sinai als heiliger Ort fungiert als Schwelle; er ist ausgestattet mit den Requisiten des Numinosen. Am dritten Tag erscheint Gott endlich, doch sichtbar wird er nicht: „Der gantz berg aber Sinai rauchet“, „Vnd sein rauch gieng auff/ wie ein rauch vom ofen/ das der gantze Berg seer bebete./ Vnd der Posaunen dohn ward jmer stercker. Moses redet/ vnd Gott antwortete jm laut.“529 Die geheimnisvolle Inszenierung am Berg folgt der Programmatik der Oberfläche und der Tiefe; Gott befindet sich hinter dem Schleier, dem Rauch. Die Dialektik erzeugt die Aufmerksamkeit und die Neugierde. Auch die Inszenierung des Geheimnisvollen auf der Website von Sibylle Berg verfügt über unterschiedliche Schwellen und eine komplexe Szenerie: Es baut sich insgesamt über drei Erzählebenen auf. Zu unterscheiden sind: der visuelle Plot, erzählt durch die unterschiedlichen Bilder der individuell gestalteten Unterseiten; der textliche Plot, in dem sich eigene Texte der Autorin mit fremden Texten symbiotisch vermengen; und der variable akteursspezifische Plot, den der Besucher der Seite selbst entwickelt, indem er seinen eigenen Weg durch die hypertextuelle Struktur geht. Auch die Überschriften (vom Kinderzimmer über das Klassenzimmer bis zum Sterbebett) rufen die Assoziation eines eigenen Plots hervor, der auf der Chronologie der Lebenszeit gründet. Dieses Erzählprinzip findet sich jedoch nur auf der obersten Strukturebene und erfährt keine thematische Vertiefung. Die einzelnen Texte der Website gehen mit der jeweiligen Grafik einer Seite eine sich kontextuell ergänzende Verbindung ein und erzeugen dadurch eine seiteninterne Geschlossenheit (die Bibliothek, in der ein Mann liegt, ist gekoppelt mit einer Buchempfehlung, die den Kontext in doppelter Weise reflektiert: Der Mann schläft; oder der Theatersaal, in dem das Stück Helges Leben abrufbar ist). Die Texte bilden außerdem in emergenter Verknüpfung, parallel zu der Bildebene, einen selbstständigen Erzählstrang. Der Mythos Sibylle Bergs kristallisiert sich um die einzelnen Diskurspartikel (melancholisch, bösartig, mit dem Säbel niederstrecken, niedermachen, mit der Axt erschlagen); das Image, das sie mit dieser Website kreiert, ist der Mythos der Unnahbaren, ja der Unerreichbaren. Wie einst Wallace in seinen Filmen aus dem Off sprach (Hier spricht Edgar Wallace) oder nur in kurzen Filmsequenzen wie beiläufig auftauchte, und ähnlich wie in der US-amerikanischen Krimi-Serie Drei Engel für Charlie der Vorgesetzte Charlie die zu lösenden Fälle nur über eine Lautsprecheranlage in Auftrag gibt oder Dr. No unerkannt hinter seinem Bürosessel die Suche nach James Bond befehligt (James Bond – 007 jagt Dr. No), so bleibt auch Berg im Hin-

528 Andree, Archäologie der Medienwirkung, S. 163. 529 Biblia Germanica, Exodus 19 (17-19).

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tergrund. Dies gelingt ihr stilistisch, indem sie ihr Publikum direkt anspricht, aber selbst so gut wie nicht in Erscheinung tritt: Wenn Sie also, verehrte Freunde, in äußerst unregelmäßigen Abständen, Post von mir bekommen wollen, dann tragen Sie hier Ihren Namen ein. Oder an die Journalisten: Wenn Sie Informationen aus dem Internet beziehen, dann bitte … Auf ihrer Website gibt es von Berg weder einen Lebenslauf noch ein Werkverzeichnis. Oft tritt sie in der dritten Person in Erscheinung, etwa wenn ihre Bücher und Theaterstücke angepriesen werden (Ein schönes Theaterstück von Frau Berg in Zusammenarbeit mit Herrn Helbling). Nur in kurzen Sequenzen taucht Berg selbst auf. Dann schreibt sie aus der Ich-Perspektive. Dennoch bleibt der Abstand zwischen ihr und den Rezipienten ihrer Website gewahrt. Die Website an sich dient als Schwelle, die eine Möglichkeit des Überschreitens und Annäherns verheißt, ein Vordringen von der Oberfläche in die Tiefe; eine Annäherung wird dennoch nicht zugelassen. Auf Seiten des Rezipienten mäßigt das zunächst die Neugier. Aber weil das Geheimnis um die tatsächliche Person Bergs bewahrt bleibt, erzeugt die Schwelle im weitesten Sinne Ehrfurcht und Scheu – und weitere Neugier. Die vordergründig den Abstand verringernde Frage: „Sie wollen so reich, berühmt und gutaussehend werden wie Frau Berg? Drücken Sie hier“ illusioniert die Enthüllung des Geheimnisses und die Adaption der besonderen, geheimnisvollen Eigenschaften von Sibylle Berg, hält aber gerade durch den verbal markierten Abstand zwischen Berg (reich, berühmt und gutaussehend) und Rezipient (Sie wollen auch …?) die Unnahbarkeit aufrecht. Auch Bergs partiell verstreute Ich-Aussagen stärken das mythologische Bild, denn dort, wo sie als Ich in Erscheinung tritt, inszeniert sie den Spaß an Blut und Gewalt (Super, nicht wahr? Fällt euch auf, dass ich eine Vorliebe für Splatterbücher habe?) und warnt, den Abstand zu respektieren. Auch ihre Twitter-Eintragungen lüften keinesfalls ihr Geheimnis, sondern schreiben es kontinuierlich fort. Denn die Informationen des Neuen, Interessanten und Ungewöhnlichen befriedigen zwar die Neugierde des Rezipienten, tun dies jedoch nur kurzfristig und reproduzieren ständig einen neuen Informationsmangel.

F ILM - UND F ERNSEHAUFTRITTE Für die schriftstellerische Selbstvermarktung ist neben der Website besonders das Fernsehen bedeutsam. 95,8 Prozent aller bundesdeutschen Haushalte sind bekanntlich mit einem Fernseher ausgestattet. Das Fernsehschauen ist die beliebtestes Freizeitgestaltung des Bundesbürgers (nach dem Schlafen). Es aktiviert in besonderem Maße Stimmungen, Emotionen und Affekte – und qualifiziert sich dadurch hervorragend für die Aufmerksamkeitserzeugung und die schriftstellerische Eigenwerbung. In einer Umfrage aus dem Jahr 1998 gab ein Drittel aller Buchkäufer an, durch das Fernsehen zum Kauf des vorgestellten Buches animiert worden zu sein.530 Die audiovisuelle Selbstdarstellung über das Fernsehen als allgemeiner, breit gestreuter Aufmerksamkeitsgenerator wusste beispielsweise auch Elfriede Jelinek für sich zu nutzen. Als ihr Roman Die Ausgesperrten im Jahr 1982 in Wien verfilmt

530 Vgl. Jörg Döring: Fernsehen. In: Schütz, Das BuchMarktBuch, S. 121-125, 121 ff.

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wurde, trat Jelinek in ihrer Romanverfilmung in einer Nebenrolle selbst in Erscheinung. „Sie spielte eine Lehrerin, die mit betonierter Hochsteckfrisur und dicker Brille durch ein altmodisches Klassenzimmer geht. Sie prüft Schüler über Adalbert Stifter, schickt die freche Anna hinaus, in einer weiteren Szene gibt sie Schwimmunterricht.“531 Das Fernsehen sei ein verlockendes Medium und sie selbst sei fernsehsüchtig, merkte Jelinek einst an. Der Strahlkraft einer Fernsehübertragung konnte sich die Schriftstellerin auch bei einer Preisverleihung nicht entziehen: Zu ihrer eigenen Literaturnobelpreisverleihung reiste Jelinek nicht persönlich an, sondern ließ sich filmen und über eine Leinwand übermenschlich groß in den Zuschauerraum der Zeremonie projizieren.

Abbildung 65: Mikroskopische (Ego-)Vergrößerung qua filmischer Sequenz: Nobelpreisverleihung an Elfriede Jelinek Der Vorteil des Fernsehens für die schriftstellerische Selbstdarstellung liegt darin verborgen, dass das audiovisuelle Medium als Kommunikations- und Inszenierungsstrategem grundsätzlich mehrkanalig, visuell und mündlich (sprachlich und musikalisch) funktioniert. „Das Fernsehen ist wie auch der Film ein Code, indem zweidimensionale Elemente (Bilder) sich in eine Linie (Bilderfolge) ordnen. Ihr Lesen kann entweder […] ein Rückfall in den Analphabetismus oder aber ein Lesen sein, bei dem sich das begriffliche Denken auf die Ebene der Imagination erhebt und andererseits die Imagination die Struktur des begrifflichen Denkens annimmt.“532

Das Fernsehen verzichtet nahezu gänzlich auf die Schrift, weil sie die Unmittelbarkeit, die das Medium Fernsehen auszeichnet, verhindert. Beim poetischen Wort, der literarischen Sprache und der Schriftstellerlesung gelangt das Fernseh-Medium an eine Grenze, ohne jedoch einen Verlust für die Selbstinszenierung zu verzeichnen, im Gegenteil. Das geschriebene Wort muss sich in das mündliche verwandeln und einen visuell-emotionalen Kanal zum Zuschauer schaffen. „Reine Leseblöcke in Magazinen oder Dokumentationen über Literatur sind meist auf unter eine Minute Sendedauer beschränkt, umständlich bebildert oder von

531 Mayer/Koberg, Elfriede Jelinek. Ein Porträt, S. 100. 532 Vilém Flusser: Für eine Phänomenologie des Fernsehens. In: Grisko, Texte zu Theorie und Geschichte des Fernsehens. S. 236-254, 243.

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didaktischen Kommentaren umrahmt.“ 533 Eine Ausnahme stellt die 3sat-LiveÜbertragung des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs dar. Inszenierungslogisch gerechtfertigt wird diese Form der Literaturpräsentation, in der der Autor etwa eine halbe Stunde aus seinem Werk lesen darf, durch den anschließenden Schlagabtausch der Jury. Fernsehsendungen, die auf einer sekundären Ebene Literatur kommentieren, vorstellen und empfehlen, werden von allen öffentlich-rechtlichen (kaum von privaten534) Sendeanstalten ausgestrahlt. Diese Fernsehsendungen sind Teil der Literaturkritik, die gegenwärtig sechs unterschiedliche Sendeformate kennt, in denen der Autorinszenierungen spezifische Spielräume zugewiesen werden: Es gibt das Kritikergespräch,535 das Studiogespräch zwischen Moderator und Autor,536 die umgebungsanimierte Buchreportage,537 den Magazin-Kurzfilm,538 den literarischen Szene-Clip539, die Bücher-Show540 und die Literatur-Dokumentation. Das Kritikergespräch personalisiert zwar den literarischen Diskurs, allerdings nur durch den Kritiker; Autoren kommen persönlich nicht zu Wort. Das Studiogespräch zwischen Moderator und Autor ist fester Bestandteil vieler Literatursendungen; die Selbstinszenierung erfolgt hier allein über das Interview im Aufnahme-Studio. Das Autoren-Interview ist ebenfalls Teil der umgebungsanimierten Buchreportage. In der Buchreportage entsteht das Interview jedoch nicht in der räumlich begrenzten Interaktionssituation des Aufnahmestudios, sondern im Freien, im Café oder während eines Besuches des Interviewers zuhause beim Autor oder an dessen bevorzugtem Aufenthaltsort. In der umgebungsanimierten Buchreportage werden die Moderatoren in Bewegung gesetzt. So spaziert der Moderator (zum Beispiel Dennis Scheck) einmal mit Champagnerglas durch einen Flughafen-Hangar, ein anderes Mal trifft er einen Motorradfahrer auf einer Landstraße, bald sitzt er in einem Ruderboot, dann wieder auf dem Turm eines Rettungsschwimmerausgucks. Ganz anders die Bücher-Shows. In diesem Format spricht die Moderatorin (etwa Elke Heidenreich) am Schreibtisch oder in einem Sessel sitzend Buchempfehlungen aus, um Leseförderung zu betreiben. Als Gäste treten Prominente auf, die als Laien ihrerseits Buchempfehlungen aussprechen dürfen; die Person des Autors tritt dabei in der Regel nicht in Erscheinung. In der Literaturdokumentation werden wiederum sachliche Informationen visuell emotionalisierend (z. B. durch Musikeinspielungen) und aus unterschiedlichen Perspektiven ebenso unterhaltsam wie facettenreich dargestellt. So ließ sich beispielsweise Elfriede Jelinek für einen Literaturbeitrag des Österreichischen Fernsehens beim Shoppen filmen und sagte, in einem Geschäft einen hochha-

533 Vgl. Jörg Döring: Fernsehen. In: Schütz, Das Buchmarktbuch, S. 121-125, 121. 534 Eine Ausnahme stellte die Sendung zehn vor elf des Schriftstellers Alexander Kluge auf RTL dar. 535 Das literarische Quartett (ZDF; 1988-2001), Literatur im Foyer (SWR), Weimarer Salon (MDR), Literaturclub (SF). 536 Bücher, Bücher (HR), Bestenliste (SWR), Was liest Du? (WDR), Bookmark (3sat). 537 Druckfrisch (ARD), Schümer und Dorn (SWR). 538 Beispielsweise: Kulturzeit (3sat), Lesezeichen (BR) und Bücherjournal (NDR). 539 Tracks (arte). 540 Lesen! (ZDF), Unsere Besten – Das große Lesen (ZDF).

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ckigen Schuh an sich drückend, dass eine „anti-konsumistische Haltung“ sowieso „nichts nützt“.541 Strukturbildend für das Darstellungsformat der Literaturdokumentation ist der biografische Zugang, zu dem das Autoreninterview ebenso zählt wie das Einspielen historischer, eigener und fremder Zitate, die die Darstellung des Autorenlebens ergänzen. Literatur wird lediglich zitiert. Ähnlich wie die Literaturdokumentation verfährt der Magazin-Kurzfilm, der um einiges kürzer als die Literaturdokumentation ist. Darin sieht man vor allem szenische Annäherungen an den Autor; kurze Statements desselben werden unterlegt mit Bildern, die ihn am Schreibtisch oder an charakteristischen Handlungsorten (etwa vor seinem Bücherregal) zeigen. Dazu formuliert der Off-Text eine literaturkritische Besprechung, bei der es sich zumeist um eine Literaturempfehlung handelt. Eine weitere Komprimierung der Literaturdokumentation stellt der Szene-Clip dar, der sich im zeitlichen Rahmen eines Musikvideos bewegt und sich durch schnelle Szenenwechsel sowie oft durch grelle Farben auszeichnet. Ein typisches Element für die schriftstellerische (Selbst-)Stilisierung im Medium des Fernsehens ist die begleitende und beobachtende Kamera sowie das Interview als Teil der mündlichen Inszenierung. Ein überzeugendes Fallbeispiel der Popularitätsgewinnung durch gezielt inszenierte Authentizität mittels teilnehmender Beobachtung der Kamera stellt die im September 2005 vom Kulturkanal 3sat erstmals gesendete Dokumentation über den Schriftsteller John von Düffel dar, der sich insgesamt ein Jahr lang mit der Kamera begleiten ließ.542 In dreizehn szenischen Sequenzen – vom Prozesses der Entstehung und Veröffentlichung des Romans Houwelandt bis zur Präsentation des Werkes in Lesungen und auf der Frankfurter Buchmesse – zeigt der Film Innenansichten des schriftstellerischen Lebens und Arbeitens. Der Autor vor seinem PC, der blinkende schwarze Cursor auf der weißen elektronischen Textoberfläche, Gespräche mit dem Verlagsleiter und dem Lektor, aber vor allem: Düffel persönlich, beim Schwimmen, Grübeln und, leitmotivisch, im Zug sitzend, suchend, (er-)fahrend, nicht ankommend – reisend. Hinein gestreut sind Satzfragmente, Gespräche und Reflexionen des Schriftstellers. Dann die erste Lesung, Vertreterkonferenzen, Marketinggespräche, TV-Auftritte und die Präsentation des Romans in Elke Heidenreichs Sendung Lesen!, schließlich ein Abspann mit einer bescheidenen Bilanz Düffels, der unter dem Erfolgsdruck ein Misslingen als realistische Möglichkeit bedenkt. Seine filmisch inszenierte Authentizität basiert auf seinem Einzelkämpferhabitus, der ohne intellektuelle und provokante Posen funktioniert. Anstatt zu trinken und zu rauchen, treibt Düffel Sport. Was Düffel von sich zeigt, ist das Alltägliche. Nicht das Bohème-Leben wird stilisiert, sondern das Joggen, das gesunde Leben. An die Stelle der selbstquälerischen Introvertiertheit und der ostentativen Verweigerungshandlung tritt die Selbstdisziplin, die nunmehr ein Teil der Selbst(er)findung des auktorialen Identitätsprojektes geworden ist. „John von Düffel gehört, wie es scheint, zu einer größer werdenden

541 Mayer/Koberg, Elfriede Jelinek, S.106. 542 Der 93-minütige Dokumentarfilm des Filmemachers Jörg Adolphs war unter dem Titel „Houwelandt. Ein Roman entsteht“ als DVD der mittlerweile vergriffenen Sonderausgabe des ein Jahr zuvor ohne DVD erstmals erschienen Romans „Houwelandt“ beigelegt. (John von Düffel: Houwelandt. Köln 2005.)

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Gruppe, die aus ihrer Autorschaft […] keine kompromisslose Haltung oder Berufung mehr macht“, sondern eine grundständige Existenz, die sich durch das mittelmäßig Verbindende auszeichnet und gerade dadurch symbolisches Kapital gewinnt.543 Wie hingegen das Interview vom Schriftsteller zu seinen Zwecken instrumentalisiert und gelenkt werden kann, demonstriert – noch einmal – Elfriede Jelinek, indem sie dem Interviewer stets das Stichwort für die nächste zu stellende Frage anbietet, der diese Vorlagen geschickt aufzugreifen versteht. Ein Interview-Auszug: „Müller: In Ihrem Roman Die Klavierspielerin bezeichnen Sie die Heldin als „formlosen Kadaver“, „schlaffen Gewebesack“, „krankhaft verkrümmtes, an Idealen hängendes Witzewesen, veridiotet und verschwärmt, nur geistig lebend“ […] Jelinek: Ja, das stimmt. Müller: Sind Sie das? Jelinek: Ja, das bin ich in meinem Selbsthass, der ist sehr stark ausgeprägt. Müller: Wie ist es möglich, im Selbsthass so kreativ zu werden? Jelinek: Ich kann nur aus negativen Emotionen heraus kreativ sein. Wäre ich mir sympathisch, fände ich das zwar angenehme, aber ich würde nicht schreiben. Es gibt eine Kreativität, die aus dem Positiven entsteht, und eine, die errungen wird, weil sie sich gegen etwas behauptet. Das Buch Die Klavierspielerin ist ja nicht nur gegen mich, sondern gegen meine Mutter gerichtet, obwohl das für mich eigentlich nie eine mütterliche Instanz war. Meine Mutter steht für die männliche Ordnungsmacht, für Ehrgeiz, Karriere, Geld. Sie war Managerin, also mit der Verteilung und Verwaltung von Kapital beschäftigt. Sie hat sich immer nur in Männerberufen bewegt. Mein Vater starb 1972 im Irrenhaus. Also ich bin sicher von der Mutter zerstört. Müller: Wo lebt Ihre Mutter? Jelinek: Hier in diesem Haus, über mir. Gott ist oben. […] Die Angst wird immer größer statt kleiner. Müller: Welche Angst? Jelinek: Es ist eine spezielle Form der Agoraphobie, die ausbricht, wenn ich in einer Menschenmenge angeschaut werde. Ich bin als Mädchen ein Jahr nicht aus dem Haus gegangen und war als Kind schon Patientin, weil ich wie eine Verrückte im Zimmer hin und her gerannt und mit dem Kopf gegen die Wand geknallt bin. Mein damaliger Psychiater hat gesagt, dass ich auf diese Weise den Druck, unter dem ich stand, loswerden wollte. […] Müller: [...]“544

Zunächst stets affirmativ bejahend (Ja, das stimmt und Ja, das bin ich) und damit Anpassung signalisierend, lenkt Jelinek als Interviewte doch jeweils durch die Nennung eines entsprechenden Stichworts (Selbsthass; meine Mutter (3x), mütterliche Instanz (1x), sie (2x); Angst) geschickt und gezielt den Verlauf des Gesprächs und gibt das diskursive Gesprächsarchiv vor, aus dem sich der Interviewer nur zu bedie-

543 Vgl. Wilhelm Amann: Arbeit am Autor. John von Düffel und die Filmdokumentation über die Entstehung seines Romans „Houwelandt“ (2004). In: Grimm/Schärf, Schriftsteller-Inszenierungen, S. 273-288. 544 Elfriede Jelinek im Gespräch mit André Müller. In: Müller: „… über die Fragen hinaus.“, S. 7-24, 11 f. (Herv. v. C. J.-W.).

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nen braucht. Tut er dies, entfaltet sich das Gespräch um Jelineks mythologischen Selbstentwurf beinahe wie von selbst. Kennzeichen der mündlichen Inszenierung im Medium des Fernsehens ist, neben der Oralität, die Tatsache, dass sie an den lebendigen Träger, an die Person des Schriftstellers gebunden ist; sie haftet an ihm und ist gedanklich nicht von der Person zu lösen (entsprechend Herders Lehre der Unmittelbarkeit) . Durch diese enge Verbindung des Interviews mit seinem lebendigen Träger entsteht die für die öffentliche Selbstinszenierung des Schriftstellers wichtige soziale und persönliche Bedeutung dieser Kommunikationsform, die ihre größte und nachhaltige Unmittelbarkeit im Fernseh-Format der Talk-Show erreicht. Festzuhalten bleibt: Die gewiss nicht magischen, aber doch enorm emotionalisierenden Effekte des Fernsehens entstehen dadurch, dass das Fernsehen eine besondere Intimität einfordert, in der Art, dass „der Zuschauer in die Ergänzung oder Schließung des Fernsehbildes in besonderer Weise einbezogen wird.“ 545 Das sogenannte involvement beim Fernseh-Zuschauer ähnelt dabei der Eingebundenheit des KinoZuschauers, der im dunklen Kinosaal selbstvergessen das Geschehen auf der Leinwand verfolgt, wenngleich das Fernsehschauen im häuslichen Ambiente einigen Störfaktoren unterliegt, die das involvement mindern können. Eine besonders intensive Selbstdarstellungs- und Fernsehwirkung lässt sich demnach durch die Inszenierung kurzer Intervalle mit hohem emotionalisierenden Wert erzielen, die ebenso spontan den Erkenntnis- und Erlebnisprozess der ganzen Person des Betrachters erfasst und es in kurzer Zeit vermag, „Tiefenschichten der Erfahrung, des Wünschens oder der Moral zu aktivieren“546, Neugier zu wecken und zum Kauf des Buches animieren.

S YMBOLISIEREN Große Gesten Große Gesten erfreuen sich auf dem gesellschaftlichen Parkett seit jeher großer Beliebtheit und vermögen das Image einer Person des öffentlichen Lebens, so auch eines Schriftstellers, zu formen und zu prägen. Definiert sich der Begriff der Geste in erster Linie über das semiotische Ausdruckspotenzial des menschliche Körpers dank Kopf, Arm- und Handbewegungen, so ist mit dem Begriff der großen Geste zunächst ein die ganze Handlung umfassender und diese repräsentierender Prozess gemeint. In ihrer Dramaturgie und Wirkung hat die große Geste symbolischen, kulturellen und durchaus politischen Wert. Die etymologische Wurzel liegt im lateinischen Verb gerere (zur Schau tragen), das im Wortursprung eng mit dem Begriff gesticulus ver-

545 Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Das Fernsehen. Der schüchterne Riese (1964). In: Grisko, Texte zu Theorie und Geschichte des Fernsehens, S. 124-139, 129 f. 546 Norbert Neumann/Hans Jürgen Wulff: Filmerleben. Annäherung an ein Problem der Medienforschung. In: Medien praktisch, Texte 2, 1999, S. 3-7, 5.

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wandt ist, der pantomimischen Bewegung. Und die ist, soviel ist bekannt, zwar ein stummes, doch höchst effektreiches und publicityträchtiges Schauspiel. Wie also die Geste (auch menschheitsgeschichtlich betrachtet) der eigentlichen, bewussten und sprachlichen Kommunikation vorausgeht,547 abstrahiert die große Geste freiwillig von sprachlichen Diskurselementen, um dadurch besonders natürlich und wahrhaftig Gefühle, Haltungen und Gemütsbewegungen universell, ja weltumspannend zu demonstrieren – wie etwa Willy Brandts Kniefall von Warschau im Dezember 1970. Eine medienwirksame große Geste hatte wohl auch Günter Grass im Sinn. Nicht er selbst wollte diese zeigen, doch forderte er sie von den christlich Gläubigen ein. Das Ereignis schildert Gunther Latsch im Spiegel unter der Überschrift Große Geste wie folgt: „Der Ort war würdig, das Publikum gesittet und das Thema von jener Harmlosigkeit, die gemeinhin größtmögliche Koalitionen garantiert. Es ging um die Bewerbung der Hansestadt Lübeck zur Kulturhauptstadt Europas 2010. Was konnte da schiefgehen?“ 548 Alles, meint Spiegel-Reporter Latsch. Denn Grass sei eben nicht nur ein Schriftsteller, sondern auch ein geistiger Aktionist, der sich gern und oft hinter und vor etwas stelle, „ohne ganz genau zu wissen, worum es eigentlich geht“: 549 Ob Waldsterben oder Weltfrieden, Ozonloch oder Osterweiterung, Globalisierung oder Grundrechte – es gibt fast nichts hier zu Lande, das von der Ein-Mann-Lichterkette unbehelligt diskutiert wird. Vor seiner Solidarität ist niemand sicher. [...] Sein Vorschlag: Man möge doch eine Lübecker Kirche zur Moschee umwidmen. Dies ‚wäre eine große Geste’, die sich auch für die Kulturhauptstadt-Bewerbung gut ausnehmen würde. Rums, das saß. Wieder einmal hatte G. G. den G-Punkt einer Klientel stimuliert, die im Bestreben, nicht intolerant zu scheinen, einen Masochismus pflegt, der der Selbstaufgabe nahe kommt.550

Die sichtlich getroffenen Anwesenden, unter ihnen auch Bischöfe und Kardinäle, übten sich in Demut und verhaltenem Respekt vor dem Unruhestifter und Nobelpreisträger. Weder agiere Grass als Verfechter literarischer Werte, auf die er sich versteht noch als politisch aktiver Geist, der argumentativ zu überzeugen versucht. Anstelle einer großen Geste demonstriere Grass in diesem Moment eine großmütige, selbstdarstellerische, boulevardeske Eitelkeit, so Latsch kritisch.551 „Boulevard, ernst genommen, bedeutet“, so erörtert Rainer Baumgart, „dass der Salon auf der Straße stattfindet, dass dort, auf dieser öffentlichen Bühne, flüssig und elegant über die fälligen Tagesthemen und Tagesmoden kommuniziert wird, unter der Regie dessen, was neuerdings wieder als Zeitgeist firmiert.“ Boulevard-Themen verzichten dabei auf philosophische und menschliche Tugenden oder „ins Altdeutsche übersetzt: auf Tiefe.“552 Grass’ Moschee-Vorschlag zielt in diesem Fall nicht darauf ab, für eine genui547 Vgl. George Herbert Mead: Geist, Identität, Gesellschaft (19934/1968). Frankfurt a. M. 1998, S. 51 ff. 548 Gunther Latsch: Große Geste. In: Der Spiegel, 2004, Heft 8. 549 Vgl. ebenda. 550 Ebenda. 551 Vgl. Rainer Baumgart: Boulevard – was sonst? In: Andrea Köhler/Rainer Moritz (Hrsg.): Maulhelden und Königskinder. Leipzig 1998, S. 53-61, 59. 552 Ebenda, S. 59.

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ne Überzeugung einzutreten, sondern Grass versteht es, sich als kluger Kopf darzustellen, der trotz Ermangelung eines entsprechenden Anlasses als intellektuelle Persönlichkeit in den öffentlichen Diskurs einzugreifen und Aufmerksamkeit zu binden versteht.

Markenzeichen Unter der Inszenierungsstrategie der Bildung eines Markenzeichens (auch „Branding“553 genannt) ist die verbal oder visuell pointierte Vereinfachung von Eigenheiten zu verstehen, die zum Ziel hat, die öffentliche Kommunikation über die feldinterne Position eines Schriftstellers zu vereinfachen und gezielt zu verkürzen. Das Markenzeichen eines Schriftstellers dient in der Literatursoziologie als diskursleitendes Prinzip, das Differenz und Distinktion schafft. Zum Prinzip des Kennzeichnens und Brandens auf dem literarischen Feld bemerkte Bourdieu: „Die Wörter, Namen von Schulen oder Gruppen, Eigennamen sind nur deshalb so wichtig, weil sie die Dinge schaffen: Als distinktive Zeichen schaffen sie Existenz in einem Universum, in dem existieren differieren heißt, ‚sich einen Namen machen‘, einen Eigennamen.“ 554 Anders als das Label, das zumeist von Literaturvermittlern zur Einordnung von Gegenwartsliteratur (wie Wenderoman und Popliteratur) verwendet wird und sich dadurch auszeichnet, dass es zu der Etikettierung noch „ein ganzes Paket von Assoziationen“555 transportiert, ist das Markenzeichen eines Schriftstellers zumeist von ihm selbst kreiert, durch die Betonung von ihm geschätzter Eigenschaften, äußerlicher Attribute oder unveränderlicher Charaktermerkmale. Das Markenzeichen ist, anders als das Label, personenbezogen und nicht verallgemeinerbar. Referenztauglich wird es durch die Mischung aus Wiederholbarkeit und Wiederholungen, durch prägnante Pointierungskraft einerseits und immer wiederkehrende, manchmal auch inflationäre Frequenz andererseits. So stellen die spezifische Betitelung der Bücher des Popautors Benjamin von Stuckrad-Barre mit Begriffen aus dem Bereich der Musikkultur (Soloalbum (1998), Remix (1999), Bootleg (2000) und Livealbum (2005)) sowie dessen fotografische Selbstdarstellung mit rock- und popstaraffinen Elementen (auf einer Party auf dem Boden hockend, in die Schallplatte der Pet Shop Boys beißend) eine klassische Markenwerbung dar.556 Die Marke lässt sich semiotisch als indexikalisches Zeichen (Peirce) beschreiben, denn als Anzeichen steht das Marken-

553 Marc Reichwein: Diesseits und jenseits des Skandals. In: Neuhaus/Holzner, Literatur als Skandal, S. 89-99, 95. 554 Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Frankfurt a. M. 2001, S. 235. 555 Birgit Mandel: PR für Kunst und Kultur. Zwischen Event und Vermittlung. Frankfurt a. M. 2004, S. 69. 556 Vgl. Dirk Niefanger: Der Autor und sein „Label“. In: Heinrich Detering (Hrsg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. Stuttgart, Weimar 2002, S. 521- 539, 522.

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zeichen in einem direkten und kausalen Zusammenhang zu seiner Ur-Sache (der Schriftstellerpersönlichkeit), die sie zugleich anzeigt und verhüllt. 557 Die Marke Wladimir Kaminer konstituiert sich über den Habitus des kulturellen Exoten, den der Schriftsteller Kaminer konstant über einen langen Zeitraum inszeniert. Seine Romane tragen auf dem Cover nicht selten den Roten Stern und Namen wie Russendisko (2002), Militärmusik (2003), Ich bin kein Berliner (2007), Es gab keinen Sex im Sozialismus (2009) oder Meine russischen Nachbarn (2009). Neben den Texten trägt entscheidend zu Kaminers Markenbildung als der „bekannteste Russe Deutschlands“558 die regelmäßig im Berliner Café Burger stattfindende und von ihm co-organisierte Tanz-Veranstaltung mit dem Namen Russendisko und deren Bewerbung auf Kaminers Website559 bei.

Abbildung 66: Website (o. l.), Kaminer (o. m.)560, Merchandising-Artikel (u.)

557 Charles Sanders Peirce: Semiotische Schriften (1931). 3 Bände. Hrsg. v. Christian Kloesel/Helmut Pape. Frankfurt a. M. 1986. 558 Philip Wesselhöft: „Wir hatten keinen Panzer.“ Benzingespräch mit Wladimir Kaminer. In: Der Spiegel, 30.03.2006. 559 Website von Wladimir Kaminer: www.russendisko.de (Stand: Oktober 2010). Seit 2011 ist

Wladimir

Kaminer

mit

einer

zweiten

Website

im

Internet

präsent

(www.wladimirkaminer.de), auf der neben einer fiktionalisierten, humoristischen Kurzbiografie und Werkübersicht auch ein Blog, eine Veranstaltungsübersicht und eine Möglichkeit installiert ist, den Künstler direkt online für Lesungen und Veranstaltungen zu buchen (Stand: Januar 2014). 560 Wladimir Kaminer, offizielles Autorenfoto zum Download: www.russendisko.de (Stand: Oktober 2010).

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Auf seiner Website sind neben Fotos des Schriftstellers und Veranstaltungshinweisen zu seinen Lesungen und Diskoabenden auch Kurzfilme zu finden – nicht von ihm, sondern über ihn. So zum Beispiel ein satirisch-folkloristischer Videobeitrag, in dem Kaminer in einer Berliner Kleingartenanlage die Topoi von Heimat und Spießbürgerlichkeit inszeniert: Er steht zwischen blühenden Rosen am Gartentor, das mit einem getöpferten Namensschild geschmückt ist. Er hantiert mit einer langstieligen Harke. Unterlegt ist dieser Kurzfilm mit einem Kommentar aus dem Off, der Kaminers Mythos vom angepassten Kulturexoten („Privat ein Russe, beruflich ein deutscher Schriftsteller“ (Kaminer)) untermauert; aus dem Off hört man den ironischen Kommentar: „Der russisch-stämmige Kosmopolit jätet das Unkraut und zieht Nutzpflanzen. Die lockere Art des Künstlers kommt im Kleingartenverein gut an. Doch auch Kaminer muss sich an die strenge Gartenordnung halten. Der Vorsitzende des Vereins kontrolliert, wie hoch das Gras steht […]“

Der Mythos, der sich einerseits über sein sich an den deutschen Gepflogenheiten orientierenden Verhaltens und andererseits durch die Inszenierung seiner russischen Herkunft (nicht zuletzt aufgrund seines markanten sprachlichen Akzents) ausbildet, wird verstärkt und spezifiziert durch den fünfzackigen, die sozialistische Weltanschauung symbolisierenden roten Stern. Er ziert nicht nur Kaminers Buchcover, sondern auch seine Website und die T-Shirts, die er trägt (stets bedruckt mit dem Titel seines aktuellen Buches) und die man als Besucher seiner Website im Merchandising-Shop online bestellen kann. Wie hartnäckig ein einmal etabliertes persönliches Markenzeichen sein kann, davon weiß der Schriftsteller John von Düffel zu berichten. Sein erster Roman Vom Wasser (1998) brachte ihm im selben Jahr nicht nur den Hauptpreis des IngeborgBachmann-Wettbewerbs ein, sondern auch sein Markenzeichen. Fortan trug Düffel das Etikett: „Der mit dem Wasser“ (Richard Kämmerling).561 Gestützt wurde das Image durch die Titel seiner folgenden Veröffentlichungen, wie das Werk Wasser und andere Welten. Eher assoziativ und metaphorisch ist der Titel des filmischen Werkstattberichts zum Entstehungsprozess seines Romans Houwelandt. In der Reihe Kleine Philosophie der Passionen erschien sein Essay unter der Überschrift: Ich schwimme, also schreibe ich (2000). Da der Essay, in dem Düffel das Schreiben mit dem Schwimmen analogisiert, wesentlich ist für dessen Mythos, wird der markenbildende Aufsatz nachfolgend in einiger Ausführlichkeit zitiert:562 „Was braucht man zum Schreiben? Dasselbe wie zum Schwimmen: vor allem Kondition und Disziplin. Soweit das Gelingen eines Satzes oder einer Strecke überhaupt von einem selbst abhängt, sind das die Voraussetzungen. Dabei ist die Kondition, die das Schreiben herausfordert, sehr viel körperlicher, als man gemeinhin denkt, die Disziplin beim Schwimmen dagegen geis-

561 Vgl. Richard Kämmerling: „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren?“. Über Markt und Moden. In: Olaf Kutzmutz (Hrsg.): Geld, Ruhm und andere Kleinigkeiten. Autor und Markt: John von Düffel. Wolfenbüttel 2007, S. 12-21, 13. 562 John von Düffel: Ich schwimme, also schreibe ich. In: Die Welt, 03.06.2000.

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tiger, als man glaubt. Man braucht nicht nur einen eisernen Willen, um drei oder fünf Kilometer im Wasser im Freistil zu durchpflügen. Man muss sich dem Wasser widmen mit einer Hingabe und inneren Beharrlichkeit, wie sie eine große Geschichte von ihrem Erzähler verlangt.“

Nach einer metaphorischen Betrachtung zum Strom der Worte und Bewegungen, widmet sich von Düffel dem Willensakt des Beginnens: „Am Anfang ist immer das Eintauchen, der Wechsel von einem vertrauten Element in das andere, fremde. Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass es mich keinerlei Überwindung kostet. Im Gegenteil. Sich hineinzugeben in die Welt des Wassers oder einer Geschichte heißt auch immer Abschied zu nehmen von dem Leben, das man im Augenblick gerade lebt. Und dieser Abschied fällt nicht immer leicht. Oft muss man sich regelrecht losreißen, von den Menschen und Annehmlichkeiten, die einen umgeben. Es gibt manchmal vieles, was man lieber täte, einfach deshalb, weil das Element des Schwimmens und des Schreibens vom Augenblick des Eintauchens an keine Rücksicht kennt. Das Wasser löst einen aus allen Bezügen. Man liefert sich ihm aus, ganz und gar.“

Auf eine Passage über die Einsamkeit (Das Element des Schreibens wie des Schwimmens ist ein eifersüchtiges Element. Es duldet keine andere Nähe), folgt das Sinnieren über seine fundamentale Angst: „Jeder, der ernsthaft schwimmt oder schreibt, hat Angst vor dem, was er tut. Ihm begegnet auf den langen Strecken jedes Mal die Möglichkeit des Scheiterns, des völligen Untergangs. Und da es in den Geschichten niemanden gibt, keine Menschen außer denen, die er in sich trägt, kann ihm auch niemand zu Hilfe kommen. Jeder Schwimmer weiß das. Er weiß, dass er vom Moment des Eintauchens an mit dem Wasser allein ist, und er kann nur hoffen, dass es ihn trägt. Er weiß, dass er seinen ganzen Willen zusammen nehmen muss, um in diesem Element zu bestehen, und er weiß auch, dass das nicht reicht. Letztlich ist es der Gunst des Wassers zu verdanken, wenn sich dieser Wille in Bewegung verwandelt und er mit schnellen, geschmeidigen Zügen durch das Becken gleitet, so als gäbe es keinen Widerstand zwischen dem Wasser und seiner Bewegung, so als wären Schwimmen und Geschwommenwerden eins. Die Angst schreibt und schwimmt immer mit.“

Diskursanalytisch lässt sich in diesem Essay vieles entdecken: Düffel inszeniert seinen Mythos durch komponenten-semantische Synonyme (Wasser, dieses Element), prototypen-semantische Topoi (Kondition, Disziplin, Hingabe, Angst, Wechsel), feldsemantische Kollokationen (eintauchen, bestehen, nicht untergehen, in schnellen, geschmeidigen Zügen gleiten) und universelle, rahmen-semantische Metaphern (springen/schwimmen und beginnen/schreiben). Von Düffel stellt zudem sowohl den intratextuellen Kontext (schwimmen = schreiben) als auch den intertextuellen Kontext her, er bettet also – nicht zuletzt durch den Descartes zitierenden Titel Ich schwimme, also schreibe ich – die semantischen Bezüge in einen kulturgeschichtlichen Wissensrahmen. Und darüber hinaus vergisst er die extratextuellen Kontexte nicht. Denn nicht nur im geistigen Spiel wendet sich John von Düffel dem Schwimmen zu: Er lässt auch den Leser wissen, dass es ihn auch in der Freizeit ans Wasser zieht. Indem er seine leibhaftigen Erfahrungen im Schwimmbad dokumentiert, verfestigt er sein Markenzeichen. Dann schreibt er:

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„Mit zittrigen Fingern fahre ich über den Stadtplan und folge dem Weg zum Wasser. Glasfassaden. Siebziger-Jahre-Architektur. Ich betrete den Eingangsbereich der Schwimmhalle. Der Geruch von Chlordunst und Ammoniak schlägt mir entgegen. Schwüle, schweißige Luft. Ich zahle und passiere das Drehkreuz. Das Geschrei von Kindern im Wasser, anschlagende Sprungbretter, das Platschen eintauchender Körper. Mit einem Ohr versuche ich herauszuhören, wie voll das Becken heute sein wird, was für Revierkämpfe mich diesmal erwarten, bis ich ein Stück Einsamkeit im Wasser erobert habe und verschmelzen kann mit meiner Bahn. Währenddessen ziehe ich mich aus und hänge meine Kleidung auf den torsoförmigen Bügel – Jacke, Pullover, Hose, die ganze äußere Hülle. Ich schließe sie ein und gehe barfuß die gekachelten Gänge hinunter, den Geräuschen des Wassers entgegen. Meine Angst erreicht ihren Höhepunkt. Es ist stickig in den Duschräumen und Zwischengängen, doch ich friere. […] Unter meinen Händen die Armaturen der Vordusche. Ich drücke einen Knopf und lasse das kalte Wasser auf mich niederprasseln. Es trifft hart auf Kopf und Schultern und rinnt mit flüssigen Fingern an mir herab. Ich habe das Element noch nicht gewechselt. Noch umgibt mich das Wasser nicht. Tropfend lege ich die letzten Meter zurück. Meine klatschenden Schritte auf dem Weg zum Beckenrand. Ich schaue auf das Wasser, das unverwandte Blau, die unruhig zitternde Oberfläche, immer auf der Suche nach einer möglichen Bahn. Neben einem Startblock bleibe ich stehen. Ich setze meine Chlorbrille auf und drücke sie tief in die Augenhöhlen. Mein Atem beschleunigt. Ich gehe in die Hocke, die Zehen am Beckenrand festgekrallt. Eine Sekunde das Innehaltens wie für einen unhörbaren Schuss. Dann ist es soweit. Ich springe.“

Umspielt John von Düffel in seinem Essay also in besonderer und idealtypischer Weise (in Anlehnung an Alan Sillitoes Die Einsamkeit des Langstreckenläufers) den Mythos des einsamen Langstreckenschwimmers, so greift er das Wasser-Motiv auch fiktionalisierend in seinen Romanen auf. Das Meer und das Schwimmen symbolisieren dort eine Gegenwelt zu den Sozialformen der Familie und der Gesellschaft. Dieses für Kritiker und Rezipienten motivische, qualitativ recht gehaltvolle und quantitativ umfassende Diskursarchiv brachte einen Reichtum an interdiskursiven Assoziationen, Sprachspielen und Zuschreibungen hervor, die von Düffels Mythos nachhaltig festigten (wie etwa: „John von Düffel ist in seinem Element“, „die Prosa fließt nur so dahin“, „er geht baden“ etc.563). Ist die Marke einmal etabliert, bleibt sie am Schriftsteller haften. Dazu bemerkt Düffel: „Ich habe mich beispielsweise beim Schwimmen filmen lassen. Als der Aspekte-Literaturpreis kam, bin ich mit Kameraleuten in ein Bonner Freibad gegangen, obwohl ich aufgrund vieler Lesungen nicht gut trainiert war. Dort habe ich meine Runden gedreht und war mit meinem Schwimmstil völlig unzufrieden. Bei dem Film ging es nicht darum, meinen Trainingszustand zu beurteilen, sondern um den Teil einer Vermarktungsstrategie […]. Ich hatte nichts gegen ein Merkmal wie „John von Düffel ist der Wassermann“, sondern habe mich gefragt: Wie viele Merkmale darf man haben oder wie vielseitig darf man sein? Das war der Moment, als ich merkte: das ist größer und stärker als du, denn ich habe gesehen, dass ich gewissen Etiketten nicht mehr entkomme. So sah die erste Begegnung aus, die losgelöst war von meiner Person. Das einzige, was ich noch hätte machen können: Ich hätte ein Buch über Feuer, eins über Erde

563 Kämmerling, „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren?“, S. 15.

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und eins über Luft schreiben können und wäre dann der Mann mit den Elementen gewesen. Aber ich hätte nicht mehr etwas ganz anderes machen können.“564

Der gescheiterte Versuch eine Marke mit angehängtem Zeichen zu werden, ist hingegen an der öffentlichen Figur Christian Kracht zu studieren. Die Kalaschnikow hatte Christian Kracht sich als sein Markenzeichen ersonnen. Sie zierte als MiniaturSymbol die anklickbaren Unterpunkte auf seiner Website und diente ihm als Requisit, das er in beiden Händen hielt, als er selbst auf dem Cover seines Buches Mesopotamia (2001) fotografisch abgebildet war. Allerdings gab es es in seinem literarischen Werk nur wenige imaginäre Ösen zum Einhaken, und dieses brachiale Instrument ist (anders als die Pfeife von Günter Grass) bei öffentlichen Selbstinszenierungen nicht so leicht mitzuführen, wodurch eine direkte Verbindung zu Krachts Persönlichkeit unterbunden wurde. Weil er zudem diese Markensymbolik nur partiell und temporär inszenierte und ein kohärentes Konzept als Grundlage für ein Markenprodukt nicht erkennen ließ, verhinderte er selbst, dass die gewählte kriegerische Symbolik als Markenbegründung von relevanten Diskursinstitutionen des literarischen Feldes aufgegriffen und fortgeschrieben werden konnte. Krachts Kalaschnikow fand folglich keinen Platz im literaturbetrieblichen Gedächtnis besonders markanter Selbstinszenierung. Auch sein Foto auf dem Mesopotamia-Cover wurde bald ersetzt durch eine Zeichnung von einem Landschaftsbild, einem gläsernen Wartesaal in einer rötlichen Natursandsteinkulisse. Der Erfolg eines Markenzeichens und dessen Verankerung im literarischen Diskurs lässt sich besonders deutlich an personenbezogenen Karikaturen ablesen, die diese Vereinfachung auf wesentliche Erkennungsmerkmale künstlerisch reduzieren und durch die Visualisierung dieses Markenzeichen besonders rasch im öffentlichen Gedächtnis verankern. Bei Günter Grass ist es der Oberlippenbart, die Lesebrille und der stets zum Protestieren geöffnete Mund:

Abbildung 67: Sichtbarkeit von Markenzeichen in der Karikatur, Günter Grass gezeichnet von Bubec565

564 John von Düffel, in: Kutzmutz, Geld, Rum, Autor und andere Kleinigkeiten, S. 14. 565 Günter Grass karikiert von Bubec. Entnommen aus Bubec: Köpfe mit Köpfchen. Nürnberg 1998, Titelbild. Bubec alias Lutz Backes zeichnete 25 Jahre für das Handelsblatt. In

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Das Markenzeichen kann einerseits innerhalb eines sozialen oder kulturellen Milieus der internen Distinktion dienen – wie etwa auch die unverkennbaren Requisiten Bertolt Brechts: seine Schiebermütze, eine Zigarre und die Nickelbrille. Das Markenzeichen kann zudem einen ganzen Berufsstand betreffen und als klassen-habituelles Erkennungszeichen fungieren, zum Beispiel über standesgemäße Kleidung. So war das Rüschenkragenhemd für den Dichter im 18. Jahrhundert ebenso markant wie die Inszenierung der anti-bürgerlichen Unangepasstheit und Lasterhaftigkeit qua Zigarette im 20. Jahrhundert.

Abbildung 68: Friedrich Schiller, Karl Philipp Moritz, Jean Paul 566

Abbildung 69: Autorenporträts der 1980er- & 1990er-Jahre567

seiner täglichen Rubrik Bubecs Zerr-Spektive widmete er sich vorrangig Politikern und Personen der Zeitgeschichte). 566 Gemälde von Friedrich Schiller, Karl Philipp Moritz und Jean Paul entnommen aus: Möbus (Hrsg.), Dichterbilder, S.49, S.46 und S.51. 567 Autorenporträts. Entnommen aus: Isolde Ohlbaum: Autoren, Autoren. Ein Bilderbuch. Mit einem Vorwort von Elke Heidenreich. Cadolzburg 2000, S. 33 ff. Autoren (v. l. n. r.): George Tabori (1990), Antonio Tabucchi (1986), Jan Skacel (1989), Libuse

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Während die von Isolde Ohlbaum568 zwischen 1978 und 1996 porträtierten Autoren das in Szene gesetzte Laster des Rauchens vereint, ist es bei den Autoren der 2000erJahre der Konservatismus, der sie verbindet. Er ist in die Stromlinienförmigkeit, die kapital- und leistungsorientierte Konformität (Anzug, weiße Bluse) klassenhabituell eingeschrieben und formt die Marke „Gegenwartsautor/in“.

Abbildung 70: Autorenporträts der 2000er-Jahre569 Mit schwarzem Rollkragenpullover und stregem Blick: Sybille Berg; im Outfit des Bankangestellten und Dandys: Benjamin von Stuckrad-Barre; in weißer Bluse und in Angestellten-Art verbindlich lächelnd: Alexa Hennig von Lange; in traditionellem Janker mit Hirschhornknöpfen: Christian Kracht; anschmiegsam, sich an ihre eigene Schulter kuschelnd: Zoë Jenny.

B ILDER DISTRIBUIEREN „Noch nicht zu höherer Erkenntnis gelangt, hält die Menschheit sich noch immer in Platos Höhle auf und ergötzt sich – nach uralten Gewohnheiten – an bloßen Abbildern der Wahrheit“570, schreibt Susan Sontag. Porträtaufnahmen, die wie jedes Foto „zwischen Kunst und Wahrheit“ angesiedelt sind, gleichzeitig als „Mittel zur Be-

Monikova (1982), Amos Oz (1983), Monika Maron (1991), Gerhard Roth (1995), Joseph Brodsky (1992), Paul Nizon (1978), Michael Hamburger (1996), Said (1992), Robert Schindel (1992). 568 Isolde Ohlbaum: Autoren, Autoren. Ein Bilderbuch. Cadolzburg 2000. 569 Autoren v. l. n. r. (und Fotografen): Sibylle Berg (Katja Hoffmann), Benjamin von Stuckrad-Barre (Ali Kepenek), Alexa Hennig von Lange (Frank Schinski), Christian Kracht (Anthony Shouan-Shawn), Zoë Jenny (LifePR). Offizielle Autorenfotos zum Download, entnommen der jeweiligen Website der Autoren, siehe: www.sybilleberg.de, www.stuckradbarre.de, www.alexahennigvonlange.de, www.christiankracht.com und www.zoejenny.com. 570 Susan Sontag: In Platos Höhle (1978). In: Dies.: Über Fotografie. Frankfurt a. M. 2006, S. 9-30, 9.

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glaubigung“ dienen und diese zugleich manipulierbar machen, reizen mit einer besonderen Wirkungsmacht. „Jede Fotografie ist ein memento mori. Fotografieren bedeutet teilnehmen an der Sterblichkeit, Verletzlichkeit und Wandelbarkeit anderer Menschen (oder Dinge).“ Und gerade in der „Stummheit dessen, was auf Fotografien hypothetisch verstehbar ist, liegen deren Reiz und Herausforderung“571, ihre packende, fesselnde, eine „expansive Kraft“572 und ein ungebrochenes Potenzial der Selbstdarstellung. Der Grund? Das Bild spricht eine andere Bewusstseins- und Wahrnehmungsebene an als die Schrift, von der es oft ergänzt wird. „Der Sinn der Worte gilt als gegeben […]: Der Mensch kann demnach sprechen, wie eine elektrische Birne glühen kann.“ 573 Auch die Bildsprache glüht, doch fehlen ihr rational begründete Konventionen. Gemäß Merleau-Ponty fehlen dem Menschen konventionelle leibliche Ausdrucks- und Deutungsmittel, die dem Gegenüber die eigenen Gedanken adäquat bekunden könnten, etwa in der Art, als wenn für jedes Körperzeichen die Bedeutung schon a priori gegeben wäre. Stattdessen müsse man lernen, die Bedeutung zu erkennen.574 Das Bild ist aber nicht weniger gebieterisch als die Schrift, im Gegenteil, meint Roland Barthes. Die Abbildung „zwingt uns ihre Bedeutung mit einem Schlag auf, ohne sie zu analysieren, ohne sie zu zerstreuen“, ohnedass wir uns von ihr umgehend rational distanzieren können. Dies verleihe dem Bild den „Charakter eines Diktums.“575 Bei diesem Diktum handelt es sich nicht um komprimierte und überprüfbare Wahrheiten, denn – und darin liegt die Krux – im Falle der Selbstinszenierung diktieren die Fotos idealisierte Identitätsentwürfe und zeigen (inszenierte oder von innen heraus an die Körperoberfläche getragene) Posen, ohne sich jedoch von der individuellen körperlichen Existenz des Einzelnen abheben zu können. Über die fotografisch sich verfestigende Verleiblichung in der inszenierten und gestellten Pose philosophiert Barthes: „Was die Natur der Photographie begründet, ist die Pose. Dabei ist die reale Dauer der Pose nicht von Belang; selbst während einer Millionstel Sekunde (der Milchtropfen von E.D. Edgerton) hat es immer noch eine Pose gegeben, denn die Pose ist weder eine Haltung des photogra-

571 Susan Sontag: Über Fotografie. Frankfurt a. M. 2006, S. 9-30; 11 ff. u. 29. 572 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt a. M. 2005, S. 55. 573 Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1945, S. 208. 574 Vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 199. Das Lesen der Körperzeichen sei deshalb wichtig, so Merleau-Ponty, weil die inneren Zeichen selbst ihren Sinn nach außen tragen. Das Ausgedrückte existiere somit nicht neben dem Ausdruck, sondern der Ausdruck sei mit dem Inneren identisch. Auf diese Weise bliebe der Körper Ausdruck der gesamten Existenz, nicht als dessen äußere Begleiterscheinung, sondern weil er sie realisiert. Dieser inkarnierte, verkörperte Sinn sei das zentrale Phänomen, dessen abstrakte Momente Körper und Geist, Zeichen und Bedeutung sind. 575 Barthes, Mythen des Alltags, S. 87.

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phierten Objekts noch eine Technik des operator576, sondern der Begriff für eine Absicht bei der Lektüre.“577

Die der Pose und der Fotografie zugrunde liegende Absicht ist sowohl für den fotografierten Literaten als auch für den späteren Betrachter grundlegend. „Wenn ich ein Photo betrachte, so schließe ich unweigerlich in meine Betrachtungen den Gedanken an jenen Augenblick, so kurz er auch gewesen sein mag, mit ein, als sich etwas Reales unbeweglich vor dem Auge befand“, sagt Barthes. „Ich übertrage die Unbewegtheit des Photos, das ich vor Augen habe, auf die in der Vergangenheit gemachte Aufnahme, und dieses Innehalten bildet die Pose.“578 Die beim Betrachten einer Fotografie hervorgerufene Assoziation, dass etwas einmal genauso war, wie es vor dem Auge erscheint – erstarrt und gebannt in dem fotografischen Abbild –, begründet einen weiteren Reiz und die Wirkung dieses Mediums der Selbstinszenierung: „Wie man es auch dreht und wendet: die Photographie hat etwas mit Auferstehung zu tun“579, meint Barthes. Jedes Foto ist dadurch eine Beglaubigung von Präsenz, die durch den Betrachter entsteht. „Jede Photographie hat mich als Bezugspunkt, und eben dadurch bringt sich mich zum Staunen, dass sie die fundamentalen Fragen an mich richtet: warum lebe ich hier und jetzt?“ Dadurch habe das fotografische Bild auch eine metaphysische Natur. In diesem „bizarren Medium“580 verschränken sich zeitliche „Verrücktheit“581, „entfachte Liebe“ („Ist man nicht in manche Photographien verliebt? (Wenn ich Photos aus der Welt Prousts betrachte, verliebe ich mich in Julia Bartet, in den Herzog von Guiche.)“582) und „Mitleid“583 (in der geistigen Umarmung dessen, was vergänglich, bald tot ist, sterben wird). Das Foto ist dadurch „Verlangen“ und „Ekstase“ des Lebens. Man habe die Wahl, ihr Schauspiel dem zivilisierten Code der perfekten Trugbilder zu unterwerfen oder aber sich der in ihr erwachenden unbeugsamen Realität zu stellen.Nichts Geschriebenes könne diese durch das Foto verbürgte Gewissheit der Anwesenheit im Leben geben. „Darin liegt das Übel (vielleicht aber auch die Wonne) der Sprache: dass sie für sich selbst nicht bürgen kann.“ 584 Anders als der Film kann das Foto beseelen, weil es den Betrachter auf sich selbst zurückwirft, anstatt ihn mitzunehmen. Vor der Filmleinwand kann man nicht die Augen schließen, weil sonst, wenn man sie wieder öffnet, man nicht mehr dasselbe Bild vorfände. (Zum Film bemerkt Barthes: „Ich bin zu ständiger Gefräßigkeit gezwun-

576 Der operator ist der Fotograf; der spectator ist der Bildbetrachter. (Vgl. Barthes, Die helle Kammer, S. 17.) 577 Barthes, Die helle Kammer, S. 88 (Herv. i. O.). 578 Ebenda, S. 88. 579 Ebenda, S. 92. 580 Ebenda, S. 126. 581 Ebenda, S. 127. 582 Ebenda, S. 127. 583 Ebenda, S. 128. 584 Ebenda, S. 96.

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gen“585, die nicht Nachdenklichkeit, sondern Ablenkung evoziert.) Und noch etwas macht den Inszenierungsreiz und den Faszinationstyp des Fotos aus: Das Individuum auf dem Foto schaut mich an; etwas, das der Film durch seine in sich geschlossene fiktionale Narration verbietet. Frappierend omnipräsent ist das fotografisch erfasste Porträt nicht nur im privaten, sondern auch im öffentlichen Raum – vom Schnappschuss bis zum statuarischen Bild. Obwohl ein Großteil der schriftstellerischen Selbstinszenierungen verbal erfolgt (sei es essayistisch, in Gesprächen oder Interviews), erlangt das Foto als bildlicher Epitext spürbar Relevanz auf dem literarischen Feld. „Die professionelle Ausgestaltung von Autorenfotos ist das wohl sichtbarste Zeichen für die zunehmende Inszenierung visueller Paratexte in der öffentlichen Kommunikation über Literatur: Vom großen Erfolg der Erzählerin Judith Hermann kann man beispielsweise kaum sprechen, ohne ihr wie gemalt wirkendes Porträtfoto zu erwähnen. […] Das hinter diesen Paratexten stehende Konzept scheint klar: ‚In einer Zeit des literarischen Überangebots und wählerischer Konsumenten braucht man Botschaften, die auf den ersten Blick Aufmerksamkeit erregen.’ Das Bild des Autors leistet genau dies; gleichzeitig schreibt es auch langfristig am Kultstatus von Autoren mit.“586

Das „gestiegene Bewusstsein für visuelle Images“ drückt sich sowohl im Literaturmarketing, also auf Buchumschlägen, in Verlagskatalogen und auf Werbeplakaten, als auch in der Literaturberichterstattung aus. Wenn die Verlagsabteilung für Öffentlichkeitsarbeit Pressetexte verschickt, seien Autorenfotos so wichtig, weil heute nicht nur Illustrierte wie Stern und Brigitte, sondern auch viele Tages- und Wochenzeitungsredaktionen am Vorhandensein von Bildern entscheiden, ob und wie sie ein Buch zum Thema machen – oder eben nicht. Selbst Redakteure und Grafiker der Feuilletons wie das der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung monierten, dass Autorenfotos „insgesamt ein bisschen attraktiver sein könnten.“587 Widerstand gegen die Macht des Bildes scheint zwecklos. Da hilft auch sanfte Rebellion nichts, wie das Beispiel von Uwe Johnson zeigt, der in einem Brief an seinen Verleger Siegfried Unseld schrieb: „[...], der Zustand meines Antlitzes kommt mir nicht vor wie eine Information über das Buch, und [ist] deswegen auf dem Schutzumschlag entbehrlich.“588 Dieser Einwand blieb bereits 1970 ungehört und Johnson musste sich wohl oder übel mit seinem Gesicht auf dem Umschlag anfreunden. Das Foto ist eine klassische Werbestrategie, die unterschiedliche Funktionen übernimmt. Für Karl May, den Ernst Bloch einen „armen, verwirrten Proleten“ nannte, mussten seine veröffentlichten Porträts eine äußerst fragile Identität abstützen. „Bis an sein Lebensende kränkte es ihn, dass er in jüngeren Jahren in fremde Kassen

585 Barthes, Die helle Kammer, S. 65. 586 Reichwein, Diesseits und jenseits des Skandals, S. 93 f. 587 Ebenda, S. 94. 588 Uwe Johnson: Brief an Siegfried Unseld (11.03.1970). In: Eberhard Fahlke/Raimund Fellinger (Hrsg.): Uwe Johnson und Siegfried Unseld. Der Briefwechsel. Frankfurt a. M. 1999.

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gegriffen hatte, wofür er mit Zuchthaus bestraft worden war. Diese Spuren galt es zu verwischen“589, so perfektionistisch, bis die wachsende Leserschar glaubte, er sei identisch mit seinem makellosen und fehlerfreien Romanhelden Old Shatterhand. Bei Thomas Mann bedienten die Fotografien eine auf körperliche Attraktivität bezogene Eitelkeit: „Thomas Mann – es gibt dieses Foto – ist sogar von hinten fotografiert als Thomas Mann erkennbar. Schon frühe Bilder zeigen einen überaus gepflegten jungen Mann; die Anzüge sitzen perfekt, die Hemdkragen sind frisch gestärkt und blühend weiß, die Blume im Knopfloch nie welk, die Bügelfalten immer scharf, die Gamaschen nicht verdreckt und die Schuhe immer blank. Kaum einmal sehen wir ihn entspannt oder lässig; er wollte in jeder Situation vorzeigbar sein. Auch dann, wenn er unprätentiös im Gras sitzt, wird daraus ein Publikum gewinnendes Bild.“590

Arthur Schnitzler wiederum nutzte unzählige Porträtfotoserien zur Dokumentation seines gesamten Lebens. Um seine Porträtfotos habe er fast schon einen Bilderkult betrieben, bei dem ihm die Schnellfotografie-Automaten am Wiener Prater hilfreiche Dienste leisteten. Auf diesen Ferrotypien, Billigbildern, sieht man Schnitzler Rollen einstudieren: Mal zeigt er sich mit einem Buch in der Hand, später mit Zigarette, ein anderes Mal im Freizeitdress mit Tennisschläger, dann wieder mit Anzug und Hut. In seiner Autobiografie Jugend in Wien hat Arthur Schnitzler die Jahre, in denen diese Bilder entstanden sind, so kommentiert: „Der Snob in mir erwacht und entwickelt sich aufs lächerlichste. Freude im Fiaker fahren und darin gesehen zu werden […], ich wechsle meinen Schneider, trage keine weichen Hüte mehr. Gehe zu Stehkragen über […], Ehrgeiz, elegant zu werden.“ Um dann später zu reflektieren: „Nicht ganz unmöglich, dass meine künstlerischen Ambitionen den mondänen gegenüber fast zurücktreten, bis mein Verstand und meine Selbsterkenntnis mir den richtigen Weg wiesen.“ Doch auch in reiferem Alter neigte Schnitzler zur fotografischen Selbstdarstellung. In diese bezog er nun seine Familie ein; auf vielen Fotos kann man ihn mit seiner Frau Olga und seinem Sohn Heinrich sehen. Olga und Heinrich sitzen, während Arthur Schnitzler an der Seite oder hinter den beiden steht. In dekorativem Zusammenhang miteinander verbunden, bleibt Schnitzler die imposante Figur, die sich über allem erhebt. Er ist ein dreifacher Vorstand: über seine Familie, sein Werk und die Kunstwelt der Wiener Moderne. Ohne kalkulierte Effekt-Dramaturgie sind solche Autorenbilder nicht denkbar; ihr Aufwand ähnelt schon bald einem Porträt-Manierismus, wie man ihn von Oscar Wilde kennt. Für Wilde waren Selbstbildnisse Fortsetzung seines Werkes mit anderen Mitteln. „Wilde wollte nicht nur seine Erscheinung als Dandy und Connaisseur veröffentlicht wissen. Mit seinem Bild war zugleich ein Programm mitgeteilt. Insofern sind Wildes Porträtfotos die Klammern, die Werk und Person gegenseitig spiegelbildlich verlängern. Das heißt, dem Autorenfoto fällt auf dem kürzesten Weg die

589 Wilhelm Genazino: Das Bild des Autors ist der Roman des Lesers. Münster 1994, S. 27 f. 590 Ebenda, S. 29 f.

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Aufgabe der Werkpräsenz zu, und diese Aufgabe verformt das Foto zum Sinnbild.“591 Nahezu manisch in der Absicht, sich selbst im Bild auf die Schliche zu kommen, war August Strindberg. Von ihm weiß man, dass er sich im Laufe seines Lebens von nicht weniger als 30 unterschiedlichen Berufsfotografen hat ablichten lassen. Außerdem beschäftigte er einen Privatfotografen, der monatelang nichts anderes tat, als Strindberg tagein, tagaus im Hinterzimmer seiner Wohnung zu fotografieren. Ein ehemaliger Studienkollege hat Strindbergs Interesse an seinem fotografischen Abbild so geschildert: „Als ich einmal August Strindberg besuchte, fand ich Stühle, Tische und Betten in der Wohnung von Fotografien besetzt, von großen und kleinen, und beinahe alle zeigten ihn selber. […] ‚Ich kümmere mich nicht um mein Aussehen’, sagte er, aber ich möchte, dass die Leute meine Seele sehen.‘“ Dieses Ansinnen brachte Bilder hervor, die Strindberg mit gewollt fiebrigen, starren Gesichtszügen, mit flackernden Augen und dem meist ein wenig geöffneten Mund zeigten. „Sein Bedürfnis, das ruchlos-panische Moment seines Wesens nach außen zu kehren, führte zu einigen arrangierten Bildern, die heute“592, so bewertet Genazino, „nur noch schwer erträglich sind, weil sie einerseits einen ozeanischen Ernst beanspruchen und andererseits die Grenze zur Komik überschreiten.“ Zu diesen Fotos gehören auch die „mit Selbstauslöser aufgenommenen Zerrüttungsbilder“: links eine schöne Tischlampe, daneben eine Vase mit großartig aufgeblühten Rosen und in der Mitte des Bildes, am Schreibtisch kauernd Strindberg; seine Arme liegen auf der Tischplatte, die Hände ineinander verschlungen, auf denen er seine Stirn ablegt; sein Gesicht ist verborgen, der Betrachter des Bildes sieht nur seine zerzausten Haare. Eine stimmungsvolle seelische Zerrüttung; das Publikum hat sie Strindberg begeistert abgenommen. 593

Fotografien Die Frage jeder schriftstellerischen Selbstdarstellung bleibt: „Wie muss man als [...] Schriftsteller aussehen? Grimmig? Verrückt? Heruntergekommen? Oder eher nichtssagend, um nur den Text wirken zu lassen; ja wäre es vielleicht das Beste, gar kein Foto herauszurücken oder höchstens ein verschwommenes, als sei man verschollen? Und dann die Accessoires – mit Zigarette, ohne Zigarette, falls aber mit Zigarette, filterlos? Und mit Brille, ohne Brille, mit Schreibzeug, ohne Schreibzeug –; ferner die Frage des Hintergrundes: Bücher; ein Baum; eine Mauer? Industrieschrott? Und überhaupt: Schnappschuss oder Kunstwerk? Der Schriftsteller, der es hasst, fotografiert zu werden, oder der es souverän über sich ergehen lässt? Fragen über Fragen, welche die dumpfe Ahnung, dass jedes Bild des Autors Romane auf Seiten der Leser in Gang setzt.“594

591 Genazino, Das Bild des Autors ist der Roman des Lesers, S. 32. 592 Ebenda, S. 33. 593 Vgl. ebenda, S. 33 f. 594 Bodo Kirchhoff: Schreiben und Narzissmus. In: Neue Rundschau 1995, Nr. 106.

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Um die Frage nach der perfekten fotografischen Autorinszenierung zu beantworten, ist der kulturgeschichtliche Faden noch einmal aufzunehmen. Dieser beginnt dort, wo unter dem Vorzeichen der Physiognomik die sichergestellte Entsprechung von äußerer Gestalt und innerem Wesen in einem grundsätzlichen Sinne aufgekündigt wurde. Denn dies ist der Knotenpunkt, an dem alle Rätsel begannen. Nirgendwo sonst wird dieser Moment des Dilemmas tiefgründig anschaulicher als in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften (1978). An der Figur des Mörders Moosbrugger führt Musil die physiologisch-phänomenologische Undurchschaubarkeit des Menschen vor: „Moosbrugger war ein Zimmermann, ein großer breitschultriger Mensch ohne überflüssiges Fett mit einem Kopfhaar wie braunes Lammsfell und gutmütig starken Pranken. Gutmütige Kraft und der Wille zum Rechten sprachen auch aus seinem Gesicht, und hätte man sie nicht gesehen, so hätte man sie doch gerochen, an dem derben, biederen trockenen Werktagsgeruch, der zu dem Vierunddreißigjährigen gehörte und vom Umgang mit Holz und einer Arbeit kam, die ebensoviel Bedachtsamkeit wie Anstrengung forderte.“595

Weil die eingeübten Rezeptionsraster so gezielt in die Irre führen und immer wieder Gutmütigkeit signalisieren, obwohl doch die schlimmste Grausamkeit bezeugt ist, steht der Umgang mit der Wahrnehmung von Gesichtern seit dem Ende des 19. Jahrhunderts offenkundig vor neuen Herausforderungen. Über die Gerichtsmediziner, die dargelegt haben, wie Moosbrugger die von ihm getötete Frau zerstückelt hat, heißt es: „Sie fanden von solchen Schrecknissen den Weg zu Moosbruggers Gesicht nicht zurück.“596 Damit wird romanimmanent die Zäsur markiert, die das traditionelle physiognomische Verständnis und die fehlenden Indizien zur eindeutigen Lesbarkeit des Porträts in der Gegenwart voneinander trennt: „Die porträtvermittelte Verständigung über die Welt und den Menschen, wie sie so lange als eine besondere Kunst geübt und auch beherrscht worden ist, funktioniert nicht mehr.“ 597

Einzelporträts Über das vertrackte Verhältnis von Körper und Geist in der Situation des Fotografiert-Werdens schreibt Barthes: „Sobald ich nun das Objekt auf mich gerichtet fühle, ist alles anders: ich nehme eine posierende Haltung ein, schaffe mir auf der Stelle einen anderen Körper, verwandle mich bereits im Voraus zum Bild. […] Könnte ich doch auf dem Papier „gelingen“ wie auf einem klassischen Ölgemälde, mit edler Miene, versonnen, intelligent und so weiter! Kurz, wenn ich doch nur „gemalt“ werden könnte (von Tizian) oder „gezeichnet“ (von Clouet)! Da aber das, was man von mir nach meinem Wunsch erfassen soll, eine feine moralische Textur und keine Mimik ist,

595 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Hamburg 1978, S. 62 f. 596 Ebenda, S. 63. 597 Roland Galle: Jenseits von Ideal und Ähnlichkeit. Das Porträt am Schnittpunkt der Moderne. In: Essener Unikate. 2000, Heft 14, S. 46-57, 52.

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und da die Photographie […] nicht sehr subtil ist, weiß ich nicht, wie ich von innen her auf mein Äußeres einwirken soll.“598

Barthes selbst entschied, auf seinen Lippen und seinen Augen „ein leichtes Lächeln ‚spielen zu lassen’, das ‚undefinierbar’ wirken und mit den mir eigenen Qualitäten zugleich zum Ausdruck bringen soll, dass ich das ganze photographische Zeremoniell amüsiert über mich ergehen lasse.“599 Der Fotografierte ging auf das Gesellschaftsspiel ein, posiert, reflektiert über seine Pose und will zugleich, dass der zukünftige Betrachter seines Fotos genau um dieses amüsierte Spiel (mehr noch als über seine tatsächliche Identität) weiß. Und dennoch sollen bei der gelungenen Fotografie das kostbare Wesen des Individuums und seine Unverwechselbarkeit nicht verfälscht werden. „In einem Wort, ich wünschte, daß mein Bild – wandelbar, schlingernd zwischen tausend je nach Situation oder Alter changierenden Photos – stets mit meinem (bekanntlich tiefen) „Ich“ übereinstimmte; doch vom Gegenteil muss die Rede sein: Mein „Ich“ ist’s, das nie mit seinem Bild übereinstimmt; denn schwer, unbeweglich, eigensinnig ist schließlich das Bild (weshalb sich auch die Gesellschaft darauf beruft); leicht, vielteilig, auseinanderstrebend ist mein „Ich“, das, gleich einem kartesischen Teufelchen, nicht stillhält, in seinem Gasgefäß auf- und absteigend.“600

Barthes gibt den entscheidenden Hinweis, der Erkenntnis über die Wirkungsmacht der Fotografie verleiht: „Ein Detail bestimmt plötzlich meine ganze Lektüre: mein Interesse wandelt sich mit Vehemenz, blitzartig.“ Das Detail, das jede Fotografie zu einer besonderen zu machen vermag, ist „nicht unbedingt beabsichtigt, und wahrscheinlich darf es das auch gar nicht sein“; es befindet sich am Rande des fotografierten Subjekts, „als zugleich unvermeidliche und reizvolle Zutat“ – es ist das punctum des Bildes.601 Im Unterschied zum Begriff des studiums, den Barthes als durchschnittliches Interesse an einem Bild oder einer Sache definiert, also jenes „Gefallen an jemandem, eine Art allgemeiner Beteiligung, beflissen zwar, doch ohne besondere Heftigkeit“602, vermag das gewisse Etwas, ein spezifischer Aspekt oder Punkt, dem Barthes unter dem Begriff des punctum fasst, das studium durch besondere Anziehung und emotionale Anrührung schlagartig zu durchbrechen und die bekannte IntraAffektion (Merleau-Ponty) anzustoßen. Ein wirkungsvolles, charismatisches Bild besitzt mindestens ein punctum, das zu benennen und aus der Ansammlung von Teilaspekten des Fotos zu erkennen jedoch kein Leichtes sei; denn das, was mich an einem Foto oder einer Person fesselt, ist immer das, was ich im ersten Moment nicht benennen und nicht sofort rational erklären, sondern lediglich spüren könne. Oder anders herum: Das, was ich eindeutig erörtern kann, vermag mich nicht wirklich zu ergrei-

598 Barthes, Die helle Kammer, S. 18 f. (Herv. i. O.). 599 Ebenda, S. 19. 600 Ebenda, S. 20. 601 Ebenda, S. 57 f. 602 Ebenda, S. 35.

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fen, zu beunruhigen oder zu faszinieren, denn jede Faszination gründet auf einem Geheimnis. Doch wie bekommt man die Wirkung des punctum zu fassen? „Die Wirkung ist da, doch lässt sie sich nicht orten, sie findet weder ihr Zeichen noch ihren Namen; sie ist durchdringend und landet dennoch in einer unbestimmten Zone meines Ichs; sie ist schneidend und gedämpft, ein stummer Schrei. Seltsamer Widerspruch: sie ist ein dahintreibender Blitz. Es ist also nicht weiter erstaunlich, dass sich das punctum zuweilen trotz all seiner Deutlichkeit, erst im Nachhinein offenbart, wenn ich das Photo nicht mehr vor Augen habe und erneut daran denke. Es kann vorkommen, dass ich ein Photo, an das ich mich erinnere, besser kenne, als eines, das ich vor mir sehe.“603

Dem punctum sei allzu oft nur „nach einer gewissen Latenz (nie jedoch mit Hilfe irgendeiner genauen Untersuchung)“ auf die Spur zu kommen, auch, indem man das Repertoire seines eigenen Wissens und die Erinnerungen durchgeht. Denn stets berühre das punctum einen sensiblen Punkt beim Betrachter, der auf der individuellen Erfahrung beruht und der nicht zwingend mit dem sensiblen Punkt eines anderen übereinstimmen muss. Erstaunlich oft tut er dies dennoch.

Abbildung 71: Fotografie de Brazzas, von Nadar (1882)604 Auf dem Foto aus dem Jahr 1882 hat Nadar den bärtigen Savorgnan de Brazza zwischen zwei jungen, als Seeleute gekleideten Schwarzen fotografiert. Die Hand des einen der beiden Matrosen ruht auf de Brazzas Oberschenkel. „Alles an dieser unpassenden Geste ist dazu angetan, meinen Blick zu fesseln, ein punctum darzustellen.“ Doch es täuscht: „Das punctum für mich bilden die verschränkten Arme des anderen Matrosen“, so Barthes.

603 Barthes, Die helle Kammer, S. 62 (Herv. i. O.). 604 Savorgnan de Brazza, fotografiert von Nadar. Fotografie entnommen aus: Roland Barthes: Die helle Kammer, S.63.

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Ein anderes Foto fängt eine Straßenszene in Moskau ein:

Abbildung 72: Straßenszene in Moskau, von William Klein (1959)605 In sich hinein horchend, schreibt Barthes über das punctum, das er nicht finden kann: „Der Photograph zeigt mit, wie die Russen sich kleiden: ich registriere die mächtige Mütze eines Jungen, die Krawatte eines anderen, das Kopftuch der Alten, den Haarschnitt eines Jugendlichen […].“606 All das offenbare und konserviere historisches und ethnografisches Wissen. Anders als Barthes trifft mich persönlich, während ich diese Studie verfasse, bei der Betrachtung dieses Bild durchaus ein punctum: der Blick der alten Frau. Die Männer (der kleine Junge vorne in der Mitte, halb nur zu sehen, und der alte Mann mit dem Bart, ebenfalls an der vertikalen Mittelachse des Bildes entlang, hinten) sind in die eigenen Tätigkeiten vertieft, die anderen beiden (hinten links und hinten rechts) versuchen das Spiel der Kamera zu begreifen, indem sie die Kamera bloß anschauen, während die beiden jungen Männer (vorne links und rechts, groß im Bild) sich ablenken lassen, der Linke in unbeholfener Körperhaltung sich umblickend, der andere, nicht begreifend schaut mit offen stehendem Mund über seine eigene Schulter nach hinten zum Bildmittelpunkt. Die alte Frau hingegen schreitet durch die Szenerie, als seien die Männer statuarische Figuren und nur sie in Bewegung, wie in slow-motion, und fixiert dabei mit ihrem Blick das Auge des Betrachters. Ihr Blick ist Anker und Beunruhigung. Jene Unruhe, die ein Bild braucht, um zu irritieren und zu berühren. Zum punctum eines Bildes tritt die Bildunterschrift als weitere Bedeutungsebene hinzu. Aus reflektierter selbstdarstellerischer Perspektive gibt es, unabhängig vom punctum, die Strategie der Erzeugung des wohl kalkulierten fotografischen Schocks, der über absichtsvoll eingesetzte Überraschungseffekte funktioniert. Die intendierten Effekte lassen sich, laut Barthes, in fünf grundlegende, die Überraschung auslösende Momente zergliedern: Das kann erstens die Darstellung von etwas Seltenem, auch Nonkonformem sein. Das zweite Moment sei aus der Malerei wohlbekannt: eine Gestalt wird in ihrer Bewegung dargestellt. Ein anderer Überraschungseffekt entsteht

605 Straßenszene aus Moskau. Entnommen aus: Roland Barthes: Die helle Kammer, S. 39. 606 Barthes, Die helle Kammer, S. 39.

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durch die Abbildung einer Großtat oder heroischen Besonderheit. Eine vierte Überraschung erwachse aus der technischen Verformung, etwa Doppelbelichtung, Montage oder die Verzerrung der Perspektive. Ein letzter Typ der Überraschung ist, gemäß Roland Barthes, der originelle Fund, die famose, glücklich-absurde Szene. „All diese Überraschungen unterliegen einem Prinzip der Herausforderung […]: ein Photo wird überraschend, sobald man nicht weiß, warum es aufgenommen wurde“607 – und einzig dadurch interessant. Durch diese Form der fotografischen Inszenierung ist jedoch die Gefahr geboren, dass „das ‚X-Beliebige’ […] somit zum snobistischen Gipfel“ und zum Wert an sich wird, dabei sein subversives und ironisches Potenzial aufgibt zugunsten einer Verkehrung des Bemerkenswerten: Nicht mehr etwas Bemerkenswertes wird fotografiert, sondern ein Subjekt wird deshalb bemerkenswert, weil es fotografiert wurde.608

Doppelporträts Die individuelle Wirkung eines Porträts kann bestärkt, variiert oder verändert werden, sobald der Schriftsteller sich in den Kontext fremder Porträtfotografien oder Gemälde und Karikaturen begibt, die er zitierend verdoppelt.

Abbildung 73: Patricia Highsmith, R. W. Schnell, Wolfgang Koeppen609 Dadurch vervielfältigt er visuell seine individuelle Eigenart, die er gezielt betonen möchte (wie etwa Patricia Highsmith: durch die verschränkten Arme und ihre ernste Miene, ergänzt durch ihre starre Haltung und ihren Blick von oben nach unten) oder

607 Vgl. Barthes, Die helle Kammer, S. 41 ff. 608 Vgl. ebenda, S. 41 ff. 609 Patricia Highsmith (1991) fotografiert von Barbara Klemm. Entnommen aus: Barbara Klemm: Künstlerporträts. Berlin 2004, S. 30. Robert Wolfgang Schnell (1986) und Wolfgang Koeppen (1984) fotografiert von Isolde Ohlbaum. Entnommen aus: Islode Ohlbaum: Autoren, Autoren. Ein Bilderbuch. Cadolzburg 2000, S. 55 u. 53.

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er bricht ironisch das von ihm auf dem Foto Gezeigte im Wechselspiel mit einem zweiten Porträtierten (Wolfgang Koeppen: lässig in den Sessel geworfen, unter dem Poster von Samuel Beckett).

Abbildung 74: Peter Handke (1973)610 Den Mythos des Romantikers umspielend und bestärkend, ließ sich Peter Handke in einer unprätentiösen Wohnumgebung, vor dem christlichen Gemälde eines Schutzengels ablichten, der einen kleinen Jungen behütet. Eine weitere Variante des Doppelporträts ist jenes, in dem nicht der Porträtierte gedoppelt wird, sondern der Betrachter, indem nämlich die antizipierte oder zumindest gewünschte Reaktion des Betrachters bereits in das Bild aufgenommen wird und dem Betrachter somit die erzielte Rezeptionshaltung aufzeigt und erleichtert.

Abbildung 75: Stefan George – der Begehrte, der Bewunderte611 Zu Heiligenbildern wurden Georges fotografische Selbstentwürfe, weil sie die Anbetung der Anhänger und die Ikonografie des Sakralen motivisch miteinander verquick-

610 Peter Handke (1973) fotografiert von Barbara Klemm. Entnommen aus: Barbara Klemm: Künstlerporträts. Berlin 2004, S. 58. 611 Stefan George, Fotografie entnommen aus: Justin E. H. Smith: Of the smashing of ripe quinces. Notes on Stefan George. In: 3 Quarks Daily, 01.2010. Online-Publikation, URL: www.3quarksdaily.com

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ten. Die Lichtinszenierung erinnert an die Bildkonzeption des Christentums; das helle Profil hebt sich aus der Lichtaureole des Settings ab. Die Darstellung im Profil fungiert als besonderes Stilmittel der Heroisierung, dessen Herkunft eng mit dem Vorbild Dantes verknüpft ist. Dante zeigte sich in seinen Selbstdarstellungen nie frontal, nur en profil – mit bemerkenswertem Effekt.612 Die Unterscheidung von en face und en profil markiert dabei zwei sehr unterschiedliche Formen von Autorendarstellungen: „Die Darstellung von en face ist immer eine Simulation der Nähe und eines Gegenübers, die visuelle Simulation des Dialogs, der idealen Kommunikationssituation. In der Ruhe des souveränen Blicks zum Betrachter findet zugleich die Souveränität des Autors als Werkherrscher ihren idealen Ausdruck. Schweift der Blick dagegen in die Ferne (Dreiviertelansicht oder Profil) und ignoriert somit den Betrachter, stellt sich eine zeitenthobene Geste ein, die den Eindruck heroischer Individualität hervorruft. […] Die Unterscheidung von en face und en profil lässt sich als Kodierung der Differenz von ‚lebensnah‘ und ‚weltenthoben‘ lesen und erklärt die Normalität des Ersteren wie die Seltenheit des Letzteren.“613

George benutzte die Fotografie als Mittel zur Illustration seines weltenthobenen Wesens. Die Anhänger Stefan Georges seien „von ihrem Meister so eingenommen, dass der Anblick […] genügte, um bei ihnen Affekte zu erregen.“ 614 In einem Brief an Friedrich Gundolf empfiehlt Stefan George seinem Freund und Dichterkollegen, die Wirkungsmacht der bewusst inszenierten Fotografie zu nutzen: „Und überhaupt, dieses Bild möchte ich in allen Räumen wissen, wo du verehrt wirst: es gibt nächst deinem Werk für die, denen dein unmittelbarer Anblick versagt wird, nicht einen so überwältigenden, erziehenden, fast reinigenden Eindruck und Begriff von deiner Realität […]. Was ich zu sagen habe, ist, dass dein Kopf längst nicht mehr Privatsache ist, sondern ein Werk zur Reinigung des Begriffes vom Menschen […]. Als Wirkungs- und Klärungsmittel ist die möglichste Verbreitung dieses Bildes wichtiger, mächtiger als zehn gute Broschüren.“615

Ein Foto ist Pseudo-Präsenz und Zeichen der Abwesenheit. Neben den erwähnten Vorzügen, die es nahezu gebieten, ein fein komponiertes oder delikat stilisiertes Porträt als Mittel der öffentlichen Selbstinszenierung einzusetzen, eignet sich die Porträtaufnahme zudem als Totem oder Talisman, der von den Verehrern des Künstlers gehütet, aufgestellt, angeschaut und bewahrt wird. Wie ein gemütliches Kaminfeuer regten Fotografien, namentlich solche von Menschen, zu Träumereien an, schreibt Susan Sontag. Das Gefühl der Unerreichbarkeit, das Fotos auslösen können, wirke sich unmittelbar auf die (erotischen, begehrlichen, verehrenden) Gefühle derer aus,

612 Vgl. Walter Goetz: Dantebildnis. Weimar 1937. Und: Richard T. Holbrook: Portraits of Dante. London 1911. 613 Matthias Bickenbach: Das Autorenfoto in der Medienevolution. München 2010, S. 269 f. (Herv. i. O.). 614 Martin Roos: Stefan Georges Rhetorik der Selbstinszenierung. Düsseldorf 2000, S. 105. 615 Stefan George (1912), in: Robert Boehringer/Georg Peter Landmann (Hrsg.): Briefwechsel. Stefan George und Friedrich Gundolf. Düsseldorf 1962, S. 236.

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die etwas für umso ersehnlicher halten, je weiter es entfernt ist. Der talismanartige Gebrauch von Fotos drückt eine Mischung aus Sentimentalität und Glauben an magische Kräfte aus. Es sei der Versuch, mit einer anderen Wirklichkeit Fühlung aufzunehmen oder sie sogar für sich zu beanspruchen, so Sontag.616 Die Macht der Fotografie basiert auf dem Faszinationstyp der Ähnlichkeit. Nahezu identisch erscheint das fotografierte Abbild, das man in den Händen hält, mit der leibhaftigen, begehrten Person. Fotos eignen sich besonders gut zum Totem-Kult, weil man sie festhalten kann. Und sie sind einprägsamer als bewegliche Bilder, weil sie nur einen säuberlichen Ausschnitt und nicht den Fluss der Ereignisse zeigen. Sie sind materiell, greifbar und damit ein Objekt, das man sich zueigen machen kann. Ein Foto kann zudem schnell zum Fetisch werden, weil es ein Zeichen der Vergänglichkeit schlechthin sei, meint Barthes. Man sieht einen Menschen und weiß um dessen Endlichkeit. „Ich lese gleichzeitig: ‚das wird sein’ und ‚das ist gewesen’; […] sie wird sterben: ich erschauere […], jegliche Photographie ist diese Katastrophe.“617 Und „wo der Mensch sich aus der Photographie zurückzieht, da tritt erstmals der Ausstellungswert dem Kultwert überlegen gegenüber.“ 618 Aber dort, wo der Mensch noch gegenwärtig ist, die Aura zum letzten Mal wirke, da stehe auch die Fotografie eines Schriftstellers in der Funktion der „auratischen Ikone“ und des „Heiligenbildes“. Auch bei George gehörten die Fotografien zu seinem von ihm gelenkten und inszenierten liturgischen, archaisch-prähistorischen Kult um seine Person. „Es war Georges Gewohnheit, Fotos seiner Wahl den Freunden zu widmen. Diese Möglichkeit war die einfachste Form der Werbung, um Menschen durch eine visuelle Botschaft zu erreichen. Wer sich mit einem Foto aus des Meisters Hand schmücken durfte, konnte etwas auf sich halten, sich als feste Größe im erlesenen Verehrer-Kreis sehen und sich bei anderen rühmen […]. Wie die heiligen Bücher als Reproduktion wurde sein Porträtfoto als Reproduktion zum Träger der Aura. […] Die Unantastbarkeit erhielt sich der Dichter durch die reale Distanz zwischen Foto und lebender Person.“619

Die Fotografie ist Instrument der Hoffnung, Erinnerung und Beschwörung, sie zeigt das Leben, wie es wirklich ist und gibt die Hoffnung, diese Erfahrung zu bewahren und immer wieder hervorzuholen.620 Dies sei „die Bestimmung der Photographie“, so Barthes. Kurzum: Die Fotografie vollführt die überzeitliche, „die unerhörte Verschränkung von Wirklichkeit (Es-ist-so-gewesen) und Wahrheit (Das ist es!); sie wird Feststellung und Ausruf in einem; sie führt das Abbild bis an jenen verrückten

616 Vgl. Susan Sontag: In Platos Höhle (1978). In: Dies: Über Fotografie. Frankfurt a. M. 2006, S. 9-30, 22 f. 617 Barthes, Die helle Kammer, S. 106. 618 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1955). Frankfurt a. M. 2003, S. 23. 619 Roos, Stefan Georges Rhetorik der Selbstinszenierung, S. 107 f. 620 Vgl. Ernst Bloch: Imago an Menschen und Dingen. In: Ders.: Gesamtausgabe in 16 Bänden. Bd. 10: Philosophische Aufsätze zur objektiven Phantasie. Frankfurt a. M. 1969, S. 133 ff.

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Punkt, wo der Affekt (Liebe, Leidenschaft, Trauer, Sehnsucht, Verlangen) das Sein verbürgt.“621 Damit ist die Fotografie besonders wertvoll für die Selbstdarstellung.

Gemälde und Zeichnungen Die Funktion der (gemalten) Porträts der Künstler und Schriftsteller liegt zum einen in der unmittelbaren Aufmerksamkeitserzeugung und zum anderen darin, das Archiv, aus dem sich der Schriftstellermythos im Wechselspiel zwischen der Preisgabe privater Ansichten und der Fremdkommentierung speist, anzureichern und den Diskurs in Bewegung zu halten. In einem Selbstporträt von Günter Grass werden diese Momente der visuellen mythologischen Narration sichtbar.

Abbildung 76: „Wie ich mich sehe“, Selbstporträt von Günter Grass (1974)622 Das Selbstporträt Wie ich mich sehe von Günter Grass inszeniert zunächst das wichtigste Medium des Schriftstellers, die Schrift: Der Bildraum ist ausgefüllt mit der Handschrift des Autors, es dominiert das Schriftzeichen. Ikonische Zeichen sind aber auch die fünf Federn, deren Schaft in Tinte getaucht das traditionelle Schreibwerkzeug des Dichters darstellt und die hier den Bildmittelpunkt bilden. Am unteren rechten Rand des Bildes befindet sich der gezeichnete Kopf des Schriftstellers. Begrenzt und eingekeilt von der Endlichkeit des Blattes wirkt der Kopf schwer wie eine Bleikugel, ganz im Gegensatz zu den Federn, die über ihm schweben und den Buchstaben.623 Das Wort strebt nach oben, ist dynamisch, enthüllend, zwar in einem anderen

621 Barthes, Die helle Kammer, S. 124 622 Günter Grass: Wie ich mich sehe (1974). Zeichnung entnommen aus: Fritz Margull

(Hrsg.): Günter Grass. Fünf Jahrzehnte. Ein Werkstattbericht. Göttingen 2001, S. 49. 623 Die Bildfläche sei wie eine Landschaft zu lesen:„Wir starten links und kommen rechts an. Was oben ist, fällt, oder ist so leicht, dass es schwebt. Alles, was noch nicht seinen physikalischen Ruhepunkt gefunden hat, ist in Bewegung. Was in Bewegung ist, hat Energie. Das Ruhende ist in statischer Harmonie. In Harmonie ist, was keine Richtung anzeigt,

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Sinne als das Bewegungsspiel des Rocks der Monroe, doch auf bildlicher Ebene verwandt und befreiend, von der Schwerkraft der dinglichen Welt losgelöst. Auffällig ist die Brille, die Grass auf diesem Selbstporträt nicht auf der Nase trägt, sondern die vielmehr vor seinem Gesicht liegt und die zeichnerisch an jener Stelle platziert ist, an der sonst der Künstler sein Signum hinterlässt. Versteht man die Brille als Erkenntnisinstrument, so signalisiert das Ablegen dieses Hilfsmittels die Fokussierung auf die Intuition und nicht rationale Inspiration, die Grass durch die durcheinander stiebenden Wörter, Buchstaben- und Satzfragmente zusätzlich versinnbildlicht. Über die hier visuell inszenierte Eingebung schreibt Grass: „Aus dem Abseits taucht etwas auf, das nicht sogleich zu benennen ist. Sprachlose Gegenstände stoßen uns an; Dinge, die uns seit Jahren, so meinten wir, teilnahmslos umgaben, plaudern Geheimnisse aus: peinlich, peinlich! Dazu Träume, in denen wir uns als Fremde begegnen, unfassbar, endloser Deutung bedürftig.“624

Es hole ihn ständig die Erinnerung ein, die in ein obsessives Schreiben münde. Darüber hinaus stellt sich Grass auf diesem Bild körperlos dar, alles bezieht sich auf seinen Kopf, in dem fürderhin der Geist beheimatet ist. Das Selbstporträt konturiert damit sein Profil als kritischer Denker, Freigeist und künstlerischer Sprachvirtuose.

Abbildung 77: Grass’ Selbstbildnisse, Lithografien und Radierungen In zahlreichen seiner Selbstdarstellungen hat Grass eine Verbindung seiner Person zu seinen Werken (Der Butt, Aus dem Tagebuch einer Schnecke, Die Rättin u. a.) hergestellt, wodurch es ihm gelang, nicht nur seine literarischen Werke, sondern immer auch sich selbst als Autorperson zu präsentieren und sich im Literaturbetrieb als Person sichtbar mit seinen Texten zu verknüpfen.

was symmetrisch bzw. austariert ist. – Diese Interpretationsmuster dienen offensichtlich als Folie der Wahrnehmung, wenn wir, konfrontiert mit Abbildungen, (unbewusst) versuchen, diese zu verstehen.“ (Claudia Maria Wolf: Bildsprache und Medienbilder. Wiesbaden 2006, S. 201.) 624 Günter Grass: Ich erinnere mich. Rede im Rahmen der polnisch-litauisch-deutschen Gespräche in Vilnius, 2. Oktober 2000. In: Günter Grass/Czeslaw Milosz et al. (Hrsg.): Die Zukunft der Erinnerung. Göttingen 2001, S. 27-34.

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Eher demontierend als heroisierend und dennoch mythoskonturierend wirkt das Aquarell-Bildnis des Lyrikers Joachim Ringelnatz:

Abbildung 78: Joachim Ringelnatz, gezeichnet von Eugen Schmidt (1933) Ringelnatz, gezeichnet in Aquarell und als Kasperle-Puppe, trägt ein blaues Matrosenhemd – das Markenzeichen des Lyrikers, das er stets trug, wenn er auf den Bühnen der Kabaretts den ewig trunkenen, verwegenen Kuttel Daddeldu verkörperte. „[Ü]ber dem mageren, faltigen Hals sieht man ein Gesicht, das alles andere als vergnügt dreinblickt: die Wangen eingefallen, der Mund verkniffen, dessen Winkel heruntergezogen, ein Auge zum Schlitz zusammengezogen, das andere geschlossen. […] Das Bild erzählt eine Geschichte“625, charakterisiert Frank Möbus das Porträt. Eine tragische Geschichte: Joachim Ringelnatz wurde 1883 als jüngstes von drei Geschwistern als Hans Bötticher in der Nähe von Leipzig geboren. Sein Vater Georg Bötticher entstammte einer angesehenen thüringischen Gelehrtenfamilie und war ein erfolgreicher Zeichner, Satiriker und Schriftsteller, dessen Werke von Theodor Fontane als „anheimelnd“ gelobt wurden. Die Mutter Rosa Marie zeichnete Muster für Perlstickereien und stellte Puppenbekleidung her.626 In der Schule wurde Ringelnatz von den Mitschülern für sein seltsames Aussehen (mädchenhafte Frisur, ungewöhnlich lange Vogelnase, vordrängendes Kinn, kleine Statur) gehänselt. „Ich bin überzeugt, daß mein Gesicht mein Schicksal bestimmt. Hätte ich ein anderes Gesicht, wäre mein Leben ganz anders, jedenfalls ruhiger verlaufen.“627 Nach der Schulzeit fuhr Ringelnatz zur See. Doch auch hier waren seine Erfahrungen ernüchternd: Der sächselnde, kleingewachsene Ringelnatz wurde Zielscheibe von Beleidigungen (der Kapitän nannte ihn

625 Frank Möbus: Joachim Ringelnatz. In: Frank, Dicherbilder, S. 132. 626 Vgl. Herbert Günther: Joachim Ringelnatz in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1980, S. 16. 627 Walter Pape: Joachim Ringelnatz. Parodie und Selbstparodie in Leben und Werk. Berlin 1974, S. 103.

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„Nasenkönig“628), Schikanen und körperlicher Gewalt. Zurück auf dem Festland blieb er arbeitslos und erlitt Hunger. In Hamburg half er in der Schlangenbude und trug Riesenschlangen zur Schau, einer von über 30 Nebenjobs, die er annahm. 629 Sein künstlerischer Durchbruch gelang Joachim Ringelnatz mit einem Auftritt in der Münchner Künstlerkneipe Simplicissimus. Ein Jahr später, 1910, veröffentlichte Ringelnatz seine ersten Bücher, zwei Kinderbücher und einen Band ernster Gedichte, den er seinem Vater widmete. Direkt zu Kriegsbeginn meldete sich Ringelnatz freiwillig zur Kriegsmarine. Die Nachkriegsjahre waren für Ringelnatz entbehrungsreich, er erlitt Armut und Hunger, zudem erblindete er auf einem Auge durch die Spätfolgen einer Schlägerei. Im Dezember 1919 verfasste er die ersten Gedichte unter seinem Pseudonym Joachim Ringelnatz, das entweder auf die Ringelnatter verweist, „weil sie sich zu Wasser und zu Lande wohl fühlt“630 so Hans Leip, oder auf das von Seeleuten Ringelnass genannte Seepferdchen, das Ringelnatz oft zeichnete. 1920 heiratete Ringelnatz die fünfzehn Jahre jüngere Lehrerin Leonharda Pieper. Er begann sein Leben als reisender Vortragskünstler, wurde schnell bekannt und hatte Erfolg. Doch 1933 wendet sich das Blatt. Die an die Macht gekommenen Nationalsozialisten erlassen die „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat zur Abwehr von kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte“ und erteilen Ringelnatz Auftrittsverbot. Der unpolitische Ringelnatz hatte den Aufstieg der NSDAP lange nicht ernst genommen. Nun wurde er in Dresden sogar von der Bühne geholt. Die meisten seiner Bücher, wie die Turngedichte und Kuttel Daddeldu, wurden beschlagnahmt und verbrannt. Damit hatte Ringelnatz seine Lebensgrundlage verloren. Überdies erkrankte er schwer. Für eine Therapie hatte der Dichter nicht genug Geld; selbst mit der finanziellen Hilfe seiner Freunde, die ihn in der schwierigen Lebenslage unterstützten (unter anderem sein Verleger Ernst Rowohlt, die Schauspielerin Asta Nielsen und sein Gönner Eugen Schmidt), gelang es nicht, die nötige Summe aufzubringen. Nach dem Berufsverbot hat Ringelnatz zudem seinen Lebensmut verloren, schreibt Möbus. Ein Jahr vor Ringelnatz Tod 1934 kommentierte er das von Eugen Schmidt von ihm gezeichnete Aquarell, zu dem es ebenfalls eine Handpuppe gab, mit dem folgenden Vers: „Ich komme und gehe wieder,/ Ich, der Matrose Ringelnatz./ Die Wellen des Meeres auf und nieder/ tragen mich und meine Lieder/ von Hafenplatz zu Hafenplatz./ Ihr kennt meine lange Nase,/ mein vom Sturm zerknittertes Gesicht./ Dass ich so gern spaße / nach der harten Arbeit draußen,/ versteht ihr das? Oder nicht?“631

Mehr noch als Ringelnatz’ durch die Zeichnung manifestierter Mythos hält sein Bild auch zeitkritisch die Repression der frühen 1930er-Jahre fest. Eugen Schmidt, der

628 Helga Bemmann: Daddeldu, ahoi! Leben und Werk des Dichters, Malers und Artisten Joachim Ringelnatz. Frankfurt a. M. 1982, S. 26. 629 Vgl. Heinz Ludwig Arnold (Hrsg): Joachim Ringelnatz. Text + Kritik, H. 148. München 2000. 630 Hans Leip zit. n. Herbert Günther: Joachim Ringelnatz in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1980, S. 44. 631 Vgl. Möbus, Joachim Ringelnatz. In: Möbus, Dichterbilder, S. 132.

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Maler des Bildes, veröffentlichte die Verse und das Bildnis in seinem Buch Kasperle-Verse, ehe er sich 1939 das Leben nahm, weil der Kriegsausbruch auch ihm jegliche Hoffnung auf die Zukunft verwehrte.632 „Die Leistung seines gelebten Lebens war eigentlich größer als sein schmales Dichtwerk“, schreibt Friedrich Luft über die öffentliche Figur Joachim Ringelnatz. „Ihm gelang, was so wenigen Poeten gelingt: Er hat es verstanden, seine ganze Existenz durchweg zu stilisieren. Die Sicherheit und heimliche Melancholie, mit der er die torkelnde Poetengestalt erst schuf und dann konsequent selbst lebte, ist bei dieser erstaunlichen Erscheinung gewiss das Erstaunlichste.“633 Sein Porträt gibt davon ebenso humoristisches wie kritisches Zeugnis.

Visual Essays Zur piktoral-gestützten Imagebildung eines Schriftstellers gehört nicht nur die punktuelle Präsentation von Porträtaufnahmen, sondern dazu zählen seit Ende des 20. Jahrhunderts auch bewusst arrangierte Bildstrecken: wie die vom Schriftsteller autark inszenierten Visual Essays (Kurzgeschichten in Bildern (visuals)). Zu diesen gehören etwa die von Fernsehen- oder Print-Magazinen lancierte Home-Story, in deren Mittelpunkt der Schriftsteller in seinem persönlichen Wohnumfeld steht, oder die dynamisch angelegte, einen Schriftsteller eine Wegstrecke lang begleitende und diese in einzelnen Fotografien dokumentierende Bildreportagen der Kategorie „Unterwegs mit …“ oder „Ein Tag mit …“. Der Visual Essay ist eine Spielart der klassischen Bildergeschichte. Während in der Bildergeschichte die Erzählhandlung durch eine kontinuierliche Abfolge von Bildern mit oder ohne Begleittext dargestellt wird,634 bricht der Visual Essay dieses Korsett der Temporalität und Kausalität auf zugunsten einer freien, offenen Bildmontage. Anders als die Collage werden die Bilder jedoch nicht mosaikhaft zu einem einzigen großen Einzelbild montiert, sondern seriell gereiht. Einen ideellen Vorläufer hat der Visual Essay in der fotografischen Serie. Wenn Serien (in Kunst, Literatur und Fernsehen) traditionell als „offene, begrenzbare, aber nie vollständig geschlossene Reihen gleicher, ähnlicher oder verschiedener Objekte“ definiert werden, ergeben sich zwei unterschiedliche Effekte aus der Bildproduktion der Porträt-Fotografie für die Selbstdarstellung. Ein Effekt resultiert aus der Vielgestaltigkeit der Einzelbilder, die Differenzen, Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen des Porträtierten in Szene setzen – oder aber eine chronologisch aufgebaute Geschichte erzählen. An der Foto-Serie von Thomas Mann lässt sich ein relevantes Wirkmoment des Visual Essays studieren.

632 Vgl. Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Joachim Ringelnatz. Text + Kritik, H. 148. München 2000. 633 Friedrich Luft zit. n. Günther, Ringelnatz in Selbstzeugnissen, S. 157. 634 Bernd Doelle-Weinkauff: Bild-/Bildergeschichte. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Berlin 1997, S. 228.

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Abbildung 79: Thomas Mann in Serie635 Ein für den Betrachter reizvoller und für die Selbstinszenierung wesentlicher Effekt des Visual Essays entsteht aus der stilisierten Homogenität der Bilder, indem diese zu einer zusammenhängenden Einheit verbunden werden, die in der Zusammenschau die kleinen Unterschiede der Bewegung (etwa in Mimik und Gestik) abmildern, miteinander verschmelzen und so ein recht umfassendes und in der Verknüpfung als kohärent wahrgenommenes Charakterbild zeigen. Die mythologische Einheit serieller Bilder ergibt sich, gemäß Bickenbach, aus der „Einheit der Differenz der Einzelbilder“636. Die fotografische Serie hat somit einen filmischen Effekt, ohne gänzlich in dieser bewegenden Verschmelzung aufzugehen. „Vielmehr zeichnet es die Serialität der Fotografie aus“, so Bickenbach, „dass das Einzelbild autonom auch im Zusammenhang bleibt. Es bleibt für sich ein vollständiges Foto und ein Porträt.“ 637 Einen künstlerischen Verfremdungseffekt hat die serielle Inszenierung durch den Pop-ArtKünstler Andy Warhol erfahren. Charakteristisch für den fotografischen Visual Essay ist neben der seriellen Variationen eines Motivs besonders die künstlerische Neukombination disparater Motive, die als verbindendes Element einzig die dargestellte Person haben. Unter der Rubrik Visual Essays veröffentlichte Alexa Hennig von Lange eine solche, auf unterschiedlichen Motiven basierende Fotostrecke. In der Fotostrecke mimt sie selbst die Protagonistin ihres Romans Risiko und stellt die „Momente der Hingabe“ der Romanheldin, die aus Seelenschmerz zur „Amokläuferin aus Liebe“ wird, szenisch nach. Eine breite Öffentlichkeit erlangten ihre Simulationen, durch den Abdruck in

635 Thomas Mann fotografiert von Gotthard Schuh. Entnommen aus: Gotthard Schuh: Dichter. Gütersloh 1985, S. 72. 636 Bickenbach, Das Autorenfoto in der Medienevolution, S. 354. 637 Ebenda, S. 354.

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der Zeitschrift Qvest im Jahr 2008 sowie durch eine Ausstellung im Schweizer Fotomuseum in Winterthur.

Abbildung 80: Visual Essay „Das also ist Liebe“(2008)638 Auf den ersten Blick evozieren die Fotos den Eindruck, als handele es sich um Szenen aus dem Leben Hennig von Langes. Dieser Eindruck wird einzig durch einen fast zu übersehenden Hinweis auf der Website irritiert, der unter den Fotos zu lesen ist: „Die Fotografenlegende Walter Pfeiffer hat das grausame Ende von Risiko, Alexas Roman, in seinem Visual Essay zum Leben erweckt.“ Die Anspielung, dass es sich um „das grausame Ende“ handelt, liefert das entscheidende Indiz, dass es nicht allein um eine beliebige Selbstzurschaustellung in tendenziell grotesk-erotischen Posen geht, sondern um eine komponierte, literarisch unterlegte RomanheldinnenSimulation, in der sich Begierde, Angst, Schutzlosigkeit und Trauer als Grundgefühle metaphorisch objektivieren. Der Visual Essay provoziert also zunächst eine gedankliche Verschmelzung und stellenweise Parallelisierung von Leben und Werk, mit dem Effekt, dass er offene Fragen und neue Skandalpotenziale zu generieren vermag. Liest man das ‚Kleingedruckte‘ auf der Website, den oben zitierten Hinweis auf Walter Pfeiffer, weist diese biografische Lesart jedoch Brüche auf. Durch die gezielte visuelle Verschmelzung der Gefühlswelten von Romanprotagonisten, fiktionaler Welt und Autorperson gelingt es Hennig von Lange, die Künstlichkeit der Bilder zu markieren und die Gemachtheit ihrer visuellen Selbstinszenierung zu zeigen, die spielerisch davor warnt, Autorperson und Erzählerin des Romans zu verwechseln, indem sie subtil genau das provoziert und vorführt. Durch das artifizielle Moment der Szenen durchbricht Alexa Hennig von Lange also die durch die Verschleierung des Entstehungskontextes hervorgerufene Illusion der Verschmelzung von Autorin und Erzählerin und weist auf das Wesen der Konstruktion ihrer öffentlichen Figur hin. Zugleich macht sie neugierig auf ihren Roman, so dass man den Visual Essay als geschickte Werbestrategie werten kann, Eine weitere Spielart des Visual Essay ist die Bildmontage einzelner Film-Stills, die in sich geschlossen eine eigene Geschichte erzählen. Der Visual Essay kann damit als werbende, einzelne Aspekte eines filmischen Autorenporträts herausgreifende und Neugier erzeugende Instanz wirken.

638 Alexa Hennig von Lange: Visual Essay. Entnommen der Website der Autorin: www.alexahennigvonlange.de (Stand: Oktober 2008).

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10. Abbildung 81: „Ein Tag im Leben von Julia Franck“ Der Bayerische Rundfunk bewarb die Filmdokumentation über die Schriftstellerin Julia Franck durch einen Visual Essay,639 der die wesentlichen Szenen des Films über die Schriftstellerin in Momentaufnahmen festhielt. In einer Fotostrecke, die auf der Website des Senders und in reduzierter Form in ausgewählten Fernseh-Zeitschriften zu finden war, wurden die einzelnen Momente und piktoral festgehaltenen Erlebnisse der Schriftstellerin zu einem eigenen Sinngefüge und zu einem Interesse weckenden visuellen Mikrokosmos zusammengestellt. Die Bilder werden ergänzt durch die verbale Duplizierung des fotografisch Abgebildeten (Julia Franck im Flugzeug nach Zagreb; Im Goethe-Institut liest Julia Franck aus ihrem Roman), durch Originalzitate der Schriftstellerin Julia Franck („Im Augenblick habe ich den Eindruck, dass ich eine viel größere Freiheit empfinden kann, als je zuvor“) sowie einfühlsame, werbende und euphemistische Situationsinterpretationen durch den Redakteur (Übersetzerin Latica Bilopavlovic zeigt Julia Franck die schönste Passage Zagrebs und geht mit ihr Geschenke kaufen). Der redaktionell vom Sender zu dem Visual Essay verfasste Text kommentiert erklärend die Bilderstrecke und verrät Insiderwissen über die Autorin.

639 Ein Tag im Leben von Julia Franck. Ein Film von Julia Benkert. EA: 25.10.2009, Bayerisches Fernsehen.

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„(1) Julia Franck im Flugzeug nach Zagreb. „Ich glaube ich warte schon seit fast zehn Jahren drauf, nach Kroatien zu kommen“, sagt sie. Nach dieser Lesereise will sie pausieren – sich für ihre Kinder Zeit nehmen können. (2) „Kaum eine Reise, bei der man nicht angesprochen wird: ‚Sind Sie nicht die und die? Sie kommen mir bekannt vor.‘ Gleichzeitig macht einen das auch in gewisser Weise einsam.“ (3) Am Flughafen in Zagreb trifft Julia Franck das erste Mal ihren kroatischen Verleger Seijd Serdárevic – er hat eine Überraschung dabei: die druckfrische kroatische Ausgabe der Mittagsfrau. (4) Vor dem Zagreber Goethe-Institut trifft Julia Franck die Übersetzerin Latica Bilopavlovic, die Die Mittagsfrau ins Kroatische übertragen hat. (5) Im Goethe-Institut liest Julia Franck aus ihrem Roman. Mit Spannung verfolgt sie, wie ihr Buch in anderen Kulturen aufgenommen wird. Meist sind die Lesereisen viel zu kurz, um Land und Leute kennen zu lernen. (6) Zeit für eine Stadtführung: Verleger Seijd Serdárevic zeigt ihr das älteste Verkehrsmittel von Zagreb, auch „die alte Dame“ genannt – eine kurze Zahnradbahn, die die Unter- mit der Oberstadt verbindet. (7) Auf einer Parkbank nehmen Julia Franck und Seijd Serdárevic den kroatischen Schriftsteller Antun Gustav Matos, der die literarische Moderne der kroatischen Literatur mitbegründet hat, in ihre Mitte. (8) Übersetzerin Latica Bilopavlovic zeigt Julia Franck die schönste Passage Zagrebs und geht mit ihr Geschenke kaufen. (9) Noch Zeit für eine Postkarte an die Lieben zu Hause ... (10) Dann geht es zurück zum Flughafen. „Im Augenblick habe ich den Eindruck, dass ich eine viel größere Freiheit empfinden kann, als je zuvor“, sagt Julia Franck. „Mit dem nächsten Buch geht es nicht darum, dass ich unglaublich viele Leser erreichen muß. Ich kann das seltsamste Buch schreiben, und ich werde trotzdem nicht verhungern. Das ist ein sehr großes Glück.“

Empathisch, freundlich und kaum mehr als die abgebildete Szene sprachlich verdoppelnd, unterstreicht die auf der Website des Bayerischen Rundfunks als Teaser publizierte Bilderstrecke Francks ihren bereits etablierten und im Film stilisierten Mythos der menschlichen, selbstbewussten, alleinerziehenden jungen, schreibenden Mutter, die ebenso ehrgeizig wie bescheiden ist (Ich kann das seltsamste Buch schreiben, und ich werde trotzdem nicht verhungern. Das ist ein sehr großes Glück.). Die Tätigkeiten des Schreibens (Bild 9) und des Lesens (Bild 5) werden zwar dargestellt, der Schwerpunkt liegt jedoch auf der kommunikativen Seite der Persönlichkeit: Julia Franck lächelnd mir ihrer Übersetzerin (Bild 4), zusammen am Flughafen mit ihrem herzhaft lachenden kroatischen Verleger (Bild 3), mit selbigem im Gespräch vertieft, auf einer Parkbank (Bild 7) und noch einmal mit ihrer Übersetzerin, lachend und staunend über die schönste Passage Zagrebs (8). Stilisierte Weltoffenheit ist an den Bildern 2 und 6 abzulesen; Franck im Flugzeug (auch hier mit der Stewardess interagierend) und in der Zahnradbahn. Intimität wiederum wird durch die beiden Nahaufnahmen erzeugt (Bild 1 und 10), die die Bilderstrecke rahmen. Die öffentliche und private Person scheinen in diesem Format zu verschmelzen. Die kommentierte Bilderstrecke wird darüber hinaus durch einen kurzen, zusammenhängenden Text ergänzt, in dem die „junge, sympathische Autorin, die mit einer erstaunlichen Offenheit von ihrem Leben spricht“, als Bestseller-Autorin präsentiert wird, die „nicht nur in Deutschland, sondern auch im Ausland sehr gefragt“ ist. Einfühlend, lobend und werbend heißt es weiter: „Für sie, die in der DDR aufwuchs, wird ein Wunschtraum wahr. Aber sie hat zwei Kinder, ist allein erziehend, und sehr verantwortungsbewusst. Bevor Julia Franck sich für lange Zeit wieder ausschließlich den Kindern widmet und auch ein neues Buch beginnt, macht sie eine letzte

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Lesereise nach Zagreb. Und wir fliegen mit, dürfen sie einen Tag lang begleiten. […] Vom Aufwachsen in einer Künstlerfamilie, in der sie sich oft verlassen fühlte, und davon, welche Mühen sie auf sich nahm, das zu werden, was sie heute ist: eine erfolgreiche Schriftstellerin. Selbst über das Thema Liebe gibt sie freimütig Auskunft.“

Das Bild, das der Sender mit dieser Bilderstrecke entwirft und das sich diskursiv maßgeblich über Emotionsadjektive und -verben (sympathisch, schön; fühlen, sich widmen) gender-typische Attribuierungen (sich oft verlassen fühlen und welche Mühen sie auf sich nahm, das zu werden) und thematische Fixierungen (Liebe, Kinder, Künstlerfamilie) konstituiert, fasst die Redakteurin der Bilderstrecke in einer ausschließlich positiven Werbebotschaft für Franck zusammen: „In Zagreb erleben wir eine herzliche, selbstbewusste Autorin, die mit offenen Armen empfangen wird und der man gerne die Sehenswürdigkeiten zeigt, die die kroatische Hauptstadt zu bieten hat.“ Das identische Inszenierungsformat nutzend, aber einen gänzlich anderen Mythos stilisierend, ließ sich auch der Schriftsteller Friedrich Ani von den Redakteuren des Bayerischen Rundfunks einen Tag lang begleiten, filmen, fotografieren und befragen.640 Im Film wie in der Bildstrecke ist eine für das personalisierende Dokumentationsformat typische Nahaufnahme zu finden (Bild 4 und 9), die Intimität suggeriert. Das poetologische Interesse des Krimi-Autors Friedrich Ani gilt bekanntlich den Vermissten, den Verschwundenen, den einsamen Toten. In der Bilderstrecke wird Ani als Adaption und Alter Ego seines berühmtesten Ermittlers „Kommissar Tabor Süden – ein Kommissar, der schweigt und schaut, in zerbrochene Seelen, in verstörende Umgebungen“ inszeniert. Zu Ani heißt es in dem begleitenden, journalistisch kommentierenden Kurztext: „Anis Kriminalromane sind nicht actiongeladene Storys, vielmehr erzeugt der 50-Jährige seine Spannung durch detailgenaue Beschreibungen der Milieus, in denen seine Figuren in Seelennöte geraten sind. Friedrich Ani ist ein Meister des Psycho-Krimis. […] Friedrich Ani spricht viel über seine Bücher, seine Figuren, wenig über sich selbst. Er schreibt, was er will, nicht weil es Geld bringt. Seine Heiligtümer sind der belgische Kriminalschriftsteller Georges Simenon, Bob Dylan, der FC Bayern und gutes Bier.“

Im diskursiven Feld der Bodenständigkeit situiert (Bier, Fußball, Bob Dylan) wird Ani somit als einsamer, gebrochener Held auf dunklem weiten Flur (Bild 1) inszeniert, der sich von der verstörenden Umwelt zurückzieht, diese jedoch scharf beobachtet und hin und wieder mit ihr in Kontakt tritt – mit der Buchhändlerin (Bild 11) oder dem Sänger in seiner Stammkneipe (Bild 13). Der über die Bilderstrecke angekündigte Kurzfilm verheißt Geheimnisvolles und Überraschendes: Es ist ein „Film, in dem der gebürtige Bayer von seinen tiefsten Wünschen nach Abtauchen, nach völliger Anonymität erzählt. Je länger die Kamera und das Mikrofon eingeschaltet waren, desto mehr öffnete sich der ansonsten introvertierte Autor.“

640 Ein Tag im Leben von Friedrich Ani. Ein Film von Beatrice Sonhüter. EA: 31.01.2010, Bayerisches Fernsehen.

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13. Abbildung 82: „Ein Tag im Leben von Friedrich Ani“ Deutungsmuster des Kriminalstücks umspielend, ist von Abtauchen und Anonymität die Rede. Das Motiv der Anonymität findet in Bild 6 seine visuelle Entsprechung: Nur von hinten sieht man Ani, wie er anderen und den Zügen nachsieht. Von Einsamkeit erzählen Bild 8, Ani allein im Hotel, und Bild 11, suchend, zwischen Schallplatten. Die Bildunterschrift dazu lautet: Er schaut und schweigt. Und dieses Schweigen zu beschreiben, ist Anis große Kunst. „Ich bin vermutlich oft Dolmetscher meiner sprachlosen Figuren […] – oft synchronisiere ich ihr Schweigen.“ Seinen Mythos als Einzelgänger, der seine Seelennöte für sich behält, bestärkt Ani durch Selbstauskünfte: „Ich habe mir oft überlegt, einfach ins Auto zu steigen und wegzufahren und niemandem zu sagen, wohin. Das war immer meine Idealvorstellung von Leben: untertauchen, anonym sein, unsichtbar.“ Die Inszenierung Anis schließt, wie bei Franck (Das ist ein sehr großes Glück), mit einem Euphemismus: „Die Tagesstationen, an die wir ihn begleiteten, sind nicht spektakulär, eröffnen aber Einsichten in das Den-

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ken und Schreiben des ‚Franz Schuberts der Kriminalliteratur’.“ Sie manifestieren seinen Mythos und unterstreichen den öffentlichen Wert des Autors mit einer werbenden, Kauf-Interesse weckenden Botschaft.

Home-Story Die Home-Story ist ein personenzentrierter, unterhaltungsorientierter und mit zahlreichen Bildern illustrierter Bericht über das private Wohn- und Lebensumfeldes einer Person. Vor der Kulisse dieser privaten Orte (Privatwohnungen, Privathäuser, das Urlaubs- oder Sommerhaus, das Elternhaus, aber auch der Garten oder das Anwesen) zeigt sich die zumeist bereits berühmte Persönlichkeit als Privatmensch. Diese privaten Orte zeichnen sich dadurch aus, dass sie der Öffentlichkeit allgemein nicht zugänglich sind. Anders als Handlungsorte wie der öffentliche Park oder ein Restaurant, die ebenfalls als Kulisse für einen personenzentrierten Bericht gewählt werden können, sind die privaten Räumlichkeiten jene, zu denen sonst nur der Schriftsteller und seine Familie Zutritt hat. Weil repräsentative Räume, wie zum Beispiel das Büro oder Verlagsräume als semi-öffentliche Handlungsorte charakterisiert sind und eher eine rollennahe, aber mitunter personenferne Darstellung ermöglichen, bleiben diese Räume bei einer Home-Story in der Regel unbeachtet.641 Erzählt wird in Bildern, unter Einbeziehung nahestehender Personen (auch der Haustiere) des Künstlers und auf kurzweilig unterhaltende Weise. Das Magazin, in dem die Home-Story erscheint, nimmt dabei die Perspektive des freundlich wohlgesonnenen und nicht kritischpolariserenden Darstellens ein. Die Home-Story ist eine klassische Imagestrategie der Vermenschlichung, durch die besonders unnahbar, hölzern oder sogar arrogant wirkende Personen des öffentlichen Lebens von ihrer privaten, weichen und menschlich-verbindenden Seite gezeigt werden.642 Für die Home-Story sind fünf Techniken wesentlich: die Fokussierung auf Alltägliches und auf das für das Berufsleben ansonsten Nebensächliche, die Beschönigung, die Personalisierung, die Vereinfachung und die Emotionalisierung. Die Home-Story übernimmt dadurch die Funktion der Sympathiewerbung, der Lebensstil- und Wohlgefühlvermittlung (Feel-Good-Faktor)643 sowie der Schaffung einer Identifikationsmöglichkeit und einer emotionalen Bindung zwischen Autor und Publikum, durch die die Distanz der ansonsten abstrakt bleibenden Beziehung verringert wird. Ein wesentliches Element einer Home-Story eines Schriftstellers ist die Inszenierung des Ortes, an dem all seine Werke entstehen, sein häuslicher Arbeitsplatz. Wie das Schreiben selbst werden auch die visuell inszenierten Orte des Schreibens zu Sehnsuchtsorten, zu einer festen Größe in der Geschichte der Selbstdarstellung des Autors.

641 Vgl. Tina Rohowski: Das Private in der Politik. Politiker-Homestories in der deutschen Unterhaltungspresse. Wiesbaden 2009, S. 58 f. 642 Vgl. ebenda, S. 58 f. 643 Vgl. Christina Holtz-Bacha: Das Private in der Politik. Bonn 2001.

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Abbildung 83: Arbeitszimmer von Walter Kempowski (o), Christa Wolf (m.) und Peter Bichsel (u.)644 Die veröffentlichten Fotos der Schriftsteller-Arbeitszimmer geben eine ganz eigene ‚Raumtheorie‘ preis wie zum Beispiel den Mythos des Genies, das über, unter und zwischen Papierlawinen das kreative Chaos zu beherrschen versteht (Friedrike Mayröcker), sie versinnbildlichen den akkuraten Struktur- und Ordnungsfreund (Kempowski) oder repräsentieren Belesenheit (Wolf). In Peter Bichsels Arbeitszimmer steht der Schreibtischstuhl als flexibler Dreh- und Angelpunkt des Kreativuniversums 644 Foto des Arbeitszimmers von Walter Kempowski, Christa Wolf und Peter Bichsel, fotografiert von Herlinde Koelbl. Entnommen aus: Herlinde Koelbl (Hrsg.): Schreiben! München 2007, S. 111, S. 155, S. 43.

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in der Mitte des Raumes. Kreisförmig um ihn herum angeordnet befinden sich der Drucker, das Telefon, das Faxgerät, der Computer und die Kanon-Lektüre (Beckett). Mit dem Weltatlas, exotischen Reisesouvenirs (Masken und Holzskulpturen) und einer fast staatsmännischen Flagge in der Vase holt er sich weltgewandtes Flair in sein Arbeitszimmer, das durch ein paar Grünpflanzen ergänzt wird, die, zeitweilig etwas geschwächt, dennoch immergrüne Vitalität präsentieren, während die offenen, Arbeitseifer symbolisierenden Schubladen den Mythos des Multi-Tasking-Pragmatikers unter Beweis stellen. Bichsels symbolisierter Pragmatismus wird zudem betont durch einen Satz, der auf einem Zettel an der Wand hängt:

Abbildung 84: „Erfahrung ist fast immer eine Parodie auf die Idee“645 Ergänzt werden Sinnspruch und Mythos durch ein in der Home-Story gemeinsam mit dem Foto abgedrucktes Interview. Darin heißt es nicht nur pragmatisch „Das Schreiben ist nicht vom Leben zu trennen“, sondern auch (den weltmännischen Gestus ebenso bestätigend wie ironisierend): „Ich habe auch ein Buch geschrieben zur Stadt Paris – und ich war noch nie in Paris. Ich wollte mir das Original meiner Idee Paris nicht versauen.“646

Abbildung 85: Bichsel, beidhändig647

645 Foto eines Zettels aus dem Arbeitszimmer von Peter Bichsel, fotografiert von Herlinde Koelbl. Entnommen aus: Koelbl, Schreiben!, S. 47. 646 Peter Bichsel, in: Koelbl, Schreiben!, S. 43. 647 Peter Bichsel bei der Arbeit, fotografiert von Herlinde Koelbl. Entnommen aus: Koelbl, Schreiben!, S. 47.

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Bichsels habituell inszenierte Fähigkeit der polychronen Vielseitigkeit zeigt sich in einer weiteren, seine Selbstdarstellung abrundenden Fotografie, auf der er mit der linken Hand einen Stift hält, mit welchem er zum Schreiben auf dem Papier ansetzt, während sich seine rechte Hand in der Tippbewegung auf der Tastatur des Notebooks befindet. Damit ruft er – jenseits des Schreibtischs als bedeutungstragendes Element, doch unmittelbar in dessen Nähe – den Topos der schreibenden Hand als epochenübergreifendes Signum der Autorendarstellung auf. Die schreibende Hand als „Sinnbildkunst“648 ist seit jeher ein repräsentatives Medium des Autors und seiner Schrift und damit seit Jahrhunderten Motiv dichterischer Poetologie und Selbstreflexion. 649

Abbildung 86: Der Topos der schreibenden Hand, Emblem (um 1600) Unter dem Emblem der schreibenden Hand aus dem frühen 17. Jahrhundert ist zu lesen: „Kein Tag vergehe, ohne dass ein Strich gezogen werde. /Allein die Übung macht den Meister.“650 Das Emblem Nulla dies sine linea setzt diesen Sinnspruch, die Maxime Plinius’ des Älteren in das Bild der schreibenden Hand um. Die Verallgemeinerung der Lehre, die gleichwohl die Malerei wie die Schriftkunst umfasst, formuliert ein poetisches Programm, auf das man sich fortan symbolisch und ikonografisch berief. Auch in der Tradition der Gelehrtendarstellung war das Schreiben gängiges Symbol der Evangelisten und Kirchenväter und symbolisierte die Einheit von auctor und auctoritas. „Schreib-, Lese und Empfängnisszenen, Lehrgesten und Diktat – die Buchgeschichte ist reich an Bildern von Autoren, die in reger Tätigkeit ihrer Hände dargestellt werden. […] Die Hand am Papier, am Stift und vor allem mit der Hand am oder 648 Vgl. Arthur Henkel/Albrecht Schöne. Emblemata. Hand zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Stuttgart, Weimar 1996. (Darin auch die Abbildung des Emblems „Nulla dies sine linea“, Sp. 1295.) 649 Vgl. Karl Riha: Das Buch der Hände. Eine Bild- und Text-Anthologie. Nördlingen 1986. Und: Ernst Jandl: my right hand, my writing hand, my handwriting. Wien 1985. Sowie: Matthias Bickenbach/Annina Klappert/Hedwig Plompe (Hrsg.): Manus loquens. Medium der Geste – Geste der Medien. Köln 2003. 650 „Nulla dies abeat, quin linea ducta sit, usus/ Solus erit, magnos qui facit artifices.“

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im Buch. Manus loquens.“651 In der Lithografie von Grass wird diese Tradition aktualisiert und gegenwärtig.

Abbildung 87: Hand mit Federkiel, Radierung von Günter Grass (l.) 652, die Hände Paul Valérys (r) Die Aufnahme von der schreibenden Hand Paul Valérys zeigt den Schlusspunkt des letzen Schwungs seiner Unterschrift, so dass hier Hand, Schrift und Name eine Einheit bilden, die auf sich selbst verweist und damit für die Autorschaft des Dichters und Gelehrten steht.

Abbildung 88: Die Hand als Symbol des Wissens und Weisens653 Jüngst ist nicht allein die schreibende, auch die dozierende und zeigende Hand Sinnbild des intellektuellen Schriftstellers (und Literaturkritikers). Der autoritäre Zeigefinger oder digitus argumentalis ist seit den Autorendarstellungen des Mittelalters bekannt; bis heute bleibt er für die fotografische Selbstdarstellung eine starke Geste.

651 Matthias Bickenbach: Das Autorenfoto in der Medienevolution. München 2010, S. 291. Vgl. auch: Sabine Schulze (Hrsg.): LeseLust. Niederländische Malerei von Rembrandt bis Vermeer. Frankfurt a. M. 1993. Und: Petra Löffler: Von der sprechenden zur Ausdruckshand. In: Bickenbach et al. (Hrsg.): Manus loquens. Köln 2003, S. 201-242. 652 Günter Grass: Des Schreibers Hand, Radierung 1979. 653 O. A.: Alter Besserwisser. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 143, 2000, S. 22.

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„Harald Schmidt soll einen erotischen gehabt haben, für Dieter Thomas Heck war er wichtiger als das Mikrofon. Der Zeigefinger war die einzige fleischliche Verbindung zwischen Michelangelo, Gott und Adam. Lehrer Lämpel nutze ihn als gichtigen Stockersatz und E. T. wollte damit Nach-Hause [sic] telefonieren. – Der Zeigefinger (lat. Index).“654

Zurück zur schreibenden Hand und zum inszenierten Ort des Schreibens. Aus Handkes Arbeitszimmer – im Gegensatz zu Bichsels – spricht nahezu mönchhafte, buddhistische Beschränkung. Adorno analysiert in seinen Minima Moralia die Gefahr der natürlichen, geistigen Unordnung, die sich mit zu viel Text wie Kompost im Garten anhäuft, der modrig wird. Denn in der Einsamkeit des Schreibens, so viel sei gewiss, produziere jeder Autor unvermeidlich auch „Abfall und Bodenramsch“. Weil es „überhaupt nicht leicht [ist], vom Abhub sich zu trennen[,] so schiebt er ihn denn vor sich her und ist in Gefahr, am Ende seine Seiten damit zu auszufüllen.“ Daran schließt Adorno die „Forderung, sich hart zu machen gegens Mitleid mit sich selber.“ Dies schließe die praktisch-organisatorische, technische Forderung ein, „mit äußerster Wachsamkeit […] alles zu eliminieren, was als Kruste der Arbeit sich ansetzt“, was vielleicht in einem früheren Stadium die warme Atmosphäre bewirkt habe, in der es wächst, jetzt aber muffig, schal zurückbleibt. Diese Erfordernisse zwingen den Schriftsteller zur Konzentration, auch zur Askese.655

Abbildung 89: Handkes Schreibzelle656 Von jener Strenge gegen sich selbst erzählt Handkes Arbeitszimmer. Es versinnbildlicht auch dem unkundigen Nicht-Literaten das asketische geistige Leben. So gewährt der Schriftsteller Einblick in sein Arbeitszimmer, das jene innere geistige Möblierung an der begeh- und begreifbaren Oberfläche dupliziert, ja diese geradezu

654 O. A.: Alter Besserwisser. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 143, 2000, S. 22. 655 Adorno, Minima Moralia, S. 98. 656 Foto des Arbeitszimmers von Peter Handke, fotografiert von Herlinde Koelbl. Entnommen aus: Koelbl, Schreiben!, S.41.

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unschuldig und zufällig inszeniert. In Handkes puristischer Schreibparzelle drückt sich noch etwas anderes aus. Dunkel der Innenraum, nur mit einer kleinen Standlampe zu erhellen, scheint die Welt draußen zu leuchten. Warum? Nicht in der häuslichen Enklave, sondern einzig in der Natur will Handke die Inspirationen und geistige Reinheit verspüren. So ist es mythologisch nur konsequent, dass Handke erzählt: „Wenn ich dann im Wald spazieren gehe, fällt mir das Wort, das nicht stimmt, auf den Kopf.“ Draußen-Sein, mehr noch Auf-Reisen-Sein sind die habituell mythologischen Werte, die sich in Handkes Schreibtischbild visuell objektivieren. Ergänzt wird sein Mythos durch seine Selbsterklärungen, die zusammen abgedruckt sind: „Eine Zeitlang war ich ohne festen Wohnsitz, wollte aber ohne Schreiben nicht sein, so fing ich an, mit Bleistift zu schreiben. Seitdem schreibe ich ausschließlich mit der Hand“657, was eine weitere habitualisierte Ungebundenheit, örtliche wie geistige Freiheit impliziert.

Abbildung 90: Grass (o.), Jelinek (m.), Handke, schreibend (u.)658

657 Peter Handke, in: Koelbl, Schreiben!, S. 41. 658 Foto der schreibenden Hand, von Günter Grass, Elfriede Jelinek und Peter Handke, fotografiert von Herlinde Koelbl. Entnommen aus: Koelbl, Schreiben!, S. 9, S. 50, S. 41.

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Ein wiederkehrendes Moment in den Home-Story-Abbildungen der Arbeitszimmer ist – neben den als universell geltenden, da stets inszenierten Insignien des Schriftstellertums: den Schreibutensilien (Papier, Stift, Computer, Tisch, Stuhl) – die unweit neben dem Schreibtisch platzierte Schlafcouch, die dem Leser von den Anstrengungen der dichterischen Arbeit erzählt, die ganz offenkundig regelmäßige kreative Pausen unausweichlich werden lassen.

Abbildung 91: Schlafstätte und Schreibtisch659

659 Foto der Schlafstätten von Hermann Lenz, Brigitte Kronauer, Günter de Bruyn, fotografiert von Herlinde Koelbl. Entnommen aus: Koelbl, Schreiben!, S.61, S.125, S.111.

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Über den die Topografie seines Denkraumes und den asketischen wie gleichwohl erschöpfenden Arbeitsprozess notiert etwa Grass: „[E]in hochbeiniges, zerwühltes Bett – als hätte ein Schlafloser es verlassen –, im Hintergrund der schmale Schrank, ein Bücherbord halb geahnt, zuvorderst mit kühner Hand entworfen, sorgsam dem Ton des Papiers bewahrend, entwickelt sich die bewegteste Szene: Auf seinem armen Stuhl, nachlässig mit Hemd, Tuch und Hose bekleidet, sitzt der Dichter. Er hat sich zurückgelehnt, lässt die Hand mit der Feder hängen, hat links das blanke Papier ergriffen.“660

Was zudem auffällt, ist die interessante Gegebenheit, dass fast alle Arbeitszimmer, mit Ausnahme des Zimmers des bodenständigen Pragmatikers Bichsel, unter dem Dach liegen. Damit entsprechen sie der Idee des Daseins im Elfenbeinturm, fernab des Treibens auf der Straße, und wenn auch eher zufällig, so doch habituell stilbildend wie beiläufig dem malerischen pointierten Mythos des einsamem Poeten, der ein wenig entrückt die Welt und das Leben aus der Vogelperspektive betrachtet.

E NTTABUISIEREN Überraschen Surprise à la Alfred Hitchcock Ein überraschender (Inszenierungs-)Effekt tritt ein, wenn moralische Verhaltensimperative, über die jedes gesellschaftliche Feld verfügt (Charles Taylor spricht von „starken Werten“661) verletzt werden. Anders als im Wirtschaftssystem, in dem nach Luhmann nur zwei Werte gelten, nämlich „zahlen“ und „nicht-zahlen“, werde auf dem intellektuellen Feld die Erfüllung der Verhaltensnormen der Aufrichtigkeit und der Wahrhaftigkeit verlangt (gemäß des binären Codes „wahr“/„unwahr“) sowie die Werke des literarischen Feldes mit dem Codewert „(ästhetisch) schön“/„unschön“ gemessen.662 Weil Verhaltensweisen, die non-konform sind, Konflikte auslösen, kann ein erfolgreich überraschender Effekt innerhalb der Selbstinszenierung dann zustande kommen, wenn der Code partiell torpediert wird oder einer zuvor aufgebauten Erwartungshaltung (durch den Rezipienten, die Literaturvermittler oder den Schriftteller) nicht entsprochen und die unterstellte Konformität und Kontinuität des in der Vergangenheit gezeigten sowie des aktuellen wie zukünftig zu erwartenden Verhaltens nachhaltig irritiert wird.

660 Günter Grass: Die Ballerina. In: Günter Grass. Werkausgabe in zehn Bänden. Hrsg. v. Volker Neuhaus. Bd. 9: Essays, Reden, Briefe, Kommentare. Hrsg. v. Daniela Hermes. Darmstadt 1987, S. 6-14, 6. 661 Vgl. Charles Taylor: Was ist menschliches Handeln? (1977) In: Ders.: Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus. Frankfurt a. M. 1988, S. 9-51. 662 Vgl. Foucault, Dispositive der Macht, S. 18 f.

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Diese Art des Überraschens hat vielleicht am ehesten der Urvater des Dandyismus, George Brummell wie kein Zweiter gezeigt – weniger in seinen literarischen Werken als vielmehr in seinem öffentlichen Verhalten. Den gesammelten Überlieferungen zum Leben Brummells Brummelliana folgend, retournierte der Dandy beispielsweise eine Frage seines Dieners mit nicht standesgemäßer Unhöflichkeit. Der Diener stellte, mehr zu sich selbst in romantischer Euphorie, eine Frage, die gleichwohl als Gesprächsofferte fungierte: „Wann war es wohl, als ich zum ersten Male ein Gänseblümchen erblickt habe?“ Brummell antwortete mit der überraschend exakten, nüchternen, die erhebenden Gefühle seines Gegenübers ignorierenden Information: „Am 1. Februar.“ Damit bringt Brummell die beginnende Konversation abrupt zum Erliegen und zudem das Desinteresse an dem, was außerhalb seiner selbst liegt, zum Ausdruck.663 Unerwartete Antworten, die das Gespräch bewusst nicht fortspinnen, sondern ins Leere laufen lassen, gibt Brummell in pointierter Form auch an anderer Stelle, als er auf die Frage, ob er jemals einen so verregneten Sommer gesehen habe, erwidert: „Ja, im letzten Winter!“664 Brummells Weigerung, der Konversation in den vorgeschriebenen Bahnen zu folgen, geht dabei einher mit einer Herabsetzung des Gesprächspartners, die wiederum seinem selbsterhöhenden Mythos des Dandys dienlich ist. Die Kunst der Überraschung beruht auf dem raffinierten Prozess, mit einer ungewöhnlichen Entwicklung einer Interaktion kurzeitig Verwirrung zu stiften. Die Überraschung kann zur bewussten Selbstinszenierungsstrategie werden, wenn der Schriftsteller den Gesprächs- oder Interviewpartner mit einer unvorhergesehenen Düpierung irritiert und performativ etwas Ungewöhnliches oder zumindest Unerwartetes tut. So überrascht George Brummell selbstinszenatorisch und sprachartistisch seine Zuhörerschaft mit der Anekdote, ein reicher Händler habe ihn zu sich nach Hause eingeladen und dazu ermutigt, all seine Freunde mitzubringen. Bei der Festlichkeit angekommen und diese mit den Freunden genießend, habe doch der Gastgeber – und so schließt Brummell seine Episode mit einer ironisch-herablassenden, unvorhergesehenen Pointe – die Unverschämtheit besessen, sich in den Kreis der Freunde zu gesellen. Könnte man hier auch von augenzwinkernder Frechheit sprechen, so ist die Erzählung Brummells doch nichts anderes als eine mythoskonturierende Anekdote mit überraschender und damit im Gedächtnis bleibender Wendung. Auch Rainald Goetz’ Rasierklingen-Darbietung in Klagenfurt verdankt seine Wirkung dem Überraschungseffekt – weniger dem sprachartistischen als dem performativen. Eine überraschende Verhaltensweise, die jene aus den bisherigen, öffentlich gezeigten Handlungen abgeleiteten Erwartungen irritierte, zeigte auch Roger Willemsen. Sonst den eigenen Mythos des Intellektuellen befördernd, trug der Schriftsteller Willemsen im Fernsehen zur Erheiterung einer Gesprächsrunde bei. Er tat dies auf ungewöhnliche Art, auf postpubertärem Niveau. Teil der Runde waren die Moderatorinnen Charlotte Roche und Kim Fischer, der Musiker Ferris MC und

663 William Hazlitt: Brummelliana. In: Ders.: The Complete Works. Bd. 20. London 1934, S. 152-154, 154. 664 William Jesse: The Life of George Brummell (1844). London 1893, S. 81. (Auch abgedruckt in: Fernand Hörner: Die Behauptung des Dandys. Eine Archäologie. Bielefeld 2008, S. 66 f.)

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die Sängerin Mieze Katz, gemeinsam spielten sie in Charlotte Roches Wohnung Wahrheit oder Pflicht und ließen sich dabei von einem Kamerateam filmen. Dabei überboten sie sich gegenseitig, allerhand Alkohol konsumierend, an intimen Geständnissen und die Schamgrenze überschreitenden Aktionen. „Roger Willemsen steckt seine Fuß in die Toilette und zieht ab. […] dann wird Willemsen von Roche gefragt, ob er Erfahrungen mit Analverkehr hat. Was folgt ist eine lange Geschichte […]. Als Willemsen auf Klo muss, wird Roche dazu verdammt, mitzugehen und synchron in die Wanne zu machen. […] Eine letzte Tat wird vollbracht: Roger Willemsen und Ferris MC verbrennen ihre Unterwäsche auf der Straße.“665

Ausgestrahlt wurde die Sendung nicht, lediglich auf der Online-Plattform YouTube ist die überraschende, intellektuelle Selbstdemontage Roger Willemsens im Stream zu betrachten.666 Neben dem überraschenden Surprise-Effekt, auf dem auch zahlreiche als seriös geltende Fernsehshows gründen (stilbildend Lass dich überraschen mit Rudi Carrell), lässt sich die Aufmerksamkeit, etwa innerhalb eines Interviews oder eines Klappentextes, ebenso durch den Suspense-Effekt erhöhen.

Suspense à la Alfred Hitchcock Alfred Hitchcock illustrierte im Gespräch mit François Truffaut die bezeichnende Unterscheidung zwischen suspense (Spannung) und surprise (Überraschung): „Wir reden miteinander, vielleicht ist eine Bombe unter dem Tisch, und wir haben eine ganz gewöhnliche Unterhaltung, nichts Besonderes passiert, und plötzlich, bumm, eine Explosion. Das Publikum ist überrascht; aber die Szene davor war ganz gewöhnlich, ganz uninteressant. Schauen wir uns jetzt die Suspense an. Die Bombe ist unter dem Tisch, und das Publikum weiß es. Nehmen wir an, weil es gesehen hat, wie der Anarchist sie dahin gelegt hat. Das Publikum weiß, dass die Bombe um 1.00 Uhr explodieren wird, und jetzt ist es 12.55 Uhr – man sieht eine Uhr. Dieselbe unverfängliche Unterhaltung wird plötzlich interessant, weil das Publikum an der Szene teilnimmt. Es möchte den Leuten […] zurufen: Reden Sie nicht über so banale Dinge, unter dem Tisch ist eine Bombe und gleich wird sie explodieren! Im ersten Fall hat das Publikum 15 Sekunden Überraschung beim Explodieren der Bombe. Im zweiten Fall bieten wir ihm 15 Minuten Suspense.“667

Auf einer partiellen Uninformiertheit des handelnden Subjekts beruhend, erhöht der Einsatz von Suspense die dauerhaftere Aufmerksamkeit des Publikums. „Er weiß uns

665 Grischa Rodust: Flaschendrehen. Wenn Roger Willemsen über Sex plaudert. In: Die Welt, 04.07.2007. 666 Siehe: http://www.youtube.com/watch?v=2BpLGASxt0Q (Stand: Januar 2014). Das Trash-Video haben bereits mehr als eine halbe Millionen Zuschauer angeschaut. 667 Vgl. Thomas Anz: Spiel, Spannung und Erotik. In: Der Rabe 44/1995, S. 140-148, 145.

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auf die Folter zu spannen – und es fertig zu bringen, dass wir’s ihm danken.“668 Mit diesem Satz beschrieb Thomas Mann die Wirkung und das wertvolle Element der Spannung in Heinrich Kleists Erzählungen. Im Kontext intellektueller Selbstdarstellung findet sich das Grundprinzip der Spannungserzeugung im öffentlichen Diskurs wieder, wenn der Autor vor der Veröffentlichung seines neuesten Buchprojektes in Interviews Hinweise und Indizien auf das nunmehr mit Spannung Erwartete liefert, um die Neugier des potenziellen Lesers weiter geweckt zu halten. Dies tat auch Elfriede Jelinek. Bevor sie ihren Roman Lust (1989) publizierte, kündigte sie ihr Prosa-Projekt mit dem unbescheidenen Hinweis auf George Bataille an. Sie schreibe einen weiblichen Gegenentwurf zu dessen Erzählung Die Geschichte des Auges.669 Zunächst sagte sie, arbeite sie an „einer Art erotischem Roman – ich sage nicht Porno“670, später dann wird Jelinek von „weiblichem Porno“671 sprechen. Erstmals gab sie diese Meldung im Sommer 1986 an die Deutsche Presse-Agentur dpa; diese von der dpa umgehend verbreitete und in überregionalen Feuilletons veröffentlichte Nachricht habe so große Resonanz gefunden, dass Jelinek in einem Interview einen Monat später darauf zu sprechen kam, wenngleich unter vorgeblicher Bescheidenheit: „Es hat schon alle Leute so neugierig gemacht, dass ich fast wünschte, ich hätte es nicht angekündigt.“672 Im Herbst 1986 veröffentliche sie in der Zeitschrift manuskripte den kurzen Text Begierde und Fahrerlaubnis. Eine Pornographie, den man als Versuch lesen kann, die Öffentlichkeit an dem Entstehungsprozess ihres angekündigten Prosa-Projekts teilhaben zu lassen. Es 668 Vgl. Anz, Spiel, Spannung und Erotik, S. 145. 669 George Bataille: Die Geschichte des Auges (1963/1977). In: Ders.: Das obszöne Werk. Reinbek bei Hamburg 1977. In Batailles kühner, 1928 zunächst anonym publizierter pornografischer Erzählung stimuliert die weibliche Protagonistin Simone, ein bürgerliches Mädchen mit Hang zur Tabu-Übertretung, das Begehren des Erzählers, indem sie ihr Genital zum Referenzpunkt der (Schau-)Lust des Erzählers macht. Der Erotismus Batailles konstituiere sich, so Roland Barthes, auf syntagmatischer Ebene vor allem über die lexikalische Inversion und das Spiel mit den Worten, durch die auch sprachlich die Konventionen gebrochen werden. In Batailles Text seien zwei miteinander verbundene, sich überkreuzende metaphorische Ketten grundlegend: die Körperteile (das Auge und das Genital) und die Flüssigkeiten (die Träne und der Urin, Milch etc.). (Vgl. Roland Barthes: Die Augenmetapher (1963). In: Helga Gallas (Hrsg.): Strukturalismus als interpretatives Verfahren. Darmstadt, Neuwied 1972, S. 25-34.) Dass Jelineks Roman Lust ihrem Vorbild in keiner Weise ähnelt, arbeitete Hartwig heraus. Weder das Motiv des Begehrens noch das der okularen Erotik oder gar ein neuartiger Gegenentwurf finden sich bei Jelinek, lediglich das Fließen von Blut, Urin und Sperma. „Aber“, fragt Hartwig, „ist das nicht seit de Sade längst ein etabliertes pornographisches Sujet?“ (Vgl. Ina Hartwig: Sexuelle Poetik. Proust, Musil, Genet, Jelinek. Frankfurt a. M. 1998, S. 228 ff.) 670 Elfriede Jelinek: „Nichts ist möglich zwischen den Geschlechtern.“ Gespräch mit Roland Gross. In: Süddeutsche Zeitung, 20.01.1987. 671 Elfriede Jelinek zit. n. Sigrid Löffler: Elegant und Gnadenlos. In: Brigitte, 28.06.1989. 672 Elfriede Jelinek, in: Ruhr-Nachrichten, 11.08.1986; hier zit. n. Mayer/Koberg, Elfriede Jelinek. Ein Porträt, S. 157 f.

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folgten weitere Interviews.673 Das Diskursarchiv für die Diskussion um ihren Roman hat sie damit bereits vorgegeben; es basiert auf den Grundbegriffen Erotik, weibliche Pornografie, Begierde, die als altbekannte Signalwörter das mediale Interesse schürten und – solange Lust noch nicht erschienen war – fortwährend kolportiert werden konnten. In der Funktion des Köders baut der Name Bataille im Sinne des namedropping beim Publikum gezielt Wissen oder Ahnungen auf („Bataille als der“674), um das Publikum mit diesem assoziativen Begriff durch die weitere Inszenierung zu führen und die Ähnlichkeit schrittweise zu enthüllen. Das Inszenierungsprinzip: Die potenziellen Leser erhalten minimale, sich akkumulierende Informationen vor der Romanveröffentlichung, die sukzessive das Interesse erhöhen, was sich kurz vor dem Erscheinungstermin in einer gespannten Erwartungshaltung ausdrückt. Suspense kann somit nicht nur filmdramaturgisch, sondern auch im Literaturbetrieb performativ als Aufmerksamkeitsverstärker eingesetzt werden, der auf der „Verteilung von Wissen und Aktivierung von Emotionen“675 basiert. Die Wirkungsformel beruht dabei auf der Grundannahme, dass mindestens noch ein Ereignis innerhalb des narrativ imaginierten Plots folgt, wodurch sich „eine grundlegend gespannte Erwartungshaltung auf die Abfolge der Ereigniskette und das Ende“676 im Rezipienten entwickeln kann. Den Spannungsbogen zum Erscheinungstermin des Romans noch einmal zuspitzend, verkündete Elfriede Jelinek, nun endlich vollkommen gescheitert zu sein: „Um es auf den Punkt zu bringen – es geht in meinem Roman nicht um Pornographie, sondern um Anti-Pornographie. […] Ich wollte eine weibliche Sprache für das Obszöne finden. Aber im Schreiben hat der Text mich zerstört – als Subjekt und in meinem Anspruch, Pornographie zu schreiben.“677 Gerade das Scheitern jedoch gehört zu einem weiteren wirkungsästhetischen Faszinationstyp, der das Publikum in gewünschter Spannung hält. Mit ihrer „Interview-Manier und -Manie im Medienskandal um Lust“678 berührt Jelinek im Spannungsdiskurs zugleich die ebenso werbewirksame Strategie des Sexualisierens, die Jelineks Aufmerksamkeitserzeugung verstärkt.

673 Zum Beispiel: Elfriede Jelinek: „Nichts ist möglich zwischen den Geschlechtern.“ Gespräch mit Roland Gross. In: Süddeutsche Zeitung, 20.01.1987. 674 Hartwig, Sexuelle Poetik, S. 233. 675 Mikos, Film- und Fernsehanalyse, S. 142. 676 Ebenda, S. 142. 677 Elfriede Jelinek: „Ich mag Männer nicht, aber ich bin sexuell auf sie angewiesen.“ Gespräch mit Sigrid Löffler. In: Profil, 28.03.1989. (Mit diesem behaupteten Scheitern zementiert Jelinek ihren nihilistischen, selbstdemontierenden Habitus und dadurch natürlich auch ihren Mythos der Hass-Erfüllten, der am Leben und den Aufgaben Scheiternden.) 678 Hartwig, Sexuelle Poetik, S. 230.

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Sexualisieren Die Selbstdarstellung vermittels der Strategie des Sexualisierens kann nach Foucault in unterschiedlichen, teilweise skandalisierenden Varianten erfolgen. In Sexualität und Wahrheit differenziert Foucault vier Sexualitätsdispositive: erstens die Hysterisierung des weiblichen Körpers, zweitens die Pädagogisierung des kindlichen Sexes, drittens die Sozialisierung des Fortpflanzungsverhaltens und viertens, die Psychiatrisierung der perversen Lust. Jede öffentliche Selbstinszenierung, die sich im Diskurs der Sexualität verortet, antworte dann auf eine der vier Dispositive. Frauen können sich beispielsweise gemäß des Dispositivs der Hysterisierung des weiblichen Körpers als heikles Objekt stilisieren – wie etwa Alexa Hennig von Lange: In der Late-Night-Show Harald Schmidt betritt sie in rotem Minikleid die Bühne. Nach langer Arbeit und medialer Abstinenz ist von Lange wieder zurück im kulturellen Leben. In Kürze erscheint ihr neuer Roman Ich habe einfach Glück. Es musiziert die Harald-Schmidt-All-Star-Band. Hennig von Lange stöckelt auf Harald Schmidt zu, wirft derweil die Arme hoch in die Luft und lächelt ins Publikum. Höflich begeistert begrüßt Schmidt sie per Handschlag. Tusch, Applaus, beide setzen sich, dann der erste Satz. Alexa Hennig von Lange streckt Harald Schmidt ihren linken, nackten Arm entgegen: „Fass ma’ drüber!“ Schmidt fühlt: „Ja, du hast auch Gänsehaut“ – „Nein“, entgegnet von Lange, „is’ rasiert.“ Gelächter. „Rasierst du dich mit, äh“, setzt Schmidt an und wird von der Autorin unterbrochen: „Überall, ja.“ Erneutes Gelächter. Von Lange rutscht von der linken Seite des Sessels zur rechten und wieder zurück. „Geht es nicht mit dem Sitzen?“, fragt Schmidt. „Doch, ich guck’ nur, wie ich am besten sitze“ und schlägt das eine Bein über das andere. „Sieht jedenfalls sehr elegant aus“, sagt Schmidt und begründet, „ es hat so’n bisschen was Französisches; weißt Du, von der Figur her und vom Kleid.“ Von Lange atmet tief, greift den von Schmidt eingeworfenen Diskurspartikel auf: „Meine Figur…“, sagt sie, blickt Schmidt in die Augen und schickt ein leises Stöhnen hinterher. „Ja“, bestätigt Schmidt, „weißt Du, so etwas Graziles.“ – „Danke, du dachtest sicherlich, das ist ein Kleid“, fragt sie. „Ja, dachte ich.“ – „Ist kein Kleid“, beweist von Lange und zieht das Oberteil ihres zweiteiligen Outfits hoch. Zu sehen ist ein schmaler, sehr dünner Bauch. Bewundernde Pfiffe aus dem Publikum. Schmidt analytisch: „Es ist ein Rock mit einem Top. Nennt man das so?“ – „Ja“, bestätigt von Lange und ergänzt: „Ich habe nichts drunter.“ Gelächter. Applaus. Die Sendung nimmt ihren Lauf. Die Werbung für Hennig von Langes neuen Roman Ich habe einfach Glück erfolgt nicht über ein Gespräch, das ihre Arbeit zum Gegenstand hat, sondern indem die Autorin ein Image inszeniert. Zielgruppenspezifisch stilisiert sich Hennig von Lange als Vamp, als eine Frau, deren Emanzipation maßgeblich darin besteht, dass sie unaufgefordert ihren Körper zeigt und dass sich auch im Intimbereich rasiert. Die Sexualisierung beruht weitgehend auf der antagonistischen Spannung zwischen offizieller und inoffizieller Kultur und vollzieht sich am medial inszenierten Schnittpunkt der beiden Systeme. Bei Hennig von Lange ist die Strategie des Sexualisierens mehr als eine temporäre Erscheinung, sie ist eine permanente Alternative, eine Möglichkeit des „Ich-und-ein-

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Anderer-Seins“679; dadurch erhält die gezeigte Attitüde mythosgenerierenden Charakter. Im Prozess der audiovisuell vermittelten Strategie des Sexualisierens tritt an die Stelle der etablierten Instanzen des literarischen Feldes – also anstelle des Gesprächs über das Werk oder die künstlerische Inspiration – der groteske, erotische oder zumindest bemerkenswerte Autorinnenkörper, der deswegen eine kosmologische Dimension gewinnt. Der Leib wird zum Mittelpunkt des Universums. Durch die Möglichkeiten, die das Fernsehen bietet, kommt es zu einer deutlichen Nobilitierung der körperlichen Materie, hier sogar als Garant für das Kulturelle: „Im menschlichen Körper wird Materie schöpferisch, originell, hier ist sie aufgerufen, den ganzen Kosmos zu besiegen, die Materie des ganzen Kosmos zu organisieren. Im Menschen gewinnt die Materie historischen Charakter“ 680, thematisierte eins Bachtin die Verbindung von Körper und höherer schöpferischer Gegebenheit. Mit der Aufwertung der sexualisierten Körpermaterie erhält der Körper gleichzeitig den Stellenwert eines kulturellen Gedächtnisortes – und dadurch auch mythoskonservierende Funktion, durch die der Autorinnenkörper multimedial mit dem Werk verschmilzt und qua Körperlichkeit Interesse beim Publikum geweckt wird. Anders als Bachtin, der in der grotesken Körperinszenierung einen anarchischen Akt sah, einen Gegenentwurf zu dem offiziell funktionalen Körper, ist das Körperkonzept Foucaults keinesfalls rebellisch, sondern zunächst einmal von den herrschenden Diskursen durchzogen. 681 „Tatsächlich ist das, was bewirkt, dass ein Körper, dass Gesten […] identifiziert und konstituiert werden, bereits eine erste Wirkung der Macht. Das Individuum ist also nicht gegenüber der Macht; es ist […] eine seiner Wirkungen. Das Individuum ist eine der Wirkung der Macht und gleichzeitig […] ihr verbindendstes Element.“682

Auf der Oberfläche des menschlichen Körpers reflektieren sich die Diskurse. Der sexualisierte Körper – „diese große Sexographie […], die uns den Sex als das allumfas-

679 Peter von Möllendorff: Grundlagen einer Ästhetik der Alten Komödie. Untersuchungen zu Aristophanes und Michail Bachtin. Tübingen 1995, S. 74 f. 680 Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur (1940/1987). Frankfurt a. M. 1987, S. 410. 681 Mit seinen kulturellen Analysen wandte sich Foucault bekanntlich gegen die traditionell anthropologische Philosophie, nach der der Mensch ein rational und autonom handelndes Wesen ist. In seinem späten Werk hingegen, dezidiert in Sexualität und Wahrheit, knüpft Foucault zum Teil an die vernunftbasierte Selbstwerdung an, auf deren Prämissen auch die Sexualitätsdispositive aufbauen. Neben einer ars theoretica und ars politica benennt Foucault auch eine ars erotica, der er eine Kraft zum Umsturz etablierter Ordnung attestiert, wenngleich er die denkbaren, disparaten Konsequenzen nicht detailliert ausführt. (Vgl. Michel Foucualt: Der Anti-Ödipus. Eine Einführung in eine neue Lebenskunst (1977). In: Foucault, Dispositive der Macht, S. 225-230, 227.) 682 Michel Foucault: Recht der Souveränität (1976). In: Foucault, Dispositive der Macht, S. 75-96, 82.

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sende Geheimnis“683 verkauft – koordiniert nahezu stumm die geschwätzigen Taktiken des Sexualisierens; „[…] ein bestimmter kaum sichtbarer Mechanismus bringt den Sex mit fast unerschöpflicher Geschwätzigkeit zum Sprechen. Wir leben in einer Gesellschaft des sprechenden Sexes.“ 684 Die Natur der Sexualität ist somit vorrangig diskursiv, so Foucault, und der Körper Spielball, Projektionsfläche und Abbild der Diskurse. Die Rede über Sexualität sei von der Sexualität selbst nicht zu trennen. Jede Rede über Sexualität habe somit zugleich einen sexuellen Effekt. Der sexuelle Diskurs sei bereits deshalb Sexualität, weil von diesem eine Wirkung, ein „Effekt mit Sinnwert“685, ausgehe, der allein aufgrund des Redens über Sexualität erzielt wird: „Die Sexualität ist für unsere Kultur nur als gesprochene von entscheidender Bedeutung.“686 Wenn wir nun davon ausgehen, dass, erstens, sex sells, weil, wie Foucault beobachtete, Sex als begehrenswert angesehen wird,687 und, zweitens, eine sexuelle Anthropologie aus der Sprache abgeleitet werden kann, also als diskursives Ereignis ihre Wirkung erzielt, dann muss im Hinblick auf beide Strategien der Selbstinszenierung geprüft werden, in welcher Weise und in welchen Varianten die Sprache zum Träger von sexueller Poetik und auf dieser Grundlage zum Generator von inszenierter, mitunter skandalöser und enttabuisierender Identität wird. Kurzum: Das Sexualitätsdispositiv bringt, wie jedes Dispositiv,688 als Praktik die Gegenstände hervor, von denen es spricht. So kann auch der Körper des Schriftstellers im öffentlichen Diskurs über das Sexualitätsdispositiv erst sichtbar und damit medienwirksam erschaffen werden. Der sich inszenierende Mensch gehorche zudem dem „Geständniszwang“. Durch diesen, „der uns Menschen des Abendlandes seit Jahrhunderten unterwirft, indem er uns nötigt, alles über unser Begehren zu sagen“689, bringt er nicht nur sich selbst in den sexuellen Diskurs ein, sondern auch

683 Michel Foucault: Nein zum König Sex. Gespräch mit Bernhard-Henri Lévy (1977). In: Foucault, Dispositive der Macht, S. 176-198, 185. 684 Michel Foucault: Das Abendland und die Wahrheit des Sexes. In: Ders.: Dispositive der Macht, S. 99. 685 Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit. Bd. 1: Der Wille zum Wissen (1976/1977). Frankfurt a. M. 1983, S. 176. 686 Michel Foucault: Von der Subversion des Wissens. Frankfurt a. M. 1987, S. 43. 687 Vgl. Hartwig, Sexuelle Poetik, S. 11. Aufbauend auf der Idee, dass die sittlich codierte Metapher des Herzens inzwischen erkaltet oder von Kitsch übernommen ist und sich das literarische Leben von der Sittlichkeit ab und der Sexualität zugewandt habe, untersucht Hartwig die Absolutheit der Sexualität in den Werken von Proust, Musil, Genet und Jelinek. Sie weist Foucaults These der Wichtigkeit der Sexualität für die Selbstdefinition einer Figur exemplarisch innerhalb der Literatur nach. 688 Dispositive sind im fotografischen Sinne zu verstehen als Negative (Nicht-Positive), die nicht das Bild oder der Gegenstand selber sind, diesen aber abbilden und zwar in seiner Kontextualität. Im Gegensatz zu Diskursen, die systemisch weitgehend isoliert, nebeneinander existieren, bilden die Dispositive ein Netz, eine Formation der verknüpften Diskurse. Erst die Verknüpfung mache das Dispositiv aus und bilde das Denkmuster einer historischen Zeit ab. (Vgl. dazu: Foucault, Dispositive der Macht, S. 119 f.) 689 Michel Foucault: Mikrophysik der Macht. Berlin 1976, S. 90.

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„Begehrens-Subjekte“ hervor.690 Der Begriff des Begehrens verbindet das menschliche Verlangen darüber hinaus mit dem, was Lacan das Imaginäre genannt hat.691 Die Funktion des Begehrens als Kategorie des Sexualitätsdispositivs ist dadurch eine doppelte: eine das Selbst konstituierende und dieses bestätigende, ja rückwirkende. Im Falle intellektueller Selbstinszenierung handelt es sich somit um ein mehrfach dargestelltes Begehren, will doch der Schriftsteller mutmaßlich sein inneres Begehren nach Aufmerksamkeit stillen, indem er das Begehren des Betrachters an seiner Kunst und Person zu wecken versucht, durch körperliche Präsenz und verbale Geständnisperformanz. Doch nicht nur ein unmittelbar anwesender Gesprächspartner kann zum Screwball sexueller Poetik werden; auf dem literarischen Feld sorgt ebenso die literarische Inszenierung eines privaten Begehrensdiskurses für Aufsehen. Einen solchen, der in der literarischen Öffentlichkeit die zwischenmenschliche Spannung des Verlangens inszenierte, bauten Gottfried Benn und Else Lasker-Schüler auf.692 Sie schrieben einander nicht nur Gedichte, sie brachten ihr poetisches Begehren in eine Form, die „in allen Buchhandlungen auslag und noch ausliegt und also von der gesamten literarischen Welt nachgelesen und diskutiert werden konnte und kann.“ 693 Und auch hier liegt ein Reiz des Diskurses in seiner Medialität. Die Gedichte sind Annäherung und Distanznahme, geistiges Produkt, das die körperliche Überschreitung imaginiert und zugleich durch das schriftliche Wort hinauszögert. Benn schrieb beispielsweise im Gedicht Strand am Meer, das in dem Gedichtband Alaska erschienen ist, in dem Benn und Lasker-Schüler ihre Gedichte gemeinsam veröffentlichten:694

690 Hartwig, Sexuelle Poetik, S. 14 f. Vgl. auch: Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner des Ich (1949). In: Ders.: Schriften I. Olten 1975, S. 61-70. 691 Lacan hat gezeigt, dass das (allegorisch gemeinte) Spiegelbild, das man von sich selbst gewinnt, vom Begehren des anderen geradezu abhängig ist, dass also zum Begehren immer mindestens zwei Körper und zwei Imaginäre gehören, ja dass das Begehren nicht ohne den Jubel zu begreifen ist, der aus der Bestätigung des Selbstbildes resultiert. 692 Die 1869 geborene Else Lasker-Schüler und der siebzehn Jahre jüngere Benn hatten sich nach dem Erscheinen von dessen Gedichtband Morgue 1912 in den Berliner BohèmeKreisen kennengelernt und vermutlich auf eine kurze intensive Affäre eingelassen, die eine rege Produktion aneinander gerichteter erotische Texte nach sich zog. Sie blieben befreundet, auch nachdem Benn 1914 Edith Osterloh ehelichte, bis Lasker-Schülers 1933 von den Nationalsozialisten aus Deutschland vertrieben wurde. In ihren Gedichten blieben sie selbst oft verschlüsselt, als Ruth und Boas oder indem sie eine Natur- und Tiermetaphorik einsetzten und sich in ein Geheimnis hüllten. (Vgl. Dieter Burdorf: Benn als Fest- und Gedenkredner. In: Matias Martinez (Hrsg.): Gottfried Benn. Wechselspiele zwischen Biographie und Werk. Göttingen 2007, S. 85-112, 106 f.) 693 Helma Sanders-Brahms: Gottfried Benn und Else Lasker-Schüler. Reinbek bei Hamburg 1998, S. 81. 694 Gottfried Benn: Strand am Meer. Gedicht. Berlin 1912 (Vgl. Dieter Burdorf: Liebender Streit. Else Lasker-Schüler und Gottfried Benn. Iserlohn 2002).

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„Mann: Nun aber ist dies alles festgefügt,/ geschlossen wie ein Stein und unentrinnbar:/ Du und ich./ Es stößt mich nieder und ich schlage/ mich an mir selber wund,/ wenn ich an dich nur denke./ …]/ Es gäbe nur eines, dies zu vergelten,/ das Frieden brächte. Das ich jetzt dich frage:/ Liebst du mich? Frau: Ja, ich will an dir vergehn./ Greif meine Haare, küsse meine Knie./Du sollst die braune Hand des Gärtners sein/ im Herbst, die all die warmen Früchte fühlt. Mann: Wenn ich im Spiel an deine Glieder fasste/ oder beim Rudern, warst du noch viel ferner/ und viel entrückter. Ja, du warst es gar nicht,/an dessen Fleisch ich fasste. Es ist anders. Frau: Dann will ich vor dir tanzen. Jedes Glied/ soll eine Halle sein aus lauem Rot,/ die dich erwartet./ So hebe ich die Schenkel aus dem Sand/ und so die Brust. Kleid, fort von meinen Hüften. (tanzt) Mann: Du Seele, Seele tief dich niederbeugend/ über die Opferungen meines Blutes – / du leise Hand, du Flieder, stiller Garten/ meinem verstoßnen Blut, so sang mein Traum – / […]“

Die Frau in Benns Zeilen ist ein gefährliches Doppelwesen, Verführerin, die fordert und befiehlt (Ja ich will an dir vergehn, greif meine Haare) und Opfer verlangt (die Opferungen des Blutes), sie ist zugleich irrational Angebetete (Liebst du mich?) und unschuldig Verführte (du Flieder, stiller Garten). Außerdem ermöglichen der Zusammenfall der Gegensätze und die Aufhebung der Polarität zwischen dem lyrischen Selbst (der Mann) und seinem Gegenüber (die Frau; metaphorisch: das Publikum) ein identifikatorisches Einheitserlebnis. In der Auflösung des Ich im Begehren durch rauschhafte Regression und sexuelle Selbstentgrenzung finden Frau und Mann in der Kunst zu einer unvergänglichen Einheit. Neben der Lyrik ist die Prosa seit jeher Medium des literarisch reflektierten und sexualisierten Begehrensdiskurses. Das tabuisierte Begehren inszenierten etwa Vladimir Nabokov mit seinem Roman Lolita695 und der amtsadelige Leutnant Choderlos de Laclos mit seinem Briefroman Gefährliche Liebschaften (1782), der seinen Autor zur Legende machte.696 Das Publikum nahm an, dass Laclos „in dem Werk aus dem

695 Vgl. Markus Gasser: Kindesmissbrauch und Plagiatsverdacht. Der doppelte Skandal um Vladimir Nabokovs „Lolita“. In: Neuhaus/Holzner, Literatur als Skandal, S. 369-377. 696 Vgl. Gerhild Fuchs: Ambivalenz und Paradoxie der Erzählweise als Skandalon. Choderlos de Laclos’ „Gefährliche Liebschaften.“ In: Neuhaus/Holzner, Literatur als Skandal, S. 179-189. In „Gefährliche Liebschaften“ geht es vorrangig um Verführung, Täuschung und Manipulation; um ein Lügenparadoxon mit Selbstzweck. Die junge Merteuil und der junge Valmont, beide Vertreter des politisch funktionslosen Hochadels, sind einander Vertraute und teilen, nach Beendigung einer gemeinsamen Affäre, sich (meist brieflich) all ihre amourösen Abenteuer mit. Als Merteuil erfährt, dass ein ehemaliger Geliebter von ihr, der sie betrogen hat, die sehr junge Cécil heiraten will, sinnt sie auf Rache und bittet Valmont, Cécil zu verführen und moralisch zu korrumpieren.

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Schatz seiner reichen Erfahrungen mitteile, ein Zyniker, der sich selbst in der männlichen Hauptgestalt des Romans, Valmont, verewigt habe, um künftigen Geschlechtern ein Handbuch der moralischen Verderbnis zu hinterlassen.“ 697 1823 wurde das Buch „wegen Verstoßes wider die Sitten“ auf den Index gesetzt und galt bis zum Ende des 19. Jahrhunderts als verfemtes Buch; es ist ein Beispiel für das Sexualitätsdispositiv der öffentlichen Tabuisierung und Psychiatrisierung der perversen Lust.698 Die Sexualisierungsstrategie hingegen, die Jelinek in ihrer öffentlichen Selbstinszenierung zu ihrem Roman Lust anwendet, fällt ins Sexualitätsdispositiv der poetisierten Sozialisierung des Fortpflanzungsverhaltens. Mit der Besonderheit, dass Jelinek dieses Dispositiv intellektuell persifliert, wenn auch in einer für sie nicht zufriedenstellenden Weise (Ich bin gescheitert). Von der feministischen Annahme ausgehend, dass der herrschende (maskuline) Diskurs die Frau in ihrem weiblichen Körper entfremde, weshalb die Frau weder ihre eigene Sexualität noch eigene Repräsentationen in der Sprache entfalten könne, entwickelte Jelinek ihr Unterfangen: einen weiblichen Porno zu schreiben, der die gegenwärtige gesellschaftliche Situation literarisch und philosophisch umdrehe. Vor Jelinek haben dies etwa Hélène Cixous, Luce Irigaray, Simone de Beauvoir und Judith Butler auf theoretischer Ebene probiert. 699 Nicht

Valmont kommt dieser Bitte nach. Es folgen weitere Ranküne und Abenteuer, bis Valmont im Duell und Merteuil an Pocken stirbt. 697 Erwin Koppen: Laclos’ Liaisons „dangereuses“ in der Kritik (1782-1850). Beitrag zur Geschichte eines literarischen Missverständnisses. Wiesbaden 1961, S. 16. 698 Koppen, Laclos’ Liaisons „dangereuses“ in der Kritik, S. 61. (Mittlerweile wurde das Buch mehrfach verfilmt: Les liaisons dangereuses (dt. Gefährliche Liebschaften), Frankreich 1959, Regie: Roger Vadim. Und: Dangerous Liasions (dt. Gefährliche Liebschaften), USA 1988, Regie: Stephen Frears. Und noch einmal: Valmont (dt. Valmont), USA 1989, Regie: Milos Forman. Sowie: Cruel Intentions (dt. Eiskalte Engel), USA 1999, Regie: Roger Kumble. Und schließlich: Les liaisons dangereuse (dt. Gefährliche Liebschaften), Frankreich 2003. u. a.) 699 Angesichts der Verdrängung und Abwertung des Weiblichen im patriachalischen Diskurs plädierte Irigaray für die Desavouierung des kulturellen Primats des Phallus. Sie ersetzte den Phallus durch die weibliche Autoerotik. An die Stelle des singulären Phallus-Prinzips setzte sie das schwesterliche Schamlippen-Prinzip. Dazu schrieb sie: „Die Frau ‚berührt sich’ immerzu, ohne dass es ihr übrigens verboten werden könnte, da ihr Geschlecht aus Lippen besteht, die sich unaufhörlich aneinanderschmiegen. Sie ist also in sich selbst schon immer zwei […].“ (Luce Irigaray: Das Geschlecht, das nicht eins ist. Berlin 1979, S. 165.) Mit dem Begriff der jouissance (Lusterfüllung) würdigt Irigaray in den 1970erJahren erstmals die weibliche Lust und postuliert auf dieser Basis eine écriture féminine, in der die angenommene spezifische weibliche Variante der Sexualität auch sprachlich perspektiviert wird. An Irigarays Postulat der écriture féminine schließen Hélène Cixous’ Überlegungen an. Cixous, wie Jelinek Schriftstellerin, nahm sich vor, die männliche symbolische Ordnung zurück zu drängen, indem sie eine weibliche symbolische Ordnung anstrebte. Das weibliche Schreiben solle dabei von den weiblichen Körpererfahrungen ausgehen. Im Text sollte die Weiblichkeit Ausdruck finden: durch eine experimentelle

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über eine symptomatische Instrumentalisierung des eigenen Körpers zwecks ökonomischer Rentabilität, sondern über eine die Geschlechtskategorien dekonstruierende Sprache sexualisiert Jelinek und inszeniert sich intellektuell. Dies tut sie jedoch nicht, indem sie wie Cixous in ihrem Schreiben eine Weiblichkeit befreit, sondern indem sie die phalluszentrierte, gewaltorientierte, symbolische Sprachordnung durch Überzeichnung parodiert. So schreibt sie etwa in Lust: „Gerti spricht von ihren Gefühlen und bis wohin sie ihnen folgen möchte. Michael staunt […] und zeigt seinen fesselnden Riemen. Er zerrt die Frau an den Haaren herüber, bis sie wie ein Vogel darüber flattert. Gleich will die Frau, aus der Geschlechtsnarkose erwacht, wieder zügellos den Mund zum Sprechen benutzen. Sie muss sich stattdessen aufsperren und den Schwanz Michaels in das Kabinett ihres Mundes einlassen. […].“ (L, 120)

Jelineks Sexualisierungsstrategie ist innerhalb des philosophischen Diskursnetzes eine Fortsetzung der Gender-Debatte mit ästhetischen Mitteln. Ihre Provokation gelingt, denn es kommt zu dem gewünschten, den Marktabsatz und das Renommee steigernden Skandal – allerdings nicht aufgrund der Ideologiekritik, sondern einzig weil Jelineks Text naiv als weiblicher pornografischer Gegenentwurf gelesen wurde, über dessen Obszönität man sich empörte. Jelinek scheitert, wenn man es so nennen möchte, auf einer anderen Ebene, nämlich an dem gendertheoretischen Korsett, in das sie sich einerseits zwängte und das andererseits zur ihrem Erfolg nur wenig beitrug, weil es schlichtweg übersehen wurde. Die öffentliche Wirkung erzielte Jelinek also nicht wegen der genderphilosophischen und kritischen Grundierung, sondern dieser zum Trotz. Durch die selbst auferlegten Strukturen, das Argumentieren auf der Negativfolie des patriarchalischen Diskurses und das Akzeptieren der Grenzen des weiblichen Sexualitätsdispositivs scheint das Erschaffen von etwas gänzlich Neuem, Voraussetzungslosen blockiert zu werden. Jelinek reproduziert die alten, bekannten Stereotype: Die Frau, Gerti, ist gefühlvoll, folgsam, flatterhaft, lässt sich narkotisieren und gefügig machen; der Mann, Michael, ist stupide, egoistisch und gewalttätig. Analog zum Genital des Mannes ist der Mund, den die Frau ebenfalls zügellos benutzt, identitätsstiftendes Organ; mit dem Unterschied, dass der Mann die Identität der Frau verhindert, indem er sie durch sein Genital vom Sprechen abhält. Weil Kognition und Metaphysik unberücksichtigt bleiben, Körper und Geist, Motivation und Handlung intratextuell nicht weiter aufeinander bezogen werden, verharrt die Sub-

Syntax,

durch

ein

grammatikzerstörendes

und

orthografieauflösendes

Anti-

Strukturverfahren. Dadurch könnte das Weibliche in den Text hinein transponiert werden, wodurch es intellektuell eine Autonomie und Souveränität gegenüber den maskulinen Begriffen gewinne (vgl. Hélène Cixous: Weiblichkeit in der Schrift. Berlin 1980, S. 67 ff. Und: Eva Waniek: Héléne Cixoux: Entlang einer Theorie der Schrift. Wien 1993.). „Das Schreiben als libidinöse Produktion bringt das schreibende Ich hervor. Sie stützt sich dabei auf eine Ökonomie der Verausgabung.“ (Artur Pelka: Körper(sub)versionen. Frankfurt a. M. 2005, S. 56.)

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version im reaktionären Schematismus, ja, wenn man so möchte, im reduktionistischen feministischen Populismus.700 Eine andere Antwort auf die Frage, wie man sich im sexuellen Diskurs positionieren kann, fand Ingeborg Bachmann. Sie installierte sich zwar ebenfalls zeitweilig im Sexualitätsdispositiv der poetisierten Sozialisierung des Fortpflanzungsverhaltens, nicht jedoch persiflierend, sondern autobiografisch. Nach der Lektüre von Bachmanns bis dahin unveröffentlichten Lieder[n] von einer Insel warnte Hans Werner Henze die Autorin: „in diesen neuen gedichten gibt es etwas alarmierendes, skandalöses, befremdliches, erschreckendes. wenn Du so weitermachst, wirst Du auch die wunderbarsten skandale kriegen, ob Du willst oder nicht. ich hoffe, das ist Dir egal. ist es das, was Du mit „aus dem vollen“ meinst? ist das Dein „volles“? wenn ja, dann nur weiter so, und Du wirst dinge tun, die schmerzen und beißen und Deine leser sehr aufregen.“701

Die Lieder, die Bachmann, ihrem damaligen Lebensgefährten Max Frisch von der Insel Ischia schrieb, erschienen zwar erst mit den posthum edierten Gedichten in dem Band Ich weiß keine bessere Welt,702 lösten aber das von Henze vorausgeahnte Aufsehen aus. So liest man bei Bachmann etwa: „Hostie in den Mund geschoben das Glied, und eine Kunst die nicht die andren aufreißt, das Gestirn und das Gestirn der anderen die Menschen sind unendlich sie dürfen, wie ich nicht sterben.“703

Reichen die drei Substantive der ersten beiden Zeilen aus, um den sexuellen Diskurs zu eröffnen (Hostie, Mund, Glied) und wird dieser noch bestärkt durch das bezeichnenderweise im Passiv formulierte Verb (geschoben), so überdeckt die Signalwirkung dieser vier Wörter allzu leicht die artifizielle Poesie des Gedichts. Dabei weist das Lyrische Ich mit einem kinderleichten Fingerzeig (die – nicht die) auf die Kunst hin. Doch um welche Kunst geht es? Die körperliche oder die geistige? Geht es um die Frau, die ausgewählt wird? Die nicht. Die! Und wer oder was reißt wen oder was in der vierten Zeile kunstvoll auf – das lyrische Ich den Mund aus Zeile eins? Oder 700 Durch die Gegengeschlechtlichkeit und die Sexualität verfügt die Frau zunächst über kein geringeres Machtinstrument als der Mann, über das sich, entsprechend eingesetzt, ebenfalls weibliche Machtwirkungen erzielen lassen könnten; wodurch sich umgehend die Hierarchisierung verdrehen würde. Dieses Potenzial bleibt in Jelineks Lust ungenutzt. 701 Hans Werner Henze, in: Hans Höller (Hrsg.): Ingeborg Bachmann und Hans Werner Henze. Briefe einer Freundschaft. München 2004, S. 35. 702 Ingeborg Bachmann: Ich weiß keine bessere Welt. München 2000. 703 Ingeborg Bachmann: Sämtliche Gedichte. München 1998.

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reißt die Kunst eben nicht die andren, die andren Kontexte auf, sondern hält sie verschlossen? Ist es nicht das Ge-Stirn, befreit vom Präfix, das einer geistigen Öffnung bedarf? Die Lieder von einer Insel von der inszenierten Körperlichkeit zu befreien und als gereinigten ergo reinen Sprachkörper zu betrachten, wie es Lengauer vorschlug, würde dem Gedicht jedoch in keiner Weise gerecht werden. Denn das lyrische Ich installiert die Körperlichkeit in aller Existenzialität und Finalität im Spannungsfeld zwischen Entstehen und Vergehen, Leben und Sterben.704 Die Sexualität ist dem Gedicht unweigerlich eingeschrieben, selbst wenn man auf der denotativen Bedeutungsebene bleibt. Lengauer untersagt beispielsweise der Hostie jede Konnotation, „weil […] eine Hostie eine Hostie ist“, allemal eine blasphemischmetaphorische Verknüpfung erkennt er an. Mag man auch die Gestirne rein alltagssprachlich als „Sternbilder“ und teleologisch als „Schicksale“ deuten,705 in den Himmelskörpern wie auch in den Schicksalen ist der Körperdiskurs dennoch unweigerlich verankert. Indem die Gestirne doppelt auftauchen (das Gestirn und das Gestirn der anderen), wird die Spiegelung ebenso thematisiert wie die Unergründlichkeit, sind doch die Sterne durch einen unüberwindbaren Abstand zueinander definiert; bricht einer aus, berührt er die Erde, so erlischt er („den Orgien des Windes und der

704 Jacques Lacan hat zudem die enge Verbindung zwischen Sprache und Körper hervorgehoben, die einander Definiendum sein können; denn ein Subjekt ohne Sprache ist für Lacan ebenso undenkar wie eines ohne Körper, beide sind für die Subjektkonstition Initialmoment. Grundsätzlich unterscheidet Lacan zwischen dem Symbolischen, dem Imaginären und dem Realen; der Körper des Subjekts lässt sich in der Terminologie als Kreuzpunkt dieser drei Register beschreiben – ebenso wie sich im Gedicht diese drei Register verschränken. Lacans Re-Lektüre von Freuds Psychoanalyse besteht bekanntlich vor allem darin, dass er sie um den linguistischen Aspekt erweitert, der im Gedicht relevant wird. Vgl. dazu: Herrmann Lang: Die Sprache und das Unbewusste: Jacques Lacans Grundlegung der Psychoanalyse. Frankfurt a. M. 1998. 705 Eine Hostie allerdings ist nie nur eine Hostie, sondern immer schon Zeichen, das über seine Zeichenhaftigkeit hinausgeht, es ist das wirkungsvollste Zeichen überhaupt, da es auf die Realpräsenz Gottes verweist. Die Hostie stellt vermutlich „das leistungsstärkste empathische Zeichen der abendländischen Kultur überhaupt“ dar (Andree, Archäologie der Medienwirkung, S. 505). Denn im kirchlichen Ritual der Eucharistiefeier ist die Hostie während der Kommunion nicht allein Brot, sondern Evidenz und absolute Kommunikation mit Gott über den Leib Jesu. Die Hostie wird nicht nur als Zeichen und als Metapher für den Heiligen Geist, sondern als Überschreitung der Medialität und als reale Präsenz der leibhaftigen Person Jesus Christus wahrgenommen. Allein durch die Beachtung des christlichen Kontextes, ohne ihn mit Ingeborg Bachmann in Verbindung zu bringen, ergeben sich für das Gedicht weitere Deutungsfelder. Unter dieser Perspektive betrachtet erzählt das Gedicht davon, eine Ganzheit zu erreichen, nicht etwa in Verbindung mit Gott, aber mit einem Mann; es ästhetisiert dann nichts weniger als die Unsterblichkeit und Unendlichkeit der Liebe; freilich im öffentlichen Kommunikationsraum.

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Lust/ des Berges, wo ein frommer/ Stern sich verirrt, ihm auf die Brust/ schlägt und zerstäubt“706). Man achte zudem auf die Verszahl (4-3-2-1-1-2-3-4), die jene spiegelbildliche Fügung der Gestirne, die die mittlere Achse des Gedichts bildet, wiederholt. So stünde jeder Zeile eine Partnerzeile gegenüber, mit Echowörtern und Echobildern, die sich konzentrisch um die Gestirne anordnen (die symbolische Hostie, die Leibwerdung und das Sterben (4); das Glied und das Verbot (3), und dicht an den Gestirnen: der Mensch und die Kunst (2)). Das, was in der Mitte des Gedichtes lebt und bebt, sind keine ästhetischen oder nur philosophische Überlegungen, nichts Künstliches oder Platonisches, sondern die Leidenschaft zur allumfassenden Liebe (das Gestirn und das Gestirn des anderen (1)). Thematisiert das Ich in der vorletzten Zeile ein Verbot – sie dürfen, wie ich nicht – so folgt in der letzten Zeile die Übertretung und Befreiung; dort allein steht das Sterben, das sich mit dem Wort nicht vereint und die Unendlichkeit erreicht, sei es im Tod oder in der Liebe. Nimmt man noch die anderen Gedichte der Lieder von einer Insel hinzu, verschiebt sich das Nicht-Sterben zu einem intensiven Versuch aktiven Lebens, der bis zum Himmel reicht und wieder zurück; hingebungsvoll und schutzlos, die Restriktionen und Grenzen dieses Versuchs erfahrend. Der Skandal um die Gedichte Ingeborg Bachmanns basierte auf dem, was Kritiker und die Öffentlichkeit am meisten beschäftigt und peinlich berührt: das offenkundige, plakative Sexuelle. Weil die tiefere Ebene des Gedichts nur im wissenschaftlichen, aber nicht öffentlichen Diskurs thematisiert wurde, konnte es überhaupt zur Polarisierung und zur feuilletonistischen Echauffierung kommen, denn so stand nicht das sich suchende und sterbende, das sich verlierende und über den Körper als letzte Existenzgewissheit sich neu konstruierende Subjekt im Vordergrund, sondern einzig die diskursiven Signal- und Reizwörter, um das sich das skandalisierende Diskursarchiv entfaltete.707 Die Kraft des Skandals entwickelte sich aus der energetischen Verbindung der beiden Pole, des Interesses und der verordneten Scham sowie des Paradoxons, das zwar das Sexuelle immer schon bevorzugter Gegenstand der Literatur war, der Voyeurismus jedoch auf dem literarischen Feld bevorzugt dann gewürdigt wird, wenn die Verbindung zu realen Personen sprachlich wie inhaltlich verschleiert wird, doch gleichzeitig sichtbar bleibt. In Bachmanns Lyrik kamen exakt beide skandalverheißende Elemente zusammen: poetisierte Sexualität und der öffentlich bekannte autobiografische Kontext. 708 Bachmann, die sich sonst mit dem Mythos

706 Ingeborg Bachmann: Ich weiß keine bessere Welt. München 2000. 707 Selbst im literaturwissenschaftlichen Kontext wurden die Gedicht zunächst skeptisch rezipiert; Lengauer postulierte, es seien zwar Dokumente wahnsinnsnaher Verzweiflung, lyrische Qualität hingegen besäßen sie nicht; „der Himmel der Lyrik“ sei „außer Sichtweite“ geraten. (Vgl. Hubert Lengauer: Nachgelassener (oder nachlassender) Skandal? In: Neuhaus/Holzner, Literatur als Skandal, S. 491-502, 495.) 708 Der beispielsweise psychoanalytische Diskurs um das (lyrische) Ich hätte helfen können zu verstehen, dass im Sexualitätsdispositiv die „innere Spannung von der eigenen Unzulänglichkeit auf die Antizipation überspringt“, für das die Lyrik „für das an der lockenden Täuschung räumlicher Identifikation festgehaltene Subjekt die Phantasmen aus-

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der Reinen und Unschuldigen umgab, zeigte sich nun freizügig und überraschte. Dabei war eigentlich schon längst alles gesagt, „[v]om Zungenkuss in Wien zum Analverkehr am Nil und zur Orgie selbdritt war nichts unerwähnt geblieben.“709 Manches war mit Malina, anderes mit dem Fall Franza kollationiert worden. Dennoch wurde die Edition als Fortsetzung der öffentlichen Entblößung wahrgenommen. Während sich die einen unfreiwillig in die „Pose des Voyeurs“ (Fabjan Hafner) versetzt sahen, bedauerten die anderen, dass die Gedichte echte Delikatessen vermissen lassen (– „keine Delikatessen“, so Joachim Kaiser in Anspielung auf ein gleichnamiges Gedicht Bachmanns). Zwar wählt Rainhard Baumgart ebenfalls tendenziell kompromittierendes Vokabular, indem er zu bedenken gibt, dass auch zahlreiche andere Werke Bachmanns ohne den „peinlichen“, wohl schmerzhaftesten Hintergrund der Liebschaft mit Max Frisch unverständlich blieben; doch trotz Minimaldiskreditierung verteidigte er die Gedichte. Die „persönlichsten Schmerzdokumente“ seien „eine gute Kur für alle, die Literatur vom Leben säuberlich trennen möchten, weil sie nur Texte mit vollendeter Struktur gelten lassen wollen, gereinigt von den Spuren der Herkunft.“ Die Gedichte zeigten die Ratlosigkeit des Ich, angesichts des Lebens.710 Oder, wie Bachmann es ausdrückt: „Da fiel kein Traum herab. […] Da fiel mir Leben zu.“711

Eine radikalere Form des Sexualisierens, die die gegenwärtig-kulturhistorisch tolerierten Schamgrenzen überschritt, wählte Charlotte Roche mit ihrem Roman Feuchtgebiete (2008), „eine Hommage an den Körper der Frau, geschrieben von einer sexfixierten Antiheldin.“712 Und auch der Schriftsteller Urs Allemann bewegte sich – in

heckt.“ Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. In: Ders.: Schriften I. Olten 1973, S. 61-70, 67. 709 Lengauer, Nachgelassener (oder nachlassender) Skandal? In: Neuhaus/Holzner, Literatur als Skandal, S. 491. 710 Vgl. Lengauer, Nachgelassener (oder nachlassender) Skandal? In: Neuhaus/Holzner, Literatur als Skandal, S. 491 ff. 711 Ingeborg Bachman: Das erstgeborene Land. In: Sämtliche Gedichte. München 2009, S. 129 f. 712 Jenni Zylka: Schleimporno gegen Hygienezwang. In: Die Tageszeitung, 28.02.2008. Dort heißt es über den Inhalt des Romans: „‚Blumenkohl’ nennt sie die Hämorrhoiden, deretwegen sie in der proktologischen Abteilung des Krankenhauses liegt. Helen Memel, 18 Jahre, hat sich bei einer Intimrasur derart verletzt, dass eine Operation nötig wurde. Und so langweilt sie sich im Klinikzimmer, macht sich vorsichtig an einen Pfleger ran und erzählt von: 1. sämtlichen Analsujets zwischen Sex und Schließmuskelinkontinenz, 2. möglichst antihygienisch eingesetzten Körperflüssigkeiten und 3. dem Frauen auferlegten Rasierzwang. Den findet sie bescheuert, gibt aber zu, selbst süchtig geworden zu sein, seit ein wildfremder äthiopischer Gemüseverkäufer sie wöchentlich an bestimmten Körperteilen per Nassrasur vom Pelz befreit. ‚Willst du mich jetzt ficken?’, fragt Helen nach

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ähnlicher Weise wie Roche ein Tabu brechend – im Sexualitätsdispositiv der [Anti-] Psychiatrisierung der perversen Lust, als er 1991 beim Ingeborg-BachmannWettbewerb in Klagenfurt seinen Text Babyficker als Wettbewerbsbeitrag einreichte. Der Text, der den sexuellen Missbrauch von Kindern aus der Sicht eines Pädophilen beschreibt, antwortet auf den stigmatisierten Diskurs einer kranken, perversen Lust. Dafür bekam Allemann den Bachmann-Preis verliehen. Während Politiker, Frauenverbände und Beratungsstellen für Missbrauchsopfer gegen die Auszeichnung Allemanns protestierten, lobte Hellmuth Karasek, Teil der Klagenfurter Jury, Allemanns Beitrag: „Ich gestehe, ich hätte dem Text sogar den ersten Preis, den Bachmann-Preis, gewünscht. Warum? Einmal, weil es in Klagenfurt keinen stärkeren Text gab. Hätte es einen ähnlich künstlerisch überzeugenden Text über ein Feld mit Mohnblumen oder ein junges Paar bei der Trauung in einer Wallfahrtskirche gegeben, ich hätte ihn dem Babyficker mit Freude vorgezogen. Die Kunst ist über jeden Inhalt groß, sagt Rilke. Sie ist dennoch untrennbar mit ihrem Inhalt verbunden. Allemanns Text ist als Provokation gedacht, konsequent gedacht und ebenso geschrieben. Literatur muß die Grenze, an die sie mit ihren Phantasien und Erfahrungen stößt, immer wieder suchen, sie darf nicht da stehenbleiben, wo sie schon zu Hause ist.“713

Das Perversionsdispositiv ist auch in diesem Fall höchst produktiv. Es bringt Kritik und Gegenkritik hervor. Gemäß den strategischen Erfordernissen wird eine temporäre feldinterne Macht hervorgerufen, deren Wirkungs- und Entstehungsweise Foucault verschiedentlich betont und ausgeführt hat: „Die vielfältigen Sexualpraktiken – […], diejenigen, die sich an Neigungen und Praktiken heften […], diejenigen, die in diffuser Weise Beziehungen besetzen […], diejenigen, die in bestimmten Räumen ihr Unwesen treiben […] – sie alle bilden das Korrelat präziser Machtprozeduren. […] Diese polymorphen Verhaltensweisen sind wirklich aus den Körpern und Lüsten der Menschen extrahiert worden.“714

Literarisch inszeniert, isoliert, verdichtet und intensiviert, entfaltet die Beschreibung der Perversion, eben weil sie an die in der Wirklichkeit existierenden polymorphen Verhaltensweisen anknüpft, ihre Intensität und die temporär diskursbeherrschende Macht.715

der ersten Sitzung den nackten Barbier. ‚Nein, dazu bist du mir zu jung.’ – ‚Schade, darf ich mich dann bitte selber ficken, hier?’ – ‚Du bist herzlich eingeladen.’ […]“ 713 Hellmuth Karasek: Verbrechen der Phantasie. In: Der Spiegel, 08.07.1991. 714 Foucault, Der Wille zum Wissen, S. 63 ff. 715 Vgl. Sieglinde Klettenhammer: Welcome to Pornotopia. Literarische Sexualästhetik und Skandal seit 1968. In: Neuhaus/Holzner, Literatur als Skandal, S. 412-428. Und: Werner Faulstich: Die Kultur der Pornografie. Kleine Einführung in Geschichte, Medien, Ästhetik, Markt und Bedeutung. Bardowick 1994. Auch: Jörg Metelmann: Porno Pop. Sex in der Oberflächenwelt. Würzburg 2005.

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Merleau-Ponty beschreibt das Begehren, das dem Sexualitätsdiskurs zugrundeliegt, als Dialektik von Ich und Anderem, das ebenso schnell wie es sich aufbaut, erlöschen oder sich verkehren kann: „Der Mensch zeigt für gewöhnlich nicht seinen Körper, und wenn er es tut, so bald scheu, bald in der Absicht, zu faszinieren. Der seinen Körper abtastende fremde Blick scheint ihm sich selbst zu entziehen, oder aber er meint im Gegenteil, die Exhibition seines Leibes werde ihm den anderen Menschen widerstandslos ausliefern, so daß es der Andere sein wird, der ihm zum Sklaven verfällt. Scham und Schamlosigkeit haben somit ihren Ort in einer Dialektik von Ich und Anderem […]: sobald ich einen Leib habe, kann ich unter dem Blick des anderen zum bloßen Gegenstand herabsinken und nicht mehr als Person für ihn zählen, oder aber ich kann im Gegenteil zu seinem Herrn werden und ihn meinerseits anblicken, doch diese Herrschaft ist eine trügerische, da im gleichen Augenblick, in dem die Begierde des Anderen meinen Wert anerkennt, dieser Andere nicht mehr die Person ist, von der ich anerkannt werden wollte, sondern nur mehr ein seiner Freiheit beraubtes, fasziniertes Wesen.“716

Merleau-Ponty deutet damit den Wendepunkt an, der im Sexualitätsdispositiv eintritt, sobald sich der entworfene Mythos der Kontrolle der Autorfigur zu entziehen beginnt. Tritt eine solche Verkehrung ein, erliegt das Publikum nicht länger der Wirkung der schriftstellerischen Inszenierung, sondern es instrumentalisiert und vermag sogar, das Begehrenssubjekt und das Bild des Autors zu entwerten. Grundlage menschlichen Begehrens ist, neben der gedanklichen Imagination, der Seh-Sinn. Sehen und Begehren sind anthropologisch untrennbar verbunden, so „als wären diese beiden Begriffe gefangen in einem sich gegenseitig bedingenden Zeugungskreislauf, in dem das Begehren Bilder erzeugt und die Bilder Begehren hervorrufen.“717 Mit Narziss und Pygmalion wird diese sinnliche Dimension und Faszination erweitert durch den Tastsinn. Narziss wird bekanntlich von einem haptischen Fieber ergriffen, als er sein Spiegelbild im See erblickt. Er begehrt das, was er sieht, und sucht es mit allen Mitteln zu umarmen. Oh, wie küsst er so oft – vergeblich! – die trügerische Quelle/ Tauchte die Atme so oft in das Wasser, den Hals zu umschlingen/ Den er erschaut, und kann sich doch selbst nicht fassen.718 Narziss’ Frustration in der Folge der Unmöglichkeit einer taktilen Begegnung mit dem Anderen verweist auf eine neue Ebene der Medienerkenntnis – die Wahrnehmung des Mediums nicht als Vermittler, sondern als Hindernis.719 Ein Hindernis jedoch, dass das Begehren durch die Distanz erneut steigert. Das Medium hindert Narziss daran, zum Anderen zu gelangen, der ihn ebenfalls zu begehren scheint; bald trüben seine Tränen die Oberfläche. Er weiß, dass die Existenz dieses Anderen zerbrechlich ist und notwendigerweise von der Oberfläche abhängt, die ihn trägt. Die Beeinträchtigung der Oberfläche bei

716 Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1945. 717 W. J. T. Mitchell: Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kommunikation (2005/2008). München 2008, S. 79. 718 Ovid: Metamorphosen, III, S. 427-429. 719 Vgl. Henri de Riedmatten: Narziss in trüben Wassern. In: Jörg Dünne/Christian Moser (Hrsg.): Automedialität. Subjektkonstitution in Schrift, Bild und neuen Medien. München 2008, S. 195-215, 197.

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der Berührung mit den Tränen ist insofern von besonderem Interesse, als sie zeigt, wie das Begehren durch Aufhebung der Distanz aufgelöst wird. In ähnlicher Weise wie die antiken Mythen und auch die Ausführungen Merleau-Pontys stellt Largier in seiner Rhetorik des Begehrens heraus, wie das Kernmoment des Begehrens im Genuss des Unerfüllten liegt, „in der endlosen Spannung […], die das Verlangen charakterisiert.“720 Die Medialität der dichterischen Inszenierung im Sexualitätsdispositiv hält diese Spannung endlos aufrecht.

M ORALISIEREN ,

POLITISIEREN

&

IDEOLOGISIEREN

Moralisieren Moralen sind auch nur eine Zeichensprache der Affekte. FRIEDRICH NIETZSCHE

Durch offene Briefe, politische Reden, publizistische Selbstkommentare, brisante Wahlverwandtschaften, realitätsnahe Lyrik und politische Häresie beeinflussten Schriftsteller medienwirksam spätestens seit den frühen 1960er-Jahren den öffentlichen Diskurs. „Daß der Autor engagiert sein soll“, sagte Heinrich Böll im Jahr 1961, „ist für mich selbstverständlich.“721 Böll artikulierte dies vor dem Hintergrund der Erfahrung der politischen und menschlichen Entgleisungen des Zweiten Weltkriegs und der philosophischen, von Adorno formulierten Einsicht in den menschlichen Charakter, in dem nach Adorno eine „autoritäre Persönlichkeit“ schlummert, die den Einzelnen in totalitären Regimen zum Mitläufer und Mittäter macht; eine philosophische und persönliche Erkenntnis, die für Böll psychologisches Entgegenwirken durch intellektuelle Intervention und politisches Handeln unausweichlich machte. Fünfzig Jahre danach hat sich diese Selbstverständlichkeit weitgehend aufgelöst. Geblieben ist ein Moment des Engagements, das heute maßgeblich durch inszenatorischen Eigenwert, Medienwirksamkeit und Entertainment besticht. Der in den Nachkriegsjahren etablierte Schulterschluss zwischen den Schriftstellern und dem jeweiligen Kanzlerkandidaten der SPD (wie ihn maßgeblich auch Günter Grass prägte, der 1965 das Loblied auf Willy anstimmte und das „Wahlkontor deutscher Schriftsteller“ ins Leben rief), hat sich zwar tradiert, verändert haben sich jedoch Formen und Ziele der politischen Einmischung. Auch heute noch gehört es zum Selbstverständnis zahlreicher Kulturschaffender, rechtzeitig vor dem Wahltag mit Aufrufen und Herzenserklärungen aus dem Dunkel ihrer Schreibstuben zu treten und ihr politisches Bewusstsein unter Beweis zu stellen – jedoch mit schwindendem Erfolg. Im Jahr 2009 stand Julia Franck dem SPDKandidaten Frank Walter Steinmeier bei seiner Bewerbung beim Volk für das Bundeskanzleramt zur Seite. Auf der eigens für Steinmeiers Wahlkampf eingerichteten

720 Niklaus Largier: Rhetorik des Begehrens. In: Ders.: Die Kunst des Begehrens. Dekadenz, Sinnlichkeit, Askese. München 2007, S. 127-145, 131. 721 Vgl. Benno von Wiese: Deutsche Dichter der Gegenwart. Berlin 1973, S. 326.

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Website722 berichtete die Schriftstellerin in kurzen Sequenzen von Begegnungen mit dem damals in der Großen Koalition unter Merkel als Außenminister tätigen Steinmeier (Lieblingsbücher wurden diskutiert, Meinungen ausgetauscht, Komplimente verteilt). Auch die Schriftsteller Sten Nadolny und Tilman Spengler traten dem Kreis der Lobredner für Steinmeier bei, nach eigenem Bekunden aus aufrichtiger Entzückung über die „Beredsamkeit und zugleich duldsame Zuhörbefähigung des SPDKanzlerkandidaten Frank Walter Steinmeier“, der nun gegen die CDU-Kanzlerin Angela Merkel antrat. In einem Online-Blog beschrieben Nadolny und Spengler in einem fiktionalen, doch Realität antizipierenden Text die ersten hundert Tage eines sozialdemokratischen Kanzlers. Als erste utopische Großtat nach dem Wahltag des 27. September 2009 forderten sie die „Abschaffung aller militärischen Zeremonien beim Empfang ausländischer Staatsgäste.“ Ihr Blog fand nur wenig Resonanz in den Feuilletons der großen Zeitungen und in der Bevölkerung. Woran lag’s? Seit den Anfängen des schriftstellerischen Engagements nach 1945 hat sich zum einen die Intensität des Einsatzes abgeschwächt, zum anderen die Zielrichtung des Engagements verändert; sie hat sich von einer ehemals selbstlosen, altruistischen, der sozialen oder politischen Sache verschriebenen Anstrengung einer außerparlamentarischen Bewegung verschoben zu einem Bemühen des Dichters, im Windschatten der Politik vorrangig solitär (und nicht im Kollektiv) für seine eigenen Belange zu werben – und das politische Ziel dadurch zu verwässern. Der Schriftsteller selbst ist die Sache (im Falle Nadolnys und Spenglers: die außergewöhnliche literarische Fantasie und kreative Einzigartigkeit des Projektes), für die Aufmerksamkeitswerte errungen werden sollen. Die ehemals eudaimonische Funktion des schriftstellerischen Politisierens, welche die Suche nach Wahrheit, Erkenntnis und Sinnstiftung betonte, mit dem Ziel, positive gesellschaftliche Veränderung zu erwirken, bediente sich zu den Formen des Emotionalisierens, Personalisierens und Dramatisierens. Heute wird die eudaimonische Funktion des schriftstellerischen Politisierens durch die hedonistische Funktion abgelöst, die in erster Linie der eigenen Stimmungsregulation, dem so genannten mood management dient – mit dem Ziel, die Position des einzelnen, die Stimme erhebenden Schriftstellers subjektiv, affektiv und temporär zu stützen.723 Aufschlussreich für die spezifische Hermeneutik des medienwirksamen Politisierens (im Zeichen der hedonistischen Selbstinszenierung) mag in diesem Zusammenhang ein erneuter Blick auf Günter Grass sein, der seine moralische Sonderstellung bekanntlich jahrzehntelang aus der Selbstlosigkeit des Engagements bezog und den Einsatz für die Sozialdemokraten unter den intellektuellen Geistesschaffenden zu einer Frage des guten Tons machte. Ein hilfreiches Zeitdokument, das die ambivalenten (gesellschaftspolitischen und individuellen, eudaimonischen und hedonistischen) Motive dieser Strategieanwendung zu verstehen hilft, sind dabei die Erinnerungen des Publizisten Klaus Harpprecht an seine Zeit im Kanzleramt, in denen gleich an mehreren Stellen von Günter Grass die Rede ist. So lässt sich bei Harpprecht nachlesen, wie eine kleine Runde nach dem Wahlsieg 1972 mit Willy Brandt die Einrich-

722 Die Website http://www.steinmeier-wird-kanzler.de ist mittlerweile deaktiviert. 723 Vgl. Mary Beth Oliver/Arthur A. Raney: Entertainment as pleasurable and meaningful: Identifying hedonic and eudaimonic motivations for entertainment consumption. In: Journal of Communication. Nr. 61, 2011, S. 984-1004.

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tung einer Nationalstiftung diskutierte, in der auch Grass eine Position als offizielle Anerkennung für seinen Wahleinsatz erwartete. Brandt hingegen stand der Idee skeptisch gegenüber, Grass verrenne sich „immer wieder in die Illusion, dass er die Wähler unmittelbarer repräsentiere als die Partei“, heißt es in den kritischen Aufzeichnungen des Journalisten Harpprecht; seine Notiz vom 9. März 1973: „BK [Bundeskanzler] ist auch nicht ganz sicher, ob G. G. nicht eine seiner absurden Ideen einbringen werde, wie damals beim Mauerbau, als er vorschlug, man solle alle Zigeuner Europas nach Berlin rufen, weil die Zigeuner bekanntlich jede Grenze durchlässig machten.“

Wie die Notizen Harpprechts verdeutlichen, kann das Engagement für eine Sache einem Dichter nicht nur symbolische, sondern auch geldwerte Vorteile bringen: Als Harpprecht den berühmten Literaten wenig später in seinem Haus in Norddeutschland aufsuchte, konstatierte er bei Grass eine „gewisse Bitterkeit“ darüber, dass man ihn in Bonn nicht so zu benötigen schien, wie er es sich gewünscht hätte. „Er scheint darauf gewartet zu haben (und noch darauf zu warten), dass man ihm ein konkretes Arbeitsangebot macht“, heißt es in einem anschließenden Gesprächsvermerk an Willy Brandt, begleitet von einer persönlichen Notiz: „Es bedrückt ihn, dass er den Bundeskanzler so wenig sieht. Mit Ein-Stunden-Terminen dann und wann will er sich nicht begnügen.“ Die Notizen Harpprechts über das Engagement des Schriftstellers Grass offenbaren zudem wesentliche Gründe, weshalb die Bereitschaft der Schriftsteller zu außerparlamentarischem Protest zurückgeht. Den entscheidenden Hinweis gibt die von Klaus Harpprecht an Willy Brandt gerichtete Aussage, dass Grass eine „gewisse Bitterkeit“ darüber verspüren lasse, dass man ihn in der Bundeshauptstadt nicht so zu benötigen scheint. Gehen wir einen Schritt zurück: Eine Grundvoraussetzung des außerparlamentarischen politischen Handelns ist das Gefühl, einer Gruppe anzugehören, für die es sich stark zu machen lohnt. „Eine hohe Identifikation mit einer Gruppe bedeutet, dass die Gruppe einen wichtigen Teil der Persönlichkeit des Individuums ausmacht und sie sich mit anderen Personen in der Gruppe eng verbunden fühlt“724, postuliert Becker. Die Situation wird prekär, wenn sich der Einzelne, in diesem Fall Grass, eng mit der Gruppe (hier der SPD) verbunden fühlt, die Gruppe ihm jedoch die notwendige Loyalität zu verweigern beginnt, die es benötigt, um die Motivation des Einsatzes für die Gruppe aufrechtzuerhalten. Immerhin: Anders als viele seiner jüngeren Kollegen, die sich zurückziehen, wenn sich die Hoffnungen auf eine sozialdemokratische Regentschaft nicht erfüllen, ist auf Grass bis heute Verlass, allen (finanziellen) Enttäuschungen zum Trotz. Auch im Jahr 2009 tourte er auf Lesereise durch ostdeutsche Lande, wo er zusammen mit SPD-Politikern und Schriftstellern wie Steffen Kopetzky oder Michael Kumpfmüller kapitaleffizient (im Sinne Bourdieus) und medienwirksam agierte.725

724 Julia C. Becker: Kollektives Handeln –Außerparlamentarischer Aktivismus. In: In Mind. Online-Magazin. Nr. 3, 2013: Politische Psychologie. Hrsg. v. René Kopietz/Malte Friese/Oliver Gentschow. http://de.in-mind.org/issue/3-2013 (Stand: Januar 2014). 725 Vgl. Jan Fleischhauer: Gedichte für Steinmeier. In: Der Spiegel, 14.09.2009.

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Grundsätzliche Voraussetzung für eine politische Einmischung des Einzelnen, auch des Schriftstellers, sei zunächst die Tatsache, dass sich der Mensch einer Gruppierung zugehörig fühlt und daran interessiert ist, dass diese Gruppe nicht benachteiligt wird. Politischer „Protest kann somit als Strategie eines Machtkampfes zwischen Gruppen angesehen werden, der in erster Linie durch die Wahrnehmung sozialer Ungerechtigkeit ausgelöst wird“, so Becker. Im Falle des schriftstellerischen Engagements muss somit erstens eine Gruppe (beispielsweise eine Partei) vorhanden sein, dessen Zielsetzung mit den Interessen des Schriftstellers (oder der Gruppe der Schriftsteller bzw. der Gruppe, mit der er sich solidarisiert) konform geht, und zweitens ein akutes Problemfeld, gegen das der Schriftsteller als ein Sprachrohr des Kollektivs vorgehen will. „Aktuelle Konfliktfelder […] beziehen sich dabei auf 1. die Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen (Arbeitswelt, soziale Sicherung), 2. klassische Themen der sozialen Bewegung (Frieden, Ökonomie, globale Gerechtigkeit) und 3. rechtsradikale und fremdenfeindliche Tendenzen.“726 Dies alles sind Konfliktfelder, in denen der Schriftsteller nicht zwingend heimisch ist, ist doch die Literatur sein Metier. Ein weiteres Dilemma, das den öffentlichen, eudaimonischen politischen Protest des Schriftstellers erschwert ist die Weitläufigkeit der politischen Themen und Inhalte, die sich im Wahlprogramm einer Partei finden, mit denen sich der Schriftsteller in der Regel nicht vollends identifizieren kann und die seine Repräsentation für diese Partei erschweren. Wählt der Schriftsteller eine Gruppierung aus, für die er sich einsetzt (zum Beispiel die Gruppe der Arbeiter), besteht die Möglichkeit, dass seine zum Ausdruck gebrachte Solidarität von dieser Gruppe nicht erwidert wird, weil sie den Künstler nicht als gruppenzugehörig akzeptieren und deshalb seinen eudaimonisch intendierten Protest zu einem hedonistischen abwerten. „Proteste […] können in normativen [friedlichen] Aktionen und nicht-normativen [gewaltsamen] Aktionen zum Ausdruck gebracht werden.“727 Normativer Protest findet zumeist eine breitere Unterstützung, während nicht-normative Einmischungen (wie radikal verbale oder durch Wurfgeschosse begleitete Angriffe auf Personen) von der Mehrheit der Menschen nicht unterstützt werden, aber eine hedonistische und durch den Tabubruch eine provokative, medienwirksame Funktion erfüllen können. Auch Jelinek politisierte jahrzehntelang hedonistisch, normativ und mit Gewinn. 1974 trat sie in die KPÖ ein. „Da konnte sie sich im exklusiven Zirkel des orthodoxen Marxismus zugleich theoretisch mit den Vielen solidarisieren“ (was ihrem kulturellen Kapital durchaus zuträglich war) „und praktisch als illustres Unikat glänzen“ (was ihre Distinktion und einzigartige Position auf dem literarischen Feld stärkte). „Aus der Ambivalenz zwischen Frauenbewegung und Einzelgängertum, zwischen KP und Yves Saint Laurent entsteht die fruchtbare Spannung ihrer Arbeit: Elfriede Jelinek, die kommunistische Weltdame par excellence“728, beschreibt Löffler Jelineks „unpolitisches politisches Engagement“, das charakteristisch sei für die Strategie des inszenierten Engagierens und der auf dieser Grundlage angezettelten öffentlichen,

726 Julia C. Becker: Kollektives Handeln –Außerparlamentarischer Aktivismus. In: In Mind. Online-Magazin. Nr. 3, 2013: Politische Psychologie. Hrsg. v. René Kopietz/Malte Friese/Oliver Gentschow. http://de.in-mind.org/issue/3-2013 (Stand: Januar 2014). 727 Ebenda. 728 Sigrid Löffler: Elfriede Jelinek. Spezialistin für den Hass. In: Die Zeit, 04.11.1983.

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meist einzig dem Selbstzweck genügenden Streitigkeiten: „In ihrem Inszenierungscharakter bieten sie [die Literaten] keine Problemlösungen an – sie erschöpfen sich vielmehr in der Simulation von Problemlösungskompetenz und Problemlösungsangeboten“, bemerkt Bluhm mit Blick auf den Literaturbetrieb des späten 20. Jahrhunderts. Die sich engagierenden Schriftsteller seien gekennzeichnet durch „einen Habitus der bloßen Positionierung […]. Die Unterhaltungsfunktion überwiegt allemal“, so sein Fazit.729 Stärker noch als das politische Engagement für eine Partei oder eine Sache zeichnet sich jüngst ein Hang zur bewusst präsentierten „political incorrectness“ und zur schriftstellerischen Anti-Opposition ab.

Political Incorrectness Oder: Die Irritation der illusio Die Wirkungsmacht einer politisch oder moralisch aufgeladenen Debatte ergibt sich in der Regel aus dem Vorhandensein eines Tabus, das als Sprachregelungsfaktor fungiert. Die sprachlich geregelte Tabuisierung meint jedoch nicht, dass über bestimmte Sachverhalte im Literaturbetrieb nicht gesprochen werden darf, sondern dass es üblich ist, nur in einer bestimmten Weise über die Dinge zu sprechen. Ein Tabubruch, der sich an Wortmeldungen von Literaten entzündet, tritt dann ein, wenn die Sprachregelung ignoriert, das eindeutige politische Links-Rechts-Schema irritiert oder dem kulturellen Konsens widersprochen wird. Der politischen Verkehrungsstrategie bediente sich beispielsweise Botho Strauß, als er im politisch eher linksorientierten Nachrichtenmagazin Der Spiegel im Februar 1993 seinen Essay Anschwellender Bocksgesang publizieren ließ und mit aufgebrachten Lesern rechnen durfte. Hintergrund der Wortmeldung waren die fremdenfeindlich motivierten Anschläge und Übergriffe auf Migranten, die Botho Strauß in den Zusammenhang brachte mit einem manierierten, in Selbstminimierungsparolen erstarrten intellektuellen Feld. Konkret geißelte Strauß den Idealismus einer vorgeblich längst verflachten Aufklärung und die fehlgehende Vergangenheitsbewältigung der 1968er-Generation, die sich in einem „verklemmten deutschen Selbsthass“ erschöpft habe. Nicht-normative Aussagen wie „dass ein Volk sein Sittengesetz gegen andere behaupten will und dafür bereit ist, Blutopfer zu bringen, das verstehen wir nicht mehr und halten es in unserer liberal-libertären Selbstbezogenheit für falsch und verwerflich“, die in Strauß’ Bocksgesang zu entdecken sind, wurden von der Öffentlichkeit, allen voran von Ignatz Bubis abgelehnt. Die Kritik an Strauß’ Essay setzte jedoch insgesamt wenig differenziert am vielschichtigen, inhaltlichen Aussagenkorpus an als vielmehr an der politischen, an der Oberfläche leicht greifbaren Reizvokabel „rechts“, von der Strauß explizit und in positivem Sinne Gebrauch machte: Die Fantasie des Dichters solle, so Strauß, eine „rechte Phantasie“730 sein. „Der sofort erhobene Vorwurf, Strauß repräsentiere einen ‚intellektuellen Rechtsintellektualismus’, so der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden Ignatz Bubis,

729 Lothar Bluhm: Verdrängungsdiskurse in den Literaturstreits der 1990er Jahre. In: Neuhaus/Holzner, Literatur als Skandal, S. 568-576, 575. 730 Botho Strauß: Anschwellener Bocksgesang. In: Der Spiegel, 08.02.1993.

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wurde zwar wieder zurückgenommen, blieb jedoch in der Folge der Subtext der Kritik.“731

Selbstviktimisierung Nicht selten wird im Laufe des Skandals die „Selbstviktimisierung“ 732 von Schriftstellern eingesetzt, um die Aufmerksamkeitsspanne aufrechtzuerhalten. Diese Technik der Stilisierung zum ungerechtfertigterweise Leidtragenden der Debatte praktizierte nicht so sehr der resignierte Ex-Intellektuelle Botho Strauß, der sich weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück zog, als vielmehr Martin Walser im Anschluss an die von ihm mit seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1998 in der Frankfurter Paulskirche entfachten Debatte. Nachdem Walser die geplante Ausgestaltung des Holocaust-Mahnmals in Berlin mit der bald vielzitierten Bemerkung vom „fußballfeldgroßen Alptraum“ geschmälert und die öffentlichen Einlassungen von Jürgen Habermas zu den rechtsradikalen Übergriffen in Hoyerswerda, Rostock und Mölln, die dieser als Fortsetzung des Nationalsozialismus interpretierte, mit dem Vorwurf replizierte hatte, es handele sich bei den Anmerkungen von Habermas um die standardisierte, ritualisierte und dadurch kraftlose Beschwörung einer „geschichtlichen Last“, wurde Walser der Vorwurf des Antisemitismus und der Verharmlosung gemacht.733 Im Zuge der Kritik an seiner Haltung und des gegenseitigen Missverstandenfühlens sah sich der Schriftsteller als Opfer – und konterte den Vorwurf des Antisemitismus mit dem negierenden Ausruf: „Ich bin doch nicht wahnsinnig!“734 Die Walser-Debatte verdeutlicht noch etwas Anderes: Replik erwiderte Replik und bald schwanden die Ursachen der Debatte, einzig Walser stand im Fokus. 735 Die-

731 Bluhm, Verdrängungsdiskurse in den Literaturstreits der 1990er-Jahre, S. 570. 732 Claudia Dürr/Tasos Zembylas: Konfliktherde und Streithähne. Grenzzonen und Strategien im Literaturbetrieb. In: Neuhaus/Holzner (Hrsg.), Literatur als Skandal, S. 75-88, 77. 733 Walser, der die Ausländerfeindlichkeit von Jugendlichen nicht als spezifisch deutsches Faktum anerkennen und von der historischen, nationalsozialistischen Judenverfolgung getrennt wissen wollte und der sich zudem für die rechtsextremen Jugendlichen einsetzte, weil sie „verirrte Kinder“ seien, die „auf unbeholfene Weise nach ihrer nationalen Identität“ suchten, fühlte sich missverstanden. Ihm wurde, seiner Ansicht nach fälschlicherweise, Verharmlosung der Gewalt von „Skinhead-Buben“ (Rudolf Walther im Spiegel) vorgehalten. Wie auch immer Walser Argumentation gemeint war, so sparte seine Parteinahme doch den Faktor aus, dass diese verirrten Kinder Menschen getötet haben, bemerkt Rudolf Walther. 734 Martin Walser: „Ich bin doch nicht wahnsinnig!“ Martin Walser zum Vorwurf antisemitischer Tendenzen. Interview mit Uwe Wittstock. In: Die Welt, 30.05.2002. 735 Vgl. Joanna Jablkowka: Neonanzis oder verirrte Kinder? Zu der RechtsextremismusDebatte der 1990er Jahre. In: Neuhaus/Holzner, Literatur als Skandal, S. 632-641. Und:

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ser Vorgang der Akzentverschiebung ist ein gängiges rhetorisches Mittel, diesmal jedoch nicht allein eingesetzt von Walser, sondern auch von seinem journalistischen Widerpart. „Zur Diskussion gebracht wurden jeweils andere, nebengeordnete Akzente der entsprechenden Wortmeldungen, die dadurch zum Skandalon wurden, dass sie öffentlich als Normüberschreitungen deklariert und im Rahmen einer Streitinszenierung weiter skandalisiert wurden.“736 Das skandalöse Politisieren bildet ein Äquivalent zu traditionellen Formen der gegenseitigen sozialen Kontrolle, die diskursive Regeln, Normen und Werte stabilisiert oder diese von einer Seite zu durchbrechen versucht. Im Skandalisierten, in diesem Fall der zum Gegenstand seines eigenen Skandals gewordene Walser, personifiziert sich eine kulturell problematische Verhaltensweise und er wird zum negativen Vorbild, zum „Unwunschbild“ (Ernst Bloch) für das Publikum, das sich mit der Akzeptanz der Etikettierung indirekt zum korrekten Verhalten verpflichtet fühlt und sich dadurch besonders rege am öffentlichen Diskurs beteiligt.

Sprach- und Medienkritik Es ist eine verbreitete Annahme, dass Dichter ihre Welt in sich selbst suchen müssen.737 Dort ist die Welt düster und glänzend, reichhaltig und ereignisschwer, und dort wird sie, nicht zuletzt, in Literatur umgesetzt, was meistens einen erklecklichen Umsatz ergibt. Bildet der Weltinnenraum des Dichters eine unerklärliche Ödnis, begibt sich der Dichter auf Reisen, auf der Suche nach einem Ort, an dem sich das Wahre ereignet. Handke trieb es an die Drina, auf der Suche nach dem Quell der Wahrheit. Diese sollte er nicht finden, wohl aber den Ursprung des Skandals. Wollte Handke mit seinem in Buchform veröffentlichten Essay Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina. Oder: Gerechtigkeit für Serbien (1996) auf die einseitige Berichterstattung des blutigen Balkankrieges und die vorschnelle Verurteilung eines Geschehens hinweisen, in das Journalisten nur begrenzt Einblick haben, hat sich sein Vorwurf auf beinahe groteske Art bestätigt, weil auch Handke vorschnell verurteilt und ihm pro-serbische Propaganda sowie „intellektueller Selbstmord“ vorgeworfen wurde.738

Frank Schirrmacher (Hrsg.): Die Walser-Bubis-Debatte. Eine Dokumentation. Frankfurt a. M. 1999. 736 Bluhm, Verdrängungsdiskurse in den Literaturstreits der 1990er-Jahre, S. 575. 737 Vgl. Otto A. Böhmer: Sternstunden der Literatur. Von Dante bis Kafka. München 2003, S. 9 ff. 738 Seit Anfang der 1990er Jahre hat Peter Handke die Entwicklung und die Kriege im ehemaligen Jugoslawien öffentlich kommentiert und essayistisch wie literarische bearbeitet. Der Auftakt bildete Abschied des Träumers vom Neunten Land, ein poetischer Nachruf auf Slowenien (das er schon 1986 in seinem Roman Die Wiederholung als friedliche Heimat beschrieb) und das aus Handkes Perspektive mit dem Zerfall Jugoslawiens zerstört wurde. Bevor die NATO 1999 Serbien aus der Luft angriff, war Handke erneut nach Serbien gereist und publizierte zum Zeitpunkt, als die NATO-Angriffe den politischen

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Ausgangspunkt für Handkes Berichte aus Serbien während des Krieges ist die Kritik an der einheitlichen und einseitigen Repräsentation des Jugoslawienkrieges in den westeuropäischen Medien, die, laut Handke, die Gewaltbilder strategisch nutzen, um Stereotype zu reproduzieren. Öffentlich legitimiert wurde der Krieg gegen Serbien von der NATO dadurch, dass sie die serbischen Kriegsverbrechen mit dem nationalsozialistischen Genozid analogisierten. Handke kritisierte zum Beispiel, dass die Pressebilder aus Kriegslagern durch die NATO so inszeniert wurden, dass sie ikonografisch an Aufnahmen aus Konzentrationslagern anknüpften. Sein politisches Plädoyer Gerechtigkeit für Serbien wurde in allen wesentlichen Organen der öffentlichen Medien diskutiert und er weitgehend für „verrückt“ erklärt. Man überschüttete Handke mit Häme, Schmähungen und attackierte ihn heftig und polemisch: Er sei nicht ernst zu nehmen, ein „Fall für den Psychiater.“739 Vergleiche mit Ezra Pound und Louis-Ferdinand Céline, die ihren literarischen Ruhm mit Engagement für Mussolini und Hitler getrübt hatten, wurden gezogen und reicherten das diskursive Archiv um Handkes Serbien-Engagement an. Waren die ersten Meldungen empört, aber sachlich, so entwickelte sich schnell eine diskursive Dynamik, die es ermöglichte, den Namen Handke im Zusammenhang mit Hitler zu nennen. Anders als Walser ging es Handke nicht allein um eine Politisierung, selbst wenn er diese als Mittel bewusst und reflektiert nutzt („Ja, vielleicht hätte ich nur über die leeren Straßen, die Kälte, die Drina erzählen sollen. Aber dann hätte das Buch wahr-

Diskurs prägten, seinen Bericht Unter Tränen fragend (1999). Darin formuliert er den Anspruch, die verstummten serbischen Opfer zu Wort kommen zu lassen, „vorsichtig schauend, tastend sich der Dinge vergewissernd.“ (Peter Handke: Unter Tränen fragend. Nachträgliche Aufzeichnungen von zwei Jugoslawien-Durchquerungen im März und April 1999. Frankfurt a. M. 2000). Kurz darauf erschien das Theaterstück Handkes Die Fahrt im Eichbaum. Oder das Stück zum Film vom Krieg zum selben Thema. Als der Serbenführer und Begründer der Sozialistischen Partei Serbiens Slobodan Milošević sich vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag wegen Menschenrechtsverletzungen verantworten musste, lehnte Handke zwar die Bitte der Strafverteidiger Miloševićs ab, im Prozess als Expertenzeuge für Slobodan Milošević auszusagen, reiste aber dennoch in der Funktion des Prozessbeobachters nach Den Haag an. Handkes Bericht Rund um das große Tribunal (2002) dokumentiert seine Wahrnehmung des Prozessgeschehens. Nach der Verurteilung Miloševićs besuchte Handke ihn im Gefängnis und veröffentlichte einen Essay über diesen Besuch. Im März 2006 nahm er dann an dem Begräbnis Miloševićs teil und hielt eine kurze Ansprache am offenen Grab. Dies war für den Intendanten der Comédie-Française Anlass für die Absetzung des Handke-Stücks Das Spiel vom Fragen, das keinerlei Bezug zum ehemaligen Jugoslawien hatte und mit dem 2007 die Spielzeit eröffnet werden sollte. Spätestens an diesem Punkt hatte sich die Debatte völlig von den Texten Handkes abgelöst. 739 Die dpa-Meldung vom 09.04.199: „Akademie-Chef: Handke ist ein Fall für den Psychiater“, vgl. Claudia Dürr/Tasos Zembylas: Konfliktherde und Streithähne. Grenzzonen und Strategien im Literaturbetrieb. In: Neuhaus/Holzner, Literatur als Skandal, S. 75-88, 87.

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scheinlich keiner gelesen“740), sondern es ging ihm doch vorrangig um (medienwirksame) Sprachkritik: „Es war die Sprache, die mich auf den Weg brachte, die Sprache einer so genannten Welt, die die Wahrheit wusste über den Schlächter und zweifellos schuldigen Diktator […]. Solche Sprache war es, die mich veranlasste zu meiner Mini-Rede in Pozarevac – in erster und letzter Linie solche Sprache, nicht eine Solidarität zu Slobodan Milošević, sondern die Loyalität zu jener anderen, der nicht journalistischen, der nicht herrschenden Sprache.“741

Die sprach-ästhetisch begründete Kritik an der Medienlandschaft mithilfe des Multiplikators der political incorrectness war die Ursache der anhaltenden Provokation, die in erster Linie auf diffuser Irritation basierte. Denn weder war man bereit, die Kritik anzunehmen, noch die Form der Kritik zu akzeptieren oder – viel grundlegender – Handlungsziel und Handlungsweg zu differenzieren; so wurden ihm die Poetisierung des Politischen und die Politisierung des Poetischen vorgeworfen sowie Verklärung, wo er eigentlich pointierte.742 „Sicher, Handkes sporadische Versuche, die Vorurteile der einen Seite durch die der anderen zu ersetzen, Milošević gewissermaßen durch Tudjman aufzurechnen, sind ärgerlich. Sein Bericht fordert allerdings an keiner Stelle die Identifikation mit politischen Standpunkten ein“743, kommentiert Hannes Krauss die Debatte. Literarisch begnügt Handke sich mit der Beschreibung des isolierten Alltags von Menschen, die hinter der Folie der bekannten Bilder vom Balkankrieg leben. Handkes Handlung, resümiert Krauss, „ist nicht wegen irgendeines Fazits bemerkenswert, sondern weil er durch eine – vordergründig fast provozierende – Beschreibung von Nebensächlichkeiten und Belanglosigkeiten den nachdenklichen Blick öffnet auf Menschen hinter dem Krieg, die von der internationalen Öffentlichkeit ausschließlich durch ihre politischen Repräsentanten wahrgenommen werden.“744 Handke reaktiviert dadurch fast vergessene Formen der gesellschaftlichen Partizipation: „das Fragen und das Zweifeln“745, dem offenkundig ein öffentlicher Resonanzboden fehlte.

740 Peter Handke: „Instrumentalisiert wurde ich ja wohl eher von den Westmedien.“ Gespräch mit Claus Philipp. In: Der Standard, 10.06.2006. 741 Peter Handke: Am Ende ist fast nichts mehr zu verstehen. In: Süddeutsche Zeitung, 01.06.2006. 742 Vgl. Susanne Düwell: Der Skandal um Peter Handkes ästhetische Inszenierung von Serbien. In: Neuhaus/Holzner, Literatur als Skandal, S. 577-587. 743 Hannes Krauss: Gerechtigkeit für Peter Handke. In: Thomas Deichmann (Hrsg.): Noch einmal für Jugoslawien. Frankfurt a. M. 1999, S. 17-18, 17. 744 Krauss, Gerechtigkeit für Peter Handke, S. 17 f. 745 Ebenda, S. 18.

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ALLIANZEN

BILDEN

Multiple Netzwerke (Dichterzirkel) Davon überzeugt, dass Kritiker und Publikum zu unabänderlichem oder zumindest vorläufigem Unverständnis der Dichterseele verurteilt seien, gelangt der Schriftsteller mitunter zu der Ansicht, dass der Kontakt zu den „Unberufenen“ lauter Unannehmlichkeiten bereithält. Oft nur widerwillig begibt er sich auf Lesereise, wo der Kontakt zur Leserschaft unausweichlich ist. Lieber bliebe er an seinem Schreibtisch. Allein. Um dem einsamen Poeten, der beizeiten den Wunsch nach sozialer Zusammengehörigkeit verspürt, dennoch Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, mündet der Versuch, geistig autonom und autark zu bleiben und dennoch von anderen unmittelbar spürbar geschätzt zu werden, in dem Gründen einer Gruppe Gleichgesinnter, die im Idealfall eine Gruppe gegenseitiger Bewunderer ist. Dies ist natürlich keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Schon während des Kaiserreiches, zwischen der Reichsgründung und dem Beginn des Ersten Weltkrieges, gab es kaum einen Schriftsteller, der nicht irgendeiner literarisch-kulturellen Gruppierung angehörte, wie Rolf Parr herausarbeitete.746

Abbildung 92: Dichter im Grünen (1843)747 Die Individualisierung und Abkapselung gegenüber der Gesellschaft wird somit kompensiert durch eine Intensivierung der Verbindungen, die die Mitglieder der literarischen Gemeinschaft zueinander unterhalten – in einer Art „geschlossener Gesellschaft“, die zumindest innersystemisch, wenn auch nur temporär, so doch in aller

746 Vgl. Personenregister. In: Rolf Parr/Wulf Wülfing/Karin Bruns. (Hrsg.): Handbuch literarisch-kultureller Vereine. Gruppen und Bünde 1825-1933. Stuttgart, Weimar 1998, S. 520 ff. 747 Der Hamburger Dichterverein im Sommerlokal auf der Caffamacher-Reihe, im Mai 1843. Daguerrotypie aufgenommen von Carl Ferdinand Stelzner. Entnommen aus: Bodo von Dewitz: Bohemians. In: Roland Kanz (Hrsg.): Das Komische in der Kunst. Köln 2007, S. 186-209, 195.

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Regelmäßigkeit ihren Gruppenhabitus pflegt. Diese literarische Dichterallianz basiert in der Regel auf den Prinzipien der Profession und der Geselligkeit: Das innere Band besteht zum einen aus dem Prinzip der wechselseitigen Erhellung, also jenem Versuch, durch soziale Interaktion die eigene Erkenntnisbasis zu verbreitern und den eigenen Daseinsgrund bestätigt zu sehen. Zum anderen liegt die Attraktivität solcher Gemeinschaften besonders in der geselligen, „sozialen Dimension“748; das Konkurrenzverhalten der autonomen Einzelpersönlichkeiten tritt dann in den Hintergrund, zugunsten der Stärkung der Gruppierung und in Abgrenzung zu anderen Gruppen sowie zu Schriftstellern, die keinem literarischen Kreis angehören. Ein einzelner Autor kann sich zudem „als einzelnes Teil eines übergeordneten Ganzen“ verstehen und seine literarischen Texte in gemeinsame Publikationen einfließen lassen, seine Arbeit als Teil eines kollektiv erstellten Gesamtwerkes ansehen und dadurch erstarken oder aber leitfigürlich die Texte anderer Gruppenmitglieder in ein von ihm vorgegebenes Konzept integrieren und sich damit in „quasi-religiöser Führerschaft“ positionieren.749 Der Dichterkreis kennt unterschiedliche Existenz-Formen, beginnend mit zwanglosen Freundschaftsbünden über nur gesellige oder auch ästhetische Fragen diskutierende Zirkel bis hin zu programmatisch ausgerichteten Zusammenkünften. Dichterzirkel können an einen bestimmten Ort gebunden sein (wie einst der Göttinger Hain), um eine zentrale Persönlichkeit gruppiert (zum Beispiel der GeorgeKreis) oder auch offen sein für immer wieder neue Künstler, Kritiker und Verleger, die den künstlerischen Werdegang des Schriftstellers positiv beeinflussen können (wie die Gruppe 47).

Abbildung 93: Das popkulturelle Quintett (1999)750 Besonders öffentlichkeitswirksam agiert die jeweilige Dichter-Allianz dann, wenn sie als geschlossener Kreis medial in Erscheinung tritt, wenn sie visuell (durch Fotografien der Zusammenkunft) und sprachlich (durch intellektuelle Einlassungen oder lite-

748 Rolf Parr: Autorschaft. Eine kurze Sozialgeschichte der literarischen Intelligenz in Deutschland zwischen 1860 und 1930. Heidelberg 2008, S. 100 f. 749 Vgl. Parr, Autorschaft, S. 102 f. 750 Christian Kracht/Eckhart Nickel/Joachim Bessing/ Benjamin von Stuckrad-Barre und Alexander von Schönburg: Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett. Berlin 2001.

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rarische Neuerungen) Zusammengehörigkeit sowie geballte Kompetenz demonstriert, dadurch die Aufmerksamkeit einfängt und durch die Inszenierung dieser mannstarken Formation tatsächlich die Potenzierung des eigenen Marktwertes evoziert wie es das „popkulturelle Quintett“ um Benjamin von Stuckrad-Barre und Christian Kracht tat. Im Jahr 1999, am „Fin de Siècle“, wie es das Quintett bedeutungsschwer pointierte, trafen sich die jungen Schriftsteller im Berliner Hotel Adlon, um über den moralischen Verfall der Menschheit zu diskutieren. Bei Champagner und mit freiem Blick auf das Brandenburger Tor debattierten die Literaten drei Tage lang über Lifestyle, Markenartikel und Ästhetik. Tonband-Mitschnitte, Fotos und letztlich eine Buchveröffentlichung (Tristesse Royale) der gesammelten Gespräche und Gedanken rundeten dieses medial in den Feuilletons verbreitete Ereignis ab. Und tatsächlich: Das Buch wurde ein Bestseller. Kurzum: So wie der jugendliche Halbstarke in der Clique voll und ganz erstarkt, so gelingt dieses Prinzip der Selbstmaximierung durch das Beisein anderer durchaus auch in intellektuellen Kreisen. Doch nicht allein das kulturelle Kapital, auch das ökonomische wächst durch die Zugehörigkeit zu einem multiplen sozialen Netzwerk, da solche Gruppen vielfach sowohl als Anbahnungsorte für berufliche Unternehmungen fungieren können als auch das Potenzial zur Erschließung eines größeren Publikums besitzen.

Historische Wahlverwandtschaften „Gibt man zu einer chemischen Verbindung A – B einen dritten Stoff C hinzu und besitzt dieser eine stärkere Affinität zu A als A zu B, so verbinden sich A und C wahlverwandtschaftlich.“ Dieses chemische Gesetzt adaptierte Goethe und entwickelte es in seinem Roman Wahlverwandtschaften zur einem literarischen Handlungsmotiv: Die Idylle, in der Baron Eduard und seine Ehefrau, seine Jugendliebe Charlotte leben, wird irritiert, als die junge Ottilie und ein Freund Eduards, Hauptmann Otto für eine längere Zeit auf dem Landgut des Paares zu Gast sind. Während sich Ehefrau Charlotte und der Gast, Hauptmann Otto, zueinander hingezogen fühlen, entflammt Charlottes Gatte Eduard für die junge Ottilie. So rasant, wie sich die Leidenschaft angekündigt, so schleichend kommt der Tod. Charlotte verliert ihr Kind. Eduard zieht in den Krieg. Ottilie stirbt an Appetitlosigkeit. Otto reist ab. Aus der Zerstörung der traditionellen symbolischen Ordnung entsteht eine Situation, „in der das menschliche (und vor allem das männliche) Begehren sich auf einen unendlich entfernten und damit unerreichbaren Gegenstand richtet, den es allerdings nur im Imaginären, im Bilde hat (besitzt).“751 Dies werde an der außerehelichen Liebe Eduards zu der jungen Ottilie deutlich, die er nicht allein aufgrund ihrer empirischen, körperlichen Schönheit begehre. Er transformiert und überhöht sie gedanklich, so dass er letztendlich nicht Ottilie begehrt, sondern das idealisierte Bild, das er von ihr im Geiste entworfen hat. Die Affinität und das Begehren werden durch die Idealisierung paradigmatisch umgedeutet:

751 David Wellbery: Die Wahlverwandtschaften. In: Paul M. Lützeler (Hrsg.): Goethes Erzählwerk. Interpretationen. Stuttgart 1985, S. 291-318, 300 (Herv. i. O.).

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„Die Ottilie lieben, lieben nicht einen Teil des Geschlechts, sondern dessen Idee, die in ihr eine imaginäre Präsenz gewinnt. Das prekäre Verhältnis nicht nur zur symbolischen Ordnung, sondern auch zur eigenen Körperlichkeit, das die Figur Ottiliens kennzeichnet, ist nur die Konsequenz dieses Sachverhalts: dem Feld der symbolisch organisierten Körper entrückt, bleibt der begehrten Frau nur die problematische Existenzweise eines Bildes, in der ja Ottilie schließlich ganz aufgeht.“752

Dieser Lesart zufolge zeigt die Zuneigung Eduards zu Ottilie eine neue Liebesordnung an, die von der konkreten Körperlichkeit abstrahiert und stattdessen das imaginierte Ideal zu begehren beginnt. Damit etabliert sich eine neue Struktur der Begehrens, die sich in der Fixierung auf das ideale Bild manifestiert. War die Wahlverwandtschaft ursprünglich durch eine biochemische Anziehung bestimmt, wird sie in Goethes Werk transformiert zu der Grundkonstellation des idealisierten Begehrens. Dies ist die Matrix, aus der die ganze Romanhandlung hervorgehe: „Die Entfaltung der Geschichte entlang dem narrativen Syntagma gehorcht der Logik eines Begehrens, dem nur im Bilde sein Gegenstand präsent wird.“ 753 Ein Begehren, das am Ende jedoch zur Erstarrung und in den Tod führt; der Tod, der als Zustand fragmentmorphologisch (Otto – tot) bereits in den Objekten der Begierde Otto und Ottilie angelegt ist.754 Im medialisierten, bildgesättigten 21. Jahrhundert verwandelt sich das Prinzip der Wahlverwandtschaft zum dritten Mal. Die Wahlverwandtschaft ist fortan nicht mehr nur chemisch bzw. liebessemantisch zu denken, sondern auch historisch. Das Begehren auf der Grundlage einer kognitiven Idealisierungsleistung, wie es noch bei Goethe zentral war, wandelt sich nun in ein noch abstrakteres Begehren. Das Objekt der Begierde, die bewunderte Person, wird ästhetisch überformt, zum Objekt mit Kultcharakter und damit zum Fetisch, zum Vorbild und Symbol755 – und somit zur Schablone und Vorlage der Selbst(er)findung und Selbstinszenierung. Das Symbolische hat nunmehr nicht allein ästhetische Funktion, es wird auch zu einem „kulturellen Phänomen“ schlechthin, das Nachahmungen auslöst, um sich dem Phänomen nicht nur zu nähern, sondern sich ihm im Begehren anzuverwandeln.756 Die Wahlverwandtschaft als Strategie der Selbstinszenierung ist somit eine bewusste Annäherung an das Objekt der Begierde durch spielerisch-ästhetische Angleichung. Die historische Wahlverwandtschaft entsteht durch die Ratio, sie bedient sich der Strategien der Si-

752 Wellbery, Die Wahlverwandtschaften, S. 297. 753 Ebenda, 312 f. 754 Vgl. Jochen Hörrisch: Das Sein der Zeichen und die Zeichen des Seins. Marginalien zu Derridas Ontosemiologie. In: Jacques Derrida: Die Stimme und das Phänomen. Frankfurt a. M. 1979, S. 7-50. Und: Jochen Hörrisch: Die Himmelfahrt der bösen Lust. Versuch über Ottilies Anorexie. In: Norbert Bolz (Hrsg.): Goethes Wahlverwandtschaften. Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur. Hildesheim 1981, S. 308-322. 755 Den semiotischen Symbolbegriff anwendend, soll unter Symbol all das verstanden werden, „das einen Platz, eine systematische Position hat und also seiner Stelle entrückt werden kann.“ (Vgl. Wellbery, Die Wahlverwandtschaften, S. 291.) 756 Vgl. Wellbery, Die Wahlverwandtschaften, S. 291.

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mulation und kann mitunter pathogene Züge tragen. Stefan George, der Dante nicht nur übersetzte, sondern sich ihm auch in Gestalt und Aussehen nah fühlte und von verschiedenen Freunden schließlich als Zwillingsbruder seines italienisches Vorbilds beschrieben wurde, ist ein bekanntes und eindrucksvolles Beispiel für die Selbstinszenierung als Mitglied einer selbst gewählten Geistesfamilie.757 Die wahlverwandtschaftliche Imitation fungiert dabei als explizites Zitat, das auf das Original, das Fetisch-Objekt verweist, ohne es zu überdecken. Damit ist die historisch-intertextuelle Wahlverwandtschaft keine reine Simulation oder Verstellung (wie man sie etwa als Intrigenmoment von Odysseus, aus der Märchenwelt, der Komödie oder dem Roman Der talentierte Mr. Ripley von Patricia Highsmith kennt758), sondern eine Hommage, die zur Grundbedingung hat, dass ihre Verweislinien sichtbar bleiben. StuckradBarre zum Beispiel inszeniert sich im historisch-intertextuellen Feld des Dandys, indem er performativ den Dandy-Typus durch seine Kleidung zitiert und zugleich den Lebensstil durch diskursive Adaption von dessen Werthaltung kopiert.

Abbildung 94: Der Dandy: Charles Baudelaire (l.), Stuckrad-Barre (r.) – „Celebrity avant la lettre”759 Der Wunsch, etwas Besonderes zu sein, findet gerade im partiellen Dementi der eigenen Identität in fremden Posen und in der Anpassung an ein wahlverwandtschaftliches Vorbild seine Erfüllung. Wie Baudelaire, der „nicht als Künstler, sondern als Kunstkritiker spricht“760 und damit eine doppelte Ironie verfolgt – von der Nützlichkeitsideologie der Kunst überzeugt, sieht der Dandy zugleich seine Aufgabe darin, dem Leser nützliche Kommentare über die Kunst zu übermitteln –, positioniert sich

757 Vgl. Wolfgang Ullrich: Starkult als Verdoppelung: Doubles. In: Wolfgang Ullrich/Sabine Schirdewahn (Hrsg.): Stars. Annäherungen an ein Phänomen. Frankfurt a. M. 2002, S. 121-149, 123. 758 Vgl. Peter von Matt: Die Intrige. München 2006, S. 46-65. 759 Gregor Schuhen: Dandy, Dichter, Demagoge. Männlichkeitsentwürfe der Belle Epoche. In: Ders. et al. (Hrsg.): Avantgarde, Medien, Performativität. Inszenierungs- und Wahrnehmungsmuster zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Bielefeld 2005, S. 321-360, S. 335. 760 Fernand Hörner: Die Behauptung des Dandys. Eine Archäologie. Bielefeld 2008, S. 159.

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auch Stuckrad-Barre auf dem literarischen Feld als Literaturproduzent und Kritiker des kulturellen Feldes, exemplarisch in seinem Buch Deutsches Theater.761 Analog zu Baudelaire, der die moderne Fotografie als Medium und Symptom der Verdummung des Publikums kritisierte und gleichzeitig unter der Hand auf eine Verlagsstrategie setzte, die mit dem Bild des Autors zu handeln begann, 762 kritisiert auch Stuckrad-Barre die öffentliche Inszenierung Prominenter (etwa in seinem Werk Deutsches Theater) und macht sich die Strategie der Inszenierung selbst zunutze. Charles Baudelaire kannte viele Varianten der Distinktion. Dass er etwa trotz der hektischen Metropolenatmosphäre über ausreichend Zeit verfügte, um sein Leben im antimodernen und elitären Tempo zu verbringen, stellte er dar, indem er bei seinen Promenaden auf den Pariser Boulevards eine Schildkröte an der Leine führte. 763 Das wichtigste Element seiner Inszenierung war jedoch der Anzug, der seine Originalität rahmte: „ […] für die Ikonographie Baudelaires ist sein strenger u. a. von Nadar fotografierter Aufzug in schwarzem Anzug und Weste mit weißem Hemd von zentraler Bedeutung. […] Ebenso betont Charles Asselineu, Herausgeber und Autor von Charles Baudelaire. Sa vie et son oevre (1869), er habe diesen 1845 als ultra-fashionable kennengelernt im für ihn typischen ‚habit noir d’où s’echappent un bout de cravate blanche et des manchettes de mouseline plissée‘ sowie im ‚chapeau de dandy‘.“ 764 War für Charles Baudelaire „der schwarze Anzug die einzig der Zeit angemessene Erscheinung“765, so wurde diese Ikonografie auch Bestandteil der öffentlichen Selbstinszenierung Stuckrad-Barres: dunkler Anzug, weißes Hemd, schmale dunkle Krawatte. Gehörte der dunkle Anzug, der habit noir, einst zum Habitus des Leichenträgers, symbolisierte das Aufgreifen dieses Habitus durch Baudelaire ebenjenes symbolische Zu-Grabe-Tragen des Kleinbürgertums. Zwar folgert Baudelaire in seinen Briefen,

761 Benjamin von Stuckrad-Barre: Deutsches Theater. Köln 2001. Darin publizierte Stuckrad-Barre eine journalistisch-ironische Sammlung von Schauplätzen deutscher Alltags- und Hochkultur. Er schriebb über Kultursponsoring am Beispiel von H. A. Schult, der in China aus Müll Skulpturen baute, thematisierte die gegenwärtige Literaturkritik, indem er darüber berichtete, wie Hellmuth Karasek sich vor einem Auftritt im heimischen Wohnzimmer die Hose föhnte, er beschrieb die Bundesverdienstkreuz-Verleihung an den Sänger Marius Müller-Westernhagen und er begleitete den Theater-Intendanten Claus Peymann beim Kleidungskauf. 762 Am 01.05.1859 schrieb Baudelaire an Poulet-Malassis: „Auf das Porträt möchte ich nicht verzichten.“ Und nach einem Absatz zum technischen Problem der Umsetzung formulierte Baudelaire – als einzelne Zeile abgesetzt und unterstrichen – den entscheidenden Satz: „Das Porträt ist eine Verkaufsgarantie.“ (Charles Baudelaire: Sämtliche Werke und Briefe. 8 Bände. Bd. 5. Hrsg. v. Friedhelm Kemp/Claude Pichois. München 1975, S. 51 ff.) Damit vollzieht Baudelaire nichts weniger als einen Diskurs-Wechsel: Die Autoreninszenierung unterliegt keinem ästhetischen oder literarisch-hermeneutischen Kriterium, sondern einem ökonomischen. Diese Haltung adaptiert und stilisiert auch Stuckrad-Barre. 763 Vgl. Schuhen, Dandy, Dichter, Demagoge, S., 321. 764 Ebenda, S. 159. 765 Hörner, Die Behauptung des Dandys, S. 159.

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dass diese „livrée uniforme de désolation“ trauriger Ausdruck der neuen Gleichheit sei, betont aber auch in Anspielung auf eine rote Weste, die Gautiers getragen habe, dass sich die „excentrique“ in subtilen Nuancen distinguiere. 766 Der Kleidungsstil des Dandys ist also, trotz gruppeninterner Anpassung, eine Möglichkeit der Distinktion. Dieser Widerspruch des Dandyismus zwischen Verlust der Distinktion durch Uniformierung und chose modern und die Oszillation zwischen Ideal und Wirklichkeit sind die zwei ausschlaggebenden Momente für Baudelaires Behauptung als Dandy. 767 Zwischen Ideal und Wirklichkeit pendelnd stilisiert sich auch Stuckrad-Barre in der Künstlergruppe Das popkulturelle Quintett nach dem Vorbild des Dandys als apolitischer Ästhet. In dem Manifest Tristesse Royale der Künstlergruppe ist StuckradBarre beispielsweise mit dem Kommentar verewigt: „Die Überlegung ‚Hat Politik etwas mit meinem Leben zu tun?’ ist an sich eigentlich grotesk. Es muss da bei uns einen Prozess der Ablösung gegeben haben, der möglicherweise auch ästhetisch begründet war, dass man sich abgestoßen fühlte von Ortsverbänden und Ähnlichem.“768

Abbildung 95: Stuckrad-Barre als Model für den Dandy-Look, in den Mode-Zeitschriften„InStyle“(l.) und„Jolie“(r.) Die inszenierte Wahlverwandtschaft kann wiederum Ausgangspunkt des Begehrens werden, dann nämlich, wenn die Imitation selbst zum Imitat wird, wozu eine Illustrierte auffordert. Neben einem Foto Stuckrad-Barres in modernem Dandy-Outfit – in schneeweißem Anzug, schwarzem Hemd und weißer Krawatte – werden in dem Mode- und Lifestyle-Magazin In Style unter der Überschrift „Weiß? Ist jetzt sooo heiß!“ männliche Kleidungs- und Stilfragen geklärt und der Leserschaft exemplarische Outfits zum Nachkaufen vorgeschlagen. In dem Mode-Magazin Jolie inszeniert Stuckrad-Barre im Juni 2010 das Real Life, spricht über „Philosophie und Bücher“ und verrät sein Lieblingsaccessoire („Eine rosa Swatch-Uhr“).

766 Charles Baudelaire zit. n. Hörner, Die Behautpung des Dandys, S. 161. 767 Hörner, Die Behautpung des Dandys, S. 161. 768 Joachim Bessing et al., Tristesse Royale, S. 100.

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Eine historische Wahlverwandtschaft anderer Art wählte Gisela Elsner. Die heute beinahe unbekannte Autorin, die sich 1992 im Alter von 55 Jahren das Leben nahm, stilisierte sich als intellektuelle „Kleopatra“, und wurde von den Feuilletons als solche rezipiert, als „Sphinx“769, als schreibende „Femme fatale“770 und als „Amazone“771.

Abbildung 96: Gisela Elsner 1962 (l.), Kleopatra (m.), Gisela Elsner 1984 (r.)772 „Mit rauer, vernehmlicher, lakonisch fränkischer Stimme schockierte sie mit Vorliebe die mondäne Welt, für die sie sich maskierte. In provokanter Exzentrik. Mit Kleopatra-Look, hohen Stöckelabsätzen, Kostbarem aus Leder und Pelz. [… ] Mit Perücke und starrer Unnahbarkeit.“ 773 Es sei weniger das glamouröse Bild der Kleopatra im Sinne einer Hollywood-Diva gewesen, auf das sich Elsner bezog, als vielmehr eine Parodie, eine groteske Überzeichnung desselben, konstatiert Christine Künzel.774 Elsner habe dazu das von ihr in den Feuilletons gezeichnete Bild aufgenommen und das Stereotyp von Weiblichkeit entlarvt, indem sie dieses überzeichnete und beinahe als leibgewordene Karikatur zurückspiegelte. „Die Figur, die in dieser Metamorphose entsteht, könnte man als öffentliche Maske bezeichnen.“775 Sich an die historische

769 Walter Widmer: Die Züchtung von Riesenzwergen. In: Die Zeit, 29.05.1964. 770 Gerhard Armanski: „Als wäre gerade dies, der Mensch, das Allerschlimmste.“ Gisela Elsner und das Nachtschattengewächs der Normalität. In: Gerhard Armanski (Hrsg.): Fränkische Literaturlese. Würzburg 1998, S. 37-53, 38. 771 Gisela Elsner: Autorinnen im literarischen Ghetto. In: Kürbiskern, 1983, Heft 2, S. 136144, 137. 772 Gisela Elsner, Fotografie entnommen aus: Christine Künzel: Eine schreibende Kleopatra. Autorschaft und Maskerade bei Gisela Elsner. In: Christine Künzel/Jörg Schönert (Hrsg.): Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien. Würzburg 2007, S. 177-190. 773 Friedrich Hitzer: Hinterließ Brandmale und verglühte. Zum Tod von Gisela Elsner. In: Freitag, 29.05.1992, S. 11. 774 Vgl. Christine Künzel: Eine schreibende Kleopatra. Autorschaft und Maskerade bei Gisela Elsner. In: Christine Künzel/Jörg Schönert (Hrsg.): Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien. Würzburg 2007, S. 177-190, 181 ff. 775 Künzel, Eine schreibende Kleopatra. In: Künzel/Schönert, Autorinszenierungen, S. 181 f.

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Wahlverwandtschaft mit Kleopatra anlehnend, umrandete sich Elsner mit schwarzem Lidstrich und einem Kohl-Kajal-Stift die Augen. Dabei verwandelte sie die Funktion des weiblichen Schminkens zur Attraktivitätssteigerung in eine kriegerisch anmutende Maskierung. „Elsner scheint sich hier eine andere Funktion der Schminke zunutze zu machen, die ebenfalls seit Urzeiten bekannt ist, und zwar die des Schutzes. Makeup und Frisur wurden und werden gezielt als Barrieren, als Mittel der Abschreckung eingesetzt. Insofern ähnelt dieses Verfahren, das auf Nachahmung und Täuschung zum Selbstschutz ausgerichtet ist, einer Mimikry.“ 776 Dabei blieb Elsner stets nah an ihrem wahlverwandtschaftlichen Vorbild Kleopatra, das sie bewusst zitierte. Hannelore Elsner verkörperte die Figur der Hanna Flanders in dem dokumentarischen Spielfilm Die Unnahbare (1999), einer Hommage des Regisseurs Oskar Roehler an seine verstorbene Mutter Gisela Elsner. In einem Interview beschreibt die (nicht verwandte) Schauspielerin Hannelore Elsner die Wirkung dieser Maskerade: „Da habe ich gespürt, was diese Maskerade mit einem macht: Einerseits fordert sie heraus, dass man angesehen wird, aber andererseits fühlt man sich total geschützt. Ich hatte das Gefühl, ich gucke aus dieser Maske von innen heraus und bin selbst nicht sichtbar.“777 Parodistisch inszenierte Hans Carl Artmann seine Wahlverwandtschaft zu Carl Spitzwegs Der armen Poet.

Abbildung 97: Der arme Poet, 1839 (l.)778, H. C. Artmann, 1974 (r.)779 Das Foto Hans Carl Artmanns entstand, als er 1974 den Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur erhielt. Bierkrug, Bierglas und Bierflasche stehen im Vor-

776 Ebenda, S. 187 f. Vgl. auch: Wolfgang Wickler: Mimikry. Nachahmung und Täschung in der Natur. München 1986. Sowie: Klaus Lunau: Warnen, Tarnen, Täuschen. Mimikry und andere Überlebenstrategien in der Natur. Darmstadt 2002. Und: Christian Janecke (Hrsg.): Gesichter auftragen. Argumente zum Schminken. Marburg 2006. 777 Hannelore Elsner: „Wer nicht altern will, muss früh sterben.“ Hannelore Elsner im Gespräch mit Margret Köhler. In: Berliner Morgenpost, 19.04.2000. 778 Carl Spitzweg: Der arme Poet (1839). Gemälde entnommen aus: Siegfried Wiechmann: Carl Spitzweg. München 1990, S. 57. 779 Hans Carl Artmann fotografiert von Sepp Dreißinger 1974. Entnommen aus: Möbus, Dichterbilder, S. 170-171, 171.

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dergrund auf dem Tisch, ein Zigarettenstummel befindet sich in der linken Hand, der Schirm in der rechten. Ein beiseitegelegtes Schriftstück liegt am Bettrand, Artmanns Blick ist geradeaus gerichtet: „ein solipsistischer, trunkener, halsstarriger Eremit, der mit dem Publikum nichts zu tun haben will, wird hier in seinem sehr privaten Exil präsentiert“, kommentiert Möbus. Artmann selbst beschrieb sein Leben in dem kurzen Text Selbstbiographie (1964): „Mickey Spillane gelesen, Goethe verworfen, gedichte geschrieben, scheiße gesagt, theater gespielt, nach kotze gerochen, eine flasche grappa zerbrochen, ma vida geflüstert, grimassen geschnitten, ciao gestammelt, fortgegangen, a gesagt, b gemacht, c gedacht, d geworden. Alles was man sich vornimmt, wird anders […].“780 Nicht nur visuelle Wahlverwandtschaften, auch literarische suchte H. C. Artmann und schlüpfte in zahlreiche Rollen. Er übersetzte Texte aus dem Niederländischen, dem Schwedischen, dem Dänischen, dem Englischen, dem Spanischen, dem Französischen und dem Jüdischen, schrieb in Wiener Mundart und auf Hochdeutsch, schrieb barocke Romane (Von einem Husaren, der seine guldine Uhr in einem Teich oder Weiher verlor), dadaistische Gedichte, verfasste Liebeslyrik (Gedichte über die Liebe), Comic-Strips und Kriminalnovellen (Detective Magazine der 13 oder Die Jagd nach Dr. U) – „all das als ein Imitator, dessen Individualität für die breite Leserschaft oft verschwamm hinter den mehreren Artmanns.“781 Er eröffnete seinem Publikum seinen „phantastischen Kosmos eines literarischen Chamäleons, das oft seine Farbe ändert, seinem Phänotyp gleichwohl immer treu bleibt“782, indem er immer neue Wahlverwandtschaften auswählte und sie mit Skepsis, Ironie und Radikalität nachahmend, anverwandelnd stilisierte. Eine historische und durchaus ambivalente Wahlverwandtschaft zu Ingeborg Bachmann wählte Elfriede Jelinek, die auch im Biografischen ihr Leben verglich und feststellte: „Ich war bei den Männern nie so beliebt wie die Bachmann.“ 783 In Anlehnung an Bachmanns Todesarten-Zyklus verfolgte Jelinek ihr eigenes TodesartenProjekt.784 Darüber hinaus schrieb Jelinek beispielsweise das Filmbuch zu Bachmanns Romanverfilmung Malina.

Amouresken Ob Ingeborg Bachmann und Paul Celan, Ingeborg Bachmann und Max Frisch, Else Lasker-Schüler und Gottfried Benn, Friederike Mayröcker und Ernst Jandl, Peter Handke und die Schauspielerin Katja Flint, Arthur Miller und Marilyn Monroe, Benjamin von Stuckrad-Barre und die Komödiantin Anke Engelke – berühmte Lieb-

780 Hans Carl Artmann zit. n. Frank Möbus: H. C. Artmann. In: Möbus, Dichterbilder, S. 170-171, 170. 781 Frank Möbus: H. C. Artmann. In: Möbus, Dichterbilder, S. 170 782 Ebenda, S. 170. 783 Elfriede Jelinek, in: Emma, Oktober 1997. 784 Michèle Pommé: Ingeborg Bachmann und Elfriede Jelinek. Intertextuelle Schreibstrategien in Malina, Das Buch Franza, Die Klavierspielerin und Die Wand. St. Ingbert 2009.

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schaften sind ein Aufmerksamkeitsmultiplikator, besonders dann, wenn die Liaison visuell, sprachlich und performativ mit überraschenden Effekten publik wird, treten doch die Schriftsteller, die sonst hinter ihren literarischen Werken verborgen bleiben, nun mit ihrem Autorenkörper und aller Leiblichkeit, die eine öffentliche Liaison bedeutet, in Erscheinung. Wie etwa der Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre, der mit der Schauspielerin und Komödiantin Anke Engelke an seiner Seite den Deutschen Presseball besuchte. Oder auch (ein halbes Jahrhundert zuvor) die junge Schriftstellerin Ingeborg Bachmann, die sich auf einem Treffen der Gruppe 47 in Nienburg, umringt von jungen Künstlerkollegen in ein Gespräch mit Paul Celan vertieft. Das Foto von Ingeborg Bachmann und Paul Celan ist das bislang einzig bekannte Bild, das die beiden gemeinsam zeigt und sich ins kulturelle literarische Gedächtnis eingeschrieben hat, weil es ihre Beziehung visuell verbürgt.

Abbildung 98: Stuckrad-Barre & Engelke (2003)785, Bachmann & Celan (1952)786 Die Variante der literarisch (und nicht allein öffentlich) inszenierten Liebschaft zeigt sich an dem prosaischen Pingpong-Spiel zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch. Von 1958 bis 1963 ein Paar verarbeiteten beide Schriftsteller den Liebesverlust in ihren Romanen. Auf Frischs Mein Name sein Gantenbein (1964) reagierte Bachmann einige Jahre lang mit Schweigen und der Arbeit an dem TodesartenZyklus, von dem sie nur den Roman Malina (1971) abschloss, „der als Antwort so souverän ist, dass darin der alte Hader kaum noch direkt erkennbar wird.“787 Als Ingeborg Bachmann 1973 starb, antwortete Max Frisch noch mehrmals literarisch auf die von Bachmann implizit formulierte Unterstellung der Liebesunfähigkeit, nicht leugnend, sogar zwischen den Zeilen einsichtig – etwa in seiner Erzählung Montauk

785 Benjamin von Stuckrad-Barre und Anke Engelke auf dem Deutschen Presseball am 18.01.2003.

Fotografiert

von

Marikka-Laila

Maisel.

Entnommen:

www.ganz-

muenchen.de 786 Reinhard Federmann, Milo Dor, Ingeborg Bachmann und Paul Celan 1952 bei der Tagung der Gruppe 47 in Niendorf, fotografiert von Hans Müller, Hamburg. 787 O. A.: Fechten vor verhängten Spiegel. Ingeborg Bachmann, Max Frisch und die diskrete Germanistik. In: Neue Zürcher Zeitung, 08.03.2003.

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(1975) („sowie eine Frau mir gefällt, komme ich mir jetzt als Zumutung vor“ 788, darin auch die Selbstanklage: „Max, you are a monster“) oder die mitunter ironisch unterlegte Selbsterkenntnis variierend wie im Triptychon mit Dame (1981) und der Kriminalerzählung Blaubart (1982). Max Frisch und Ingeborg Bachmann sind sich zum ersten Mal am 3. Juli 1958 in Paris begegnet; dieses Datum ist Bachmanns Erzählung Malina eingeschrieben, das erste Treffen wird in Max Frischs Montauk erzählt: „Ich war beglückt, als wir im Café vor dem Theater einen Pernod tranken. […] Statt ins Theater gingen wir zu unserem ersten Abendessen. Ich wusste nichts von ihrem Leben, noch nicht einmal Gerüchte über sie […]“789

Auch die Nacht blieben sie zusammen, bis zum ersten Kaffee beim Morgengrauen in den Pariser Hallen, in denen die „Metzger mit den blutigen Schürzen“ an den Nebentischen standen. Im Kompositum Morgen-Grauen beispielsweise steckt jene von Frisch oft thematisierte Doppeldeutigkeit, die später Bachmann auch sprachstilistisch aufnehmen und in das Traumkapitel von Malina einweben wird. Den autobiografischen Diskurs schürend, leitet Frisch seine Montauk-Erzählung mit einem Zitat Montaignes ein: „Dies ist ein aufrichtiges Buch, Leser, es warnt dich schon beim Eintritt, dass ich mir darin kein anderes Ende vorgesetzt habe als ein häusliches und privates. Ich habe es dem persönlichen Gebrauch meiner Freunde und Angehörigen gewidmet, auf dass sie, wenn sie mich verloren haben, darin einige Züge meiner Lebensart und meiner Gemütsverfassung wiederfinden. Denn ich bin es, den ich darstelle. Meine Fehler wird man hier finden, so wie sie sind, und mein unbefangenes Wesen, soweit es nur die öffentliche Schicklichkeit erlaubt. So bin ich selber, Leser, der einzige Inhalt meines Buches. […]“790

Dass es sich bei diesem vorangestellten Zitat nicht um ein satirisches, sondern um ein rationales, textkonstitutives Element handelt, konfirmiert die Erzählung in unterschiedlicher, immer wieder ernste Realbezüge herstellender Weise. Unter der Zeile My Life as a Man sinniert Frisch über „das neue Buch, das Philip Roth gestern ins Hotel gebracht hat“: „Wieso würde ich mich scheuen vor dem deutschen Titel: Mein Leben als Mann? Ich möchte wissen, was ich schreibend, unter Kunstzwang, erfahre über mein Leben als Mann.“791 Die Denkkategorie der Männlichkeit in Distinktion zur Weiblichkeit ist damit diskursiv vorgegeben. Auf ihr Kennenlernen in Paris folgten für Frisch und Bachmann eine Woche in Zürich als Liebespaar und dann sieben Monate in einer gemeinsamen Wohnung in Zürich. Nach einer Trennung kam es zum Heiratsantrag durch Max Frisch und zu drei gemeinsamen Jahren in Rom. Es ist die Zeit, in der Max Frisch an seinem Roman Mein Name sei Gantenbein arbeitete, über den er später sagen wird: „Das Buch,

788 Max Frisch: Montauk (1975). Frankfurt a. M. 2007, S. 12. 789 Frisch, Montauk, S. 72. 790 Ebenda, S. 7. 791 Ebenda, S. 21.

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ich habe tatsächlich eine ziemliche Angst, es zu zeigen. Doch anders werde ich es nicht los.“792 Ingeborg Bachmann fühlte sich in der weiblichen Hauptfigur Lila karikiert und sah „sich in ihren privaten Beziehungen dem Literaturmarkt preisgegeben“793, weshalb sie das Buch als „Blutbuch“ diffamierte. Mit der Trennung von Max Frisch im Jahr 1963 erkrankte Ingeborg Bachmann, interpretierte mehr als jemals zuvor „ihre Krankheit als Reaktion auf eine kränkend erfahrene Realität“794 und begann das Todesarten-Projekt, in dem sie die Topoi Verbrechen, Indiskretion und Hochverrat literarisch bearbeitete, um „der verborgenen wirklichen Geschichte, unter den lauten, unwirklichen“ zu ihrem Recht zu verhelfen. Das nahm mehrere Jahre in Anspruch und bedeutete zahlreiche nicht publizierte Manuskripte, Versuche und Verwerfungen. Durch all ihre Texte schleppte sich als Konstante ein Paar, das aus einem männlichen Scheusal und einem Engel bestand, wobei das Scheusal den Engel ruinierte. Im Romanfragment Der Fall Franza ist es eine sensible Frau aus der Provinz, die an einen berühmten, doch skrupellosen Psychiater gerät, der die Protagonistin in den Selbstmord treibt. Deutlicher noch wird es in dem Fragment Requiem an Fanny Goldmann, in dem die gefeierte und schönste Frau aus Wien just am 3. Juli (dem Tag der ersten Begegnung von Bachmann und Frisch) auf einen miserablen Schriftsteller trifft, der sich in ihrem Glanze sonnt und ein Buch schreibt, das ihre Liebe „ausschlachtet“, um dann mit einem jungen Mädchen durchzubrennen. Bachmann nannte die mit diesen Verletzungen eintretenden Leiden Todesarten – vielleicht in Anspielung auf Bertolt Brechts Hinweis auf die vielen „Arten zu töten“, von denen die meisten als gesellschaftlich selbstverständlich hingenommen würden.795 Und obwohl die biografische Spur zu Max Frisch in Malina nur eine unter vielen polymorphen Textspuren ist, bleibt sie doch rezeptionsleitend und Max Frisch „für ihr häusliches und privates Leben als nie überwundene Verletzung gegenwärtig, so souverän sie zuletzt in Malina ‚ihre’ literarische Version von Mein Name sei Gantenbein – Mein Name?/ Malina auf Frischs Roman antwortete.“796 Mit Selbstironie hingegen kommentierten Friederike Mayröcker und Ernst Jandl fotografisch das öffentliche Interesse an ihrer Liebesbeziehung: mit Prinzessinnenkrönchen und Clowns-Nase als Figuren des wenig märchenhaften Theaters des Literaturbetriebs:

792 Anonym: Fechten vor verhängten Spiegel. In: Neue Zürcher Zeitung, 08.03.2003. 793 Hans Höller: Ingeborg Bachmann. Reinbek bei Hamburg 2009, S. 117. 794 Ebenda, S. 124. 795 Bertolt Brecht: Me-ti. Buch der Wendungen. Frankfurt a. M. 1969, S. 54. 796 Höller, Ingeborg Bachmann, S. 120.

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Abbildung 99: Mayröcker und Jandl (1982)797

Politische Paarungen Eine Verdopplung der eigenen Größe kann der Schriftsteller als singuläres Individuum durch eine in der Öffentlichkeit sichtbare, exklusive Verbindung mit Vertretern des Feldes der Macht, zum Beispiel mit Politikern, erreichen. Diese werbewirksame, symbolisches Kapital potenzierende Symbiose, die auf der monogamen Exklusivität einer inszenierten Zweier-Beziehung basiert, kann visuell, performativ und verbal sowie in besonderer Variante literarisch erfolgen. Über alle Varianten inszenierte sich Günter Grass.

Abbildung 100: Günter Grass und Willy Brandt (1976)798 Grass begleitete 1969 den Bundestagswahlkampf Willy Brandts, schrieb politische Essays, hielt Ansprachen, publizierte seine politischen Erfahrungen während des Wahlkampfes im Tagebuch einer Schnecke (1972) und blieb auch die nächsten Jahre politisch werbend und beratend an Brandts Seite.

797 Friederike Mayröcker und Ernst Jandl, fotografiert von dem Fotokünstler Joseph Gallus Rittenberg. Hier: aus der Ausstellung in der Städtischen Galerie Erlangen. 798 Günter Grass und der damalige SPD-Vorsitzende Willy Brandt auf einer Wahlkampfveranstaltung der SPD, 1976, Foto: dpa.

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Um Aufmerksamkeit zu erzeugen, braucht es nicht allein politisch einander stärkende Paarungen. Auch gepflegte Feindschaften haben einen aufmerksamkeitssteigernden Effekt. Jelinek hegte eine solche medienwirksame Feindschaft mit Jörg Haider. Eine antipodische Liaison, die die beiden immer wieder unfreiwillig zusammenführte: „Noch vor seinem ersten großen Wahlsieg posierte Haider mit nacktem, braun gebrannte Oberkörper und Goldkettchen für eine Wiener Frauenzeitschrift. Im selben Heft stand Elfriede Jelinek Modell für Jeans.“799 Als feministisches Gesinnungspärchen traten etwa Elfriede Jelinek und Marlene Steeruwitz auf. Paarhaft wanderten sie durch die Öffentlichkeit, ließen sich gemeinsam fotografieren und zierten im Oktober 1997 das Cover der Zeitschrift Emma. Ähnliches versuchten Peter Handke und Botho Strauß; sie wanderten ebenfalls im Doppelpack durch den Kulturbetrieb – mit beachtlichem medialem Erfolg, der allerdings teilweise ein ironisches und kritisches Echo hervorrief, ihrer Prominez jedoch keinen Abbruch tat.800

Ö FFENTLICHE G ESTÄNDNISSE Nur wo Gräber sind, gibt es Auferstehung. FRIEDRICH NIETZSCHE

Ob sexuelle Fehltritte, Drogenexzesse oder Erinnerungen an jugendlichen Leichtsinn – öffentliche Beichten haben nicht nur unter Schauspielern, sondern auch unter Schriftstellern Konjunktur. „Künstler sein heißt, scheitern,wie kein anderer zu scheitern wagt“, wusste schon Samuel Beckett; eine Erkenntnis, die Adorno nach dem Zweiten Weltkrieg in seiner Ästhetik des Scheiterns so formulierte: „Reales Scheitern ist zwar einerseits gewöhnlich, weil es so erniedrigend alltäglich ist und deswegen zunächst wertlos erscheint, aber es greift gleichzeitig tief in das menschliche Empfinden ein, weil durch das Scheitern buchstäblich alles, auch das Banale, bedeutsam wird. […] Genau aus diesem Stolpern und seiner Unangemessenheit der Lebensroutinen geht das Staunen über die Schöpfung hervor: Wir hätten nicht gedacht, dass so viel schiefgehen kann.“801

In dem öffentlichen Geständnis tritt das Scheitern als retrospektiv verbalisierter Akt hervor und stößt durch das eigene Staunen über das Fehlgehen das fremde Staunen an. Das Geständnis ist zudem ein besonderer illokutionärer Akt, dessen wesentliches Merkmal darin besteht, „in einer endlosen Spirale den Zwang, die Lust und die

799 Mayer/Koberg, Elfriede Jelinek, S. 141. 800 Vgl. Jürgen Wertheimer: Charisma im Doppe lpack. Zur Selbstinszenierung deutscher Autoren. In: Jürg Häusermann (Hrsg.): Inszeniertes Charisma. Medien und Persönlichkeit. Tübingen 2001, S. 117-128. 801 Wilhelm Genazino: Omnipräsenz und Einfalt. Über das Scheitern. In: Ders.: Der Gedehnte Blick. München 2004, S. 98-104, 101 f.

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Wahrheit aneinanderzubinden.“802 Indem das Geständnis Macht, Wahrheit und Wissen diskursiv herstellt und gleichzeitig bei dem Gestehenden für Entlastung sowie beim Hörer für beharrliches Ergötzen (delectatio morosa) sorgt, wird es als performative Strategie der Aufmerksamkeitserzeugung zu einem wichtigen Instrument. Die delectatio morosa, wie sie als Technik in christlichen Beicht-Manualen zu finden ist, besteht darin, Gefallen daran zu finden, dass der Zuhörer bei einer vergangenen Verfehlung verweilt. Dies betrifft den Beichtvater und in Analogie dazu das Publikum. (Dies Verweilen ist die morositas). Die Kasuistik des Gestehens und ihr psychologischer Mechanismus sind, so Foucault, kulturell zutiefst verwurzelt; zu denken wäre nur an den Eifer und an „die maßlose Pflicht, zum Geständnis und an all die zwiespältigen Lüste, die es gleichzeitig durchkreuzen und wünschbar machen: Beichte, Erziehung, Beziehung zwischen Eltern und Kind, Ärzten und Kranken, Psychiatern und Hysterischen, Psychoanalytikern und Patienten.“ 803 Bei der Inszenierungsstrategie des öffentlichen Geständnisses lassen sich zwei wesentliche Handlungsweisen unterscheiden. Die eine Variante der Strategie ist die schlichte Bekundung einer Verfehlung, die andere Variante ist die vorgebliche Läuterung. Die Bekundung einer Verfehlung zeichnet sich einzig durch den Akt der Äußerung an sich aus, der für den Gestehenden eine befreiende Funktion hat. Eine Veränderung des Verhaltens als Option beinhaltet diese Variante nicht. Ganz anders sieht es bei der Strategie der Läuterung aus. Durch deren Inszenierung wird der Aufmerksamkeitswert zum einen aus der Wahrheit und dem reinigenden Erlebnis des Geständnisses gezogen, doch zugleich auch die dahinter liegende Verfehlung als wertvolle Erfahrung der Selbsterkenntnis verbucht, das Ereignis retrospektiv analytisch reflektiert und in seinen Konsequenzen für den Körper und die Seele verfolgt, mit dem Ziel, den Gestehenden in seinem Wesen letztendlich stärker und vollkommener zu machen.804 Zum Typus der Bekundung einer Verfehlung gehören also die sich nur durch geringe Einsicht auszeichnenden Geständnisse, etwa Alexa Hennig von Langes Eingeständnis, dass sie an Bulimie erkrankt war: („Ja, ich war magersüchtig, etwa neun Jahre lang. Das Hungern wird irgendwann zum permanenten Kampf gegen sich selbst und zum Normalzustand. Erst mit Mitte 20 hat das aufgehört.“ […] Focus: „Hat man Sie heilen können?“ Hennig von Lange: „Nö, nicht so ganz.“805). Handelt es sich bei dem bekannten Beispiel Georg Trakls ebenfalls um eine (wenn auch künstlerisch noch teilverschleierte) Bekundung einer Verfehlung des Inzests, so gehört das Geständnis von Günter Grass, während des Zweiten Weltkriegs in der Waf-

802 Michel Foucault: Das Abendland und die Wahrheit des Sexes. In: Ders.: Dispositive der Macht. Berlin 1978, S. 98. 803 Ebenda, S. 98 f. 804 Eine Zwischenstufe zwischen Bekundung und Läuterung nimmt Benjamin von StuckradBarres öffentlichgemachte Drogensucht ein und der Film, den er von Herlinde Koelbl während seiner Abhängigkeit und seines Entzuges drehen ließ. 805 Alexa Hennig von Lange: „Feuchtgebiete hat mir nicht gefallen.“ In: Focus Online, http://www.focus.de/kultur/buecher/tid-12481/magersucht-roman-feuchtgebiete-hat-mirnicht-gefallen_aid_346832.html (Stand: Januar 2014).

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fen-SS gewesen zu sein zum Typ der reuevollen Läuterung. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erklärt Grass: „Warum ich nach sechzig Jahren mein Schweigen breche.“806 Anlässlich des Erscheinungstermin seiner Autobiografie Beim Häuten der Zwiebel machte er auch im Medium der Zeitung öffentlichkeitswirksam „Verschollenes wieder lebendig“. Seine öffentlich stilisierte Läuterung zeichnet sich durch Einsicht in seine Verfehlung aus, in erster Linie die Verfehlung, so lange seine nationalsozialistische Vergangenheit verschwiegen zu haben, während er gleichzeitig öffentlich als moralische Autorität auftrat. („Das hat mich bedrückt. Mein Schweigen über all die Jahre […]“, „Später hat mich dieses Schuldgefühl als Schande belastet.“) Die rationale Durchdringung, die Reflexion und der Versuch einer Erklärung des damaligen Verhaltens sind ein weiteres Charakteristikum der Läuterung. („Zunächst einmal passten sich meine Eltern opportunistisch den Gegebenheiten an.“ Und: „Mir ging es zunächst einmal vor allem darum rauszukommen. Aus der Enge, aus der Familie.“ Sowie: „[…] so ging es vielen meines Jahrgangs“). Zuletzt dient sein öffentliches Geständnis der Aufmerksamkeitserzeugung – und dem Bedürfnis der Abbitte und Rehabilitierung. „Wer scheitert, schaut zurück, und wer zurückschaut, sinnt nach. Im Scheitern wird das Biografische selber reflexiv; allmählich bildet sich eine zusammenhängende Lebenswelterzählung, eine Innenwelt-Perspektive, eine nicht mehr abbrechende Sinn-Erwägung, kurz: es bildet sich Identität. […] Und macht darauf aufmerksam, dass es auch eine Würde des Scheiterns gibt.“807 Zum Typus der Läuterung ist außerdem Kempowskis Geständnis zu zählen, mit dem er öffentlich bekennt, dass durch sein Verschulden nicht nur er selbst, sondern auch seine Mutter und sein Bruder inhaftiert wurden.808 Im Interview schildert Kempowski die persönlichen Erlebnisse: „Meine Mutter bekam sechs Jahre Zuchthaus, nur weil ich nicht den Mund gehalten habe. Ein einziges Mal ja gesagt, statt nein. Einmal! Wie kommt man dazu? Als ich bei Verhören durch

806 Günter Grass: „Warum ich nach sechzig Jahren mein Schweigen breche.“ Interview. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.08.2006. (Als 14-Jähriger hatte sich Grass als Hitlerjunge freiwillig für die U-Boot-Staffel gemeldet, wurde aber aufgrund seines jungen Alters, abgelehnt. 1944, kurz vor Kriegsende, wurde Grass, mittlerweile 17 Jahre alt, zur Division Frundberg einberufen; diese gehörte zur Waffen-SS. In seiner Autobiografie Beim Häuten der Zwiebel (2006) schildert er seine Erfahrungen in aller Ausführlichkeit.) 807 Genazino, Omnipräsenz und Einfalt, S. 98-104, 102. 808 Im September 1948 verurteilte ein sowjetisches Militärgericht den 19-jährigen Kempowski zu fünfundzwanzig Jahren Arbeitslager wegen anti-sowjetischer Spionagetätigkeit für die USA. Seine Mutter wurde zu sechs Jahren Zwangsarbeit verurteilt, wegen „Nichtanzeige von Agenten ausländischer Geheimdienste“. Acht Jahre, bis in den März 1956 dauerte es, ehe ihn eine Amnestie auf freien Fuß setzte. Kempowski und seinem Bruder wurden vorgeworfen, Kopien von Frachtpapieren aus dem Kontor der eigenen Reederei gesammelt zu haben, die beweisen, dass die sowjetische Besatzungsmacht Demontagegütern illegal aus Deutschland nach Russland abtransportierte. Walter Kempowski musste seine Haft im Zuchthaus Bautzen absitzen. Seine Erlebnisse in Bautzen verarbeitete er literarisch in seinem Erstlingswerk Im Block. Ein Haftbericht (1969).

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die Russen keine Mitwisser nennen wollte, musste ich drei Tage lang nackt im Wasser sitzen. Das war natürlich Wasser, in das andere Leute schon reingeschissen hatten, eine so genannte Brühe war das. Es gab weder Rechtsanwalt noch Arzt, und dann war man immer von fremdsprachigen Menschen umgeben, die einem nie Auskunft gaben. Irgendwann war ich dann soweit, meine Mutter zu belasten. Als mir in der Einzelhaft klar wurde, was ich meiner Mutter angetan hatte, habe ich natürlich versucht, mich zu beseitigen. Ich band mir ein Taschentuch um den Hals, steckte einen Löffel hinein und drehte es fest. Durch die Strangulation war das Bewusstsein sofort weg. Ich fand mich auf dem Fußboden wieder, zitternd. Es hatte nicht funktioniert. Das war der Tiefpunkt, auf den sich alles bezieht, was ich tue.“

Ein Geständnis, das Aufmerksamkeit erregte und zu einer fragwürdigen Reputation führte, ist das von Christa Wolf, die 1993 in der Berliner Zeitung ihre Vergangenheit (1959-1962) als Inoffizielle Mitarbeiterin (IM) der Stasi zugab. Die Bild-Zeitung titelte ironisch: „Unsere berühmteste Schriftstellerin Christa Wolf: Ich war IM … aber ich wusste es nicht.“ Das Geständnis erlangte eine besondere mediale Zugkraft, weil die ehemals in der DDR lebende und schreibende Autorin sich bis zur deutschen Wiedervereinigung in beiden Teilen des Landes einer unbestrittenen Hochachtung als geschätzte und bedeutende Schriftstellerin sicher sein durfte. Die Fallhöhe war hoch, das Interesse umso größer.809

Z USAMMENFASSUNG Blättert man durch den Katalog der schriftstellerischen Selbstdarstellungsstrategien, die sich über die Jahrhunderte ausgebildet und immer weiter ausgeformt haben, so wird offenkundig, worin sich die strategische Kunst der intellektuellen dichterischen Selbstdarstellung von der auf dem medialen Feld geläufigen Inszenierung sogenannter Celebrities (also von denen der Musiker und Schauspieler) unterscheidet: Die Selbstdarstellung der Literaten funktioniert in erster Linie über die Instrumentalisierung der sprachlichen Fähigkeiten (etwa in „Offenen Briefen“, durch „Ironie“, „Selbstdemontage“ oder das „Evozieren von Tabu-Brüchen“) und die Übertragung der so avisierten Distinktion in prägnante Bilder, „Gesten“ und „Markenzeichen“, die durch verschiedene mediale Darstellungsformen (wie „Fotografien“, „Websites“ und „Fernsehauftritte“) perpetuiert werden. Entscheidend für die schriftstellerische Inszenierung ist somit die Instrumentalisierung des Geistes, nicht der Physis. Zwar scheint

809 An Christa Wolfs Reputation war erstmals gezweifelt worden, als sie 1990 ihre bereits 1979 entstandene Erzählung Was bleibt? veröffentlichte. Darin beschrieb sie die Nöte und Sorgen einer ihr selbst zum Verwechseln ähnlichen Erfolgsautorin, die in der DDR um ihre sprachliche und politische Identität kämpfte. Die Erzählung wurde zum Ausgangspunkt einer Debatte, in deren Verlauf ihr intellektuelles Versagen, politisch, affirmative Gesinnungsästhetik und die Erfüllung der Funktion der treuen Staatsdichterin vorgeworfen wurde. Vorwürfe, die in dem Geständnis und den eingangs zitierten Schlagzeilen kulminierten.

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der stilisierte, derb-ruinöse Umgang mit dem eigenen Körper, in erster Linie durch den Gebrauch von Drogen, die Schriftsteller mit der Zunft der Rockstars zu vereinen, doch dadurch die Aura des Rebellen zu erlangen, glückt Jimi Hendrix, nicht jedoch Peter Rühmkorf.810 Auch glamouröse, göttinnenhafte Stilisierungen (man denke etwa an Marylin Monroe) sind bei Literatinnen bisher nicht von Erfolg gekrönt. Obwohl einige lasziv-boulevardeske Schriftstellerinnen-Inszenierungen eine gewisse Aufmerksamkeit erzeugen konnten(wie es etwa Sybille Berg gelang, die sich für ein Cover-Shooting ihres Romans blond gelockt auf dem Sofa räkelte, oder auch Elfriede Jelinek, die im Zwanziger-Jahre-Outfit für die Zeitschrift Stern auf der Bettkante im Hotel Sacher posierte), wirkten diese Inszenierungen eher wie Zitate oder IkonenKarikaturen, nicht aber imagebildend. Die inszenierte Erotik der Filmstars, die ihre Weiblichkeit durch verspielte oder pompöse Schmuck- und Kleidungsstücke bzw. Körperstellen freilegende Enthüllungen stilisieren, kommt also auf dem literarischen Feld aufgrund der illusio der Intellektualität nur in unfreiwillig komischer Form, nicht jedoch als ernsthafte Möglichkeit der Repräsentation in Betracht. Lediglich in intellektueller Umkehrung des Prinzips und der bewussten, das Frauenbild kritisch hinterfragenden und dekonstruierenden Form findet sich die Strategie der Körperinszenierung (wie Else Lasker-Schüler sie mit ihrer Dissimulation gewählt hat) oder in pathologischer oder kreativer Überzeichnung (wie Alexa Hennig von Lange sie praktizierte). Hinzu kommen Strategien, die ausschließlich auf dem literarischen Feld möglich und erfolgsversprechend sind wie die „peritextuelle Verführung“ durch geschickt gewählte „Widmungen und Motti“, durch ein klug inszeniertes namedropping sowie „Klappentexte“ und dort in hoher Auflage abgedruckter „Autorenfotos“. Auch das „autobiografische Erzählen“ und die Fähigkeit, in öffentlichen Interviews Spannungsbögen aufzubauen, unterhaltsame oder verstörende Lebensgeschichten zu entspinnen (wie etwa Jelineks Priesterbeichte, Kempowskis BautzenErlebnisse oder Paulo Coelhos okkultistische Erfahrungen) und sich öffentlichkeitswirksam mit Anekdoten ins Gespräch zu bringen, gelingt den Schriftstellern durch ihr besonderes erzählerisches Talent. Ihnen verzeiht man außerdem mögliche fiktionale Ausformungen der Episoden, wodurch sich die schriftstellerische Selbstinszenierung von Inszenierungen auf anderen Feldern (wie dem politischen oder dem wirtschaftlichen Feld) grundlegend unterscheidet. Aus der vergleichenden Zusammenschau der historischen und der aktuellen Selbstdarstellungsstrategien der öffentlichen Autoren lässt sich ein Inszenierungsmodell ableiten, das Aufschluss zu geben verspricht über die Ursachen und Hintergründe der Selbstdarstellung sowie Einblicke verheißt in die Psychologie der Selbstinszenierung.

810 „Mir sind unter Hanfeinfluss eine Menge guter Zeilen gelungen, ich weiß heute noch, welche. Die Drogenwelt gehört zur Vorsphäre der Poesie“, sagt Rühmkorf und wendet ein: „Es gibt Situationen, wo man völlig stoned […] nur noch in sich hineindöst. Das sind keine fruchtbaren Zustände.“ (Peter Rühmkorf, in: Michaelsen, Starschnitte, S. 213.)

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Das Inszenierungsmodell Ein psychologischer Exkurs in fünf Akten Erster Akt: Die Schlüsselszene Der entscheidende Teil einer jeden Sache ist ihr Ursprung. – Potentissima pars est unius cuiusque rei principium.811

Betrachtet man nun die dichterische Selbstdarstellung als komplexes Arrangement, das durch vergangene, gegenwärtige und antizipierte Aspekte bestimmt wird, dann treten unweigerlich verschiedene Phasen der Inszenierung als Teil einer abstrakten Struktur zutage. Für den Ursprung der Selbstdarstellung hat der Sozialpsychologe de Sousa den Begriff der Schlüsselszene geprägt.812 In qualitativen Studien fand er heraus, dass menschliche Kompensationshandlungen nur dann auftreten, wenn es eine dieses Verhalten auslösende, oft frühkindliche Schlüsselszene gegeben habe. Jede Schlüsselszene setzt sich aus drei Elementen zusammen: Erstens gibt es stets ein individuelles prägendes Ereignis (in dem bereits bekannten Beispiel Peter Handkes ist es ‚das kindliche Baden‘)813. Im Handlungsrahmen dieser prägenden Erfahrung existiert zudem ein dominierender Gegenstand (um beim Erlebnis des badenden Handkes zu bleiben: ‚der Stöpsel‘ in Verbindung mit dem Element des Wassers). Zweitens wird jede Schlüsselszene durch das agierende Personal determiniert (Handkes Badeszene zeichnet sich durch deren ‚Abwesenheit‘ aus). Drittens wird die Schlüsselszene durch die Reaktionen charakterisiert, die für den sich aus der Szene entwickelnden Gefühlshaushalt bestimmend ist (im gewählten Beispiel: ‚Handkes Schrei‘, der ohne Resonanz bleibt und nichts weniger signalisiert als unerhörte Hilflosigkeit). Ciompi fokussiert daran anknüpfend in seiner Theorie der Affektlogik den Einfluss einer spezifischen Grundemotionen auf die Kognition und die Art des Denkens: Gefühle wirken als Motivatoren, welche das menschliche Verhalten und die Selbstin-

811 Petrus von Blois (Blesenius): Opusculum de distinctionibus in canonum interpretatione adhibendis sive ut auctor voluit. Hrsg. v. Gottlieb A. Reimarus. Berlin 1837, S. 6. (Es handelt sich um den ersten Satz seiner Distinktionen-Sammlung.) 812 Vgl. Ronald de Sousa: Die Rationalität des Gefühls. Frankfurt a. M. 1997, S. 298 ff. (Kritik an der biografisch orientierten Emotionstheorie übten die Konstruktivisten, für die Gefühle kulturell geprägt sind; vgl. dazu z. B. Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität (1982), Frankfurt a. M. 2003, dort auf S. 9: Liebe beispielsweise (aber auch Angst) sei kein Gefühl, „sondern ein symbolischer Code, der darüber informiert, wie man in Fällen, wo dieser eher [un]wahrscheinlich ist, dennoch erfolgreich kommunizieren kann. Der Code ermutigt, entsprechende Gefühle zu bilden.“) 813 Das vollständige Beispiel siehe: „Praktiken der Selbstdarstellung. Autobiografisches Erzählen: Der Urschock. Oder: Die mit vielen Zutaten belastete Wiege“, S. 237 f. in diesem Buch.

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szenierung leiten, sie öffnen Schleusen, schaffen Kontinuität, bestimmen die Hierarchie der Denkinhalte und Themen und reduzieren Komplexität.814 Averill bezeichnet diese von Ciompi charakterisierten Motivatoren als emotionale Kreativität.815 Averill unterscheidet zudem drei aufeinander aufbauende Stufen: a) den Erwerb von Emotionen (die Akquisition), b) die Verfeinerung und Vervollkommnung des Gefühls und Affekts durch Wiederholung in ähnlichen Kontexten (das Raffinement), c) den inszenatorischen Wandel und die eigenwillige Darstellung des Affekts (die Transformation). Dies alles zusammengenommen ergibt die sogenannte Kunst der Emotionen (ARTs), die ein wesentliches Moment der persönlichen Selbstdarstellung und individuellen Mythenbildung ist. Die Schlüsselszene kann, auch wenn sie erst im Verfahren des rückblickenden Erzählens intentional stilisiert wird, als ein wesentliches Urereignis der mythologischen Selbstwerdung betrachtet werden. Mit ihr ist ein erstes, in der Vergangenheit lokalisiertes Einzelelement im strukturellen Aufriss der Selbstinszenierung benannt, das in der Regel metaphorischen und parabelhaften Wert hat. Die mythologische Ursprungsszene kann breit, heroisch und poetisch entfaltet werden (wie Goethes Darstellung seiner Geburt), sie kann auch pathologisch unterlegt sein (wie bei Jelinek und ihrem frühkindlichen Konflikt mit ihrer Mutter), sie kann leise geschehen, unreflektiert und unerkannt bleiben oder in Andeutungen verschwiegen werden (wie Nietzsche, der über seine Herkunft im ersten Kapitel des Ecce Homo schreibt: „Das Glück meines Daseins, seine Einzigartigkeit vielleicht, liegt in seinem Verhängnis: Ich bin, um es in Rätselform auszudrücken, als mein Vater bereits gestorben, als meine Mutter lebe ich noch und werde alt. Diese doppelte Herkunft […] erklärt jene Neutralität, jene Freiheit von Partei im Verhältnis zum Gesamtproblem des Lebens, die mich vielleicht auszeichnet.“816) Die schriftstellerische Ursprungsszene ist von anthropologischer und mythologischer Brisanz. Angesichts der Schlüsselszene verflüchtigt sich außerdem die Unterscheidung von Authentizität und Illusion, weil sich in der emotional grundierten Erinnerung beide Momente überlagern und vereinen. Diese Schlüsselszene sowie die mit ihr verbundenen Kindheitsmuster sind somit sowohl der Urgrund für den tatsächlichen Gefühlshaushalt als auch für die mythologische Selbststilisierung, das heißt, die Schlüsselszene ist strukturell der Inszenierung vorgeschaltet als emotional auslösendes Moment, aber zugleich retrospektiv in das Selbstbild integriert und wichtiges Moment der öffentlichen Stilisierung.

814 Luc Ciompi: Die Hypothese der Affektlogik. In: Spektrum Wissenschaft. 1993, Heft 2, S. 76-87. Siehe auch: Ders.: Affektlogik. Die Untrennbarkeit von Fühlen und Denken. In: J. Fedrowitz/D. Matejoviski/G. Kaiser (Hrsg.): Neuroworlds. Gehirn, Geist, Kultur. Frankfurt a. M., New York 1994. 815 Vgl. James Averill/Elma Nunley: Die Entdeckung der Gefühle. Ursprung und Entwicklung unserer Emotionen. Hamburg 1993, S. 20 ff. 816 Friedrich Nietzsche: Ecce Homo. Wie man wird, was man ist. Hrsg. v. Volker Gerhardt. München 2005, S. 14, vgl. auch S. 18 ff.

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Zweiter Akt: Das Kernthema und die Lebensspielregeln Ein Schriftsteller muss sein Trauma kultivieren. Ich hatte mein Schlüsselerlebnis als 5-Jähriger. WALTER KEMPOWSKI817

Modellhaft gedacht, setzt der Inszenierungsvollzug neben der Schlüsselszene mindestens ein durch diese begründetes, individuelles Kernthema (core relational theme818) voraus – und alsbald in Szene.819 Die Art der kognitiven Überformung der frühen Erlebnisse und die Entstehung von core relational themes sorgen dafür, dass sich auf dem Fundament der Emotionen bestimmte Lebens- und auch Inszenierungsstrategien habituell herausbilden.820 Richard Lazarus definierte fünfzehn Grundemotionen (Ärger, Angst, Furcht, Schuld, Scham, Traurigkeit, Neid, Eifersucht, Ekel, Freude, Zufriedenheit, Stolz, Liebe, Hoffnung, Mitgefühl), die bei dem Einzelnen als lustvolle oder unlustvolle Reaktion auf sein aktuelles oder lebensmotivisches Kernthema auftreten können. Während bei Günter Grass etwa die (inszenierte) Scham das dominierende öffentliche Emotionsmuster und die Generalisierung seines Kernthemas darstellt, das auch in seinen Reden, Essays und Werken Niederschlag findet und das seinen mythologischmoralischen Gestus begründet, definiert Jelinek ihr Lebensgefühl qua Ekel, das sie in der inszenierten Groteske variiert, und bei Peter Handke ist es die Grundemotion der Angst, die ihn seit Kindestagen begleitet, ihm literarisch zum Motivkomplex wird und sich in seiner Titelwahl niederschlägt (Die Angst des Tormanns beim Elfmeter),

817 Walter Kempowski, in: Michalesen, Starschnitte, S. 102. 818 Richard Lazarus: Emotion and Adaption. New York 1991. 819 Lazarus geht davon aus, dass die Art und Ausprägung zwischenmenschlicher Beziehungen mit prägenden Schlüsselereignissen korrespondieren und sich durch die Wiederholung ähnlicher Erfahrungssequenzen in emotionalen Mustern verfestigen, die nach bestimmten Schlüsselreizen in wiederkehrenden Situationen abgerufen und aktualisiert werden. Jedes Gefühl weist demnach eine habituelle Bedeutung auf und tritt zweck- und zielgerichtet in Erscheinung. (Vgl. Richard Lazarus: Emotion and Adaption. New York 1991, S. 133 ff.) 820 Die dem individual-lebensgeschichtlichen Kernthema zugrundeliegenden Kognitionen und Emotionen definieren die Emotionspsychologen Kleinginna und Kleinginna als „ein komplexes Interaktionsgefüge“, das von physischen und psychischen Körperregulierungen gesteuert werde, die „a) affektive Erfahrungen, wie Gefühle der Erregung oder Lust/Unlust, bewirken können; b) kognitive Prozesse, wie emotionale relevante Wahrnehmungseffekte, Bewertungen, Klassifikationsprozesse, hervorrufen können; c) ausgedehnte physiologische Anpassungen an die erregungsauslösenden Bedingungen in Gang setzen können; d) zu einem Verhalten führen können, welches oft expressiv, zielgerichtet und adaptiv ist.“ (P. R. u. A. M. Kleinginna: A Categorized List of Emotional Definitions. With Suggestions for a Consensual Definition. In: Motivation and Emotion. 05/1981, S. 345-379.)

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aber auch abgewandelt durch die angstinduzierten Gefühle wie Schrecken und Schmerz Ausdruck findet (Der gewöhnliche Schrecken, Wunschloses Unglück, Der Chinese des Schmerzes). Aus dem mythos-generierenden Kernthema heraus und um dieses herum gruppieren sich die sogenannten individuellen Spielregeln, die display rules. Diese Lebensspielregeln sind definiert als biografische, sich ebenso spielerisch wie existenziell um ein spezifisches Gefühl entfaltende habituelle Eigenheiten.821 Die display rules lassen sich analog zu den Spielarten des literarischen Feldes deuten: als Spielarten, die der Einzelne noch nicht zwingend positionsbestimmend entwickeln muss, aber in Bezug auf seinen Charakter und den damit verbundenen Möglichkeiten der Darstellung auslebt. Sie bestimmen zum Beispiel, ob die Raffinesse der Selbstdarstellung (und der Einsatz seiner Jetons, wir erinnern uns an das Pokerspiel auf dem literarischen Feld) in ironischer Besonnenheit, bedachter Exaltiertheit, geduldiger Bescheidenheit oder in vielen anderen Varianten geschieht. Indem der Einzelne sein persönliches Kernthema, das sich um das prägende Gefühl konzentrisch anordnet, kolportierend wiederholt, kann es ihm gelingen, die Eigentümlichkeiten seines Daseins diskursiv zu festigen. Der auf individuelle und instinktive Regungen zurückgehende Ausdruck eines Literaten kann außerdem durch Übertreibung innerhalb der Selbstdarstellung verstärkt werden (z. B. durch „hypostasierte Authentizität“ oder die radikale „Selbstdemontage“), er kann („ironisch“) abgeschwächt oder („dissimulierend“) maskiert werden – und er kann somit auch willentlich kontrolliert, narrativ ausgestaltet und kuntsvoll inszeniert werden.822

Dritter Akt: Aufmerksamkeitserzeugung Stets verdrängt die größere Bewegung die geringere. ARISTOTELES823

Sind die Gefühle, die im Inneren eines Dichters toben mögen, auch wild, die fremde Wahrnehmung bzw. der Blick auf den öffentlichen Autor von außen ist es meist nicht. Das alltägliche Wahrnehmungsgeschehen gleicht einem ruhigen Fluss. Um in diesem kleine Wirbel und Strömungen zu erzeugen, bedarf es einer Unterbrechung des gleichförmigen Stromes. Der Dichter muss also einen Teil seines Inneren nach außen tragen, um die öffentliche Wahrnehmung zu irritiren und Aufmerksamkeitswirbel zu generieren. Außergewöhnliche Wirkungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie „den normalen Gang der Erfahrung durchbrechen, nur indirekt zu greifen sind, nämlich in der Abweichung von Gewohntem und in der Form von Bewegungsüberschüssen, die den

821 Burkhard Meyer-Sickendiek: Affektpoetik. Würzburg 2005, S. 47 f. 822 Vgl. Paul Ekman/W. V. Friesen: The repertoire of nonverbal behavior. Categories, origins, usage, coding. In: Semiotica 1/1969, S. 49-98. 823 Aristoteles: Über die Sinne. 7: 447 a.

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Rahmen bestehender Sinngefüge und Regelsysteme überschreiten.“ 824 Literarisch betrachtet ist der Vorgang der Aufmerksamkeitserzeugung nur ein kleines Element von anderen im dramatischen Prozess der Darstellung. In der dichterischen Selbstdarstellung begründet dieses Element jedoch den Tatbestand, dass ein Kernthema überhaupt in den öffentlichen Diskurs hineingetragen wird und sich in der Folge zu einem Mythos ausbilden kann. Voraussetzung für jede Inszenierung ist das Aufmerken. 825 „Das Aufmerken, mit dem die Aufmerksamkeit anhebt, wird durch Signale initiiert, die anzeigen, dass es etwas zu bemerken gibt.“ Solche natürlichen oder künstlich vom Akteur hergestellten Signale, Waldenfels prägte dafür den Begriff der idee-force826, übernehmen eine Auslösefunktion.827 Geht es bei der inszenierten Aufmerksamkeitserzeugung zunächst darum, „dass überhaupt etwas in der Erfahrung auftritt, dass gerade dieses und solches auftritt und nicht vielmehr anderes und dass es in einem bestimmten Zusammenhang auftritt“828, so lässt sich die Aufmerksamkeitslenkung durch eine gezielte Repräsentation dadurch erweitern, dass die von den Schriftstellern angebotene Erfahrung die dargebotenen Erfahrungen anderer verdrängt oder überdeckt. Darüber hinaus, empfiehlt Waldenfels, sollten sich die persönlichen Praktiken (der Selbstinszenierung) in wiederholbaren Qualitäten sedimentieren (Husserl) sowie die Ereignisse des Auffallens körperlich habitualisieren lassen. Den Aufmerksamkeitssignalen entsprächen dann bei jedem Schriftsteller dauerhafte Aufmerksamkeitseinstellungen, die von Situation zu Situation aktualisiert werden. So kommt es zu wechselnden Formen der Konzentration und der Zerstreuung, speziell aber zur Ausbildung bevorzugter Mythen.

824 Vgl. Bernhard Waldenfels: Von der Wirkmacht und Wirkkraft der Bilder. In: Gottfried Boehm et al. (Hrsg.): Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt. München 2008, S. 4764, 52 f. 825 „Wahrnehmen beginnt damit, dass uns etwas auffällt, Denken damit, dass uns etwas einfällt, Begehren damit, dass uns etwas anzieht.“ (Bernhard Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit. Frankfurt a. M. 2004, S. 121.) 826 Bernhard Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit. Frankfurt a. M. 2004, S. 121. Beim Autor ist diese idee-force, jenes die Aufmerksamkeit steuerndes Signal, sein Habitus, den er über lange Jahre gepflegt und etabliert hat und der ihm so eine dauerhafte idee-force (Signalwirkung) zusichert. In der Gestalttheorie ist die idee-force durch den Begriff des Aufforderungscharakters repräsentiert, in der Ethnologie ist diese Idee bekannt als Auslöseschema. 827 In ähnlicher Weise wie Waldenfels beschreibt Seel die idee force, jenes performative punctum: Seel spricht von einer „phänomenalen Fülle“ von Indizien, die in dem Raum und für die Dauer des Aufmerkens „in einer sinnlich prägnanten, aber begrifflich inkommensurablen Besonderheit“ gegenwärtig sein müssen, um den Aufmerksamkeitsreiz auszulösen. (Vgl. Seel, Inszenieren als Erscheinenlassen, S. 56 f.) 828 Waldenfels, Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 16 (Herv. i. O.).

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Wie im klassischen Drama hat das Hauptelement eine schöne Helferin, die Provokation. Sie ist Hebamme für fast jede Inszenierung.829 Sie ermöglicht, dass die einzelnen Kernthemen und Inszenierungsstrategien ausgespielt und wahrgenommen werden können. Meist beruht ihre Strategie auf der Umwertung der gewohnten Werte830 und der Fähigkeit, das Niedrige zu erhöhen und das Hohe zu entmachten. Aus diesem Spiel erwächst letztendlich die Wirkung – oder auch ein spezifischer Skandal. Ein solcher entsteht, wenn am Knotenpunkt zwischen der Selbstinszenierung und der Gesellschaft ein Tabu verletzt wird. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Begriff ‚Skandal‘ „nicht die Verletzung einer sozial gültigen Norm“ bedeuten muss, sondern ebenso „die akzeptierte Etikettierung eines Ereignisses oder Sachverhaltes als nicht normenkonform“831 bezeichnen kann. Die skandalöse und Aufmerksamkeit auslösende Wirkung beruht damit auf dem „Zusammenwirken einer sachlich scheinbar richtigen Vorstellung und einer moralisch scheinbar notwendigen Erregung, die […] sich im Verlauf des Skandals gegenseitig hochschaukeln.“832 Was auf dem literarischen Feld als skandalfähig gilt, bestimmt einerseits soziologisch betrachtet die ungeschriebene illusio des Feldes und schließt andererseits emotionspsychologisch betrachtet „Züge des Widrigen, Unerwünschten und auch das Verletzende“ 833 ein. Die starke Emotionalisierung von Skandalen, die einen Bruch in den Deutungsmustern und Veränderungen, die noch nicht eingetreten sind, erahnen lässt, wird meist begleitet von unsachlichen Abwehrreaktionen seitens der Öffentlichkeit. Abwertungen, wie sie nicht nur Jelinek („Nestbeschmutzerin“)834 und Grass („Literaturbetriebsintrigant“)835 über sich ergehen lassen müssen, haben vor allem die Funktion, Gleichgesinnte (seien es Kritiker oder die literarisch interessierte Öffentlichkeit) hin-

829 Vgl. Andreas Freinschlag: Theorie literarischer Provokation. Eine Grundlegung. Wien, Köln, Weimar 2008. 830 Vor diesem Hintergrund darf man es bereits als Provokation deuten, dass es auf dem literarischen, intellektuellen Feld eine solche öffentliche Selbstinszenierung gibt, und zwar in den gezeigten Formen. 831 Roland Hitzler: Skandal ist Ansichtssache. Zur Inszenierungslogik ritueller Spektakel in der Politik. In: Rolf Ebbighausen/Sighard Nickel (Hrsg.): Anatomie des politischen Skandals. Frankfurt a. M. 1989, S. 334-354, 334. 832 Hans Mathias Kepplinger: Die Kunst der Skandalisierung und die Illusion der Wahrheit. München 2001, S. 60 f. 833 Waldenfels, Von der Wirkmacht und Wirkkraft der Bilder, S. 50. 834 Eine Sammlung der kritischen Besprechung und Beschimpfungen Jelineks, von denen die Stigmatisierung als „Nestbeschmutzerin“ eine der harmloseren ist, hat Janke archiviert; vgl. Pia Janke (Hrsg.): Die Nestbeschmutzerin. Jelinek und Österreich. Salzburg 2002. 835 Eine Schmähschrift über Günter Grass gab Klaus Bittermann heraus. Unter dem Titel: Literatur als Qual und Gequalle versammelt Bittermann ohne kritische Distanz und mit einem von ihm verfassten Vorwort (unter der Überschrift: Lutschen am Brühwürfel. Über den Literaturbetriebsintriganten Günter Grass) die Person Grass betreffende Offene Briefe und Verrisse; z. B. von Gerhard Henschel (Tagebuch eines Gockels), Wiglaf Droste (Heimkehr eines Denunzianten) und vorgeblich ironisch Fritz Eckenga (Beim Läuten der Zwiebel).

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ter sich zu versammeln und den Kampf um Deutungshoheit zu den eigenen Gunsten zu entscheiden. „Der moderne Skandal bildet demnach so etwas wie ein Äquivalent zu traditionellen Formen informeller sozialer Kontrolle, die im vorgesetzlichen Bereich approbierte […] Bräuche, Normen und Werte stabilisieren: Im Skandalierten personifiziert sich sozusagen eine kulturell problematische Verhaltensweise, das heißt er wird zum negativen Vor-Bild, zum ‚Unwunschbild’[…] für das Skandalpublikum, das sich mit der Akzeptanz der Etikettierung quasi automatisch indirekt selber zu ‚korrektem’ Verhalten verpflichtet.“836

Schriftstellerinszenierungen können besonders publikumswirksam sein, wenn die Schriftsteller „Themen aufgreifen, mit denen sie – durchaus im Sinne der Psychoanalyse – geheime Wünsche der Rezipienten an- oder aussprechen.“837

Vierter Akt: Nachhaltige Sichtbarkeitsstrategien „Wahrnehmen beginnt damit, dass uns etwas auffällt, Denken damit, dass uns etwas einfällt, Begehren damit, dass uns etwas anzieht.“ BERNHARD WALDENFELS838

Ist durch die idee-force und die psychologisch induzierte Provokation ein erstes Aufmerken erzeugt, so geht es in der Folge darum, das Wahrgenommen-Werden in ein Bemerkbar-Bleiben zu verwandeln. Eine Taxonomie des Bemerkbar-Bleibens haben Tedeschi und Norman auf der Grundlage empirischer Studien entwickelt: 839 Als Strategien der Selbstdarstellung, mittels derer ein Akteur sich bemüht, eine dauerhafte Anerkennung zu erwerben (und so symbolisches Kapital anzuhäufen), nennen sie fünf sogenannte assertiven Impression-Management-Strategien. Dazu gehören: 1) der Nachweis von Kompetenz und Expertentum (competence and expertise), 2) Attraktivität (attractiveness), 3) Status und Prestige (status and prestige), 4) Glaubwürdigkeit und Vertrauenswürdigkeit (credibility and trustworthiness) sowie 5) Offenheit (self-disclosure). Sich selbst im Zuge gezielter Aufmerksamkeitserzeugung competence and expertise zuzuschreiben und über sich selbst Informationen zu verbreiten, die der eigenen Person Fachkompetenz attestieren, sei zwar, so meint Tedeschi, kein Zeichen von

836 Hitzler, Skandal ist Ansichtssache, S. 334 f. 837 Stefan Neuhaus: Skandal im Sperrbezirk? Grenzen und Begrenzungen der Wirkung von Kunst- und Literaturskandalen. In: Ders./Holzner, Literatur als Skandal, S. 41-53, 46. 838 Bernhard Waldenfels; Phänomenologie der Aufmerksamkeit. Frankfurt a. M. 2004, S. 121. 839 J. T. Tedeschi/N. Norman: Social power, self-presentation, and the self. In: B. R. Schlenker (Hrsg.): The self and social life. New York 1985, S. 293-322.

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großer Bescheidenheit, aber im Alltag und im literarischen Leben ratsamer als eigene Fähigkeiten zu verschweigen. Unter dem Begriff der attractiveness sei die positivemotionale Wirkung, die Sympathie oder Beliebtheit einer Person zu verstehen, die als wichtige Ressource sozialer Macht gilt. 840 Die Techniken, Attraktivität zu erreichen, seien vielfältig und beziehen sich nicht allein auf die äußerliche Erscheinung: „Zuviel Kompetenz oder Fähigkeiten zu besitzen oder zu präsentieren, kann […] hinderlich sein. So neigen manche Menschen dazu, sich entweder grundsätzlich oder aber zeitweise etwas ‚dümmer zu stellen’ als sie sind oder zu sein glauben, nur um für ihre Interaktionspartner attraktiver zu sein.“841

Ganz gleich, ob sich die Attraktivität auf die reine Körperwirkung bezieht oder soziale und intellektuelle Attraktivität einschließt, ihr Verstärkungswert in sämtlichen Interaktionsprozessen bleibt unbestritten. Unter status and prestige ist jene Fähigkeit zu verstehen, sich selbst ein möglichst hohes Ansehen durch die Außendarstellung von Statussymbolen, Kleidung und prestigeverheißenden Gegenständen zu verleihen, sich also einen sichtbar besonderen Habitus zu geben. Derlei Repräsentationen suggerieren auf einer beim Rezipienten oft unbewusst bleibenden Wahrnehmungsebene und auf einer konservativen oder archaisch zu nennenden Bewertungsebene etwaige Macht, Einfluss oder Erfolg.842 Die Selbstdarstellungsstrategie des self-disclosure wiederum bedeutet, sich zu öffnen und Wesenseigenes preiszugeben. Diese Strategie ist gemäß Tedeschi für das Hervorrufen von credibility & trustworthiness relevant, die dazu beitragen, dass der Akteur „beliebter und vertrauenswürdiger wirkt, also allgemeiner als sympathischer und somit attraktiver“ 843 wahrgenommen werde. Derjenige, der sich öffnet, könne zudem den positiven Effekt erzielen, „dass sich seine Interaktionspartner sozusagen im Gegenzug wiederum ihm öffnen, so dass sich seine Einflussmöglichkeiten weiter vergrößern.“ 844 Ein für die Glaubwürdigkeit und Vertrauenswürdigkeit des Schriftstellers durchaus relevantes Grundelement ist der verbale Akt der Verschleierung, dass eine Selbstinszenierung überhaupt avisiert sei: Das Funktionieren der Einheit von Autorperson und Selbstdarstellung scheint in gewissem Maße davon abhängig zu sein, dass die Strategien der Selbstdarstellung im medialen Alltag unhinterfragt bleiben und die öffentlichen Einlassungen zwar das Profil konturieren, die darstellerischen Mechanismen selbst aber nicht in den Blick geraten. Die Wirkung jeder Inszenierung ist somit impulsüberformend (etwa Goethes Episoden aus der frühen Kindheit, Grass’

840 Vgl. J. R. P. French jn./B. Raven: The bases of social power. In: D. Cartwright (Hrsg.): Studies in social power. Michigan 1959, S. 118-149. 841 Mummendey, Psychologie der Selbstdarstellung, S. 143 842 In der Sozialpsychologie werden den Begriffe Status und Prestige unterschiedliche Bedeutungen zugeschrieben. Prestige drückt in der Regel eine nicht unbedingt an eine Rolle, Funktion oder Position gebundene Ressource des sozialen Einflusses aus. Status verweist hingegen auf eine durch ein Amt oder eine Position legitimierte Autorität. 843 Mummendey, Psychologie der Selbstdarstellung, S. 145. 844 Ebenda, S. 145.

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moralische Einlassungen oder Jelineks nihilistische Beichten). Die Wirkung ist zudem stets einheitstiftend und realisiert sich dann ungehinert, wenn sie nicht als Inszenierung erkannt und nicht als solche gelesen wird, wenn also die Selbstinszenierung in der Darstellungswirkung keine Hinweise und Details preisgibt, die eine Verunsicherung über die Authentizität evozieren könnten. Insofern gelte auch für die Selbstinszenierung das, was Jacques Derrida für die Form des parergon, der Rahmung, allgemein festgehalten hat, dessen „traditionelle Bestimmung [es] ist […] zu verschwinden, zu versinken, zu verblassen, in dem Augenblick zu zerfließen, in dem es seine größte Energie entfaltet.“845 Die aktive Verschleierung einer Selbstdarstellungshandlung kann mithilfe von vier grundlegenden Techniken geschehen. Erstens durch den Hinweis, bei der Preisgabe privater Details einzig und allein Selbsterkenntnis erlangen und die Wahrheit des menschlichen Seins ergründen zu wollen, also Wahrhaftigkeit anzustreben (wie Rousseau, der seine autobiografischen Schriften hinweisend einleitete mit den Worten: „Ich habe mich so gezeigt, wie ich gewesen bin: verächtlich und niedrig, wo ich es war, […] so enthüllt, wie du selber es geschaut hast, ewiger Geist.“846). Eine zweite wirkungsvolle Variante zur Verschleierung der Inszenierungsabsicht ist, die eigene Bescheidenheit und Scheu zu betonen sowie öffentlich eine angestrebte Zurückgezogenheit zu behaupten (wie Peter Handke, der, als er im Sommer 2003 von der Universität Salzburg die Ehrendoktorwürde verliehen bekam, in seiner Dankesrede verkündete: „Das ist das letzte Mal, dass ich mein Idiotentum öffentlich zeige. In der Antike haben die Idioten noch abseits der Stadt gelebt, heute stehe zu viele davon in der Öffentlichkeit.“ Seinen Vortrag schloss er mit den Worten: „Ab jetzt könnt ihr mich vor Gericht bringen, wenn ich noch einmal öffentlich auftreten soll.“847). Sobald eine öffentliche Aufmerksamkeit hergestellt ist, kann drittens die Beteuerung der Absichtslosigkeit der selbstdarstellerischen Wirkung dazu dienen, die Zielgerichtetheit der Handlung zu verbergen (ganz so wie Thomas Glavinic es tat, als er beteuerte: „Nicht im Traum hätte ich daran gedacht, dass der Kameramörder ein Skandalbuch werden könnte. Ich habe immer gehofft, dass ich mit Skandalen nichts zu tun habe […]. Manche Autoren spekulieren mit provokativen Themen und hoffen auf unerhörtes mediales Echo durch Tabubrüche und dergleichen, ich gehöre nicht zu ihnen. Ich finde es nachgerade unseriös. Diese Art von Literatur soll nur dem Autor nützen, ich hingegen wünsche mir, hinter meine Bücher zurücktreten zu können.“ 848). Viertens und letztens kann der Schriftsteller nachträglich seine Gleichgültigkeit gegenüber den eingetretenen Inszenierungseffekten versichern (so wie z. B. Günter Grass: „Wissen Sie“, erklärte Grass dem damaligen ARD-Vorsitzenden Fritz Pleitgen, „ich war 32, als mich der Erfolg einholte und damit auch der Ruhm. Und anfangs war das sehr lustig, das war gar toll, und dann merkte ich doch nach einer ge-

845 Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei (1978). Wien 1992, S. 82. 846 Rousseau, Bekenntnisse, S. 37. 847 Peter Handke zit. n. Dieter Heimböckel: Zwischen Elfenbein- und Fernsehturm. Peter Handkes (massen-)mediale Widerspruchsarbeit. In: Grimm/Schärf, Schriftsteller-Inszenierungen, S. 215-230, 217. 848 Thomas Glavinic zit. n. Sauermann Eberhard: „Kameramörder“ – doch ein Skandal? In: Neuhaus/Holzner, Literatur als Skandal, S. 666-677, 673.

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wissen Zeit, dass auf der einen Seite der Ruhm langweilig ist, weil sich die Dinge immer wieder so wiederholen.“849). Gelingt es dem Künstler, seine mediale Naivität zu plausibilisieren, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass seine Handlungen, sollten sie tatsächlich bewusst geplant gewesen sein, als solche interpretiert werden. Idealiter wendet er so ab, dass seine Selbstdarstellung auf ihre kognitive Antizipation, die bewusste Intention, ihre Kontexte und Entstehungsbedingungen hin befragt wird. Sie wird sodann wie selbstverständlich und unerschüttert als zufälliges und wahrhaftiges Ereignis rezipiert. Die Verschleierung der Handlungsabsichten wird möglich, da „die Sprache der Selbstdarstellung“850 als Sprache auch des Körpers den grundlegenden Prinzipien aller zeichenhaften Kommunikation unterliegt – und in der Regel tatsächlich, wie eingangs gezeigt, aus situativen Momenten generiert und durch spontane, nicht vollständig vorauszuplanende kontextuelle Gegebenheiten geformt und überformt wird. 851 In der Psychologie der Selbstdarstellung werden die assertiven, offensiven Sichtbarkeitsstrategien ergänzt durch defensive Strategien der Selbstdarstellung. Dazu zählt Mummendey das Entschuldigungsverhalten, das „geradezu pathologische Züge annehmen kann“, das self-handicapping als Selbstbeeinträchtigungsstrategie, bei der sich der Akteur lebensuntauglicher darstellt, als er in Wirklichkeit ist, sowie die Inszenierung und Funktionalisierung neurotischer Verhaltensweisen zur Bewältigung von Lebenssituationen.

Zu guter Letzt:Wirkungen Da Wahrnehmung im Allgemeinen eine Gesamterfahrung ist, ist auch die Wirkung, die eine Selbstinszenierung auslöst, zumeist holistisch. Die in einer Selbstdarstellung inszenierten Reize strömen ungeordnet auf die Sinnesorgane des Rezipienten ein und lösen in der Summe Gefühle, Assoziationen und rationale Reflexionen aus, die Anlass zur Wertung geben. Das Ineinandergreifen des Sichtbar-Werdens eines Schriftstellers und seiner ihm zugeteilten Aufmerksamkeit im öffentlichen Diskurs verspricht genau dann erfolgreich abzulaufen, wenn der Schriftsteller zweierlei beachtet: Zunächst sollte er überhaupt Reize aussenden – denn die Wahrnehmung setzt nahezu unabwendbar, genuin und automatisch ein, wenn etwas sichtbar wird:

849 Günter Grass: „Ich glaube, wir haben unsere Lektion gelernt.“ Gespräch mit Fritz Pleitgen. In: Der Spiegel, 10.10.2002. 850 Hans-Otto Hügel: Die Darstellung des authentischen Moments. In: Ders./Jan Berg/Hajo Kurzenberger (Hrsg.): Authentizität und Darstellung. Hildesheim 1997, S. 43-58, 52. 851 Mit Blick auf die rhetorischen Strukturen der verbalen und nonverbalen Selbstinszenierung spricht Hügel von der „Unreinheit der Zeichen“: „Unreinheit der Zeichen‘ bezeichnet das Phänomen, daß bei einer Mehrdeutigkeit zulassenden Sprache nicht eindeutig festgelegt ist, was am Zeichen Bedeutung trägt und was bedeutungslose Beigabe des Zeichenträgers ist […]. Diese Unreinheit bzw. Uneindeutigkeit ist kein Mangel, sondern begründet erst die produktive Kraft des Zeichensystems.“ (Ebenda, S. 53.)

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„Erfahrung, in der Überraschendes und Neuartiges auftritt, entstammt nicht dem intentional gerichteten, geregelten Akt eines Subjektes, das sein Augenmerk oder sein Gehör auf ein bestimmtes Subjekt richtet, sie beginnt vielmehr mit einem Ereignis des Sichtbar- und Hörbarwerdens.“852

Darüber hinaus sollten diese ausgesendeten Reize möglichst vielgestaltig sein und im menschlichen Wahrnehmungssystem einander ergänzen (visuell, sprachlich und performativ), um die Wirkung potenzieren zu können. Hat ein Teil der schriftstellerischen Selbstdarstellung als Auslöser der Aufmerksamkeit fungiert, ordnen sich diesem im Prozess der Rezeption weitere Teile der Selbstdarstellung in Bedeutung und Wertigkeit unter.853 Waldenfels unterscheidet in seiner Theorie der Aufmerksamkeit, zwischen drei möglichen (holistischen) Wirkungen: einer „Machtwirkung, die auf jemanden einwirkt“, einer „Kraftwirkung, die etwas bewirkt“854, und einer „Gewaltwirkung“, die einen hybriden Charakter aufweist: „Die Ausübung von Gewalt bringt es mit sich, dass man jemanden als etwas behandelt.“855 Die Machtwirkung, durch die der Betrachter der Selbstdarstellung unmittelbar beeinflusst wird, kann durch das von Roland Barthes thematisierte punctum forciert und durch eine erfolgreiche Sphärenvernetzung intensiviert werden. Diese Machtwirkung einer Inszenierung ist als subjektiv zu verstehen und nimmt auf den Betrachter (zum Beispiel während einer Lesung oder vermittels der Autoren-Website) Einfluss. Erst eine Vielzahl der Einzelwahrnehmungen und Wirkungen führt für den Schriftsteller zu wahrnehmbaren Rückkopplungseffekten auf dem weitgehend anonymisierten literarischen Feld. Von der Kraftwirkung hingegen, die direkt und gezielt etwas bewirkt (wie sie beispielsweise Buchbesprechungen in den einschlägigen Feuilletons oder Einladungen zu Fernsehinterviews haben können), profitiert der Schriftsteller insofern unmittelbar, als er durch sie symbolisches (und oft auch ökonomisches) Kapital anhäuft und dadurch seine Position auf dem energetischen Kraftfeld verbessert. Die Gewaltwirkung, die darauf basiert, dass man jemand als etwas behandelt, umfasst beispielsweise die Mythos-Bildung, durch die im Diskurs nachhaltige Wirkungen erzielt werden können (wie das Beispiel Handke zeigt, der als weltfremder Romantiker gilt oder Judith Hermann, die als Fräuleinwunder gehandelt wird). Gewaltwirkungen könnten hier (wenn man bereit ist, die Wirkrichtung umzukehren und frei zu interpretieren) als gewaltige, aber nicht als negative Wirkungen verstanden und im Horizont neutral konnotierter Wirkungen gedeutet werden, wie sie Foucault in den Dispositiven der

852 Waldenfels, Von der Wirkmacht und Wirkkraft der Bilder, S. 50. 853 So bestätigen auch neuere neurologische Untersuchungen zur audiovisuellen Interaktion, wie sehr allein Farb- und Gehöreindrücke einander beeinflussen und sich verstärken: So wird die Lautstärke der Fahrgeräusche eines rot gestrichenen Zuges von den beobachtenden Testpersonen höher eingestuft wird als die Lautstärke eines grün gestrichenen Zuges. (Vgl. Waldenfels, Von der Wirkmacht und Wirkkraft der Bilder, S. 50.) 854 Waldenfels, Von der Wirkmacht und Wirkkraft der Bilder, S. 51. 855 Ebenda, S. 52.

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Macht beschrieb, „von den moralischen Geboten befreit“, erfasst in der „Positivität des Funktionierens“.856 Mit einem langfristigem symbolischem Kapitalgewinn kann der Schriftsteller jedoch erst dann rechnen, wenn seinen Inszenierungen etwas anhaftet, das über das Provozierende und Skandalöse hinausreicht; etwas, das nicht nur kurzzeitig Wirbel erzeugt, sondern für die Zeit und das kulturelle Feld außergewöhnlich, im Sinne von out-standing, ist. Dieses individuelle Außergewöhnliche gilt es für jeden Einzelnen zunächst zu ergründen, zu bewahren, spielerisch auszubauen und diskursiv, in unterschiedlichen medialen Erscheinungsformen zu kolportieren, bis sich der eigene Mythos und in der Konsequenz das Image verfestigt hat und sich dessen Reflexion in die Form eines speziellen Dichtertypus gießen lässt. Nachfolgend werden nun exemplarisch unterschiedliche Formen von Dichtertypen vorgestellt, die an dieser Stelle mit einigen notwendigen Vorüberlegungen eingeleitet werden.

Auf dem Weg zu einer Typologie Notwendige Vorüberlegungen Es ist möglicherweise etwas gewagt, eine Berufsgruppe in einem Gedankenmodell (in der Tradition Bourdieus „konstruierter Klasse“ 857) auf einen imaginären Prototypus zu bringen, setzt man sich doch der Gefahr der ungeliebten Begrenzung und Reduktion aus. Aber was ist ein Buch, ein Werk, ein Gedanke ohne Selektion und Begrenzung? Literatursoziologisch interessant ist die Entwicklung des Gedankenmodells dennoch. Und zwar deshalb, weil die Kenntnis der spezifischen Habitus-, Lebensstil- und Praxisformen der Schriftsteller, die – und das ist entscheidend – „systematisch unterschieden sind von anderen Lebensstilen“ 858, den Betrachter in die Lage versetzt, das idealtypische Substrat und Variationen desselben zu erkennen. Für die Entwicklung des Gedankenmodells der konstruierten Klasse der Autoren gilt es, die historischen, in der Kulturgeschichte der Selbstarstellung sichtbar gewordenen und aktuelle, aus den Zwölf Praktiken entnommene Äußerungen von Schriftstellern zu kombinieren und sie nicht länger unter dem Blickwinkel der individuellen Inszenierung zu betrachten, sondern unter der Perspektive typischer, sich epochal wiederholender und damit allgemeingültiger habitueller Muster, die grundlegende Gemeinsamkeiten im Rollenverständnis sichtbar machen. Der Urtypus bildet sodann die Matrix, vor der sich der einzelne Schriftsteller inszeniert. Er emanzipiert sich dabei von der universellen Matrix, tritt aus dieser heraus, und doch sind seine Inszenierungen nicht ohne diese Matrix, die wie ein Bühnenbild sichtbar bleibt und vor der er agiert, zu verstehen. Indem die Schriftsteller unterschiedliche Sichtbarkeitsstrategien wählen, um hervorzutreten, positionieren sie sich im Literaturbetrieb. Jede Repräsentation entfaltet sich somit zwischen Abstand

856 Foucault, Dispositive der Macht, S. 11. 857 Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede (1979/1982). Frankfurt a. M. 2006, S. 174 ff. 858 Ebenda, S. 278.

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und Nähe zum gedanklichen Urtypus des Schriftstellers und gewinnt durch die distinktive Kraft, im Vergleich zu anderen, vom Urtypus distanzierenden Gegenwartstypen ihre solitäre Stärke.859 Eine individuelle Selbstdarstellung erfüllt also den Raum, der sich zwischen der universellen „Anonymität des Wissens“860 über die kollektive Identität der Berufsgruppe, also über den Klassenhabitus (Bourdieu) des Schriftstellers, und der individuellen „Sprache des Falles“ 861 erstreckt.

Annäherung an den Urtypus des Dichters Für jeden Menschen gibt es ein mythologisches Urbild, meint Adorno, man muss nur lange genug danach suchen.862 Das des Schriftstellers ist komplex, bewiesen ist es nicht. Dieser „wirkliche Autor, dieser Mensch, der in all die abgenutzten Wörter eingebrochen ist und sein Genie oder seine Unordnung in sie hineingetragen hat“ 863, moniert Foucault, sei in seiner Existenz zwar nicht zu leugnen, man täte aber eigentlich besser daran, ihn in dem Netz seiner abgenutzten Wörter zurückzulassen.864 Diese Forderung des Ignorierens eines jeden Autorsubjekts (zugunsten seiner Schriften), kommt dem Autor jedoch durchaus zugute, befördert sie doch seine ohnehin angestrebte und über Jahrzehnte gepflegte Außenseiterrolle, die seinen Bewusstseinsschmerz und sein „Einsamkeitspathos“865 (das, wie es Thomas Mann in der Einlei-

859 Die Annäherung an den Urtypus ermöglicht, die durch die Verstöße gegen die historische und gemeinsam diskursiv tradierte Repräsentationspraxis, die damit verbundenen Bewegungsrichtungen und Nuancen der gegenwärtig gelebten Schriftsteller-Mythen, die die historische gewachsene Rolle aktualisieren, überschreiten und deformieren, zu veranschaulichen, und ebenso die Motive der Kritik an dem aktuellen Rollenverständnis, oder auch die affirmative Bejahung einer abweichenden, neuartigen Rollenauslegung aus Gründen der historischen Emanzipation, zu erhellen. 860 Zur Analyse von Konkretion und Nähe, also zwischen der Rekonstruktion des allgemeinen Symbol- und des individuellen Handlungssystems vgl.: Alfred Schütz/Peter Luckmann: Strukturen der Lebenswelt. Bd. 1, Frankfurt a. M. 1979, S. 133 ff. 861 Zur Ausprägung und zum Besonderen des individuellen Falles und des individuellen hermeneutischen Zugriffs auf diesen vgl.: Ulrich Oevermann: Ansätze zu einer soziologischen Sozialisationstheorie und ihre Konsequenzen für die allgemeine soziologische Analys. In: Günter Lüschen (Hrsg.): Deutsche Soziologie seit 1945. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Opladen 1979, S. 143-168. 862 Vgl. Theodor W. Adorno: Minima Moralia (1951). Frankfurt a. M. 2003, § 52, S. 98. 863 Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses (1973), Frankfurt a. M. 2003; 21. 864 Vgl. Michel Foucault: Was ist ein Autor? Vortrag am Collège de France, 22.02.1969. In: Fotis Jannidis et al. (Hrsg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000, S. 198232, 202. 865 Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen (1918). In: Thomas Mann. Gesammelte Werke. 13 Bänden. Bd 12. Frankfurt a. M. 1990, S. 9-589, 16. (Vgl. hierzu auch: Dieter Heimböckel: Reflexiver Fundamentalismus. Thomas Manns Betrachtungen eines Un-

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tung seiner „Betrachtungen eines Unpolitischen“866 formulierte, das Lebenselement jedes Schriftstellers darstelle) ebenso begründet wie befördert. Es drängt sich die Vermutung auf, dass die von Foucault philosophisch geforderte, idealtypisch von Thomas Mann selbst auferlegte und von Handke poetisch reflektierte „öffentliche Einsamkeit“867 als beliebig auszuschöpfendes Sinnbild fungiert, das, geschickt gewendet, genialische und göttergleiche Erhöhungen in der Öffentlichkeit ebenso zulässt868 wie der eigenen Melancholie geschuldete Abwertungen. Aus der Annahme, die Einsamkeit, jene „Auserwähltheit bei gleichzeitiger Marginalisierung“869, sei das Urbild für die paradigmen- und epochenübergreifende Wesensart des Dichters,870 folgt die Konsequenz, die öffentliche Figur des Schriftstellers im Spannungsfeld zwischen legitimierter und bestrittener Autorität zu verorten. Und diese vermag ebenso den Bewusstseinsschmerz und die Selbstzweifel zu erklären wie ihr Gegenteil. Basiert der genuine Urmythos des Autors also auf einer öffentlichen Einsamkeit, die zugleich eine einsame Öffentlichkeit geistiger Art ist, so erfährt dieses Grundmotiv der sozialen Exklusion eine Erweiterung durch den Topos der Unfasslichkeit. Bertolt Brecht behauptet zum Beispiel im Anhang seiner Autobiografie „Vom armen B. B.“871 von sich nicht nur, dass er in Dichter sei, der aus den „schwarzen Wäldern“ komme – eine Aussage, die ohnehin umweht von Mystik, wenn auch einer dörflichen, etwas Besonderes erahnen lässt –, sondern er stellt auch fest, man habe in ihm „einen, auf den könnt ihr nicht bauen.“ Das stilisierte Verschwinden klingt bei Jelinek ähnlich: „Was ich […] sage, sind Stilisierungen. […] Ich trage die Sätze vor mir her wie Plakate, hinter denen ich mich verstecken kann.“872 Was Brecht mit Jelinek verbindet, ist die Tatsache, dass in beiden Fällen aktiv und pragmatisch an der Aura des Entfernten gezimmert und das Unzugängliche fingiert wird, durch

politischen. In: Walter Delabar/Bodo Plachta (Hrsg.): Thomas Mann, 1875-1955. Berlin 2005, S. 107-123.) 866 Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, S. 16. 867 Ebenda, S. 16. 868 „In Romanen Menschen zu erschaffen hat etwas Gottähnliches“ (Harry Mulisch in: Michaelsen, Starschnitte, S. 217). „Selbstsucht ist die Existenzgrundlage jedes Künstlers. Nur wer die eigene Isolation aushält, bleibt produktiv“ (Bernhard Minetti, in: Michaelsen, Starschnitte, S. 103). 869 Herbert Gamper: Um diese Speise führt kein Weg herum. Zu Handkes quasisakraler Poetik. In: Klaus Amann et al. (Hrsg.): Peter Handke. Poesie der Ränder. Köln 2006, S. 35 870 Auch in der Literatur existiert und tradiert sich das Bild des einsamen, erfolglos eitlen Künstlers. (Dies gilt z. B. für die Figur des Detlev Spinelli in Thomas Manns Novelle Tristan; das Außenseiter-Bewusstsein des Künstlers findet sich exemplarisch außerdem in der Figur Tonio Kröger in der gleichnamigen Novelle Manns. Darüber hinaus ließe sich Oskar Matzerath als Alter Ego von Grass lesen, der trommelwirbelnd und schreiend auf die Missstände hinweist, ohne dass man ihn hört oder ernst nimmt, zu klein und unbedeutend bleibt er doch). 871 Bertolt Brecht. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe in 30 Bänden. Bd. 11. Hrsg. v. Werner Hecht/Jan Knopf et al. Berlin, Frankfurt a. M 1988-2000, S.119. 872 Elfriede Jelinek, in: Müller, „… über die Fragen hinaus“

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Baumbestände oder Plakate, die das wahre oder vielmehr das private Ich des Dichters verdecken. Denkt man Michail Bachtins Idee der „göttlichen Abwesenheit“ weiter, so fällt nicht schwer zu erkennen, dass daraus realiter eine Vakanz entsteht, die besetzt sein will. Durch die Abwesenheit des Original-Autors (vielleicht auch durch den philosophisch angezettelten imaginären Mord, „La mort de l’auteur“ von Barthes), durch sein Verschwinden zwischen den Zeilen, wird eine Besetzung der öffentlichen Leerstelle nur mit einer Art Abziehbild, einem Double oder einer Art Stuntman möglich. Als Grundmythos des Dichters eröffnet die Entrücktheit somit gleichzeitig einen Spielraum und bietet Platz für die unterschiedlichsten, geglückten und grotesken Selbstdarstellungen, die gerade weil sie stets in der Spektralität des Einsamen, des Einzelgängertypus, des keine Nähe-Zulassenden bleiben, kontinuierlich den Nimbus des Besonderen mit sich führen, der rezeptionsperspektivisch gedacht, stets Imagination gestattet, wenn nicht sogar befördert. Selbst der scheue Peter Handke bekennt: „Wenn Legenden schon sein müssen, dann spiele ich halt ein bisschen mit. Ich habe einfach kein ereignisreiches Leben. Es wird erst dadurch interessant, dass ich ein paar Spuren lege. Ich lese über mein Leben und bin ganz entzückt. Man erfindet etwas, damit man selbst etwas zu lesen hat.“873

Die Einsamkeit und gesellschaftliche Entrücktheit, aus der die inszenatorischen Formen der Einzigartigkeit erwachsen, dienen nicht nur dem Schriftsteller selbst, sondern auch öffentlichen Kritikern wie Bewunderern als ideale Fläche wahlweise für (Eigen-)Projektionen oder Angriffe,874 die in der im letzten Jahrhundert geführten

873 Peter Handke, in: Michaelsen, Starschnitte, S. 97. 874 Schon Heraklit, der sich aus der Stadt in den Tempel zurückzog und auf die Einsamkeit als Kulturtechnik setzte, um zu neuen Einsichten vorzudringen, galt als anachoresas und misanthropesas, zurückgezogen und menschenfeindlich. Von Aristoteles wurde der Einsame kritisiert: „Wer aber nicht in der Gemeinschaft leben kann, oder ihrer, weil er sich selbst genug ist, gar nicht bedarf, ist kein Glied des Staates und demnach entweder ein Tier oder ein Gott.“ (Aristoteles: Politea. Hamburg 1958. I,2; 1253a). In der Spätantike und im Mittelalter hingegen, in der Nachfolge Petrarcas, wurde die Einsamkeit als Weg zu sich selbst erkannt. (Im religiösen Kontext führt ebenfalls einzig die Einsamkeit zu Gott.) Meister Eckhart setzte die Einsamkeit als höchste menschliche Tugend noch über Liebe und Barmherzigkeit (vgl. Tilman Borsche: Die Einsamkeit des Denkers. In: Aleida u. Jan Assmann: Einsamkeit. München 2000, S. 45-58). Spätestens mit Rabelais und Montaigne wurde der sich selbst suchende Mensch, der Humanist, der Intellektuelle, der Schriftsteller zum Emblem für die Einsamkeit. Die kritischen Angriffe auf die Schriftsteller im ökonomisch geprägten Literaturbetrieb des 20. und 21. Jahrhunderts reflektieren somit in Teilen und unterschwellig auch die humanistische Frage nach dem sinnvollen Leben: der vita activa oder vita contemplativa. (Vgl. Uwe Baumann: Einsamkeit und einsame Helden bei William Shakespeare: Coriolan, Hamlet und Timon von Athen. In: Wilhelm G. Busse/Olaf Templin (Hrsg.): Der einsame Held. Tübingen 2000, S. 71-95, 71 f.)

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theoretischen Debatte um die Totsagung und Auferstehung des Autors einen historischen Höhepunkt fanden.875

Zwei polare Urtypen: Der Welt-Bezogene und der Selbst-Bezogene Nicht einen Urtypus, sondern zwei voneinander unterschiedene universelle Prototypen des öffentlichen Autors definierte Meyer-Sickendiek. Kombiniert mit den vorangegangenen Überlegungen lassen sich aus beiden Urtypen die Strategien intellektueller Selbstdarstellung erklären und alle weiteren spezifischen Dichtertypen gewinnen. Die Grundemotion beider Prototypen, so Meyer-Sickendiek, sei der Schmerz – le doleur.876 Das dem anthropologischen Muster zugrundeliegende Prinzip des Schmerzes ist eng verknüpft mit einem weiteren Grundelement, das den Schmerz bedingt: der Idealismus. Die unerfüllten Idealvorstellungen von der Gesellschaft und der Welt setzen zum einen die Distanzierung des Einzelnen von der Gesellschaft fort und lassen zum anderen zwei fundamentale Gefühle entstehen, schreibt Meyer-Sickendiek: die Aversion und den Narzissmus. Im Falle der Aversion setzt der Desillusionierte als Fortsetzung der Erfahrung seiner Einsamkeit und der solitären Stellung in der Welt aktiv seine Absonderung fort und entwickelt eine Abneigung gegen die Gesellschaft, beizeiten auch gegen sich selbst. Der Narzissmus hingegen bewirkt, dass der Geistesschaffende beginnt, sich selbst zu erhöhen, wo es kein anderer tut. Den beiden Prototypen gemeinsam sind somit der Idealismus, die damit verbundene Sehnsucht und der durch die Diskrepanz entstehende und zwischen der Realität und seinem Ideal sich erstreckende Bewusstseinsschmerz. Die anthropologische Grundannahme hingegen, mit der jeweils der Schmerz begründet wird, sei bei beiden Prototypen diametral entgegengesetzt, so Meyer-Sickendiek. Der erste Prototypus des öffentlichen Autors, der Welt-Bezogene (MeyerSickendiek führt Rousseau an), ist der in der Aversion gegen die Gesellschaft Verfangene. Der Welt-Bezogene sei an sich ein guter Mensch, lediglich die Gesellschaft bremse ihn. Gleichwohl sei der durch die Aversion geprägte Prototypus empfindsam, empathisch und ebenso sehnsuchts- wie hoffnungsvoll. Seine Klage, die er erhebt, ist

875 Kritisch anzumerken bleibt, dass die Forderung des „Tod des Autors“ von Foucault (z. B.: „Das Schreiben ist heute an der Opfer gebunden, selbst an das Opfer des Lebens, an das freiwillige Auslöschen, das in den Büchern nicht dargestellt werden soll, da es im Leben des Schriftstellers selbst sich vollzieht.“ (Foucault, Was ist ein Autor? S.32), selbst wenn dieses Auslöschen der Existenz metaphorisch intendiert ist), sich vor dem Hintergrund einzelner Schriftstellerschicksale, aber auch besonders angesichts der Wortwahl (Tod, Opfer, Auslöschung) ideologisch bedenklich ausnimmt, kaum philosophisch, eher dogmatisch anmutet, die Diskursmacht und Deutungshoheit Foucaults provokant inszeniert und damit exakt jenen diskursiven „Ausschließungssystemen“ entspricht, die Foucault analysiert und kritisiert hat. (Vgl. Michel Foucault: Mikrosphysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin. Berlin 1976. Und: Ders.: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M. 1977.) 876 Meyer-Sickendiek, Affektpoetik, S. 430 f.

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eine Fremdanklage. Auch sehe er die Liebe als Möglichkeit der Überwindung des unglücklichen Zustandes, ebenso wie die Moral und die Hinwendung und Rückbesinnung der Menschen zum Guten. Der zweite Urtypus (den Meyer-Sickendiek mit Baudelaire exemplifiziert) ist der Selbst-Bezogene, der narzisstisch in sich selbst Verfangene. Auch er leidet, doch ist sein Schmerz ein abstrakter, der keine unmittelbar zu benennende Ursache kennt. Vielmehr liegt die Ursache des Schmerzes in ihm selbst verborgen. Es sei der Kampf zwischen animalité und spiritualité, zwischen Körper und Geist, zwischen denen keine Balance gelingen will – ein Schmerz, der in der Selbstopferung kulminieren kann. In der Liebe sieht er keine Erlösung, vielmehr ein weiteres Schlachtfeld. Sein Schmerz findet Ausdruck im Narzissmus, aber auch in der Groteske.877 Der Welt-Bezogene nutzt die Strategien der „Häresie“, der „Ironie“ und des Engagaments, des „Politisierens“, „Moralisierens“ und zynisch zugespitzen „Ideologisierens“. Eine Entsprechung in der kleinen, nachfolgenden Dichtertypologie hat der Welt-Bezogene beispielsweise im Typus des cholerischen Rebells, des scheuen Ironikers und des unermüdlichen Aufklärers. Der Selbst-Bezogene wiederum wählt Inszenierungsstrategien wie die „Selbstdemontage“, „große Gesten“ und „öffentliche Geständnisse“. Er findet sein Pendant innerhalb der Dichtertypologie im Typus der obsessiven Nihilistin, der Diva oder des sendungsbewussten Pop-Dandys.

877 Ebenda, S. 430 ff.

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Idealtypischer Dichter: schmerzendes Bewusstsein, einsam, idealistisch Grundmotiv: doleur

Prototyp I: Der Welt-Bezogene

Prototyp II: Der Selbst-Bezogene

gesellschaftskritisch, konkreter Schmerz, Antrieb: Aversion gegen die Gesellschaft

narzisstisch, abstrakter Schmerz, Antrieb: innere Dialektik (animalité vs.spiritualité)

Strategien der Selbstdarstellung Selbstdemontage,

Häresie,

große Gesten,

Ironie, Engagement

Amouresken, Geständnisse

Moderne Erben

der Rebell, der

die Diva,

scheue Ironiker,

der Pop-Dandy,

der unermüdliche

das Alpha-

Aufklärer, u. a.

Mädchen, u. a.

Abbildung 101: Idealtypus des Dichters

Kleine Dichtertypologie

Kleine Dichtertypologie

Nur von ihren Extremen her kann die Wirklichkeit erschlossen werden. SIEGFRIED KRACAUER1 Die Formel, mit der unsere Seele zu der […] Einheit der Dinge […] ein Verhältnis gewinnt, ist, im Praktischen wie im Theoretischen, ein primäres Zusehr, Zuhoch, Zurein […]. GEORG SIMMEL2 týpus: Form, Muster, Bild

E INIGE E XEMPLARE

AUS DEM DES LITERARISCHEN F ELDES

D ICKICHT

Wäre der Literaturkritiker ein Biologe, würde er den Schriftsteller unters Mikroskop legen. Durch das Vergrößerungsglas, das die Strukturen sichtbar macht, könnte er sofort Ähnlichkeiten, Anomalien und Besonderheiten erkennen. Und die gesichteten Exemplare nach Generationen, Habitus und Inszenierungsverhalten klassifizieren. Doch über ein solches technisches Gerät verfügt der Literaturkritiker nicht. Sein einziges Mikroskop ist seine geschulte Imagination: Mit und in dieser bildet auch er seine Typologien. – Oder anders gesprochen: seine Idealtypen, wie der Soziologen Max Weber solch figurative Abstraktionen einst nannte. Die Typen bilden die Wirklichkeit nicht einfach ab, sondern überschreiten die jeweiligen Beobachtungen. Dies gelingt „durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte“, so Max We-

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Siegfried Kracauer: Die Angestellten. Frankfurt a. M. 1930. Georg Simmel: Philosophie des Geldes. Berlin 1900. Vgl. auch: Alexander von Schelting: Die logische Theorie der historischen Kulturwissenschaft von Max Weber, im Besonderen sein Begriff des Idealtypus. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Heft 49, 1922; 623-752. Und: Uta Gernhardt: Idealtypus. Zur methodischen Begründung der modernen Soziologie. Frankfurt a. M. 2001. Auch: Maria Pümpel-Mader: „Der Tiroler ist …“ Sprachhistorische Untersuchung eines ethnischen Stereotyps. In: Dies./Beatrix Schönherr (Hrsg.): Sprache, Kultur, Geschichte. Innsbruck 1999, S. 247-274, 251.

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ber, „und durch Zusammenschluss einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankengebilde.“3 Das Extrakt der gedanklichen Mikroskopie, der Typus, sei in seiner begrifflichen Reinheit nirgends in der Wirklichkeit zu entdecken, so Weber, „es ist eine Utopie.“ 4 Für den Beobachter erwachse aus der Arbeit mit Idealtypen die Aufgabe, in jedem einzelnen Fall kritisch zu prüfen, wie nah oder fern von der Wirklichkeit das Idealbild steht. An dieser Stelle führt mich meine literatursoziologische ‚Utopie‘ zu einer Typologie der Selbstinszenierungsstrategien der Dichter und ihrer Mitspieler auf dem literarischen Feld. Es ist eine kleine Narretei – frei entworfen und formuliert nach dem Vorbild Franz Bleis, Elias Canettis und Theoprasts.5

Der Archivar Seine Sammelleidenschaft bestimmt sein Tagwerk. Der Archivar sammelt Gedanken, flüchtige Gefühle und vorbeiziehende Gesprächsfetzen. In seinem Notizbuch, das er in der ausgebeulten Tasche seines Leinen-Jacketts immer bei sich trägt, archiviert er fremde Welten. Oft findet er sie in der Straßenbahn und im Park auf achtlos weggeworfenen Zetteln. Auch in Briefen, Postkarten und Zeitungen aus längst vergangenen Tagen wird er fündig. Der Archivar bewahrt und dokumentiert alles. Sein Herz ist ein Koffer und sein Haus auf dem Lande von oben bis unten gefüllt mit Schriftstücken. Seine Erscheinung ist unauffällig, nicht aber sein Wesen. Man sieht ihn selten. Seine Form der Selbstinszenierung ist das Porträt. Denn scheu verbirgt er sich zwischen seinen angelegten Archivschränken, Karteikästen und Zeitungsstapeln. Wie das Foto des Mitarbeiter-des-Monats an der Wand eines Schnellrestaurants dient das in Umlauf gebrachte Porträtbild des Archivars als Versicherung seiner historischen Existenz bei gleichzeitig körperlicher Abwesenheit. Die ist natürlich seinem Sammelehrgeizig geschuldet, seinem Sinn für Geschichte und Geschichten; am Tag und in der Nacht. Der Archivar lebt im Zitatenmuseum. Eklektisch und nach dem Pompeji-Prinzip versucht er, einmal Geschriebenes vor dem Untergang zu bewahren. Seine Liebe gehört dem Papier, dem Geruch von Druckerschwärze, dem Geräusch des Blätterns und dem Klang des Bleistiftabriebs beim Notieren. Die digitale Revolution macht dem Archivar deshalb ein wenig zu Schaffen.

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Max Weber: Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904). In: Ders.: Schriften zur Wissenschaftslehre. Stuttgart 1991, S. 21-101, 73 f. Vgl. auch: Uta Gerhardt: Idealtypus. Zur methodischen Begründung der modernen Soziologie. Frankfurt a. M. 2001. Max Weber, Die Objektivität, S.73. Vgl. Franz Blei: Das große Bestiarium der Modernen Literatur (1924). Hrsg. v. Rolf-Peter Baacke. Hamburg 1995. Elias Canetti: Der Ohrenzeuge. Fünfzig Charaktere (1974). Frankfurt a. M. 2005. Theoprast: Charaktere (um 310 v. Chr.). Stuttgart 2000.

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Anders als seine öffentliche Scheu vermuten lässt, nutzt der Archivar die Sichtbarkeitsstrategien der Ironie und der Überraschung. Seine Neugier lockt ihn immer wieder hinter den Zetteln hervor und bringt ihn mit jungen Talenten zusammen, die ihm neue Perspektiven eröffnen. Doch nach dem Ausflug in die bunte Welt sozialer Beziehungen zieht er sich wieder in sich selbst zurück, sortiert und schreibt. An dunklen Winterabenden versucht der Archivar sein Herz kurzfristig musizierend zu befreien. Er setzt sich ans Klavier. Und erweckt die Figur des einsamen Dichters in Schnitzlers Reigen zum Leben. Schnitzlers Poet, so will es der Reigen, nähert sich dem süßen Mädel von nebenan. Doch anstatt den Poeten in ihre Arme zu schließen, lässt ihn die Begehrte, puritanisch kühl, mit dem Hinweis zurück, nicht nur ein Kuss, auch das Klavierspielen sei eine wunderbare körperliche Ertüchtigung. Und so lässt der Poet in Schnitzlers Reigen ebenso wie der scheue Archivar seine Finger einzig über die Tasten tanzen, ehe er sich wieder in seine Papierwelten begibt. Am nächsten Morgen dann zieht der Archivar sein Notizbuch aus dem Jackett, das achtlos über dem Stuhl hängt, und schreibt, diesmal über seine Welt: In der Nacht Klavier gespielt, die Kühe draußen vor dem Fenster, hörten mir zu. Ich brach ab, als ich merkte, dass ich mir wie Chopin vorkam. Außerdem störte es mich, dass auch die Mädchen mir drüben, im anderen Haus, möglicherweise zuhörten und eventuell dächten, ich käme mir vor wie Chopin.6 Der Archivar. Er bleibt allein.

Die wachsame Wort-Akrobatin Die wachsame Wort-Akrobatin hat ein skeptisches Wesen. Und eine Waage aus Gold. Die zieht sie gerne aus ihrer großen himmelblauen Handtasche und stellt sich beiseite. Dann holt sie aus ihrem Mund ein Wort und legt es rasch auf die Waage, bevor sie es ausspricht. Eigentlich kennt sie aus Erfahrung sein Gewicht, doch will sie es genau wissen und schaut auf den Zeiger. Die Wort-Akrobatin achtet darauf, dass jeder Satz das richtige Gewicht hat, jede Silbe zu ihrem Recht kommt und keine verschluckt wird. Bei Lesungen spricht die wachsame Wort-Akrobatin stets so rhythmisch und unverrückbar richtig, dass die Zuhörer mit offenem Munde dasitzen.Vielleicht hoffen sie, die Worte selbst zu schlucken und für günstige Gelegenheiten zu verwahren? Unsinnige Hoffnung, lächelt die Wortakrobatin. Denn nicht alle Worte passen in jeden Mund. Aus manchem springen sie zurück wie ein Gummiball und anderen verkleben sie die Zähne, besonders Gierigen bleiben sie im Halse stecken. Doch so besorgt die wachsame Wort-Akrobatin um jedes Wort ist, auch sie selbst ist ein bedrohtes Geschöpf. Schließlich gehören eine entsagungsvolle Gesinnung, viel Pedanterie und ein unbestechliches Auge zum Leben mit der Goldwaage. Doch fällt ihr diese heilige Präzision nicht schwer. Die Wort-Akrobatin lebt sie es aus Liebe zur Sprache. Und solange die Waage golden ist, ist die Wort-Akrobatin unverzagt und lässt sich von keinem Silbenverschlucker und dialektelndem Provokateur beirren.

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Walter Kempowski am 07.07.1983, zit. n. Benjamin von Stuckrad-Barre: Deutsches Theater. Köln 2002, S. 284 .

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In der Öffentlichkeit zelebriert sie die kreative Demontage raubeiniger SprachVerächter und deren Jargons. Und schmückt sich mit hemmungsloser Authentizität: Man darf sie beim Wort nehmen. Nur einen Makel hat die wachsame WortAkrobatin. Nach langen entsagungsvollen Wochen des poetischen Schreibens, des Dichtens und Denkens spricht sie manchmal in Versen. Mitunter sogar solange, bis man sie nicht mehr versteht.

Der sehnsuchtsvolle Empathiker Als empfindsamer Mensch glaubt der empathische Schriftsteller nicht nur an die Schönheit der Natur, sondern auch an Gerechtigkeit. Er träumt von einer friedfertigen Welt, von Liebe und erfüllter Sehnsucht. Als sensibler Silbenchirurg bastelt er sich behutsam seine Welt. Er zeichnet weich, mit Worten. Schwarzmalerei gefällt ihm ebenso wenig wie ein Denken in Schwarz-Weiß. Aus dem Antrieb einer unbestimmten Sehnsucht beginnt er zu schreiben, umarmt im Schreiben die Welt, heilt seine von der rationalen Wirklichkeit immer wieder aufgerissenen Wunden. Zerplatzt sein Traum von einer gerechten Welt an spitzfindigen Worten wie eine Seifenblase an einem Stein, wird der sanftmütige Empathiker aus innerem Gerechtigkeitssinn zum pöbelnden Verbalrabauken, ja regelrecht zum „Ekel-Peter“7. Seine geschickte Selbstdarstellung auf dem literarischen Parkett ist die liebevolle Häresie. Gelegentlich verbunden mit betonter Authentizität, wenn er durch den Lebensdschungel streift und seine Gefühlslandschaft mit esoterisch-ernstem Gestus in seinem Notizbüchlein für die Nachwelt verewigt. Steht er im Licht der Öffentlichkeit, wird er zur scheuen Elfe und möchte aus der spröden Medienwelt davon flattern, zurück in die Natur. Komik ist nicht sein Metier. Das erledigen andere für ihn. Und über ihn. Lieber begibt sich der Empathiker auf Reisen, in der Hoffnung, dass alles eine Frage des Abstandes sei. Als Pfadfinder in der Seelenlandschaft ist seine Rhetorik der Selbstinszenierung eine romantische – auf Wolken träumend, unter Tränen fragend. Wie Orpheus wandelt er zwischen den Welten, stets auf der Suche nach einem Weltaugenblick zwischen zwei Menschen, einem seelischen Schnappschuss und der Möglichkeit des poetischen Ausdrucks des Geschauten. Ist er erst einmal unterwegs, dreht er sich nicht um. Alles, was er sich erhofft, ist ein Gastrecht auf der Welt, in der Liebe oder in der Literatur. Die Liste seiner Werke ist deshalb oft so lang wie die seiner Liebschaften. Doch als Träumer, Leidenschafts- und Lebensbeschwörer interessiert ihn diese Statistik nicht, er möchte retten und gerettet werden, durch das Fühlbare, das Sichtbare und die Sprache. Träumend / kam er an.8

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Peter Handke, in: André Müller: „…über die Fragen hinaus.“ Gespräche mit Schriftstellern. München 1998, S. 67-104, 74. Peter Handke: Die Geschichte des Bleistifts (1985). Frankfurt a. M. 2008; S. 22.

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Die obsessive Nihilistin Aus der Öffentlichkeit hat sich die obsessive Nihilistin zurückgezogen. Auf dem Sofa der eigenen Innerlichkeit hat sie es sich kommod gemacht. Dort lebt sie im feinmaschigen Netz unendlicher Gedanken und Abhängigkeiten. Um die eigene Dunkelheit zu ertragen, lackiert sie im Sprachspiel ihren Nihilismus. Und formt daraus kleine glänzende Sprachgirlanden, mit denen sie ihr Wohnzimmer schmückt. Dominiert wird die Nihilistin von ihrem Über-Ich, in Person der übermächtigen Mutter, die in der Wohnung über ihr lebt. „Wie Gott!“ lacht die Nihilistin manchmal in die Stille des Zimmers hinein. Oder war es „Ach Gott“? Der Intensität ihrer Selbstzweifel begegnet die Nihilistin mit spontaner Distanzlosigkeit. Dann bittet sie die auf der grünen Wiese lauernden Journalisten hinein und plaudert ungeniert drauf los. Das erschreckt die Nihilistin, so dass es sie fröstelt. Dann zieht sie schnell das Mäntelchen des Widerspruchs unter dem Sofa hervor, wirft es sich wärmend über die Schultern und wechselt reflexartig den Standpunkt. Im Schutz des Mäntelchens lügt die obsessive Nihilistin ohne rot zu werden und wird rot, ohne zu lügen. Gibt man ihr Widerworte, ist sie selbst das Widerwort. Opponiert man ihrem Standpunkt, hat sie diesen schon längst verlassen. Nichts ist realer als das Nichts, denkt sie sich. Um auf dem literarischen Feld aus dem Nichts hervorzutreten, bedient sie sich den Tricks der Selbst-Demontage, der Häresie und der Ironie. Im Wechselspiel von Schamlosigkeit und Scham, neurotischer Koketterie und medialer Unterwürfigkeit verstrickt sich die obsessive Nihilistin bald selbst in ihre Seilschaften. Dann hilft nur noch eines: erneut den Standpunkt zu wechseln. Und noch mal. Und erneut, bis die Grenzen der Wahrheit endgültig verschwimmen. Selbst ihre eigenen Wahrheiten dringen nicht mehr zu ihr durch. So wird die obsessive Nihilistin immer wieder Teil des Geschehens, das sich plötzlich gegen sie richtet. „Verdammte Dekonstruktion!“, schreit sie dann und setzt die Welt vor die Tür, ehe sie es sich wieder auf dem Sofa gemütlich macht. Dann versinkt sie in ihren Büchern. Sie mag Krimis. Die obsessive Nihilistin ist Jägerin ihrer eigenen Lebenslüge und wird zur Gejagten. Ja sie ist das Reh im Medienwald, in dem viele Fressfeinde lauern. Mal versteckt es sich im Unterholz, dann – auf der Lichtung eines Hügels stehend – kalauert es zurück. Oft tritt es mit den Hufen auf die liebevoll geschönte kollektive Erinnerung und zerbricht sie. Stets ist es auf der Hut vor den Scheinwerfern der Maschinerie, die das scheue Reh kurzeitig erstarren lassen; doch dann springt es mit einem wortreichen Satz davon, ehe es überfahren wird.

Der charismatische Guru Der charismatische Guru ist schon zu Lebzeiten sein eigenes Denkmal. Wenn er sich überhaupt fortbewegt, schreitet er auf Säulen. Die haben es nicht eilig, aber tragen ihn gut. Wo sich die Säulen niederlassen, da bildet sich ein Tempel und die Anbeter sind sofort zur Stelle. Mit Fernseh- und Fotokameras und Mikrofonen. Ein Räuspern, ein Lächeln, ein Nicken von ihm und alles verstummt. Der charismatische Guru erfüllt die Luft mit wohldosierten Zeichen. Die Anbeter applaudieren und schweigen. Sie sinnen seinen Zeichen nach. Trifft statt eines Lorbeerkranzes ein heller Strahl der

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Mittagssonne, die hoch über ihm erstrahlt (wo gibt es sowas?), seine erhabene Stirn, zieht er sich in sein Separee zurück und die Vorhänge zu. Manchmal muss er heimlich gähnen, doch das nimmt nichts von seiner kosmischen Kraft. An der Spitze ist es einsam. Doch der charismatische Guru nimmt sein Schicksal tapfer hin. Niemand hat je eine Klage aus seinem Mund vernommen. Seine Schwächen überdeckt er mit scharfsinnigen Worten, was ihn noch imposanter erscheinen lässt. Seine Strategie auf dem literarischen Feld: große Gesten und die raffinierte Dissimulation alles Banalen. Sein bevorzugtes Wirkungsfeld ist die erlesene Gesellschaft. Im Fernsehstudio, im Hörsaal und in philosophischen Gesprächsrunden ist er zuhause. Ist er der Diskussionen müde, fordert er amüsiert: Kann mir mal bitte jemand das Wasser reichen? Einmal im Jahr veranstaltet der charismatische Guru ein Fest. Kein normales Fest. Nein, ein Fest für Auserwählte, die er in sein Separee bitten lässt. Der Zugang zu diesem wird durch Assistenten des charismatischen Gurus streng geregelt. Im Separee erstarrt er zum Denkmal. Dort sagt er dann plötzlich kein Wort, zu banal klänge das doch. Was könnte er schon sagen, das seine Pracht nicht schmälert? Der charismatische Guru lebt allein, er duldet weder Mann noch Frau an seiner Seite. Sie könnten ja doch nicht erfassen, welch einzigartiges Wesen er ist. Unvorstellbar wäre für ihn auch ein Schoßhündchen, zu dem er sich bücken müsste. Auch wenn er es hochheben würde, könnte es ihn ja doch nicht in erkennen. Was verstünde ein Hündchen schon von einem charismatischen Guru?

Der scheue Ironiker Der scheue Ironiker lebt vom distanzierten Blick auf die Welt und auf sich selbst. Seine Tagesration an Zufriedenheit holt er sich im Bistro um die Ecke. Dort bestellt er zuerst den persiflierenden Umgang mit der Sprache. Und knurrt sein Magen nach dem Verzehr dieser Speise noch immer, so ordert er den behutsam demontierenden Umgang mit liebgewonnenen Selbstverständlichkeiten. Danach wischt er sich mit der gestärkten Stoffserviette den Mund ab und lehnt sich schmunzelnd zurück. Gegen Nachmittag nimmt er seinen Hut aus der Ablage und den Mantel, damit man ihn in der Öffentlichkeit nicht sofort erkenne. Dann flaniert der scheue Ironiker schauend durch die Stadt, begleitet von seinen Gedanken, die er an einer Leine mit sich führt. Nur manchmal bleibt er vor einem Schaufenster stehen. Und sieht hindurch. Bis in die hinterste Ecke, den verborgenen Winkel, wo er gar Erstaunliches entdeckt. Schnell kramt er in seiner Manteltasche, auf der Suche nach einem kleinen Stück Papier, hier: die Rückseite der Rechnung, und einem Stift. Dabei fällt ihm schon mal ein Reim aus der Tasche. Hat der scheue Ironiker Glück, findet ein Fremder den Reim und hebt ihn auf. Vielleicht sogar der Archivar.

Der cholerische Rebell Der cholerische Rebell ist auf der Suche nach dem Fragilen. Meist findet er es in Kisten, in Hinterzimmern von Villen, Instituten und Konferenzsälen. Hat er das Zerbrechliche entdeckt, zerschlägt er es mit einem Fausthieb. Den cholerischen Rebellen

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stört es nicht, dass die Kisten schon lange dort lagern, und auch nicht, wenn sie nagelneu sind. Für ihn bleiben sie, was sie sind: Ein Ärgernis. Mit Vehemenz tritt er dagegen, schreit und springt. „Klassik, pah!“, „Postmodern, welch’ Impotenz!“, „Pop, nein danke!“ Das Fragile – der cholerische Rebell erkennt es gleich, am Etikett. Schon der Schriftzug lässt ihn vor Wut schäumen. Emotionsgestaut wandert er durch Fernsehshows und Literaturveranstaltungen. Übertrieben authentisch bespielt er das gesamte literarische Feld.

Die Diva Die Diva ist eine Kurvenblüte und stellt sich gerne aus. Auf Bühnen und in gefüllten Sälen, auf Podesten kann man sie bewundern. Vor einer tosenden See von Gesichtern, die mit großen Augen und Erwartungen zu ihr hinaufblicken, steht sie da, wie eine seltene Skulptur. Die Diva hebt den Arm langsam hoch und hält ihn mit wohl einstudierten Gesten oben. Auf literarischem Terrain ist es oft der Zeigefinger, den sie erhebt. Dann haucht Sie: Dear Mr. President … Doch statt eines Geburtstagsständchens trällert sie Kritik. Wenn alles geblendet die Augen schließt, lässt sie den erhobenen Arm, etwas rascher, wieder sinken. Dann blickt sie in die Ferne, als wäre niemand da, dreht sich um 180 Grad herum, hebt, noch langsamer, den anderen Arm hoch und zupft an ihrer Frisur, die nicht weniger gepflegt ist als ihre Sprache. Wo immer sich die Diva befindet, wird sie nicht müde da zu stehen – diese Figur! –, um bald den Arm und bald die Stimme zu erheben. Auch zuhause tut sie dies, ganz allein vor dem Spiegel. Die Diva ist die unangefochtene ‚primadiva inter pares‘ der großen Selbstdarsteller, bemerken Kritiker huldvoll über das intergalaktische Wesen. Bei Tag ist sie besonnen. Nachts ist es schwerer, dann träumt sie schlecht, vom Butt, von der Ratte, von Zwiebeln und von Häutungen. Dann erwacht sie von Zeit zu Zeit, rechnet ihre Gagen nach, die nie hoch genug sind, gleitet von der Bettkante und stellt sich aufrecht. Schon hebt sie den Arm, sucht nach Worten und blickt in die Ferne. Sie weiß, was sie kann. Dann legt sie sich halbwegs beruhigt wieder schlafen. Natürlich weiß die Diva, was sie ihren Fans schuldig ist – durch kuriose Gesänge begeistert sie in alter Frische ihr Publikum. Oft verfehlt sie den Ton, doch denkt man an ihre Sternstunden, so ist man bereit, darüber hinweg zu sehen. Nur in einem Punkt ist sie widerborstig und sträubt sich: zu karikieren ist die Diva nicht. Schließlich entlarvt die Karikatur durch Übertreibung. Und wie will man bloß das aus sich selbst heraus grenzenlos Übertriebene noch übertreiben?

Der sendungsbewusste Pop-Dandy Sein Seelenschmerz tropft wie Karamell durch die Feuilletons. Unter der Schicht der klebrigen Süße findet man seine Geschichte. Sie ist poppig bunt, mit Zuckerguss überzogen und einem dunklen Schokoladenkern. Die Geschichte des sendungsbewussten Pop-Dandys schmeckt nach Ruhm, sahniger Aufmerksamkeit und bitterer Konkurrenz. Auf der Straße erkennt man den Dandy sofort. Sein weißes Hemd unter

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seiner schmalen Krawatte und dem edlen Zwirn überstrahlt den Großstadtasphalt der Berliner Republik. Seine Sichtbarkeitsstrategie auf dem literarischen Markt der Eitelkeiten, mit der er die Hoffnung auf Anerkennung verbindet, ist die Zugehörigkeit zu einer popliterarischen Allianz. Ihr Schlachtruf: „Tristesse Royal!“ Trifft sich der sendungsbewusste Pop-Dandy mit Spezies seiner Art, läuft immer ein Tonbandgerät oder eine Kamera mit. Denn auch das Volk soll an der kunstvollen Selbstvermarktung der Pop-Elite teilhaben dürfen. Zeitversetzt versteht sich. Auch ein Markenzeichen hat der Pop-Dandy, die erhobene Nase, und einen festen Willen: die mediale Dauerpräsenz. Doch das birgt Gefahren. So lebt der sendungsbewusste Pop-Dandy wie unter einer gläsernen Glocke, ständig unter Beobachtung und stets in der Versuchung, zu viel von seiner Geschichte zu naschen. Seine Geschichte kann schnell zur Sucht werden. Dann liegt er da, der sendungsbewusste Dandy, rücklings auf der weißen Liege in der Klinik. Und stammelt „Ich, ich, ich …“. Doch die Fotografen von der Zeitung hören gar nicht hin. Worte interessieren sie nicht. Sie haben sich ihr Bild gemacht. Und der Dandy siecht dahin und träumt vom Blick aus dem Hotel Adlon, und davon, dass ganz Berlin jubelnd die Hände in die Luft werfe, um sein Werk, nein, vielmehr ihn selbst, frenetisch zu feiern, wie einen Weltstar auf einem Popkonzert. Ein schöner Traum.

Das ungehemmte Alpha-Mädchen Das ungehemmte Alpha-Mädchen löst das Fräulein Wunder ab. Stülpte das Fräulein Wunder noch, auf Lesungen in Kirchenschiffen und Kapellen, mit sanfter Stimme, einem Mona-Lisa-Lächeln und einem melancholischen, weichgezeichneten Blick in Virginia Woolfs Manier die Verletzlichkeit der weiblichen Seele nach außen – und den unausgesprochenen Wunsch, den ihr Virginia ins Ohr setzte, der da heißt: a room of my own. Ein abgeschlossener Raum, ohne Kritiker, nur für sie allein. So agiert das ungehemmte Alpha-Mädchen konträr. Selbstbewusst, mitunter ein bisschen anzüglich, tobt es mit wilder Mähne durch den Medienbetrieb. Das ungehemmte AlphaMädchen lässt alle Türen offen. Manchmal tritt es sie sogar lächelnd ein, um zu überraschen, verschreckte Gesichter zu fotografieren oder zu jubilieren: Leute, mein Herz glüht!9

Der Gockel Der Gockel lässt sich nicht gerne zum Verweilen in der Scheune nieder, das ist ein zu dunkler Ort. Er tummelt sich lieber auf natürlichen Erhebungen im Freien, wo es hoch und hell ist und andere ihn eifrig bewundern. Die Worte fallen ihm aus dem Schnabel wie Haselnüsse. Mal sind sie leicht, da sie leer sind, mal sind sie schwer, weil ihr Kern in die Tiefe drückt. Doch stets sind es ihrer viele.

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Alexa Hennig von Lange: Leute, mein Herz glüht! München 2009.

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Der Gockel sagt nicht zwingend das, worüber er nachgedacht hat, er sagt es vorher. Nicht das Herz, aber seine Zunge geht ihm über. Die Einsamkeit meidet er, Enzyklopädien, Bücher und Zeitungen schluckt er. Mit seinen flinken Augen liest er die gedruckten Zeilen, als habe er sie selbst verfasst, so rasch. Und schon gehen sie in seinen Wortschatz über, kullern ihm überall aus dem Schnabel. Seine Strategie der Selbstinszenierung ist die Wissens-Simulation. In wolkigen Worten hat er diese um sich aufgebauscht. Betritt er einen Raum, sind die Wortwolken immer schon eine Schnabellänge vor ihm da, ehe sein glänzendes Gefieder den Raum erhellt. Auch Flirtabenteuern ist er nicht abgeneigt. Denn schön ist er natürlich auch, der Gockel. Sein roter, prächtiger Kamm leuchtet auch bei Wein und Kerzenschein – und blendet so manches Huhn. Kollegen, Hennen und Freunde hat der Gockel bloß zum Üben. Nie holt er Atem, um zu verschnaufen oder gar um zuzuhören. Doch stört es ihn, dass seine Fan-Schar nie ganz neu ist. Lieber wäre es ihm, man könnte sie gegen andere tauschen. Denn seine Fans legen zu viel Wert darauf, mit ihm bekannt zu sein. Und manchmal missbrauchen sie einen unachtsamen Augenblick des Gockels, um ihren eigenen Schnabel zu öffnen und, welch Unverschämtheit, selbst etwas zu sagen.

Der unermüdliche Aufklärer Geschlecht: oft männlich. Familienstand: Häuptling. Kennzeichen: moralischer Realismus. Seine Strategie der Selbstinszenierung: Authentizität und Häresie. Seit Kindesbeinen weiß der unermüdliche Aufklärer, dass niemand gerechter ist als er. Er hat es vielleicht schon früher geahnt, aber da konnte er es noch nicht überzeugend vorbringen. Jetzt ist er gebildet, beredt und sehr bemüht zu zeigen, wie infam es auf der Welt zugeht, nicht allein im Literaturbetrieb. Täglich durchfliegt er auf den geistigen Schwingen des Pegasus die Tageszeitungen nach neuen Unzulänglichkeiten. Wenn er etwas ernst nimmt, ist es die Öffentlichkeit. Findet er eine moralische Verwerflichkeit – Atomare Bedrohung! Keine Toiletten in Danzig! Arbeitslos unter Tage! – schreit er empört: „Zumutung!“ Zwischen Daumen und Zeigefinger packt er den Kern des Verwerflichen, steckt ihn in den Mund und beißt darauf herum. Solange, bis er weich ist. Und denkt verächtlich: Pfui Teufel, Kaugummi! Und das will ein Kern sein! Dennoch, es gibt ihm keine Ruhe. Der unermüdliche Aufklärer geht der Sache nach. Er entwirft einen Plan. Denn er ist der moderne Robin Hood; ihm kommt man mit schlechter Ökobilanz, Unmenschlichkeit und fragwürdigen Freizeitaussichten nicht bei. Er wird es dem unmoralischen Kern schon zeigen, auch wenn der unter seinem Biss so schnell nachgibt. Der unermüdliche Aufklärer folgt jeder Bewegung des unmoralischen Kerns, inkognito – versteht sich. Manchmal, wenn seine Hand von Anklageschriften müde ist, lässt sich der Aufklärer bei seinen Erkundungen filmen: Undercover. Im Namen der Gerechtigkeit denkt er und fährt Rolltreppe abwärts. Dann ruft er mit einer Stimme, die vom Protest schon ganz heiser ist: Ihr da oben, wir da unten!10

10 Günter Wallraff: Ihr da oben, wir da unten. Köln 1973.

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Böse Zungen sagen, dass er mit dem unmoralischen Kern in wilder Ehe lebe. Denn ohne ihn bliebe das Leben des Aufklärers leer. Der unermüdliche Aufklärer spricht und träumt von dem Unmoralischen, fast unaufhörlich. Es ist ein ungleiches Paar. Wenn der Aufklärer nach Hause kommt und endlich seine Ruhe will, legt er den kleinen Kern auf seinen Nachttisch, sagt: Kusch! Und erschreckt ihn mit angeklebtem Schnurrbart. Doch der schlaue Kern hat Geduld und wartet. Er sondert einen ganz speziellen Geruch ab, und wenn der unermüdliche Aufklärer schläft, sticht er ihm scharf in die Nase.

Der Denkmal-Zwicker Der Denkmal-Zwicker ist der Punk des Literaturbetriebs. Er ist in den Parks, in Fernsehsendungen und auf den Boulevards anzutreffen. Dort macht er sich an den Denkmälern zu schaffen. Die mögen aus Bronze, aus Stein oder aus Marmor sein. Solche mit ausgewiesenen Ehreninschriften kommen ihm wie gerufen. Entdeckt er so ein Denkmal in einer Grünanlage, dann tut er, was er tun muss. Er schleicht um die Statue herum. Vielleicht nimmt er auch Deckung im Gebüsch und krabbelt erst wieder hervor, wenn die Sonne schwindet. Doch früher oder später schwingt sich der Denkmal-Zwicker geschickt auf den Sockel. Dort steht er dann, blickt hinauf und fasst sich ein Herz. Der Denkmal-Zwicker ist natürlich ein wenig beseelt von der Größe des Denkmals, auch wenn er es nicht zugibt. Deshalb sucht er nur die kleine Schändung. „Greif an!“, rufen seine drei Freunde, mit denen er manchmal gemütlich in den Fernsehsesseln hockt, und die plötzlich ihre Köpfe aus den Sträuchern stecken. Er überlegt, wo es am günstigsten wäre. Er will nicht gleich das ganze Denkmal umstoßen, es auch nicht böse bekritzeln. Er braucht keine Brechstange, keinen Filzstift und keine Sprühdose. Der Denkmal-Zwicker will nur ganz wenig Häresie. Nur mal eben in den Allerwertesten zwicken und am Ruhmesrock zupfen. Dazu muss er was zwischen den Fingern halten: er braucht Stoff. Wenn er so einen hat, lässt er ihn lange nicht los. Er kneift ganz fest und glüht vor Kraft. Höher klettern will der Denkmal-Zwicker nicht. Er könnte bis in die Armbeuge klettern, sich auf die steinerne Schulter schwingen und das Denkmal auf Augenhöhe am Ohrläppchen oder der Nasenspitze zwicken. Das wäre der Gipfel. Doch letztlich verweilt der Denkmal-Zwicker an dem bescheidenen Platz, am Sockel – und lehnt sich an. Doch irgendwann kommt der Tag, an dem sich der Zwicker mit einem mächtigen Ruck ganz nach oben hinauf schwingen und dem Denkmal höhnisch und vor aller Welt auf den Kopf spucken wird. Vielleicht.

Der Talent-Sucher Der Talent-Sucher lebt in freier Wildbahn. Während der Pirsch auf dem literarischen Feld vergleicht er und misst ab. Anstatt der Strategien hat er seine eigenen Maßstäbe. Der Talent-Sucher hat eine spezielle Schablone und eine kleine Peitsche im Gepäck. Er weiß: Talente findet man nicht überall. Viel hängt von Geburtsorten ab. Es gibt welche, die als wahre Größen nicht in Betracht kommen, das erkennt er gleich. Das

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liegt vielleicht am Sumpf, am Klima oder einem allzu niedrigen Wasserstand. Andre wiederum scheinen gar hundertprozentig zu passen. Doch er weiß auch: Die Talente sind schnell dabei, überzulaufen, weil ihre hohe Wachstumsrate bekannt ist. Der Talent-Sucher ist unbestechlich. Natürlich hat er objektive Kriterien. Er zieht seine Schablone aus dem Rucksack, eine Waage und einen Hohlspiegel. Er versteht sich auf alles, macht es im Nu, schätzt, rechnet, addiert und subtrahiert. Alle, die an seine Maßstäbe nicht heranreichen, wirft er beiseite. Leicht macht er es sich nicht! Er plagt sich redlich. Manchmal hat er übermütige Momente. Dann haut er sein ganzes Handwerkszeug in den See, wirft beide Arme in die Höhe und ruft: Genie! Hat er erst einmal ein Genie im Unterholz entdeckt, dann gibt es nicht mehr viel zu messen und zu sagen. Dann schmeißt er das Lagerfeuer und den Grill an, um zu zelebrieren. Es geht das Gerücht um, er gehe gar nicht so gerne auf die Pirsch und betreibe seine Feldforschung nur, um unerwartet und unwiderruflich ein Genie aus seinem Rucksack zu zaubern. Beim Genie hören natürlich alle Erklärungen auf. Da kann selbst das ungünstigste Biotop nichts vereiteln. Auch gibt es ein Genie nur ganz, und es ist völlig verfehlt, ihm mit Viertel- oder Achtel-Genies zu kommen. Da hören alle ordinären Rechnungsarten auf; vielleicht käme man mit Integralrechnung weiter, aber auch das ist fraglich. Um die Ökologie nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen, achtet der TalentSucher genau darauf, dass die Zahl der Genies nicht zu groß wird. Ohne den TalentSucher wäre es mit den Dichtern aus, niemand wüsste, wo ein Genie sich verkrochen hat, niemand wüsste, wie man es aus dem Unterlaub hervorzieht, es abklopft und von den Schlacken befreit, die ihm noch anhaften. Hat der Talent-Sucher seine Arbeit getan, hängt er seine Safari-Weste an den Haken und übergibt das Talent dem Betrieb. Dort erhält das Talent einen neuen Betreuer, den Lektor, in kleineren Verlagen auch den Verleger selbst. Nach ein paar Pflegehinweisen vom Talent-Sucher kennt dieser sein neues Talent schnell auswendig; er weiß, wie viel Licht es braucht, womit man es füttert und von welchen Feinden man es fernhält, damit es nicht verglüht. Und welche Strategien es braucht, um in der Narretei des Betriebs gesehen zu werden.

Resümee

Resümee und Diskussion

Wenn ein berühmter Rockgitarrist, von einer Kokospalme purzelt, wie kürzlich Keith Richards von den Rolling Stones, wird dessen Genesung wie eine Auferstehung gefeiert.1 Literaten hingegen haben es schwer. Die Fidschi-Inseln, wo sich besagter Sturz ereignete, sind weit weg, das Dichtersalär ist bescheiden und auch plage die Literaten das fehlende praktische Talent. Für derlei werbewirksame Kapriolen sind sie vorgeblich nicht realitätstüchtig genug: „Mir fällt es schon schwer, mein geparktes Auto wieder zu finden“2, vertraut uns einer von ihnen an. Begeben sie sich dennoch in die mediale Öffentlichkeit, so steht zu befürchten, sie erlitten unversehens einen Seelenschaden, wie Peter Handke, der uns wissen lässt: „Ich habe damals gemerkt, dass diese Blitzlichter in meine Gefühle eingreifen.“3 Was also tun? Den Seufzer des Unbeachteten austoßen? Wie Walter Kempowski, der klagt: „Von vielen werde ich noch immer geradezu boykottiert. Glauben Sie, ich hätte in 30 Jahren von einem Kultusminister in Niedersachsen auch nur eine Postkarte bekommen? Kein Goethe-Institut lädt mich ein, und die großen Literaturpreise habe ich alle nicht.“4 Oder hilft doch der zaghafte Versuch, sich intellektuell ins Rampenlicht zu manövrieren und sich werbewirksam sprach-artistisch zu exhibitionieren? Tatsächlich, die Literaten klettern aus dem Elfenbeinturm herab, schütteln sich den Staub aus dem Haar und mühen sich: Sie setzen sich in Fernsehsendungen, plaudern über politische Ansichten, verraten dunkle Geheimnisse und lassen sich von Journalisten porträtieren oder sogar filem. Sie sind im Internet präsent und geben Signierstunden. Und siehe da, es gelingt! Als Figur der Öffentlichkeit gewinnen sie an Kontur. Nur mit einer Hürde haben sie noch zu kämpfen: mit ihrer Sublimationsuntauglichkeit, also der eingangs hypothetisch unterstellten Unfähigkeit zur Verdrängung von seelischer Last, die tiefgründige Literatur entstehen lässt, aber das Leben in der Öffentlichkeit zu erschweren scheint. Wie verhält es sich damit? Ist die seelische Last eine tatsächlich vorhandene oder nur eine mythologisch verfestigte, aber längst obsolet gewordene Eigenart?

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Vgl. Dieter Heimböckel: Zwischen Elfenbein- und Fernsehturm. In: Grimm/Schärf, Schriftsteller-Inszenierung, S. 215-230, 215. Sten Nadolny, in: Michaelsen, Starschnitte, S. 233. Peter Handke, in: Michaelsen, Starschnitte, S. 97. Walter Kempowski, in: Michaelsen, Starschnitte, S. 102.

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Sublimationsuntauglichkeit als Realitätsmodell Alles geben die unendlichen Götter ihren Lieblingen ganz, […], die Schmerzen, die unendlichen, ganz. FRANZ KAFKA5

Der Spaziergang durch die Kulturgeschichte scheint die Sublimationsuntauglichkeit zu bestätigen, ja diese sogar als Urgrund der Inszenierung zu verfestigen. Denn haben sich auch einzelne Strategien verändert und verfeinert, tradiert hat sich bis heute der in fast allen öffentlichen Einlassungen sichtbare dichterische Bewusstseinsschmerz. „L’art est un luxe; il veut des mains blanches et calmes“, behauptete Flaubert und verglich den Schriftsteller mit den römischen Gladiatoren: „Il amuse le public avec ses agonies.“ Was in den intellektuellen Selbstinszenierungen seit jeher anklingt, ist die Kultivierung des Kümmernisses eines an den eigenen und weltlichen Widrigkeiten leidenden Literaten, und zwar bereits im späten Mittelalter. Erasmus von Rotterdam hatte zum Beispiel von Kind auf ein „zerbrechliches Körperchen“, litt an krankhaftem Ekel vor Fischen und Burgunderwein sowie an einer Lebensangst, die ihn jeder geistigen Entscheidung ausweichen ließ. Aber er kompensierte diese Schwächen (schon damals) höchst erfolgreich, indem er mit ihnen kokettierte und sie zum raffinierten Mittel seiner Eitelkeit machte. Er gefiel sich in seiner nervösen Empfindlichkeit, sie war ihm der Beweis seines geistigen Ranges. Er liebte es, sich porträtieren zu lassen, wobei er jedoch dafür sorgte, dass das Barett seinen steil abfallenden Hinterkopf verdeckte und dafür die feinen Hände gebührend zur Geltung kamen. „Auch Voltaire war wegen seiner ewigen Kränklichkeit und altweiberhaften Hässlichkeit nicht unglücklich. Sie gehörten zu seinem abenteuerlichen literarischen Haushalt, sie stachelten seinen Autorenehrgeiz auf.“6 Von Kleist weiß man, dass er ein Leben lang

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Franz Kafka: Tagebücher. In: Schriften. Tagebücher. Briefe. Kritische Ausgabe. Hrsg. v. Hans-Gerd Koch et al., Frankfurt a. M. 1990, S. 425. Vgl. Walter Muschg: Tragische Literaturgeschichte (1948). Zürich 2006, S. 446. Annette von Droste-Hülshoff sei von Jugend an kränklich und abnorm kurzsichtig gewesen. Marie Ebner-Eschenbach habe gestanden, dass das Bücherschreiben ihr das verwehrte Mutterglück ersetzte. Byron, Flaubert und Dostojewski seien der Epilepsie unterworfen gewesen (Dostojewski will seine Romane unter der Wirkung ihrer Anfälle geschrieben haben, in denen er eine göttliche Quelle sah; Flaubert sei in seiner Jugend durch epileptische Attacken gezwungen gewesen, sein Studium abzubrechen und eine literarische Laufbahn zu beginnen). Jean Paul war sein eigener Arzt und verfasste kurz vor seinem Tod ein pathologischanatomisches Gutachten über den Zustand seines kranken Körpers. (Vgl. ebenda, S. 430 ff.) Gottfried Keller tröstete sich über die Leiden mit dem zweckoptimistischen Geständnis hinweg: „Mehr oder weniger traurig sind am Ende alle, die über die Brotfrage hinaus noch etwas kennen und sind. Aber wer wollte am Ende ohne diese stille Grundtrauer leben, ohne die es keine rechte Freude gibt? Selbst wenn sie der Reflex eines Leidens ist, kann sie eher vielleicht eine Wohltat als ein Übel sein, eine Schutzwehr gegen triviale Ruchlosigkeit.“ (Ebenda, S. 437.)

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ebenso wie Grillparzer an einem Sprachfehler litt, den er durch geistige und darstellerische Leistung wirkungsvoll zu kompensieren wusste.7 Am Beispiel Flauberts und anhand der Selbstaussagen Kafkas, Paveses, Pessoas, Jüngers und Hebbels stellt Meyer-Sickendiek heraus, dass die Dämpfung des schriftstellerischen Schmerzes erfolgreich ist, wenn der Schmerz nicht kognitiv oder literarisch überformt, sondern expressiv und performativ zum Ausdruck gebracht wird.8 Die Zelebrierung des Schmerzes in der Selbstinszenierung (z. B. in der leidenden Pose wie bei Kempowski oder der Herabsetzung des eigenen Selbst wie bei Jelinek) sei dann am effektvollsten und wirke dadurch lindernd, wenn sich der Schriftsteller der „Tradition der großen Kranken, der großen Einsamen und vom Schmerz gepeinigten bewusst wird“ und diese Tradition öffentlich bewusst macht. Denn „[d]ie Edelsten leiden den meisten Schmerz. Auch der Schmerz wählt den besten Boden“, lautet eine entsprechende Notiz aus dem Tagebuch Hebbels.9 An anderer Stelle schreibt er: „Einen kleinen (körperlichen wie geistigen) Schmerz durch eigene Kraft vergrößern, heißt, ihn lindern.“10 Dichtung sei gestalteter, nicht nur gelebter Schmerz, behauptet Muschg in seiner Tragischen Literaturgeschichte, in der er acht Phasen des künstlerischen Leides bis hin zum Ruhm analysiert: die Armut, das Leiden, die Entsagung, die Schuld, die Fantasie, das Wort, die Vollendung und der Ruhm.11 Gestalten könne man den Schmerz nur, wenn man ihn bejaht – und überwindet, literarisch oder in der Selbstinszenierung. Er werde dann eine positive Kraft, mit der der Autor seelische Widerstände bezwingt und, aus heutiger Sicht, kulturelles Kapital erringt. „[I]m Leiden“, schreibt Schadewaldt über den Schmerz in der antiken Tragödie und über den ‚sophokleischen Menschen’, „entscheidet der Mensch sich ganz zu dem, was Ewiges an ihm ist.“12 Wo sich das schriftstellerische Leiden transformiert und dabei den menschlichen Wesenskern, das Ewige zur Schau stellt, vielleicht sogar etwas Ewiges oder aber Kurzweiliges schafft, haben wir es somit entweder mit Literatur oder der Selbstdarstellung zu tun. Gottfried Herder skizzierte in die Ursachen des gesunkenen

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Vgl. Muschg, Tragische Literaturgeschichte, S. 430 ff. In seiner umfassenden Affektpoetik geht Meyer-Sickendiek der Frage nach, inwiefern dichterische affektuelle Regungen produktions- und werkästhetisch sowie literatur- und kulturwissenschaftlich prägend sind und für neue Gattungs- wie Erlebnisformen ebenso wie für den literarischen Diskurs konstitutiv sein können. Seine Affektpoetik basiert auf der Annahme, dass der Dichter in übergeordneten Textformen und Medien menschliche Affekte artikuliert, transformiert und kanalisiert und damit neue Seins- und Erlebnisweisen legitimiert. Diese Idee verfolgt M.-S. jedoch ausschließlich anhand von traditionell literarischen Texten, dort allerdings an zahlreichen Beispielen. 9 Friedrich Hebbel: Tagebücher. Hrsg. v. Anni Meetz. Stuttgart 1963. Vgl. auch: „So sehr man geneigt ist, in der Reflexion auf den Schmerz die intimste und vielleicht authentische Form der Selbstbegegnung zu sehen, zugleich ist der Schmerz ein Topos des modernen Künstlers. […] Schmerz ist immer ein Wesensmerkmal der extremen, geschichtsmächtigen Biographien, ein Kennzeichen der ‚großen Einzelnen’.“ (Meyer-Sickendiek, Affektpoetik, S. 242). 10 Vgl. Meyer-Sickendiek, Affektpoetik, S. 427. 11 Vgl. Muschg, Tragische Literaturgeschichte. 12 Wolfgang Schadewaldt: Sophokles und das Leid. Potsdam 1947, S. 22.

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Geschmacks (1775) den Prozess der Wandlung des Leids in etwas Künstlerisches mithilfe der folgenden Typologie des Schaffens: „Das Kunstwerk kann a) so eingeschränkt […] sein, als der Instinkt der Biene [...]. b) Das Kunstwerk kann den Menschen so anziehen, dass eben diese Leidenschaft die andern Kräfte und Neigungen aus der Fassung bringt […] . c) Gewisse Werke können würklich eine Leidenschaft der Art fordern, die denn künstlich – aber nicht moralisch – gut ist. Sie wollen Sturm, nicht aber eben Sonnenhelle.“13

Ungeachtet der Tatsache, wozu das Leid den Schriftsteller literarisch anregt (zum boulevardesken Sturm oder zur geistigen Sonnenhelle, lässt sich aus Herders Ideen das Movens der Selbstinszenierung ableiten, weil es den gleichen seelischen Ursprung hat wie die Kunst und die Literatur. Herder wies selbst darauf hin.14 Im Schaffen spiegeln sich die Grundformen des Dichtertums und seiner figurativen Inszenierung – auf dem Papier ebenso wie in der Öffentlichkeit. Der fundamentale Unterschied zwischen der aus Schmerz geborenen Poesie und der aus Schmerz geborenen Selbstinszenierung liegt laut Muschg darin, dass die Poesie zwar aus „Agonie“ bestehe, aber anders als die Selbstinszenierung am Ende „keine Spur des Leidens“ mehr zeige.15 Der wunderbarste Glanz eines Werkes sei der Schmerz, der nicht mehr schmerzt. So habe auch Goethes Talent unter anderem darin bestanden, den Schmerz in Dichtung zu verwandeln – sich erschüttern zu lassen, ohne sich zu verlieren. 16 Die Poesie trägt in diesem Verständnis den apollinischen Wesenszug, während die weniger maßvolle und mit geringerem Erkenntniswert ausgeführte Selbstinszenierung

13 Gottfried Herder: Herders sämmtliche Werke (1877-1913). 33 Bde. Bd. 5. Hrsg. v. Bernhard Suphan, Hildesheim 1968, S. 610 f. 14 Herder selbst hat darauf hingewiesen, dass der Dichter sein kreatives Geschick, das sich in der Literatur niederschlägt, auch auf seine Lebensart übertragen könne: „Freilich kann der Dichter, Maler, Bildhauer, Tonkünstler von seinem Kunstgeschmack Anlass, Gestalt, Erinnerung, Modell nehmen, seine ganze Seele, sein ganzes Leben zu bilden, und das wäre freilich eine Tugend. Er kanns; ob ers aber auch will?“ (Ebenda S. 611.) Dichterische Selbstinszenierung sei Selbst-Interpretation durch Darstellung, sie sei Sturm, nicht aber eben intellektuelle Sonnenhelle, so Herder. 15 Vgl. Muschg, Tragische Literaturgeschichte, S. 445. 16 „In seinen Bekenntnissen stellte er [Goethe] sich als bis zuletzt als einen leidenden, tief gefährdeten Menschen dar. […] Musset nannte Goethes Faust ‚la plus sombre figure humaine qui eût jamais représenté le mal et le malheur’ und andere teilten diese Meinung. Sie ist nicht die ganze Wahrheit, aber sie ist wahrer als die Maske des olympischen Glücksmenschen, mit der man in Deutschland das tiefere Verständnis Goethes verhinderte.“ (Muschg, Tragische Literaturgeschichte, S. 459) Der Unterschied zu manch anderem Schriftsteller mag darin bestehen, dass sein ichbezogenes Leiden seine Literatur zwar hervorbrachte, sich in ihr aber nicht niederschlug, sondern in ihr auflöste. Goethe „war der Erste, dem dieses Verhältnis von Kunst und Leiden so klar aufging, und er machte es zur Grundlage seines Schaffens.“ (Ebd., S. 460.)

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sich durch rauschhaftes Verzücken und glühende Selbstbezogenheit auszeichne. 17 Die Dialektik des Dionysischen und Apollinischen beschäftigte in verwandter Form auch Freud. Sein Begriff des „Festes“, den er in Totem und Tabu präzisiert, und seine Idee des „milden Narkotikums“ zeugen von diesem Dualismus.18 „Ein Fest ist ein gestatteter, vielmehr ein gebotener Exzess, ein feierlicher Durchbruch eines Verbotes. Nicht weil die Menschen infolge irgendeiner Vorschrift froh gestimmt sind, begehen sie die Ausschreitungen, sondern der Exzess liegt im Wesen des Festes; die festliche Stimmung wird durch die Freigebung des sonst Verbotenen erzeugt.“19

Den zugrunde gelegten Kausalitäten, die bei Nietzsche und Freud invers sind (bei Nietzsche ist das Reine, das Apollinische die Überwindung des Dionysischen, bei Freud hingegen ist das dionysische Fest die Überwindung des narkotisierend Maßvollen), lässt sich entgehen, sofern Verbot und Befreiung als andauerndes Spiel betrachtet werden, das nicht durch seine Finalität wissenschaftlich interessant ist, sondern sich durch seine Wechselseitigkeit im modus vivendi definiert und damit die Notwendigkeit der Existenz beider Prinzipien festigt. Im Schreiben (als apollinisches Narkotikum) und in der Selbstinszenierung (als dionysisches Fest)20 finden die beiden Prinzipien ihre lebendige Entsprechung im literarischen Leben.

17 In Der Willen zur Macht hat Friedrich Nietzsche eine zusammenfassende Definition gegeben: „Mit dem Wort ‚dionysisch’ ist ausgedrückt: ein Drang zur Einheit, ein Hinausgreifen über Person, Alltag, Gesellschaft, Realität, über den Abgrund des Vergehens: das leidenschaftlich-schmerzliche Überschwellen in dunklere, vollere, schwebendere Zustände; ein verzücktes Ja-Sagen zum Gesamt-Charakter des Lebens […] die große pantheistische Mitfreudigkeit und Mitleidigkeit, welche die furchtbarsten und fragwürdigsten Eigenschaften des Lebens gutheißt und heiligt […]. Mit dem Wort ‚apollinisch’ ist ausgedrückt: der Drang zum vollkommenen Für-sich-Sein, zum typischen Individuum […]: die Freiheit unter dem Gesetz […] und die Mäßigung, die höchste Form der Selbstbejahung in einer kühlen, vornehmen, spröden Schönheit.“ (Friedrich Nietzsche: Der Wille zur Macht. Paderborn o. J., Aphorismus 1050, S. 690 ff.) Der im öffentlichen Diskurs präsente Mythos des Schriftstellers entspricht bis heute dem apollinischen Ideal: Er legt das Gewicht auf Form, Maß, Haltung, Geist und Erkenntnis. In der Realität wird der Schriftsteller und sein Mythos vom Dionysischen überwältigt: Er verliert seine Contenance, ist verzückt, verzweifelt, berauscht von seinen Gefühlen, die er nun nicht literarisch sublimiert, sondern öffentlich auslebt, in einer formlosen dionysischen Selbstinszenierung. 18 Vgl. Peter von Matt: Literaturwissenschaft und Psychoanalyse. Stuttgart 2001, S. 32 f. 19 Sigmund Freud: Totem und Tabu. In: Alexander Mitscherlich (Hrsg.): Sigmund Freud. Studienausgabe. 10 Bde. Frankfurt a. M. 1969-1975, Bd. 9, S. 425. 20 „Ein zufriedenes Leben verhindert Literatur. Aber Gott sei Dank fahre ich immer noch vielen Leuten mit dem Arsch ins Gesicht. Achternbusch sagt, ich sei eine Mischung aus einem beredten Gartenzwerg und einem schweigenden Hitler. Das Bild hat was Wahres. Ich hatte Wutanfälle, dass das Haus zitterte. Ich habe ganze Generationen von mir unangenehmen Menschen in den Orkus geschickt. Diese Hirnwut ist ja mein Kapital. Nur damit kann ich schreiben. Die Wut ist der Motor. Wer einverstanden ist, der schreibt nicht.“ (Franz Xaver Kroetz im Gespräch mit Sven Michaelsen. In: Michaelsen, Starschnitte, S. 46.) „Meine

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Wenn wir nun die Selbstinszenierung des Schriftstellers als den feierlichen Durchbruch einer Beschränkung definieren, als die „Freigebung eines sonst Verbotenen“ (Freud), Verborgenen (wie der Angst oder der Scham) oder eines durch die intellektuelle Vernunft Unterbundenen, in bestimmter zeitlicher und lokaler Begrenzung, dann tritt die Frage, ob die Selbstinszenierung authentisch oder künstlich, Eruption oder Konstruktion ist, als Sekundäres in den Hintergrund. Denn die Selbstinszenierung wäre dann per definitionem ein soziales, kreatives Ereignis, das temporär und lokal begrenzt als dionysischer Ausgleich der sonst apollinischen Lebensenergie fungiert, so selbstverständlich sozial wie eben die illusio des Feldes und die ungeschriebenen Verhaltensnormen der Intellektualität, die es jeweils in dem Akt der Selbstinszenierung übertritt. Zu ähnlichen Überlegungen kommt bei ganz anderer Ausgangslage Michail Bachtin mit seinem Begriff des Karnevalistischen.21 Das karnevalistische Bewusstsein, das für ihn bekanntlich dialogisch, diskursiv und subversiv angelegt ist und als Gegenpol zur monologischen, offiziell herrschenden literarischen Kultur fungiert, symbolisiert dann die Überwindung des Leidensdrucks und des Ernstes durch die emotionale Expressivität, in der sich das Lachen über das (allzu) ernste literarische System spiegelt. „Das Moment des Lachens, das karnevalistische Weltempfinden […]. [Die karnevalistischen Empfindungen] zerstören die beschränkte Ernsthaftigkeit sowie jeglichen Anspruch auf eine zeitlose Bedeutung und Unabänderlichkeit der Vorstellung von der Notwendigkeit. Sie befreien das menschliche Bewusstsein.“22

In diesem Sinne könnte eine wesentliche Facette der öffentlichen Selbstinszenierung ebenjene Befreiung des dichterischen Bewusstseins aus den eigenen Zwängen sein. Diese Befreiung könnte obendrein subversiv wirken, wenn die Selbstdarstellung (über den ökonomischen Aspekt hinaus) nicht isoliert, sondern in ihrem übergreifenden, dialogischen, intertextuellen (auch intervisuellen oder interperformativen) Effekt als avantgardistisches Ausdrucksmittel verstanden wird, das keine geistige Degeneration des literarischen Feldes bedeutet, sondern eine Entkrampfung und Gesundung durch die satirische Deformation. Wenn man der Entfremdung ein karnevalistisches Bewusstsein zugesteht, ließen sich ihre unterschiedlichen Strategien durchaus nicht nur kritisch, sondern auch unterhaltsam als eine besondere, kreative Ausdrucksform interpretieren, „deren Wörter und Formen eine ungewöhnliche Kraft der symbolischen Verallgemeinerung, das heißt: der Verallgemeinerung in die Tiefe, besitzen.“ Und Bachtin plädiert für eine solche mit der Begründung: „Viele wesentliche Seiten, genauer Schichten des Lebens, überdies solche, die tiefer liegen, lassen sich nur mit

Familie nennt mich wegen meiner Wutausbrüche Iwan der Schreckliche. Ich genieße den Rausch, der mit meiner Kragenplatzerei verbunden ist.“ (Walter Kempowski, in: Michaelsen, Starschnitte, S. 102.) 21 Michail Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt a. M. 1969. Und: Renate Lachmann (Hrsg.): Michail Bachtin. Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt a. M. 1965. 22 Bachtin, Literatur und Karneval, S. 28.

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Hilfe dieser [karnevalistischen] Sprache finden und wiedergeben“23 – einer karnevalistischen, performativen Sprache, die sich der Weltentfremdung durch eine ironische Entfremdung von der Entfremdung entgegenstellt.24 Dort, wo „Literatur als Therapie“ (Adolf Muschg) versagt, setzt demnach ein weiterer, aus wissenschaftlicher Perspektive karnevalistisch zu nennender Mechanismus ein, der es den Schriftstellern ermöglicht, ihre unsublimierten Impulse freizusetzen durch die öffentliche Selbstinszenierung. Die emotionale Kreativität ist damit nicht länger nur das Movens der literarischen Produktion, sondern sie verwandelt sich (auf der Grundlage desselben Impulses, aber mit anderer Wirkung) performativ in der literarischen Öffentlichkeit. Dort ist die so gezeigte Kreativität ähnlich wie die Literatur verantwortlich „für die Bildung historisch neuwertiger Formen emotionalen Erlebens.“25 Die neuen Formen gründen demnach keineswegs auf Verstellung, sondern maßgeblich auf Enthüllung und impulsiver Befreiung. 26 Aus dem Spalt zwischen dem Schriftsteller und der Welt entfaltet sich seine komische und tragische Kompetenz. Und mag der Prozess (die Erschaffung von Literatur oder die Inszenierung eines Mythos) auch kräftezehrend27 sein, sie führt zur Anwesenheit der Ortlosen

23 Bachtin, Literatur und Karneval, S. 61. 24 Wenn Hegel in seiner berühmten Phänomenologie Diderots Dialog Rameaus Neffe analysiert und die extravagante Schauspielerei des Neffen Rameau, der eine endlose Reihe von Rollen annimmt und sich wechselnd maskiert und selbst kommentiert, unter die Lupe nimmt, dann berührt Hegel ebenfalls die intellektuelle und emotionale Bedeutung des Karnevalistischen – weil der Geist, wie Hegel schreibt, durch die Maskeraden erst dazu gelangt, „das Hohngelächter des Daseins sowie über die Verwirrung des Ganzen und über sich selbst“ aufzuzeigen. Durch dieses Hohngelächter erreicht dann der Geist ein gewisses Maß an Freiheit, jene Art von Freiheit, die man auch als glückliche Distanz bezeichnen könnte. (Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes (1807) (VI. Der Geist: B. Der sich entfremdende Geist, die Bildung). Hamburg 1988.) 25 Meyer-Sickendiek, Affektpoetik, S. 61. 26 Max Reinhardt stellte über die Selbstdarstellung und deren Faszination am Beispiel der Schauspielkunst fest: „Wir suchen im Theater, wie in jeder Kunst, zuletzt immer nur die Persönlichkeit, und je stärker und größer diese ist, umso zufriedener sind wir. [...] Das Glück des Schauspielers ist die Ekstase der Verwandlung, das Glück des Zuschauers ist die Enthüllung der Persönlichkeit. (Max Reinhardt: Der Schauspieler und seine Rolle (1926). In: Max Reinhardt. Schriften. Hrsg. v. Hugo Fetting. Berlin 1974, S, 315-317, 315.) 27 Neben Wolfgang Koeppen (a. a. O.) und Peter Handke („Ersticken an ungeweinten Tränen; Halsschmerzen“ (GW, 191)) erzählten beispielsweise auch Fjodor Dostojewskis Selbstzeugnisse von ebenjenen kräftezehrenden Selbst-Herabsetzungen („Leiden […], noch einen Schritt und man ist bei Laster und Verbrechen (Mord).“) (Fjodor M. Dostojewski: Polnoe sobranie socinenij v 30-i tomach. Leningrad 1972-1988, Bd. 16 (1976), S. 329. Zit. u. übers. v. Klaus Städtke: Die Vielheit der Welten und der auktoriale Diskurs bei Dostoevskij. In: Klaus Städtke: Spielräume des auktorialen Diskurses. Berlin 2003, S. 6588, 80.)

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in der diskursiven Öffentlichkeit.28 Kurzum: In der öffentlichen Inszenierung findet der Bewusstseinsschmerz eine neue Form der Überwindung. Diese positive Sichtweise der dichterischen Selbstinszenierung, darauf sei abschließend hingewiesen, setzt jedoch die Annahme voraus, dass der Schriftsteller sich selbst nicht allzu ernst nimmt. Die karnevalistische Grundierung ließe sich damit in einigen Inszenierungsstrategien entdecken. In der Strategie der „Ironie“ oder auch der „historischen Wahlverwandtschaft“, etwa einer gelebten Verbundenheit mit Karl Valentin, und in individuellen Ausbrüchen wie der „radikal-subjektiven Authentizität“ ist sie zu finden. Nicht jedoch in allen Strategien. Der des „Moralisierens und Politisierens“ bleibt sie fremd.

Neue Äußerlichkeit. Oder: Die Revolution des Pathologismus Sind Ansätze zur Inszenierung der eigenen Andersartigkeit schon früh in der Kulturgeschichte der Inszenierung zu entdecken, besonders auch das Bedürfnis, die „Performativität der Seelenqualen“29 hervorzubringen und als Instrument der Profilierung zu nutzen, anstatt sie hinter einem kritischen Geist und dem eigenen Werk zu verbergen, so kommen sie doch erst an der Schwelle zum 21. Jahrhundert in neuartiger Weise zum Ausdruck, erreichen eine universelle Durchsetzungskraft und gewinnen eine eigene, zeittypische Qualität. Der Mythos der Genialität ist im 21. Jahrhundert vollständig der faktischen Defizit-Existenz gewichen – und der Dichter vom Repräsentanten unwiderruflich zum Außenseiter geworden. Nicht die Intellektualität, so will es scheinen, sondern das Pathologische, das aus somatischen und seelischen Beschwerlichkeiten erwächst, ist unter den Dichter verbreitet. Gewandelt hat sich durch die Epochen hindurch also nicht das Grundmotiv des dichterischen Handelns, sein Bewusstseinsschmerz (den finden wir sogar bei Goethe, zusammen mit der „großen Einsamkeit“) 30, sondern die diskursive Sichtbarkeit desselben, die Formen, in denen er zum Ausdruck kommt oder mit denen dieser überspielt wird. Die gegenwärtigen Formen schriftstellerischer Selbstinszenierung, exemplarisch sichtbar an Jelineks ungebrochenem Willen, das Persönliche und Pathologische plaudernd preiszugeben, deuten mehr an als einzelne, individuelle, auf Anerkennung ausgelegte Inszenierungsstrategien, die sich durch ihren Erfolg zwar kurzzeitig selbst legitimieren, darüber hinaus aber keine Geltung hätten. Die nicht nur von Jelinek gezeigten, doch von ihr am konsequentesten durchgesetzten, pathologischen Posen sind feld- und machttheoretisch betrachtet eine grundlegende, avantgardistische Revolte gegen den intellektuellen Habitus, der sich seit der Genie-Zeit im literarischen Dis-

28 Die performative Selbstdarstellung wird dann zum sichtbaren Teil unsublimierter Emotionen und der Schriftsteller selbst zur living sculpture. (Vgl. Hans Dieter Mummendey: Psychologie der Selbstdarstellung. Göttingen 1990, S. 38.) 29 Meyer-Sickendiek, Affektpoetik, S. 429. 30 Vgl. Ernst Osterkamp: Einsamkeit. Über ein Problem in Leben und Werk des späten Goethe. In: Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftliche Klasse. Nr. 1/2008, Mainz, Stuttgart 2008.

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kurs beharrlich behauptete.31 Die Selbstinszenierung als eine mit einem schwachen Nervenkostüm ausgestattete Person vermag einen Tatbestand zu schaffen, der zum Ankerpunkt einer Revolution auf dem literarischen Feld wird: Zunächst fundiert Jelinek mit ihrer Inszenierung das auf radikale Distinktion angelegte Pathologische, welches Krankheit und seelisches Leid instrumentalisiert sowie als Distinktionsmerkmal salonfähig und in der Konsequenz dort, wo es mit symbolischem Kapital belohnt wird, wertvoll macht. Darüber hinaus kann dieser Pathologismus im öffentlichen Diskurs auch deshalb als revolutionärer Akt gelten, weil er die seit den 1980er-Jahren vorhandene Sinnkrise des Literaturbetriebs auf ihr Ende hin treibt. Jelineks konkrete künstlerisch-pathologische Eigenart begründet ein spezifisches, mythologisches Begriffsarchiv. Dieses maßgeblich von ihr in aller Radikalität, aber auch von anderen Autoren (wie Handke, Stuckrad-Barre, Hennig von Lange) eingespeiste Vokabular, das ein Verhaltensvokabular im Sinne der generativen Grammatik freisetzt, steht bereit für das gesamte literarische Feld. „Jede gelungene Revolution legitimiert sich selbst, legitimiert aber zugleich auch die Revolution an sich, sei es auch die von ihr durchgesetzte Revolution gegen die ästhetischen Formen. Die Manifestationen und Manifeste all derer, die seit Beginn dieses Jahrhunderts [des 20. Jhd.] ein neues, durch einen Begriff auf -ismus bezeichnetes künstlerisches Regime zu oktroyieren suchen, zeugen davon, dass die Revolution sich tendenziell als das Modell des Zugangs zur Existenz im Feld durchsetzt.“32

Das Pathologische gerinnt somit auf der Basis dieses Begriffsarchivs zu einem sinnvollen Spielzug auf dem literarischen Feld. Auf der Betrachtungsgrundlage der Selbstinszenierungen wird das pathologische Handeln sogar zu einer sinnlich erfahrbaren, weil körperlich an Bilddokumenten zu beobachtenden mythologischen Grundfigur, die gleichzeitig als Metapher und Metonymie wirkt, in der sich einerseits die Komplexität einer Struktur und andererseits eine Entwicklungsgeschichte konserviert. Auf diese revolutionäre, radikale Weise bilden sich sowohl ein Begriffsarchiv als auch ein „Denkschema“ aus, das mit seiner „Ausbreitung unter den Schriftstellern, Journalisten und dem Teil des Publikums […] dazu verleitet, das literarische und, weitgehend, das gesamte intellektuelle Leben […] neu zu denken.“ 33 Das Pathologische ist dann jener in einem Begriff gefasste Kristallisationspunkt, in dem die in den 1980er- und 1990er-Jahren sich andeutenden Tendenzen einer „Neuen Äußerlichkeit“ kulminieren.

31 Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst (1992/1999). Frankfurt a. M. 2001, S. 205. 32 Ebenda, S. 204. 33 Ebenda, S. 205. Die Bewunderung der unmittelbaren Wirkmöglichkeit des Künstlers, die vom Diskurs indirekt, in der vehementen Verurteilung einer Entwicklung aufgegriffen und so bejaht werden kann, schwingt auch in Bourdieus Gespräch mit Hans Haacke mit: „L’ artiste est celui qui est capale de faire sensation. Ce qui ne veut pas dire faire du sensationelle […], mais, au sens fort du terme, faire passer dans l’ordre de la sensation, qui en tant que telle, est de nature à toucher la sensibilité, à émouvoir, des analyses qui, dans la rigueur froide du concept et de la démonstration, laissent le lecteur ou les spectateurs indifférent.“ (Pierre Bourdieu/Hans Haacke: Libre-Echange. Paris 1994, S. 36.)

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Eine kulturphilosophische Erklärung für die Wandlung auf dem kulturellen und literarischen Feld formulierte Charles Taylor. Es seien die beiden großen historischen und facettenreichen Umgestaltungen des Subjekts durch die Aufklärung und die Romantik, die bis heute auf das Selbstverständnis, die moralische Einstellung und in der Konsequenz auf die Varianten des menschlichen Selbstentwurfes einwirkten. Seit dem 20. Jahrhundert steckt das endlich freie und selbstbestimmte Subjekt in einem Paradoxon fest. Der Einzelne, auch der Schriftsteller, habe sich „mehr nach innen bewegt und dahin tendiert, die Subjektivität zu erkunden“, doch zugleich im Zuge der Aufklärung einen „Druck gegen den Subjektivismus“ entstehen lassen, der zu einer „Dezentrierung des Subjekts“ geführt habe, die das Subjekt moralisch an den Rand drängt.34 Die Synthese der rational-aufklärerischen und der romantischen Tendenzen habe den Menschen in ein existenzielles Dilemma geführt, in einen inneren Widerstreit zwischen den „Anforderungen der nüchternsten […] Vernunft“ und dem „Bedürfnis nach einem gehaltvolleren Sinnverständnis“35, das mit der Vernunft allein nicht zu greifen ist und die Verwirklichung der inneren Bedürfnisses auf äußerliche Scheinerfüllungen, auf Prothesenglück und ins Materielle verlagert. Dadurch werden jedoch die tatsächlichen (romantischen, subjektzentrierten) Bedürfnisse des Menschen nicht erfüllt. Die Verlagerung der Sinnerfüllung in die äußere Welt verleitet den Einzelnen zu grotesken Handlungen, auch zu Selbstinszenierungen, mithilfe derer er sich eine Erfüllung des Wunsches nach Anerkennung jenseits von Vernunftgründen erhofft. Vergeblich. Stattdessen werden auf diese Weise öffentliche Zerrbilder des Menschen sichtbar, die ein trivialisiertes und schablonisiertes Schattenbild abgeben. Das medial verbreitete Abbild fungiert somit als Surrogat, das eine künstliche Maximierung des schriftstellerischen Selbst ermöglicht und dabei nicht die wahre Größe, sondern vielmehr sein unerfülltes Bedürfnis danach anzeigt und alle Ambivalenzen verdeckt. Eine Wurzel hatte die Analyse der Selbstinszenierungsstrategien in einer Skepsis gegenüber der unprätentiösen Selbstzelebrierung, mit der eine an diese Arbeit anschließende Kernfrage nach den Möglichkeiten einer authentischen, repräsentationskritischen Lebensphilosophie verbunden ist. An dieser Stelle sei jedoch nicht nur der Schriftsteller als Selbstdarsteller kritisch begutachtet, sondern auch das Publikum, das sich von öffentlichen Auftritten faszinieren lässt und nahezu voyeuristisch danach zu verlangen scheint. Die „in vielem noch ungeklärte katalysatorische Wirkung“36 des ‚öffentlichen Autors‘ und die Freisetzung von Emotionen durch sein Auftreten lassen sich durch einen Rückgriff auf den von Freud geprägten Begriff der „infantilen Vorbilder“ erklären, meint Peter von Matt. Er geht in seinen Psychoanalytische[n] Anmerkungen zum Verhältnis von Interpret und Dichter davon aus, dass es sich bei allen Beobachtungen von Schriftstellerhandlungen in der Öffentlichkeit um eine „ganz eigentümliche Weise von Fixierung an den Helden“ handele, die an die kindliche Suche nach und die Fixierung auf die Vater-Imago erinnere – womit er die Stellung des Schriftstellers im gesellschaftlichen Gefüge erneut, wie in der Genie-

34 Taylor, Quellen des Selbst, S. 789. 35 Ebenda, S. 792. 36 Peter von Matt: Psychoanalytische Anmerkungen zum Verhältnis von Interpret und Dichter. In: Ders.: Literaturwissenschaft und Psychoanalyse. Stuttgart 2002, S. 56-65.

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Zeit, zu erhöhen versteht und die Reaktionen des Publikums auf den öffentlich agierenden Autor kritisch ausleuchtet. Schauen wir uns seine These und die Erklärung für das besondere Potenzial, das in jeder Handlung eines Schriftstellers ruht, sobald er öffentlich in Erscheinung tritt, genauer an: Das Publikum sei durch die unsichtbare Kraft der Psychologie und einen infantilen, emotionalen, nicht rationalen (oder wie Charles Taylor es nennt: romantischen) Einschlag geprägt, weshalb es unwillkürlich dazu neige „aus dem lebendigen Gesicht des historischen Menschen [des Schriftstellers] eine glatte Maske zu machen, die letztlich nichts anderes ist als ein Totem.“ 37 Dabei diskutiert von Matt nicht nur den Klassikerkult (speziell„ die Verwandlung von Schillers fleckigem, zuckendem Hektiker-Gesicht in einen Apollo mit leicht schwäbischem Akzent – ein Kult, der schon früh im 19. Jahrhundert begann und anfänglich scharf gegen Goethe pointiert war, bis die beiden schließlich Hand in Hand zu gusseisernen Monumenten wurden, in denen sich das Bismarck-Reich als Kulturnation entdeckte – “38), sondern auch die unreflektierte Fixierung auf die Literaten der Neuzeit (zum Beispiel Böll, Grass, Walser und „die völlig unproportionierten Adoration der sogenannten Frühvollendeten unter den Poeten […], der Selbstmörder und am Alkohol Verkommenen, wozu auch noch die Wahnsinnigen zählen dürfen, falls die Neurose frühzeitig ausgebrochen ist.“39). In ähnlicher Weise, wie sich etwa die Antipathie gegen den späten Goethe richtete (auf seine „großäugige Olympiermaske“), so beruhe auch die außerordentliche Anziehungskraft der Suizidenten und Wahnsinnigen auf der Auflehnung gegen das Vorbild, an dem man sich orientiert und von dem man sich abgrenzt. 40 Der Faszinationstypus des Schriftstellers im Allgemeinen basiere somit auf einer ständig im Menschen ablaufenden, infantilen Idealisierungsarbeit, die den Wunsch nach Helden erkläre, an denen sich Bewunderung und Auflehnung vereint und entzündet. Dies geschehe öffentlich sichtbar immer dort, wo der Dichter „Totem-Charakter bekommt in dem Sinne, den der Begriff des Totems bei Freud hat: als ein tabuisiertes, kult- und ritualschaffendes Symbol, das eine bestimmte, unbewusst-aktive Phase des eigenen Dramas objektiviert.“41 Peter von Matt führt zur Illustration seiner These die besondere Anziehung ins Feld, welche die öffentliche Figur Rainer Maria Rilkes auf seine Anhänger ausübte. Rilkes Bewunderer reagierten zunächst „auf die in den Gedichten immer wieder umspielte Regression in jenen frühkindlichen Ich-Zustand“42, in dem sich der Mensch vor der Einsetzung des Realitätsprinzips und vor dem Gebrauch seiner Vernunft befindet. Die stilisierte Leitfigur Rilkes biete also Geleit zur narzisstischen Regression in prähistorische Gefühlszustände. Dieser regressive Zustand sei durchaus nicht lächerlich, sondern gehöre zu den Prozessen der Pubertät und mache die Begeisterung für Rilkes Selbstinszenierungen verzeihlich und darüber hinaus in hohem Grade nachvollziehbar, weil der Leser einen Teil von sich selbst in den Gedichten und indi-

37 38 39 40 41 42

Von Matt, Psychoanalytische Anmerkungen, S. 59. Ebenda, S. 59. Ebenda, S. 59. Ebenda, S. 60. Ebenda, S. 60 f. Ebenda, S. 62.

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rekt auch im Dichter-Ich entdecke, der damit die Funktion eines kulturellen Leitbildes verkörpere. Die Stichhaltigkeit der Regressionsthese und der Argumentation von Matts ließe sich beispielsweise an der Person und Wirkung Stefan Georges überprüfen (denkbar wäre aber auch die Person Günter Grass oder Heinrich Kleist). Die ungeheure, kaum nachvollziehbare Wirkung Georges auf eine breite Schicht der deutschsprachigen Intelligenz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts könnte demnach auf der Tatsache beruhen, dass es ihm gelungen ist, zum ambivalenten Vorbild zu werden. Dieser Status liegt nicht in dem singulären Ereignis begründet, dass er eine Reihe hervorragender Gedichte geschrieben und einen neuen lyrischen Vers inauguriert hat. Sein Ruhm basiert auch nicht allein auf seiner autoritären Persönlichkeit. Vielmehr sorgte beides in summa dafür, dass er zu einer väterlichen Leitfigur werden konnte, mit der sich weitere Wirkprozesse verknüpften. Die Exklusivität seiner Person und seiner Produktivität forcierte er durch die Exklusivität seiner Gedichte, die zuerst immer in Privatdrucken erschienen. Dadurch hat er den George Kreis als eine Art „heroische Familie“43 stilisiert und einen Zusammenhalt über das Medium seiner Texte kreiert. Aus dieser elitären Einheit konnte sich die „Vater-Imago“ Georges bilden, an die sich die maßlosen, pathetisch-patriarchalischen Selbstinszenierungen anschließen konnten, die sich dann so leicht wie zwingend mit dem Typus eines „infantilen Vorbilds“ (Freud) zur Deckung bringen ließe. „Infantil“ ist nicht George selbst, sondern infantil (im Sinne Freuds, also nicht aus rationalen Beweggründen bewundernd) sind seine Anhänger, meint von Matt. Ebenso wie der Dichter unbewusst mit der „Vater-Imago“ (von Matt) gleichgesetzt werde und ihm dergestalt kollektive Leitfunktionen attestiert wird, kann auch das Umgekehrte eintreten: Durch die unbewusste Heroisierung kann der Schriftsteller leicht zur Feindfigur einer größeren gesellschaftlichen Einheit werden. Weil er (sich) produziert und eine Überformung des Dichters zum Idol herausfordert, wird er gleichgesetzt mit jenem „unbegreifbar Feindlichen, das ich hasse, bevor ich es überhaupt kenne, als jene Macht, welche mich aus der archaischen Geborgenheit vertrieben hat“44 – durch ihre reine Präsenz und mediale Größe. Diese Emotion ist hier deshalb durchaus aufschlussreich, weil sie Lob und Kritik an den Schriftstellerinszenierungen in der Wirkung vereint.45 Sie erklärt laut Matt das Faktum, dass ein Schriftsteller im literarischen Leben plötzlich ein emotionsgeleitetes Interesse freizusetzen vermag, das außerhalb aller rationalen Kategorien zu stehen scheint. Unabhängig von psychoanalytischen Erwägungen, welche die ambivalenten Beweggründe der Bewunderung oder der Ablehnung seitens der Rezipienten fokussieren, bleibt der öffentliche Autor der Kristallationspunkt, an dem sich durch seine öffentliche Sichtbarwerdung (die er auch umgehen könnte) alles entzündet. Wie lassen sich nun eine authentische, repräsentationskritische Lebensphilosophie und ein vom Voyeurismus befreites kulturelles Leben verwirklichen? Eine Wiedergewinnung des echten, ungebrochenen Selbst, so Charles Taylor, sei nur

43 Von Matt, Psychoanalytische Anmerkungen, S. 61. 44 Ebenda, S. 62. 45 Ebenda, S. 64.

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durch die „Wiedergewinnung […] der schöpferischen Tätigkeit“ 46 denkbar und durch ein kultursprengendes Sprechen (losgelöst von karnevalistischen und dionysischen Ausbrüchen), das über die reine (Selbst-)Darstellungsfunktion hinaus reicht, mit dem Ziel, dem Wort seine primäre Funktion jenseits des Explosiven und Sekundären zurückzugeben.47 Die Hoffnung bleibt, dass sich das inszenierte Leben früher oder später selbst persifliert – und dass eine bescheidene, das Kollektive und nicht das Individuelle betonende, sich von ökonomischen Interessen und Verkaufserfolgen einmal befreite unabhängige Gegenströmung, eine neuartige „Gegenöffentlichkeit“ möglich wird.48 Es bleibt auch die Zuversicht, dass die Rückgewinnung geistiger Ansprüche durch die kritische Erkenntnis zur heilsamen Einsicht verhilft, wie sie vereinzelt unter den Schriftstellern zu beobachten ist: „Man kann sehen oder gesehen werden“, wobei das Gesehenwerden das eigene Sehen meistens verhindere.49 Der Dramatiker Heiner Müller beobachtete die Selbstinszenierung ebenfalls kritisch und bemerkte unprätentiös: „Der Wunsch nach Größe produziert oft kleine Menschen.“50 Und Peter Hanke gab zu bedenken: „Wenn ich öffentlich war, habe ich fast nie meine Identität gefunden. Ich war immer in Gefahr, vor das von mir Gemachte zu treten und es zu verzerren. Deshalb habe ich mich später für die totale Zurückgezogenheit entschieden – auch wenn ich die nicht immer durchhalte. Meine Sache ist es, gelesen zu werden.“51 46 Von Matt, Psychoanalytische Anmerkungen, S. 196. 47 Nicht zum Selbstzweck, sondern als kritisches, kreatives oder erzürnendes Vehikel sollte die Sprache genutzt werden, wie Böll es schon vor 50 Jahren forderte: „Wir wissen, dass das Gespräch, dass ein heimlich weitergereichtes Gedicht kostbarer werden kann als Brot, nach dem in allen Revolutionen die Aufständischen geschrien haben.“ Und: „Zwischen zwei Zeilen, auf dieser winzigen Schußlinie des Druckers, kann man Dynamit genug anhäufen, um Welten in die Luft zu sprengen. In allen Staaten, in denen Terror herrscht. Ist das Wort fast noch mehr gefürchtet, als bewaffneter Widerstand, und oft ist das letzte die Folge des ersten.“ (Heinrich Böll: Die Sprache als Hort der Freiheit (1959). In: Werke. Kölner Ausgabe in 14 Bänden. Hrsg. v. Victoria Böll. Bd. 10: Werke, 1956-1959. Köln 2005.) Nicht von der Autorperson selbst, sondern von seinem gesprochenen und geschriebenen Wort sollten die Verstörung und Irritation ausgehen, die eine geistige Bewegung ermöglicht: So dass das Wort den Einzelnen „wie mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt“, schrieb Kafka. Das Wort, ein Buch müsse „die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Daran glaube ich.“ (Vgl. Franz Kafka: Briefe (1909-1924). Hrsg. v. Max Brod. Frankfurt a. M. 1975, S. 27 f.) Wo das Wort hingegen vorrangig zur schriftstellerischen Selbstzelebrierung gebraucht wird, wird es eindimensional und verschenkt seine größte Kraft. 48 Vgl. Alexander Kluge/Oskar Negt: Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit. Frankfurt a. M. 19986, S. 116 ff. Siehe auch: Peter Hohendahl (Hrsg.): Öffentlichkeit. Geschichte eines kritischen Begriffs. Stuttgart 2000, S. 110 ff. Und: Niklas Luhmann: Öffentliche Meinung. In: Politische Vierteljahresschrift 1979, Nr. 11, S. 2-28. 49 John Updike, in: Michaelsen, Starschnitte, S. 125. 50 Heiner Müller, in: Michaelsen, Starschnitte, S. 117. 51 Peter Handke, in: Michaelsen, Starschnitte, S. 94.

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Bis es soweit ist, konstituieren sich das Bewegungsgesetz des Schriftstellers und sein gesellschaftlicher Part nicht allein aus der Fähigkeit des Versenkens von Eindrücken in sich selbst, des Nach-Denkens, Aufschreibens und Reflektierens, sondern durch das gezielte Veröffentlichen von persönlichen und peinsamen Intimitäten, Empfindungen und Meinungen sowie durch die öffentliche „polemische Offenbarung“52. Sei es durch das Vorweisen eines wohlgeratenen Statthalters (Botho Strauß), einer dominanten Mutter (Jelinek) oder dem Faible für rassige Reitpferde (Handke). Oder, wie Martin Walser es tat – vor der sommerlichen, wildromantischen Kulisse des Bodensees stehend und vor laufender Kamera plaudernd –, einfach nur durch den Nachweis eines noch im hohen Alter vollen und im Winde wehenden Haares.

52 Damit führen die Schriftsteller nebenbei die These(n) Richard Sennetts ad absurdum, der in der Tyrannei der Intimität davon ausgeht, die öffentliche Zivilisiertheit ziele darauf ab, „die anderen mit der Last des eigenen Selbst zu verschonen.“ Dies widerlegend entkräften die Schriftsteller auch Sennetts kulturkonservative Schlussfolgerung, nämlich: „dass die „Psychologisierung der sozialen Realität die Gesellschaft […] eines bestimmten kreativen Vermögens [beraubt], nämlich des Vermögens zu spielen.“ (vgl. Richard Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Tyrannei der Intimität (1974/1986), Frankfurt a. M. 1986, S. 335.)

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Aus Platzgründen verzeichnet die nachfolgende Bibliografie lediglich die in dieser Arbeit direkt zitierten Titel und Artikel, nicht jedoch die gesamte zum Thema und den einzelnen Autoren gesichtete, ausgewertete und berücksichtigte Literatur.

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